Erwartung und Angebot: Studien zum gegenwärtigen Verhältnis von Literatur und Gesellschaft in der DDR [Reprint 2021 ed.] 9783112471920, 9783112471913


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Erwartung und Angebot: Studien zum gegenwärtigen Verhältnis von Literatur und Gesellschaft in der DDR [Reprint 2021 ed.]
 9783112471920, 9783112471913

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Eva und Hans Kaufmann

Erwartung und Angebot

Literatur und Gesellschaft Herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften der D D R Zentralinstitut für Literaturgeschichte

Eva und Hans Kaufmann

Erwartung und Angebot Studien %um gegenwärtigen Verhältnis von Literatur und Gesellschaft in der DDR

Akademie-Verlag • Berlin 1976

Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Straße 3—4 © Akademie-Verlag, Berlin 1975 Lizenznummer: 202 • 100/179/75 Gesamtherstellung: VEB Druckerei »Gottfried Wilhelm Leibniz«, 445 Gräfenhainichen/DDR • 4606 Bestellnummer: 752 652 8 (2150/37) • LSV 8001 Printed in G D R E V P 7,50

Inhalt

Vorbemerkung

7

Literatur in einer dynamischen Gesellschaft

9

Zu Christa Wolfs poetischem Prinzip

45

Dem Leben auf die Schliche kommen. Karl-Heinz Jakobs als Romancier

62

Sozialismus, Arbeit, Persönlichkeit

91

Volker Brauns „Tinka"

135

Glück ohne Ruh. Zur Darstellung der Geschlechterbeziehungen-

151

Ein Vermächtnis, ein Debüt. Brigitte Reimann: „Franziska Linkerhand" und Gerti Tetzner: „Karen W." . . .

193

Abkürzungen

216

Anmerkungen

217

Personenregister

236

Vorbemerkung

Ein Wissenschaftler müsse, so äußerte vor einiger Zeit ein Kollege in einem Vortrag, seine Erkenntnis sachlich hinstellen, er habe nicht das Recht zu sagen, „seiner Meinung nach" sei zwei mal zwei gleich vier. Das klingt bestechend und ist doch anfechtbar. Denn einmal gewinnt oder verliert eine Feststellung nicht dadurch an Wahrheitsgehalt, daß sie als persönliche Meinung ausgegeben wird. Zum anderen - und darauf kommt es hier an - muß unterschieden werden zwischen Aussagen über abgeschlossene und in ihren Folgen überschaubare Sachverhalte - und Äußerungen über in Fluß befindliche Vorgänge, die von Tag zu Tag neue Seiten zeigen. Mit letzterem hat es der Leser dieses Buches zu tun. Es enthält Feststellungen über unabgeschlossene, in fortwährender Wandlung begriffene Prozesse literarischer Entwicklung in der DDR. Die Landschaft, die es zu skizzieren unternimmt, wird sich bei seinem Erscheinen schon wieder in einigen Zügen verändert haben. Inmitten der laufenden Literaturdebatte entstanden, greift es in sie ein, polemisiert, war in einigen seiner Teile selbst bereits Gegenstand der Polemik und versteht sich somit als Beitrag zu einer kollektiven Meinungsbildung. Deshalb, nicht aus einem Übermaß an Bescheidenheit oder Vorsicht, sei hier ein für allemal betont, daß es sich „unserer Meinung nach" so verhält, wie auf den folgenden Seiten zu lesen ist. Der Band ist nicht einfach eine Sammlung verstreuter Aufsätze, bildet jedoch auch kein streng geschlossenes Ganzes. Er geht nicht darauf aus, einen Überblick über alle wesentlichen Erscheinungen unserer jüngsten Literatur zu bieten. Den durchgehenden Inhalt, der den in sich abgeschlossenen Teilbeiträgen eine gewisse Einheit verleiht, bilden einige in literarischen

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Werken gespiegelte oder ihnen zugrunde liegende wesentliche Tendenzen unserer gesellschaftlichen Entwicklung. In allgemeinen Zügen umreißt die einleitende Abhandlung, worum es geht. Wie sie sollten die beiden anderen zusammenfassenden Aufsätze über die Geschlechterbeziehungen und über Mensch und Arbeit als Problemskizzen aufgefaßt werden, die theoretisch und stofflich nach allen Seiten zu erweitern wären, ja zu einer solchen weiteren Ausarbeitung ermuntern wollen. Die einleitende Abhandlung verzichtet absichtlich darauf, die Charakterisierung literarischer Tendenzen in jedem Fall mit Beispielen zu belegen - in Erwägung, daß die getroffenen Feststellungen manches Werk wohl tendenziell und partiell, aber nicht als Ganzes kennzeichnen. Der Verfasser nimmt den Nachteil einer' gewissen Abstraktheit lieber in Kauf als die Gefahr einer zu summarisch-eingleisigen Aburteilung. Auch in den beiden anderen Studien mit übergreifender Thematik wurde eine Erörterung oder Erwähnung aller Werke, in denen z. B. Arbeit oder Liebe eine Rolle spielen, nicht angestrebt. Daß einige Bücher genauer besprochen, andere nur gestreift, viele nicht einmal genannt sind, hat die verschiedensten, hauptsächlich in der problemorientierten Anlage des Bandes liegenden Ursachen. Wenn manches Buch unerörtert bleibt, das in die diskutierten Zusammenhänge gehört, so gestattet dies keinen Rückschluß auf die Ansicht der Autoren über dieses Buch. Die hier vorgelegten Studien entstanden zwischen dem Frühjahr 1974 und dem Frühjahr 1975. Eva Kaufmann schrieb die Aufsätze Dem Leben auf die Schliche kommen und Sozialismus, Arbeit, Persönlichkeit; die restlichen Arbeiten sind von Hans Kaufmann. Mehrere Texte konnten im Manuskript mit Fachkollegen und Schriftstellern diskutiert werden. Von den einen wie von den anderen erhielten wir Kritik und Zuspruch, für die wir zu danken haben.

Literatur in einer dynamischen Gesellschaft „Es ist aber wichtig, daß wir uns darüber klarwerden, wie grenzenlos verlogen die landläufige bürgerliche Vorstellung ist, der Sozialismus sei etwas Totes, Erstarrtes, ein für allemal Gegebenes, während in Wirklichkeit erst mit dem Sozialismus die rasche, wirkliche, wahrhafte Vorwärtsbewegung der Massen auf allen Gebieten des öffentlichen und persönlichen Lebens [ . . . ] einsetzen wird." Lenin 1 „Das Sein ist fertig, aber das Werden entwickelt sich widerspruchsvoll." Anna Seghers-

1 Daß der Künstler „bilden", nicht „reden" solle, sagte bekanntlich Goethe. Aber wir besitzen von ihm eine riesige kritisch-theoretische Hinterlassenschaft; sogar in künstlerischen Werken (Werther, Wilhelm Meister, Wahlverwandtschaften und vielen anderen) reflektierte er über Kunst. Unmöglich kann er gemeint haben, was eine spätere Ästhetik seinem imperativischen Satz unterlegt hat: daß das Nachdenken über die Bedingungen und Eigenarten seiner Arbeit dem Künstler schade. Unsere Literatur ist solchen das Kunstschaffen irrational umhüllenden Maximen nie gefolgt. Seit einiger Zeit hat jedoch die Diskussion um das, was Literatur will, kann und soll, eine neue Dimension und Qualität angenommen. Interviews, Gespräche, Essays, Pamphlete, Liebes- und andere Erklärungen aus den letzten Jahren, in denen sich Schriftsteller über literarisches Schaffen äußern, füllen schon Bände und könnten noch weitere füllen. Parallel dazu mehren sich die Fälle, in denen Kunst und Künstler den Gegenstand der Kunst bilden. Schriftsteller verschiedener Veranlagung und Generation, Debütanten und erfahrene Meister lassen ihre Romanfiguren (werdende oder verhinderte Schriftsteller, Reporter, Fotografen usw.) über Schreibweisen und deren Wirkungsmöglichkeiten, über flache 9

und tiefe Erfassung der Wirklichkeit nachdenken, formulieren ironische oder ernste Sentenzen über Kunst und wehren entgegenstehende Ansichten ab. Viele bemerkenswerte Werke, die in letzter Zeit ans Licht traten, sind unter anderen auch Pamphlete, Wortmeldungen in dem großen gesellschaftlichen Verständigungsprozeß über die Rolle der Kunst, den der VIII. Parteitag der SED beträchtlich stimuliert hat. Bedeutet die verstärkte Neigung zu Selbstverständigung und Rückbesinnung Gewinn oder Verlust? Ist sie als Atemholen vor neuen Taten zu werten? Oder büßen wir vielleicht etwas ein, wenn einiges, was als sicher galt, erneut in Frage gestellt wird? - Ohne daß im Augenblick die einzelnen Äußerungen gewertet würden, sei die Vermutung gewagt, daß diese Selbstverständigung im ganzen etwas Notwendiges ist, daß sie mit der jüngsten Entwicklung unserer Gesellschaft korrespondiert, mit neuen Wesenszügen, zu denen auch eine stärkere Differenzierung ästhetischer Bedürfnisse gehört. In die Debatten, Uberlegungen und Analysen gehen - zum Teil ausdrücklich - zweieinhalb Jahrzehnte DDR-Literatur als Voraussetzung ein, und man sucht den eigenen Platz in dieser Entwicklung oder auch ihr gegenüber zu bestimmen. Aber nicht nur der Standort und Standpunkt in oder gegenüber der Literatur wird diskutiert, sondern - dies verdient besondere Aufmerksamkeit - auch der Standpunkt in und gegenüber der Gesellschaft. Offen und direkt werden in Günter de Bruyns Preisverleihung, in Jurek Beckers Irreführung der Behörden, in Christa Wolfs Essay Lesen und Schreiben, indirekter, aber deutlich auch in Anna Seghers' Reisebekanntschaft, in Franz Fühmanns 22 Tage oder die Hälfte des Lebens, in Karl-Heinz Jakobs' Die Interviewer, in Manfred Jendryschiks Johanna oder die Wege des DT. Kanuga - um ein paar Beispiele zu nennen - Weltaneignung und Persönlichkeitsausdruck durch die Kunst in vielfältiger Weise mit der Frage nach dem Leben des Künstlers in der Gesellschaft, der Haltung in und zu ihr, nach der Korrelation zwischen einer bestimmten Kunst und einer bestimmten Gesellschaft, verbunden. Mit Recht ist gesagt worden, daß die Mannigfaltigkeit der vertretenen Ansichten sich nicht auf unterschiedliche Handschriften herunterspielen läßt3, so als ob alle ungefähr das 10

gleiche meinten und es nur unterschiedlich zu sagen wünschten. Es meinen nicht alle das gleiche über die Kunst, die unsere Gesellschaft benötigt, und wohl auch nicht über diese Gesellschaft selbst. Aber alle denken über die Kunst im Hinblick auf die Gesellschaft nach, für alle sind die Fragen der Literatur nicht bloß literarische Fragen. Wenn Christa Wolf eine bestimmte Art, Prosa zu schreiben, verteidigt, wenn Volker Braun nach neuen Formen theatralischer Darbietung verlangt, wenn Günter Kunert seine Auffassung von der Funktion von Gedichten formuliert, so zielen die Autoren, indem sie sagen, wie man schreiben soll, auch auf die Frage, wie man leben soll. In diesem Sinne ist auch in folgendem von Literatur die Rede. Es sollen - zunächst in allgemeiner Form, durch Hervorhebung von Tendenzen, nicht in einer breiten Materialübersicht - Beziehungen zur Wirklichkeit diskutiert werden, die in literarischen Werken und in Schriftstellerpoetiken manifestiert sind. Um aber über Wirklichkeitsverhältnisse der Literatur sprechen zu können, muß man auch über wirkliche Verhältnisse sprechen. „Literaturkritik schließt Gesellschaftskritik in sich ein"4, sagte Franz Fühmann auf dem VII. Schriftstellerkongreß. Offenbar ist damit nicht gemeint - und das wäre auch falsch, verengte unzulässig das Wirklichkeitsverhältnis - , daß der Kritiker lediglich danach zu fragen habe, ob der Autor X richtig beschreibt, was er beschreibt. Es kann gut sein, in die Erörterung eines Romans, der Genossenschaftsbauern schildert, landwirtschaftliche Kenntnisse einzubringen. Aber schon die einfache Frage, warum der Autor X lieber ein Dorf als eine Großstadt zum Schauplatz macht, verlangt, das Problem der Wirklichkeitsbeziehung ganz anders zu fassen. Zu den Gedichten von Kito Lorenc' Flurbereinigung wird man kaum ein Verhältnis herstellen können, wenn man lediglich danach forscht, ob die sorbische Landschaft da „richtig" wiedergegeben sei. Und wo kämen wir hin, wenn wir zu der Begegnung von Gogol, Hoffmann und Kafka in Anna Seghers' Reisebekanntschaft die Entsprechung in der Wirklichkeit suchten? (Man kann vermuten, daß diese Erzählung uns unter anderem gerade eine veiristische Betrachtung des Verhältnisses von Kunst und Wirklichkeit abgewöhnen will.) Als Stoff kann 11

(auch darin ist Fühmann zuzustimmen) im einzelnen Werk immer nur ein Ausschnitt aus der sozialen Wirklichkeit erscheinen. Aber ein Werk widerspiegelt nicht nur den stofflich erfaßten Wirklichkeitsausschnitt, sondern vor allem eine Beziehung des Autors zu den bestimmenden Tendenzen des Gesellschaftsganzen und damit - in subjektiver Brechung — etwas von diesen bestimmenden Tendenzen selbst. Darum geht es hier. Es wird danach gefragt, wie in differierenden Literaturpositionen als deren Substrat unterschiedliche Einschätzungen des Feldes historischer Kräfte - vor allem der Sozialstruktur unserer Gesellschaft, aber auch des internationalen Kräfteverhältnisses - oder genauer: die Betonung unterschiedlicher Elemente dieses Feldes als bestimmend für die Kunst, ihre Aufgaben und Möglichkeiten Ausdruck finden.

2 Ein Beispiel: Peter Hacks nennt Zeit und Umstände, unter denen wir leben, „postrevolutionär" 5 . Welcher Zusammenhang besteht zwischen dieser Kennzeichnung, dem Kunstprogramm des Autors und dem in seinen Stücken verwirklichten Anliegen? - Demgegenüber spricht Volker Braun mit offensichtlicher Betonung davon, daß wir „während der Revolution" 6 ' leben. Beruht (unter der selbstverständlichen Voraussetzung, daß das Epochenverhältnis beider Autoren nicht auf die beiden Formeln reduziert werden kann) der Unterschied zu Hacks, den wir in der Wahl der Sujets, in der Menschenauffassung, in der Funktionsbestimmung der Kunst bei Braun konstatieren können, auf dieser unterschiedlichen Epochenbestimmung? Liegen, analog hierzu, in anderen Fällen unausgesprochen vergleichbare Differenzen der Epocheneinschätzung den Schaffensprinzipien zugrunde? Nicht jeder Künstler fühlt sich berufen, das Wesen seiner Epoche ausdrücklich zu definieren. Aber seine Auffassung von der Kunst, sie sei „redend" oder „bildend" vorgetragen, im Essay ausgesprochen oder im Werk manifestiert, impliziert auch eine Auffassung von dem historischen Ort, auf dem er steht. Durch die Vehemenz, mit der heute in unserem Lande die 12

divergierenden Ansichten verfochten werden, verlieren manchmal nicht nur die Leser, sondern auch die polemischen Schreiber aus dem Auge, daß es da auch Gemeinsames mit den genannten oder ungenannten Kontrahenten gibt. Und doch wäre es bedenklich, dies zu vergessen. Worin liegt es? Brecht notierte einmal nach einem Gespräch mit Eisler: „da war (in den gemeinsamen Bemühungen beider um eine neue Funktion der Kunst - H. K.) das postulat einer aktivisierenden musik. lOOmal am tag kann man aus dem radio hier aktivisierende musik hören: chöre, die zum kauf von coca cola animieren. man ruft verzweifelt nach l'art pour l'art." 7 Niedergeschrieben in Hollywood 1942, charakterisieren die bitter-sarkastischen Worte drastisch eine gesellschaftliche Situation, indem sie die Situation der Kunst charakterisieren. Welche Möglichkeiten bieten sich, wo die Kunst in der nacktesten, schamlosesten Weise kapitalistischen Zwecken dienstbar gemacht wird? Entweder man reiht sich, wie Brecht es angesichts der Notwendigkeit, in der Filmindustrie sein Brot zu verdienen, unbeschönigt ausdrückt, in die lange Schlange der „Lügenverkäufer" und „Rauschgifthändler" ein. Oder man entzieht sich dem Betrieb und schafft Kunst, die kapitalistischen Zwecken, Zwecken überhaupt, nicht dienstbar gemacht werden kann, Kunst, deren Sinn sich im Akt des Hervorbringens erfüllt und erschöpft. (L'art pour l'art erscheint hier in treffender Verkürzung als die „verzweifelte", spontane, ohne Aussicht auf eine Änderung der Lage gegebene Antwort auf kapitalistische „Verwurstung" der Kunst.) Oder man tut schließlich, was Brecht in der Hauptsache tat, der in diesen Jahren Die Gesichte der Simone Machard und Schweyk im zweiten Weltkrieg und den Kaukasischen Kreidekreis und einiges mehr schrieb, das weder Rauschgift noch l'art pour l'art, sondern Kunst für die Menschen war. Zweierlei ist daran in unserem Zusammenhang hervorzuheben. Einmal ist in unserer Literaturdiskussion bei aller Eigenwilligkeit einzelner Haltungen, bei aller Betonung der individuellen Nuance der verzweifelte Schrei nach l'art pour l'art kaum je programmatisch als adäquate Antwort auf den Zustand der Gesellschaft ausgegeben worden. (Um nicht zu vereinfachen, wollen wir präzisieren: Als Reaktion sowohl auf 13

die Tatsache, daß auch bei uns Kunst noch als Ware existiert, als auch auf wirkliche oder vermeintliche Vereinseitigung der der Kunst zugemessenen Funktion sind Tendenzen, künstlerische Tätigkeit und ihr Produkt den übrigen Tätigkeiten und Bewußtseinsformen isolierend gegenüberzustellen, durchaus aufgetreten. Sie reflektieren gewisse Probleme der gesellschaftlichen Entwicklung, von denen noch zu sprechen ist.) D e r Wegfall oder mindestens das Peripherwerden dieser Position ist das allgemeinste, breiteste, elementarste Symptom für das Bewußtsein, als Künstler in einer Gesellschaft zu leben, die der in Brechts Notat angesprochenen ungleich ist. D e r damit noch nicht geschlichtete, vielmehr erst beginnende Streit um Sinn, Funktion, Wirkungsmöglichkeit der Kunst findet - ausgesprochen oder unausgesprochen - auf der Grundlage statt, daß weder Rauschgifthandel noch Kunst um der Kunst willen als unserer Gesellschaft angemessene Reaktionen angesehen werden, daß weder die Verkäuflichkeit noch die Unverkäuflichkeit des Hervorgebrachten als bestimmende Kriterien des Sinnes der Kunst gelten. Aber der breite, allgemeine, elementare Charakter dieser Bestimmung macht auch deren Schwäche aus: Das Unterscheidende ist bloß negativ, ausschließend, noch nicht in seinem eigenen Wesen bestimmt. Brechts Notat, mit seiner künstlerischen Praxis zusammen gesehen, kann hier - zweitens - als methodisches Beispiel weiterhelfen. E s erweist nämlich, wie wichtig und künstlerisch ergiebig es für den Schriftsteller ist, wenn er genau und unverhüllt das Feld historischer Kräfte zu bestimmen vermag, in dem er sich befindet und Kunst zu machen hat. Um die Grenzen zu überschreiten, die ihm seine Lage aufzwang, mußte Brecht sie kennen und benennen; die Möglichkeiten - die allgemeinen und seine besonderen - , unter bestimmten Bedingungen Kunst zu schaffen, konnte er ganz ausschöpfen, indem er die Bedingtheit dieser Möglichkeiten begriff. D i e allgemeinen Möglichkeiten des heute in der D D R lebenden Schriftstellers sind andere als die Brechts 1942, doch sind es immer historisch bestimmte. Sie mit vollem Bewußtsein dem Schaffen zugrunde zu legen, wird so die Voraussetzung, unter der sich die individuelle Möglichkeit, das Talent, optimal entfalten kann. (Das hohe Niveau bei der Bestimmung des

