Visuelle Poesie: Band 1 Von der Antike bis zum Barock 9783110217070, 9783110196467

Because of its particular bracketing of image and text, visual poetry has been accompanied by the formulation of theorie

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German Pages 972 [976] Year 2012

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Table of contents :
A. ANTIKE UND SPÄTANTIKE
Einleitung
I. Simias von Rhodos oder die Idee des ,Gesamtkunstwerks‘
II. Publilius Optatianus Porfyrius: ,Fraktale‘ Poesie und Kryptopoetik
III. Decimus Magnus Ausonius: Konzepte von Intertextualität, Collage und Mechanik des Dichtens
IV. Venantius Fortunatas: Klassisches Intermedialitätsmodell und christliche Zahlentektonik
B. MITTELALTER
Einleitung
V. Hrabanus Maurus: Multimedialität, Metareflexivität und numerische Makroästhetik
VI. Das Ferculum Salomonis des Hincmar von Reims: Transgression der Transgression
VII. Eustathios von Thessalonike: Dichtungstheorie als Archäologie
VIII. Nicolò de’ Rossi: Kombinationskonzept und Visualitätsdispositiv
IX. Christan von Lilienfeld: Die Visualisierung des Verses
X. Iacobus Nicholai de Dacia: Metrische Taxinomien, geometrische Imaginationen und multioptionale Lektüren
C. FRÜHE NEUZEIT
Einleitung
XI. Die Etablierung des Figurengedichts in der Renaissance-Poetik des Iulius Caesar Scaliger: Visualität und Versifikation
XII. Manier als Medizin: Die neulateinische Poetik des Richard Will(i)s
XIII. Michel Eyquem de Montaignes Vorstellung vom literarischen Manierismus: Kritik und Ambivalenz
XIV. Kabbala und Kryptologie: Blaise de Vigenère
XV. Étienne Tabourot und die Enzyklopädisierung des Manierismus
XVI. George Puttenham: Theorie und Genese des Figurengedichts in England
XVII. Der Gedichtzyklus des Balthassar Bonifacio: Visualisierungsstrategie als zentaurhafte und proteische Kunst
XVIII. Johann Heinrich Alsted und das Alphabet des Manierismus
XIX. Emanuele Tesauro: Skripturalität und Intermedialität als Konstituenten der Argutezza
XX. Juan Caramuel y Lobkowitz und die theoretische Grundlegung einer Ars metametrica
XXI. Paschasius und das Konzept einer Poesis artificiosa
Personenregister
Sachregister
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Visuelle Poesie: Band 1 Von der Antike bis zum Barock
 9783110217070, 9783110196467

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Visuelle Poesie Band 1

Visuelle Poesie Historische Dokumentation theoretischer Zeugnisse Band 1 Von der Antike bis zum Barock Herausgegeben von

Ulrich Ernst in Verbindung mit Oliver Ehlen und Susanne Gramatzki

De Gruyter

ISBN 978-3-11-019646-7 e-ISBN 978-3-11-021707-0

Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2012 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Einbandabbildung: Optatianus Porfyrius, Carmen VIII Druck: Hubert & Co. GmbH und Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

VORWORT Visuelle Poesie wird wegen ihrer besonderen Verklammerung von Bild und Text, die sie an Werken der bildenden Kunst ebenso wie an konventionellen Dichtungen partizipieren läßt, von Anfang an von Theoriebildung begleitet: Reflexionen über Visualisierungsstrategien finden sich bereits in und zu den Technopägnien des Hellenismus, Scholien erleichtern den Zugang zu den lateinischen Gittergedichten der römischen Spätantike, ausführliche Autorkommentare zu Carmina figurata sind aus der Karolingerzeit überliefert, und vielfältige gattungspoetologische Reflexionen und Klassifikationen bieten die bislang kaum beachteten lateinischen Poetiken des Barock, in denen auch erstmals auf systemischer Grundlage übergreifende Konzepte Visueller Poesie entwickelt werden. Während dieser erste Band die Theoriebildung von der Antike bis zur frühen Neuzeit diachronisch verfolgt, ist ein zweiter Band in Vorbereitung, der sich nach den Entwicklungen im 18. und 19. Jahrhundert vornehmlich den Standortbestimmungen bzw. Manifesten der historischen Avantgarden (Symbolismus, Futurismus, Dadaismus, Surrealismus) und der Neoavantgarden nach dem 2. Weltkrieg (Lettrismus, Konkrete Poesie, Oulipo, Fluxus) widmet. Das transepochal und transnational angelegte Forschungsprojekt erschließt größtenteils unbekannte, gleichwohl zentrale Zeugnisse der Theoriebildung in mehreren Schritten: durch Abdruck der fremdsprachigen Originaltexte, auch den formalen Aspekt zur Geltung bringende Übersetzungen ins Deutsche, flankierende Kommentierungen sowie systematische Resümees, auf die weiterführende Literaturhinweise folgen, und wertet sie vor dem Hintergrund der rezenten Theoriedebatte im Bereich der Inter-Art-Diskurse aus. Ziel war ein Korpus literarästhetischer Äußerungen zu Prinzipien und Formen poetischer Bild-TextKomposition von der Antike bis zur Moderne als Beitrag zu einer durch historische Quellen fundierten Theoriegeschichte der Visuellen Poesie. Die Forschungsresultate sind anschlußfähig für eine Reihe von epistemologischen Diskursen: u.a. Autor- und Leserrolle, Produktions- und Rezeptionsästhetik, Bildwissenschaft und Intermedialität, Manierismus und Visual Culture. Zu verschiedenen etablierten oder sich am Horizont abzeichnenden Forschungstrends könnte das interdisziplinäre Vorhaben möglicherweise etwas beisteuern: Dem Iconic Turn trägt es durch Erschließung einer neuen, aus Sprachzeichen gebildeten Bildwelt Rechnung, für den Spatial Turn eröffnet es Perspektiven durch das Konzept vom Text als Raum, für den im Ansatz bereits erkennbaren Generic Turn lenkt es den Blick auf eine weithin unbekannte, transgressive und autoreflexive Gattung, und dem postulierten Tectonic Turn verschafft es Rückenwind durch den Aufweis ingeniöser und hochkomplizierter Kompositionsmuster und -theorien. Selbst ist das auf mediävistischen Grundlagen aufbauende Unternehmen disziplinär im Fach Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft verortet und sieht sich dem komparatistischen Bereich der Bild-Text-Wissenschaft zugehörig, für den in diesem Kontext das Forschungsparadigma Visuelle Poesie und das Pictura et Poesis-Projekt stehen.

VI

Vorwort

Die Durchführung des für Bild-Text-Analogien zentralen Forschungsvorhabens wäre nicht möglich gewesen ohne die Förderung der DFG, die auch andere Projekte auf dem Feld der Visuellen Poesie unterstützt hat. Profitiert hat das Unternehmen auch von fachlichen Kontakten mit auf dem Gebiet der Bild-TextWissenschaft kompetenten Kollegen, von denen hier stellvertretend Klaus Peter Dencker, Wolfgang Haubrichs, Christel Meier, Monika Schmitz-Emans und Horst Wenzel genannt seien. Zum Schluß gilt mein persönlicher Dank vor allem meinen beiden Mitstreitern, die beim Aufbruch in die ‚Terra incognita‘ die philologische Basisarbeit geleistet haben: im Bereich der griechischen und lateinischen Literaturen Herrn PD Dr. Oliver Ehlen und auf dem Felde der romanischen und anglo-amerikanischen Literaturen Frau Dr. Susanne Gramatzki. Die Einrichtung des Text- und Bildkorpus für den Druck besorgten als studentische Hilfskräfte Frau Gudrun Metschies und Frau Stephanie Knöfler, denen auch für ihre Hilfe bei der Erstellung der beiden Register gedankt sei, welche den neuen Autorkanon und die terminologischen Fundamente des Forschungskomplexes widerspiegeln. Wuppertal, im Frühjahr 2012

Ulrich Ernst

INHALT A. ANTIKE UND SPÄTANTIKE Einleitung ................................................................................................................  I. Simias von Rhodos oder die Idee des ‚Gesamtkunstwerks‘ ...................................................... 9 II. Publilius Optatianus Porfyrius: ‚Fraktale‘ Poesie und Kryptopoetik ......................................................... 21 III. Decimus Magnus Ausonius: Konzepte von Intertextualität, Collage und Mechanik des Dichtens....... 65 IV. Venantius Fortunatus: Klassisches Intermedialitätsmodell und christliche Zahlentektonik ........ 87

B. MITTELALTER Einleitung ............................................................................................................ 111 V. Hrabanus Maurus: Multimedialität, Metareflexivität und numerische Makroästhetik ........ 117 VI. Das Ferculum Salomonis des Hincmar von Reims: Transgression der Transgression ........................................................... 235 VII. Eustathios von Thessalonike: Dichtungstheorie als Archäologie ......................................................... 295 VIII. Nicolò de’ Rossi: Kombinationskonzept und Visualitätsdispositiv ................................... 311 IX. Christan von Lilienfeld: Die Visualisierung des Verses ............................................................... 337 X. Iacobus Nicholai de Dacia: Metrische Taxinomien, geometrische Imaginationen und multioptionale Lektüren ................................................................. 347

C. FRÜHE NEUZEIT Einleitung ............................................................................................................ 373 XI. Die Etablierung des Figurengedichts in der Renaissance-Poetik des Iulius Caesar Scaliger: Visualität und Versifikation ....................... 379 XII. Manier als Medizin: Die neulateinische Poetik des Richard Will(i)s ..................................... 405

VIII

Inhalt

XIII.

Michel Eyquem de Montaignes Vorstellung vom literarischen Manierismus: Kritik und Ambivalenz ...................... 471 XIV. Kabbala und Kryptologie: Blaise de Vigenère ................................................................................. 479 XV. Étienne Tabourot und die Enzyklopädisierung des Manierismus ...................................... 549 XVI. George Puttenham: Theorie und Genese des Figurengedichts in England............................ 589 XVII. Der Gedichtzyklus des Balthassar Bonifacio: Visualisierungsstrategie als zentaurhafte und proteische Kunst ............ 619 XVIII. Johann Heinrich Alsted und das Alphabet des Manierismus ....................................................... 675 XIX. Emanuele Tesauro: Skripturalität und Intermedialität als Konstituenten der Argutezza ....... 725 XX. Juan Caramuel y Lobkowitz und die theoretische Grundlegung einer Ars metametrica..................... 763 XXI. Paschasius und das Konzept einer Poesis artificiosa ............................ 883

Personenregister .................................................................................................. 941 Sachregister ......................................................................................................... 948

A. ANTIKE UND SPÄTANTIKE

EINLEITUNG Während sich schon im alten Ägypten visuelle Poesie in Form von Intexten oder als Kreuzworthymnus im Hieroglyphenlabyrinth einer gewissen Beliebtheit erfreute1 und sich Abecedarien auch im Alten Testament nachweisen lassen,2 erscheint in hellenistischer Zeit erstmals das Umrißgedicht in der europäischen Literatur. Archeget dieser Form visueller Poesie ist der griechische Dichter Simias von Rhodos (um 300 v. Chr. unter Ptolemäus I.), der Gedichte in Form eines Flügels, einer Doppelaxt und eines Eis verfaßt hat. Seine Poeme bestehen aus Versen unterschiedlicher Länge, die so angeordnet sind, daß ihre Umrisse die Form des entsprechenden Gegenstandes annehmen.3 Aufgegriffen wird diese Art des Technopägnion von Theokrit (3. Jh. v. Chr.), sonst vor allem durch seine Eidyllia bekannt, der ein Umrißgedicht in Gestalt einer Syrinx geschaffen hat;4 außerdem sind zwei Altargedichte erhalten, die Dosiadas von Kreta zugeschrieben werden.5 Neben starken Berührungspunkten zur Rätseldichtung, dem sogenannten Griphos, zeigen schon diese frühen Technopägnien starke autoreferentielle Züge, die den Versinhalt mit der visuellen Form in Bezug setzen. Ein eindruckvolles Beispiel dafür bildet das Eigedicht des Simias von Rhodos, das im Folgenden als einziges exemplum aus dem griechischen Raum wiedergegeben wird. Dies geschieht aus zwei Gründen: zum ersten, weil Simias von Rhodos als Pionier der Gattung auch für die figurative Dichtung des lateinischen und romanischen Bereichs eine besondere prägende Rolle zukommt, zum zweiten, weil in der Referentialität des Versinhalts zur visuellen Form erstmals eine Auseinandersetzung auf theoretischer Ebene greifbar wird, in der z. B. – wenn auch verklausuliert – dem Rezipienten Anweisungen gegeben werden, wie und in welcher Richtung das Carmen zu lesen ist. Ergänzt wird die Gedichtpräsentation durch Wiedergabe und Übersetzung der Scholien, die Manuel Holobolos (um 1240-1284) in byzantinischer Zeit seiner Ausgabe der Technopägnien anfügte. Als Bindeglied zwischen den griechischen Umrißgedichten hellenistischer Prägung und der lateinischen visuellen Poesie der Spätantike kann vielleicht Laevius angesehen werden, der um die Wende vom zweiten zum ersten vorchristlichen Jahrhundert lebte und von dessen Liebesgedichten in spielerischer Manier,

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Einen Überblick darüber gibt ULRICH ERNST: Carmen figuratum. Geschichte des Figurengedichts von den antiken Ursprüngen bis zum Ausgang des Mittelalters. Köln 1991 (Pictura et Poesis 1), S. 12-22. So z.B. in Sprüche Salomons (31, 10/31), Jesus Sirach (51, 13/29), Psalmen (9, 10, 25, 34, 37, 111, 112, 118, 145); vgl. ERNST (1991), S. 23. Siehe zu Simias auch ERNST (1991), S. 54-74 und die Monographie von SILVIA STRODEL: Zur Überlieferung und zum Verständnis der hellenistischen Technopägnien. (Studien zur klassischen Philologie 132). Frankfurt a. M. 2002. Zu Ei und Beilgedicht vgl. auch die Interpretation von SERAINA P LOTKE: Selbstreferentialität im Zeichen der Bimedialität oder die Geburt einer Gattung. Visuelle Poesie aus hellenistischer Zeit. In: Arcadia 40 (2005), S. 139-152. Siehe dazu ERNST (1991), S. 74-82; vgl. auch STRODEL (2002), S. 48-84. Siehe zu den Altargedichten und die Zuschreibung beider Altäre an Dosiadas ERNST (1991), S. 83-90.

A. Antike und Spätantike

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den Erotopägnien, einige Fragmente erhalten sind. Sein Pteryrium Phoenicis, in dem Venus, Amors Mutter, angesprochen wird, war ursprünglich möglicherweise in Anlehnung an das Flügelgedicht des Simias von Rhodos als Flügelpaar figuriert.6 Für die römische Kaiserzeit ist als Graffito aus Pompeji erstmals das sog. Satorquadrat bezeugt,7 ein Buchstabenmosaik aus fünfundzwanzig Buchstaben, die sich horizontal wie vertikal von jeder Ecke des Quadrats lesen lassen und dabei immer dieselbe Wortfolge ergeben:

R O T A S

O P E R A

T E N E T

A R E P O

S A T O R

oder in linearer Schreibweise: ROTAS OPERA TENET AREPO SATOR. Übersetzung und genaue Bedeutung sind Gegenstand zahlreicher Interpretationsversuche gewesen, wobei vor allem das Wort Arepo Schwierigkeiten bereitet hat.8 Das Satorquadrat erscheint spätestens seit dem 3. bis 4. nachchristlichen Jahrhundert in eindeutig christlichem Zusammenhang, und die spirituelle Rezeption setzt sich bis ins späte Mittelalter fort.9 Auch in diesem Kontext ist mit Sicherheit von einer ursprünglich magisch-apotropäischen Funktion auszugehen, wie aus dem Überlieferungszusammenhang deutlich wird.10 Ob nun schon christlichen Ursprungs oder erst christlich rezipiert, weist das Satorquadrat, auch wenn es keine optisch hervorgehobenen Intexte enthält, durch seine Gitterstruktur bereits auf das Carmen cancellatum oder Gittergedicht hin.11 Ein struktureller Zusammenhang dürfte

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LAEVIUS: Fragment 22; vgl. dazu ERNST (1991), S. 96f. Das älteste vollständige Graffito beginnt mit Rotas in der ersten Zeile, während sonst in der Regel Sator am Anfang steht; vgl. ERNST (1991), S. 430. 8 Zur älteren Forschung siehe HEINZ HOFMANN: Das Satorquadrat. Zur Geschichte und Deutung eines antiken Wortquadrats. Bielefeld 1977 und DERS: Satorquadrat. In: RE Suppl.-Bd. XV (1978), Sp. 479ff. Für eine kritische Auseinandersetzung mit den Argumenten Hofmanns, der eine Bustrophedon-Lesung Sator opera tenet, tenet opera sator / Der Sämann hält die Werke, die Werke hält der Sämann, als einzig sinnvolle ansieht und das Quadrat aus stoischer Tradition ableitet, nämlich im Sinne von Sator omnia continet / Der Sämann/Schöpfer umfaßt alles, vgl. HOFMANN (1977), S. 36, und einen christlichen Ursprung kategorisch ablehnt, siehe ERNST (1991), S. 429-459, insbesondere S. 440ff. 9 Vgl. ERNST (1991), S. 433-438. 10 ERNST (1991), S. 441f. 11 ERNST (1991), S. 443: „Geht man von einer konventionellen Lesestruktur aus, so gewinnt man den Eindruck, daß die vertikalen Buchstabensäulen, die aszendierend und deszendierend zu lesen sind, das alte Verfahren der Intextbildung über Akrostichon, Mesostichon und Telestichon

Einleitung

5

wohl ebenso zu magischen Zahlenquadraten bestehen, die auch außerhalb des europäischen Raumes bei Chinesen, Indern und später bei den Arabern sehr verbreitet waren.12 Nach der Deutung von Miroslav Marcovich steht das Wort Arepo als Kurzform für Harpokrates. Eine weitreichende kultische Verehrung dieses Fruchtbarkeitgottes, den man auch mit dem ägyptischen Gott Horus identifizierte, ist in Pompeji nachweisbar.13 Nach Ansicht von Browne ergibt sich zudem aus der Übersetzung der Begriffe Arepo tenet ins Griechische der Name des Gottes Harpokrates.14 So kann man eine gewisse Nähe zu den griechischen Zauberpapyri konstituieren.15 Da der genaue Ursprung des Satorquadrats aber nach wie vor im Dunkeln liegt und die ältesten Belege auch nicht mit theoretischen Zeugnissen verbunden sind, ist ihm hier kein eigenes Kapitel gewidmet. In jedem Fall stellt das Satorquadrat ein Bindeglied zum Carmen cancellatum dar. Initiator dieser Gattung figurativer Dichtung ist Publilius Optatianus Porfyrius, der am Hofe Konstantins des Großen wirkte.16 Neben einigen Umrißgedichten nach hellenistischem Vorbild, nach dem Fragment des Laevius den ersten erhaltenen Zeugnissen in lateinischer Sprache, verfaßte er vor allem auf Konstantin und Mitglieder seiner Familie panegyrische Gedichte in der Form des Carmen cancellatum: Dabei werden in einem Basistext, der aus einer bestimmten Anzahl von Versen besteht (bei Optatianus Porfyrius haben diese später auch eine feste Anzahl von Buchstaben, also z. B. fünfunddreißig Verse mit je fünfunddreißig Buchstaben), einzelne Lettern durch Rubrizierung oder Vergoldung hervorgehoben. Diese Buchstaben ergeben wiederum sinnvolle Texte, sog. Intexte; bei Optatian Porfyrius handelt es sich in der Regel um metrisch korrekte Verse. Durch die Anordnung der Intexte formieren sich auf der visuellen Ebene Muster und Figuren: Danach läßt sich eine Klassifikation in geometrische Gittergedichte,17 litterale Carmina cancellata18 und gegenstands-mimetische Gittergedichte19

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hinaus zum Pentakrostichon erweitern. Schließlich verbinden auch das quadratische Grundmaß der Textfläche sowie das Reglement der Buchstabenzählung das porfyrianische carmen quadratum mit dem Satorquadrat, das formgenetisch eine wichtige Vorstufe auf dem Weg zu einer ausgebildeten Gitterdichtung darstellt.“ ERNST (1991), S. 450-452. Siehe MIROSLAV MARCOVICH: SATOR AREPO. In: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 50 (1983), S. 155-171. Er übersetzt Sator Arepo tenet opera rotas mit The sower/Horus/Harpokrates checks toils and tortures; vgl. auch ERNST (1991), S. 458. In einer Miszelle weist BROWNE darauf hin, daß tenet im Griechischen mit wiedergegeben werden muß, so daß sich   ergibt; siehe GERALD M. BROWNE: AREPOTENET = HARPOKRATES. In: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 52 (1983), S. 60. ERNST (1991), S. 458: „Mit dieser Deutung rückt das Satorquadrat, das vielfach mit magischen Quadraten zyklisch verbunden auftritt, […] wieder stärker an die griechischen Formeln der Zauberpapyri heran, in denen die Quadratform […], das Spiel mit den voces magicae a und o, die Isopsephie […] sowie die Palindromstruktur ausgeprägt sind.“ Zu Publilius Optatianus Porfyrius und der Typisierung seiner Gedichte siehe ERNST (1991), S. 97-142. ERNST (1991), S. 108-117. ERNST (1991), S. 118-127. ERNST (1991), S. 127-131.

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A. Antike und Spätantike

vornehmen. Außerdem finden sich in seinem Werk weitere experimentelle Formen der Dichtung, z. B. die permutativen Proteusverse in Carmen XXV. Die Versgebilde des Optatianus Porfyrius sind bereits in der ältesten überlieferten Handschrift20 zusammen mit Scholien überliefert, in denen es vor allem um Aufbau und Konzeption des jeweiligen Gedichtes geht und die Intexte aufgelöst werden. Auch zu Beginn des Basistextes der einzelnen Carmina cancellata spielt der Autor oft auf die Konzeption und Intexte des einzelnen Carmen an, so daß ähnlich wie in den Umrißgedichten hellenistischer Prägung das Figurengedicht selbst autoreferentielle Züge aufweist. Theoretische Zeugnisse finden sich außerdem in dem vorgeschalteten Briefwechsel zwischen Porfyrius und Konstantin, wobei die Echtheitsfrage hier sekundär ist, sowie in Carmen I, das wohl einer Gedichtsammlung zur Feier der Vicennalien, Konstantins zwanzigjährigem Thronjubiläum, vorangestellt war. Daneben sind hier die Carmina VI, X, XV und XXI ausgewählt jeweils mit Scholien und deutscher Übersetzung abgedruckt, außerdem die Proteusverse von Carmen XXV. Der lateinische Text folgt der kritischen Edition von Polara,21 bei den Übersetzungen des Basistextes war allerdings aufgrund der Komplexität eine Wiedergabe in deutschen Hexametern nicht möglich. Da aber bei der Lektüre des deutschen Textes auch ohne eine intensive Auseinandersetzung mit dem lateinischen Original der poetische Charakter der Texte nicht ganz verloren gehen sollte, wurde eine Übertragung in freie Rhythmen präferiert. Obgleich Decimus Maximus Ausonius (um 310-394 n. Chr.) selbst nicht als Verfasser eines Figurengedichts in Erscheinung getreten ist, spielt er dennoch in der Entwicklung experimenteller Dichtungsformen eine bedeutende Rolle, so daß ihm hier ein eigenes Kapitel gewidmet ist.22 Denn der Begriff Technopaegnion begegnet erstmals bei Ausonius, der ihn aber im Wortsinn als kunstreiches Spiel auffaßt und ihn noch nicht, wie später üblich, auf figurale Dichtungsformen einengt. Konkret verwendet er Technopaegnion als Titel für einen Zyklus elf hexametrischer Gedichte, deren Verse jeweils mit einem einsilbigen Wort enden. Die Verse des ersten Carmen beginnen zudem mit dem Monosyllabon, mit dem der vorhergehende Vers beschlossen wurde, wobei der erste Vers mit dem Wort res beginnt, mit dem auch der letzte Vers endet, so daß Anfang und Ende nach Art einer Kette verknüpft sind. Abgedruckt sind hier die Praefationes, in denen sich Ausonius theoretisch mit diesem Genos ludistischer Dichtung auseinandersetzt, sowie das erste Carmen des Zyklus und das erste des zweiten Teils nach der Binnenpraefatio.23 Eines der bekanntesten Beispiele ausonischer Dichtung, der Cento nuptialis, ist nicht nur wegen seiner ungewöhnlichen ludistischen Kompositionsform von Interesse – ein Epithalamion bzw. Hochzeitsgedicht, das als Cento/ Flickenteppich aus Vergilversen zusammengesetzt ist –, sondern auch wegen des

–––––––––––– 20 Codex Bernensis 212. 21 PUBLILII OPTATIANI PORFYRII Carmina, rec. IOHANNES POLARA: I Textus adiecto indice verborum. Turin 1973. 22 Vgl. zu Ausonius auch ERNST (1991), S. 143-147. 23 Der lateinische Text folgt hier der kommentierten Ausgabe The Works of Ausonius. Edited with Introduction and Commentary by R. P. GREEN. Oxford 1991.

Einleitung

7

ausführlichen Begleitschreibens an den Rhetor Axius Paulus, dem der Autor (auf dessen Verlangen hin) das Werk schickt. Ausonius äußert sich hier dezidiert über das Prinzip der Centodichtung, die er als ein literarisches Spiel ansieht und mit dem     vergleicht, einem Puzzle, bei dem aus den Spielsteinen geometrische Figuren gelegt werden. Damit rückt er selbst die experimentelle Form des Cento in die Nähe figuraler Dichtung.24 Als letztem Vertreter Visueller Poesie in Antike und Spätantike ist hier Venantius Fortunatus (ca. 535-nach 600 n. Chr.) ein eigenes Kapitel gewidmet.25 Unter den zahlreichen literarischen Genera, in denen sich dieser äußerst produktive Autor betätigt hat und die sich nur unzureichend unter dem Begriff Gelegenheitsdichtung subsumieren lassen, stellen seine Figurengedichte vielleicht die modernste und innovativste Form dar. Überliefert sind unter seinem Namen vier Figurengedichte, von denen die drei Carmina cancellata in jedem Fall als echt anzusehen sind. Carmen II, 4 steht innerhalb eines Zyklus von Kreuzhymnen, die der Dichter anläßlich der Translation eines Stücks des Heiligen Kreuzes von Konstantinopel in das Kloster der Radegunde in Poitiers verfaßte. In der Tradition der Gittergedichte des Optatian Porfyrius ist das Prinzip der Buchstabenzählung konsequent durchgeführt, aber ganz in den Dienst christlicher Inhalte gestellt. Dabei weist der Basistext formale Parallelen zu den übrigen Kreuzhymnen auf, während die Intexte in Form eines Tatzenkreuzes die Wirkung von Christi Erlösungswerk exponieren und in Form einer Sphragis zum Gebet für Venantius Fortunatus und seine Gönnerinnen Agnes und Radegunde auffordern. Unvollendet blieb das zweite Gittergedicht, Carmen II, 5, des Kreuzzyklus, das allerdings einen Einblick ein Figurengedicht „in statu nascendi“26 gewährt. Von besonderem theoretischem Interesse ist ein Carmen cancellatum, das außerhalb des Kreuzzyklus entstanden ist. Neben dem Figurengedicht27 ist ein Begleitbrief des Dichters an Bischof Syagrius von Autun überliefert,28 in dem sich Venantius Fortunatus ausführlich zur Theorie und Konzeption des Gedichtes äußert und der daher zusammen mit Carmen, V, 6a als Exemplum fortunatischer figuraler Dichtung wiedergegeben ist. Venantius Fortunatus verbindet hier nicht nur den Inhalt der Heilsgeschichte mit einer doppelten Kreuzform (+ und X) der Intexte und dem spezifischen Anlaß (Bitte an Syagrius, sich für die Freilassung eines Gefangenen einzusetzen), sondern erweitert das Prinzip der Buchstabenzählung um eine zahlensymbolische Komponente, in dem er Verszahl und Buchstabenzahl nach der Zeit der Inkarnation Christi auf Erden (33 Jahre) ausrichtet (33 Verse mit je 33 Buchstaben). Diese numerische Kompositionsform ist wegweisend für mittelalterliche

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ERNST (1991), S. 144. Zu den Figurengedichten des Venantius Fortunatus allgemein siehe ERNST (1991), S. 149-159. ERNST (1991), S. 152. VENANTIUS FORTUNATUS: Carmen V, 6a. VENANTIUS FORTUNATUS: Carmen V, 6.

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A. Antike und Spätantike

Carmina cancellata, gestaltet doch z.B. Hrabanus Maurus den Zyklus seiner Kreuzgedichte in toto nach zahlensymbolischen Kriterien aus.29

–––––––––––– 29 Vgl. dazu MICHELE C. FERRARI: Die Welt im Buch. Hrabanus Maurus und sein Buch des Heiligen Kreuzes. In: Große Texte des Mittelalters. Erlanger Ringvorlesung 2003. Hrsg. von SONJA GLAUCH. Erlangen 2005, S. 9-33, hier S. 16.

I. SIMIAS VON RHODOS ODER DIE IDEE DES ‚GESAMTKUNSTWERKS’ Vom umfangreichen literarischen Schaffen des alexandrinischen Dichters und Philologen Simias von Rhodos  , um 300 v. Chr.)1 sind in der Anthologia Palatina drei Figurengedichte (XV, 22, 24 und 27) vollständig erhalten, während der größte Teil seines Œuvres verloren ist. Neben einer Sammlung seiner Carmina in vier Büchern (   ) umfaßte es ursprünglich auch drei Bücher Glossen ( !), von denen allerdings nur noch vier kurze Fragmente erhalten sind. Die philologischen Fähigkeiten des Simias traten wohl besonders bei der Kommentierung schwer verständlicher Stellen in den Werken anderer Dichter hervor. Deswegen wird er auch von Strabo (XIV, 655) "#  genannt. Das poetische Werk enthielt Dichtungen unterschiedlicher Genera; die Fragmente zeigen neben zwei aitiologischen Gedichten ( "! und $%) ein längeres Stück aus einer hexametrischen Dichtung (&  ') und verschiedene Anfänge von Hymnen, in denen durch die Verwendung neuartiger Versmaße2 die Tendenz des Autors, sich mit formalen Experimenten zu beschäftigen, bereits deutlich wird. Die drei Figurengedichte stellen die ältesten Paradigmata hellenistischer Technopägnien dar. Ebenfalls in der Anthologia Palatina überliefert sind drei weitere Gedichte, die bereits auf Simias als Archeget der Gattung bzw. aufeinander Bezug nehmen, nämlich die Syrinx des Theokrit und zwei Altargedichte des Dosiadas (XV, 21, 25 und 26).3 Gemeinsam ist ihnen, daß sich durch eine Sequenzierung unterschiedlich langer Metren die jeweils intendierte Figur gleichsam von selbst ergibt, so daß die Verse die visuelle Gestalt eines Beils, eines Eis, eines Flügelpaars, einer Syrinx oder eines Altars annehmen. Durch die besondere graphische Hervorhebung der figuralen Umrisse, in welche die Verse erst eingeschrieben werden, kommt es in den byzantinischen Handschriften allerdings häufig zu Zeilenumbrüchen innerhalb einzelner Verse, so daß der Blick auf die ursprüngliche metrische Struktur verstellt wird. Exemplarisch ist hier das Eigedicht des Simias von Rhodos wiedergegeben, da erste theoretische Äußerungen nach Art poetologischer Lyrik bereits im Inhalt der Verse greifbar sind. Eine Besonderheit liegt in der springenden Leserichtung, d. h.

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2 3

Einen Überblick zu Leben und Werk von Simias von Rhodos gibt BAUMBACH (2001), Sp. 567f. Speziell zu den hellenistischen Technopägnien siehe STRODEL (2002), wo die drei Figurengedichte des Simias neu kommentiert und mit den Scholien ediert sind. Vgl. auch ERNST (1991), S. 58-74. Vgl. BAUMBACH (2001), Sp. 568. Vgl. zu diesen Gedichten ERNST (1991), S. 74-90; zum Bezug des Theokrit auf Simias S. 80. Im Kontext der orphischen Kosmogonie interpretiert sie WOJACZEK (1969), S. 81-90; zum Eigedicht S. 90f. Das zweite Altargedicht wird besonders in der älteren Forschung Dosiadas abgesprochen und erst in hadrianischer Zeit einem Besantinos zugeschrieben, zuletzt vertreten von STRODEL (2002), S. 61 mit Anm. 21; zu Einheit und Diptychonstruktur beider Altäre siehe ERNST (1991), S. 83-90, insbesondere S. 86f.

A. Antike und Spätantike

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die jeweils prosodisch zusammengehörigen Verse auf der oberen und unteren Eihälfte müssen im Zusammenhang gelesen werden. Einen wichtigen Lektüreschlüssel bieten die Scholien, die hier erstmals ins Deutsche übersetzt werden:

Ei (Ap XV, 27) Text nach: SILVIA STRODEL: Zur Überlieferung und zum Verständnis der hellenistischen Technopaignien. Frankfurt a. M. 2002 (Studien zur klassischen Philologie 132), S. 236.4 ('  %)* +  ',-./+0 12" 3"4 5,-!67&849:4.0 *'")6+ .  7   +"  -);+0 - !)< -=> + +'? !@  'A . - B)C 7 D ); 'E&  '6 '+ 4  F ,*'G+ H ');- B - =-. ;   IJ);.K-26 0  - 4@.   A L)M7 4; K-+ 'N")*   7 ';) +'9.*"  2' .5B- O H +'O P -+ 4Q    6  !R.)6. E "5 7 4S +  7 H) C! .7 ;)& +' 597.P')@6A*.4 H);7T -T 5D )IJ-)G: B-UOQQQQO  '  . ;.  ;-5C* )C' + &.-! ? )67 !F 5 6 U   "  );H5= V';  + 

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Wiedergabe des Textes hier allerdings in graphischer Form; metrisches Schema der kurzen [v] und langen Silben [-] (nach STRODEL, 2002, S. 55): -v- v - v || - v v - v - || - - v - || v - v - v - || v v v v - || - - v - || v - v - v - || v - v v - v - || v - v - || v - v - v - || v - v - || v - v - || - v v - v v - v - v v - v - || v - v - || - - || - - || - v v - v v - v - v - - || - - || v v v - || v v v - || v v v - || v - v - || v - v - v - v || - v - v || - v - || - - || - - || - - || - v v - v v - || v - v - - || v v - || v v - || v v - || v v - || v v - || v v v - || v v v - || - v v || - - - || - - || v v - || v v - || v v - || v v - || v v v - || v v v - || - v v || - - v - v || - v - v || - v - || - - || - - || - - || - v v - v v - || v - v - - || - - || v v v - || v v v - || v v v - || v - v - || v - v - v - v - || v - v - || - - || - - || - v v - v v - v - v v - v - || v - v - || v - v - || - v v - v v - v - v v - v || v - v v - v - || v - v - || v - v - v - || v v v v - || - - v - || v - - v - v || - v -v-

I. Simias von Rhodos

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Übersetzung nach STRODEL:5 Vers 1-4: Vers 5-6 Vers 7-8

Vers 9-10

Vers 11-12

Vers 13-14

Vers 15-16

Vers 17-18

Vers 19-20

Von der zwitschernden Mutter dies neue Gewebe, von der Dorischen Nachtigall, nimm mit wohlwollendem Sinne auf, denn die reine Mutter erzeugte es mit helltönendem Wehenschrei. Das nun brachte der stimmgewaltige Hermes, der Bote der Götter, zu den Völkern der Sterblichen, nachdem er es unter den Flügeln der lieben Mutter weggenommen hatte; er befiehlt, die Zahl , vom einfüßigen Metrum ausgehend, jeweils so anwachsen zu lassen, daß sie groß wird, bis zur höchsten Anzahl von Versfüßen, der Zehnzahl, und die Rhythmen dabei ihrer Ordnung nach zu verteilen. Geschwind bringend zeigt er die von oben herab – jäh – schräg aufsteigende Ordnung der vereinzelten Versfüße an und schlägt dazu mit dem Fuß den des ... vielfältig tönenden, harmonisch klingenden Liedes der Musen, die „Glieder“ wechselnd, gleich wie die flinken, behenden Kitze, die Kinder schnellfüßiger Hirsche. Diese nämlich, von übergroßem Verlangen getrieben, laufen schnell zum ersehnten Euter der lieben Mutter, – alle eilen sie mit raschen Füßen über die hohen Kuppen der Hügel dahin, auf der Spur der lieben Ernährerin, das Blöken der Kitze aber geht über die Weiden der vielnährenden Berge bis zu den Höhlen der schlankfüßigen Nymphen hin; und ein wildes Tier vernimmt schnell die ringsum widerhallenden Laute in den tiefsten Winkeln seiner Schlafstatt, springt behend auf, sein felsiges Lager verlassend, und trachtet danach, ein umherirrendes Kind der gescheckten Mutter zu erbeuten; und hurtig dem Klang der Rufe nachfolgend, stürzt es sogleich aus der dicht bewaldeten Schlucht der schneebedeckten Berge hervor; diesen also gleich, mit flinken Füßen hin- und herspringend, läßt der berühmte Gott die vielverflochtenen Metra des Liedes erklingen.

–––––––––––– 5

STRODEL (2002), S. 240f., Kommentar dort S. 245-262. Vgl. auch PLOTKE (2005), S. 145-147, wo insbesondere auf den Symbolgehalt des Eis als „Ausdruck der Geburt einer neuartigen Dichtung – * + W(S. 147) verwiesen wird: „Das Gebilde weist damit auf sich selbst zurück und führt als Neuschöpfung, die sich auf verbal-diskursiver Ebene explizit als solche ausgibt, gleichzeitig vor, was diese Neuschöpfung zu leisten imstande ist, nämlich aus der gattungsspezifischen Verschmelzung von Text und Bild heraus Sinn zu generieren“ (ebd.).

A. Antike und Spätantike

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Scholien zum Eigedicht6 § 1  2 5 ; 2 7 % V'  ;  5 X5 K %  -.Y Z "  6 Z '2 % V'  ; Q [ ?  , 5 X  \ " '  ! -! 8%E ]" . \ " E +Y P,    ^_Q Der Dichter fordert den Zuhörer auf, mit großer Geneigtheit das Ei der dorischen Nachtigall anzunehmen: Süß ist nämlich der Gesang der dorischen Nachtigall. Dieses Ei aber bietet Hermes, der stimmgewaltigste der Götter, d. h. der Logos, dar, und er trägt auf, die Zahl (der Versfüße), so anwachsen zu lassen, daß sie groß wird (9).7 § 2 ` 5  ? D . a0 6 H 5  .  U H  6 U ; "'Q Vom ersten wirst du zum letzten (Vers) gelangen, wenn du hinabgehst und in entsprechender Weise wieder hinaufgehst.8 § 3 bH,\ ?Y ? 5X5\ 60; "+-H % S. ?   Y   c +0- -) Z % 5 XY +0-+ 4 ?  @QQQAF) 8 ? + .H K+H >d.- >;   .R; 0 \  .Q Der Sinn aber meint: Dieses Ei, spricht der Dichter, entstamme einer Nachtigall und seiner eigenen dichterischen Sorgfalt: Er lädt dazu ein, es mit Freude anzunehmen: Anzunehmen bedeutet aber, er fordert alle dazu auf, dies von Hermes (zu nehmen), der mit seinen schnellen Sprüngen / seiner Schnelligkeit zeigt, daß

–––––––––––– 6

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Scholia vetera, d. h. die in der Anthologia Palatina enthaltenen Scholien. Während zu den anderen Figurengedichten auch Scholien des byzantinischen Gelehrten Manuel Holobolos erhalten sind, die er auf Grundlage der Scholia vetera verfaßte, liegen für das Eigedicht nur die Scholia vetera vor, die nach der Kommentierung von Vers 17 abbrechen. Text und Paragrapheneinteilung nach STRODEL (2002), S. 242f.; die Zahlen in runden Klammern beziehen sich auf den jeweiligen Vers. " ' Estimmgewaltigste erklärt das 67 aus Vers 6. Aufgrund seiner Heroldfunktion ruft Hermes mit lauter Stimme, vgl. STRODEL (2002), S. 246. Die Verwendung des Begriffes " ist schillernd: Einerseits kann er das Wort, die Rede und damit hier das gesamte Gedicht meinen, andererseits personifiziert er gleichsam die Überlegung, die Denkkraft, womit eine Anspielung auf die kunstvolle Konzeption vorläge, die dem Dichter vorschreibt, die Zahl der Versfüße von einem einfüßigen Metrum (Monometer) zu einem zehnfüßigen (Dekameter) ansteigen zu lassen (siehe das metrische Schema in Anm. 4 in diesem Kapitel). Die geplant artifizielle Konzeption des Gedichtes drückt sich auch in der Bezeichnung als * + E neuartiges Gewebe (V. 3), aus. Erklärt wird hier die Leserichtung, nach dem obersten Vers den untersten zu lesen, nach dem zweiten den vorletzten usw.

I. Simias von Rhodos

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die Metren und Rhythmen, die (einander) unähnlich sind, doch (alle einander) ähnlich sind.9 § 4 ) "   :' 2 ! ! \2  ? - ? 7 E e ! % 5  ? "   6 -. ?Y \P'H  5 8%6.P- +;-"0    ?Q Er allegorisiert, indem er die Bewegung der Füße des Gottes mit Hirschkälbern vergleicht, die umherspringen, weil sie die Milch der Mutter begehren: Er sagt, so habe Hermes, indem er sie in rhythmischen Sprüngen ausgesprochen habe, (uns) die Metren mitgeteilt.10 § 5    Yf_ ? +N ;.YZ,   !'!V'+'Q    Y^_N; 56  .C    % -Q Von der Dorischen Nachtigall: (4) Das besagt, daß er selbst ein Rhodier ist: Rhodos ist aber eine von den dorischen Inseln. Vom einfüßigen Metrum: d. h. er schritt vom kleinsten Metrum zu einem Dekameter fort.11 § 6 !  " #  $%& ' (Y gg_ 6 2 5 +  "  H  .  -E; KK5;.0 Q

' () *!+ Ygg_N " H;,5 Q Geschwind bringend zeigt er die von oben herab – jäh – schräg aufsteigende: (11) Da das Metrum unstet ist und nicht fest bleibt, sondern sich ein wenig vergrößert. Ordnung der vereinzelten Versfüße an und schlägt dazu mit dem Fuß den (Takt): (11) D. h. das Gedicht ist unstet und nicht einheitlich.

–––––––––––– Das Wort  ? wird häufig in der Bedeutung Sinn (eines Wortes, einer Stelle) gebraucht. Erklärt wird etwas mehr als die erste Hälfte des Gedichtes (V. 1-12) sowie der Zusammenhang der beiden Gedichthälften: Durch seine schnellen Sprünge (jeweils von einer Hälfte zur anderen), die der Leser nachvollziehen muß, verdeutlicht Hermes die Gleichartigkeit der auf den ersten Blick ungleichen Metren, denn nur, wer die jeweils zusammengehörigen Metren liest, kann den Sinn verstehen. Die Erwähnung der Gleichartigkeit von Metrum und Rhythmus macht im übrigen deutlich, daß die Scholien zu einer Zeit entstanden sein müssen, in der die metrische Struktur und Verstrennung noch richtig verstanden wurden. 10 Der Vergleich mit den Sprüngen der Kitzen nimmt fast die gesamte zweite Gedichthälfte (V. 13-20) ein. Optisch steht er in der Mitte des Gedichtes, während er von beiden Seiten (V. 910 und V. 11-12) auf Hermes bezogen wird. Gelangt der Leser bis zu dieser Stelle, muß er über acht Verse hinweg die Sprünge der Kitzen nachvollziehen, so daß der Vergleich (nimmt man die optische Ebene hinzu) sich weniger verselbständigt als das zentrale Motiv auch visuell thematisiert. 11 Die § 5-9 liefern reine Worterklärung, besonders zu Ausdrücken im dorischen Dialekt, die der Scholiast aber, wie § 9 zeigt, nicht ganz durchgehalten hat, sondern beim Leser V'H +0, ein Wörterbuch des Dorischen, voraussetzt, das er wohl auch selbst benutzt; vgl. STRODEL (2002), S. 242.

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A. Antike und Spätantike

§ 7  Auch des Atreus Sohn,20 wie des   Stadt.21 Städte, Waffen und Führer ich lasse beiseite, ich singe !,vv die auf dem `p P Evw schenkt uns der höchste -Q EPITAPH. PEN. VERSCHIEDENE GEDICHTARTEN vf ZUGLEICH EIN )8k$k([px  POEM 75. WEITHIN Dies ist Sache der sterblichen Liebe, dies ist ihr Zeichen: WIRST DU welche als Liebreiz allein schufen die Grazien. CARMINA PERMIXTA Nun ist die Schönheit dahin, nicht ging zugrunde mein Ruhm. IN EPIGRAMMBÜCHERN FINDEN. DIESES )8k$k([px IST ALT UND GEBRÄUCHLICH.

–––––––––––– 19 Gehen/ire soll hier nach der Randglosse im Sinne von Spazierengehen/ambulatio verstanden werden. 20 Agamemnon und Menelaos, dessen Frau Helena vom Trojanerprinzen Paris entführt wird, sind Söhne des Atreus. 21 Die Stadt des Priamos; Priamos ist der Vater des Paris und König von Troja. 22 Geschenke. 23 Wörtlich: der sein Haus auf dem Olymp hat. Der Olymp, Wohnsitz der Götter, wird traditionell auch metonymisch für den Himmel, den Wohnsitz des christlichen Gottes, verwendet. 24 Metren, in denen verschiedene Füße kombiniert sind.

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EIN WEITERES GEDICHT DICHTUNG, DIE VOM REDNER AUSWENDIG GELERNT WERDEN MUSS.

Sowohl die Maße der Dorer als auch die Lydischen Lieder, Was tönt bei Ioniern süß, und das aeolische Lied25 Als Rhetor kennen Du mußt oder nicht reden Du kannst.

ÜBER DEN QUINCUNX AM ANFANG. EINE NEUARTIGE MISCHUNG HEROISCHER HEXAMETER. POEM 76 DAß WIR NEUE GATTUNGEN ERFINDEN KÖNNEN, WERDE ICH IN DEN SCHOLIEN ZEIGEN.

Ich bin als Baum ins Quincunx gepflanzt, doch das hier Gesagte Soll vermehren, wer klug und zu mischen vermag viele Farben Wer immer berühmt war in Apellischer Kunst.26 Oder vermochten die Dichter nicht ganz dasselbe zu machen? Weniger oder auch mehr, wenn’s Carmina mehr gibt als Worte.27 Jene aber jeweils liest man auf eigene Art. Der Du dies liest, zähle auf, denn für das Gesagte ich bürge. Was Du gelesen hast, lies dreimal und viermal und öfter: Entdecken wirst Du stets etwas Neues darin.

–––––––––––– 25 Ionische Maße (u u - -) finden bei den Griechen sowohl in Elegie und Lyrik als auch in den Chorpartien der Tragödien Verwendung; das äolische Lied steht für die äolische Lyrik, die auf die Dichterin Sappho und den Dichter Alkaios aus Lesbos (beide um 600 v. Chr.) zurückgeht, deren lyrische Dichtung seit Catull (ca. 87-54 v. Chr.) in der lateinischen Literatur rezipiert wird. 26 Malerei, Apelles (4. Jh. v. Chr.) gilt als der berühmteste Maler der Antike. 27 Die Quincunx (siehe Poem 2) ergibt durch die unterschiedlichen Lesemöglichkeiten eine Vielzahl von Versen/Carmina. Da einzelne Wörter Teil verschiedener Verse sein können, ergeben sich mehr Carmina als Wörter. Wills prägt hier allerdings nur den Begriff Quincunx, als drittes Genos der Versus cathenati erscheint die Gattung schon bei Christan von Lilienfeld.

