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German Pages 264 Year 2014
Peter Handke
Peter Handke
Stationen, Orte, Positionen
Herausgegeben von Anna Kinder
DE GRUYTER
ISBN 978-3-11-029485-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-029498-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-038903-6 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Porträt Peter Handke. Regina Schmeken, 2002 (DLA Marbach) Satz: Claudia Wild, Konstanz Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
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Inhalt Anna Kinder Peter Handke als Forschungsphänomen Einleitung 1
I. Poetik und Politik Jürgen Brokoff „Ich wäre gern noch viel skandalöser“ Peter Handkes Texte zum Jugoslawien-Krieg im Spannungsfeld von Medien, Politik und Poesie 17 Christian Luckscheiter Das Blau des Himmels über dem Hôtel Terminus Peter Handke und der Nachkrieg 39
II. Erfahrung und Sprache Tim Lörke Dauernde Augenblicke Sinnstiftende Zeiterfahrungen bei Peter Handke
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Tanja Angela Kunz Volo ut sis Konnotationen des Anderen im Werk Peter Handkes Katharina Pektor „Schütteln am Phantom Gottes“ Handkes Wiederholung von Wolframs Parzival
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III. Lesen und Schreiben Ulrich von Bülow Raum Zeit Sprache Peter Handke liest Martin Heidegger Malte Herwig Frischfleisch und Archiv Die Biografie am lebendigen Leib
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Dominik Srienc „Aber das Schreiben war Existenz non plus ultra“ Peter Handke, der Bleistift und der Versuch über die Müdigkeit
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IV. Dokumentation Handke Lesen Sibylle Lewitscharoff und Ulrich Greiner im Gespräch mit Jan Bürger Forschungsbibliografie Peter Handke Werkverzeichnis Peter Handke
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Peter Handke als Forschungsphänomen Einleitung Durch eine zweifache Derivation wurde im Januar 2013 ein weiterer Schritt der Handke-Kanonisierung unternommen, eine Vokabel bestätigt, die das Stilniveau des Autors Peter Handke zum Ausdruck bringt. In einem Artikel zu Hans Barlach und der aktuellen Auseinandersetzung um den Suhrkamp Verlag diagnostizierte Hilmar Klute auf der Seite Drei der Süddeutschen Zeitung die „mangelnde Handkehaftigkeit“1 der Worte des Unternehmers und Mit-Anteilseigners des Verlags und setzte damit eine unternehmerische Sprache, die mit Ausdrücken wie „Kostendisziplin“ und „Risikomanagement“ operiert, in Abgrenzung zur Sprache des Verlags. ‚Handkehaftigkeit‘ markiert hier ein literarisches Sprach- und Wertniveau,2 das auf Handkes Art zu schreiben zurückgeführt wird. Das Schrei ben à la Handke ist Stilspezifikum und Wertniveau in einem; hervorgehoben wird die Qualität durch den Rekurs auf das gesamte Verlagshaus, für dessen literarischen Anspruch die Sprache Handkes pars pro toto steht. Als feststehender Ausdruck für die Distinktion und Spezifik der Sprache eines Autors haben bisher nur Adjektive wie ‚kafkaesk‘ Eingang in Wörterbücher gefunden. Führt man sich die Bedeutungserklärung im Duden vor Augen – „in der Art der Schilderungen Kafkas; auf unergründliche Weise bedrohlich“3 –, so dient das Adjektiv nicht nur zur Kennzeichnung eines charakteristischen Sprachgebrauchs, sondern markiert einen spezifischen Zustand, der auch zur Beurteilung „außerliterarischer Sachverhalte“ herangezogen wird. Auch wenn die Handkehaftigkeit im angeführten Zitat nicht von außerliterarischem Referenzwert ist,
1 Klute, Hilmar: „Pulp Fiction. Ist Suhrkamp ein Heiligtum? Ist Hans Barlach Darth Vader? Nachforschungen auf total vermintem Gelände“. In: Süddeutsche Zeitung, 12./13. Januar 2012, S. 3. Für das Adjektiv ‚handkehaft‘ finden sich in Tagespresse und Publikationen zahlreiche frühere Belege, die nicht alle angeführt werden können. 2 Vgl. hierzu den Aufsatz von Carlos Spoerhase: „Eine ‚Königliche Hoheit‘. Das Wertniveau Thomas Mann“. In: Apokrypher Avantgardismus. Thomas Mann und die klassische Moderne. Hg. v. Stefan Börnchen u. Claudia Liebrand. München 2008, S. 139–159, der die Autorschaft Thomas Manns als konstantes Wertniveau rekonstruiert, das „den gesamten hermeneutischen Vorgang strukturiert“ (ebd., S. 148). 3 Duden. Das Universalwörterbuch. Das umfassende Bedeutungswörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. 7., überarbeitete u. erweiterte Auflage. Mannheim u. a. 2011.
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der Name Handke noch nicht zum „allgemein verbreiteten Zeichen“ geworden ist, so ist es doch beachtlich, dass er in der Tagespresse als allgemeinverständ liche Referenz angeführt wird.4 Dieser kurze Befund mag als Indiz für eine Kanonisierung des Autors Peter Handke gelten, als sehr erfolgreiche Behauptung und Durchsetzung eines Autors, der seit Beginn seiner schriftstellerischen Laufbahn Anfang der 1960er Jahre nicht nur ein ungeheuer umfang- und genrereiches Werk vorgelegt hat, sondern auch als öffentliche, stellungnehmende Figur präsent war und ist. Im Folgenden soll es jedoch weniger um die öffentliche Person Peter Handke, um Handke als Medienphänomen gehen, sollen nicht Inszenierungsstrategien oder Verlagspolitiken im Fokus stehen; vielmehr interessiert Handke als Forschungsphänomen. Worin liegt, nimmt man die Rede vom Phänomen ernst, das Ungewöhnliche, das Auffällige? Unbestritten zählt Peter Handke zu den meistbeforschten deutschsprachigen Gegenwartsautoren. Schon ein kurzer Blick in die Forschungsbibliografie dieses Bandes, die mit dem Erscheinungsjahr 1990 einsetzt, mag dies untermauern.5 Stärker als durch diesen rein quantitativen Aufmerksamkeitsindikator fallen jedoch bei einem qualitativen Blick auf die wissenschaftliche Beschäftigung mit Peter Handke einige Eigentümlichkeiten auf, die eine nähere Betrachtung verdienen. Lohnend scheint hier also der Fokus auf die wissenschaftliche Praxis, die den Autor Peter Handke als Selektionsmerkmal akzeptiert und in den Mittelpunkt ihres Forschungsinteresses rückt. Welche Funktionen werden hier mit dem Namen eines Autors verbunden und welche Forschungsfragen werden gestellt? Da es, will man ein Phänomen fassen, die Aufmerksamkeit auf das Sichtbare zu richten gilt, sollen zunächst solche Indikatoren herangezogen werden, die die Forschungspraxis der Handke-Forschung ‚sichtbar‘ machen. Unternommen wird im Folgenden eine erste Annäherung, die den Blick auf die sicht- und lesbare, also die publizierte Forschung und deren materiale Textgrundlage richtet. Welche Schlüsse lassen sich aus der veröffentlichten literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung über die Beschaffenheit des Forschungsfeldes ziehen? Zunächst fällt auf, dass vor allem solche Formate vertreten sind, die als paradigmatisch für die Beschäftigung mit Autoren gelten können, die von einer allgemeinen Akzeptanz und Anerkennung eines Schriftstellers durch den Forschungsund Literaturbetrieb zeugen und dazu beitragen, die Kanonisierungswürdigkeit eines Autors zu festigen. An erster Stelle ist hier, neben einer Vielzahl an biografi-
4 Anz, Thomas: Franz Kafka. Leben und Werk. München 2009, S. 13. 5 Weitere mögliche quantitative Indikatoren wären etwa die Häufigkeit von Lehrveranstaltungen, von Master-, Staatsexamensarbeiten und Dissertationen.
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schen Studien und Portrait-Bänden, die zwar nicht als Forschungsliteratur im genuinen Sinne gefasst werden sollen, jedoch in vielen Fällen aus der Feder von Literaturwissenschaftlern stammen,6 der von Hans Höller verfasste Band in der Reihe rororo Monographien zu nennen, der 2007 anlässlich des 65. Geburtstages Peter Handkes erschienen ist. Dies ist insofern bemerkenswert als unter den momentan insgesamt 323 lieferbaren Titeln dieser „Enzyklopädie der großen Geister“ nur sieben Bände noch lebenden Personen gewidmet sind.7 Neben Handke sind das Helmut Schmidt, Nelson Mandela, Jürgen Habermas und aus der Sparte ‚Literatur‘, die insgesamt 110 Titel umfasst, Umberto Eco, Philip Roth und Toni Morrison.8 Schon zu Lebzeiten mit einem Band gewürdigt zu werden, ist also kein Einzelfall, jedoch ein klares Distinktionsmerkmal: „[M]an muss nicht tot sein – aber die wesentlichen Linien einer Lebensleistung sollen doch erkennbar sein. Willy Brandt und Günter Grass, Max Frisch und Heinrich Böll zum Beispiel schafften es schon zu Lebzeiten, mit einer Monografie gewürdigt zu werden.“9 Darüber hinaus ist der 2009 erschienene UTB-Einführungsband zu erwähnen, der die Studienrelevanz des Autors und explizit dessen Status als „Klassiker der Gegenwart“ untermauert.10 Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang vor allem das siebte Kapitel, das unter dem Titel der „Kernbegriffe“ ein Handke-Glossar offeriert. Die Autoren knüpfen hier an das 2007 veröffentlichte Peter-Handke-Wörterbuch an,
6 Exemplarisch sei hier verwiesen auf: Herwig, Malte: Meister der Dämmerung. Peter Handke. Eine Biographie. München 2010; Haslinger, Adolf: Peter Handke. Jugend eines Schriftstellers. Salzburg, Wien 1995; Federmair, Leopold: Die Apfelbäume von Chaville. Annäherungen an Peter Handke. Salzburg, Wien 2012; Pichler, Georg: Die Beschreibung des Glücks. Peter Handke. Eine Biografie. Wien 2002. 7 So die Selbstbetitelung auf der Homepage: http://www.monographien.de (Stand: 31.08.2013). 8 Liste aller lieferbaren rororo-Monographien online unter: www.monographien.de/gesamtuebersicht (Stand: 31.08.2013). Bei dieser Zählung sind auch die Titel mitgezählt, die sich mit Kreisen oder Personengruppen befassen, wie beispielweise die Bände zur Gruppe 47 oder zu den Frauen um Goethe. Der Band zu Stephen Hawking ist auf der Homepage des Verlags ausgewiesen, erscheint allerdings nicht in der online gestellten Liste der lieferbaren Titel. 9 Naumann, Uwe: „Rowohlts Taschenpantheon. Kurt Kusenberg begründet die MonographienReihe“. In: 100 Jahre Rowohlt. Eine illustrierte Chronik. Hg. v. Hermann Gieselbusch, Dirk Moldenhauer u. a. Reinbek bei Hamburg 2008, S. 205–207, Zitat S. 205. 10 Vgl. Gottwald, Herwig u. Andreas Freinschlag: Peter Handke. Wien, Köln u. Weimar 2009. Das Zitat stammt von Wendelin S chmidt-Dengler, auf den die Autoren sich hier berufen: Schmidt-Dengler, Wendelin: „Peter Handkes Klassizität“. In: ide. Informationen zur Deutschdidaktik. Zeitschrift für den Deutschunterricht in Wissenschaft und Schule 25 (2001) H. 4, S. 38–44, Zitat S. 44. Bei einem Blick auf die lieferbaren Titel in der Sparte ‚Literaturwissenschaft‘ auf der Homepage des Verlags (www.utb.de / www.utb-shop.de (Stand: 31.08.2013)) ergibt sich ein ganz ähnliches Bild wie bei den rororo Monographien: Neben Handke sind Elfriede Jelinek und Hans Magnus Enzensberger die einzigen noch lebenden Autoren, zu denen es einen Band gibt.
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das bereits 619 begonnene Artikel auf einer CD-ROM, so der Untertitel, umfasst.11 Jenseits von Fragen der Bewertung solch eines Unterfangens, die sich mit Blick auf Groß- und Langzeitprojekte wie das Goethe-Wörterbuch oder das Nietzsche-Wörterbuch unweigerlich stellen, ist dieses doch insofern beachtenswert, als es das Werk eines noch lebenden Autors als einen Gesamtkomplex betrachtet, der sich durch einen spezifischen Sprachgebrauch auszeichnet. Hierauf wird auch in der einleitenden Motivationsschilderung explizit Bezug genommen, wenn von den „Wort-Gebrauchen Handkes“, einem „typischen Handkeschen […] Sprechen“ und dem „eigensinnigen Vokabular“ die Rede ist.12 Auffallend ist dies vor allem, wenn man diese Diagnose generationengeschichtlich perspektiviert.13 Zum einen bestätigt ein vergleichender Blick auf den Erfolg und die Durchsetzung im literarischen Feld der Geburtenkohorte Peter Handkes, also der Schriftsteller, die in den 1940ern geboren wurden, diesen auch als ein Phänomen seiner Generation. Während der 1942 geborene Peter Handke im Jahr 1966 nicht nur seinen ersten Roman bei Suhrkamp veröffentlichte, sondern auch durch seinen legendär gewordenen Auftritt beim Treffen der Gruppe 47 in Princeton14 und die Publikumsbeschimpfung für Aufmerksamkeit sorgte, treten ‚Altersgenossen‘ wie etwa Uwe Timm (*1940), Friedrich Christian Delius (*1943), Botho Strauß (*1944) oder auch Elfriede Jelinek (*1946) erst ab Anfang der 1970er mit Veröffentlichungen in Erscheinung – und liegen bis heute, blickt man auf die angeführten Indikatoren, in Fragen der Kanonizität deutlich hinter Handke. Vergleichbar ist Handke hier also weniger mit seinen Altersgenossen; vielmehr scheint es, als könne man ihn in einer ‚Erfolgskohorte‘ verorten, der auch Autoren wie Günter Grass (*1927), Martin Walser (*1927) und Hans Magnus Enzensberger (*1929) angehören. Denn in der Tat ist Handke bei einem Blick auf die Erfolgsgeschichte eher in dieser Generation der Ende der 1920er Jahre Geborenen anzusiedeln. Bestätigen kann dies ein Blick in die
11 Schirmer, Andreas: Peter-Handke-Wörterbuch: Prolegomena. Mit 619 begonnenen Artikeln auf einer CD-ROM. Wien 2007. 12 Schirmer: Handke-Wörterbuch, S. 13. 13 Zur literaturwissenschaftlichen Generationenforschung und zur Problematik des Generationenbegriffs vgl. die folgenden Bände: Lauer, Gerhard (Hg.): Literaturwissenschaftliche Beiträge zur Generationsforschung. Göttingen 2010 (Göttinger Studien zur Generationsforschung 3); Weigel, Sigrid, Ohad Parnes u. a. (Hg.): Generation. Zur Genealogie des Konzeptes. Konzepte von Genealogie. München 2005 (Trajekte); Jureit, Ulrike u. Michael Wildt (Hg.): Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs. Hamburg 2005. 14 Tonaufzeichnungen des Treffens können über die Internetseite des German Departments der Princeton University nachgehört werden: http://german.princeton.edu/landmarks/gruppe-47/ (Stand: 31.08.2013).
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Rowohlt-Monographie zur Gruppe 47, die in der Liste der „wichtigsten Autoren und Kritiker der Gruppe 47“ neben Peter Handke hauptsächlich Schriftsteller anführt, die in den 1920er und 1930er Jahren geboren wurden, darunter auch die drei genannten – Enzensberger, Grass und Walser. F. C. Delius etwa, der wie Handke ebenfalls an Treffen der Gruppe teilnahm, wird in der Liste nicht genannt.15 Dieser kursorische Blick bestätigt die Anerkennung und Etablierung eines ‚Wertniveaus Handke‘ durch literaturwissenschaftliche Aufmerksamkeit und durch die Umsetzung bestimmter Publikationsformate.16 Dass Handke als Forschungsgegenstand fest etabliert ist, bestätigt ebenso ein Blick auf die Texte, die der Forschung als Materialgrundlage und Untersuchungsgegenstände zur Verfügung stehen. Denn neben den publizierten Primärtexten kann die Handke-Forschung seit einigen Jahren auch auf umfangreiches Archivmaterial zurückgreifen, das hauptsächlich im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek und im Deutschen Literaturarchiv Marbach aufbewahrt wird.17 Während in Wien die Vorlassmaterialien Peter Handkes aus dem Zeitraum nach 1990 liegen, befinden sich im Deutschen Literaturarchiv Marbach die Notizbücher Peter Handkes (bis 1990) sowie zahlreiche Materialien in den Beständen des Siegfried Unseld Archivs, vor allem der Briefwechsel mit dem Verleger, die Korrespondenz mit den Lektoren, zahlreiche Manuskripte, Druckfahnen und Strichfassungen sowie Materialien aus Abteilungen wie Presse, Werbung, Rechte und Lizenzen und dem Vertrieb.18 Die Aufnahme in die Archive bedeutet unwei-
15 Vgl. Arnold, Heinz Ludwig: Die Gruppe 47. Reinbek bei Hamburg 2004 (rowohlts monographien), S. 145–148. 16 Zu Fragen der literaturwissenschaftlichen Wertung und Kanonisierung vgl. grundlegend: Winko, Simone: „Literarische Wertung und Kanonbildung“. In: Grundzüge der Literaturwissenschaft. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold u. Heinrich Detering. München 1996, S. 585–600, die zur Rekonstruktion der Mechanismen der akademischen Kanonbildung auch „Anzahl und Tenor der Monographien oder anderer wissenschaftlicher Publikationen über Autoren oder Werke“ (ebd., S. 597) als Indikatoren nennt. Vgl. ebenso: Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Literarische Kanonbildung. München 2002 (Text und Kritik. Sonderband); Beilein, Matthias, Claudia Stockinger u. Simone Winko (Hg.): Kanon, Wertung und Vermittlung. Literatur in der Wissensgesellschaft. Berlin, Boston 2012 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur). 17 Einen detaillierten Überblick über die „Quellenlage“ bietet die Anfang 2013 online gegangene Testversion der Forschungsplattform Handkeonline der Österreichischen Nationalbibliothek (http://handkeonline.onb.ac.at). 18 Einen ersten Einblick in die Verlagsarchive von Suhrkamp und Insel (= Siegfried Unseld Archiv), die im Deutschen Literaturarchiv Marbach der Forschung zur Verfügung stehen, bietet der Aufsatz von Bürger, Jan: „‚Aber unsere große Entdeckung … war Siegfried Unseld‘. Ein erster Blick auf das Archiv der Verlage Suhrkamp und Insel“. In: Jahrbuch der Deutschen Schiller-
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gerlich eine weitere Kanonisierung, wird den Materialien des Bestandsbildners durch das Erfüllen bestimmter Relevanzkriterien doch eine konservierungswerte Bedeutung zugesprochen. Versteht sich ein Archiv nicht nur als Sammlungsort und Hüter von Schätzen, sondern auch als Forschungsinstitution, so ist hierbei auch die Bedeutung der Bestände für die gegenwärtige und prospektive Forschung ausschlaggebend. Bemerkenswert ist im Fall Handkes primär nicht die Tatsache des Vorhandenseins vorgelassener Materialien, sondern vor allem deren Zugänglichkeit, unterliegen Bestände noch lebender Personen doch nicht nur dem allgemeinen Persönlichkeitsschutz, sondern vielfach auch strengen Sperrfristen, die häufig auch noch Bestände bereits verstorbener Personen betreffen.19 Stellt die Genehmigung zur Einsicht und Publikation in vielen Fällen eine Schwierigkeit dar, so ist diese im Fall von Handke zumindest gemildert. Die Notizbücher bis 1990 wurden von Handke beispielsweise zur Einsicht im Deutschen Literaturarchiv Marbach generell freigegeben. Ebenso steht mit der Forschungsplattform Handkeonline ein Instrument zu Verfügung, das eine archivübergreifende Erfassung aller vorgelassenen Archivbestände zum Ziel hat und einen schnellen Überblick über die Materialien bietet. Die Möglichkeit der Archivforschung hat das Feld der Handke-Forschung bereits sichtbar geprägt, und es lässt sich eine Zunahme an archivgestützten Arbeiten ausmachen, die werkgenetische Fragen mit einbeziehen.20 Ergänzend zu den Archivmaterialien kann die Forschung auch auf bereits publizierte Dokumente zurückgreifen, wie beispielsweise auf den jüngst erschienenen Briefwechsel mit dem Verleger Siegfried Unseld oder die Korrespondenz mit Alfred Kolleritsch, Hermann Lenz und Nicolas Born.21
gesellschaft 54 (2010), S. 13–20. Zu den Notizbüchern vgl. Bülow, Ulrich von: „Die Tage, die Bücher, die Stifte. Peter Handkes Journale“. In: Peter Handke. Freiheit des Schreibens – Ordnung der Schrift. Hg. v. Klaus Kastberger. Wien 2009 (Profile. Magazin des Österreichischen Literaturarchivs 16), S. 237–252 sowie: Kepplinger-Prinz, Christoph u. Katharina Pektor: Zeichnendes Notieren und erzählendes Zeichnen. Skizzen, Zeichnungen und Bilder in Peter Handkes Notizbüchern von 1972 bis 1990, 2012. http://handkeonline.onb.ac.at/forschung/pdf/kepplinger-pektor-2012.pdf (Stand: 13.03.2013). 19 Vgl. dazu die Ausführungen von Marcel Lepper: „Wie kann man Geschichte der Germanistik nach 1945 schreiben?“. In: IASL 37 (2012) H. 2, S. 476–499, bes. S. 494 f. 20 Vgl. beispielsweise die Beiträge von Ulrich von Bülow und Dominik Srienc in diesem Band. 21 Handke, Peter u. Siegfried Unseld: Der Briefwechsel. Hg. v. Raimund Fellinger u. Katharina Pektor. Berlin 2012; Handke, Peter u. Alfred Kolleritsch: Schönheit ist die erste Bürgerpflicht. Briefwechsel. Salzburg, Wien 2008; Handke, Peter u. Hermann Lenz: Berichterstatter des Tages. Briefwechsel. Hg. v. Helmut Böttiger, Charlotte Brombach u. Ulrich Rüdenauer. Frankfurt a. M., Leipzig 2006; Handke, Peter u. Nicolas Born: „Die Hand auf dem Brief. Briefwechsel 1974–1979“. In: Schreibheft. Zeitschrift für Literatur 65 (2005), S. 3–34.
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Bei all diesen Materialien, die zu Lebzeiten eines Autors der Forschung zur Verfügung gestellt werden, spielen nicht nur Rechtefragen eine Rolle; vielmehr gilt es auch die Frage nach dem „Archivbewusstsein“ des Autors zu stellen.22 Ist Handke in der Freigabe seiner Materialien tatsächlich so großzügig und an deren weiterem Schicksal, so der Eindruck, so desinteressiert, dass er diese vielfach bereits verschenkt hat und sich an den Verbleib einiger, v. a. früher Stücke nicht erinnern kann, wie er in Gesprächen verrät?23 Oder ist die Abgabe an die Archive nicht vielmehr Indiz für ein bewusstes, gesteuertes Rezeptionsangebot, das es bei der Forschung mitzudenken gilt? Diese Frage stellt sich gerade mit Blick auf einen Autor, der sich in zahlreichen Selbstäußerungen öffentlich zu Wort meldet, dessen Korrespondenz in Editionen und Archiven eingesehen werden kann und zu dessen Leben und Werk umfangreiche Materialien zur Verfügung stehen. Zu nennen sind hier zum einen die Gespräche und Interviews, die auch von Forschungsseite mit dem Autor geführt und aufgezeichnet wurden und vielfach in Printfassungen zur Verfügung stehen.24 Zum anderen betrifft dies nicht nur die Notizbücher, die im Archiv aufbewahrt werden, sondern auch die, die von Handke selbst in Auswahl veröffentlicht wurden.25 Welchen Status haben diese Texte, Dokumente und Materialien für die literaturwissenschaftliche Arbeit, welcher Stellenwert wird ihnen beigemessen und welche Funktion kommt dabei dem Autor zu? Denn dass die Kategorie der Autorschaft hier eine Rolle spielt, der Autor in irgendeiner Form präsent und von Bedeutung ist, bestätigt nicht nur ein Blick auf die Forschungsliteratur zu Peter
22 Lepper: Wie kann man Geschichte der Germanistik nach 1945 schreiben?, S. 495. Die ersten vier hier systematisierten „Schwierigkeiten des Überlieferungsprozesses und der Archivierungsentscheidung“ (ebd., S. 494), die für eine Wissenschaftsgeschichte nach 1945 als Personengeschichte gelten (Schutz lebender Personen, Sperrfristen, Archivbewusstsein der Bestandsbildner, Umgang mit Zeitzeugen), lassen sich auch auf die Situation der Handke-Forschung übertragen. Der Frage des ‚Nachlassbewusstseins‘ von Schriftstellern widmete sich eine Tagung im Deutschen Literaturarchiv Marbach („Nachlassbewusstsein. Literatur im Zeitalter ihrer Archivierung“), die vom 4.–6.09.2013 stattfand. 23 Vgl. die Auskunft auf Handkeonline: http://handkeonline.onb.ac.at/node/501 (Stand: 30.08.2013). 24 Für die edierten Gespräche nach 1990 siehe die Forschungsbibliografie im vorliegenden Band. 25 Handke, Peter: Das Gewicht der Welt. Ein Journal (November 1975–März 1977). Salzburg 1977; Die Geschichte des Bleistifts. Salzburg, Wien 1982; Phantasien der Wiederholung. Frankfurt a. M. 1983; Am Felsfenster morgens (und andere Ortszeiten 1982–1987). Salzburg, Wien 1998; Gestern unterwegs. Aufzeichnungen November 1987 bis Juli 1990. Salzburg, Wien 2005; Ein Jahr aus der Nacht gesprochen. Salzburg, Wien 2010; Notizbuch Nr. 4. April – Mai 1976. Berlin 2013 (Insel Bücherei 1467).
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Handke, sondern ist vielmehr genuine Voraussetzung aller Forschung, die sich einen Autornamen auf das Titelblatt schreibt.26 Fasst man hier erneut die publizierte Forschungsliteratur ins Auge, so fällt auf, dass die Frage nach der Autorschaft vor allem zwei Funktionen erfüllt, die wichtige Weichen für die Textarbeit stellen, der eigentlichen Textinterpretation jedoch vorausgehen.27 Anknüpfend an Untersuchungen von Simone Winko lassen sich zwei Funktionen ausmachen, die bewusst oder unbewusst anerkannt und als Prämissen für die literaturwissenschaftliche Arbeit akzeptiert werden.28 So dient der Bezug auf den Autornamen, hier im Sinne der foucaultschen Autorfunktion, vor allem der heuristischen Selektion und Legitimation der eigenen Forschungsanstrengungen. Als Auswahlkriterium sorgt der Bezug auf den Autornamen für Überschaubarkeit in der schier endlosen Menge an Texten, die man als Literaturwissenschaftler untersuchen kann, indem er ein klar umgrenztes Korpus an Primärtexten zur Verfügung stellt. Die Prämissen, die man mit der Selektion eines Korpus über das Merkmal ‚Autorname‘ akzeptiert, werden dabei meist stillschweigend vorausgesetzt und müssen auch, dank des Rekurses auf den Autornamen, nicht explizit offengelegt und begründet werden. Allgemein akzeptiert wird eine Gruppe von Texten unter das Label einer spezifischen Ästhetik gestellt, die thematische, stilistische Einheitlichkeit und Vergleichbarkeit suggeriert. So wird auch den Texten aus der Feder Peter Handkes ein Zusammenhang unterstellt, der als Ausgangspunkt einer Untersuchung dienen kann, ohne explizit offengelegt und benannt werden zu müssen. Unter Verweis auf den Autornamen kann somit,
26 In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Kategorie des ‚Autors‘ ist die Rückkehr des Autors, mithin dessen Relevanz für die literaturwissenschaftliche Praxis, längst common sense. Vgl. dazu die einschlägigen Bände von: Jannidis, Fotis, Gerhard Lauer u. a. (Hg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Tübingen 1999; Jannidis, Fotis, Gerhard Lauer, Matias Martinez u. Simone Winko (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart 2000; Detering, Heinrich (Hg.): Autorschaft. Positionen und Revisionen. Stuttgart 2002. 27 Die Kategorie der Autorschaft hat hier natürlich auch unmittelbar eine Funktion für die Interpretation selbst; im Folgenden soll die Aufmerksamkeit auf die Entscheidungen gelegt werden, die vor der eigentlichen Untersuchung liegen. Vgl. dazu auch jüngst: Lepper, Marcel: „Vor der Interpretation: Hermeneutische Heuristik“. Erscheint in: Interpretationstheorie nach dem ‚practice turn‘. Theorien, Methoden und Praktiken des Interpretierens. Hg. v. Andrea Albrecht u. Olav Krämer. Berlin, New York (linguae & litterae), der sich ausführlich mit den konkreten Prozessstrukturen vor der Interpretation befasst. Zur Relevanz der Funktion der Autorkategorie für die hermeneutische Operation siehe ausführlich: Spoerhase, Carlos: Autorschaft und Interpretation. Methodische Grundlagen einer philologischen Hermeneutik. Berlin 2007 (Historia Hermeneutica 5). 28 Vgl. Winko, Simone: „Autorfunktionen. Zur argumentativen Verwendung von Autorkonzepten in der gegenwärtigen literaturwissenschaftlichen Interpretationspraxis“. In: Autorschaft. Positionen und Revisionen. Hg. v. Heinrich Detering. Stuttgart 2002, S. 334–354.
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heuristisch sehr praktisch, eine Auswahl getroffen werden, die letztlich nicht mehr belegt werden muss.29 Gleiches gilt für die Bildung und Rechtfertigung interpretationsleitender Thesen: Unter Bezug auf den Autornamen und die damit verbundene historische wie systematische Kontextualisierung werden Forschungsthema und -interesse legitimiert. Im Falle Handkes lässt sich hier eine starke Rückbindung an die Aussagen des Autors, wie sie in den zahlreichen Gesprächen, Interviews und öffentlichen Stellungnahmen dokumentiert sind, sowie an die Hinweise zu den ‚realen Schreibanlässen‘, wie sie in den Notizbüchern zu finden sind, ausmachen. Nicht nur die Autorkategorie dient hier also „der raumzeitlichen Fixierung der Bedeutungskonstitution und der Ausgrenzung historisch unplausibler Interpretationen“;30 vielmehr ist es der empirische Autor selbst, der als Rückversicherungsinstanz bei der Thesenbildung herangezogen wird. Doch funktionieren diese, zunächst einmal rein heuristischen Wege der Themenfindung, der Eingrenzung und Begründung lediglich als Instrumentarium, dessen sich der Forschende bedient, um seinen Weg durch die Menge zu finden und um bestimmte Untersuchungskorpora und Fragestellungen zu begründen? Handelt es sich hier also ausschließlich um eine gut funktionierende Praxis,31 oder folgt man doch einer autorintentionalen Vorgabe, indem man Handke aus Handke zu erklären versucht? Verfällt man der positivistischen Versuchung, die Aufklärung des Entstehungsprozesses von Dichtung, im Sinne Wilhelm Scherers, „in der Seele des Autors“ zu suchen?32 Werden Handkes Selbstaussagen und biografische Notate als interpretationsleitende Größen wahrgenommen? Werden, im
29 Winko: „Autorfunktionen“. In: Autorschaft. Hg. v. Detering, S. 344. 30 Spoerhase: Autorschaft und Interpretation, S. 7. 31 Winko: „Autorfunktionen“. In: Autorschaft. Hg. v. Detering, S. 336; Spoerhase: Autorschaft und Interpretation, S. 5. 32 Scherer, Wilhelm: „Goethe-Philologie (1877)“. In: Goethe im Urteil seiner Kritiker. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Goethes in Deutschland. Teil II. 1870–1918. Hg., eingeleitet u. kommentiert v. Karl Robert Mandelkow. München 1979 (Wirkung der Literatur. Deutsche Autoren im Urteil ihrer Kritiker 5), S. 78–90, Zitat S. 87. Vgl. hierzu auch den historischen Abriss zur GoethePhilologie bei Mandelkow, Karl Robert: „Goethe-Forschung als Paradigma literaturwissenschaftlicher Methodendiskussion im 20. Jahrhundert“. In: Wie international ist die Literaturwissenschaft? Methoden- und Theoriediskussion in den Literaturwissenschaften. Kulturelle Besonderheiten und interkultureller Austausch am Beispiel des Interpretationsproblems (1950–1990). Hg. v. Lutz Danneberg u. Friedrich Vollhardt in Zusammenarb. m. Hartmut Böhme u. Jörg Schönert. Stuttgart, Weimar 1996, S. 168–180, besonders S. 169. Vgl. ebenso: Hamacher, Bernd: „‚Schall und Rauch‘. Historische Kernbereiche der Germanistik im Lichte der Fachentwicklung: Poetik, Biographik, Lexikographie“. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 81 (2007) H. 4, S. 638–656.
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Sinne der ‚biografischen Methode‘, Handkes biografische Spuren als „heuristische Quelle für eine nähere Bestimmung des Werkes“33 genutzt? Tarnen sich hier also vor allem auch methodisch relevante Entscheidungen als pragmatische Praxisentscheidungen? Was verbirgt sich also hinter der eingangs zitierten ‚Handkehaftigkeit‘? Denn der Erfolg der Marke ‚Handke‘ scheint sich nicht allein auf stilistische Qualität, lexikalische Merkmale und bestimmte Topoi zurückführen zu lassen. Vielmehr scheint sich hinter dem Attribut der ‚Handkehaftigkeit‘ auch ein bestimmter Habitus zu verstecken, der sich aus dem Zusammenspiel von Ästhetisierungsgestus auf der einen und einer Art von Verwertbarkeitsverweigerung auf der anderen Seite beschreiben lässt. Ein Habitus, der schon im ‚Erfolgsjahr‘ 1966 kultviert und gepflegt wird, wenn Handke zum einen auf die Veränderungskraft der Sprache setzt, auf die Möglichkeit, mit und durch Sprache das Leben, die Wirklichkeit verwandeln zu können, und gleichzeitig als schimpfendes Enfant terrible des Literaturbetriebs in Erscheinung tritt. Ästhetische Destruktionsgesten und der Glaube an die Kraft des Mediums Sprache, wie sie sich exemplarisch schon in Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt (1969) und Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms (1972) finden, sind ebenso Kennzeichen Handkes wie seine provozierenden Äußerungen. Allein aus den feuilletonistischen Stellungnahmen an lässlich seiner runden Geburtstage lässt sich ein eigener Handke-Thesaurus füllen.34 Als Provokateur, Rebell des Literaturbetriebs, Eigenbrötler, Außenseiter und Individualist wird Handke zum Pop-Star erklärt, der politische Tabus bricht, der schockt, schimpft, polarisiert und brüskiert. Gleichzeitig, und das ist Teil des Phänomens, ist Handkes Verweigerungsgestus in hohem Maße marktkompatibel und literaturbetriebskonform, scheint dieser gerade Teil der Aufmerksamkeitsindustrie zu sein, ja, diese geradezu zu bedienen und zu fördern. Gleiches gilt auf anderer Seite auch für die Literaturwissenschaft, ist doch gerade Handkes Ästhetisierungsgestus in hohem Maße anschlussfähig und ästhetisch-hermeneutisch pragmatisierbar. Das Phänomen Handke erweist sich somit auch als ein laufendes Experiment mit enormen Rückkopplungseffekten in alle Richtungen, in den Literaturbetrieb und die Öffentlichkeit ebenso wie in die Literaturwissenschaft – die sich immer
33 Kindt, Tom u. Harald Müller: „Was war eigentlich Biographismus und was ist aus ihm geworden?“. In: Autorschaft. Hg. v. Detering, S. 355–375, Zitat S. 356. 34 Vgl. dazu die umfangreiche Zeitungsausschnittsammlung der Mediendokumentation im Deutschen Literaturarchiv Marbach (Signatur Z:Handke, Peter), die Zeitungsausschnitte ab 1966 umfasst, darunter auch umfangreiche Mappen in der Sektion „4. Würdigungen“.
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aufs Neue die Frage gefallen lassen bzw. stellen muss, inwieweit sie selbst in Handke’schen Duktus verfällt und sich diesen anverwandelt. *** Dieser Band geht auf die Tagung „Peter Handke. Stationen, Orte, Positionen“ zurück, die im Kontext des Internationalen Suhrkamp-Forschungskollegs vom 16. bis 17. Februar 2012 im Deutschen Literaturarchiv Marbach stattfand. Anliegen war es, die gegenwärtigen Forschungsdebatten und -diskussionen um Peter Handke in der Breite zu sondieren, aktuelle Trends und Tendenzen zu diskutieren und zu dokumentieren. Der vorliegende Band bietet einen Querschnitt aus der Tagungsdiskussion, der sich in vier thematisch-systematische Bereiche untergliedert, die als paradigmatisch für die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung um Peter Handke gelten können. So versammelt der Band Überlegungen von Jürgen Brokoff und Christian Luckscheiter zu Handkes politischen Stellungnahmen und poetischen Verhandlungen anlässlich des Jugoslawien-Kriegs, die als jüngstes Polarisierungsereignis um den Autor Peter Handke gelten können (I. Poetik und Politik). Tim Lörke, Tanja Angela Kunz und Katharina Pektor widmen sich in ihren Beiträgen in detailgenauen Untersuchungen den literarischen Schreibweisen und fragen nach der ästhetischen wie ethischen Dimension von Handkes Texten (II. Erfahrung und Sprache). Das Potential einer stärker auf die jüngst in die Archive eingegangenen Materialien fokussierenden Forschung wird in der dritten Sektion beleuchtet und von Ulrich von Bülow und Dominik Srienc exemplarisch ausgelotet. Malte Herwig reflektiert das Unterfangen des Schreibens einer Biografie eines lebenden (und zu Lebzeiten im Archiv präsenten) Autors vor dem Hintergrund gegenwärtiger Autorschaftsdebatten (III. Lesen und Schreiben). Den Abschluss des Bandes bilden die Dokumentation des im Tagungsrahmen geführten Gesprächs mit Sibylle Lewitscharoff und Ulrich Greiner über Peter Handke sowie eine ausführliche Forschungsbibliografie (IV. Dokumentation). Allen Referentinnen und Referenten sei an dieser Stelle für ihre Beiträge und das Gelingen der Tagung herzlich gedankt. Ebenso gilt mein Dank allen am Suhrkamp-Forschungskolleg Beteiligten, den Kolleginnen und Kollegen am Deutschen Literaturarchiv Marbach, den Partnern des Suhrkamp-Forschungskollegs ebenso wie den Doktorandinnen und Doktoranden. Ein großer Dank geht auch an alle Hilfskräfte, besonders an Laetitia Wrzodek, für die Unterstützung bei der Vorbereitung dieses Bandes. Abschließend sei dem Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg für den Beitrag zum Gelingen der Tagung herzlich gedankt. Marbach, im August 2013
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Anna Kinder
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I. Poetik und Politik
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Jürgen Brokoff
„Ich wäre gern noch viel skandalöser“ Peter Handkes Texte zum Jugoslawien-Krieg im Spannungsfeld von Medien, Politik und Poesie
1 Wiederkehr der Geschichte Kaum ein Ereignis hat die im Revolutionsjahr 1989 einsetzende Rede vom „Triumph des Westens, des westlichen Denkens“1 so sehr und vor allem so schnell Lügen gestraft wie der Jugoslawienkrieg der 1990er Jahre. Weit davon entfernt, ein „Ende der Geschichte“2 zu markieren, das die ‚siegreichen‘ liberalen Demokratien westlicher Prägung alternativlos erscheinen ließ, leitete der 1991 mit dem Zehntagekrieg in Slowenien beginnende Zerfall Jugoslawiens nach den Worten von Aleksandar Tišma eine blutige „Wiederkehr der Geschichte“3 ein. Mit einer Vehemenz, die nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges und der NS-Diktatur nicht mehr für möglich gehalten wurde, eroberte der mit Gewalt und Krieg einhergehende Nationalismus die Agenda der europäischen Politik zurück.4 Die schmerzliche Einsicht, dass sich „Europa im Krieg“5 befinde, warf dabei nicht nur einen dunklen Schatten auf das „absolute[] und bedingungslose[] Recht auf Souveränität“6 der Nationalstaaten, die aus dem Zerfall Jugoslawiens gewaltsam hervorgegangen waren. Als ebenso problematisch erwies sich das mit Unwillen gepaarte Unvermögen der europäischen und internationalen Staatengemeinschaft, den Ausbruch des Kriegs zu verhindern und ihn nach dem Ausbruch einzudämmen. Insofern bestand schon zur damaligen Zeit aus westlicher Perspek-
1 Fukuyama, Francis: „Das Ende der Geschichte?“ In: Europäische Rundschau. Vierteljahreszeitschrift für Politik, Wirtschaft und Zeitgeschichte 17 (1989) H. 4, S. 3–25, Zitat S. 3. 2 Fukuyama: Das Ende der Geschichte?, S. 3. 3 Tišma, Aleksandar: „Wiederkehr der Geschichte“. In: Europa im Krieg. Die Debatte über den Krieg im ehemaligen Jugoslawien. Hg. v. Willi Winkler. Frankfurt a. M. 1992, S. 66–69, Zitat S. 66. 4 Fukuyama führt 1989 neben dem „religiösen Fundamentalismus“ den „Nationalismus“ als einen „Widerspruch“ an, der „vom Liberalismus nicht gelöst werden kann.“ (Fukuyama: Das Ende der Geschichte?, S. 19). 5 So lautet der Titel einer 1992 in der Berliner tageszeitung erschienenen Reihe von Artikeln, die ein Jahr später als Buch in der edition suhrkamp erschien. Vgl. dazu Anm. 3. 6 Benhabib, Seyla: „Eine Träne im Ozean. Vom ‚Praxis‘-Sozialismus zum serbischen Nationalismus“. In: Europa im Krieg. Hg. v. Winkler, S. 146–157, Zitat S. 149.
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tive kein Anlass, selbstgefällig auf die Ereignisse und Vorgänge im ehemaligen Jugoslawien zu blicken.7 Einer der ersten deutschsprachigen Intellektuellen, die auf die neue, ernüchternde Lage publizistisch reagierten, war Hans Magnus Enzensberger, der nicht nur 1993 seine wenig optimistischen Aussichten auf den Bürgerkrieg veröffentlichte, sondern zuvor, am 5. September 1992, in der Berliner tageszeitung einen Text mit dem Titel Bosnien, Uganda. Eine afrikanische Ansichtskarte.8 Dort werden in einer Art fiktivem Dialog die fatalen Konsequenzen diskutiert, die aus afrikanischer Perspektive das von Slowenen, Kroaten und Kosovo-Albanern in Anspruch genommene Selbstbestimmungsrecht hat, und es wird die These aufgestellt, dass Bürgerkriege wie der im zerfallenden Jugoslawien nicht durch Intervention von außen, sondern letztlich nur durch die „Erschöpfung“9 der am Krieg beteiligten Akteure beendet werden können. Im Übrigen verspürt der Kartenschreiber, der den Ausführungen seines afrikanischen Gesprächspartners folgt, „keine Lust, ihm zu widersprechen“.10 Diese Unlust zum Widerspruch ist dabei weniger dem Defätismus oder gar Isolationismus des Kartenschreibers geschuldet als vielmehr der Zurückhaltung eines Zuhörers, der die leidvollen Bürgerkriegserfahrungen anderer aufmerksam zur Kenntnis nimmt. Zwei Monate nach der Veröffentlichung von Enzensbergers Artikel führt Peter Handke am 14. November 1992 in Chaville ein Gespräch mit dem Slowenen Jože Horvat, in dem es um die intellektuelle und literarische Auseinandersetzung des österreichischen Schriftstellers mit Slowenien, Jugoslawien und dem dort ausgebrochenen Krieg geht. Gleich am Anfang des Gesprächs kommt Handke auf die brisante Bürgerkriegsthese von Enzensberger zu sprechen und äußert die Befürchtung, dass es „jetzt wirklich so aus[sieht], als könnte das wahr werden“.11 Nach einer kurzen Überlegung, ob eine Volksbewegung in Jugoslawien die kriegerische Entwicklung stoppen könne, äußert Handke einen Satz,
7 Die intellektuelle Selbstgefälligkeit des Westens ist ein wichtiger Gegenstand der Kritik in Botho Strauß’ umstrittenem Essay Anschwellender Bocksgesang von 1993. Vgl. Strauß, Botho: „Anschwellender Bocksgesang“. In: Ders.: Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. Bemerkungen zu einer Ästhetik der Anwesenheit. München, Wien 1999, S. 55–78. 8 Enzensberger, Hans Magnus: „Bosnien, Uganda. Eine afrikanische Ansichtskarte“. In: Ders.: Zickzack, Aufsätze. Frankfurt a. M. 1997, S. 89–94. 9 Enzensberger: Bosnien, Uganda, S. 94. 10 Enzensberger: Bosnien, Uganda, S. 94. 11 Handke, Peter: „Noch einmal vom Neunten Land. Paris, 1992“. In: Noch einmal vom Neunten Land. Peter Handke im Gespräch mit Jože Horvat. Klagenfurt, Salzburg 1993, S. 71–101, Zitat S. 72. – Handke bezieht sich in diesem Gespräch auch ausdrücklich auf die eingangs angeführte These vom „Ende der Geschichte“ und stellt ihr die eigene von der Fortsetzung der Geschichte unter dem Zeichen des ‚Schreckens‘ entgegen. Vgl. ebd., S. 85.
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dem eine programmatische Bedeutung zukommt: „Nein, ich weiß es nicht, ich weiß es nicht.“12 Das 1992 geführte Gespräch, das ein Jahr später unter dem Titel Noch einmal vom Neunten Land veröffentlicht wurde, ist Handkes zweite explizite Äußerung zu den Geschehnissen in Slowenien und Jugoslawien. Ihr geht, auch in Handkes eigener Wahrnehmung, als erste explizite Äußerung ein Artikel voran, der 1991 unter dem Titel Abschied des Träumers vom Neunten Land zunächst in der Süddeutschen Zeitung und dann als Buch veröffentlicht wurde. Anders als der Text Abschied des Träumers, der das Ausscheren Sloweniens aus dem jugoslawischen Bundesstaat scharf kritisiert, ist das ausführliche, dreißig Druckseiten umfassende Gespräch von 1992 weitgehend unbekannt geblieben. Es wurde in der nachfolgenden Debatte über Handkes Jugoslawien-Texte kaum zitiert. Dies hängt nicht nur mit der Publikation an einem vergleichsweise entlegenen Ort, einem kleinen österreichischen Literaturverlag, zusammen, sondern auch damit, dass sich in diesem Gespräch keine einzige anstößige Stelle findet, die Anlass für einen öffentlichen Skandal bietet. Stattdessen wird ein tastender, Fragen stellender Autor sichtbar, der nach Erklärungen sucht und der seiner Trauer um Jugoslawien, das der Vergangenheit angehört, Ausdruck verleiht. Das Gespräch bildet, was für die Einschätzung der weiteren Entwicklung wichtig ist, gemeinsam mit dem Text Abschied des Träumers den Auftakt, die erste Station jener Textgruppe von Essays und Reiseberichten, die man im engeren Sinne als Handkes Jugoslawien-Texte bezeichnen kann. Zu dieser Textgruppe, die nach heutigem Stand den Zeitraum von 1991 bis 2011 umfasst, gehören unter anderem die folgenden Texte: Abschied des Träumers vom Neunten Land (1991); Noch einmal vom Neunten Land (1992); Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina (1996); Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise (1996); Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom Krieg (1999); Unter Tränen fragend (2000); Rund um das Große Tribunal (2003); Die Tablas von Daimiel (2005); Die Kuckucke von Velika Hoča (2009) und Die Geschichte des Dragoljub Milanović (2011). Dass es in Handkes literarischem Werk schon früh – seitdem er den Roman Die Hornissen (1966) auf der jugoslawischen Insel Krk geschrieben hat – eine intensive Beschäftigung mit der Jugoslawien- und Slowenienthematik gibt, ist durch die literaturwissenschaftliche und biographische Forschung inzwischen hinreichend belegt worden.13 Im Folgenden soll von Handkes eigener Einschätzung ausgegangen werden, dass der 1991 veröffentlichte Text Abschied des Träu-
12 Handke: Noch einmal vom Neunten Land, S. 72. 13 Vgl. Hafner, Fabjan: Peter Handke. Unterwegs ins Neunte Land. Wien 2008; Ders.: „Es ist die Muttersprache, aber die Mutter ist lange tot … Slowenisches im Werk Peter Handkes“. In: Peter
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mers, und nicht etwa der Roman Die Wiederholung von 1986, der erste (und aus damaliger Sicht: „einzige“14) Text gewesen ist, in dem er „wirklich […] zu Jugoslawien und Slowenien“15 geschrieben hat. Bevor eine Einordnung der genannten Texte in das Spannungsfeld von Medien, Politik und Poesie vorgenommen werden kann, ist eine Erörterung der Bedeutung des Gesprächs von 1992 notwendig. Denn dieses von jeder Polemik freie Gespräch enthält die unverwirklichten und verschütteten Möglichkeiten, wie der öffentliche Diskurs über die Jugoslawienproblematik hätte geführt werden können, wenn sich nicht beide Seiten im Verlauf der Debatte so sehr ineinan der verkeilt hätten: ein auf Sensationen und Skandalproduktion16 fixierter Öffentlichkeitsbetrieb einerseits und ein die Provokation suchender Autor Handke andererseits. Deutlich wird dies an vier Punkten des Gesprächs von 1992, die vollkommen quer zur späteren Debatte liegen. Im Gespräch zwischen Horvat und Handke ist unstrittig, dass es innerhalb der jugoslawischen Bundesorgane ein Hegemonialstreben Serbiens gegeben hat, das insbesondere die Slowenen und die Kosovo-Albaner in die Sezession getrieben hat. Diese Anerkenntnis ist durchaus vereinbar mit einer Kritik am Nationalismus derer, die die Sezession für ihre Zwecke instrumentalisiert haben. Zweitens ist im Gespräch von 1992 unstrittig, dass die Kosovo-Albaner zu dieser Zeit ein „wirklich bedroht[es]“17 Volk sind. Dieser Befund steht zum einen quer zu Handkes späterer Sichtweise etwa in Die Kuckucke von Velika Hoča (2009), bei deren Einschätzung freilich die politische Entwicklung des Kosovo zu einer von der kosovo-albanischen Bevölkerungsmehrheit beherrschten und von Serbien unabhängigen Republik berücksichtigt werden muss.18 Zugleich lässt sich der Befund vom seinerzeit „bedroht[en]“ Volk der Kosovo-Albaner durchaus mit einer Kritik am völkerrechtswidrigen NATOKrieg gegen Serbien verbinden.19 Drittens besteht im Gespräch von 1992 weitge-
Handke. Poesie der Ränder. Hg. v. Klaus Amann, Fabjan Hafner u. Karl Wagner. Wien, Köln u. Weimar 2006 (Literaturgeschichte in Studien und Quellen 11), S. 47–63. 14 Handke: Noch einmal vom Neunten Land, S. 95. 15 Handke: Noch einmal vom Neunten Land, S. 95. 16 Die Forschungsliteratur zur öffentlichen Skandalproduktion ist inzwischen sehr umfangreich. Vgl. aus literatur- und kulturwissenschaftlicher Sicht u. a. die Sammelbände: Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen. Hg. v. Stefan Neuhaus u. Johann Holzner. Göttingen 2007; Skandale. Strukturen und Strategien öffentlicher Aufmerksamkeitserzeugung. Hg. v. Kristin Bulkow u. Christer Petersen. Wiesbaden 2011. 17 Handke: Noch einmal vom Neunten Land, S. 75. 18 Zur jüngeren Geschichte des Kosovo vgl. Rathfelder, Erich: Kosovo. Geschichte eines Konflikts. Berlin 2010. 19 Vgl. dazu den Sammelband: Der Kosovo-Krieg und das Völkerrecht. Hg. v. Reinhard Merkel. Frankfurt a. M. 2000.
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hend Einigkeit darüber, dass sich in Serbien unter Slobodan Milošević ein „totalitäre[s] System“20 herausgebildet habe. Die spätere Debatte hätte einiges von ihrer unversöhnlichen Schärfe verloren, wenn Handke dies in seinen Schriften zur Prozess- und Tribunalskritik bekräftigt und die öffentliche Berichterstattung ihrerseits auf die immergleichen Formeln wie ‚der Schlächter vom Balkan‘ verzichtet hätte. Und viertens hat im Gespräch zwischen Horvat und Handke die Unterscheidung zwischen journalistischer und literarischer Sprache noch nicht den agonalen Charakter eines „Endspiels“ angenommen, der die Debatte im weiteren Verlauf auf beiden Seiten kennzeichnen wird.21 Im Gespräch von 1992 geht es stattdessen, und darin ähnelt es Enzensbergers Text, um den Gegensatz zwischen Nicht-Zuhören-Können und schnellem Geschichtenschreiben einerseits und aufmerksamem Zuhören andererseits. Handke stellt sich im Gespräch ein „[H]infahren“22 ohne Schreiben vor: „[D]ort hingehen nur zum Zuhören, und nicht, um die Geschichten jetzt aufzuzeichnen und davon einen Bericht zu machen“.23 Aufzeichnungen und Berichte aber wird Handke seit Mitte der 1990er Jahre in direkter Konkurrenz zu den journalistischen Berichten anfertigen. Handke bleibt also, provoziert durch die vermeintliche oder tatsächliche Einseitigkeit journalistischer Kriegsberichterstattung, nicht beim ursprünglich geplanten bloßen „Zuhören“, das, wie man folgern darf, nur auf vermittelte und indirekte Weise Eingang in sein literarisches Werk gefunden hätte. Die im Gespräch von 1992 aufscheinenden Möglichkeiten werden hier nicht angeführt, um kontrafaktisch einen alternativen, das heißt friedlicheren und harmonischeren Verlauf der Debatte um Handkes Jugoslawien-Texte vorzustellen. Sie werden angeführt, weil Handkes Position nicht von vornherein festgelegt, sondern offen erscheint. Die Einsicht Handkes, die Lösung der Probleme im zerfallenden Jugoslawien auch nicht zu kennen – „Ich weiß nicht, was man tun könnte, ich weiß auch nicht“24 – ist in dieser Hinsicht programmatisch. Das bedeutet aber auch, dass sich Handkes Position erst im Verlauf der öffentlichen Debatte radikalisiert und verfestigt hat. Sie hat sich, so die These, aufgrund der von Handke wahrgenommenen Struktur des Öffentlichkeitsbetriebs radikalisiert und verfestigt. In diese Richtung deutet eine Aussage, die am Ende des Gesprächs
20 Handke: Noch einmal vom Neunten Land, S. 82. 21 Vgl. Wagner, Karl: „Handkes Endspiel: Literatur gegen Journalismus“. In: Mediale Erregungen? Autonomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und Kulturbetrieb der Gegenwart. Hg. v. Markus Joch, York-Gothart Mix u. Norbert Christian Wolf, in Zusammenarbeit m. Nina Birkner. Tübingen 2009, S. 65–76. 22 Handke: Noch einmal vom Neunten Land, S. 74. 23 Handke: Noch einmal vom Neunten Land, S. 79 (Hervorhebung, J. B.). 24 Handke: Noch einmal vom Neunten Land, S. 74.
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von 1992 steht. Dort äußert Handke: „[Ü]berall ist die Öffentlichkeit kaputt, ist doch klar, nicht?“25 Die Radikalisierung und Verfestigung von Handkes Position in den Texten zum Jugoslawienkrieg hängt eng mit der Annahme des Schriftstellers zusammen, dass die Öffentlichkeit „kaputt“ ist. Der folgende Versuch, ausgehend von dieser Annahme zentrale Aspekte von Handkes Position in der Jugoslawienfrage zu rekonstruieren, orientiert sich an den drei im Titel genannten Themenfeldern oder diskursiven Knotenpunkten, auf die Handkes Texte zum Jugoslawienkrieg bezogen sind. Es sind dies erstens: Medien, Fernsehbilder, Journalismus; zweitens: Politik, Recht, Tribunal, und drittens: Poesie, Symbolik, Zeichenhaftes.
2 Medien, Fernsehbilder, Journalismus Aus dem Bosnienkrieg, der von 1992 bis 1995 dauerte, ist ein Bild bekannt geworden, das die Bedeutung der massenmedialen Kommunikation in Krisen- und Kriegszeiten symbolhaft verdeutlicht.26 Das Bild zeigt einen abgemagerten Bosniaken, der in einer Gruppe von weiteren Häftlingen hinter einem mit Stacheldraht versehenen Zaun steht.27 Bei dem Mann handelt es sich um einen Bosniaken namens Fikret Alić. Dieser und die anderen auf dem Bild zu sehenden Häftlinge waren Insassen des Lagers Trnopolje, das zu den berüchtigten Lagern der bosnischen Serben gehörte. Das Bild, das Teil eines Filmdokuments ist, wurde am 5. August 1992 von einem britischen Fernsehteam der Independent Television News aufgenommen und am nächsten Tag erstmals ausgestrahlt. Als Ausschnitt aus dem Filmdokument wurde das Bild von vielen Zeitungen in ihre Kriegsberichterstattung übernommen, etwa von der Daily Mail, aber auch von der Berliner tageszeitung. Die Zeitungen stellten dabei assoziativ eine Verbindung zu den Konzent-
25 Handke: Noch einmal vom Neunten Land, S. 101. 26 Der folgende Abschnitt greift Ergebnisse auf, zu denen ich im Rahmen zweier Studien gekommen bin. Vgl. Brokoff, Jürgen: „‚Srebrenica – was für ein klangvolles Wort‘. Zur Problematik der poetischen Sprache in Peter Handkes Texten zum Jugoslawien-Krieg“. In: Kriegsdiskurse in Literatur und Medien nach 1989. Hg. v. Carsten Gansel u. Heinrich Kaulen. Göttingen 2011 (Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Medien 8), S. 61–88; Ders.: „‚Nichts als Schmerz‘ oder mediale ‚Leidenspose‘? Visuelle und textuelle Darstellung von Kriegsopfern im Bosnienkrieg (Handke, Suljagić, Drakulić)“. In: Repräsentationen des Krieges. Emotionalisierungsstrategien in der Literatur und in den audiovisuellen Medien vom 18. bis zum 21. Jahrhundert. Hg. v. Søren R. Fauth, Kasper Green Krejberg u. Jan Süselbeck. Göttingen 2012, S. 163–180. 27 Das Bild ist wiederabgedruckt in: Brokoff: ‚Nichts als Schmerz‘ oder mediale ‚Leidenspose‘?, S. 167.
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rationslagern der Nazis her („Belsen 92“)28 – und plädierten mehr oder weniger offen für ein militärisches Eingreifen der internationalen Staatengemeinschaft in den Bosnienkrieg. Weltweite Bekanntheit erlangte das Bild dann auf der Titelseite des Time Magazine vom 17. August 1992.29 Das US-amerikanische Nachrichtenmagazin übernahm das Bild mit dem Titel Must it go on? und mit dem Verweis auf die im Innenteil gebrachte Story Muslim prisoners in a Serbian detention camp. Der Journalist Ed Vulliamy, der das britische Fernsehteam im Sommer 1992 in Bosnien begleitete, beschreibt in seinem Buch Seasons in Hell. Understanding Bosnia’s War die öffentliche Bedeutung des Bildes folgendermaßen: „With his rib cage behind the barbed wire of Trnopolje, Fikret Alić had become the symbolic figure of the war, on every magazine cover and television screen in the world.“30 Auch die US-amerikanische Politologin und Philosophin Seyla Benhabib geht in ihrem für die tageszeitung geschriebenen Beitrag Eine Träne im Ozean auf das im Sommer 1992 verbreitete Bild ein, auf dem „ausgemergelte, hungrige, erschöpfte und unmenschlich behandelte Männer hinter Stacheldraht“31 die Fernsehzuschauer anblicken. Der deutsche Journalist Thomas Deichmann hat 1997 auf der Grundlage eigener Recherchen in Bosnien herausgefunden, dass dieses Bild, das um die Welt ging, zwar keine Fälschung war, aber doch eine Täuschung bzw. eine mediale Inszenierung.32 Deichmann konnte zeigen, dass „nicht die gefilmten Lagerinsassen und in ihrer Mitte Fikret Alić von einem Stacheldrahtzaun umgeben waren, sondern die britischen Journalisten, die aus einem so umzäunten Grundstück heraus über den Zaun hinweg in das Lagergelände hinein filmten“.33 Aufgefallen war Deichmann die Täuschung, weil der Stacheldraht an den Pfosten auf der Innenseite angebracht war, also dort, wo sich die Lagerinsassen befanden.34
28 So lautete die Schlagzeile in der Zeitung Daily Mirror vom 7. August 1992. 29 Das Titelbild ist wiederabgedruckt in: Brokoff: ‚Nichts als Schmerz‘ oder mediale ‚Leidenspose‘?, S. 168. 30 Vulliamy, Ed: Seasons in Hell. Understanding Bosnia’s War. London 1994, S. 202. 31 Benhabib: „Eine Träne im Ozean“. In: Europa im Krieg. Hg. v. Winkler, S. 146. 32 Vgl. Deichmann, Thomas: „‚Es war dieses Bild, das die Welt in Alarmbereitschaft versetzte‘. Ein Bild ging um die Welt, und es war ein falsches Bild vom Bosnienkrieg [1997]“. In: Noch einmal für Jugoslawien: Peter Handke. Hg. v. dems. Frankfurt a. M. 1999, S. 228–258. 33 Deichmann: „Es war dieses Bild“. In: Noch einmal für Jugoslawien. Hg. v. dems., S. 232. 34 Anlässlich der Verhaftung von Radovan Karadžić im Sommer 2008 griff die „Bild“-Zeitung das Bilddokument von 1992 wieder auf. Vgl. Mänz, Christina: „Fikret Alic. Ich bin der HungerMann aus dem Karadzic-Lager“. In: Bild, 27. Juli 2008; kritisch dazu: Nutt, Harry: „Vor dem Zaun – oder dahinter“. In: Frankfurter Rundschau, 30. Juli 2008.