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historischen Standorts in der Literaturprogrammatik und -praxis, das die sozialistische Literaturbewegung und die fortgeschrittensten bürgerlichen Autoren im antifaschistischen Exil erreichten, macht - nicht zuletzt, weil die Autoren veranlaßt waren, die Probleme des eigenen Landes im Licht der internationalen Entwicklung zu sehen - diese Literatur zu einer so wertvollen Quelle der theoretischen und methodologischen Belehrung für uns, auch wo in der Thematik und Schreibweise nicht an eine unmittelbare Anknüpfung zu denken ist.)

3 Auf die Bedeutung der allgemeinen Voraussetzungen literarischen Schaffens, die vom Künstler individuell zu nutzen sind, kam Anna Seghers in ihrer Rede auf dem VII. Schriftstellerkongreß knapp, aber eindringlich zu sprechen. Mit den Worten: „Jetzt befinden wir uns in einer Zeit, in der der Künstler, der vom sozialistischen Standpunkt aus schreibt, Ermutigung und Aufschwung erhält" 8 , bezeichnete sie die Bedingung dafür, d a ß der Kongreß eine so positive Zwischenbilanz ziehen und sich so konstruktiv den neuen Aufgaben zuwenden konnte. D a s Vertrauen in den Kurs, den der VIII. Parteitag eingeschlagen hatte, charakterisierte die Debatten, die Pläne und Vorschläge. Es ist richtig, von einem „günstigen Klima" für sozialistische Kunst zu sprechen, das der Parteitag geschaffen hat; aber es wäre falsch, darin eine isolierte, zufällige Erscheinung zu sehen, die unabhängig von den gesellschaftlichen Grundvorgängen und ihrer Einschätzung zu verstehen wäre. Zunächst - vor allem in der Zeit zwischen dem Parteitag und dem VII. Schriftstellerkongreß, zum Teil aber auch noch danach - hatte das günstige Klima unter anderem dazu geführt, daß in einigen Literaturdebatten und neuerscheinenden Werken Probleme zur Sprache gebracht wurden, deren Ursprung in der vorhergegangenen Zeit lag, die in den Köpfen und Schubladen aufgestaut waren und sich nun Luft machten. (Als Beispiele können die von Adolf Endler ausgelöste heftige Polemik in Sinn und Form und die Diskussion um Kontinuität und Diskontinuität der Lyrikentwicklung gelten.9) Als zeitwei15

lige Erscheinung war dies nicht unnormal. Wie unzulänglich, schief und einseitig die einzelne Äußerung gewesen sein mag: Es zeigte sich, daß Fragen eines neuen Standort- und Funktionsverständnisses der Literatur herangereift waren. Ihre Antwort konnten sie nur im Ergebnis jener Positions- und Kursbestimmungen finden, die der VIII. Parteitag, abgestimmt mit der internationalen Entwicklung des Sozialismus, vornahm. Ökonomen, Historiker und Philosophen haben offenbar daraus gründlichere Schlußfolgerungen gezogen als bisher die Literaturwissenschaftler und -kritiker. Die marxistisch-leninistische Einschätzung der gegenwärtigen Etappe sozialistischer Entwicklung auf dem großen Weg vom Kapitalismus zum Kommunismus ist aber eine Grundfrage für das Verständnis der Gegenwartsprobleme unserer Literatur. Der Terminus „entwickelte sozialistische Gesellschaft", entstanden aus der Verallgemeinerung des Entwicklungsstandes mehrerer sozialistischer Länder, basiert auf der von Marx (in der Kritik des Gothaer Programms) und Lenin (in Staat und Revolution und späteren Äußerungen) formulierten Charakteristik des Kommunismus und seiner verschiedenen Entwicklungsetappen. Sie ermöglicht, einerseits die übergreifenden Gesetzmäßigkeiten der mit der sozialistischen Revolution beginnenden Epoche im ganzen herauszuarbeiten und damit inhaltlich die Kontinuität des Gesamtprozesses zu bestimmen10*, andererseits innerhalb dieses Zusammenhangs die verschiedenen Phasen voneinander abzuheben, eine relative Diskontinuität also der entwickelten sozialistischen Gesellschaft gegenüber der Zeit zu betonen, in der die Grundlagen des Sozialismus geschaffen wurden. Weder gute noch böse Wünsche, sondern die wirklichen geschichtlichen Koordinaten liegen der Standortbestimmung zugrunde. „Marx", sagt Lenin, „stellt die Frage des Kommunismus so, wie der Naturforscher die Frage der Entwicklung einer neuen, sagen wir, biologischen Abart stellen würde [ . . . ] bei Marx findet sich auch nicht die Spur eines Versuchs, Utopien zu konstruieren."11 In gleichem Sinn sprach Erich Honecker auf dem VIII. Parteitag von der Notwendig1 0 * Als Lesehilfe wurden die Ziffern, die auf Sachanmerkungen hinweisen, durch einen Stern gekennzeichnet.

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keit „realistischer Einschätzung unserer Kräfte und Möglichkeiten". 12 Und es ist - fern von aller Wortspielerei - durchaus mit Recht danach zu fragen, was dieser „Realismus" der wissenschaftlichen Selbstverständigung und der politischen Praxis mit dem Realismus in der Literatur zu tun hat. Im Nachdenken über das, was sich mit dem Begriff der entwickelten sozialistischen Gesellschaft verbindet, offenbart sich in der Tat der allgemeine Inhalt und Hintergrund vieler Literaturdebatten und der sich differenzierenden literarischen Positionen, die sich zum Teil direkt oder indirekt polemisch gegeneinander kehren. Daß die D D R nur als Teil der sozialistischen Staatengemeinschaft und in den revolutionären Weltprozeß einbezogen gesehen werden kann; daß der geschichtliche Verlauf seit der Befreiung einerseits eine Einheit darstellt, andererseits in den sechziger Jahren eine neue Phase begonnen hat; daß die mit der sozialistischen Revolution eingeleitete Entwicklung nach vorn, zum Kommunismus hin offen ist - das dürften dabei die wichtigsten allgemeinen Momente sein. Insbesondere war und ist offensichtlich umstritten, ob sich Themen, Haltungen und Strukturen, die sich in der Literatur herausgebildet hatten, als die Grundlagen des Sozialismus geschaffen wurden, unter Bedingungen fortsetzen lassen, da die neue Gesellschaft schon feste Formen angenommen hat. Ist die Gesellschaft, die sich herausgebildet hat, beschreibbar als Steigerung und Anreicherung dessen, was die frühen Aufbaujahre kennzeichnete? Oder tritt Neues, partiell sogar Gegenläufiges auf und verlangt nach Ausdruck, wenn sich die Gesellschaft bereits auf ihren eigenen Grundlagen eingelebt, feste Institutionen und Mechanismen ausgebildet hat? Entsteht da eine relative Statik, und wie verhält sie sich zur Dynamik des zum Kommunismus führenden Prozesses? - Diese Fragen stehen ja dahinter, wenn von „postrevolutionär" und „während der Revolution" gesprochen, wenn die Daseinsberechtigung des Privaten und Intimen in der Poesie proklamiert, über die Darstellbarkeit des heutigen Individuums und der gesellschaftlichen Grundvorgänge nachgedacht, die Entwicklung seit 1945 episch bilanziert, die Funktion der Kunst zum Gegenstand erneuter Reflexion gemacht wird. Wie die Dialektik von Formiertheit und Dynamik der Gesellschaft, das Verhältnis also zwischen dem einmal EntstanK a u f m a a n , Studien

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denen und nun Fixierten, Eingerichteten, in Institutionen Befestigten und der über diesen Zustand hinausführenden gesellschaftlichen Evolution sich darstellt und literarisch darstellbar wird, scheint uns ein Kardinalproblem zu sein. Hegel sagt von den „Kämpfen", die das „Romanhafte im modernen Sinne des Wortes", im Sinne also einer sich verfestigenden bürgerlichen Ordnung, ausmachen: „Diese Kämpfe nun aber sind in der modernen Welt nichts weiteres als die Lehrjahre, die Erziehung des Individuums an der vorhandenen Wirklichkeit, und erhalten dadurch ihren wahren Sinn. Denn das Ende solcher Lehrjahre besteht darin, daß sich das Subjekt die Hörner abläuft, mit seinem Wünschen und Meinen sich in die bestehenden Verhältnisse und die Vernünftigkeit derselben hineinbildet, in die Verkettung der Welt eintritt und in ihr sich einen angemessenen Standpunkt erwirbt [ . . . ] Zuletzt bekömmt er meistens doch sein Mädchen und irgendeine Stellung, heiratet und wird ein Philister so gut wie die anderen auch [ . . . ] " 1 3 Trotz des Sarkasmus in der Zeichnung der bürgerlichen Prosa sieht Hegel diesen Gang der Dinge als historisch notwendig an. Da der moderne Staat (die — möglichst etwas reformierte — preußische Monarchie) ihm als Gipfel historischer Entwicklung gilt, ist die Anerkennung der Verhältnisse als vernünftig, das „Hineinbilden" und Zur-Ruhe-Kommen in ihnen das einzig geschichtsgemäße Verhalten des Individuums. Der Roman, der dies beschreibt, verfährt also den Verhältnissen entsprechend. Freilich bleibt ein unaufgelöster Rest, der sich als Unruhe des inneren Gemüts geltend macht. 14 Es lohnt sich durchaus zu fragen, inwieweit dieses Modell, das Hegel aus dem Roman des b ü r g e r l i c h e n Zeitalters abstrahiert, auf die Darstellung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft im S o z i a l i s m u s anwendbar ist beziehungweise was bei dem Versuch, es anzuwenden, herauskommt. Entsteht daraus nicht die Vorstellung, als gebe es Bewegung und Entwicklung nur noch auf der Seite der einzelnen Individuen, die sich auf die Höhe des gesellschaftlichen Status quo zu erheben haben und, ist dies erreicht, in ihm zur Ruhe kommen? In der Tat spielten solche Auffassungen sowohl in der Theorie als in literarischen Werken zuzeiten eine gewisse Rolle. Was jedoch im geschichtlichen Übergang einmal not18

wendige Forderung nach neuer Einstellung auf gesellschaftliche Erfordernisse war, kann unter veränderten Bedingungen den Geruch philiströser Anpassung annehmen: Der Mensch, der sich in die Verhältnisse eingepaßt hat, begreift sie als „vernünftig" und als „schön", und die - im wesentlichen nur subjektive - Entwicklung ist am harmonischen Ende angelangt. Und wo man solche theoretischen Angebote und literarischen Modelle spontan zurückwies, entstanden Tendenzen zu Ausgliederung, Rückzug, Verinnerlichung und vager, nur ins Subjektive verlegter Zukunftshoffnung. Beides, die Reduktion der Bewegung auf Anpassung wie die Ausgliederung, wurde befestigt .durch die zeitweilig gebrauchte Charakterisierung des Sozialismus als einer „relativ selbständigen Gesellschaftsformation", und beide Erscheinungen können nun im Licht der Theorie von der entwickelten sozialistischen Gesellschaft historisch besser eingeschätzt werden. Gerade weil der im Hegel-Zitat angebotene Vergleich ernst zu nehmen ist, müssen jedoch auch seine Grenzen gesehen werden. So dogmatisch wie Hegel sah gewiß in keiner Phase ein sozialistischer Schriftsteller die Gegenwart als Ende der Geschichte, und gewöhnlich wird durch die Beobachtung realer Lebensvorgänge doch wenigstens etwas von der Dynamik gesellschaftlicher Entwicklung sichtbar, wenn geschildert wird, wie sich etwa Romanfiguren allmählich auf sozialistische Positionen zuentwickeln. Ferner: Sind der Sozialismus, die Gesellschaft ohne Kapitalisten und ihre Organisationsform, der Staat, als höhere Stufe sozialer Entwicklung und als Errungenschaft der Werktätigen nicht wirklich zu bejahen und zu verteidigen? - Zweifellos. Das heißt aber, daß die historische Berechtigung einer solchen Sehweise und eines solchen Gestaltungstyps dort liegt, wo die Alternative zum Kapitalismus den Gegenstand bildet und die neue Gesellschaft bei ihrem eigenen Inhalt erst anzukommen beginnt, so daß sie noch nicht mit ihrem eigenen, sondern mit einem außer ihr liegenden Maß gemessen wird. Groß können literarische Aussagen dieser Art sein, wo die Last der zu bewältigenden Vergangenheit groß und selbst der bescheidenste Ausgangspunkt subjektiver und objektiver Lebenserneuerung schwer errungen war. Soweit 2'

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Auseinandersetzung mit dem Imperialismus zur Debatte steht, bleibt diese Fragestellung aktuell. Ist jedoch unsere Gesellschaft einmal bei sich selbst angelangt, zum Alltag geworden, so ändert sich die Voraussetzung. Jetzt würde der Wunsch, das in der Gesellschaft zur Ruhe kommende Individuum vorzuführen, als Ziel setzen, was allenfalls noch Ausgangspunkt sein kann, und die Erfüllung dieses Wunsches ginge an dem vorbei, was die Menschen beschäftigt. Es ist Alltagserfahrung, daß „man" an den Sozialismus andere Ansprüche stellt als an den Kapitalismus. „Man" neigt dazu, für jeden kleinen Mißstand (von größeren zu schweigen) die Gesellschaft, den Staat, die Partei, die Führung usw. verantwortlich zu machen - , was man beim Kapitalismus nicht ohne weiteres tut. Niemand erwartet ernstlich, daß der Kapitalismus „vernünftig" sei, daß er mit den Interessen aller übereinstimme. (Selbst seine emsigsten Verteidiger wagen das kaum noch zu behaupten.) Vom Sozialismus erwartet man das („Er ist vernünftig" 15 , wird in Brechts Mutter zum Lob des Kommunismus gesagt). E r wird mit einem anderen Maß gemessen, an dem Anspruch nämlich (im großen und ganzen), mit dem er historisch berechtigt antritt und antreten muß und den er auf jeder Stufe seiner^ Entwicklung mehr, aber immer nur partiell erfüllen kann. Diese Wertung im Alltag ist unkritisches Bewußtsein eines wirklichen Seins, unreflektierte Wahrnehmung der tatsächlichen historischen Stellung des Sozialismus, Ausdruck eines Widerspruchs, der sich vorläufig immer wieder neu herstellt und nicht mit einmaligen Akten aus der Welt zu schaffen ist - am wenigsten mit der Forderung, das Bewußtsein ein für allemal mit dem gegebenen Niveau der Verhältnisse in Übereinstimmung zu bringen. Gegen Genossen gewandt, die wegen unvermeidlicher „Mißverhältnisse" zwischen ökonomischen und politischen Kräften in Kleinmut verfielen, erklärte Lenin: „So denken .Menschen im Futteral', die vergessen, daß es niemals eine .Übereinstimmung' geben wird, daß es sie in der Entwicklung der Natur ebensowenig geben kann wie in der Entwicklung der Gesellschaft [.. .]" 1 6 Es liegt in der Natur jener tendenziell in Teilen unserer Literatur wirksamen Konzeption, daß sie nur für den Konflikt des Individuums m i t der Gesellschaft Platz hat, nicht aber