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Lateinischer Text aus: IN SVORUM POEMAT. LIBRVM RICARDI WILLEII SCHOLIA. Ad Custodem, Socios, atq; Pueros Collegij Wiccammici apud Wintoniam. His accesserunt C. Ionsoni Poete eximij carmina de vita ac rebus ab eiusdem Collegij Fundatore gestis, tum Custodum sive Praesidum atq; Didascalorum omnium series ab eodem distichis explicata. Londini. Ex Bibliotheca Tottellina. MDLXXXIII.

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R. Will[i]s entbietet dem Kustoden, den Sociis & Pueris des höchst zahlreich frequentierten College Wickham bei Winchester S. D.

Schwierig ist das Studium, Wickhamer, und ich weiß nicht, ob nicht von allen Dingen, die zur Verfeinerung der Sprache und humanistischen Bildung gerechnet werden, bei weitem das schwierigste die Dichtkunst ist, erstens durch ihre Natur, dann wegen der Mäkelsucht der Kritiker und drittens, weil sie wegen der Torheiten bestimmter Dichter vielen Verleumdungen ausgesetzt ist. Denn weil die Imitatio, d. h. die sichtbare und deutliche Nachbildung der Dinge, und ihr in Versen ausgedrücktes Abbild das Ziel der Dichtkunst ist und diese sich auf ein anderes nachfolgendes Ziel bezieht, das gerade die besten Dichter mit Belehren und Erfreuen definiert haben,28 wer hat da einen so ganz ungewöhnlichen Witz und Anmut erreicht? Wer ist in der so unglaublichen Mannigfaltigkeit und Menge der Beispiele unterrichtet? Wie soll er irgendwelche unglücklichen Menschen aufrichten? Welchen Ausschweifenden soll er maßregeln? Soll er bestimmten Gelehrten mit seinem Gedicht Mut machen? Soll er von einzelnen gelesen werden? Soll er allen gefallen? Soll er Mund und Augen aller auf sich richten?

–––––––––––– 28 Vgl. ARISTOTELES (1994) 1, 2 (1447a) und 4, 1-6 (1448b). Aristoteles charakterisiert Tragödie, Komödie, Dithyrambos und den größten Teil der Lyrik als /Nachahmung. Die Formulierung docendo atque delectando / mit Belehren und Erfreuen nimmt Bezug auf HORAZ (1984), V. 333f.; aut prodesse volunt aut delectare poetae / aut simul et iucunda et idonea dicere vitae / Nützen oder erfreuen, das ist die Absicht der Dichter, / oder zu künden zugleich, was schön und passend im Leben. Horaz verbindet prägnant den Aspekt des Nutzens, der bei Wills als pädagogische Zielsetzung definiert wird, mit der ästhetischen Komponente.

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Und dennoch sind die Ingenia der Menschen äußerst verschieden; bei ihnen gibt es so viele Meinungen wie Köpfe. Kein Poem, das ingeniös erdacht, mit Fleiß ausgearbeitet und mit Kunst vollendet worden ist, verachten sie, wenn es nach Art des Vertumnus oder des Proteus29 jene Farben anlegt, die der, welcher es liest, in dieser Gattung aus freien Stücken auf irgendeine Art gutheißen will. Denn daß ich den asiatischen oder attischen30 oder auch lakonischen Stil nicht erwähne – was die Hauptsache in der Dichtkunst sein muß –, scheint nicht jeweils derselbe Stil, der seiner Natur nach erhaben, überströmend, niedrig, gedrungen ist, den einen anders als den anderen? Nicht will ich an dieser Stelle erwähnen, daß bestimmte Ingenia bei sapphischen Versen geführt, einige nur bei Jamben gebeugt werden, vielen allein Gedichte im heroischen Hexameter gefallen31 und niemand durch aller Arten von Metren erfreut wird; dieser liebt die Würde, jener fordert die Spitze, der andere die Gewalt, jener das Pikante, jener die Lieblichkeit. Deshalb meinen manche, daß die Satiren des Horaz schwülstig seien, sie tadeln die Freizügigkeit des Catull, die Weichlichkeit des Tibull und, um es so zu sagen, die Großsprecherei des Properz,32 dem Vergil erkennen sie sein Ingenium ab.

–––––––––––– 29 Proteus ist bei HOMER (1990) IV, 363-570 eine Meeresgottheit mit Weissagekraft. Außerdem hat er die Fähigkeit, sich in verschiedene Gestalten zu verwandeln, so daß Menelaos auf seiner Heimfahrt von Troja ihn erst fesseln muß, ehe er bereit ist, ihm über sein weiteres Schicksal Auskunft zu geben. Der römische Fruchtbarkeitsgott Vertumnus besitzt ebenfalls die Fähigkeit, sich in verschiedene Gestalten zu verwandeln, so daß beide miteinander identifiziert wurden. 30 Spätestens seit Dionysios von Halikarnass (1. Jh. v. Chr.) setzt sich das Stilideal des Attizismus (Orientierung an den klassischen griechischen Autoren des fünften und vierten vorchristlichen Jahrhunderts) durch; vgl. HIDBER (1996). Im Gegensatz dazu steht der elaborierte und manierierte Stil des Asianismus (von den Römern zumeist negativ konnotiert), als dessen Archeget Hegesias von Magnesia gilt. Vgl. zu den erhaltenen Fragmenten des Hegesias STAAB (2004). 31 Bestimmte Metren werden schon seit der Antike mit bestimmten Gattungen verbunden, der sapphische Elfsilbler, benannt nach der um 600 v. Chr. lebenden Dichterin SAPPHO (2009), mit der Lyrik, der Iambus mit Spottgedichten und der Hexameter mit Heldenepos und Lehrdichtung, so daß Wills hier nicht allein auf die Vorliebe für ein spezielles Metrum rekurriert. 32 HORAZ (2000) verfaßte neben lyrischen Gedichten zwei Bücher Verssatiren; CATULL (1970) ist der einzige erhaltene Vertreter der sog. Neoteriker oder Poetae novi, die eine elaborierte Kleinform anstrebten; seine auf griechischen Vorbildern fußende Lyrik besteht zu einem großen Teil aus Liebesgedichten. TIBULL (1998) und PROPERZ (1996) sind hier als klassische Vertreter der römischen Liebeselegie angeführt.

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Sie behaupten, daß Ovid am Boden krieche und Statius33 eine gewisse Erschlaffung der Gemüter bewirke; der einzige Grund dafür ist ihre Unkenntnis: Welche nichts hält für schön, was sie nicht selber verfaßte. Nunmehr aber glauben die meisten Kritiker, daß genug von den Alten geschrieben worden sei, während sie die neuen Dichter34 entweder ganz zurückweisen oder das Geistreiche, das sie selbst kennen, wie Mysterien verschwiegen zurückhalten oder die schrecklichen und kunstlosen Verse anderer in trügerischer Weise loben; das aber fügen sie der Dichtkunst an Übel zu, daß junge Leute, obwohl sie sich viel und lange mit dieser Sache beschäftigt haben, keine Vollendung und Perfektion erlangen können; wenn aber schon diejenigen, die es könnten, nämlich die Leute von größerem Talent, fürchten, jenes an die Öffentlichkeit zu bringen, dann werden wohl die mittelmäßig Gebildeten, wenn sie ihre Gedichte veröffentlichen, sie anonym herausbringen und schwerlich irgendein obskures Lob verdienen. Wir sehen, daß es in Gebrauch kommt, auf Lob und Ruhm der Autoren dieser Poemata, die wir von Angesicht zu Angesicht kennen, meistens neidisch zu sein und uns zu bemühen, aus den Gedichten selbst eine Kunst herauszulesen, welche auch der Autor selbst nicht wahrgenommen hat, und ihn nicht gerade mit Lob zu überhäufen. Schließlich will ich, daß ihr zu keiner Zeit jenen höchst miserablen Dichtern euren Beifall schenkt,

–––––––––––– 33 Vgl. VERGIL (2009), OVID (1997) und STATIUS (2001). 34 Die Erwähnung der novi poetae im Gegensatz zu den veteres poetae deutet im Zusammenhang mit verschiedenen Anspielungen auf Catull ein Selbstverständnis als poetische Avantgarde an, das sich in der Polemik klar von den Kritikern (Censores) absetzt, die entweder nur die alten Formen akzeptieren oder nur nach ihrem persönlichen Geschmack urteilen.

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welche, sobald sie Wörter von der Gosse35 aufgelesen und sie in einem Vers eingeschlossen haben, diese sofort zur Bewunderung feilbieten, während sie darauf sehen, in welcher Menge, und nicht, wie gut sie ihre Gedichte schreiben; wenn man deren Gedichte mit sanfter Hand tadelt, wird man wohl die Galle bei ihnen aufkochen lassen; deshalb schreiben diese obskur und schwierig, um den Doktoren der Grammatik Mühe zu machen und um sie sozusagen die Rosinen im Kuchen suchen zu lassen.36 Weil dies also die Natur der Dichtkunst ist, dies der Charakter der Kritiker, dieses Albernheiten einiger Dichter sind, was glaubt ihr, hoch geehrter Präses und ihr, Socii, was von mir getan werden muß, der ich nicht sehr gut, gerade – hoffentlich – mittelmäßig in dieser Art von Dichtung geübt bin? Ja, was sollte ich tun wegen der ersten Aufnahme des Werkes in der Öffentlichkeit? Gar nichts drucken lassen? Es war jedoch nötig, daß ich die Franzosen, Deutschen und Italiener übertreffe, denen ich öffentlich diese Art der Übungen zu vermitteln begonnen habe; ich mußte auch meinen Landsleuten gehorchen, die verhindert haben, daß ich verborgen blieb, obwohl ich es begehrte. Nachdem aber klar war, daß es herausgegeben würde, welch große Stürze fürchtete ich, da ja sogar Homer selbst, dessen klaren Stil Aristoteles37 allen anderen voranstellte, vor dem Biß des Zoilos38 nicht sicher sein konnte?

–––––––––––– 35 Wörtlich: von den Dreiwegen, daher der Begriff trivial. 36 Wörtlich: damit auf diese Weise das Lorbeerblatt, wie man sagt, aus dem Lorbeerkuchen gesucht wird. Der Begriff mustaceum steht für einen Hochzeitskuchen aus Fett, Käse, Anis und Lorbeerblättern. 37 Vgl. ARISTOTELES (1994) 8, 3 (1459b). 38 Zoilos oder Zoilus ist der Inbegriff des kleinlichen Kritikers, weil er schon die Gedichte Homers tadelte.

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Was also? Da ja gerade dem Besten und durch Ingenium und Lehre Hervorragendsten die Schreib- wie Lesekünstler raten, nichts auf die oberflächlichen Stimmen unerfahrener Leute zu geben, sondern unsere Schriften, bevor sie veröffentlicht werden, jenen zur Prüfung zu übergeben, die nichts vorzutäuschen, nichts zu verheimlichen pflegen, die an den Stellen, wo es nötig ist, mit Zinnoberrot, wie es Atticus39 getan hat, jene kennzeichnen können und wollen. Und es hat gewiß keiner befohlen, in Furcht vor den Kritikern zu sein. Die unterschiedlichsten Völker und vor allem verschiedenartigen Ingenia haben diesem Buch mit seinen mannigfaltigen Gedichten heftigst Beifall gespendet. Was aber auch immer von mir schwierig und obskur ausgedrückt zu sein scheint, dies geschieht – ich will es frei heraus sagen – nicht durch meinen Fehler, sondern durch die ungewöhnliche und sicher auch bewundernswerte Art des Kunstwerkes. Dies kann wohl, wieviel an Dunkelheit es auch immer enthalten mag, vor den fein ausgebildeten Ingenia äußerst gebildeter Menschen nicht verborgen bleiben, da sie, wie ich meine, die Bibliotheken aller alten Dichter genau durchstöbert und das gesamte Altertum durchwandert haben und das, was auch immer Jüngere aus der Akademie dichten,

–––––––––––– 39 Atticus: 109-32 v. Chr., Buchhändler, Freund Ciceros und Herausgeber seiner Schriften.

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ohne Mühe im Geist erfassen; dennoch halte ich es nicht für bedenklich, weil unsere Ausarbeitungen das Auffassungsvermögen von Knaben fast übersteigen, ein Scholion für die Neulinge40 anzufertigen, damit sie um so leichter von noch zarten Geistern gedanklich erfaßt werden können. Jenes wollte ich, da ich bei Euch, Wickhamer, und in Deinen Händen, aufmerksamster Praeses, erzogen wurde, Euch, die ich in Jesus Christus alle umarme, und Eurem Kollegium, der besten Mutter und Erzieherin, widmen, damit ich nicht die Erziehung und Lehre für Knaben, die ich bei auswärtigen Völkern der Jugend übermittelt habe, zu Hause jenen Knaben verweigere, welche die übrige Jugend im gesamten Erdkreis in Anständigkeit des Charakters, in Bildung und Frömmigkeit übertreffen. Ich bitte und beschwöre Euch, daß Ihr dieses nicht geringe Zeichen meiner Zuneigung mit höchster Heiterkeit und Freude des Herzens für das Studium gutheißt. Lebt wohl und bleibt mir, was Ihr schon tut, gewogen! London, den 15. Oktober 1573

–––––––––––– 40 Tirones bezeichnen die Rekruten beim Militär. Das Tirocinium fori ist ein Terminus technicus für die Rednerausbildung bei einem erfahrenen Redner auf dem Forum.

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Lateinischer Text aus: IN SVORUM POEMAT. LIBRVM RICARDI WILLEII SCHOLIA. Ad Custodem, Socios, atq; Pueros Collegij Wiccammici apud Wintoniam. His accesserunt C. Ionsoni Poete eximij carmina de vita ac rebus ab eiusdem Collegij Fundatore gestis, tum Custodum sive Praesidum atq; Didascalorum omnium series ab eodem distichis explicata. Londini. Ex Bibliotheca Tottellina. MDLXXXIII.

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Scholien ES SCHENKT UND WIDMET POEM 1. Zwei Dinge enthält dieses erste Gedicht, nämlich die Widmung des Werkes und den Grund, der mich zum Schreiben antrieb. Wie es nämlich bei den Dichtern Brauch ist, das Thema vorzustellen und die Musen anzurufen, so auch, das Werk selbst jemandem zu widmen. SO PALINGEN UND ANDERE. Siehe Catull, Carmen 1 Wem schenke ich dieses anmutige neuartige Büchlein, Horaz Buch I, Ode 1, Maecenas, alter Könige Sproß & c, der dann so schließt Wenn du mich den lyrischen Dichtern einreihst, dann Buch I Brief 1 Du, dem das erste und letzte Lied meiner gewidmet, Ovid, Fasten 1. Nimm mit freundlicher Miene, Germanicus Caesar, dies’ Werk an / Lenke sanft auch den Weg dann des furchtsamen Schiffs. Ebenso gaben sie Rechenschaft, weshalb sie dies und nicht jenes schreiben. Tibull, Elegie 1, 1f. Feldherr bin ich und Soldat: geht fort, ihr Standarten und Tuben Weit in die Ferne weg, bringt Wunden dem, der es will. OVID, AMORES, 1 ELEGIE 1, 1 - 4: Waffen und blutige Kriege wollt’ im erhabenen Versmaß ich singen, Und auch paßte der Stoff gut zum heroischen Maß. Gleich war dem ersten Vers auch der zweite: doch sagt man, Cupido Habe gelacht und dem Vers heimlich gestohl’n einen Fuß. UND BUCH 1 ARS AMATORIA, 7: Mich stellte Venus als Künstler vor dem zärtlichen Amor. QUINCUNX POEM 2. UND 3. Die zwölf Gedichte, die folgen, nenne ich Figuren oder Bilder, da sie ja außer der Regel, dem Versmaß, der Ausdrucksweise, dem Gewicht der Dinge und dem Sinn, welche bei jedem Carmen sorgfältig abgewogen werden müssen, durch Schreibung der Wörter und Anordnung der Verse das Abbild einer Sache gestalten und zeigen.41 Bei dieser Gattung von Gedichten habe ich zuallererst den Quincunx und das XPS gebildet.

–––––––––––– 41 Der lateinische Ausdruck verborum scriptione atque versuum ordine expressam alicuius rei effigiem prae se ferunt, wörtlich: sie tragen ein durch Schreibung der Worte und Anordnung der Verse ausgedrücktes Bild einer Sache vor sich, drückt schon in der Formulierung aus, daß hier neben der textuellen eine visuelle Ebene vorhanden ist, die (prae se ferunt / sie tragen vor sich) vom Rezipienten sogar als erstes wahrgenommen wird.

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Den Anstoß hat für das eine ein Garten gegeben, in dem ich zufällig Bäume sah, die in Form eines Quincunx aufgestellt waren, für das andere die Standarte des ', von der ich ein Bild in Trier, Konstantin bei den Griechen l 7 Q 

y

dann ein anderes in Rom gesehen habe.

yzQ Denn die Maler und Dichter Hatten, was immer beliebt, die gleiche Macht auch zu wagen.42 Die Leserichtung ist bei beiden ein und dieselbe. Denn wenn man aus mehreren Worten entweder nur diese These, Christus hat durch seinen Tod unseren vernichtet,43 oder jene, Christus hat, als er von den Toten erstand, unser Leben wiederhergestellt,44 lesen will, soll er folgendermaßen lesen: Christus, das Lamm, der Sieger; besiegte, unterwarf, streckte nieder, zerstörte; die Sünde, die Schlange, die Dämonen; verlacht wurd’ er, verachtet wurd’ er, getötet wurd’ er, gelitten hat er; heftig, bitterlich, ungerecht. Ebenso soll er jenes lesen: Die verachtete, die vernachlässigte, die verlorene, die ewige; stellt wieder her, erneuert, bringt er zurück, Christus durch sein Leiden, durch sein Siegen, durch die Auferstehung; nämlich Erlösung, Tiara, Ruhe, Krone, und dies in Prosa. Wenn Du aber jenes in einem Gedicht zu gestalten begehrst, begegnen in jedem von beiden nicht so viele Wörter, wie dann die verschiedenen Carmina bilden, wenn es wahr ist – und so ist es –, daß durch die Veränderung eines einzigen Wortes ein anderer Vers, als der, der er war, gebildet werden kann. Daher soll man so beginnen: Christus besiegte die Sünde, verlacht wurd’ er heftig. Dann: Christus unterwarf die Sünde, verachtet wurd’ er bitterlich. Darauf: Christus unterwarf die Sünde, verlacht wurd’ er heftig. Alsbald: Christus unterwarf die Sünde, verachtet wurd’ er heftig. Sofort: Christus unterwarf die Sünde, verachtet wurd’ er bitterlich.

–––––––––––– 42 HORAZ (1984), 9f. 43 1. Cor 15. 44 1. Pet 1.

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Dann: Christus unterwarf die Schlange, verachtet wurd’ er heftig. Danach: Christus unterwarf die Schlange, verachtet wurd’ er bitterlich. Schließlich: Christus unterwarf die Schlange, getötet wurd’ er ungerecht. Und so schreite, indem Du mit dem agnus atque victor anfängst, fort, bis Du alles gesammelt hast. Auf die gleiche Weise gehe auch das andere [X P] S an. Sie unterscheiden sich nämlich weder in der künstlerischen Konzeption noch im Bild. Hierher gehört auch Poem 76. […] SCHWERT POEM 5. Dieses Emblem habe ich nach einer eigenen Idee angefügt. Natürlich muß das Schwert des Geistes, d. h. das Wort Gottes, von dem genommen werden, der vor dem Zorn der Fürsten, vor der Raserei und dem Angriff des Volkes sicher sein will, während die anderen fallen. Die zwei Verse auf der Schneide des Schwertes laufen wechselseitig vor und zurück, darüber später mehr.45 Auf dem Querbalken kann der Vers vorwärts und rückwärts gelesen werden, ohne daß sich das Versmaß ändert, wie jener des Vergilius Maro: AENEIS, I, 8: Muse, oh [die] Gründe mir nenn’, da verletzt ist die Gottheit. Anderthalb jambische Trimeter habe ich als Griff verwendet. Deshalb sollst du zunächst so lesen: Nicht habe ich Reichtum, nicht Seide, nicht habe ich Balsam und keine purpurnen Paläste. Dann: Habe ich purpurne Paläste? Nein. Balsam? Nein. Seide? Nein. Habe ich Reichtum? Nein.

–––––––––––– 45 Die auf der Schwertschneide umlaufenden Verse sind Palindrome, d. h. man kann die einzelnen Wörter vorwärts und rückwärts lesen (hier aufsteigend und absteigend), und trotzdem ergeben sie metrisch korrekte Verse.

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[…]

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KLEINES EI POEM 6. Ob ein Eigedicht des Simias existiert, ist nicht ganz klar.46 Scaliger, nahezu der zweite Vater der Dichtkunst, schenkte uns zwei Eigedichte. Das eine ist sehr klein wie das der Nachtigall, das andere größer wie das eines Schwans und enthält zwölf Verse. Es gibt auch ein Eigedicht eines nicht unbekannten Pierischen Dichters aus Daktylen, das dreimal so groß und Daniel Barbarus47 gewidmet ist. Das aber, welches Crispinus aus neunundzwanzig Versen gestaltete, überragt dieses um das anderthalbfache wie das Schwanenei bei Scaliger das Ei. Ich imitiere das kleine Eigedicht Scaligers mit einem rein spondäischen Hexameter. Wie diese Versart älter ist als die anderen und zuallererst zum Lobe Apolls gesungen wurde: Io Paian, Io Paian, Io Paian, so ist sie zur Bildung eines Eis, das den Ursprung eines künftigen Vogels ausmacht, nicht unpassend. Als Geschenk zum Jahresanfang ist vielleicht ein Birnengedicht höchst geeignet, um eine Freundschaft zu beginnen.

BIRNE POEM 7. Die Kalenden des August48 werden nach alter Einrichtung in ganz Italien mit einem sehr großen Fest begangen. Ich habe nun anstelle italienischer Früchte Bernardinus gefunden; niemals habe ich etwas Keuscheres gefunden als ihn, niemals etwas Gewissenhafteres; eine Birne, die im englischen Garten gewachsen ist, und diese habe ich – in choriambischen Metren eingeschlossen – als Geschenk dargebracht. Das ganze Verfahren besteht in der Hinzufügung oder Wegnahme einer einzigen Silbe, welche die Natur und den Namen eines jeden Carmen verändert.

–––––––––––– 46 Wills kennt das Eigedicht des Simias von Rhodos offensichtlich nicht im Original, sondern nur aus der Literatur, vor allem aus Scaligers Poetik. 47 Daniel Barbaro war venezianischer Philosoph, Mathematiker und Politiker, der zahlreiche Schriften zu Kunst, Mathematik und Naturwissenschaften verfaßte. 48 1. August, Petri Ketten Fest; traditionell (bis 1960) von der katholischen Kirche am 1. August gefeiert. Der Legende nach sollen die Ketten, die Petrus bei seiner Befreiung aus dem Kerker in Jerusalem (Act 12) zurückgelassen hatte, von Balbina gefunden und nach Rom gebracht worden sein, wo sie sich auf wundersame Weise mit den Bruchstücken der Kette verbunden hätten, die Petrus als Gefangener unter Nero getragen habe. Die Ketten werden in S. Pietro Vincoli (Rom) aufbewahrt.

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DOPPELAXT POEM 13. Und zuerst feiere ich den Erbauer des Schiffes und die Doppelaxt, die benutzt wurde, um es zu erbauen, da mein Mäzen von einer Seereise aus Frankreich gesund und unversehrt zurückgekehrt ist. BUCH 1, ODE 3, VERS 8. Gar wüste Verwünschungen stößt Horaz aus, weil die Hälfte seiner Seele, Vergil, auf einer Schiffahrt fort war. Wie in den Flügeln habe ich rein choriambische Verse gebildet, außer, daß ich den fünften und sechsten nicht mit einer Kürze und zwei Längen (u - -), sondern mit einer Kürze, einer Länge und wiederum zwei Kürzen (u - u u) geschlossen habe und ebenso an der letzten Stelle des Verses verfahren bin. Das macht aber in Gedichten dieser Art nur einen geringen Unterschied aus, da man, wo auch immer in einem Carmen und an welcher Stelle man eine Länge (-) findet, danach natürlich auch zwei Kürzen (u u) setzen kann. Das geschieht sogar in den heroischen Hexametern Vergils. Dort wird man außer dem Daktylus, der durch seine Unbeständigkeit die Würde des Spondeus hervorruft, auch zwei Kürzen vor einer Länge (u u -) finden, wie Der Flüsse König Eridanus etc. und vier Kürzen (u u u u) wie: Es schlottern die Knie am Boden. So Homer:  /' 01(' 2 weil die Länge (-) in zwei Kürzen (u u) aufgelöst wird und zwei Kürzen (u u) nicht irgendwie mehr wert sind als eine Länge (-). Aber diese Doppelaxt unterscheidet sich von den Flügeln, weil wir bei ihnen zuerst den ganzen rechten und dann den ganzen linken Flügel lesen sollten. Bei der Doppelaxt wollen wir nach dem ersten, d. h. dem vom Griff entferntesten Vers auf der rechten (oberen) Seite, sofort den ersten, d. h. den entferntesten auf der anderen Seite, lesen. Dann wollen wir zum zweiten auf der rechten (oberen), dann zum zweiten auf der linken (unteren) und so nacheinander die übrigen durchgehen.49 Konsultiert selbst den Simias von Rhodos, und dies sei über die Bilder genug.

–––––––––––– 49 Anders als in dem (hier nicht abgedruckten) Flügelgedicht verwendet Wills in der Doppelaxt eine alternierende Leserichtung. Bei diesen Umrißgedichten erfolgt die visuelle Gestaltung durch die Verwendung unterschiedlich langer Verse. Als metrische Basis verwendet Wills hier den Choriambus (- u u -), den er in antiker Tradition nach Bedarf erweitert.

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IN ÄGYPTISCHEN BUCHSTABEN POEM 58. Es steht fest, daß die Ägypter einst Bilder benutzt haben, um ihre Gedanken auszudrücken.50 Dabei ist offenkundig, daß die Alten auch durch die Gestalten bestimmter Tiere Tugenden und Laster bezeichneten. Ob ich ebendies getan habe oder nicht, soll dem Urteil anderer überlassen bleiben. Jedenfalls lassen sich in den ersten fünf Tieren vor allem fünf Tugenden erkennen, nämlich Milde, Glaube, Frömmigkeit, Klugheit und Tapferkeit. In den anderen fünf Tieren ebenso viele Laster, nämlich Schwatzhaftigkeit, Luxus, Dummheit, Zorn, Gefräßigkeit. Wenn sie ins Versmaß gebunden werden, ergeben sich zwei Verse. Ein Hexameter, nämlich: Milde, Glaube, Frömmigkeit, Klugheit und Tapferkeit auch. Der andere ist ein Pentameter, nämlich: Schwatzhaftigkeit, Ausschweifung, Dummheit, Gefräßigkeit, Zorn. So werden im ganzen Poem zwei Pentameter mit einem Hexameter verbunden.

–––––––––––– 50 Wills betrachtet die (noch nicht entzifferte) ägyptische Schrift als Bilderschrift.

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[…]

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IN VERSCHIEDENEN SPRACHEN POEM 72. Es folgen einige nicht witz- und geistlose Genera, wenn die Mannigfaltigkeit der Sprachen oder die Mischung unterschiedlicher Sprachen oder auch Carmina, in denen verschiedene Versmaße gemischt sind, irgend etwas Anziehendes mit sich zu bringen vermögen. Das erste Beispiel ist zu offenkundig, als daß es einer Erklärung bedürfe. POEM 73. Das zweite ist ein wenig dunkler. Auf Lateinisch scherze ich hier über das Leben der Ärzte: Mit denselben Worten sage ich auf Italienisch, daß Könige die besten Ärzte seien, da es ihnen erlaubt sei, sich angenehm zu erholen und angenehm zu leben, und nichts Größeres oder Göttlicheres findet man in den Schulen der Ärzte. Die Grammatiker werden mir vorwerfen, daß auf Lateinisch von mir nae und Lecytho geschrieben worden ist, auf Italienisch ne und Lecito. Ich erwidere, daß h und ae von den Italienern nicht berücksichtigt werden. Klüger würde es vielleicht sein, wenn die Grammatiker, wie sie nach ihrer Gewohnheit über die Schreibung eines einzigen Buchstabens oder seine Aussprache streiten, ebenso für Altäre und Herde kämpfen würden. Frei will ich sprechen, aufrichtig will ich sprechen. Kunstsinnig will ich das Poem konzipieren, es kunstgerecht hegen und es zu seiner Zeit rasch herausgeben und es – wie eine Mutter der Amme – den Grammatikern überlassen, den Schmutz der Buchstaben abzuwaschen.

MISCHUNG DER SPRACHEN POEM 74. Auf anmutige Weise werden die Sprachen vermischt wie Metalle. Das bedeutet, daß sich an die schlechtere die bessere anschließt. POEM 75. Nicht werden wir nämlich Griechisch mit Latein vermischen, sondern Latein mit Griechisch, wie wir nicht mit Silber Gold verschönern, sondern mit Gold Silber. So habe ich von den Deutschen gelesen, daß in ihrer Sprache die Anfänge der Verse verfaßt sind, in Latein aber die Versschlüsse.

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Resümee Richard Willis ist ein weit gereister englischer Autor der Renaissance von internationalem Zuschnitt, der durch Aufenthalte in Deutschland, Frankreich und Italien seinen Bildungshorizont erweitert und sich mit verschiedenen Kulturen vertraut gemacht hat. Seine Beispielpoetik folgt in der tektonischen Anlage einem Zenturienschema, das in der Frühen Neuzeit sehr beliebt war, wie es z. B. schon die Cent ballades d’amant et de dame der Christine de Pisan (1365 - nach 1430) demonstrieren. Der Autor studierte Grammatik, Rhetorik und Poesie und hat schon aufgrund seiner akademischen Ausbildung als Poeta doctus zu gelten, der, wie auch seine Gedichtkommentare zeigen, eine Philologisierung der Poesie auf humanistischer Grundlage anstrebte. Von großer Bedeutung sind die ersten zwölf Gedichte der hundert Stücke umfassenden Sammlung, da es sich hierbei um optische Texte mit speziellen Visualisierungsstrategien handelt. Seiner Definition nach ist es für diese Figurae, sive imagines charakteristisch, daß sie über die konventionellen Bestimmungsmerkmale eines gewöhnlichen Gedichtes hinaus durch die besondere Schriftform, die ein optisches Bild konstituiert, und durch die dem Bild adaptierte Versordnung ein spezifisches generistisches Profil gewinnen. In seinem Widmungsbrief an Baron Burghley präsentiert sich der Dichter als Architectus nugarum, d. h. als Verfasser poetischer Mikrotexturen, für die eine gewisse Brevitas und Levitas symptomatisch sind, welche den Autor zu weiteren Bescheidenheitsbekundungen veranlassen. Sofern er in seinen Kommentaren deviante Formen des Metrums erläutere, einen bestimmten Gedichttyp mit einem Paradigma exemplifiziere oder gar einen neuartigen Formtyp erfinde, glaubt er, wie es heißt, noch lange nicht, als Dichter Anspruch auf eine vergoldete Statue zu haben. Dabei tritt Willis engagiert für einen moralischen Zweck seiner Dichtungen ein, die er allerdings selbst als Juvenilia deklariert und die sich auch dezidiert an die Jugend wenden, bei der seiner Auffassung nach die Begierden und Leidenschaften überborden. In ihrem stark apologetischen Impetus ist seine Dichtung, wie er beteuert, inhaltlich dezidiert christlich bestimmt, von Hause aus edel und ohne bloße Erfindung und Lüge, zudem frei von Verbrechen und Lastern, statt dessen keusch und fromm. Die Auffassung, daß seine Poesie ein Medicamentum gegen juvenile Liebesbegierden und Liebeskrankheiten sei, konkretisiert Willis durch das Bild der hundert Salbenbüchschen, deren Inhalt zumeist nach den Sentenzen der Alten verfaßt, einige nach eigenem Ingenium ausgearbeitet, manche hingegen ohne besonderen Kunstanspruch und andere in vollkommener Kunst zusammengefügt seien. Wer sich vom eitlen Lärm der Welt zurückziehen und sich frommem Tun zuwenden will, soll zu Parthenien (vgl. Nr. 60), Psalmen (36), Oden (28) oder Hymnen (24) greifen. Derjenige aber, der von extremen Emotionen wie übergroßer Freude oder übergroßem Schmerz befallen wird, möge sich nach dem Willen des Dichters Päane (31), Epigramme (87) und Enkomien (32) oder Trostgedichte (96), Chöre (43), Gebete (23), Lacrimen (98) oder Elegien (84) vornehmen. Artistisch-

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manieristische Formen wie Centonen (14), Figurengedichte (2-13), Carmina recurrentia (51) und Pollanaleptica (65) sollen der Zerstreuung in der Freizeit dienen, während bei Erwartung künftigen Gutes oder Übels Gedichte wie Echoverse (69), Dialoge (88), Wünsche (34), Eklogen (70), Ei- und Birnengedichte (6,7) von Nutzen seien. Willis stellt hier originelle Ansätze einer emotionalistischen Gattungspoetik vor, die zugleich funktionalistisch und praxisorientiert ist. Überblickt man die visuellen Texte im ersten Teil der Poetik (nach einem Einleitungsgedicht: Nr. 2-13), so kristallisieren sich folgende Typen des Carmen figuratum heraus: 1. antikisierend-humanistische Nachahmungen griechischer Technopägnien wie Altar (4), Ei (6), Flöte (8), Flügel (9) und Doppelaxt (13); 2. christliche Formen mit Buchstabenkonstellationen in Gestalt des Namens Christi mit den für Nomina sacra typischen Abbreviaturen: XPS (3), IX (10), die hier an spätantike porfyrianische Intextgitter erinnern; 3. innovative Formen wie ein Quincunx (2), ein Schwert (5), eine Birne (7), ein Pentalpha (11) und eine Pyramis inversa (12). Für die Visuelle Poesie aufschlußreich ist auch die vierte Gruppe von Gedichten (Nr. 50-71), die nach der Definition von Willis aus Buchstabenkonstellationen bestehen. Sie enthält u. a. ein Gedicht mit einem Akrostichon (52), ein Carmen cancellatum mit einem Chi-Kreuz (56), ein Poem mit einem Akrotelestichon (57), ein Carmen hieroglyphicum (58) und schließlich ein Gittergedicht mit dem Jesuitenwappen, das ein Monogramm Christi (IHS) mit aufgepflanztem Kreuz präsentiert. In die manieristische Tradition läßt sich auch die fünfte Gruppe (72-81) einordnen, die sich durch eine Vermischung verschiedener Sprachen und Lesarten auszeichnet, zumal die visuellen Gittergedichte des Porfyrius schon lateinische Basisverse mit griechischen Intexten kombinieren und der spätantike gallische Dichter Ausonius als Ahnherr der makkaronischen Poesie gilt, die in der Renaissance zu neuem Leben erweckt wird. Wenn Willis die poetische Sprachmischung nicht nur mit der Farbpalette des Malers, sondern auch mit Metallegierungen vergleicht, wird vermutlich der Einfluß der frühneuzeitlichen Alchemie greifbar. Versucht man den Aussagegehalt der Dichtungstheorie des Richard Willis zu evaluieren, so ist erst einmal festzuhalten, daß die manieristischen Literaturformen hier einen wesentlich größeren Anteil als in der Poetik Scaligers besitzen. Sein 1573 publiziertes Werk könnte man deshalb als erste manieristische Poetik überhaupt bezeichnen. Der Visuellen Poesie speziell hat Willis, ebenfalls über Scaliger hinausgehend, einen wesentlich größeren Stellenwert eingeräumt, als es je eine Poetik vorher getan hätte. Der englische Autor hat einerseits zu den verschiedenen Gedichtarten eigene, zumeist der Kasuallyrik zuzuordnende Beispieltexte verfaßt, so daß sich seine Poetik auch als Gedichtbuch oder Lyriksammlung lesen läßt. Andererseits hat er in einer für die Gattung nicht untypischen Weise seine Texte selbst unter metrischen, quellenkritischen, generistischen und semantischen Aspekten kommentiert.

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Originell ist an der poetologisch ausgerichteten Schrift auch die zweiteilige Anlage mit einer vorangestellten Beispielpoetik und einem extensiven theoretischen Part, der eine rein diskursive Apologie der Dichtung sowie Einzelkommentare zu den poetischen Paradigmata umfaßt. Extravagant ist zudem die Architektur des Werkes, das sich in seinen ältesten Schichten als eine frühe Form der Jesuitenpoetik verstehen läßt, da Willis sie symbolisch als ‚Arzneischrank’ mit 100 Salbenbüchsen deutet und damit seine Gattungstheorie auf eine medizinischpsychotherapeutische Grundlage stellt. Der Autor zeigt sich allenthalben sehr beschlagen in der Geschichte der Visuellen Poesie, kennt die griechischen Technopägnien, zitiert die intermediale Poetik des Horaz, weiß über die mittelalterlichen Gittergedichte Bescheid – zu Hrabanus Maurus äußert er sich ausführlich –, beherrscht auch das Formenspektrum der experimentellen Ars versificatoria, einschließlich permutativer Verfahren, und sieht schließlich seine figurative Dichtung im kontemporären Kontext mit Heraldik, Renaissance-Hieroglyphik und Emblematik.

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Literaturhinweise Ausgaben RICARDI VVILLEII Poematum Liber. Ad Gulielmum Bar. Burghleium Auratum nobiliss. ordinis equitem Sereniss. Reg. Consiliarium ac Summum Angliae Quaestorem. Londini Ex Bibliotheca Tottellina MDLXXIII. IN SVORUM POEMAT. LIBRVM RICARDI WILLEII SCHOLIA. Ad Custodem, Socios, atq; Pueros Collegij Wiccammici apud Wintoniam. His accesserunt C. Ionsoni Poete eximij carmina de vita ac rebus ab eiusdem Collegij Fundatore gestis, tum Custodum sive Praesidum atq; Didascalorum omnium series ab eodem distichis explicata. Londini. Ex Bibliotheca Tottellina. MDLXXXIII. RICHARD WILLS: De re poetica. Translated and Edited from the Edition of 1573 by ALASTAIR D. S. FOWLER. Oxford 1958.

Referenztexte ARISTOPHANES: Plutos. In: Sämtliche Komödien. Übers. von LUDWIG SEEGER. Zürich 1968. ARISTOTELES: Poetik. Hrsg. und übers. von MANFRED FUHRMANN. Stuttgart 1994. CATULL: Sämtliche Gedichte. Übers. von OTTO WEINREICH. Zürich 1970. HOMER: Odyssee. Hrsg. und übers. von ANTON WEIHER. München 91990. HORAZ: Ars poetica. Hrsg. und übers. von Eckart Schäfer. Stuttgart 21984. HORAZ: Satiren. Hrsg. von GERHARD FINK. Übers. von GERD HERRMANN. Düsseldorf 2000. OVID: Metamorphosen. Hrsg. und übers. von MICHAEL VON ALBRECHT. Stuttgart 1997. PROPERZ: Liebeselegien. Hrsg. und übers. von GEORG LUCK. Zürich 1996. SAPPHO: Gedichte. Hrsg. und übers. von ANDREAS BAGORDO. Düsseldorf 2009. STATIUS: Thebais. Hrsg. von ALFRED KLOTZ. München 2001. TIBULL: Carmina. Hrsg. und übers. von GEORG LUCK. Stuttgart 1998. VERGIL: Aeneis. Hrsg. von GIAN BIAGIO CONTE. Berlin 2009. WILLIAM CAMDEN: Annales Rerum Gestarum Angliae et Hiberniae Regnante Elisabetha (1615 and 1625), with the annotations of Sir Francis Bacon. A hypertext edition by DANA F. SUTTON, The University of California, Irvine (2000/2001, veröffentlicht unter www.philological.bham.ac.uk/camden).

Forschungsliteratur JEREMY ADLER und ULRICH ERNST: Text als Figur. Visuelle Poesie von der Antike bis zur Moderne. Weinheim 1987 (Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek 56). BERNARD WINSLOW BECKINGSALE: Burghley: Tudor Statesman. 1520-1598. London 1967. EDWARD IRVING CARLYLE: Richard Willes or Willey. In: The Dictionary of the National Biography 21 (Ndr. 1921/22), S. 288. ULRICH ERNST: Europäische Figurengedichte in Pyramidenform aus dem 16. und 17. Jahrhundert. Konstruktionsmodelle und Sinnbildfunktion. Ansätze zu einer Typologie. In: Euphorion 76 (1982), S. 295-360. Ndr. in: DERS.: Intermedialität im europäischen

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Kulturzusammenhang. Beiträge zur Theorie und Geschichte der visuellen Lyrik. Berlin 2002 (Allgemeine Literaturwissenschaft – Wuppertaler Schriften 4), S. 91-153. DERS.: Carmen figuratum. Geschichte des Figurengedichts von den antiken Ursprüngen bis zum Ausgang des Mittelalters. Köln 1991. DERS.: Neulateinisches Figurengedicht und manieristische Poetik. Zum ‚Poematum Liber’ (1573) des Richard Willis. In: WOLGANG BRAUNGART: Manier und Manierismus. Tübingen 2000, S. 275-306. THOMAS HIDBER: Das klassizistische Manifest des Dionys von Halikarnass. Die Praefatio zu De oratoribus veteribus. Stuttgart 1996 (Beiträge zur Altertumskunde Band 70). ERIK IVERSEN: The Myth of Egypt and its Hieroglyphs in European Tradition. Kopenhagen 1961. LUDWIG MORENZ: Sinn und Spiel der Zeichen. Visuelle Poesie im Alten Ägypten. Köln 2008 (Pictura et Poesis 21). GIOVANNI POZZI: La parola dipinta. Mailand 1981. PIOTR RYPSON: Obraz słowa historia poezji wizualnej. Warschau 1989. GREGOR STAAB: Athenfreunde unter Verdacht. Der erste Asianist Hegesias aus Magnesia zwischen Rhetorik und Geschichtsschreibung. In: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 148 (2004), S. 127-150.

XIII. MICHEL EYQUEM DE MONTAIGNES VORSTELLUNG VOM LITERARISCHEN MANIERISMUS: KRITIK UND AMBIVALENZ Der Lebensweg Michel Eyquem de Montaignes (1533-1592) entspricht der typischen Laufbahn eines französischen Adligen: Der humanistischen Schulbildung und dem Studium der Rechte in Toulouse und Bordeaux folgten verschiedene öffentliche Ämter, u. a. als Rat im Parlament von Bordeaux. 1571 zog sich Montaigne jedoch auf sein Schloß zurück und widmete sich, abgesehen von der Tätigkeit als Bürgermeister von Bordeaux (1581-1585), vor allem der Literatur. Sein bekanntestes Werk sind die Essais, die erstmals 1580 veröffentlicht wurden; jeweils erweiterte Ausgaben erschienen 1588 und (posthum) 1595. Die Genese des Werkes spiegelt die philosophische Grundhaltung des Verfassers wider: Skeptisch gegenüber jedem Dogmatismus und alle Seiten eines Phänomens sorgfältig abwägend, konstituiert Montaigne in seinen Essais einen offenen, sich beständig selbst relativierenden Denkhorizont.1 Er gilt als Begründer der Essayistik, einer literarischen Gattung, in der ohne Prätention wissenschaftlicher Objektivität die unterschiedlichsten Themen erörtert werden. Im Zentrum von Montaignes Essais steht der Mensch mit seinen Stärken und Schwächen: Der 54. Essay ist der Eitelkeit gewidmet, für die Montaigne verschiedene Beispiele anführt, darunter auch – gleich zu Anfang seiner Ausführungen – die Figurengedichte.2

–––––––––––– 1 2

Das französische Wort essai bedeutet Versuch, Probe, Bemühung. Vgl. auch das lateinische exagium in der Bedeutung von wägen. Vgl. ADLER und ERNST (31990), S. 219.

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Französischer Text nach: MICHEL DE MONTAIGNE: Œuvres complètes. Hrsg. von Albert Thibaudet und Maurice Rat. Paris 1962, Livre I, Chapitre LIV, S. 297.

Des vaines subtilitez Il est de ces subtilitez frivoles et vaines, par le moyen desquelles les hommes cherchent quelquesfois de la recommandation; comme les poëtes qui font des ouvrages entiers de vers commençans par une mesme lettre; nous voyons des œufs, des boules, des aisles, des haches façonnées anciennement par les Grecs avec la mesure de leurs vers, en les alongeant ou accoursissant, en maniere qu’ils viennent à représenter telle ou telle figure. Telle estoit la science de celuy qui s’amusa à conter en combien de sortes se pouvoient renger les lettres de l’alphabet, et y en trouva ce nombre incroiable qui se void dans Plutarque.

XIII. Michel Eyquem de Montaigne

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Michel de Montaigne: Von eitelen Spizfindigkeiten (Essais: I. Buch, LIV. Hauptstück). In: Essais [Versuche] nebst des Verfassers Leben nach der Ausgabe von Pierre Coste ins Deutsche übersetzt von Johann Daniel Tietz. Leipzig 1753. Faksimile-Nachdruck Zürich 1992. Bd. I, S. 611f.

Von eitelen Spizfindigkeiten Es giebt allerhand nichtswürdige und eitele Spizfindigkeiten, durch welche sich die Leute zuweilen beliebt zu machen suchen. Die Poeten machen ganze Werke, wo halbe Verse mit einerley Buchstaben anfangen.3 Wir sehen daß die Griechen vor Alters, Eyer, Kugeln, Flügel, Aexte, mit ihren Versen gemachet haben, indem sie dieselben bald verlängert bald verkürzet, bis sie endlich diese oder jene Figur vorstelleten.4 So war die Wissenschaft desjenigen beschaffen, welcher suchte, auf wie vielerley Art man die Buchstaben des Alphabets versetzen könnte, und darnach diese unglaubliche Anzahl heraus brachte, die man im Plutarch5 siehet.

–––––––––––– 3 4 5

In der heutigen Terminologie gesprochen, handelt es sich hierbei um Tautogramme. Montaigne spricht übrigens nicht von ‚halben Versen’, sondern lediglich von ‚Versen’. Montaigne könnte hier figurierte Texte von Simias von Rhodos, Theokrit und Dosiadas von Kreta im Blick haben. Zu diesen Autoren vgl. ADLER und ERNST (31990), S. 23-25. Montaigne bezieht sich hier auf PLUTARCH (1911), VIII, 9, S. 331: Xenokrates berechnet die Zahl der Silben, welche die miteinander verbundenen Buchstaben geben, auf nicht weniger als hundert Millionen und zweihunderttausend. Plutarch (um 46 n. Chr.-um 120 n. Chr.) zählt zu den bevorzugten Quellen Montaignes; vgl. hierzu die ausführliche Studie von KONSTANTINOVIC (1989).