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Das über Printmedien und Fernsehen verbreitete Bild führt vor Augen, welche weitreichenden Effekte eine Manipulation der Kriegskommunikation haben kann. Denn es sind solche Bilder, die die öffentliche Meinung in Bezug auf den Jugoslawienkrieg nicht unerheblich beeinflusst und, über das Meinungsklima vermittelt, auch auf die Akteure der internationalen Politik eingewirkt haben.35 Es liegt auf der Hand, auf dieser Grundlage eine Medienkritik zu formulieren, die den interessegeleiteten und instrumentellen Gebrauch von Bildern und Texten in der Kriegsberichterstattung in den Blick nimmt. Handke leistet genau das in seinen Jugoslawien-Texten. Selbst Kritiker, die den politischen Äußerungen Handkes zu Serbien und zum damaligen Präsidenten Milošević skeptisch gegenüberstehen, bestätigen die im Grundsatz zutreffende Medienkritik des österreichischen Schriftstellers.36 Handke kritisiert die Manipulation und die Vermarktung vieler Bilder und Geschichten, die unter dem Deckmantel der Informationspflicht das Leid der zumeist muslimischen Kriegsopfer medial ausschlachten und für eigene Zwecke instrumentalisieren. In manchen Fällen stimmten, so Handkes Kritik, die produzierten Bilder mit den dazugehörigen Texten nicht überein, wenn etwa im Bild muslimische Täter gezeigt werden, diese aber im Text als Serben ausgegeben werden.37 In anderen Fällen handelt es sich, so Handke, um „gestellte[ ] Aufnahmen“,38 die den ökonomischen oder politischen Interessen der Bildermacher bzw. ihrer Auftraggeber dienen.39 Entscheidend ist jedoch, dass Handke es
35 Zur Rolle der PR-Agenturen im Jugoslawienkrieg vgl. Beham, Mira: Kriegstrommeln. Medien, Krieg und Politik. München 1996; Becker, Jörg u. Mira Beham: Operation Balkan: Werbung für Krieg und Tod. Baden-Baden 22008; zu Aspekten der internationalen Jugoslawienpolitik vgl. Calic, Marie-Janine: Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert. München 2010, S. 308–327; Ei sermann, Daniel: Der lange Weg nach Dayton. Die westliche Politik und der Krieg im ehemaligen Jugoslawien 1991 bis 1995. Baden-Baden 2000. 36 Zu Handkes Medienkritik vgl. Breuer, Ulrich: „Parasitenfragen. Medienkritische Argumente in Peter Handkes Serbienreise“. In: Mediensprache – Medienkritik. Hg. v. dems u. Jarmo Korhonen. Frankfurt a. M. u. a. 2001 (Finnische Beiträge zur Germanistik 4), S. 285–303. 37 Vgl. Handke, Peter: Rund um das Große Tribunal. Frankfurt a. M. 2003, S. 33. – Vom umgekehrten Fall, in dem muslimische Kriegsopfer als serbische Opfer ausgegeben werden, berichtet die kroatische Autorin Dubravka Ugrešić. Vgl. Dies.: Die Kultur der Lüge. Frankfurt a. M. 1995, S. 125. 38 Handke, Peter: „Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien“. In: Ders.: Abschied des Träumers – Eine winterliche Reise – Sommerlicher Nachtrag. Frankfurt a. M. 1998, S. 33–161, Zitat S. 68. 39 Eine Ausnahme sieht Handke im Band Farewell to Bosnia von Gilles Peress (Zürich 1994), den der Kriegsreporter Gabriel Grüner dem Schriftsteller 1996 während eines Interviews für das Magazin Stern zur Verfügung gestellt hat. Grüner ist am 13. Juni 1999, drei Tage nach dem offiziellen Ende des Kosovo-Kriegs, bei Prizren in einen Hinterhalt geraten und getötet worden. Vgl. „‚Vielleicht bin ich ein Gerechtigkeitsidiot‘. Peter Handke im Gespräch mit dem Kriegsreporter
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nicht bei dieser Medienkritik belässt. Die Kritik an einer interessegeleiteten Medienberichterstattung, die die komplexen Zusammenhänge des Kriegsgeschehens oftmals verschleiert, veranlasst ihn, das Leid der Opfer selbst in Zweifel zu ziehen, insbesondere das Leid der bosnisch-muslimischen Opfer: Diese, so war es jedenfalls nicht selten zu sehen, ‚posierten‘ zwar nicht, doch waren sie, durch den Blick- oder Berichtsblickwinkel, deutlich in eine Pose gerückt: wohl wirklich leidend, wurden sie gezeigt in einer Leidenspose. Und im Lauf der Kriegsberichtsjahre, dabei wohl weiterhin wirklich leidend, und wohl mehr und mehr, nahmen sie für die Linsen und Hörknöpfe der internationalen Belichter und Berichter, von diesen inzwischen angeleitet, gelenkt, eingewinkt (‚He, Partner!‘), sichtlich wie gefügig die fremdgewünschten Martermienen und -haltungen ein.40
Handkes Verdacht, dass nicht nur die Bilder und Bildermacher lügen, sondern möglicherweise auch die auf den Bildern zu sehenden Opfer, ist auch deshalb kritikwürdig, weil er auf der anderen Seite den serbischen Opfern des Bosnienkrieges deren Artikulation von Leid und Schmerz ohne Bedenken abnimmt. So ist das Weinen und Klagen der Mütter um ihre gefallenen Söhne, das sich dem Reisenden auf einem bosnisch-serbischen Gefallenenfriedhof darbietet, der „von nichts als dem Schmerz hervorgebrachte, und geleitete, und betonte, und beherrschte Totenbahrenmonolog“.41 Dort – bei den Bosniaken – die mediale Inszenierung einer „Leidenspose“, hier – bei den bosnischen Serben – der restlos-authentische Ausdruck von „nichts als Schmerz“. Man könnte sagen, dass Handke an dieser Stelle mit zweierlei Maß misst und damit selbst die bei anderen zu Recht kritisierte Einseitigkeit der medialen Berichterstattung befördert. Daran ändert sich auch nichts durch den Zusatz in Handkes Text, dass das „Totenklagen dort auf dem serbisch-orthodoxen Friedhof das sicher ganz gleiche, nur verschieden sich äußernde Weh woanders natürlich miteinschloß“.42 Unabhängig davon, dass das verwendete Wort „sicher“ die Aussage relativiert, indem es das unzweifelhafte Wissen um die echte serbische Trauer zum generösen Glauben an die gleichfalls echte Trauer der anderen herabstuft, ist die gewählte Formulierung „woanders“ unpräzise. Falls damit die Trauer der bosnisch-muslimischen und der kroatischen Mütter gemeint ist, stellt sich die Frage, warum diese nicht beim
Gabriel Grüner“. In: Noch einmal für Jugoslawien: Peter Handke. Hg. v. Deichmann, S. 107–113, hier S. 109. 40 Handke: „Eine winterliche Reise“. In: Ders.: Abschied des Träumers, S. 67. 41 Handke, Peter: „Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise“. In: Ders.: Abschied des Träumers, S. 163–250, Zitat S. 205. 42 Handke: „Sommerlicher Nachtrag“. In: Ders. Abschied des Träumers, S. 206 f.
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Namen genannt werden. Handkes Sprache ist in dieser Frage entgegen ihrem eigenen poetischen Anspruch ‚nebulös‘.43 Als ebenso kritikwürdig ist die Tatsache anzusehen, dass Handke im Verlauf der Reiseberichte aus Serbien seine Kritik an den massenmedial produzierten Bildern aufgibt und sich diesen freiwillig ausliefert. Im Text Unter Tränen fragend von 2000 begrüßt Handke die während des Kosovo-Kriegs vom serbischen Staatsfernsehen RTS (Radio-Televizija Srbije) ausgestrahlte Propaganda, die in einer Mischung aus Mythologie und Folklore 44 das serbische Volk zusammenschweißen soll: Und erstmals da mein Gedanke, es gebe eine Art ‚Propaganda‘, die nichts Gemachtes oder gar Bezwecktes sei, vielmehr auch etwas Naturgewachsenes sein könne, als ‚Propaganda‘ wahrnehmbar allein durch Verbreitetwerden, Propagiertwerden. Vorstellung: dieses Land sieht sich von einer unbezwingbaren Übermacht bedroht, umzingelt, eingekesselt – und was tut es? Es zieht sein ältestes und feiertäglichstes Gewand an, und warum nicht seine schönste Volkstracht?, und es tanzt seine ältesten und traditionellsten Tänze. Es singt. Es zeigt und erzählt, so bedroht, die friedlichsten und unschuldigsten der Bilder von sich selbst – auch wenn diese sonst oft lügen, jetzt im Not- und Bedrängnisfall, lügen sie einmal nicht […]. Ja, Propaganda. Solche Propaganda: ja – für einmal ja! Und selbst die dazu wiederholte Propaganda-Formel von der ‚faschistischen Aggression der NATO‘: für einmal ja zu solcher Formel.45
Im 2011 veröffentlichten Text Die Geschichte des Dragoljub Milanović kommt Handke auf die vom serbischen Staatsfernsehen während des Kosovo-Kriegs ausgestrahlten Bilder zurück. In diesem Text heißt es, dass er, Handke, „bezeuge, daß nicht ein einziges der damals [im Frühjahr 1999, J. B.] gezeigten Bilder und/oder Tonbilder […] etwas wie Tendenz oder Propaganda […] ausstrahlte“.46 Handkes jüngster Text zum Thema ist eine Verteidigungsschrift für den in Serbien inhaftierten Dragoljub Milanović, der zur Zeit des Kosovo-Kriegs Direktor des serbischen Staatsfernsehens RTS war und dem vorgeworfen wurde, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des 1999 von NATO-Bomben getroffenen Senders nicht rechtzeitig in Sicherheit gebracht zu haben. Über die Legitimität des NATOBombardements im Kosovo-Krieg und über die Rechtmäßigkeit der Verurteilung
43 Handke: „Eine winterliche Reise“. In: Ders.: Abschied des Träumers, S. 159. – Zum poetischen Anspruch von Handkes Jugoslawien-Texten vgl. Brokoff: ‚Srebrenica – was für ein klangvolles Wort‘, S. 61–67 u. S. 80–86. 44 Zur propagandistischen Funktion der Folklore in Kroatien und Serbien während des Jugoslawienkriegs vgl. Ugrešić: Die Kultur der Lüge, S. 73–79. 45 Handke, Peter: Unter Tränen fragend. Nachträgliche Aufzeichnungen von zwei JugoslawienDurchquerungen im Krieg, März und April 1999. Frankfurt a. M. 2000, S. 19 f. 46 Handke, Peter: Die Geschichte des Dragoljub Milanović. Salzburg, Wien 2011, S. 13.
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bzw. Inhaftierung von Milanović lässt sich kontrovers diskutieren, doch ebenso ist es notwendig, nach der Funktion und Stellung von Milanović im MiloševićRegime zu fragen.47 Das serbische Staatsfernsehen RTS, dessen Informationschef Milanović seit 1992 und dessen Direktor er seit 1995 war, ist eine der tragenden Säulen bei der Gleichschaltung der jugoslawischen und serbischen Fernsehöffentlichkeit gewesen, die 1987 begonnen hatte. Die sogenannten „Meetings der Wahrheit“, mit deren Hilfe Milošević die Provinzregierungen im Kosovo, in der Vojvodina und in Montenegro erfolgreich aushebelte, waren mediale Inszenierungen unter Federführung des damaligen Direktors des serbischen Staatsfernsehens Dušan Mitević. Insofern ist es zutreffend, wenn von Handkes bislang letztem Text zum Jugoslawienkrieg in einer Rezension kritisch gesagt wurde, dass dieser trotz vieler bedenkenswerter Aspekte nur die „halbe Geschichte“ 48 des Dragoljub Milanović erzählt habe.
3 Politik, Recht, Tribunal Im Gespräch mit Jože Horvat von 1992 äußert Handke die Überzeugung, dass „[d]as Poetische und das Politische […] nicht zu trennen [sind]“.49 Diese Äußerung lässt sich zum einen auf die verborgene politische Dimension seines literarischen Werks beziehen, wofür der Roman Die Wiederholung von 1986 ein Beispiel ist.50 Der Handke-Biograf Malte Herwig führt eine frühe Äußerung von Handke an, nach der „[j]eder Schriftsteller, der sich überhaupt entschieden hat zu schrei ben, […] sich schon zu einer Politik entschieden [hat], aber das ist seine eigene Politik und das ist keine Politik irgendeiner Partei, der er servil angehören muß.“51 Man kann in diesem Zusammenhang auch eine Äußerung von Handke aus dem Jahr 1996 anführen, die den poetischen Text als ein Skandalon versteht, das die professionelle Politik und die professionelle Berichterstattung mit ihren „eingefahrenen Medienstandards“52 nachhaltig zu stören versucht und sich ihnen in
47 Vgl. dagegen Handkes Einschätzung, die auf einer persönlichen Begegnung mit dem Inhaftierten im Jahr 2010 basiert: „Unvorstellbar, daß dieser Mensch, in der Epoche des Slobodan Milošević oder wann, ein Mächtiger gewesen war.“ (Handke: Die Geschichte des Dragoljub Milanović, S. 25). 48 Ernst, Andreas: „Die halbe Geschichte“. In: Neue Zürcher Zeitung, 27. August 2011. 49 Handke: Noch einmal vom Neunten Land, S. 80. 50 Vgl. Handke: Noch einmal vom Neunten Land, S. 79 f. 51 Handke-Zitat nach Herwig, Malte: Meister der Dämmerung. Peter Handke. Eine Biographie. München 2010, S. 261 f. 52 Handke: „Eine winterliche Reise“. In: Ders.: Abschied des Träumers, S. 70.
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den Weg stellt: „Jeder poetische Text ist problematisch, ist im Grunde skandalös. Ich wäre gern noch viel skandalöser.“53 Die Nicht-Trennung von Poetischem und Politischem lässt sich über das im engeren Sinne literarische Werk hinaus auch auf die Texte zum Jugoslawienkrieg beziehen, also auf jene Texte, die nach Handkes eigenen Worten im Unterschied zu seinem Romanwerk einen erkennbaren Bezug auf „Aktualitäten“54 haben und eine „Signalwirkung“55 ausüben. In der Erzählung Eine winterliche Reise bezeichnet Handke seine Jugoslawien-Texte als „Fragen zu der Sache selbst“.56 Damit begeben sich diese Texte ungeachtet ihres poetischen und literarischen Anspruchs in den Bereich des Politischen. Die politische Dimension von Handkes Jugoslawien-Texten kann hier nicht ausführlich dargestellt werden, zumal in dieser Sache unter Einschluss der publizistischen Gegenreaktionen auf Handkes Texte schon viele Aspekte erforscht wurden.57 Handkes Kritik an den nationalen Unabhängigkeitsbestrebungen Sloweniens und Kroatiens muss hier ebenso unberücksichtigt bleiben wie seine Erklärung des Massakers von Srebrenica aus dem Motiv der Rache, die freilich von Handke „unverzeihlich[ ]“58 genannt wird. Die Bezug-
53 Handke: „Vielleicht bin ich ein Gerechtigkeitsidiot“. In: Noch einmal für Jugoslawien. Hg. v. Deichmann, S. 113. – Aus dieser Äußerung lassen sich zwei unterschiedliche Interpretationen des Skandalösen ableiten. Erstens kann man – im Sinne einer Verteidigung von Handkes Schriften zum Jugoslawienkrieg – das Skandalöse poetischer Texte ins Feld führen, die im öffentlichen Diskurs Anstoß erregen und sich als unbequem erweisen. Man kann nicht bestreiten, dass dies eine wichtige Aufgabe poetischer Texte ist. Zu fragen wäre allerdings, inwiefern Handkes Texte zum Jugoslawienkrieg diesen poetischen Anspruch einlösen. Zweitens kann Handkes Wunsch, „noch viel skandalöser“ sein zu wollen, als Inszenierungs- und Aufmerksamkeitsstrategie eines Autors verstanden werden, der sich im literarischen Feld wirkungsvoll zu positionieren versucht. In diesem Fall, der sich werkbiographisch bis zu Handkes Rede auf dem Treffen der Gruppe 47 1966 in Princeton zurückführen lässt, ist das Skandalöse primär um des Skandalösen willen da und trägt mit zur Umwandlung der öffentlichen Sphäre in ein Erregungsspektakel bei. Dieses Problem betrifft nicht Handke allein, sondern auch die beiden anderen großen Kontroversen der 1990er Jahre um Schriftstellertexte: die Debatten um Botho Strauß’ Essay Anschwellender Bocksgesang (1993) und Martin Walsers Rede Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede (1998). Der Höhepunkt der Handke-Debatte im Jahr 1996 liegt zeitlich gesehen genau zwischen diesen Debatten. 54 Handke: Noch einmal vom Neunten Land, S. 94. 55 Handke: Noch einmal vom Neunten Land, S. 91. 56 Handke: „Eine winterliche Reise“. In: Ders.: Abschied des Träumers, S. 73. 57 Vgl. die Beiträge in den folgenden Sammelbänden: Peter Handke und der Krieg. Hg. v. Stefanie Denz u. Dagmar Pirkl. Innsbruck 2009; Noch einmal für Jugoslawien: Peter Handke. Hg. v. Thomas Deichmann. Frankfurt a. M. 1999; Die Angst des Dichters vor der Wirklichkeit. 16 Antworten auf Peter Handkes Winterreise nach Serbien. Hg. v. Tilman Zülch. Göttingen 1996. 58 Handke: „Sommerlicher Nachtrag“. In: Ders. Abschied des Träumers, S. 240. – Vgl. ebd., S. 242: „Für die Rache gilt kein Milderungsgrund.“
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nahme von Handkes Texten auf das Memorandum der Serbischen Akademie59 wird hier ebenso ausgespart wie die Überzeugung des Erzählers in der Schrift Sommerlicher Nachtrag, dass es die Massaker von Višegrad in der öffentlich dokumentierten Form nicht gegeben habe.60 Vielmehr soll der Blick auf Handkes Schriften zur juristisch-politischen Aufarbeitung des Jugoslawienkriegs gelenkt werden, die nach wie vor in der Hauptsache vom Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) in Den Haag geleistet wird. Zu beobachten ist in Handkes Tribunalsschriften eine Argumentationsstruktur, die mit seiner Medienkritik vergleichbar ist. Die beiden Texte Rund um das Große Tribunal von 2003 und Die Tablas von Daimiel von 2005 führen jeweils bedenkenswerte Argumente an, die eine Kritik an der Arbeit des Haager Tribunals ermöglichen. Im Text Rund um das Große Tribunal diagnostiziert Handke einen grundlegenden Paradigmenwechsel in der Darstellung von Angeklagten und Strafverfolgungsbehörden.61 Unter Verweis auf Kafka, auf eigene Erfahrungen mit den Institutionen des Rechts und unter Berücksichtigung der Filmgeschichte macht Handke eine signifikante Verlagerung des Interesses aus. Dieses Interesse bewege sich in filmischer, perspektivischer und medialer Hinsicht vom Angeklagten und der auf ihn bezogenen Unschuldsvermutung weg und wende sich stattdessen den Anklägern und den Vertretern der Strafverfolgungsbehörden zu. Handke gelangt aufgrund dieser Überlegungen zu bemerkenswerten Einsichten in die Medialität und Theatralität der Rechtsprechung, die das gegenwärtige Interesse der Forschung an solchen Fragestellungen vorwegnehmen.62 Hier wird ein vielversprechender Ansatzpunkt sichtbar, von dem aus Handkes Beschäftigung mit dem Recht grundsätzlich in den Blick genommen werden kann.63 In der Tribunalsschrift Die Tablas von Daimiel stellt Handke bedenkenswerte Überlegungen zur Ortsgebundenheit von Gerichten an. Je stärker der Sitz eines Gerichts mit „seinem Ort, seiner Gegend, und insbesondere der Gesellschaft“64
59 Vgl. Brokoff: Srebrenica – was für ein klangvolles Wort, S. 72–75. 60 Vgl. Handke: „Sommerlicher Nachtrag“. In: Ders. Abschied des Träumers, S. 196–199; dazu Brokoff: Srebrenica – was für ein klangvolles Wort, S. 83–86. 61 Vgl. Handke: Rund um das Große Tribunal, S. 15–18. 62 Vgl. Vismann, Cornelia: Medien der Rechtsprechung. Hg. v. Alexandra Kemmerer u. Markus Krajewski. Frankfurt a. M. 2011. 63 Vgl. dazu Brokoff, Jürgen: „Übergänge. Literarisch-juridische Interferenzen bei Peter Handke und die Medialität von Rechtsprechung und Tribunal“. In: Tribunale. Literarische Darstellung und juridische Aufarbeitung von Kriegsverbrechen im globalen Kontext. Hg. v. Jürgen Brokoff, Werner Gephart u. a. Frankfurt a. M. 2014 (Recht als Kultur. Schriftenreihe des Käte Hamburger Kollegs 4), S. 157–171. 64 Handke, Peter: Die Tablas von Daimiel. Ein Umwegzeugenbericht zum Prozeß gegen Slobodan Milošević. Frankfurt a. M. 2006, S. 18 (Zuerst veröffentlicht in: Literaturen 7/8 (2005), S. 84–103).
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an diesem Ort verflochten ist, desto weniger gebe sich dieses Gericht als ein öffentliches Spektakel, als das „Neue Große Welttheater“.65 Erkennbar wird hier eine, wenn man so will, globalisierungskritische Stoßrichtung, die nicht nur in den Tribunalsschriften, sondern auch in den Reiseberichten der 1990er Jahre den abstrakten Begriff der „Welt“66 problematisiert. Kritisiert wird in dieser Perspektive die fehlende Ortsanbindung des internationalen Tribunals, die in der Tat ein großes Problem darstellt. Und zugleich hat die seinerzeit vielgeschmähte Hinwendung des Reisenden zu den konkreten, sinnlich fassbaren Dingen des Alltags, die sich als eine Poetologie des Augenscheins bis zum Werk Hugo von Hofmannsthals zurückführen lässt,67 in Handkes Abwendung von einer abstrakten „Welt“ ihren Ursprung. Konterkariert werden solche bedenkenswerten Reflexionen des Prozess- und Tribunalkritikers Handke durch eine Überdehnung der Kritik. Wenn in den Tribunalsschriften Richter und Ankläger als „im Sold der ‚Weltgemeinschaft‘“68 stehende Befehlsempfänger dargestellt werden, dann ist dies der Sache wenig angemessen, weil es suggeriert, dass die Finanzierung des Tribunals durch die Vereinten Nationen eine Weisungsbefugnis der internationalen Organisation in Prozessfragen impliziert.69 In dieselbe Richtung zielt die Bezeichnung des Tribunals als „Internationale[r] Sicherheitsratsgerichtshof“.70 Auch die Aussage, dass das „von Anfang, Grund und Ursprung falsch[e]“71 Tribunal der „Idee des Rechts […] scheußlichsten Hohn spricht“,72 geht, berücksichtigt man andere Analysen der Arbeit des Tribunals,73 an der Sache vorbei. Kann man diese Grundsatzkritik an der Einrichtung des internationalen Tribunals als freie Meinungsäußerung eines politisch engagierten Autors respektieren, so manifestiert sich in anderen Äußerungen eine tiefergehende Problematik. Handkes Suggestion, dass serbische Zeugen von der Tribunalverwaltung schlech-
65 Handke: Die Tablas von Daimiel, S. 19. 66 Handke: Rund um das Große Tribunal, S. 12; Handke: Die Tablas von Daimiel, S. 19. 67 Vgl. Handke: Abschied des Träumers, S. 9 f. 68 Handke: Rund um das Große Tribunal, S. 21; vgl. auch Handke: Die Tablas von Daimiel, S. 28. 69 Handke sieht hier implizit eine Aufhebung der „Gewaltenteilung von Exekutive und Rechtsprechung“ am Werk, von der er mit Blick auf die veränderte Darstellung von Kriminalfällen in Fernsehserien spricht. Vgl. Handke: Rund um das Große Tribunal, S. 17. 70 Handke: „Sommerlicher Nachtrag“. In: Ders. Abschied des Träumers, S. 244. 71 Handke: Die Tablas von Daimiel, S. 30. 72 Handke: Die Tablas von Daimiel, S. 30. 73 Vgl. Drakulić, Slavenka: They Would Never Hurt a Fly. War Criminals on Trial in The Hague. London 2004; dt. Übers.: Dies.: Keiner war dabei. Kriegsverbrechen auf dem Balkan vor Gericht. Wien 2004.
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ter behandelt werden als die „albanischen Zeugenschaften“,74 die in Handkes Texten meist als „Sippe“75 auftreten, kritisiert nicht nur das Rechtsinstitut, sondern auf versteckte Weise auch die Volksgruppe der Kosovo-Albaner. Und die Äußerung, dass in Srebrenica „muslimische[ ] Soldaten“76 getötet worden seien, macht aus dem Massaker von Srebrenica, das im Februar 2007 vom Internationalen Gerichtshof (IGH) als Völkermord eingestuft wurde, eine militärische Aktion, die nicht auf die Auslöschung einer Volksgruppe abzielte. Im Text Die Tablas von Daimiel von 2005 gibt es diesbezüglich einen textinternen Zusammenhang, der die Behauptung, dass in Srebrenica „muslimische Soldaten“ getötet worden seien, bekräftigt und verstärkt. Dieser Zusammenhang ergibt sich aus einem Gespräch mit ostbosnischen Serben, die Handke 2003 „in der Gegend von Srebrenica“77 besucht hat und deren Rede er in seinem Text wörtlich wiedergibt. Zu fragen ist, wie sich die Aussage der ostbosnischen Serben, die, wenn sie dazu in der Lage gewesen wären, „ganz Srebrenica ausgelöscht“78 hätten, zu Handkes eigenen Aussagen verhält. Übernimmt Handke mit seiner Formulierung von den getöteten „muslimischen Soldaten“79 die Sichtweise der von ihm befragten „Srebrenica-Serben“,80 die behaupten, dass „nach dem Fall von S. ausschließlich Soldaten“81 getötet wurden?82 Welche Funktion hat die in der Tribunalsschrift geschilderte Episode von einer Reise in das ostbosnische Dorf Kravica, wo sich Handke eine Kassette mit dem „zornigen Gesang“83 eines serbischen Guslar über das von bosnischen Muslimen an bosnischen Serben begangene „Weihnachtsmassaker“84 von 1993 kauft? Warum nimmt Handke in seinen Bericht über den Milošević-Prozess überhaupt die Episode aus Kravica auf? Damit ist ein letzter Punkt, die politische und poetische Symbolik von Handkes Jugoslawien-Texten angesprochen.
74 Handke: Rund um das Große Tribunal, S. 50. 75 Handke: Rund um das Große Tribunal, S. 49; vgl. ebd.: „Indessen kamen aus allen Richtungen mehr und mehr Kosovo-Albaner an den Tisch, […]“. – In einer anderen Episode, die im Text Die Tablas von Daimiel die Marginalisierung der serbischen Minderheit in der kosovarischen Stadt Dečani beschreibt, wird ebenfalls auf die große „Zahl“ der Kosovo-Albaner Bezug genommen: „Die Menge macht’s.“ (Handke: Die Tablas von Daimiel, S. 48). 76 Handke: Die Tablas von Daimiel, S. 24. 77 Handke: Die Tablas von Daimiel, S. 48. 78 Handke: Die Tablas von Daimiel, S. 50. 79 Handke: Die Tablas von Daimiel, S. 24. 80 Handke: Die Tablas von Daimiel, S. 49. 81 Handke: Die Tablas von Daimiel, S. 50. 82 Vgl. dazu auch Drakulić, Slavenka: „Ein Text und ein fatales Jubiläum“. In: Literaturen 9 (2005), S. 80 f., hier: S. 80. 83 Handke: Die Tablas von Daimiel, S. 52. 84 Handke: Die Tablas von Daimiel, S. 51 f.
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4 Détails significatifs und politische Symbolik Im Text Die Tablas von Daimiel führt Handke als einen Gewährsmann den französischen Historiker und Mediävisten Jacques Le Goff an, der bei seinen quellengestützten Forschungen auf vermeintlich nebensächliche, in Wahrheit aber deutsame und bezeichnende Einzelheiten achtgebe. Ein solches „détail be significatif“85 sei beispielsweise die Gestik des angeklagten Milošević gewesen, mit der dieser in Den Haag auf den Vorwurf der Kollaboration zwischen der serbischen Zentralregierung in Belgrad und der bosnisch-serbischen Armee reagiert habe. Im Nachwort der Schrift Die Kuckucke von Velika Hoča von 2009 reflektiert Handke darüber, dass im erinnernden Rückblick vor allem das vermeintlich Bedeutungslose an „Zeichenhaftem“86 gewinnt: Beim Besuch der serbischen Enklave Velika Hoča im Süden des Kosovo sind dies „reinweiße“ „Ferkel“,87 eine „geschrumpelte Morchel“88 und „blaßblaue[ ] Schmetterlinge“.89 Den unscheinbaren Details und übersehenen Gegenständen gilt von jeher Handkes Aufmerksamkeit. Es ist dieser Blick auf Details und Gegenstände, der auch in den SerbienBüchern zum Teil sehr eindringlich ist und der neben der erzählerischen Grundstruktur der Reiseberichte die poetische Qualität von Handkes Jugoslawien-Texten ausmacht. ‚Zeichenhafte‘, symbolische Bedeutung kommt dabei nicht nur den beschriebenen Dingen und Details, sondern auch den Erzählgegenständen der Texte zu. Angeführt sei aus dem Text Eine winterliche Reise die Episode mit dem mazedonischen Lastwagenfahrer, der dem Erzähler im europawürdig herausgeputzten Slowenien am Straßenrand begegnet und der ihm „wie aus den Jahren vor dem Krieg übriggeblieben“90 vorkommt. Die sich begegnenden Blicke des Fahrers und des Erzählers führen für den Bruchteil einer Sekunde zu einer stillen Übereinkunft zwischen beiden und zu einem schmerzvollen „gemeinsame[n] Gedächtnis“91 an das vergangene Jugoslawien.92 Handke erzählt an dieser Stelle literarisch eindringlich vom Verlust der alten jugoslawischen Kultur, die der österreichische Autor stets als ein Gegenmodell zu Nationalsozialismus und kroatischem UstašaFaschismus verstanden hat.
85 Handke: Die Tablas von Daimiel, S. 32. 86 Handke, Peter: Die Kuckucke von Velika Hoča. Eine Nachschrift. Frankfurt a. M. 2009, S. 97. 87 Handke: Die Kuckucke von Velika Hoča, S. 97. 88 Handke: Die Kuckucke von Velika Hoča, S. 98. 89 Handke: Die Kuckucke von Velika Hoča, S. 99. 90 Handke: „Eine winterliche Reise“. In: Ders.: Abschied des Träumers, S. 139. 91 Handke: „Eine winterliche Reise“. In: Ders.: Abschied des Träumers, S. 139. 92 Vgl. zu dieser Episode auch: Brokoff: ‚Srebrenica – was für ein klangvolles Wort‘, S. 80 f.
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Führt die symbolische Prägnanz der Darstellung an dieser Stelle zu einer poetischen Verdichtung des von Handke Erzählten, so erfüllt das ZeichenhaftSymbolische an anderen Stellen eine politische Funktion, die durchaus kritisch zu sehen ist. Dazu gehören die erzählerischen Einschübe im Text Die Tablas von Daimiel, die zum einen die Reise des Erzählers in das ostbosnische Dorf Kravica 2003 und zum anderen dessen Reise in den Kosovo im Frühling 1996 schildern. Das von bosnischen Serben bewohnte Dorf Kravica ist 1993 Schauplatz eines grausamen Massakers gewesen, das von Angehörigen der bosnisch-muslimischen Armee, die in Srebrenica eingeschlossen waren, begangen wurde. Der dafür verantwortliche Kommandant der Armee, Naser Orić, stand seit 2003 in Den Haag vor Gericht, wurde aber 2006 aus Mangel an Beweisen nur zu einer geringfügigen Haftstrafe verurteilt.93 Eine symbolische Bedeutung erhielt Kravica dadurch, dass das dort begangene Massaker an serbischen Zivilisten der bosnisch-serbischen Armee unter General Ratko Mladić als Rechtfertigung für das Massaker von Srebrenica im Juli 1995 diente. Wenn Handke nach Kravica reist, die Rede der hasserfüllten serbischen Bewohner der Region über die „Auslöschung“ Srebrenicas wiedergibt und sich, zehn Jahre nach dem Massaker von Srebrenica,94 vom „zornerfüllte[n] Erzählen“95 des serbischen Guslar fasziniert zeigt, dann partizipiert sein Text auf vertrackte Weise an der politischen Symbolik des Ortes Kravica. Eine ähnliche symbolische Funktion hat im Text Die Tablas von Daimiel die Schilderung einer Reise in das Kosovo. Im Kosovo erkennt der zurückblickende Erzähler bereits 1996, also noch vor den „ethnischen Säuberungen“ der Serben, Anzeichen für die Übergriffe und Pogrome, die 2004 Kosovo-Albaner an KosovoSerben begangen haben. Der Erzähler sieht im „tausendäugigen Registriert- und Für-nicht-vorhanden-Erklärtwerden“96 beim Heraustreten auf die Straße eine „Aktion, eine symbolische, ein Tun, das Vorwegnehmen eines Tuns“.97 Im Text Die Kuckucke von Velika Hoča deutet Handke das Fehlen orthodoxer Kirchen- und
93 Vgl. dazu das 309-seitige Urteil des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien, das unter der Fallnummer IT-03-68-T öffentlich zugänglich ist. 94 Slavenka Drakulić weist darauf hin, dass Handkes Text Die Tablas von Daimiel, wohl ohne Mitwirkung des Autors, „ausgerechnet“ in jenen Tagen in einer serbischen Zeitung nachgedruckt wurde, an denen sich das Massaker von Srebrenica zum zehnten Mal jährte. Vgl. Drakulić: Ein Text und ein fatales Jubiläum, S. 80. – Die Publizistin Sigrid Löffler hat zur selben Zeit Handkes Texte zum Jugoslawien-Krieg als „Zorngesänge“ bezeichnet. Vgl. Löffler, Sigrid: „Arbeit am Mythos des Jetzt“. In: Literaturen 9 (2005), S. 77–79, Zitat S. 79. 95 Handke: Die Tablas von Daimiel, S. 52. 96 Handke: Die Tablas von Daimiel, S. 48. 97 Handke: Die Tablas von Daimiel, S. 48.
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Klostersymbole auf einer albanischen Landkarte des Kosovo aus dem Jahr 2001 als symbolische Vorwegnahme der späteren Pogrome und Zerstörungen durch Kosovo-Albaner, die es 2004 nachweislich gegeben hat. Angesichts solcher Überlegungen („Vorwegnehmen eines Tuns“), die unbeweisbare Spekulation bleiben, wäre es im Sinne einer ausgewogenen Darstellung sinnvoll gewesen, wenn Handke in seinem Text auch auf die jahrzehntelange Diskriminierung der KosovoAlbaner durch Serben hingewiesen hätte. Schon das Memorandum der Serbischen Akademie von 1986 hatte die Kosovo-Albaner für den „Genozid am serbischen Volk“98 verantwortlich gemacht und damit eine Politik der Diskriminierung und Ausgrenzung gerechtfertigt. Da dieser Hinweis auf die Diskriminierung der Kosovo-Albaner unterbleibt, entsteht der Eindruck, als sei Handkes Text über die kosovo-serbische Enklave Velika Hoča und deren Bedrohung der symbolische Gegenentwurf zu Texten, die sich mit dem Fall einer anderen Enklave, der muslimischen von Srebrenica, beschäftigen. Vor dem Hintergrund des Ausgeführten fällt die Einschätzung von Handkes Texten zum Jugoslawienkrieg zwiespältig aus. Auf der einen Seite formuliert Handke berechtigte Einwände gegen die stereotypen Schematismen und die manipulative Kraft medialer Kriegsberichterstattung, problematisiert er die Arbeit eines lokal nicht verankerten Tribunals mit Schauspielcharakter und arbeitet, zumindest stellenweise, an einer poetischen Verdichtung seiner Texte zum Jugoslawienkrieg. Dem steht auf der anderen Seite ein Abgleiten in die Bejahung serbischer Fernsehpropaganda, die Anteilnahme an bosnisch-serbischen Rechtfertigungsversuchen und eine erzählerische Symbolpolitik gegenüber, die nicht frei von ideologischen Zügen ist. Ein Grundproblem von Handkes Texten zum Jugoslawienkrieg ist möglicherweise darin zu sehen, dass der österreichische Schriftsteller von einem tiefen Misstrauen gegenüber der Funktionsweise, dem Funktionieren der Öffentlichkeit in Zeiten der Mediendemokratie erfüllt ist. Dieses tiefe Misstrauen, das sich vor allem gegen die Methoden und Berichtsformen des Journalismus richtet und das nur zum Teil berechtigt ist,99 führt ihn seinerseits zu einer Darstellung, die zumindest in Teilen unausgewogen und vorurteilsbehaftet ist. Die Medienwissenschaft-
98 Memorandum of the Serbian Academy of Sciences and Arts. Answers to Criticisms. Hg. v. Miroslav Pantić. Belgrad 1995, S. 95–140, Zitat S. 128 („The […] genocide of the Serbian population“). 99 Handkes Kritik am Journalismus, die im Namen der literarischen Sprache erfolgt, weist durchaus Verbindungen zur Grundsatzkritik auf, die Martin Walser in seiner umstrittenen Friedenspreisrede von 1998 äußert: „Gibt es außer der literarischen Sprache noch eine, die mir nichts verkaufen will? Ich kenne keine.“ (Walser, Martin: Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede. Frankfurt a. M. 1998, S. 26).
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lerin Irmela Schneider hat anlässlich der Kontroverse um Botho Strauß’ SpiegelEssay Anschwellender Bocksgesang eine Struktur von „Reiz und Reaktion“100 herausgearbeitet, die nicht nur die Kommunikationsformen einer durchökonomisierten und von der Medienkonkurrenz bestimmten Öffentlichkeit beherrsche, sondern auch die Provokationsakte des Schriftstellers Strauß, der von einem ähnlich tiefen Misstrauen gegenüber dem öffentlichen Diskurs geprägt ist wie Handke. Handkes Texte zum Jugoslawienkrieg, die ja in der Tat die vom Autor beabsichtigte „Signalwirkung“101 hatten, sind in diesen Kontext einer Öffentlichkeitsgeschichte nach 1989 einzuordnen.102 Sie sagen nicht nur etwas über Handkes Positionierung in der Jugoslawienfrage aus, sondern auch über das Erregungs- und Provokationspotential schriftstellerischer Texte, die von ihren Autoren in den öffentlichen Raum hineingehalten werden.
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100 Schneider, Irmela: „Reiz und Reaktion“. In: Weimarer Beiträge 40 (1994), S. 309–315. 101 Handke: Noch einmal vom Neunten Land, S. 91. 102 Vgl. dazu meine im Entstehen begriffene Studie Gegenwartsliteratur und öffentliche Meinung nach 1989.
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Das Blau des Himmels über dem Hôtel Terminus Peter Handke und der Nachkrieg
1 Der Vorwurf des Rückzugs aus der Geschichte Kaum ein Werk, das nach 1945 entstanden ist und zum Gegenstandsbereich der Neueren deutschen Philologie gehört, wurde so kontrovers diskutiert wie das Werk Peter Handkes, wenige Autoren der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur sind ähnlich umstritten. So äußerte beispielsweise Jonathan Littell 2008 über Peter Handke: „Er mag als Künstler phantastisch sein, aber als Mensch ist er mein Feind. […] Wenn Sie Handke mit Céline vergleichen, der ein Faschist war und antisemitische Pamphlete geschrieben hat, werden Sie verstehen, was ich meine.“1 1997 sagte Georges Arthur Goldschmidt über Handke: Er befindet sich nicht nur auf dem Holzweg, sein Wille, die Geschichte verneinen zu wollen, führt dazu, dass er mit gefesselten Füßen in sie hineinfällt. […] Es gibt bei ihm eine Verweigerung des Schreckens, als ob er zeigen wollte, dass dieser obsiegen könnte. So sensibel ist er. Ich glaube, dass er von der deutschen Manie nach Reinheit angesteckt worden ist, von der man nur zu gut weiß, wozu sie geführt hat.2
Diese Aussagen, die Handke in die Nähe von Faschismus, Antisemitismus und Rassismus rücken, sind nicht singulär, sondern prägen die Handke-Rezeption vor allem der letzten zwei Jahrzehnte. Das hängt auch mit Handkes Schriften zu Serbien und dem Kosovokrieg zusammen. Nachdrückliche Kritik an ihm und seinem Werk besteht jedoch schon seit den Anfängen seines Schreibens in den 1960er Jahren. Verstärkt ab Mitte der 1970er Jahre ist Handke dem Vorwurf ausgesetzt, sich mit seiner Literatur in den geschichtslosen Augenblick, in eine irreal-idylli-
1 Littell, Jonathan u. André Müller: „Mögen Sie Käse?“ Interview. In: Frankfurter Rundschau, 24.06.2008. http://www.fr-online.de/doku---debatte/jonathan-littell-im-fr-interview-moegen-siekaese-,1472608,3047074.html (Stand: 30.07.2012). 2 Georges-Arthur Goldschmidt zitiert nach: Wagner, Karl: „‚I’m Not Like Everybody Else‘. Peter Handke und die Weltliteratur (in Auswahl)“. In: Korrespondenzen. Motive und Autoren in der internationalen Moderne des 20. Jahrhunderts. Hg. v. Michael Pfeiffer. Barcelona 1999 (Edició Forum 2), S. 132–146, Zitat S. 145.
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sche Friedenswelt, die keine Kriege kennt, zurückzuziehen. Ihm wird die Tendenz unterstellt, Geschichte – insbesondere die Geschichte des Nationalsozialismus – zu verharmlosen, „angesichts der modernen Vernichtungsgeschichte“ eine „betuliche Selbstsicherheit“3 an den Tag zu legen. Sein künstlerisches Programm sehe „von aktuellen Problemlagen und von der historischen Gewachsenheit mit all ihren ausgetragenen oder verschütteten Konflikten“4 ab, opfere gar „das Wahrheitsideal der Literatur“.5 Dass diese Vorwürfe ihren Gegenstand vollkommen verfehlen, kann eine philologische Lektüre – „die lauter feine vorsichtige Arbeit abzuthun hat und Nichts erreicht, wenn sie es nicht lento erreicht“6 – des Gesamtwerks von Peter Handke zeigen. Auf den ersten Blick scheinen zwar kaum andere Urteile möglich zu sein, wenn etwa in Don Juan (erzählt von ihm selbst) der tödliche EU-Grenzstreifen in Ceuta zum Ort eines Begehrens des Don Juan oder in dem Film Der Himmel über Berlin, dessen Drehbuch Handke zusammen mit Wim Wenders schrieb, der Todesstreifen zwischen den Blockmächten zum Ort der Menschwerdung eines Engels wird. Betrachtet man die einzelnen Stellen und Texte jedoch nicht isoliert, sondern im Kontext des Gesamtwerks, wird deutlich, dass die auf den ersten Blick verstörenden bis skandalösen Diskrepanzen zwischen der außerliterarischen, geschichtlichen Wirklichkeit der Orte und ihrer literarischen Ausgestaltung durch Handke zu einem literarischen Programm gehören, das in Zusammenhang mit der Problematik von Literatur und Schreiben nach 1945 und dem Zivilisationsbruch der Judenvernichtung steht.
3 Briegleb, Klaus: „Weiterschreiben! Wege zu einer deutschen literarischen ‚Postmoderne‘?“. In: Gegenwartsliteratur seit 1968. Hg. v. Klaus Briegleb u. Sigrid Weigel. München 1992 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart 12), S. 340–381, Zitat S. 363. 4 Šlibar, Neva: „Das Eigene in der Erfindung des Fremden. Spiegelgeschichten, Rezeptionsgeschichten“. In: Zur Geschichte der österreichisch-slowenischen Literaturbeziehungen. Hg. v. An dreas Brandtner u. Werner Michler. Wien 1998, S. 367–387, Zitat S. 378. 5 Zschachlitz, Ralf: „Der Mythos des Polyphem. Das Motiv des ‚Niemand‘ bei Peter Handke im Vergleich mit Paul Celan und Herbert Achternbusch“. In: Germanisch-romanische Monatsschrift 45 (1995) H. 4, S. 431–452, Zitat S. 439. 6 Nietzsche, Friedrich: „Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile“. In: Ders.: Morgenröte. Idyllen aus Messina. Die fröhliche Wissenschaft. Kritische Studienausgabe. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. Bd. 3. München 1999, S. 9–331, Zitat S. 17.
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Das Blau des Himmels über dem Hôtel Terminus
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2 Der Versuch des Exorzismus der einen Geschichte durch eine andere 2.1 Noch einmal für Thukydides: Schwalbenkurven um ein ehemaliges SS-Quartier Am Morgen des 23. Juli 1989, einem Sonntag, sitzt in Peter Handkes Epopöe Versuch des Exorzismus der einen Geschichte durch eine andere ein „Betrachter“7 in einem Zimmer des Hôtel Terminus, von dem aus er das Gleisfeld des Bahnhofs Lyon-Perrache überblickt. Er sieht zwischen den Eisenbahndrähten und Häuserblöcken das wasserhelle Grün von Bäumen; er sieht Schwalben, die „im Flug Faltkniffe in den Himmel“8 machen; er sieht Eisenbahner mit ihren Aktentaschen, deren Verschlüsse in der Sonne blinken, episodisch über die Gleise zu ihrem Wohnheim gehen, „an einem mit wildem Wein bewachsenen Inselhaus vorbei, einem zierlichen Jahrhundertwende-Gebäude, mit oben halbrunden Fenstern“;9 er sieht, wie ein weißer Falter über den chemin des cheminots torkelt. Vor dem ‚Wildenweinhaus‘ regt sich das Blattwerk einer Platane, im Himmel über der unsichtbaren Saône zuckt der weiße Splitter einer Möwe und der heiße Sommersonntagswind bläst in das weit offene Zimmer des Terminus hinein.
2.2 Un crime contre l’humanité Am Morgen des 6. April 1944, einem Donnerstag, werden 41 jüdische Kinder im Alter von drei bis dreizehn Jahren zusammen mit ihren zehn jüdischen Betreuern von Wehrmachtssoldaten unter Führung von Gestapo- und Miliz-Offizieren aus der Maison d’Izieu, einem Hofgut in der 80 Kilometer von Lyon entfernten Ge meinde Izieu, verschleppt. Die Kinder werden über Lyon und Drancy am 13. April 1944 in das Vernichtungslager Auschwitz II (Birkenau) deportiert und dort vergast (zwei Jungen werden in der Festung von Reval erschossen). Auch wenn Klaus Barbie, bekannt als ‚Schlächter von Lyon‘, immer wieder bestritten hat, etwas mit den Verhaftungen und Deportationen der Kinder von Izieu zu tun gehabt zu haben, gibt es über die Deportation der Kinder ein von Barbie persönlich unter-
7 Handke, Peter: „Versuch des Exorzismus der einen Geschichte durch eine andere“. In: Ders.: Noch einmal für Thukydides. München 1997 (1990), S. 85–89, Zitat S. 88. 8 Handke: Versuch des Exorzismus, S. 87. 9 Handke: Versuch des Exorzismus, S. 87.
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zeichnetes Schreiben an die Gestapo-Zentrale in Paris.10 SS-Obersturmführer Klaus Barbie, alias Altmann, war während der Besatzung Frankreichs seit November 1942 Chef der Abteilung IV des Sicherheitsdienstes (SD) in Lyon. Diese war u. a. zuständig für Juden, Widerstand und Kommunisten und operierte vom Lyoner Hôtel Terminus aus. Mehr als 20 Räume des Hotels dienten als Vernehmungsräume. Bestialische Folterungen wurden hier begangen, vor allem an Juden und Mitgliedern der Résistance. In den 21 Monaten des Folterregiments Barbies gab es in Lyon und dessen Umkreis 14 311 Verhaftungen, 7591 Deportationen und 4342 Hinrichtungen.11
2.3 Das Skandalöse einer Friedenserzählung Ein Ort, an dem auf grausamste Weise Menschen gefoltert und ermordet wurden, wird ein halbes Jahrhundert später im Versuch des Exorzismus der einen Geschichte durch eine andere zu einem Ort, an dem tiefer Frieden herrscht, Schwalben am Himmel kurven, Falter torkeln und Sommerwinde wehen. Von einem Hotelzimmer aus, das womöglich eines derjenigen Zimmer ist, die von der Gestapo zu Folterkammern umfunktioniert wurden, wird beschrieben, wie Eisenbahner in kurzärmligen Hemden mit ihren Aktentaschen über ein sonntäglich leeres Gleisfeld gehen, ein Gleisfeld, über das ein halbes Jahrhundert zuvor Menschen in Konzentrationslager deportiert wurden. Ein ehemaliges Folterzentrum der Gestapo scheint hier zum Ort sich friedlich tummelnder Schmetterlinge umgeschrieben worden zu sein.
3 Der Schrei der Kinder von Izieu Dem am Fenster des Hôtel Terminus Sitzenden kommt jedoch nach einer Weile des beschaulichen Betrachtens der sonntäglichen Bahnhofsszenerie zu Bewusstsein, „daß das ‚Hotel Terminus‘, in dem er die Nacht zugebracht hatte, im Krieg das Folterhaus des Klaus Barbie gewesen war.“12 Der friedlichen Szenerie stellt sich zudem – bereits von dem Satz „Das Geräusch eines Güterzugs kam in einer
10 Dieses Schreiben ist u. a. abgedruckt in Klarsfeld, Serge u. Beate Klarsfeld: Die Kinder von Izieu. Eine jüdische Tragödie. Berlin 1991, S. 133. 11 Vgl. Andel, Horst J.: Kollaboration und Résistance. ‚Der Fall Barbie‘. München, Berlin 1987, S. 21. 12 Handke: Versuch des Exorzismus, S. 88.
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Kurve wie von einem großen Sägewerk“13 angekündigt – ein Schrei entgegen, und zwar der Schrei der Kinder von Izieu: „[…] auf einer Schiene landete ein kleiner blauer Falter, blinkend in der Sonne, und drehte sich im Halbkreis, wie bewegt von der Hitze, und die Kinder von Izieu schrien zum Himmel, fast ein halbes Jahrhundert nach ihrem Abtransport, jetzt erst recht.“14 „Jetzt erst recht“, mit diesen Worten endet der Versuch des Exorzismus der einen Geschichte durch eine andere. Offenbar ist der Versuch missglückt, wenn dieser darin bestand, die Geschichte der Gewalt, des Schreckens und der Kriege, kurz: die Realhistorie, auszutreiben, gleichsam wie den Teufel, mit einer anderen Geschichte, einer des Friedens und der Harmonie, einer Geschichte, die Literatur ist. Am Ende des Versuchs ist der Schrecken der Judenvernichtung und des Hôtel Terminus nicht vergessen, sondern ganz im Gegenteil: Der Schrei der ins Konzentrationslager deportierten Kinder von Izieu soll umso lauter und schriller zu vernehmen sein. Der Handke so oft vorgehaltene Rückzug aus der desaströsen Geschichte in den geschichtslosen Augenblick ist im Versuch letztlich keiner oder er geht zumindest fehl. Es drängt sich allerdings der Verdacht auf, dass der Versuch programmatisch fehlgeschlagen ist.15 Die Epopöe liest sich wie die Verdichtung einer Poetik, die durch das Erzählen einer anderen Geschichte die eine Geschichte befrieden, aber auch, durch den größtmöglichen Kontrast, verdeutlichend, verstärkend erinnern möchte. Das literarische Ideal Handkes scheint also, zumindest im Versuch, weniger die Geschichtslosigkeit als eben jene andere Geschichte zu sein, die sich als eine Art Gegen-Geschichte zur realen Geschichte verstehen lässt, die diese im selben Moment befriedet und verstärkt. Würde der Versuch mit „wie bewegt von der Hitze“ enden, hätte man es tatsächlich mit einer Friedensidylle an einem heißen Sommertag im Hôtel Terminus zu tun; der Terror des Barbie-Regimes wäre vergessen, das Folter-Quartier der SS befriedet und geöffnet hin zu einer sonnigen Gegenwart, in der geschichtslose Winde wehen. So jedoch schreien die Kinder von Izieu zum Himmel, und aus der Idylle wird ein Alptraum. Die Schönheit und zeitlose Friedlichkeit der Natur ist an Orten wie Lyon-Perrache unerträglich. Die Natur ist hier die gleiche „unbarmherzige“ Natur wie die Natur am Grab der Mutter in Wunschloses Unglück (1972):
13 Handke: Versuch des Exorzismus, S. 87. 14 Handke: Versuch des Exorzismus, S. 88 f. 15 Vgl. Au, Alexander: Programmatische Gegenwelt. Eine Untersuchung zur Poetik Peter Handkes am Beispiel seines dramatischen Gedichts Über die Dörfer. Frankfurt a. M. u. a. 2001 (Heidelberger Beiträge zur deutschen Literatur 10).
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Der Blick vom Grab, von dem die Leute sich rasch entfernten, auf die unbeweglichen Bäume: erstmals erschien mir die Natur wirklich unbarmherzig. Das waren also die Tatsachen! Der Wald sprach für sich. Außer diesen unzähligen Baumwipfeln zählte nichts; davor ein episodisches Getümmel von Gestalten, die immer mehr aus dem Bild gerieten. Ich kam mir verhöhnt vor.16
Hier sind vor einer sich immer mehr oder weniger gleichbleibenden Natur die Menschen bloß episodisches Getümmel, „ein bedeutungslos gewordenes Zwischenspiel“.17 Selbst an Orten der grauenhaftesten Verbrechen kann die Natur schön und friedlich sein. Sie verstärkt in ihrer zeitenthobenen Schönheit das Grauen, den Schrei der Opfer. Dass diese Diskrepanz zwischen literarisch beschriebener friedlicher Gegenwart und realer Kriegsvergangenheit eines Ortes zu einem wohlüberlegten Programm gehört, verdeutlicht Handkes Beschreibung einer Fahrt nach Srebrenica.
4 Srebrenica Wie der Betrachter in Lyon steht Handke in Višegrad „am offenen Fenster“ eines Hotelzimmers. Es ist tiefe Nacht; aus dem Dunkel glimmt die Brücke über die Drina, den bosnisch-serbischen Grenzfluß. Sie liegt unter „sommerlichen, südlich hellen, dabei wie unzugehörigen, mit der Erdgegend darunter durch nichts mehr verbundenen Sternen“. Und wie dem Betrachter in Lyon an der augenblickshaften Leere des Eisenbahnerwegs und des Himmels über dem Bahnhof und am Gekreuztwerden dieser Leere durch das Gleißen der Schienen in der Sonne Klaus Barbie und dessen Folterregiment in Erinnerung kommen, wird das Bild der leeren Brücke mit den sommerlichen Sternen über ihr durchkreuzt von dem (Ge-)Denken an die im Krieg getöteten Muslime Višegrads, viele von ihnen „dort drüben von der Brückenbrüstung gestoßen“.18 Am Tag nach einem „Maisonntagmorgen“19 fährt Handke dann die Drina abwärts nach Srebrenica, also zu dem Ort, an dem das größte Massaker auf europäischem Boden seit dem Zweiten Weltkrieg begangen wurde, als vom 10.
16 Handke, Peter: Wunschloses Unglück. Frankfurt a. M. 1974, S. 98. 17 Handke, Peter: Die Stunde der wahren Empfindung. Frankfurt a. M. 1978, S. 46. 18 Handke, Peter: „Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise“. In: Ders.: Abschied des Träumers – Eine winterliche Reise – Sommerlicher Nachtrag. Frankfurt a. M. 1998, S. 163–250, Zitat S. 196. 19 Handke: „Sommerlicher Nachtrag“. In: Ders.: Abschied des Träumers, S. 200.
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bis zum 19. Juli 1995 bosnisch-christliche Soldaten der Armee der Republika Srpska über 7000 bosnisch-muslimische Männer ermordeten. Handke beginnt die Erzählung seiner Reise dorthin mit folgendem Satz: „Und wieder ein Sommerhimmelmorgen, mit den Schwalbenknickflügen hoch und weithin im Blauen.“20 Auf der Uferstraße entlang der Drina zeigt sich ihm das „Grünwasser des Flusses zwischen den Ufersträuchern“.21 Im Drina-Seitental, an dessen Ende Srebrenica liegt, stellt sich „Sommermittagsschwüle“ ein, „dazu jetzt die heißen Windstöße.“22 Pappelsamen und Weidenflaum treiben durch die Luft, die vom Nektar der Akazien duftet. Hôtel Terminus 1989 und Srebrenica 1996, beide von Völkermord gezeichneten Orte werden von Handke mit denselben Natur-Motiven, denselben Signifikanten beschrieben: Sommertag, Mittagsschwüle, helles, gleißendes Licht, wehender, heißer Wind, Schwalbenknickflüge im blauen Himmel, das Grün des Wassers der jeweiligen Flüsse. Es sind Friedenszeichen, denen in ihrer Diskrepanz zur grauenhaften Vergangenheit zugleich zugemutet und zugetraut wird, die Qual der Opfer stärker und tiefer ins Bewusstsein zu rufen, in Erinnerung zu halten, als jeder Versuch einer detaillierten, die Hölle(n) bei expliziten Namen nennenden Aufzählung der tatsächlichen Ereignisse. Die Kriege der Realgeschichte sollen erst deutlich werden können im Kontrast der (oberflächlich) friedlich scheinenden Welt einer Literatur. Wahr ist, daß ich […] von den blühenden Bäumen erzähle, von den Erdbeeren auf den Hügeln um Srebrenica, aber natürlich (entschuldige, Leser, daß ich mich erkläre, aber die Beschreibung dieser Natur wird mir immer wieder vorgeworfen), um die furchtbare Zerstörung in und um Srebrenica und die Todesstille noch spürbarer zu machen.23
Diese Weisen der Erzählung des Hôtel Terminus und Srebrenicas sind dabei in einen umfassenderen Kontext zu stellen, der mit der Aufgabe des Schriftstellers
20 Handke: „Sommerlicher Nachtrag“. In: Ders.: Abschied des Träumers, S. 220. 21 Handke: „Sommerlicher Nachtrag“. In: Ders.: Abschied des Träumers, S. 220 f. 22 Handke: „Sommerlicher Nachtrag“. In: Ders.: Abschied des Träumers, S. 222. 23 Handke, Peter: „Am Ende ist fast nichts mehr zu verstehen“. In: Ders.: Meine Ortstafeln. Meine Zeittafeln. 1967–2007. Frankfurt a. M. 2007, S. 508–512, Zitat S. 509. „Nur die zerfetzten Bäume […] lassen noch die spezielle Gewalt ahnen – die hier und da inzwischen schon ein wenig […] weitergrünenden Bäume besonders“ (Handke, Peter: Unter Tränen fragend. Nachträgliche Aufzeichnungen von zwei Jugoslawien-Durchquerungen im Krieg, März und April 1999. Frankfurt a. M. 2000, S. 124). Vgl. hierzu auch Ebert, Theodor: Der Kosovo-Krieg aus pazifistischer Sicht. Münster u. a. 2001 (Pazifismus – Grundsätze und Erfahrungen für das 21. Jahrhundert 2), S. 127– 150, v. a. S. 145.
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in der Nachgeschichte des Nationalsozialismus und mit der Frage zu tun hat, wie sich Orte beschreiben lassen, an denen die katastrophische Geschichte sich ereignete und Spuren hinterlassen hat.
5 Das treffende Detail Ich bin gezeugt worden. […] Ich bin geboren worden. Ich bin in das Geburtenregister eingetragen worden. […] Ich habe gelernt. Ich habe die Wörter gelernt. […] Ich bin der Gegenstand von Sätzen geworden. […] Ich bin eine Aneinanderreihung von Buchstaben geworden. […] Ich bin zu meiner Geschichte gekommen. […] Ich habe sollen. Ich habe die geschichtlichen Regeln der Menschen erfüllen sollen. Ich habe handeln sollen. Ich habe unterlassen sollen. Ich habe geschehen lassen sollen. […] Ich habe Regeln für das Verhalten und die Gedanken gelernt. […] Ich habe die Grundregeln und die abgeleiteten Regeln gelernt. Ich habe zu sollen gelernt.24
Peter Handkes Literatur ist von Beginn an ein Versuch des Schreibens gegen jegliche Form des Fremdbestimmt- und Vorgeprägtseins, ein fast schon donquijoteskes Revoltieren gegen das Hineingeborensein in eine Geschichte, in eine Gesellschaft, in die Sprache, in Symbole; gegen die Zwänge, „die auf den immer schon semiotisierenden Körper durch Familien- und Gesellschaftsstrukturen ausgeübt werden.“25 Mit seinem Schreiben versucht Handke, „sich selber Maß und Regeln“26 zu geben, selbst die Dinge, die Welt zu bezeichnen, den vorgeprägten Bezeichnungen und Beschilderungen zu entkommen. Um nicht „Sklave eines Vorverständigungssystems“27 zu sein, beansprucht er, ausschließlich aus sich heraus zu schöpfen, aus seinem „für sich den Anfang beanspruchenden Leben“28. Dabei ist er sich der Aussichtslosigkeit seines Unternehmens bewusst: „Schon mit meinem ersten Satz bin ich in die Falle gegangen“29, „und jeder meiner Sätze weiß […], daß er aus einer dreitausend Jahre alten Tradition kommt“30. Dennoch
24 Handke, Peter: „Selbstbezichtigung“. In: Ders.: Stücke 1. Frankfurt a. M. 1972, S. 65–88, Zitat S. 69 ff. 25 Kristeva, Julia: Die Revolution der poetischen Sprache. Frankfurt a. M. 1978, S. 36. 26 Handke, Peter: Gestern unterwegs, Aufzeichnungen November 1987 bis Juli 1990. Salzburg, Wien 2005, S. 83. 27 Handke, Peter: „Zu Alfred Kolleritsch. 2. Der tiefe Atem“. In: Ders.: Das Ende des Flanierens. Frankfurt a. M. 1982, S. 137–144, Zitat S. 138. 28 Handke, Peter: Die Geschichte des Bleistifts. Salzburg, Wien 1982, S. 274 (Hervorhebung im Original). 29 Handke, Peter: „Kaspar“. In: Ders.: Stücke 1, S. 99–198, Zitat S. 194. 30 Handke: Geschichte des Bleistifts, S. 274.