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für die in kollidierenden menschlichen Handlungen und Schicksalen sich äußernden Widersprüche i n der Gesellschaft. Konflikte haben, so gesehen, ihre Grundlage nur im Individuum, das das bereits vorhandene Richtige und Vernünftige und von anderen Gewußte noch nicht begreift. Es ist der Irrtum, im wesentlichen der persönliche, vermeidbare und zu überwindende Irrtum, der die Substanz der Konflikte liefert. Großangelegte Sujets büßten dieser Ansicht zuliebe an Dimension ein. So deutete etwa die Handlung von Benito Wogatzkis seinerzeit viel diskutiertem Fernsehspiel Die Zeichen der Ersten, dem das Studium wichtiger Vorgänge in der Produktion zugrunde lag, darauf hin, daß auch die Unterschiedlichkeit der Interessen von Mitgliedern unserer Gesellschaft Konflikte und Hemmungen hervorrufen kann. Die zwischen dem Werkleiter und seinem Stellvertreter ausgefochtene Streitfrage: Durchführung eines kostspieligen, in seinem Ergebnis ungewissen Versuchs unter allen Umständen („Alles oder nichts") - oder Sicherung kontinuierlicher Produktion („mittlere Variante") besitzt gewichtige objektive Substanz; sie ist nur im Rahmen bestimmter Gegebenheiten, vielleicht nicht einmal da ein für allemal eindeutig zu entscheiden und hätte dem Betrachter zum Nachdenken überliefert werden können. Indem Wogatzki daraus eine im literarischen Werk sofort und nur in einem Sinne richtig entscheidbare, eine moralische Frage machte und der anderen Seite jede Berechtigung absprach - wer gegen die „Alles-oder-nichts"-Variante ist, verdient nicht, das Mitgliedsbuch der Partei zu tragen, ist ein Spießer mit Villa usw. verkleinerte er ungewollt das Ausmaß und die allgemeine Seite der Kollision. Was angelegt war als kompliziertes Geflecht innerer und äußerer Probleme unserer Gesellschaft, nichtantagonistischer Widersprüche mit antagonistischen, löst sich auf in Irrtum und Besserung. Theoretisch entspricht dem Unwillen, eine über den erreichten Zustand hinausgehende geschichtliche Bewegung in Betracht zu ziehen, die These, die Kunst habe es im Sozialismus ausschließlich mit „lösbaren" Konflikten zu tun, mit Mißständen also offenbar, die auf dem gegebenen Niveau der Verhältnisse abgestellt, mit Irrtümern und falschen Bestrebungen, die abgelegt werden können. Die Fähigkeit zu praktisch unbegrenzter 21

Weiterentwicklung des Sozialismus, die als sein wirklicher qualitativer Vorzug gegenüber dem Kapitalismus herausgearbeitet zu werden verdient, kommt dabei nicht zur Geltung. Im Rahmen der Vorstellung vom Sozialismus als einer „relativ selbständigen Gesellschaftsformation" wird der Widerspruch i n der Gesellschaft, der, literarisch widergespiegelt, darauf hindeutet, daß seine Lösung höhere Formen des Zusammenlebens verlangt, zu etwas mehr oder minder Illegitimem. Steine des Anstoßes, die nicht sofort aus dem Wege zu räumen sind, haben dann als zufällig, untypisch, abnorm, als für die Kunst möglichst nicht vorhanden zu gelten. Die Gesellschaft ist eingerichtet, nun möge sich der Mensch in ihr einrichten. Folgt man diesem Konzept, so erscheint - um an das HegelZitat zu erinnern - die „Prosa" einer einmal entstandenen gesellschaftlichen Ordnung als das Gegebene, Bleibende, demgegenüber die „Poesie" eine davon losgetrennte subjektive Setzung ist. Die Antithetik setzt sich, wie gesagt, sowohl in der sympathischen als in der antipathischen Beziehung zur „Prosa" durch. Das subjektiv Poetische kann im Sinne einer Übereinstimmung das Prosaische anstrahlen und so „poetisieren", oder es läßt den Schatten seiner Indignation darauf fallen. So oder so entstehen dualistische Konzeptionen. In eigenartiger Weise hat sich Peter Hacks seit der Mitte der sechziger Jahre als Stückeschreiber und Theoretiker auf eine solche Position gestellt. Sein erklärtes Einverständnis mit dem realen Sozialismus dient ihm als Ausgangspunkt, um seine Themen jenseits wirklicher Zustände anzusiedeln. Dem Verhältnis der „besten aller möglichen" zur „besten aller wirklichen Welten", sagt er, eine Aufklärungsphrase paraphrasierend, entspreche als Gegenstand der jüngsten Kunst „das Verhältnis der Utopie zur Realität" 18 - wobei diese sich auf jene zubewege. In dieser Konstruktion tritt an die Stelle der wirklichen Bewegung als Gegenstand die bloße aufklärerisch-idealistische Hoffnung auf Bewegung, ausgelöst von der Anziehungskraft der - freilich als nie erreichbar gesehenen, aber doch als Ziel gesetzten - Utopie. Voraussetzung dieses Programms ist die Annahme einer „postrevolutionären" Gesellschaft, die die Dynamik der Umgestaltung hinter sich hat und dem Autor gerade deshalb gut erscheint, um in ihr Kunst zu 22

machen, die sich damit beschäftigt, gleichsam die menschliche Innenausstattung des Gebäudes wohnlicher und kultivierter zu gestalten: „Wenn Balzac aus seiner Zeit die Folgen zog und die Prosa unbeschränkt inthronisierte, sind wir entschlossen, die Poesie als Gegenprätendenten aufzustellen. W i r leben nicht in einer poetischen Welt, aber wir empfinden die Welt als poetisierbar." 19 Mit wünschenswerter Deutlichkeit faßt der Autor hier „das Poetische" als subjektive Setzung und als entschlossenes Absehen von der „Prosa". Damit schafft er sich allerdings freie Räume, die ihm gestatten, in seinen Stücken ungetrübt den möglichen Reichtum der Persönlichkeit, die Dialektik ihrer Gefühle usw. zur Anschauung zu bringen. Daß die vergnügliche Vorstellung von Gestalten ohne Erdenschwere, aber mit irdischen Eigenschaften, auch an der Konstituierung realer Persönlichkeiten mitzuwirken vermag, daß auf diese besondere Weise wirkliche Probleme geistig-moralischer Art zur Sprache kommen, ästhetische Bedürfnisse geweckt und befriedigt werden können, ist unbezweifelbar. Die künstlerische Arbeit mit dem (stofflich gesehen) Irrealen, die dadurch bewirkte Ausbildung der Phantasie soll sein und sich mehren; wie könnte Kunst den Sinn für das Reale besser stärken als durch Anregung der Phantasie? - Doch muß, soweit es Hacks betrifft, die Rückfrage erlaubt sein, ob solcher Gewinn notwendig mit dem Verlust an geschichtlicher Dialektik zu erkaufen ist, den die Einschätzung unserer Gesellschaft als „postrevolutionär" nun einmal nach sich zieht. Wenn Hacks der Antithese einer relativ statischen Gesellschaft und einer beweglichen Subjektivität aus dem Wege geht, indem er „die beste aller wirklichen Welten" akzeptiert, um sie dann in ihrer prosaischen Gestalt auf sich beruhen zu lassen, so legen andere Schriftsteller eben diese Antithetik ihrem Schaffen zugrunde. Poesie im denkenden, fühlenden, wollenden Subjekt und Prosa der sozialen Welt treten einander sichtbar gegenüber. Unübersehbare Widersprüche zwischen Ideal und Wirklichkeit erscheinen dann als unüberbrückbare Gegensätze. Jeder Stein des Anstoßes scheint ein Gegenbeweis zu dem zu sein, was die Gesellschaft ihrer Definition und ihrem Anspruch nach ist. In den Vordergrund drängt sich, was das Leben den Menschen schuldig bleibt. Zu dessen Anwalt 23

und Sprecher macht sich der Schriftsteller, das Schreiben selbst wird zur Manifestation sonst versagter menschlicher Erfüllung. Als Gegenwirkungen auf beschönigende Wirklichkeitsinterpretationen, deren Widerspruch zur Realität nicht verborgen bleiben kann, sind derartige Sehweisen und Haltungen und auch die Einseitigkeiten und Übertreibungen, die sich bisweilen damit verbinden, leicht begreiflich. Doch wird nicht nur auf Ideologieangebote, sondern - und das ist am Ende entscheidend, wie sehr auch interne Polemik mitspielen mag - auf die Wirklichkeit selbst reagiert. Die Frage ist gerade hier zu stellen, auf welche Weise im Wirklichkeitsverhältnis der Literatur wirkliche Verhältnisse zur Sprache kommen. In reiner Abstraktion erscheint bei einer polaren Gegenüberstellung von Ideal und Wirklichkeit die vorgefundene soziale Welt als Mangel so in Schillers Definition „sentimentalischer Dichtung".20* Aber unter den Bedingungen einer vom Kapitalismus befreiten Gesellschaft und in der Sicht von Schriftstellern, die sich zum Sozialismus bekennen, entsteht eine neue Chance dadurch, daß das „Ideal" selbst Produkt der Jahrzehnte sozialistischer Entwicklung, daß es in ganz anderem Grade geschichtshaltig ist oder doch sein kann als etwa bei Schiller. Der Schriftsteller kann Mißverhältnisse bemerken und bemerkbar machen nicht nur im Lichte dessen, was von einem ersehnten Ideal her schön wäre, sondern auch dessen, was real not tut. Der Gesichtspunkt, unter dem das Bestehende gesehen wird, ist das gesellschaftliche Bedürfnis. Dies aber (es ist selbstverständlich nicht gleichzusetzen mit jedem extravaganten Privatwunsch) ist eine Grundform, in der der erreichte Entwicklungsstand der Gesellschaft subjektiv erscheint. Während in den nachrevolutionären Stadien der bürgerlichen Gesellschaft das der Wirklichkeit entgegengehaltene Ideal einen immer ohnmächtigeren Charakter annimmt, immer mehr zur bloßen Innerlichkeit wird, ist Literatur unter unseren Bedingungen auch durch die Wahrnehmung und das Erwecken heranreifender gesellschaftlicher Bedürfnisse - sie werden zur subjektiven Triebkraft praktischer Veränderung - einbezogen in die spezifische Dynamik sozialistischer Entwicklung. Wenn - z. B. - Christa Wolf in ihrer Erzählung Selbstversuch und in kommentierenden Bemer24

kungen mit einiger Schärfe darauf hinweist, daß der erreichte Stand weiblicher Gleichberechtigung eine Stufe der Entwicklung darstellt, die heute - und gewiß nicht von ihr allein als bereits nicht mehr ausreichend empfunden wird 21 , so erfaßt sie mindestens in einer Hinsicht unseren historischen Standort. Und dies ist nur einer von vielen möglichen und zum Teil schon literarisch gestalteten Fällen, in denen neue Probleme und Konflikte daraus entstehen, daß gleiches Recht „Anwendung von gleichem Maßstab auf ungleiche Individuen" 22 ist. Der erreichte Fortschritt läßt das neue Bedürfnis hervortreten. Denn „nach der Verwirklichung der Gleichheit aller Mitglieder der Gesellschaft i n b e z u g auf den Besitz der Produktionsmittel [. . .] wird sich vor der Menschheit unvermeidlich die Frage erheben, wie sie von der formalen zur tatsächlichen Gleichheit, d. h. zur Verwirklichung des Satzes J e d e r nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen' weiterschreiten soll." 23 Das neue Bedürfnis tritt - nach Lenins Formulierung - „sofort" auf, wenn die erste Stufe erreicht ist, doch kann es in der Praxis nur allmählich befriedigt werden. In diesem Spannungsfeld kann der geschichtlich legitime Beruf einer Literatur liegen, die das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft - davon später mehr - antithetisch sieht. Sie bildet in ihrer Grundstruktur strukturelle Züge der Wirklichkeit ab, die Ruhelosigkeit der in ihr wirkenden Subjektivität vermag die soziale Analyse zu stimulieren und moralische Haltungen kommunistischer Art wachzurufen oder zu bekräftigen. Im Prinzip setzt das voraus, daß sie ihr Betätigungsfeld in dieser historischen Bestimmtheit begreift, daß die Spontaneität in der Wahrnehmung von Mißverhältnissen durch Bewußtheit ergänzt wird. In der Menge der hier in Betracht kommenden literarischen Erscheinungen ist das in unterschiedlichem Grade der Fall. Aber auch die (mehr oder minder) spontanen Äußerungen dualistischer Auffassung von Individuum und Umwelt sind von Fall zu Fall danach zu befragen, inwieweit sich darin Folgeerscheinungen sozialer Ungleichheit, unerfüllte Erwartungen überpersönlichen Inhalts und geschichtlich berechtigter Art artikulieren. Das kann im Essay über Kunst geschehen oder auch im elegischen Liebesgedicht, in Selbstdarstellungen einer Individualität, die sich mehr im Gewahrwerden der in 25

ihr schlummernden Kräfte bejaht als in deren Betätigung nach außen, oder auch in der Beziehung zu einer Natur, die als Ruhepunkt und Zuflucht aufgefaßt und angerufen wird. Allerdings treten solche berechtigten, unsere Literatur bereichernden Züge nicht selten in Verbindung mit der Tendenz auf, sich ideologisch zu verselbständigen. Sie macht sich um so stärker bemerkbar, je mehr ein Schriftsteller dazu neigt, beobachtete Mißverhältnisse philosophisch zu verallgemeinern, und sie wird bedeutend stimuliert durch immanente Polemik gegen die Vorstellung von einer sozusagen fertigen, in sich geschlossenen Formation, in der die Perspektive nicht der wirkliche Prozeß, sondern überzogene Abstraktion („sozialistische Menschengemeinschaft") ist. In der Polemik gegen eine einseitig überbetonte Statik teilt man noch die wesentliche Voraussetzung der Position, von der man sich abzugrenzen sucht. Die Pole echter Spannungen erscheinen dann als unvermittelbare Gegensätze, das Denken tendiert zu Antithesen, in denen Zu- und Abneigungen repräsentiert sind und die, auf diese Weise emotional aufgeladen, ein Eigenleben zu führen beginnen: Kunst - Leben, Ich - Welt, Individuum - Gesellschaft usw. D a s vom Ideal her Bejahte findet seinen Platz nicht in der das Individuum einbegreifenden Bewegung der Verhältnisse, sondern jenseits von ihnen, im abgegrenzten Ich, in einer Zukunft, deren Zusammenhang mit der Gegenwart zerrissen ist, oder der Vergangenheit. Eine geheime Sehnsucht nach den „Ursprüngen" wird laut - in der Annahme, naturwüchsige Einheit und Fülle der Persönlichkeit seien in der Geschichte der Zivilisation und der Klassenkämpfe verlorengegangen und nun wiederherzustellen. Kunst und Künstler werden der Tendenz nach, in Einzelfällen auch sehr ausgeprägt, individualistisch interpretiert, vor allem in der Weise, daß die Besonderheit der Kunst, ihre Unterschiedenheit von anderen Bewußtseinsformen und Tätigkeiten, zu einem Gegensatz und dieser zu einer Höherwertigkeit hinaufstilisiert wird. D i e Abwehr (angeblich oder wirklich) falscher Zumutungen bringt hier und da Konzepte und Verfahren hervor, die - beispielsweise durch Verselbständigung des Artifiziellen, durch Tendenzen zur Hermetik - die Funktion der Kunst stark reduzieren. Einige meinen, in einer „neuen Sicht der Dinge" die Aufgabe der 26

Kunst gefunden zu haben und weisen in diesem Zusammenhang tradierte (und bewährte) Vorstellungen von der Funktion revolutionärer Kunst zurück. Nun kann das Programm einer neuen Sicht der Dinge - in dieser Allgemeinheit ist es weder zu loben noch zu tadeln - wohl dazu führen, daß früher nicht oder falsch Gesehenes neu oder erstmals in seiner Wahrheit hervortritt. Die Gestaltung von Lebensschicksalen und Ansichten unscheinbarer und bisher unbeachteter Leute führt unier Umständen ins Zentrum dessen, was alle angeht. Genau hinsehen und genau formulieren ist gut. Jedoch kommt Peripheres In der Substanz, Manier in der Schreibweise heraus, wenn die „neue Sicht" auf die Sicht des Neuen ganz verzichtet. Die isolierte Subjektivität verschanzt sich dann hinter einem W a l l von - vorgeblich „ideologiefrei" und damit überhaupt erst „richtig" gesehenen - Dingen. Das Verfahren ist nicht neu und selbst ideologisch vermittelt. In diesen Zusammenhängen kamen in den Literaturdiskus•sionen Ansichten über Kunst und Leben zur Sprache, deren Elemente sich vielfach bereits in der Geschichte des spontan antikapitalistischen Künstleraffronts vorfinden. Es ist jedoch nicht viel gewonnen, wenn man da „Westeinflüsse" konstatiert. Denn die Fragen, um die es geht, werden damit nur weggewischt, nicht beantwortet. Vorgetragen von Schriftstellern, die den Sozialismus in Wort und Tat bejahen, in kapitalistischen Ländern für die DDR einstehen usw., müssen solche Anleihen primär als Versuche gewertet werden, mit den eigenen Lebensumständen gedanklich zurechtzukommen. Die marxistische Analyse wird stets „aus,den wirklichen Lebensumständen die verhimmelten Formen [. . .] entwickeln." 2 4

4 Unser Ausgangspunkt war, daß in der Art zu schreiben Vorstellungen von der Art zu leben enthalten sind. Bei der im einzelnen notwendigen Kritik an Vereinseitigungen sollten wir nicht vergessen, daß Vereinseitigung Hervorhebung einer Seite eines Zusammenhangs bedeutet. Für die zuletzt genannten Tendenzen gilt das mit Sicherheit; ihre bloße Zurückweisung 27

erhellt demnach noch nicht, was sich in ihnen verbirgt. Es gilt um so mehr, wo Literatur thematisch und gegenständlich direkt auf aktuelle Lebensprobleme reagiert. Folgen wir dem oben skizzierten Leninschen Gedankengang, so bedeutet es als gesellschaftliches Phänomen gesehen, das sich in individuellen Nuancen äußert, folglich auch Übertreibungen, Schiefheiten usw. mit sich bringt - nicht unbedingt einen Unglücksoder Rückfall, wenn Schriftsteller, als die Grundlagen des Sozialismus geschaffen waren, nach der „Rolle des Individuums" in unserer Gesellschaft, nach der „Selbstverwirklichung" verstärkt zu fragen begannen und Menschen mit „Ansprüchen" wohlwollend gestalteten. Vielmehr liegt die Vermutung nahe, daß sich darin in der Form des Bedürfnisses Neues ankündigt. Ob dies der Fall ist, entscheidet sich daran, was für ein Individuum proklamiert wird, von welcher Art sein Anspruch ist. Ist es der Anspruch des Konsumenten, der einfach eine dickere und schmackhaftere Scheibe vom allgemeinen Kuchen beansprucht, ohne daß ihn die Vergrößerung des Kuchens im übrigen interessiert? Ist es das monadische, egoistische, das bürgerliche Individuum, das sich zur Geltung bringen will, der Privatmann, der sich dem Staatsbürger entgegenstellt und in der Gesellschaft, dem Staat, nur Mittel sieht, sein Privatinteresse durchzusetzen, das, wie Marx sagt, das „Interesse des Privaten" 25 ist? - Oder ist der Anspruch auf eine höhere Qualität der Teilnahme an den öffentlichen und allgemeinen Dingen gemeint, der Anspruch, gebraucht zu werden, alle Anlagen und Kräfte tätig zu verwirklichen und in dieser Betätigung Selbstgefühl zu entwickeln, ist es der vielleicht instinktiv und daher vulkanisch, undressiert, maßlos sich äußernde Anspruch des seiner Intention nach gesellschaftlichen Individuums, das an die historischen Grenzen realer Vergesellschaftung stößt? - Offenbar haben wir es in den Debatten der letzten Jahre sowohl mit dem einen als mit dem anderen zu tun. Häufig treten beide Seiten miteinander verflochten auf (der Autor „meint" vielleicht mehr das zweite, sagt aber mehr das erste) - infolge der Spontaneität, mit der der Anspruch vorgetragen wird, der fehlenden Bewußtheit über die eigene historische Lage. „Ich bin ich, ich bin Kanuga", 26 sagt Kanuga am Schluß von Manfred Jendryschiks Roman Johanna oder die 28