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Resümee Montaigne trat nicht nur mit philosophischem Anspruch auf, der sich in seinem Skeptizismus und Stoizismus sowie in seiner wissenschaftskritischen Rationalität und seinem anthropologisch-ethischem Erkenntnisinteresse spiegelt, sondern erweist sich bei näherer Betrachtung auch als Literaturkritiker. Im Widerstreit zwischen literarischem Klassizismus und literarischem Manierismus ergreift Montaigne prima vista dezidiert die Position der ersten Richtung und offenbart sich somit noch stark als Repräsentant der Renaissance-Poetik. Während im barocken Manierismus die Argutia bzw. deren Synonym, die Subtilitas, zum Zentralbegriff der manieristischen Literaturästhetik avanciert, polemisiert Montaigne im 54. Kapitel des I. Buches seiner Essais anfangs gegen die vainez subtilitez, deren Textproduzenten er vorwirft, um die Gunst des Publikums zu buhlen. Für diese eitlen Spitzfindigkeiten stehen Werke aus Tautogrammen, d. h. Versen, deren Wörter alle mit demselben Buchstaben anfangen, wie es z. B. die ca. 350 Verse umfassende Dichtung Pugna Porcorum per P. Porcium poeta (Anvers 1530) des Johannes Leo Placentius dokumentiert, der selbst wieder auf eine Gattungstradition rekurriert, die in karolingischer Zeit Hucbald von St. Amand in seinen Versus calvorum laude canendi begründet hat. Zu diesen Subtilitäten gehören nach Montaigne auch die griechischen Figurengedichte, die im 16. Jahrhundert durch Ausgaben der Anthologia Graeca und der griechischen Bukoliker in Frankreich bekannt geworden sind. Der Autor spielt nur auf die drei Technopägnien (Flügel, Ei, Axt) des Simias von Rhodos an, ohne deren Verfasser oder die anderen Begründer der Gattung (Dosiadas von Kreta, Theokrit) zu nennen. Da Montaigne die Figuren im Plural nennt, kann man daraus schließen, daß sie zu seiner Zeit auf Grund vielfältiger Imitationen schon als Unterarten der Gattung bekannt waren. Wenn der Autor zu den drei überkommenen Figurengedichten des Simias noch Exemplare in Kugelform erwähnt, ist er vermutlich von Hephaistion (2. Jh. n. Chr.) beeinflußt, der Simias auch eine nicht erhaltene Sphaira zuweist.6 Als manière für die Konstruktion einer visuellen Figur sieht Montaigne das Kürzen und Verlängern der Verse an, womit zu dem konventionellen prosodischen Messen nach Längen und Kürzen ein weiteres exzeptionelles Messen nach graphischen Erfordernissen kommt. Wenn er schließlich auf das Beispiel eines Mannes zurückgreift, der herauszubekommen sucht, auf wie viele Arten man die Buchstaben des Alphabets permutieren könne, wobei er als Quelle Plutarch (Die Meinungen der Philosophen, IV, 10) anführt, denkt er vielleicht auch an zeitgenössische literarische Spielarten wie die kombinatorischen Proteusverse. An späterer Stelle erläutert Montaigne seine Opposition gegenüber den ‚eitlen Spitzfindigkeiten’, die allerdings schon ambivalente Züge erkennen läßt: Es ist ein wunderbares Zeugniß von der Schwäche unserer Urtheilskraft, daß wir die Sachen nur wegen ihrer Seltenheit oder Neuigkeit oder gar wegen ihrer Schwie-

–––––––––––– 6

HEPHAISTION (1906), S. 140; vgl. ERNST (1991), S. 44.

XIII. Michel Eyquem de Montaigne

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rigkeit rühmen, wenn gleich keine Güter und kein Nutzen damit verbunden ist (I, S. 613). Damit attestiert der Franzose der ‚modischen’ Gattung der Visuellen Poesie Rarität (rareté), Novität (nouvelleté) und Diffizilität (difficulté), mag er ihr auch jegliches horazisches Prodesse (utilité) absprechen. Montaigne, der selbst in seinen Essais eine der Alltagssprache angenäherte Diktion präferiert, bezieht andererseits eine deutliche Gegenposition gegenüber der asianischen Rhetorik. Ob in dem Adjektiv ‚frivoles’ ein moralischer Nebensinn mitschwingt, läßt sich nicht ausschließen, da bei Anagrammen und Palindromen, wie in dieser Zeit namentlich Étienne Tabourot pointiert, oft mit einem obszönen Zweitsinn operiert wird. Am Ende des Kapitels, zum Anfang zurückkehrend, räumt er den literarischen Manierismen in der Hierarchie der Dichtung einen Mittelplatz ein, unterscheide sie sich doch sowohl von der oralen Volkspoesie als auch von der klassischen Dichtung: Gesetzt, diese Versuche wären einer Beurtheilung würdig, so könnte es meines Bedünkens leicht kommen, daß sie weder den gemeinen und pöbelhaften noch den besondern und vortrefflichen Geistern recht gefielen: denn iene würden sich nicht genugsam, diese aber allzu gut darauf verstehen; Also möchten sie sich wohl in der mittleren Gegend behelfen müssen (I, S. 618). Sofern sich der Ausdruck ces essays nicht allein auf die eitlen Spitzfindigkeiten der Manieristen, sondern auch auf die Essays des Autors selbst beziehen kann, gewänne der Abschnitt auch eine autoreflexive und autobiographische Dimension. Daß Montaignes Verhältnis zum literarischen Manierismus nicht so eindeutig negativ ausgerichtet ist, zeigt auch die poikilographische, atektonische und von Aulus Gellius inspirierte Form seiner Essays, zu deren Legitimation er sogar Platon als Kronzeuge bemüht, dessen locker komponierter Phaidros von ihm mit dem positiven Werturteil fantastique bigarrure bedacht wird (III, S. 9). In diesem Zusammenhang verdient das Faktum Aufmerksamkeit, daß Tabourot die letztlich auf die Hieroglyphen zurückgehenden Rebusse mit durchaus positiver Konnotation durch den auch von Montaigne verwendeten Begriff Subtilitez (S. 6) charakterisiert.

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Literaturhinweise Ausgaben MICHEL DE MONTAIGNE: Essais. In: Œuvres complètes. Hrsg. von Albert Thibaudet und Maurice Rat. Paris 1962. MICHEL DE MONTAIGNE: Essais [Versuche] nebst des Verfassers Leben nach der Ausgabe von Pierre Coste ins Deutsche übersetzt von Johann Daniel Tietz. Bd. I-III. Leipzig 1753. Faksimile-Nachdruck Zürich 1992. MICHEL DE MONTAIGNE: Essais. Erste moderne Gesamtübersetzung von Hans Stilett. Frankfurt a. M. 1998.

Referenztexte HEPHAISTION: Enchiridion cum commentariis veteribus. Hrsg. von MAX CONSBRUCH. Stuttgart 1906. PLUTARCH: Tischgespräche. In: Vermischte Schriften. Übers. von Johann Friedrich S. Kaltwasser und hrsg. von HEINRICH CONRAD. Bd. I. München 1911.

Forschungsliteratur JEREMY ADLER und ULRICH ERNST: Text als Figur. Visuelle Poesie von der Antike bis zur Moderne. Weinheim 31990. PETER BURKE: Montaigne. Oxford 1981. MICHEL BUTOR: Essai sur les Essais. Paris 1968. KEITH CAMERON und LAURA WILLETT (Hrsg.): Le visage changeant de Montaigne. The Changing Face of Montaigne. Paris 2003. VINCENT CARRAUD und JEAN-LUC MARION (Hrsg.): Montaigne. Scepticisme, métaphysique, théologie. Paris 2004. FRANÇOISE CHARPENTIER: Les Essais de Montaigne. Analyse critique. Paris 1979. ULRICH ERNST: Carmen figuratum. Geschichte des Figurengedichts von den antiken Ursprüngen bis zum Ausgang des Mittelalters. Köln 1991 (Pictura et Poesis 1). MARIE-LUCE DEMONET: Michel de Montaigne. Les Essais. Paris 21992. PHILIPPE DESAN (Hrsg.): Dictionnaire de Michel de Montaigne. Paris ²2007. HUGO FRIEDRICH: Montaigne. Tübingen u. a. 31993. OLIVIER GUERRIER: Quand „les poètes feignent“: „Fantasie“ et fiction dans les Essais de Montaigne. Paris 2002. ANN HARTLE: Michel de Montaigne. Accidental Philosopher. Cambridge 2003. ISABELLE KONSTANTINOVIC: Montaigne et Plutarque. Genf 1989. PIERRE MICHEL (Hrsg.): Montaigne et les essais. Paris 1983. GERALDE NAKAM: Les „Essais“ de Montaigne. Miroir et procès de leur temps. Témoignage historique et création littéraire. Paris 2001.

XIII. Michel Eyquem de Montaigne

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XIV. KABBALA UND KRYPTOLOGIE: BLAISE DE VIGENÈRE Über das Leben von Blaise de Vigenère (1523-1596) sind nur wenige Details bekannt. Nach einem mehrjährigen Studium an der Universität von Paris, das er anscheinend ohne Abschluß beendete, übte Vigenère eine Vielzahl unterschiedlicher Tätigkeiten aus: Er wirkte u. a. als Diplomat, Historiker, Sekretär, Lehrer, Archäologe, Alchimist und Kabbalist. Mit fünfzig Jahren trat er als Schriftsteller und Übersetzer an die Öffentlichkeit und setzte damit die auf seinen Reisen (Italien, Deutschland, Niederlande) und durch seine Lektüren gewonnenen Kenntnisse in eigene literarische Werke um. Vigènere fertigte u. a. die erste französische Übersetzung von Torquato Tassos Gerusalemme liberata und Übertragungen der Psalmen an.1 Als Schriftsteller interessierte er sich insbesondere für Magie, Alchemie2 und die Kabbala, die er in der Nachfolge des italienischen Gelehrten Giovanni Pico della Mirandola mit der christlichen Religion zu harmonisieren suchte. Zu seinen wichtigsten Quellen gehören die kabbalistische Textsammlung Sohar des Moshe ben Shem Tov de Leon (ca. 1250-1305), die Schrift De occulta philosophia von Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim (1486-1535) und das Werk von Johannes Trithemius (1462-1516). Im Traité des chiffres spiegelt sich Vigenères Privilegierung der geschriebenen gegenüber der gesprochenen Sprache wider, die er u. a. mit der figurativ-imitativen Seite der Buchstaben begründet.3

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Vigenère übersetzte aus dem Lateinischen, dem Hebräischen, dem Alt- und Neugriechischen, dem Altfranzösischen und dem Italienischen; vgl. GORRIS (1994), S. 78, und SARAZIN (1997), S. 93. Zu Vigenères Tätigkeit als Übersetzer vgl. die Beiträge von BURIDANT (1994), CHAVY (1994) und GORRIS (1994). Posthum (1618) wurde Vigenères alchemistische Schrift Traité du feu et du sel (Abhandlung vom Feuer und vom Salz) veröffentlicht. Zur Bedeutung von Alchemie und Kabbala im Werk Vigenères vgl. SECRET (1964) und MATTON (1994). VIGENÈRE (1586), S. 43; vgl. auch FUMAROLI (1981), S. 34.

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Französischer Text aus: BLAISE DE VIGENÈRE: Traicté des chiffres ou secrètes manières d’écrire. Paris 1586. Fol. 131-134.

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Um nun zu den Chiffren zu kommen, so hängt, wie auch bei der Schrift im allgemeinen, ihre ganze Erscheinung von drei Unterschieden ab, nämlich von der Form der Buchstaben, sodann von ihrer Ordnung, ihrem Zusammenhang und ihrer Position und schließlich von ihrem Wert und ihrer Kraft. Die Form und die Gestalt bestehen in Grundlinien und Farben, denn alle beide machen den Unterschied aus, so als ob man ein rotes A an die Stelle eines schwarzen setzen wollte und so weiter: Hier ist nur von der Form die Rede, sowohl der Form der allgemeingebräuchlichen Buchstaben als auch der zum Vergnügen gebildeten, die sich dann auf alle erdenklichen Arten verwenden lassen; die an den Höfen geübte Praxis ist ungefähr diejenige, die wir oben beschrieben haben. Diese war bei den Hebräern jedoch nicht gebräuchlich, die sich in dieser Hinsicht der Buchstaben ihrer eigenen gemeinsamen und offenkundigen Sprache für alle Arten von Geheimschriften bedienten, die auf dunkle Weise die verborgenen Geheimnisse ihres Gesetzes

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auszudrücken strebten, dort, wo wir die Buchstaben einfach nur benutzen und sie mit den weltlichen Dingen entweihen. Sie besitzen im übrigen verschiedene Arten, die sich alle von sechs Hauptverfahren herleiten: nämlich Ethbas oder Umstellung der Buchstaben; Themurah, ihre materielle Vertauschung; Ziruph, formale Kombinationen und Wechsel, also wenn sie aus ihrer eigentlichen Position in eine andere versetzt werden; Ghilgul, eine Zahlenquote; Notarikon, d. h. einen Buchstaben oder eine Silbe als ein Wort betrachten und umgekehrt; Gematrie, eine Entsprechung von Maßen und Proportionen. Diese Vielfalt rührt, wie die Kabbalisten und sogar Rabbi Moyse Gerundense4 sagen, daher, daß Gott Moses das Gesetz in ungeordneten und wirren Buchstaben gegeben hat, so daß man es von allen Seiten her lesen konnte, von rechts, von links, vorwärts, rückwärts, von oben nach unten, von unten nach oben, wie schon gesagt worden ist, und sich jeder daraus einen anderen Sinn bilden konnte. Das ist die wahre Steganographie,5 die Trithemius6 nachahmen wollte; nichtsdestotrotz zeigte Gott Moses die eigentliche Lesart und den wahren Sinn, die dieser mündlich nur an die siebzig Sanhedrin des geheimen Rates weitergab,7 so wie auch diese es von Hand zu Hand an andere weiterreichten. Die erste Art nun unterteilt sich in zwei weitere: die eine durch Entsprechung der Zahlen, die andere durch Metathesis8 und Umstellung von Buchstaben, Silben und ganzen Wörtern aus ihrer eigentlichen Ordnung, Abfolge und Position heraus, woraus sich ein neuer Sinn ergibt, der im Zusammenhang der Schrift verborgen ist. Entsprechung der Zahlen bedeutet, daß

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Hinter diesem Namen verbirgt sich möglicherweise der berühmte jüdische Philosoph Moses ben Maimon (1138-1204), der, auch unter dem Namen Maimonides bekannt, zu den bedeutendsten jüdischen Gelehrten des Mittelalters zählt. Nach der Eroberung Córdobas durch die Almohaden floh er mit seiner Familie nach Ägypten und wirkte als Arzt am Hof von Sultan Saladin. Sein philosophisches Hauptwerk, aus dem Vigenère hier zitiert, trägt den Titel Führer der Unschlüssigen (1995). Steganographie (aus griech. steganos/verdeckt und graphein/schreiben): Geheimschrift, meist auf der Basis von Intexten. Der gelehrte Benediktinerabt Johannes Trithemius, eigentlich Johannes Heidenberg bzw. Johannes Zeller (1462-1516), verfaßte neben zahlreichen anderen Werken auch ein Handbuch zur Steganographie (Steganographia, ca. 1500). Die Schriften Trithemius’ stellen eine wichtige Quelle für Vigenères Traicté des chiffres dar. Zu Trithemius vgl. SECRET (1964), S. 157-159, und CULIANU (2001), S. 235-253. Der Sanhedrin (vom griech. synedrion/Versammlung, Rat) oder Hohe Rat war die oberste politische und religiöse Instanz der Juden. Metathese: Lautumstellung innerhalb eines Wortes oder bei etymologisch verwandten Wörtern.

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die Buchstaben zweier Wörter nach ihrem Wert dieselbe Summe ergeben, wie man es in der folgenden Tafel sehen kann. Beispielsweise die Buchstaben von hebr. Metattron9, wovon wir weiter oben gesprochen haben,10 und einer der heiligen Namen, hebr. Sadai, ergeben jeweils 314, so daß man sie oft austauscht und ein Wort als das andere deutet.

In Nachahmung der Hebräer haben auch die Griechen ihre Buchstaben als Zahlen verwendet; damit ihr Iota, das dem Iod entspricht, ebenfalls die zehnte Stelle einnehmen kann, dort, wo es nur die neun ist, haben sie aus diesem Grund in ihr Alphabet den Buchstaben "(Sigma) für die 6 eingefügt […]

–––––––––––– 9 Metattron: Name eines Engels in der jüdischen Tradtion; vgl. SCHOLEM (1965), S. 43-55. 10 VIGENÈRE (1586), S. 25f.

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Um die Tausender darzustellen, verwenden sie die Großbuchstaben in derselben Reihenfolge, woran hinreichend offenbar wird, daß sie viele Dinge von den Hebräern übernommen haben, außer daß die Kleinbuchstaben mit einem Accent aigu11 versehen sind.

Ebenfalls in Nachahmung der Hebräer besitzen sie eine fast gleiche Art der Arithmantie12 wie die zuvor besprochene, nämlich Wahrsagerei aus den den Buchstaben entsprechenden Zahlen, die nach allgemeiner Ansicht zum ersten Mal von Pythagoras13 entdeckt worden ist; seine Tradition ist nichts anderes als eine wahre hebräische Kabbalistik, die sich auf diese Passage aus dem Buch der Weisheit stützt: Omnia in numero, pondere, et mensura disposuisti:14 Dem widersprechen noch nicht einmal Aristoteles und Ptolemäus,15 die gerne zugeben, daß die Buchstaben auf geheimnisvolle Weise bestimmte Zahlen in sich tragen, daß die

–––––––––––– 11 Accent aigu: französische Benennung des Betonungszeichens Akut. 12 Arithmantie: Form der Wahrsagung aufgrund von Zahlen, die eine Person bestimmen und sich z. B. aus ihrem Namen oder ihrem Geburtsdatum ergeben. 13 Pythagoras von Samos: griechischer Denker (um 570 v. Chr.-um 500 v. Chr.), der die Zahl als bestimmendes Prinzip in die Philosophie einführte. 14 Du hast allem, was ist, seinen Platz zugewiesen aufgrund von Zahl, Maß und Gewicht (Buch der Weisheit 11, 22). 15 Aristoteles (384 v. Chr.-322 v. Chr.): griechischer Philosoph; Ptolemäus (um 100-um 160): griechischer Mathematiker und Astronom.

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Eigennamen von Personen, König- und Kaiserreichen, Städten und Republiken insgeheim etwas über ihr Los und Geschick aussagen, wie man in diesen Versen von Terenz16 sehen kann, die die praktische Anwendung zeigen: Et nomina tradunt ita literis peracta, Haec ut numeris pluribus, illa sint minutis; Quondoque subibunt dubiae pericla pugnae, Maior numerus quà steterit, favere palmam; Praesagia lethi minima patere summa. Sic et Patroclum Hectorea manu perisse: Sic Hectora tradunt cecidisse mox Achilli. Und sie lehren, daß Namen so in Buchstaben formatiert seien, Daß diese eine größere Zahl enthalten, jene eine geringere, Daß, wenn sie die Gefahren eines ungewissen Kampfes auf sich nähmen, Dort, wo die größere Anzahl sei, die Siegespalme winke, Die Vorzeichen des Untergangs bei der geringsten ständen. So sei Patroklos durch die Hand Hektors zugrundegegangen, So, lehren sie, sei Hektor bald danach durch Achill getötet worden. Wenn man nämlich die Namen von zweien nimmt, die miteinander ein Duell austragen und Mann gegen Mann kämpfen wollen, so wird derjenige, bei dem die Buchstaben seines Namens der Berechnung nach diejenigen der Gegenseite übertreffen, den Sieg davontragen, wie es Hektor geschah, der Patroklos tötete und danach von Achilles getötet wurde.17 Denn die Buchstaben des Wortes εκτωρ ergeben zusammen 1225, nämlich ε 5, κ 20, τ 300, ω 800 und ρ 100, während die von πατροκλοξ, obwohl größer in der Anzahl, nur 871 ergeben, auf folgende Weise: π 80, α 1, τ 300, ρ 100, ο 70, κ 20, λ 30, ο 70, ξ 200. Das gleiche gilt für Hektor und Achilles, denn αχλλευ! ergibt genau 1276, wie man an den Zahlen dieser Buchstaben sehen kann. Einige wollten daraus schlußfolgern, daß es ein schlechtes Vorzeichen für eine Ehe ist, wenn die Buchstaben des Vor- und Fami-

–––––––––––– 16 Vigenère meint hier nicht den römischen Komödiendichter Terenz, sondern Terentianus Maurus (wahrscheinlich Ende des 2. Jhs. n. Chr.), der als Autor eines in Versen verfaßten Grammatikund Rhetoriklehrbuches (De litteris, de syllabis, de metris) überliefert ist, das erstmals 1497 im Druck erschien. Das Beispiel findet sich auch in Etienne Tabourots ebenfalls im 16. Jahrhundert erschienenen Bigarrures. 17 Bezugspunkt ist eine von Homer in der Ilias berichtete Episode aus dem Trojanischen Krieg: Der Grieche Patroklos, Freund des Achill, nimmt in dessen Rüstung an der Schlacht teil und wird von dem trojanischen Königssohn Hektor getötet, der wiederum der Rache des Achill zum Opfer fällt.

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liennamens der Frau an Wert diejenigen des Mannes übertreffen, so als ob sie ihn beherrschen sollte; aber der Glaube daran liegt bei den Autoren, denn es handelt sich um ungewisse Dinge, die nicht immer Erfolg haben, wenn kein anderer Kunstgriff hinzukommt, wie man es an griech. Karthago und griech. Rom sieht; Karthago, das von den Römern besiegt wurde, überragt an Zahl bei weitem den Namen Rom. Das soll jedoch nicht heißen, daß es keine großen Geheimnisse und Rätsel in den Zahlen gibt, wie man es auch in Kap. 13 der Apokalypse sehen kann: Derjenige, der Verstand hat, soll die Zahl des Tieres berechnen, denn es ist die Zahl eines Menschen, seine Zahl ist 666. Wer Verstand hat, der berechne die Zahl des Tieres; denn es ist die Zahl eines Menschen, und seine Zahl ist sechshundertundsechsundsechzig, worauf sich genau μαομετι! oder μοαμετι! bezieht: denn μ ergibt 40, α 1, ο 70, μ 40, ε 5, τ 300, ι 10, ! 200. Andererseits ergibt das Wort #$!, in dem sich vier Vokale und zwei Konsonanten finden, 888, gemäß diesen Versen der Sibylle: Vier Vokale hat er und zwei Konsonanten von Ewig lebenden Engeln, die ganze Zahl erkläre ich aber, Acht Einer, ebensoviele Zehner dazu Und acht Hunderter. Denn ι macht 10, η 8, σ 200, ο 70, υ 400, ! 200, was insgesamt die oben erwähnten 888 ergibt.18

–––––––––––– 18 Vgl. HAUBRICHS (1969), S. 53f.

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Was die andere Art der hebräischen Ziffern anbetrifft, die auf Metathesen und Anagrammen beruht, so handelt es sich dabei um Umstellungen von Buchstaben und manchmal auch Silben. Das folgende Beispiel aus unzähligen anderen kann demonstrieren, wie es funktioniert und die seltsamen Geheimnisse offenbaren, die sich im Zusammenhang mit der heiligen Schrift, der hebräischen Sprache und den hebräischen Buchstaben zeigen, deren die anderen nicht fähig sind. Das erste Buch der Genesis, Bresit, hat sechs unterschiedliche Buchstaben, die auf die sechs Tage hinweisen, in denen Gott das ganze Räderwerk der Welt vollendete. Die ersten drei Buchstaben Bra bedeuten er erschuf; nimmt man aus dem ganzen Wort den Buchstaben beth weg, bleibt resit übrig, das heißt Anfang.

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Französischer Text aus: BLAISE DE VIGENERE: Traité des chiffres ou

secrètes manières d’écrire. Paris 1586, Fol. 255-260.

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Um nun zum dritten Punkt der Chiffren zu kommen, der von der Ordnung, der Abfolge und der Position der Buchstaben abhängt, deren Bedeutung sich je nach den verschiedenen Anordnungen ändert, so werde ich hier Kunstgriffe präsentieren, die allein darauf beruhen; da es nicht notwendig ist, Unterschiede bei der Figur oder der Farbe zu machen, so werden die Bemerkungen alle ähnlich sein, zu Punkten, Sternen, Blättern und überhaupt allem, was es in der Natur geben mag, und außerdem allem, was sich der menschliche Geist an Fantastischem ausdenken kann. Es ist nun gewiß wahr, daß eine solche Seite wie die hier ausgebreitete nicht mehr als hundert oder hundertzwanzig brauchbare Buchstaben enthalten kann: Aber da es in wichtigen Angelegenheiten nicht darum geht, sich in der Sprache auszubreiten, sondern sich so weit wie möglich zu beschränken, kann diese Anzahl genügen, um genügend Sinn zu vermitteln. Auf jeden Fall kommt es darauf an, alles nur unter einem Vorwand, der am geeignetsten erscheint, zu wiederholen und zu verschleiern; also etwa in seinem Brief den offenbaren Wortlaut zu benutzen: Ich schicke Ihnen Gestalt und Anordnung des Himmels wegen der und der Konstellation und ähnliche Dinge, um den Verdacht zu tilgen, daß es sich

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um Schrift handelt. Darüber hinaus gibt es denn – nach dem, was hier zu sehen ist – etwas, das dem Angesicht des Himmels in einer klaren und heiteren Nacht, geschmückt mit Sternen in unterschiedlichen Konstellationen und Positionen, so wie selbst die Astrologen ihre Gestirne beschreiben, mehr ähnelt? Denn man soll nur ja nicht glauben, daß sie ganz ohne jedes Geheimnis und jeden Sinn so kühn angeordnet worden sind, wie es auch der ägyptische Rabbi Moses in Buch 2, Kap. 2019 seines Weisungsbuches schreibt: Alle diese Dinge bestehen aus einem Grund, den wir nicht kennen und weder sind sie vergebens noch zufällig, ebensowenig wie die Venen in den Körpern der Tiere, sondern sie sind so, daß die einen dick, die anderen fein sind und von der Absicht der Anpassung bestimmt werden. Auch bei den Nerven gibt es Verschiedenheit etc. Und doch heißt es im 147. Psalm: Er zählt die Sterne und benennt sie alle mit Namen; das heißt, daß er um ihre Zahl weiß und ihre Kräfte, Eigenschaften und Wirkungen kennt. Was bei ihrem Schöpfer gar nicht weiter ungewöhnlich ist, denn schließlich hat ein Sterblicher wie Hipparchos20 es dennoch versucht, vermittels einiger von ihm erfundener Instrumente: Er hat auch eine gottlose Sache gewagt, für die Nachwelt die Sterne zu zählen und die Sterne nach einer Regel darzulegen, und sich Instrumente erdacht, durch die er die Stellung und die Größe der einzelnen bezeichnete. So hat er, wie er sagt, einen zu seiner Zeit neugeborenen Stern entdeckt, der nun zu denen hinzugefügt wurde, die es vorher schon gab. Das führte ihn und einige andere nach ihm zu der Ansicht, daß unsere Seelen nach diesem Leben in Sterne verwandelt

–––––––––––– 19 MOSE BEN MAIMON (1995), 2, 20. 20 Hipparchos von Nikaia (um 194 v. Chr.-um 120 v. Chr.), griechischer Mathematiker und Astronom, der u. a. ein Verzeichnis der Fixsterne anlegte.

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werden. Darauf kommt Mohammed am Anfang seines Korans zurück, bei der Erzählung von der schönen jungen Dame, die in den leuchtenden Tagesstern verwandelt wurde, nachdem die beiden Engel Aroth und Maroth ihr die Art und Weise, in den Himmel zu kommen, erklärt hatten und sie nicht wieder hinunter wollte, nachdem sie einmal dorthin gelangt war.21 Aber noch passender ist diese Passage aus dem Lukas-Evangelium 10: Freut euch aber, daß eure Namen im Himmel geschrieben sind, das heißt im Buch des Lebens. Dies wird durch die Traditionen der Mekubalisten und Magier bestätigt, die besagen, daß die ganze Natur nur ein schönes Buch und Verzeichnis ist, in dem die Wunder des Schöpfers in schönen, gut lesbaren Buchstaben geschrieben stehen, die sogar im Himmel lesbar sind, zumindest von denjenigen, die sie kennen. Der Herzog Pico della Mirandola macht daraus einen Artikel in der 74. seiner Fragen,22 in denen er es unternimmt, mit Relationen und Zahlen zu antworten: Ob alles am Himmel beschrieben und bezeichnet ist – wem ist es, selbst wenn er es weiß, erlaubt zu lesen? Und nach ihm Agrippa im 2. Buch seiner Occulta Philosophia, Kap. 51. So wird diese himmlische Schrift der Sterne bei den Kabbalisten, Chetab Malachim, Schrift der Engel genannt:23 Daher ist sie weder müßig noch zufällig; wie die Position der Figuren auf einem Schachbrett denen nichts bedeutet, die nichts davon verstehen, wohl aber den guten Spielern, die keine Figur bewegt sehen können, ohne sofort zu begreifen, worauf es hinausläuft; ebenso ist es mit der Anordnung der Sterne und ihren unterschiedlichen Positionen in so vielen

–––––––––––– 21 Die beiden Engel Harut und Marut werden nur in Sure 2, 102 des Korans erwähnt, doch rankt sich eine Vielzahl von Legenden um sie, zu denen auch die oben von Vigenère wiedergegebene gehört; vgl. DER KORAN (2005), S. 92. 22 Der italienische Humanist und Philosoph Giovanni Pico della Mirandola (1463-1494) veröffentlichte 1486 eine Sammlung von 900 Thesen zu religiösen und philosophischen Fragen: PICO DELLA MIRANDOLA (1973), S. 77. 23 „Die wahren Charaktere der Himmel aber sind die Schrift der Engel, die bei den Hebräern die Schrift der Malachim heißt, mit welcher am Himmel alles geschrieben und bezeichnet ist für jeden, der zu lesen vermag.“ AGRIPPA VON NETTESHEIM (1987), S. 334. Zur verschlüsselten Sternschrift siehe auch ERNST (2008), S. 76f.

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verschiedenen Räumen, daß es unmöglich ist, sie zu zählen; so unendlich viele Aspekte und Figuren werden auf diese Weise gebildet. Darauf bezieht sich auch, was die Kabbalisten sagen: Daß die Schrift der Engel sich in der Höhlung des Himmels befindet, die wir von hier aus sehen können, und die Schrift des allerhöchsten Gottes auf der nach außen gewölbten Rückseite, außerhalb der sinnlichen Welt im äußeren Teil, wenn man es so nennen darf, wo die Gottheit ihren Sitz hat, auf dem Thron seines En-Soph24 oder der Unendlichkeit. Was sich keinesfalls an den Moses überreichten Gesetzestafeln zeigt,25 die innen und außen beschrieben und von beiden Seiten lesbar sind, denn die innere Seite ist von allen zu lesen und die äußere durch göttliche Offenbarung nur von Moses und denjenigen, denen der Prophet davon Mitteilung machen wollte. Hier nun zwei Beispiele für diesen Kunstgriff: Das erste ist ein sternenübersäter Himmel, der dem Thema des 19. Psalmes Ausdruck verleiht. Die Himmel an allen Orten erzählen den Menschen von der Macht Gottes: Die große, weite Welt Verkündet in allen Teilen Das Werk seiner Hände.

–––––––––––– 24 Ensoph: nach der Lehre der Kabbala das Eine, Absolute, dessen Kontraktion die zehn göttlichen Emanationen (Sefiroth) hervorbrachte, aus denen wiederum die Welt entstand. 25 Vgl. Ex 31, 18.

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Jede dieser Schriften hängt im übrigen nur von der Anordnung der Sterne, der Punkte oder ähnlicher Zeichen ab, die an Stelle der Buchstaben stehen, und von ihrer Anordnung und Position; daher tut die Verschiedenartigkeit der Figuren oder der Farben nichts zur Sache. Wenn sich dies auf unzählige Art und Weise umformen läßt, so liegt das Geheimnis in dem Gitter, das man gleich sehen kann: Es besteht aus zwanzig nach unten verlaufenden Spalten und Intervallen, die der Reihenfolge nach mit Zahlen versehen sind, und aus sechzehn quer verlaufenden, die jene in 320 Quadrate oder Kämmerchen unterteilen. In ihnen sollen die Noten ihren Platz finden, die die Buchstaben darstellen, dem numerierten Alphabet auf der linken Seite und der jeweils erforderlichen Anordnung entsprechend. Weil sich in allen sechzehn Quadraten jeder der zwanzig Spalten – in den einen mehr, in den anderen weniger, in manchen überhaupt nicht – nicht mehr als fünf Noten unterbringen lassen, da es nur fünf Unterschiede der Positionen gibt, kann dieses ganze Gitterverfahren nicht mehr als hundert Buchstaben umfassen; so muß man zu Wiederholungen greifen, um zu vervollständigen, was man schreiben will. Man braucht also eine dünne Kupferplatte oder auf jeden Fall Papier, das man so markiert, wie dieses Gitter ist: alle Quadrate zum Teil leer, außer den Quadraten mit Zahlen und Großbuchstaben, so daß nur noch die Linien bleiben, um die Quadrate voneinander zu trennen. Es versteht sich, daß man zwei gleiche

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braucht, eines für sich, das andere für den Korrespondenzpartner. Dann geht man so zu Werke, daß man die Punkte derart anordnet, wie man es in diesem Quadrat sehen kann, welches die ganze Kunst offenbart, denn für das übrige gilt das gleiche.

Nämlich die Ecke links oben für den ersten Buchstaben in jedem Quadrat, so wie es hier markiert ist; die Ecke rechts oben für den zweiten Buchstaben; die Mitte für den dritten; die Ecke links unten für den vierten und die rechts unten für den fünften. Wenn dies geschehen ist, lege man das mit einem Gitter versehene Metallplättchen sehr genau auf einen Bogen Papier gleicher Größe und befestige es so gut, daß es sich nicht bewegt, denn dies ist von ganz besonderer Wichtigkeit. Dann markiere man im Quadrat der ersten Spalte, das dem Buchstaben entspricht, den man darstellen will, einen Punkt in der linken oberen Ecke. Um beim Thema zu bleiben: Rechts vom ersten Buchstaben, der ein L ist, setze man in dem Quadrat, das dem E entspricht, in derselben Spalte noch einen anderen Punkt rechts

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oben; in das, welches dem S entspricht, einen Punkt in der Mitte; in dem Quadrat des C einen Punkt in der linken unteren Ecke und ein I auf der rechten Seite für den fünften Buchstaben dieser Spalte. Wenn dies geschehen ist, geht man zur zweiten Spalte und fährt auf die gleiche Weise, wie man es hier mit schwarzer Farbe in dem Gitter markiert sieht, der Reihe nach bis zur zwanzigsten fort, den Buchstaben entlang, die die verborgenen Punkte, ganz so wie man will, darstellen. Aber alles dies läßt sich genauso einfach oder noch einfacher mit einem derartigen Gitter ausführen, das auf Ölpapier gezeichnet ist und durch das man bequem hindurchsehen kann, um zu verschlüsseln und zu entschlüsseln. Dann ist es auch nicht notwendig, mehr als eine Linie zu markieren, wodurch man geräumigere und weniger verworrene Quadrate erhält. So sind die als Buchstaben dienenden Punkte für das oben erwähnte Thema in einem sternenübersäten Himmel versteckt, der vorgegebenen Anordnung folgend. Falls sich hier oder auch bei dem nachfolgenden Baum ein Fehler finden sollte, nämlich, daß sie nicht unmittelbar den Buchstaben entsprechen, kann dies auf eine fehlerhafte Abbildung zurückzuführen sein, die sie nicht so gut herauszuar-

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beiten wußte, wie es nötig gewesen wäre. Das gilt auch für das Gitterwerk, das sich mit den Maßstäben der Buchdruckerkunst nur sehr schwer so exakt bilden läßt wie von Hand mit Lineal und Zirkel. Aber diese Figuren genügen, um die Art und Weise zu veranschaulichen, ähnlich wie das Modell eines Gebäudes.

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Auf dieser anderen Tafel, die die Form eines Lorbeerbaums hat, dessen Beeren als Buchstaben fungieren – die Blätter sind nur als Schmuck hinzugefügt, so als ob sie als Nullen dienen sollten – ist die Anordnung eine etwas andere, nämlich in Form eines Kreuzes, wie wir es gewöhnlich zu machen pflegen, von oben nach unten, von links nach rechts und schließlich in der Mitte, so wie es hier zu sehen ist.

Wenn die Kammern oder Quadrate etwas geräumiger wären als die des Gitters hier unten, könnte man in den vier Ecken einen Buchstaben hinzufügen, was neun für jedes Quadrat und hundertzwanzig je Seite ergeben würde. Die solcherart plazierten Beeren ergeben die drei Verse des Psalms 103: Auf, meine Seele, lobe Gott in allen Dingen, Und alles was, in mir ruht, Lobe seinen allerheiligsten und vollkommenen Namen. Dieser Gegenstand wird auf verborgene Weise durch den Lorbeerbaum mit seinen Früchten und Blättern ausgedrückt.

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Französischer Text aus: BLAISE DE VIGENERE. Traité des chiffres ou secrètes manières d’écrire. Paris 1586. Fol. 267-275.

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An dieser Stelle ist auf einige noch raffiniertere Kunstgriffe einzugehen, die mit der von den Kabbalisten so genannten Gematrie zusammenhängen, ein zweifellos von Geometrie herstammendes korrumpiertes Wort. Sie verstehen darunter jedoch auch die Arithmetik, ohne welche die Geometrie nicht existieren kann, ebenso wenig wie die Maße und Figuren ohne die Zahlen. Die Arithmetik, die einfacher und formaler ist, läßt sich auch ohne Geometrie betreiben, die materieller und gröber ist, wie man am Vergleich der Figuren mit den Zahlen sieht; ja, wie das Wort und die Schrift nicht ohne einen Gedanken existieren können, der ihnen vorausgeht, während der Gedanke durchaus ohne Wort und Schrift da sein kann. Es wäre vielleicht besser gewesen, diesen beiden Disziplinen gemeinsam eher den Namen der zweiten, d. h. der Geometrie, zu geben, da er modern ist, als den Namen der ersten, also der Arithmetik, denn Platon rühmt die Geometrie so sehr im siebten

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Buch vom Staatswesen, daß er sie die Erkenntnis des Immerseienden nennt.26 An einer anderen Stelle schreibt er, darin dem folgend, was Plutarch in der zweiten Frage im achten Buch des Gelages der Sieben Weisen anführt,27 daß Gott sie beständig ausübt: Darauf legt er dar, daß Lykurgos28 die arithmetische Proportion aus Lakedämonien verbannt hat, um dort statt dessen die Geometrie einzuführen; durch sie zeigt er eine heftige Verwirrung in der Bevölkerung an, die sich aus einer Zahl zusammensetzt und daher die Gleichheit betrifft, in der jeder Herr ist wie die Made im Speck: Wir, die Menschen des Alltags, geschaffen, von Früchten zu leben, / (sagt Horaz), Sind wie Penelopes windige Freier und wie die Jugend / An Alkinoos’ Hof ….29 Die Geometrie betrifft den Verstand, denn sie beruht auf dem Unterschied zwischen längeren und kürzeren Linien: Dies deutet auf die Autorität hin, die die großen und edlen Leute, die Ehre, Rat und Voraussicht besitzen, über den wirren Haufen eines unwissenden und rohen Pöbels haben sollten, dessen größter Teil lasterhaft, ausschweifend, vermessen und voreilig ist und nur die Gleichheit sucht: Es gibt nichts Ungerechteres und Schädlicheres für einen Staat. Aus diesem Grund entzieht Gott sie allen Dingen, soweit [sie es zulassen und] es möglich ist, und beachtet in seinem Bereich den Wert und die Würde auf geometrische Weise, alles nach seiner Vernunft vollendend. Platon beschreibt daher mit dem Mehr und Weniger nicht nur die Materie, wie es ihm Aristoteles nachsagt, sondern auch die Formen und alle Zusammensetzungen aus beiden, entsprechend ihrem Grad an

–––––––––––– 26 Vgl. PLATON (2003), VII, 527 b. 27 Die Frage lautet bei dem griechischern Schriftsteller Plutarch (um 45-um 125): „In welchem Verstande sagt Plato, daß Gott immer Geometrie treibe?“; vgl. PLUTARCH (1911), S. 291. Der Satz, daß Gott ständig Geometrie treibe, ist von Platon nicht überliefert; vgl. GIGON und ZIMMERMANN (1975), S. 135; vgl. OHLY (1982), S. 1-42. 28 Lykurg(os): historisch nicht belegter Gesetzgeber von Sparta, dessen ‚Biographie’ Plutarch aus den über ihn kursierenden Legenden zusammensetzte. 29 Das Zitat stammt aus den Epistulae des römischen Dichters HORAZ (2000), I, 2.

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Substanz und Vollkommenheit. Kein Geringerer als Pythagoras hat vor ihm das gleiche mit den geraden und ungeraden Zahlen gemacht, Empedokles30 mit dem Dichten und dem Dünnen, die er unter die Urgründe faßt. In Nachahmung dazu haben die Kabbalisten mit Hilfe der bereits genannten Gematrie kunstreiche Geheimschriften aufgestellt, die sich einerseits auf die Zahl von Punkten und andererseits die Länge der Linien stützen, die danach auf verschiedene Art und Weise verborgen werden. Aber um nicht in eine zu weitläufige Untersuchung dieser Linien einzutreten, werden wir uns hier mit acht Unterschieden begnügen, deren jeder wechselseitig als zwei Buchstaben dient. Sie unterscheiden sich durch gewisse kleine Zeichen und geheime Vermerke, die sich nur schwer entdecken lassen, aus Furcht, es könne ein Verdacht über die Täuschung aufkommen. Dies versuchen wir, am meisten zu vermeiden, u. a. dadurch, daß die drei oder vier längsten Linien stellenweise gekürzt werden, mit so geringem Abstand, daß er nur zur Hälfte an den geringsten der Zwischenräume herankommt, die zwischen den Linien verbleiben, die ebenso als Buchstaben dienen wie die Linien, ihrem jeweiligen Maß entsprechend. Das gleiche läßt sich durch Abstände zwischen den Punkten erreichen, die sich in Sternen, Dreiecken, Vierecken, Rauten, Kreisen, ähnlichen Buchstaben und überhaupt auf alle der Phantasie entspringende Weise darstellen lassen, ohne Unterschied der Figur, der Farbe oder der Position, die hier keine Rolle spielen, nur die Zahlen und die Maße. Hiervon werden wir Beispiele

–––––––––––– 30 Empedokles (5. Jh. v. Chr.), griechischer Philosoph, der das Sein auf eine Mischung der vier Elemente Erde, Wasser, Feuer und Luft zurückführt.

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geben, mit deren Hilfe sich noch andere bilden lassen. Überdies besitzt diese Erfindung größere Annehmlichkeit als das zuvor erwähnte Gitterwerk, sowohl, weil es mehr Inhalt aufnehmen kann, als auch, weil ihm noch eine andere kunstvolle Art des Chiffrierens entstammt, die noch geheimer als die anderen ist und die man am wenigsten vermutet. Hier nun eine Abbildung der Linien, die als Buchstaben dienen, je nach ihrer Länge oder Kürze, die auch für die Zwischenräume bestimmend sind.

Der Gebrauch dieser Tafel und der damit zusammenhängenden Kunstgriffe besteht demnach darin, wie man erkennen kann, mit einem kleinen genauen Zirkel zunächst einen Punkt am Beginn der Linie, wo man derart chiffrieren möchte, zu

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markieren. Es wäre nicht schlecht, diesen Punkt ganz leicht mit Kohle zu setzen, um eine größere Geradheit zu erzielen, denn diese ist hier von besonderer Wichtigkeit; später läßt sich der Punkt mit weicher Brotkrume wieder entfernen. Von diesem Punkt aus beginne man nun mit einem der Schenkel des Zirkels Maß zu nehmen und den anderen so weit auszustrecken, wie die Linie reicht, die als der Buchstabe dient, den man darstellen möchte: Dann messe man ebenso den Raum ab, der zwischen der ersten und der zweiten Linie entsprechend dem Buchstaben, auf den er hindeuten soll, frei bleiben muß, denn diese Zwischenräume dienen, wie bereits ausgeführt, ebenso als Buchstaben wie die Linien, mit denselben Abmessungen. So läßt sich ein Gegenstand in einem Zug darstellen, indem man die erste Linie als ersten Buchstaben nimmt, den ersten Zwischenraum als zweiten Buchstaben, die zweite Linie als dritten, den zweiten Zwischenraum als vierten und so weiter. Oder man verfolgt den Gegenstand nur in den Linien und behält die Zwischenräume einem weiteren Sinn vor wie bei den eckigen Buchstaben mit doppelter Bedeutung. Wenn am Ende einer Linie eine Lücke bleibt, die den Buchstaben nicht darstellen kann, der dort ausgedrückt werden soll – sei es nun durch Linien oder durch Zwischenräume –, kann man einen Punkt oder ein Komma setzen, um den Korrespondenzpartner davon in Kenntnis zu setzen. Da nun aber die Buchstaben hier zu zweien miteinander verbunden sind und man sich leicht täuschen und den einen für den anderen halten könnte, läßt sich dem durch

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einen Schnitt der Linie auf folgende Weise Abhilfe verschaffen: Wenn der erste Buchstabe gemeint ist, läßt man die Linie ganz; wenn der zweite gemeint ist, schneidet man sie in der Mitte durch und läßt einen ganz kleinen Raum frei, so wie hier: . Was die Zwischenräume anbetrifft, läßt man sie ganz leer, wenn man den ersten Buchstaben meint, und wenn der zweite gemeint ist, setzt man einen kleinen Strich, der den Lücken der Linien entspricht, auf folgende Weise: . – . Es läßt sich besser erkennen an folgendem Bild, in welchem dieser Gedanke ausgedrückt ist: Ne faites à autruy ce que vous ne voudriez qu’on vous fist [Behandle niemanden so, wie Du nicht behandelt werden möchtest].

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Anstelle der Linien kann man auch Punkte, Sterne oder ähnliche Zeichen verwenden, wie oben schon gesagt wurde: Wenn sie den ersten der beiden Buchstaben darstellen, genügt es, ein einzelnes Zeichen zu setzen; wenn der zweite gemeint ist, muß man zwei direkt nebeneinander setzen. Diese Art des Schreibens hat als besonders geheim zu gelten, denn auf jeden Fall, auch wenn man in den Verdacht der Geheimschrift gerät, wird man annehmen, daß es die Punkte oder Sterne sind, die als Buchstaben dienen wie in den anderen zuvor, wo es der Umfang der Linien und der Zwischenräume ist, der diese Wirkung erzielt. Die Punkte werden nur zu dem Zweck gesetzt, sie vom Ganzen zu unterscheiden. Alle diese Erfindungen erscheinen lächerlich, wenn sie bekannt geworden sind, aber diejenigen, die den Trick nicht kennen, halten sie für ein nicht geringes Wunder und für beinahe unbegreifbar. Von solcher Art ist der größte Teil der seltensten und auserlesensten Geheimnisse: Dies ist einer der Hauptgründe, der verhindert, daß sie enthüllt werden. Zu welchem Zweck also, könnte man nun fragen, stelle ich sie derart zur Schau? Und zu was (so könnte ich darauf antworten), sollen sie gut sein, wenn sie verschlossen sind wie ein verzauberter Schatz, der niemandem Nutzen bringt? Gleichwohl ist dies eine ambivalente Frage, die unentschieden hin und her schwankt und sich sowohl zur einen als auch zur anderen Seite neigen kann; deshalb kann jeder nach Belieben verfahren, ganz nach seinem Gutdünken, aber davon später mehr. Indessen hier nun einige Beispiele

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mit Punkten, Sternen und anderen Arten der Verhüllung, die alle von diesen Längen und diesen Abmessungen abhängen. Zunächst einmal ein Beispiel mit Punkten und folgendem Satz: De la mesme mesure que vous mesurerez les autres, serez vous aussi mesurez / Wie Ihr die anderen meßt, so werdet Ihr gemessen werden. Dabei muß man wissen, daß man bei den Abmessungen vom zweiten Punkt ausgehen muß, wenn zwei vorhanden sind, um den zweiten Buchstaben anzuzeigen. Gleichwohl kann sich dies nach dem Willen und Belieben jedes einzelnen ändern, ebenso wie auch die Stellung der Buchstaben, die wir mit Absicht so angeordnet haben, daß die Buchstaben, die am häufigsten in der Schrift zu finden sind, durch die kürzesten Linien und Räume ausgedrückt werden, und die anderen, die seltener vorkommen, durch die längsten, damit man mehr über den Gegenstand erfährt, wenn der zur Verfügung stehende Platz geringer ist. Man könnte auch noch die Zwischenräume mit Buchstaben, Noten und Zahlen füllen, um damit einen zweiten Sinn für sich zu bilden oder den ersten in einem Zug weiterverfolgen, indem man diese Buchstaben hintereinander mit den Linien und den Zwischenräumen verbindet, um noch mehr Verwirrung zu stiften. Hier nun die Figur, die den oben angegebenen Satz enthält.