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versucht er, mit seiner Literatur gegen die Macht der kulturellen Kodierungen und geschichtlichen Prägungen anzuschreiben. Dem Wunschtraum und der Behauptung nach „das freieste aller Länder“31, hat für ihn die Literatur die Aufgabe, die Disziplinierungen, die Dominanz von (Sprach-)Klischees, bildlichen Ikonen, sprachlichen Topoi und auswendig gelernten Formeln aufzuzeigen und gegen das „genormte[ ] Bedeutungssehen“32 oder, mit den Worten Roland Barthes’, gegen die „Autorität der Behauptung“ und das „Herdenhafte der Wieder holung“33 anzukämpfen. So aussichtslos und verzweifelt dieser Kampf der ‚Sprache gegen die Sprache‘, für Selbstbestimmung und individuelle Freiheit ist, so wichtig und problematisch wird er für Handkes Literatur, für ihre Darstellung von Orten, an denen Massenmorde stattgefunden haben, vor allem von Orten des Völkermords und des Holocausts. Zur Schwierigkeit, das ausschließlich Vorstellbare34 der Judenvernichtung darzustellen, dieses Leid mitzuteilen, in Erinnerung zu rufen, im Bewusstsein zu halten, äußert sich Handke 1973 in seiner Ingeborg Bachmann gewidmeten Büchnerpreis-Rede Die Geborgenheit unter der Schädeldecke: Vor vielen Jahren schaute ich eines der schon üblich gewordenen KZ-Photos an: Jemand mit rasiertem Kopf, großäugig, mit hohlen Wangen, saß da auf einem Erdhaufen im Vordergrund, wieder einmal, und ich betrachtete das Photo neugierig, aber schon ohne Erinnerung; dieser photographierte Mensch hatte sich zu einem austauschbaren Symbol verflüchtigt. Plötzlich bemerkte ich seine Füße: Sie waren mit den Spitzen aneinandergestellt, wie manchmal bei Kindern, und jetzt wurde das Bild tief, und ich fühlte beim Anblick dieser Füße die schwere Müdigkeit, die eine Erscheinungsform der Angst ist. Ist das ein politisches Erlebnis? Jedenfalls belebt der Anblick dieser aufeinander zeigenden Füße über die Jahre hinweg meinen Abscheu und meine Wut bis in die Träume hinein und aus den Träumen wieder heraus und macht mich auch zu Wahrnehmungen fähig, für die ich durch die üblichen Begriffe […] blind geblieben wäre.35
Einige Formulierungen des Zitats wären sicherlich zu diskutieren. Hier soll es aber um die Frage gehen, wie in einer „übersättigten und vom Markt der Bilder beinahe erstickten Welt“36 Bilder noch (be-)treffen können. Handkes Reaktion ist ja nicht singulär, sondern wurde auf ähnliche Weise schon oft beschrieben, zum Beispiel
31 Handke, Peter: Nachmittag eines Schriftstellers. Frankfurt a. M. 1989, S. 35. 32 Handke, Peter: „Die Arbeit des Zuschauers“. In: Ders.: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms. Frankfurt a. M. 1972, S. 88–125, Zitat S. 92. 33 Barthes, Roland: Leçon/Lektion. Frankfurt a. M. 1980, S. 19. 34 Vgl. Didi-Huberman, Georges: Bilder trotz allem. München 2007, S. 73. 35 Handke, Peter: „Die Geborgenheit unter der Schädeldecke“. In: Ders.: Als das Wünschen noch geholfen hat. Frankfurt a. M. 1974, S. 71–80, Zitat S. 75 f. 36 Didi-Huberman: Bilder trotz allem, S. 106.
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von Ka-Tzetnik 135633, einem Überlebenden von Auschwitz: „Ich habe Filme über Auschwitz gesehen, ich habe Fotografien von Auschwitz gesehen, Fotografien mit Bergen von Leichen, mit Gräbern voller Skelette, und all das hat mich nicht berührt“37, oder von Susan Sontag: „Aber je öfter man mit solchen Bildern konfrontiert wird, desto weniger real erscheint das betreffende Ereignis“.38 Solche Bilder geraten in die Gefahr, unwirksam zu bleiben bzw., so Jean-François Lyotard, „in den Umkreis der sekundären Verdrängung“ zu geraten, „zu einem gewöhnlich ‚Verdrängten‘“ zu werden.39 Handke problematisiert in diesem Zusammenhang die Nennung des Namens Auschwitz in literarischen Texten und kritisiert ihre Häufigkeit, ihre oftmalige Unbedachtheit und Unangemessenheit (wobei auch hier wiederum Handkes Sprache – „heiße Dinge“, „berüchtigt“ – zu diskutieren wäre): Wagt es jemand, in einer unreflektierten Form über heiße Dinge zu schreiben, so erkalten diese heißen Dinge und erscheinen harmlos. Den berüchtigten Ort A. […] bedenkenlos in jede Wald- und Wiesengeschichte einzuflechten, in einem unzureichenden Stil, mit untauglichen Mitteln, mit gedankenloser Sprache, das ist unmoralisch.40
Diese Kritik an der Bedenken- und Gedankenlosigkeit, am unzureichenden, unangemessenen Stil vieler Texte im Umgang mit einem höchst sensiblen Thema teilt Imre Kertész: Sehr viel zahlreicher sind diejenigen, die sich den Holocaust unrechtmäßig aneignen, um ihn zu einer Schundware zu machen. […] Ein Holocaust-Konformismus ist entstanden, ein Sentimentalismus, ein Holocaust-Kanon, ein System der Tabus mitsamt seiner ritualisierten Sprache, Holocaust-Produkte zur Konsumtion des Holocaust.41
Der Hinweis auf die Dominanz von Klischees und die Inflation der Verwendung von bestimmten Zeichen steht dabei der überforderten und nicht nur in ihrer Wortwahl äußerst unbedachten Artikulation eines „Überdrusses“ am wiederholten Mahnen und Erinnern an Auschwitz, wie ihn beispielsweise Martin Walser in seiner Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche am 11. Oktober 1998 geäußert hat, denk-
37 Ka-Tzetnik 135633: Les Visions d’un rescapé, ou le syndrome d’Auschwitz, zitiert nach: DidiHuberman: Bilder trotz allem, S. 127. 38 Sontag, Susan: Über Fotografie, zitiert nach: Didi-Huberman: Bilder trotz allem, S. 124. 39 Lyotard, Jean-François: Heidegger und ‚die Juden‘. Hg. v. Peter Engelmann. Wien 1988, S. 38. 40 Handke, Peter: „Zur Tagung der Gruppe 47 in den USA“. In: Ders.: Bewohner des Elfenbeinturms, S. 29–34, Zitat S. 34. 41 Kertész, Imre: A qui appartient Auschwitz?, zitiert nach: Didi-Huberman: Bilder trotz allem, S. 122 f.
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bar fern. Er macht im Gegenteil die vieldiskutierte Frage nach der Art und Weise der Darstellung angesichts der Ungeheuerlichkeit der Judenvernichtung umso dringlicher. Die Frage, wie etwas dargestellt werden soll, insbesondere etwas, das sich kaum darstellen lässt, ist eine Frage nach dem Stil, und auf dem Schriftgebiet der Literatur stets auch eine Frage nach ihrer Aufgabe, nach ihrer Ethik. Literatur hat immer schon, doch besonders nach 1945, dasjenige, was sie aufschreibt, sorgfältig zu prüfen; aber nicht nur das: Die Ungeheuerlichkeit der Verbrechen der Nationalsozialisten zwingt darüber hinaus, so Didi-Huberman, auch „die Schrift neu zu denken“.42 Peter Handkes diesbezüglicher Versuch, sein Schrift-Verfahren, orientiert sich dabei an einer Art der Darstellung, deren Effekte auf den Leser oder Zuschauer er an Else Lasker-Schülers 1932 geschriebenem Stück Arthur Aronymus und seine Väter, das er auf dem Berliner Theatertreffen 1969 gesehen hatte, beobachtete. Da diese Beobachtung aufschlussreich für Handkes Schreibverständnis angesichts einer katastrophischen Geschichte ist, sei sie hier ausführlich zitiert: Ab und zu liest man davon, daß in einem Film so grausame Sachen gezeigt werden, daß einige Zuschauer, meist Männer, das Kino verlassen. In Arthur Aronymus und seine Väter (Else Lasker-Schüler/Hans Bauer) kamen mir die Vorgänge so entsetzlich vor, daß ich in der Pause weggegangen bin. Dieses Stück, 1932 geschrieben, führt eine jüdische Großfamilie am Ende des vergangenen Jahrhunderts vor. Das Stück besteht weniger aus Vorgängen als aus Zuständen. Reden, Kaffeetrinken, Beten, Lustwandeln, Schlafen unterstützen nicht atmosphärisch die Geschichte, sondern sind schon die Geschichte selber. Das Stück ist auf eine rücksichtslose Weise poetisch. […] Poetisch ist das Stück, weil Lasker-Schüler die Welt mit ihrem Willen, mit Eigenwillen sieht und sie so mit jeder Einzelheit zu ihrer Welt macht; rücksichtslos poetisch ist das Stück, weil noch die entsetzlichsten Tatsachen (Pogrome) verzaubert von dem Eigenwillen der Poetin erscheinen. […] In einer Szene spielt sich ein Weihnachtsmärchen ab; das jüdische Kind wird vom Kaplan zur Bescherung eingeladen, ganz ausführlich dürfen die Kinder sich freuen, es ist gar nicht kitschig, daß ihre Augen glänzen, es ist nur entsetzlich, so entsetzlich, daß man fast erleichtert ist, wenn jemand hereinschreit: ‚Judenpfarrer!‘ […] Gerade daß es sich um ein Märchen handelte, brachte einen dazu, dieses Märchen auf das zu beziehen, was dann 1933 wirklich kam. Ein realistisches Stück hätte dem Zuschauer die Arbeit, Bezüge und Vergleiche herzustellen, schon dramaturgisch abgenommen. So sorgten gerade die Widersprüche zwischen theatralischer Methode und Historie, zwischen Dramaturgie und Tatsachen, für die notwendige Befremdung des Zuschauers, für Furcht und Schrecken. […] Grob gesagt: Else Lasker-Schüler macht dem Zuschauer die Dramaturgie des Massenmords deutlich, indem sie für seine Darstellung die Dramaturgie des Weihnachtsmärchens verwendet.43
42 Didi-Huberman: Bilder trotz allem, S. 95. 43 Handke: Die Arbeit des Zuschauers, S. 89 f.
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Das Kaffeetrinken, Beten und Schlafen einer jüdischen Familie in einem Stück, das 1932 geschrieben worden ist, ist für Handke in seiner ungestörten und ausschließlichen Harmlosigkeit und friedlichen Alltäglichkeit weniger zu ertragen als jeder Text, der Pogrome ‚realistisch‘ beschreibt. So verstanden, kann das arglose Aufglänzen der Kinderaugen für einen Zuschauer, der um die ihnen bevorstehenden Pogrome und Ermordungen in Gaskammern weiß, so entsetzlich sein wie für einen Leser das arglose Herumflattern von Schmetterlingen an einem Ort, wo Kinder in Güterwaggons gesperrt und zu den Gaskammern transportiert wurden.44 Es sind kleinste, scheinbar marginale oder unbedeutende Details, „Neben sachen“,45 die wie ein photographisches ‚punctum‘ in der Definition Roland Barthes’ treffen, verletzen, verwunden können; die wie ein Pfeil durchbohren und Schmerz zufügen, Betroffenheit hervorrufen und die Lektüre unterbrechen.46 Welche Details in ihrer Intensität hervorstechen, liegt am Auge des jeweiligen Betrachters. Für Handke sind es zum Beispiel die Kniekehlen eines Kindes47 oder die mit den Spitzen aneinandergestellten Füße auf der Fotografie eines KZ-Häftlings, die bei ihm Schmerz, Abscheu, Wut hervorrufen und ein Eingedenken ermöglichen. In seiner Literatur sind es Details wie Schwalbenflüge oder Pappelsamen, die im Kontrast treffen sollen. Eine solche Literatur kann in ihrer Schönheit vor dem stets anwesenden Hintergrund des Entsetzens entsetzlicher sein und sensibler erscheinen als eine Literatur, die den Schrecken konkret benennt. Jener scheint bewusst zu sein, dass selbst „eine ruhige Landschaft, selbst eine
44 In einer Szene des Films Der Himmel über Berlin stößt die andere Geschichte des Friedens mit der Judenvernichtung direkt aufeinander, indem der antisemitische Diskurs mit der Erzählung von friedlichen Naturbildern synchronisiert, parallel geführt wird, wenn das Denken zweier Statisten eines Films, der in der NS-Zeit spielt, gleichzeitig zu Gehör gebracht wird. Derjenige, der einen „Alten Nazi“ spielt, ist auch ‚in Wirklichkeit‘ einer. Die Statisten mit dem Judenstern betrachtend denkt er: „Sind echte: oder sehen ganz so aus. Könnten echte sein. Gab’s ja welche, … … die haben den Hunden das Fressen weggefressen im KZ. Wären euch die Flausen vergangen, … na, noch ist nicht aller Tage Abend!“ Im selben Moment dieses Denkens denkt ein Statist, der einen „Alten Mann mit Judenstern“ darstellt: „und der Wind im Gesicht, und die erste Schneeluft, und das Wasser im Rinnstein […] und die Kamillenbüschel … auf dem Feldweg. Und der Obstgarten und dann und wann die Sonne … warm hier hinten im Rücken zwischen den Schulterblättern.“ (Der Himmel über Berlin. Ein Filmbuch von Wim Wenders und Peter Handke. Frankfurt a. M. 1995, S. 70 f.). 45 Handke: „Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina“. In: Ders.: Abschied des Träumers, S. 33–161, Zitat S. 160. 46 Vgl. Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie. Frankfurt a. M. 1989, S. 35–37 und S. 50 f. 47 Handke: Gestern unterwegs, S. 218.
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Weide mit einem Schwarm auffliegender Raben […] ganz einfach zu einem Konzentrationslager führen“48 können. Von ihr ließe sich behaupten, dass sie „das Gedächtnis durch den Widerspruch zwischen den unvermeidlichen Dokumenten der Geschichte und den wiederkehrenden Kennzeichen der Gegenwart zu erschüttern“49 versucht. Ihr erscheint das konkrete Beim-Namen-Nennen, ein bedenkenloses, ohne sich um eine neue Sprache bemühendes Einflechten beispielsweise von Namen wie „Auschwitz“ als zu einfach, in ihrem spezifischen Rahmen als unangemessen. Handke steht dabei mit seinem Anspruch auf Autonomie und mit seinen Be-Denken der Position Adornos nahe,50 der in seinem Text über Engagement schreibt, dass ein ‚engagierter‘ Autor allzu leicht „sich selbst alle edlen Werte“ zurechne, „um mit ihnen umzuspringen“: „Indem noch der Völkermord in engagierter Literatur zum Kulturbesitz wird, fällt es leichter, weiter mitzuspielen in der Kultur, die den Mord gebar.“51 Handkes Literatur versucht dagegen, das Schreiben neu zu denken und pocht nachdrücklich auf das „Dritte“, das Andere der Literatur, auf ihr „Anders-Werden der Sprache“.52 Diese andere Sprache setzt allerdings wiederum andere Sprachen voraus, die Sprache in anderen Texten, in anderen Medien. Damit die Details ihre Wirkung haben, damit sie treffen können, muss bereits ein Wissen vorhanden sein, das diese Details in ihren nicht aufgerufenen oder allenfalls angerissenen Kontext einzuordnen weiß. So ist auch Handkes Literatur auf das Wissen angewiesen, dem gegenüber sie das Ahnen präferiert. Sie kann nur im Medienverbund funktionieren, ist abhängig von der Sprache der Fakten, beispielsweise in den Zeitungen, und von der Sprache des Wissens der wissenschaftlichen Texte. In Wut und Geheimnis reflektiert Handke diese gegenseitige Abhängigkeit angesichts seiner Lektüre von Gemsen auf der Lawine von Karel Prušnik-Gašper und von Für das Leben, gegen den Tod von Lipej Kolenik, die beide vom Widerstand kärntnerisch-slowenischer Partisanen erzählen bzw. berichten:
48 Cayrol, Jean: Nuit et brouillard, zitiert nach: Didi-Huberman: Bilder trotz allem, S. 185. 49 Didi-Huberman: Bilder trotz allem, S. 187 (Hervorhebungen im Original). 50 Vgl. Adorno, Theodor W.: „Erziehung nach Auschwitz“. In: Theodor W. Adorno. Gesammelte Schriften. Bd. 10,2. Kulturkritik und Gesellschaft II. Eingriffe, Stichworte, Anhang. Frankfurt a. M. 1977, S. 674–690, S. 679; vgl. auch Hennig, Thomas: Intertextualität als ethische Dimension. Peter Handkes Ästhetik ‚nach Auschwitz‘. Würzburg 1996 (Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft 180), S. 92. 51 Adorno, Theodor W.: „Engagement“. In: Ders.: Noten zur Literatur. Frankfurt a. M. 1981, S. 409–430, Zitat S. 429 und S. 424. Vgl. auch Hennig: Intertextualität, S. 28 und S. 91. 52 Deleuze, Gilles: „Die Literatur und das Leben“. In: Ders.: Kritik und Klinik. Frankfurt a. M. 2000, S. 11–17, Zitat S. 17.
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Zum ersten Mal habe ich beim Lesen von Prušnik-Gašper und Lipej Kolenik anders als ästhetisch gedacht. Zum ersten Mal war ich in Versuchung zu denken: Eigentlich sind die Dichter nicht zuständig. Man darf nicht […] dichterisch schreiben und immer mit Dichtung, mit Poesie kommen! Dieser krude, grausame, genaue […] ‚Sekundenstil‘, den Kolenik verwendet, ist fast entsprechender, als den Widerstand zu poetisieren. […] Und dann habe ich mir wieder gedacht: Eigentlich ein Unsinn. Zuerst, als du jung warst, hast du die Poesie den Tatsachenberichten, der kruden Historie vorgezogen. Und jetzt, als älterer Mensch, bist du versucht, wieder die kruden Tatsachengeschichten, wie die der Kärntner Partisanen, auszuspielen gegen das dichterische Sich-Ausdrücken. Das ist genauso falsch. Beides gehört zusammen. Beides sollte und muß zusammen gelesen werden.53
Erst das Zusammenspiel von Bericht und Erzählung, von Fernsehfakten, Lexikonwissen und Literatursprache kann ansatzweise das, was real passiert (ist), repräsentieren. Das Entsetzliche eines friedlichen Schwalbenknickfluges im blauen Sommerhimmel über dem Hôtel Terminus kann nur dann aufblitzen, wenn der Leser weiß, was einmal in diesem Hotel passiert ist. Mit den Hinweisen auf Klaus Barbie und den Schrei der Kinder von Izieu im Versuch des Exorzismus der einen Geschichte durch eine andere ist von diesem Wissen bereits etwas zu erahnen. Doch in diesen Hinweisen liegt gleichzeitig vielleicht auch ein Problem für das literarische Programm Handkes – zumindest für das Programm, wie es hier behauptet wird. Die Details einer friedlichen Welt zeigt Handke an Orten des Krieges und des Grauens, deren Geschichten und Zusammenhänge er einerseits nicht erzählt; andererseits wird meistens auf sie hingewiesen. Es werden nicht nur die Schwalben und der schöne Sommertag am Bahnhof Lyon-Perrache, sondern auch die Schreie der Kinder von Izieu beschrieben. Und auf das Erzählen der Schwalben und des schönen Sommertags auf der Fahrt nach Srebrenica hin folgt dann doch ein mehrseitiger Versuch, von diesem Ort und seinen sichtbaren Verwüstungen „konkret“ zu erzählen, trotz des „Problem[s] des Weitererzählens, der Bilderbeschreibung, des Schilderns, der Bilderfolge: als werde an Orten wie S. nacherlebbar […] das […] Verbot der Bilder“54 – womit Handke auch auf den Unsagbar- und Undarstellbarkeits-Topos hinweist, der insbesondere die Erinnerung bzw. Erinnerbarkeit der Vernichtung der Juden belastet. Man könnte meinen, dass Handke der angestrebten Wirkung seiner Literatur, den Details des Friedens und dem Wissen der Leser nicht ganz (ver)traut. Entschuldigt er sich im Jahr 2006 in seinen Artikeln für die Libération bzw. die Süddeutsche Zeitung beim Leser noch dafür, dass er ihm erklärt, warum er von den blühenden Bäumen und
53 Handke, Peter: „Wut und Geheimnis“. In: Ders.: Ortstafeln, S. 87–93, Zitat S. 91. 54 Handke: „Sommerlicher Nachtrag“. In: Ders.: Abschied des Träumers, S. 223 f.
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den Erdbeeren auf den Hügeln um Srebrenica erzählt55 – mithin dafür, dass er das Prinzip seiner Literatur aufdeckt, das Poetische an den Klartext ‚verrät‘ –, so ‚verrät‘ er dieses Darstellungs-Prinzip ansatzweise bereits in den Texten selbst, indem er die Detail-Bilder nicht allein für sich stehen lässt. Leser, denen die Geschichte des Hôtel Terminus bekannt ist, erhalten durch den Hinweis auf Klaus Barbie und die Kinder von Izieu aber kein zusätzliches Wissen; Leser, die von dieser Geschichte nichts wissen, erfahren durch die wenigen Hinweise nicht genug, um den Rahmen erkennen zu können. Es scheint, als ob Handke seine Position nicht vollständig durchhält und in seinen Versuchen Hinweise darauf gibt, wie seine Literatur ‚eigentlich‘ gemeint sei. Der Versuch des Exorzismus der einen Geschichte durch eine andere wäre aber womöglich konsequenter und in dieser Konsequenz radikaler, wenn er im Interesse und in der Notwendigkeit eines anderen Sprechens und einer neuen Schrift bei den Sonnenfaltern auf den Bahnschwellen abbrechen würde. Auf diese Weise wären die Details aus einer Friedenswelt an Orten des Völkermords zwar noch missverständlicher, als sie es für viele Leser ohnehin schon waren bzw. sind. Sie würden jedoch in ihrer Ungebrochenheit eine Lektüre verstärken, die schon vor dem Lesen des Versuchs die Geschichte des Hôtel Terminus kennt, in der zwischen dem vorgestellten Wissen um die Geschichte und den dargestellten literarischen Bildern einer bezaubernd friedlichen Gegenwart, zwischen der Schönheit und dem Hintergrund des Entsetzens, zwischen der Arglosigkeit und dem Grauen ein kaum zu ertragender, erschütternder Kontrast aufscheint.
Literaturverzeichnis Adorno, Theodor W.: „Erziehung nach Auschwitz“. In: Theodor W. Adorno. Gesammelte Schriften. Bd. 10,2. Kulturkritik und Gesellschaft II. Eingriffe, Stichworte, Anhang. Frankfurt a. M. 1977, S. 674–690. Adorno, Theodor W.: „Engagement“. In: Ders.: Noten zur Literatur. Frankfurt a. M. 1981, S. 409–430. Andel, Horst J.: Kollaboration und Résistance. ‚Der Fall Barbie‘. München, Berlin 1987. Au, Alexander: Programmatische Gegenwelt. Eine Untersuchung zur Poetik Peter Handkes am Beispiel seines dramatischen Gedichts Über die Dörfer. Frankfurt a. M. u. a. 2001 (Heidelberger Beiträge zur deutschen Literatur 10). Barthes, Roland: Leçon/Lektion. Frankfurt a. M. 1980. Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie. Frankfurt a. M. 1989.
55 Vgl. Handke: „Am Ende ist fast nichts mehr zu verstehen“. In: Ders.: Ortstafeln, S. 508–512, Zitat S. 509.
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II. Erfahrung und Sprache
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Tim Lörke
Dauernde Augenblicke Sinnstiftende Zeiterfahrungen bei Peter Handke
1 Wie jeden Morgen steht der Apotheker von Taxham, der Protagonist von Peter Handkes Roman In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus, „früh auf, ‚mit den ersten Rabenschreien‘“.1 Er folgt seinem Ritual, mit dem er jeden Tag, zumindest im Sommer, beginnt. Zunächst beobachtet er den Sonnenaufgang, bemerkt den fehlenden Tau im „Garten nach der warmen trockenen Nacht“.2 Sodann begibt er sich zum Fluss. Und dann heißt es im Roman: Er schwamm in dem bis auf die Knochen kalten Fluß, erst gegen die starken Wellen, und ließ sich dann treiben, ziemlich genau in der Flußgrenze, wo auch die Grenze zu Deutschland verlief. Ungeheuer schnell, wie im Galopp, zogen die Uferbüsche vorbei. Er tauchte mit dem Kopf so tief unters Wasser, daß ihm die kleinen Kiesel, am Flußgrund treibend, in die Ohrmuschel gerieten, wo sie eine schöne Zeitlang aufeinanderschlugen, knirschten und klirrten. Es war ihm, als könne er immer so unter Wasser bleiben, ohne zu atmen, und das wäre ab jetzt sein Leben.3
Der Apotheker erlebt einen höchst verdichteten Augenblick. Beim Sich-treibenLassen im Fluss stellt sich ein beglückendes Gefühl der Aufgehobenheit ein, eine Entgrenzungserfahrung, die als Aufgehen im anderen Element verstanden wird. Damit geht eine – zumindest zeitweise so empfundene – Veränderung des Lebens einher: „Es war ihm, als könne er immer so unter Wasser bleiben, ohne zu atmen, und das wäre ab jetzt sein Leben.“ Der Wechsel vom Land ins Wasser zeitigt die schöne Möglichkeitserfahrung, ein anderes Leben zu führen, einfach treibend im Fluss, also angenommen zu sein im neuen Element. Dieser Augenblick des Als-ob beschreibt die Entgrenzung als eine Vermischung, als eine neue Einheit mit dem, was zuerst fremd war. Zugleich bleibt diesem Augenblick sein utopischer Charakter eingeschrieben: Dem Apotheker ist es ja nur, als ob das von nun an sein Leben sein könnte. Die Rückkehr ans Ufer erfolgt natürlich und damit die Aufhebung der neuen Einheit.
1 Handke, Peter: In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus. Frankfurt a. M. 1999, S. 25. 2 Handke: In einer dunklen Nacht, S. 27. 3 Handke: In einer dunklen Nacht, S. 28–29.
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In einem Aufsatz Über leere und erfüllte Zeit hat Hans-Georg Gadamer darauf hingewiesen, dass erfüllte Zeit oft nicht als solche wahrgenommen wird, sondern sich erst in der Rückschau als erfüllt zeigt.4 Er beschreibt erfüllte Zeit als einen Moment, der selbstverständlich scheint, weil man Selbstverständliches tut. So ist es für den Apotheker, der jeden Morgen im gleichen Fluss schwimmt und sich treiben lässt; das ist sein Alltag. Er wird also jeden Morgen das beglückende Gefühl des Aufgehens im fremden Element kennen und sich mehr oder minder bewusst dem Als-ob hingeben. Trotz seiner utopischen Qualität ist es gerade die alltägliche Gewöhnlichkeit dieses Augenblicks, die paradoxerweise das Außergewöhnliche aufscheinen lässt. Daraus folgt, dass solche erfüllten Augenblicke sich gewissermaßen einüben lassen: So wie der Apotheker seinem allmorgendlichen Ritual folgt, als einer alltäglichen Praxis, sich für einen beglückenden Moment selbst zu vergessen, indem man sich einem Als-ob überlässt. Von Gadamers Überlegungen fällt noch ein anderes Licht auf die zitierte Passage. Denn Gadamer definiert die erfüllte Zeit unter Rückgriff auf Hölderlin als einen Moment, in dem „das Mögliche real und das Wirkliche ideal“ wird.5 Der Moment im Fluss wird für den Apotheker zu einem solchen nahezu magischen Moment mit Veränderungspotential. In seiner Möglichkeitserfahrung des Als-ob wird eine schöne Zeitlang das erträumte Mögliche, als Mensch im Wasser zu leben, real. Der sich darin verbergende Wunsch des Apothekers, ein anderer zu werden und in Harmonie mit seiner Umwelt zu leben, erfüllt sich für eine kurze Weile, die als Glücksmoment wahrgenommen wird. Zugleich wird das Wirkliche für den Apotheker ideal, schließlich ist es sein tatsächlicher Alltag, allmorgendlich im Fluss zu schwimmen, der eine Glückserfahrung als einen Moment unendlich erfüllter Zeit hervorbringt. Handke beschreibt in seinem Roman, wie erfüllte Augenblicke eine Dauer entfalten, die verändernd wirkt. Dabei setzt Handke auf die mystische Erfahrung eines stehenden Jetzt, in dem sich sowohl das Einssein mit sich als auch das Abstreifen des Ich vermischen. Ein mystischer Augenblick ist von intensiver Verdichtung; darin schießt vieles zusammen, was den, der einen solchen Moment erlebt, verändert zurücklässt. Eine solche Unio mystica führt Handke auf zweierlei Weise vor: Zunächst als den erfüllten Moment, in dem der Apotheker sich entgrenzt als Flussbewohner, also als ein anderer, erlebt; dann als den Moment, der tatsächlich verändernde Qualitäten besitzt, weil sich eine Form von Sinnstiftung darin verbirgt.
4 Gadamer, Hans-Georg: „Über leere und erfüllte Zeit“. In: Ders.: Kleine Schriften. Bd. III. Idee und Sprache. Tübingen 1972, S. 221–236. 5 Gadamer: Über leere und erfüllte Zeit, S. 233.
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Denn für den Apotheker ist das Wirkliche eben nicht ideal; allenfalls in dem Als-ob-Moment kann er seine ihn bedrängende Wirklichkeit abstreifen. Er leidet an einer Schuld, die er nicht erklären kann, nur benennen: Er hat seinen Sohn verstoßen, der fortgezogen ist; danach hat er sich von seiner Frau entfremdet; und mit sich selber ist er keineswegs im Reinen.6 Der Zusammenhang zwischen seiner Schuld und dem Schwimmen auf der Suche nach einem anderen Dasein liegt auf der Hand. Denn unmittelbar bevor die zitierte Schwimmpassage einsetzt, berichtet der Apotheker in erzählter Rede davon, seinen Sohn verjagt zu haben.7 Und in der Tat stellt sich die vom Apotheker ersehnte Veränderung, erträumt beim Schwimmen im Fluss, dann auch wirklich ein; allerdings anders als erwartet. Beim Lesen in seiner Mittagspause im Wald ist dem Apotheker, als hätte ihm jemand auf den Kopf geschlagen. Im Folgenden beschreibt der Roman dann die merkwürdige Reise des Apothekers, auf der er von einer geheimnisvollen Frau verfolgt wird und seinen Sohn in einem kleinen Dorf sieht, ohne ihn zu sprechen. Zurückgekehrt von seiner Reise diktiert der Apotheker seine Erlebnisse dem Schreiber. Dieser fragt den Apotheker, ob seine Geschichte ihn verändert habe, worauf der Apotheker antwortet: „Zwischendrin habe ich mir einmal geschworen, wenn ich je hierher zurückkäme, dann als ein anderer! Aber das einzige, was sich an mir scheint’s geändert hat: ich habe größere Füße bekommen; mußte mir neues Schuhwerk kaufen.“8 Das klingt zunächst nicht nach der erhofften tiefgreifenden Veränderung, sondern eher nach der Enttäuschung, trotz der Reise der Alte geblieben zu sein, der sich sehr nach dem Anders-Sein sehnt. Liest man den Roman allerdings aufmerksam, weiß man besser als der Apotheker, dass sich eine Veränderung vollzogen hat. Denn rund zweihundertfünfzig Seiten vorher wird der Apotheker in einem Restaurant scheinbar Zeuge eines Gesprächs zwischen einem Ehepaar, das sein einziges Kind verloren hat und nicht weiß, wo es ist, und einem Priester. „Und nun waren die beiden auch miteinander am Ende. Die Frau: ‚Ich möchte tot sein.‘ – Der Mann: ‚Ich auch.‘“ Als verlegenen Trost äußert der Priester, „das Sterben sei vielleicht eine Art Salto mortale, nach dem man wieder auf die Füße komme, ganz andere Füße“.9
6 Lakonisch und befangen in einer unauffälligen Tätigkeit führt Handke die Selbstentfremdung des Apothekers vor, wenn dieser gegen sich selbst Schach spielt und „den anderen“ gewinnen lässt (Handke: In einer dunklen Nacht, S. 66). 7 Handke: In einer dunklen Nacht, S. 28. 8 Handke: In einer dunklen Nacht, S. 302. 9 Handke: In einer dunklen Nacht, S. 62.
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Der Tod wird hier ebenfalls als eine Entgrenzungserfahrung von ungeheurem Veränderungspotential beschrieben, die den Apotheker als einen Anderen zu rücklässt. Zwar stirbt er nicht, aber er macht eine Erfahrung, die ihn sein altes, unverstandenes Dasein abstreifen macht.10 Es ist wohl deutlich, dass es sich bei dem Paar, das der Apotheker gesehen haben will, um ihn selbst und seine Frau handelt. Und die Reise, die der Apotheker unternimmt, ist nun nicht der Tod, aber doch eine Erfahrung, die der Apotheker bewusst nicht hätte machen können. Der Roman markiert die Reise darum als einen Traum: Angespannt von dem Überfall, den der Apotheker imaginiert, sowie von einer ausstehenden medizinischen Untersuchung, die einer Geschwulst an der Stirn des Apothekers gilt, fällt er in einen sehr tiefen Schlaf. Dabei träumt er seine Reise.11 Inspiriert von den mittelalterlichen Ritterepen, die seine Lektüre bilden, erlebt er auf seiner Traumaventüre etwas, das ihn seine Schuld begreifen und annehmen lehrt.12 Die ersehnte Veränderung findet also insofern statt, als seine anfängliche Rat losigkeit sich löst. Die größer gewordenen Füße beweisen, dass er eine ihn fun damental betreffende Wandlung durchgemacht hat. Peter Handke führt in seinem Roman zwei verschiedene Formen eines erfüllten Augenblicks vor. Die eine ist die eines intensiven Er-Lebens, eines Da-Seins, das eine schöne Zeitlang von gedrängter Lebendigkeit ist, weil sie ein ersehntes Anderes leibhaft erfahrbar macht. Ein Wunsch nach Veränderung oder ein Wunsch nach einer anderen, neuen Erkenntnis werden für einen erfüllten Augenblick wahr. Die andere Form ergibt sich aus der Lektüre, dem Traum und dem
10 Karl Wagner betont dagegen, dass im Motiv der größeren Füße ein „Desillusionsmoment“ inszeniert werde, der Apotheker mithin keine Wandlung oder Entwicklung durchgemacht habe. Wagner übersieht allerdings, dass das Motiv bereits zu Beginn des Romans eingeführt wird und gleichsam den Beginn und das Ende miteinander verklammert. Karl Wagner: „Handkes spanische Ansichten. ‚In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus‘“. In: Die Lebenden und die Toten. Beiträge zur österreichischen Gegenwartsliteratur. Hg. v. Markus Knöfler, Peter Plener u. Péter Zalán. Budapest 2000, S. 147–157, Zitat S. 153. 11 Zum Ende des ersten Kapitels schläft der Apotheker ein, erwacht aber scheinbar in einem bleibenden Schwarz (Handke: In einer dunklen Nacht, S. 69). Das zweite Kapitel beginnt sodann mit einer Beschreibung verschiedener Phänomene, die nicht sein können, aber eben doch sind; hier regiert offensichtlich die Logik des Traums (Handke: In einer dunklen Nacht, S. 71 ff.). 12 Der Apotheker liest den Iwein. Auch Iwein wird schuldig, indem er als König seine Frau wie sein Land verlässt, um auf Aventüre zu ziehen. Nachdem er deswegen des Artushofes verwiesen wird, wird Iwein wahnsinnig und muss auf einer Reise zu sich selbst seine Schuld büßen. Auch hier findet sich das Motiv der Selbstentfremdung verwoben mit der Schuld, Frau und (Landes-) Kinder vernachlässigt zu haben. In Handkes Roman kommt es nun nicht zu einer Lösung, die den Apotheker wieder mit seiner Frau versöhnt und den Sohn heimholt, aber doch zu einer Erkenntnis der Schuld.
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tieferen Hinsehen:13 Die Ritterepen machen dem Apotheker seine Schuld begreifbar, indem sie in seinem Traum nachwirken und in diesem erfüllten Augenblick, der für ihn eine ganze lange Reise auszumachen scheint, die tatsächliche Veränderung in Gang setzen, die über den erträumten Als-ob-Zustand hinausgeht. Darum ist es nicht überraschend, dass Handke seinem Roman einen Johannes vom Kreuz entlehnten Titel gibt. Dessen Gedicht Die dunkle Nacht beschreibt eine umwälzende Erfahrung, die – wie die des Apothekers – um die Veränderung, das Einssein und die tiefere Wirklichkeit kreist.14 Die Nacht „verdunkelt“ zwar den Geist, „aber nur deshalb, um ihm bezüglich aller Dinge Licht zur spenden“, wie es dort heißt.15 Der Schlag auf den Kopf des Apothekers wie das tiefe Schwarz, vor dem sich seine Traumaventüre entfaltet, verrücken die Wahrnehmung des Apothekers zu einer tieferen Einsicht. Die Gottesschau, in der bei Johannes der Weg durch die Nacht gipfelt, bleibt bei Handke allenfalls diskret. Wenn Handke seinen Roman in die Tradition der nächtlichen Mystik stellt, ist es ihm viel eher um die Erkenntnis des eigentlichen Sinns zu tun, die die Selbstentfremdung aufhebt. 2 Peter Handkes Texte evozieren immer wieder Augenblicke, die paradoxerweise eine Dauer erzeugen. Diese Augenblicke erfüllen eine sinnstiftende Funktion. Sie bedeuten etwas, das auf den ersten Blick ersichtlich scheint, und sind darum sehr stark mit dem Sehen und Beobachten verbunden. Im nachfolgenden Beschreiben sollen sie festgehalten und somit der Vergänglichkeit entzogen werden. Ganz im Sinne der Überlegungen Gadamers zur erfüllten Zeit bestehen solche Augenblicke auch bei Handke nicht aus dem Außergewöhnlichen, sondern aus dem Selbstverständlichen und Alltäglichen, das nur allzu leicht übersehen wird. So hält das Gedicht an die Dauer programmatisch fest: „Die Ekstase ist immer zu viel, / die Dauer dagegen das Richtige.“16 Nicht das Außer-sich-, son-
13 Den entscheidenden Schlag auf den Kopf erhält der Apotheker auf einer „Rodung“ (Handke: In einer dunklen Nacht, S. 44); es liegt wohl nicht ganz fern, hier auch an Novalis, den Neuland Rodenden, zu denken und an sein Konzept des Romantisierens, das ebenfalls durch eine andere Art des Sehens auf die eigentliche, tiefere Wirklichkeit zielt. Vgl. Novalis: „Das philosophischtheoretische Werk“. In: Novalis. Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Bd. 2. Hg. v. Hans-Joachim Mähl. Darmstadt 1999, S. 334. Dazu vgl. Kurzke, Hermann: Novalis. München 2001, S. 46–49, und Uerlings, Herbert: Novalis (Friedrich von Hardenberg). Stuttgart 1998, S. 59–75. 14 Johannes vom Kreuz: „Die dunkle Nacht“. In: Sämtliche Werke. Bd. 1. Hg. v. Ulrich Dobhan, Elisabeth Hense u. Elisabeth Peters. Freiburg 1995. 15 Johannes vom Kreuz: Die dunkle Nacht, S. 123. 16 Handke, Peter: „Gedicht an die Dauer“. In: Ders.: Leben ohne Poesie. Gedichte. Hg. v. Ulla Berkéwicz. Frankfurt a. M. 2007, S. 171–198, Zitat S. 179.
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dern gerade das Bei-sich-Sein ermöglicht für Handke die beglückende Erfahrung einer erfüllten Zeit, eines dauernden Augenblicks. Dabei ist die Dauer „das flüchtigste aller Gefühle, / oft rascher vorbei als ein Augenblick“.17 Doch gerade weil sie so flüchtig ist, versteht Handke sie in seinem Gedicht als ein besonderes Geschenk. Er definiert das Gefühl der Dauer als ein Ereignis, also als etwas, das sich jemandem gibt, indem es sich jemandem ereignet. Zweierlei ist für Handke dabei entscheidend: So versteht er die Dauer zunächst als ein Ereignis des „Aufhorchens“ und „Innewerdens“, sodann als Ereignis des „Umfangenwerdens“ und „Eingeholtwerdens“.18 Im Moment der Dauer wird man damit beschenkt, für seine Umwelt eine erhöhte Aufmerksamkeit zu entfalten; gerade das Selbstverständliche und Alltägliche wird nicht länger übersehen, sondern wahrgenommen. Die Wirklichkeit wird damit ideal, sie wird der Nichtbeachtung entrückt und mit einer Bedeutung aufgeladen, die sich aus der zweiten Qualität des Ereignisses ergibt. Denn in der unmittelbaren Anschauung des Selbstverständlichen stellt sich ein Gefühl des Aufgehobenseins, gar eine Heilserfahrung ein.19 Dies lässt sich als eine Form der Sinnstiftung begreifen, da das Dasein im Moment der Dauer als geordnet und im Einklang mit einer Art religiöser Instanz verstanden wird. Religiös ist Handkes Konzept der Dauer insofern, als es der Kontingenz des Daseins eine wenn auch nur flüchtige Geborgenheit entgegensetzt.20 So spricht Handke denn auch mit Blick auf die Dauer von Wärme und Tröstung.21 Es ist der Journalband Am Felsfenster morgens, der Handkes Reflexionen zum Zusammenhang von Religiosität, mystischer Zeiterfahrung und Sinnstiftung bündelt. Dabei rückt vor allem die Betrachtung der Natur in den Mittelpunkt der Überlegungen; sie wird zum Inbegriff des Alltäglichen und Selbstverständlichen als das, was immer da ist und in dem sich eine mystische Heilserfahrung ereig-
17 Handke: Gedicht an die Dauer, S. 173. 18 Handke: Gedicht an die Dauer, S. 174. 19 Handkes ästhetische Strategien, die religiös tingiert sind, sind Gegenstand der Dissertation von Lore Knapp, die gerade an der Freien Universität Berlin entsteht: Knapp, Lore: Formen des Kunstreligiösen. Peter Handke – Christoph Schlingensief. Zur Nähe von Handkes ästhetischen Strategien zu heiklen politischen Zusammenhängen der deutschen Dichterreligion siehe Rohde, Carsten: ‚Träumen und Gehen‘. Peter Handkes geopoetische Prosa seit Langsame Heimkehr. Hannover-Laatzen 2007 (Reihe Salon 12), S. 40 ff., sowie Lörke, Tim: „Der poetische Mensch als Figur der Subversion: Das Beispiel Peter Handke“. In: Gegen den Strich. Das Subversive in der deutschsprachigen Literatur nach 1945. Hg. v. Arvi Sepp u. Gunther Martens. Münster 2014 (im Druck). 20 In diesem Sinne der Kontingenzbewältigung deutet Max Weber Religiosität und religiöse Dichtung; siehe Weber, Max: „Zwischenbetrachtung“. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I. 9. Aufl. Tübingen 1988, S. 536–573, hier S. 555. 21 Handke: Gedicht an die Dauer, S. 175.
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net. So notiert Handke: „Die religiöse Dankbarkeit, oder einfach die Religiosität, hieße: ‚Es ist schön hier‘ (im Moos, Birkensiedlung)“.22 Anders als bei ästhetizistischen Theorien, die das Schöne als einen Verweis auf eine andere Wahrheit verstehen, fällt bei Handke auf, dass das Schöne für sich gültig ist. Bei Handke wird nicht gedeutet, wird nicht nach einer tieferen Wahrheit gesucht, vielmehr zeigt sich die Wahrheit in der betrachteten Schönheit. Martina Wagner-Egelhaaf hat auf das „Paradox der mystischen Bildersprache“ hingewiesen, „daß die Bilder ‚das Eigentliche‘ nicht sind, dieses sich aber nicht ohne Bilder mitteilen kann“.23 Mit Blick auf Handke lässt sich hingegen feststellen, dass die Bilder das Eigentliche sind. In Handkes mystischem Blick fallen Zeichen und Bezeichnetes in eins. Allerdings ist die Bedeutung nicht unmittelbar zu entschlüsseln. Die sich aus dem betrachtenden Aufgehen in der Natur ergebende Religiosität erscheint als Weg zu einer Teilhabe an der „wirkliche[n] Wirklichkeit“, die Handke bereits in seinem Essay Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms beschworen hat.24 Er verfolgt den Gedanken einer Wahrheit, die sich dem Zugriff der Vernunft gewissermaßen entzieht, die nicht gedeutet und erklärt werden will, sondern sich zeigt. In der Kindergeschichte stellt der Erzähler fest: „Ich arbeite an dem Geheimnis der Welt.“25 Das Geheimnis lässt sich aufdecken, indem man sich der Betrachtung des Alltäglichen verschreibt, wie der Journalband vorführt. Dabei wird die etwaige Furcht vor der wirklichen Wirklichkeit genommen: „Keine Bange vor der Schönheit“, schreibt Handke hier, „sie will nur erforscht werden. Das Schöne ist nicht des Schrecklichen Anfang“.26 Sondern der Anfang einer umfassenden Sinnstiftung, wie man ergänzen möchte. Handke weist damit nicht allein Rilkes Duineser Elegien zurück, er wendet sich zugleich gegen Rudolf Ottos Konzept des Heiligen, das ein „Gefühl des mysterium tremendum, des schauervollen Geheimnisses“ verursacht.27 Otto führt weiter aus, dass im Moment einer mystischen Präsenzerfahrung angesichts des
22 Handke, Peter: Am Felsfenster morgens (und andere Ortszeiten 1982–1987). München 2000, S. 45. 23 Wagner-Egelhaaf, Martina: Mystik der Moderne. Die visionäre Ästhetik der deutschen Literatur im 20. Jahrhundert. Stuttgart 1989, S. 214. 24 Handke, Peter: „Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms.“ In: Ders.: Meine Ortstafeln. Meine Zeittafeln. 1967–2007. Frankfurt a. M. 2007, S. 37–46, Zitat S. 37. Handke zitiert damit gewissermaßen Stifter; vgl. Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Hg. von Uwe Japp u. Hans Joachim Piechotta. Frankfurt a. M. 1978, S. 158. Dank an Ulrich Greiner für den Hinweis! 25 Handke, Peter: Kindergeschichte. Frankfurt a. M. 1984, S. 69. 26 Handke: Am Felsfenster morgens, S. 101. 27 Otto, Rudolf: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. München 1971, S. 13. Dank an Jürgen Brokoff für die Anregung!
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„Unheimlichen“ ein „Erschauern“ eintrete, verbunden mit dem Gefühl „eigener Nichtigkeit“.28 Dem mystischen Moment eignet bei Otto etwas Furchterregendes, das einhergeht mit einer Art von Ichverlust. Handke betont jedoch gerade die Heiterkeit und Fröhlichkeit eines solchen Moments. Und die Verunsicherung des eigenen Ich, die Otto beschreibt, führt bei Handke gerade zu einer neuen Selbstgewissheit und einem neuen Vertrauen in die Welt. So ruft das Journal angesichts eines alten Ehepaars, das gemeinsam das Nachtmahl einnimmt, aus: „Das Dasein ist groß“.29 Und Handke notiert sicher: „Noch ein paar Jahre hier im Garten, und ich werde mehr wissen!“30 Im Schauen ereignet sich bei Handke ein Mit-Sein, das zur Teilhabe am Geheimnis führt. Er wendet sich dabei gegen das Konzept einer Offenbarungsreligion, die davon ausgeht, dass sich Gott oder das Numinose jedem einfach zeigen wird oder schon gezeigt hat. Stattdessen betont Handke, dass man sich trainieren müsse, zu schauen und zu betrachten. Denn nur dem, wie er Xenophanes zitierend festhält, der sucht, zeigt sich mit der Zeit das Bessere, das die Götter nicht von Anfang an enthüllt haben.31 Das, was zu sehen ist, ist die von Handke gesuchte Wahrheit, die sich allerdings nicht auf den ersten Blick erschließt. Vielmehr fordert Handke, man müsse eine Schule des langsamen und geduldigen Sehens durchlaufen, um richtig sehen zu können. Die Wiederholungsfiguren in Handkes Texten erweisen sich als einübbare Praktiken, mit denen sich Präsenz im Angesicht der Dinge erfahrbar machen lässt. Als Gedicht notiert er: Angesichts des Zweigs vor dem Himmel: / Gewiß erwarte ich da keine Gotteserscheinung. / Aber ich erwarte doch mehr zu sehen, / Als ich im Augenblick da sehen kann. / Und ich weiß, / Daß ich da mehr sehen kann – / Viel mehr. / Und als ich das dachte, / Hörte in meinem Innern das Zählen auf.32
Die Betrachtung des Zweiges ist ein Moment erfüllter Zeit und wird zu einem Moment der Dauer, als sich darin eine Gewissheit niederschlägt, dem Geheimnis der Welt nahekommen zu können. In der Betrachtung des Zweiges verliert der Betrachter das vorgegebene Wissen, das die Wahrheit verfehlt, und hört auf zu zählen, also wissenschaftlich zu denken: Er lässt sich vielmehr auf die Ideal werdende Wirklichkeit ein, indem er in dem alltäglichen Zweig etwas anderes erkennt, das sich jedoch nicht einfach offenbart und erklärt.
28 Otto: Das Heilige, S. 19 f. 29 Handke: Am Felsfenster morgens, S. 104. 30 Handke: Am Felsfenster morgens, S. 104. 31 Handke: Am Felsfenster morgens, S. 112. 32 Handke: Am Felsfenster morgens, S. 71.
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Der dauernde Augenblick, wie Handke ihn hier beschreibt, ist von einer zögerlichen Mystik, ist ein tastender Versuch, sich dem Geheimnis zu nähern, indem man sich durch Betrachtung das Geheimnis gleichsam anzuverwandeln sucht. Solche gelungenen Momente der Epiphanie ermöglichen eine Überführung aus der gedrängten Gegenwart in eine gedehnte Zeit.33 In Handkes Beschreibungen wird nicht ein tieferer Sinn evoziert, der durch Interpretation zu verstehen wäre, vielmehr umkreisen diese Beschreibungen eine Poetik des Augenscheins: Durch das Betrachten eröffnet sich die Möglichkeit eines Mit-Seins, eine Verschmelzung von betrachtendem Subjekt und betrachtetem Objekt. Damit gelingt eine Form mystischer Sinnstiftung.34 „Menschliche Erfahrung ist schlechterdings nur möglich als mit Bedeutung versehene Wahrnehmung“, wie Alois Haas in seinen Überlegungen zur Mystik betont.35 Mystik definiert Haas in diesem Zusammenhang „als Suche und Findung von Sinn“.36 Der Sinn, den Handke in den genauen Beobachtungen findet, entzieht sich der wörtlichen Mitteilung; auch hier die Wendung gegen die Offenbarungsreligion, die sich in einem Kanon heiliger Texte und deren Auslegung niederschlägt. Stattdessen evozieren die kurzen Journaleinträge, aber auch die beschreibenden Passagen in den Romanen die gefundene Wahrheit im Bild. In der Betrachtung, dann aber auch in der Beschreibung der Betrachtung, ist sie erfahrbar.37 In Am Felsfenster morgens führt Handke dafür den mystischen Begriff der Leere als poetologischen Begriff ein. Er gibt sich selber zu merken: „Unterscheide zwischen ‚Leerformeln‘ und ‚Leerformen‘: die letzteren als unvergängliche Errun-
33 Mit Hermann Lübbes Diagnose der „Gegenwartsschrumpfung“ könnte man bei Handke von der einübbaren Technik der Gegenwartsdehnung sprechen. Vgl. Lübbe, Hermann: Zeit-Erfahrungen. Sieben Begriffe zur Beschreibung moderner Zivilisationsdynamik. Stuttgart 1996, S. 12–16. 34 Joachim Ritter hat auf die Bedeutung der Landschaft in der modernen Gesellschaft hingewiesen; „die ästhetische Natur als Landschaft“ vermittelt die durch moderne Wissenschaften entfremdeten Menschen wieder mit einem Naturganzen, das harmonisch geordnet wahrgenommen wird. Gerade Handkes Beschreibungen lösen diesen Anspruch paradigmatisch ein. Vgl. Ritter, Joachim: „Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft“. In: Ders.: Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel. Erweiterte Neuausgabe. Frankfurt a. M. 2003, S. 407–441, bes. S. 424–427. 35 Haas, Alois M.: Mystik als Aussage. Erfahrungs-, Denk- und Redeformen christlicher Mystik. Frankfurt a. M. 2007, S. 17. 36 Haas: Mystik als Aussage, S. 15. 37 Hier erweist sich auch die Nähe Handkes zu Wittgensteins Sprachphilosophie. Vgl. Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914–1916. Philosophische Untersuchungen. 11. Aufl. Frankfurt a. M. 1997, S. 85: „6.522. Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.“
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genschaft; schau etwa auf die religiösen Leerformen – es gibt ohnedies nur ein paar“.38 Als Grundannahme der Mystik hält Haas die Vorstellung fest, dass sich das Wort als Teil der göttlichen Trinität aus dem Schweigen ergebe.39 Hieran schließt Handke gewissermaßen an, wenn er die Leere oder die Abwesenheit dem Schweigen zur Seite stellt und darin einen Sinn zu finden weiß. In einer Erzählung, die eine Leerform sei, dürfe nichts passieren, wie Handke feststellt, vielmehr müsse alles nur geschehen, sich ereignen.40 Handkes mystische Poetik zielt auf das Aussetzen von Handlung, auf das Fehlen eines Plots, weil dies ein aktives Verhalten der Figuren voraussetzt. Dagegen zeigt Handke die geforderte Einübung des geduldigen Sehens an seinen Figuren auf, etwa wenn der Apotheker von Taxham seine Reise nur im Traum unternimmt, der aber zumindest den Lesern die Augen öffnet. Die angestrebten Momente der Dauer haben bei Handke nichts vom Kairos, dem Moment, der allzu rasch verstreicht, wenn nicht entschieden gehandelt wird. Gerade die Passivität ermöglicht die Dauer, die sich dann ereignet, also schenkt. Im Journal wird die Leere als Ereignis begriffen. Die Begriffe der Dauer und der Leere werden miteinander verbunden, und so wie die Dauer aufmerksam macht und zugleich beschützt, so füllt der Mensch die Leere, die ihn zugleich umhüllt. In der Dauer wie in der Leere ist eine Unio mystica erfahrbar. Aus der Leere ergibt sich die Suche nach Sinn, der dann in der Suche schon gefunden wird. Handkes Kardinaltugenden der Leere und der Abwesenheit bilden die Vo raussetzung einer Präsenzerfahrung. Der so gefundene Sinn bleibt freilich nach Handkes Überlegungen nicht auf die Innerlichkeit beschränkt, vielmehr liegt in dieser Unio mystica ein Weltbezug. „Scheues Sehnen“, so Handke, fülle die Leerform; „Sehnen geht in die Welt hi naus, will in die Welt hinaus“.41 So soll die Unio mystica nicht auf ihren Augenblick beschränkt bleiben, sondern den Blick öffnen von dem kleinen Alltäglichen, das die mystische Schau ermöglicht, hin zu größeren Zusammenhängen. Die Poesie wird dabei zum Mittel, mystische Unmittelbarkeit intersubjektiv kommunizierbar zu machen. Der Betrachtende notiert seine Betrachtung; der kurze Eintrag wiederum bietet ein dermaßen verdichtetes Bild, dass die Lektüre einen Nachvollzug des dauernden Augenblicks fordert, der eben nicht vorbuchstabiert ist, sondern sich im eigenen Mit-Schauen des Bildes einstellt. Die darin aufscheinende Wahrheit wird der Lektüre nicht eingeschrieben; auch hier zeigt
38 Handke: Am Felsfenster morgens, S. 16 (Hervorhebungen im Original). 39 Haas: Mystik als Aussage, S. 11. 40 Handke: Am Felsfenster morgens, S. 21 f. 41 Handke: Am Felsfenster morgens, S. 23 (Hervorhebung im Original).
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sich wieder eine Wendung gegen die Offenbarungsreligion oder andere Sinnstiftungssysteme, die fest umrissene Weltbilder produzieren. Handke greift hier zurück auf seine poetologischen Essays der sechziger und siebziger Jahre, als er die Aufgabe des Schriftstellers so definierte, einfach zu erzählen, wie der Schriftsteller etwas erlebt oder begreift, ohne sogleich eine feste Deutung mitzuliefern.42 Darin liegt zugleich das subversive Potential seiner Poetik der Dauer und des erfüllten Augenblicks, weil sie sich einer verallgemeinerten Deutung des Betrachteten entzieht und dagegen auf die je eigene Sicht und Erfahrung vertraut. Entsprechend notiert Handke in Am Felsfenster morgens: „Könnte man sagen, ich betriebe ein Mich-hinweg-Stehlen aus den Ereignissen, der Historie, mit dem Mich-Begeben in die Stille, die Sonne, den Wind hier? Nein, es ist das Sich-in-den-Stand-Setzen gegen die Ereignisse, die Historie, das Sich-in-denStand-der-Dinge-Setzen“.43 Nicht die großen Deutungssysteme eröffnen den Blick auf die Wahrheit, vielmehr das Mit-Sein im Alltäglichen und Selbstverständlichen. Indem sie auf einer solchen Poetik des Augenscheins basieren, bieten Handkes Einträge eine Korrektur eingeübter Sehweisen, die dem Betrachteten sogleich eine festgelegte Bedeutung unterlegen. So lassen sich in Handkes Werk zwei Formen der Dauer und Sinnstiftung erkennen. Die erste ist die unmittelbare Erfahrung einer Präsenz, wie sie der Apotheker etwa macht. Die zweite ist die Erfahrung der Dauer, die zur Schrift drängt – deren Sinnstiftung sich also in der Verschriftlichung ergibt. Von dieser zweiten Form berichtet die Erzählung Nachmittag eines Schriftstellers. Nach der Arbeit des Schreibens zieht der Schriftsteller durch die Randbezirke der Stadt. Es ist eine leere Zeit, weil sie ihn durchlässig macht für die Erfahrungen anderer. Hat der Apotheker eine Entgrenzungserfahrung im Fluß, fühlt sich der Schriftsteller hier wie der Lastwagenfahrer am Steuer, den er von fern sieht.44 Während des Schreibens sucht er nach Einklang, den er beim Schreiben jedoch nicht findet, aber dann während seines Streifzuges vielfach erlebt. Die leere Zeit ermöglicht zunächst den Einklang, die Unio mystica, ehe sie sodann das Schreiben am nächsten Morgen anleitet. Die Erfahrungen der Dauer bilden die Grundlage des Schreibens, das sich selber nach solchen Momenten sehnt, diese aber im gerichteten Schreiben nicht erreicht. Es ist die Zeit fern vom Schreibtisch, die das
42 Vgl. etwa Handke, Peter: „Die Geborgenheit unter der Schädeldecke“. In: Ders.: Meine Ortstafeln, S. 67–72, Zitat S. 72. 43 Handke: Am Felsfenster morgens, S. 48. 44 Handke, Peter: Nachmittag eines Schriftstellers. Frankfurt a. M. 1989, S. 22.
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Schreiben erst ermöglicht, weil sich die Dauer nicht einstellt, wenn man sie erzwingen will. Als Übung gilt es, sich auf die Dauer ziellos einzulassen, gleichsam selber zur Leerform zu werden, wie der Schriftsteller am Nachmittag. 3 Der ritualisierte Morgen des Apothekers oder der ritualisierte Nachmittag des Schriftstellers dienen der Ermöglichung von Dauer: Es gilt, das genaue Hinschauen zu lernen, sich auf die Dinge einzulassen und im Jetzt eine Präsenz zu fühlen. Erfüllte Zeit oder Dauer erscheinen so als das Ergebnis einer rezeptiven Haltung, die paradoxerweise aktiv einzunehmen ist. In diesem Sinne bevorzugt Handke gleichsam kleine Formen in seinen erzählenden Texten; für die Journale ist das natürlich evident. Doch auch die Romane und Erzählungen gliedern sich in viele kurze Abschnitte, die eine nahezu lyrische Verdichtung erreichen und so eine Aneinanderreihung von konzentrierten Augenblicken beschreiben. „[D]ie Dauer drängt zum Gedicht“, hat Handke im Gedicht an die Dauer festgehalten;45 die flüchtige Dauer wird am besten im kürzesten Text evoziert. Die Dauer als Moment einer größtmöglichen Intensität wird im kurzen Text festgehalten. Die ungeheure Verdichtung des Augenblicks zur Dauer bildet Handke somit sprachlich ab, indem er auf Kürze und Prägnanz setzt. Die Journaleinträge und kurzen Abschnitte der erzählenden Texte bieten damit zugleich dem Leser eine Ahnung des Augenblicks, weil sie durch ihre Kürze und Verdichtung zu einer intensiveren Lektüre zwingen. Denn die kurzen Formen verlangsamen das Lesen, obwohl man intuitiv meinen könnte, dass gerade die Kürze die Lektüre beschleunigt. Die Leere als ästhetischer Begriff führt dazu, dass Leerstellen in der Lektüre assoziativ aufgefüllt werden müssen; die Leerstellen fordern eine langsame Lektüre, die zu einem nahezu entziffernden Nachvollzug des Gelesenen führt.46 Mehr noch: Die kurzen Abschnitte und Texte führen zum Gestus des Innehaltens und widerstehen so nicht allein dem raschen Lesen, sondern auch der Beschleunigung der Zeit. Handkes Texte kreisen somit um die Erfahrungen dauernder Augenblicke. Sie erscheinen als Möglichkeit, dem Sinn der Welt nahezukommen; sie dienen der Selbsterkenntnis; sie führen zum poetischen Schreiben; und nicht zuletzt sollen so entstandene Texte den Leser erziehen, selber erfüllte Augenblicke erleben zu können. Handkes Texte lassen sich als Leitfaden verstehen, die Praxis der Dauer einzuüben. Die dazu nötige Langsamkeit erreichen die Texte durch ihre
45 Handke: Gedicht an die Dauer, S. 173. 46 Zur Theorie der Leerstelle vgl. Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. München 1976, S. 280–315.
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Verknappung. Zugleich verpflichten sie auf eine Poetik des Augenscheins; die Oberflächen sollen ohne Interpretation und damit ohne jedes Vorurteil wahrgenommen werden. Von der Sprachkritik des frühen Handke führt der Weg direkt zu seinen Brevieren der Dauer und Leere. Damit beschwört Handke eine Form der Mystik. Ein tieferes Sehen soll durch die Beschränkung auf die Oberfläche ermöglicht werden. Gelingt ein solches Sehen, dann gelingt der Schritt von der permanenten Gegenwartsschrumpfung hin zu einer erfüllenden Gegenwartsdehnung. Als utopische Qualität solcher gelingenden Momente blitzt die Gewissheit auf, es könne doch ein richtiges Leben im falschen geben.