Wege des Dr. Kanuga. Nun, gewiß. Er sagt damit nur, daß das lautstark sich artikulierende Ich sich seines Wesens noch nicht recht bewußt ist. Von solcher Unbestimmtheit zeugt unter anderem auch die Tatsache, daß einige talentierte jüngere Autoren, die Konfliktsituationen und Gestalten aus früheren Zeiten anschaulich darzustellen vermögen, eigentümlich blasse, weil geschichtlich konturlose Menschen ihrer eigenen Generation hinstellen. Wenn wir jedoch eine solche Vermischung der Inhalte mitmachen und beide erwähnten Arten von „Anspruch" mit den gleichen Hegeischen, etatistischen Argumenten (vgl. das sich „die Hörner ablaufende Subjekt") zurückweisen, wenn wir uns darauf beschränken, den „Anspruch" und die Forderung nach „Selbstverwirklichung" in jedem Fall als kleinbürgerlichen Konsumentenstandpunkt, als Individualismus und Egoismus zu denunzieren, so gehen dabei einige wichtige Sachverhalte verloren. Erstens bedeutet für Marx „die freie Entwicklung der Individualitäten" 27 , das „total entwickelte Individuum" 28 (diese und ähnliche Formulierungen gebrauchte er dutzendfach) den wesentlichen Inhalt des Kommunismus, d. h. das Ziel des Kampfes der Arbeiterklasse. Und zwar äußert er dies nicht in beiläufigen Bemerkungen, nicht aus schöngeistig-humanistischer Anwandlung, es ist vielmehr der Extrakt seines Verfahrens, in der „bornierten bürgerlichen Form", die die Entwicklung der Produktivkräfte und die Vergesellschaftung der Produktion unter kapitalistischen Verhältnissen annehmen, zugleich die Vorarbeit zu sehen, die der Kapitalismus für künftige „humane Entwicklung" 29 leistet. Zweitens hat bereits der frühe Marx (namentlich in Zur Judenfrage, 1843) eingehend nachgewiesen, daß der vielbeschrieene Widerspruch zwischen Individuum und Gesellschaft eine typische Konstellation, ein Wesenszug der bürgerlichen Gesellschaft ist. Gerade wo sich die junge Bourgeosie in gewaltsamer Weise als Gesellschaft und Staat konstituierte, in der französischen Revolution, vertrat und festigte sie unverblümt die Aufspaltung des Individuums in den Privatmann, den „eigentlichen" Menschen (homme) und den Gesellschaftsrepräsentanten, den Staatsbürger (citoyen). Der „Mensch" - das war der Privateigentümer, für den Gesellschaft, Staat, Gesetze Mittel sind, seine privateigen-

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tümlichen Zwecke durchzusetzen und von denen der anderen abzugrenzen. Dem unterliegt (wie Marx in den späteren ökonomischen Schriften zeigt, ohne die früheren Feststellungen zurücknehmen zu müssen) auch der Arbeiter, dessen Privateigentum sich auf sein Eigentum an Arbeitskraft reduziert und der diese gegen ein Äquivalent austauscht. D i e Arbeit und die in ihr eingegangenen gesellschaftlichen Beziehungen sind ihm äußerlich, sind Mittel des Lebens. D e r Austausch von Äquivalenten bildet die Basis des Konflikts zwischen Individuum und Gesellschaft. D i e sozialistische Revolution ist der A n f a n g v o m E n d e dieses Zustands, der erst im entwickelten Kommunismus völlig der Vergangenheit angehört. Lenin hat nachdrücklich darauf hingewiesen, daß die Beseitigung des kapitalistischen Eigentums durch die Revolution wohl der entscheidende Ausgangspunkt für eine höhere Stufe der Vergesellschaftung ist, aber noch nicht selbst diese höhere Stufe darstellt. Gegen die „linken Kommunisten" gewandt, erklärte er, „daß selbst die allergrößte ,Entschlossenheit' nicht hinreicht, um den Übergang v o n der Nationalisierung und der Konfiskation z u r Vergesellschaftung zu vollziehen [. . .] D i e Vergesellschaftung aber unterscheidet sich gerade dadurch von einfacher Konfiskation, daß zum Konfiszieren bloße Entschlossenheit', ohne die Fähigkeit, richtig zu registrieren und zu verteilen, genügt, während man o h n e e i n e s o l c h e F ä h i g k e i t nicht vergesellschaften k a n n . " 3 0 Volle Vergesellschaftung, damit auch das „gesellschaftliche Individuum" als reale und massenhafte Erscheinung kann es erst geben, wenn die Menschen nicht mehr ihre Arbeitskraft vorschießen, um Äquivalente dafür zu erhalten, wenn sie aus Bedürfnis unbezahlte Arbeit leisten, wenn sie nicht nach dem M a ß ihrer Arbeit, sondern nach dem M a ß ihres Bedürfnisses am gesellschaftlichen Reichtum teilhaben und dieser Reichtum ihnen nicht als Summe von Werten gegenüber-, sondern unmittelbar als vergegenständlichte Produktivkraft zu Gebote steht. Dies ist zwar einerseits Zukunft, die noch nicht morgen erreicht sein wird, aber andererseits ein durch die sozialistische Revolution bereits eingeleiteter, einheitlicher, mehrere Stufen durchlaufender Prozeß. Aus der Sicht einer „relativ selbstän-

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digen Formation" war die heute erreichte Stufe dieses Prozesses nicht zu bestimmen. Daraus entsprang die Neigung zu dem schlechten Trost, den „Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft", sei es in der Theorie, sei es in der Poesie, als eine Art von anthropologischer Gegebenheit zu behandeln („Konflikte zwischen Individuum und Gesellschaft hat es immer gegeben und wird es immer geben") und diesen Konflikt durch Unterordnung des (isolierten) Individuums unter eine (ihm äußerliche) Gesellschaft, im Sinne also der Entsagung vom „Anspruch", zu schlichten. „Wirkliche Ökonomie - Ersparung - " heißt es aber bei Marx, „besteht in Ersparung von Arbeitszeit [. . .] diese Ersparung [. . .] keineswegs Entsagen vom Genuß, sondern Entwicklung von power, von Fähigkeiten zur Produktion und daher sowohl der Fähigkeiten, wie der Mittel des Genusses." 3 1 Der erhöhte Lebensanspruch ist also umzusetzen in „power", statt daß durch seine Zurückweisung Staat und Bürger einander gegenübergestellt und die Individuen - wie in der bürgerlichen Gesellschaft - in Menschen und Staatsbürger auseinandergerissen werden. Wenn die politische Ökonomie, wie oben angedeutet, ein einheitliches ökonomisches Grundgesetz für die gesamte kommunistische Epoche (die die verschiedenen Phasen des Sozialismus wie die noch nicht erreichten eigentlich kommunistischen einschließt) unterstellt und formuliert, so bedeutet dies durchaus nicht, daß die Unterschiede der verschiedenen Etappeneingeebnet werden. D a s Grundgesetz basiert auf dem fundamentalen Unterschied zwischen Kapitalismus und Sozialismus-Kommunismus, der mit der sozialistischen Revolution wirksam zu werden beginnt: Im Kapitalismus ist die Erzeugung von Profit der Zweck der Produktion; im Kommunismus ist es die Befriedigung der Bedürfnisse aller Mitglieder der Gesellschaft. Indem es dies eingehender begründet, liefert es das Maß, nach dem historisch konkret bestimmbar ist, inwieweit in jeder Etappe die Überreste des Alten überwunden, die Merkmale des Neuen bereits in Kraft sind. D a s sagt auch über die Beziehungen zwischen Individuum und Gesellschaft und ihre literarische Gestaltung etwas aus. E s ist einleuchtend, daß, seitdem der Klassenantagonismus in unserer Gesellschaft beseitigt ist - er wirkt durch die Existenz des Imperialismus nocb 31

ökonomisch, politisch und ideologisch auf sie ein, bestimmt aber nicht mehr ihre Struktur und die Gesetze ihrer Evolution - , zunächst jene Widersprüche eine dominierende Rolle spielen, die mit der Warenproduktion und dem Äquivalentenaustausch im Sozialismus, mit der noch nicht ganz zu beseitigenden sozialen Ungleichheit, der Arbeitsteilung usw. verbunden sind und im Leben der Menschen und in der Literatur als verschiedene Arten von „Konflikten zwischen Individuum und Gesellschaft" in Erscheinung treten. Nun sind jedoch sozialistische Warenproduktion usw. zugleich Momente eines größeren Zusammenhangs, nämlich der sozialistisch-kommunistischen Vergesellschaftung der Arbeit. Vielfach mit den genannten Konflikten verflochten, die noch an die bürgerliche Vergangenheit erinnern, kommen mehr und mehr auch die zukunftsträchtigen Probleme der Vergesellschaftung zur Geltung: in Gestalt der Konflikte des gesellschaftlichen Individuums. Offensichtlich haben wir es gegenwärtig gerade mit der Verflechtung beider Arten von Konflikten und der allmählichen Ablösung der ersten Art durch die zweite zu tun. Nicht nur dort, wo ein „Anspruch" ausdrücklich kundgetan, die Rolle des Individuums und seine Selbstverwirklichung proklamiert wird, sondern in weiten Bereichen unserer Literatur spielen gewöhnlich beide Momente eine Rolle - wobei bald das eine, bald das andere vorwaltet. Es handelt sich hier um sehr wichtige Fragen der Menschenkonzeption. Wenn Marx in Zur Judenfrage vom „politischen Menschen" der bürgerlichen Gesellschaft als einem bloßen Abstraktum spricht, so hat er noch nicht die politische Organisation gegen die bürgerliche Gesellschaft, die Arbeiterbewegung, im Auge. Mit ihrem Auftreten modifiziert sich die Fragestellung in gewisser Hinsicht. Andererseits zielt aber die Unterscheidung von „politischer" und „menschlicher" Emanzipation auf Probleme, die auch beim Vorhandensein einer revolutionären Arbeiterbewegung grundsätzliche Bedeutung behalten. Obgleich sich unter kapitalistischen Verhältnissen die Produktivkräfte gewaltig entwickeln, obgleich damit die Bedingung realer Befreiung geschaffen wird, kommt das Proletariat nicht in den Genuß dieser Entwicklung, weil die Arbeit ausgebeutete, zum Zweck der Profiterzeugung geleistete, entfremdete 32

Arbeit ist. Es muß sich politisch organisieren, d. h. über die im Arbeitsprozeß eingegangenen Beziehungen erheben, um seine Befreiung vorzubereiten. In unserem Zusammenhang genügt es, auf den Gegensatz von revolutionärer Literatur und reformistischer oder rein bürgerlicher „Arbeiterliteratur" zu verweisen. Letztere sucht zu suggerieren, der Arbeiter könne, da er Werkzeuge und Maschinen handhabt, Kraftgefühl entwickeln, sich als Mensch fühlen, ohne an die gesellschaftlichen Verhältnisse zu denken und zu rühren. Mit Geschick machte sie sich den Umstand zunutze, daß, abstrahiert von der „bornierten bürgerlichen Form", Produktivkraftentwicklung wirklich Entwicklung menschlichen Vermögens, damit auch der Fähigkeiten und Mittel des Genusses bedeutet, also das erzeugt, was man menschliche Fülle nennt. In ausdrücklichem Gegensatz dazu legte die revolutionäre sozialistische Literatur seit ihren Anfängen den Akzent auf die politische Vereinigung und politische Bewußtheit vielfach als Ergebnis der geschilderten Erfahrung, daß es ohne sie keine menschliche Existenz für die Ausgebeuteten gibt. Am eindringlichsten hat in der deutschen Literatur wohl Anna Seghers in ihrem Roman Die Rettung gezeigt, wie ein qualifizierter, nachdenklicher, von seinen Kollegen geschätzter Arbeiter seine Qualitäten nicht wirksam anwenden kann, solange er sich nur innerhalb der ihm von den Arbeitsbedingungen aufgezwungenen Verhältnisse bewegt; er muß sich davon losmachen, muß „politischer Mensch" werden, um zu wirksamem menschlichen Handeln zu gelangen. Solange die Produzenten die gesellschaftlichen Produktionsbedingungen noch nicht unter Kontrolle genommen haben, bleibt die politische Sphäre der wichtigste Ausgangspunkt der Emanzipation. Die politische Befreiung ist Schrittmacher der sozialen. Und so wird „Entsagung", die, abstrahiert von kapitalistischen Verhältnissen, ein Mangel ist, unter diesen Verhältnissen in der politischen Sphäre zur Notwendigkeit und zur Tugend, zur menschlichen Qualität. Es bedarf keines umständlichen Beweises, daß ohne Opfer an Geld, Gut, Bequemlichkeit, ohne Bereitschaft, das Leben hinzugeben, freiwillig, aber ohne religiöse Leidenssüchtigkeit, Martyrium und Askese zu erdulden, die revolutionäre Bewegung nicht denkbar wäre und daß 3

Kaufmann, Studien

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der Kampf dem Leben des Revolutionärs Sinn gibt. Alvaro Cunhal, ein denkbar kompetenter Zeuge, antwortete auf die Frage nach der „glücklichsten Stunde" in seinem Leben: „Allgemein existiert ja die Vorstellung, daß die glücklichste Stunde eine Stunde ohne Leiden ist. Aber im Leben eines revolutionären Kämpfers schließt das Glück das Leiden nicht aus. Wenn ein Kommunist, der von der Polizei gefoltert wird, vor dem Feind die Geheimnisse seiner Partei zu verteidigen weiß, dann kann er sagen, daß er einen der glücklichsten Momente seines Lebens durchmacht."32 All dies bleibt aber Ausdruck des Auseinanderfalls von „politischer" und „menschlicher" Emanzipation. Darauf zielt Brecht mit den bekannten provokanten Äußerungen über Heldentum, die sich im heben des Galilei und in den Flüchtlingsgesprächen finden. Indem er die Forderung nach Tugenden der Entsagung verdächtig macht, will er auf Grundübel der Gesellschaftsordnung hinweisen. Galilei, seiner „Natur" nach - d. h. wenn man, wie er zu tun versucht, von den gesellschaftlichen Verhältnissen abstrahiert - zur Entwicklung von Produktivkraft wie geschaffen, die Einheit von Tätigkeit und Genuß verkörpernd („er denkt aus Sinnlichkeit" 33 ), scheitert praktisch und moralisch, weil die Zeitläufe Heldenmut von ihm fordern, den er nicht aufbringt. Der gleiche Brecht aber, der das Fehlen von Heroismus, von Entsagung, als Mangel seines Helden und das Erforderlichsein von Entsagung als Mangel der Verhältnisse kritisiert, fordert als Schriftsteller der DDR den Genuß. 1954 schrieb er Gegenstrophen zu seinem Gedicht Von der Freundlichkeit der Welt34, das in der Hauspostille steht und von Walter Benjamin sehr schön ein „Minimalprogramm der Humanität" genannt wurde. In dem frühen Gedicht hieß es: „Auf die Erde voller kaltem Wind Kamt ihr alle als ein nacktes Kind. Frierend lagt ihr ohne alle Hab, Als ein Weib euch eine Windel gab." 35 Rückblickend las Brecht das Gedicht mit Mißtrauen und schrieb: 34

„Soll das heißen, daß wir uns bescheiden Und ,so ist es und so bleib es' sagen sollen? Und, die Becher sehend, lieber Dürste leiden Nach den leeren greifen sollen, nicht den vollen?" 36 Minimalprogramme galten nicht mehr, denn die Zeit war angebrochen (obgleich es damals noch Fleischkarten und Bezugsscheine gab), in der die Gesellschaft die Befriedigung der Bedürfnisse ihrer Mitglieder auf die Fahne geschrieben hatte. Gelegentlich ist aus dergleichen Erwägungen der Schluß gezogen worden, politische Dichtung habe in den neuen Verhältnissen ihren Sinn verloren. Mit Fleiß wird da der Anbruch einer neuen Epoche mit einem Sprung in die klassenlose Gesellschaft verwechselt, die vielleicht wirklich eine Zeit der „reinen Kunst" sein wird. Für absehbare Zeiträume dienen solche Theorien nur als Vorwand, sich das unerledigte Politische, das sowohl in unserer Gesellschaft als auch im Weltzusammenhang unseres Lebens reichlich vorhanden ist und des eingreifenden Dichterwortes nicht weniger bedarf als früher, vom Halse zu halten und die Tradition revolutionärer Weltanschauung und Literatur abzuhängen. Die scheinradikale Phrase vergißt, daß Revolution nicht nur Bruch, sondern auch Fortsetzung auf höherer Stufe ist. Muß man erst erläutern, daß die freilich auf einem gesellschaftlichen Grundmangel („politische" Emanzipation statt „menschlicher"), auf „Entsagung" beruhenden Qualitäten wie Opferbereitschaft, Selbstverleugnung usw. bei der Schaffung der neuen Gesellschaft benötigt werden? - So ergänzt auch Brecht in den Flüchtlingsgesprächen seine erwähnte Kritik an den „anstrengenden Tugenden" durch die „überraschende Wendung", „daß für dieses Ziel", den Sozialismus, „allerhand nötig sein wird. Nämlich die äußerste Tapferkeit, der tiefste Freiheitsdurst, die größte Selbstlosigkeit und der größte Egoismus".37 Der „politische Mensch" wird nicht einfach überflüssig, seine Qualitäten sind vielmehr in einen anderen Funktionszusammenhang integriert. Und so ist es auch mit politischer Dichtung, soweit sie es mit der Selbstdarstellung des Sozialismus zu tun hat.