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Was die Punkte betrifft – aber dies geschieht auf anderem Wege –, so gibt es Leute, die sie in einer Geheimschrift aus umgestellten Buchstaben verstreuen, in der Art der lückenhaften, fragmentarischen Texte des Festus31 und anderer verstümmelter Autoren, wie man es im folgenden sehen kann. Hinsichtlich der Buchstaben handelt es sich der Einfachheit halber um das zweite Alphabet auf der Seite 222 und hinsichtlich der Punkte um folgendes:

–––––––––––– 31 Sextus Pompeius Festus (2. Jh. n. Chr.): römischer Grammatiker. Seine Schrift De verborum significatu, Auszug eines lexikographischen Werkes gleichen Titels von Verrius Flaccus, ist nur fragmentarisch überliefert.

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Nehmen wir zum Beispiel diesen Satz von Pythagoras: Ne faites rien qui vous puisse offenser [Tut nichts, was euch beleidigen könnte]. Aber Obacht: Den Punkten, die die zweiten Buchstaben darstellen, muß ein z vorangehen, das ans Ende der anderen Buchstaben angehängt wird, nicht zählt und zu nichts anderem dient, als zu unterscheiden, welcher der beiden Buchstaben gemeint ist: Wenn der erste gemeint ist, braucht man sie nicht: b q r . . u b q g z . . . . u q b e r . . . i c e z . . . . . d i u g g z . . e r q b g z . . f. Aber um zu unserem Gegenstand zurückzukehren, hier noch einmal der gleiche Satz von oben: Wie Ihr die anderen meßt etc. durch Sterne verhüllt. Da sie mehr Platz einnehmen als die Punkte, muß man eine Möglichkeit finden, mit einem einzigen auszukommen, ohne sie zu verdoppeln, etwa, indem man bei den Sternen für die zweiten Buchstaben den Strich in der Mitte etwas verlängert und bei den Sternen für die ersten Buchstaben alle vier Striche, die acht Strahlen ergeben, gleich lang läßt, wie man hier sehen kann. Aber das kann auf unterschiedliche Weise variiert werden; man kann die Sterne der zweiten Buchstaben etwas größer machen als die der ersten oder nur sechs Strahlen anstelle von acht nehmen oder auch umgekehrt oder ähnliche geheime Zeichen verwenden, die kaum auffallen.

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Die Schrift, die nun folgt, ist mit ihren Verbindungen und Rundungen der syrischen nachempfunden und beruht ebenfalls auf der Abmessung der Längen; gleichwohl gibt es nur vier Arten, die mittels der zusammengerollten Kreise am Ende jeder Linie jeweils auf vierfache Weise variieren können, nämlich zwei Arten von Kreisen oberhalb und zwei unterhalb der Linien, jeweils mit Punkt in der Mitte und ohne, wie man es in diesem Alphabet sehen kann.

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Im übrigen lautet das Thema der folgenden Tafel: Peu sont encor cogneuz les secrets de nature [Wenig erst sind die Geheimnisse der Natur bekannt].

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Auf dem gleichen Kunstgriff beruht diese Chiffrierung in Gestalt eines Mauerwerks aus bossierten32 Quadern in vier verschiedenen Längen, deren jede auf vierfache Weise variiert, zwei ohne Punkte und zwei mit einem Punkt in der Mitte, mit einer Linie auf der rechten Seite oder mit zweien, wie man es bei diesem Alphabet sehen kann, bei dem die Vierecke am Ende der Linien, wo zwei Punkte sind, nur dazu dienen, diese auszufüllen.

Die folgende derart chiffrierte Figur enthält diese Wörter: Le plus fort bouleuard de tous autres est le nom du Seigneur douement inuoqué dessus nous, car il n’en faut pas abuser [Das stärkste Bollwerk von allen ist der von uns in geziemender Weise genannte Name des Herrn, denn er darf nicht mißbraucht werden]. In

–––––––––––– 32 bossieren: einen Stein grob bearbeiten.

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Nachahmung dazu lassen sich unzählige weitere Arten finden, von denen wir hier noch ein Beispiel geben, das anders verfährt.

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Man kann außerdem anstelle dieser Abmessungen, sowohl der Linien als auch der Zwischenräume, dem anderen Zweig der Gematrie folgen und Schwünge in unterschiedlicher Zahl gebrauchen – wovon weiter oben in bezug auf Punkte schon die Rede war –, die eine große Ähnlichkeit mit einer armenischen Schrift aufweisen, welche reich an solchen Grundstrichen ist. Das Alphabet könnte ungefähr so aussehen: Um zwei verbundene Buchstaben unterscheiden zu können, sind die einen oben geschlossen wie m und n und die anderen unten wie ein u.

Was die Trennung der Buchstaben anbetrifft, so wird sie durch einen größeren Abstand zwischen beiden bewirkt, wie bei diesem Gegenstand zum Beispiel, der in diesen aufeinanderfolgenden Buchstaben enthalten ist: Man muß geheimhalten, was selten ist.

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Resümee Nachdem schon in der Antike Methoden der Geheimschrift entwickelt wurden, die im Mittelalter eine starke Ausdifferenzierung erfuhren, kommt es in der Frühen Neuzeit, wie gerade auch das Beispiel von de Vigenère zeigt, zu einer regelrechten Hausse auf dem Feld des kryptographischen und kryptologischen Schrifttums. Ähnlich wie gegenwärtig in Zeiten des Internet verlangte die neue Technik des Buchdrucks mit ihren ungeahnten Möglichkeiten einer weltweiten Verbreitung von Informationen nach Beschränkungen und Kanalisierungen im Datenaustausch. Hinzu kommt in concreto der zunehmende diplomatische Schriftverkehr in den politischen Beziehungen der europäischen Nationalstaaten, der als Katalysator auf die Entwicklung von Geheimschriften einwirkt. Sieht man einmal von dem 1466/67 erschienenen Traktat De componendis cifris von Leon Battista Alberti ab, in dem bereits eine bewegliche Chiffrierscheibe implementiert ist, so nimmt eine wichtige Pionierstellung in der Herausbildung von Kodierungsformen Johannes Trithemius, Abt des Klosters Sponheim und literarisch produktiver Humanist, ein, dessen Polygraphia 1518 und dessen Steganographia 1606 erschienen ist. Eine Methode, die Trithemius33 vorführt, basiert darauf, daß in einem sonst nicht suspekten Text nur selektive Buchstaben die geheime Zweitaussage konstituieren. Dieses Verfahren ist nicht absolut neu, sondern in der Technik des Notarikons vorgebildet, wie sie in der Trithemius bestens bekannten Kabbala praktiziert wird. Weiterhin besteht eine enge Affinität zur Gattung des Gittergedichts, in dem bestimmte Buchstaben des Basistextes einen neuen Metatext, den sog. Intext, generieren. Trithemius war schließlich ein großer Verehrer des Hrabanus Maurus, dem er eine Vita gewidmet hat, in der er auch auf den Liber de laudibus sanctae crucis Bezug nimmt.34 Es ist bemerkenswert, unter welchen besonderen Perspektiven Hrabanus Maurus als Schöpfer von Figurengedichten in der Renaissance rezipiert wird. Man vernachlässigt den theologischen Gehalt seines Werkes und begreift ihn als Formartisten und in gewisser Weise auch als Autorität in Fragen der Kryptographie, zumal er sich in der Nachfolge des Bonifatius auch mit diesem Gegenstand befaßt hat. Einen besonderen Typus von Kodierung stellt bei Trithemius die Verwendung eines Nomenklators dar, der die Buchstaben des Alphabets bestimmten semantisch aufeinander abgestimmten Wörtern zuordnet, die eine unverfängliche Aussage ergeben. In dem verschlüsselten Text steht das einzelne Wort jedoch jeweils für einen Buchstaben, der wieder Teil einer Buchstabensequenz ist, die in toto den Geheimsinn ausformuliert. Der Einfluß des Trithemius auf spätere geheimschriftliche Traktate ist kaum zu überschätzen. Nach Giovanni Battista della Porta, dessen Werk De fvrtis literarvm notis, vvlgo’ de ziferis libri III im Jahr 1563 in Neapel erschien, ist es gerade Blaise de Vigenère, dessen Traicté des chiffres, ov secretes manieres d’escrire (Paris 1586) sich, nicht zuletzt durch markierte Intertextualität, in die Nachfolge –––––––––––– 33 Zu Trithemius als Kryptologem vgl. STRASSER (1988), S. 29-63. 34 MPL 107, Sp. 85.

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des Trithemius einordnet.35 Zeitlich bietet der Traktat eine Brücke zu Tabourots 1588 publizierten Bigarrures, in denen eine Geheimschrift und Dichtung verknüpfende Kryptopoetik den Gegenstand des XXI. Buches bildet. Vigenères Ausführungen bewegen sich, wohl stärker noch als dies bei Trithemius der Fall ist, im Bannkreis der kabbalistischen Mystik, deren Umgang mit der Thora nach sechs Methoden kategorisiert wird: drei sind kombinatorischer (Ethbas, Themurah und Ziruph), eine numerischer (Ghilgul), eine intextueller (Notarikon) und eine gematrischer (Gematria) Art. Als Ursache für die plurale Hermeneutik gibt Vigenère an, daß Gott Moses die Thora in einer labyrinthischen Schriftform übergeben hat, so daß man sie in alle Richtungen lesen konnte, von rechts und links beginnend, progredient und regredient, deszendierend und aszendierend mit jeweils differierender Text- und Sinnbildung. Eben in dieser Polyphonie der Thora sieht Vigenère die ‚wahre Steganographie’ verwirklicht und damit das Vorbild, das Trithemius durch Chiffrierung und Dechiffrierung imitieren wollte: Durch Chiffrierung wird der Text mit einer zweiten, in der Tiefenschicht implantierten Sinnaussage ausgestattet, während sich mittels Dechiffrierung dem Schriftkorpus dieser zweite, zur Geheimhaltung bestimmte Aussagenkomplex entlocken läßt. Trotzdem eröffnete Gott Moses die wahre Lesart, welche er aber, wie schon bei den Pythagoräern als esoterische Praxis üblich, nur mündlich an die 70 Sanhedrin weitergab. Als ein besonderes numerologisches Verfahren der Kabbala erwähnt der Franzose die Isopsephie, die darin besteht, daß man zwei heilige Namen oder zentrale Begriffe, deren Zahlenwert nach den Regeln der Gematrie als identisch erkannt wurde, auch semantisch aufeinander bezieht und daraus interpretatorische Schlußfolgerungen ableitet, die eine makrostrukturelle Vernetzung des gesamten im Fokus stehenden Textes voraussetzen. Da die Griechen die Hebräer bei ihrer gematrischen Praxis nachgeahmt haben, entwickelten sie nach Vigenère auch die Arithmantie, die Wahrsagekunst aus Buchstaben, die synkretistisch mit der griechischen Zahlenontologie des Pythagoras ebenso in Verbindung gebracht wird wie mit der jüdischen Ordo-Metaphysik in dem alttestamentlichen Buch der Weisheit (11,22). Einen speziellen Fall stellt die Onomatomantik dar, läßt sich doch aufgrund des Zahlenwerts von Personennamen das zukünftige Schicksal der Betreffenden voraussagen, wie auch an antagonistischen poetischen Figuren wie Hektor und Patroklos demonstriert wird. Wenngleich Vigenère dieser numerologischen Onomatomantik keineswegs unkritisch gegenübersteht, unterstreicht er deren Bedeutung durch Hinweise auf die Symbolzahlen 666 in der Apokalypse (Kap. 13) und 888 in den Sibyllinen. Die gematrische Zahlendeutung unterwirft sich zugleich Metathesen und Anagrammen, d. h. greift in die Wortkörper ein, deren Buchstabenzahl entweder in Gänze gilt oder aufgespalten oder reduziert wird. So verweist das erste Wort der Genesis Bresit wegen seiner 6 Buchstaben symbolisch auf die 6 Schöpfungstage; reduziert auf die ersten 3 Lettern, bedeutet Bra kontextadäquat ‚er erschuf’; eliminiert man schließlich den ersten Buchstaben Beth, so ergibt das Restwort resit soviel wie ‚Anfang’. –––––––––––– 35 Zu dem Verschlüsselungssystem Vigenères vgl. SCHUMAKER (1982), S. 110-126.

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Was nun die Ordnung, Abfolge und Position der in den antiken Kulturen numerisch konnotierten Buchstaben anbelangt, so setzt Vigenère diese Faktoren mit der Konstellation der Sterne am Himmel in Verbindung und knüpft an die alten Vorstellungen von der Himmelsschrift und vom Buch der Natur an. Bei der Himmelsschrift ist nach Vigenère nur die in der Höhlung des Himmels befindliche Schrift der Engel für die Menschen lesbar, nicht aber die göttliche Schrift auf der nach außen gekehrten Seite. Da die himmlische Schrift von der Konstellation der Sterne abhängt, welche ihrerseits wieder die Buchstaben repräsentieren, sind unzählige Kombinationen möglich. Hier hilft nur ein bestimmtes Verfahren der Dekodierung, wenn man nämlich mit einem Gitter arbeitet bzw. eine Schablone auf das Ensemble der Bildzeichen projiziert. Da niemand bei solchen Himmelsbildern überhaupt nur an Texte denkt, erfolgt die Verschlüsselung effektvoll mit Hilfe von Himmelsausschnitten, in die Sterne als Stellvertreterzeichen für Buchstaben eingezeichnet sind, die durch ein Gitter in bestimmter Weise einander zugeordnet werden. Dasselbe gilt auch für arboristische Schemata, z. B. einen Lorbeerbaum, dessen Beeren via Umkodierung die Rolle von Buchstaben übernehmen. Andere Formen der ikonischen Kryptographie bedienen sich vielgestaltig graphischer Linien oder Punkte, wobei auch die Zwischenräume als Signifikanten fungieren, oder rekurrieren zur Verschlüsselung z. B. auf ein Mauerwerk aus Quadern, das bei der Code-Bildung und -Auflösung als Raster fungiert. Wie festzuhalten ist, bindet Vigenère die Kryptologie stark an die kabbalistische Mystik, legitimiert kryptographische Strategien nicht etwa mit pragmatischen Argumenten politischer bzw. diplomatischer Notwendigkeit, sondern leitet sie aus kabbalistischen Theologumena wie z. B. der von Gott selbst verschlüsselten Himmelsschrift ab und verleiht ihnen damit höhere Weihen. In einer Epoche, in der viele literarische Formen zur Ikonisierung tendieren – nota bene das Figurengedicht, die Hieroglyphik, der Rebus oder das Emblem – verwundert es gleichwohl, wie stark selbst die Geheimschrift bei Vigenère hin zum Bild drängt, so daß man von einer ikonistischen Kryptographie sprechen kann. Berühmt aber wurde Vigenère vor allem durch das lange Zeit als nicht-dechiffrierbar geltende sog. Vigenère-Quadrat, das auf einer polyalphabetischen Substitution basiert, die von einem Schlüsselwort gesteuert wird. Vigenères Traktat gehörte nicht unbedingt in eine Geschichte der visuellen Literaturästhetik, wenn der Einfluß der Kryptographie auf die dichterische Praxis und die Poetiken der frühen Neuzeit nicht so immens groß wäre.36

–––––––––––– 36 Vgl. ERNST (2001) und (2005).

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Literaturhinweise Ausgaben BLAISE DE VIGENÈRE:

Traité des chiffres ou secrètes manières d’écrire. Paris 1586.

Referenztexte HORAZ: Satiren/Sermones – Briefe/Epistulae. Übers. von GERD HERRMANN, hrsg. von GERHARD FINK. Düsseldorf 2000. DER KORAN. Erschlossen und kommentiert von ADEL THEODOR KHOURY. Düsseldorf 2005. MOSE BEN MAIMON: Führer der Unschlüssigen. Hrsg. von JOHANN MAIER, übers. von ADOLF WEIß. Hamburg 1987. GIOVANNI PICO DELLA MIRANDOLA: Conclusiones sive Theses DCCCC, Romae anno 1486 publice disputandae, sed non admissae. Hrsg. von BOHDAN KIESZKOWSKI. Genf 1973. HEINRICH CORNELIUS AGRIPPA VON NETTESHEIM: De occulta philosophia. Libri tres. Hrsg. von VITTORIA PERRONE COMPAGNI. Leiden 1992 (Studies in the history of Christian thought 48). PLATON: Politeia. 2006. Übers. von FRIEDRICH SCHLEIERMACHER, hrsg. von KARLHEINZ HÜLSER. Frankfurt am Main 31999. PLUTARCH: Vermischte Schriften. Tischgespräche. Bd. 1. München 1911. JOHANNES TRITHEMIUS: Vita Rhabani Mauri. In: Hrabanus Maurus: Opera Omnia. Hrsg. von JAQUES-PAUL MIGNE, Turnhout 1851 (Patrologia Latina 107) Sp. 67-106.

Forschungsliteratur BLAISE DE VIGENÈRE, poète et mythographe au temps de Henri III. Cahiers V. L. Saulnier 11. Paris 1994. CLAUDE BURIDANT: Les paramètres de la traduction chez Blaise de Vigenère. In: Blaise de Vigenère, poète et mythographe au temps de Henri III. Cahiers V. L. Saulnier 11. Paris 1994, S. 39-65. PAUL CHAVY: Blaise de Vigenère traducteur baroque. In: Blaise de Vigenère, poète et mythographe au temps de Henri III. Cahiers V. L. Saulnier 11. Paris 1994, S. 67-76. IOAN P. CULIANU: Eros und Magie in der Renaissance. Frankfurt a. M. 2001. ULRICH ERNST: Der Dichter als ‚Zifferant’. Zu Schnittstellen zwischen Lyrik und Kryptographie. In: Allgemeie Literaturwissenschaft – Grundfragen einer besonderen Disziplin. Hrsg. von RÜDIGER ZYMNER. Berlin 22001, S. 56-71. DERS.: Der Roman als Kryptotext. Geheimschrift in der europäischen Erzählliteratur der Neuzeit. In: Der europäische Roman zwischen Aufklärung und Postmoderne. Fest-

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schrift für Jürgen C. Jacobs. Hrsg. von FRIEDHELM MARX und ANDREAS MEIER. Weimar 2001, S. 1-33. DERS.: Kryptographie und Steganographie. Zwei Grundformen der Verschlüsselung in literarästhetischen Kontexten. In: Codes, Geheimtext und Verschlüsselung. Geschichte und Gegenwart einer Kulturpraxis. Hrsg. von GERTRUD MARIA RÖSCH. Tübingen 2005, S. 155-178. DERS.: Leuchtschriften. Vom Himmelsbuch zur Lichtinstallation. In: Licht, Glanz, Blendung. Beiträge zu einer Kulturgeschichte des Leuchtenden. Hrsg. von CHRISTINA LECHTERMANN und HAIKO WANDHOFF. Bern 2008 (Publikationen zur Zeitschrift Germanistik, N.F. 18), S. 71-90. MARC FUMAROLI: Blaise de Vigenère et les débuts de la prose d’art française. Sa doctrine d’après ses préfaces. In: L’automne de la Renaissance. 1580-1630. Hrsg. von JEAN LAFOND. Paris 1981, S. 31-51. MARC FUMAROLI: Vers le triomphe de la prose. Les manifestes de Vigenère. In: Marc Fumaroli: La diplomatie de l’esprit. De Montaigne à La Fontaine. Paris 2001, S. 2358. OLOF GIGON und LAILA ZIMMERMANN: Platon. Lexikon der Namen und Begriffe. Zürich 1975. ROSANNA GORRIS: Blaise de Vigenère et Guy Le Fèvre de La Boderie traducteurs de l’italien. In: Blaise de Vigenère, poète et mythographe au temps de Henri III. Cahiers V. L. Saulnier 11. Paris 1994, S. 77-100. WOLFGANG HAUBRICHS: Ordo als Form. Strukturstudien zur Zahlenkomposition bei Otfrid von Weißenburg und in karolingischer Literatur. Tübingen 1969. J. F. MAILLARD: Aspects de l’encyclopédisme au XVIe siècle dans le Traicté des chiffres annoté par Blaise de Vigenère. In: Bibliothèque d’Humanisme et Renaissance 44 (1982), S. 235-268. SYLVAIN MATTON: Alchimie, kabbale et mythologie chez Blaise de Vigenère. L’exemple de sa théorie des éléments. In: Blaise de Vigenère, poète et mythographe au temps de Henri III. Cahiers V. L. Saulnier 11. Paris 1994, S. 111-137. FRIEDRICH OHLY: Deus geometra. Skizzen zu einer Vorstellung von Gott. In: Tradition als historische Kraft. Interdisziplinäre Forschungen zur Geschichte des frühen Mittelalters. Hrsg. von NORBERT KAMP und JOACHIM WOLLASCH. Berlin 1982, S. 1-42. MAURICE SARAZIN: Blaise de Vigenère Bourbonnais. Introduction à la vie et à l’œuvre d’un écrivain de la Renaissance. Charroux-en-Bourbonnais 1997. GERSHOM SCHOLEM: Jewish Gnosticism. New York 1965. WAYNE SCHUMAKER: Renaissance Curiosa. New York 1982. FRANÇOIS SECRET: Les kabbalistes chrétiens de la Renaissance. Paris 1964. GERHARD F. STRASSER: Lingua Universalis. Kryptologie und Theorie der Universalsprachen im 16. und 17. Jahrhundert. Wiesbaden 1988.

XV. ÉTIENNE TABOUROT UND DIE ENZYKLOPÄDISIERUNG DES MANIERISMUS Etienne Tabourot des Accords1 wurde wahrscheinlich 1549 in Dijon geboren.2 Nach juristischen und humanistischen Studien in Paris und Toulouse kehrte er in seine Heimatstadt zurück, wo er verschiedene öffentliche Ämter bekleidete und 1590 starb. Neben seiner juristischen Tätigkeit widmete er sich zeit seines Lebens der Literatur: Bereits mit fünfzehn Jahren verfaßte er in Nachahmung der antiken Autoren Simias und Porfyrius visuelle Gedichte, die allerdings nicht erhalten geblieben sind.3 Im Jahr 1572 veröffentlichte Tabourot ein Reimlexikon seines Onkels Jean Lefèvre, 1583 folgte der erste Teil seiner Bigarrures.4 Wie der Titel Bigarrures bereits andeutet, handelt es sich bei dem Werk um eine „bunte Mischung“ aus Wortspielen, Anagrammen, Rebussen, Akrosticha usw.5 In ihrer semantischen Heterogenität und Disparatheit ähnelt Tabourots Schrift den Essais seines Zeitgenossen Michel de Montaigne.

–––––––––––––– 1

2 3 4 5

Eine Erklärung seines Namens liefert Tabourot im Vorwort zum Vierten Buch der Bigarrures; TABOUROT (1986). Zu seinem imaginären Beinamen Seigneur des Accords [Herr der Akkorde] vgl. auch PEROUSE (2001), S. 303. Als Geburtsjahr findet man auch die Angabe 1547, allerdings erscheint 1549 plausibler; vgl. hierzu CHOPTRAYANOVITCH (1970), S. 19-22. TABOUROT (1986), I, S. 200. Vgl. CHOPTRAYANOVITCH (1970), S. 24. Der zweite Teil (als „Viertes Buch“ bezeichnet) folgte 1585. Zur Datierung der Erstausgabe vgl. Goyet in der Einleitung zu TABOUROT (1986), S. XLVII-L. Goyet in TABOUROT (1986), S. VII spricht in Bezug auf die Bigarrures von einer „regelrechten rhetorischen Enzyklopädie“ und der ersten systematischen Klassifikation von Wortspielen.

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Französischer Text aus: ESTIENNE TABOUROT. Les Bigarrures du Seigneur des Accords. Premier livre. Faksimile-Neudruck der Ausgabe Paris 1588. Hrsg. von FRANCIS GOYET. I-II. Genf 1986. Kap. III, fol. 20-28.

XV. Étienne Tabourot

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Eine andere Art des Rebus aus Buchstaben, Ziffern, Musiknoten und unausgesprochenen Wörtern Im vorhergehenden Kapitel hast du die Form und Praxis der Rebusse der Pikardie sehen können, die aus Bildern gemacht sind:6 Hier folgt nun eine Reihe weiterer, die einfach nach der Aussprache der Buchstaben gebildet werden, und zwar unter uns Franzosen, die wir ein männliches oder weibliches é aussprechen, wenn wir die Konsonanten des Alphabets in folgender Weise benennen: bé, cé, dé, ef, gé, ache, ka, elle, ame, ane, pé, qu, erre, esse, té, was die Italiener als bi, chi, di etc. aussprechen. Ich weiß indessen nicht, ob sie davon Gebrauch machen, auch nicht die Spanier oder Deutschen, da ich in ihrer Sprache keine gesehen habe, außer diesem, das dem griechischen Alphabet entnommen ist und mir voller Bewunderung von einem prächtigen Herrn gezeigt wurde, der großen Wert darauf legte:

–––––––––––––– 6

Rebus (lat. rebus = ‚durch die Dinge’): Form des visuellen Rätsels, das mit dem Gleichklang von Wörtern und Silben arbeitet und zumeist aus der Kombination von Zeichen (Buchstaben, Ziffern, Noten) und Abbildungen von Gegenständen besteht. Die Bezeichnung Rebus geht wahrscheinlich auf den Titel einer um 1600 in der Pikardie – daher heißt das entsprechende Kapitel bei Tabourot ‚Des rebus de Picardie’ – erschienenen Sammlung zurück, De rebus quae geruntur (‚Von Sachen, die sich ereignen’). François Rabelais verspottet in seinem Gargantua die zeitgenössische Mode, Devisen und Sinnsprüche – auf oftmals ungeschickte Weise – mit Rebussen zu gestalten; RABELAIS (2003), Kap. 9.

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Nella ϕ. δ. φ. γ. ρ. la β. Nella fideltà finirò la vita. Das heißt auf Französisch: In Treue werde ich mein Leben beenden. Was nun von den Franzosen und Lateinern folgt, habe ich hier und da in verschiedenen Herbergen von weißen Mauern aufgelesen, die der Italiener charta di matto nennt (denn er schreibt dort ebenso gut wie die anderen), das heißt Papier der Verrückten. Nun finde ich diese aber anmutiger und amüsanter als die vorhergehenden, denn diejenigen, die sie verwenden, tun dies nur, um zu lachen und Vergnügen zu haben und die anderen glauben, etwas Mühevolles oder Hochgelehrtes gemacht zu haben. Ich komme daher nun zur Definition: Es handelt sich um die doppeldeutige Aussprache von Buchstaben oder Zahlen unserer Sprache, die durch einige gewöhnliche, leicht zu verstehende Wörter, wie über, unter, in, zwischen etc., ergänzt werden.

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Die beiden folgenden hat der gelehrte Offizial Langrois7 erfunden, sie lauten: K.P.C.Q.R Cape securum, [= Nimm das Sichere] N. s. s. i. t. m. i. est Q. u. En necessité ami est connu. [= In der Not erkennt man den Freund.] Dieses ist von dem Lyoneser Maurice Scève,8 1. Q. 9. 7. 1. p. a. 10. [= Un con neuf, c’est un paradis = Eine neue Fotze ist das Paradies.] Dieses hier ist in der gleichen Stadt gemacht worden, es ist zumindest in ordinärer Sprache doppeldeutig, G. C. T. K. C. B. O. Q.9 Gé se té qu’as ce be au cu. [Ich habe Durst; du, der du Durst hast, trink am Hintern.] Dieses hier ist von einem Verliebten, der durch die Garrotte10 starb: G. a. c. o. b. i. a. l. J’ai assez obéi à elle. [= Ich habe ihr genug gehorcht.] Hier ist ein wahrhaft pikardisches, sowohl von der Erfindung als auch von der Aussprache her: ooooo, eeee, sont aaaaa a pons. Cinq o quatre e sont cinq a pons Das heißt, Cinq coqs chastrez sont cinq chapons. [= Fünf kastrierte Hähne sind fünf Kapaunen] Eine Lehrerin, die ein junges Mädchen in ihrer Schule hatte, gab der Mutter mit versteckten Worten zu verstehen, wie sich jenes verhielt:

–––––––––––––– 7 8

Bei dem Offizial Langrois handelt es sich um Etienne Tabourots Onkel Jean (1520-1595). Maurice Scève (ca. 1500/1510-ca.1560/1564): französischer Dichter, wichtiger Vertreter der sog. Lyoner Dichterschule. Daß Tabourot diesen vulgären Rebus Scève zuordnet, ist wohl ironisch zu verstehen; vgl. TABOUROT (1986), Bd. II, S. 19. 9 Das gotische Q steht für das umgedrehte C, das Schimpfwort „Con“; vgl. TABOUROT (1986), Bd. II, S. 19. 10 Garrotte (span. garrote/Knebel, Würgschraube): Halseisen, mit dem Hinrichtungen durch Erdrosseln vollzogen wurden.

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Vostre fillette en ses escrits Recherche trop ses aa. L met trop d’ancre en son I, L. s. trop ses V V ouuers, Puis son K tourne de trauers, Et couche trop le Q. infame, C’est cela qui gaste son M. Man deutet es folgendermaßen: Vostre fillette en ses escrits Recherche trop ses appetits, Elle met trop d’ancre en son nid, Et laisse trop ses huis ouuerts, Puis son cas tourne de trauers, Et couche trop le cu infame, C’est cela qui gaste son ame. [= Euer Töchterchen in seinen Schriften Sucht zu sehr nach seinen Lüsten. Sie nimmt zuviel Tinte in ihr Nest Und läßt ihre Türen zu weit offen. Dann wird ihr Kasus schief Und bettet zu viel den schändlichen Hintern, Das ist es, was ihre Seele verdirbt.] Dieses hier ist leicht, auch ohne Erklärung, Q. k. tu. g. le q. k. c. de q. l. t. [= Con, qu’as-tu? – J’ai le cul cassér de culeter = Dummkopf, was hast du? – Ich habe den Hintern entzwei vom Tanzen] Als ich in Toulouse in der Nähe von Bazacle Austern bei Golus11 aß, habe ich dieses hier aus der Gascogne entdeckt: J’on ay vust un homme à cheval, E, C, T, B, C, S, T, B, O, B, C, T, B. Das bedeutet, J’ay veu un homme à cheval. Et se tient il bien? S’il se tient bien, Ouy bien il se tient bien. [= Ich habe einen Mann zu Pferde gesehen. Und hält er sich gut? Wenn er sich gut festhält, ja, dann hält er sich gut.]

–––––––––––––– 11 Golus: Treffpunkt der studentischen Jugend außerhalb von Toulouse; vgl. TABOUROT (1986), Bd. II, S. 20.

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Wer auch immer der Autor der Priapea am Ende von Vergil12 sein mag, er hat einen auf diese Art und Weise verfaßt, welcher beweist, daß die Römer die Buchstaben ihres Alphabets wie wir ausgesprochen haben, pé, té. Quum loquor una mihi peccatur littera, nam T. P. dico semper, blesaque lingua mea est. [= Wenn ich spreche, begeht bei mir ein Buchstabe immer eine Sünde, nämlich das T.] Stets treibe ich Unzucht [paedico], denn lispelnd ist meine Zunge. Denn so ist es zu deuten, nam te paedico semper, welches das übliche Laster dieser Nation ist, wie der Apostel, Epist. ad Rom. c. 1., bezeugt.13 Einige sind nur aus Ziffern gemacht, wie dieser Spruch, der ziemlich schmutzig ist, aber in Ermangelung eines anderen muß man ihn wohl schlucken, obgleich er von Herrn Merdachio14 stammt. Chiez à vos 13. [= Scheißt, wie es Euch beliebt.] Et soyez à 6. [= Und setzt Euch.] Fol est qui ne 16. [= Verrückt ist, wer es sich nicht gut gehen läßt.] A vous je le 10. [= Euch sage ich es.] Vos 13: quasi vostre ayse [= quasi wie es Ihnen beliebt]; à six: assis [= sitzend]; ne seize: s’aise [= sich nicht gut gehen läßt]; dix: dis [= ich sage] Alle anderen bestehen aus nicht ausgesprochenen Wörtern, wie O, cur, tua, te, B, bis, bia, abit.

–––––––––––––– 12 Priapea, benannt nach dem griechisch-römischen Fruchtbarkeitsgott Priapus, sind kurze Gedichte erotischen, teils auch obszönen Inhalts. Das Distichon findet sich abgedruckt in: POETAE LATINI MINORES (1879), S. 60. 13 Mit dem Apostel ist Paulus gemeint; vgl. Rm 1, 26f.: „Darum hat sie Gott dahingegeben in schändliche Leidenschaften; denn ihre Frauen haben den natürlichen Verkehr vertauscht mit dem widernatürlichen; desgleichen haben auch die Männer den natürlichen Verkehr mit der Frau verlassen und sind in Begierde zueinander entbrannt und haben Mann mit Mann Schande getrieben und den Lohn ihrer Verirrung, wie es ja sein mußte, an sich selbst empfangen.“ 14 ‚Merda’ (ital.), ‚Merde’ (franz.): ‚Scheiße’.

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Wenn man super zwischen der ersten und letzten Zeile einfügt, erhält man O super-b, cur superbis, tua superbia te super-abit. [= O Hochmütige, warum bist du hochmütig, dein Hochmut wird dich bezwingen] Monsieur Jean Bernel versuchte, mich mit dem folgenden zu verwirren: missos. Iuppi, iuppi, iuppi.as-locabit-tra. Iuppiter submissos locabit inter astra. [= Jupiter wird die Demütigen unter die Sterne versetzen] Die Geschichte ist volkstümlich, die Jacques Peletier in seinem Buch mit Abenteuergeschichten, veröffentlicht unter dem Namen des Bonaventure des Periers,15 von einem Abbé16 berichtet, den man bat, auf seine Abtei zu verzichten, und der darauf diese Antwort gab: Seit dreißig Jahren lerne ich die beiden ersten Buchstaben des Alphabets, A, B, ich möchte gerne genauso viel Zeit, um die beiden folgenden sagen zu können, welche C, D lauten. Unter A, B verstand er Abbé, unter C, D cede, ein lateinisches Wort, das ‚zurücktreten’ bedeutet. Diese französischen gehen auf die gleiche Erfindung zurück: Vent, vient, pire, vent A qui d’amour le cœur bien.17 Ein anderes, si, pire, uent, vent j’ay, dont.

–––––––––––––– 15 Es handelt sich um das Buch unter dem Pseudonym Bonaventure des Periers: Nouvelles Récréations et Joyeux Devis (1874). Tabourot lernte den Literaten Jacques Peletier (1517-1582), der zur Dichtergruppe La Pléiade gehörte und mit seinem Art poétique français (1555) zur Erneuerung der französischen Dichtung beitrug, 1572 in Paris kennen. 16 Diese Anekdote findet sich auch in Baltasar Graciáns Agudeza y Arte de Ingenio (1642), Discurso XXXII; vgl. TABOUROT (1986), Bd. II, S. 21. Gracián identifiziert den Gesprächspartner des Abbé von Bennia als den französischen König Ludwig XI. 17 À qui souvent d’amour souvient le cœur soupire bien souvent: ‚Wer oft der Liebe sich erinnert, dem seufzt das Herz oft’.

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Item, Pir, vent, venir Un vient d’un.18 Man muß all diesen Wörtern die Konjunktion sous hinzufügen, wie z. B. A qui souvent d’amour souvient etc. Die folgenden muß man mit der ersten Zeile beginnen und ihnen die Wörter sus und sous hinzufügen. Trop vent bien tils sont pris. Trop subtils sont souvent bien surpris. [= Die allzu Spitzfindigen sind oft sehr überrascht] Het

en

tient

Le

pens,

le

Le souhait en suspens le cœur soutient. [= Ein Wunsch in der Schwebe gibt dem Herzen Kraft] Die folgenden sind genauso, außer daß man die Buchstaben beachten muß, die sich in den größeren befinden, wie

G dans c, r dans c, q sur q avec L

–––––––––––––– 18 Un soupir vient souvent d’un souvenir: Ein Seufzer rührt oft von einer Erinnerung.

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G in c, r in c, q auf q mit L [= J’ai dansé, et redansé, cul sur cul, avec elle = Ich habe getanzt und wieder getanzt, Hintern an Hintern mit ihr]

G grand a petit, d sous p, pour sus tenter mes a petits J’ai grand appetit de souper pour sustenter mes appétits. [= Ich habe große Lust, zu Abend zu essen, um meine Lüste zu stärken.] Dieses hier finde ich sehr geistvoll: Son, t, l, te-pour-nir son: L après t, son devant, pour, entre, tenir, son derrière. [= Elle a prêté son devant pour entretenir son derrière = Sie hat ihr Vorderteil hergegeben, um ihr Hinterteil zu erhalten.] T-i-u-p-ny-as. r-gi-e. si-i-tu. i entre tu, ni entre pas, gi entre re, si tu y entre. Der Verehrer einer Pissedélie brauchte lange Zeit, um diesen schönen Rebus zu matagrabolisieren.19

Deux cœur en un: s, entre aimer, iusques à la fin, comme au commencement [= Zwei Herzen in einem: Sich gegenseitig lieben bis zum Ende, wie am Anfang.]

–––––––––––––– 19 matagrobiliser: Rabelaisscher Terminus im Sinne von ‚ausdenken, ausbrüten’.

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Außerdem trug er in seinem Waffenspruch a, b, c, G, le um damit zu sagen: J’ai le cœur abaissé [= Ich habe ein gedemütigtes Herz]; aber sein Cousin malte an die Stelle des Herzens, das er entfernte, den Gott der Gärten.20 Ich schätze es nicht, daß man Bilder, gleich welcher Art, mit Buchstaben, Noten und Zahlen vermischt; denn das ist plump wie nur irgendetwas, und es gibt nichts, dem man dabei nicht begegnen würde. Wie dieser folgende Scherz:

Il faut dix né comme sous pé. [= Il faut dîner comme souper = Man muß dinieren wie soupieren.] Darum habe ich hiervon keine Beispiele ausgewählt. Nur das Herz hat sich zu Gunsten treuer Liebender freien Lauf gelassen und wird, wenn es fortgeht, mit dem Hintern21 empfangen werden können und dem Gott der Gärten.

–––––––––––––– 20 Gott der Gärten: Priapus. 21 Im französischen Text steht hier wieder das gotische Q.

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Und da der Tod ein natürlicher Schrecken und zur Genüge bekannt ist, meine ich, daß man ihn vor allem auf Friedhöfen und Epitaphen finden sollte, wie bei den Franziskanern von Dole:

m in dé, quat in dé: Wenn man es ausspricht, ergibt sich: Amendez vous, qu’attendez vous, la mort [= Bessert euch, denn auf euch wartet der Tod.] Und dieses hier im Kloster von Saint Mammès in Langres sagt über einen Sänger Folgendes:

Das heißt, Mort l’as mis là mort. [= Der Tod hat ihn dort tot hingelegt.] Da wir nun vom Tod auf die Musik gekommen sind, gebe ich hier nun auch dieses Lied wieder, das auf einen jungen eitlen Geck verfaßt ist und in seiner Gegenwart so fröhlich gesungen wurde, daß er es gut gemacht fand, außer, daß die Reime nicht vollkommen sind:

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Holla Monsieur, Ihr seid

Ein entschlossen geckenhafter Freund. Unter den Ehrenhaftesten Ist das nur zu bekannt. Sagt ihm, seine Geliebte

Ihr laßt mich dort, Narr. Euch und Euer Elend Kenne ich in einem Wort. Verhaltet Euch so, daß man von Euch sagen kann:

Ein genesener Narr. [unleserlich] Klüger um die Hälfte.

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Es folgt ein Epitaph auf einen Meistersänger, genannt Noël le Sueur,22 das mit sehr viel Geschick der ehrenwerte Offizial Langrois gemacht hat, denn es umfaßt alle musikalischen Noten.

–––––––––––––– 22 Sueur (franz.): Schweiß.

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Welches du hier siehst, ist aus allen oben genannten Arten zusammengesetzt.

Un gros abbé, rempli d’appétit, dissolu, a acheté deux perdrix pour souper avec une abbesse, elle vint et soupa et culeta, est-là la façon d’entrer au paradis? [Ein dicker Abbé, von großem Appetit und lasterhaft, kaufte zwei Rebhühner, um mit einer Äbtissin zu Abend zu essen; sie kam und aß und koitierte, ist das die rechte Art, ins Paradies zu kommen?] Man machte das Folgende auf einen guten Jungen, der sich an der Syphilis angesteckt hatte: Ba-pour se-tre vne fois il en a l e, Pour s’entre-batre une fois sus elle, il en as sué. [= Um einmal auf ihr zu kämpfen, hat er geschwitzt].23

–––––––––––––– 23 Das Schwitzbad galt in der frühen Neuzeit als probates Behandlungsverfahren der Syphilis: Der an dieser Krankheit leidende Humanist Ulrich VON HUTTEN (1519) beschrieb diese Therapie in seinem diesem Thema gewidmeten Werk.

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Las, frir Te-pour-nir, maints sont a. mis Pour entretenir soulas maints sont submis à souffrir. [= Um Vergnügen zu sichern, sind viele dazu bestimmt, zu leiden]. Darum auch antwortete Jaquemardus de Braquenoto:24 Pri-bonne se pren-fait bon-dre Bonne entreprise fait bon entreprendre. [= Ein gutes Unternehmen bewirkt gutes Unternehmen.] Wenn ich hier alle anfügen wollte, die man mir gegeben hat, würde ich kein Ende finden. Darum schließe ich hier mit diesem alten Rondeau von Molinet,25 einstigem Hofpoeten des Herzogs Philipp von Burgund:

–––––––––––––– 24 Allusion auf den Namen Janotus de Bragmardo aus RABELAIS (2003), S. 18. 25 Jean Molinet (1435-1507): französischer Dichter, Historiograph und Bibliothekar am burgundischen Hof. Das Rondeau stammt indessen von Jean Marot (um 1450-1527); vgl. MAROT (1999), S. 90.

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Auch wenn die Deutung leicht ist, füge ich sie hier pro iunioribus hinzu. Lächelnd wurde ich vor kurzem überrascht Von einer Spitzfindigen, Heuchlerischsten von allen, Die ich voller Hoffnung oft begehrte, Doch wurde ich enttäuscht, als die Liebe zum Angriff überging, Denn ich entdeckte, daß ihr geziertes Lächeln Einer ungewissen Liebe entstammte, Lächelnd. Die schönsten Sonnen über mir hat sie genommen, Während sie mich auf listige Weise unterhielt, Und als ich über sie meinen Einzug halten möchte, Mir sagt, daß ich unter allen unerfahren bin, Lächelnd.

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Es bleibt nur noch dieser Rebus, der aus gewöhnlichen Begriffen besteht, deren sich die Tricktrackspieler26 bedienen, vor allem, wenn sie Renette spielen, dieses schöne Geduldsspiel: Trois coquines malades sont allées de nuit avec lanternes devers les carmes demander leurs quines pour mettre en besace, espérant par ce moyen devenir saines; mais pour ce faire il en faudrait à chacune le double [Drei kranke Schelminnen gingen nachts mit Laternen zu den Karmelitern, um nach ihren Gliedern zu verlangen, die sie in ihre Tasche stecken wollten; sie hofften, durch dieses Mittel gesund zu werden; aber dafür bräuchte jede das Doppelte]. Zwei Fünfen bedeuten quines, zwei Dreien ternes, zwei Vieren carmes, zwei As ambesas bzw. ambesace, zwei Sechsen seines.27

–––––––––––––– 26 Tricktrack: französisches Würfelbrettspiel. 27 Mit den zahlreichen in diesem Kapitel genannten Beispielen – Noten, Zahlen und Bildern, die jeweils Buchstabenwert annehmen können – stellt Tabourot die Arbitrarität der Zeichen heraus; vgl. GLIDDEN (1982), S. 255.

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Resümee Mit dem Titel seines Werkes, Bigarrures, der in der Préface des Autors auf diuerses matieres (S. 25) bezogen wird, spricht Tabourot die bunte Vielfalt der von ihm behandelten manieristischen Sprachspiele an, die er mit zahlreichen Zitaten exemplifiziert. Durch die Titelmetapher knüpft Tabourot an die antike Poikilographie (Buntschriftstellerei) an, für die vor allem der von ihm mehrfach zitierte antike Autor Aulus Gellius steht. Im Mittelalter kennzeichnet Wolfram von Eschenbach in dieser Tradition seinen Disparates lose verbindenden Erzählstil im Parzival als buntgemustert (parriert). Auch Montaignes Essais ordnen sich auf Grund ihrer Themenvielfalt und lockeren Fügung in diesen Überlieferungszusammenhang ein. Um den fast enzyklopädischen Anspruch von Tabourots manieristischer Poetik transparent zu machen und die ausgewählten Textpassagen in den Kontext des gesamten Werkes einzuordnen, sei ein Überblick über den inhaltlichen Aufbau anhand der Kapitelfolge gegeben: I. De l’invention et vtilité des Lettres (Von der Erfindung und dem Nutzen der Buchstaben). II. Des Rebvs de Picardie (Von den Rebussen der Picardie). III. Avtre Facon de Rebvs par Lettres, chiffres, notes de Musique, et noms surentendus (Eine andere Art von Rebussen mittels Buchstaben, Bildzeichen, Musiknoten und unausgesprochenen Namen). IV. Des Eqvivoqves François (Von französischen Homonymen). V. Des Eqvivoqves Latins-François (Von lateinisch-französischen Homonymen). VI. Des Avtres Eqvivoqves par Amphibologies, vulgairement appellez des Entend-trois (Von anderen Homonymen mit Hilfe von Doppeldeutigkeiten, volkstümlich ‚Des Entend-trois’ genannt). VII. Eqvivoqves de la voix et prononciation, Francois et Latins (Homonyme der Stimme und der Aussprache, Französisch und Latein). VIII. Des Antistrophes ou Contrepeteries (Von Gegenstrophen oder Silbenvertauschungen bzw. Schüttelreimen). IX. Des Anagrammatismes ou Anagrammes (Von Anagrammatismen oder Anagrammen). X. Des Vers retrogrades par lettres et par mots (Von rückwärts, buchstabenweise wie wortweise, zu lesenden Versen). XI. Des Allvsions (Von Anspielungen). XII. Des Lettres Nvmerales, et vers nvmeravx (Von Zahlbuchstaben und Chronosticha). XIII. Des Vers Rapportez (Von Versus rapportati). XIV. Des Vers Lettrisez ov Paronoemes (Von metrischen Tautogrammen). XV. Des Acrostiches (Von Akrosticha). XVI. De l’Echo (Von Echo-Versen). XVII. Des Vers Leonins (Von leoninischen, d.i. binnengereimten Versen). XVIII. Des Vers Covppez (Von Spaltversen).