Literaturverzeichnis Gadamer, Hans-Georg: „Über leere und erfüllte Zeit“. In: Ders.: Kleine Schriften. Bd. III. Idee und Sprache. Tübingen 1972, S. 221–236. Haas, Alois M.: Mystik als Aussage. Erfahrungs-, Denk- und Redeformen christlicher Mystik. Frankfurt a. M. 2007. Handke, Peter: Kindergeschichte. Frankfurt a. M. 1984. Handke, Peter: Nachmittag eines Schriftstellers. Frankfurt a. M. 1989. Handke, Peter: In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus. Frankfurt a. M. 1999. Handke, Peter: Am Felsfenster morgens (und andere Ortszeiten 1982–1987). München 2000. Handke, Peter: „Gedicht an die Dauer“. In: Ders.: Leben ohne Poesie. Gedichte. Hg. v. Ulla Berkéwicz. Frankfurt a. M. 2007, S. 171–198. Handke, Peter: „Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms.“ In: Ders.: Meine Ortstafeln. Meine Zeittafeln. 1967–2007. Frankfurt a. M. 2007, S. 37–46. Handke, Peter: „Die Geborgenheit unter der Schädeldecke“. In: Ders.: Meine Ortstafeln. Meine Zeittafeln. 1967–2007. Frankfurt a. M. 2007, S. 67–72. Handke, Peter: Meine Ortstafeln. Meine Zeittafeln. 1967–2007. Frankfurt a. M. 2007. Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. München 1976. Johannes vom Kreuz: „Die dunkle Nacht“. In: Sämtliche Werke. Bd. 1. Hg. v. Ulrich Dobhan, Elisabeth Hense u. Elisabeth Peters. Freiburg 1995. Kurzke, Hermann: Novalis. München 2001. Lörke, Tim: „Der poetische Mensch als Figur der Subversion: Das Beispiel Peter Handke“. In: Gegen den Strich. Das Subversive in der deutschsprachigen Literatur nach 1945. Hg. v. Arvi Sepp u. Gunther Martens. Münster 2014 (im Druck). Lübbe, Hermann: Zeit-Erfahrungen. Sieben Begriffe zur Beschreibung moderner Zivilisations dynamik. Stuttgart 1996. Novalis: „Das philosophisch-theoretische Werk“. In: Novalis. Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Bd. 2. Hg. v. Hans-Joachim Mähl. Darmstadt 1999. Otto, Rudolf: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. München 1971.
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Tanja Angela Kunz
Volo ut sis
Konnotationen des Anderen im Werk Peter Handkes Die Wendung Volo ut sis lautet vollständig Amo: volo ut sis, in der Übersetzung: Ich liebe, das heißt ich will, dass Du seist. Sie wurde häufig Augustinus,1 später Duns Scotus zugeschrieben.2 Für den Kontext der literarischen Produktion Peter Handkes und deren Verständnis ist diese Wendung insofern von Interesse, als Handke sie in seinem Notizbuch von 1990, das im Deutschen Literaturarchiv Marbach liegt, in der genannten verkürzten Version zitiert.3 Für einen Autor, der sich über viele Jahre den Narzissmus-Vorwurf in Bezug auf seine Person und seine Werke gefallen lassen musste,4 in dessen Prosa nicht
1 Bei Augustinus findet sich lediglich an einer Stelle eine sinngemäße Übertragung, allerdings im Bezug auf die Liebe zu den Söhnen. Es heißt dort: „quod quisque amat, vult esse, an non vult esse? puto quia, si amas filios tuos, vis illos esse; si autem illos non vis esse, non amas. et quodcumque amas, vis ut sit, nec omnino amas quod cupis ut non sit.“ (zitiert nach: http:// www.augustinus.it/latino/discorsi/discorso_484_testo.htm, (Stand: 8.5.2012)). Übersetzt: Was jeder einzelne liebt, will er, dass es ist, oder will er etwa, dass es nicht ist? Ich glaube dies, wenn du deine Söhne liebst, willst du, dass jene sind; wenn du aber nicht willst, dass jene sind, liebst du nicht. Und was auch immer du liebst, von dem willst du, dass es sei, aber gänzlich nicht liebst du, von dem du wünschst, dass es nicht sei. (Mein herzlicher Dank gilt Anna Kinder vom Deutschen Literaturarchiv Marbach für die hilfreiche Übersetzungskorrektur.) Ludger Lütkehaus hat darauf hingewiesen, dass das Amo: volo ut sis einen anderen, gegenteiligen Augustinischen Satz sogar konterkariert: „Non enim amas in illo quod est; sed quod vis ut sit“, übersetzt: „Du liebst in jenem nämlich nicht, was er ist, sondern was du willst, dass er es sei“ (zitiert in: Lütkehaus, Ludger: „Vorwort“. In: Hannah Arendt: Der Liebesbegriff bei Augustin. Versuch einer philosophischen Interpretation. Hg. v. Ludger Lütkehaus. Berlin, Wien 2003, S. 7–18, Zitat S. 10). Arendt überträgt diesen Satz auf andere Weise in ihrer Dissertation über den Liebesbegriff bei Augustinus: „Ich liebe nicht einfach ihn, sondern etwas in ihm, das gerade, was er selber von sich her nicht ist.“ (Arendt: Der Liebesbegriff bei Augustin, S. 102). 2 Hannah Arendt behandelt besagten Satz explizit als Zitat von Duns Scotus in Vom Leben des Geistes. Das Wollen (Vgl. Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes. 2 Bd. Hg. v. Mary McCarthy. München 1979, S. 138). 3 Handke, Peter: Notizbuch 067: Februar – Juli 1990, DLA Marbach, A:Handke. 4 Manfred Durzak widmet ein ganzes Kapitel dem Vergleich Freud’scher Psychoanalyse mit der turbulenten Kindheit Handkes, die ihm zufolge zu einer ödipalen Mutter-Sohn-Beziehung und einer Ich-Fragmentierung geführt habe (vgl. Durzak, Manfred: Peter Handke und die Gegenwartsliteratur. Narziß auf Abwegen. Stuttgart 1982, S. 28). Zur Kritik an Langsame Heimkehr hebt Durzak „die überströmenden Aufschwünge eines Subjektivismus“ (ebd., S. 159) und des Subjekts „nar-
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nur eine permanente Gattungsmischung vollzogen wird, sondern die häufig befremdend eng am realen Leben des Autors selbst angesiedelt zu sein scheint, für einen Autor in dessen Werken die Personen außerhalb der Erzählperson häufig weitgehend konturlos bleiben, ja großteils die Personen selbst hinter ihren Widerfahrnissen völlig zurücktreten,5 in denen zugleich alles und jeder der Wahrnehmung, der Erfahrungswelt und der Entwicklung der Protagonisten, man könnte sagen, fast dienend unterstellt ist, für einen solchen Autor mag diese Notiz, die sich mit zahlreichen anderen Notizen und Überlegungen zur Thematik des personalen und dinghaften Anderen deckt, befremdlich sein. Möglicherweise ist durch diesen Bezug auf die ‚reine Innerlichkeit‘ die Thematik des Anderen in ihrer Komplexität und Vielschichtigkeit bislang unbeachtet geblieben.
1 Zielsetzung Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, auf der Grundlage verschiedener Texte Handkes eine in der Verbindung von Ethik und Ästhetik liegende prozessuale Schreibethik bei Handke nachzuweisen. Eine Annäherung aus verschiedenen Richtungen – neben ethischen und ästhetischen werden dabei kommunikations-
zißtischen Männlichkeitswahn“ (ebd., S. 157) hervor. Wolfram Malte Fues findet analog in Handkes Werk „nichts weiter als die Heilsgeschichte eines Narzissmus“ repräsentiert (Fues, Wolfram Malte: „Das Subjekt und das Nicht. Peter Handkes Erzählung ‚Langsame Heimkehr‘“. In: Ders.: Text als Intertext. Zur Moderne in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. Heidelberg 1995 (Probleme der Dichtung 23), S. 158–193, Zitat S. 158). Genährt wurde dieser Vorwurf durch provokative Sätze Handkes wie sie z. B. der Erzähler in Der kurze Brief zum langen Abschied äußert: „unwillig über ein anderes Gesicht, mit dem alten Ekel vor allem, was nicht ich selber war“ (Handke: Der kurze Brief zum langen Abschied. Frankfurt a. M. 41976, S. 19) und sich einen „übertriebene[n] Sinn für mich selber“ (ebd., S. 21) attestiert, oder auf andere Weise drastischer im Gewicht der Welt: „Plötzlich dachte ich: Ich möchte wirklich nicht mehr meinen edlen Schwanz in so eine Frau hineinstecken!, und lächelte sie versonnen an, und sie lächelte zurück“ (Handke, Peter: Das Gewicht der Welt. Ein Journal (November 1975–März 1977). Salzburg 1977, S. 40). 5 Es liegen weder Charakterbilder noch detaillierte optische Beschreibungen der Personen vor. Die Lebenssituationen der Hauptpersonen ähneln sich vielfach: Sie befinden sich allein in die Welt geworfen wie beispielsweise der Apotheker in In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus, der Autor in Nachmittag eines Schriftstellers, der Erzähler in Wunschloses Unglück oder in Die Wiederholung. Wird die klassische Familie als Ausgangspunkt gewählt wie beispielsweise in Langsame Heimkehr, Die Stunde der wahren Empfindung, Die linkshändige Frau oder Der Chinese des Schmerzes, ist diese Familie bereits zerfallen oder befindet sich im Zerfall, so dass auch vermeintliche Gemeinschaft konsequent und unmittelbar in Vereinzelung überführt wird.
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theoretische, psychologische und epistemische Fragestellungen eine Rolle spielen – wird dafür erhellend sein. Ausgehend von der Dichotomie, die das Andere gängigerweise impliziert, wird versucht zu zeigen, dass die Andersheit in Handkes Prosa durch Trinität vermittelt wird, die sich bis in die Konzeption der personalen Identität zurückverfolgen lässt. Um das Projekt einer gewaltlosen Schreibethik offen zu legen, werden Bezüge zu Elementen des Denkens von Hannah Arendt und Judith Butler hergestellt. Dabei sei klärend vorausgeschickt, dass nicht die These vertreten wird, Butler oder Arendt lieferten ein Interpretament zu Handke oder umgekehrt. Allerdings lassen sich Handkes Werke vor dem Hintergrund der vielschichtigen, neueren Debatten um Ethik und Ästhetik anders oder besser verstehen. Zu diesem Zweck ist zunächst auf das Volo ut sis und seine Bedeutung zurückzukommen. Hannah Arendt hat in ihrem Denktagebuch eine definitorische Analyse, im Übrigen in Abgrenzung zu Heidegger, vorgenommen.6 Darin heißt es: „‚Volo ut sis‘: Kann heissen, ich will, dass Du seist, wie Du eigentlich bist, dass Du Dein Wesen seist – und ist dann nicht Liebe, sondern Herrschsucht, die unter dem Vorwand zu bestätigen selbst noch das Wesen des Anderen zum Objekt des eigenen Willens macht. Es kann aber auch heissen: Ich will, dass Du seist – wie immer Du auch schliesslich gewesen sein wirst. Nämlich wissend, dass niemand ‚ante mortem‘ [der] ist, der er ist, und vertrauend, dass es gerade am Ende recht gewesen sein wird.“7
Was in Arendts Überlegungen zum Ausdruck kommt, ist der Versuch einer Anerkennung des Anderen und sich selbst in der jeweiligen Undurchsichtigkeit gegenüber sich selbst, das heißt die Anerkennung eines lebenslänglichen Werdens, das weder seinen Anfang noch sein Ende selbst kennt. Eine ähnliche Forderung fin-
6 Martin Heidegger schrieb die Wendung ‚volo ut sis‘ Hannah Arendt (Brief vom 13.5.1925 in: Arendt, Hannah u. Martin Heidegger: Briefe 1925 bis 1975 und andere Zeugnisse. Hg. v. Ursula Lutz. Frankfurt a. M. 32002, S. 31) und Elisabeth Blochmann (Brief vom 11.1.1928 in: Heidegger, Martin u. Elisabeth Blochmann: Briefwechsel 1918–1969. Hg. v. Joachim W. Storck. Marbach a. N. 1989, S. 23), eines seiner Gedichte trägt diesen Titel (Heidegger, Martin: „Gedachtes“. In: Martin Heidegger Gesamtausgabe. III. Abteilung, Bd. 81. Hg v. Paola-Ludovika Coriando. Frankfurt a. M. 2007, S. 109) und er habilitierte 1915 über den Verfasser Duns Scotus. In seinen Vorlesungen über Nietzsche konkretisiert er sein Liebesverständnis wie folgt: „Amor – die Liebe ist als Wille zu verstehen, als der Wille, der will, daß das Geliebte in seinem Wesen sei, was es ist.“ (Heidegger, Martin: „Nietzsche I“. In: Martin Heidegger Gesamtausgabe. I. Abteilung, Bd. 6.1. Hg. v. Brigitte Schillbach. Frankfurt a. M. 1996, S. 422 (Hervorhebung im Original)). Bei Arendt hingegen ist Liebe gerade nicht Wille, wie das Zitat aus dem Denktagebuch verdeutlicht. 7 Notiz datiert auf Dezember 1952 in: Arendt, Hannah: Denktagebuch. 1950 bis 1973. Hg. v. Ursula Ludz u. Ingeborg Nordmann in Zusammenarbeit mit dem Hannah-Arendt-Institut Dresden. Bd. 1. München 2002, S. 276 f. (Hervorhebung im Original).
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det sich bei Judith Butler, wenn sie in ihrer Kritik der ethischen Gewalt dafür plädiert, „die Andere leben zu lassen“. Im Umgang mit dem Anderen soll die Frage nach dem „Wer bist du?“ immer weiter gestellt werden, ohne eine vollständige Antwort zu erwarten bzw. in dem Wissen, dass der oder die Andere keine vollständige Rechenschaft von sich geben kann.8 In den Zitaten von Arendt und Butler spiegelt sich die Vorstellung eines prozessualen Denkens vom Leben und vom Menschsein vor dem Hintergrund einer andauernden positiven Zugeneigtheit zum Anderen. Rückbezogen auf das ‚Ich‘ notiert hierzu Peter Handke in Am Felsfenster morgens: „Liebst du mich, so läßt mich Deine Liebe zu mir kommen“.9 Das auf Dauer zielende Gefühl der Liebe wird mit dem wechselnden Werden verbunden, das somit auf die Dauer des Werdens zielt.
2 Das Andere als Dichotomie Die Thematik des Anderen setzt in der Regel eine Dichotomie voraus, gängigerweise von eigen–fremd, innen–außen, Ich–Du. Diese Differenzen kommen in Handkes Werken vor und sind teilweise in den verschiedensten literaturwissenschaftlichen Untersuchungen gewinnbringend analysiert worden. Die Differenz eigen–fremd spiegelt sich beispielsweise in zahlreichen Studien zur geopoetischen Prosa wider, wie sie beispielsweise Harald Miesbacher10, Carsten Rohde11 oder Julia Matveev12 vorgelegt haben, oder wird anhand des Themenkomplexes von Raum und Zeit verhandelt, wie bei Caroline Neubaur13 oder Bettina Gruber14. Die Thematik des Anderen im Sinne der Differenz eigen–fremd kann auf literatur-
8 Vgl. Butler, Judith: Kritik der ethischen Gewalt. Frankfurt a. M. 2008, S. 56–57. 9 Handke, Peter: Am Felsfenster morgens (und andere Ortszeiten 1982–1987). Salzburg, Wien 1998, S. 77. 10 Miesbacher, Harald: „‚Im Gehen, Im Freien …‘. Über das ‚Unterwegssein und Gehen‘ bei Peter Handke.“. In: manuskripte. Zeitschrift für Literatur 42 (2002) H. 158, S. 19–23. 11 Rohde, Carsten: ‚Träumen und Gehen‘. Peter Handkes geopoetische Prosa seit Langsame Heimkehr. Hannover-Laatzen 2007 (Reihe Salon 12). 12 Matveev, Julia: Bewegung als Ausdrucksmittel in der ‚kinematographischen Prosa‘ von Peter Handke. Jerusalem, Moskau 2003. 13 Neubaur, Caroline: „Hiergelände“. In: Peter Handke. Hg. v. Raimund Fellinger. Frankfurt a. M. 71992, S. 345–374. 14 Gruber, Bettina: „All-Orte. Peter Handkes Topographien der Moderne“. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 48 (2004), S. 329–347.
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wissenschaftliche Untersuchungsgebiete wie den Postkolonialismus oder den Orientalismus verweisen und damit auf das Thema der Reise und der Begegnung mit kulturellen Unterschieden, wie sie in Handkes Werken immer wieder zur Sprache kommen. Assoziativ könnte hier auch ein Bezug hergestellt werden zu den Themenbereichen des anderen Orts und der anderen Zeit.15 Das darin exemplarisch ausgedrückte epiphane Zeit- und Raumverständnis zieht sich durch Handkes Werke von der frühen Erzählung Der kurze Brief zum langen Abschied bis beispielsweise in die 2008 erschienen Erzählung Die morawische Nacht.16 Dieses Moment wird in den folgenden Betrachtungen noch eine wichtige Rolle spielen. Alle weiteren soeben genannten Bedeutungsebenen werden an dieser Stelle aus den Betrachtungen ausgeschlossen zugunsten des Versuchs, einer Schreibethik in Handkes Werken mittels der Kategorie des Anderen näher zu kommen. Die Zweiheit wird in Handkes Werken häufig als äußerst problematisch vorgestellt. Nicht nur neigt ein dualistisches Denken dazu, wie es im Versuch über die Müdigkeit heißt, „in der Darstellung des Einen dieses stillschweigend gegen ein Anderes auszuspielen – es darzustellen auf Kosten des anderen“ und damit die Erzählung des reinen Bildes zu verhindern.17 Die Zweisamkeit zwischen Menschen führt in Handkes Werken auch schnell zur Feindschaft, so beispielsweise im Falle des Doppelgängers in Langsame Heimkehr oder der Zwietracht nach einem Moment der Harmonie zwischen Frau und Ex-Autor in Die morawische Nacht. Die Gründe für die Problematik der Zweierkonstellation liegen im fehlenden Maß und im fehlenden ‚richtigen‘ Abstand. Das Fehlen eines Gradmessers wird den Personen der Handke’schen Werke bereits im Alleinsein zum Problem. Sobald jedoch eine zweite Person ins Spiel kommt, wird die ersehnte Einheit nahezu unmöglich. Aus diesem Grund bleibt das einzige Gegenüber häufig die Natur. Diese dient als Spiegel und Projektionsfläche der personalen Innenwelt und kann die Personen in die Einheit beispielsweise eines häufig erwähnten gewölbten Himmels aufnehmen.18 Sie kann sinnträchtig werden, wenn z. B. der
15 Vgl. z. B. Handke: Der kurze Brief zum langen Abschied, S. 25. 16 Das epiphane Moment wurde unter anderem untersucht von Christoph Bartmann in Suche nach Zusammenhang. Handkes Werk als Prozeß. Wien 1984, von Wolfram Frietsch in Symbolik der Epiphanien. Strukturmomente eines neuen Zusammenhangs. Sinzheim 1995 (Wissenschaftliche Schriften. Germanistik), und von Ralf Zschachlitz in ‚Epiphanie‘ ou ‚illumination profane‘? L’œuvre de Peter Handke et la théorie esthétique de Walter Benjamin. Bern u. a. 2000 (Contacts, Serie 3, Études et documents 51). 17 Handke, Peter: Versuch über die Müdigkeit. Frankfurt a. M. 21994, S. 29. 18 Wie z. B. in Handke, Peter: Langsame Heimkehr. Frankfurt a. M. 1979, S. 15; oder in: Handke, Peter: Die morawische Nacht. Frankfurt a. M. 2008, S. 413.
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erste Schnee für den mit positiven Gefühlen besetzten Anfang steht.19 Sie kann scheinbar dem Willen des Betrachters entsprechen, wenn er sich wie Sorger in Langsame Heimkehr Regen wünscht und dieser dann auch tatsächlich fällt.20 Häufig aber scheint die Natur die Möglichkeit der kontemplativen Betrachtung zu bieten, die ein Maß in die Erzählung einführt, an dem sich alles andere zu messen hat, sowohl das Innere der Protagonisten als auch zwischenmenschliche Begegnungen. Und gerade darin scheint der Vorteil der Natur im Vergleich zur Person zu liegen: Sie ermöglicht einen von jeglicher Form von Attitüde und entfremdendem Selbstdarstellungsgebaren befreiten Blick. Nach der Einübung in diese Form der Wahrnehmung können in einigen Fällen auch Menschen diesen unverfälschten Blick auf sich selbst gewähren. In diesem Sinne ist beispielsweise der Schlusssatz von Die Abwesenheit zu verstehen, in dem es heißt: „Und für eine kleine Weile saßen wir da und ließen uns einfach sehen.“21 Die kontemplative Haltung, mit der die Natur sich dem Menschen sehen lässt, ist daher auch das Ziel einer inneren Haltung der Personen zu sich selbst und zur Welt. Anhand der Natur, wenn man sie als das Andere im dichotomischen Sinn verstehen möchte, lernen die Personen sich selbst kennen und einen maßvollen Umgang mit sich selbst im Sinne eines ‚Sein-Lassens‘. Deshalb geht ihr Weg immer wieder hin zur einsamen Naturbetrachtung. Umfassend kann der Thematik des Anderen in Handkes Werken jedoch nur gerecht werden, wer bereit ist, einen Umweg einzuschlagen: den Umweg über den Dritten.
19 Vgl. z. B. die strahlende, knisternde Aufbruchsstimmung verbunden mit dem bei Handke für den Anfang kennzeichnenden Ausruf kurz vor und bei Schneebeginn: „Ein großes Rauschen empfing mich gerade bei der Ankunft auf dem Gipfelplateau des Ben y Vrackie, Rauschen wie vom Berggeist selber, und es kommt von einem kleinen Bach unter dem Heidekraut; und dazu mein Ausruf: ‚Jetzt wird es schneien!‘ – Und schon geschah ein helles Daherfliegen über die blaugrüne Heide, ‚flieg ins offene Buch, Schnee! Bring es zum Knistern!‘ Und es knisterte. – Und wie nun das Schneewehen die Farben aufscheinen lässt, auch an mir, dem einzigen Lebewesen weit und breit – Sphäre des Schneiens, Spektrum des Schnees. Vom Westen die Regenwolken anreisend, von Osten die Schneewolken, deren feine, rhythmische Schwaden im Gegensatz zu den formloseren, regellosen Regenwolken, und in der Mitte des Geschehens beide Wolkenzüge ineinander übergehend zu einem gewaltigen leuchtenden Dunst“. (Handke, Peter: Gestern unterwegs. Aufzeichnungen November 1987 bis Juli 1990. Salzburg, Wien 2007, S. 264). 20 Handke: Langsame Heimkehr, S. 114. In ähnlicher Form findet sich dies auch auf die Tierwelt bezogen, wenn das epische Ich sich fragt, wo die Spatzen bleiben, und diese „im nächsten Moment“ vor seinen Füßen landen (Handke: Gestern unterwegs, S. 32). 21 Handke, Peter: Die Abwesenheit. Ein Märchen. Frankfurt a. M. 1987, S. 225.
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3 Der Umweg zum Anderen über ein Drittes Den Umweg über ein Drittes22 gehen Handkes Protagonisten häufig. In Die Stunde der wahren Empfindung heißt es beispielsweise: „Daß sie zu zweit waren, lockerte und verbündete sie in seinen Augen. Er war nur ein dritter.“23 Sorger in Langsame Heimkehr wird als der „‚lachende[ ] Dritte[ ]‘“ beschrieben, durch den die „heitere Ordnung“ wiederhergestellt werden kann.24 In Die Abwesenheit ist der Spieler ein „lächelnder Dritter“.25 Es liegt hier eine offensichtliche Anspielung auf das Sprichwort ‚Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte‘ vor, das sich in der wissenschaftlichen Diskussion um die Figur des Dritten in Georg Simmels soziologischem Begriff des ‚tertius gaudens‘ wiederfindet, der sich gerade durch seine distanzierte Haltung das Distinktionsstreben zweier Parteien nicht nur zunutze macht, sondern es sogar aktiv hervorrufen und daraus einen Lustgewinn ziehen kann.26 Interessant ist in dieser Hinsicht, dass Handke zwar die distanzierte Haltung übernimmt, die auch das Sprichwort impliziert, dass jedoch durch den oder das Dritte Harmonie statt Streit in die Zweier- bzw. Dreierkonstellation einkehrt. Die Position des Dritten ist daher für alle Beteiligten durchweg positiv konnotiert. So erfreut sich der Spieler in Die Abwesenheit in dieser Haltung an dem Anblick des spontanen Tanzes von Soldat und schöner Frau. Der ‚lachende Dritte‘ ist bei Handke das anteilnehmende Element in Form eines mitgelebten ‚Sein-Lassens‘. Der damit verbundene kontemplative Blick spielt auch hier eine zentrale, harmonisierende Rolle. Ebenso wird Sorger in Langsame
22 Im 20. Jahrhundert hat der Begriff des Dritten im wissenschaftlichen Diskurs Konjunktur. Lediglich stichpunktartig seien genannt: in der Linguistik Saussures semiotisches Dreieck, in der Psychoanalyse Freuds ödipale Konfliktstruktur, das ‚dritte Geschlecht‘ in den Gender Studies oder der ‚Dritte Raum‘ im Postkolonialismus. Verwiesen sei zur genaueren Betrachtung auf den 2010 erschienen Sammelband Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma. Hg. v. Eva Eßlinger, Tobias Schlechtriemen u. a. Frankfurt a. M. 2010. Des Weiteren auch: Ahrbeck, Bernd u. Jürgen Körner (Hg.): Der vergessene Dritte. Ödipale Konflikte in Erziehung und Therapie. Neuwied, Berlin 2000; Breger, Claudia u. Tobias Döring (Hg.): Figuren der/des Dritten. Erkundungen kultureller Zwischenräume. Amsterdam 1998 sowie: Herdt, Gilbert H. (Hg.): Third sex, third gender. Beyond sexual dimorphism in culture and history. New York 1994. Eine bibliographische Auswahlbibliographie zur Thematik des Dritten findet sich unter: http://www.uni-konstanz.de/figur3/progorg.htm (Stand: 27.04.2012). 23 Handke, Peter: Die Stunde der wahren Empfindung. Frankfurt a. M. 91988, S. 64. 24 Handke: Langsame Heimkehr, S. 174. 25 Handke: Die Abwesenheit, S. 189. 26 Vgl. Fischer, Joachim: „Der lachende Dritte. Schlüsselfigur der Soziologie Simmels“. In: Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma. Hg. v. Eva Esslinger, Tobias Schlechtriemen u. a. Frankfurt a. M. 2010, S. 193–207, Zitat S. 193.
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Heimkehr gerade in dem Moment zum lachenden Dritten, als er „‚die Pforten der Sinne‘ öffnend und von sich und dem anderen wegrückend“ Distanz zu der Selbstbeschuldigung des Anderen gewinnt, in der er „jene Stimme wiedererkannte, die auch ihm selber oft das Lebensrecht absprach“ und die nun durchschaubar wurde „als der Widersinn, der von Zeit zu Zeit nicht nur ihn allein würgte“.27 Gerade aus dieser Haltung Sorgers gewinnt sein Gegenüber „Vertrauen und sprach frei weiter“.28 Es ist also die innere, zu Bewusstsein gekommene Erkenntnis, die Sorger in die Position des ‚lachenden Dritten‘ versetzt. Die Außenseiterposition des Dritten wirkt daher besänftigend und stiftet Gerechtigkeit. Auf diese Weise wird Abstand- und Maßhalten möglich.29 Die Zahl Drei kommt in nahezu jedem Werk Handkes mehrfach vor. Sie ist die am häufigsten verwendete Zahl und zugleich Kennzeichen kontroverser und teilweise irreführender Interpretationsversuche, gerade wenn es um ihren religiösen Gehalt geht. So spricht beispielsweise Esther Tomberg in ihrer Untersuchung zu Peter Handkes Don Juan von der „Dreifaltigkeit“.30 Wolfram Frietsch betont die Drei als „religiöses Moment der Epiphanie“31 und spricht weiter von einem „plötzliche[n] Einbruch von etwas Religiösem“32 in Handkes Texten. Der Grund für diese Interpretationsweise ist sicherlich in der binären Ausrichtung der klassischen abendländischen Episteme zu sehen, die, wie Albrecht Koschorke dargelegt hat, das Dritte als „Form des Übergangs oder der Verbindung zu höherer Einheit“33 denken. In der Zahlensymbolik war demnach „die Dreizahl gewöhn-
27 Handke: Langsame Heimkehr, S. 174. 28 Handke: Langsame Heimkehr, S. 175. 29 Literarisch war der Dritte immer schon der Motor der Aktion, als Rivale z. B. in der Figur des Nebenbuhlers in Liebensbeziehungen, als der sich eigenmächtig verhaltende Bote, der eigensinnige Dolmetscher oder der unzuverlässige Doppelagent, genannt Trickster. Die Antriebsfunktion entnimmt Handke ebenfalls der literarischen Tradition, allerdings personifiziert er den Dritten nicht in dem soeben genannten Sinn, sondern lässt ihn auch als Person durch und durch produktiv werden im Sinne des genannten Abstands und der Gerechtigkeit. Vgl. dazu z. B. auch: Jost, Claudia: Die Logik des Parasitären. Literarische Texte, medizinische Diskurse, Schrifttheorien. Stuttgart, Weimar 2000; oder: Drame, Kandioura: „‚The trickster as triptych‘“. In: Monsters, tricksters, and sacred cows. Animal tales and American identities. Hg. v. James A. Arnold. Charlottesville/VA 1996, S. 230–254. 30 Tomberg, Esther: Peter Handkes ‚Don Juan (erzählt von ihm selbst)‘ in der Tradition des Don Juan-Stoffes. München, Ravensburg 2008, S. 41. 31 Frietsch: Symbolik der Epiphanien, S. 107. 32 Frietsch: Symbolik der Epiphanien, S. 108. 33 Koschorke, Albrecht: „Ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften“. In: Die Figur des Dritten. Hg. v. Eßlinger, Schlechtriemen u. a., S. 9.
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lich dazu ausersehen, die Entzweiung der Welt zu überwinden und eine als vorgängig verstandene Einheit zu restituieren“.34 Neben dieser Aufwertung der Trinität zur religiösen Bedeutung finden sich im Bezug auf Handkes Werke auch völlig entgegengesetzte Interpretationen. So spricht beispielsweise Volker Michel in Anlehnung an Christoph Bartmann und im Bezug auf Die Stunde der wahren Empfindung davon, dass die drei darin vorkommenden Dinge (Kastanienblatt, Scherbe, Haarspange) „keinen hinterfragenswerten Symbolgehalt“ haben.35 Tilmann Moser hingegen sieht von diesen drei Dingen „eine Art religiöser Kraft“ ausgehen.36 Zur Veranschaulichung sei die strittige Stelle aus Die Stunde der wahren Empfindung zitiert, in der die Gemütslage des Protagonisten Gregor Keuschnig beschrieben wird: Er wollte nirgends sein, wollte nichts mehr. Alles abschaffen! ‚Ich glaube nicht an einen Gott‘, sagte er, ohne etwas damit zu meinen. (Er hatte das auch früher oft so hingesagt.) […] Der Wind blies plötzlich stärker, und Keuschnig verlor sich … […] Dann hatte er ein Erlebnis – und noch während er es aufnahm, wünschte er, dass er es nie vergessen würde. Im Sand zu seinen Füßen erblickte er drei Dinge: ein Kastanienblatt; ein Stück von einem Taschenspiegel; eine Kinderzopfspange. Sie hatten schon die ganze Zeit so dagelegen, doch auf einmal rückten diese Gegenstände zusammen zu Wunderdingen.37
Keuschnig entdeckt durch die drei Dinge die Idee eines Geheimnisses in der Welt und erkennt schließlich: Ich habe eine Zukunft! dachte er triumphierend. Das Kastanienblatt, die Spiegelscherbe und die Zopfspange schienen noch enger zusammenzurücken – und mit ihnen rückte auch das andere zusammen … bis es nichts anderes mehr gab. Herbeigezauberte Nähe! ‚Ich kann mich ändern‘, sagte er laut.38
Drei profane Dinge des Alltags erhalten hier eine Aufwertung, die zu existentieller, man könnte in Keuschnigs Fall durchaus sagen erlösender Erkenntnis führt. Trotz der erlösenden Funktion kann dieser Moment und mit ihm die Trinität nur schwer als religiös interpretiert werden; denn Erlösung ist bei Handke nie absolut, vielmehr partiell angelegt. Grundsätzlich gilt es daher in Frage zu stellen, ob
34 Koschorke: „Ein neues Paradigma“. In: Die Figur des Dritten. Hg. v. Eßlinger, Schlechtriemen u. a., S. 13. 35 Michel, Volker: Verlustgeschichten. Peter Handkes Poetik der Erinnerung. Würzburg 1998 (Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft 245), S. 43. 36 Moser, Tilmann: Romane als Krankengeschichte. Frankfurt a. M. 61990, S. 41. 37 Handke: Die Stunde der wahren Empfindung, S. 80 f. 38 Handke: Die Stunde der wahren Empfindung, S. 82 f.
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Religiosität in Handkes Werken überhaupt vorkommt. Denn wenn die Epiphanie, wie häufig geschehen, als religiöser Moment der Einheit gesehen würde, bedeutete dies, dass es sich dabei um Absolutheitserfahrungen handle. Vielmehr sollte in Anbetracht des Gesamtwerks jedoch von Spiritualitätserfahrungen gesprochen werden, das heißt von Momenten der Transgression, die keine Absolutheit einfordern oder einlösen, da sie von Werk zu Werk fortgeschrieben werden. Gemäß dem zu Beginn erwähnten Sein im Werden ist daher auch der künstlerische Prozess, der sich am Sein orientiert, als ein Werk im Werden zu betrachten. Die Wichtigkeit der Zahl Drei kann jedoch an dieser zentralen Stelle in Die Stunde der wahren Empfindung wie auch an vielen anderen Stellen in Handkes Werken keineswegs ignoriert werden. Die im Folgenden zu plausibilisierende These lautet daher, dass die Zahl Drei Kennzeichen des Verbindenden zwischen dem Subjekt und dem Anderen ist. Handke übernimmt die gängige verbindende und zugleich trennende Struktur des Dritten und säkularisiert sie. Er verknüpft sie, wie zu zeigen sein wird, mit dem in der Moderne hinzugewonnenen Aspekt der Liminalität, der durch Polyvalenzen und Paradoxien gekennzeichnet ist. Die bereits erwähnten Gegensatzpaare Innen–Außen und Ich–Du werden im Folgenden als Beispiele für die Struktur dieser Verbindungs- und Grenzfunktion dienen. Dabei wird zu zeigen sein, dass der Thematik des Anderen bei Handke nur mittels des Dritten gerecht zu werden ist und umgekehrt. Ein Grund dafür liegt in der Sprache bzw. Kommunikation, und damit ist zunächst die Differenz von Ich–Du genauer zu betrachten.
4 Die Trinität der klassischen Kommunikationssituation Die klassische Kommunikationssituation besteht aus einem ‚Ich‘ und einem ‚Du‘ bzw. genauer einem Sender und einem Empfänger. In dieser Gesprächssituation gibt es noch keinen Anderen. Zwar sind ‚Ich‘ und ‚Du‘ verschiedene Personen, die aus ihrer jeweiligen Perspektive ihr Gegenüber als einen Teil ihrer Außenwelt identifizieren, aber ohne einen Gegenüber, ohne eine „Adressierung“, wie Butler sagen würde,39 käme kein Gespräch zustande. Der Andere ist in diesem Modell derjenige, über den gesprochen wird, d. h. ‚er‘, ‚sie‘ (Sg.) / ‚sie‘ (Pl.): also der Dritte. Mit dieser klassischen Gesprächssituation spielt Handke in zahlreichen seiner Werke, wenn er die Erzählfigur pluralisiert, wie beispielsweise in der Erzählung Die
39 Z. B. Butler: Kritik der ethischen Gewalt, S. 61 ff.
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Abwesenheit. Darin machen sich vier Personen auf eine Reise: ein alter Mann, eine schöne Frau, ein Spieler und ein Soldat. Wie zufällig begegnen sie sich im Zugabteil und setzen die Reise gemeinsam fort, wobei der Alte zum Führer der Gruppe in ein Sehnsuchtsland wird. Die Erzählung beginnt in einer Art Epilog, der den Leser anhand einer personenungebundenen, situativen Beschreibung verschiedenen kontemplativen Blicken folgen lässt. Der personale Ausgangspunkt sind die zu nächst einzeln in der 3. Pers. Sg. präsentierten vier Personen, die im Zugabteil zu einer Gruppe in Form der 3. Pers. Pl. werden. Etwa nach einem Drittel der Erzählung wird die Gruppe zeitweise mit der ‚Wir-Form‘ bezeichnet. Bis zum Ende der Erzählung wechselt sich die ‚Wir-Form‘ mit der ‚Sie-Form‘, der 3. Pers. Pl., immer stärker ab. Zwei Bemerkungen sind an diese formalen Beobachtungen anzuführen: Zum einen führt die ‚Wir-Form‘ ein ‚Ich‘ ein, das implizit mitgeht ohne je benannt zu werden. Zum anderen wird im Verlauf der Erzählung deutlich, dass der Alte als der Führer der Gruppe diesem ‚Wir‘ nicht zugehörig ist, wohl aber dem ‚Sie‘ im Plural. Im Vergleich zu der Zweiheit, die aus dem Alten im Gegensatz zur Gruppe entsteht, wird das ‚Ich‘ demnach zum Dritten, dem in Analogie zum Titel des Erzählwerks die Rolle der anwesenden Abwesenheit zukommt. Zu dieser anwesenden Abwesenheit des Dritten heißt es in Handkes Journal Gestern unterwegs: „Meine Sache – mein Drittes, das Dritte – darf nicht genannt werden, will nicht genannt werden; es wird gelebt-praktiziert“.40 In diesem praktizierten Gelebtwerden kommt das Dritte daher implizit zur Sprache, wie das ‚Ich‘ in der genannten Gesprächskonstellation aus Die Abwesenheit. Handke verkehrt demnach in dieser wie in vielen anderen Konstellationen das oben genannte Gesprächsmodell, indem er das ‚Ich‘ zum Anderen macht. In dieser Vorgehensweise spiegelt sich auch das Verhältnis von Autor – Schrift – Leser bei Handke. So erkennt beispielsweise der Ex-Autor in Die morawische Nacht: „Immer neu ging ihm auf, und immer zu spät, daß er, in seiner Idee vom Schreiben, gleichsam anders gedreht war. Er hatte ein Dritter zu sein, und nicht Teil eines Paars.“41 Dies bedeutet, dass im Sinne des soeben erläuterten Kommunikationsmodells die eigentliche Kommunikation zwischen Schrift und Leser stattfindet, oder, mit Blick auf den Entstehungsprozess des Werks, zwischen Schrift und Leben, zwischen Ästhetik und Existenz. Bei Handke wird eine Schreibexistenz aufgebaut, die Elemente der realen Existenz in eine schriftliche, d. h. ästhetische Existenz überführt. Die schriftliche Existenz ist ein experimentelles Feld, in dem Phantasie, Visionen und Träume einen Wandel herbeiführen können, der auf das reale Leben zurückwirken soll.
40 Handke: Gestern unterwegs, S. 136. 41 Handke: Die morawische Nacht, S. 242 f.
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In der Koppelung von Existenz und Ästhetik wirkt zunächst die Ästhetik verändernd auf die Existenz ein. Zugleich erhält die Ästhetik gerade aus dem Umstand der Rückbezüglichkeit ihre zwingende Ernsthaftigkeit. Denn jeder ‚fehlerhafte‘ Übergang kann schwerwiegende Konsequenzen für die Existenz haben, mit der Folge, dass die Existenz nicht mehr zurückgenommen werden kann. Hieraus erklärt sich die Wichtigkeit sprachlicher Genauigkeit, die sich bei Handke beispielsweise in der Frage nach den richtigen Übergängen zwischen den Sätzen spiegelt. Handke hat zur Ergründung dieser Kunst der Übergänge unter anderem genaue Bibelstudien durchgeführt. Anhand mehrerer im Deutschen Literaturarchiv Marbach liegender Notizbücher lassen sich diese Bibel-Sprach-Studien nachvollziehen.42 In der existentiellen Koppelung von Ästhetik und Existenz, die von Handke bis an die Grenzen der Ununterscheidbarkeit getrieben wird, und der mit ihr verbundenen Ernsthaftigkeit liegt eine Schreibethik begründet, die sich einem sich ständig weiterentwickelnden Sein im Werden verschrieben hat. Der Autor, das ‚Ich‘, wenn man so will, wird zum Außenseiter, zur Rand- und Schwellenfigur43 oder zum Dritten, der damit zugleich eine Position der Distanz und Gerechtigkeit für sich reklamiert.
5 Paradoxien der Gerechtigkeit Zum wiederholten Mal wurde nun bereits das Thema der Gerechtigkeit in die Überlegungen einbezogen, das durch die Trinität symbolisiert wird und mit dem zugleich die Frage nach der Ethik ins Spiel kommt. Judith Butler fordert in ihrer Kritik der ethischen Gewalt gerade diese Gerechtigkeit gegenüber dem Anderen. Zwar verwendet sie diesen Ausdruck nicht, aber ihre neue Definition der Anerkennung des Anderen kommt einer Forderung nach Gerechtigkeit gleich. Das anfangs zitierte Postulat Butlers „die Andere leben lassen“ impliziert ein Verständnis dafür, dass jeder ein Sein im Werden ist, das weder seinen Anfang noch ein Ende kennt. Anerkennung bedeutet demnach, die Frage nach dem ‚Wer bist du?‘ immer weiter zu stellen, in dem Wissen, dass der oder die Andere nicht in der Lage sein wird, vollständig Rechenschaft von sich zu geben. Die Position der Adressierung ist nach Butler der Zustand, in den wir von Anfang an geworfen
42 Z. B. Handke, Peter: Notizbuch 067: Februar – Juli 1990, DLA Marbach, A:Handke. 43 In Der Chinese des Schmerzes heißt es beispielsweise: „Der Erzähler ist die Schwelle.“ (Handke, Peter: Der Chinese des Schmerzes. Frankfurt a. M. 61991, S. 242).
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sind. Um selbst in diese Struktur der Adressierung eintreten zu können, bilden wir ein ‚Ich‘ aus und spalten ein Unbewusstes ab, das sich in einem ständigen Prozess des Überschusses annimmt, den wir in der Begegnung mit dem Anderen permanent erfahren und nie vollständig erfassen können.44 In das gewaltlose ethische Projekt Butlers tritt daher die Anerkennung dieses Überschusses als Drittes ein. Die Anerkennung des Anderen in seiner soeben beschriebenen Verfasstheit wird daher zur Form einer gerechten Haltung, die insofern als drittes Element zu betrachten ist, da sie in der Begegnung zwischen einem ‚Ich‘ und einem ‚Du‘ permanent neu erworben werden muss. Ein derart gewaltloses, ethisches Projekt des Gerechtwerdens speist sich aus der Akzeptanz zahlreicher Paradoxien. Bei Butler liegt ein solches Paradox beispielsweise im Menschlich-Werden mittels des Unmenschlichen. Gemeint ist damit, dass der Mensch in dem Verzicht auf die Einforderung seines menschlichen Rechts auf Selbstbehauptung und Selbsterhaltung erst Menschlichkeit erwirbt.45 In Handkes Versuch, eine gerechte Haltung gegenüber dem Anderen einzunehmen, liegt das Paradox, wie noch gezeigt werden wird, in der Sprache, die zugleich ein Mittel der Entäußerung, das heißt der Begegnung und Selbstüberwindung, sowie den zentralen inneren Mechanismus des Menschen darstellt. Durch ihren verbindenden Charakter ist sie darüber hinaus der einzige Ort der möglichen Einheit, die in umfassender Form hergestellt werden soll und dennoch ichbezogen erlebt werden muss, um ästhetisch erfahrbar und transferierbar zu bleiben. Diese genannten Paradoxien können nur durch ein Sein im Werden und in einer Ethik des Werdens eingelöst werden. Handke bezieht diese Ethik des Werdens auf das ‚Ich‘. Dabei geht es ihm nicht um die Frage: ‚Wer bin ich?‘, sondern um die Frage: Wer ist das ‚Ich‘? Allein der substitutive Charakter des Pronomens zeigt seine Universalität.46 Es geht demnach nicht um eine unikale Inner-
44 Vgl. Butler: Kritik der ethischen Gewalt, S. 69 ff. 45 Butler argumentiert hier mit Adorno (vgl. Butler: Kritik der ethischen Gewalt, S. 108 ff.). 46 ‚Ich‘ kann in verschiedenen Kontexten jeweils verschiedenen personalen Inhalt haben. Diese Universalität wird in Handkes Werken bereits früh dezidiert zum Schreibziel erklärt. So rät beispielsweise Therese in Falsche Bewegung dem angehenden Schriftsteller Wilhelm: „Was mir nicht gefällt: daß der Befremdete meistens nur du selber bist, und die anderen sind die idiotischen Selbstgewissen. Trau deinen Zustand allen zu, und du wirst Theaterstücke schreiben können, nicht nur Gedichte, in denen du, dadurch, dass es eben Gedichte sind, gegen deinen Willen deine Vereinzelung anpreist. Schreib etwas, das auch ich sprechen kann oder das wir alle hier spielen könnten, ohne daß wir dabei immer wie er fühlen müssen, daß die Person in dem Text oder Spiel nicht wir selber sind“ (Handke, Peter: Falsche Bewegung. Frankfurt a. M. 1975, S. 37). Und in Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms betont Handke seine durch das Lesen von Litera-
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lichkeit, sondern gerade um eine generelle. Durch diese Universalität kann die Ich-Betrachtung ethische Relevanz erlangen. Es sei jedoch angemerkt, dass hier wie auch beim volo ut sis der Grat, den es zu halten gilt, ein äußerst schmaler ist. Während das volo ut sis schnell in Herrschsucht umschlagen kann, verfällt eine Ethik der Innerlichkeit leicht in einen moralischen Narzissmus. Butler hat darauf mit Adorno hingewiesen: „Wenn Selbsterhaltung die Behauptung des Selbst auf Kosten jeder Berücksichtigung der Welt, der Folgen und faktisch auch des Anderen wird, dann nährt sie schließlich einen ‚moralischen Narzissmus‘“.47 Es bleibt anzumerken, dass Handke im Gegensatz zu narzisstischen Vorwürfen nicht notwendigerweise die Selbsterhaltung anstrebt; denn es geht ihm um eine Auflösung des Selbst durch die Einheit von ‚Welt‘ und ‚Ich‘ in der Sprache. Dies zeigt sich unter anderem an einem Zitat aus Die Geschichte des Bleistifts: „‚Nach innen gehen‘ (Empedokles), hieße ja: ganz ins Innere der Sprache gehen; und im Innersten der Sprache wären Welt und Ich eins in der Sprache (‚und freuten sich der ringsum herrschenden Ein-samkeit‘: des sphairos)“.48 Zugleich ist es gerade Butler, die aus der Rückschau in die eigene Undurchschaubarkeit des ‚Ich‘ eine gewaltlose Ethik gegenüber dem Anderen mittels Anerkennung ableitet. Da Handke sowohl die Position des Dritten als auch eine Ethik des Werdens ins ‚Ich‘ verlegt, sollte die Form der Identität bei Handke einer genaueren Betrachtung unterzogen werden. Anhand der Formulierung ‚Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt‘ werden im Folgenden die Komponenten der Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt analysiert, um die Bedeutung der einzelnen Stadien und ihre Zusammenhänge deutlich zu machen.
6 Identität mittels Dreiheit Die in der folgenden Analyse genauer zu betrachtende These lautet, dass Identität bei Handke ebenfalls durch eine Dreiheit vermittelt ist. Dabei geht es um das Wesen oder die Mechanismen von Identität, und es wird zu zeigen sein, dass dieser Mechanismus bei Handke die Sprache ist.
tur erlangte Erkenntnis, dass sein „Selbstbewußtsein kein Einzelfall“ ist (Handke, Peter: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms. Frankfurt a. M. 41976, S. 19). 47 Butler: Kritik der ethischen Gewalt, S. 107. 48 Handke, Peter: Die Geschichte des Bleistifts. Salzburg, Wien 1982, S. 182 (Hervorhebung im Original).
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Seit der Antike (Demokrit, Platon, Aristoteles), spätestens aber seit dem Leib–Seele-Dualismus des Christentums, wird der Mensch vorgestellt mit einer Innenwelt, in der eine Außenwelt repräsentiert ist, die nicht der objektiven Außenwelt entspricht. Nur Teile der Außenwelt können demnach wie durch ein Fenster (z. B. bei Platon durch die Sinnesorgane) ins Innere des Menschen gelangen. Dieser dualistische Ansatz findet sich weiter auch in Leibnitz’ Monadologie bis hin zu Freuds Psychoanalyse, in der dieser die Psyche als eine Festung darstellt, die von außen nur schwer zugänglich ist. Der Mensch hat daher keinen unmittelbaren Zugang zur Welt, sondern vielmehr einen mittelbaren, mit Handke könnte gesagt werden: einen Zugang mittels Bewusstsein bzw. Sprache. Zunächst ist, die Prämissen klärend, auf die Außenwelt einzugehen. Handke beschreibt beispielsweise in Ein autobiographischer Essay die Verbindung zwischen Innen- und Außenwelt, die ihn in zahlreichen weiteren Werken verfolgen und die sich untrennbar mit seinem literarischen Selbstverständnis verbinden wird. Es heißt darin: „Die scheinbare AUSSENWELT, in der ich lebte, das Internat, war eigentlich INTERN, eine äußerlich angewendete INNENWELT, und das eigene Innere war die einzige Möglichkeit, ein wenig an die AUSSENWELT zu gelangen.“49 Schon früh wird daher, bedingt durch diese erste Erfahrung der Verkehrung von Referenzmöglichkeiten, die Innenwelt zum zentralen Thema Handkes, als einzigem Bezugspunkt für mögliche Erkenntnisse über die Außenwelt. In der Formulierung Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt wird von der Außenwelt nur noch ausgesagt, dass sie im Innern mittels Wahrnehmung repräsentiert ist. Damit diese Repräsentation stattfinden kann, muss die Außenwelt zwar existieren, inwieweit das Subjekt diese jedoch erfassen kann oder inwiefern sie ihm in ihrer Totalität verschlossen ist, bleibt fraglich. Dies zeigt sich daran, dass in Handkes Werken die ‚Tatsachen‘ ignoriert werden oder das fragile Konstrukt der Erinnerung im Text selbst thematisiert wird. Handke vermischt dadurch Realität, Fiktion und Phantasie und legt die Struktur der perspektivischen Wahrnehmung der Außenwelt offen. Die Innenwelt bei Handke besteht aus dem Unbewussten. Es äußert sich in Träumen und Visionen des Subjekts und führt häufig zu einem Verschwimmen von traumhaften Erlebnissen und vermeintlicher Realität. So beispielsweise in Die Stunde der wahren Empfindung: Dort wird der Protagonist Gregor Keuschnig durch einen Traum, in dem er jemanden ermordet, in eine existenzbedrohende Krise geworfen. Der Traum und die dadurch vollzogene ‚Zwangswandlung‘ führen am darauffolgenden Tag direkt zu Trennung von Frau und Kind und treiben
49 Handke: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, S. 16 (Hervorhebung im Original).
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den Protagonisten in seinem Versuch, diese Wandlung vor seiner Umwelt zu verbergen, an den Rand des Wahnsinns. Die Außenwelt der Innenwelt muss bei Handke als der Ort des Denkens betrachtet werden. Es kann ebenso ins Unbewusste wie ins Bewusste verweisen. In diesem Sinne ist die Frage zu verstehen, die Handke im Notizbuch von 1978 stellt, ob nämlich wortloses Denken unbewusstes Denken sei.50 Dadurch wird zugleich deutlich, dass der Mechanismus der Bewusstheit die Sprache ist, wo rauf später noch genauer einzugehen sein wird. Im Denken fließen bei Handke Erfahrungen der subjektiv wahrgenommenen Außenwelt mit Erinnerungen, Emotionen, Wünschen sowie Träumen und Visionen des Unbewussten zusammen. Die Außenwelt der Innenwelt ist somit der Ort der ‚Ich-Erfahrung‘, der das Unbewusste von der Außenwelt trennt. Das ‚Ich‘ ist als Instanz zwischen diese beiden Bereiche geschaltet. Es bildet zugleich die Grenze, die scheiden und verbinden kann. Was ist zu guter Letzt die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt? Wenn Handke zur Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt vordringen will, so interessieren ihn gerade die Mechanismen der Liminalität, das heißt die Mechanismen dessen, was sie zur trennenden oder verbindenden Grenze werden lässt. Das temporäre Ziel ist die Überwindung der Grenze in epiphanen Momenten der Einheit als Spiritualitätserfahrungen. Das werkübergreifende Ziel liegt in einer Ausdifferenzierung und Ausweitung des Grenzraums selbst. Und wie soeben bereits angedeutet, liegt dieser Mechanismus der Liminalität in einem Gerechtwerden mittels Sprache. Diesen Gedanken gilt es weiter zu vertiefen. Hierzu ist erneut auf die Erzählung Die Abwesenheit zu verweisen. Darin berichtet die schöne Frau von den ihr entgegengebrachten Vorwürfen ihres einstigen Geliebten und bezieht sich dabei sowohl auf das Dritte als auch auf eine existentielle Dreiheit: Er hat mir vorgeworfen, keinen Sinn für irgend etwas Drittes, eine Arbeit, eine Natur, eine Geschichte, zu haben; zwangsbezogen zu sein auf das Lieben, die Zweisamkeit, ohne zu begreifen, daß dieses Glück des Zweisamen nur auf dem Umweg über ein Drittes eintreffen könne. […] Schlimmer noch erscheine ihm mein Unwillen, allem, was nicht ich selber sei, ob Dingen oder Menschen, seine Zeit zu lassen; ich nähme von dem anderen, wie schön es auch sei, bloß Notiz, ohne es anzuschauen, wodurch mein Begriff von Schönheit oder Häßlichkeit strafwürdig äußerlich sei […].51
50 Vgl. den Eintrag vom 6. November 1979 in: Handke, Peter: Notizbuch 017: Oktober–November 1978, DLA Marbach, A:Handke. 51 Handke: Die Abwesenheit, S. 24 f.
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Im letzten Satz wird eine Dreiheit vorgestellt bestehend aus einem ‚Ich‘, einem Anderen, das wahrgenommen wird, und dem Begriff, der aus dieser Wahrnehmung im Innern des Subjekts gebildet wird. Das wahrnehmende ‚Ich‘ kann zu einer inneren Repräsentation der äußeren Welt demnach entweder durch Bewusstlosigkeit kommen, indem es von dem Anderen ‚bloß Notiz‘ nimmt, oder durch Bewusstheit in der Form des Anschauens des Anderen. Je nachdem, welcher Weg gewählt wird, bildet sich daraus ein ‚strafwürdiger‘ Begriff von Schönheit oder Hässlichkeit oder ein ‚gerechter‘. Gerechtwerden bedeutet daher bei Handke ästhetisch werden. Bewusstheit im Sinne von Bewusstsein wird vorgestellt als der Ort, an dem Außenwelt in einen Begriff gefasst wird, ‚begriffen‘ wird. Ohne jeglichen Begriff einer Außen- und Innenwelt würden beide Bereiche notwenig getrennt bleiben müssen. Durch den Begriff sind Außen- und Innenwelt bereits in eine verbindende Form gebracht, eine ästhetische Form. Das Bewusstsein, so heißt es in Langsame Heimkehr, ist das „Gefühl der Form“.52 Daher ist Bewusstsein nicht einfach Ort der Sprache, der Wörter, sondern ästhetische Form der Sprache, d. h. Erzählung. Im Gedicht Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt werden daher Erzählformen beschrieben, wenn es um das Bewusstsein geht. Es heißt darin: Wir betreten unser Bewußtsein: wie in einem Märchen ist es dort früher Morgen auf einer Wiese im Frühsommer: wenn wir neugierig sind; wie in einem Western ist es dort Mittag mit einer großen ruhigen Hand auf der Theke: wenn wir gespannt sind; wie in einem Tatsachenbericht über einen Lustmord ist es dort früher Nachmittag in einem schwülen Spätsommer in einer Scheune: wenn wir ungeduldig sind; wie in einer Rundfunknachricht überschreiten dort gegen Abend fremde Truppen die Grenze: wenn wir verwirrt sind; und wie in der tiefen Nacht wenn ein Ausgehverbot verhängt ist breitet sich dort die Stille der Straßen aus wenn wir uns vor niemandem äußern können – 53
52 Handke: Langsame Heimkehr, S. 64. 53 Handke, Peter: „Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt“. In: Ders.: Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt. Frankfurt a. M. 31969, S. 127–132, Zitat S. 131.
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Nicht zufällig werden keine Erzählformen mehr genannt, sobald eine Unfähigkeit der sprachlichen Äußerung vorliegt. In diesem Fall ist es im Bewusstsein sinnbildlich ‚Nacht‘, es herrscht das ‚Ausgehverbot‘ aus sich selbst als ‚Entäußerungsverbot‘. Die Sprache beziehungsweise die Erzählung wird folglich zum trennenden und verbindenden Grenzbereich zwischen Innen und Außen. Sie ist der Mechanismus der Außenwelt der Innenwelt: die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt.
7 Schlussbetrachtung Die Protagonisten in Handkes Werken streben danach, in dem unabschließbaren Versuch „eins zu werden mit sich“, wie es in Langsame Heimkehr heißt,54 eine universelle Entäußerung mittels Sprache zu erlangen, die gerade deshalb jeden Menschen zuinnerst betrifft, weil wir innerlich als sprachlich konstituiert vorgestellt werden. In dem Versuch, dasjenige zu umkreisen, für das es noch keine Begriffe gibt, zielt Handkes Prosa momentweise auf die Überwindung des Subjekts oder des Bewusstseins und sucht die Verbindung von Innenwelt und Außenwelt. Diese liminale Überwindung und Verbindung ist fragil und prozessual zu verstehen. Operationsraum dieser epiphanen Überwindung bildet das ‚Ich‘ oder das Denken, das in Handkes Notizbuch von 1990 als das Gerechtwerden mit der Sprache dargestellt wird.55 Dieser Versuch, in der ästhetischen Form der Erzählung eine gerechte Haltung gegenüber der Existenz und der Welt mittels Sprache einzunehmen, verweist auf die ethische Ausrichtung des Schreibprojekts. Die sich daraus ergebende prozessuale Schreibethik speist sich aus der Koppelung von Ästhetik und Existenz. Zugleich wird in dieser Schreibethik eine gerechte Haltung gefordert, die durch das Dritte in die zwischenmenschlichen Begegnung, die Welterfahrung und die Ich-Konstituierung Einzug hält. Handkes in jedem Werk neu reformuliertes Schreibziel spiegelt das erstrebte Sein im Werden: Es geht dabei um eine Selbstentäußerung, in der das Äußere im Inneren momentweise aufgelöst werden soll und umgekehrt. Es ist der Versuch einer momentweisen Tilgung der Paradoxie durch das Paradox im Medium einer prozessualen indentitätskonstituierenden und zugleich identitätstransgressierenden Schreibethik.
54 Handke: Langsame Heimkehr, S. 42. 55 Handke, Peter: Notizbuch 067: Februar – Juli 1990, DLA Marbach, A:Handke.
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Katharina Pektor
„Schütteln am Phantom Gottes“ Handkes Wiederholung von Wolframs Parzival Nur eine intensive Beschäftigung mit Wolfram von Eschenbachs Parzival ermöglicht es, die zahllosen Referenzen Peter Handkes auf den mittelalterlichen Roman zu entdecken. Sie sind vielfältig und häufig beinahe unmerklich; eher unterschwellige Rekurse auf Formen, Motive und Strukturen denn simple Forterzählungen der Geschichten. Wolframs ungewöhnliche Erzählweise muss begeistern. Handke notiert nach einer seiner vielen intensiven Parzival-Lektüren Anfang der 1980er Jahre: „Wenn man Wolfram von Eschenbach liest, möchte man die Deutschen lieben“.1 Nicht weniger erstaunlich ist aber nun an Handkes Arbeits- und Erzählweise, dass sie Formen Wolframs für sich entdeckt und überträgt, welche selbst eine 250-jährige Wolframforschung noch nicht in ganzer Tragweite erfassen und interpretieren konnte. Reiches Material zum Studium dieser Formenaufnahme liefern insbesondere jene umfangreichen Lektüre- und vor allem Werknotizen in den Notizbüchern, welche nicht in die veröffentlichten Journale übernommen worden sind. Sie machen Handkes tatsächliche Arbeit mit der literarischen Tradition und die Arbeit an seiner Vorstellung vom Mythos mit Händen greifbar. Das Verfahren, Modelle der literarischen Tradition aufzunehmen und weiterzubenutzen, findet sich bei ihm häufiger,2 im Falle Wolframs aber ist die Sache gewissermaßen nach zwei Seiten hin interessant, weil erst Handkes Zugriff die verblüffend modernen Erzählverfahren dieses wie aus seiner Zeit gefallenen Autors transparent werden lässt. Aber nicht um Wolfram soll es im Folgenden
1 Handke, Peter: Phantasien der Wiederholung. Frankfurt a. M. 1983, S. 14. 2 Bereits in seinen ersten Prosa- und Theatertexten bezieht sich Handke bewusst auf Formen und Motive der literarischen Tradition – ein Verfahren, das er bis heute beibehalten hat. In seinem Roman Der Hausierer (1967) bricht Handke beispielsweise das typische Erzählmodell des Kriminalromans auf, um mit der Veränderung des Modells auch eine Erneuerung der Wahrnehmung zu bewirken. In der Erzählung In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus (1997) verwendet Handke Strukturen oder Motive aus Juan de la Cruz’ mystischem Gedicht Die dunkle Nacht und dem mittelalterlichen Epos von Iwein, um seine Erfahrungen in mythischer Rückbindung zu erweitern. Dabei schreibt er den Mythos zugleich weiter und aktualisiert ihn, wie etwa die Liebesabenteuer von Don Juan und seinem Diener in Don Juan (erzählt von ihm selbst) (2004).