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5 „Nicht Entsagung [ . . . ] sondern Genuß" bedeutet bei Marx den Gegensatz von entfremdeter und nicht entfremdeter Arbeit. Genuß in diesem Sinn meint nicht gemütliche Kontemplation, Nichtstun (Vorstellungen wie etwa die vom Schlaraffenland, wo dem glückseligen Müßiggänger die gebratenen Tauben in den Mund fliegen, bilden sich gerade als Ausdruck entfremdeter Form der Arbeit heraus), sondern hat mit selbstbewußter und universeller Kraftentwicklung, d. h. unbedingt mit tätiger Weltaneignung zu tun. Das Neue gegenüber dem Kapitalismus besteht in dieser Hinsicht darin, daß die materielle Grundlage für die Trennung von Staatsbürgerlichkeit und Individualentwicklung in der praktischen Lebenstätigkeit allmählich verschwindet, daß die Entwicklung von Produktivkraft und von Fähigkeiten und Mitteln des Genusses, damit auch die Herausarbeitung der menschlichen Persönlichkeit, zugleich bedeutet und erfordert, die gesellschaftlichen Mechanismen, die politische Sphäre, zu durchschauen, zu beherrschen, als das Eigene zu handhaben. Es ist dies wiederum sowohl ein in Gang befindlicher Prozeß als eine langfristige Aufgabe. Der Blick auf diesen Prozeß ermöglicht, auf nichtillusionäre, realistische Weise künstlerisch zu erfassen, wie die Spaltung des Menschen in den Privatmann und den Staatsbürger tendentiell überwunden wird. Der „ganze" und „reiche" Mensch erscheint so weder als zur Idealfigur konstruiertes Wunschbild noch als bloß innerlich gefühltes Bedürfnis; er ist „ganz" und „reich" in dem Maß, wie ihm der geschaffene Reichtum als subjektiver Reichtum, als Triebkraft aktueller und potentieller Produktivität zu Gebote steht. Das Wirklichkeitsverhältnis ist in dieser Sicht nicht theoretisch, sondern praktisch. Den als literarische Gestalt wohl entwickeltsten Gegenentwurf zum „politischen Menschen" im oben skizzierten Sinn hat in unserer Literatur Erwin Strittmatter mit der Titelgestalt seines Romans Ole Bienkopp geschaffen. Dieser Entwurf gelingt jedoch gerade deshalb, weil der Autor ihn nicht aus schematischer Antithetik, sondern aus der wirklichen historischen Dialektik hervorgehen läßt. Bienkopp ist vor allem ein praktisch tätiger Mensch mit einem Hang zur Universalität tätiger Naturbeherr36

schung und Weltaneignung. Unwillig und unfähig, sich in die festen Bahnen vorgegebener Arbeitsteilung und sozialer Schichtung einzuordnen, wird er unter kapitalistischen Verhältnissen an den Rand der Gesellschaft gedrückt, wird Sonderling; die politische Befreiung müssen andere besorgen. D a ß die Gedanken und Projekte seines wunderlichen Kopfes Antizipationen der Zukunft sind, konnte sich erst unter den neuen gesellschaftlichen Bedingungen herausstellen; die Eigenschaften, die ihn vor 1945 an die Peripherie drängten, drängen ihn danach ins Zentrum: aus dem Sonderling wird ein „Spurmacher". Strittmatter vergißt allerdings nicht, daß es des „politischen Menschen" bedurfte - sein redender, ihn durchaus liebevoll charakterisierender N a m e ist Anton Dürr - , um Bienkopp dorthin zu bringen, wo er gebraucht, wo seine Produktivität freigesetzt, sein Inneres äußerlich, gesellschaftlich-praktisch wurde. Und schließlich macht ihn sein Streben nach Allseitigkeit der Veränderung zum nie zufriedenen, fordernden, zum politischen Menschen neuer Art und damit ganz zum Erben Anton Dürrs. Daß dies mit frisch-fröhlichem Aufstieg nichts gemein hat, braucht den zahllosen Lesern des Romans kaum bewiesen zu werden. Bienkopps tragisches Ende - das man von der etwas modischen Art, mit der in einigen DEFA-Filmen in den letzten Jahren Zentralfiguren durch Tod beiseite geschafft wurden, wohl unterscheiden sollte - faßt noch einmal zusammen, was für die Konfliktanlage des Buches im ganzen bestimmend ist: Die Lösung einer Aufgabe gebiert eine neue, größere, im Widerstand der Natur und der Menschen stößt das Individuum sowohl an seine persönlichen, vermeidbaren, wie an unvermeidbare Schranken; Konflikte neuer Art werden ahnbar. Anspruchsvoll und allgemein ausgedrückt: Die Gattung wächst, der einzelne, obwohl ebenfalls wachsend, erfährt ihr gegenüber seine Begrenzung; der Tod besiegelt dieses Verhältnis. In unserem Zusammenhang ist nicht ein bestimmter Typ von Roman, nicht diese oder jene Schreibweise zu erörtern; es geht darum, auf ein künstlerisch realisiertes Wirklichkeitsverhältnis aufmerksam zu machen. Dessen hervorstechendes Kennzeichen ist, daß der Mensch seine Umwelt als seinen „unorganischen Leib" ansieht und behandelt. Sie ist nicht einfach das „NichtIch", das je nachdem Gegenstand der Sehnsucht oder der Ab37

neigung wird, sondern das potentielle und potenzierte Ich, sei es als bereits geschaffene, sei es als aktuell umzuschaffende Umwelt oder schließlich als potentiell praktisch und geistig anzueignendes Universum. Das bedeutet nicht, daß man in der Sonne nur noch das Riesenkraftwerk, in jedem Baum künftige Bretter sähe. Das Utilitäre ist freilich auch nicht ausgeschlossen, es erscheint unter Umständen - als Teilmoment einer praktisch vermittelten, aber auf universelle Praxis gerichteten Beziehung, die den Menschen im Anschauen der Dinge empfinden läßt, wozu er fähig ist. Eine solche Sehweise vermag ins Bild zu bringen, wo und inwieweit ein „gesellschaftliches Individuum" schon möglich ist. Allgemein gefaßt, klingt dies abstrakt und idealisch und ist es auch insofern, als es vom jeweiligen Sachverhalt absieht, zu dem eine so oder anders geartete Beziehung herzustellen nicht einfach eine Frage des Ermessens, sondern eine Frage der Angemessenheit ist. Ole Bienkopp ist selbstverständlich kein überall hin übertragbares Modell. Aus der Dimension des Gegenstandes, der Beschaffenheit der jeweils ins Auge gefaßten Umwelt und Sozialbeziehungen ergeben sich die verschiedensten Varianten. Die freundliche, genußvolle Betrachtung des „unorganischen Leibes" im Kleinformat, des Hausgeräts, des Gartens, hat sich in unserer Literatur ihren legitimen Platz errungen. Vielleicht aber ist es doch nur ein Plätzchen, dessen Legitimität sich erst recht erweist, wenn der Stellenwert des Kleinformatigen auf irgendeine Weise bewußt gemacht wird - durch humoristische Relativierung, durch die Stellung, die das Idyll im Kontext eines Erzählwerks oder einer Gedichtsammlung einnimmt. An Sarah Kirschs Zaubersprüchen etwa wäre zu studieren, wie die Beziehung zu kleinen, handlichen Dingen eingearbeitet ist in eine lyrische Selbstdarstellung, die durchaus das Ganze und Große menschlicher Beziehungen meint und evoziert. Wird auf eine derartige Zuordnung verzichtet, so sagt solche Poesie nur, wie eng der Bereich ist, in dem heimisch zu fühlen sie uns anempfiehlt. Nichts gegen Behagen und Genuß im und am Kleinen. Aber Lob und Ansporn verdienen besonders alle Bemühungen, den Bereich dessen zu erweitern, was als das Eigene, Durchschauund Handhabbare gesehen werden kann. Die Grenzen zu ana-

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lysieren, an die solche Unternehmungen stoßen, wird stets aufschlußreich sein. Sind es Grenzen des künstlerischen Vermögens, der Wirklichkeitssicht oder der Wirklichkeit? Beispielsweise scheint es, als falle es gerade in den letzten Jahren leichter, unter ländlichen und kleinstädtischen als unter industriellen und großstädtischen Verhältnissen Gestalten darzustellen, die in der Gesamtheit ihrer Lebensbeziehungen begriffen und vor Augen geführt werden, als wachse mit der Vielfalt der Vermittlungen und Bedingtheiten des individuellen Lebens die Schwierigkeit, dieses Individuelle künstlerisch zu formen und zu fassen. 38 * Bekanntlich beruht die wachsende Rolle des „subjektiven Faktors" im Sozialismus und Kommunismus darauf, daß den objektiven Gesetzmäßigkeiten ökonomischer Entwicklung ihre blindwirkende Macht genommen werden muß und wird, daß sie unter bewußte Kontrolle geraten, damit Absichten und Ergebnisse immer mehr miteinander übereinstimmen. Aber offenbar ist es vorschnell, mit dem sozialen Subjekt, das sich da in wachsendem Maß zum Herrn seiner Verhältnisse macht, jedes einzelne Individuum, das Individuum überhaupt, und d. h. auch, die einzelne literarische Figur (oder besser: die Figur des einzelnen) gleichstellen zu wollen. Mit ähnlichen Problemen hängt auch die Vorliebe für die „Gründerjahre" der D D R oder für „Gründer"-Situationen (z. B. Baustellen) zusammen, für Zustände, in denen der Zusammenhang von persönlichem Einsatz und Ergebnis direkt zutage tritt, in denen das gesellschaftlich Neue gleichsam flüssig ist und seine Form unmittelbar durch den Zugriff der Handelnden erhält. Arbeit und in der Arbeit eingegangene Beziehungen spielen dabei naturgemäß eine wichtige Rolle. Indessen geht es in unserem Zusammenhang nicht primär um materielle Produktion als Thema und Stoff, sondern um eine der Wirklichkeit im ganzen gegenüber eingenommene oder einnehmbare Haltung tätiger Bewältigung. Es lohnt sich, danach zu fragen, ob sie auch durchzuhalten ist, wo der Versuch unternommen wird, im literarischen Werk zu sondieren, in welchem Umfang die einmal geschaffenen gesellschaftlichen Formen als das Eigene, als „unorganischer Leib" gesichtet und gehandhabt werden können. Hermann Kant unternahm so etwas in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre mit dem Impressum, als er die überwiegend

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in erster Person auftretende Zentralfigur seines Romans zwar erklären ließ, sie wolle nicht Minister werden, aber als Autor deutlich zu erkennen gab, daß er mit David Groth übereinstimmte, wenn der einen Minister als seinesgleichen ansah. Dagegen ist mit dem Hinweis Einspruch erhoben worden, man wünsche nicht, daß ein Mensch mit den Eigenschaften David Groths Minister werde. So zu denken, sei jedem unbenommen. Nur verdunkelt das Argument, daß auch der so urteilende Kritiker erst durch das Buch dazu angeregt wurde, über Repräsentanten der Macht neuen Typs eine Ansicht zu äußern. Energisch unterstützt Kant sein Anliegen, die neue Macht als die unsrige von der früheren zu unterscheiden, ihr das Fremde zu nehmen, durch eine geschichtsphilosophische Motivik: Durch Namengebung, in Anspielungen und Vergleichen erinnert er immer wieder an Götter und Halbgötter, um darauf aufmerksam zu machen, daß an deren Stelle jetzt Menschen getreten sind. So der Botenmeister auf dem goldenen Stuhl (auf Stühlen an „goldenen Tischen"39 saßen Goethes Parzenlied zufolge die Götter und teilten den Menschen ihr Los zu), der dem Helden voraussagt, was kommen wird; Penthesilea und Achill erscheinen, und es gilt für den Arbeitersohn, die Feste Troja zu erobern. Gegen Schluß wird der Gegensatz von alter und neuer, von fremder und eigener Macht noch einmal satirisch zusammengefaßt in der Rede des faschistischen Generals, der dem jungen David Groth einschärft, es werde ihm immer gut gehen, wenn er in ihm, dem General, seinen Gott sehe. Über manchem, was am Impressum auszusetzen sein mag, sollte dieser Vorstoß nicht vergessen werden. Die Kritik hätte wohl anzuknüpfen an die Frage, ob die heitere Sieghaftigkeit, das Pathos der „Gründerjahre", das Kants Aula so gut ansteht, noch durchgängig angemessen ist, wo es der Autor mit den einmal entstandenen gesellschaftlichen Mechanismen zu tun hat. Ob und inwieweit das Individuum als Herr seiner gesellschaftlichen Beziehungen erscheint, kann, wie gesagt, nicht als Sache des subjektiven Ermessens und Meinens angesehen werden. Wir haben es da mit der komplexesten, widerspruchsreichsten Problematik wie des Alltagslebens so der Literatur zu tun, in der Konflikte des gesellschaftlichen Individuums mit solchen zwischen Individuum 40

und Gesellschaft vielfach verflochten sind. Es ist das Schwierigste, und wir sollten es bei der Beurteilung solcher Unternehmungen methodisch (nicht, was den Hinweis auf ein literarisches Vorbild betrifft) etwas mit Franz Mehring halten, der, als er Spielhagen und Storm gegeneinander hielt, letzteren vielleicht etwas ungerecht behandelte, im ganzen aber doch treffend sagte: „Es ist immer noch eine größere Ehre, im Wettkampf mit einem Balzac zu scheitern, als in holder Harmonie mit den Teekesseln von Husum zu summen." 40 Als ein besonders bemerkenswertes literarisches Symptom dafür, daß sich in der erreichten Stufe gesellschaftlicher Entwicklung die neue ankündigt, zeichnet sich die Neigung ab, das weiteste Thema mit dem intimsten, die Frage nach der Aneignung der gesellschaftlichen Mechanismen mit der nach den individuellen Partnerbeziehungen zu verklammern. Der neue Anspruch an Liebe und Ehe erweist sich als ein gesellschaftlicher, und es stellt sich heraus, daß sich in den Mikrokosmos des Intimbereichs alle makrokosmischen Strukturen einzeichnen, daß Wohn- und Schlafzimmer Schauplätze gesellschaftlicher Konflikte sind. Wer davon nichts ahnt und dennoch über Liebe und Ehe schreibt, wird gestraft durch die Bedeutungslosigkeit seines Produkts. Wer es sieht - und das sind mehrere, darunter an erster Stelle Frauen - , steht vor unerforschten Gebieten der Literatur und des Lebens. Die Umwelt des Menschen insgesamt, Natur, Industrie und gesellschaftliche Beziehungen, als potentiell „unorganischen Leib" des Menschen zu fassen, ist das Anliegen Volker Brauns in Lyrik, Drama und Prosa. Das Individuum ist in seiner Sicht eins mit seiner tätigen Entäußerung. Die erhöhte Bedeutung des „subjektiven Faktors" unter sozialistischen Bedingungen ist für ihn ein zentrales philosophisches und künstlerisches Problem. Er etabliert daher auf besondere Weise den Gestus der „Gründerjahre" unter den Bedingungen der entwickelten sozialistischen Gesellschaft neu, jedoch weder als Feier der Siege von gestern noch als Vereinfachung der Aufgaben von heute. Der Tatsache eingedenk, daß das gesellschaftliche Subjekt, das Geschichte macht, nicht ohne weiteres mit dem einzelnen gleichzusetzen ist, stellt er ein nichtnaturalistisches, philosophisch angereichertes poetisches Ich ins Zentrum, das 41

das Ganze der Gesellschaft als sein Eigenes reklamiert, und zwar nicht kontemplativ als Forderung an andere, sondern energisch, als Forderung an sich selbst, gesellschaftliches Individuum zu werden. Im Aufbau der Sujets und in der sprachlichen Struktur sind Brauns Arbeiten so angelegt, daß sie dazu einladen, sich gemeinsam mit dem poetischen Ich denkend und handelnd durch die neuen Widersprüche hindurchzuarbeiten. Das Erreichte nimmt Braun nicht (oder nicht mehr) als selbstverständlich, es ist ihm vielmehr kostbar als unersetzbarer Ausgangspunkt zu erweiterter, universeller, auf die Umgestaltung der Natur und die Beherrschung der gesellschaftlichen Beziehungen gerichteter, in diesem Sinn politischer Aktivität, die sein Thema bildet und sein Pathos bestimmt. Die Hand des von kapitalistischer Ausbeutung befreiten Arbeiters vermag die Griffe an der Maschine nur deshalb willig zu tun, weil der Kopf weiß: „Das kann nicht alles sein." 41 Genuß ist in Brauns Darstellung das geistig-sinnliche Gewahrwerden unbegrenzter Betätigungsmöglichkeiten. Seine Grenzen zu erweitern, sich in der Tätigkeit, in der Partnerschaft zu assoziieren, bereitet dem poetischen Ich Braunscher Dichtung geradezu körperliches Behagen (wie umgekehrt Verengung und Vereinzelung sein Unbehagen und seinen Protest auslösen). Das erstreckt sich auch auf die Annäherung der sozialistischen Brudervölker, die der Autor enthusiastisch und originell feiert, nicht ohne daran zu erinnern, was diese Errungenschaft historisch gekostet hat. Brauns Schaffen ist in besonders ausgeprägter Weise von dem Bewußtsein getragen, daß die Zeit, in der wir leben, eine Phase innerhalb des mit der sozialistischen Revolution beginnenden widerspruchsvoll-einheitlichen Zeitalters ist, in dem der Kommunismus entsteht. In der Bemühung um das große zeitgenössische Thema, vor allem um das Thema der Beherrschung der neuentstandenen gesellschaftlichen Mechanismen, realisiert sich auch die veränderte Funktion des Politischen in der Literatur. (Daß daneben auch traditionelle Funktionen politischer Dichtung weiterhin Berechtigung haben, versteht sich und bedarf deswegen keiner weiteren Erörterung.) Sie besteht, auf eine Formel gebracht, darin, die Anteilnahme der Werktätigen an der Ausübung der Macht öffentlich zur Sprache zu bringen. Das hat künstlerische 42