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Des Descriptions Pathetiques (Von pathetischen Beschreibungen). Des Avtres Sortes de Vers folastrement et ingenieusement practiquez (Von anderen Versarten, scherzhaft und erfinderisch gehandhabt). XXI. Des Notes (Von Chiffren). XXII. Des Epithaphes (Von Grabschriften). XIX. XX.

Wie man konstatieren kann, beginnt das Werk mit einer kulturgeschichtlichen Darstellung über den Ursprung der Schrift, durch die so etwas wie eine Poetik der Skripturalität konstituiert wird, und wendet sich danach, auf das IntermedialitätsParadigma fokussiert, den Bilderrätseln zu. Nachdem der St. Galler Mönch Gallus Kemly, der sich bezeichnenderweise auch mit Kryptographie befaßt hat, bereits in der Mitte des 15. Jahrhunderts als Verfasser von Bilderrätseln bezeugt ist, gilt Tabourot als erster bedeutender Theoretiker der in der Frühen Neuzeit boomenden Rebusform, bei der Sprachzeichen durch Bildzeichen substituiert werden. Vom Leser müssen die Bilder in einem ersten Schritt der Dekodierung wieder retextualisiert und in einem zweiten durch Homonymie semantisiert werden. Nach den sog. ‚Rebussen der Pikardie’, bei denen es sich allerdings vielfach um Devisen handelt, befaßt sich Tabourot im III. Kapitel seines Werkes mit Besonderheiten des Rebus. Zunächst thematisiert er Formen, in denen nicht die Lautwerte der Buchstaben (b=b), sondern deren konventionelle Lautung (b=be) zur Verschlüsselung eingesetzt werden. Sodann geht der Autor auf kombinatorische Bilderrätsel ein, die Buchstaben mit Ziffern und Musiknoten vermischen, was aber sein Mißfallen erregt. Eher schätzt er den ausschließlich mit Noten operierenden Musikrebus, eine frühneuzeitliche Form visueller Musik neben dem figurativen Notensatz, der dem Exemplum des Figurengedichts folgt. Am Ende des Kapitels geht Tabourot noch auf einen speziellen Typus von Rebus ein, der, aus gewöhnlichen Begriffen bestehend, nach dem Muster des Tricktrack, eines französischen Würfelbrettspiels, funktioniert. Im IX. Kapitel, das sich dem Anagramm widmet, wird dieses Sprachspiel, nicht zuletzt über Beispiele, mit verschiedenen Diskursen in Verbindung gebracht: der griechischen Literatur, die Lykophron, vorgeblicher Erfinder des Anagramms, repräsentiert, der antiken Traumdeutung, wie sie Artemidor beschreibt, der Heraldik, die sich neben Bildzeichen auch des Namenanagramms bedient, der Malerei, in der Textbeigaben in Anagrammform begegnen, und schließlich, am Kapitelende in einer ‚Ergänzung’, der Kabbala, deren Vorliebe für Anagrammatik auf die Temurah, ein permutatives Verfahren der hebräischen Bibelexegese, zurückgeht. In technischer Hinsicht plädiert Tabourot für das vollkommene Anagramma, bei dem exakt alle Buchstaben des Programma, nicht mehr und nicht weniger, zum Einsatz kommen. Erlaubt ist der Wechsel der Sprache dergestalt, daß z. B. aus einem französischen Namen zwei lateinische Anagramme gebildet werden. Für den Typus des seriellen Anagrammatismus rekurriert Tabourot auf ein eigenes Beispiel, habe er doch auf ein Fräulein namens Gabrielle Monpasté bzw. Montpaté 47 vollständige Anagramme konstruiert, die so gut zueinander paßten,

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daß er daraus einen wohlgeordneten Brief ohne den Anschein von Künstlerei fabrizieren konnte. Was den Inhalt der Anagramme angeht, so konstatiert er, daß der menschliche Geist beim Anagrammatisieren eher zum Schlechten als zum Guten tendiert, was man daraus ersehen könne, daß die Aussage vieler Anagramme obszön, z. B. auch skatologisch ist: Das Anagramm gewinnt in dieser Perspektive einen subversiven Charakter. Interessant ist, daß das Anagrammatisieren bei Tabourot wie viele andere Manierismen nicht nur eine literarische Spezies, sondern auch eine gesellschaftliche Praxis ist. So berichtet der Autor beispielsweise, er habe viele Anagramme zugeschickt bekommen, die er aber wegen mangelhafter Qualität nicht abdrucke. In der Auswahl der Exempla beschränkt, habe er am Ende des Kapitels Platz gelassen, damit jeder die Anagramme, die ihm gefallen, eintragen könne. Im Prinzip der Umstellung der Buchstaben sieht Tabourot auch einen morphologischen Zusammenhang mit den retrograden Versen, die er im X. Kapitel traktiert. Dort differenziert Tabourot zwischen buchstaben- und wortweise retrograd zu lesenden Krebsversen, zwischen Versen, die bei rekurrenter Lesung ihr Metrum beibehalten, und solchen, die eine neue Versform annehmen, sowie zwischen Versen, die bei der Retro-Lesung den gleichen Sinn bewahren, und solchen, die einen neuen, sogar gegenteiligen Bedeutungsgehalt ergeben, der z. B. scherzhaft oder frivol sein kann. Durch die Zitation sog. Teufelsverse spricht der Autor dem metrischen Palindrom einen dämonisch-magischen Ursprung zu, allerdings nicht ohne mit dem Hinweis auf retrograde Verse Vergils im Exordium seiner Georgica auch eine klassische literarische Tradition namhaft zu machen. Martial zitierend, wird von Tabourot aber auch der griechische Ahnherr des Krebsverses mit obszönem Zweitsinn, nämlich Sotades, vorgestellt, auf den die Bezeichnung Versus sotadeus zurückgeht. Neben Sidonius Apollinaris, einem spätantiken Manieristen, würdigt Tabourot als mittelalterlichen Autor insbesondere Hrabanus Maurus, der am Ende seines Zyklus visueller Kreuzgedichte, in der XXVII. und XXVIII. Figura, Palindrome als Intextverse der zentralen Kreuzfigur einsetzt. Der Erzbischof von Mainz und karolingische Theologe erscheint hier ganz prononciert in der Rolle des virtuosen literarischen Formkünstlers. Als Kind seiner Epoche, der Renaissance, zitiert Tabourot den Dichter und Poetologen Julius Caesar Scaliger sowie Mitglieder der Plejade, z. B. Joachim du Bellay, und gibt sich auch selbst als Produzent von Palindromen zu erkennen. Wenn sich Tabourot zudem nicht streng an die Chronologie hält, was mit seinem BigarruresKonzept konveniert, so ist seine Kenntnis der Palindromie-Tradition in der europäischen Literatur gleichwohl beachtlich. Im XII. Kapitel behandelt Tabourot auf der Grundlage der traditionellen Gematrie die schon in der Antike ausgeprägte Zahlenbedeutung von Buchstaben anhand einer Liste griechischer und lateinischer Lettern. Auf diese Übersicht folgt eine Tafel mit sechs griechischen Zahlbuchstaben, die bis auf eine Ausnahme als Abbreviaturen der entsprechenden Zahlwörter expliziert werden, wie auch die lateinischen Zahlbuchstaben, die von den Franzosen rezipiert wurden, ähnliche Erklärungen finden. Danach thematisiert der Autor betrügerische Praktiken mit Würfelzahlen, die für mantische Zwecke eingesetzt werden, und bespricht ein

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Verfahren, das die fünf Vokale als Signifikanten der ersten fünf Zahlen vindiziert. Als prominentes Beispiel für Gematrie im Kampf gegen Häresie wird die numerologische Deutung des Namens von M. Luther (MARTINVS LAVTER) auf 666, die Zahl des Tieres im 13. Kapitel der Apokalypse, angeführt. Danach geht Tabourot auf zahlreiche Chronogramme in der zeitgenössischen Literatur ein, die stets mit einem numerischen Intext operieren, den der Leser zur Datierung des jeweils beschriebenen Ereignisses entziffern muß. Schließlich berichtet er über die spezielle mnemotechnische Verwendung von Vokalen als Zahlzeichen im ludistischen Kontext eines Dame- und eines Pfänderspiels. Im XV. Kapitel rekurriert Tabourot zunächst auf die Definition des Akrostichons bei Caelius Rhodiginus und verweist danach als historische Paradigmata auf Ennius, die Sibyllinen und die Argumenta zu den Komödien des Plautus. Einen Sonderfall stellt ein Vierzeiler dar, in dem ein – zudem palindromisches – Akrostichon mit dem Namen ANNA zugleich als Telestichon wiederkehrt, so daß man nach moderner Terminologie von einem Akrotelestichon sprechen kann. Als elaboriert und mirakulös wird von ihm Hrabans II. Kreuzgedicht gerühmt, weil es ein perfektes Carmen quadratum darstellt, bei dem die Zahl der Buchstaben gleich der Zahl der Verse ist, selbst wenn sich der Autor einige orthographische Freiheiten erlaubt habe. Tabourot, der auf die wichtige Bedeutung der O-Buchstaben für die Statik des Carmen cancellatum aufmerksam macht, bietet dem Leser eine Transkription aller Intexte, die er sämtlich unter den von ihm weit gefaßten Begriff ‚Akrostichon’ subsumiert, wiewohl Hraban de facto auch mit Mesostichon und Telestichon gearbeitet hat. Wie meistens bei der drucktechnischen Wiedergabe hrabanscher Gittergedichte in der frühen Neuzeit zeigt das Beispiel hier die gewohnten Defizite: in Divergenz zur ursprünglichen Bindung an das Seitenmaß ein Umbruch in die Textfigur hinein, sodann der Verzicht auf graphische Umrandungen und schließlich der Verlust des skripturalen Kolorismus.

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Literaturverzeichnis Ausgaben ESTIENNE TABOUROT: Les Bigarrures du Seigneur des Accords. Premier livre. FaksimileNeudruck der Ausgabe Paris 1588. Hrsg. von FRANCIS GOYET. Genf 1986.

Referenztexte POETAE LATINI MINORES. Hrsg. von EMIL BAEHRENS. Bd. I. Leipzig 1879. BALTASAR GRACIÁN: Agudeza y Arte de Ingenio (1642). Hrsg. von EVARISTO CORREA CALDERÓN. Bd. II. Madrid 1988. JEHAN MAROT: Les deux recueils. Hrsg. von GÉRARD DEFAUX und THIERRY MANTOVANI. Genf 1999. JACQUES PELETIER: Art poétique français (1555). Genf 1971. BONAVENTURE DES PÉRIERS (= JACQUES PELETIER): Nouvelles Récréations et Joyeux Devis. Bd. I-II. Paris 1874. FRANÇOISE RABELAIS: Gargantua. Hrsg. von JEAN-PAUL SANTERRE. Paris 2003. ULRICH VON HUTTEN: De guajaci medicina et morbo gallico liber unus. Mainz1519.

Forschungsliteratur GEORGES CHOPTRAYANOVITCH: Etienne Tabourot des Accords. Genf ²1970. HOPE H. GLIDDEN: Babil/Babel: Language Games in the Bigarrures of Estienne Tabourot. In: Studies in Philology 79 (1982), S. 242-255. GABRIEL-ANDRÉ PÉROUSE: Le dialogue de la prose et de vers dans l’œuvre de Tabourot des Accords. In: La Renaissance, L’Humanisme et la Réforme 51-52 (2001), S. 121134.

XVI. GEORGE PUTTENHAM: THEORIE UND GENESE DES FIGURENGEDICHTS IN ENGLAND Die 1589 anonym erschienene Schrift The Arte of English Poesie gehört zu den wichtigsten englischen Renaissancepoetiken. Die Identität des Verfassers war lange Zeit umstritten,1 mittlerweile gilt jedoch die Autorschaft George Puttenhams als allgemeiner Konsens der Forschung. Puttenham (um 1529-1590), der über seine Mutter mit dem Schriftsteller und Gelehrten Sir Thomas Elyot (um 1490-1546) verwandt war, studierte in Cambridge und verbrachte mehrere Jahre im Ausland, u. a. in Flandern. Nach England zurückgekehrt, diente er am Hof von Königin Elizabeth I. (1533-1603), für die er 1587 eine Rechtfertigungsschrift in der Auseinandersetzung mit Maria Stuart verfasste.2 Auch The Arte of English Poesie ist der Königin von England gewidmet. Das Werk, das über einen Zeitraum von ungefähr zwanzig Jahren entstand, ist in drei Bücher gegliedert: Im ersten Buch liefert Puttenham unter dem Titel ‚Von den Dichtern und der Dichtung’ eine historisch orientierte Definition von Wesen und Erscheinungsformen der Poesie, im zweiten widmet er sich den Proportionen, insbesondere der Prosodie, während er im dritten Buch die rhetorischen Figuren erläutert. Zielgruppe seiner Poetik ist die höfische Gesellschaft, der Puttenham eine Rhetorik- und Stillehre liefert, welche das Englische als Literatursprache aufwertet und den Hof als normsetzende ästhetische Instanz affirmiert.3 In dem hier übersetzten Kapitel aus Buch II seiner Poetik präsentiert Puttenham Figurentexte in geometrischen Formen.

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EAGLE (1956) argumentiert gegen die Autorschaft Puttenhams – „this obscure and unimportant person“ (S. 188) –, dem er sowohl die entsprechende Erfahrung als auch das notwendige kulturelle Umfeld abspricht. Auch Isaac D’Israeli äußerte bereits Zweifel an Puttenhams alleiniger Autorschaft; vgl. D’ISRAELI (1859). PUTTENHAM (1867). Puttenham schließt seine Absicht in der prägnanten Formel zusammen: to make of a rude rimer, a learned and a Courtly Poet; PUTTENHAM (1869), S. 170. Zur Arte of English Poesie als Hofpoetik vgl. JAVITCH (1972), die beiden Beiträge von PLETT (1981a und 1981b), RÖLLIALKEMPER (1996), MATZ (1997) und SILCOX (1999).

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GEORGE PUTTENHAM: WARD ARBER. London

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The Arte of English Poesie (1589). Hrsg. von ED1869, Kap. XI (XII), S. 104-114.

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ÜBER FIGURENPROPORTION Die letzte Proportion betrifft die Figuren und wird so genannt, weil sie eine sichtbare Darstellung erzeugt. Die Verse werden durch zweckmäßige Symmetrie an bestimmte geometrische Figuren angepaßt, wodurch der Verfasser gezwungen ist [mit seinem Gedicht], in den festgelegten Grenzen zu bleiben und daher nicht nur mehr Kunstfertigkeit an den Tag legt, sondern auch der Kürze und der Spitzfindigkeit der Devise4 dient. Aus demselben Grunde sind sie auch für die hübschen Amoretten am Hof geeignet, mit denen sie ihre Diener unterhalten und die Zeit vertreiben, denn ihr zarter Verstand braucht löbliche Übung, um vom Müßiggang abgehalten zu werden. Diese Proportion wird von keinem der griechischen oder lateinischen Dichter, auch von keinem vulgärsprachlichen Schriftsteller, verwendet, außer jener Form, die Anakreons Ei5 genannt wird. In Italien sprach ich mit einem Herrn, der lange Zeit den östlichen Teil der Welt bereist und die Höfe der großen Fürsten in China und dem Tartarenreich gesehen hat.6 Da ich sehr neugierig war, etwas über die Spitzfindigkeiten dieser Länder zu erfahren, vor allem aus dem Bereich der Gelehrsamkeit und der volkssprachlichen Dichtung, erzählte er mir, daß sie in allen ihren Erfindungen7 sehr geistreich seien und auch Dichtung oder Reimkunst besäßen, aber

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‚Devise’ (engl. ‚device’) ist für Puttenham „eine Art Oberbegriff für verschiedene Wort-BildGattungen“; RÖLLI-ALKEMPER (1996), S. 171; vgl. auch S. 174f. Diese Aussage Puttenhams ist in zweifacher Hinsicht unzutreffend: Zum einen stammt das Eigedicht nicht von Anakreon (6. Jh. v. Chr.), sondern von Simias von Rhodos, zum anderen sind noch weitere Figurengedichte aus der Antike überliefert, außer von Simias auch noch von Theokrit und Dosiadas; vgl. ADLER und ERNST (1990), S. 21-26. Zu den Besonderheiten der Poetik Puttenhams gehört, daß sie einen orientalischen Ursprung des Figurengedichts postuliert; vgl. CH’IEN (1940), S. 355f., KORN (1954) und ADLER und ERNST (1990), S. 77. Die Forschungsdiskussion um die Glaubwürdigkeit dieser Annahme Puttenhams faßt RÖLLI-ALKEMPER (1996), S. 165f. zusammen. Puttenhams Wortgebrauch, inventions, ist vor dem Hintergrund des inventio-Begriffs der klassischen Rhetorik zu sehen, worunter u. a. das Auffinden von Argumenten verstanden wird.

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daß sie weniger Freude als wir an langen, weitschweifigen Beschreibungen hätten und daher, wenn sie einen hübschen Einfall ausdrücken wollten, ihn in Versfüße verwandelten und ihn in die Form einer Raute oder eines Quadrates oder einer anderen Figur brächten und sie dergestalt in Gold, Silber oder Elfenbein eingraviert, manchmal mit Buchstaben aus Amethyst, Rubin, Smaragd oder Topas wundersam miteinander verbunden und zusammengefügt, sowie zu Ketten, Armbändern, Halsbändern und Gürteln gefaßt ihren Geliebten schickten, damit diese sie zur Erinnerung trügen.8 Er gab mir einige solcherart hergestellte Dichtungen, die ich Wort für Wort und so nah wie möglich der Formulierung und der Figur folgend übersetzt habe, welches aufgrund der Einschränkung durch die Figur, von der man nicht abweichen darf, nur schwer zu bewerkstelligen ist. Zunächst scheinen sie für ein englisches Ohr nicht angenehm zu sein, aber Zeit und Gewöhnung werden sie akzeptabel machen, wie dies mit allen neuen Erscheinungen geschieht, seien es Kleidungsstücke oder andere Dinge. Die Formen der geometrischen Figuren sind nachstehend abgebildet. Die Raute, genannt Rhombus

Der Fuzie oder Spindel, genannt Rhomboid

Das Dreieck oder Triquetra

Das Quadrat oder Viereck

Der Pilaster oder Zylinder

Die (Turm-)Spitze, genannt Pyramide

Die Kugel

Das Ei oder ovale Figur

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Mit der (angeblich) zu Schmuck verarbeiteten Schrift wird nicht nur die traditionelle Metaphorik des Artifiziell-Kostbaren ins konkrete Werk gesetzt, sondern es werden zudem die Buchstaben aus der Flächigkeit in die Dreidimensionalität überführt. ATTRIDGE (1988), S. 25 versteht diese Stelle metaphorisch, dagegen RÖLLI-ALKEMPER (1996), S. 166. Zu den Litterae gemmatae vgl. ERNST (2006), S. 57-60.

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XVI. George Puttenham Die umgedrehte Triquetra

Die auseinandergelegte Triquetra

Die umgedrehte Raute

Die umgedrehte Spitze

Das auseinandergelegte Ei

595 Die auseinandergelegte Kugel

Die verkürzte Raute

Über die Raute Die Raute ist eine sehr schöne Figur und gut geeignet für diesen Zweck.9 Sie ist in gewisser Weise ein umgedrehtes Quadrat und sieht mit der nach oben gerichteten Spitze wie eine kleine Fensterglasscheibe aus. Sowohl die Griechen als auch die Römer nennen sie Rhombus, was der Grund dafür sein kann, daß sie diesen Namen auch dem Fisch, der gemeinhin Steinbutt genannt wird, gegeben haben, der [auf seinem Schuppenkleid] genau diese Figur trägt. Die Raute sollte nicht mehr als dreizehn oder fünfzehn oder einundzwanzig Verse umfassen; der längste bildet die Mittelachse, alle anderen bewegen sich aufwärts und abwärts, wobei sie stetig ihre Länge um ein oder zwei Silben verringern, bis sie die Spitze erreichen: Der Fuzie ist von gleicher Art, aber spitzer und schmaler. Ich werde dir ein oder zwei Beispiele von denen geben, die mir mein italienischer Freund überreicht hat. Ich habe sie so genau wie möglich in die gleiche Figur übersetzt und dabei die Wendungen der orientalischen Sprache Wort für Wort beachtet.

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Die Rautenform wird noch im 20. Jahrhundert von dem walisischen Dichter Dylan Thomas (1914-1953) aufgegriffen; THOMAS (2003). Ebenso verwendet sie Harry Mathews, Mitglied der 1960 gegründeten französischen Oulipo-Gruppe, in einem Gedicht, das dem Mathematiker Martin Gardner gewidmet ist; MATHEWS (1990).

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Ein mächtiger Herrscher im Tartarenreich mit Namen Can, der wegen seines Kriegsglücks und der vielen bedeutenden Eroberungen, die er gemacht hatte, den Beinamen Temir Cutzclewe10 erhielt, liebte Lady Kermesine, die ihm bei seiner Rückkehr von der Eroberung von Khorasan,11 einem großen Nachbarkönigreich, diese Raute zum Geschenk machte, deren Buchstaben aus Rubin und Diamant folgendermaßen miteinander verbunden waren: Erklinge, O Harfe, Schreie heraus, Temir der tapfere Reiter, der mit scharfer Klinge aus glänzendem Stahl Seine grimmigsten Feinde fühlen ließ, Alle die, die ihm Schande oder Übel zufügten, Die Stärke seines unerschrockenen rechten Armes, Bis hinunter auf die Augen spaltend Die rohen Schädel seiner Feinde. Viel Ehre hat er gewonnen Durch tapfere Taten In Khorasan Und auf der Ganzen Welt.

Darauf antwortete Can Temir mit diesem Fuzie aus kunstvoll geschnittenen und miteinander verbundenen Smaragden und Amethysten: Fünf Schlimme Schlachten, Mannhaft gefochten Auf gar blutigem Feld Mit glänzender Klinge in der Hand, Hat Temir gewonnen und zu weichen gezwungen viele starke und tapfere Hauptmänner Und vielen Königen die Krone vom Haupt genommen, große Gebiete und weites Land erobernd. Doch niemals habe ich einen Sieg errungen, Ich verkünde es zu meinem großen Ruhm, Der mir so lieb und auch so teuer war, Wie der, als ich dich zum ersten Mal bezwang, O Kermesine, von allen meinen Feinden Der Grausamste, von all meinem Schmerz Der stechendste, meine süßeste, Meine stolze Eroberung, Meine reichste Beute. O einmal am Tag Schenk’ mir deinen Anblick, Dessen Licht allein Mich am Leben Erhält.

–––––––––––––– 10 Zu den von Puttenham erwähnten orientalischen Namen vgl. KORN (1954), S. 300-302. 11 Chorasan (altpers.: Land der aufgehenden Sonne): Region in Zentralasien, die Teile der heutigen Staaten Iran, Afghanistan, Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan umfaßt.

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Über das Dreieck oder Triquetra Das Dreieck ist ein halbes Quadrat, halbe Raute oder halber Fuzie, der an den gegenüberliegenden Ecken geteilt wurde. Da seine Basis breit und seine Spitze schmal ist, enthält es Versmaße in vielerlei Länge, von denen eines jeweils etwas kürzer ist als das andere. Man kann diese Figur aufrecht stehend oder umgedreht, wie hier, verwenden. Ein mächtiger persischer Sultan mit Namen Ribuska, der in Lady Selamour verliebt war, sandte ihr diese umgedrehte Triquetra, in der er seinen Zustand beklagt; es ist alles mit kunstvoll geschnittenen und miteinander verbundenen Buchstaben aus blauem Saphir und Topas als Einlegearbeit gefaßt. Selamour, weit teurer als das eigene Leben Deinem unglücklichen, elenden Gefangenen, Ribuska, den du unlängst erst Höchst grausam durchbohrtest Mit deinem tödlichen Pfeil, Diesem Paar leuchtender Sterne, weit fort Von mir wende dich, Daß ich sehen und nicht sehen kann das Lächeln, den Köder, Der mich führte und bewog Zu sterben, um zu leben Zwei Mal blühst du In einer Stunde.

Um es dem Sultan gleichzutun und die Figur vollständig zu machen, antwortete Selamour mit einer aufrecht stehenden Triquetra, die reich in Buchstaben aus dem gleichen Material eingraviert war. Weder Macht über den Tod noch über das Leben besitzt Selamour. Den Göttern ist es üblich, Atem zu nehmen und zu geben. Ich kann aus Mitleid vielleicht Dir deine verlorene Freiheit wiedergeben, Auf deinen Eid mit dieser Buße, Daß du dein Leben lang nicht mehr lieben wirst.

Da diese Bedingung Sultan Ribuska hart zu erfüllen und grausam erschien, antwortete er Lady Selamour mit einem weiteren Gedicht in Form einer Spitze, welche die Hoffnung symbolisiert. Dieses habe ich aus Mangel an Zeit nicht übersetzt.

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Von der Spitze, genannt Pyramide12 Die Spitze ist das längste und spitzeste Dreieck, das es gibt. Nach oben hin wird sie beständig schmaler und gleicht von Gestalt und Namen dem Feuer, dessen Flamme, wenn du darauf achtest, immer spitz zuläuft und durch seine Form natürlicherweise nach oben strebt: Die Griechen nennen sie Pyramide von , die Römer sprechen in der Architektur von einem Obeliscus. Sie ist so hoch wie sechs gewöhnliche Dreiecke; ihre Basis sollte nicht breiter als sechs Verse sein, daher wird man ganz oben von einigen Kürzungen Gebrauch machen müssen, um so unterschiedliche Verslängen zu umfangen, wie für diese Komposition notwendig sind, denn nahe an der Spitze wird gerade einmal Platz sein für einen Vers von zwei Silben, manchmal nur für eine Silbe, um die Spitze zu beenden. Ich habe dir ein, zwei Beispiele hierhergesetzt, um zu erproben, wie du die Art und Weise dieser Devise13 aufnimmst.

–––––––––––––– 12 Zur Traditionsgeschichte pyramidaler Gedichtformen vgl. ERNST (2002), zu Puttenham, ebd., S. 107-120. 13 Im Anschluß an das hier übersetzte Kapitel folgt ein – wohl während des Druckvorgangs eingefügtes (vgl. RÖLLI-ALKEMPER 1996, S. 15) – Kapitel, in dem sich Puttenham mit der Devise bzw. dem Emblem und dem Anagramm beschäftigt. In seinen wirkungsästhetisch pointierten Ausführungen hebt Puttenham die Interrelation von verbalen und visuellen Elementen hervor: PUTTENHAM (1869), S. 115-121; vgl. zur Devise bei Puttenham auch SILCOX (1999).

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XVI. George Puttenham Ihre Majestät ähnelte durch viele Eigenschaften ihrer edlen und tugendhaften Natur der Spitze. Du mußt unten beginnen gemäß der Natur der Devise.

Himmel –––––– Blauen, In dem verbürgt –––––––––––– Und besser, Und reicher, Viel größer, –––––––––––––– Krone und Reich Nach einem Erbe, Um zu streben Wie die Feuerflamme In Form einer Spitze ––––––––––––––––––– Nach oben zu steigen Un auf hör lich Mit Pein und Schmerz, Allergnädigste Königin, Du einen Schwur hast getan Zeigt uns klar, wie Nicht trügerisch, sondern wahr Jedermann sichtbar Strahlt klar in dir Von so leuchtender Farbe Eben diese Tugend –––––––––––––––––––– Unserer Sicht entschwindet, Bis ihre zarte Spitze fast ganz Sich in der Luft zu verjüngen Danach strebt, sanft und schön Durch ihre liebenswürdige Natur Von hoher anmutiger Gestalt So wie diese schöne Form.

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Von Gott, der Quelle alles Guten, stammen alle guten Dinge in dieser Welt, und in Ihrer Majestät findet sich all das Glück, das ein sterbliches Wesen erlangen kann. Lies von oben nach unten gemäß der Natur der Devise. Gott Von der Höhe Oben Sendet Liebe, Weis heit, Gerechtigkeit, Tapfer keit, Mildtätig keit, Und verleiht Allem, was lebt, Leben und Atem, Herz, Ruhe, Gesundheit, Kinder, Reichtum, Schönheit, Stärke, Friedliches Alter, Und schließlich Einen sanften Tod, Er schenkt fürwahr Allen Menschen Reichtum, den Hohen und den Niedrigen, Und die besten Dinge, Die die Erde haben kann Oder die Menschheit ersehnen, Gute Königinnen und Könige, Ist am Ende der gleiche, Der dir (Madam) gab Diese Herrscher würde Mit reiner Souveränität, unanfechtbarem Recht. Ehrfurcht gebietende Macht, Hochblühende Herrschaft Ewiges Ansehen Und das dein wichtigstes Gut sei, Sichere Hoffnung auf die Seligkeit des Himmels.

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Säule, Pilaster oder Zylinder Die Säule stellt unter allen anderen geometrischen Formen eine sehr schöne Figur dar, denn sie ist groß, aufrecht und von unten bis oben von gleichem Umfang. In der Architektur ist sie mit zwei weiteren Elementen versehen, dem Piedestal oder der Basis und dem Kapitell oder Säulenkopf, der Körper ist der Säulenschaft. Diese Figur symbolisiert Beständigkeit, Halt, Ruhe, Erhabenheit und Größe. Wenn du dein Gedicht in die Form einer Säule bringen willst, so brauchst du für die Basis ein Versmaß von sechs, sieben oder acht Silben, für den Säulenschaft vier; das Kapitell entspricht der Basis. Ich werde dir zwei oder drei Beispiele von dieser Proportion geben, welche genügen werden. Ihre Majestät ähnelte der gekrönten Säule. Du mußt von unten nach oben lesen.

Philo sandte Lady Calia dieses Lobodolett in Form einer Säule. Du mußt es von oben nach unten lesen.

Ist Seligkeit in Unsterblichkeit Ihre hübscheste Spitze von allem, was du siehst Schmückt die Krone Ihr gerechter Ruhm Für Kapitell und Kopf Sind die stützenden Teile Und ihre Fraulichkeit Ihre jungfräuliche Herrschaft Recht schaffen heit: In Ehre und Mit Wahrheit Ihre Rundheit steht Stärken den Staat. Durch ihr Wachsen Ohne Streit Einigkeit und Frieden Für ihre Strebe, Mögen die Basis sein Mit Beständigkeit Tugend und Gnade. Standhaftigkeit und Wohlergehen Ruhe Von Albions14 Die feste Säule Und von weitem zu sehen Ist klar dargetan Groß prächtig und gerade In dieser edlen reinen Zeichnung

Deine königliche Haltung und Hoheit Sind meine irdische Gottheit, Dein Geist und Verstand Der Strom und die Quelle Der Eloquenz und Des gelehrten Gesprächs, Deine schönen Augen sind Mein strahlender Leitstern, Deine Rede ein Pfeil, Der mein Herz durchbohrt, Dein Gesicht, ach!, Mein Spiegel, Deine lieblichen Blicke Meine Gebetbücher, Deine liebenswerte Fröhlichkeit Mein heller Sonnenschein, Dein trübseliger Blick Meine dunkle Mitternacht, Dein Wille das Maß Meiner Zufriedenheit, Dein Ruhm Zierde Meiner Ehre, Deine Liebe gibt mir Das Leben, das ich lebe, Dein Leben, es ist Meine irdische Seligkeit: Aber Gnade und Gunst in deinen Augen Seele meines Körpers und Paradies meiner Seele.

–––––––––––––– 14 Albion: alter Name für Großbritannien, möglicherweise keltischer Herkunft, der von den Römern mit den Kalkklippen bei Dover im Rekurs auf albus/weiß verbunden wurde.

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Die Kugel Die vortrefflichste aller geometrischen Figuren ist die Kugel wegen ihrer vielen Vollkommenheiten. Zunächst einmal, weil sie gleichmäßig und glatt ist, ohne Ecken und Unterbrechungen, außerdem ist sie sehr beweglich und geeignet, sich zu drehen und die Bewegung zu erhalten, welche die Ursache allen Lebens ist. Sie enthält eine nützliche Beschreibung aller anderen Figuren und ähnelt wegen ihres umfassenden Vermögens der Welt oder dem Universum; da sie durch ihre Unbegrenztheit keinen bestimmten Anfang und kein bestimmtes Ende hat, besitzt sie Ähnlichkeiten mit Gott und der Ewigkeit. Diese Figur besteht aus drei wichtigen Teilen, die für ihren Gebrauch sehr bedeutsam sind: dem Kreis, dem Radius und dem Zentrum. Der Kreis ist der größte Umfang oder Umkreis, das Zentrum ist sein unteilbarer Mittelpunkt, der Radius ist eine Linie, die vom Kreis zum Zentrum reicht und umgekehrt vom Zentrum zum Kreis. Mit dieser Beschreibung kann unser Dichter seine Verse in Rundform anordnen, entweder der Umfanglinie folgend, also in Kreisform, oder von der Umfanglinie ausgehend, also wie ein Radius, oder von Umfanglinie zu Umfanglinie, also diametral von einer Seite des Kreises zur anderen.15 Die allgemeine Ähnlichkeit der Rundform mit Gott, der Welt und der Königin All und ganz, und ewig, und eines, Einzig, einfach, überall, allein, Dies sind, wie die Kleriker sagen, Die wahren Eigenschaften des Kreises. Seine Drehung in steter Folge und stetem Wechsel bringt Leben und Sinn hervor. Die Zeit, Maß von Bewegung und Ruhe, wird ebenfalls durch seine Bahn bezeugt. Wie schnell der Kreis sich auch bewegen mag, Sein Mittelpunkt bewegt sich nie: Alles, was jemals war oder sein wird, Ist in seiner hohlen Form enthalten. Und wird er auch gedreht und geworfen, Fehlt kein Raum noch ist Raum verloren. Die Rundform hat weder Höcker noch Kante, Die seinen Lauf aufhalten oder verwirren könnten. Der entfernteste Teil seines Kreises Ist gleich fern und nah. –––––––––––––– 15 Fowler sieht Puttenhams Figurengedichte eher von numerologischen (pythagoreischen) als formal-geometrischen Überlegungen inspiriert: Insbesondere bei den Kreisgedichten sei nicht die äußere Gestalt, sondern die Zahl der Verse entscheidend, weshalb sie auch nicht in Rundform gedruckt seien; FOWLER (1970), S. 10-12.

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So zeigt es keine andere Form, Wo der Besitz der Natur geschlossen ist: Und jenseits seines weiten Umfangs Gibt es keinen Körper oder Ort, Keinen Geist, der fassen könnte, Wo er beginnt oder wo er endet: So sind sich alle einig, Daß er die Ewigkeit enthält. Gott über den Himmeln so hoch Ist diese Rundform, in der Welt der Himmel, Auf Erden sie, die den ersten Rang einnimmt Unter Jungfrauen und Königinnen, ist diese Rundform: All und ganz und immer allein, Einzig, ohnegleichen, einfach und eines. Die besondere und eigentümliche Ähnlichkeit ihrer Majestät mit der Rundform. Zuallererst ist ihre königliche Autorität Der Kreis, der alles umschließt: Das große und gewaltige Reich, Das Gott ihr übertragen hat: In dessen weiten Grenzen Hält sie ihr Volk umfangen Und bindet es durch Eid und Treue. In den Schranken wahren Gehorsams Hält sie gleichsam wie in einem Park Ihr Volk wie eine Herde von Hirschen. Sie sitzt in ihrer Mitte, Wo sie erlaubt, verbietet und fordert, wie und wann es ihr beliebt, die Dienste ihres ganzen Gefolges. Aus ihrer Brust wie aus einem Auge Erglänzen unablässig die Strahlen Ihrer Gerechtigkeit, ihrer Milde und Macht Und verbreiten ihr helles Licht, Ohne zu reflektieren, bis sie Den entferntesten Teil ihrer Herrschaft erreicht haben Und jedem Untertan klar vor Augen führen, Was er verpflichtet ist zu sein

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Seinem Gott, seinem Fürsten und dem Gemeinwohl, Seinem Nachbarn, seinem Verwandten und sich selbst. Der gleiche Mittel- und Sammelpunkt, Wohin unsere Taten so zahlreich gezogen Aus allen Gegenden, auch den entferntesten, Ihres großen und weiten Königreichs, Von wo die Strahlen gespiegelt werden Auf zwanzighundertfache Weise, Wo es ihr Wille ist, daß sie innerhalb des Kreises ihrer Führung vermitteln sollen. So ist die Königin der Briten Grund, Radius, Umfang, Zentrum meines Lebenskreises.

Über das Quadrat oder gleichseitige Viereck Das Quadrat wird als die Form mit der größten Festigkeit und Beständigkeit angesehen; es braucht als Grundlage für seinen Halt und seine Stabilität nur sich selbst, und so wie die Rundform oder die Kugel dem Himmel zugeordnet wird, die Spitze dem Element des Feuers, das Dreieck der Luft und die Raute dem Wasser, so wird das Quadrat wegen seiner unerschütterlichen Festigkeit mit der Erde verglichen, welches vielleicht der Grund dafür sein mag, daß der Fürst der Philosophen im ersten Buch seiner Ethik einen beständigen Mann, der nach allen Seiten hin gleich gelassen und offen, sich nicht sofort von jeder kleinen Widrigkeit bezwingen läßt, einen hominem quadratum, einen Quadratmann, nennt.16 In diese Form kannst du deine Gedichte bringen, wenn du nicht mehr Verse verwendest, als dein Vers Silben hat, wodurch sie Quadratform erhalten; wenn du darüber hinausgehst, wird sich das Quadrat zum Trapez vergrößern, welches um ein gutes Stück länger ist als das Quadrat. Ich brauche dir keine Beispiele zu geben, denn alle Gedichte, Oden und Epigramme der guten Kunst sollten die Anzahl von zwölf Versen nicht überschreiten, und der längste Vers sollte höchstens zwölf Silben haben, unterhalb dessen aber so viele, wie du willst.

–––––––––––––– 16 Puttenham meint die sog. Nikomachische Ethik des griechischen Philosophen Aristoteles (384 v. Chr.-324 v. Chr.); ARISTOTELES (1998), 1, 1100 b.

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Die ovale Form Diese Form hat ihren Namen von einem Ei, das auch als sein Ursprung angesehen wird. Sie scheint eine falsche oder unvollkommene Rundform zu sein, die in die Länge strebt, aber dennoch wie der Kreis nur eine Umfanglinie hat. Es scheint, daß das Oval seine Form nicht durch eine Unvollkommenheit erhält, welche durch eine Störung die Rundheit unnatürlicherweise verhindert, sondern durch die Weisheit und Vorausschau der Natur, um die Fortpflanzung jener Geschöpfe zu erleichtern, die keinen lebenden Körper (wie die vierbeinigen Tiere), sondern statt dessen eine gewisse Menge formlosen Stoffes in einem Gefäß hervorbringen, welcher, nachdem er vom Mutterkörper abgesondert worden ist, Leben und Vollkommenheit erhält, wie dies bei den Eiern von Vögeln, Fischen und Schlangen der Fall ist: Da die Menge dieses Stoffes nicht gering ist und aus einem engen Raum hervorkommt, muß er, um ein leichtes Durchkommen zu gewähren, eine Form haben, die weder so spitz und schmerzhaft wie ein Winkel noch so groß oder stumpf ist, daß sie versuchen würde, mit einem anderen Teil als dem runden hervorzukommen, daher muß sie an einer Stelle schmaler sein und dennoch nicht ohne eine gewisse Rundheit und Glätte, um auch dem Rest ein leichtes Heraustreten zu gewähren. Genau so ist die ovale Figur beschaffen, die ich wegen ihres Alters, ihrer Würde und ihrer Verwendung unter die übrigen Figuren einreihe, um unsere Proportionen zu verschönern. Von dieser Art sind etliche Gedichte Anakreons17 und auch jene der griechischen Dichter, die leichtfertige Liebeslieder schrieben, um damit ihren Geist zu trösten. Oftmals haben sie (um ihrem Gedicht die richtige Form eines Eies zu geben), ein Wort in der Mitte getrennt und den nächsten Vers mit der anderen Hälfte ergänzt, wie du beim Durchlesen ihrer Gedichte sehen kannst.

–––––––––––––– 17 Der griechische Lyriker Anakreon behandelte in seinen Gedichten vor allem das gesellige Leben, die Liebe und den Wein.

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Resümee Wenn Puttenham im zweiten Buch seiner Poetik als letzte der sog. Proportions die Figures behandelt, so prononciert er einmal den mathematischen, genauer geometrischen Charakter der Carmina figurata und zum anderen das ihnen zukommende Bestimmungsmerkmal der visuellen Repräsentation. Für die Akkommodation eines Verskorpus an die Umrisse einer geometrischen Figur bedarf es seiner Ansicht nach großer Kunstfertigkeit, wie sie auch generell für die Konzision und Subtilität der Devisen erforderlich sei. Die Figurengedichte dienen mit ihren erotischen Konnotationen besonders der Geselligkeit und Unterhaltung am Hof, schulen und schärfen aufgrund ihrer arguten Struktur den Verstand und schützen vor Müßiggang. Eigenartig ist die generistische Deszendenztheorie, die Puttenham entwickelt, führt er doch die Visuelle Poesie mit Ausnahme des Ei-Gedichts, das er statt Simias von Rhodos fälschlich Anakreon attribuiert, nicht auf griechische oder lateinische, sondern auf asiatische Traditionen zurück. Dabei ist von Kunstübungen der Fürsten in China und in der Tartarei die Rede, von denen Puttenham in Italien von einem Reisenden gehört haben will: Die figurativen Gedichte seien in ihren Inventionen sehr geistreich, verwendeten als Formmittel auch den Endreim und seien bewußt in der Volkssprache gehalten. Langen und weitschweifigen Deskriptionen abhold, hätten die Dichter in ihrem Streben nach einem concettistischen Ausdruck ihre Einfälle in Verse gekleidet, sie sodann in strenger Limitierung einer geometrischen Figur wie Raute oder Quadrat angepaßt und sie schließlich in Gold, Silber oder Elfenbein eingraviert. Aus heutiger Sicht zeichnet sich diese Art von Poesie durch eine Materialität und Medialität der sprachlichen Zeichen aus. Die erotische Form der Kommunikation dokumentiert sich vor allem in dem Brauch der Poeten, Litterae gemmatae, in diesem Fall Buchstaben aus Amethyst, Rubin, Smaragd oder Topas, zu Ketten, Armbändern, Halsbändern und Gürteln zusammenzufügen und selbige danach als Geschenke ihren Geliebten zu verehren, damit diese sie zur Erinnerung trügen. Die aus Schrift bestehenden und gleichsam mit einer magischen Aura ausgestatteten Liebespfänder stehen somit im Dienst einer an der Liebeslyrik orientierten Memorialpoetik, in welcher die rhetorische Form des Ornatus durch materiellen Dekor ergänzt wird. Puttenham will die von dem Reisenden erhaltenen asiatischen Dichtungen Wort für Wort ins Englische übersetzt haben, was wohl angesichts der formalen Restriktionen durch die Figur, von der man sich auf keinen Fall typographisch lösen darf, eine intrikate Aufgabe war. Bei der Einführung der asiatischen Techniken und Gattungen in England rechnet der Autor zunächst mit einem Widerwillen des Publikums, setzt aber psychologisch und ‚marktstrategisch‘ auf den Zeitund Gewöhnungsfaktor, der die fortschreitende Akzeptanz der neuen Poesieformen befördert. So verleiht Puttenham der Visuellen Poesie nicht nur eine erotische, sondern auch eine exotische Aura und vergleicht die Innovationen der Dichtungen mit den

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Neuerungen der englischen Mode, die anfangs auch erst einmal Befremden erregt haben. Der visuell-materiellen Poesie der Asiaten korreliert ein feudales Autorbild, da die more geometrico konstruierten und textlich komprimierten Liebesbillets zum Zweck der höfischen Kommunikation der Fürsten und Fürstinnen untereinander funktionalisiert sind. Die exotischen Gedichte wirken, wenn man die fremden Namen einmal ausblendet, in ihrer gedanklichen Struktur, ihrer Bildlichkeit und in dem sich in der Liebeskorrespondenz ausprägenden geschlechtsspezifischen Rollenverhalten stark petrarkistisch geprägt. Da es sich um Dialoggedichte handelt, läßt sich grosso modo von einer kollaborativen Textproduktion sprechen. Eine besondere politische Aktualität gewinnen die Ausführungen Puttenhams durch Pyramiden- bzw. Obeliskengedichte, die als textuelle Herrschaftsarchitekturen der ‚jungfräulichen‘ Königin Elisabeth I. dediziert sind. Visuelle Poesie erweist sich hier erneut als imperiale Dichtung, die in eine Hofkultur implementiert und der Herrscherpanegyrik verpflichtet ist. Daß diese hier petrarkistische Züge trägt, hängt mit dem Bild der Virgin Queen zusammen, das Elisabeth auch selbst im Rahmen ihrer Herrschaftspropaganda durch Einsatz verschiedener Medien verbreitet hat. Neben bildlichen Darstellungen erscheint sie auch in der englischen Lyrik des 16. Jahrhunderts in der Rolle der allseits verehrten Dame mit stark idealisierten Zügen wie engelsgleicher Schönheit, überragender Intelligenz und vollkommener Tugend. Das Lob der Herrscherin expandiert über lyrische Formen wie Sonett, Lied und Pastorale auch in Gattungen wie Drama und Epos. Die Visualpoesie mit petrarkistischer Färbung ist dabei eine von der Forschung bislang kaum registrierte Gattung, die nicht nur das Umrißgedicht umfaßt, sondern auch Intextformen aufweist. So sind alle 26 Hymnes of Astraea des englischen Poeten und Juristen Sir John Davies (1569-1626) mit einem Akrostichon ausgestattet, das den Namen der Widmungsempfängerin als ELISABETHA REGINA fixiert. Zu dem Personenkult gehört auch Elisabeths legendärer Ruf nicht nur einer Mäzenin von Künstlern und Literaten, sondern auch einer Förderin von Handels- und Entdeckungsreisen, der bis auf die Theorie der Visuellen Dichtung durchschlägt; denn nur vor dem Hintergrund der Idee eines globalen britischen Empires im elisabethanischen Zeitalter18 läßt sich das Verständnis des Figurengedichts als einer Importware aus dem Orient bzw. aus Asien plausibilisieren.

–––––––––––––– 18 Vgl. das Epochenbild von SUERBAUM (1989).

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C. Frühe Neuzeit

Literaturhinweise Ausgaben GEORGE PUTTENHAM: The Arte of English Poesie. 1589. Hrsg. von Edward Arber. London 1869.

Referenztexte ARISTOTELES: Nikomachische Ethik. Hrsg. von MANFRED FUHRMANN, übers. von OLOF GIGON. München 81998. ISAAC D’ISRAELI: The Arte of English Poesie. In: Amenities of Literature. Bd. II. Hrsg. von BENJAMIN D’ISRAELI. London 1859, S. 39-46. HARRY MATHEWS: À Martin Gardner. In: Oulipo. Atlas de littérature potentielle. Paris 1990. GEORGE PUTTENHAM: A Justification of Queen Elizabeth in Relacion to the Affair of Mary Queene of Scottes (1587). In: Camden Society Papers (1867), S. 65-134. DYLAN THOMAS: Vision and Prayer. In: ders.: Selected Poems 1934-1952. New York 5 2003.