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gehen, sondern um Handkes Rückgriff auf den mittelalterlichen Roman. Dieser geschieht entlang zweier Hauptachsen, der Parzivalfigur und des Fragemotivs. Für beide soll hier Handkes einigermaßen singuläres Verfahren skizziert werden.3
1 Erste Achse: Die Parzivalfigur Wolframs Parzival geistert ab den 1980er Jahren durch das gesamte Werk Peter Handkes, gerade so, als wären die Stücke und Erzählungen selber Stationen einer âventiure mit jenem: Notizen in den veröffentlichten Journalen Die Geschichte des Bleistifts (1982), Phantasien der Wiederholung (1983), Am Felsfenster morgens (1998) und Gestern unterwegs (2005) etwa kehren über die Jahre regelmäßig dort-
3 Erstaunlicherweise gibt es zu Handkes vielfältiger Rezeption von Wolframs Parzival bislang keine umfassende Forschungsarbeit. Die umfangreichste Arbeit zu diesem Thema ist meine mittlerweile zehn Jahre alte Diplomarbeit (Pektor, Katharina: Handkes neuer Parzival. Dipl. Salzburg 2003), die sich ausschließlich mit Handkes Wiederholung von Wolframs Parzival beschäftigt, wobei ich zur besseren Gegenüberstellung der beiden Texte von einer religiösen Interpretation des mittelalterlichen Epos ausgegangen bin. Claudia Wasielewski-Knecht untersucht in ihrer Dissertation (Studien zur deutschen Parzival-Rezeption in Epos und Drama des 18.-20. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. u. a. 1993, S. 280–305) in einem längeren Exkurs zu Wittgenstein Handkes Referenzen zum Parzival-Mythos allgemein. Aufsätze, in denen, ohne eine genaue Untersuchung anzuschließen, auf Handkes Rezeption von Wolframs Parzival hingewiesen wird, findet man häufiger, vor allem bei mediävistischen Arbeiten zur Mittelalter- oder Parzivalrezeption allgemein oder in Handke-Arbeiten, die sich thematisch mit mythischen oder postmodernen Strukturen in seinen Werken beschäftigen. Zu nennen wären hier vor allem: Härter, Andreas: „Alte Geschichten und neues Erzählen. Zur Situierung der Mittelalter-Rezeption in der deutschsprachigen Literatur der achtziger Jahre“. In: Mittelalter-Rezeption V. Gesammelte Vorträge des V. Salzburger Symposiums (Burg Kaprun, 1990). Hg. v. Ulrich Müller u. Kathleen Verduin. Göppingen 1996 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 630), S. 330–350. Müller, Ulrich: „Gral ’89. Mittelalter, moderne Hermetik und die neue Politik der Perestroika. Zu den ‚Parzival/ Gral-Dramen‘ von Peter Handke und Christoph Hein“. In: Medien, Politik, Ideologie, Ökonomie. Gesammelte Vorträge des 4. Internationalen Symposions zur Mittelalter-Rezeption an der Universität Lausanne 1989. Hg. v. Irene von Burg, Jürgen Kühnel u. a. Göppingen 1991, S. 495–520. Raitz, Walter: „Grals Ende? Zur Rezeption des Parzival/Gral-Stoffes bei Tankred Dorst, Christoph Hein, Peter Handke und Adolf Muschg“. In: Der fremdgewordene Text. Festschrift für Helmut Brackert zum 65. Geburtstag. Hg. v. Silvia Bovenschen, Winfried Frey u. a. Berlin, New York 1997, S. 320–333. Pascu, Eleonora: Unterwegs zum Ungesagten. Zu Peter Handkes Theaterstücken ‚Das Spiel vom Fragen‘ und ‚Die Stunde da wir nichts voneinander wußten‘ mit Blick über die Postmoderne. Frankfurt a. M. u. a. 1998. Matt, Peter von: „Parzival rides again. Vom Unausrottbaren in der Literatur“. In: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Jahrbuch 1990. Darmstadt 1991, S. 33–41.
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hin zurück und zeigen eine wiederholte Beschäftigung mit Wolframs Roman. Die Lektüre hat Spuren in den Theaterstücken und Erzählungen hinterlassen – als Vergleiche mit oder Anspielungen auf Figuren und Motive des mittelalterlichen Romans oder gar auf den Autor Wolfram selbst. In Über die Dörfer (1981) ist Gregor noch nicht bereit für das erlösende, die Familie rettende Erzählen – er ist noch „blind für die Tropfen Blut im Schnee“,4 hat aber schon die Anlagen dazu, als „der, der das Fragen versäumt, und der, der das Fragen nachholt“.5 In Der Chinese des Schmerzes (1983) entdeckt Andreas Loser, der Held und Erzähler der Geschichte, gleichsam zur Bestätigung, jetzt endlich auf dem richtigen Lebensund Erzählweg zu sein, den Namen von Parzivals geliebter Frau „Kondwiramur“6 als Graffiti auf die Wand einer Fußgängerunterführung gesprüht. Im Versuch über die Jukebox (1990) vergleicht der Erzähler den Augenblick des Zögerns vor einer Entscheidung mit dem „Moment, in dem Parzival vor der erlösenden Frage stand“,7 zögerte – und, wir wissen es, am Ende schwieg. In Mein Jahr in der Niemandsbucht (1994) verwandelt sich dem Erzähler ein Gasthof zum Märchenort: „Die Willkommensgirlande, eigens für ihn, in Gestalt von Plastikblumen in einer Blechbüchse über dem Haustor; […] und Kondwiramur und Parzival, in Gestalt eines nordhessischen oder westfälischen Wirtspaars, als seinen Gastgebern“.8 Dem Erzähler in Die morawische Nacht (2008) erscheint im Schlaf die Mutter als helfende Lichtgestalt, als „Herzefreude, nicht Herzeloyde“,9 wie Wolframs trauernd-leidende, aber treue Mutter; und das vaterlose „Ich“ in Immer noch Sturm (2010) vergleicht sich mit dem „Ritter der Ritter“, dem wie er selber „vaterlose[n] Parzival“.10 In Der Große Fall (2011) bezieht sich Handke auf seine eigenen Parzival-Figuren aus den Theaterstücken: Der Schauspieler, von dem die Geschichte handelt, hätte vor allem „[a]lterslose Helden, oder Idioten“ gespielt, „oder Fastkinder und überhaupt Lebenslangkinder, wie den Parzival oder den Kaspar Hauser“.11 Und im Theaterstück Die schönen Tage von Aranjuez (2012) schließlich will die Frau nicht mehr Ziel des Mannes sein wie die Damen „in den Liebesepen des Mittelalters“, sondern „eher wie deren Verehrer, ob Garvein oder
4 Handke, Peter: Über die Dörfer. Dramatisches Gedicht. Frankfurt a. M. 1984, S. 11. 5 Handke: Über die Dörfer, S. 77. 6 Handke, Peter: Der Chinese des Schmerzes. Frankfurt a. M. 1986, S. 202. 7 Handke, Peter: Versuch über die Jukebox. Erzählung. Frankfurt a. M. 1993, S. 94. 8 Handke, Peter: Mein Jahr in der Niemandsbucht. Frankfurt a. M. 1994, S. 480 f. 9 Handke, Peter: Die morawische Nacht. Frankfurt a. M 2008, S. 502. 10 Handke, Peter: Immer noch Sturm. Berlin 2010, S. 156. 11 Handke, Peter: Der Große Fall. Berlin 2011, S. 15.
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Erec oder Parzival, die, um sich die Liebe zu verdienen, erst einmal aufbrechen ins Abenteuer, in die Aventure“.12 Parzival bedeutet für Handke also durchaus mehr als die unterlassene Frageleistung. Er findet in Wolframs Darstellung des Königsohns relevante Erfahrungen vorgeformt, die auch die Helden seiner Werke betreffen. Dazu zählen etwa: die Vaterlosigkeit, die besondere Beziehung zur Mutter, der Muttertod, die große Bedeutung der Vorfahren mütterlicherseits, die slowenische Herkunft des Großvaters (auch bei Wolfram stammt Parzivals Großvater aus Slowenien),13 eine Kindheit fern der Gesellschaft, eine falsche (oder fehlende) Erziehung und Bildung, Heimatlosigkeit und ein langes Herumirren in der Fremde, also das Reisen, sowie die Fähigkeit zur Treue und zu Anteil nehmendem Mitleid. Ohne die Nähe zu Handkes Werken im Einzelnen darzulegen – seine Vorfahren, die Zeit im Internat fern der Gesellschaft oder das Reisen sind bei ihm wiederkehrende Motive – lässt sich festhalten, dass Wolframs Parzival für Handke eine ganze Reihe von Identifikationsmöglichkeiten bietet. Das bestätigen seine Lektürenotizen auch explizit: „Immer wieder reitet Parzival auch aus der schönsten und besten Gesellschaft ‚ganz allein‘ weg, ohne Grund, übergangslos (da ‚identifiziere‘ ich mich)“, heißt es etwa am 9. November 1986.14 Vor allem diese persönlich-literarische Nähe dürfte die bis heute nicht schwächer gewordene ‚Liebe‘ Handkes zu Wolframs Parzival erklären; erst bei der Petrarca-Preis-Verleihung im Juli 2011 berichtete er in einem Nachtrag seiner Rede auf Florjan Lipuš von einer gerade aktuellen Parzival-Lektüre und verglich dabei die Erzählweisen von Chrétien de Troyes und Wolfram miteinander. Die Hinwendung zu Mythos und Märchen, insbesondere unter Rekurs auf Parzival, ist typisch für die deutsche Literatur der 1980er und frühen 1990er Jahre – Handke liegt damit ganz im Trend. Zeitgleich findet man Rezeptionen des Parzival-Mythos etwa bei Tankred Dorst, Christoph Hein oder (etwas später) Adolf Muschg. Ungewöhnlich ist bei Handke aber gleichsam die literarische Tiefenschärfe dieser Wende sowie die Tatsache, dass sie auch heute noch unvermindert für sein Schreiben Bedeutung hat. Die Mittelalter-Rezeptionsforschung sowie die germanistische Forschung zu Handkes Werk haben sie gleichermaßen als moderne Mythosverfremdung, Mythostravestie oder postmodernes Zitat interpretiert.15 Das trifft die Sache aber nicht, denn Handke versteht den Mythos „nicht als Geschichte“, deren Semantik oder Handlung weiter zu spinnen oder zu bre-
12 Handke, Peter: Die schönen Tage von Aranjuez. Berlin 2012, S. 58. 13 Hafner, Fabjan: Peter Handke. Unterwegs ins Neunte Land. Wien 2008, S. 333. 14 Handke, Peter: Notizbuch 050: August – November 1986. DLA Marbach, A:Handke. 15 Vgl. Anm. 3.
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chen wäre, „sondern als ästhetische Form“,16 als Wiederholung „vergleichbarer Geschehnisse mit verschiedenen Personen an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten“17 – und damit als eine literarische Methode, welche mit Rücksicht auf die nunmehr freilich gegenwärtige Semantik einer zu erzählenden Geschichte auch in jeder heutigen Zeit weiter angewandt werden kann. Im Unterschied zu Hans Blumenbergs geläufiger Formel von der ‚Arbeit am Mythos‘ müsse man bei Handke deshalb vielmehr, so der Salzburger Germanist Herwig Gottwald, von einer „Arbeit mit dem Mythos“18 sprechen. Übertragen auf Handkes ParzivalRezeption bedeutet dies, dass nicht die Geschichten des Ritters Parzival wiederholt werden, sondern verschiedene Formen oder Formelemente des Romans. Der Mythos dient nicht als Quelle; vielmehr werden, wie Handke im Journal Die Geschichte des Bleistifts festhält, die eigenen, sprachlich möglichst genau „rekonstruierten“, das heißt wesentlich verallgemeinert (abstrahiert) und trotzdem bestimmt (konkret) erfassten Bilder, Ereignisse oder Stimmungen in der Tradition als schon vorgeformte, weiter gültige und doch immer wieder neu zu erfahrende Formeinheit wiedergefunden und mit eben diesem vergleichenden Wissen neu erzählt.19 Dieses wiederfindende Neuerzählen nennt Handke ‚Wiederholen‘. Eine eigene, unvermeidlich ‚moderne‘ Erfahrung wird in einer mythischen Struktur wie neu entdeckt, in der Wiederholung werden beide verbunden. Das Mythische wird durch die mitgesetzte Differenz erneuert und fortgeführt, die eigene Erfahrung wird umgekehrt in ihrer mythischen Rückbindung in einen größeren Zusammenhang gestellt. Wichtig ist dabei (erstens) der mit Blickrichtung zurück dennoch nach vorne gerichtete Zeitpfeil der Differenz: Nicht der Mythos (die Tradition) ist Angel- und Ausgangspunkt der Wiederholung, sondern die präzise beobachtete Gegenwart. Das macht einen wesentlichen Unterschied zu vergleichbar interessierten Rezeptionen, wie beispielsweise in Wagners Parsifal oder im Roten Ritter von Adolf Muschg (1996), die beide, entgegengesetzt zu Handke, vom Mythos ausgehen, also mit vermeintlicher Blickrichtung nach vorne in Wahrheit nur zurückblicken
16 Gottwald, Herwig: Spuren des Mythos in moderner deutschsprachiger Literatur. Theoretische Modelle und Fallstudien. Würzburg 2007, S. 25. Gottwald bezieht sich hier u. a. auf: Handke, Peter: Das Gewicht der Welt. Ein Journal (November 1975–März 1977). Frankfurt a. M. 1979, S. 279. 17 Handke: Phantasien der Wiederholung, S. 83. 18 Gottwald, Herwig: „Verzauberung und Entzauberung der Welt. Zu Peter Handkes mythisierendem Schreiben“. In: Ders.: Mythos und Mythisches in der Gegenwartsliteratur: Studien zu Christoph Ransmayr, Peter Handke, Botho Strauß, George Steiner, Patrick Roth und Robert Schneider. Stuttgart 1996 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 333), S. 34–86, Zitat S. 41 (Hervorhebung K. P.). 19 Handke, Peter: Die Geschichte des Bleistifts. Frankfurt a. M. 1985, S. 275.
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und in der hierauf angestrengten Rezeption oder Modernisierung beliebig bleiben. Wichtig ist (zweitens) die Qualität der Äquivalenz: ‚Wiederholung‘ verändert weder das Alte willkürlich mithilfe des Neuen noch verfremdet sie das Neue mithilfe des Alten. Vielmehr wird das Neue im Alten (und das Alte im Neuen) wiedererkannt. Beide Pole behalten vermittels eines unzweifelhaft vorausgesetzten Gegenwartsstandpunktes in dieser zeitverquickenden Darstellung ihr gleichsam jeweils ursprüngliches Recht. Beispiele für das umgekehrte Verfahren wiederum wären hier etwa Christoph Heins Die Ritter der Tafelrunde (1990) oder Tankred Dorsts Merlin (1985) und Parzival (1987). Ein solchermaßen organisierter Rückgriff auf die mythologische Form er schließt nicht nur die Figur Parzival, in der Handke ganze Bündel seiner Erfahrungen zusammenschließen kann, oder erlaubt dadurch ein ‚Welttheater‘ vertrautvergrößerter Nebenfiguren – „Laß mit ihrer Art zu fragen, all deine Bekannten auftreten, einander in Frage stellen, widersprechen, ergänzen, von. H. B. [gemeint ist Handkes Freund Hubert Burda] bis zu Herrn und Frau G. [Herrn und Frau Greinert, Handkes Bekannte aus Paris]“20 –, sondern der Rückgriff betrifft auch die große Form des Romans als Ausdruck von Erfahrung, eines Weltbilds. In verschiedenen Parzival-Lektürenotizen geht es direkt oder indirekt um die „Erzählweise des Epos von ‚Parzival‘“, die Erzählstrukturen und damit die Wirklichkeitsformen des Romans. Handke bemerkt etwa Wolframs Erzählen vom „rechten Zeitpunkt“, seine Art der „Zeitangabe“, von der man „lernen“21 könne, seine Beschreibung der Dinge, deren Maße immer genau richtig oder „angemessen“22 sind, seine Erzähllandschaften, in denen Handke eine „Landschaft der Weltenträume“ erkennt – „[e]ine Waldlichtung, und gleich daneben liegt ein natürlicher Hafen“,23 oder: „So vieles im ‚Parzival‘ grenzt, auf einmal!, ans Meer: dieses ist überall, als Schutz und Weite (ähnlich auch den täglich in meinem Innern aufblitzenden Bildern von der weiten Welt)“.24 Dies gilt ebenso für Wolframs Art und Weise, seine Geschichte voranzubringen, die zu jedem Zeitpunkt des Erzählens offen ist und unerwartete Wendungen nehmen kann: „‚Der Würfel fällt für die Geschichte (So-und-so) …‘ heißt es immer wieder im ‚Parzival‘ – als sei das Erzählen selber von Vorgang zu Vorgang jeweils erst zu sichern“.25
20 So in den Notizen zu Das Spiel vom Fragen, am 5. September 1986. Vgl. Handke, Peter: Notizbuch 050: August – November 1986. DLA Marbach, A:Handke. 21 Handke, Peter: Am Felsfenster morgens (und andere Ortszeiten 1982–1987). Salzburg, Wien 1998, S. 416 (Hervorhebung im Original). 22 Handke: Am Felsfenster morgens, S. 413. 23 Handke: Phantasien der Wiederholung, S. 20. 24 Handke: Phantasien der Wiederholung, S. 16. 25 Handke: Am Felsfenster morgens, S. 413.
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2 Zweite Achse: Das Fragemotiv Ihren Brennpunkt finden aber auch diese Beobachtungen wiederum in der Figur des Parzival selbst, dessen Frageproblem sich geradezu als Anweisung für ein richtiges Erzählen in der Gegenwart verstehen lässt: „Wenn Parzival zu fragen verstünde – das wäre Epik“,26 lautet etwa die erste in die veröffentlichten Journale aufgenommene Parzival-Notiz, und es gibt eine ganze Reihe weiterer, deren Funktion im Rahmen einer Erzähltheorie sinnfällig wird: „Angesichts des Gral: Überlege vor allem, was du nicht fragen darfst“27 oder: „Scheußlich jene, die Fragen stellen, ohne die Kunst und ohne das Bedürfnis, zu fragen: Lob des Parzival“.28 Der Gral als Symbol des Heiligen nimmt hier die Position der Erzählung ein, und es ist Handkes Anspruch, sich von dieser genauso gefordert zu fühlen, wie frühere Zeiten von ihrem Gott. An das Fragemotiv werden in Wolframs Roman bekanntlich die zentralen Handlungsstränge geknüpft. Zu nennen sind hier Parzivals Bildungsweg als Geschichte einer Selbstbewusstwerdung, die ihren Helden über das Erkennen seiner Vorfahren in seine angestammte Gemeinschaft zurückführt, Parzivals Liebe zu Kondwiramur, mit der er sich vereint, von der er sich trennt, und sich nach langer âventiure an einem dritten, im Inbild der Blutstropfen im Schnee zu einem frühen Zeitpunkt schon angekündigten Ort wiedervereint, und schließlich Parzivals âventiure, als einsamer Weg eines stummen, nur langsam Fragenden und an Gott Verzweifelten, im Kontrast zur âventiure Gawans, des prädestinierten Fragers und (im ethischen Sinne) Zweiflers. Bereits die Aufzählung der Motive lässt, als hätte man nicht vom Autor eines mittelalterlichen Romans geredet, an Handkes Bücher denken. Die zentralen Parzival-Bezugspunkte Handkes finden sich am dichtesten geknüpft im Theaterstück Das Spiel vom Fragen oder Die Reise zum sonoren Land (1989). Bevor im Folgenden mit Blick auf das Fragemotiv die zweite Achse der Mythosrezeption Handkes nachgezeichnet wird, sei kurz daran erinnert, worum es in dem Stück geht. Eine kleine Gruppe von Leuten unterschiedlichsten Alters trifft im „Hinterland“ zufällig aufeinander. Sie erkennen, dass sie nicht mehr fragen können, und machen sich auf zum „sonoren Land“, um es dort neu zu lernen. Ihre gemeinsame Reise, ein fragendes Gehen, bildet die Handlung des Stücks. Die stumme Hauptfigur der Gruppe, ein tief verstörtes und sich am Rande
26 Handke: Die Geschichte des Bleistifts, S. 288. 27 Handke: Phantasien der Wiederholung, S. 51. 28 Handke: Phantasien der Wiederholung, S. 62.
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zum Amok bewegendes Erwachsenenkind, heißt Parzival: Auch er ist zunächst unfähig zur Frage, tumb wie Wolframs Königssohn, und erlernt, anfangs aus der Gemeinschaft ausgeschlossen, gleich dem Helden Wolframs auf seiner âventiure das Fragen und wird zum Erlöser der ‚Frageirre‘ oder ‚Frageferne‘ der anderen. Sämtliche bisher genannten handlungsstiftenden Aspekte des Motivs werden im Lauf des Stückes angespielt: Die Bildungsgeschichte Parzivals ist sein zentraler Handlungsstrang, die beiden Schauspieler spielen die Liebesgeschichte zwischen Parzival und Kondwiramur, und Wolframs in unterschiedlichen Sprechweisen die Handlungen kommentierender Erzähler kehrt wieder in der Figur des Einheimischen, welcher auch hier in unterschiedlichen Rollen das Geschehen kommentiert und begleitet. Ebenso finden sich die Antipoden Parzival und Gawan in den streitlustigen Wechselreden von Spielverderber und Mauerschauer wieder und die gesamte Erzählweise des Stücks ist offen, gleichsam in FrageForm, perspektivisch, humoristisch und erfahrungsbezogen-mythisch wie schon bei Wolfram selbst. Es wurde bereits oben angedeutet, dass gerade mit Handkes Blick diese Tatsache deutlich wird. Erstaunlich ist, dass diese Bezüge bisher unbemerkt geblieben sind. Natürlich überwiegt auf den ersten Eindruck die Differenz des Stücks zum mittelalterlichen Roman. Das Mittelalter kommt im Stück sozusagen nicht vor, was an der beschriebenen Methode Handkes liegt. Im Spiel vom Fragen lassen sich zentrale Elemente von Wolframs Parzival wiederfinden, obwohl eine oberflächlich realistische oder eben mythologisierende Einkleidung des Textes durch ein wie auch immer geartetes Mittelalter-Reliquiar gerade fehlt. Gattung, Ort, Zeit, Handlung, Thema und Personal, Letzteres sogar in der namenspendenden Titelfigur Parzival, die man immerhin als einen deutlichen Hinweis auf subtilere Rückgriffe des Stückes verstehen könnte, unterscheiden sich vom Roman. Dabei betrifft die Semantik der Differenzsetzung gerade das zentrale Thema des Stücks, wenn Wolframs Mythos aus der Religion in die Ästhetik verschoben und der Held aus der gesellschaftlich-religiösen in eine ästhetische Sphäre versetzt wird. Die Handlungsorte befinden sich nicht mehr in der mittelalterlich-arturischen Welt, sondern auf der Theaterbühne des 20. Jahrhunderts. Die Zeit ist keine religiöse Heilszeit mehr, sondern Märchen- oder Probenzeit, die Figuren sind keine fahrenden Ritter, sondern selbstbezeichnend Schauspieler oder typisierte Konzeptfiguren und die Krise ist nicht mehr gesellschaftlich-religiös, sondern die Krise einer gegenwärtigen Kunst. Die Suche nach ebendieser liegt im Unternehmen des Stücks selbst. Handkes Spiel vom Fragen rezipiert Wolframs Parzival, aber auf die besondere, für ihn bezeichnende, seinem poetischen Programm der Wiederholung entsprechenden Weise. Das Fragemotiv also bildet die zweite Hauptachse dieser Wiederholung. Es ist das organisierende Element des modernen Stücks wie auch des mittelalterlichen
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Romans und definiert Handkes Versuch, vermittels eines ‚mythischen‘ Schreibens die Schnittstellen von Religion und Kunst für die Gegenwart neu zu bestimmen. Dabei wird auch Parzivals Frageproblem in einen ästhetischen Kontext gestellt. Das gilt für die Erzählung von Parzivals Bildungsweg vom tumben tor zum Erlöser einer durch das richtige Fragen am Ende ästhetisch integrierten Reisegesellschaft. Das gilt aber noch deutlicher für die Form des Stücks, und hier kann Handke neuerlich Anleihe machen bei der schon bei Wolfram selbst eben durch das Fragemotiv auf bemerkenswerte Weise ‚modernisierten‘ Form. Fragen allgemein sind ein Mittel, teilzuhaben an der Welt, um sie zu erkennen, zu unterscheiden, zu benennen und zu verstehen. Fragen sind die Voraussetzung von Wissen und Erfahrung. Sie sind insofern auch Formen, als die Form eines Kunstwerks die Repräsentation eines durch bestimmte gestellte oder unterlassene Fragen entstandenen Weltbildes ist. Häufig wiederholte Fragen bilden Traditionen. Die Reichweite oder kognitive Tiefe der Fragen legt mit ihrem resultierenden Wissen auch die literarischen Formen fest. Generell lassen sich zwei Arten von Fragen, Weltanschauungen und somit Formtraditionen unterscheiden: Fragen, die ein geschlossenes Weltbild generieren, das entsprechend in einer geschlossenen Form und stabilen Werkstruktur resultiert, sowie Fragen, die ein offenes Weltbild erzeugen, das dann in einer offenen Form oder Werkstruktur dargestellt wird. Offene und geschlossene Form verteilen sich dabei nicht unbedingt entlang der historischen Zäsur auf das moderne und das religiöse Zeitalter, wie das etwa Umberto Eco in seinem Buch über Das offene Kunstwerk (1973) besonders für das Mittelalter betont.29 Geschlossene Welten und Formen gibt es auch in der Moderne, wo sie freilich nicht mehr, wie zu Wolframs Zeiten, durch die Religion erzeugt werden, sondern durch die vermeintliche Objektivität eines Realismus oder Naturalismus. Für das Mittelalter wiederum wurde schon mehrfach angedeutet, dass Momente einer offenen Form gegen die religiöse weltbildstabile Schließung insbesondere bei Wolfram (bei Bewusstsein der Problematik dieser Behauptung) durchaus zu finden sind. Interessant sind also vor allem die Mischformen auf beiden Seiten, das heißt, wie die geschlossene Form geöffnet werden kann, ohne freilich den zeitgegebenen Rahmen damit ganz zu sprengen, beziehungsweise wie die erfolgreich geöffnete Form im Anschluss wieder stabilisiert werden soll, ohne dabei in die verlassenen Verliese der Religion zurückzufallen. Mit der Frage-Form, abstrahiert aus Wolframs Verwendung im Rahmen einer Geschichte, stellt Handke also den eigentlichen erkenntnistheoretischen Aspekt
29 Eco, Umberto: Das offene Kunstwerk. Frankfurt a. M. 1973, S. 33 ff. und 46 ff.
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des mittelalterlichen Romans in den Mittelpunkt seines Stücks. Er verlässt damit aber Wolframs Roman wiederum keineswegs, denn auch dieser beweist in seinen Exkursen ein über den rhetorischen Topos hinausreichendes, gleichsam schon theoretisches Bewusstsein seiner eigenen ‚krummen‘ oder ‚hakenschlagenden‘ Erzählweise und damit bereits aufgebrochenen Erkenntnisform. Handkes Stück fragt zwar nicht nach Gott, aber in der differentiellen Wiederholung dieser Frage mit derselben Dringlichkeit nach der Kunst. Es handelt nicht von der Unterscheidung einer religiös (in der Gralswelt) oder vergleichsweise säkular (in der Artuswelt) bestimmten Politik, aber in seiner spielerisch entfalteten Debatte unterschiedlicher Traditionen von Erzählung und Spiel immer noch von den jeweils damit verbundenen Weltanschauungen. Handke gestaltet wie Wolfram ein erkenntnisorientiertes, kontrolliert skeptisches, selbstbezügliches Fragen, welches die traditionellen oder ‚falschen‘, nämlich geschlossenen Formen mit ihrer darin vermittelten Weltwahrnehmung zerbricht. Auch Handke erzeugt gezielt auf allen Ebenen des Textes Differenzen, Brüche und Widersprüchlichkeiten, öffnet die Form auf diese Weise bewusst und reflektiert darüber hinaus sein Vorgehen extensiv in poetologischen Figurendialogen. Als Ausdruck einer Weltanschauung ist die Frage-Form beider Texte also selbst eine Aussage: Sie bedeutet in ihrer Kraft und Eigenschaft des Aufbrechens traditioneller Formen Kritik, und zwar im Sinne einer Überprüfung, einer Suche, eines Infragestellens, weniger im Sinne einer Zerstörung. Die Frageform signalisiert eine Krise des Wissens, das Schwankenlassen des überlieferten, für sicher gehaltenen Weltbilds. Bei Wolfram, entgegen der seit dem 19. Jahrhundert mehr oder weniger ungebrochen-nachgebeteten romantisch-christlichen Rezeption, trifft diese Kritik vor allem die religiös inspirierte Gralswelt. Handkes Frage-Theater kritisiert im Anschluss an Wolfram entsprechend geschlossene Formen des Theaters und ihre Voraussetzungen – die jeweilige Wahrnehmung der Welt. Es zeigt den Versuch, für den Frage-Stoff die angemessene Form zu finden, wobei die verschiedenen Figuren im Stück die überprüften Theaterformen verkörpern sollen: Der Mauerschauer (alias Ferdinand Raimund) und der Spielverderber (alias Anton Tschechow) sind nicht nur Repräsentanten der poetischen und realistisch-skeptischen Weltsicht, sondern auch der mit diesen beiden Bühnenautoren verbundenen Theaterformen. Die beiden ‚Alten‘ stehen nicht nur allgemein für die Tradition, sondern auch für Formen des Singspiels und Volksstücks, und die Schauspieler diskutieren in ihren Dialogen über Spielweisen des absurden, naturalistischen und epischen oder, wie Notizen Handkes zeigen, des japanischen Nǒ-Theaters. Die daraus resultierende Formverwirrung, das ‚Durcheinander‘, wie es einmal im Stück heißt, dokumentiert der Klappentext der Buchausgabe des Stücks – in Frageform: „Ein Lustspiel? Ein Traumspiel? Ein Singspiel? Ein Expeditionsbericht? Eine Live-Reportage? Eine Hintertreppen-Geschichte?
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Am Ende doch noch einmal ein Drama?“30 Handkes Kritik äußert sich nicht semantisch unmittelbar als kritische Bemerkung innerhalb einer dazu benutzten und als verbindlich vorausgesetzten Form, sondern ist selbst Form geworden und legt damit sozusagen Hand an das Fundament an. Das Fragemotiv bestimmt somit die Aussage des Stücks: Es bedeutet eine Kritik am gegenwärtigen Theater und präsentiert gleichzeitig die Umsetzung des geforderten neuen Theaters als moderne Wiederholung des Parzival-Mythos. Es geht im Spiel vom Fragen nicht um eine ferne Geschichte vergangener Zeiten, die einen exotisch folgenlosen Kunstkonsum gestatten würde, sondern, wie Handke am 11. Juni 1988 in seinem Notizbuch vermerkt: „Es muß die heutige Situation sein, völlig durchsichtig (der Alten, der Jungen, der Kunst)“.31 Die gesamte Reisebewegung der Gruppe spiegelt die Idee einer von Differenz bestimmten Wiederholung wider: Die Figuren begeben sich auf eine Reise zurück ins Hinterland, und das Hinterland meint natürlich das Dahinterliegende, nicht auf den ersten Blick schon Sichtbare, historisch die Tradition, kognitiv die erst zu benennende und darzustellende Wahrheit der Dinge. Sie tun dies jedoch in einer Bewegung des Nachvorne- oder Neugehens und mit dem Ziel einer ästhetischen Selbstbewusstwerdung. Während die Figuren fragend hintenherum voranschreiten und dabei in ihren Gesprächen, Erzählungen, Beobachtungen und nicht zuletzt Reflexionen über das Fragen und Spielen eine Poetik der Wiederholung und eine Theorie vom richtigen Spiel entwickeln, wiederholen sie gleichzeitig den ParzivalMythos, öffnen ihn für neue Interpretationen und setzen ihre Frage- und Spieltheorien im selben Zug in die Praxis der Bühne und einer neuen Textform um. Das Spiel vom Fragen ist ein kunsttheoretisches Stück, das Handke selbst, wie wieder eine unveröffentlichte Notiz vom 10. Mai 1988 belegt, in einen Zusammenhang mit seiner institutionenwütenden Publikumsbeschimpfung stellt.32 Es erzählt vom Theater und spielt wie auch schon sein Stück Der Ritt über den Bodensee im Theater, auf der Bühne – am Ort der Kunst. Die „Savanne der Freiheit“, das Land des richtigen Erzählens aus dem Schlusshymnus der nicht zufällig so betitelten Erzählung Die Wiederholung (1986), ist drei Jahre später, und noch eine Spur deutlicher als in dem Prosabuch, als „Frage-Ort“ zum Gegenstand einer Forschungsreise geworden.33
30 Handke: Das Spiel vom Fragen oder Die Reise zum sonoren Land. Frankfurt a. M. 1989, Zitat: Klappentext. 31 Handke, Peter: Notizbuch 058: Mai – Juni 1988. DLA Marbach, A:Handke. 32 Handke, Peter: Notizbuch 058: Mai – Juni 1988. DLA Marbach, A:Handke. 33 Handke, Peter: Die Wiederholung. Frankfurt a. M. 1986.
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3 Das Fragen als Schütteln am Phantom Gottes Anschließend an diese Überlegungen zur zweiten Wiederholungsachse, zum Fragemotiv, lohnt es, eine Notiz Peter Handkes anzusehen, anhand derer auch jene oben bereits angedeutete Schwierigkeit untersucht werden kann, wie eine moderne ‚gottlose‘ Form eine ähnlich valide Geltung, oder eben ‚Schließung‘, erlangen kann wie der feststehende Mythos. Ein Notizbucheintrag vom 27. September 1987 benennt Handkes Anliegen der Wiederholung und die dafür notwendigen Eigenschaften der Frage: „DKdF [Die Kunst des Fragens, der Arbeitstitel des späteren Spiels] das Phantom Gottes schütteln, bis … (selber zitternd, schreiend, weinend: Vater erscheine!, s. [siehe] DA); das Zittern des Herzens nach Gott, um Gott“.34 Die Notiz stammt aus einem von insgesamt elf Notizbüchern, in denen Handke, beginnend mit dem August 1986 und seiner intensiven Lektüre von Wolframs Parzival (in der Übertragung von Dieter Kühn) im November 1986 bis in den Winter 1988/89, und somit bis kurz vor Erscheinen der Buchfassung des Spiels, konkret diesem Projekt zugeordnete Konzeptionsnotizen sammelt. Bezeichnend ist nun der Umstand, dass die in den Journalen veröffentlichte Version dieser Notiz wesentlich kürzer ausfällt; dort lautet sie nämlich: „Die Kunst des Fragens: schütteln am Phantom Gottes“.35 In ihrer originalen ‚langen Fassung‘, welche für das Stück doch aussagekräftiger ist als die geglättete Publikation, umschreibt sie ein Fragen, das in der Geste des Öffnens zugleich ein Schließen andeutet und dabei etwas Drittes aufscheinen lässt. Sie zielt auf ein besonderes Fragen, ein Fragen, das eine Kunst ist und das vielleicht auch nur in der Kunst möglich ist. Nur solches Fragen schüttelt am Phantom Gottes, dessen Gestalt und Kraft mithin weder ganz leicht gebrochen noch einfach ignoriert werden kann; und nur mit diesem zu entdeckenden richtigen Fragen findet Handke die Schnittstellen von moderner und mythischer Erfahrung, oder: von Kunst und Religion. Die Notiz benennt das Programm: Das ‚in Frageform‘ zu fassende Theaterstück als solches sucht als ein „Schütteln am Phantom Gottes“ seine Umsetzung, nicht bloß die eine oder andere darin gestellte ‚richtige Frage‘. „Öffnen, öffnen, öffnen! (was in dem ist, der schaut und hört)“, notiert Handke am 27. September 1987.36 Ein Fragen, das Weltbilder öffnet, ist im Auf-
34 Handke, Peter: Notizbuch 054: Juli – Oktober 1987. DLA Marbach, A:Handke. Das Kürzel „DA“ steht für Die Abwesenheit (1987), die thematisch als Vorläufer des Spiels vom Fragen zu gelten hat, denn beide Texte verhandeln eine Expedition zur Kunst in einem fiktiven Terrain, das als Raum der Kunst verstanden werden kann. 35 Handke: Am Felsfenster morgens, S. 526. 36 Handke, Peter: Notizbuch 054: Juli – Oktober 1987. DLA Marbach, A:Handke.
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bruch subjektiv, widersprüchlich, selbstreflexiv und tendenziell mehrdeutig. Es ist befasst mit sich selbst, seiner Konstitution, seiner Legimitation, seiner Suche und erkennt sich als Künstliches gegenüber der behaupteten Natürlichkeit einer qua Frage angegriffenen Tradition. Auf der anderen Seite sind damit jedoch kein ungebremstes skeptisches Fragen und die entsprechenden zerstörerischen Formen gemeint. In Handkes Bild gesprochen: Kein Sprengen des Phantoms, sondern ein Schütteln am Phantom wird erfahren und gesucht. Die Kunst des Fragens verlangt Verbindlichkeit – Gott (gleichwohl verwandelt) redet sozusagen noch immer mit. Handke will mit der öffnenden Frage und Form weder eine christlich-religiöse Erfahrung beschwören noch ist sein „Schütteln am Phantom Gottes“ unmittelbar als Kritik an der Religion zu verstehen, denn diese bleibt vielmehr vorausgesetzt. Im Unterschied zum mittelalterlichen Roman sorgt sie aber nicht mehr für den Inhalt des Stücks. Handkes Frage richtet sich auf eine Fassung von Zusammenhang, Verbindlichkeit und Sinn, welche um ihre Lage, die Unwiederbringlichkeit der Religion, Bescheid weiß. Das „Phantom Gottes“ ruft eben nicht mehr Gott selbst auf die Bühne, sondern ein Trugbild, oder neutraler, eine Nachbildung, in jedem Fall etwas, das Werkkürzel „DA“ für Die Abwesenheit im genannten Notizeintrag unterstreicht es ja, Abwesendes. Der Notizbucheintrag, gelesen vor dem Hintergrund des entfalteten Theaterstücks, enthält auch den Hinweis auf die Lösung. Das richtige Fragen, behauptet Handke, ist begleitet von einem „Zittern des Herzens“, einer Sehnsucht nach dem „Erscheinen“ des Ersehnten. Es verdanke sich einer subjektiven Ergriffenheit, verwandle diese aber und bewirke dabei eine solche im Anschluss wiederum selbst. Ich schüttle, bis ich geschüttelt werde, und das Medium dazwischen sei kein Gott mehr, sondern die Kunst, dessen „Phantom“. „Die große Kunst: Man spürt das Zittern und hat die Form, man hat die Form und spürt das Zittern“, lautet eine unveröffentlichte Notiz vom 30. September 1986.37 Das Zittern ist nicht bloß Anzeiger einer Erregung, sondern Ausdruck des unsteten, flimmrigen, tendenziell trugbildhaften Charakters des Heraufbeschworenen. Dennoch objektiviert sich solch subjektive Ergriffenheit erst, sobald die Kunst sie wiederholbar und allgemein zugänglich gemacht hat – und nicht mehr, wenn Gott spricht oder die Fragesucher nur stumm und ungerührt im Leeren stehen. Die Offenheit ist bei Handke also nicht ausschließlich offen. Die große Neuerung Wolframs war es, die Religion durch ein vom Fragen und Zweifeln bestimmtes Schreiben für Kritik zu öffnen, ohne dabei die Religion oder die Existenz Gottes gänzlich in Frage zu stellen. Seine Offenheit ist in gewisser Weise nur ‚halboffen‘. Handke kritisiert mit seiner offenen Form die Kunst ohne das System der Kunst in
37 Handke, Peter: Notizbuch 050: August – November 1986. DLA Marbach, A:Handke.
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Frage zu stellen; auch das ist eine Kritik innerhalb des verhandelten Systems. Die Figuren sind Theaterleute, Schauspieler, der Ort des Spiels ist die Bühne, das Licht ist Probenlicht, der sonore Ton ist Probensignal. Die Kunst als Versuch, das ‚mystische‘ Erlebnis dauerhaft zu objektivieren, ist zugleich ein Versuch in Geschlossenheit. Die Erlösung, das „Finden der Form“,38 das zeigt Handke freilich auch, gelingt aber nie endgültig. Das Fragen und Suchen hört nicht auf – die Figuren müssen sich mit Parzival als „Leib des Fragens“39 in ihrer Mitte von Neuem auf den Weg machen. Eine endgültige Geschlossenheit kann es für Handke, hier ist er am Ende trotz der festen Blickrichtung auf Gott eben doch ein moderner Autor, auch in der Kunst nicht geben. Auch diese Schlusswendung ist übrigens schon bei Wolfram vorgegeben: Das am Gral zuletzt aufflammende Frageverbot, welches die religiöse Gralswelt für immer schließen würde, kann nicht eingehalten werden. Bei Wolfram ist es dann eine Frau, die verbotenerweise doch wieder zu fragen beginnt.
Literaturverzeichnis Eco, Umberto: Das offene Kunstwerk. Frankfurt a. M. 1973. Gottwald, Herwig: „Verzauberung und Entzauberung der Welt. Zu Peter Handkes mythisierendem Schreiben“. In: Ders.: Mythos und Mythisches in der Gegenwartsliteratur: Studien zu Christoph Ransmayr, Peter Handke, Botho Strauß, George Steiner, Patrick Roth und Robert Schneider. Stuttgart 1996 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 333), S. 34–86. Gottwald, Herwig: Spuren des Mythos in moderner deutschsprachiger Literatur. Theoretische Modelle und Fallstudien. Würzburg 2007. Hafner, Fabjan: Peter Handke. Unterwegs ins Neunte Land. Wien 2008. Handke, Peter: Der Hausierer. Frankfurt a. M. 1967. Handke, Peter: Das Gewicht der Welt. Ein Journal (November 1975–März 1977). Frankfurt a. M. 1979. Handke, Peter: Phantasien der Wiederholung. Frankfurt a. M. 1983. Handke, Peter: Über die Dörfer. Dramatisches Gedicht. Frankfurt a. M. 1984. Handke, Peter: Die Geschichte des Bleistifts. Frankfurt a. M. 1985. Handke, Peter: Der Chinese des Schmerzes. Frankfurt a. M. 1986. Handke, Peter: Die Wiederholung. Frankfurt a. M. 1986. Handke, Peter: Das Spiel vom Fragen oder Die Reise zum sonoren Land. Frankfurt a. M. 1989. Handke, Peter: Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen. Ein Gespräch, geführt von Herbert Gamper. Frankfurt a. M. 1990. Handke, Peter: Versuch über die Jukebox. Erzählung. Frankfurt a. M. 1993.
38 Handke, Peter: Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen. Ein Gespräch, geführt von Herbert Gamper. Frankfurt a. M. 1990, S. 37. 39 Handke: Das Spiel vom Fragen, S. 146.
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Handke, Peter: Mein Jahr in der Niemandsbucht. Ein Märchen aus den neuen Zeiten. Frankfurt a. M. 1994. Handke, Peter: In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus. Frankfurt a. M. 1997. Handke, Peter: Am Felsfenster morgens (und andere Ortszeiten 1982–1987). Salzburg, Wien 1998. Handke, Peter: Don Juan (erzählt von ihm selbst). Frankfurt a. M. 2004. Handke, Peter: Die morawische Nacht. Frankfurt a. M. 2008. Handke, Peter: Immer noch Sturm. Berlin 2010. Handke, Peter: Der Große Fall. Berlin 2011. Handke, Peter: Die schönen Tage von Aranjuez. Berlin 2012. Härter, Andreas: „Alte Geschichten und neues Erzählen. Zur Situierung der Mittelalter-Rezeption in der deutschsprachigen Literatur der achtziger Jahre“. In: Mittelalter-Rezeption V. Gesammelte Vorträge des V. Salzburger Symposiums (Burg Kaprun, 1990). Hg. v. Ulrich Müller u. Kathleen Verduin. Göppingen 1996 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 630), S. 330–350. Matt, Peter von: „Parzival rides again. Vom Unausrottbaren in der Literatur“. In: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Jahrbuch 1990. Darmstadt 1991, S. 33–41. Müller, Ulrich: „Gral ’89. Mittelalter, moderne Hermetik und die neue Politik der Perestroika. Zu den ‚Parzival/Gral-Dramen‘ von Peter Handke und Christoph Hein“. In: Medien, Politik, Ideologie, Ökonomie. Gesammelte Vorträge des 4. Internationalen Symposions zur Mittelalter-Rezeption an der Universität Lausanne 1989. Hg. v. Irene von Burg, Jürgen Kühnel u. a. Göppingen 1991, S. 495–520. Pascu, Eleonora: Unterwegs zum Ungesagten. Zu Peter Handkes Theaterstücken ‚Das Spiel vom Fragen‘ und ‚Die Stunde da wir nichts voneinander wußten‘ mit Blick über die Postmoderne. Frankfurt a. M. u. a. 1998. Pektor, Katharina: Handkes neuer Parzival. Dipl. Salzburg 2003. Raitz, Walter: „Grals Ende? Zur Rezeption des Parzival/Gral-Stoffes bei Tankred Dorst, Christoph Hein, Peter Handke und Adolf Muschg“. In: Der fremdgewordene Text. Festschrift für Helmut Brackert zum 65. Geburtstag. Hg. v. Silvia Bovenschen, Winfried Frey u. a. Berlin, New York 1997, S. 320–333. Wasielewski-Knecht, Claudia: Studien zur deutschen Parzival-Rezeption in Epos und Drama des 18.-20. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. u. a 1993 (Europäische Hochschulschriften, Deutsche Sprache und Literatur 1402).
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III. Lesen und Schreiben
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Raum Zeit Sprache Peter Handke liest Martin Heidegger1
1 Philosophie und Literatur Kein Philosoph hat so viele Spuren in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts hinterlassen wie Martin Heidegger. Der Umstand, dass elementare Kenntnisse über Werk und Biografie bei nahezu jedem Leser vorausgesetzt werden können, provozierte vor allem satirische Referenzen, die auf ihre Weise die Bedeutung des Philosophen für das kulturelle Gedächtnis spiegeln. Zur prominenten Bezugsfigur wird er – um nur die bekanntesten Beispiele zu nennen – in Romanen von Günter Grass (Hundejahre, 1963), Thomas Bernhard (Alte Meister, 1985) oder Arnold Stadler (Mein Hund, meine Sau, mein Leben, 1996); Elfriede Jelinek lässt ihn auf der Bühne auftreten (Totenauberg, 1991), Lyrikern genügen kalauernde Anspielungen – etwa wenn Peter Rühmkorf Haarausfall als „Lichtung des Seins“ bezeichnet2 oder Robert Gernhardt einen Gedichtband Reim und Zeit (1990) nennt. Wesentlich ernsthafter setzen sich Schriftsteller wie Jean Améry, Paul Celan, Ingeborg Bachmann, Martin Walser, Botho Strauß oder Hartmut Lange mit Heideggers Werken auseinander. In die Reihe dieser Autoren gehört zweifellos Peter Handke.3 Glaubt man einigen seiner Interpreten, leitete er seine Poetik sogar unmittelbar aus der Philoso-
1 Der Beitrag ist zuerst im Klostermann Verlag erschienen in: Heidegger und die Literatur. Hg. v. Günter Figal u. Ulrich Raulff. Frankfurt a. M. 2012, S. 131–156. Wiederabdruck mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber und des Verlags. Mit freundlicher Genehmigung Peter Handkes wurde der Beitrag um Abbildungen aus den Notizbüchern ergänzt. 2 Rühmkorf, Peter: „Als Fragment“. In: Ders.: Kunststücke. 50 Gedichte nebst einer Anleitung zum Widerspruch. Reinbek 1962, S. 49. 3 Vgl. zum Verhältnis Handke-Heidegger: Laemmle, Peter: „Gelassenheit zu den Dingen. Peter Handke auf den Spuren Martin Heideggers“. In: Merkur 35 (1981), S. 426–428; Kolleritsch, Alfred: „Die Welt, die sich öffnet“. In: Peter Handke. Die Arbeit am Glück. Hg. v. Gerhard Melzer u. Jale Tükel. Königstein 1985, S. 111–125; Renner, Rolf-Günter: Peter Handke. Tübingen 1985, S. 128–137 und 161–172; Todtenhaupt, Martin: „Unterwegs in der Sprache mit Heidegger und Handke“. In: Österreich. Beiträge über Sprache und Literatur. Hg. v. Christiane Pankow. Umeå 1992, S. 119–132; Kann, Irene: Schuld und Zeit. Literarische Handlung in theologischer Sicht. Thomas Mann. Robert Musil. Peter Handke. Paderborn u. a. 1992; Bonn, Klaus: Die Idee der Wiederholung in Peter Hand-
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phie Martin Heideggers ab. Als Belege werden nicht nur Lektürehinweise in seinen veröffentlichten Journalen angeführt, sondern auch Entsprechungen in seinen Erzählwerken. Bedenklich stimmt allerdings, dass andere Interpreten andere Abhängigkeiten belegen – etwa von Nietzsche4 oder Rilke.5 Und die Zweifel nehmen zu, wenn man Handkes größtenteils unveröffentlichte Notizbücher liest, die sich seit kurzem im Deutschen Literaturarchiv Marbach befinden. Sie zeigen, dass Handke Heidegger vergleichsweise spät, eher sporadisch und weniger intensiv gelesen hat als andere Philosophen. Parallelitäten, die nicht zu bestreiten sind, lassen sich daher kaum als ‚Einfluss‘ erklären. Ich würde vielmehr so formulieren: Peter Handke entwickelte unabhängig von Heidegger eine eigene reflektierte poetische Schreibpraxis, für die er dann in wesentlichen Punkten eine theoretische Bestätigung bei Heidegger fand. Im Folgenden werde ich zunächst Handkes Poetik der Beschreibung und Heideggers Philosophie des Dings skizzieren, bevor ich näher auf Handkes Heidegger-Lektüren und -Kommentare eingehe. Dabei konzentriere ich mich auf eindeutige Belege und verzichte darauf, den Gebrauch von Worten wie „Angst“, „Stimmung“, „Sorge“ oder „In-der-Welt-Sein“ („Auf-der-WeltSein“, „Im-Wort-Sein“) zu interpretieren, der terminologisch unspezifisch und meist fern von Heideggers Begriffsverständnis bleibt.
kes Schriften. Würzburg 1994, S. 13–16; Kim, Hyun-Jin: Wiederfindung der Sprache. Das neue Verhältnis des Sprach-Ichs zur Welt bei Peter Handke seit dem Werk ‚Der Chinese des Schmerzes‘. Freiburg i. Br. 2002; Tabah, Mireille: „Ethik und Ästhetik in Peter Handkes Existenzentwurf im Lichte von Heideggers Existentialontologie“. In: Denken, Schreiben (in) der Krise. Existentialismus und Literatur. Hg. v. Cornelia Blasberg u. Franz-Josef Deiters. St. Ingbert 2004 (Kunst und Gesellschaft. Studien zur Kultur im 20. und 21. Jahrhundert 2), S. 483–503; Romatka-Hort, Regine: Gehen. Schauen. Schreiben. Eine phänomenologische Theorie zur Auffassung von Wirklichkeit und Authentizität als Deutung von Peter Handkes ‚Mein Jahr in der Niemandsbucht‘. München 2004; Huber, Alexander: Versuch einer Ankunft. Peter Handkes Ästhetik der Differenz. Würzburg 2005 (Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft 531); Schmidt, Volker: Die Entwicklung der Sprachkritik im Werk von Peter Handke und Elfriede Jelinek. Eine Untersuchung anhand ausgewählter Prosatexte und Theaterstücke. Heidelberg 2008. 4 Vgl. Vollmer, Michael: Das gerechte Spiel. Sprache und Individualität bei Friedrich Nietzsche und Peter Handke. Würzburg 1995 (Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft 162). 5 Vgl. Saalmann, Dieter: „Subjektivität und gesellschaftliches Engagement. Rainer Maria Rilkes ‚Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge‘ und Peter Handkes ‚Die Stunde der wahren Empfindung‘“. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 57 (1983), S. 499–519; Marschall, Christine: Zum Problem der Wirklichkeit im Werk Peter Handkes. Untersuchungen mit Blick auf Rainer Maria Rilke. Bern, Stuttgart u. Wien 1995 (Sprache und Dichtung. Neue Folge 43); Kurz, Martina: Bild-Verdichtungen. Cézannes Realisation als poetisches Prinzip bei Rilke und Handke. Göttingen 2003.
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2 Handkes Beschreibungsproblem Für den Autor Peter Handke ist es bezeichnend, dass er nicht durch ein Werk, sondern durch eine poetologische Polemik bekannt wurde. 1966 warf der 24-jährige auf einer Tagung der Gruppe 47 in Princeton den versammelten Schriftstellern Konventionalität, Banalität und „Beschreibungsimpotenz“ vor. In einem Essay für die Zeitschrift konkret stellt er kurz darauf richtig, seine Kritik habe sich keineswegs gegen die literarische Beschreibung gerichtet. Im Gegenteil: Er halte die Beschreibung für das bevorzugte Mittel, „um zur Reflexion zu gelangen“.6 Gerade darum genügten ihm beschreibende Verfahren nicht, die unreflektiert eine „überkommene Form“ benutzen, „als wäre man ein Ersatzwissenschaftler“.7 Dabei konzentriert er sich ganz auf das Problem der Beschreibung von Dingen und erwähnt die handelnden Personen und ihre Geschichten, die üblicherweise im Zentrum der erzählenden Literatur stehen, eher am Rand. 1972 erklärt er offen, er könne „in der Literatur keine Geschichte mehr vertragen“.8 Die üblichen Handlungsschemata müssten als Klischees durchschaut werden, nur so könne die Literatur ihre Aufgabe erfüllen, „endgültig scheinende Weltbilder“ zu zerbrechen.9 Die traditionelle Theorie des Erzählens ordnete die Beschreibung der Dinge der Handlung unter, die Beschreibungen sollten das Handeln und Erleben der Figuren verständlich machen. Die Dinge fungierten als Mittel zum Handlungszweck, symbolisierten emotionale Zustände oder dienten der Kennzeichnung eines Milieus. Diese Ansicht, die Lessing in seinem Laokoon-Aufsatz begründet hatte, wurde 1936 von Georg Lukács in seinem Essay Beschreiben oder Erzählen10 eindrücklich aktualisiert. Er wandte sich gegen das Überhandnehmen des Beschreibens in der Gegenwartsliteratur und erhob gegen diese vermeintliche Fehlentwicklung das handlungszentrierte Erzählen im Stil von Balzac und Tolstoi zur Norm. Peter Handke vertritt die Gegenposition: Da das traditionelle Erzählen
6 Handke, Peter: „Zur Tagung der Gruppe 47 in den USA“. In: Ders.: Meine Ortstafeln. Meine Zeittafeln. 1967–2007. Frankfurt a. M. 2007, S. 47–52, Zitat S. 47. 7 Handke: „Tagung“. In: Ders.: Meine Ortstafeln, S. 47–52, Zitat S. 50. 8 Handke, Peter: „Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms“ [1972]. In: Ders.: Meine Ortstafeln, S. 41. Ähnlich äußert er sich 1987: „ich mag keine Geschichte erzählen. Dieses ganze Romanzeugs, das kann mir wirklich gestohlen bleiben, das ist eine Verirrung des 19. Jahrhunderts für mich.“ (Gamper, Herbert u. Peter Handke: Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen. Ein Gespräch. Zürich 1987, S. 41). 9 Handke: „Bewohner“. In: Ders: Meine Ortstafeln, S. 38. 10 Vgl. Lukács, Georg; „Beschreiben oder Erzählen“. In: Ders: Probleme des Realismus. Berlin 1955, S. 103–145.
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obsolet sei, rücke die zweckfreie Beschreibung von Dingen und „verdinglichten“ Handlungssequenzen in den Mittelpunkt.11 Damit steht er in einer literaturgeschichtlichen Tradition, die mindestens bis Flaubert zurückreicht, und der es nach Erich Auerbach darum geht, „den Akzent auf den beliebigen Vorgang zu legen, ihn nicht im Dienst eines planvollen Handlungszusammenhangs auszuwerten, sondern in sich selbst; wobei etwas ganz Neues und Elementares sichtbar wird: eben die Wirklichkeitsfülle und Lebenstiefe eines jeden Augenblicks, dem man sich absichtslos hingibt.“12 Die ersten Erzählungen Handkes in den 60er Jahren waren vor allem von der linear beschreibenden Darstellungsweise in Albert Camus’ Erzählung Der Fremde13 und vom „Ding- oder Antiroman“ des Nouveau Roman beeinflusst.14 Seiner Abneigung gegen das Erzählen von Handlungen entspricht auf sprachlicher Ebene das Fehlen von konsekutiven oder kausalen Subjunktionen und die Vorliebe für die additive Konjunktion „und“, die der Aufzählung eines bloßen Nebeneinanders oder Nacheinanders dient. Ideengeschichtlich hängt die Abkehr vom herkömmlichen Erzählen möglicherweise auch damit zusammen, dass die teleologisch ausgerichteten „großen Erzählungen“ der Geschichtsphilosophie als Deutungsfolie der Literatur unglaubwürdig geworden waren. Tatsächlich sind die Figuren in Handkes Büchern von Anfang an schwach konturiert, ihr Verhalten erscheint wenig motiviert und kontingent.15 Die Dinge, Gesten und Verhaltensweisen verlieren den Zusammenhang mit den beschriebenen Personen, und weil langfristige Ziele fehlen, entstehen kaum Spannungsbögen. An die Stelle der Handlung tritt die Beschreibung und mit ihr das Medium Sprache.16 Die Grundelemente dieser fiktionalen Welten heißen nicht Raum (Ort), Zeit und Handlung – wie in der traditionellen Poetik, die auf Aristoteles zurückgeht –, sondern Raum, Zeit und Sprache. Die Reflexion der Medien
11 Ohne Lukács zu erwähnen, notiert Handke am 17.7.1981: „Erzählen oder Beschreiben? Erzählen mit den Beschreibungen (durch B.) [als Beschreiben]“. (Handke, Peter: Notizbuch 026: April – September 1981. DLA Marbach, A:Handke). 12 Auerbach, Erich: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Tübingen 1946, S. 513. 13 Gamper u. Handke: Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen. Ein Gespräch, S. 94. 14 Vgl. Wellershoff, Irene: Innen und Außen. Wahrnehmung und Vorstellung bei Alain RobbeGrillet und Peter Handke. München 1980. 15 Vgl. beispielsweise Handkes Debüt-Roman Die Hornissen (Frankfurt a. M. 1966) sowie die „Prosatexte“ des Bandes Begrüßung des Aufsichtsrats (Salzburg 1967). 16 Auf die Affinitität von Beschreibung und Sprachexperiment verweist Drügh, Heinz: Ästhetik der Beschreibung. Poetische und kulturelle Energie deskriptiver Texte (1700–2000). Tübingen 2006.
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des dargestellten Geschehens verleiht der Prosa einen philosophischen Charakter. Handke vermeidet allerdings die Verengung der „konkreten“ Literatur, die nur noch die Sprache selbst als Thema gelten lässt, indem er sprachkritische Reflexionen an fiktionale Situationen bindet. Waren es zunächst Außenseiter, Kaspar-Hauser-Figuren oder emotional Traumatisierte, denen es nicht gelingt, sich auf die übliche Weise in der Welt der Dinge zu orientieren, fungieren seit seiner Amerika-Erzählung Der kurze Brief zum langen Abschied (1972) zunehmend autobiographisch inspirierte Künstlerfiguren als Subjekte der Wahrnehmung und Beschreibung. Als literarische Vorbilder für die Hinwendung zur handlungsarmen Beschreibung unspektakulärer Alltagsgegenstände nennt Handke unter anderen Adalbert Stifter, Hugo von Hofmannsthal und Rainer Maria Rilke, also Autoren, die zu Recht in Verbindung mit der phänomenologischen Philosophie seit 1900 gebracht werden. Bekanntlich korrespondierte Edmund Husserl mit Hofmannsthal, und Martin Heidegger stützte seine Thesen mit Zitaten aus Stifters und Rilkes Werken. Auch hier handelt es sich weniger um eine Abhängigkeit, sondern eher um eine Art Wahlverwandtschaft, um stellenweise Übereinstimmungen literarischer und philosophischer Entwicklungen, die innerhalb eines gemeinsamen kulturellen Umfelds ihrer eigenen Logik folgen.
3 Heideggers Ding-Begriffe Für Martin Heidegger ergab sich das philosophische Problem des Dings, das ihn als eine Form der Seinsfrage lebenslang beschäftigte, aus seiner Auseinandersetzung mit überlieferten Konzepten. In Sein und Zeit erörtert er zwei Arten von „Seiendem“, denen zwei Auffassungsweisen entsprechen. Im Alltag betrachtet man das Seiende im Licht von Gewohnheiten und bleibt dem „Zeug“, das „zuhanden“ ist, ohne Reflexion „verfallen“. Die moderne Wissenschaft dagegen beschreibt das Seiende, indem sie methodisch von praktischen Gesichtspunkten absieht und das „Ding“ (im Sinn Kants) als bloß „Vorhandenes“ auf mathematisch-ab strakte Größen reduziert. Aber was stellt Heidegger diesen beiden defizitären Auffassungen vom Seienden entgegen? Aus der Verfallenheit an das Zuhandene und von der Abstraktion des Vorhandenen könne sich der Einzelne nur lösen, indem er sich vom „Gerede“ des „Man“ zur „Eigentlichkeit“ emanzipiere. Wie sich dies auf die Erscheinungsweise des Seienden auswirkt, wird allerdings kaum explizit behandelt. Implizit entspricht dieser dritten Art, das Seiende zu betrachten, die Sprache des Autors Heidegger, die weder wissenschaftlich noch alltagspraktisch, sondern phänomenologisch zu nennen ist. Nach dem Erscheinen von Sein und Zeit beschäftigte ihn die Frage nach einem alternativen Verständnis des Seienden
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weiter. Seine „Kehre“ dreht sich nicht zuletzt um das Problem des Dings. Dabei spielt die Auseinandersetzung mit Kant eine wesentliche Rolle. In grober Vereinfachung lässt sich sein Perspektivwechsel folgendermaßen beschreiben: Während im Mittelpunkt von Sein und Zeit die zeitliche Analyse des Daseins stand, erarbeitet sich Heidegger schrittweise durch wiederholte Lektüren der Kritik der reinen Vernunft ein neues Verständnis des Seienden im Hinblick auf direktere Zugänge zum transzendenten Sein. In seiner Abhandlung Kant und das Problem der Metaphysik (1929) konzentriert er sich auf den Begriff der Einbildungskraft, 1935/36 stellt er mit seiner Kant-Vorlesung ausdrücklich Die Frage nach dem Ding. Zur gleichen Zeit erörtert er unter dem Titel Der Ursprung des Kunstwerks als Alternative zum naturwissenschaftlich betrachteten Ding die Seinsweise eines „Werks“.17 Von ihm ausgehend entwickelt er Anfang der fünfziger Jahre einen eigenen positiv konnotierten Begriff des Dings als Versammlungsstätte des „Gevierts“. Dazu ontologisiert er zentrale Elemente der Transzendentalphilosophie. Raum und Zeit, Kants Anschauungsformen der „transzendentalen Ästhetik“, fungieren jetzt als ontologische Bedingungen der Möglichkeit der Dinge und zugleich als Mittler zum transzendenten Sein (oder „Seyn“).18 An die Stelle von Kants „transzendentaler Logik“ (mit den Kategorien Substanz, Kausalität usw.) tritt eine ontologische Logik: Die „vorlogische“ Sprache, vor allem die des Dichtens und Denkens, erscheint als Voraussetzung für das „Wort“ im emphatischen Sinn. Wie Raum und Zeit verweist die Sprache auf das transzendente Sein.19 Ding und Wort gehören „in einer verhüllten, kaum bedachten und unausdenkbaren Weise“20 zueinander, weil sie auf denselben transzendenten Bezugspunkt ausgerichtet sind.