Folgen. Man begnügt sich nicht damit, Vorgänge zu zeigen, man will auch Überzeugungen aussprechen. Werken sonst unterschiedlichster Art - um ein paar herauszugreifen: Strittmatters zweiter Wundertäter-Band und Brauns Gedichte Gegen die symmetrische Welt, Brigitte Reimanns Franziska Linkerhand und Karl-Heinz Jacobs' Interviewer - ist die Streitbarkeit gemeinsam; sie besitzen, jedes auf seine Weise, pamphletartige, subjektiv-rhetorische Einschläge. Man sprengt Formen auf, damit wichtige Angelegenheiten ausgesprochen werden können. Dies aber ist ein immer wiederkehrender Zug von Aufstiegsliteraturen. Von den revolutionären Achtundvierzigern bis hin zu Weinert, Becher, Fürnberg kehrt in der politischen Lyrik in Refrains, Schlußstrophen und Epilogen ein Stereotyp wieder: Aber eines Tages wird . . . alles ganz anders sein. Zwischen Gegenwart und Zukunft lag eine Kluft, die das Wunschbild überflog. Der Sinn und der Effekt eines solchen Verfahrens lassen sich jedoch heute nicht mehr mit dem gleichen Erfolg wiederholen. Auch der vielzitierte Marxsche Satz, wonach - im Unterschied zur „politischen Revolution" des 18. Jahrhunderts - die „soziale Revolution" des 19. Jahrhunderts (die Revolution des Proletariats, wie wir sagen dürfen) „ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit", „sondern nur aus der Zukunft"^ schöpfen kann, ist nun nicht mehr bloß als rhetorische Antithese (Eines Tages wird . . .) zu verstehen. Der Satz wendet materialistisch und revolutionär die Hegeische Vorstellung vom unvermeidlichen Sieg der „Prosa" um, von der zu festen Institutionen usw. geordneten bürgerlichen Welt, über die nach Hegels Überzeugung nicht hinauszugelangen war, so daß der „Poesie" nur eine im nicht beruhigten Subjekt liegende Überlebenschance blieb. Während der bürgerlichen Revolution (aus deren Analyse Marx die zitierte Schlußfolgerung zog) hatte die idealisierte Antike, die Vergangenheit also, jene Poesie zu liefern, mit der man sich die begrenzten bürgerlichen Zwecke der geschichtlichen Aktion verbarg, um eben diese Zwecke durchzusetzen. Die aus der Vergangenheit geschöpfte Poesie hatte einerseits eine Funktion in den praktischen Kämpfen, stand aber - als allgemeinmenschlicher Anspruch - zugleich im Widerspruch zu deren Zielsetzungen. Innerhalb der nachrevolutionären bürger43

liehen „Prosa" ist mit der heroischen Illusion auch die „äußerliche", d. h. geschichtlich wirksame Funktion der „Poesie" verschwunden; sie lebt nur noch als Innerlichkeit fort. Und wenn die revolutionäre Dichtung unter kapitalistischen Verhältnissen schon politisch-rhetorisch über das Dilemma von illusionenschaffender Poesie aus der Vergangenheit (es wurden mit der Zeit immer reaktionärere Illusionen) und desillusionierter Innerlichkeit hinausgelangte, so stellt sich, nachdem die proletarische Revolution den Weg zum Kommunismus freigegeben hat, die Frage nach der Nicht-Endgültigkeit des Sieges der Hegeischen „Prosa" praktisch und für alle Lebensbereiche. Im Grunde hat der sarkastische Slogan recht: Die Zukunft ist heute nicht mehr das, was sie früher einmal war. Sie ist nicht mehr das lediglich dem Kopf entspringende, jenseits des Realen liegende Ganz-Andere, Wünschbare, Nichtseiende, sondern muß gefunden und beschrieben werden in der „Bewegung des Werdens" 4 3 einschließlich aller Umwege und Hindernisse, denen diese Bewegung ausgesetzt ist. Der Anschluß an unseren Ausgangspunkt stellt sich damit her. Die originäre, nicht ersetzbare Art der Weltaneignung und des Persönlichkeitsausdrucks durch die Kunst findet in ihrer besonderen, aber zu anderen Tätigkeits- und Bewußtseinsformen nicht gegensätzlichen Weise in dem Maße ihren Platz in der Gesellschaft, wie sich im Sein und Bewußtsein die Gegenwart als Etappe der Entwicklung des Kommunismus erweist. Wird unsere Zeit nicht sowohl tiefgründiger als attraktiver beschrieben, wenn sie, statt als weitgehend Fertiges, das nichts als gutgeheißen sein will, als das Werdende erscheint, das uns, da es wird, befriedigt und, da es noch nicht ist, beunruhigt und so in jedem Sinne unsere Teilnahme fordert?

Zu Christa Wolfs poetischem Prinzip

„Ich kann die Liebe nicht vertagen. Nicht auf ein neues Jahrhundert. Nicht auf das nächste Jahr. Um keinen einzigen Tag." Christa Wolf 1 „Als wäre das Nichts. Als hätte das alles keine Bedeutung." Günter de Bruyn (Parodie auf Christa Wolf 2 )

Zu den „drei unwahrscheinlichen Geschichten", die Christa Wolf in einem kleinen Band zusammenfaßt, gehört auch die Erzählung Unter den Linden (sie gibt dem Band auch den Titel). Die Autorin läßt darin Gesehenes und Erinnertes in Traumvisionen übergehen. Doch geht sie nicht darauf aus, dem Leser durchgehend in einer Weise Traumatmosphäre zu suggerieren, daß er vom Traum gänzlich umsponnen würde. Vielmehr teilt eine Ich-Erzählerin aus zeitlichem Abstand einer vertrauten Person den Traum mit, reflektiert darüber und gibt so auch der Reflexion des Lesers Raum. Die Erzählhaltung soll eine intime, vertrauliche Atmosphäre schaffen, die die Erzählerin anregt, „frei die Wahrheit [zu] sagen" 3 , und den Leser an diesem Vorgang teilnehmen läßt. Diese Intention realisiert sich alsbald in der Art, wie eine bekannte Stadt-Landschaft der Titel nennt sie - vorgeführt wird: Die Träumende blickt durch das äußere, touristische Erscheinungsbild hindurch auf Inneres, Verborgenes, Persönliches. Steinerne Fassaden bieten die Anlässe, manches zu vergegenwärtigen, was dahinter vor sich ging und geht. Der Traum ermöglicht dies, er gestattet den freien Umgang mit Raum und Zeit, die Montage von Eindrücken, Erinnerungen, Visionen, Begebenheiten und Reflexionen. Ein Ausspruch der Rahel Varnhagen kündigt als Motto an, 45

worum es geht: Erzählt wird die Geschichte einer individuellen Krise und ihrer Überwindung. Die Träumende ruft Menschen auf, die ihr ehemals nahestanden, in denen sie Träger einer großen Hoffnung auf gesellschaftliche und menschliche Erneuerung gesehen hatte und die diese Erwartung nicht erfüllten. D i e persönliche Verwicklung der Erzählerin in die Schicksale dieser Menschen ist mehr angedeutet als ausgeführt und kann bisweilen nur vermutet werden; die Identität der in Erinnerungsbruchstücken auftauchenden und wiederkehrenden Figuren ist - wie es im Traum geschehen mag - nicht immer sicher zu ermitteln. Um so stärker tritt die emotionale Betroffenheit hervor, mit der die Erzählerin vermerkt, wie die Anpassung an Konventionen, die Bevorzugung des bequemeren Weges, die Gleichgültigkeit gegenüber anderen die menschlichen Charaktere beschädigt haben, die ehemalige Eigenart der Persönlichkeiten verblassen lassen, die Individualität auslöschen. Dies verdeutlicht vor allem das wiederkehrende, durch die Traumsituation scharf herausgearbeitete Motiv der „Rolle", aus der die Gestalten nicht herauskönnen oder -wollen und die sie einander vorspielen. Und in dieser Hinsicht bekennt sich die Erzählerin mitschuldig: Auch sie „spielt" ihre „Rolle", sie tut beispielsweise so, als sei ein von ihr herbeigeführtes Zusammentreffen mit einem Bekannten zufällig zustande gekommen, und verhält sich noch mehrfach ganz so, wie „man" es von einer Frau dem Manne gegenüber erwartet. Von solcher „Mitschuld" führt die Verbindung zu Motiven des Gerichts: Schuld, Untersuchung, Verhör, Strafe oder Freispruch durch strenge oder milde Richter spielen in Gesprächen, Visionen, Parallelhandlungen eine wichtige Rolle. Die Krise gipfelt im Bild eines traumhaften Selbstmords oder Selbstmordersatzes: Unter den Wasserspiegel eines Brunnens getaucht, ist die Erzählerin allen Schrecken, die sie sieht, entrückt. 4 * Begebenheiten solcher Art überschneiden sich allerdings mit anderen, die zu jenen ein Gegengewicht darstellen. Menschen, vor allem junge, tauchen auf, die von Schrecken, Enttäuschungen, Rollenspiel und Schuld frei sind oder scheinen (eine Schulklasse mit ihrer Lehrerin, Liebespaare), es gibt schöne, begehrenswerte Dinge, und der Anblick zahlloser von der Arbeit kommender Menschen, in denen „die geheime Sehnsucht 46

nach dem wirklichen Fleisch" lebendig ist, „nach dem saftigen, roten Fleisch"5, gibt schließlich den Ausschlag. Im Bild einer schönen und lebensmutigen Frau erkennt die Erzählerin am Schluß sich selbst. Sie hat sich im Durchlaufen der widerspruchsreichen Visionen gereinigt und befreit und gliedert sich ein in den zu Beginn der Erzählung erwähnten „Bund, dessen Strenge nur noch von seiner Freizügigkeit übertroffen wird: den Bund der Glücklichen"6. Das geschieht, indem sie den Anspruch auf ein volles Leben erneuert - mit den Worten, die wir als Motto vorangestellt haben: „Ich kann die Liebe nicht vertagen [. . . ] " Nur durch die Liebe kann sie sich „mit der Welt verbinden". 7 Unschwer ist zu erkennen, daß Christa Wolf in Unter den Linden an Problemen weiterarbeitet, die sie schon in Nachdenken über Christa T. beschäftigt hatten. Auch dort erschien die menschliche Persönlichkeit gefährdet durch Anpassung an Konvention, auch dort wurde darauf verwiesen, wie fragwürdig es sei, eine Rolle anzunehmen - mit etwas anderem Akzent allerdings: In Christa T. stand unter dem Begriff der Rolle nur beiläufig die konventionelle Maske, vor allem jedoch die Einordnung in eine arbeitsteilige Gesellschaft, damit in eine notwendig partikulare Tätigkeit in Frage. Die Haltung, die die Erzählerin den aufgeworfenen Widersprüchen gegenüber einnimmt, unterscheidet sich in den beiden Werken vor allem durch den Ausgang: den Tod im einen, die Wiedereingliederung im anderen Fall. Obgleich ausdrücklich utopisch, ja märchenhaft formuliert („Bund der Glücklichen"), erhält das Schlußmotiv von Unter den Linden großes Gewicht als entschlossene Bekundung des Willens zu tätigem Leben. Dieses Motiv erinnert übrigens an wesentliche Züge des Geteilten Himmels: Hatte nicht das bis dahin naive, ungebrochene Weltverhältnis der Rita einen starken Stoß erhalten, als sie erfuhr, daß auch die Liebe endlich war? Erfolgte nicht auch bei ihr die Wiedereingliederung über eine im Beinahe-Selbstmord gipfelnde Krise, von der sie unter Aufbietung aller moralischen Kraft genas? - Offensichtlich handelt es sich hier nicht um beiläufige Ähnlichkeiten, sondern um wesentliche, ja für das Schaffen der Autorin ausschlaggebende Denk- und Gestaltungsmotive. Die Erzählung Unter den Linden bringt in 47

¡reiner und reifer Form das bislang übergreifende poetische Prin2ip der Christa Wolf zum Ausdruck: das Prinzip der Katharsis, genauer: eine durchaus individuelle Variante des Katharsisprinzips. Auf der Grundlage einer bestimmten Auffassung vom Menschen verwirklicht es sich im Zusammenwirken dreier Faktoren: erstens in der Auswahl und Anlage der Erzählsujets, zweitens in der intendierten Funktion, der „Wirkungsstrategie" des Werkes und drittens in der Art der Vergegenständlichung des ideellen Anliegens, der individuellen künstlerischen Methode, der Schreibweise. In Unter den Linden modelliert die Abfolge der Begebenheiten und Eindrücke keine objektive Bewegung und Entwicklung, sondern eine Bewegung und schließlich einen Umschlag im Denken und Fühlen der Ich-Erzählerin. Die Schlußwendung wird zwar durch einen äußeren Anlaß stimuliert, hat aber ihre Wurzel nicht in dieser oder jener auf sie einwirkenden Kraft, •sie erfolgt vielmehr aus innerem, traumhaft freiem Entschluß. Durch die Mobilisierung ihres Willens, ihrer seelischen Energie entreißt sich die Träumende einer Lage, in der sie, schlechter Konvention folgend, Rollen spielend, Objekt des Gesche'hens war. Das Traumsujet erlaubt es, eine solche Intention besonders rein darzubieten. Doch ging die Autorin der Christa T. bereits auf etwas ganz Ähnliches aus, wenn sie die Spuren im Leben ihrer Heldin verfolgte, die darauf schließen ließen, •daß deren inneres Wesen nicht in ihrer gesellschaftlichen Rolle aufging, daß sie bisweilen Mut zu fassen suchte, „sie selbst" zu sein und dieses Selbst in künstlerischem Schaffen zu entäußern. Mattigkeit, Krankheit und Tod ließen es freilich nicht zu jener Sprengung der Hülle kommen, die der Traumerzählerin in Unter den Linden gelingt. Daß die persönliche Krise lind deren Überwindung im Geteilten Himmel ebenfalls in diesen Umkreis gehören, wurde schon angedeutet. Diese Freisetzung seelischer Energien zur Selbstbehauptung und Entfaltung von Menschlichkeit bildet nun nicht nur das Thema, sondern - dies ist die zweite Komponente des kathartischen Prinzips bei Christa Wolf - auch das Pathos der Darstellung. Was dem Leser übermittelt, was von ihm nachvollzogen werden soll, ist in erster Linie die geistig-emotionale Haltung, die die Autorin zum geschilderten Geschehen ein48

nimmt. Sie ist es, die durch ihre Anwesenheit und Teilnahme den Bezug vermittelt, den das begrenzte Einzelne zu etwas Großem, Bedeutendem, zur menschlichen Möglichkeit und Potenz hat; sie will jene selbst durchlebte Erschütterung weiterreichen (das Gefühl und Bewußtsein eines zu überwindenden Mißverhältnisses), die ihrerseits die befreiende Reinigung hervorbringt. Der Prosastil Christa Wolfs ist ganz auf diese Intention zugeschnitten. Die Informationen über Zustände, Begebenheiten, Dinge (ob es sich um authentische Mitteilungen oder Erfindungen der Autorin handelt, gilt in diesem Zusammenhang gleich) sind eingebettet in Passagen oder Wendungen seien es zusammenhängende Kommentare und Reflexionen oder sei es nur ein in die Beschreibung eingeworfenes „doch" oder „ja" - , in denen der Autor zu erkennen gibt, daß das Mitgeteilte sein Bewußtsein durchlaufen hat, von ihm gewertet und mit Bedeutung aufgeladen wird. Auf diese Eigenart zielt unter anderem Günter de Bruyns freundschaftliche Parodie, aus der wir oben zitierten. (De Bruyn hat an anderer Stelle seinen Respekt vor Christa Wolf öffentlich bekundet.8) In Nachdenken über Christa T. und Unter den Linden führt dies verschiedentlich dazu, daß die Vorstellungskraft des Lesers recht wenig Nahrung erhält und er in hohem Maße auf die von der kommentierenden Erzählerin aufgebrachte Kraft der Überredung verwiesen wird. Der Reflexion im literarischen Werk sagt man nach, sie sei kalt. In Christa T. herrscht eine durch die Anteilnahme der Autorin erwärmte Reflexion. Den Begriff der Mitteilung interpretiert Christa Wolf ausdrücklich im Sinne der Teilnahme, des Inmitten-Seins: „Mit-zu-teilen, mit uns zu teilen. Höchste Subjektivität, aber keine Willkür [ . . . ] " heißt es in ihrem Nachwort zu Erzählungen von Ingeborg Bachmann.9 Damit sind wir bereits beim dritten Moment. Die Prosakunst, zu der sich Christa Wolf bekennt, verlangt die Anwesenheit des Autors im Werk. Es geht wohlgemerikt nicht schlechthin um einen fiktiven Erzähler, der als „Ich" im Text fungiert, zu dem der Autor aber unter Umständen durchaus Distanz bewahrt (Typus: Serenus Zeitblom in Thomas Manns Doktor Faustus), sondern um die wirkliche Subjektivität des Verfassers, die im oben skizzierten Sinn seine Haltungen zum Geschehen übermittelt. Christa Wolf nennt dies die „vierte