Forschungsliteratur JEREMY ADLER und ULRICH ERNST: Text als Figur. Visuelle Poesie von der Antike bis zur Moderne. Weinheim 31990. DEREK ATTRIDGE: Nature, Art, and the Supplement in Renaissance Literary Theory. Puttenham’s Poetics of Decorum. In: ders.: Peculiar Language. Literature as Difference from the Renaissance to James Joyce. London 1988, S. 17-45. CHUNG-SHU CH’IEN: China in the English Literature of the Seventeenth Century. In: Quarterly Bulletin of Chinese Bibliography 1 (1940), S. 351-384. RODERICK L. EAGLE: „The Arte of English Poesie“ (1589). In: Notes and Queries 201 (1956), S. 188-190. ULRICH ERNST: Europäische Figurengedichte in Pyramidenform aus dem 16. und 17. Jahrhundert. Konstruktionsmodelle und Sinnbildfunktionen. Ansätze zu einer Typologie (1982). In: ders.: Intermedialität im europäischen Kulturzusammenhang. Beiträge zur Theorie und Geschichte der visuellen Lyrik. Berlin 2002, S. 91-153. DERS.: Facetten mittelalterlicher Schriftkultur. Fiktion und Illustration. Wissen und Wahrnehmung (Beihefte zum Euphorion 51). Heidelberg 2006. ALASTAIR FOWLER: Triumphal Forms. Structural Patterns in Elizabethan Poetry. Cambridge 1970. LINDA GALYON: Puttenham’s Enargeia and Energeia. New Twists for Old Terms. In: Philological Quarterly 60 (1981), S. 29-40.

XVI. George Puttenham

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ROLAND GREENE: Fictions of Immanence, Fictions of Embassy. In: The Project of Prose in Early Modern Europe and the New World. Hrsg. von Elizabeth Fowler und Roland Greene. Cambridge 1997, S. 176-202. DAVID HILLMAN: Puttenham, Shakespeare, and the Abuse of Rhetoric. In: Studies in English Literature 36 (1996), S. 73-90. DANIEL JAVITCH: Poetry and Court Conduct. Puttenham’s Arte of English Poesie in the Light of Castigliones Cortegiano. In: Modern Language Notes 87 (1972), S. 865-882. ROSEMARY KEGL: „Those Terrible Aproches“. Sexuality, Social Mobility, and Resisting the Courtliness of Puttenham’s The Arte of English Poesie. In: English Literary Renaissance 20 (1990), S. 179-208. ALFONS L. KORN: Puttenham and the Oriental Pattern-Poem. In: Comparative Literature 6 (1954), S. 289-303. ROBERT MATZ: Poetry, Politics and Discursive Forms. The Case of Puttenham’s Arte of English Poesie. In: Genre 30 (1997), S. 195-213. HEINRICH F. PLETT: Elisabethanische Hofpoetik. Gesellschaftlicher Code und ästhetische Norm in Puttenhams „Arte of English Poesie“. In: Europäische Hofkultur im 16. und 17. Jahrhundert. Hrsg. von AUGUST BUCK u. a. Hamburg 1981, Bd. II, S. 41-50. [a] DERS.: Typen der Textklassifikation in der englischen Renaissance. In: Sprachkunst 12 (1981), S. 212-227. [b] DERS.: The Place and Function of Style in Renaissance Poetics. In: Renaissance Eloquence. Studies in the Theory and Practice of Renaissance Rhetoric. Hrsg. von James J. Murphy. Berkeley 1983, S. 356-375. DOROTHEE RÖLLI-ALKEMPER: Höfische Poetik in der englischen Renaissance. George Puttenhams The Arte of English Poesie (1589). München 1996. MARY V. SILCOX: Ornament of the Civill Life. The Device in Puttenham’s Arte of English Poesie. In: Aspects of Renaissance and Baroque Symbol Theory 1500-1700. Hrsg. von PETER M. DALY und JOHN MANNING. New York 1999, S. 39-49. ULRICH SUERBAUM: Das elisabethanische Zeitalter. Stuttgart 1989. VOLKHARD WELS: Imaginatio oder inventio. Das dichterische Schaffen und sein Gegenstand bei Puttenham, Sidney und Temple. In: Poetica 37 (2005), S. 65-91.

XVII. DER GEDICHTZYKLUS DES BALTHASSAR BONIFACIO: VISUALISIERUNGSSTRATEGIE ALS ZENTAURHAFTE UND PROTEISCHE KUNST Balthassar Bonifacio, 1586 in Rovigo geboren,1 besucht mit dreizehn bereits die Universität zu Padua und ist mit achtzehn im kirchlichen wie weltlichen Recht promoviert. Nach einem Aufenthalt in Deutschland als Sekretär des päpstlichen Nuntius kehrt er nach Venedig zurück, wird in Padua Professore humanitatis und in 1620 in Venedig Professore Institutionum. Durch Papst Urban VIII. erhält er das Archi-Diakonat zu Trevigo und firmiert 1632 als Director und Professor der neuen Ritterakademie zu Padua. Seine geistliche Karriere gipfelt im Bischofsamt von Capo d’Istria im Jahr 1653, in welchem er auch verstirbt. Neben philosophischen Schriften (De Animae Immortalitate, 1621; De Aristocratia, 1620) erscheint 1628 seine Urania, die sich mit figurierten und experimentellen Formen der Dichtung beschäftigt. Gewidmet ist dieses Buch dem venezianischen Senator Domenicus Molinus. Außer dem Widmungsschreiben sind hier einige besonders charakteristische Beispiele seiner Dichtung nebst Kommentar wiedergegeben.

–––––––––––– 1

Siehe zu Bonifacio allgemein ZEDLER (1961), 3, Sp. 618 und ADLER und ERNST (1990), S. 102.

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C. Frühe Neuzeit

Lateinischer Text aus: BALTHASSARIS BONIFACII Musarum libri XXV. Vrania ad Dominicum Molinum. Venedig 1628.

XVII. Balthassar Bonifacio

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Brief an Domenicus Molinus Domenicus Molinus, den Patron der Musen, grüßt Urania und wünscht Bonifacio Glück und Segen.

Wer auch immer zuerst diese Kunst erfunden hat, sei es, daß jener Simias von Rhodos oder Theokrit aus Syrakus hieß, die Kunst nämlich, vollen Gebrauch von der Verschiedenartigkeit der Verse zu machen und diese in bestimmte Gitter eingeschlossenen oder eher mit Halseisen und Fußfesseln gebundenen Verse zu verrenken und zu verdrehen und wie im Bett des Prokrustes bald zusammenzuziehen, bald auszudehnen, scheint von den alten Mythologen, wenn diese so genannt werden sollen und nicht besser, wie wir meinen, als Astrologo-Poeten bezeichnet werden müssen, die Erfindung empfangen zu haben, welche er sofort, nachdem er sie wie eine kleine Tochter geküßt hatte, für ein Wunder, für das größte aller Wunder gehalten hat. Und nichts anderes durfte von einem Mann erwartet werden, dessen Name dem des Affen2 so ähnlich war; und ganz notwendigerweise war sein Ingenium von den Affen nicht weit entfernt. Da diese durch den Spott der Natur wie die Scheusale unter den Menschen gebildet sind, von denen, wie Heraklit sagt, der schönste noch häßlich ist, lecken sie ihre Jungen, die von allen Lebewesen die häßlichsten sind; sobald sie diese geboren haben, umarmen sie sie, lächeln sie an, umkosen sie und setzen sie niemals vom Schoß ab. Wie aber jene Alten die Mythen in den Himmel versetzt haben und, indem sie bestimmte Sterne mit bestimmten Linien umgaben, dort einen Löwen, dort einen Stier, dort etwas anderes zu sehen glaubten, wodurch sie diese Tiere durch eine Apasterosis, oder, um es so zu sagen, eine Stellaficatio3 unter den Sternen verewigt haben: So hat uns Simias durch die passende Anordnung von kurzen und langen Versen mannigfaltige Figuren dargeboten, und diese würde ich schließlich, der ich so viele hundert Jahre später geboren bin, in den Himmel unter die poetischen Sterne versetzen und dabei keine unglücklichen Einflüsse und Eindrücke erwarten. Was die Tatsache betrifft, daß sich aber niemand darum gekümmert hat,

–––––––––––– 2 3

Lateinisch simia/der Affe. Der Begriff stellaficatio bedeutet wörtlich übersetzt zum Stern machen. Die Verwandlung mythischer Gestalten in Sterne ist seit der Antike geläufig; vgl. z. B. die Verwandlung der Ariadne bei OVID (2009), VIII, 169-182.

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sie zusammen mit ihren Eltern unter einer toten Poesie wieder zum Leben zu erwecken und vor uns nur wenige auch nur irgendein kleines Beispiel davon gegeben haben, will ich deshalb nicht wagen zu sagen, daß sie, durch die höchste und schier unbezwingliche Schwierigkeit dieser Kunst abgeschreckt, diesen gewaltigen und über das menschliche Ingenium weit hinausgehenden Kunstgriff nicht einmal in Gedanken zu begreifen vermochten, sondern, daß sie glaubten, daß dies ein ganz seichtes und eher, um es so zu sagen, kindisches Vergnügen sei, und Geschwätz und Nichtigkeiten dieser Art und törichte Einfälle von Leuten, die ihre Ferien schlecht nutzen, von denen, die etwas Gewichtiges zu tun haben, beiseite gelassen werden müssen. Was ist das nämlich anderes, als mit Versen Prosa in Verwirrung zu bringen oder mit Prosa Verse und dabei gute Stunden schlecht zu verwenden, das kostbare Erbgut der Zeit umsonst zu verschwenden, aus freien Stücken eine nutzlose Mühe auf sich zu nehmen und ohne zwingende Notwendigkeit durch Unebenheiten und Dornsträucher stürmisch einen steilen und schwierigen Weg einzuschlagen? Wir haben aber ferner, weil uns neulich der verderbenbringende Cupido bedrängte und uns nicht allein eine rasende Verrücktheit trieb, mit dem Schlechteren zu wetteifern, daß es nicht scheint, wir hätten nichts eigenes hinzugefügt, diese gemeinhin verbreiteten und schon abgenutzten Figuren von Simias und Theokrit4 übergangen und, indem wir uns etwas Ähnliches ausgedacht haben, das Ei durch einen Schild, die Syrinx durch eine Orgel, die Flügel durch Flügelschuhe, den Altar durch eine Säule und die Doppelaxt durch ein Beil ersetzt; nicht nämlich ist es ein Beil, was Theokrit5 einst entworfen hat, sondern eine Doppelaxt, die von beiden Seiten geschärft ist. Und diese Figuren, die aus dem Stegreif und aus der Gelegenheit heraus entstanden sind und welche am RAD DES MOLINUS wie am Himmel hängen, bringe ich Dir, Herr, dar; außerdem sind so viele Zugaben hinzugefügt worden, daß die Zugabe wohl weitaus reicher sein wird als die Zukost und die Last größer als der Sack. Diese poetischen Kleinigkeiten gebe ich Dir, Herr, nicht etwa deswegen, weil ich glaube, sie seien etwas wert, der ich doch sogar das, was von mir im Schweiße meines Angesichts verfaßt und lange ausgearbeitet worden ist, sobald ich es genug und übergenug poliert und gefeilt habe, zu verachten pflege; sondern damit du erkennst, daß die Nachahmung dieser kindlichen Übung nicht schwierig ist. Im übrigen aber, wenn der Spott des Hofes den Sohn der Kaiserin Livia, weil sie ihn im dritten Monat (nach der Hochzeit) geboren hatte, als 6.@A6 bezeichnete, wird sie unsere um so heftiger und auch viel eher zu Recht verspotten, die vor dem dritten Tag mehr als siebenfach gebärt. Nun aber setzen wir diese Monster, mehr tot als lebendig, aus, geben sie nicht heraus. Leb wohl! Treviso. 9.5.1627.

–––––––––––– 4 5 6

Simias von Rhodos (um 300 v. Chr.) verfaßte Umrißgedichte in Form von Doppelaxt, Flügel und Ei, Theokrit (1. Hälfte des 3. Jh. v. Chr.) eine Syrinx; siehe dazu ERNST (1991), S. 58-82. Die Doppelaxt stammt allerdings nicht von Theokrit, sondern von Simias von Rhodos. Leichtgeburt: Livia Drusilla (58 v. Chr.-29 n. Chr.), dritte Frau des Kaisers Augustus und Mutter des späteren Kaisers Tiberius (42 v. Chr.-37 n. Chr.) und des Drusus (38-9 v. Chr.), die von Augustus adoptiert wurden.

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XVII. Balthassar Bonifacio

Molinus, den Du nicht in die enge Seite kannst weben, Einzuschreiben Du strebst Sternen am Himmelszelt weit, Balthassar, doch Sterne sind zu kleine Tafeln noch immer, Und obwohl es nicht will, schränkst Dein Lied Du Dir ein. Laß es doch zu, daß über den Himmel Dein Lied sich verbreitet, Welches allein künden kann den so großartigen Mann.

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Der Autor bittet den Leser, eine gute Meinung zu hegen.

Maecenas

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legte Esel so ein, daß sie von den Feinschmeckern unter die Leckerbissen gerechnet wurden. Die Inder bringen die Keulen von Tigern und ganze Löwen auf den Tisch. Die Acridophagen8 rechnen Heuschrecken zu den Delikatessen. Man hat sicher festgestellt, daß Strauße selbst Eisen verschlingen. Aber auch Fliegen haben auf Gyaros9 und in Ägypten unter dem König Sethos10 Schwerter und Schilde angenagt. Wir haben auch gehört, daß ein spanischer Pyrgopolynices als Miles gloriosus,11 den die anderen Schauspieler aus Scherz Schreckbild nannten, auf der Bühne sich rühmte, er sei vom Kaiser Karl nicht schlecht aufgenommen worden, als er befohlen habe, ihm anstelle von Spargel Lanzen aus Eschenholz, für Tomaten Bleikugeln für die Schleuder, anstelle von Brot Eisenkugeln, anstelle von Fleischstücken Brustharnische und Helme und anstelle von Wein Barbarenblut beim Gelage zu bringen. Nicht anders reiche ich Dir, Leser, Segmente von Rädern, Ruinen von Türmen, den Schutt von Säulen, den Metallüberzug von Schilden, die Fasern von Herzen, die Häuser von Schnecken, die Zähne von Hacken und Sägen, die Lumpen einer Filzkappe, das Laub eines Zweiges,12 die Federn von Flügeln, Bruchstücke von Spindeln, Beilen, Leitern, Orgeln, Dreifüßen, Amphoren und Bechern, wie in einer Apexabo,13 oder in irgendeiner anderen Wurst, zum Verzehr dar. Ein wenig hart wird Dir diese Fleischspeise scheinen, und, wie Theophrast14 sagt, ;+{ d. h. hart, von welcher Art, wie Plato überliefert, diese Ackerfrüchte seien, die beim Tragen über die Hörner der Rinder auf die Erde fielen. Und warum sollten sie Dir nicht etwas hart erscheinen, die auch wir, die Köche und Meister dieses Mahls, äußerst hart gefunden haben?

–––––––––––– 7 8 9 10 11 12

13 14

Maecenas (70-8. v. Chr.), Freund des Augustus, Förderer der Dichter Vergil, Horaz und Properz. Wörtlich: Heuschreckenesser. Insel aus der Gruppe der Zykladen in der Ägäis, wegen ihrer Unwirtlichkeit ein beliebter Verbannungsort. Vermutlich Sethos I. (ca. 1323-1279). Pyrgopolynices, Städtemauererstürmer, Name des Miles gloriosus im gleichnamigen Stück des römischen Komödiendichters Plautus (ca. 250-184 v. Chr.). Der Begriff spathalium bezeichnet eigentlich eine Art Armband (griech.  -  |}j Das selten vorkommende Wort wird aber von Bonifacio offenbar im Sinne einer Schreibfeder verstanden, so in Figurengedicht XV, die alternativ auch als palma/Palmzweig oder calamus/Rohr bezeichnet wird. Apexabo bezeichnet eine Art Wurst. Theophrast (ca. 370-287 v. Chr.), Schüler und Nachfolger des Aristoteles.

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Wir wollen gestehen, daß gewiß kaum etwas an Gutem in diesen Speisebrettern ist außer dem Namen DOMENICUS MOLINUS und seinen Tugenden, mit denen wie mit Sternen dieser unser Himmel allenthalben erleuchtet wird; mit ihnen wird wie mit Blüten unser grüner Park geschmückt, denen schließlich wie den Gemmen unsere Embleme untergeschoben werden. Du wirst sie gewiß auch selbst als Gemmen bezeichnen, die aber in unseren Figuren wie in eisernen Ringen eingeschlossen sind. Wisse aber, daß eiserne Ringe einst in besseren Zeiten nicht nur nicht verachtet, sondern sogar goldenen und silbernen vorgezogen wurden. Denn Jupiter schenkte dem Prometheus einen eisernen Ring, und auch in Rom trugen die Senatoren und in Sparta selbst die Könige eiserne Ringe. Mit diesen beherrschten sie einen sehr großen Teil der Erde. Oh Wechselfälle des Geschicks! Damals hatten goldene Männer eiserne Ringe; wir Menschlein aus Blei oder eher welche aus Feigen tragen allenthalben goldene Ringe. Und deshalb muß auch das ein wenig aufmerksamer betrachtet werden, daß Hände mit eisernen Ringen das Gold Asiens geraubt haben und die lydische Macht gänzlich vernichtet haben; und nicht wären ihre Hände jemals von Barbaren auf den Rücken gebunden worden, wenn ein römischer Soldat nicht dreitausend goldene Ringe ins Lager gebracht hätte. Aber nunmehr wollen wir das, was unserem Vorsatz fremd ist, beiseite lassen und ein wenig über die Lehre der Carmina sprechen […]15

–––––––––––– 15 Bonifacio läßt eine Auflistung von verschiedenen Versmaßen folgen, auf die im Resümee eingegangen wird.

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Balthassar Bonifacio Vrania.

I. An die Muse.

Goldener Spruch des thebanischen Dichters wird überliefert, Durch den allein der Lyrikerfürst es schien zu verdienen, Daß der Große Theben verschonte;16 wer einst war der Größte, Wäre vielleicht es in Zukunft geblieben, wenn dies er beachtet: STERBLICHEN (nämlich sagt jener) STEHT NUR DAS STERBLICHE WOHL AN. Freilich steht das Göttliche wohl an den Göttern. Das Menschlein, Nur ein Würmchen, das kriecht auf dem Boden, frech und verwegen, Gottlos, was soll nach den Sternen es streben, Gestirne anstoßen, Was mit dem Geist den Himmel durchdringen, mit dem Sinn noch den Äther, Was mit dem Finger den Mond, mit dem Scheitel die Sonne berühren? Also passen zu Dir, Urania, die nur Du von den Musen Hast einen himmlischen Namen,17 zur Himmlischen himmlische Dinge; So von den Himmlischen nur Du MOLINUS kannst rühmen, Welchen als einzigen Mann das Geschick den Sterblichen schenkte An der Stelle des Zeus. Wenn Du aber redest, oh Göttin, Darf nicht halblaut reden der Momos18 noch öffnen den Mund nur. Dennoch tönt jener und nimmt sich zum Beispiel Salmoneus töricht, Oder auch Gaius, welchen das Lager Caligula nannte, Donnert gewaltig und tost und ahmt mit dem Blitz seiner Zunge Nach den schrecklichen Klang des Gewitters auf dem Olympos.19

–––––––––––– 16 In der Schlacht von Chaironeia (338 v. Chr.) gegen Philipp II. von Makedonien und seinen Sohn Alexander unterlagen Athen und Theben, wurden aber von den Siegern verschont. Auch nach der Niederschlagung des Aufstands in Theben (335 v. Chr.), welche die Zerstörung von Theben zur Folge hatte, verschonte Alexander der Große das Haus des Lyrikers Pindar (520-445 v. Chr.). Nach Alexanders Tod (323 v. Chr.) zerfiel sein Reich in die verschiedenen Nachfolgestaaten, die sog. Diadochenreiche. 17 sp.jist der Himmel, die Muse Urania also die Himmlische, daher in besonderer Weise für Astronomie zuständig. 18 3! , der personifizierte Tadel, steht für einen übelwollenden Kritiker, gegen den sich auch das übernächste Gedicht wendet. 19 Der Göttersitz auf dem Olymp und somit der des Göttervaters Zeus, der auch für die Gewitter zuständig war. Salmoneus, der Bruder des Sisyphus, wollte sich Zeus gleichstellen, verlangte göttliche Opfer und wurde deshalb vom Blitz erschlagen. Göttliche Verehrung verlangte auch der Kaiser Caligula (37-41 n. Chr.), der von seiner Leibwache ermordet wurde.

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II. An den großen Weisen des höchsten Rates, Domenicus Molinus.

Dessen nichtige Mühen zu wiederholen ich scheine, Der gab die Ilias heraus, in eine Nußschal’ gefügt. In allzu kleinen Räumen und durch die Figuren beenget, Presse die Tugenden ich, großer MOLINUS, von Dir: Wahnsinn, da ich bisher nicht gelernt, was von einem Meister, Wenn die Natur es lehrt, jeder zu lernen vermag, Daß der großen Dinge die kleinen sind nicht teilhaftig Und allen Dingen man muß geben geeigneten Raum. Typhos Rechte berührt Boreas, die Linke der Auster,20 Sol21 aufgehend das Haupt, untergehend der Fuß. Doch Deine Tugend jetzt, die größer als jeder Gigant ist, Geht über Sterne hinaus, wird nicht gefaßt von der Welt. Ist sie auch so und so groß, wird sie doch in ein so kleines Büchlein Ganz hinein gepreßt wie in die Karte die Welt. Was als der menschliche Geist ist geringer, als die Gottheit noch größer? Doch faßt dies unser Geist, wie er’s auch immer vermag.

–––––––––––– 20 Typhos bezeichnet einen Wirbelwind, während es sich bei boreas um den Nordwind und bei auster um den Südwind handelt. 21 Sol bezeichnet die Sonne. Der geographische Rahmen, der zuvor durch die Winde (Nord- und Südwind) gesteckt wurde, wird hier durch Sonnenauf- und Sonnenuntergang um Osten und Westen erweitert, so daß die Tugenden des Molinus den ganzen Erdkreis in jeder Himmelsrichtung erfüllen.

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III. Gegen den Momos22

Als ungestaltet und neu und doch nicht ganz ohne Musen War einst die Welt, Momos, neun Musen es gab. Der Kalliope Sproß, der Dichter Orpheus, bald fügte, Da sie ihm gut bekannt, noch vier weitre hinzu. Diesem eiferte nach und wollte dreizehn Gestirne Galilei, wo ’s nur sieben gab, Momos, vorher. Nun vermehrte erneut ein Galilei23 die Menge Auf die doppelte Zahl, vierundzwanzig er schuf. Siehst Du, wie gut es paßt zu Astrologen und Dichtern? Offenbar, weil wir sind beide ätherischen Stamms. Da wir aber der Vorfahren heiligem Beispiel gefolgt sind, So viele, wie es beliebt, Musen zu nennen, ist recht. Fünfundzwanzig schufen wir neulich: Wer kann jedoch wissen, Ob nicht jemand einst glaubt, dies sei kaum wohl genug. Denn ein Teleskop von wunderbarer Wirkkraft wir haben, Das macht Kleines ganz groß und aus Wenigem viel. Wenn Du das Teleskop an die blinden Augen Dir setztest, Würdest, oh Wunder, auch Du werden ein Lynceus24 gar. Umherirren läßt Du die Sterne, doch bei einem Irrtum von uns aus Machst Du aus wenigem viel, Größtes aus kleinstem Beginn.

–––––––––––– 22 Wie im ersten Widmungsgedicht ist der personifizierte Tadel, also ein besonders übelwollender Kritiker, gemeint. 23 Galileo Galilei 1564-1642, der durch die Konstruktion eines verbesserten Teleskops (1609) u. a. die Jupitermonde entdeckte. Bonifacios Werk ist noch vor dem Prozeß des Inquisitionsgerichts gegen Galilei (1633) erschienen, so daß der Name Galilei hier durchaus positiv konnotiert ist. 24 Lynceus (etwa Luchsauge), einer der Argonauten, gilt im Mythos als Beispiel eines Menschen, der einen besonders scharfen Blick hat; vgl. z. B. OVID (2009), VIII, 304.

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IV. Einem Manne, der jedes Lob übertrifft, Domenicus Molinus.

Dem, wem als Autor

25

die strömende Rede nicht wird gehalten Weder von Mauer noch Damm, geht, wohin es beliebt. Doch auf zu schmalem Pfad ist in Sprachlosigkeit nun zu gehen Über der Berge Joch für uns Poeten der Zwang, Da wir, das Sklavengeschlecht, wohl mit freien Füßen nicht können Durch die Leere hindurch suchen unseren Weg. Unsere Kunst wir beklagen immer, wenn wir Dir schreiben. Kein Vers nämlich faßt uns den Namen des Herrn. Des berühmten Geschlechts Cognomen inzwischen wir nehmen, Während von uns nun Dein Lob, großer Molinus, erklingt. Doch ein Cognomen,26 wenn’s dem großen Namen sich anhängt, Von seiner Würze durchaus nimmt ein Großteil wohl auf. Nicht erträgt es der Name, in Fesseln gehalten zu werden, Sei es in einem Raum oder durch ein Gesetz. MOLES läßt es nicht zu, aus ihm MOLINUS27 zu hören. Und nicht endet MOLA,28 daß MOLINUS Du bist. Daß jedoch nicht der doppelte Ursprung des Namens Dich täuschet, Schön unser Griffel bezwingt von jedem Wort seinen Stamm. Wenn mit der MOLA des Himmels er MOLES29 nun füglich verbindet, Ein MOLINUS entsteht, Du wirst MOLINUS dann sein.

–––––––––––– 25 Der Begriff scriptor/Schriftsteller, Autor meint hier wohl den Prosaschriftsteller bzw. den Redner im Gegensatz zu den Dichtern/vates, von deren infacundia/Mangel an Beredsamkeit angesichts der Anforderungen elaborierter figurativer Dichtungsgattungen im nächsten Distichon die Rede ist. 26 Der Bei- bzw. Nachname Molinus. 27 Der Begriff moles bezeichnet Masse, Kraft, Wehr, das Adjektiv molinus das, was zum Mahlen gehört; das italienische molino bedeutet wie lateinisch molina Mühle. 28 Mola ist der Mühlstein bzw. die Mühle. Die Rota Molina, in der die einzelnen Figurengedichte umfaßt werden (Carmen I), kann auch im Sinne eines Mühlrades gedeutet werden. 29 Die Mühle wird mit der gewaltigen Masse des Himmels verbunden.

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C. Frühe Neuzeit

Lateinischer Text aus: BALTHASSARIS BONIFACII Musarum libri XXV. Vrania ad Dominicum Molinum. Venedig 1628, Carmen I.

XVII. Balthassar Bonifacio

ROTA MOLINAE Umschrift: 1. Moline, cvi sacra facivnt, vti Appollini, Mvsae novem. Molinus, dem wie Apoll die neun Musen darbringen Opfer. Turris Turm, Clipevs Schild, Colvmna Säule, Talaria Flügelschuhe, Clepsydra Wasseruhr, Fvsvs Spindel, Organvm Orgel, Secvris Beil. 2. Gens tva, quae gentes fama super eminet omnes. Dein Geschlecht, das an Ruhm überraget alle Geschlechter. Scala Treppe, Cor Herz, Tripvs Dreifuß, Pilevs Filzkappe, Rastrvm Hacke, Spathalion Federkiel,30 Amphora Amphore, Calix Pokal. 3. Si qvot habet Coelvm, Sidera quotque deos. Wenn der Himmel so viel wie Sterne an Göttern, Speichen: 4. Persimiles diis, sind sie den Göttern sehr ähnlich. 5. Semideos fert, bringt er Halbgötter hervor. 6. Convenit illam paßt es zu jener (Muse), 7. Coelvm Dicere Den Himmel zu nennen. 8. Vestra, Moline, Eures, Molino, 9. Vna Rotarum als eines von den Rädern 10. Solis, eodem der Sonne, mit demselben 11. Lvmine fulget Licht glänzt. [I]

–––––––––––– 30 Eigentlich Armband.

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Lateinischer Text aus: BALTHASSARIS BONIFACII Musarum libri XXV. Vrania ad Dominicum Molinum. Venedig 1628, Carmen IIX.

XVII. Balthassar Bonifacio

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O

R

G

E

Die Lateiner nennen

Das nach dem griechischen Wort

Sternen, Molinus, ein geschmücktes Geschenk dar,

Und die neun Musen bringen Dir nun mit ebenso vielen

Ktesibios35 aber weihte dem Herrn des Meers seine Flöte,

Orpheus34 die Lyra, mit der er besänftigt der Unterwelt Monster,

Amphion dem Phoebus die Kithara, mit der er die Steine bewegte,

der Maeonide33 dem Mars, der die Waffen bewegt, die Tuba,

der reizende Anakreon32 dem Knaben Cupido,

dem Pan seine Syrinx,31 seine Laute

Theokrit widmete

ABB. IIX

L

–––––––––––– 31 Die Syrinx hier ist doppeldeutig: Sie steht als Musikinstrument sowohl für die Hirtendichtung des Theokrit (erste Hälfte des 3 Jh. v. Chr.) als auch für sein Umrißgedicht in Form einer Syrinx. Der Dichterkatalog wird also mit einem der ältesten Vertreter oder sogar mit dem Archegeten figurativer Dichtung begonnen. Zum Syrinxgedicht des Theokrit siehe ADLER und ERNST (1990), S. 30. 32 Die Gedichte des Anakreon (6. Jh. v. Chr.) behandeln Themen wie Liebe, Wein und Lebensgenuß und sind in verschiedenen Versmaßen verfaßt. 33 Homer (8 Jh. v. Chr.), unter dessen Namen Ilias und Odyssee überliefert sind. 34 Amphion und Orpheus sind mythische Dichter; während Amphion durch sein Lyraspiel Steine dazu brachte, die Mauern Thebens zu errichten, stieg Orpheus in die Unterwelt hinab und bewegte Pluto, ihm seine verstorbene Gattin Eurydike zurückzugeben. 35 Ktesibios (2. Jh. v. Chr.) aus Alexandria wird die Erfindung der Wasseruhr (Klepsydra), einer Pumpe sowie der Wasserorgel (Organon) zugeschrieben.

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Lateinischer Text aus: BALTHASSARIS BONIFACII Musarum libri XXV. Vrania ad Dominicum Molinum. Venedig 1628, Carmen XIIX.

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BECHER36 Über Dich sprechen wir, Dich führen wir immer im Munde. Freilich trinken wir immer, sehr großer Mann, auf Deinen Namen: Die ersten (Becher) zuerst Dir unter ausgewählten Freunden, Andere Becher werden dem mildtätigen Herren gegeben, Opfere die dritten dann dem Jupiter, unserm Servator. Und Dir drei mal drei, dem großen, höchst edlen Molinus. Diesen Becher Herkules brachte jener wackere Trinker Auf dem Rücken der siebenköpfigen Schlange,37 Wert einer Krone, aber einer von Sternen. Mir gab er ihn, der in Sternen achtfach erglänzte, Und trug mir auf, zu leeren ebenso viele Becher Bis auf den Grund. Nun fünfmal am Tage Trinke ich, nüchterner Mann! Jedoch heute Werde ich achtmal gierig verschlingen Und will trinken des Bechers Sterne Und die Buchstaben, die an Zahl gleich Den Sternen, Herr, die Deines Namens. Auch Du nun benetze Mit dem süßen Nektar Deine heiligen Lippen. Auf, laßt heiter uns trinken, Und mit dem Kranz stehe der Becher umwunden, Überall sei unvermischter Wein nun! Auf Dein Heil und auf Deine Ehren wollen wir Trinken: Alle Sparsamkeit sei aufgehoben jetzt, und Schlüpfrig der Boden soll vor Feuchtigkeit triefen. Auf, laßt heiter uns trinken! Apollon selbst Gießt aus die Wasser Des glücklich machenden Nektars. Aber wenn weiter wir noch gar ausgiebig trinken, Werden den Schlaf wir holen herbei, und dann auch die Feder Schweigend wird uns den Händen entwinden tiefer Schlaf, der Über die Augen kriecht. Wohl trink, Herr, schlafe und lebe!

–––––––––––– 36 Das Umrißgedicht in Form eines Bechers visualisiert die typische Thematik anakreontischer Lyrik und verbindet sie mit der Enkomiastik auf Molinus. 37 Die Tötung der vielköpfigen Hydra ist die zweite der zwölf Arbeiten des Herakles, die er für den König Eurystheus verrichten muß. Zusammen mit ihrem Gehilfen, dem Krebs, der Herakles im Kampf in den Fuß biß, wird die Hydra von der Göttin Hera an den Himmel versetzt (Sternbild des Krebses).

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C. Frühe Neuzeit

Lateinischer Text aus: BALTHASSARIS BONIFACII Musarum libri XXV. Vrania ad Dominicum Molinum. Venedig 1628, Kommentar und Carmen XIX.

XVII. Balthassar Bonifacio

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Dem großen Manne, Domenicus Molinus, Balthassar Bonifacio. S.D.

Uns, dem Erfinder dieses Carmen figuratum, Herr, schien es so, daß wir keineswegs unser Ingenium genügend gemartert haben. Deshalb erprobten wir mutigeren Sinnes eine neue Gattung von Folterpferdchen in diesem Carmen figuratum, das von den Griechen vielleicht Schematostichis38 genannt würde; und gleich als ob wir im Werkhaus einen Kerker eingebaut hätten, haben wir den Türen dieses Werkchens ein Akrostichon wie Pfosten vorangestellt und nicht ein einfaches und ungeschicktes, wie es einst Plautus oder noch weit davor die Sibylle39 verfaßten, sondern ein doppeltes, das von beiden Seiten her durch die Großbuchstaben ein und dasselbe Wort ausdrückt.40 Die Schwierigkeit dieser Sache wird spüren, wer auch immer es versuchen will: So pflegt es nämlich vollends zu geschehen, daß wir glauben, daß es schön ist, vor allen übrigen hervorzuragen, gerade wenn es sich widersetzt und widerstrebt. Ich habe also gemacht oder wenigstens versucht, was nach Vergil jener Akestes41 gemacht haben soll. Freilich war er, als der eine im Wettkampf den Pfahl der Taube, an den der Vogel angebunden war, mit dem Pfeil durchschossen, ein anderer den Strick, womit jene angebunden war, getroffen, ein anderer sie, als sie in die Luft flog, durchbohrt hatte, ohne Hoffnung auf den Sieg, damit er dennoch nicht umsonst teilgenommen zu haben schien: schleuderte er das Geschoß hinauf in ätherische Lüfte, zeigte zugleich seine Kunst wie auch den surrenden Bogen.42 Doch obwohl er in die Luft geschossen hatte, war seine Mühe nicht vergeblich, und er entriß die Siegespalme den Konkurrenten mit schicksalhaftem Glück. Denn im Flug fing Feuer der Pfeil in den flüssigen Wolken, und seinen Weg durch Flammen bezeichnend auf er sich löste

–––––––––––– 38 Dieser Begriff ist eine Neuschöpfung von Bonifacio, er bedeutet so viel wie figurierte Verse oder Figurengedicht. 39 In der handschriftlichen Überlieferung sind den Komödien des Plautus (ca. 250-184 v. Chr.) Inhaltsangaben vorangestellt, die den Titel der jeweiligen Komödie in Form eines Akrostichons enthalten. Die ursprünglichen, in Rom aufbewahrten sibyllinischen Orakelbücher wurden im Jahre 400 n. Chr. vernichtet. Unter dem Titel der sibyllinischen Orakel firmiert eine Sammlung von 4200 Hexametern aus dem 5. Jh. n. Chr. Sie enthält ein Akrostichon, das auf Christus deutet. 40 Diese Kombination von Akrostichon und Telestichon trennt zweisilbige Wörter und verteilt ihre Silben auf Versanfang und Ende. 41 König von Eryx (Sizilien), der Aeneas und seinen Gefährten freundliche Aufnahme gewährte. 42 VERGIL (2005), V, 520f.

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in dünne Winde hinein, als er gänzlich verbrannt war.43---------Weder war es uns genug, bis hierhin fortgeschritten zu sein, noch vermeinte unser Ehrgeiz, hier haltmachen zu dürfen; aber es bereitete Freude, weiter zu gehen und nicht nur für sich einen Kerker zu errichten, der mit noch größeren Schwernissen verbunden ist, wie Pythagoras sagte, sondern auch nach Art der Seidenraupe sich mit einer ganz engen Hülle und Decke zu umschließen wie mit einem Sack und sich dann, als ob wir Vatermörder wären, selbst einzunähen.44 Kein Wunder also, daß wir am Ende des Werkes nicht weniger als am Anfang zu leiden schienen. Wir haben also unsere URANIA mit dieser Figur beschlossen,45 die feststehend und von guter Vorbedeutung ist und von einer Fertigkeit mit äußerst günstiger Vorbedeutung, eine Figur, welche WÜRFEL genannt wird: An dieses Gesetz blieben wir gebunden, aus dem ersten und letzten Wort eines jeden Verses einen vollständigen Satz zu machen. Es ist eine Kunst, die von den Alten schon skizziert und begonnen, aber niemals bis zum heutigen Tage vollendet worden ist und deren Namen mit Beispiel sich schon bei Athenaeus findet.46 Jedoch sind jene Alten teils von ihrem Ziel abgeirrt, teils haben sie nur die äußersten Ränder gelesen, manche haben vielleicht fast den Nabel berührt. Wir aber stecken, wenn kein Platz für unseren Schuß übrig zu sein scheint, vorher die Arena für den zielsicheren Pfeil ab, setzen einen zweiten Bogen auf den ersten und Punkt auf Punkt, und streben denjenigen, der das Ziel gesetzt hat, zu übertreffen und führen Linie zu Linie und wetteifern so mit Protogenes und Apelles.47 Die Alten verfaßten nämlich nur einzelne Verse und verbanden dabei die letzten mit den ersten Silben und bildeten so den Namen eines Gefäßes oder einer Speise oder irgendeiner Sache nach. Um des Wortes willen: BRav der Veneter Stadt liebt’ den Frieden, freiheitlich sie sich bOT WEnn sie nun hat gesiegt über die Adria hIN. Wenn Du die letzten Silben des Distichons mit den ersten verbindest, ergibt sich PANIS & VINVM / BROT & WEIN. Aus mehreren Versen, die ein Bild und die Form einer Sache präsentieren, aber zugleich alle ersten und letzten Silben herauszupflücken und aus ihnen einen vollständigen Satz zu bilden, das haben wir als erste versucht, und in dieser Gattung des   ~ hat vor uns niemand gedichtet. Treviso, am 21. Oktober 1627.

–––––––––––– 43 VERGIL (2005), V, 525-528. 44 Das Säcken als Hinrichtungsart ist etruskischen Ursprungs und wird von den Römern als Strafe für Vatermord übernommen. Der Deliquent wird – oft zusammen mit Tieren wie Schlangen, Hunden, Affen – in einen Sack gesteckt und ins Wasser geworfen. Vgl. SCHREIBER (1965), 127. 45 Der Würfel bildet den Sockel der Rota Molina: siehe die Abbildung auf der folgenden Seite. 46 Im Gelehrtengastmahl des Athenaios (3. Jh. n. Chr.) finden sich ausführliche Zitate zu manieristischen Dichtungsformen. 47 Mit Protogenes (um 300 v. Chr.) aus Kaunos in Karien und seinem Zeitgenossen Apelles, dem Hofmaler Alexanders des Großen, sind zwei der berühmtesten Maler der Antike angeführt. 48 Der Begriff +   kann sowohl für den Schluß stehen als auch für die Vollendung. Der Intext bezieht Anfang und Ende des Verses mit ein und ergibt zugleich ein vollständiges Distichon.

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WÜRFEL Der Urania Himmel mit Wolken vermag nicht zu bedecken, Noch einem so großen Herren hart sich zu zeigen des Schicksals Große und mächtige Göttin, obwohl sie alles bezwinget. Gütig wohl das Gesicht wird zeigen ihm ihre Hoheit Und überlassen dem Manne die Fasces49, dem hier ist gegeben Vorsitz und Rute; von dem der Senat wird nehmen Bescheide; Daß von Apollon je bessere kamen, wird er dann leugnen. Diesem wird wohl das gute Geschick mit ganzer Kraft helfen, Diesmal will scheinen es fest und bleiben ihm immer gewogen Und sich entreißen nicht lassen aus seiner festen Umarmung. Ist’s auch der Augen beraubt,50 sieht doch es das Licht, will nichts lieber Als daß der Veneter Stadt wie den Globus mit dem Fuß tritt den Würfel, Und diesen Sockel will’s niemals verlassen noch könnte wohl jemals Irgendein Ort ihm lieber wohl sein, wohin sich begeben Jupiters Sorge in Eile, um Beistand Venedig zu leisten.

Intext: ZUR GROSSEN HERRIN DIE STADT MACHT HÖCHSTE TUGEND DES HÖCHSTEN MANNES, DESSEN NAME SO GROSS, DAß KEIN WÜRFEL IHN FASST.

–––––––––––– 49 Die fasces/Rutenbündel sind seit römischer Zeit die Zeichen der höheren Amtsgewalt. 50 Das Schicksal bzw. die personifizierte Schicksalsgöttin, Fatorum Dea, ist traditionell blind.

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Lateinischer Text aus: BALTHASSARIS BONIFACII Musarum libri XXV. Vrania ad Dominicum Molinum. Venedig 1628, Kommentar und Carmen XX.

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Einem Mann von schärfstem Urteilsvermögen, Domenicus Molinus, Balthassar Bonifacio. S.D.

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ch zweifelte aber nicht daran, daß meine URANIA von denjenigen geprügelt würde, welche es vermögen, sogar den Himmel mit dem erhobenen Finger zu berühren. Und ich habe schon von Anfang an öffentlich erklärt, daß das, was mir gefallen hatte, mißfallen würde, und die Strenge derer verflucht, die alles nach dem Lineal bemessen. Wozu wollen sie denn, daß Vorschriften und Regeln von jenem Dichter eingehalten werden, welcher, da er frei ist und ; " ,€u allein diese Regel zu haben scheint, daß ihm – seiner Meinung nach – keine Regel vorgeschrieben ist. Wenn nämlich Lukian glaubt, daß selbst ein Historiker ;.  € sein muß, wieviel mehr muß man dann einem Dichter erlauben, dessen Möglichkeit viel weiter und freier ist, daß er nicht die Gesetze anderer, sondern nur seine eigenen Gesetze benutzt? Oft behandelt und verbreitet ist jenes Zitat:

–––––––––––– 51 Der Dichter ist ; " /von Sinnen, wohl eine Reminiszenz an die Auffassung von Dichtung als Mania/Verzückung. 52 LUKIAN (1965), 41. Die Autonomie des Historikers wird von Bonifacio hier literarisch aufgefaßt: Er muß nicht nur unabhängig sein, sondern gehorcht auch bei der literarischen Darstellung eigenen Regeln.

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Maler und Dichter Konnten, was immer beliebt, in gleicher Weise stets wagen.53 Wir aber können uns einer doppelt so großen Möglichkeit bedienen, da wir in diesem Werk zugleich Dichter und Maler sind. Wenn, wie Naso sagte, Ins Unermeßliche steigt in der Rede die Freiheit der Dichter,54 kann mehr als unbegrenzt die Freiheit für uns sein, die wir gemalte Poesie vorführen. Schließlich ist dieses Poem nicht ein Monument unseres Fleißes, sondern unserer Untätigkeit; nicht Sproß der Kunst, sondern des Müßiggangs, keine Nachtarbeit, sondern ein Traum, keine Mühe, sondern Entspannung, kein Werk, sondern Muße. Cato55 meinte, daß man auch darauf Mühe verwenden müsse. Das bedeutet, daß die Muße, wie Ennius56 es geistreich formuliert hat, sogar arbeitsreicher als die Zeit der Beschäftigung sei, und wie Scipio57 niemals weniger einsam, als wenn er allein war, so haben wir niemals mehr zu tun, als wenn wir Ferien haben. Sogar Catos schroffe Strenge pflegte, wie sie gestand, dem Ingenium Erholung zu erlauben und den Schriftstellern ihre Spielereien nachzusehen. Wenn Du dennoch willst, Herr, daß ich Rechenschaft ablege, nimm eine Entschuldigung dieser Art an, daß bei jenen, die uns bekrittelt haben, wenigstens irgendeine Begründung für unser Handeln vorliegt. Richtig sagt Platon:58 Vieles Bittere ist sogar den Göttern geschehen wegen der Macht der Notwendigkeit: Als einzige übt nämlich gegenüber allen Göttern eine herrschsüchtige und gewalttätige Herrschaft die Notwendigkeit aus. Wie werden denn wir Menschlein, die wir aus Lehm gebildet sind – und mit was für einem Unterhändler – gegen sie kämpfen? Wer nämlich ist von solcher Dummheit oder Schamlosigkeit, daß er leugnet, daß ich, von reiner und blanker Notwendigkeit gezwungen, diese Schemata mit so vielen Genera von Versen angefüllt habe? Denn wie bei den Körpern der Lebewesen es nicht dieselbe Dicke und Länge der Glieder geben kann, sondern es – meiner Meinung nach – unumgänglich notwendig ist, daß der Kopf länger ist als der Hals und die Hand kürzer als der Arm, so war es ganz und gar nötig, daß bei jenen meinen Figuren die engen Teile aus kurzen Metren bestehen und die weiten mit längeren ausgefüllt werden. Diese in der Tat äußerst natürliche Verteidigung dürfte wohl jeden Richter zufriedenstellen: Niemals hat man nämlich davon gehört, daß durch einen Richterspruch eine unfreiwillige Handlung bestraft worden ist:

–––––––––––– 53 HORAZ (1984), 9f. 54 OVID (1999), III, 12, 41. Der lateinische Text muß wohl Exit in inmensum f[e]cunda licentia Vatum lauten; vgl. die Ausgabe von Kenney: OVID (1961), S. 96. 55 Marcus Porcius Cato Censorius (234-149 v. Chr.) galt schon in der Antike als Musterbeispiel des sittenstrengen Römers. Sein Geschichtswerk Origines ist bis auf Fragmente verloren, erhalten ist nur seine Schrift Über den Ackerbau. Vgl. zum Zitat: CICERO (2002), 66. 56 Ennius, 239-169 v. Chr., Verfasser des Epos Annalen, das bis zur Aeneis des Vergil als römisches Nationalepos galt. 57 Scipio der Jüngere (185-129 v. Chr.), der Zerstörer Karthagos, der den sog. Scipionenkreis aus philhellenischen Intellektuellen um sich scharte. 58 Das Zitat des Dichters Simonides (ca. 556-468 v. Chr.) erscheint mehrfach bei PLATON (427347 v. Chr.): z. B. Protagoras (2008), 345d; Gesetze (1974), 741a und 818a.