17 Vgl. Heidegger, Martin: „Der Ursprung des Kunstwerks“. In: Martin Heidegger Gesamtausgabe. I. Abteilung, Bd. 5. Holzwege. Hg. v. Hermann Heidegger, Friedrich-Wilhelm von Herrmann u. Brigitte Schillbach. Frankfurt a. M. 1977, S. 1–74, besonders den Abschnitt Das Ding und das Werk, S. 5–25. 18 Vgl. das Kapitel Der Zeit-Raum als der Ab-grund in: Heidegger, Martin: „Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)“. In: Martin Heidegger Gesamtausgabe. III. Abteilung, Bd. 65. Hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Frankfurt a. M. 1994, S. 371–388. 19 Vgl. Heidegger, Martin: „Brief über den Humanismus“. In: Martin Heidegger Gesamtausgabe. I. Abteilung, Bd. 9. Wegmarken. Hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Frankfurt a. M. 1977, S. 313–364: „Die Sprache ist so die Sprache des Seins, wie die Wolken die Wolken des Himmels sind.“ (ebd. S. 364). 20 Heidegger, Martin: „Das Wort“. In: Martin Heidegger Gesamtausgabe. I. Abteilung, Bd. 12. Unterwegs zur Sprache. Hg. v. Friedrich-Wilhelm. Frankfurt a. M. 1985, S. 205–226, Zitat S. 224.
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3.1 Notizbuch 1976: Pfefferminztee mit Heidegger Die täglichen Aufzeichnungen zwischen November 1975 und Juli 1990, mit denen Peter Handke 66 Notizbücher mit mehr als 10 000 Seiten füllte, enthalten vor allem Beschreibungsübungen. Der Autor nennt sie „Reportagen“ und „Sprachreflexe“ auf bestimmte zufällige „Bewußtseins-Ereignisse“, die er von „jeder Privatheit“ befreit habe.21 Diese Form kam ihm entgegen, denn hier entfällt der Zwang, eine zusammenhängende Geschichte zu erzählen.22 Für die Veröffentlichung der Journalbände traf er eine strenge Auswahl, der mehr als die Hälfte des Textes zum Opfer fiel, darunter nicht selten Zitate und Kommentare, die Hinweise auf seine Lektüren geben. Die erste Erwähnung Heideggers findet sich am 31. Mai 1976:23 Beim Geschmack des Pfefferminztees hatte ich gerade ein Erinnerungsbild von den KarlMay-Bildern vor 25 Jahren (steckten die in Pfefferminzbonbonrollen? Oder ist es der Papiergeschmack des Tees?) Dieser Nachmittag hier an dem Bahndamm mit dem hohen, glänzenden Gras, und das Licht, das durch das Caféterassendach schimmert – plötzlich habe ich aufgeschaut und bin endlich wieder einmal DIE WELT geworden, aufatmend erweitert Heidegger: „Vorbereitung der Bereitschaft des Sich-Offen-Haltens für die Ankunft oder das Ausbleiben des Gottes. Auch die Erfahrung dieses Ausbleibens ist nicht nichts, sondern die Befreiung des Menschen von der Verfallenheit an das Seiende.“ („Das andere Denken“)
Das Zitat stammt aus dem langen Interview mit Heidegger, das Der Spiegel kurz nach dessen Tod veröffentlichte. Handke las es am Erscheinungstag in einem Pariser Vorort-Café. Diese Umstände und die Tatsache, dass er nur einen Satz (nicht ganz wörtlich) wiedergibt, sprechen für die Zufälligkeit der Lektüre. Im Interview geht Heidegger mehrfach auf das Verhältnis von Literatur und Philosophie ein und benutzt in diesem Zusammenhang den Ausdruck „das andere Denken“. Gemeint ist – unter Berufung auf Hölderlin – jene Art von „Denken und Dichten“,24 das die erwähnte „Bereitschaft des Sich-Offen-Haltens“ vorbereiten könne.
21 Handke, Peter: Die Geschichte des Bleistifts. Frankfurt a. M. 1985, S 6. 22 In einem Interview bekennt Handke 1987, er frage sich „sehr oft, ob nicht die Form eines Notizbuchs {…} die bessere epische Entsprechung wäre als jede {…} Erzählung.“ (Gamper u. Handke: Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen. Ein Gespräch, S. 96). 23 Handke, Peter: Notizbuch 005: Mai – Juni 1976. DLA Marbach, A:Handke, S. 83 f. Die Veröffentlichung aus den Notizbüchern erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Peter Handke. 24 Vgl. Heidegger, Martin: „Spiegel-Gespräch mit Martin Heidegger“. In: Martin Heidegger Gesamtausgabe. I. Abteilung, Bd. 16. Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges 1910–1976. Hg. v. Hermann Heidegger. Frankfurt a. M. 2000, S. 652–683, Zitat S. 671.
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Abb. 1: Peter Handke, Notizbuch 5, Mai–Juni 1976. Foto: DLA Marbach
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Der von Handke zitierte Satz lässt sich durchaus als eine Stellungnahme verstehen, denn er relativiert Heideggers Formulierung „Nur noch ein Gott kann uns retten“, die Der Spiegel als Überschrift ausgewählt hatte. Dagegen betont Handke, dass bereits das Wissen vom „Ausbleiben des Gottes“ (von ihm doppelt unterstrichen) befreiend wirke. Der Hinweis auf eine transzendente Dimension genüge, um den Menschen aus dem unreflektierten Umgang mit den Dingen zu befreien. In diesem Gedanken sah Handke einen Beitrag zu seinem erzählerischen Prob lem, ob und wie die Dinge sich ohne Rücksicht auf Handlungszusammenhänge beschreiben lassen. Heidegger suchte eine philosophische Antwort auf die Frage, wie man das ‚Verfallensein‘, den Zusammenhang von Handlung und Ding, auflösen könne. In Sein und Zeit sollte dies durch die Besinnung des Menschen auf seine Endlichkeit geschehen. Diese Erlösungsfunktion übernimmt in seiner Spätphilosophie das „andere Denken“, das auf Gelassenheit und der Einsicht in die Unverfügbarkeit des Seins beruht. Die Dinge verlieren ihre praktischen Bezüge und werden mit einer neuen, schwer zu fassenden Bedeutung aufgeladen. In der kurzen Passage, die dem Heidegger-Zitat im Notizbuch vorausgeht, beschreibt Handke einen Zustand des Offenseins. An Proust erinnernd löst ein Geschmackserlebnis Erinnerungen aus. Aber weder sie noch die Details der Umgebung können das plötzliche Erlebnis der Weltoffenheit erklären, vielmehr sind die Ding-Beschreibungen bereits ihr Ausdruck. Die freischwebende, nicht okkupierte Aufmerksamkeit nimmt vergangene und gegenwärtige Dinge zugleich wahr und reflektiert dabei das Erstaunliche ihrer Existenz.
3.2 Notizbuch 1978: Dinge im Raum In Handkes Erzählung Langsame Heimkehr (Frankfurt am Main 1979) sucht die Hauptfigur Valentin Sorger einen grundsätzlich neuen Bezug zur Welt, indem er Landschaftsformen zeichnet und beschreibt. Als Geologe ist er mit den Dimensionen von Raum und Zeit vertraut, allerdings wird ihm die Sprache seiner Wissenschaft zunehmend problematisch, und schließlich lehnt er ihre „interesselose“ Darstellungsmethode als unzulänglich ab. Der objektivierenden Fotografie zieht er die eigenhändige Zeichnung vor,25 die geologische Begrifflichkeit ersetzt er durch „philosophische Phantasie“,26 die die Gegenstände bewusst „ohne die
25 Handke, Peter: Langsame Heimkehr. Frankfurt a. M. 1979, S. 47. 26 Handke: Langsame Heimkehr, S. 63.
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geforderte Nüchternheit“27 beschreibt. Mit der von ihm geplanten Abhandlung Über Räume will er ausdrücklich „die Übereinkünfte seiner Wissenschaft ver lassen“.28 Nicht nur die von ihm verwendete Kategorie des „Schönen“29 deutet darauf hin, dass er sich vom Wissenschaftler zum Künstler wandelt. Um diese Erzählung zu schreiben, reiste Peter Handke 1978 an einen ihrer Schauplätze nach Alaska. Im September befand er sich in der 4000-EinwohnerSiedlung Nome südlich des Polarkreises, direkt an der Beringsee, nahe der Grenze zwischen den USA und der UdSSR. In dieser menschenleeren Gegend las er am 25. September Heideggers Aufsatz Bauen Wohnen Denken, auf den ihn sein Freund Alfred Kollertisch hingewiesen hatte.30 Handkes Lektüreaufzeichnungen, die bisher nur zum kleinen Teil veröffentlicht wurden,31 lauten im handschriftlichen Original folgendermaßen:32 „Die Art, wie … die Weise, nach …“ (Heidegger) 33 S{orger}34 wohnt „im Feld“, in der Landschaft, in der Morphologie „denn bei den wesentlichen Worten der Sprache fällt ihr eigentlich Gesagtes zugunsten des vordergründig Gemeinten leicht in die Vergessenheit.“35 SCHONEN Schwarze Erde auf dem Friedhof und vor dem neuen Hochhaus wohnendes Schonen (: „schonendes Wohnen“) „In meiner Gegenwart“
27 Handke: Langsame Heimkehr, S. 83. 28 Handke: Langsame Heimkehr, S. 112. 29 Handke: Langsame Heimkehr, S. 83. 30 Das geht aus einem Brief von Handke hervor: „Lieber Fredy, ich bin Dir dankbar, daß Du auf unserem Weg den Aufsatz von Heidegger übers Wohnen erwähnt hast; hier habe ich ihn gelesen fast wie ein Evangelium. Vor den Häusern ist die Bering-See, stürmisch und kalt.“ (Handke, Peter u. Alfred Kolleritsch: Schönheit ist erste Bürgerpflicht. Briefwechsel. Salzburg, Wien 2008, S. 115). 31 Publiziert wurden nur die beiden längeren Heidegger-Zitate „Im Retten der Erde {…} des Gevierts“ und „Allein die Dinge {…} ein Bauen“ (Handke: Geschichte des Bleistifts, S. 161). 32 Handke, Peter: Notizbuch 016: Salzburg Juli 1978, Alaska September 1978. DLA Marbach, A:Handke, S. 50 f. 33 „Das alte Wort bauen, zu dem das ‚bin‘ gehört, antwortet: ‚ich bin‘, ‚du bist‘ besagt: ich wohne, du wohnst. Die Art, wie du bist und ich bin, die Weise, nach der wir Menschen auf der Erde sind, ist das Baun, das Wohnen.“ (Heidegger, Martin: „Bauen Wohnen Denken“. In: Martin Heidegger Gesamtausgabe. I. Abteilung, Bd. 7. Vorträge und Aufsätze. Hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Frankfurt a. M. 2000, S. 145–164, Zitat S. 149). 34 Ergänzungen in geschweiften Klammern {} stammen vom Herausgeber. 35 Vgl. Heidegger: „Bauen Wohnen Denken“. In: Heidegger Gesamtausgabe. Hg. v. von Herrmann, S. 150.
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„Die Sterblichen sind im Geviert, indem sie wohnen … Die Sterblichen wohnen in der Weise, daß sie das Geviert in sein Wesen schonen. Demgemäß ist das wohnende Schonen vierfältig.“36 Nach einiger Zeit glaubte S{orger} ihm plötzlich; er (H{eidegger}) war der erste seit langem, dessen Sprache er glaubte „Im Retten der Erde, im Empfangen des Himmels, im Erwarten der Göttlichen, im Geleiten der Sterblichen ereignet sich das Wohnen als das vierfältige Schonen des Gevierts.“37 „Der Aufenthalt bei den Dingen ist die einzige Weise, wie sich der vierfältige Aufenthalt im Geviert jeweils einheitlich vollbringt.“38 „Allein die Dinge selbst bergen das Geviert nur dann, wenn sie selber als Dinge in ihrem Wesen gelassen werden. Wie geschieht das? Dadurch, daß die Sterblichen die wachstümlichen Dinge hegen und pflegen, daß sie Dinge, die nicht wachsen, eigens errichten. Das Pflegen und das Errichten ist das Bauen im engeren Sinne. Das Wohnen ist, insofern es das Geviert in die Dinge verwahrt, als dieses Verwahren ein Bauen.“39
Drei Seiten später folgen weitere Exzerpte aus Heideggers Aufsatz:40 „Die Brücke“ (R.) [Auf der Brücke] Oft fühlte er sich, durch seinen reflexhaften Sprachsuchzwang, abgetrennt von den Erscheinungen; deswegen mußte er sich in diese, nach dem ersten Blick, erst wieder langwierig vertiefen (gilt auch für den Geologen S{orger}, der sogleich auf die Gesetzmäßigkeiten in einem Anblick aus ist): die Straße von Nome in der Nacht, Kabel wie Zweige nicht vorhandener Bäume, Buchten von Plastikplanen vor Schaufenstern, die rotgelb beleuchtet sind und aus dem Dunkel glimmen, während hinter den Häusern die arktische See rauscht, Wasserfall; die Spalten zwischen den Häusern mit den Abfällen, sehr schnell, am Ende der braune Meeresschaum, diese ½ m breiten Spalten als Raum der äußersten Verlorenheit: furchtbare Enge, Kälte, Nässe, Schmutzigkeit, Finsternis, und am Ende furchtbare Weite, das Meer mit der Brandung „Sie (die Brücke) ist ein Ding, versammelt das Geviert, versammelt jedoch in der Weise, daß sie dem G{eviert} eine Stätte verstattet. Aus dieser Stätte bestimmen sich Plätze und Wege, durch die ein Raum eingeräumt wird. Dinge, die in solcher Art Orte sind, verstatten jeweils erst Räume … Ein R{aum} ist etwas Eingeräumtes, Freigegebenes, nämlich in eine Grenze πέρας. Die Grenze ist nicht das, wobei
36 Vgl. Heidegger: „Bauen Wohnen Denken“. In: Heidegger Gesamtausgabe. Hg. v. Herrmann, S. 152. 37 Vgl. Heidegger: „Bauen Wohnen Denken“. In: Heidegger Gesamtausgabe. Hg. v. Herrmann, S. 153. 38 Vgl. Heidegger: „Bauen Wohnen Denken“. In: Heidegger Gesamtausgabe. Hg. v. Herrmann, S. 153. 39 Vgl. Heidegger: „Bauen Wohnen Denken“. In: Heidegger Gesamtausgabe. Hg. v. Herrmann, S. 153. 40 Handke, Peter: Notizbuch 016: Salzburg Juli 1978, Alaska September 1978. DLA Marbach, A:Handke, S. 54–56; publiziert wurde lediglich ein Auszug aus dem Heidegger-Zitat („Die Grenze {…} aus ‚dem‘ Raum“; vgl. Handke: Geschichte des Bleistifts, S. 163).
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etwas aufhört, sondern … jenes, von woher etwas sein Wesen beginnt … Demnach empfangen die Räume ihr Wesen aus Orten und nicht aus ‚dem‘ Raum.“41 „Wenn wir jetzt – wir alle – von hier aus an die alte Brücke in H{eidelberg} denken, dann ist das Hindenken zu jenem Ort kein bloßes Erlebnis in den hier anwesenden Personen, vielmehr gehört es zum Wesen unseres Denkens an die genannte Brücke, daß dieses Denken in sich die Ferne zu diesem Ort durchsteht … Die Sterblichen sind, das sagt: wohnend durchstehen sie Räume aufgrund ihres Aufenthalts bei Dingen und Orten. Und nur weil die Sterblichen ihrem Wesen gemäß Räume durchstehen, können sie Räume durchgehen. Doch beim Gehen geben wir jenes Stehen nicht auf. Vielmehr gehen wir stets so durch Räume, daß wir dabei schon ausstehen, indem wir uns ständig bei nahen und fernen Orten und Dingen aufhalten … Ich bin niemals nur hier als dieser abgekapselte Leib, sondern ich bin dort, das heißt den Raum schon durchstehend, und nur so kann ich ihn durchgehen.“42 „Das Bauen errichtet Orte, die dem Geviert eine Stätte einräumen“43 „Die Bauten verwahren das Geviert. Sie sind Dinge, die auf ihre Weise das Geviert schonen. Das Geviert zu schonen, die Erde zu retten, den Himmel zu empfangen, die Göttlichen zu erwarten, die Sterblichen zu geleiten, dieses vierfältige Schonen ist das einfache Wesen des Wohnens.“44 „Nur wenn wir das Wohnen vermögen, können wir bauen.“45 „Die eigentliche Not des Wohnens beruht darin, daß die Sterblichen das Wesen des Wohnens immer erst wieder suchen, daß sie das Wohnen erst lernen müssen.“46 „Sobald der Mensch jedoch die Heimatlosigkeit bedenkt, ist sie bereits kein Elend mehr.“47 „Sind Sie hier (in N{ome}), weil Sie schon überall gewesen sind?“ (Lachen des Fragers)
Heidegger beschreibt das Verhältnis des Menschen zu den Dingen mit dem Begriff des „Wohnens“. Seine Erläuterungen laufen auf die Forderung hinaus, die Dinge jenseits ihres praktischen Werts und wissenschaftlicher Abstraktion wahrzunehmen, zu beschreiben und zu „schonen“, das heißt sie in ihrem „Wesen“ zu „be
41 Vgl. Heidegger: „Bauen Wohnen Denken“. In: Heidegger Gesamtausgabe. Hg. v. S. 156. 42 Vgl. Heidegger: „Bauen Wohnen Denken“. In: Heidegger Gesamtausgabe. Hg. v. S. 159. 43 Vgl. Heidegger: „Bauen Wohnen Denken“. In: Heidegger Gesamtausgabe. Hg. v. S. 161. 44 Vgl. Heidegger: „Bauen Wohnen Denken“. In: Heidegger Gesamtausgabe. Hg. v. S. 161. 45 Vgl. Heidegger: „Bauen Wohnen Denken“. In: Heidegger Gesamtausgabe. Hg. v. S. 162. 46 Vgl. Heidegger: „Bauen Wohnen Denken“. In: Heidegger Gesamtausgabe. Hg. v. S. 163. 47 Vgl. Heidegger: „Bauen Wohnen Denken“. In: Heidegger Gesamtausgabe. Hg. v. S. 163 f.
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lassen“.48 Das „Wohnen“ wird als „Aufenthalt bei den Dingen“49 definiert – an anderer Stelle setzt er „Aufenthalt“ und „Ethos“ unter Berufung auf Heraklit ausdrücklich gleich.50 Erst durch eine bestimmte Art des Umgangs wird das Seiende zum „Ding“ in Heideggers Sinn, nämlich dann, wenn der Betrachter in ihm das „Geviert“, die Gesamtheit von Erde, Himmel, Sterblichen und Göttlichen, versammelt sieht. Während die Wissenschaft ihre Gegenstände auf neutrale und gleichförmige Raum- und Zeit-Stellen festlegt, prägen Heideggers Dinge den sie umgebenden Raum. Diese Überlegungen dürften für Handkes Erzählprojekt aus mehreren Gründen von Interesse gewesen sein. „Himmel“ und „Erde“, die physische Hälfte des „Gevierts“, bezeichnen die Grundbestandteile der Landschaft, um deren Darstellbarkeit es dem Autor und seiner Hauptfigur geht.51 Die Erdoberfläche ist die Grenze zwischen Erde und Himmel, erst im Sonnenlicht werden die Landschaftsformen sichtbar. Landschaftsgeschichtlich betrachtet verweisen Erde und Himmel auf die beiden geologischen Grundkräfte: Die exogenen Kräfte (Verwitterung und so weiter) haben ihren Ursprung letztlich in der Sonnenstrahlung, während die endogenen Kräften (Vulkanismus und so weiter) aus dem Erdinneren stammen.52 Handkes Hauptfigur betreibt die Beschreibung der Landschaft nicht als Wissenschaftler, sondern auf der Suche nach einem „Heil“,53 das er an ein neues Verständnis von Raum und Zeit bindet. (Dementsprechend erwog der Autor als alternativen Titel Die Zeit und die Räume.)54 Seine Beschreibung räumlicher Formen versteht er als „Raumeroberung“,55 die der drohenden Melancholie des „Raumverbots“56 beziehungsweise „Raumentzugs“57 entgegenarbeitet. Die Erfah-
48 Heidegger: „Bauen Wohnen Denken“. In: Heidegger Gesamtausgabe. Hg. v. Herrmann, S. 151. 49 Heidegger: „Bauen Wohnen Denken“. In: Heidegger Gesamtausgabe. Hg. v. Herrmann, S. 153. 50 „ήϑος bedeutet Aufenthalt, Ort des Wohnens“ (Heidegger: Brief über den Humanismus, S. 354). 51 Vgl. auch Parry, Christoph: Peter Handke’s Landscapes of Discourse: An Exploration of Narrative and Cultural Space. Riverside, California 2003 (Studies in Austrian Literature, Culture, and Thought). 52 Vgl. beispielsweise: von Bülow, Kurd: Geologie für Jedermann. Stuttgart 1954, S. 37, 108. 53 Handke: Langsame Heimkehr, S. 9. 54 Handke, Peter: Notizbuch 016: Salzburg Juli 1978, Alaska September 1978. DLA Marbach, A:Handke, Vorsatz. 55 Handke: Langsame Heimkehr, S. 180. 56 Handke: Langsame Heimkehr, S. 138. 57 Handke: Langsame Heimkehr, S. 146.
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rung, dass „jedes Ding seinen Platz in einer neuen Raumtiefe“58 hat und sich ein „Genuß am bloßen Wohnen“ einstellt,59 ruft Allheits- und Freiheitsvorstellungen hervor. Mit dem „360°-Gefühl“ der „Geistesgegenwart“60 verbindet sich das Erlebnis einer Transzendenz: „im Glücksfall aber, in der seligen Erschöpfung, fügten sich alle seine Räume, die einzelnen, neueroberten mit den früheren, zu einer Himmel und Erde umspannenden Kuppel zusammen, als ein nicht nur privates, sondern auch den anderen sich öffnendes Heiligtum“.61 Ebenso bemüht sich Handkes Hauptfigur um ein „Neubegreifen der Zeit“. Am Ende bedeutet sie ihm nicht mehr „Verlassenheit und Zugrundegehen, sondern Vereinigung und Geborgenheit; und einen hellen Moment lang {…} stellte er sich die Zeit als einen ‚Gott‘ vor, der ‚gut‘ war“. Und sofort betont er die Verbundenheit von Transzendenz und Sprache: „Ja, er hatte das Wort, und die Zeit wurde ein Licht“.62 Wie bei Heidegger strukturieren in Handkes Erzählung bestimmte, sonst unbeachtete Dinge den sie umgebenden Raum: Das war auch sein Ausgangspunkt: daß sich, einmal, dem Bewußtsein in jedem beliebigen Landstrich, wenn es nur die Zeit hatte, sich mit ihm zu verbinden, eigentümliche Räume auftaten, und daß, vor allem, diese Räume nicht von den gleich augenfälligen, landschaftsbeherrschenden, sondern von den ganz und gar unscheinbaren, mit keinem wissenschaftlichen Scharfblick wahrnehmbaren Elementen geschaffen wurde {…}.63
In einem „Erdbebenpark“ an der Atlantikküste erscheint Sorger eine gewöhnliche „Erdstelle“, die das Beben an die Erdoberfläche beförderte und die daher Zeit aufzubewahren scheint, plötzlich als ein raumschaffendes und gewissermaßen „heiliges“ Ding. Beim Zeichnen schieben sich – ähnlich wie bei Heideggers „Geviert“ – verschiedene Seinsbereiche ineinander: Der „formlose Lehmhaufen“ verwandelt sich in eine Fratze, die an eine indianische Tanzmaske erinnert: „in einem einzigen Moment erlebte Sorger das Erdbeben und den menschlichen Erdbeben-Tanz“.64
58 Handke: Langsame Heimkehr, S. 143. – Martin Seel wählt Handkes Erzählung Abwesenheit (1987) als Hauptbeispiel für die Erörterung der „Raumkontemplation“ (Seel, Martin: Eine Ästhetik der Natur. Frankfurt a. M. 1996, S. 55 f., 65, 76, 84, 96, 148 f.). 59 Handke: Langsame Heimkehr, S. 63. 60 Handke, Peter: Notizbuch 019: Februar – April 1979. DLA Marbach, A:Handke, S. 107. 61 Handke: Langsame Heimkehr, S. 15. 62 Handke: Langsame Heimkehr, S. 173. 1981 notiert er: „Raum und Zeit vollständig, voll zur Verfügung – das ist Gott, alles andere ist fürchterliches, beengendes, einkerkerndes Menschenunwesen“. (Handke, Peter: Notizbuch 031: August – Dezember 1982. DLA Marbach, A:Handke, S. 81). 63 Handke: Langsame Heimkehr, S. 112 f. 64 Handke: Langsame Heimkehr, S. 117.
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Aber kann man hier tatsächlich von einer Parallele sprechen? Beschreibt Handke beziehungsweise seine Figur nicht ausdrücklich Naturdinge, während es Heidegger um hergestellte Dinge geht? Der Einwand lässt sich entkräften, wenn man bedenkt, dass die natürlichen Dinge in Handkes Erzählung nur in der Form von Beschreibungen (oder Zeichnungen) erscheinen, und das sind offensichtlich hergestellte Dinge. Das Beschreiben ist neben dem „Pflegen“ und „Errichten“ eine weitere Weise des „Bauens“. Diesen Gedanken entwickelte Heidegger 1951 anhand einer Hölderlinschen Wendung in seinem Vortrag „… dichterisch wohnet der Mensch …“. Dort heißt es: „Dichten ist, als Wohnenlassen, ein Bauen“. Das setze allerdings den „Zuspruch der Sprache“ voraus; ihr gegenüber sei die Dichtung ein „Entsprechen“.65 „Nach einiger Zeit glaubte S{orger} ihm plötzlich; er (H{eidegger}) war der erste seit langem, dessen Sprache er glaubte“: Dieser Satz deutet darauf hin, dass Handke seine Hauptfigur als Heidegger-Leser darstellen wollte. Warum hat er diese Idee nicht realisiert und ihre Spuren bei der Veröffentlichung des Journalbandes unterdrückt?66 Mangelte ihm schließlich doch der Glaube an Heideggers Sprache? Oder lag es auch an dessen Verhalten im Dritten Reich? Dafür spricht, dass Handke ohnedies Bedenken hatte, mit dem Thema seiner Erzählung in die Nähe der nationalsozialistischen Ideologie gerückt zu werden, wie eine (bisher unveröffentlichte) Bemerkung im Notizbuch vom 13. Dezember 1978 belegt: Es ist schon wirklich ein furchtbares Problem der Historie in der Geschichte, die ich schreibe(n möchte): da diese vom Fähigwerden, vom Vollkommenen, Reinen usw. handeln soll, muß sie in Konflikt mit der Historie (3. Reich) kommen, wo dies wie für immer verschandelt wurde: Macht, Fähigkeit, Kraft, Ehe, Liebe, Natur und so weiter, das ist es, was mich beim Schreiben so oft mit GRAUEN erfüllt.67
In der Endfassung der Erzählung wird anstelle von Heidegger auf die Naturphilosophie von Lukrez verwiesen.68 In Die Lehre der Sainte-Victoire, dem zweiten Teil der Tetralogie, erscheint als Leitfigur ein namenloser Philosoph – gemeint ist jedoch nicht Heidegger, sondern Spinoza.
65 Heidegger, Martin: „‚… dichterisch wohnet der Mensch …‘“. In: Martin Heidegger Gesamtausgabe. I. Abteilung, Bd. 7. Vorträge und Aufsätze. Hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Frankfurt a. M. 2000, S. 189–210, Zitat S. 193 f. 66 Im Druck heißt es: „(Und nach einiger Zeit glaubt der Leser dieser Sprache)“ (Handke: Geschichte des Bleistifts, S. 161). 67 Handke, Peter: Notizbuch 018: November 1978 – Februar 1979. DLA Marbach, A:Handke, S. 47. 68 Handke: Langsame Heimkehr, S. 155.
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Abb. 3: Peter Handke, Notizbuch 20, April – Juli 1979. Foto: DLA Marbach
3.3 Notizbuch 1979: Auftrag Unauffälligkeit Anfang Juni 1979 – Handke befindet sich in Berlin – taucht Heideggers Name in den Notizbüchern erneut auf; diesmal zitiert Handke aus den Aufsätzen Wer ist Nietzsches Zarathustra? und „… dichterisch wohnet der Mensch …“, die im Sammelband Vorträge und Aufsätze enthalten sind, in dem er ein Jahr zuvor den Aufsatz Bauen Wohnen Denken gelesen hatte. Erneut geht es Handke um das Verhältnis von Dichtung, Philosophie und Wissenschaft. Nietzsche, mit dem er sich intensiv auseinandersetzte, erscheint als Inbegriff eines poetischen Philosophierens jenseits der Wissenschaft. Handke exzerpierte folgende Heidegger-Stellen: 69 „Allein der Lehrer weiß, daß, was er lehrt, ein Gesicht bleibt und ein Rätsel. In diesem nachdenklichen Wissen harrt er aus. Wir Heutigen sind durch die eigentümliche Vorherrschaft der neuzeitlichen Wissenschaften in den seltsamen Irrtum verstrickt, der meint, das Wissen
69 Handke, Peter: Notizbuch 020: April – Juli 1979. DLA Marbach, A:Handke, S. 85–89, Eintrag vom 4.6.1979; nur zum Teil publiziert in: Handke: Geschichte des Bleistifts, S. 225 f.
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lasse sich aus der Wissenschaft gewinnen … Aber das Einzige, was jeweils ein Denker zu sagen vermag …, läßt sich nur fragend-denkend zu Gesicht bringen …“ (Heidegger über Zarath.)70 „Im Grunde gilt … von jedem wesentlichen Gedanken jedes Denkers: Gesichtetes, aber Rätsel – frag-würdig“71 „Die Geschäftigkeit des Widerlegenwollens gelangt aber nie auf den Weg eines Denkers“ (Sie gehört in jene Kleingeisterei, deren Auslassungen die Öffentlichkeit zu ihrer Unterhaltung bedarf)72 Ich glaube, mein Auftrag ist die Unauffälligkeit (auch der Sprache) [: Philosoph] Phantasien, zur Moral der Philosophie geläutert (so müßte „Die Wiederholung“ funk tionieren)73 „Das Maß besteht in der Weise, wie der unbekannt bleibende Gott als dieser durch den Himmel offenbar ist“ (über Hölderlin)74 {…} Sicher: Dichten als das Maßnehmen zwischen Erde und Himmel; wie aber dabei selbst (als Selbst) nicht wahnsinnig werden oder anders zugrundegehen? (Heute wäre ich fast geplatzt)75
Wer poetische Phantasie mit der „Moral der Philosophie“ verbinden möchte, zielt weniger auf Unterhaltung als auf Wahrheit. Wie ernst Handke diesen Anspruch nimmt, zeigt die Tatsache, dass er sich implizit mit Hölderlin vergleicht. Damit entfernt er sich bewusst vom Hauptstrom der zeitgenössischen Literatur; sein Ideal der „Unauffälligkeit“ richtet sich dementsprechend gegen „Geschäftigkeit“ und „Öffentlichkeit“.
70 Vgl. Heidegger, Martin: „Wer ist Nietzsches Zarathustra?“. In: Martin Heidegger Gesamtausgabe. I. Abteilung, Bd. 7. Vorträge und Aufsätze. Hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Frankfurt a. M. 2000, S. 99–126, Zitat S. 117. 71 Handke, Peter: Notizbuch 020: April – Juli 1979. DLA Marbach, A:Handke, S. 86, Eintrag vom 6.6.1979. Vgl. Heidegger: „Wer ist Nietzsches Zarathustra?“. In: Heidegger Gesamtausgabe. Hg. v. Herrmann, S. 118. 72 Vgl. Heidegger: „Wer ist Nietzsches Zarathustra?“. In: Heidegger Gesamtausgabe. Hg. v. Herrmann, S. 119 (Der Zusatz in Klammern stammt ebenfalls von Heidegger). 73 Gemeint ist die Erzählung Die Wiederholung (Frankfurt a. M. 1986). 74 Vgl. Heidegger: „‚… dichterisch wohnet der Mensch …‘“. In: Heidegger Gesamtausgabe. Hg. v. Herrmann, S. 201. 75 Vgl. Heidegger: „‚… dichterisch wohnet der Mensch …‘“. In: Heidegger Gesamtausgabe. Hg. v. Herrmann, S. 202.
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Abb. 4: Peter Handke, Notizbuch 22, November 1979 – Oktober 1980. Foto: DLA Marbach
3.4 Notizbuch 1979: Ausgestreckt in Delphi Am 12. November 1979 bezeugt das Notizbuch ausnahmsweise die Lektüre von Sekundärliteratur. Handke las an diesem Tag einen kurzen Aufsatz von Werner Marx über Sein und Zeit in der Neuen Zürcher Zeitung.76 Seine Exzerpte verraten, dass er mit Heideggers frühem Hauptwerk wenig vertraut war – offenbar konnte er mit dessen späterer Philosophie sehr viel mehr anfangen. Die (bisher unveröffentlichte) Passage aus dem Notizbuch lässt wieder einmal sein poetische Ver-
76 Marx, Werner: „In-der-Welt-Sein. Martin Heideggers ‚Sein und Zeit‘“. In: Literatur und Kunst. Beilage zur Neuen Zürcher Zeitung vom 10./11.11.1979. S. 65 f. – In dieser Beilage wurden auch folgende philosophische Werke vorgestellt, die Handke nicht erwähnt: Husserls Logische Untersuchungen, Adorno/Horkheimers Dialektik der Aufklärung, Sartres L’être et le néant, Wittgensteins Logische Untersuchungen, Plessners Die Stufen des Organischen und der Mensch und Blochs Vom Geist der Utopie.
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fahren erkennen: Durch Auswahl und Formulierung setzt er Dinge, Zitate und Gedanken, die der Tag zufällig zusammenbrachte, zwanglos miteinander in Beziehung:77 Ich lese „Geworfenheit“ und sehe mich im Gras des Stadions von Delphi liegen Sorge: „Einheit von Existenz, Verfallensein und Faktizität“ (F. = „Geworfenheit“)78 „Es bedarf keines umständlichen Beweises dafür, daß ein Philosophieren, das von dem Sinn der cartesischen Substanz her, der Dinge Vorhandenheit, menschliches Sein zu bestimmen versucht, die Phänomene der Endlichkeit, der Angst und des Todes nicht sachentsprechend zu denken vermag, daß Heidegger sie nur dadurch zur Sprache bringen konnte, daß er diese Kategorien überwand“ (W. Marx)79 Blätterscharen auf den Schnee fallend und das Licht des Sterbens (J. Winkler) Dasein als „erstrecktes Sichausstrecken“: geschichtlich80
Das suggestive Bild des liegenden Autors im delphischen Stadion81 veranschaulicht nicht ohne Ironie Heideggers Begriff der „Geworfenheit“. Wenn Handke mit Marx und Heidegger betont, weder die Wissenschaft noch die herkömmliche Philosophie könnten Phänomene der „Endlichkeit, der Angst und des Todes“ angemessen ausdrücken, sieht er hier eine Aufgabe der Literatur, wie das unmittelbar anschließende Zitat von Josef Winkler zeigt. Im folgenden Satz wechselt er wieder zu Sein und Zeit. Während Heidegger das „Geschehen des Daseins“ ein „erstrecktes Sicherstrecken“ nennt – wie Marx korrekt zitiert –, verwandelt Handke das Wort zu einem „Sichausstrecken“. Damit gibt er Heideggers neutralem Raumbegriff den Sinn einer Entspannung und schlägt den Bogen zurück zum Bild des liegenden Dichters in Delphi. Sein „Sichausstrecken“ enthält die „Geworfenheit“, aber mehr noch die „Gelassenheit“, das Ideal des späten Heidegger.
77 Handke, Peter: Notizbuch 022: November 1979 – Oktober 1980. DLA Marbach, A:Handke, S. 8 f. 78 Marx: Martin Heideggers ‚Sein und Zeit‘, S. 65. 79 Marx: Martin Heideggers ‚Sein und Zeit‘, S. 65 (Marx spricht von „Dingvorhandenheit“.). 80 „Als ‚Auf-sich-zu-Kommen‘ und ‚Auf-sich-Zurückkommen‘, also als Entwurf und Geworfenheit, ist das Dasein ein ‚erstrecktes Sicherstrecken‘ und insofern geschichtlich.“ (Marx: Martin Heideggers ‚Sein und Zeit‘, S. 65; vgl. dazu Heidegger, Martin: „Sein und Zeit“. In: Martin Heidegger Gesamtausgabe. I. Abteilung, Bd. 2. Hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Frankfurt a. M. 1977, S. 495). 81 Handke befand sich am 12.11.1979 in Salzburg. Das Stadion von Delphi kannte er vermutlich von früheren Reisen, es wird auch in seinem Buch Die Lehre der Sainte-Victoire erwähnt, an dem er Ende 1979 arbeitete (vgl. Handke, Peter: Die Lehre der Sainte-Victoire. Frankfurt a. M. 1980, S. 36 f.).
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3.5 Notizbuch 1982: Lob der Leere Der nächste Hinweis auf Heidegger findet sich erst zwei Jahre später, am 24. Oktober 1982:82 „Sein als die Leere und der Reichtum“ (Heidegger)83 [„Das Sein ist zumal das Leerste und das Reichste, zumal das Allgemeinste und das Einzigste, zumal das Verständlichste und allem Begriff sich Widersetzende, zumal das Gebrauchteste und doch erst Ankünftige, zumal das Verläßlichste und das Abgründigste, zumal das Vergessenste und das Erinnerndste, zumal das Gesagteste und das Verschwiegenste“]84 „Die Dinge sind Zeiger“, sagte der Vortragende im Traum „Der Töpfer … gestaltet (im Krug) die Leere.“ (also bin ich Töpfer)85 „WAS IST, DIENT ZUM BESITZ WAS NICHT IST, DIENT ZUM WERK“ (11. Spruch des Tao-Te-King: Wie konnte ich ihn nur überlesen?)
Hier kombiniert Handke zwei Heidegger-Passagen aus verschiedenen Texten mit einer kurzen Traumszene. Wie sein gestrichener Kommentar zeigt, bezieht er die Ausführungen über die Leere direkt auf seine schriftstellerische Arbeit. Dieser Zusammenhang bedarf einer kurzen Erläuterung. Bereits in seiner Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik? beschreibt Heidegger die Erfahrung des Nichts, die der Wissenschaft verschlossen bleibe, als einen bevorzugten Weg, das „Sein im Ganzen“ und damit die Transzendenz des Seins zu erfahren. In seinen späteren Schriften erörtert er immer wieder verschiedene Formen des Nichts: die Leere des Raums („Lichtung“), die Leere der Zeit („Langeweile“) und die Leere der Sprache („Schweigen“). Damit bringt er die (nicht-)seienden Dinge beziehungsweise Worte in die Schwebe der Möglichkeitsform: Alles könnte anders sein, als es ist. Während Heidegger in Sein und Zeit das „Nichtig sein“ als „Freisein des Daseins für seine existentiellen Möglichkeiten“86 verstand,
82 Handke, Peter: Notizbuch 031: August – Dezember 1982. DLA Marbach, A:Handke, S. 91. 83 Heidegger, Martin: „Nietzsche II“. In: Martin Heidegger Gesamtausgabe. I. Abteilung, Bd. 6.2. Hg. v. Brigitte Schillbach. Frankfurt a. M. 1997, S. 220. 84 Heidegger: Nietzsche II, S. 226. 85 Vgl. Heidegger, Martin: „Das Ding“. In: Martin Heidegger Gesamtausgabe. I. Abteilung, Bd. 7. Vorträge und Aufsätze. Hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Frankfurt a. M. 2000, S. 65–187: „Wand und Boden, woraus der Krug besteht und wodurch er steht, sind nicht das eigentlich Fassende. Wenn dies aber in der Leere des Kruges beruht, dann verfertigt der Töpfer, der auf der Drehscheibe Wand und Boden bildet, nicht eigentlich den Krug. Er gestaltet nur den Ton. Nein – er gestaltet die Leere. {…} Das Dinghafte des Dinges beruht keineswegs im Stoff, daraus er besteht, sondern in der Leere, die faßt“ (ebd. S. 171). 86 Heidegger: Sein und Zeit, S. 378.
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Abb. 5: Peter Handke, Notizbuch 31, August – Dezember 1982. Foto: DLA Marbach
verweist die Leere in seiner späteren Ontologie auf die Zufälligkeit und Unverfügbarkeit des Seins: Es ereignet sich – oder es ereignet sich nicht. Nach dieser Konzeption beruht die menschliche Freiheit darauf, die unhintergehbare Kontingenz alles Seienden gelassen zu akzeptieren. Für Handke war die Leere vor allem ein literarisches Problem. Schon Roman Ingarden wies darauf hin, dass Raum- und Zeitkontinua in der Literatur nur mit Hilfe einer Folge von Ausschnitten dargestellt werden können, die immer durch „Lücken“, „Zwischenräume“ oder „leere“ Phasen getrennt sind.87 Ähnlich wie Filmcuts werden solche „Unbestimmtheitsstellen“ üblicherweise durch Erzählschemata überspielt, vor allem durch Handlungen oder andere Darstellungen von Kausalität. Da Handke diese Mittel ablehnt, steht er vor der erzählpraktischen Frage, auf welche andere Weise Zusammenhang und Ganzheit suggeriert werden können. In der Lehre der Sainte-Victoire fand er – angeregt durch die Cèzanne-Analysen von Kurt Badt88 – eine überraschende Lösung: Anstatt von
87 Ingarden, Roman: Das sprachliche Kunstwerk. Dritte Auflage. Tübingen 1965, S. 236, 251 f. 88 Badt, Kurt: Die Kunst Cézannes. München 1956.
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den Dingen auszugehen und dann passende Übergänge zu suchen, rückt er die „Leere“ oder „Bruchstelle“89 zwischen den Dingen ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Anders als bei der Leere der Melancholie handelt es sich hier um eine sozusagen produktive Leere. Ihr entspricht sein Interesse für Schwellen und Zwischenräume, die leitmotivisch seine Erzählung Der Chinese des Schmerzes durchziehen.90 Die oben wiedergegebenen Aufzeichnungen entstanden bei der Arbeit an dieser Erzählung. Im Notizbuch zitiert Handke aus Heideggers Nietzsche Kennzeichnungen des Seins, die auf dem Grundwiderspruch von Sein und Nicht-Sein beruhen. Die da rauf folgende Traumszene „Die Dinge sind Zeiger“ lässt sich auf den bereits erörterten Zusammenhang zwischen „Ding“ und „Geviert“ beziehen, denn indem die Dinge die „Weltgegenden“ versammeln, verweisen sie als Zeiger oder Symbole auf das Ganze des Seienden und damit auf das transzendente Sein. Darüber hinaus ist das Moment der Leere für alle Symbole und Zeichen insofern konstitutiv, als die bezeichneten Dinge in der Regel abwesend sind und nur imaginativ vergegenwärtigt werden können. Das daher rührende Problem des Entzifferns behandelt Handke mehrfach in seinen Büchern. Wie bewusst die Notizbuch-Passage komponiert wurde, zeigt die Tatsache, dass der nächste Satz aus einem ganz anderen Zusammenhang stammt, nämlich aus Heideggers Aufsatz Das Ding, in dem der „Geviert“-Charakter eines Dings am Beispiel eines Kruges beschrieben wird. Sein Wesen beruhe nicht auf StofflichMateriellem, sondern auf der „Leere, die er faßt“. Nicht das Haushaltsgefäß, sondern das darin (möglicherweise) enthaltene Getränk wird in Beziehung zu Erde, Himmel, Göttlichen und Sterblichen gesetzt. Der Krug als Bedingung der Möglichkeit des Trunkes erscheint als Symbol für die Transzendenz des Seins. Heideggers Behauptung „Der Töpfer … gestaltet (im Krug) die Leere“ kommentiert Handke mit der später durchgestrichenen Bemerkung „(also bin ich Töpfer)“. Damit gibt er zunächst zu erkennen, dass er den Krug als Beispiel für Kunstwerke schlechthin versteht, und tatsächlich handelt es sich ja bei Hei deggers Ding-Begriff der fünfziger Jahre um eine Weiterentwicklung seines WerkBegriffs. So gesehen nennt Handke sich zu Recht einen „Töpfer“. Aber warum hat er seinen Satz dann gestrichen? Kam ihm die Selbstkennzeichnung zu pathetisch vor, oder erschien ihm die Lehre vom Geviert schließlich zu dogmatisch? Oder bemerkte er, dass der Schöpfer des Kruges bei Heidegger nicht der Töpfer, sondern eigentlich erst der Philosoph ist, der ihn mitsamt seiner Leere beschreibt?
89 Handke: Die Lehre der Sainte-Victoire, S. 89. 90 Handke, Peter: Der Chinese des Schmerzes. Frankfurt a. M. 1983.
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Abb. 6: Peter Handke, Notizbuch 49, Juni – August 1986. Foto: DLA Marbach
Handkes Begriff der „Leerform“, der sich seit Anfang 1983 häufig in den Notizbüchern91 und auch in der Erzählung Die Wiederholung92 findet, meint die Beschreibung von sonst unbeachteten, weil allzu alltäglichen Dingen und Vorgängen. Es handelt sich also um Formen der Leere im Sinn der Abwesenheit „bedeutender“, üblicherweise für erzählwürdig gehaltener Ereignisse.93 Den „bedeutungsleeren“ Dingen gilt Handkes besondere Aufmerksamkeit. Gelegentlich verleiht er ihnen sogar die Aura des Numinosen, so dass sie wie innerweltliche Epiphanien plötzlich das Ganze und Transzendente zu vertreten scheinen. Solche Epiphanien
91 Vgl. Handke, Peter: Am Felsfenster morgens (und andere Ortszeiten 1982–1987). Salzburg, Wien 1998, S. 16, 21, 22, 23, 27 u. ö. – 1983 konnte Handke noch nicht wissen, dass Heidegger den Begriff der „Leerform“ bereits in den dreißiger Jahren benutzte, da die Beiträge zur Philosophie erst 1985 veröffentlicht wurden. (vgl. Heidegger, Martin: „Beiträge zur Philosophie. (Vom Ereignis)“. In: Martin Heidegger Gesamtausgabe. III. Abteilung, Bd. 65. Hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Frankfurt a. M. 1994, S. 373–375). 92 Handke, Peter: Die Wiederholung. Frankfurt a. M. 1986, S. 212, 218 u. ö. 93 Gamper u. Handke: Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen. Ein Gespräch, S. 113 f.
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erinnern an Heideggers Ding-Begriff, stehen aber zugleich in einer Traditionslinie der literarischen Moderne.94
3.6 Notizbuch 1986: „wie ich mich einst zu Heidegger verhielt …“ Nach 1982 fehlen in den Notizbüchern vier Jahre lang Heidegger-Erwähnungen; erst im Juli 1986 taucht sein Name wieder auf. Damals las Handke auf einer Reise durch die Bretagne den gerade erschienenen Briefwechsel zwischen Heidegger und Erhart Kästner. Da er mit der Übersetzung des Dramas Prometheus, gefesselt von Aischylos beschäftigt war, wird ihn das Thema Griechenland, um das der Briefwechsel kreist, interessiert haben. Seine Exzerpte zeigen, dass es ihm auch um Fragen der Lebensführung ging:95 26.7.1986 Andenken: Erinnerung (Heidegger)96 „Griechenland ist immer noch der Traum, und jeder neue Anlauf des Denkens lebt in ihm“ (Heidegger an Erhart Kästner)97 {…} „Gern wäre ich mit Ihnen den Feldweg gegangen bei einem guten Gespräch“ (Heid.)98 {…} „Ich muß jetzt darauf denken, das, was vor dem inneren Blick steht, noch in einem gemäßen Sagen festzuhalten“ (Heid.) Und weiter: „Die Sammlung dazu bietet am ehesten der heimische Ort“ (fährt nicht nach Griechenland)99 {…}
94 Vgl. Bartmann, Christoph: Suche nach Zusammenhang. Handkes Werk als Prozeß. Wien 1984, S. 167–238. 95 Handke, Peter: Notizbuch 049: Juni – August 1986. DLA Marbach, A:Handke, Eintrag vom 26./27.7.1986. 96 Vgl. einen Brief von Martin Heidegger an Erhart Kästner vom 1.1.1954: „Ich bin in meinem Leben wenig gereist; und wenn es geschah, war nie die augenblickliche Erfahrung das Wesentliche. Dieses entfaltet sich mir erst später im Andenken, was etwas anderes ist als die Erinnerung an Vergangenes.“ (Heidegger, Martin u. Erhart Kästner: Briefwechsel 1953–1974. Hg. v. Heinrich Wiegand Petzet. Frankfurt a. M. 1986, S. 22). 97 Vgl. Heidegger, Martin: „Brief an Erhart Kästner vom 16.7.1957“. In: Ders. u. Kästner: Briefwechsel 1953–1974, S. 34. 98 Vgl. Heidegger, Martin: „Brief an Erhart Kästner vom 4.10.1959“. In: Ders. u. Kästner: Briefwechsel 1953–1974, S. 41. 99 Heidegger, Martin: „Brief an Erhart Kästner vom 21.2.1960“. In: Ders. u. Kästner: Briefwechsel 1953–1974, S. 43.
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„Hölderlin hat sein Anfängliches gerettet“ (H{eidegger})100 (An der Straße, Nieseln, Maison rouge) 27.7.1986 Es ist doch das Dichterische in mir, als meine Instanz – die ich immer wieder überschritten habe; hätte ich meiner Instanz gehorcht, hätte ich vielleicht keine Zeile geschrieben, oder jedenfalls keine zusammenhängenden Sätze; der rein seiner Instanz gehorcht hat und doch zu einem Zusammenhang kam, das war wahrscheinlich nur Hölderlin (Rundfahrt Landévant – Merlevenez) Die grasrupfenden Kühe und das Stroh in den unteren Zweigen der Bäume (in Landévant die rue du désert, abzweigend von der rue de la chèvre) „Die Prüfung muß durch die Knie gegangen sein. Der Eigensinn muß sich beugen und verschwinden“ (Heidegger, Ein Wort zu Hölderlins Dichtung) [1963]101 (s. L{angsame} H{eimkehr}) „Erkenne dich selbst“: Wenigstens meine Flüchtigkeit habe ich erkannt (wenn ich bedenke, wie ich mich einst zu Heid. verhielt …) [immer noch am Ufer des Blavet; dunkler, windiger Tag, die Mäanderrillen unten im Schlick, die Rabenkrähen im Gras, das in Wellen geschnitten ist] καὶ τὸ σιγᾶν πολλάκις ἐστὶ σοφώτατον ἀνϑςώπῳ νοῆσαι (Pindar, zitiert von Heid.)102 {…} „Nichtung“: „Vernichtung“ (Heid.) „reine Nichtung“103 {…} „Schweigen müssen wir oft, es fehlen heilige Namen“ (Hölderlin, zitiert von Heidegger) (s. o. Pindar)104 {…} Dem Heidegger aber fehlt doch das Entscheidende: das Trunkene (mit oder ohne Wein) [seltsame „Ermitage“ an der Straße nach Kervignac …]
100 Vgl. einen Brief von Martin Heidegger an Erhart Kästner vom 23.8.1962: „Oft ist mir, als sei dieses Griechenland wie eine einzige seiner Inseln. Es gibt keine Brücke dahin. Es ist ein Anfang, Hölderlin hat sein Anfängliches gerettet.“ (Heidegger, Martin: „Brief an Erhart Kästner vom 23.8.1962“. In: Ders. u. Kästner: Briefwechsel 1953–1974, S. 51). 101 Vgl. Heidegger, Martin: “,Ein Wort zu Hölderlins Dichtung. Vorbemerkung zum Vortrag einiger Gedichte“. Beilage zu: Heidegger, Martin: „Brief an Erhart Kästner Weihnachten 1963“. In: Ders. u. Kästner: Briefwechsel 1953–1974, S. 61: „Die Prüfung muß durch die Knie gegangen sein. Der Eigensinn muß sich beugen und wegschwinden.“ Vgl. Hölderlin, Friedrich: Der Ister: „Und wenn die Prüfung / Ist durch die Knie gegangen“. 102 Heidegger übersetzt: „Und das Schweigen – oft ist es das Weiseste für den Menschen, (es) im Sinn zu halten.“ (Heidegger, Martin: „Brief an Erhart Kästner vom 9.3.1964“. In: Ders. u. Kästner: Briefwechsel 1953–1974, S. 70). 103 Vgl. Heidegger, Martin: „Brief an Erhart Kästner Ende Januar 1974“. In: Ders. u. Kästner: Briefwechsel 1953–1974,S. 125: „Unerhörter Klang / von An-Fang / in die reine Nichtung: / Urfigur des Seyns, / unzugangbar der Vernichtung“. 104 Vgl. Heidegger, Martin: „Brief an Erhart Kästner vom 11.3.1974“. In: Ders. u. Kästner: Briefwechsel 1953–1974, S. 128. „Unschickliches liebet ein Gutt nicht, / Ihn zu fassen ist fast unsere Freude zu klein. / Schweigen müssen wir oft; es fehlen heilige Namen“.
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Abb. 7: Peter Handke, Notizbuch 5, Mai – Juni 1976. Foto: DLA Marbach
Mit seiner Auswahl akzentuiert Handke den Gegensatz von „Flüchtigkeit“ und „Festhalten“. Als Ideal scheinen ihm, der stets zur Unbeständigkeit neigt, Hei deggers Tugenden des „Wohnens“, seine Ortsverbundenheit, seine Fähigkeit, einmal Gesehenes im „Andenken“ zu bewahren und sein beharrliches Zurückkommen auf die griechische Antike. Im zitierten Brief an Kästner vertritt Heidegger die Ansicht, Hölderlin habe das „Anfängliche“ der Griechen entdeckt – nicht sein eigenes „Anfängliches“ oder seine innere „Instanz“. Handkes Missverständnis zeigt, wie sehr es ihm um Selbsterkenntnis geht. Der eingeklammerte und unvollendete Halbsatz: „wenn ich bedenke, wie ich mich einst zu Heidegger verhielt …“ ist schwer zu interpretieren. In jedem Fall drückt er wohl das Bedauern aus, sich nicht intensiver mit seinen Schriften beschäftigt zu haben. Die Spuren, die Heidegger in Handkes Notizbüchern hinterlassen hat, deuten auf ein anhaltendes Interesse, das sich allerdings nicht in einem ausgiebigen Studium, sondern in sporadischer Lektüre äußert. Vermutlich hat Handke mehr von Heidegger zur Kenntnis genommen, als er in den Notizbüchern erwähnt. Aus dem Briefwechsel mit Alfred Kolleritsch weiß man etwa, dass er auf dessen Empfeh-
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lung während seiner Ägypten-Reise Anfang 1988 Heideggers Heraklit-Seminar gelesen hat.105 Zu beachten ist auch, dass Handke in seinen Notizbüchern von wenigen Ausnahmen abgesehen nur Textpassagen zitiert, die ihm einleuchten. In anderen Zusammenhängen äußert er sich wesentlich kritischer. In einem Interview erklärt er 1986, in Heideggers Schriften sei zwar „alles richtig“, ihm fehle aber alles „Beschwingte“. Besonders fragwürdig erscheint ihm nun die Sprache des Philosophen (der seine Figur Sorger 1976 noch emphatisch „geglaubt“ hatte): Sie käme ihm vor wie eine „Betonwand“, die „dichte Fügung“ der Begriffe sieht er in der „aristotelischen Tradition der Einschüchterung durch Denkgehabe“. Ausgerechnet Heidegger, fährt Handke fort, der „so viel von hausen und wohnen spricht“, errichte „mit seiner Sprache eigentlich mehr so Betonbunker als Wohnstätten.“106 Der Vergleich, der wohl nicht zufällig an Hinterlassenschaften des Dritten Reichs erinnert, weist auf einen performativen Widerspruch hin: Heidegger vermittelt nach Handkes Ansicht eine Philosophie der Freiheit und Offenheit auf eine Weise, die ihm freudlos, gezwungen und hermetisch erscheint. Gegen die These, Handkes Poetik sei von Heideggers Philosophie abhängig, spricht auch die Tatsache, dass einige der wichtigsten Leitworte Handkes – wie „Form“, „Phantasie“, „Bild“ oder „Frieden“ – bei Heidegger nicht im Zentrum stehen; umgekehrt interessierte sich Handke offenbar kaum für dessen TechnikKritik. Um besser zu verstehen, was Heidegger im Jahrzehnt zwischen 1976 und 1986 für Handke bedeutete, müsste man seine ausgiebigere Beschäftigung mit Philosophen wie Nietzsche, Meister Eckart, Lao-Tse und vor allem Spinoza zum Vergleich heranziehen. Vermutlich ging es ihm auch in diesen Fällen kaum um die Aneignung eines Gedankensystems, sondern um einzelne Konzepte und Formulierungen, die ihm brauchbar erschienen. Auf der Suche nach Erzählformen jenseits von Handlungszusammenhängen las Handke die Schriften von Heidegger und Spinoza zeitweise wie „Evangelien“.107 Auf je unterschiedliche Weise
105 Vgl. Peter Handke in einem Brief an Alfred Kolleritsch vom 5.1.1988 in: Handke, Peter u. Alfred Kolleritsch: Schönheit ist erste Bürgerpflicht. Briefwechsel. Salzburg, Wien 2008, S. 175: „Ich lese unterwegs auch das Heraklit-Seminar von M. H., was mir kindlich vorkommt und mir also guttut.“ Vgl. Heidegger, Martin: „Seminare“. In: Martin Heidegger Gesamtausgabe. I. Abteilung, Bd. 15. Hg. v. Curd Ochwald. Frankfurt a. M. 1986. 106 Gamper u. Handke: Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen. Ein Gespräch, S. 206 und 238. 107 Vgl. Handke: Am Felsfenster morgens, S. 37: „Spinoza ist das neuzeitliche Evangelium“. Vgl. Anmerkung 30.
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begründen sie die gute Nachricht von der Eigenständigkeit der Dinge, indem sie Raum, Zeit und Sprache nicht im Menschen, sondern in einer Art innerweltlicher Transzendenz verankern.
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Frischfleisch und Archiv Die Biografie am lebendigen Leib Als ich Germanistik studierte, Mitte der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, sagte einer unserer Professoren einen denkwürdigen Satz, den ich bis heute nicht vergessen habe. „Kommen Sie mir nicht mit dem Autor“, sagt er. Der Satz fiel in einer Vorlesung über die Geschichte des deutschen Romans, und nachdem wir schon allerlei über die abenteuerlichen Viten von Autoren wie Gryphius (Leichenwäscher) bis Koeppen (Glühlampen-Tester) erfahren hatten, erwischte er uns einigermaßen kalt. Der Autor, sagte unser Professor, habe nicht das letzte Wort, wenn es um seinen Text gehe. Eine Interpretation der Blechtrommel, erklärte er an einem konkreten Beispiel, sei ja auch nicht maßgeblich, nur weil sie sich auf Günter Grass berufe. Grass’ Wort als Autor zähle nicht mehr als das Wort irgendeines anderen. Unser Professor war zwar nicht als poststrukturalistischer Hardliner bekannt, aber er kannte sich aus mit Barthes, Foucault und Derrida und verstand es, auch uns für die Ideen dieser seinerzeit als besonders einschlägig gehandelten Literaturtheoretiker zu interessieren. Für den ‚Autor‘ waren germanistische Seminare damals lebensgefährliche Orte. Wenn er nicht gleich mit Roland Barthes gemeuchelt wurde, so teerte und federte man ihn doch mit allen Mitteln der Literaturtheorie. ‚Biographismus‘ und ‚Positivismus‘ galten als schimpfliches Sakrileg am Fortschritt. Ich erwähne diese literaturwissenschaftliche Lektion hier nicht, um sie im Folgenden am Beispiel Peter Handkes widerlegen zu wollen. Niemand käme wohl auf die Idee, sich für eigene Interpretationsansätze der Werke Handkes die Approbation ihres Autors zu holen. Oder doch? Wer es doch täte, den würde Handke vermutlich – und das völlig zu recht – vom Hof jagen. Ich möchte lediglich aus der Sicht des Biografen einige Gedanken zur Person des Autors anstellen, die sich aus der praktischen Arbeit am lebendigen Subjekt ergeben haben. Ich werde keine systematisch-theoretischen Höhenflüge anbieten, eher einen Fußmarsch, und mich dabei vielleicht dreist, aber zielführend auf Handke selbst berufen: „querfeldein“ das ist die Marschrichtung.1
1 Handke, Peter: „Halbschlafgeschichten (Entwurf zu einem Bildungsroman)“. In: Ders.: Prosa, Gedichte, Theaterstücke, Hörspiel, Aufsätze. Frankfurt a. M. 1969, S. 42–46, Zitat S. 44.