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K a u f m a n n . Studien

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Dimension [.. .] die Dimension des Autors" 10 , die in moderner Prosa notwendig vorhanden sein müsse. In seiner Analyse des Geteilten Himmels hat D. Schlenstedt seinerzeit darauf hingewiesen, daß bereits in dieser Erzählung, in der, formal gesehen, kein Erzähler-Ich vorkommt, das Moment subjektivlyrischer Wertung - in „emotional aufgeladenen Bildern", im Zusammenwirken von „Prolog, Epilog, Reflexions- und Erlebnissphäre" eine konstituierende Rolle spielt 11 . Nachdenken über Christa T. formuliert schon im Titel die „mitteilende" Rolle des Autors, und im Werk selbst bespricht die Erzählerin wiederholt und ausführlich, wie sie sich denkend und fühlend ihrem Gegenstand annähert, um mit ihm eins zu werden. In Selbstversuch ist die Erzählerin, eine Wissenschaftlerin, die sich im Jahre 1992 zeitweilig in einen Mann verwandeln läßt, selbstverständlich eine fiktive Gestalt; doch sind ihre inneren Haltungen und Wertungen - das soll dem Leser keineswegs verborgen bleiben - durchaus die der Christa Wolf. Diese sogenannte „vierte Dimension" ist kein austauschbares formales Mittel (die formale Durchführung ist in jedem Werk anders, wie wir sahen), sie gehört vielmehr ins Zentrum dieser Poetik. Gerade ein Gegenbeispiel, ein Ausnahmefall im bisherigen Werk Christa Wolfs, verdeutlicht das. Der jüngste Erzählungsband Unter den Linden enthält auch die Geschichte Neue Lebensansichten eines Katers. Wie der Titel bereits ankündigt, wird diese „unwahrscheinliche" Geschichte von einem Erzähler-Ich mitgeteilt, dessen Ansichten, Haltungen und Emotionen selbstverständlich nicht mit denen der Autorin zu identifizieren sind (listigerweise läßt ihn die Autorin aber doch einiges sagen, was sie zu sagen hat). Es ist ein Kater, der im Hause des Psychologieprofessors Barzel Zeuge des Versuchs wird, ein universelles psychologisch-kybernetisches Modell zur totalen Beglückung - in Wahrheit zur Manipulierung und Entpersönlichung - der Menschen herzustellen. Die Schwierigkeiten sind freilich beträchtlich, denn sie liegen in der Natur des Menschen. Er muß erst zum „Normalmenschen" (NM) zurechtgestutzt, immer mehr „störende" menschliche Attribute müssen ihm amputiert werden. Und obwohl, vielmehr: gerade weil Barzel und seine Helfer darin bis zum äußersten gehen, mißlingt das Experiment. 50

Der satirische Stoß richtet sich zunächst gegen eine rationalistische Wissenschaftsauffassung, die sich an der Leiblichkeit und Vielfalt des wirklichen Menschen vergebens abarbeitet, darüber hinaus gegen eine Vorstellung von der Leitung gesellschaftlicher Prozesse, die die Menschen als bloße Objekte von „oben" kommender Systeme von Maßnahmen ansieht - wodurch die „Persönlichkeitsformung" in Manipulation umschlägt. Mittel und Zweck sind vertauscht: Das Menschliche am Menschen wird zum Störfaktor eines „Systems", das doch den Menschen zum Zweck haben soll. Selbstverständlich gibt die Erzählung keine allseitige Betrachtung des Problems. Im Gegenteil : Sie verfährt - als Satire - bewußt einseitig und macht dies deutlich durch die groben Mittel, derer sie sich bedient. Die Gestalten sind Karikaturen: der Gelehrte, der die Menschheit zur Vollkommenheit führen will, ist seelisch und körperlich verkrüppelt (kunstfeindlich, impotent), seine Frau ein unausgefülltes, sexualhungriges Weibchen, das sich mit Likör tröstet, die Autorin verwendet redende Namen wie „Fettback" - usw. Ahnenstolz und gebildet, beruft sich der Kater Max auf literarische Vorfahren: den Gestiefelten Kater, E. T. A. Hoffmanns Kater Murr, vor allem aber den Behemoth aus Bulgakows Roman Der Meister und Margerita, einen Gehilfen des Teufels. Durch die Beziehung zu Bulgakow, die Christa Wolf vorschwebte, gerät die Erzählung in die Faust-Tradition. Wichtigster Schauplatz der parodistischen Adaption ist die Studierstube, Hauptakteur kein neuer Faust, sondern ein neuer Wagner, der in der Retorte den Homunculus destilliert. Man mag den Wert dieser auf phantastischen Voraussetzungen fußenden, das Groteske streifenden Satire höher oder geringer veranschlagen als den der anderen Geschichten des Bandes. Ihre künstlerische Wirkung ist jedenfalls von anderer, von komödischer Natur. Indem die Autorin ein ironisch-humoristisch betrachtetes, zum Erzählgeschehen Distanz schaffendes Erzähler-Ich einführt, verändert sich das Wertungsgefüge völlig. Nicht Einfühlung, sondern das vom Komischen ausgelöste Gefühl und Bewußtsein von Überlegenheit stellt sich ein. Damit wird eines deutlich: Das von Christa Wolf vorwiegend praktizierte und in Polemiken (so in dem Essay Lesen und Schreiben 51

und im Gespräch mit dem Verfasser dieser Zeilen) verteidigte poetische Programm schließt, in der theoretischen Formulierung ernst genommen und folgerichtig befolgt, das Komödische im weitesten Sinn, im Sinn der Vermittlung von Abstand zum vorgestellten Geschehen, als ästhetisches Prinzip aus. Der Einspruch, so könne Christa Wolf das unmöglich gemeint haben, hülfe gegen diese Feststellung sowenig wie der Hinweis, daß sie gern lustige Geschichten hört und darüber lacht. Es handelt sich um die - mit bemerkenswerter Konsequenz herausgearbeitete - Logik ihrer Poetik. Was eingangs als individuelle Variante eines kathartischen Prinzips kurz zu beschreiben versucht wurde, ist die Position, deren negativen Ausdruck die von der Autorin wiederholt und vehement vorgetragene theoretische Polemik bildet. In dieses Prinzip mündet die Mehrzahl ihrer Bemühungen und Überlegungen, die Bekundung von Zuund Abneigung ein, und manche Widersprüche in ihren Äußerungen lösen sich in diesem Bezug auf. Hinzuzufügen ist allerdings, daß - wie bei vielen Schriftstellern, die sich theoretisch äußern, so auch bei Christa Wolf - die tatsächliche künstlerische Leistung nicht voll von dem gedeckt wird, was die Autorin im Essay, im Gespräch usw. als eigenes Schaffensprinzip bezeichnet. Die Schriftstellerpoetik verallgemeinert eine allerdings wesentliche Tendenz, die dem eigenen Schaffen innewohnt. Doch wird die künstlerische Tätigkeit primär nicht von einer literaturtheoretischen Konstruktion, sondern von den Beziehungen des Schriftstellers zu der ihn umgebenden Welt angeregt. Und so können aus unterschiedlichen Ursachen, Anlässen, Anforderungen Arbeiten entstehen, die von der theoretisch formulierten Hauptlinie des Schaffens nicht erfaßt werden. Die Neuen Lebensansichten eines Katers und der Till Eulenspiegel bezeugen dies; und Der geteilte Himmel deutet zwar in einigen Zügen auf ein kathartisches Prinzip hin, geht aber im ganzen nicht darin auf. Die Elemente einer Systematisierung dieses Prinzips bilden sich im Umkreis von Nachdenken über Christa T. heraus.12 Und je mehr Christa Wolf dahin gelangt ist, der hier eingeschlagenen Schaffensrichtung eine allgemeine Fassung zu geben, desto stärker drängt sich die Frage nach der Leistungsfähigkeit eines solchen Konzepts im Ensemble unserer Literatur auf. 52

Man kann annehmen (es bleibt aber eine Annahme), daß bei der Wahl und Anlage des Sujets der Christa T. unter anderem die Absicht eine Rolle spielte, in der Auseinandersetzung mit der seinerzeit bevorzugten künstlerischen Behandlung von „Planern und Leitern" die Aufmerksamkeit auf jene zu lenken, deren Tüchtigkeit und menschlicher Wert nicht auffällig zutage treten, die keinen Erfolg haben und nicht aufsteigen. Das ist ein weitreichendes, nicht nur die Literatur angehendes Problem. Wenn unsere Gesellschaft einerseits ganz neue Voraussetzungen dafür schafft, daß Werktätige in den Vordergrund des Geschehens rücken, große gesellschaftliche Prozesse leiten und in dieser Tätigkeit wachsen, so kann es andererseits sowohl moralisch als auch praktisch prekäre Folgen haben, wenn man den Aspekt des Aufstiegs überspannt. Eine zu einseitig aufgebaute Vorstellung, wonach derjenige, der gut sei, in leitende Funktionen aufrücke, provoziert mit einer gewissen Notwendigkeit die Frage nach dem Wert oder Unwert derjenigen, die ihr Leben lang „einfache" Arbeiter, Lehrer usw. bleiben. Das Plädoyer für Feinfühligkeit, die Anregung, neu und tiefer über menschliche Qualitäten nachzudenken und sie auch dort aufzusuchen, wo ihre Äußerung gehemmt ist, hat nicht nur allgemein moralische Berechtigung, sondern am Ende auch praktische gesellschaftliche Bedeutung. Christa Wolf kann sich, wenn sie ein solches Anliegen verfolgt, auf demokratische Literaturtraditionen stützen. Ihre wiederholten enthusiastischen Äußerungen über Büchners Lenz lassen die Vermutung zu, daß ihr der Büchner-Lenzsche Satz: „Man versuche es einmal und senke sich in das Leben des Geringsten und gebe es wieder in den Zuckungen, den Andeutungen, dem ganzen feinen, kaum bemerkten Mienenspiel [ . . . ] " 1 3 durchaus ein Leitsatz war. Die Verfasserin der Christa T. will jedoch nicht nur über einen Menschen intensiv Aufschluß geben, sondern damit zugleich allgemeine Gesichtspunkte für einen solchen Aufschluß geltend machen. Der polemische Ansatz reißt sie fort zu Antithesen, die um so anfechtbarer werden, je mehr die Autorin sie theoretisierend ausfällt. Von dem Büchner-Lenzschen Programm, auch in dem Menschen, dem die Verwirklichung seiner Anlagen und Kräfte versagt bleibt, den ganzen Menschen und würdigen Mitmenschen zu sehen, schreitet sie tendenziell fort 53

zu der Erwägung, ob nicht gerade die Nicht-Verwirklichung das wahrhaft Menschliche sei. Gefragt wird, ob das, was den Menschen widerfährt, menschlich ist, weniger, was sie tätig durchsetzen. Das Stigma der gehemmten und durch tödliche Krankheit gezeichneten Christa T. wird ein wenig zum Zeichen der Erwähltheit. (Übrigens nimmt die Heldin des Buches nach allem, was wir von ihr erfahren, nichts dergleichen für sich in Anspruch; die in ihrer „Schwäche" enthaltene „geheime Überlegenheit" gehört allein dem Autorenkommentar. 14 ) Geschichtsphilosophisch ausgeweitet, führt die in gewissem Sinn berechtigte aktuelle Polemik gegen Willfährigkeit und Erfolgshascherei Christa Wolf dazu, die - für jedes Individuum notwendig begrenzte - Praxis prinzipiell schnöde zu behandeln und die Menschlichkeit jenseits von ihr im Raum des Unverwirklichten aufzusuchen. Versuchungen, denen zu widerstehen nötig und möglich, denen nachzugeben verwerflich ist, erscheinen im moralischen Urteil auf gleicher Stufe mit objektiven Gesetzmäßigkeiten gesellschaftlicher Entwicklung, die der Mensch - mit Marx zu reden - nur besiegt, indem er sich ihnen unterwirft. Diese „Unterwerfung" erscheint anrüchig, „objektive Gesetze" geraten in Verdacht, faule Ausreden für Gewissenlosigkeit zu sein. Nun wäre es freilich frivol zu behaupten, es handle sich hier um abseitige oder leicht lösbare Probleme. Christa Wolf bringt komplizierte und wesentliche, uns angehende Dinge zur Sprache - auch dort, wo sie zum Widerspruch reizt. W a s objektive Determinanten sind, denen unser Tun Rechnung tragen muß, um Sinn zu haben, und was nicht zu sein brauchte, ist primär nicht im Buch, sondern im Leben untereinander gemischt. Dennoch setzt Entscheidung Unterscheidung voraus. In der Vorstellung, Freiheit zu moralischem Verhalten sei im Abstreifen von „Zwängen" zu erreichen, gerät das immer bedingte Handeln notwendigerweise auf die Schattenseite der Bewertung oder ganz ins Dunkel des Vergessens. Um diesen Angelpunkt drehen sich die philosophischen Überlegungen wie die poetische Konzeption Christa Wolfs. Das künstlerisch-praktische, zum Teil auch als theoretische Konfession formulierte Äquivalent jener hier in aller Kürze bezeichneten geschichtsphilosophisch-moralischen Problemstellungen und Lösungsversuche ist das kathartische Prinzip, dessen

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Beschreibung oben versucht wurde. Es leuchtet ein, daß es sich am reinsten entfalten und am überzeugendsten bewähren kann, wenn die Autorin es mit Sujets zu tun hat, in denen solche individuellen Entscheidungen zur Debatte stehen, die von keinem „Muß" (diesem „Verdammungswort", das mit im Zentrum des Büchnerschen Erbes steht) durchkreuzt werden, Sujets, in denen der Raum, den das Werk durchmißt, nicht größer ist als der Spielraum, innerhalb dessen Handlungsmöglichkeiten frei gewählt werden können. Solche Momente des Lebens gibt es natürlich, folglich hat die Darstellung derartiger Situationen und Abläufe, in denen allein „das Herz gewogen" wird, Berechtigung und Bedeutung. 15 D a ß die Erzählungen Unter den Linden und Selbstversuch, an die hier zu denken ist, auf phantastischen Voraussetzungen beruhen, wäre kein zureichender Einwand. Phantastisches und Utopisches, künstlerisch kenntlich gemacht als das, was sie sind, können den Sinn für die Realität stärken; sie können auch real Vorhandenes und Mögliches rein hervortreten lassen. Letzteres geschieht namentlich in Selbstversuch. Die Erzählung bringt mit Nachdruck und psychologischer Überzeugungskraft Fragen von aktueller und allgemeiner Wichtigkeit zur Sprache, und zwar solche, in denen es in der Tat in hohem Maße darauf ankommt, ob Männer und Frauen die bereits gegebenen Möglichkeiten nutzen, zu einem unserer Epoche gemäßen Verhalten zu gelangen. (Die utopische Einkleidung gestattet, die materiellen Voraussetzungen der Möglichkeit, sich so oder anders zu verhalten, stillschweigend als gegeben zu unterstellen.) Durch die - als genetisches Experiment zu denkende - Verwandlung in einen Mann wird der Wissenschaftlerin erst völlig bewußt, wie stark ihr Verhalten bestimmt war und bleibt von ihrer Existenz als Frau in einer Umwelt, die ihre Bewertungsnormen stillschweigend und selbstverständlich vom Mann und in bezug auf ihn erhält, in der beispielsweise die Vollwertigkeit einer Wissenschaftlerin daran gemessen wird, daß sie so gut ist wie ein Mann. Insgeheim wird die Ich-Erzählerin zu dem Selbstversuch durch das ganz unwissenschaftliche Bestreben angetrieben, sich selbst und ihrem Chef, dem stets sachlich-überlegenen, ihren „Wert als Frau" zu beweisen. Ihr Verhalten, wie das des Chefs entpuppt sich am Ende als Rollenspiel („Wie im Kino"). 16 Jedoch der 55

Sieger ist der Verlierer. Der Chef hat seine praktische Überlegenheit mit Liebesunfähigkeit, mit Unmenschlichkeit erkauft. Die Frau, die den Versuch abbricht, sich ihm auf seinem Felde gleichzustellen, gewinnt die Chance, in einer ihr gemäßen, menschlichen Weise neu zu beginnen. Die Suche nach dem Menschen, „den man lieben kann" 17 , steht am Schluß, der so mit dem Ausgang von Unter den Linden eng korrespondiert. Mancher mag andere Ansichten vertreten oder das Ganze zu theoretisch finden. Die gewählte Lösung, das Wenk als „Traktat" anzulegen, als „wissenschaftlicher Arbeitsbericht, der immer mehr zu einem subjektiven Bekenntnis entgleitet" 18 , erscheint jedoch überzeugend, und die Beweiskraft für das, was Christa Wolfs poetisches Prinzip zu leisten vermag, wird man der Erzählung nicht absprechen können. Indem der Sozialismus die Ausbeutung und die feindliche Stellung der Klassen zueinander beseitigt, schafft er neue Voraussetzungen dafür, daß die Aufforderung zu humanem Verhalten („die Liebe nicht vertagen") reale Verwirklichungschancen hat, daß sie mehr ist als eine ohnmächtige Hoffnung. Mit Recht versteht und verteidigt Christa Wolf also ihr Anliegen als wirkendes und notwendiges Element der Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft. Im Sinn der Freilegung humaner Anlagen und Kräfte, die im Individuum ruhen und verschüttet waren, erhält der programmatische Satz aus Lesen und Schreiben: „Prosa soll versuchen, den Kontakt der Menschen mit ihren Wurzeln zu erhalten" 19 , eine faßbare Bedeutung. Der „Kontakt" mit den „Wurzeln" faßt das Humane freilich als ein dem Individuum innewohnendes Abstraktum; wie es dort hineinkommt, bleibt außerhalb der Betrachtung. Ob dieses weltanschaulich-poetische Programm es auch erlaubt, das Individuum in der wirklichen Mannigfaltigkeit seiner gesellschaftlichen Beziehungen, in der realen Dialektik vorgefundener, nicht auswähl- und austauschbarer Bedingungen seines Handelns und möglicher Entscheidung entsprechend seinem - ebenfalls sozial vermittelten Bewußtsein darzustellen, das vermögen die nach dem Geteilten Himmel erschienenen Werke nicht überzeugend zu beweisen. Und die theoretischen Bemühungen Christa Wolfs lassen in dieser Hinsicht starke Zweifel aufkommen. Nun sind solche Äußerungen von Schriftstellern freilich