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Allgemein verbreitet ist jener Scherz gegen bestimmte Leute, die unerfahren im Recht sind, sich aber deshalb rechtskundig dünken, weil sie sich gleichsam am Laub des Lorbeers vom Fuße des Helikons59 geweidet und aus der Pferdetränke getrunken haben oder eher, von einem Zauberstab berührt, aus einem Gymnasium in Padua plötzlich als Doktoren auftauchen: Wir sagen nämlich, daß diese Notgenossen der Notwendigkeit sind, die, weil sie außerhalb des Gesetzes steht, durch kein Recht gebunden wird. Was ist aber, wenn ich zeige, daß es abgesehen von der Notwendigkeit durchaus erlaubt ist, noch mehr metrische Formen, als wir es getan haben, in einem einzigen Poem zusammenzubringen? Das bezeugt der Philosophenfürst in dem Buch, daß er über die Dichtkunst verfaßt hat, daß nämlich Chairemon sein Poem, dem er den Namen Zentaur gab, aus allen Arten von Metren zusammenfügte.60 Und ein Buch von ganz und gar dieser Form, das er deswegen   nannte, verfaßt zu haben, rühmt sich Diogenes Laertios in der Vita Solonis.61 Wie Aristoteles aber meinte, daß Chairemon in keiner Weise um den Namen Dichter gebracht werden dürfe, so wäre er, wenn ich mich nicht täusche, der Auffassung gewesen, daß weder das   des Diogenes Laertios noch unsere Urania im Album der Poeme gerechtfertigt werden müßten. Applaus würde auch Theramenes spenden, der wegen der Veränderlichkeit seines leicht beweglichen Ingeniums Kothurn genannt wurde.62 Zustimmen würde auch Metiochos, der als einziger als alles bezeichnet wurde. Vollkommen beipflichten würde auch Apollonios, der sich rühmte, von Proteus63 gezeugt worden zu sein, der sogar überaus glänzend vorspiegelte, daß er selbst Proteus sei. Wenn dennoch jene Kritiker das Poem in der gleichen Weise wie die Apologie verdammen, wollen wir uns in keiner Weise mit ihnen aufhalten; nicht nämlich schreiben wir für sie, sondern nur für dich, Herr, und wünschen Dir zu gefallen. Wir glauben auch nicht, daß ihre Sophismen mit dem Beil des Phokion64 gespalten, sondern mit der Säge, die wir unten angeführt haben, zerschnitten werden müssen. Treviso. 12. November 1622.

–––––––––––– 59 Der Berg Helikon ist einer der bevorzugten Aufenthaltsorte der Musen; der Lorbeer ist ursprünglich der Preis für den Sieger bei den Pythischen Spielen, zu denen auch Dichterwettkämpfe gehörten. In der Renaissance lebt der Brauch der Dichterkrönung wieder auf; 1331 wird Petrarca zum Poeta laureatus gekrönt. 60 ARISTOTELES (1994), 1447b. 61 DIOGENES LAERTIOS (1999): 1, 39 (Vita Thalis) und 1, 63 (Vita Solonis). 62 Einer der dreißig Tyrannen in Athen nach Ende des peloponnesischen Krieges; 404 v. Chr. von den Hardlinern unter Kritias ermordet, wurde er wegen seiner gemäßigten Haltung als Kothurn bezeichnet; vgl. XENOPHON (1988), 2, 3, 30f. 63 Meeresgottheit mit Weissagekraft, die die Fähigkeit besitzt, sich in verschiedene Gestalten zu verwandeln. 64 Phokion, athenischer Politiker des 4. Jhs. v. Chr.

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SÄGE GEGEN ZOILOS65. Zoilos, eine Säge bist Du. Dich meine Feile Schärft, die glättet sonst nur. Neidisch Du knirschest Stets mit Den Zähnen und zischst, Grummelnd nur brummend. Doch Dich zerschnitt mittendurch Der größte Heros, Eine Säge, viel besser Als Deine Zähne. Auf seinem Wege zerbricht Jener das Harte, Dringt in Unwegsames ein, Unebenes ebnet, Steiles Gebirge er bezwingt, Berühret die Sterne. Jener durchschneidet, Zoilos, die Knoten Wie Alexander,66 Die nicht zu lösen: Dieselben Wege Geht er stets wieder Hin und zurück, doch Aufrecht er bleibt auf Einzigem Weg nur. Einst eine Säge, Zoilos, Du warest. Nun bist in Kürze Frucht Du der Säge.

–––––––––––– 65 Zoilos, der bereits die Epen des Homer (8. Jh. v. Chr.) getadelt haben soll, steht hier für einen kleinlichen Kritiker. Die Metrik des Gedichtes (Hexameter bis Penthemimeres -uu, -uu, - und Adoneum -uu, -x im Sägeblatt) ahmt rhythmisch das Geräusch der Säge nach und läuft in gleichmäßige Adoneen aus. 66 Reminiszenz an die berühmte Episode vom Gordischen Knoten, der nur vom künftigen Herrscher Asiens gelöst werden kann. Alexander der Große zerschlägt ihn 334 v. Chr. mit dem Schwert.

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Lateinischer Text aus: BALTHASSARIS BONIFACII Musarum libri XXV. Vrania ad Dominicum Molinum. Venedig 1628, Kommentar und Carmen XXI.

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Dem Vater des Vaterlandes Und Patron der Wissenschaften Domenicus Molinus Balthassar Bonifacio. S. D.

Es wird aus Frankreich berichtet, daß der Sohn von Heinrich dem Großen

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, Ludwig der Gerechte , in der Provinz, die Iulius Caesar Armorica, die neueren in der Volkssprache Bretagne nennen, bei jener Küstenstadt, die auf Italienisch Morliano, auf Französisch Morlaix genannt wird, begonnen habe, einige kleine Inseln, die aneinandergrenzen, mit Brücken zu verbinden, so daß wir eine im Meer gelegene Stadt, eine Konkurrentin für Venedig, aus dem bretonischem Meer sich erheben sehen, gleichsam eine neue s . +69. Man sagt, daß dort dreihundert Inseln seien, von allen Seiten mit steilen Klippen umsäumt, und ein Hafen, der tausend Trieren70 fasse. Der Umfang des gesamten Inselreiches sei derselbe, den einst Babylon, die Königin des Orients, gehabt habe, nämlich zwanzigtausend Fuß. Dort aber würden aus allen Teilen des Erdkreises alle Nationen mit ihren Schätzen zusammenkommen, und es werde dort in Kürze ein Handelsplatz und eine Festversammlung eingerichtet sein, wie es sie in Europa zuvor nicht gegeben habe. Wissen wir denn, ob nicht auch einige von uns Italienern den Franzosen das bestätigen, um nicht zu sagen, ganz und gar davon überzeugt sind? Das ist nämlich im allgemeinen der Fehler der menschlichen Natur, welche höchst voll von Vermutungen ist, daß man, was auch immer im Geiste vorstellbar ist, für vorzüglicher hält, als was man mit den Sinnen wahrnehmen kann; und meistens sind wir von dieser Geisteshaltung, daß wir das Unsichere und Dunkle, was aber doch glänzend klingt, dem Wahren und Bekannten leicht vorziehen. Aber nicht nur diese, als was auch immer es sich herausstellen wird, sondern viele andere Städte schienen Venedig ganz ähnlich zu sein. 68

–––––––––––– 67 Heinrich IV. (von Navarra, 1553-1610, König seit 1589), der Begründer der BourbonenDynastie in Frankreich. 68 Heinrichs Sohn Ludwig XIII. (1601-1643, König von Frankreich 1610-1643). 69 Emportauchende. 70 Dreiruderer, antikes Kriegsschiff mit drei Ruderreihen übereinander.

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Man sagt nämlich, daß es etwas von solcher Art bei den Sinern, die gemeinhin Chinesen genannt werden, gebe, jene gewaltige Stadt, welche sie selbst nicht zögern, Quinsai, d. h. Stadt in den Wolken, zu nennen, welche durch ihre Größe alle Städte, die an einem anderen Ort existierten, bei weitem übertreffe, da ja, was in seinem Umfang hundert Meilen messe, zweitausend Familien Platz biete, aber durch zwölftausend Brücken verbunden werde: Sie liegt aber in einem See, dessen Peripherie drei[hundert] Meilen beträgt. Von solcher Art ist nach Cardanus71 Singui, das durch mehr als sechstausend Brücken verbunden sei. Von solcher Art sei bei den Parthern auch Canta gewesen, die Königsstadt des großen Hundes, wie wir bei Iovius lesen. Von solcher Art soll auch Themistita in Neuspanien sein, das man auch Mexiko nennt. Von solcher Art sei auch Venetiola, erfahren wir von Johannes Leonius, einem Schriftsteller über die westindische Geschichte, und vielleicht von den Spaniern so genannt worden, weil es ein kleines Venedig darstelle. Und gewiß könnte wohl einer nicht nur diese, sondern alle Städte, die wir aufgeführt haben, Klein-Venedig nennen. Denn was über diese Städte erzählt wird, ist alles meist Märchen ähnlicher als den unverbrüchlichen Monumenten wahrer Dinge und ist kaum von der Art, daß Kinder und Frauen ihm Glauben schenken: Aus Gerede und Fiktion rührt das, was über sie berichtet wird. Jedoch wird die göttliche Natur unserer Stadt mit dem Sinn sicher wahrgenommen, mit den Augen gesehen, mit den Händen gegriffen, und nicht nur schulden wir dem Gerede der Leute gar nichts, sondern klagen sogar darüber, daß es kraftlos ist und schwach, weil es immer die Tendenz hat, das, was angeblich in Rom gewesen ist, größer darzustellen, und, wenn es erzählt, was in Venedig Zierde und Schmuck ist, mehr und mehr nachläßt. Wozu haben die Quiriten72 denn ihre Stadt unter die Göttinnen versetzt, die so oft geplündert, verwüstet und angezündet worden ist? Auf welche Weise kann diejenige denn eine Göttin sein, die so oft dem Spott von schändlichen Feinden ausgesetzt war, viele Niederlagen erlitten hat und von ihnen zerrissen worden ist, nur noch nicht bis auf die Wurzel untergegangen ist? Allein Venedig können wir in der Tat wahrhaft eine ewige Stadt nennen. Denn, wie Cardanus aufzählt, ist es nötig, daß eine Stadt, die ewig währen soll, eine Lage hat, welche einen leichten Zugang gewährt, welche der Gesundheit zuträglich und uneinnehmbar ist. Uneinnehmbar kann sie aber nur sein, wenn sie auf einem Berg liegt, in einem Sumpf oder in fließenden Gewässern.

–––––––––––– 71 Wohl Hieronymus Cardanus (1501-1576), Arzt und Schriftsteller aus Pavia, Professor für Medizin in Pavia und Mailand. Sein umfangreiches Werk umfaßt neben medizinischen auch philosophische Schriften und eine Autobiographie. 72 Die Bürger der Stadt Rom.

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Auf einem Berg kann es keinen leichten Zugang geben, im Sumpf keine Luft, die der Gesundheit zuträglich ist. Also muß eine ewige Stadt in fließendem Gewässer errichtet werden. In Süßwasser ist die Luft aber meist schwer und verpestet. Deshalb muß sie im Salzwasser errichtet werden; aber dort, wo das, was man in nicht allzu tiefen seichten Gewässern einpfählt, die Fundamente für Mauern aufnimmt und es zuläßt, daß man auf ihnen baut. Wer könnte nämlich mitten im Meer eine Stadt errichten? Außerdem wird eine Stadt, wenn sie zu weit vom Festland entfernt ist, entweder vom Meer verschüttet, oder es trocknen die nicht allzu tiefen Gewässer aus. Wenn die seichten Gewässer aber austrocknen, wird die Stadt von Hunger verzehrt, denn weder gibt es noch eine Möglichkeit für Schiffahrt, noch kann es auf dem Meer Äcker geben, die man bestellen kann, und sie würden auch austrocknen. Wir erkennen also, daß allein Venedig eine Stadt von solcher Art ist, daß sie mit Recht ewig genannt werden darf. Diese allein ist die Sonne der Städte, diese der Phoenix, diese die Fürstin; niemals gab es eine zweite wie sie oder wird es jemals geben. Jene aber, die wir oben erwähnt haben, scheinen sich freilich den Wundern Venedigs weiter angenähert zu haben als die übrigen; dennoch sind sie die nächsten nach einem langen Zwischenraum, wie die anderen Eilläufer gegenüber dem Nisus bei Vergil.73 So sind sie Venedig ähnlich wie Messing Gold, wie Glas Kristall, wie die Katze dem Panther, wie der Affe dem Menschen ähnlich ist. Denn was die Männer betrifft – wer weiß nicht, daß diese Stadt die Insel der Seligen, die Heimat der Heroen und der Wohnsitz der Götter ist? Was die Schätze angeht, daß sie der Markt Italiens, die Schatzkammer Europas und die Werkstätte der ganzen Welt ist? Was die Macht betrifft, daß sie die Burg aller Völker, die Herrin der Meere und die Königin der Erde ist?74 Was die Erscheinung und die Schönheit betrifft, daß diese als einzige das Gemach aller Liebesgöttinnen und Grazien, das Amphitheater aller Spektakel ist? Wer weiß nicht, daß diese als einzige fest aus Marmor gebaut, andere, die aus Ziegeln errichtet sind, verachtet, daß allein ihre Reinheit und Eleganz vom Schmutz jeder staubigen und kotigen Stadt, vom Lärm der Räder, vom Unflat kranker Tiere und ihren Bissen frei ist? Wie werden wir eine andere Stadt finden, die so viele Inseln um sich versammelt hat, wie viele Sterne nicht einmal die Milchstraße umfaßt? Es steht nämlich fest, daß in der Adria mehr als fünfhundert Inseln liegen, mit ungefähr ebenso vielen tausend Menschen.

–––––––––––– 73 Vgl. VERGIL (1985), I, 404ff. Nisus, König von Megara, wurde in einen Sperber verwandelt, als ihm seine Tochter Skylla eine Locke, von der sein Leben abhängen sollte, im Schlaf abgeschnitten hatte. 74 Zu Bonifacios Zeit beherrscht Venedig Küste und weite Teile des Umlandes von Bergamo in Norditalien, die istrisch-dalmatische Küste sowie Inseln von der Adria bis in die Ägais, außerdem noch Kreta (Zypern ist 1571 bereits wieder verloren).

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Jedoch welche und wie große Provinzen hat jene und Städte, die auf ihr Wort hören, Diener und Mägde? Istrien, Illyrien, Korfu, Kephallinia, Zakynthos, Euböa, Kreta, Zypern; Treviso, die Metropole der größten und glücklichsten Region; Udine, die Hauptstadt der Provinz Foro-Iuliana; jenes berühmte und einstige Bollwerk des Römischen Reiches, Aquileia; Rovigo, Hauptstadt des äußerst fruchtbaren Inselverbundes und Kornspeicher für die königliche Stadt; Padua, das italische Athen; Vincenza, unbesiegbar und heldenmutig; Verona, das wahrhaft einzigartige; Brescia, die Waffenschmiede des Mars; Bergamo, die Mutter der Industrie, welche ihre Kolonisten durch den ganzen Erdkreis ausgesandt hat und mehr an Ruhm und Berühmtheit besitzt als das trojanische Pergamon. Denn was soll ich die Großstädte zweiten Ranges erwähnen, die Städte und Landstädte und die nahezu unzähligen Dörfer? Als ich eine Apotheose dieser himmlischen Stadt, die so viele Städte beherrscht, verfaßte, und sie Dir, Domenicus Molinus, dem großen Weisen im Rat, dem designierten Konsul Venedigs, gewidmet sein sollte und ich sie einführte, wobei sie sich selbst präsentiert, schrieb ich einst diese Verse:75

–––––––––––– 75 Das folgende Altargedicht wird durch einen hexametrischen Panegyricus eingeleitet (hier nicht abgedruckt), in dem das personifizierte Venedig zu Molinus kommt und die Herrschaft Venedigs im allgemeinen und Molinus’ im besonderen lobt. Nur die letzte Passage bezieht sich auf das folgende Altargedicht: Interea diuina tuae prudentia mentis, zjV5j6"+ , magnae dum praesidet Vrbi, Nos huic Palladio, ac Venetae, quae continet illud. Cecropiae stellis quatuor conpegimus astrum, Coelestemque aram coelesti ereximus Vrbi. Hanc Aram propè contingens antarcticus, orbem Oppositum nobis, ipsoq; Antichtonas olim Iri subiectum nostris portendit ab armis, Et Venetos rerum dominos aliquando futuros.

Während inzwischen die göttliche Klugheit Deines Verstandes Stehet vor der mächtigen Stadt, dem Geiste des Zeus gleich, Schufen dem Palladium und Venedig, das jenes umfasset, Wir einen Stern aus den vier Gestirnen des Kekrops, Richten der himmlischen Stadt einen Altar auf im Himmel. Fast der Altar berührt die Antarktis einst sie prophezeite, Daß der Erdkreis uns gegenüber und seine Bewohner Von unsren Waffen werden besiegt und strecken die eignen Und daß einst die Herren der Welt werden sein die Veneter.

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Diesen Altar, wo den Bund einst Götter gegen Giganten geschlossen, Wollen wir widmen der Stadt, die allein die Tyranniden76 niederhält. Mit frommem Kult verehren wir diese, der Göttinnen größte.

Vom Rat der Götter sich einst Göttin Roma erschlich heimlich ihrE Ewigkeit, als sie diebisch sich einstahl und, ach W! Nahm den Namen der Ewigen an, aber VenediG Einzig nur von der Götter Versammlung in einem BeschlussE, Daß eine Göttin sie sei, allein sie erhielt diesen NameN. In der Blüte der Jugend wird gehen zugrunde sie niemalS, Geht nicht zu Ende die Welt, denn endlos schuf Gott ihr die HerrschafT. Da liegt Troja zerstöret, da Karthago und RomA, Einst so mächtig und groß, in Asche und Staub fast dahinschwanD, Rom, nun ein Name nur noch, der des Alters Gebrechen verspüreT. Selbst ohne Anteil am Tod, diese Stadt wird von Menschen regieret. Daher zu Recht ist der himmlischen Stadt ein Altar im Himmel geweihet, Und er steht in vier Sternen, da in den vier Teilen der Erde diese Stadt herrschet, Die größer ist als der Erdkreis, ein Haus, das alle Götter zu fassen vermöget. Es widmete der Stadt, Balthassar Bonifacio, Der Herrin der befreiten Welt im Jahr 1628.

–––––––––––– 76 Der Begriff tyrannis, die Herrschaft eines einzelnen unumschränkten Herrschers, meist negativ konnotiert, steht hier im Gegensatz zu Venedig mit dem aristokratischen Rat der Zehn an der Spitze.

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Resümee Balthassar Bonifacio hat seinen Zyklus von Carmina figurata mit einer Reihe von Paratexten versehen, in denen er seine poetologischen Auffassungen artikuliert und expliziert. In dem auf den 9.5.1627 datierten Widmungsbrief an seinen Mäzen, den venezianischen Senator Domenicus Molinus, wirft er die Frage auf, wer die Kunst des Technopägnions erfunden habe, und führt die Genese des Genus auf Simias von Rhodos oder Theokrit von Syrakus zurück. Als Gattungskonstituens betrachtet er zum einen die Lizenz, heterogene Versmaße in einem Gedicht einzusetzen, was mit einer Expansion der poetischen Möglichkeiten einhergeht, und zum anderen die Gezwungenheit bei der Abmessung der Verse, die zur Erreichung einer visuellen Umrißfigur erforderlich ist. So ist das Figurengedicht in seinen Augen paradoxerweise sowohl ein Hort der Freiheit für den Dichter als auch ein Prokrustesbett. Allgemein liegt der Ursprung der Visuellen Poesie für Bonifacio im antiken Mythos, vor allem in den Astro-Mythen und den von ihnen initiierten Praktiken, irdische Wesen an den Himmel zu versetzen und zu verstirnen. Vielleicht denkt Bonifacio hier an griechische Technopägnien in Form von Altären, ist doch z. B. schon früh in den Phainomena des hellenistischen Dichters Aratos der Altar als Sternbild bezeugt. Sofern nach der Beobachtung des Autors in der Antike im Kontext mit der Apasterosis bzw. Stellificatio die einzelnen Sterne in Linien gefaßt wurden, ergibt sich eine Nähe zu den veritablen Figurengedichten, für die im Dienst eines Umrißbildes eine Collocatio brevium, longorumque versuum charakteristisch ist. So zeichnet sich in der Perspektive des Bonifacio schon die Visuelle Poesie des Simias von Rhodos durch Varietät der Verse, Alternanz der siderisch konzipierten Figuren und generelle Imitation der Sternenschrift aus. Nicht explizit erwähnt wird von Bonifacio eine Serie von Sternbildern, die in Form von illustrativen Schriftfiguren in den lateinischen Aratos-Handschriften des Mittelalters überliefert ist, in denen ähnlich wie später in der Urania die Einzelsterne der Sternbilder als graphische Signa notiert sind.77 Weiterhin stellt Bonifacio die Frage, warum das Genos der figurativen Dichtung, die er zu neuem Leben erwecken will, seit dem Altertum so wenig gepflegt worden ist, und führt für diese Diskontinuität zwei mögliche Begründungen an, einmal den exzeptionell hohen Schwierigkeitsgrad dieser Art von Dichtung, die insuperabilis eius artificij difficultas, die über das menschliche Ingenium hinausgeht, und zum andern die gegenteilige Einschätzung, nach der es sich bei den Figurengedichten bloß um puerile Vergnügungen und spielerische Nichtigkeiten handelt, denen man sich allenfalls müßiggängerisch in seiner Freizeit hingibt. Daß Bonifacio bei seiner apologetischen Haltung gegenüber der Visuellen Poesie der ersteren Auffassung zuneigt, steht dabei außer Zweifel.

–––––––––––– 77 ERNST (1991), S. 583-601.

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Seine formale und konzeptionelle Originalität demonstriert Bonifacio an seinen Transformationen der älteren Technopägnien des Simias und Theokrit: So habe er in seinem Zyklus das antike Eigedicht durch ein Schild, die Syrinx durch eine Orgel, die Flügel durch Flügelschuhe, den Altar durch eine Säule und die Doppelaxt durch ein Beil substituiert und darüber hinaus auch neue Figuren kreiert, die er alle zusammen dem Senator dediziere. Insgesamt zeigt sich, daß trotz der exuberanten Bescheidenheitsbekundung der Visuellen Poesie ein hoher Rang in der Hierarchie der Gattungen attestiert wird. In einem Vorwort an den Leser, das in einem bildüberladenen manierierten Stil verfaßt ist, appliziert Bonifacio wieder die Topik der affektierten Bescheidenheit, die aber, da zwischen Selbstverkleinerung und elitärem Anspruch oszillierend, ambivalent, ja doppelbödig angelegt ist, wenn er die Figurengedichte als schwerverdauliche dichterische Kost bezeichnet, die nicht jedermanns Geschmack ist. Wenn Bonifacio hier seine poetischen Figuren als Sternbilder deklariert, so erklärt sich das in erster Linie daraus, daß er die Sterne im Kontext des Personenlobs als Sinnbilder der Tugenden seines Dedikanden begreift. Von Bedeutung für das Verhältnis des frühneuzeitlichen Carmen figuratum zur Emblematik und vice versa ist Bonifacios Bestimmung der visuellen Gedichte als emblemata, wobei für die Zuordnung offenbar der Grundzug der Intermedialität maßgeblich ist. Schließlich werden die ikonischen Gedichte als Gemmen gepriesen, als Gemmen allerdings, die streng in eiserne Ringe eingeschlossen, d. h. als Figuren umzirkelt sind. In dem ersten paratextuellen Gedicht Ad Musam preist Bonifacio die Urania als einzige Muse, die einen himmlischen Namen besitzt und deshalb allein in der Lage ist, Molinus adäquat zu rühmen, während er im zweiten Gedicht Ad Magnum... gegenüber der makrostrukturellen Epik Homers auf den Raumstrukturen, den brevia spacia und arctae figurae, seiner eigenen Gedichte insistiert: Wiewohl die Tugenden des Molino über die Sterne hinausgehen, werden sie doch, so erhaben sie auch sind, in das kleine Büchlein des Gedichtzyklus gepreßt, ähnlich wie die Welt in eine kosmographische Karte. Was zunächst als Enge, Zwang und Kleinräumigkeit erscheint, erhält zum Schluß einen universalen Anspruch, da das Figurengedicht als literarischer Mikrokosmos erscheint, der in konzentrierter Form den Makrokosmos reflektiert. Das dritte Gedicht In Momum, das als Kritikerschelte konzipiert ist, setzt die Zahl der Musen mit der der Sterne in Verbindung, die sich durch Beobachtungen Galileis vermehrt hat, und rückt den Astrologen und den Dichter, da beide ätherischen Stammes, in eine wechselseitige Beziehung: Der Autor des Zyklus visueller Sternengedichte profiliert sich damit dezidiert als Poeta astrologus. Das vierte Gedicht Ad Virum... beginnt mit einer Klage des Dichters, der sich wegen der selbst auferlegten formalen Regeln und Begrenzungen in Differenz zu anderen Rednern nicht frei bewegen kann und vor dem Problem steht, wie er den großen Namen seines Mäzens in die engen Bahnen seines räumlich limitierten Poems fassen soll. Der Schluß des Gedichtes folgt dem locus a nomine und spielt in kunstvoller literarischer Onomastik mit Ableitungen des Namens von Dominicus

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Molinus, wenn etwa moles auf die Masse des Himmels bezogen oder mola als Mühlstein auf das Mühlenrad gedeutet wird. Da das Rad das Wappen des Widmungsempfängers ist, erscheint es als eine Art ‚Superzeichen’ (Max Bense) für den gesamten Zyklus, der mit einem Radgedicht beginnt, in das, gleichsam als ein visualisiertes Inhaltsverzeichnis bzw. Argumentum figurativum, die einzelnen Figuren integriert sind. Abgesehen von dem vorangestellten Radgedicht, das als Mise en abyme fungiert, enthält der heraldisch angelegte Zyklus folgende Figurengedichte, deren Versmaße der Dichter selbst aufgelistet hat: I. Rad (Rota), aus 23 Sternen zusammengesetzt, mit 3 Ringen und 8 Speichen. Außer Würfel, Säge und Altar sind alle Figuren in 18 Kompartimente integriert. Metra: Octonarium, Hexametrum, Pentametrum, 8 Adonia (= 11 Verse). II. Turm (Turris), bestehend aus 16 Sternen, mit einem Akrostichon und einem Telestichon, die, jeweils deszendierend zu lesen, dem Namen und Beinamen des Dedikanden (Dominicus Molinus) enthalten; den 16 Buchstaben des Namens entsprechen die 16 Sterne, die wiederum mit den 16 Ecksteinen des Turmes korrelieren, der ein Symbol Venedigs ist. Metra: 18 Adonia, 2 Octonaria, 16 Hexametra, 7 Octonaria. III. Schild (Clypeus), mit zehn Sternen versehen, wovon vier dem Janus, drei den Grazien, zwei der Minerva und einer dem Apollo zugeordnet sind. Molinus erscheint als Schild Venedigs, sowie es der Cunctator Quintus Fabius Maximus (273-203 v. Chr.) für Rom gewesen ist. Die 19 Verse des Gedichts zeigen ein extrem breites Spektrum von Versarten: Metra: Adonium, Trochaicum, Anacreonticum, Glyconicum, Iambicum (Dimetrum), Dactylicum, Anapaesticum, Phaleucium, Iambicum (Trimetrum), Octonarium (jambischer Tetrameter), Iambicum (Trimetrum), Phaleucium, Anapaesticum, Dactylicum, Iambicum (Dimetrum), Glyconicum, Anacreonticum, Iambicum (Dimetrum hypercatalecticum), Adonium. IV. Säule (Columna), mit acht Sternen geschmückt, die der Minerva, dem Merkur und Apollo geweiht ist: Fundament der Herrschaft und Stütze des Vaterlands. Metra: Hexametrum, Pentametrum, Iambicum (Dimetrum), 2 Dactylica (Trimetra), Phaleucium, 33 Iambica (Dimetra), Pentametrum, Hexametrum. V. Flügelschuh (Talaria), verziert mit zehn Sternen, welche die zehn Tugenden symbolisieren, die Molinus schmücken, eingeschrieben in der Sohle des Schuhwerks. Metra: Hexametrum, Pentametrum, Dactylicum, Iambicum (Dimetrum), 3 Anacreontica, 2 Adonia, 3 Iambica (Dimetra), 2 Asclepiadea, 3 Iambica (Dimetra), 2 Adonia, 3 Anacreontica, 2 Iambica, Pentametrum, Hexametrum. VI. Stundenglas (Clepsydra), dem Saturn zugeordnet, bestehend aus einer unendlichen Zahl von Sternen: Verheißung ewigen Ruhms. Metra: 4 Iambica (Trimetra), 2 Iambica (Dimetra), Anacreonticum, 2 Adonia, 2 Trochaica, Anacreonticum, 2 Trochaicum, 2 Adonia, Anacreonticum, 2 Iambica (Dimetra), 4 Iambica (Trimetra). VII. Spindel (Fusus), den Musen und nicht den Parzen gewidmet; Konstellationen aus 18 Sternen, soviel wie Jahrzehnte im Leben des Molin sein werden.

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Metra: Adonium, Glyconicum, Dactylicum (Trimetrum), Pentametrum, Hexametrum, Pentametrum, Dactylicum (Trimetrum), Glyconium, Adonium. VIII. Orgel (Organum), aus neun Sternen entsprechend den neun Musen konstruiert: ein neues Instrument würdiger als die Syrinx des Theokrit, die Lyra des Anakreon, die Trompete des Homer und die Zither des Apoll. Metra: Anacreonticum, Iambicum (Dimetrum), Iambicum (Trimetrum), Pentametrum, Hexametrum, Octonarium, Hexametrum, Pentametrum, Iambicum (Trimetrum), Iambicum (Dimetrum), Anacreonticum. IX. Beil (Securis) aus vier Sternen, dem Jupiter geweiht: Symbol von Macht und Herrschaft. Metra: 2 Pentametra, 2 Adonia, 4 Iambica (Dimetra). X. Leiter (Scala) aus zehn Sternen, deren Numerus alle Zahlen umfaßt, wie Molin alle Tugenden besitzt. Metra: 3 Adonia, 3 Iambica (Dimetra), 3 Iambica (Trimetra), 3 Hexametra. XI. Herz (Cor) mit neun Sternen, welche die neun Musen bedeuten, an Zahl zugleich so viele, wie Molin kleine Herzen in der Brust hat. Metra: Iambicum (Trimetrum), 7 Iambica (Dimetrum), Iambicum (Trimetrum). XII. Dreifuß (Tripos) mit zwölf Sternen, soviel wie es Hauptgötter gibt; von ihm aus verkündet Molin Orakel im Senat, wie es Apollo in Delphi tat. Metra: Adonium, Archilochium, Iambicum (Dimetrum), Hexametrum, Iambicum (Dimetrum), Dactylicum (Trimetrum), Anapaesticum, Phaeleucium, Pentametrum, Octonarium, Pentametrum, Phaeleucium, Anapaesticum, Dactylicum (Trimetrum), Iambicum (Dimetrum), Hexametrum, Iambicum (Dimetrum), Archilochium, Adonium. XIII. Eine die Sonne darstellende Schnecke (Cochlea), die ihr Haus nicht verläßt, wie auch Molin sich niemals von Venedig entfernt. Metra: 13 Iambica (Trimetra). XIV. Hut (Pileus), bestehend aus fünf Sternen, zu Ehren der ‚Freiheiten’ Venedigs: Gerechtigkeit, treuer Glaube, Liebe zur Religion, Liebe zum Vaterland und Eifer. Metra: Adonium, Trochaicum, Anacreonticum, 2 Iambica (Dimetra), Pentametrum, Iambicum (Trimetrum), 3 Hexametra. XV. Palmzweig bzw. Feder (Spathalion), ohne Sterne, mit einer doppelten Bedeutung: der Palmzweig entspricht Molinus, die Feder ist dem Autor selbst gewidmet, damit er sie führt, wie Molin mit seinem Finger Venedig regiert. Metra: Hexametrum, 9 Archilochia, Trochaicum, 3 Archilochia, Adonium. XVI. Harke (Rastrum), ohne Sterne, die das Symbol der erforderlichen Mühe des Poeten ist. Metra: Sapphica (13mal), Adonia (12mal): jeweils abwechselnd. XVII. Amphore (Amphora), 13 Sterne umfassend, welche auf die 13 Gläser verweisen, die man zu Ehren des Molinus erhebt. Metra: 2 Iambica (Dimetra), 2 Archilochia, 5 Iambica (Dimetra), 2 Glyconica, 2 Dactylica (Trimetra), 2 Asclepiadea, 3 Pentametra, 8 Asclepiadeica, Iambicum (Dimetrum), Glyconium, Iambicum (Dimetrum), Archilochium, Anacreonticum, Trochaicum, 2 Adonia, Trochaicum, Iambicum (hypocatalektische Dimetra), 2 Iambica (Dimetra), Hexametrum.

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XVIII. Kelch (Calix), aus acht Sternen, welche mit der Zahl der Buchstaben des Vokativs Domenice korrespondieren, die von den Akklamanten getrunken werden. Metra: 3 Hexametra, 3 Pentametra, 4 Iambica (Trimetra), Dactylum (Trimetrum), 6 Iambica (Dimetra), 3 Adonia, 3 Iambica (Dimetra), 2 Iambica (Trimetra), 3 Iambica (Dimetra), 3 Adonia, 2 Iambica (Dimetra), 2 Iambica (Trimetra). XIX. Würfel (Cubus), ohne Sterne, der die Stabilität des Rades symbolisiert: Wappen des Molin, dessen erhabener Namen allerdings in keinem Würfel Platz findet. Der Figur, die von einem syllabischen Akrotelestichon umsäumt wird, geht ein Kommentar in Prosa voraus, der Auskunft gibt über den Anspruch der Neuheit, den dieses Kunstwerk erhebt. Metra: 15 Hexametra. XX. Säge (Serra), ohne Sterne, die gegen böswillige Kritiker gerichtet ist. Das Figurengedicht schließt sich an ein Prosastück mit ähnlichem Tenor an. Metra: Adonia (21mal), Archilochia (8mal): zum Teil abwechselnd. XXI. Altar (Ara) aus vier Sternen, geweiht der Ewigkeit Venedigs, mit einem Akrostichon, das die Umrisse der Figur begrenzt. Voraus geht nicht nur eine einführende Prosa, sondern auch ein Enkomium in Hexametern. Metra: 3 Octonaria,10 Hexametra, 4 Octonaria.

Wie man diagnostizieren kann, besteht Bonifacios Gedichtzyklus nicht nur aus einem großen Kontingent unterschiedlicher Figuren nach Art von Sternbildern mit eingezeichneten Einzelsternen, sondern diese setzen sich auch wieder aus verschiedenartigen Metra, insgesamt sechzehn, zusammen, die der Autor als Hilfe für den Leser aufgeschlüsselt und in ihrer Distribution auf die diversen Textbilder in einer Übersicht festgehalten hat. Während Isometrie nur einmal belegt ist (XIII), herrscht in der Regel Heterometrie, die von der Verwendung zweier Metra (XX) bis hin zum Einsatz von zwölf Metra (XVII) pro Gedicht reicht. Diversität der Figuren und Diversität der Metra sind bei Bonifacio Teil einer das ganze Werk prägenden Poetik der Varietas. In seiner lateinischen Prosawidmung Acerrimi [...] preist Bonifacio die Freiheit des Dichters, dessen Regel darin besteht, daß ihm keine Regel präskribiert ist, was schon Gedanken des Sturm und Drang antizipiert, und rekurriert dabei auf die Ars poetica des Horaz (9 f.), die dem Dichter auf dem Gebiet der Intermedialität besondere Freiheiten gewährt und somit die Produktion von Picta poesis ermöglicht. Mag die Visuelle Poesie formalen Restriktionen unterliegen, so eröffnet sie doch zugleich auch neue Möglichkeiten interartistischer Formgebung. Bonifacio verweist hier nochmals auf die Notwendigkeit, längere und kürzere Metra zu vermischen, um eine visuelle Figur zu konzipieren, und beruft sich bei dem von ihm verwendeten Verfahren der Polymetrie auf den antiken Dichter Chairemon, dem Aristoteles in seiner Poetik nachsagt, daß er in seiner Dichtung, die er bezeichnenderweise Zentaur betitelte, sogar alle Arten von Versmaßen miteinander verknüpfte. Auch macht er darauf aufmerksam, daß Diogenes Laertios sich rühmte, nach diesem die Polymetrie in Richtung Multimetrismus überschreitenden Verfahren ebenfalls ein Buch geschrieben zu haben, das mit dem Titel Panmetron versehen sei, und im weiteren nennt er auch den Gott Proteus, der sich in ver-

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schiedene Gestalten verwandeln kann. Wie zu konstatieren bleibt, versteht Bonifacio seine, dem Prinzip der Polymetrie folgenden, ja sogar am Ideal der Panmetrie ausgerichteten Visualisierungsstrategien als eine mythopoetisch fundierte, zentaurhafte und proteische Kunst.

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Literaturhinweise Ausgaben BALTHASSARIS BONIFACII Musarum libri XXV. Vrania ad Dominicum Molinum. Venedig 1628.

Referenztexte ARISTOTELES: Poetik. Hrsg. und übers. von MANFRED FUHRMANN. Stuttgart 1994. CICERO: Pro Cn. Plancio oratio. In: Pour Cn. Plancius, pour M. Aemilius Scaurus. Übers. und hrsg. von PIERRE GRIMAL. Paris 22002. DIOGENES LAERTIOS: Vitae philosophorum. Hrsg. von MIROSLAV MARKOVICH und HANS GÄRTNER. Leipzig 1999 (Bd. 1 und 2) und 2002 (Bd. 3). HORAZ: Ars poetica. Hrsg. und übers. von ECKART SCHÄFER. Stuttgart 21984. LUKIAN: Wie man Geschichte schreiben soll. Hrsg. und übers. von HELENE HOMEYER. München 1965. OVID: Amores. Hrsg. und übers. von NIKLAS HOLZBERG. Düsseldorf 1999. OVID: Amores. Hrsg. von EDWARD J. KENNEY. Oxford 1961. OVID: Metamorphoses. Hrsg. u. übers. von GERHARD FINK. Düsseldorf 22009. PLATON: Gesetze. Hrsg. von OLOF GIGON. Zürich 1974. PLATON: Protagoras. Hrsg. und übers. von GERTRUD und KARL BAYER. Düsseldorf 2008. VERGIL: Aeneis. Hrsg. und übers. von GERHARD FINK. Düsseldorf 2005. VERGIL: Georgica. Hrsg. und übers. von MANFRED ERREN. 2 Bde. Heidelberg 1985 und 2003. XENOPHON: Hellenika. Hrsg. und übers. von GISELA STRASBURGER. Darmstadt 21988.

Forschungsliteratur JEREMY ADLER und ULRICH ERNST: Text als Figur. Visuelle Poesie von der Antike bis zur Moderne. Weinheim 31990 (Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek 56). ULRICH ERNST: Carmen figuratum. Geschichte des Figurengedichts von den antiken Ursprüngen bis zum Ausgang des Mittelalters. Köln 1991 (Pictura et Poesis 1). DERS.: Leuchtschriften. Vom Himmelsbuch zur Lichtinstallation. In: Licht, Glanz, Blendung. Beiträge zu einer Kulturgeschichte des Leuchtenden. Hrsg. von Christina Lechtermann und Haiko Wandhoff. Frankfurt a. M. 2008 (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik, N. F. 18), S. 71-90. WILHELM KÜHLMANN: Kunst als Spiel. Das Technopaegnium in der Poetik des 17. Jahrhunderts. Mit Anmerkungen zu Baldassare Bonifacios „Urania“ (Venedig 1628). In: Daphnis 20 (1991), S. 505-529. GIOVANNI POZZI: La parola dipinta. Mailand 1981. HERMANN SCHREIBER: Die Zehn Gebote. Der Mensch und sein Recht. Wien 1962, Ndr. Berlin 1965. JOHANN HEINRICH ZEDLER: Bonifacio, Balthassar. In: DERS: Grosses vollständiges Universal-Lexikon 3. Halle 1961, Sp. 318.

XVIII. JOHANN HEINRICH ALSTED UND DAS ALPHABET DES MANIERISMUS Die ausführlichste Erörterung des Technopaegnion mit sechzig Untergattungen bietet Johann Heinrich Alsted (1588-1638)1 in seiner Encyclopaedia.2 Alsted, Sohn eines calvinistischen Predigers und Pfarrers, war als Professor für Philosophie und Theologie zunächst in Herborn, dann (ab 1629) in Weißenburg tätig. Die Universität Herborn, im Rahmen der calvinistischen Fürstenreformation gegründet, folgte einem universalwissenschaftlichen Bildungskonzept, welches durch das Fehlen von Fakultäten noch begünstigt wurde.3 Diesem Ansatz entsprechend verfaßte Alsted Lehrbücher zu Grammatik, Rhetorik, Logik, Physik, Metaphysik, Mathematik und Theologie, die in seiner Encyclopaedia (1630) gipfelten. Unter der Gattungsbezeichnung Technopaegnion ist den experimentellen Formen der Poesie ein eigenes Kapitel gewidmet, wobei in Untergattungen Formen der Visuellen Poesie, vor allem Umrißgedichte, eine besondere Rolle spielen. Das Kapitel ist im folgenden komplett abgedruckt, übersetzt sind jeweils die Definitionen.4

––––––––––––––– 1 Zu Alsted allgemein siehe ZEDLER (1961-1964), 2, Sp. 1511; ausführlich zu Alsted und der Encyclopaedia: SCHMIDT-BIGGEMANN (1989-1990), Bd 1, S. I-XVIII. Zu den Definitionen von Alsted vgl. ERNST (1998). 2 Liber X, Sectio IV, Caput V. 3 Vgl. SCHMIDT-BIGGEMANN (1989-1990), S. VI. 4 Übersetzt werden hier neben den Definitionen nur einige Beispiele, bei denen der Sinnzusammenhang von Bedeutung ist. Die meisten Umrißgedichte sind von Balthassar Bonifacio übernommen, einzelne, die sich auch bei Alsted finden, sind dort übersetzt.

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Lateinischer Text aus: JOHANN HEINRICH ALSTED: Encyclopaedia. FaksimileNeudruck der Ausgabe Herborn 1630 mit einem Vorwort von WILHELM SCHMIDT-BIGGEMANN und einer Bibliographie von JÖRG JUNGMAYR. Stuttgart 1989-1990, Liber X, Sectio IV, Caput V, Bd. 1, S. 549-568. KAPITEL V: ÜBER DAS LATEINISCHE TECHNOPAEGNION. DEFINITION. Das poetische Technopägnion ist ein kunstreiches Spiel in der Metrik. Dieses Spiel bezieht sich entweder auf grammatische und rhetorische Besonderheiten, auf eine logische Beziehung oder auf eine mathematische Figur. Daher betrachtet man bei den Versen die Alliteration, das Aenigma, das Eteostichon, die Parastrophe, das Paroimion, das Anagramm und ähnliches als Technopaegnion. Und dann werden die Versus aequidici, Versus paralleli, Pyramiden, Eier, Becher, Zentauren, Beile etc. dazugerechnet. REGELN. ALTER, NUTZEN UND VIELFALT DES TECHNOPAEGNION.

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I. Das poetische Technopägnion wird nach Gattung und Gestalt definiert. Bei ihm finden sich ein hohes Alter, Nutzen und Vielfalt: Hier sind im folgenden die Gattungen des Carmen aufgeführt, die hauptsächlich vorkommen. DAS HOHE ALTER wird dadurch deutlich, daß Simias von Rhodos ein Ei-, Flügel-, Beil-, Syrinxund Altargedicht verfaßt hat. DER NUTZEN ist doppelt: Denn abgesehen davon, daß dieses literarische Spiel mächtig und mannigfaltig erfreut, nützt es auch, daß wir in den verschiedenen Gattungen von Gedichten geübt werden. DIE VIELFALT besteht zum Teil in der Verbindung von Gedichten verschiedener Gattung, zum Teil im Technopaegnion selbst, dessen Vielfalt freilich so groß ist, daß keine sichere Anzahl (seiner Untergattungen) genannt werden kann. Wir nehmen davon nur die, welche hauptsächlich vorkommen und führen sie in alphabetischer Reihenfolge an, damit alles leichter gefunden werden kann:

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1. Acromonosyllabicum. 2. Acrostichum. 3. Aenigmaticum. 4. Aenittologium. 5. Aequidicum. 6. Alliteratio. 7. Alphabeticum. 8. Amphora. 9. Anagrammaticum. 10. Anastrophe. Anguinum. -> Serpentinum. Antitheticum. -> Parallelum. 11. Ara. 12. Calix. Cancrinum. -> Anastrophe. 13. Centauricum. 14. Cento. Cephalonomaticum. -> Acrostichum. 15. Chronostichon. 16. Clepsydra. 17. Clypeus. 18. Cochlea. 19. Columna. 20. Concordantes versus. 21. Cor. Correlativum. -> Parallelum. Crux. -> Isogrammaticum. 22. Cubus. Diaulonium. -> Anastrophe. Echo. -> Alliteratio. 23. Ecloga. 24. Emblema. Epigramma. -> Philomelisma Eteostichon. -> Chronostichum. 25. Euthysylloge. 26. Fusus. Griphus. -> Logogriphus. Hecatomphonia. -> Proteus. 27. Hymnus thearchicus. 28. Hyporchema. 29. Jocosi versus. 30. Isogrammaticum. Isolectum. -> Aequidicum. 31. Leoninum. 32. Logogriphus. 33. Macrocoli versus. 34. Memoriale. 35. Metamorphosis poetica. 36. Metatheticum. 37. Ode. 38. Omnivocum. 39. Organum. 40. Ovum. Palindromum. -> Anastrophe. 41. Parallelum. 42. Parodia. 43. Paromoeum. 44. Philomelisma. 45. Pileus. 46. Poculum. 47. Proteus. 48. Pyramis. Quadratum. -> Cubus. 49. Rastrum. 50. Reprehensio philologica. 51. Rota. 52. Scala. 53. Securis. 54. Serpentinum. 55. Serra. 56. Spathalion. Symphonum. -> Concordantes versus. 57. Talaria. 58. Triangulum. Tautogrammum. -> Paromoeum. 59. Tripus. 60. Turris. Hier soll man daran denken, daß das Technopaegnion auch in Prosa eine scherzhafte Seite hat.