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Ein Kleist-Biograf arbeitet als Pathologe, der die Lebenszeugnisse eines Verstorbenen seziert. Eine Handke-Biografie dagegen gleicht einer Vivisektion. Sie ist Arbeit am lebendigen Leib. Die Risiken und Nebenwirkungen einer solchen Operation hat der Patient selbst schon in seinen Aufzeichnungen Am Felsfenster morgens annonciert: „Von dem, was die anderen nicht von mir wissen, lebe ich“.2 Überlebt es der Autor, wenn man den Menschen erforscht? Wer die Biografie eines Künstlers schreibt, dazu eines lebenden, muss sich notgedrungen mit dem Menschen befassen. Er muss sich die Fußnoten auch erlaufen. Das wirft Fragen auf nach der Distanz des Biografen und der Beziehung zwischen Leben und Werk seines Sujets. Aber diesen Fragen kann man gar nicht aus dem Weg gehen. Der Biograf sollte sich dabei eine Neugier auf die Metamorphosen bewahren, die zwischen Kunst und Welt hin- und herführen: Leben und Werk spiegeln sich nicht, aber alles ist Verwandlung. Er sollte die literarischen Masken nicht weniger ernst nehmen als die Gesichter seiner Gesprächspartner, die sich ja wiederum als Masken entpuppen können. Natürlich gibt es die üblichen Daten, die aktenkundig geworden sind. Aber ein Lebenslauf ist noch keine Biografie, so wie ein Baugerüst kein Wohnhaus und ein Skelett kein Mensch aus Fleisch und Blut ist. „Wenn ich nachdenke, was ich bisher in meinem Dasein erlebt habe“, schreibt Handke in Mein Jahr in der Niemandsbucht, dann war das weder der Krieg in der Kindheit, noch die Flucht aus dem Russendeutschland heim nach Österreich, noch das jugendlange Eingesperrtsein ins Internat, noch, nach den vielen Fiebrigkeiten, jene erste ruhige Zeile, bei der ich wußte, ich war nun auf dem Weg, noch das Zusammensein mit einer Frau oder meinem Kind, sondern allein jene Verwandlung.3
Es gibt wenige Autoren, die ihr Leben so radikal nach ihrer Berufung ausgerichtet haben wie Peter Handke. Ein Schriftsteller wie er formt nicht nur ein Werk, er wird auch von ihm geformt, so wie ein Gesetz zwar nicht den Naturzustand einer Gesellschaft beschreibt, aber dennoch ihre Geschicke beeinflusst. Peter Handke hat seiner als chaotisch und unsicher empfundenen Existenz schon früh ein Gesetz gegeben, indem er zu schreiben anfing. Wenn er jemals seine Autobiografie schreiben würde, erzählte mir Handke einmal, dann würde er sie Betrachtungen meiner Irrtümer nennen. Nicht falsche
2 Handke, Peter: Am Felsfenster morgens (und andere Ortszeiten 1982–1987). München 2000, S. 336. 3 Handke, Peter: Mein Jahr in der Niemandsbucht. Ein Märchen aus den neuen Zeiten. Frankfurt a. M. 1994, S. 432
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Bescheidenheit oder Koketterie steckt hinter diesem Bekenntnis, sondern der Wunsch nach Selbsterkenntnis – vielleicht der stärkste Antrieb zum Schreiben überhaupt. „Ich habe keine Themen, über die ich schreiben möchte, ich habe nur ein Thema: über mich selbst klar, klarer zu werden“.4 So sollte sich auch ein Biograf nicht davon leiten lassen, was angenehm, vorteilhaft oder wünschenswert an seiner Geschichte sein kann. Er muss möglichst vorurteilslos lesen und recherchieren. Seine Aufgabe ist es, das Leben seines Sujets mit allen Höhen und Tiefen zu zeigen und den Verwandlungen nachzuspüren. Vollständig und abschließend kann so ein Werk im Leben natürlich nie sein, und das muss es auch nicht. Aber der Biograf sollte etwas Wesentlichem auf der Spur sein. Seine Neugier gilt dem Menschen mit Haut und Haaren, dem ‚full man‘, wie ein englischer Biograf einmal schrieb.
1 Handkes Hände Womit wir beim Körper des Autors sind, dem Frischfleisch. Die anzügliche Metapher geht nicht auf mich zurück. Peter Handke selbst verwendet den Begriff, Jacques LeGoff zitierend, in den Tablas des Daimiel, wenn er beschreibt, wie er sich im Haager Gerichtssaal ein Bild von Slobodan Milosevic machte: Ein kleinwinziges und meinethalben lachhaftes Detail gleich am Anfang des Verfahrens ist es gewesen, das mich auf der Stelle überzeugt hat. Ich sah, ja, sah, daß es für das Ganze stand. Auch der Historiker Jacques LeGoff weist, etwa in seiner versuchten Lebensbeschreibung Ludwigs des Neunten, auf solch eine Einzelheit hin, die ihn, den auf die gar lückenhaften Quellen aus dem 13. Jahrhundert Angewiesenen, nach Anschauung und bezeichnendem Bild Hungernden, seine Figur blitzhaft habe sehen lassen. […] Und an diesem ‚détail significatif‘ erschaut LeGoff, der heutige Historiker, wie er selbst kommentiert, mehr als nur das Äußere seines Protagonisten, an Hand des lebendigen Materials – ‚des Frischfleisches‘ im Wortlaut – der Historie, das ihm so oft fehlt.5
Wenden wir diese Methode nun auf den Autor selbst an, so stellt sich die Frage, welche Erkenntnis der Biograf durch das genaue Betrachten dieses Autors – seines lebendigen Materials – gewinnen kann. Der „nach Anschauung und bezeichnendem Bild“ Hungernde muss dabei kein Seher im metaphysischen Sinne sein,
4 Handke, Peter: „Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms“. In: Ders.: Meine Ortstafeln. Meine Zeittafeln. 1967–2007. Frankfurt a. M. 2007, S. 37–46, Zitat S. 44. 5 Handke, Peter: Die Tablas von Daimiel. Ein Umwegzeugenbericht zum Prozeß gegen Slobodan Milošević. Frankfurt a. M. 2006, S. 31 f.
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Abb. 8: Pilze/Messer/Hände, 10/2005. Foto: Lillian Birnbaum
nur ein Hinseher, ein genauer Beobachter, um ein ‚détail significatif‘ an seinem Gegenüber zu entdecken. Bei Jacques LeGoff und Ludwig dem Neunten war es ein Baumwollhut. Ich möchte über Handkes Hände sprechen. In dem Fotoband Porträt des Dichters in seiner Abwesenheit, den Lillian Birnbaum 2011 veröffentlichte, ist Handke nur einmal leibhaftig zu sehen, und dann auch nur teilweise: Man sieht lediglich seine Hände, die in einer charakteristischen Bewegung ein Taschenmesser an einen Pilz anlegen (vgl. Abb. 8).6 Vergleicht man es mit dem berühmten Foto der Hände Thomas Manns (vgl. Abb. 9), so sind die Unterschiede sofort augenfällig: Manns manikürte Nägel, sein dicker Goldring und die edle Schreibfeder in der Hand erfüllen die Erwartungen des Publikums, indem sie die öffentliche Inszenierung als großbürgerlicher Literat fortsetzen, die der Autor der Buddenbrooks und des Doktor Faustus zeitlebens pflegte, der er aber auch nicht entkommen konnte. Der Kontrast zum Thomas Mann-Preisträger Handke könnte nicht größer sein: Er lässt sich ohne die Insignien seines Berufs ablichten, hält keine Füllfeder in der Hand, nicht einmal
6 Birnbaum, Lillian: Peter Handke. Portrait des Dichters in seiner Abwesenheit. Salzburg, Wien 2011, S. 87. Abbildung mit freundlicher Genehmigung der Fotografin.
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Abb. 9: Thomas Manns Hände. Foto: DLA Marbach
einen Bleistiftstummel. Stattdessen sieht man: Pilze, Messer und Dreck unter den Fingernägeln. Auf den ersten Blick wirkt zwar auch Handkes Hand-Porträt wie ein Genrebild: Es kommt dem Klischee vom Pilze sammelnden Pariser Vorstadtkauz nahe, welches im Guten wie im Schlechten bis in die Literaturbeilagen angesehener Zeitungen gepflegt wird. Dazu muss man wissen, dass Lillian Birnbaum nie ein Foto veröffentlichen würde ohne vorher Handkes Zustimmung zu haben. Und doch ist dieses Hand-Porträt nicht bloß inszeniert, es fängt gelebte Wirklichkeit ein. Der Dreck unter den Fingernägeln ist das ‚détail significatif‘. Die Augen für dieses Detail hat mir Handkes Freund Michael Krüger geöffnet, indem er von Handkes Händen erzählte, den Händen eines Landburschen, die in den auf dem Land üblichen und notwendigen Tätigkeiten geübt sind. Wenn er über Land geht und Pilze sammelt, in der Küche steht und mit den immer gleichen, geübten Handgriffen sein Essen zubereitet, dann ist das keine affektierte Natürlichkeit. Dass aus Handke kein domestizierter Salonliterat geworden ist, sondern eben ein Schriftsteller mit Dreck unter den Fingernägeln, ist weder Show noch geht es auf Nachlässigkeit zurück. Es hat mit dem – scheinbaren – Gegensatz zwischen Literatur und Natur zu tun, den er in seiner Jugend erlebte. Das erzprovinzielle Griffen schien dem aufstrebenden Schriftsteller Handke kaum der geeignete Schauplatz für die heroischen Taten zu sein, von denen er träumte: „Man hat
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immer gedacht, warum ist dieser Scheiß kleine Bach kein großer Fluß“, erzählte Handke Jahrzehnte später in einem Interview und fügt, um sechzig Jahre und zahlreiche Abenteuer älter, hinzu: „Jetzt ist es mir total egal, jetzt bin ich froh, daß es ein kleiner Bach ist“.7 Die produktive Spannung der Sinne in seiner Kindheit auf dem Land ließ in Handke den außerordentlich scharfen Blick für Menschen, Dinge und vor allem für sich selbst heranreifen, der in seinen Erzählungen zum Ausdruck kommt. Ein hellwacher Geist im Körper eines Naturburschen, ein belesener Literat mit Bauernhänden und schließlich Texte, die nicht allein aus anderen Texten entstehen, sondern aus einer besonderen biografischen Disposition. Kaum ein anderer Schriftsteller hat ja die physikalische Beschaffenheit des Schreibprozesses so intensiv reflektiert wie Peter Handke – von der Geschichte des Bleistifts bis zur Wiederholung, in der es an einer Stelle heißt: „Da wuchsen, Strich um Strich, Stift und Finger zusammen, und ich bekam eine Schreibhand, etwas Schön-Schweres, Bedachtsames; kein Dahinschreiben war das mehr, sondern ein Aufzeichnen.“8 Das ist keine bloße literarische Metapher, kein Versuch der Überhöhung des oft als unzulänglich empfundenen ‚Kritzelns‘, sondern es ist erlebte, körperliche Wirklichkeit.
2 Die zwei Körper des Schriftstellers Sie merken längst, worauf ich wieder hinauswill: Der Autor lebt, ja er ist das blühende Leben und hat sich seit Roland Barthes allen Attentaten von Wissenschaft und Kritik widersetzt, die ihn töten und seine Leiche verschwinden lassen wollten. Der ‚Autor‘ ist kein rationalistisches Konstrukt, jedenfalls nicht ausschließlich. Nicht nur das in den Archiven nachhallende ‚Murmeln der Diskurse‘ gibt uns Aufschluss über sein Werk, sondern auch die Arbeit am lebendigen Subjekt. Um es mit dem Philosophen Lucien Goldmann zu sagen, der 1968 den strukturalistischen Attentaten auf den Autor den berühmten Satz entgegenhielt, den ein Student während der Revolte an eine Tafel in der Sorbonne schrieb: „Die Strukturen steigen nicht auf die Straße herunter“.9 In der Tat, und die Strukturen gehen auch nicht in den Wald und sammeln Pilze.
7 Gespräch mit Peter Handke, Chaville, 11. März 2009. 8 Handke, Peter: Die Wiederholung. Frankfurt a. M. 1989, S. 161. 9 Zit. in: Brieler, Ulrich: Die Unerbittlichkeit der Historizität: Foucault als Historiker. Köln 1998, S. 278.
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Aber welche Beziehungen gibt es zwischen Mensch und Rolle, zwischen der Person Peter Handke und dem Schriftsteller Peter Handke? Wie verhalten sich Frischfleisch und Archiv zu einander, wenn es an die Beurteilung geht? In seiner bekannten Studie zur politischen Theologie des Mittelalters beschrieb Ernst Kantorowicz in den fünfziger Jahren die mittelalterliche Auffassung von den zwei Körpern des Königs. Damit ist einmal der natürliche, atmende und sterbliche Körper des Menschen auf dem Thron gemeint, der isst, trinkt, liebt und ganz Mensch ist. Zum anderen der politische Körper des Königs als Institution. Der Träger und sein Amt. Die öffentliche Funktion und das Individuum, das sie ausfüllt, vereinen sich in derselben Person. Der König existiert als Person, aber gleichzeitig als eine Art symbolische Verkörperung bestimmter gemeinschaftlicher Vorstellungen. Man muss Handke nicht dem Zeitungsklischee entsprechend als Hohepriester der Kunst sehen, um Kantorowiczs politisch-theologische Metapher auf die Doppelexistenz als Schriftsteller und Mensch münzen zu können. Kaum ein anderer Autor hat die Vorstellungen und Sehnsüchte seines Publikums so sehr auf sich gezogen wie Handke. 1970, auf dem Höhepunkt seines Popliteratentums, reflektierte der achtundzwanzigjährige Handke in einem Interview genau über diese Spannung zwischen Ich und Öffentlichkeit: „Wenn ich nicht ich wäre und nur wüßte, was über mich geschrieben worden ist, dann würde ich diese ganze Sache mit dem Handke wohl sehr übertrieben und sehr zweifelhaft finden.“10 Auch die Tatsache, dass Handke zahlreiche Manuskripte schon zu Lebzeiten durch geschickte Erbteilung als Vorlass an die Österreichische Nationalbibliothek und das Deutsche Literaturarchiv Marbach gegeben hat, zeugt davon, dass auch der seit langem Öffentlichkeitsscheue sich seiner öffentlichen Rolle durchaus bewusst ist. Michel Foucault hat den Zusammenhang zwischen natürlicher Person und Autor ganz ähnlich beschrieben wie Kantorowicz die Rolle des Königs im Mittelalter. In seinem Text Was ist ein Autor? unterscheidet auch Foucault zwischen der sterblichen Person und dem potentiell unsterblichen Autor, der noch lange nach seinem Tod Diskurse bestimmen könne. So kommt es dann zu Situationen, in denen der Autor einen Brief an den Biografen mit den Worten „Ihr Sujet Peter Handke“ unterzeichnet.11 Denn auch der Schriftsteller hat zwei Körper, wobei Foucault allerdings dem Diskurskörper, wie ich ihn nennen möchte, den größeren Stellenwert zuspricht, indem er dafür eintritt, dass „die Fiktion nicht durch
10 Handke, Peter: „Unerschrocken naiv“. In: Der Spiegel 22 (1970). 11 Peter Handke an Malte Herwig, 14. Dezember 2010, Privatbesitz M. H.
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die Figur des Autors verkürzt“ werde.12 Name und Person des Autors wirken für Foucault wie Marken: Sie sichern den unter einem Autorennamen subsumierten Texten eine bestimmte Bedeutung und dienen als Ordnungsmerkmal im Literaturbetrieb. Handke erreichte schon früh den Punkt, an dem sein Name zum Markenzeichen wurde, und hieße er eben nicht Handke, dann würde uns das Beiwort ‚handkeisch‘ so oft und flüssig über die Lippen gehen wie ‚kafkaesk‘. Aber für einen lebenden, weiter schreibenden Autoren kann eine solche Festlegung eben auch zum Fluch werden, wenn er nicht mehr Herr seines eigenen Ichs zu sein scheint und in seiner freien Entwicklungsmöglichkeit begrenzt wird. In seiner Archäologie des Wissens wehrt sich Foucault gegen solche Festlegungen: „Fragt mich nicht, wer ich bin, und fordert mich nicht auf, derselbe zu bleiben: überlasst es den Bürokraten und den Polizisten, unsere Papiere zu kontrollieren. Wenigstens erspart uns ihre Moral, wenn wir schreiben.“13 Das Leben des Schriftstellers Peter Handke scheint mir von einem ähnlichen Trotz gegen die Diskurse geprägt zu sein. Schon früh versuchte dieser Mensch, der um sein Leben schreibt, den Festlegungen als Schriftsteller zu entfliehen (den eigenen und denen anderer). Das vermeintlich konstante Handke-Gen in jedem seiner Texte und die wiederkehrenden Leitmotive und -figuren können schließlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass kaum ein anderer Schriftsteller so oft mit neuen Formen experimentiert und bei jedem Werk versucht, noch einmal von vorn anzufangen. Das Schreiben verwandelt sich mit dem Leben verwandelt sich mit dem Schreiben. Den Sinnspruch dafür findet er später bei seinen Wanderungen in Spanien auf einem Plakat an einer fast tausend Jahre alten Kirche: „Cambia tu forma de vivir“.14 Du mußt Dein Leben ändern. „Aber hatte“, heißt es in der Kindergeschichte, „in all dieser Zeit der Ungebundenheit das ,Du mußt dein Leben ändern‘ nicht immer neu als ein Flammensatz gewirkt?“15 Bei aller Ungebundenheit beharrt Handke immer auf seinem Ich, das der zwanghaften Verfügung der Welt entzogen sein soll und gleichzeitig den Zugang zur Welt erst ermöglicht: Ich selbst kann ein Buch nur lesen, wenn ich ein Ich spüre. Wie steht dieses Ich zu sich und zu den anderen? Nur indem ich bei mir bleibe, kann ich von der Welt
12 Foucault, Michel: „Was ist ein Autor?“. In: Michel Foucault: Schriften zur Literatur. Hg. v. Daniel Defert u. Francois Ewald unter Mitarbeit v. Jacques Lagrange. Frankfurt a. M. 2003, S. 234–270, Zitat S. 260. 13 Foucault, Michel: Archäologie des Wissens. Frankfurt a. M. 1973, S. 29. 14 Handke, Peter: Gestern unterwegs. Aufzeichnungen November 1987 bis Juli 1990. Frankfurt a. M. 2007, S. 158. 15 Handke, Peter: Kindergeschichte. Frankfurt a. M. 1984, S. 12.
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erzählen. Das Ich muß so tief in sich hineingehen, daß es anonym wird. Je mehr ich nach innen gehe, desto weiter werde ich.16 Aber den Mechanismen von Repräsentation und Repräsentativität kann natürlich auch ein Handke nicht entfliehen. Roland Barthes machte die moderne Kultur dafür verantwortlich, die Literatur „tyrannisch auf den Autor, auf seine Person, seine Geschichte, seinen Geschmack, seine Leidenschaften“ zu beschränken.17 Er vergaß, dass der Autor auch sich selbst zum Tyrannen werden kann. Wie oft hat Handke versucht, dieser Tyrannei zu entfliehen. Während die frühen Tagebücher aus den siebziger Jahren durchaus reale Selbstmordgedanken aufzeichnen, löst Handke das Problem später, indem er der Literaturwissenschaft (und -kritik) das Mordwerkzeug aus den Händen nimmt und selbst den Autor tötet. Seitdem treten im Werk dieses sehr lebendigen Schriftstellers immer wieder ‚ehemaligen Autoren‘ und ‚abgedankte Schreiber‘ auf. An Handkes Beispiel kann man sehen, wie die Tyrannei des Autors zugleich Lebensproblem und Lebenslösung sein kann. „Indem er schrieb“, berichtet der Erzähler der Morawischen Nacht, „und bei dem, was er schrieb, dem ‚Buch‘, galt ein Gesetz“.18 Das Gesetz des Schreibens ist ausschließlich und doch unbestimmt: Es kannte weder Lücken noch Ausnahme. Und was drohte es ihm an? Eine Strafe? Welche? Die Androhung, umfassend wie sie war, blieb unbestimmt. Bestimmt aber war: Es würde, wieder widrigenfalls, ein Urteil geben, nein, eine Verurteilung. Und widrigenfalls hieß: falls er gegen das Gesetz verstieß.19
Handkes Gesetz erinnert nicht von ungefähr an die anonyme Bedrohung, der auch Kafkas Figuren immer wieder ausgesetzt sind. In seiner Rede zum KafkaPreis 1979 hat Handke erklärt, dass Kafka „Zeit meines Schreiblebens, Satz für Satz, der Maßgebende gewesen“ sei.20 Damit ist weniger Kafka als literarisches Vorbild gemeint als vielmehr dessen literarische Existenz. Mit seinen immer bedrohten Figuren liefert der Autor der Verwandlung Handke die literarische Folie, auf der seine eigenen existentiellen Angstzustände produktiv werden.
16 „Gelassen wär’ ich gern. Der Schriftsteller Peter Handke über sein neues Werk, über Sprache, Politik und Erotik“. In: Der Spiegel 49 (1994), 5. Dezember 1994, S. 170–176. 17 Barthes, Roland: „Der Tod des Autors“. In: Texte zur Theorie der Autorschaft. Hg. u. kommentiert v. Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez u. Simone Winko. Stuttgart 2000, S. 185–193, Zitat S. 186. 18 Handke, Peter: Die morawische Nacht. Frankfurt a. M., 2008, S. 135. 19 Handke: Die morawische Nacht, S. 136. 20 Handke, Peter: Das Ende des Flanierens. Frankfurt a. M. 1982, S. 156.
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Seine sehr wirkliche Reizbarkeit, die Panikattacken, die Selbstzweifel – erst das Gesetz des Schreibens (und die Angst, je einmal dagegen zu verstoßen) gibt seinem Leben als Schriftsteller eine Form. Das erklärt, fernab jeglicher Selbststilisierung, die Radikalität, mit der Handke sein Schreiben verfolgt, seine Auffassung von Sprache und Welt. Und es erklärt, warum er ohne Rücksicht auf Verluste auch im Jugoslawien-Konflikt nicht von seiner Sicht der Dinge abweicht, als aus dem lonesome cowboy in den Augen der Weltöffentlichkeit längst ein outlaw geworden ist. „Er hat sich ohne Rücksicht auf seine eigene Person gewehrt, wenn es um wesentliche Dinge gegangen ist“, erzählt Alfred Kolleritsch über den Freund. „Da hat er kein Fußbreit, keinen Zentimeter nachgegeben – im Gegenteil, er hat noch das Feuer geschürt. Da hat er so einen ungeheuren Stolz, bei der Wahrheit zu bleiben.“21 Das Gesetz seines Schreibens wird Handke Zeit seines Lebens über alle anderen Gesetze stellen: über persönliche Beziehungen, über die Konventionen der guten Gesellschaft und erst recht über die Rechtsprechung internationaler Gerichtshöfe. Man mag das beurteilen, wie man will: Es ist ja keine Doktrin oder schulbildende Ideologie. Es ist furchtbar konsequent. Oft macht es ihn schrecklich einsam. Für den Schriftsteller ist Dabeisein eben nicht alles, er ist an- und abgestoßen von Geselligkeit, ein müder Gast: „Und nun laß uns aufstehen und weggehen, hinaus, auf die Straßen, unter die Leute, um zu sehen, ob uns vielleicht in der Zwischenzeit dort eine kleine gemeinsame Müdigkeit winkt, und was sie uns heute erzählt“.22 Wer aber den Autor schon zu Lebzeiten begräbt, der kann seine Texte natürlich als politische Traktate lesen oder als Naturlyrik oder weiß der Teufel was. Und doch: Am Ende sind diese Texte so einzigartig und sonderlich wie der Mensch, der sie geschrieben hat. Um es mit Mark Twain zu sagen: Die Gerüchte vom Tod des Autors sind stark übertrieben.
21 Gespräch mit Alfred Kolleritsch, Graz, 29. Mai 2009. In: Herwig, Malte: Meister der Dämmerung. Peter Handke. Eine Biographie. München 2010, S. 258. 22 Handke, Peter: „Versuch über die Müdigkeit“. In: Ders.: Die drei Versuche. Versuch über die Müdigkeit, Versuch über die Jukebox, Versuch über den geglückten Tag. Frankfurt a. M. 1998, S. 5–80, Zitat S. 77.
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Literaturverzeichnis Barthes, Roland: „Der Tod des Autors“. In: Texte zur Theorie der Autorschaft. Hg. u. kommentiert v. Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez u. Simone Winko. Stuttgart 2000, S. 185–193. Birnbaum, Lillian: Peter Handke. Portrait des Dichters in seiner Abwesenheit. Salzburg, Wien 2011. Brieler, Ulrich: Die Unerbittlichkeit der Historizität. Foucault als Historiker. Köln 1998. Foucault, Michel: Archäologie des Wissens. Frankfurt a. M. 1973. Foucault, Michel: „Was ist ein Autor?“. In: Michel Foucault: Schriften zur Literatur. Hg. v. Daniel Defert u. Francois Ewald unter Mitarbeit v. Jacques Lagrange. Frankfurt a. M. 2003, S. 234–270. „Gelassen wär’ ich gern. Der Schriftsteller Peter Handke über sein neues Werk, über Sprache, Politik und Erotik“. In: Der Spiegel 49 (1994), 5. Dezember 1994, S. 170–176. „Gespräch mit Alfred Kolleritsch, Graz, 29. Mai 2009“. In: Herwig, Malte: Meister der Dämmerung: Peter Handke. Eine Biographie. München 2010, S. 258. Handke, Peter: „Halbschlafgeschichten (Entwurf zu einem Bildungsroman)“. In: Ders.: Prosa, Gedichte, Theaterstücke, Hörspiel, Aufsätze. Frankfurt a. M. 1969, S. 42–46. Handke, Peter: „Unerschrocken naiv“. In: Der Spiegel 22 (1970). Handke, Peter: Das Ende des Flanierens. Frankfurt a. M. 1982. Handke, Peter: Kindergeschichte. Frankfurt a. M. 1984. Handke, Peter: Die Wiederholung. Frankfurt a. M. 1989. Handke, Peter: Mein Jahr in der Niemandsbucht. Ein Märchen aus den neuen Zeiten. Frankfurt a. M. 1994. Handke, Peter: „Versuch über die Müdigkeit“. In: Handke. Peter: Die drei Versuche. Versuch über die Müdigkeit, Versuch über die Jukebox, Versuch über den geglückten Tag. Frankfurt a. M. 1998, S. 5–80. Handke, Peter: Am Felsfenster morgens (und andere Ortszeiten 1982–1987). München 2000. Handke, Peter: Die Tablas von Daimiel. Ein Umwegzeugenbericht zum Prozeß gegen Slobodan Milošević. Frankfurt a. M. 2006. Handke, Peter: „Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms“. In: Ders.: Meine Ortstafeln. Meine Zeittafeln. 1967–2007. Frankfurt a. M. 2007, S. 37–46. Handke, Peter: Gestern unterwegs. Aufzeichnungen November 1987 bis Juli 1990. Frankfurt a. M. 2007. Handke, Peter: Die morawische Nacht. Frankfurt a. M. 2008. Herwig, Malte: Meister der Dämmerung. Peter Handke. Eine Biographie. München 2010.
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„Aber das Schreiben war Existenz non plus ultra“ Peter Handke, der Bleistift und der Versuch über die Müdigkeit Ein Gang ins Archiv gewährt neue Zugänge zu Autoren und Werken, der Blick in die Werkmaterialien hält neue Forschungsansätze bereit. Textgenetische Rekonstruktionen, die Produktionsprozesse in ihrer Autonomie gegenüber endgültigen Druckfassungen aufwerten sowie Entstehungsgeschichten und Begleitumstände eines Werks beleuchten, machen spezifische Arbeitsweisen von Autoren sichtbar.1 Ein Werk, das in seiner Gesamtheit nicht als Produkt, sondern als Prozess aufgefasst wird, spiegelt die literarische Arbeitsweise eines Autors wider.2 Viel eher als das interpretatorische Schürfen am Endprodukt scheint die methodische Vorgangsweise geeignet, Peter Handkes Texten über den Weg ihrer Genese zu begegnen. In einer Epoche zunehmender Digitalisierung gilt es, gerade jenen Autoren Beachtung zu schenken, deren Art des Schreibens als eine antiquierte bezeichnet werden kann. Peter Handke, dem „Hymniker des Blei stifts“3, und dem Versuch über die Müdigkeit (1989) kommen dabei eine besondere Rolle zu. Der Versuch über die Müdigkeit4 markiert den Beginn einer Wende im Schrei ben Handkes, gilt der Text doch als das erste Buch, das Handke vollständig handschriftlich mit dem Bleistift verfasst hat. Dieser oft mythisierte Wechsel des Schreibgerätes, die gerade der medientechnischen Umbruchsphase entgegenlaufende Entwicklung von der Schreibmaschine zum Bleistift, wurde als zentrales
1 Der literaturwissenschaftliche Ansatz der critique génétique verschiebt die Perspektive weg vom ‚Produktionsergebnis‘ hin zum ‚Produktionsprozess‘. Siehe v. a.: Grésillon, Almuth: Literarische Handschriften. Einführung in die ‚critique génétique‘. Bern u. a. 1999 sowie das von Martin Stingelin geleitete Forschungsprojekt Zur Genealogie des Schreibens und die gleichnamige Publikationsreihe. 2 Zum Begriff der ‚literarischen Arbeitsweise‘ von Autoren siehe: Hurlebusch, Klaus: „Den Autor besser verstehen: aus seiner Arbeitsweise. Prolegomenon zu einer Hermeneutik textgenetischen Schreibens“. In: Textgenetische Edition. Hg. v. Hans Zeller u. Gunter Martens. Tübingen 1998. S. 7–51. 3 Hansel, Michael: „‚Langsam – in Abständen – stetig‘. Peter Handke und der Bleistift“. In: Peter Handke. Freiheit des Schreibens – Ordnung der Schrift. Hg. v. Klaus Kastberger. Wien 2009 (Profile. Magazin des Österreichischen Literaturarchivs 16), S. 222–236, Zitat S. 222. 4 Handke, Peter: Versuch über die Müdigkeit. Frankfurt a. M. 1989.
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Moment des Selbstverständnisses des Autors verhandelt, der Bleistift zu Recht als zentrales Instrumentarium bestimmt.5 Darüber hinaus bescheinigt die Forschung den drei Versuchen, Zeugen einer Wende im Handke’schen Schreiben zu sein.6 Im Folgenden soll ein Blick in die Werkmaterialien, in die Vorlassbestände Handkes im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek und im Deutschen Literaturarchiv Marbach, geworfen werden, der eine textgenetische Rekonstruktion der Entstehung des Versuchs über die Müdigkeit erlaubt. Dabei sind die folgenden Fragen leitend: Lassen sich im publizierten Text wie in den Materialien Spuren seiner materiellen Herstellung finden und wenn ja, inwiefern sind sie für eine allgemein konstatierte Arbeits- und Schreibweise Handkes von Bedeutung? Wie äußert sich das Verhältnis des Autors zum Werk und zum Schreibgerät per se? Gibt die materielle Rahmung die Art zu schreiben vor, wird das Schreiben gar durch die Materialität selbst bestimmt? Das hierfür relevante Korpus an Werkmaterialien umfasst das sich in Wien befindende Manuskript7 sowie die Notizbücher8 und Druckfahnen9 zum Versuch über die Müdigkeit, die im Deutschen Literaturarchiv Marbach aufbewahrt werden.
1 Die Notizbücher: Ein Hort der Werkstattnotizen Die Entstehung des im September 1989 erschienenen Versuchs über die Müdigkeit fällt in eine Zeit, in der Handke sich drei Jahre lang auf Weltreise befand, worüber sowohl die Notizbücher als auch das 2005 veröffentlichte Journal Gestern unter-
5 Vgl. Hansel: Langsam – in Abständen – stetig. 6 Vgl. Pfister, Gerhard: Handkes Mitspieler. Die literarischer Kritik zu ‚Der kurze Brief zum langen Abschied‘, ‚Langsame Heimkehr‘, ‚Das Spiel vom Fragen‘, ‚Versuch über die Müdigkeit‘. Bern u. a. 2000, S. 225 f. 7 Das Manuskript befindet sich im Teilvorlass Handke im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien (ÖLA) unter der Signatur: ÖLA 326/07. 8 Im Deutschen Literaturarchiv Marbach (DLA) befinden sich im Vorlass Peter Handkes insgesamt 67 der Forschung zugängliche Notizbücher aus der Zeit von November 1975 bis Juli 1990. Signatur: DLA Marbach, A:Handke. Vgl. dazu auch: Bülow, Ulrich von: „Die Tage, die Bücher, die Stifte. Peter Handkes Journale“. In: Peter Handke. Freiheit des Schreibens – Ordnung der Schrift. Hg. v. Klaus Kastberger. Wien 2009 (Profile. Magazin des Österreichischen Literaturarchivs 16), S. 237–266. 9 Die Druckfahnen befinden sich im Siegfried Unseld Archiv (SUA) im DLA Marbach.
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wegs Auskunft geben10. Handke pflegt in den Einbänden der Notizbücher stets den Reiseverlauf akribisch festzuhalten; so kann der jeweilige Aufenthaltsort des Autors bestimmt und die Reiseroute nachvollzogen werden. Beim Großteil jener Notate, die der ‚Editor‘ Handke im Prozess des Übertragens aus den Notizbüchern in das Journal weglässt – einen Vorgang, den er selbst als „Kopieren“11 bezeichnet – handelt es sich neben zahlreichen Lektürezitaten, Bild- sowie Skulpturenbeschreibungen vor allem um eines, um ‚werkbezogene‘ Passagen, die ohne Kenntnis der Manuskripte nicht vollständig erschlossen werden können.12 Gerade aus diesen lassen sich jedoch Einsichten in die literarische Werkstatt von Peter Handke gewinnen. Als Hauptquellen für die folgende Rekonstruktion der Textgenese des Versuchs über die Müdigkeit dienen neben dem Manuskript vor allem vier Notiz bücher,13 in denen sich die werkbezogenen Einträge in zunehmender Form verdichten: Die ersten beiden Bücher (NB 61 und 62) beinhalten zahlreiche Aufzeichnungen zum Versuch; das Notizbuch 63 dokumentiert und begleitet die Phase der Niederschrift und das Notizbuch 64 bereitet das Schreiben am Versuch durch zahlreiche Korrekturen und Einfügungen nach. In den Notizbüchern werden schon früh die Fäden gezogen, die später das textuelle Gewebe des Versuchs ausmachen. Anhand der temporalen und lokalen Angaben in den Notizbüchern wie im Manuskript lässt sich der Weg der Entstehungsgeschichte in allen Phasen nachvollziehen. Auch die Begleitumstände der Niederschrift sind in den Notizbüchern gut dokumentiert; der Blick in die Notathefte verschiebt jedoch das Verhältnis von Textgenese und Schreibzeit erheblich. Wie Manuskript und Notizbücher zeigen, fällt die Entstehung des Versuchs über die Müdigkeit in den Zeitraum von Anfang 1987 bis Mitte 1989, wobei zwischen Konzeption und Niederschrift unterschieden werden muss. Wann die abstrakte Idee zum konkreten Schreibprojekt wird, lässt sich aus den Notizbüchern nicht herauslesen; zahlreiche punktuelle Andeutungen geben jedoch Hinweise. So ist der Titel des Versuchs über die Müdigkeit bereits im Notizbuch 52 (10. Februar – 27. Mai 1987) in den Einband eingeschrieben, wobei der Rekurs auf den tatsächlichen Text in den Notaten noch
10 Handke, Peter: Gestern unterwegs. Aufzeichnungen November 1987 bis Juli 1990. Salzburg, Wien 2005. 11 Handke: Gestern unterwegs, S. 5. 12 Vgl. Bülow: Die Tage, die Bücher, die Stifte, S. 242. 13 Es handelt sich dabei um die folgenden Notizbücher aus dem Vorlass Handke im DLA: Notizbuch 61: 15. Dezember 1988 bis 17. Februar 1989, Notizbuch 62: Februar bis März 1989, Notizbuch 63: 9. März bis 1. April 1989 und Notizbuch 64: 1. April bis 9. August 1989. Im Folgenden werden die Notizbücher aus dem Bestand des DLA mit der Sigle NB und unter Angabe der Bandnummer zitiert.
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ausgespart bleibt.14 Aufgrund der täglichen Datumsangaben im Manuskript lässt sich eine Schreibzeit von 14 Tagen, vom 11. März 1989 bis zum 25. März 1989, verifizieren.15 Bei einem Blick in die Notizbücher wird dieser Zeitraum jedoch aufgebrochen, verschieben sich die Grenzen zwischen verschriftlichter Konzeption und erfolgter Niederschrift deutlich. So wird der erste schriftlich manifestierte Satz des Versuchs schon am 2. Januar 1988 in Athen notiert: „Immer war ich müde. War ich immer müde? (So der Anfang des Versuchs über die Müdigkeit)“.16 Ob Handke diesen vermeintlichen Beginn des Versuchs aufgegriffen oder verworfen hat, ist aus der Heterogenität der Notizbucheinträge nicht herauszulesen; in der Druckfassung lautet der erste Satz: „Früher kannte ich nur Müdigkeiten zum Fürchten“.17 Handkes Auseinandersetzung mit Vertretern und Werken der bildenden Kunst ist spätestens seit dem Erscheinen der Lehre der Sainte-Victoire (1980) ein in der Forschung bekannter und gut untersuchter Gemeinplatz.18 Als Beispiel für die konzeptionelle Herangehensweise an den Versuch über die Müdigkeit und insbesondere an das vorangestellte Motto soll das Aufgreifen einer Bildimpression und deren Beschreibung in den Notizbüchern beleuchtet werden. Dabei kann den Anhaltspunkten von der schriftlich notierten Bildwahrnehmung bis hin zum tatsächlich abgedruckten Motto nachgegangen werden. Den folgenden Eintrag belässt der Autor im Notizbuch ohne ihn ins Journal zu übertragen: „So etwas von Schlaf-Müdigkeit unter so riesigen Lidern wie bei
14 Siehe NB 52. Der Versuch über die Müdigkeit ist der letzte einer vertikal aufgezählten Reihe von Werktiteln: Die Abwesenheit, Die Kunst des Fragens, Der Bildverlust, Gedicht der Nachbarn, Amok, Versuch über die Müdigkeit. Der Titel des Versuchs über die Müdigkeit wird in folgenden Notizbüchern stets vermerkt: NB 52, NB 54, NB 55, NB 56, NB 57, NB 58, NB 61, NB 62. Im Einband des Notizbuches 56 findet man zum Beispiel einen bisher noch unbekannten Titel zum Bildverlust: „‚Der Bildverlust‘ (oder ‚Der Nessellauf‘)“. 15 Auch in den Notizbüchern wird der Beginn der Niederschriftphase dokumentiert. Einen Tag vor Schreibbeginn notiert Handke „VüdM morgen?“ (NB 63, 10. März 1989) und am Tag des Schreibbeginns: „(Machado; ich habe mit dem VüdM angefangen)“ (NB 63, 11. März 1989). Auch der Fortschritt – „Also: Luft und Sonne zwischen die Schreibfinger? (Ab jetzt bis zum Ende des Versuchs)“ (NB 63, 16. März 1989) und „Die noch größeren Müdigkeiten (ich muß doch noch mit 7 Tagen rechnen?“ (NB 63, 20. März 1989) – und das Ende – „(Schluß, morgen?)“ (NB 63, 24. März 1989) – werden dokumentiert. 16 NB 56. 17 Handke: Versuch über die Müdigkeit, S. 7. 18 Siehe etwa die Ausführungen von: Kurz, Martina: Bild-Verdichtungen. Cézannes Realisation als poetisches Prinzip bei Rilke und Handke. Göttingen 2003 und das Kapitel „Mit Cézanne auf der Hochebene des Philosophen. Der visuelle und der philosophische Intertext in Handkes ‚Die Lehre der Saint-Victoire‘“. In: Hoesterey, Ingeborg: Verschlungene Schriftzeichen. Intertextualität von Literatur und Kunst in der Moderne/Postmoderne. Frankfurt a. M. 1988, S. 101–129.
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den schlafenden Aposteln in Gethsemane der Kirche von Beram des Vinzenz von Kastav habe ich noch nie dargestellt gesehen (heute nachmittag) [Zum ‚Versuch über die Müdigkeit‘] (das war 1474).“19 Zwei Jahre vor der Niederschrift erfolgt hier die Beschreibung eines realen ‚Bildes über die Müdigkeit‘, einer Ölberg-Szene. Diese bildet die erste in den Notizbüchern fassbare Eintragung, die explizit mit dem Text in Verbindung gebracht werden kann und den am frühesten in den Notizbüchern fassbaren Begleitumstand des Versuchs dokumentiert.20 Doch belässt es Handke nicht bei der einen Beschreibung dieser gemalten biblischen Ölberg-Szene. Die Notate rund um die Bibelszene am Berg Gethsemane verdichten sich: „Die Jünger am Ölberg: Sie schlafen ‚vor Traurigkeit‘ (Lukas, wie manche traurigen Kinder); dann in L.s Apostelgeschichte die Entfernungsangabe des Ölbergs von Jerusalem: ‚einen Sabbatweg entfernt‘ (25. Januar 1989).“21 In Tours vermerkt Handke am 28. Januar 1989: Die Jünger auf dem Ölberg bei Mantegna sind tatsächlich eingeschlafen ‚vor Traurigkeit‘, zumindest der Sitzende, Johannes, mit seinem kummerverzerrten Mund; wieder der kahle, gespaltene Dornenbaum, in dem die Traubenbündel hängen (es ist nicht Nacht, sondern Dämmerung).22
Während der Rekurs auf dieses Gemälde im Versuch über die Müdigkeit weitgehend ausgespart wird, findet dort jedoch ein anderes Bild Erwähnung: „In Edinburgh, wo ich, nachdem ich über Stunden ‚Die sieben Sakramente‘ von Poussin angeschaut hatte, welche Taufe, Abendmahl und dergleichen endlich einmal im richtigen Abstand zeigten […].“23
19 NB 54, 21. August 1987. 20 Beim beschriebenen Bild handelt es sich um ein gotisches Fresko an der Nordseite der Kirche ‚Maria im Fels‘ oder ‚Heilige Maria auf den Steintafeln‘ (kroat. Sveta Marija na Škrilinjah) in der Nähe von Beram/Kroatien. Die 46 sich in der Kirche befindlichen Fresken entstammen tatsächlich dem Jahr 1474. Über Handkes bezeichnende Befindlichkeit in Beram gibt eine nachträgliche Notiz vom 25. August 1987 Auskunft: „In Pazin (Beram) habe ich mich wirklich müdegelaufen; kam gar nicht mehr aus dem Schlaf. Die Anschauung ist die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt.“ (NB 54). 21 NB 61. 22 NB 61. Tatsächlich hängt im Museé de Beaux-Arts (Tours) das Gemälde des italienischen Malers der Frührenaissance Andrea Mantegna: Le Christ au Jardin des Oliviers (1459). 23 Handke: Versuch über die Müdigkeit, S. 58. Nicht nur das Sehen bildet einen Bezugspunkt des Handke’schen Schreibens, sondern auch das Lesen, wie die zahlreichen Lektürezitate belegen. Beispielsweise versucht Handke in den Notizbüchern ein Tschechow-Zitat als potenzielles Motto zu verwenden: „Aber warum sind wir so müde? Das ist die Frage (An Anonymous Story):
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Abb. 10: Andrea Mantegna: La Priére au jardin des oliviers (1459). Musée des Beaux-Arts, Tours
Wenn auch diese Belege nur im Hintergrund des Versuchs fungieren und keine unmittelbaren Spuren im Drucktext hinterlassen haben, so bilden sie dennoch Eckpfeiler im Hinblick auf das Bibel-Zitat, das einen Monat nach dem Beginn der Textniederschrift (am 11. April 1989) erstmals notiert und später übersetzt wird: „Lukas 22/45 ‚Und als er sich vom Gebet erhob, und zu seinen Jüngern kam, fand er sie schlafend vor Kummer‘ (Motto f. VüdM)“.24 Am 19. Juni 1989 wird dieses Motto modifiziert und zunächst in lateinischer, dann in griechischer und zuletzt in deutscher Sprache eingetragen: „Und aufgestanden vom Gebet, gekommen zu
‚What if by some miracle, the present should turn out to be a dream, a hideous nightmare, what if we awake renewed cleansed, strong proud in our sense of rectitude? … Joyans visions fire me, I am breathless with excitement. I have a terrific appetite for life. I want our lives to be sacred, sublime and solemn as the vault of the hearous‘ (Das wäre ein Motto zum VüdM)“ (NB 61, 31. Januar 1989). Die hier zitierte 1893 erschienen Novelle Tschechows Рассказ неизвестного человека wurde auf Englisch mit An Anonymous Story und auf Deutsch mit Erzählungen eines Unbekannten übersetzt. 24 NB 64.
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den Jüngern, fand er sie schlafend vor Betrübnis und er sagte zu ihnen: Was schlaft ihr? Aufgestanden betet, daß nicht ihr hineinkommt in Versuchung!“25 Während dieses Motto im Manuskript selbst fehlt, wird es im zweiten Lauf der Druckfahnen des Versuchs über die Müdigkeit von Handke nachgetragen: „(Motto) Und als er sich vom Gebet erhob und zu seinen Jüngern kam, fand er sie schlafend vor Traurigkeit Lukas, 22,45“26. Der Wortlaut des griechisch-deutschen Vorspruchs lautet schließlich in der Buchfassung: „Und aufgestanden vom Gebet, kommend zu den Jüngern, fand er sie eingeschlafen vor Betrübnis“.27 Die Aufzeichnungen zeigen, wie das Motto des Versuchs über die Müdigkeit in den Notizbüchern aufgegriffen, ‚zwischengespeichert‘, teilweise wieder verworfen und zum manifesten Text weiterentwickelt wird. Ausgehend von den manifestierten Anhaltspunkten in den Notizbüchern, wie den beschriebenen Bildimpressionen der Ölbergszene, dem Notieren bzw. Übersetzen der Bibelzitate bis hin zur nachträglichen Ergänzung in den Druckfahnen und der endgültigen Formulierung in der Druckfassung kann der ‚konzeptionelle Gang‘ der Werkstattnotizen zum Motto nachvollzogen werden. Der Eindruck einer linearen Chronologie der Notizen wird nur durch die Datierungen der Einträge hergestellt. Eine Schreibtheorie Handkes findet man in keinem poetologischen Essay des Autors als „verfügbares Ganzes“ vor: Sie ist, wie Adolf Haslinger postuliert, aus den „vielen Andeutungen und Annäherungen in seinen Notizbüchern zu erfahren und zu spüren“. Dabei ist sie kein „fixes Programm“, sondern gekennzeichnet durch die „ständige Suche nach einer künstlerischen Form“.28 Dies bestätigt sich mit einem Blick auf die Einträge. Je näher das Datum rückt, an dem Handke tatsächlich zu schreiben beginnt, desto mehr verdichten sich die Notate zum Versuch über die Müdigkeit in ihrer Häufigkeit einerseits, in ihrer poetologischen Relevanz und thematischen Prägnanz andererseits. „Nicht nur ‚Versuch über die …‘, sondern auch ‚V. mit der Müdigkeit‘ (Das Wort ‚Versuch‘ wie in der Chemie verwenden)“;29 „VüdM: Fragen, Erzählen,
25 NB 64. 26 Peter Handke. Versuch über die Müdigkeit. Druckfahnen 2. Lauf. Mit Korrekturen von Peter Handke. Datierung: 1./2.05.1989; DLA, SUA:Suhrkamp/Manuskripte anderer (Mappe: Versuch über die Müdigkeit II). 27 Handke: Versuch über die Müdigkeit, S. 6. 28 Vgl. Haslinger, Adolf: „In treusorgender Ironie“. In: Einige Anmerkungen zum Da- und zum Dort-Sein. Ehrendoktorat an Peter Handke durch die Universität Salzburg. Hg. v. Peter Handke u. Adolf Haslinger. Salzburg, Wien 2004. S. 13–34, Zitat S. 15. 29 NB 61, 4. Februar 1989.
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Beschreiben“;30 „Der VüdM muß immer wieder ins Erzählen kommen, dahin ausschwingen, und dann neu ansetzen mit Fragen“.31 Die Grundzüge werden schon vor dem eigentlichen Schreibbeginn festgeschrieben und die konzeptionelle Gangart des Versuchs in den Einträgen skizziert. Doch Handke belässt es nicht nur bei einigen kurzen Postulaten zum Versuch, sondern reflektiert wenige Tage vor Schreibbeginn in einer Notiz eine abermaligen Wende in der Gesamtheit seines eigenen schriftstellerischen Schaffens. Das noch zu schreibende Projekt, der Versuch, soll dabei den Beginn einer neuen Phase seines Schreibens markieren: Mit ‚Langsame H.‘ begann meine griechische-suchende, mäandernde, zögernde, verweilende, ätherische Phase; nun ist es wieder Zeit für eine lateinische, lineare, vorwärtsdrängende, lakonische: den Anfang will ich versuchen mit dem ‚Versuch über die Müdigkeit‘ (wo?) – und so sitze ich da, an die niedere Steinmauer gelehnt, umgeben von den glanzschwarzköpfigen […] Raupen, den Ameisen, den frischen Wespen kaum flugfähig, vom kleinsten Wind in den Sand geblasen […].32
Auch während der Schreibzeit des Versuchs ändern sich die Notizen hinsichtlich ihrer poetologischen Funktion kaum, sie werden lediglich seltener. Auffallend dabei ist, dass während der 14 Tage der Niederschrift kaum Einträge mit Bleistift gemacht werden. Allgemein entsteht der Eindruck, dass sich der Autor immer wieder mit poetologischen Notaten ermahnt und erinnert: „Ein Paragraph, mit Fragen, welche vorher zu den verschiedenen Müdigkeiten passen; Farben? Räume?“ (14. März 1989), „VüdM: Bild/Erzählung/Frage“ (21. März 1989), „Nicht vergessen: Die M., die durchs Land geht“, „Am Ende wieder in P.’s Schöpfungserzählung hineinkommen!“ (22. März 1989).33
2 „Der Ort, von dem ich nichts wusste“: Topographien des Schreibens Wie ergeht sich Handke seinen Schreibort, wie eignet er sich diesen Raum an? Verfasst wurde der Versuch über die Müdigkeit in der andalusischen Stadt Linares, worüber die temporalen und topographischen Angaben in den untersuchten
30 NB 62, 28. Februar 1989. 31 NB 63, 9. März 1989. 32 NB 62, 5. März 1989. 33 NB 63.
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Werkmaterialien sowie im Drucktext Auskunft geben. Aus den Notizbucheinträgen ist ersichtlich, wie sich der Autor der ‚Schreib-Stadt‘ nähert: 5. März 1989 (Linares, Sonntag, Sonne; die Balkons als Zimmer, wo eine alte Frau gerade Wäsche aufhängt und dann den Vorhang, einen riesigen gestreiften, zu dem Zimmerbalkon vorzieht) Gestern noch: In Alcazar das Liegen an den Schienen am Bahnhofsende, die ersten Ameisen, die vorbeigehenden Eisenbahner, in Abständen, ohne Blick; die wie abschüssige Zugfahrt von der Mancha, mit beginnenden Schluchten in Andalusien; bei der Ankunft am weitab liegenden Bahnhof von Linares noch in der vollkommensten Tageshelle die über dem Vorplatz kurvenden Fledermäuse; Busfahrt in den Ort, von dem ich nichts wußte und der immer größer und städtischer wurde, mit vielen Einsteigenden an den Stationen; das schöne geräumige Hotelzimmer, aus dem Krach in die Stille; dann die Tapas-Stunde, schon in der Dunkelheit, […] – ganz im Geschehen konnte ich in dieser Stunde sein, ganz im Bild.34
Konstitutiv für das Schreiben Handkes ist Gerhard Fuchs zufolge die „Suche nach den Übergangs-Orten, den Schwellen, den Grenzbereichen“.35 Handkes Texte sind stets um das Ausloten dieser Schwellen und Übergänge bemüht, die topographisch an der Peripherie, den Randbezirken sowie in der Provinz zu verankern sind. Um sich diese Zwischenorte aneignen zu können, sind für den Autor zwei „Verfahren der Raumaneignung“ charakteristisch: Die Langsamkeit und das Gehen, wobei „die Verflüssigung und Verlebendigung der Raumwahrnehmung durch das Gehen“36 die Suche nach ebendiesen Orten bestimmt. Auch in den Notizbüchern finden sich häufig Notate zu einem Schwellenort in der Peripherie der andalusischen Stadt Linares; so lautet ein Eintrag vom 5. März 1989: „Spanien, La Mancha, Andalusien: Das pfingstliche Gehen der Alten mit den Kindern über die Felder, und du? (im Brachland außerhalb von Linares, Frühnachmittag; du mußt dich wappnen gegen, für dieses Licht, wachsen mit diesem Licht)“.37 Das Gehen wird so zum zentralen Vehikel der Raumaneignung, wovon die folgenden zwei Einträge zeugen: Gestern beim AufderStraßeStehen mit den vielen, auf den großen Bildschirmen im Geschäft das Basketballspiel mitanschauend, war ich zum ersten Mal hier ‚mit dabei‘, mit einem leichten Herzen (das aber schon am Vorabend da gewesen war, im langsamen Gehen, mit hinter, vor den andern – pas eo – vom Rand hinein in die Stadt, unter den grünenden Bäu-
34 NB 62. 35 Fuchs, Gerhard: „Sehnsucht nach einer heilen Welt. Zu einer ‚Schreib-Bewegung‘ in den späteren Prosatexten Peter Handkes“. In: Peter Handke. Die Langsamkeit der Welt. Hg. v. Gerhard Fuchs u. Gerhard Melzer. Graz 1993 (Dossier. Die Buchreihe über österreichische Autoren), S. 115– 136, Zitat S. 127. 36 Fuchs: Sehnsucht nach einer heilen Welt, S. 127. 37 NB 62.
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men; und war es nicht auch da gewesen, als das Kind vorbeigefahren, mir die Arme entgegenstreckte?38 Gestern noch: das Gehen auf den ehemaligen Eisenbahnschienen im Gegenwind nach kurzem Zuschauen beim Fußballspiel (die Häuser neben dem Platz hatten die Läden geschlossen, um die Fenster vor dem Ball zu schützen); dann bergauf über Kalkhänge; der verfallene Olivenbauernhof, umstanden von Eukalyptus, rauchender Abfallhang, endlich ein Gehgefühl, in der Weite, zwischen den Ölbäumen, die rauschten; zurück in die bei der Kälte und dem Wind leere Stadt […].39
Wie Georg Pichler in seiner Untersuchung zeigt, ist die Peripherie Spaniens als geographischer Bezugspunkt in mehreren Werken Handkes präsent; dabei kommt ihr eine Rolle als Schwellenort zu. Eine Referenz an die geographische Realität Linares als Randort wird auch im Versuch über die Müdigkeit hergestellt.40 Für Pichler variiert allerdings der jeweilige Stellenwert der Wahrnehmung real existierender Orte. Während Spanien im ersten der Versuche eher im Hintergrund bleibt, wird die spanische Stadt Soria im Versuch über die Jukebox in den Vordergrund gerückt und fungiert als einer der Erzählvorwürfe des Erzählers. In einem Interview mit Peter Hamm bekundet Handke den Zusammenhang von Gehen und der geographischen Beschaffenheit Spaniens: Das Gehen ist heute, glaube ich, das wirkliche Abenteuer, nicht dieses Walking oder wie auch immer man das nennt, und nicht das Wandern, sondern richtig das Gehen querfeldein durch die Städte durch, von der Vorstadt in die Stadt, zur großen Stadt wieder zu Fuß hi naus, in die Vorstadt, in die Steppe hinein – und da sind wir wieder bei Spanien: das ist in Spanien am handgreiflichsten oder fußgreiflichsten möglich.41
38 NB 63, 15. März 1989. 39 NB 63, 19. März 1989. 40 Pichler spricht von insgesamt zehn Büchern Handkes mit Spanienbezug. Siehe Pichler, Georg: „Inszenierung fremder Landschaften. Peter Handkes spanische Reisen“. In: Peter Handke – Poesie der Ränder. Hg. v. Klaus Amann. Wien, Köln u. Weimar 2006. (Literaturgeschichte in Studien und Quellen 11), S. 65–80, hier S. 65–66: „Wie das Werk Handkes generell an der Peripherie angesiedelt ist, so ist auch seine spanische Geographie eine des Abseits. Großstädte kommen nur am Rand vor, das Meer, das eine Konstante im Bewußtsein des Landes bildet, wird kaum erwähnt, dafür bewegen sich die Protagonisten durch kleine Provinzstädte, abgelegene Dörfer und menschenleere Landschaften. Mit nur wenigen Ausnahmen sind fast alle Texte im zentralen iberischen Tafelland, der kastilischen Meseta, angesiedelt. Hinzu kommen ‚die spanische (katalanische) Enklave Llivia im Hochland der östlichen französischen Pyrenäen‘ (NB 37), in die sich der Ich-Erzähler aus der Niemandsbucht zurückzieht, um hier zu arbeiten; und die nordandalusische Provinzstadt Linares, in der ein anderer, dem realen Autor nah verwandter Ich-Erzähler im März des Jahres 1989 an seinem Versuch über die Müdigkeit arbeitet.“ 41 Handke, Peter u. Peter Hamm: Es leben die Illusionen. Gespräche in Chaville und anderswo. Göttingen 2006, S. 40.
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Wenige Tage vor Schreibbeginn stellt Handke die Frage nach dem potenziellen Schreibort für das Verfassen des Versuchs sowie einer angemessenen Schreib umgebung: „Den Anfang will ich versuchen mit dem ‚Versuch über die Müdigkeit‘ (wo?)“.42 Handkes Schreiben wird, wie Raimund Fellinger auch für Mein Jahr in der Niemandsbucht feststellt, von einer „das Schreiben begleitende[n] und ergän zende[n] Aufmerksamkeit für die Umgebung“43 gerahmt, einer Notwendigkeit, die sich auch in den Notaten rund um den Versuch widerspiegelt: Die Anmerkungen zur auditiven Wahrnehmung von Lärm am jeweiligen Aufenthaltsort des Autors häufen sich auffallend. Es sind Schilderungen von Klangräumen, Attribute des Lärms, die Handke sowohl in Klammern hinter das Schreibdatum setzt als auch innerhalb der Notate vermerkt: „4. März 1989 (Alcazar de San Juan Sonne, Lärmstraße […]“; „das schöne geräumige Hotelzimmer, aus dem Krach in die Stille“ (5. März 1989 in Linares); „7. März 1989 (Sevilla, wieder einmal in einem plappernden, knallenden, schnarchenden Innenhof. […]“44 Die Suche nach einem potenziellen Schreibort wird an die Geräuschkulisse gekoppelt und ermöglicht die Reflexion über einen denkbaren Aufzeichnungsakt, wobei eine mögliche Schreib-Szene imaginiert wird: 10. März 1989 (Linares, ‚Pension Juanita‘, diesmal auch bei Verrenkung kein Blick aus dem mit Wäsche vollgehängten Patio zu einem Himmel; in der Nacht wieder das Geschnarch allseits, Brüllenhusten. – räuspern, Schreien einer Frau wie im tiefen Traum, mehr ein Entsetzensschreien […] Dann Zimmersuche, dabei der erste Reif des neuen Monds über der Stadt. Kammer ohne Tisch, nur im Schrank eine eingebaute Bank, worauf ich mir das Schreiben vorstellte, so im Schrank sitzend (VüdM morgen?)45
Diese Zimmersuche scheint beendet, als Handke am selben Tag notiert: „(Hotel Cervantes, Linares, früher Nachmittag)“.46 Ein mögliches Schreibzimmer begegnet dem Autor in den Notizen schon am 25. Januar 1989 in Amiens: „(Zum ersten Mal seit Kyle steht in dem Zimmer ein Tisch, an dem ein Schreiben möglich wäre)“47. Wenige Tage vor Schreibbeginn macht sich Handke Notizen zum Schreibort: „Der Garten des Niemandslands; das terrain vague, dein Garten (für die
42 NB 62, 5. März 1989. 43 Fellinger, Raimund: „‚Schreiben: Sich zur Ruhe setzen.‘ Die Entstehung von ‚Mein Jahr in der Niemandsbucht‘.“ In: Peter Handke. Freiheit des Schreibens – Ordnung der Schrift. Hg. v. Kastberger, S. 133–142, Zitat S. 138. 44 NB 62. 45 NB 63. 46 NB 63. 47 NB 61.
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nächste Zeit)“.48 Der Schwellenort im Freien für das Schreiben dürfte in diesen Tagen, so kann man es aus den Einträgen herauslesen, ebenfalls gefunden worden sein: „‚Hasta luego!‘ kräht der Hahn (in den Olivenfeldern bei Linares, Mitte Nachmittag); Die Gregor-Samsa-Käfer, schwarz, lang, schmal, kleinköpfig, mehrgliedrig, sich durchs Gras schlängelnd (Kamillenheide bei L.)“.49 Handke trifft in Linares auf Widerstände des Schreibens, die in den beschriebenen Klangräumen problematisiert werden. Bezeichnenderweise ist es der österliche Lärm, der den Autor seinen Schreibort ins Freie verlegen lässt, ein Umstand, der von Handke in einem 2009 mit Klaus Kastberger und Elisabeth Schwagerle geführten Gespräch bestätigt wird. Das Schreiben im Freien wird zur „Hauptsache“, die Bedeutung des Schreibortes innerhalb des Schreibprozesses aufgewertet: Bei der Niemandsbucht war das Freie eigentlich die Hauptsache. Weil ich den Nachbarlärm nicht vertragen hab, das Rasenmähen und all diese Geräte, und dann hab ich es halt versucht im Wald. Aber es stimmt nicht ganz genau, was ich sage, denn schon in Spanien, als ich den Versuch über die Müdigkeit geschrieben habe, habe ich den Osterlärm, der ein schöner Lärm ist in Spanien, wenn die herumziehen mit den Kreuzen, vermummt, Christus spielen und die Gottesmutter … all die spanischen Städte schreien ja von der Passion Christi. Und da habe ich gedacht: Mensch, im Hotel geht es nicht, da bin ich schon damals hinaus und habe gedacht: Eigentlich schön, unter dem Eukalyptus zu sitzen, in so einer ehemaligen Bergwerksgegend, wie es das nördliche Andalusien ist. Nie hätte ich vorher gedacht, dass ich im Freien sitzen und episch werden kann. Ich habe gedacht, im Freien könne man nur fragmentarisch das und das im Notizbuch wahrnehmen. Aber nein, das ging dann einfach. Ich meine, es war kein großer Fluss, das ist bei mir nicht zu fürchten, aber das Schreiben war … Existenz non plus ultra. Und da habe ich gemerkt: Du kannst es! Dabei hatte ich vorher immer Angst gehabt, dass zwischen dem Blatt Papier und mir kein Gerät ist. Deshalb musste ich immer die Schreibmaschine haben. Jetzt aber konnte ich mit Bleistift und Papier schreiben.50
Zudem finden sich rund um den 11. März 1989, dem Datum, das den Schreibbeginn des Versuchs über die Müdigkeit im Manuskript markiert, verstärkt Notizen zur Peripherie rund um die Stadt Linares, was die Annahme bestärkt, dass das Manuskript im Freien verfasst worden ist. Die Einträge dokumentieren darüber hinaus Handkes Weg zu seinem Schreibort im Freien, einem ‚Zwischenort‘ am Stadtrand:
48 NB 63, 9. März 1989. 49 NB 63, 10. März 1989. 50 Kastberger, Klaus:„‚Es gibt die Schrift, es gibt das Schreiben‘. Peter Handke im Gespräch mit Klaus Kastberger und Elisabeth Schwagerle in seinem Haus in Chaville, 1. April 2009“. In: Peter Handke. Freiheit des Schreibens – Ordnung der Schrift. Hg. v. Kastberger, S. 11–30, Zitat S. 15.
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Später der Weg zwischen den Eukalyptusbäumen weit hinaus. ‚Unverdient schön‘ Duft, Rauschen, Alleinsein. Liegen unter einem Baum, das Schlagen der dichten Zweige gegen die glatten Stämme, Schaben, Reiben, Rascheln. Die geheimnisvolle Absperrung noch weiter draußen im Leeren, Hütten eingelassen zwischen hohen Erdwällen, zwei Männer als Wache, Armheben, einer hob auch den Arm. Dann die verlassene Bergwerkslandschaft Türme, Hallen, schloßähnlich, eine Palme sich biegend in den Ruinen. Die Spuren der ehemaligen Schwellen in einer Grubensenke. Der Kuckuck, dann mehrmals noch unreine Stimme, sonst nichts. Der Dachreiter einer ehemaligen Bergwerkskirche? Die ganze Oliven-Schutt-Eukalyptus-, Gruben-landschaft, wo man hinschaut, mit Ruinen voll, halbverborgen.51
Auch der im Interview erwähnte Osterlärm findet seinen Weg in das Notizbuch: 24. März 1989 (L., Karfreitag, wüste Trommelschlagnacht, bis jetzt, Sonnenaufgang, und wieder, wie vor einem Jahr in León, der ekstatische Trauergesang einer Frauenstimme, hoch über dem andern Treiben, brüchig, zart, immer wieder aussetzend, irgendwann, zwischen Mitternacht und Morgen während {} Hahn krähte).52
Eine Passage, deren Weg vom Notizbuch in die Druckfassung des Versuchs über die Müdigkeit im Folgenden beleuchtet werden soll, zeigt, wie Handke die Wahrnehmung von Orten, Räumen und Geräuschen ineinander verwebt. So heisst es in chronologischer Abfolge am 23. März 1989: Die Schatten der Adler die eben, weitab von den seltsamen Anglern, in der Menschenleere, wo ich das aufschreibe, groß über das Papier streichen Aus dem schrillen Osterwochenzimmer ins Freie hinausgewechselt, in eine überwachsene Bergwerksgegend, an dem Rand einer Eukalyptuslichtung, in eine lind rauschende, aber auch gefährlich wirkende Stille … (vorher: ‚Hier eine nötige Einfügung:‘…) oder am Platz.53
Und die überarbeitete Übertragung im Drucktext lautet schließlich: Hier aber ist vielleicht eine Einfügung am Platz: Auf der Schutt- und Kamillensteppe vor Linares, wo ich jeden Tag hinausgehe […]. […] (Schatten des Adlers aber weit weg von den Fallen, bei mir übers Papier streichend, beim stillen, auch unheimlichen Eukalyptushain an den Bleibergwerksruinen, meinem Schreibplatz im Freien während des ekstatischen Schrillens und Posaunens der spanischen Karwoche) […].54
51 NB 63, 20. März 1989. 52 NB 63. 53 NB 63. 54 Handke: Versuch über die Müdigkeit, S. 62 f.
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Eine Art Nostalgie nach dem Schreibort in Linares scheint bei Handke auch noch etwa zwei Monate nach dem Ende der Niederschrift des Versuchs über die Müdigkeit präsent zu sein, etwa wenn er notiert: „Die archaische Einsamkeit von Linares, draußen beim Eukalyptushain, manchmal habe ich eine Art Sehnsucht danach.“55
3 Das Manuskript des Versuchs und seine Entstehung56 Das durchaus auratisch wirkende Manuskript des Versuchs über die Müdigkeit stellt das erste Werk Peter Handkes dar, das der Autor vollständig mit dem Bleistift verfasst hat. Seither dient dieses Schreibgerät in fast allen Prosamanuskripten als Instrument der Niederschrift.57 Ein erster optischer Befund zeigt: Das Manuskript weist einen einheitlichen Schriftduktus auf und der Text ist konsequent linksbündig ausgerichtet. Die Bleistiftschrift ist kalligraphisch sorgfältig geformt, gut lesbar und zieht sich gleichmäßig geradlinig, in regelmäßigen Zeilenabständen, deren Konstanz man problemlos ein Linienblatt unterlegen könnte, durch alle Seiten. Eine einzige Ausnahme bildet ein Satz auf Blatt 23, der vom Autor mit grünem Filzstift nachträglich eingefügt worden ist. Das Manuskript trägt den Charakter einer graphischen Reinschrift und kann der Reihe der „wohlgeformten Bleistiftmanuskripte“ Handkes zugeordnet werden – ein ästhetisches Urteil, welches Klaus Kastberger anhand der Manuskripte von Der Bildverlust und Mein Jahr in der Niemandsbucht fällt.58 Das Manuskript und seine formvollendete Gestaltung durch das Schreibgerät werden hier in den Rang eines ästhetischen Kunstwerks gehoben. Adolf Haslinger skizziert in seinem Essay zum Faksimile der Handschrift In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus die Grundzüge der Handke’schen Arbeitsweise. Zu deren „prinzipiellen Eigenheiten“ zählt er das lineare Schreiben von Anfang bis Ende in einem täglichen Arbeitspensum, das Festhalten von Zeit und Ort des Schreibens am linken Seitenrand des Blattes
55 NB 64, 6. Juni 1989. 56 Ein Faksimile des handschriftlichen Manuskripts ist 1992 im Suhrkamp Verlag erschienen: Handke, Peter: Versuch über die Müdigkeit. Versuch über die Jukebox. Versuch über den geglückten Tag. Fakismiles der drei Handschriften. Frankfurt a. M. 1992. 57 Vgl. Fellinger: „‚Schreiben. Sich zur Ruhe setzen.‘“ In: Freiheit des Schreibens – Ordnung der Schrift. Hg. v. Kastberger, S. 133. 58 Vgl. Kastberger: Es gibt die Schrift, es gibt das Schreiben, S. 14.
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sowie wie das Notieren von sogenanntem „Nebengekritzel“ auf Beiblättern.59 Eine Arbeitsweise, die auch für Mein Jahr in der Niemandsbucht gilt: „Jeweils am linken Rand des Blattes notiert und unterstreicht er das Datum, an dem die auf derselben Zeile beginnende Passage entsteht – eine Selbstdokumentation, die er seit seinen Anfängen als Schriftsteller betreibt.“60 Das Manuskript des Versuchs ist während der 14 Schreibtage vom 11. März 1989 bis 25. März 1989 auf 23 Blattseiten angewachsen. Die Länge der niedergeschriebenen Tagesportionen ist nie kürzer als 32 Zeilen, wobei ein quantitativer Anstieg während des Aktes der Niederschrift bemerkbar ist. Während Handke anfänglich etwa eine bis anderthalb Bleistiftseiten pro Tag schreibt, ist gegen Ende der Niederschrift eine Steigerung des Schreibtempos erkennbar. Das Ende der Arbeit am Text wird von Handke im Notizbuch und im Manuskript vermerkt. Im Manuskript findet sich dazu der Eintrag: „Linares, 25. März 1989, 17 Uhr?“61 Schon auf dem letzten Blatt werden unter das Ende des Textes, welches mit einem vertikalen Strich markiert ist, mehrere Einfügungen sowie ein Nachtrag vermerkt. Diverse Notizbucheinträge zeigen, dass Handke das Ende des Versuchs während des Schreibprozesses gegenwärtig ist.62 Das im Manuskript dokumentierte Ende der Niederschrift wird auch im Notizbuch festgehalten und am 25. März 1989 hebt Handke die Bedeutung der Begleitumstände des Schreibens noch einmal hervor: VüdM beendet, draußen bei der Eukalyptuslichtung, den Rock angezogen erstmals in den Monaten (ohne das Im-Freien-Sitzen unter dem Euk., hätte ich es nicht so bald hinter mich gebracht — Weite, Stille, Atmen, Aufschauen immer e); nah an der Erschöpfung — nichts könnte ich sagen, nichts63
59 Haslinger, Adolf: „Peter Handke. In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus. Essay zum Faksimile der Handschrift“. In: Peter Handke: In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus. Faksimile der Handschrift. Salzburg 2002, o. S., Zitat: Druckseite 2. 60 Fellinger: Schreiben. Sich zur Ruhe setzen, S. 133. 61 Manuskript, Versuch über die Müdigkeit, ÖLA 326/07, S. 23. 62 NB 63: „(am Ende eine Art Litanei?)“ (15. März 1989); „(am Ende die Müdigkeit der beiden Redner. Gehen wir hinaus auf den Boulevard; setzen wir uns und …)“ (17. März 1989); „X Ende: Wie macht man es, so müde zu werden? Gibt es ein Rezept?“ (19. März 1989); „Die noch größeren Müdigkeiten (ich muß doch noch mit 7 Tagen rechnen?)“ (20. März 1989); „Laß uns doch versuchen so zu leben, daß wir beständig miteinander müde sind. (Ende)“ (21. März 1989); „Und wenn es eine solche Sache nicht gibt? (Ende)“ (22. März 1989); „X Ende: Auf die Straße gehen? Aber ist die Müdigkeit nicht nur zu erreichen im Sitzen?“ (22. März 1989); „(Schluß, morgen?)“ (24. März 1989), „Was kannst du sonst noch zur M. sagen (Ende), nichts Systematisches, Gestreiftes, Beiläufiges, was dir in den Kopf kommt“ (24. März 1989). 63 NB 63.
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Die Notizbucheinträge belegen, dass für den Autor der literarische Schreibprozess nicht abgeschlossen ist. Der Niederschrift folgt eine Phase der Überarbeitung. Konkrete Verweise zu nachträglichen Einfügungen, Korrekturen und Ergänzungen des Versuchs über die Müdigkeit sind in den Notizbüchern noch bis Mitte Juni 1989 festzumachen. Einige dieser nachgetragenen Ergänzungen sind im Manuskript, andere nur in der späteren Druckfassung zu finden.64 Nach dem Abfassen des Versuchs über die Müdigkeit reist Handke weiter, er verlässt Linares und erreicht am 29. März 1989 die andalusische Stadt Granada, wo die arabesken Verzierungen an der Fassade der islamischen Universität La Madraza de Grenada Eingang in die Notizbücher finden. Schrift, Ornament, Form, Rhythmus und der Versuch über die Müdigkeit werden im Modus der Wahrnehmung parallel gesetzt und zu einer poetologischen Einheit verschmolzen: Vergleich f. d. Feingliedrigkeit, in der sich das Weltgeschehen zeigt in der M/: die Ziseliert der islamischen Ornamentik (etwa jetzt der Gebetsraum der alten islam. Universität v. G.) – das übliche Gewirr rhythmisiert sich zur Form (Einf.), zur Wohltat der Form, und zwar Form, so weit das Auge reicht! das ist der große Horizont der Müdigkeit (‚La Madraza‘)65
Diese Passage mitsamt den Korrekturen fehlt im Manuskript, wird aber von Handke aus den Notizbüchern in den Druckfahnen nachgetragen, wie folgender Textabschnitt der Druckfassung beweist: „Die Müdigkeit gliederte – ein Gliedern, das nicht zerstückelte, sondern kenntlich machte – das übliche Gewirr durch sie rhythmisiert zur Wohltat der Form – Form, soweit das Auge reichte – großer Horizont der Müdigkeit.“66 Der Autor bezieht sich in den Einträgen auch direkt auf den vollzogenen Akt der Korrektur des Versuchs über die Müdigkeit, so beispielsweise am 2. Mai 1989: „Ich kann nur wirklich mitfühlen mit den Stars im Sport (mitfühlen und mich mitfreuen); die haben ja auch etwas zum Freuen (Grüneburgweg, Schwüle; nach schwerer Korrektur des VüdM)“.67 Hier wird die aus dem Vergleich von Notizbucheinträgen und Manuskript fassbare Revision festgeschrieben. Indem Handke den tatsächlichen Vorgang der Korrektur bezeugt, unterstreicht er den Widerstand des Schreibers, einen Schreibprozess endgültig abzuschließen, wodurch ein weiterer Begleitumstand des Schreibens manifest wird.
64 Einige Ergänzungen sind in den Notizbüchern mit einem vertikalen Strich markiert; diese lassen sich alle im Manuskript wiederfinden. 65 NB 63, 30. März 1989. 66 Handke: Versuch über die Müdigkeit, S. 53. 67 NB 64, 2. Mai 1989.
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In einem korrigierten und mit Anfang Mai 1989 datierten Exemplar der Druckfahnen zum Versuch über die Müdigkeit fügt Handke mit Bleistift einen Klappentextentwurf hinzu: „Klappentext, auf der Rückseite?: Bild – Erzählung – Frage. / Bleistift – Spitzer – Radiergummi. / Ein Hotelzimmer im Zentrum – Ein Eukalyptushain weit draußen im Niemandsland.“68 Der nie erschienene Klappentext enthält einen verdichteten Begleittext zum Versuch über die Müdigkeit, in dem in einem poetologischen Dreischritt das textkonstitutive Movens „Bild – Erzählung – Frage“ mit dem Instrumentarium der Schreibszene „Bleistift – Spitzer–Radiergummi“ gleichgesetzt wird. Abschließend sei noch auf eine selbstreflexive Imagination der Produktionsvorgänge im Versuch hingewiesen. In Stichworten erzählt das Ich von der Steppe vor Linares, in die es jeden Tag hinausgehe, und zeichnet ein Bild der wahrgenommenen Geschehnisse zwischen Mensch und Tier.69 Die Textstelle mündet in eine Beschreibung der Schreibszenerie, in der sich der Erzähler als Schreiber positioniert: Die da vereinzelt in der Weite wie zum Ausruhen im Schatten der Trümmer oder Steinblöcken Sitzenden, in Wahrheit aber Lauernden, in Schußweite zu den im Umkreis an biegsamen Stangen in den Schutt gesteckten winzigen Käfigen, kaum Raum für die flatternden, doch um so mehr die Käfige ins Wackeln bringenden Kleinvögel darin, bewegliche Köder für die Großvögel (Schatten des Adlers aber weit weg von den Fallen, bei mir übers Papier streichend, beim stillen, auch unheimlichen Eukalyptushain an den Bleibergwerksruinen, meinem Schreibplatz im Freien während des ekstatischen Schrillens und Posaunens der spanischen Karwoche)70
In der geschilderten Schreibszene wird deiktisch auf Begleitumstände des Schreibens verwiesen; dabei werden Bezüge zu dem abgeschiedenen Schauplatz, dem realen Schreibort (Spanien, Schreibplatz im Freien, beim stillen Eukalyptushain), der realen Schreibzeit (Karwoche) und dem realen Material (Papier) hergestellt. Der Ort (Eukalyptushain) kann als Rückzugs- und Zufluchtsort des schreibenden Ichs vor dem Osterlärm gelesen werden, da die Stille und Abgeschiedenheit des Schreibplatzes durch das Gegenbild des „ekstatischen Schrillens und Posaunens der spanischen Karwoche“71 konterkariert wird. Was hier gerahmt wird, ist der auch in den Notizbüchern fassbare Widerstand des Schreibens, als Komponente
68 Peter Handke. Versuch über die Müdigkeit. Druckfahnen 2. Lauf. Mit Korrekturen von Peter Handke. Datierung: 1./2.05.1989; DLA, SUA:Suhrkamp/Manuskripte anderer (Mappe: Versuch über die Müdigkeit II). 69 Vgl. Handke: Versuch über die Müdigkeit, S. 62. 70 Handke: Versuch über die Müdigkeit, S. 62 f. 71 Handke: Versuch über die Müdigkeit, S. 63.
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der Schreib-Szene. Der Schreiber wird durch die Authentisierungsstrategie der Metaisierung präsent. Vor der Folie dieser Indizien von Schreibszenen muss stets bedacht werden, dass es sich um eine erschriebene Welt, eine Textwelt, und nicht um eine Erfahrungswelt handelt. Jedem Schrei ben liegt letztendlich eine Schreibszene zugrunde: Durch den Blick in die Werkmaterialien wird sie doppelt lesbar und erfährt so ihre subjektive Prägung. Der Bleistift nimmt als Arbeitsgerät in Handkes Schreibszenen eine vorrangige Rolle ein, als Konstrukt und Konzept seiner Schreibpraktik. Gerade die Begleitumstände des Versuchs über die Müdigkeit verweisen auf eine literarische Arbeitsweise Handkes, die sich in ihrer Eigenart als zugleich singulär und beispielhaft erweist. Das Schreiben im Freien führt zu Interferenzen, die sich sowohl im Manuskript, dem den Schreibprozess begleitenden Material (Notizbücher und Druckfahnen) wie auch im Text selbst spiegeln. Die manifesten Spuren des Schreibvorganges im Versuch zeugen zumal von einer Selbstreflexivität, die auf den Akt, den Ort und die Zeit der Produktion verweist. Die Ergebnisse legen den Blick auf eine komplexe schriftstellerische Leistung frei, deren Voraussetzung für Handke das Schreiben mit dem Bleistift ist. Das Schreiben mit der Hand wird so zu einer programmatisch-ästhetischen Haltung im Selbstverständnis des schreibenden Autors – sei es Suggestion von Authentizität oder eben ‚Existenz non plus ultra‘.
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IV. Dokumentation
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Handke Lesen Sibylle Lewitscharoff und Ulrich Greiner im Gespräch mit Jan Bürger1 Jan Bürger Lässt man sich auf Peter Handkes Erzählen ein, so fällt eines besonders auf: Das Lesen ist für Handkes Figuren und wahrscheinlich auch für den Autor selbst alles andere als eine sekundäre Erfahrung, sondern eine ganz unmittelbare, primäre. Es ist etwas ganz Ähnliches wie das Beobachten, das Gehen oder das Reden. Handke gehört zu jenen Autoren, die stets ein waches Gespür für die Arbeiten von Kollegen haben, von toten wie von lebenden. So werden seine Bücher unter der Hand auch immer zu einer Schule des Lesens, nicht nur durch seinen eigenen ungewöhnlichen Ton, seine mitunter verstörenden Satzkonstruktionen, seine Wortneubildungen, sondern auch dadurch, dass er über Bücher schreibt, dass er andere Bücher zitiert, dass er sie nacherzählt, mitunter sogar um-montiert, am radikalsten vielleicht mit einem ganz frühen Text, mit seiner Kurzfassung von Kafkas Process, die 1967 erschien. Aber viel feinsinniger finden sich solche Verfahren auch in seinen späteren Büchern. So begegnet man bei ihm Karl Philipp Moritz, Adalbert Stifter, Wolfram von Eschenbach oder Spinoza ebenso wie dem jüngeren Kollegen Josef Winkler oder auch älteren Gegenwartsautoren wie Georges-Arthur Goldschmidt oder Hermann Lenz. Mancher junge Leser wird mit diesen Autoren vielleicht überhaupt durch Peter Handke zum ersten Mal in Berührung gekommen sein. Das ist eine ganz wichtige, man könnte es fast etwas platt sagen, kulturpädagogische Aufgabe, die Handke da wahrnimmt. Handke hat das Lesen von mindestens zwei Generationen entscheidend geprägt, wenn nicht sogar verändert. Man muss überhaupt nicht zu seinen Anhängern oder gar Bewunderern gehören, um von Handke geprägt worden zu sein: Sein Ton, seine Perspektive und auch sein privater Kanon sind zu einer Art Maßstab geworden. Und seine besten Werke werden auch für seine Leser, und ich glaube das ist eines seiner großen Anliegen, zu primären, ganz unmittelbaren Erlebnissen. So wie zum Beispiel Die Lehre der Sainte-Victoire, die mit einem Satz beginnt, der direkt zu unserer Thema führt: „Nach Europa zurückgekehrt“, heißt es da, „brauchte
1 Gekürzte Dokumentation eines Gesprächs, das im Rahmen der Tagung „Peter Handke. Stationen, Orte, Positionen“ am 16. Februar 2012 im Deutschen Literaturarchiv Marbach geführt wurde.
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ich die tägliche Schrift und las vieles neu.“ Lieber Ulrich Greiner, du hast Peter Handke so lange begleitet wie kaum ein anderer Kritiker. In einer deiner ersten Buchveröffentlichungen, in dem Band Der Tod des Nachsommers von 1979, gab es bereits ein großes Kapitel über Handke. Hat sich dein Blick auf ihn in diesen vielen Jahren für dich selbst spürbar verändert? Ulrich Greiner Nein, er hat sich eigentlich nicht verändert. Allerdings hat sich Handke verändert – und ich mich auch, das bringt der Lauf der Zeit so mit sich. Aber er ist mir eigentlich nie fremd geworden. Wenn du sagst, ich hätte ihn zeitlebens begleitet, so ist das wahr und auch wieder nicht, weil dieses Begleiten natürlich auch bedeutete, dass wir auf verschiedenen Seiten standen. Ich habe ihn auch zweimal verrissen. Das mag kein Schriftsteller und Handke schon gar nicht. Aber er ist ausgesprochen fair, und wenn eine gewisse Schmerzenszeit vergangen ist, kann man auch nach einem Verriss wieder mit ihm reden. Meine Sicht auf ihn hat sich nicht verändert, aber wenn wir vom ersten Roman, von den Hornissen, bis zur Stunde der wahren Empfindung und dann weiter bis zum letzten Roman Der große Fall blicken, dann wird deutlich, was das für ein gewaltiger Weg ist. Handke publiziert seit 1965, und er schreibt ja doch sehr viel. Er hat sich entwickelt, und ich mich hoffentlich auch. Bürger Welche Bücher hast du verrissen und wie hat er darauf reagiert? Greiner Den ersten Verriss habe ich über Das Gewicht der Welt geschrieben, das war das erste Tagebuch, und es hat mich damals gereizt. Ich sehe das heute anders, nicht dass ich mich dessen schäme, aber ich würde den Verriss heute so nicht mehr schreiben. Denn ich habe etwas gemacht, was ein bisschen billig ist, aber ich war damals noch jung und ließ mir die Chance nicht entgehen: Ich habe parodiert. Handke erzählt in diesen täglichen Aufzeichnungen ganz ungeschützt, was er so macht und wie es ihm geht, und ich fand das damals unzulässig, privatistisch, banal und unerheblich. Es gibt ja diesen berühmten Satz – er geht durch Paris und sagt: „Schon störte mich der weiche Hintern der Frau, die vor mir ging.“ Bei solchen Sätzen dachte ist dann: Menschenskind, der weiche Hintern dieser Frau, sie kann nichts dafür, warum schreibt er das auf! Das hat mich damals geärgert. Bürger Liebe Sibylle Lewitscharoff, gab es für dich so etwas wie eine literarische Einstiegsdroge bei Handke?
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Sibylle Lewitscharoff Etwa mit 15 ging das los, durch einen begeisterten Freund. Er hat mich angesteckt, aber da habe ich eher, sagen wir mal, aus einer treuherzigen Haltung he raus mitgemacht. Bei mir hat es in höchst eigener Weise und dann für immer gezündet mit dem Wunschlosen Unglück. Und dann hat sich etwas für mich Seltenes entwickelt, nämlich so etwas wie eine großzügige Treue. Das heißt, ich habe seitdem alles von Handke gelesen, vielleicht sind mir ein, zwei Bücher entschnappt, das mag sein, aber im Großen und Ganzen bin ich mit ihm lesend durch dick und dünn, und, ich betone das, ich habe immer großzügig gelesen, weil ich sonst durchaus auch eine analytische Leserin bin. Komischerweise hat Handke, dadurch, dass er eine ganz andere Qualität als andere Autoren besitzt, für mich immer so eine superbe Drift beim Lesen erzeugt. Und daher lese ich auch über Seiten großmütig hinweg, bei denen ich dachte, na, jetzt ist es ein bisschen fade. Also das ist eine Art von Drift, die funktioniert. Und ich habe das nie bereut und eigentlich auch vor, das weiter zu machen. Bürger Kannst du versuchen, das genauer zu beschreiben. Denn ich glaube, das ist ein wichtiger Punkt beim Handke-Lesen: Er fesselt einen ja nicht wie andere Autoren über die Figuren. Lewitscharoff Der macht etwas anderes, aber eine kleine Vorbemerkung: Es ist immer sehr leicht über Abneigungen zu sprechen, da gibt es ein Gebirge von Argumenten. Bei Sympathien ist das schwieriger, die sind ganzheitlicher verfasst. Aber es gibt schon drei, vier Dinge, die mich wirklich faszinieren: Zum einen finde ich, ist das ein Autor, der auf eine sehr überraschende Weise etwas immer wieder versteckt hält, das ich als epiphanische Sprengkapseln bezeichnen würde. Es ist eine sehr geduldige, scharfe Beobachtung in seinen Texten, die zu erstaunlichen Ergebnissen führt. Und Epiphanie meint in dem Fall wirklich etwas, das man so noch nie gesehen hat. Das ist das eine. Dann gibt es etwas, dessen Wirkung man auch nicht unterschätzen sollte: Er ist einer der ganz wenigen Schriftsteller der Moderne, die nicht diesem Grausamkeitstheater verfallen sind. Heute werden die Körper ja sehr schnell preisgegeben, es ist üblich, dass man richtig zur Sache geht und eine gewisse Abgebrühtheit demonstriert. Das ist bei Handke nicht der Fall. Bei ihm gibt es eine Intaktheit des Menschen, die ich wunderbar finde. Das ist das zweite. Und dann natürlich diese Art über Formen der Arbeit zu schreiben – es kommen ja viele Figuren am Wegesrand vor, die einfachen Tätigkeiten nachgehen, die keine klassischen Intellektuellen sind, sondern Handwerken nachgehen – und diese Formen der Arbeit, wie die dargestellt sind, das nimmt mich sehr
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gefangen. Das hat für mich auch eine, mag es leicht kitschig klingen, das hat eine humane Schönheit, der ich wirklich traue. Greiner Ja, das ist offenkundig Handkes Ziel, und damit steht er eigentlich allein da. Seine Bücher sind ja Rettungsphantasien. Wobei er nicht daran interessiert ist, die Menschheit zu retten, was immer das sein soll, sondern zunächst einmal einen Blick zu retten, ein Detail, sich selbst zu retten gegen diese Furie des Verschwindens. Und damit hängt das zusammen, was Sie Epiphanie nennen. Ich hatte sogar Phasen, in denen ich versuchte, mir Handkes Blick anzueignen. Vielleicht ist der Begriff Epiphanie auch schon ein bisschen zu edel, entschuldigen Sie, weil es einfach darum geht, dass Handke die Fähigkeit hat, Details zu sehen, etwas zu erkennen, was überall da ist. Eines meiner Lieblingsbücher ist das Tagebuch Gestern unterwegs. Wer es nicht kennt, dem würde ich dringend raten, es zu lesen, denn es ist unglaublich, wie er Kinder beim Spielen beobachtet; oder wie es anfängt zu regnen, und die Kinder in den Regentropfen hüpfen. Wenn ich das jetzt so reproduziere, klingt das ein bisschen einfältig und banal. Aber davor hat Handke keine Furcht, es sind wirklich große, ja fast rettende Momente, die er da sammelt. Dafür war ich ihm als Leser immer dankbar, weil ich dachte, warum hab ich das nicht gesehen. – Einmal habe ich im Gespräch zu ihm gesagt, nun, das war ein bisschen blöd von mir: ‚Naja, Sie haben ja auch Zeit. Unsereins hat immer was zu tun.‘ Und dann sagte er: ‚Nein, jeder hat Zeit.‘ Für solche Worte bin ich ihm dankbar. Bürger Es fielen die Wörter ‚einfältig‘ und ‚banal‘; das klingt fast so, als könnte beim Reden über Handke die Gefahr bestehen, kitschig zu werden – und möglicherweise auch bei Handke selbst. Aber ist der Kitsch überhaupt eine Gefahr? Ist es mitunter nicht auch eine Form von Größe, den Kitsch zuzulassen? Lewitscharoff Also da wäre ich vorsichtig, als kitschig empfinde ich Handke nie. Es gibt sicher Passagen, wo ich denke, das ist etwas banal, aber ich lese, wie gesagt, weiter, denn ich weiß, es kommt wieder etwas Tolles. Ich überantworte mich diesem Fluss, und bereue das nie. Ganz schlicht und ganz einfach. Mit Kitsch würde ich da nicht kommen. Greiner Nein, Kitsch ist es nicht, aber ich habe auch manchmal mit Handke beim Lesen Probleme. Und das hängt damit zusammen, dass Handke, wie er es selbst einmal
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ausgedrückt hat, kein Lesefutterknecht sein möchte. Das ist ein ganz konkretes Bild: Er kommt ja vom Land und hat das gesehen, die Knechte, die das Futter auf den Schubkarren laden und in den Stall fahren. Und in diesem Fall ist der Schriftsteller derjenige, der Lesefutter in den Schubkarren schmeißt und zu uns Lesern fährt. Und das will er nicht. Deswegen ist es auch schwer, von Handkes Büchern zu erzählen, es ist schwer, weil sie eigentlich, von Ausnahmen abgesehen, von wenig handeln. Handkes Geschichten sind entweder rasch erzählt oder gar nicht zu erzählen, weil es um etwas anderes geht. Bürger Sibylle Lewitscharoff sagt, der kritische Blick setzt beim Handke-Lesen aus. Heißt das umgekehrt, dass es in Handkes Büchern Sätze gibt, die man einem jungen Autor ankreiden würde, Handke aber, warum auch immer, nachsieht? Greiner Ich glaube nicht, dass es darum geht, dass mancher Handke-Satz ein bisschen schräg ist. Ich habe mit seiner Sprache eigentlich nie Schwierigkeiten, obwohl sie manchmal ungewöhnlich ist. Sie ist einfach angemessen, weil das, was er sagen will, etwas Besonderes ist. Es geht nicht um irgendeine Art von Realismus oder Naturalismus. Ich sehe auch so einen neuen Naturalismus überall heranwachsen, wo dann irgendwelche tristen Alltagsbanalitäten fürchterlich ausgebreitet werden oder wo, was ja auch der Normalfall ist, irgendwelche Schriftsteller irgendetwas erlebt haben. Jeder hat ja seine Probleme, vor allem, wenn man jung ist. Dann setzt man sich hin und schreibt ein Buch und erzählt das in der IchForm und auch noch im Präsens, und dann kriegt man vielleicht auch eine Auszeichnung. Ich will das auch gar nicht schlecht machen, nur das ist nichts, was mich in irgendeiner Weise entschädigt für die Zeit, die ich mit der Lektüre verschwendet habe. Ich möchte ja doch, um es mal etwas buchhalterisch auszudrücken, etwas davon haben. Und bei Handke habe ich etwas davon. Es geht nicht darum, dass da Sätze sind, die ich einem jungen Autor nicht verzeihen würde, das ist nicht das Problem. Was vorkommt, ist, dass die Sätze verstiegen sind, wie man so sagt. Na gut, dann sind sie halt verstiegen, dann muss man gucken, wo die Stiege hinführt. Lewitscharoff Ich bin dankbar für den Hinweis, dass er einer der wenigen Autoren ist, die dieser Form des Naturalismus wirklich nicht verpflichtet sind, von Anfang an nicht. Das ist für mich eine große Leistung. Handke ist immer etwas Besonderes gewesen.
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Bürger Das klingt so, als wäre Handkes Werk sehr konsistent. Aber wenn man seine Karriere Revue passieren lässt – mit der Provokation am Anfang (die eher eine Pose der Provokation war), dann die starke Rezeption als Dramatiker, Die Hornissen, die jene Richtung, die er vielleicht mit der Stunde der wahren Empfindung eingeschlagen hat, nicht ahnen ließen, dann diese großen Neuauftritte, die Niemandsbucht, das Engagement für Serbien – ist dieses Werk wirklich so konsistent oder gab es da auch erkennbare Umschwünge und Brüche? Greiner Ich glaube nicht, dass das so geplant war bei ihm, aber wenn man zurückschaut, ist man schon geplättet von dieser Fähigkeit, sich selbst zu entwerfen und darzustellen. Es begann scheinbar harmlos mit den Hornissen. Ich würde fast vermuten, kein deutscher Verlag würde diesen Erstlingsroman eines vollkommen unbekannten Autors noch drucken, weil es ein ziemlich sprödes, schwieriges Buch ist. Aber damals war das anders. Dann kam der berühmte Auftritt in Princeton. Auf, wenn ich recht informiert bin, Unselds Vorschlag wurde dieser junge Handke, der nicht zufällig aussah wie einer der Beatles, nach Princeton eingeladen und hielt sich an keine der eisernen Regeln. Die wichtigste lautete: Es wird nur über vorgelesene Texte gesprochen. Und Handke stand auf, sprach nicht über einen vorgelesenen Text, sondern hielt seinerseits eine Vorlesung, in der er die versammelte Mannschaft beschimpfte. Es gibt von Friedrich Christian Delius, der damals auch in Princeton war, eine Schilderung, aus der hervorgeht, dass Delius damals ziemlich sauer war. Er sah diesen jungen Handke, von dem er gar nicht wusste, wer das war – Handke saß vor dieser Veranstaltung und hatte ein Manuskript dabei, in dem er rumkritzelte. Mit anderen Worten: Handke hat diesen Auftritt vorbereitet, und das war Delius, der auf dieser Tagung keinen Auftritt hatte, natürlich ein Dorn im Auge. Ich will jetzt nicht Delius’ Darstellung übernehmen und ich weiß auch nicht, ob Handke das wirklich so kaltblütig geplant hat. Es ist auch egal: Nach diesem Auftritt war er der berühmteste deutsche Schriftsteller. Und was machte er? Er schrieb die Publikumsbeschimpfung, das war schon ziemlich genial. Und so ging es weiter. Wenn man sich die Reihe seiner Buchtitel vor Augen führt, das sind ja goldene Worte: Die Angst des Tormanns beim Elfmeter, Die Stunde der wahren Empfindung, Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt, das muss man erst einmal können. Das hat aber dann den Eindruck erweckt, und das ist ihm auch vorgeworfen worden, er sein ein genialer Selbstvermarkter. Ich glaube das eigentlich nicht.
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Lewitscharoff Das ist komplizierter, ich meine, man darf da nicht so einfach darüber hinweg interpretieren. Das hängt schon mit einer anderen Form des Sozialen zusammen – wenn man aufgewachsen ist wie Peter Handke und plötzlich die Welt betritt … Das ist etwas anderes, als wenn man in bürgerlichen Verhältnissen groß geworden ist. Da ist die Form, den Zugang zu erzwingen, vielleicht auch durch Aggression, wirklich eine ganz andere Triebkraft. Das kann man auch bei Josef Winkler sehen, das kann man überall sehen bei Leuten, die ganz anders aufgewachsen sind. Was Sie angesprochen haben, Herr Greiner, das macht mir die Person Peter Handke allerdings nicht unbedingt sympathisch. Greiner Die Person Handke? Lewitscharoff Ja, ich habe da auch ein schreckliches Erlebnis zu bieten. Das hat aber nicht dazu geführt, dass ich seine Bücher nicht mag. Also wenn ich’s erzählen darf, es ist eine kleine, nette Geschichte: Da war ich noch ganz jung, und da habe ich in Wien als Regieassistentin einen Film mitgemacht über Hermann Lenz. Mit Hermann Lenz und seiner Frau verstand ich mich glänzend, die mochten mich allein schon, weil wir ständig über den Killesberg in Stuttgart geredet haben, ich komme da her, das ging sehr einfach. Und dann gab es einen Drehtermin in einem sogenannten Wiener Durchhaus. Und da standen Handke und Hermann Lenz zusammen in einem Gespräch. Handke hatte so einen Anorak an, und der Toningenieur sagte zu mir: Geh doch da mal hin, der quietscht immer, Handke muss entweder die Arme ruhig halten oder den Anorak ausziehen. – Ich muss dazu sagen, ich habe mich weder Hermann Lenz noch Handke in irgendeiner Form penetrant genähert, wirklich nicht, ich war sehr vorsichtig. Ich gehe also ganz freundlich zu ihnen, und da flucht der mich zusammen. Und ich war damals jung und wirklich nur ein Hilfsbremser, also in niederer Stellung! Und Hermann Lenz fasste ihn am Arm und sagte: „Aber Peter, jetzt regsch di net so auf, des isch so a liebs Mädle“. – Lenz hat mich damals gerettet. Aber es war mir doch eine Lehre – das gehört zu den Charaktereigenschaften, die ich nicht schätze: Ich habe sehr strenge Vorbehalte gegenüber Leuten, die ihre Sau an Menschen raus lassen, die sozusagen etwas einfachere Dienste versehen müssen. Das ist mir ziemlich widerwärtig, um es scharf zu sagen. Deswegen führt mich nichts dazu, mit Herrn Handke sprechen zu wollen. Ich bleibe bei seinen Büchern.
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Bürger Offenbar geht bei Handke ein großes Einfühlungsvermögen mit gelegentlicher Aggression einher, auch mit Wut. Greiner Bleiben wir bei der Aggression: Es gibt besonders im Bildverlust sehr beunruhigende Kriegsphantasien. Der Krieg spielt bei Handke immer wieder eine Rolle, und es ist ihm auch unterstellt worden, dass er diese Kriegsphantasien mit einer gewissen Lust ausbreitet. Das halte ich für Quatsch, aber natürlich gibt es seine aggressive Seite. Vielleicht habe ich auch deshalb immer einen gewissen Abstand zu ihm gehalten. Außerdem gehöre ich für ihn ja sowieso einer anderen Spezies an, weil ich Kritiker bin. Er hat mich auch schon öfters beschimpft deswegen, das nehme ich aber eher sportlich. In der übrigens wirklich guten Biografie von Malte Herwig finden sich Zeugnisse von Freunden, die Handke alle sehr mögen, die dann aber auch gelegentlich erzählen, dass er unangenehm werden kann. Mir gegenüber ist er das eigentlich nie gewesen. – Ich war einmal bei ihm in Chaville, und er hat mir ein Mittagessen vorbereitet, das aus Pilzen bestand. Nun ist Handke ein geradezu wahnsinniger Pilzsammler, und in Wahrheit gibt es ja auch nahezu keine Pilze, die man nicht essen kann. Mit anderen Worten, er hat also 90 Prozent der Pilze, die er da im Wald gefunden hat, auf irgendeine Weise zubereitet. Das sah zum Teil schon ziemlich erschreckend aus, und da waren auch blaue dabei. Und dann hatte ich ganz kurz das Gefühl, er könnte mich jetzt loswerden, ohne dass es irgendwer merkt. Wir haben dann auch Witze darüber gemacht. – Aber ich sitze ja hier, wie Sie merken, und es war wirklich ein sehr vergnügter und langer Nachmittag. Also, er kann auch wirklich bezaubernd sein, das bezeugen viele Leute, doch wir sollten eigentlich nicht über die Charaktereigenschaften von Peter Handke reden. Man muss Schriftsteller nicht unbedingt kennenlernen. Wenn die Bücher toll sind, muss das genügen. Leider ist es auch wahr, dass die großartigsten Werke nicht immer von den nettesten Autoren geschrieben werden. Bürger Im Kern ging es ja auch um das mediale Bild und darum, ob dieses nicht doch etwas mit dem Werk zu tun hat. Greiner Ich glaube z. B. nicht, dass Handke raffiniert ist, sonst würde er sich anders benehmen. Ich glaube, dass er auch die Fähigkeit hat, sehenden Auges in sein Verderben zu rennen. Ich weiß nicht, ob wir darüber reden wollen, weil das wirklich ein sehr schwieriges Thema ist: diese ganze Serbien-Geschichte. Er wusste,
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dass es ihm schadet, es hat ihm geschadet, und er hat es trotzdem gemacht. Danach war es vorbei mit dem Ersatz-Beatle von damals, mit dem Star, den wir alle toll fanden. Das ist er jetzt ganz sicher nicht mehr: Erstens ist er nicht mehr jung, und zweitens hat er es sich mit allen verscherzt, weil er die falsche Partei ergriffen hat. Aber damit folgte er keinem Kalkül, da ist auch etwas Heroisches dabei – ich will nicht sagen: Tragisches. Lewitscharoff Kalkuliert kam mir das auch nie vor. Das ist eher ein innerer Zwang, den ich nicht deuten mag. Aber das halte ich nicht für Künstlichkeit, die hat er gar nicht. Bürger Wie passt diese öffentliche Figur, der politische Handke, zu seinem Werk? Lewitscharoff Das ist natürlich schwierig, denn da bin ich nun nicht mehr auf seiner Seite. Aber ich habe dabei auch immer versucht, die Kirche im Dorf zu lassen: Seine Ausfälle gegen Journalisten konnte ich nie verstehen, gegen Reporter, die über Politisches oder gar ein Kriegsgeschehen berichten. Ich sehe das völlig anders. Ich sehe, dass die einem sehr schwierigen Beruf nachgehen und dabei oft Erstaunliches zuwege bringen. Also ich sehe den Journalismus generell mit völlig anderen Augen als Peter Handke. Ich habe eher Respekt vor diesem Beruf, zumindest vor etlichen Journalisten, die wirklich herausragend sind. Insofern bin ich da sowieso ganz anders gepolt. Ich glaube, dass so schwere Aggressionen, mit denen man sich selbst ins Unglück stürzt und dabei auch Unbedachtes sagt, stark mit Familiengeschichten zusammenhängen müssen. Ich kenne den Fall nicht genau genug, um ihn deuten zu können, es wäre ja auch unverschämt, über jemanden deutend herzufallen. Aber ich bin mir relativ sicher, dass da bei ihm wirklich der Dampfkessel des Familiär-Eigenen explodiert ist. Wie und warum weiß ich allerdings nicht. Greiner Ich habe das auch lange nicht verstanden und muss sagen, ich habe da auch Schwierigkeiten. Aber in seinem letzten Stück – Immer noch Sturm, das wirklich ein großartiges Theaterstück ist und auch sehr schön in Salzburg uraufgeführt wurde – erzählt er ja von dieser Familiengeschichte. Und da kommt er auch auf die politische Seite zu sprechen, auf den Kampf der Partisanen gegen die Deutschen und das Verbot, Slowenisch zu sprechen, die Kollaboration der Kroaten mit den Nazis und dann, wenn man jetzt sozusagen eine lange Brücke schlägt, das Erschrecken von Handke und Anderen, dass ausgerechnet der deutsche Genscher es sein musste, der Kroatien als erster anerkennt. Das ist nicht das Hauptthema
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dieses Stücks, aber es ist mir da doch manches klar geworden. – Und was die mediale Inszenierung betrifft, da hat Handke etwas erkannt, das wirklich ein Problem ist. Er hat erkannt, dass unsere Öffentlichkeit sich gewandelt hat. Er hat diese Erregungslust erkannt, diese Erregungskultur und diesen Inszenierungswahn, der auch damit zusammenhängt, dass die Medien sich gegenseitig überbieten müssen. Es geht um den Kampf um Aufmerksamkeit, um einen Verdrängungswettbewerb. Es gibt zu viele Zeitungen und zu wenig Leser, und dann wird gekämpft, und wer die beste Geschichte hat, der gewinnt. Vor diesem Hintergrund ist so eine Geschichte wie die von Handke für ein Feuilleton und eine interessierte Öffentlichkeit ein gefundenes Fressen. Und dass da in diesem ganzen Jugoslawienkrieg zusätzlich mit gezinkten Karten gespielt worden ist, das kann man, glaube ich, nachweisen. Was Handke will, deswegen legt er ja immer Wert auf die Sprache – er will, dass wir die Sprache ernst nehmen und dass wir diese ganzen Täuschungsmanöver, die mit ihr betrieben werden, durchschauen. Damit stellt er sich gewissermaßen ins Abseits. Und dann passiert es, das muss man sich auch noch einmal in Erinnerung rufen, dass ein Stadtrat in Düsseldorf, von dem wir sicher sein dürfen, dass er noch nie ein Buch von Handke gelesen hat, ihm den HeinePreis aberkennen zu können glaubt, weil Herr Handke in der Serbiensache eine gewissermaßen unkorrekte Haltung eingenommen hat. Seit dieser Geschichte ist Handke ja eine Persona non grata im Deutschen Buchhandel. Er hat mir erzählt und andere haben mir das bestätigt, dass es nicht wenige deutsche Buchhändler gibt, die stolz darauf sind, keine Handke-Bücher mehr zu verkaufen. Bürger Ulrich Greiner hat vorhin sehr schön plastisch gemacht, wie die Handke-Lektüre etwas verändert hat bei ihm, das Betrachten von Gegenständen, das Verhalten in bestimmten Situationen. Sibylle, gab es bei dir auch solche Effekte in Bezug auf dein eigenes Schreiben. Hast du bestimmte Dinge von Handke gelernt? Lewitscharoff Das geht ein bisschen ans Eingemachte, aber doch: Ich lebe zum Beispiel total auf, wenn Handke über Spatzen schreibt, ja diese Biester hat er so wunderbar im Blick, dieses Hupfhupfhupf, wie er das beschreibt – oder wenn sie im Winter das Fell aufplustern. Das hat meine Anschauung für diese Tierart geschmeidiger gemacht. Aber nicht nur für die Spatzen, ich könnte da vieles nennen. Handke beeinflusst mich schon, da bin ich ganz sicher, nicht so direkt, dass ich denke, ich muss diese Spatzenpassage jetzt transferieren, das nicht. Aber wenn ich über Tiere schreibe, was ich gerne tue, dann kommen mir Handke und seine Spatzen sehr, sehr schnell in den Sinn.
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Bürger Gibt es andere Autoren, mit denen es dir ähnlich geht? Lewitscharoff Es gibt ein paar, denen ich die Treue halte. Ich habe Sebald immer die Treue gehalten, aber der ist ja nun schon tot; ich bin ein Mosebach-Freund, bis heute, ich lese ihn sehr gerne. Aber bei Handke ist die Art der Inspiration eine andere. Von Autoren wie Martin Mosebach kann man zum Beispiel lernen, wie sie einen Roman aufbauen, wie sie ein großes Figurenkabinett führen, das ist auch nicht ganz uninteressant, das brauche ich auch manchmal, aber Handke hat ganz andere Qualitäten. Also da ist es wirklich diese erhöhte Aufmerksamkeit, dieser sehr, sehr genaue Blick, den er doch hat, das ist eine Blickschule und das ist wirklich auch erziehend. Ich würde schon sagen, dass ich durch die Handke-Lektüren erzogen bin auf bestimmte Blickrichtungen hin. Interessant daran finde ich, und das ist sehr außergewöhnlich, dass er mir manchmal so vorkommt, als würde er mit den Augen eines sehr viel älteren Autors schauen, so wie Stifter, also aus einer ganz anderen Generation. Und mit diesen Stifter-Augen schaut er dann auf ein Autobahndreieck, und das ist wirklich klasse. Das heißt – das würde ich sogar als Theorie dranhängen –, dass ein Schriftsteller in der Lage sein muss, über die Zeiten hinweg zu streifen und sich auch mit den Augen der Toten zu sehen. Wichtig ist, dass wir das Besondere dessen, was uns umgibt, mit den Augen anderer Generationen sehen, weil wir dann erst auf neue Ideen kommen. Greiner Gut, dass sie das sagen, weil er ja insofern ein moderner Autor ist, als er mitten in dieser Welt lebt, sich selbst aber gewissermaßen von allem fernhält. Handke kann nicht Auto fahren, er fährt auch nicht Fahrrad, sondern geht zu Fuß. Er hat ein Telefon, aber mehr auch nicht. Und das heißt, er ist ein Fußgänger, der eigentlich zu Fuß die ganze Welt bereist. Er war ja auch, das kann man in seinem Tagebuch nachlesen, drei Jahre ununterbrochen zu Fuß unterwegs auf der ganzen Welt, was natürlich nicht bedeutet, dass er nicht geflogen ist, er ist dann einfach, das hat er mir auch mal gesagt, mit seinem geringen Gepäck, ein Rucksack wird’s gewesen sein, auf irgendeinen Flughafen in Paris oder in Lissabon und hat geguckt, wann das nächste Flugzeug geht, und ist da eingestiegen, egal wohin es flog. Und ich traf ihn ja einmal, anekdotisch darf ich das hinzufügen, durch reinen Zufall in Paris. Ich war einmal wegen irgendeiner Tagung dort, und weil ich dann abends noch Zeit hatte, habe ich etwas gemacht, was ich ganz gerne tue: Ich bin ein bisschen mit der Metro gefahren, einfach so. Es war nachts um zwölf oder um eins, ich fuhr in der Metro, die war nicht ganz leer, so halb besetzt, und ich sah einen Menschen am anderen Ende, der sah aus wie Peter Handke. Je län-
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ger wir so dastanden, desto klarer wurde mir, es war Peter Handke, ich guckte ihn an, und er drehte sich weg. Und ich dachte, na, das will ich jetzt doch wissen, und ging auf ihn zu und sagte: „Wenn Sie Peter Handke sind – ich bin Ulrich Greiner, vielleicht können wir noch zusammen ein Glas trinken.“ Dann hielt die Metro an. Er machte eine Geste, die interpretationsbedürftig war: Sie war nicht einladend, aber es war auch nicht so, dass er offenbar nichts mit mir zu tun haben wollte. Er ging voran, ich ging hinterher, wir liefen diese unterirdischen Treppen und Gänge entlang und kamen an irgendeinem kleinen Platz heraus. Er ging dann noch ein Stück, ich immer so schräg hinter ihm her, fast wie ein altes Ehepaar, und sagte nichts. An diesem Platz war ein Café, in das wir uns setzten und jeder ein Glas Rotwein bestellten. Ich stellte natürlich ein paar Fragen, die man so stellt, und er antwortete wenig. Dann kam er allmählich ins Reden, und da sagte er mir, und das fand ich interessant, deswegen erzähle ich das, er komme gerade aus Ägypten, das war sozusagen eine Zwischenstation auf dieser dreijährigen Reise, er habe schon seit drei Monaten mit keinem Menschen mehr ein Wort gewechselt und das Sprechen falle ihm schwer. Irgendwie kann ich mir das vorstellen, wenn ich drei Monate kein Wort mehr sagen würde, und dann kommt auch noch so ein Journalist aus Hamburg – dann fällt einem schon gar nichts mehr ein. Wir haben aber dann ganz nett geredet und uns auch nett verabschiedet. Leider konnten wir uns nicht wirklich betrinken, weil das Café zumachte.
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Forschungsbibliografie Peter Handke Die vorliegende Forschungsbibliografie umfasst die Forschungsliteratur zum Werk Peter Handkes ab dem Ersterscheinungsjahr 1990. Für Forschungsbeiträge aus der Zeit vor 1990 liegen bereits zahlreiche Bibliografien vor. Eine Auswahl findet sich im Anschluss. Besonders verwiesen sei auf die umfangreichen Bibliografien von Nicolai Riedel im Kritischen Lexikon zur deutschen Gegenwartsliteratur, von Heiner Schneider im Quellenlexikon zur deutschen Literaturgeschichte und auf die Bibliografien aus der Zeitschrift Text + Kritik. Der Schwerpunkt der folgenden Forschungsbibliografie liegt auf deutschsprachigen Forschungsbeiträgen, darüber hinaus wurden jedoch auch fremdsprachige Publikationen aus dem europäischen und angloamerikanischen Sprachraum berücksichtigt. Aufgenommen wurden Monographien, Beiträge aus Fachzeitschriften und Sammelbänden sowie Kapitel aus Monographien, sofern diese sich nicht ausschließlich mit dem Werk Peter Handkes auseinandersetzen. Bei Sammelbänden, die einzig dem Werk Peter Handkes gewidmet sind, wurden alle Beiträge separat sowie der Band als Einzeltitel verzeichnet. Erfasst wurden Publikationen und Beiträge, die im akademischen Kontext1 entstanden sind, sowie in Buchform edierte Briefwechsel und Gespräche mit dem Autor. Nicht berücksichtigt wurden journalistische und nicht-wissenschaftliche Beiträge wie Rezensionen, Theaterkritiken, Laudationes, Fotobände, Reportagen und Interviews. Rezensionen und Artikel aus der Tagespresse stehen in der Mediendokumentation des Deutschen Literaturarchivs Marbach sowie (bis 2002) im Presse-Archiv des Suhrkamp Verlags zur Verfügung, das ebenfalls im Deutschen Literaturarchiv Marbach aufbewahrt wird. Zudem sei auf die Bibliografie der Forschungsplattform Handkeonline verwiesen, die neben Forschungsbeiträgen auch Handkes Primärtexte sowie alle vom Autor selbst übersetzten Bücher, seine publizierten Briefe, Interview-Bände und (in Auswahl) auch einzeln abgedruckte Interviews umfasst.2 Alle Titel wurden vor Aufnahme einer Autopsie unterzogen. Auf eine Unterteilung in Sektionen wurde verzichtet. Die Bibliografie verdankt ihre Entstehung der Hilfe zahlreicher Personen, denen an dieser Stelle herzlich gedankt sei. Für umfassende und unermüdliche
1 Nicht berücksichtigt wurden universitäre Abschluss- und Qualifikationsarbeiten sowie unveröffentlichte Dissertationen. 2 Online unter: http://handkeonline.onb.ac.at/node/93 (Stand: 21.08.2013).
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Forschungsbibliografie Peter Handke
Recherchen gilt der Dank vor allem Laetitia Wrzodek sowie den Kolleginnen und Kollegen der Bibliothek des Deutschen Literaturarchivs Marbach.
Anna Kinder, Tanja Angela Kunz Marbach, 28. August 2013
Bibliografien für den Zeitraum vor 1990 (Auswahl) Kern, Harald: „Auswahlbibliographie zu Peter Handke“. In: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur 24 (1989), S. 131–148. Koch, Edita: „Sekundärliteratur“. In: Peter Handke. Hg. v. Raimund Fellinger. Frankfurt a. M. 1985, S. 392–480. Müller, Harald: „Auswahlbibliographie zu Peter Handke“. In: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur 24 (1969), S. 66–76. Müller, Harald: „Auswahlbibliographie zu Peter Handke“. In: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur 24/24 a (1971), S. 69–79. Müller, Harald u. Winfried Hönes: „Bibliographie Peter Handke“. In: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur 24/24 a (1978), S. 132–149. Müller, Harald: „Peter Handke. Bibliographie“. In: Über Peter Handke. Hg. v. Michael Scharang. Frankfurt a. M. 1972, S. 358–393. Nägele, Rainer u. Renate Voris: „Literatur über Peter Handke (Auswahl)“. In: Peter Handke. Hg. v. dens. München 1978 (Autorenbücher 8), S. 151–154. Riedel, Nicolai: „Bibliographie“. In: Kritisches Lexikon zur deutschen Gegenwartsliteratur. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold. München 1995. Riedel, Nicolai: „Auswahlbibliographie 1989–1998“. In: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur 24 (1999), S. 124–138. Schmidt, Heiner: „Peter Handke“. In: Quellenlexikon zur deutschen Literaturgeschichte. Personal- und Einzelwerkbibliographien der internationalen Sekundärliteratur 1945–1990 zur deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Bd. 10, 3. Überarb. wesentlich erw. u. auf den neuesten Stand gebrachte Aufl. Hg. v. dems. Duisburg 1997, S. 253–287. Šlibar, Neva: „Peter Handke im slowenischen Raum: Eine Bibliographie“. In: Acta Neophilo logica 26 (1993), S. 79–92.
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Forschungsbibliografie Peter Handke
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Abbott, Scott: „‚The Material Idea of a Volk‘. Peter Handke’s Dialectical Search for National Identity“. In: 1945–1995. Fünfzig Jahre deutschsprachige Literatur in Aspekten. Hg. v. Gerhard P. Knapp u. Gerd Labroisse. Amsterdam, Atlanta 1995 (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 38/39), S. 479–494. Abbott, Scott: „Postmetaphysical metaphysics? Peter Handke’s ‚Repetition‘“. In: Themes and structures. Studies in German literature from Goethe to the present. A Festschrift for Theodore Ziolkowski. Hg. v. Alexander Stephan. Columbia, South Carolina 1997 (Studies in German Literature, Linguistics, and Culture), S. 222–233. Abbott, Scott: „Modeling a Dialectic: Peter Handke’s ‚A journey to the Rivers or Justice for Serbia‘“. In: After postmodernism. Austrian literature and film in transition. Hg. v. Willy Riemer. Riverside, California 2000 (Studies in Austrian Literature, Culture, and Thought), S. 340–352. Abbott, Scott: „Peter Handke and the Former Yugoslavia. The Rhetoric of War Peace“. In: World Literature Today 75 (2001) H. 1, S. 78–81. Abbott, Scott: „Handke’s Yugoslavia Work“. In: The Works of Peter Handke. International Perspectives. Hg. v. David N. Coury u. Frank Pilipp. Riverside, California 2005 (Studies in Austrian Literature, Culture, and Thought), S. 359–386. Abbott, Scott: „Peter Handke and the Language of War“. In: PAJ. A Journal of Performance and Art 34 (2012) H. 2, S. 56–60. Abbott, Scott: Forms of Identity. Stations of the Cross in Peter Handke’s ‚Die linkshändige Frau‘, 2013. http://handkeonline.onb.ac.at/forschung/pdf/abbott-2013.pdf (Stand: 28.08.2013). Adams, Jeffrey: „The Undoing of ‚Angst‘ in ‚Die Angst des Tormanns‘. Handke’s Creative Response to Kafka“. In: Carleton Germanic Papers 22 (1994), S. 1–14. Ahrends, Günter: „Bilder eines Mikrokosmos. Peter Handkes ‚Die Stunde da wir nichts voneinander wußten‘ in der Inszenierung von Jürgen Gosch“. In: Forum modernes Theater 9 (1994) H. 1, S. 99–107. Albes, Claudia: „‚Descriptio ancilla narrationis‘? Zum Verhältnis von Erzählen und Beschreiben in Peter Handkes Roman ‚Die Hornissen‘“. In: Vom Sinn des Erzählens. Geschichte, Theorie und Didaktik. Hg. v. Claudia Albers u. Anja Saupe. Frankfurt a. M. u. a. 2010 (Beiträge zur Literatur- und Mediendidaktik 20), S. 85–110. Alker, Stefan: Entronnensein – zur Poetik des Ortes. Internationale Orte in der österreichischen Gegenwartsliteratur: Thomas Bernhard, Peter Handke, Christoph Ransmayr, Gerhard Roth. Wien 2005 (Zur neueren Literatur Österreichs 20). Amann, Klaus, Fabjan Hafner u. Karl Wagner (Hg.): Peter Handke. Poesie der Ränder. Wien, Köln u. Weimar 2006 (Literaturgeschichte in Studien und Quellen 11). Amann, Klaus, Peter Handke u. Doris Moser.: „Peter Handke gewidmet“. In: Literatur/a. Jahrbuch 6 (2011/12). Ambrósio Lopes, Alexandra: „Wirkliche Mythen oder mythische Wirklichkeit? John Ford und Robinson Jeffers in der Prosa von Peter Handke und Botho Strauß“. In: Runa. Revista Portuguesa des Estudos Germanísticos 25 (1996), S. 327–336. Ammon, Frieder von: „‚Wo bleibt euer Gesang auf die Fußball-Elf?‘ Über das Fußball-Gedicht in der deutschen Literatur“. In: Literatur und Spiel. Zur Poetologie literarischer Spielszenen. Hg. v. Bernhard Jahn u. Michael Schilling. Stuttgart 2010, S. 167–198. Anz, Thomas: „Literaturkritisches Argumentationsverhalten. Ansätze zu einer Analyse am Beispiel des Streits um Peter Handke und Botho Strauß“. In: Literaturkritik −Anspruch und Wirklichkeit. DGF-Symposium 1989. Hg. v. Wilfried Barner. Stuttgart 1990, S. 415–430.
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Forschungsbibliografie Peter Handke
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Werkverzeichnis Peter Handke Abschied des Träumers vom Neunten Land (1991) S. 19 f., 30 Am Ende ist fast nichts mehr zu verstehen S. 45, 53 Am Felsfenster morgens (1998) S. 7, 64–70, 76, 94, 98, 104, 133, 137, 142 Begrüßung des Aufsichtsrates (1967) S. 114 Das Ende des Flanierens (1976) S. 149 Das Gewicht der Welt (1977) S. 7, 74, 97, 176 Das Spiel vom Fragen oder Die Reise zum sonoren Land (1989) S. 99–106 Der Bildverlust (2002) S. 156, 166, 182 Der Chinese des Schmerzens (1983) S. 74, 84, 95, 132 Der große Fall (2011) S. 95, 176 Der Hausierer (1967) S. 93 Der Himmel über Berlin (1987) S. 40, 50 Der kurze Brief zum langen Abschied (1972) S. 74, 77, 115 Der Ritt über den Bodensee (1971) S. 103 Die Abwesenheit (1987) S. 78 f., 82 f., 88, 104 f., 124, 156 Die Angst des Tormanns beim Elfmeter (1970) S. 180 Die Arbeit des Zuschauers (1969) S. 47, 49 Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom Krieg (1999) S. 19 Die Geborgenheit unter der Schädeldecke (1973) S. 47, 69 Die Geschichte des Bleistifts (1982) S. 7, 46, 86, 94, 97, 99, 117, 120 f., 125 f., 146 Die Geschichte des Dragoljub Milanović (2011) S. 19, 26 f. Die Hornissen (1966) S. 19, 114, 176, 180 Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt (1969) S. 10, 86–89, 180 Die Kuckucke von Velika Hoča (2009) S. 19 f. 32–34 Die Lehre der Sainte-Victoire (1980) S. 125, 129, 131 f., 156, 175 f. Die linkshändige Frau (1976) S. 74 Die morawische Nacht (2008) S. 77, 83, 95, 149 Die schönen Tage von Aranjuez (2012) S. 95 f.
Die Stunde der wahren Empfindung (1975) S. 44, 74, 79, 81 f., 87 f., 112, 176, 180 Die Tablas von Daimiel (2005) S. 19, 29, 30–33, 143 Die Wiederholung (1986) S. 20, 27, 74, 103, 133, 146 Don Juan (erzählt von ihm selbst) (2004) S. 40, 80, 93 Ein Jahr aus der Nacht gesprochen (2010) S. 7 Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina (1996) S. 19, 24–28, 32, 50 Falsche Bewegung (1975) S. 85 Gedicht an die Dauer (1986) S. 63 f., 70 Gestern unterwegs. Aufzeichnungen November 1987 bis Juli 1990 (2005) S. 7, 46, 50, 78, 83, 94, 148, 155, 178 Halbschlafgeschichten (1969) S. 141 Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms (1972) S. 10, 65, 85–87, 113, 143 Immer noch Sturm (2010) S. 95, 183 In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus (1997) S. 59–63, 74, 93, 166 Kaspar (1966) S. 46 Kindergeschichte (1981) S. 65, 148 Langsame Heimkehr (1979) S. 73 f., 77–80, 89 f., 119 f., 123–125 Mein Jahr in der Niemandsbucht (1994) S. 95, 142, 162–167, 180 Nachmittag eines Schriftstellers (1987) S. 47, 69 f., 74 Phantasien der Wiederholung (1983) S. 7, 93 f., 97–99 Publikumsbeschimpfung (1966) S. 4, 103, 180 Rund um das große Tribunal (2003) S. 19, 24, 29–31 Selbstbezichtigung (1966) S. 46 Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise (1996) S. 19, 25, 28–30, 44 f. 52 Über die Dörfer (1981) S. 95 Unter Tränen fragend (2000) S. 19, 26, 45
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Werkverzeichnis Peter Handke
Versuch des Exorzismus der einen Geschichte durch eine andere (1990) S. 41–43, 52, 53 Versuch über den geglückten Tag (1991) S. 154 Versuch über die Jukebox (1990) S. 95, 154, 162
Versuch über die Müdigkeit (1989) S. 77, 150, 153–170 Wunschloses Unglück (1972) S. 43 f., 74, 177 Wut und Geheimnis (2007) S. 51 f. Zu Alfred Kolleritsch (1972) S. 46 Zur Tagung der Gruppe 47 in den USA (1966) S. 48, 113