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C. Frühe Neuzeit Zum Beispiel gibt es ein Anagramm bei den Hebräwer hat dies ern, wie Ies 40. 26 geschaffen. Von hier stammt der Anfang der Genesis So gibt es bei den Griechen: ;2{j 62 (Vortrefflichkeit, Lieblichkeit):  {jR  (Zorn, Ärger): ‚k ?{j >j Zj I (Du bist jenes Lamm); bei den Lateinern: Ludovicum, Ludo divus (Im Spiel heilig): Fridericus, fide curris (Du eilst im Glauben): Eva, Ave & Vae (Sei gegrüßt & Wehe): Rudolphus II., Vi floridus (blühend durch seine Kraft): Ebrietas, re bestia (Trunkenkeit, dadurch ein wildes Tier). So gibt es ein Akrostichon bei Agapetos5: Dabei enthalten die ersten Buchstaben der 72 Kapitel folgende Inschrift aus ebenso vielen Buchstabenƒj /j -  /j Hj „7 /j 7 j Z!j ‚k . T{j ‚ "  j 6  j ‚ r   }j (unserem erhabensten und frömmsten König Justinian, der niedrigste Agapetos Alakonos.) Ein Eteostichon auf das Jahr 1633 ist: IVDICIVM. Ein Palindrom besteht darin: Eva, ave: Leben, Nebel. Echo ist: Tangit, angit (Es berührt, ängstigt): Sacerdotium, otium (Priesterschaft, Muße). Ein Aenigma in Prosa ist: Exivit cibus de comedente. (Die Speise kam aus dem wieder heraus, der sie aß), was von Simson stammt. Ein Logogriphus liegt im Wort  .  vor, d. h. KjP  (Dein ist Tyros). Auch in der Prosa gibt es daher das Technopaegnion. Aber in der Poesie ist es weitaus glänzender und häufiger. Nun wollen wir Beispiele betrachten, denen ich das ingeniöse und bewundernswürdige Carmen von Samuel Pomarius6 hinzugefügt hätte, wenn ein Kupferstecher vorhanden gewesen wäre. Darauf sind alle Leidenswerkzeuge Christi, und was mit ihnen geschah, wie die Säule, die Geißel, die Dornenkrone, die Lanze, das Kreuz, die Würfel, der Ranzen, die Silberlinge, der Hahn und anderes nicht nur bildlich, sondern auch mit Worten beschrieben, so daß sie vom Anfang, der Mitte, vom Ende, von links nach rechts, abwärts, schräg, im Kreis und auf so viele Arten und Weisen gelesen werden können, daß man es mit der Spitze des Griffels kaum skizzieren kann. CARMEN ACROMONOSYLLABICUM.

I. Das Carmen Acromonosyllabicum oder monosyllabocatalecticum ist einfach oder figuriert. Einfach ist es auf zwei Weisen: 1. wenn es nur mit einem einsilbigen Wort endet, […] 2. wenn seine Verse mit einsilbigen Wörtern beginnen und enden […] Ein figuriertes Acromonosyllabicum liegt dann vor, wenn es eine fortlaufende Anadiplosis enthält: Daher wird es auch Carmen climaticum & concatenatum (Leiter- & Kettengedicht) genannt. […]

––––––––––––––– 5 Verfasser eines Fürstenspiegels für den Kaiser Justinian I. (527-565). 6 Samuel Pomarius, um 1592 Prediger in Magdeburg.

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II. Ein poetisches Akrostichon, oder ein Carmen acrostichon liegt dann vor, wenn seine Spitzen bzw. Anfangsbuchstaben irgendeinen Namen einschließen. Ansonsten wird es auch als Carmen Cephalonymicum bezeichnet. Ein Akrostichon befindet sich aber am Anfang oder am Ende der Verse bzw. sowohl am Anfang wie am Ende oder am Anfang in der Mitte und am Ende. Deshalb ist das Akrostichon entweder einfach oder mehrfach. Unter ihnen hat das Akrostichon über die Anfangsbuchstaben seinen Ursprung beim Volk der Hebräer, wie aus den Psalmen Davids zu sehen ist.

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So schließt die Sibylle das Elogium unseres Erlösers in ein Akrostichon ein, dessen Anfangsbuchstaben folgenden Sinn ergeben: sk ?j y5j '2j - ?j .G5j .5j (Jesus Christus, Erlöser, Sohn Gottes, der Gekreuzigte). Plautus verfaßte die Inhaltsangaben seiner Werke auf folgende Weise: […] Die Anfangsbuchstaben der einzelnen Verse, zu einem Wort vereinigt, ergeben AVLVLARIA.7

––––––––––––––– 7 Der Geldtopf, Titel einer Komödie des Plautus (ca. 250-184 v. Chr.).

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Akrosticha dieser Art waren auch bei den Alten in Gebrauch, wie aus den folgenden Carmina Liberii & Belisarii ersichtlich wird, in denen jene Sedulius8, den ehrwürdigen Verkünder der Wunder Christi, gleichsam zu loben wetteifern: […]

––––––––––––––– 8 Gemeint ist der Dichter Sedulius (5. Jh. n. Chr.), dessen Carmen paschale alttestamentliche wie neutestamentliche Wunder zum Inhalt hat.

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[…]

AENIGMATICA CARMINA.

III. Carmina Aenigmatica gedichte) sind sehr häufig.

(Rätsel-

So lautet jenes Rätselgedicht der Sphinx, das Ödipus9 zur Lösung vorgelegt worden ist: Was auf vier Händen am Morgen, am Mittag dann geht auf zwei Füßen? / Was, wenn die Sonne sinkt, geht auf drei Füßen nur? […] Für Rätselgedichte dieser Art siehe in den Aenigmata von Pinterius und der Sphinx von Heidfeld,10 und weiter unten unter Aenigmatographia. […] AENITTOLOGIUM.

IV. Ein Aenittologium ist ein Gedicht, das zwei Daktylen und drei Trochäen umfaßt: […] Es ist gleichsam zusammengesetzt aus C+- (in Rätseln reden) und " j(Rede). VERSUS AEQUIDICI.

V. Versus aequidici oder isolecti liegen dann vor, wenn den einzelnen Wörtern in der ersten Vershälfte oder im ganzen Vers jeweils die aus der zweiten Vershälfte oder einem zweiten Vers entgegenstellt sind. […] Verse dieser Art werden auch versus correlativi ex repugnantiis (Versus correlativi aus Gegensätzen) genannt; konträr versus correlativi ex convenientiis (Versus correlativi aus Übereinstimmungen): […]

––––––––––––––– 9 Ödipus wird König in seiner Geburtsstadt Theben, weil er die Antwort auf das Rätsel der Sphinx nennt: Der Mensch. Er erhält die Königinwitwe Iokaste zur Frau, ohne zu wissen, daß sie seine eigene Mutter ist. 10 Johannes Heidfeld, Verfasser einer Sphinx Theologico-Philosophica (1604/1631).

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C. Frühe Neuzeit ALLITERATIO.

VI. Die Alliteration findet sich in der Paronomasie und im Echo. Die Alliteration ist eine Übereinstimmung von Buchstaben. Und diese sieht man zuerst in der Paronomasie. Hoffnung, auf Gott gebauet, hat Flucht verwirrt nie geschauet. […] Auf diese Weise werden oft Unterschiede (in der Bedeutung) von Wörtern deutlich gemacht: Berühr mit den Fingern die Lyra, der Bauer ziehe die Lira11. […] Ferner erscheint die Alliteration im Echo-Gedicht, und wird mit dem Fachwort  genannt: […] Es werden auch lateinische und griechische Wörter vermischt. […] Hierher gehören auch bestimmte leonische Verse. Sag mir, was ist dieser Clamor? Mein Amor. Was dieses Brennen? Sinnloses Rennen.12 […]

[551] […]

––––––––––––––– 11 Der Begriff lira bezeichnet die Furche, die der Bauer in den Ackerboden zieht. 12 Die Begriffe clamor und amor bezeichnen Geschrei und Liebe, furor und uror die Raserei und den Zustand, von der Liebe verbrannt zu werden.

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VII. Poetische Alphabete sind Verse, die nach der Reihenfolge der Buchstaben in einer Reihe fortlaufen: Daher werden sie auch Versus alphabetici genannt. Derartig ist das Votivalphabet für das beginnende neue Jahr, verfaßt vom hocherhabenen Fürsten der Hessen Mauritius13: […]

AMPHORA POETICA

VIII. Die poetische Amphora ist eine Hieroglyphe für die Beredsamkeit. Solcher Art ist die Amphora von Balthasar Bonifacio: […]

––––––––––––––– 13 Moritz der Gelehrte, 1572-1632, Landgraf von Hessen-Kassel (1592-1627), betätigte sich als Dichter wie als Komponist und schuf an seinem Hof in Kassel bis zu seiner erzwungenen Abdankung 1627 ein kulturelles Zentrum.

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C. Frühe Neuzeit ANAGRAMMATISMUS.

IX. DAS ANAGRAMM ODER DER ANAGRAMMATISMUS IST EINE FORM DES RÄTSELGEDICHTS, DIE EINEN NEUEN SINN AUS DER UMSTELLUNG VON NAMEN ZUTAGE FÖRDERT. In dieser Gattung des literarischen Spiels ragte Lykophron14 hervor; dieser nannte Ptolemäus ; 5j +  , d. h. aus Honig und süß, und die Königin Arsinoe B j…{jd. h. das Veilchen der Juno. Diese Elemente befinden sich nämlich in den Namen    und ‚ . Hierhin rechne auch folgendes: Nicodemus, Demonicus (teuflisch): Mauritius, Vis artium (Kraft der Künste): Catharina de Medices regina mater (Catharina de Medice, Königin Mutter) wird so in ein Anagramm verwandelt: Grausam regiert in mir Circe, Medea, Thais.15 Rudolphus secundus de Austriâ imperator (Rudolf II, Kaiser von Österreich)16 wird so in ein Anagramm verwandelt: Frei triumphierest du über das Strahlen des Feuers. Denke daran, daß dieser Anagrammatismus nicht immer ein poetisches Werk ist, sondern seine Auflösung: Wie in meinem Namen (den ich der Analogie wegen genannt haben will) das Wort Sedulitas (Eifer) enthalten ist: Die Auflösung dieses Anagrammes ist: Damit Du, mein Geist, den Gelehrten und Gott vermagst zu gefallen, / zeigen sollst Eifer Du fromm, eifrig die Frömmigkeit sei. Die Auflösung dieses Anagramms wurde von jenem Phoenix der Philosophen Rudolf Goclenius verfaßt, siehe in der Praefatio dieser Enzyklopädie. ANASTROPHE

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POETICA

[552]

X. Die Anastrophe ist eine Dichtung, in der die Verse Versus reciproci, recurrentes oder cancrini (zurückkehrend, zurücklaufend oder krebsartig) genannt werden. Man sagt auch Palindrom oder Reciprocatio (Zurückgehen auf demselben Wege). Es gibt aber zwei Arten von Palindromen im Vers: Entweder werden nämlich die Wörter (ohne Veränderung) rückwärts gelesen, und das Carmen wird nach seinem Erfinder Sotadeum17 genannt, oder die einzelnen Buchstaben, und es wird ' genannt. Erstens hat die Anastrophe entweder denselben oder einen entgegengesetzten Sinn. Denselben Sinn, wie z. B.: Machet | mir | mächtigen Preis | dem machterfüllten Messias. […]

––––––––––––––– 14 Lykophron (3. Jh. v. Chr.), unter König Ptolemaios Philadelphos Bibliothekar in Alexandria; von seinen Dichtungen ist nur die Alexandra über die Weissagungen der Kassandra erhalten. 15 Die Zauberin Kirke verwandelt die Gefährten des Odysseus in Schweine. Medea, von Jason verlassen, tötet ihre Kinder, und Thais ist eine berühmte Hetäre in Athen. Katharina de Medici zeichnete für den Massenmord an den französischen Hugenotten verantwortlich. 16 Rudolf II. (1552-1612, Kaiser 1576-1612). 17 Sotadeus: Griechischer Iambendichter aus dem 3. Jh. v. Chr., Verfasser einer Ilias-Paraphrase.

XVIII. Johann Heinrich Alsted

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Den entgegengesetzten Sinn, wie z. B.: Kennst | die Grammatik | noch, | verstehst | zu schreiben | Gedichte, / nicht | in Logik nicht | klug, nicht | in Geschichte (Du) bist. = Bist in Geschichte | nicht klug, | nicht in Logik, | nicht (Du) Gedichte | / zu schreiben | verstehst, | noch die Grammatik | kennst. […] Zweitens geschieht die Anastrophe entweder mit den Wörtern oder mit den Buchstaben oder mit beiden. Mit den Wörtern, wie z. B. Muse, nenn mir die Gründe, wodurch die Göttin verletzt ist. […] Mit Buchstaben: Mulis Anna hat, nicht hat Anna auch Grund. […] Mit beiden: Otto hat ein Tuch, ein nasses Tuch hat Otto. Drittens geschieht die Anastrophe entweder im selben Versmaß oder in verschiedenen. Im selben: wie in den Beispielen oben. In verschiedenen: Wenn z. B. ein trochäischer Vers in einen jambischen verwandelt wird, ein Pentameter in einen jambischen Vers und ein Hexameter in einen Pentameter […] Ovid, Tristien, Buch 5, Elegie 12: Milder die Strafe ist noch, die meiner Schuld gefolgt. Daraus wird, rückwärts gelesen, ein jambischer Vers: Die meiner Schuld gefolgt, die Strafe ist milder noch. […] Und in diesen Metren fallen Anastrophe und Metamorphose zusammen: Deshalb wird dies von manchen als direkte Metamorphose (metamorphosis directa) bezeichnet, und jene, um die es weiter unten geht, als indirekte (metamorphosis indirecta). Hexametra cancrina sind aber folgende: 1. Der schlimmste Feind ist Satan, | der Dir Verhängnis bereitet. Wenn man es rückwärts liest, wird es wiederum ein Hexameter. 2. Sei der April Dir gesegnet, | sei der April Dir heiter! Auch dieser wird, wenn man ihn rückwärts liest, ein Hexameter. 3. Erster Mensch | war Adam, | ein Kreuz | für alle, (die) nach ihm. Wenn man ihn rückwärts liest, erhält man einen Pentameter. 4. Stürzenden Laufs | sich der Fluß | ergoß | noch herab | eben / | gerade, / | doch | von der Zeit verbraucht, | rasch (er) verliert | seine Kraft. Hier wird aus dem Pentameter ein Hexameter und umgekehrt. Es gibt ein Carmen reciprocum, das mit sehr viel Mühe und unter Martern des Gehirns zustande kommt, was rückwärts Buchstabe für Buchstabe gelesen wird, und es wird . D  oder .    genannt, von . :- aus  und „ :- (zweifach auf der Flöte blasen). Man nennt sie auch  , cancer / Krebs. Auch wenn alle Palindrome   genannt werden, so paßt die Bezeichnung darauf in besonderem Maße. Ausgezeichnete Beispiele sind: Schlage das Kreuz, das Kreuz, denn blind Du berührst mich, machst angst mir: / Plötzlich aus Roma Dir wird / durch die Bewegung Amor (die Liebe). Und dieses Gedicht wird dem Teufel zugeschrieben. […] Ebenso: Wasche die Sünden ab, nicht nur das Gesicht.

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C. Frühe Neuzeit Ausgezeichnet ist auch folgendes Distichon auf Christus: Jeder mag dich verleugnen, o berge Namen und Omen, Jesus seist du ihm, sei wie Jesus für ihn. Manchmal wird in einem Rätselgedicht die Reciprocatio nur in einem Wort angewendet, wie: Metulas (Pyramiden) ich sende, wenn du es nicht glaubst, sie wende [dann ich sende Salutem (Grüße)]. […]

XVIII. Johann Heinrich Alsted

687 ARA POETICA.

XI. Der poetische Altar dient zur Weihung großer Dinge. Solcherart ist der Altar des Balthassar Bonifacio auf die Stadt Venedig. […]

[553] CALIX POETICA.

XII. Der poetische Kelch ist eine Hieroglyphe für die Enthaltsamkeit. Solcherart ist der Kelch des Balthasar Bonifacio. […]

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C. Frühe Neuzeit CARMEN CENTAURINUM.

XIII. Carmen Centaurium oder poetischer Centaurus wird ein Gedicht genannt, das aus verschiedenen Versarten zusammengesetzt ist. So wird nach einem Ungeheuer benannt, was ein Mensch ohne Füße und ein Pferd ohne Kopf ist. Es beginnt mit langen Metren und endet in kurzen oder umgekehrt, oder es wechseln sich lange mit kurzen ab und umgekehrt: In verschiedenem Wort liegt bei Clavius Wut. Ausgezeichnet schlägt an mit dem Daumen Horaz / lyrisch die Saiten. Die Elegie dem Ovid – er ist ihr König – gefällt. Das heroische Maß den Vergil beim Singen mit fortreißt. Was scharfsinnig ist, von Martial wird geliebt. Beißend ist Juvenalis. Klug lehrst auch Du in den Schriften, Boetius, würdiger Lehrer. Seneca, Du bist ernst, ein Tragöde zudem.18 Manchmal hat es die Form eines Bechers, eines Eies, einer Pyramide oder eines Beils: Siehe das an entsprechender Stelle: vor allem in der Urania von Balthasar Bonifacio, die, in Kupfer gestochen, an den venetischen Senator Molinus gerichtet ist. CENTO.

XIV. Der Cento ist ein Carmen, das aus verschiedenen Versen entweder eines Dichters oder mehrerer Dichter zusammengestellt worden ist. Es wird auch Carmen harmoniacum genannt. Für einen Cento allein aus vergilischen Versen siehe weiter unten. Ein Cento aus verschiedenen Dichtern ist folgender: Als die Kohorte voll Eifer und die Brüder von der Zange geschoren / Schreiten einher auf dem Weg, Iris vor Wasser wird feucht. […] CHRONOSTICHA. [Spaltenumbruch]

XV. Chronosticha und Chronodisticha sind Carmina, die das Jahr und manchmal auch den Tag und den Monat in Literis numeralibus (Buchstaben mit Zahlenwert), wie man sie nennt, enthalten. Deshalb gehört hier auch das ETEOSTICHON hin. So ist das Jahr 1572, in dem in Paris das Gemetzel am Bartholomäustag19 geschah, in diesem Eteostichon enthalten: BarthoLoMäVs VVeInt, Denn der Atlas FrankreIchs ist gestVerzet.(1572) […]

––––––––––––––– 18 Gemeint sind wohl der Astronom Christophorus Clavius (1537-1612), die Dichter Horaz (65-8 v. Chr.), Ovid (43 v. Chr.-17 n. Chr.), Vergil (70-19 v. Chr.), Martial (40-102 n. Chr.), Juvenal (60-140 n. Chr.), Boethius (480-524 n. Chr.) und Seneca d. J. (4 v. Chr.-65 n. Chr.).

XVIII. Johann Heinrich Alsted

689 CLEPSYDRA POETICA.

XVI. Eine poetische Clepsydra (Wasseruhr) drückt Klugheit aus. Solcherart ist jene Wasseruhr von Balthasar Bonifacio. […]

CLYPEUS POETICUS.

XVII. Der poetische Schild dient dazu, heroische Taten auszudrücken. Solcherart ist jener Schild des Balthasar Bonifacio. […]

COCHLEA POETICA.

XVIII. Die Sonnenschnecke der Dichter drückt Langsamkeit aus. [554]

Solcherart ist die bei Balthasar Bonifacio. Siehe dort.

–––––––––––– 19 Die Bartholomäusnacht (vom 23. auf den 24.8.1572), ausgelöst durch einen Mordanschlag Katharina de Medicis auf den Hugenottenführer Coligny (22.8.), der ihren Sohn König Karl IX. zum Calvinismus bekehren wollte. Um der Rache der Hugenotten zu entgehen, beschließen Karl IX. und Katharina die Ermordung der in Paris und Frankreich versammelten Hugenotten, wobei 20.000 Hugenotten den Tod finden.

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C. Frühe Neuzeit COLUMNA POETICA.

XIX. Die poetische Säule dient dazu, Festes auszudrücken. Solcherart ist die von Balthasar Bonifacio. […]

VERSUS CONCORDANTES.

XX. Als Versus concordantes oder symphoni werden die bezeichnet, die bestimmte Wörter und Silben gemeinsam haben und in der Anzahl von Wörtern und Silben übereinstimmen, auch wenn sie antithetisch sind, wie z. B., der Hund jagt er, er rettet. Und in den Wäldern und alles der Wolf er nährt sich, verwüstet. […] COR POETICUM.

XXI. Das poetische Herz dient dazu, Dinge, die tapfer ausgeführt worden sind oder ausgeführt werden sollen, auszudrücken. Solcherart ist das Herzgedicht unseres Balthasar Bonifacio. Siehe dort.

XVIII. Johann Heinrich Alsted

691 VERSUS CUBICI & QUADRATI.

XXII. Versus cubici und Versus quadrati haben verschiedene Formen. Erstens gibt es die versus cubici, wie folgender einer ist: Ein solches Viereck soll dir die Gestalt eines guten Mannes zeigen. In diesem Cubus kann man nämlich, beginnend bei dem Großbuchstaben T, nach rechts lesen, nach links, aufwärts und abwärts, so daß man immer einen Pentameter hat. Siehe diesen Typus in der Sphinx von Heidfeld, Seite 1006. Dann gibt es ineinander verwickelte versus quadrati, wie diese zwei: Christus, unter deiner Führung haben wir das alte Jahr überstanden. Christus, unter deiner Führung laß uns, wir bitten dich, das neue Jahr überstehen. Diese zwei Verse müssen so ineinander verwickelt sein, wie es im Cubus von Heidfeld geschehen ist, so daß der erste von der einen Seite geschrieben ist, der zweite von der anderen Seite, und zwar aus dem Raum, wobei die Buchstaben miteinander korrespondieren und in Dreiecken gipfeln. Drittens gibt es einfache versus quadrati nach dieser Art: […] Die Griechen nennen dieses Carmen    } […]

Hierher gehört auch der Cubus des Balthasar Bonifacio: […]

692

C. Frühe Neuzeit ECLOGA MIXTA & VERSUS INTERCALARIS.

XXIII. Die Ekloge ist einfach oder gemischt: in beiden Fällen weist sie manchmal VERSUS INTERCALARES (eingeschaltete Verse) auf. Einfach ist die Ekloge, wenn sie aus einer Versart abgeleitet wird, wie die Eklogen Vergils. Gemischt ist sie, wenn sie aus verschiedenen Versarten besteht, wie die, welche wir unten anfügen werden. Die Versus intercalares (auf Griechisch r 77 + ) sind Verse, die später wiederholt werden, wie jener aus der achten Ekloge bei Vergil: Flöte, fang an, mit mir mänalische Verse zu singen. Hier ist es höchst anmutig, abwechselnd zwei Verse einzuschalten, wie im folgenden Beispiel: […]

[555] […]

XVIII. Johann Heinrich Alsted […]

[…]

693

694

C. Frühe Neuzeit […]

EMBLEMA.

XXIV. Das Emblema, oder das heroische Symbol, besteht aus drei Teilen: dem Titel oder Lemma, der Pictura oder Bild und dem Carmen, wie z. B.

[556]

Titulus: Endlich kam hervor aus dem Stand der Verachtung Pictura Eine Palme. Carmen. Je mehr Du diese willst unterdrückt, desto mehr nur erzwingst Du, / Daß sich die Virtus erhebt. So unter Druck sie erstrahlt.

XVIII. Johann Heinrich Alsted

695 EUTHYSYLLOGE.

XXV. Die poetische Euthysylloge ist eine nachtigallenhafte Wiederholung, in der bestimmte Worte, die aus verschiedenen Sätzen genommen worden sind, am Ende noch einmal gesammelt werden. Man nennt sie auch 4  '5 6 und 47 +''5 , ebenso Carmen analecticum, +''%6und +%8j

j Ein ausgezeichnetes Beispiel ist folgendes: Uns die FRÖMMIGKEIT zieret; als reines Gold ist sie reiner. Ihr die TUGEND folgt, Lampe und Ehre des Mannes. Heilige MUSIK vom Himmlischen Heiligen ziemet. Und den Mensch lehrt das RECHT, daß er lebe als Mensch. So steht uns bei der gnädige GOTT. Sieh also zu, daß Schmücken Dich FRÖMMIGKEIT, TUGEND, MUSIK, RECHT und GOTT. Man kann auch die einzelnen Wörter, die gesammelt werden müssen, ans Ende der einzelnen Verse setzen […] Hier ordne auch jene poetische Epanalepse oder den P  ein, wo die Sätze, die am Anfang stehen, am Ende wiederholt werden, wie Ps. 8 & 103. Mit dieser Art der Figur werden gewöhnlich auf elegante Weise Hendecasyllabi geschmückt. FUSUS POETICUM.

XXVI. Die poetische Spindel mahnt, an den Tod zu denken. Ein Beispiel dieser Art findet sich bei Balthasar Bonifacio.

HYMNI THEARCHICI

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XXVII THEARCHISCHE HYMNEN SIND DIE, IN WELCHEN GOTT DURCH SEINE NAMEN GELOBT WIRD: O Dreieinigkeit, und Eindreiigkeit, Fels des Heils und Gott, Starker Zebaoth, größter Jehova, der Könige König, Dir sei Lob, Ehre und Ruhm.

696

C. Frühe Neuzeit HYPORCHEMA.

XXVIII. Ein Hyporchema ist ein Carmen, das nur kurze Silben zuläßt. […]

[…]

XVIII. Johann Heinrich Alsted

697

[…]

VERSUS JOCOSI.

XXIX. Versus iocosi (Scherzverse) werden speziell die genannt, die man verwendet, um einen Scherz zu machen, wie z. B.:

[557]

Irr (Er) hat dieses Buch in Latein, im Griechischen Tü (Ro) nur / Mer (Res) im Hebräischen und sonst überhaupt nichts. D. h. Irrtümer (Errores).21 Es folgt ein Distichon von unzähligen Füßen: Tausend Rinder weiden und hunderttausend an Kälbern, / und eine Mücke sitzt auf jedem einzelnen Kalb. Hierher gehören auch die Verse, die cruces Grammaticorum genannt werden, wie: Eine Üble bracht’ mit dem Apfel der Welt alles Übel.22 […]

–––––––––––– 21 Bei diesem Vers handelt es sich um eine Polemik gegen den Humanisten Erasmus von Rotterdam (1466 oder 1469-1536). 22 Eva beim Sündenfall.

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C. Frühe Neuzeit VERSUS ISOGRAMMATICI.

XXX. Eine Isogrammatia (Gedicht mit der gleichen Anzahl von Buchstaben in jedem Vers) ist einfach oder figuriert. Für die einfachen siehe ein wenig vorher in Kapitel 2. Figuriert ist es, wenn es verschiedene Formen hinzufügt: Denke an das Kreuz bei Hraban. […] Alle diese Verse bestehen aus der gleichen Anzahl von Buchstaben, und in der Mitte von ihnen wird in absteigender Leserichtung folgender Vers gelesen: In ehrwürdigem Kleid erglänzt die heilige Kreuzform, und wiederum, wenn du vom rechten zum linken Querbalken gehst, diesen weiteren Vers: Große Ehre mich kleidet, und froh dies ich künde dem Volke. Derselbe Hraban hat zwölf weitere Carmina dieser Art in der Gestalt des Kreuzes verfaßt.23 In ihnen ist die Gestalt des Kreuzes zweifach. Das erste Kreuz enthält folgende zwei Hexameter, von denen der erste Vers in der Vertikale, der zweite in der Horizontale zu lesen ist. Nun will (ich bitten) und singen, Jesus unter Tränen zu bergen. / Dies ist das wahrhafte Heil, der Erlösung heiliger Lobpreis. Das zweite Kreuz enthält folgende beiden Verse in derselben Weise wie das erste: Ganz (bleibt er in sich selbst), hält sich und lebt doch in jedem, / Quelle der Güte und Liebe, Gnade und wahre Erlösung. Die einzelnen Verse des Gedichtes bestehen aus 35 Buchstaben, die Verse in den Kreuzen aus 39 Buchstaben: […]

VERSUS LEONINI.

XXXI. Die Versus Leonini, nach ihrem Erfinder so benannt, bringen einen Binnenreim in den Vers. Für Beispiele siehe ein wenig vorher in Kapitel 2 und hier und dort in diesem Kapitel über das Technopaegnion.

–––––––––––– 23 Der Liber in honorem Sanctae Crucis von Hrabanus Maurus (780-856) enthält insgesamt 28, nicht wie Alsted hier irrtümlich angibt, dreizehn Carmina cancellata, deren Intexte in Kreuzform figuriert sind. Beide abgedruckten Beispiele stammen aus Carmen XIII, in das insgesamt vier Kreuze, die wiederum in Kreuzform zueinander stehen, einfiguriert sind.

XVIII. Johann Heinrich Alsted

699 LOGOGRIPHUS.

XXXII. Der Griphus oder Logogriphus ist eine Art des Gedichtes, in dem die ganze Fülle eines (gesuchten) Wortes verborgen ist. Das Carmen wird auch "! genannt. Und derjenige, der solche Griphen verfaßt, wird " r 5 genannt. Beispiele sind: Ein Nomen ist es und vertritt des Nomens Platz. / Vier Buchstaben es hat, und zwei Vokale sind, / zwei Konsonanten. Stellt man diese vier nun um / nicht vier entstehen, sondern zweimal zehn und vier / Vokabeln daher bringen sie hervor. Hier soll / den Schatten er der Mischung schauen, – wunderbar –, / den nur vier Buchstaben in einer Reih’ gemacht. Iste (dieser) ist ein Pronomen. Dann ergibt sich nach der Umstellung 1. Etsi (wenn auch) 2. [Et (und)]. 3. Si (wenn). 4. Se, die Vorsilbe (Wort) für die Trennung. 5. Se (er, sich), das Pronomen. 6. E (aus), die Präposition. 7. Ie, der Ausruf für Leiden. 8. Te (dich), der Akkusativ. 9. Is (der), das Pronomen. 10. Ei (ihm), der Dativ. 11. Eis (diesen). 12. Tis für tui (deines). 13. Ti, für tibi (dir). 14. Es (du ißt) von edo (essen). 15. Is (du gehst), von eo (gehen). 16. I (geh!), der Imperativ. 17. It (er geht). 18. Ite (geht!). 19. St, das Zeichen für die Stille. 20. Es (du bist) von sum (sein). 21. Est (er ist). 22. Sit (Es sei). 23. Siet (er wird aufhören). 24. Site (mit Durst). […]

700

C. Frühe Neuzeit […]

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XXXIII VERSUS MAKROKOLOI ERHALTEN WIR, WENN WIR ALLZU LANGE WÖRTER BENUTZEN. Keine Ruhe hatten die Konstantinopolitaner, Ihnen unzählbar blieb die Bekümmernis. Das ist auch ein Chronodistichon, wann die Stadt von Mehmet erobert wurde.24

–––––––––––– 24 Die Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen unter Mehmet II. (1453).

XVIII. Johann Heinrich Alsted

701 VERSUS MEMORIALES.

XXXIV. Versus mnemonici oder memoriales (Merkverse) werden die genannt, welche die Erinnerung unterstützen; es gibt sie in vielen Arten.

[558]

1. Einzelne Wörter beziehen sich entweder auf einzelne Bücher oder einzelne Kapitel oder auf einzelne Sätze; wie z. B. die ersten zehn Kapitel der Genesis folgende sind, 1 2 3 4 5 Welt, Gesetzgebung, Sündenfall, und Abel, Enochus’ 6 7 8 9 10 Arche entsteht, er tritt ein, fährt ab, Vertrag, Noah. Diese einzelnen Wörter enthalten den Inhalt der einzelnen Kapitel. Siehe das Memoriale biblicum Martini. Hierher gehört auch folgender Merkvers: Rate, tadele, tröste, vergib, ertrage, bitte. […] 2. Akrostichen oder vocabula +%9 oder :+ werden in Versen eingeschlossen, wie: S A L Z setzt die Schule Dir vor: Lerne Du es zu lecken. d. h. die Schule lehrt, gut zu denken, zu handeln und zu sprechen. Die Scholastiker haben die sieben Todsünden in folgendem Vers erfaßt: Daß Du meidest den Tod, stets die S A L I G I A meide. d. h. Hochmut, Habgier, Ausschweifung, Neid, Völlerei, Zorn, Trägheit. […] 3. Einzelne Halbverse enthalten einzelne Inhaltsangaben. Dahin gehören die rhythmischen Verse über die zehn Plagen Ägyptens: Das rote Wasser zuerst, als zweites die Plage der Frösche. / Dann voll Verderben die Mücke, danach noch schlimmer die Fliege. / Die fünfte entleibte das Vieh, die sechste brachte Geschwülste. / Dann der Hagel, dann folgt die Heuschrecke ruchlosen Zahnes. / Die neunte die Sonne bedeckt, die letzte das erste Kind tötet. 4. Einzelne Verse enthalten einzelne Inhalte, wobei oft die Zahl der Kapitel und Abschnitte mit den Buchstaben des Alphabets ausgedrückt wird, z. B. bezeichnet A die 1, B die 2 usw., so daß man sich die ersten drei Kapitel der Genesis folgenderweise ins Gedächtnis rufen kann: A nfangs schuf Gottes Güte segenreich Himmel und Erde. / B ald im Paradies strömt das Wasser aus zwei mal zwei Flüssen. / C (K)alter Schlangen List Eva bezwinget und tötet. Hier finden auch leonische Verse Anwendung, wie der Inhalt von Kapitel 6 des Markusevangeliums in diesem rhythmischen Vers enthalten ist: Es gab beim König ein Gastmahl; das Schwert dem Johannes das Haupt stahl. […]

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C. Frühe Neuzeit METAMORPHOSIS POETICA.

XXXV. Die poetische Metamorphosis oder Metapoesis ist die Veränderung eines Metrums in andere Formen, so daß irgend etwas hinzugefügt oder weggenommen wird. Es ist 1. ein phalaekischer Vers, aus dem ein sapphischer wird. 2. ein sapphischer, aus dem ein phalaekischer wird […] 3. Jamben, wo ein Jambus sich in einen Hexameter verwandelt oder umgekehrt: […] Aus einem jambischen Trimeter wird leicht ein Dimeter: […] 4. Ein asklepiadeisches Metrum, aus dem durch Hinzufügung einer Silbe ein Pentameter wird wie aus diesem: Maecenas atavis edite regibus (Maecenas, Sproß von königlichen Vorfahren.) Maecenas atavis edite principibus (Maecenas, Sproß von fürstlichen Vorfahren). Für weitere Arten der poetischen Metamorphose siehe bei den Schriftstellern, die über die Metrik geschrieben haben. CARMEN METATHETICUM.

XXXVI. Die poetische Metathesis oder der Metagrammatismus liegt vor, wenn nur in einem Wort eine Umstellung der Buchstaben stattfindet. Daher wird das Gedicht Carmen metatheticum genannt. So ist Roma ein metathetisches Wort, und zwar auf folgende Weise: Roma, mora (mit Länge in der ersten Silbe & Kürze.) Maro, ramo, amor, oram. […]

[…]

XVIII. Johann Heinrich Alsted

703 ODAE.

XXXVII. Es gibt vielfältige Arten von Oden. Unter diesen ragen aber die heraus, welche aus Strophen, Antistrophen und Epoden bestehen; und diese werden jeweils einige Male wiederholt. Ausgezeichnete Beispiele befinden sich in den Gedichten des Simon Simonides,25 die von Joachim Morsius veröffentlicht worden sind. Weil diese nicht in der Öffentlichkeit bekannt sind, will ich die dritte Ode hier abdrucken. Warum aber die dritte eher als eine von den übrigen, während alle mit der Antike verglichen werden können? Du, der es liest, wirst leicht den Grund dafür nennen können. Denn diese Ode enthält eine äußerst nützliche Ermahnung für die Jugend und hat in Verbindung mit dem poetischen Kunstwerk ethische Vorschriften, die in unserer äußerst verdorbenen Zeit sehr notwendig sind. […] […]

–––––––––––– 25 Simon Simonides, Dichter des 16. Jh., Dichterkrönung unter Papst Clemens VII. (1592-1605).

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[560]

C. Frühe Neuzeit

[…]

XVIII. Johann Heinrich Alsted

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C. Frühe Neuzeit

VERSUS OMNIVOCI.

XXXVIII. Als Versus omnivocus wird ein Vers bezeichnet, der alle Wortarten enthält, wie z. B. Wehe Dir Lachendem, weil du bald nach der Freude wirst weinen. Ebenso: Mir aber Phronios, dem noch gottlosen, schenke Erbarmen. ORGANUM POETICUM.

XXXIX. Die poetische Orgel paßt zu poetischen und musikalischen Dingen. Eine solche Orgel steht bei Balthasar Bonifacio. […]

XVIII. Johann Heinrich Alsted

707 OVUM POETICUM.

XL. Das poetische Ei wird so nach seiner Figur bezeichnet. Es ist kleiner oder größer. Ein kleineres poetisches Ei soll folgendes sein. […] Das winzige Ei des Simias von Rhodos ist dieses. […]

Für das größere Ei des Simias von Rhodos siehe oben sect. 3. cap. 9. Auch Scaliger druckt zwei Eigedichte, ein sehr kleines und ein größeres (2. Buch Poet. cap. 25). VERSUS PARALLELI.

XLI. Versus paralleli werden Verse genannt, wenn die Wörter eines Verses den Wörtern eines anderen Verses, die darunter stehen, entsprechen. Daher werden sie von Fabricius26 versus correspondentes oder correlativi genannt. Sie sind aber entweder rhythmisch oder ; .- {j \  + . joder ;  + . {j\  ' j oder ;   '  (rhythmisch oder arrhythmisch, ähnlich endend oder nicht, ähnlich gebildet oder nicht), wie aus den Beispielen deutlich wird, die Goclenius in seinem griechischen Lexikon anführt.27 Christus spricht die Menschen an: Ihr, welche einschließt, bricht, beschwert, zieht an und verbrennet, dieser traurige Körper, Mühe, Exil, Schmerz und Hitze: Honig, Licht, Ruhe, Heimat und Heilmittel sowie Schatten, suchet, hoffet und wißt, sie haltet, herbei sie dann rufet. […]

–––––––––––– 26 Gemeint ist wohl der Theologe, Dichter und Naturwissenschaftler Johannes Fabricius Montanus (1527-1566). 27 Rudolf Goclenius, der Ältere (1547-1628), Professor der Philosophie in Marburg. Alsted zitiert wohl sein Lexicon philosophicum Graeceum…(1964): accessit adiicienda Latino lexico sylloge vocum et phrasium quarundam obsoletarum….

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C. Frühe Neuzeit […]

[562]

XVIII. Johann Heinrich Alsted

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[…]

PARODIA.

XLII. Ein Carmen parodicum (Parodie) ist das, was als Nachahmung eines anderen Gedichtes verfaßt wird. Die Parodie geschieht aber auf vielfältige Weise: 1. als einfache Parodie, in der unmittelbar Metrum und Gedicht eines anerkannten Autors in der gleichen Gedichtgattung ausgedrückt wird.

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C. Frühe Neuzeit Denkt an das Rechte der Geist, verlacht er die Täuschung des Ruhmes. / Denkt an das Rechte der Geist, erhebt er die Augen zum Himmel. / […] Solcherart ist auch folgendes Beispiel von Henricus Stephanus.28 Es wurde aber zur Nachahmung dieses Vergilverses gedichtet: Harret aus und bewahrt euch für den Wein, der noch folget. / Harret aus und bewahrt euch für das Glück, das nachfolget. Solcherart ist auch die Nachahmung der Eklogen des Vergil: wie z. B. wenn man in der ersten Ekloge einen Engel und einen Menschen miteinander sprechen läßt: Mensch: Engel, der im Schutz der libanesischen Zeder Du liegest, / Du spielst die himmlischen Verse wohl auf heiliger Flöte. / Wir verlassen der Heimat Gebiet, die Gefilde des Himmels, / Wir der Heimat entfliehen, Du lehrst in heiliger Halle, / Heiliger, das Paradies zu tönen Halleluja. / Engel: / O Du sterblicher Mensch, es bereitete uns diese Freude / der Könige König, jener mein Gott usw. […]

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XLIII. Ein Paromoeum ist ein Vers, in dem stets derselbe Buchstabe am Anfang der Wörter steht. Hierher gehört der Tautazismus, die Wiederholung des Buchstaben t, ebenso der Kappazismus usw. […] Aristophanes drückt den Glanz einer Küche mit einem jambischen Trimeter solcherart aus: FjFjFjFjFjFjFjFjFjFjFjFj Hierher gehören auch die Verse, die Kaiser Karl dem 29 Kahlen gewidmet sind und so beginnen: Klarklingender Klang, Kamenen, dem Kahlen erklinge! […] Im übrigen wird das Carmen paromoeum auch Tautogramm genannt: Und es ist rein oder gemischt. Rein ist es, wenn die Buchstaben des ganzen Metrums oder des ganzen Gedichtes mit ein und demselben Buchstaben beginnen […] Gemischt ist es, wenn nur die Wörter eines jeden einzelnen Verses mit demselben Buchstaben beginnen […]

[563]

–––––––––––– 28 Henricus Stephanus, Henri Estienne (1531-1598), französischer Humanist und Herausgeber zahlreicher antiker Autoren (z. B. Platon).

XVIII. Johann Heinrich Alsted

711 PHILOMELISINA POETIC[A].

XLIV. Die Philomelisine ist eine kunstvolle Wiederholung von Worten, die zuvor in einzelnen Versen standen. Sie wird auch als Carmen philomelicum & philomelinum bezeichnet, wie z. B.: Es besänftigt im Lied die liebliche Drossel die Wälder, / Lieblich die Amsel macht froh mit der Stimme das Herz. / Durch das Rot an der Brust ist die liebliche Schwalbe erkenntlich, / und ein süßer Klang lieblich vom Goldfink ertönt. / Und die Haubenlerche mit sonorer Stimme singt lyrisch, / liebliches Kehlchen, Du bist von Deiner Farbe her Gold. / Großen Heroen steht stets bei die liebliche Taube, / und der liebliche Pfau trägt sein Federkleid grün. / Seinen Tod gar besingt der liebliche Schwan süß im Liede, / die Schleiereule singt lieblich dann noch im Herbst. / Was meint das Ohr über Dich, oh Nachtigall, die Du so lieblich? / Sagen will ich es Dir: Allen ich ziehe Dich vor / Lieblicher bist Du als Drossel, Amsel, Schwalbe und Goldfink, Haubenlerche und Pfau, Kehlchen, Eule und Schwan. […]

PILEUS.

XLV. Der Pileus (Filzkappe) drückt bei den Dichtern Würde aus. Solcher Art ist jene von Balthasar Bonifacio: […]

–––––––––––– 29 Karl II., der Kahle (823-877), Frankenkönig seit 843, Kaiser seit 875, Sohn Ludwig

des Frommen und Enkel Karls des Großen.

712

C. Frühe Neuzeit POCULUM POETICUM.

XLVI. Der poetische Becher ist offen oder geschlossen. […]

[564]

XVIII. Johann Heinrich Alsted

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PROTEUS POETICUS.

XLVII. Der poetische Proteus ist ein Metrum, das in vielfältiger Weise gewendet werden kann. Seinen Namen hat dieser Vers von Proteus, von dem in der Mythologie erzählt wird, daß er sich bald in Wasser, bald in Feuer, bald in wilde Tiere, in Bäume, Vögel und Schlangen zu verwandeln pflegte. Man verstand darunter aber die Luft, durch die, wenn sie in das richtige Verhältnis gebracht worden ist, alles entsteht und in welcher der Ursprung für alles liegt und der Anfang für Pflanzen und Tiere. Denn aus demselben (Ur-)Stoff entstehen je nach der Hitze der Luft auf verborgene Weise entweder Bäume oder Tiere, oder der (Ur-)Stoff verwandelt sich in die Elemente. Und das haben die Alten durch so viele und so vielfältige Veränderungen der Formen bezeichnet, da ja Proteus gleichsam 5j ! jR{ offenbar das ist, was zuerst existierte. Weil er sich in so viele Formen verwandelte, wurde er Proteus genannt. Daher wird ein Vers, der sich auf vielfache Weise verwandelt und aus der Umstellung der Wörter andere hervorbringt, Proteus genannt. Schön ist es aber, diese poetische Fruchtbarkeit zu betrachten, so daß wir einsehen und zugleich verstehen, wie in der Natur aus ein und demselben Stoff so viele Dinge hervorgebracht werden. Aber laßt uns Beispiele für den poetischen Proteus betrachten. Das erste soll das von Scaliger sein: Treuloser Proteus, du hast gehofft, die Götter zu täuschen. Die Wörter dieses Verses können so oft ihre Stellung verändern, daß sie beinahe unzählige Gesichter zeigen, z. B.: Proteu, sperasti te, perfide, fallere divos. / Perfide, sperasti te, Proteu, fallere divos. / Fallere te divos sperasti, perfide Proteu. / Sperasti, Proteu, te fallere, perfide, divos &.c. / Hierher gehört auch folgende hecatomphonia poetica, ein Distichon, das hundertfach variiert werden kann: Ich schicke nun die Geschenke, die das neue / Morgenlicht fordert, die Dir die Göttin vom Mundvorrat der Musen gibt.

Als Beispiel für die schier unzähligen Veränderungen eines und eines zweiten veränderungsfähigen und vielfach wendefähigen Verses nimm dieses aus dem Vorwort Thomae Lansii, in Consultatione de principatu inter provincias Europae. Schaue Dir, sagt er, ein Paar von Versen an, von denen der eine einen Katalog guter Dinge, der andere einen von schlechten enthält: Gesetz, König, Herde, Staat, Hoffnung, Recht, Weihrauch, Salz, Sonne, gutes Licht, Lob. Krieg, Tod, Los, Betrug, Hefe, Styx, Nacht, Kreuz, Eiter, bösartige Gewalt, Rechtsstreit. Schau Dir, sage ich, ein Paar von Versen an: Wenn das Wort gut oder bösartig im fünften Metrum, um einen Daktylus zu ergeben, eine feste Position erhält, können von den übrigen elf Wörtern die einzelnen ihre Stellung ebenso oft vertauschen, so daß sie verändert werden können, wobei Erkennbarkeit und die Unversehrtheit des Hexameters erhalten und stets dieselbe bleibt, die Stellung und die Ordnung der Wörter offensichtlich immer eine andere ist, nämlich in neununddreißig Millionen neunhundertsechzehntausendachthundert Stellungen oder in barbarischen Zahlzeichen 39 916 800. Es gibt also eine ungeheure Vielfalt von Variationsmöglichkeiten: Deren Niederschrift – und ich will ungehindert schreiben – es mag mit schneller Federführung pro Tag zwölfhundert Variationen zu Papier bringen, was insgesamt einundneunzig Jahre und neunundvierzig Tage dauern würde, wenn sie eifrig und ohne Unterbrechung geschähe. Und dies alles ist so sicher, wie es unzweifelhaft ist, daß 3 x 3 = neun ist. Und außerdem: Schau und betrachte folgende Tabelle und Kalkulation, die ich dir hier vor Augen führe; wenn Du nicht gänzlich der Arithmetik unkundig bist, wirst Du das auf den ersten Blick kaum Glaubliche dort glauben und Dich mit dieser Demonstration nicht ungern beruhigen.

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C. Frühe Neuzeit

[…] So hat man einige Myriaden von Variationen in einem einzigen Vers. PYRAMIS POETICA.

XLVIII. Die poetische Pyramide schickt sich für bedeutende Dinge. Solcherart ist jene über den Mord an Heinrich IV., den König Frankreichs. Als Beispiel für ein Eteostichon über diese ruchlose Untat nimm dieses von Hermann Kirchner:30 Traurig DIe LILIen trIefen Von Mörderhand Blut. (1610)

–––––––––––– 30 Hermann Kirchner aus Hersfeld (†1620), Professor der Poesie und Geschichte in Marburg, Verfasser von philosophischen, historischen und poetischen Schriften.

XVIII. Johann Heinrich Alsted

715 RASTRUM POETICUM.

XLIX. Der poetische Pflug ist eine Hieroglyphe für die alles hervorbringende Virtus. Solcherart ist der von Balthasar Bonifacio. […]

REPREHENSIO PHILOLOGICA.

L. Ein philologischer Tadel liegt dann vor, wenn wir die barbarische Ausdrucksweise von jemandem scherzhaft mit einem Gedicht, welches auf den Barbarismus anspielt, rügen, wie z. B.: Wer aber glaubt, auf Latein remminisco sagen zu können, schriebe, wo steht das co, cor, wenn er hätte ein Herz (cor). Ebenso: Wer aber glaubt, ;