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primär im Rahmen des Schaffensprozesses zu sehen; sie sollen die eigene künstlerische Position erhärten, klären, bestimmter herausarbeiten helfen. Beispielsweise interessiert an den bekannten bösen Äußerungen Brechts über Thomas Mann nicht in erster Linie, inwieweit sie ein richtiges Bild des Romanciers bieten. Wichtiger ist, daß Brecht eines bestimmten polemischen Abstoßpunktes bedurfte, um eigene Schaffensprinzipien zu präzisieren. Auch das ungerechte und falsche Urteil kann dabei eine produktive Rolle spielen. Das gilt prinzipiell auch für Christa Wolf. Einerseits ist also der Zusammenhang zu zeigen, in dem die Schriftstellerpoetik mit der künstlerischen Praxis steht, andererseits darf die Kunstleistung nicht aus den Vorstellungen abgeleitet werden, die der Autor selbst darüber formuliert, und schließlich ist zu bedenken, daß solche Vorstellungen, einmal ausgesprochen, doch einen Einfluß auf das künstlerische Schaffen - das eigene und fremdes - haben. Aus letzterem Grund müssen sie auch diskutiert werden wie jeder andere theoretische Text, allerdings nicht mit dem Ziel, in der Manier von Georg Lukäcs bestimmte Schreibweisen zu kanonisieren und andere zu verdammen. Wir stellen vielmehr in Frage, ob zwischen Menschenbild, poetischem Prinzip und bestimmten Verfahren beim Aufbau eines Prosawerks ein so notwendiger Zusammenhang besteht, wie er sich für Christa Wolf darstellt. Wenn sich Christa Wolf gegen Erzählwerke wendet, die in sich geschlossene „Objekte" sind, in denen der Autor nicht vorkommt und selbst unbewegt bleibt, aber seine Leser bewegen will, so zielt sie vermutlich auf bestimmte Bücher oder Tendenzen unserer Literatur, die ihr mißfallen, weil sie sie für unwahr hält (das wäre im Einzelfall zu diskutieren). Ihrerseits schlug sie in Christa T. den Weg ein, auch darüber Auskunft zu geben, wie sie nachdenkend die Lebensspur ihrer Heldin verfolgte (sie kennzeichnet einige erfundene Episoden ausdrücklich als Vermutungen). Zurückweisung einerseits, eigenes Vorgehen andererseits verbinden sich zu der Vorstellung, daß die Unwahrheit gewisser Prosawerke ihre Wurzel in der Struktur dieser Prosa („geschlossene" Fabel, Abwesenheit des Autors) habe. Doch gibt sie der Polemik eine allgemeine Fassung, so daß, wenn man sie beim Wort nimmt, auch - um nur 57

von Zeitgenossen zu sprechen - Anna Seghers und Tschingis Aitmatow der Ablehnung verfallen 20 *. In Lesen und Schreiben ergänzt sie ihre Argumentation durch literarhistorische Exkurse, die man, euphemistisch ausgedrückt, als kühn, bei skeptischer Betrachtung als waghalsig bezeichnen möchte. Was bisher gemeinhin „Epik", „Ezählliteratur" oder ähnlich genannt wird, subsumiert sie unter den Begriff der „Prosa" („Gattung Prosa", „moderne Prosa" usw.). 21 * Trotz gewisser Vorbehalte, trotz der Respektsbezeugungen für einige ältere Erzählwerke resümiert sich in diesem Begriff die Tendenz, eine bisher für wichtig gehaltene literarische Tradition zu verwerfen. Nun kann das durchaus nötig sein, wenn man Neues schaffen will. In der Begründung für dieses Verwerfen verbindet sich ein philosophisches Argument mit einem politischen. Das „konventionelle Erzählen" mit seiner „festen Fabel" gilt Christa Wolf als eine Art Uhrwerk, das nach äußeren Vorgaben abschnurrt, als eine Entsprechung zur Newtonschen Himmelsmechanik (sie spricht sogar von einer „Newtonschen Dramaturgie" 22 ). Solche Geschichten seien früher geeignet gewesen, „die reichlich wilde Welt zu zähmen", man habe es „allmählich natürlich gefunden", daß der gesellschaftliche Mechanismus ähnlich funktioniere wie die Himmelsmechanik23, und gerade durch die Vorspiegelung einer objektiven Bewegung sei auf diese Weise die Welt in ihrem So-Sein bestätigt worden. Heute gelte es, eine Prosakunst zu entwickeln, die sich auf der Höhe des Einsteinschen und Heisenbergschen Denkens bewege. Der polemische Stoß dieser Erörterungen - in denen ich von der wirklichen Geschichte der Erzählliteratur wenig wiedererkenne - richtet sich gegen die Objektivität der Bewegung. An der „Mechanik" des Himmels und der Erde stört sie gerade der Materialismus, und sie versucht, mit Berufungen auf Dialektik und Relativität an der von ihr in Anführungsstriche gesetzten objektiven Realität vorbeizukommen. Es ist das gleiche philosophische Mißgeschick, das Gorki unterlief, als er sich im Streit um Materialismus und Empiriokritizismus gegen Lenin erklärte: Lenin und Plechanow seien „in den Fragen der Taktik verschiedener Meinung, glauben jedoch beide an den historischen Fatalismus und propagieren ihn, die Gegenseite indes bekennt sich zur Philosophie der Aktivität. Für mich ist 58

klar, auf wessen Seite mehr Wahrheit ist [. . .] "24* Das den Prinzipien Newtonscher Mechanik folgende „konventionelle Erzählen", meint Christa Wolf, sei auch früher schon „weit von den Normen ab [ge] wichen, nach denen das menschliche Leben [. . .] sich wirklich abzuspielen pflegte" 25 ; es wiege den Menschen in angenehmen Täuschungen, es sanktioniere das Bestehende: „Ich geht unter, aber sie (die „Mechanik" gesellschaftlicher Bewegung - H . K . ) bleibt und bewegt sich doch." 26 Eine diesem Weltmodell entsprechende Erzählliteratur eigne sich darum zur Illusionsbildung und zur Manipulierung. Deshalb brauche die Kunst „die Vermittlung des Künstlers", deshalb sei eine Literatur zu schaffen, in der der Autor „mit •seinem Lebensschicksal und seinem Lebenskonflikt zwischen der .Realität' und der leeren Seite steht und keine andere "Wahl hat, diese Seite zu füllen, als die Auseinandersetzung zwischen der Welt und sich selbst darauf zu projizieren". 27 (Dies ist gegen die - die Rolle des Menschen herabsetzende „minutiöse Beschreibung einer Dingwelt" bei Robbe-Grillet gesagt, soll aber zugleich allgemein gelten.) Während sich die „geschlossene Fabel" der Nachprüfung entziehe, bürge der im Werk anwesende Autor mit seiner Person für das, was er mitteilt. „Subjektive Authentizität" nennt Christa Wolf dies. 28 * Ihre offenbar tiefliegende Abneigung gegen eine Kunstprosa, in der der Autor nicht anwesend ist, gründet sich jedoch noch auf ein weiteres Motiv (im Gespräch deutet sie es an 29 ). Mit dem Bedürfnis, in ihrer Prosa die eigene Subjektivität erscheinen zu lassen, reagiert sie auf eine Situation, in der das Werk als gedrucktes und verkauftes Buch einer unpersönlichen Öffentlichkeit übergeben wird. Das „in sich geschlossene" Werk, aus dem sich der Verfasser gleichsam zurückgezogen hat, erscheint, so gesehen, als Entsprechung zur Anonymität des Rezipienten. Dem soll entgegengewirkt werden, von daher entspringt das Bedürfnis, zwischen Autor und Werk die Nabelschnur intakt zu halten und vom Werk zum Leser ebenfalls einen persönlichen Kontakt aufzubauen, als Verfasser-Individuum in der anonymen Öffentlichkeit auch das Leser-Individuum aufzusuchen. Durch das persönliche Sprechen soll eine solche Funktion im Werk strukturell verankert werden. (Man denke an die Situation der Aussprache mit einem Vertrauten 59

als Rahmen und Erzählansatz von Unter den Linden.) Es handelt sich hier um ein sehr weitreichendes Problem nicht nur, aber speziell auch der Erzählliteratur, das in seiner Relevanz für verschiedene Gesellschaftsformationen und deren Entwicklungsetappen weiter zu untersuchen wäre. Von ihm fühlt sich - nur so viel sei noch angedeutet - nicht nur Christa Wolf betroffen. Beispielsweise sei an Hermann Kant erinnert, dessen Prosastil offensichtlich vom mündlichen Erzählen und von der Rede her organisiert ist und der vor allem dadurch auch wenn wir die Frage, inwieweit er mit den Zentralfiguren seiner Romane identisch ist, beiseite lassen - als Autor im Werk anwesend ist. Insoweit ist sein Verfahren dem von Christa Wolf durchaus vergleichbar. Jedoch heißt das nicht, daß Karrt deshalb ein überwiegend auf einfühlendem „Mit-Teilen" beruhendes poetisches Prinzip praktiziert. Zwischen dem Willen des zeitgenössischen Künstlers, der Wahrheit auf die Spur zu kommen, seinem Bestreben, sich mit dem Leser in lebendige Beziehung zu setzen, und der einfühlenden Mittlerrolle des Autors im Werk besteht - deshalb das Beispiel Kant - durchaus kein so zwanghafter Zusammenhang, wie er sich für Christa Wolf darstellt. Einerseits gibt es bedeutende Epiktraditionen, in denen die Anwesenheit und Zwischenrede des Autors nicht einfühlend-subjektiver Mitteilung dient, sondern eher entgegengesetzten Zwecken, z. B. rationalistisch-ironischer „Verfremdung"; man denke etwa an Diderot. Andererseits liefert die Literaturgeschichte kuriose Beispiele dafür, wie sich Schriftsteller, mit denen Christa Wolf nicht das geringste zu tun hat, Verfahren zu eigen machten, die den von ihr befürworteten formal ähneln. So hat etwa Cäsar Flaischlen (für analytische Zwecke, aber nur für sie, kann es nützlich sein, ihn zu lesen) bereits vor siebzig Jahren aus Opposition gegen die „geschlossenen", seiner Ansicht nach des billigen Effekts und finanziellen Erfolgs wegen geschriebenen Erzählungen das Konzept einer durch den anwesenden Autor „beseelten" Prosa entwikkelt und praktiziert. Der zeitgenössische Realismus war in seinen Augen Ausdruck der herrschenden Literaturverhältnisse; von letzteren wollte er sich abgrenzen und führte dabei den polemischen Stoß gegen ersteren. Und diese „beseelte" Prosa wurde in Hunderttausenden von Exemplaren auf den Markt 60

geworfen und paßte ausgezeichnet in den Literaturbetrieb des Imperialismus. 30 Gerade weil das Beispiel völlig anderen Schaffensbedingungen und einer Welt- und Kunstanschauung entstammt, mit der Christa Wolf, wie gesagt, nichts gemein hat, kann es etwas verdeutlichen: Wie ein Kunstwerk innerhalb bestimmter Literaturverhältnisse funktioniert, ist nicht gerad- und einlinig von einer bestimmten Schreibweise, von einem Ensemble literarischer Verfahren oder Techniken her festlegbar. Es gibt keine Schreibweise, die, für sich genommen, nicht auch anderen ideellen Zwecken dienstbar gemacht werden könnte oder vor Mißbrauch a priori geschützt wäre. Selbstverständlich muß ein Schriftsteller die ihm gemäße Art zu schreiben finden und vervollkommnen. Doch kann es zu Vereinseitigungen führen, wenn er sich die Verwirklichung seines Gesellschafts- und Menschenbildes zu starr an gewisse Verfahren und Techniken gebunden vorstellt. Der Unterschied zwischen einer entfalteten künstlerischen Methode und einer Manier besteht nicht zuletzt in der Fähigkeit eines Autors, sich vom Leben korrigieren zu lassen und auf die mannigfaltigen Aspekte gesellschaftlicher Entwicklung jeweils angemessen, also - in Verbindung mit persönlichen Wertvorstellungen, an denen er festhält und die deshalb wiederkehren - jeweils unterschiedlich zu reagieren. Christa Wolfs bisheriges Schaffen ist reicher als ihre Auffassung von „moderner Prosa". Was sollte dagegen sprechen, daß dies sich fortsetzt?

Dem Leben auf die Schliche kommen

Karl- Heinz

Jakobs

als

Romancier

In einer seiner ersten Erzählungen, Ein Schnellzug fährt vorbei berichtet Karl-Heinz Jakobs von einem rätselhaft, fast unheimlich wirkenden Mann. Während der Zug nachts am lichterstrahlenden Kraftwerk Lübbenau vorbeirast, bricht aus dem bisher verschlossenen Reisenden unvermutet ein Redeschwall, durch den der mitreisende Ich-Erzähler erfährt, daß der Unbekannte - ein Ingenieur aus dem Wasserwerkfach - geradezu zwanghaft von diesem Lübbenau in Bann gehalten wird. Offenkundig ehemals am Aufbau dieses Werks beteiligt, kommt er von der Erinnerung an diese Arbeit - und an eine bestimmte Kollegin - nicht los; er verflucht und verherrlicht diese Bindung. Jakobs gibt in dieser hauptsächlich aus Dialog und Reflexion aufgebauten Erzählung eine Momentaufnahme, die schlaglichtartig heraushebt, was diesen Menschen zu einer auffallenden, außergewöhnlichen Erscheinung macht: die Faszination durch die Arbeit. Sie resultiert im gegebenen Fall zunächst aus dem leidenschaftlichen Interesse des Spezialisten an der Erforschung und Beherrschung der Naturkräfte. Aber nicht dies raubt ihm die Ruhe, sondern vielmehr das ihm selbst rätselhaft erscheinende Erleben, sich in den Sog des sozialistischen Aufbaus hineingerissen zu fühlen, obwohl mancherlei das Leben in der D D R für ihn unbequem macht. Man sehne sich manchmal, so meint er, nach einem Land wie Kanada oder der Schweiz, wo 62

es „einfacher zu leben sei, wo nicht jeden Tag jemand zu Ihnen kommt und Sie auffordert, in der Nationalen Front mitzuarbeiten, sich zu qualifizieren oder das neueste Kommunique der Partei zu studieren; und Sie räsonieren, Sie begehren auf, Sie wollen wenigstens ein Kommunique mal auslassen dürfen". Aber [ . . . ] „es gibt nichts, was erregender ist als die Industrie, die wir Ackerbauern aus unserem Boden heben". 2 Er rühmt Beispiele unerhörter Persönlichkeitsentwicklung von Menschen ländlicher Herkunft, die durch die Teilnahme am industriellen Aufbau angetrieben wurden, etwas aus sich zu machen. Die Erzählung erinnert an Stefan Zweigs Novellen einer Leidenschaft, die davon erzählen, wie Leidenschaften einen Menschen völlig ergreifen und aufzehren (Der Amokläufer, Brief einer Unbekannten). Es handelt sich um die Leidenschaft der Liebe. Das ist als literarisches Sujet üblich und vertraut. Die Besessenheit der Helden Jakobs' wirkt neuartig und befremdlich. Und sie soll es wohl. Als Motto stellt Jakobs einen Ausspruch Günter Deickes voran: „Wir waren allzu genügsam, da unserm Verlangen nichts als Natur nur die zärtliche Stimme verlieh. Und erst viel später nahm uns das andere gefangen, zögernd, doch unwiderstehlich: die Industrie." Diese Äußerung Deickes kommt Jakobs sehr entgegen; er selbst ist als Schriftsteller von diesem neuen Gegenstand gepackt und teilt die Leidenschaft seiner Figur. Und es zeigt sich, daß dieser von Arbeit besessene Typ bei Jakobs nicht vereinzelt ist. Nehmen wir z. B. die Elsa Baumann aus dem Roman Die Interviewer. Nach zwanzig Jahren Arbeit als Porzellanverkäuferin zieht es sie in den Industriebetrieb, wo Mann und Sohn tätig sind, weil sie das Gefühl hat, am eigentlichen Leben vorbeizuleben. Unter schwersten Bedingungen beginnt sie mit vierzig Jahren im Glühlampenwerk an einem Halbautomaten zu arbeiten und macht dort von sich reden. Leben, Weg und Leistung dieser Frau bewegten ihren Autor offenkundig mehrfach und intensiv: Man findet sie in einer gesonderten Porträtstudie in dem Band Eine Rose für Katharina3 und entdeckt erste Spuren von ihr in einer Reportage im Neuen Deutschland,'1. Letzteres läßt darauf schließen, daß diese Romangestalt ihren Ursprung in der Wirklichkeit selbst hat. Etwas am Verhalten der Menschen, auf die

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Jakobs im Zusammenhang mit seiner umfangreichen Reportertätigkeit trifft, also am wirklichen Verhalten wirklicher Menschen, läßt dem Autor keine Ruhe. In der Reportage über Frauen von Narva fragen einige von ihnen verwundert: „Warum plagen wir uns so ab? Warum vernachlässigen wir manchmal unsere Kinder, die wir lieb haben, warum vernachlässigen wir manchmal den Ehepartner, den wir lieb haben, wozu knapsen wir uns jedes bißchen Entspannung mühselig von der Zeit ab, die wir großzügig und bedenkenlos dem Betrieb geben?"5 Bei genauerer Untersuchung zeigt sich, daß dieser Menschentyp in Jakobs' gesamtem Werk 6 immer wieder in Erscheinung tritt, vor allem auch in den drei bisher vorliegenden Romanen. Menschen, deren Entwicklungsproblematik in hohem Maße durch ihr leidenschaftliches Verhältnis zur Arbeit geprägt ist, sind Tom Breitsprecher, seine Liebste Grit und die aufbaubegeisterten Jugendlichen in Beschreibung eines Sommers. Man findet sie auch in vielen Figuren aus Eine Pyramide für mich, vor allem in Paul Saties alten Freunden Trümpi und Hanka. Zum Problem im wahrsten Sinne des Wortes wird die Arbeitsbesessenheit für Liane Radek im Roman Die Interviewer, die sich nach kaum ausgestandenen Krisen in Familie und Betrieb in die nächsten zermürbenden Arbeitsaufgaben stürzt. - Verwandt in diesem einen Charakterzug, wirken diese und viele weitere Figuren nicht einförmig, sondern unverwechselbar, weil die Motivierungen sehr individuell und historisch konkret angelegt sind. Sie sind bei Liane Radek, die als Handwerkertochter in den Sozialismus hineinwächst, anders als bei dem erfahrenen Arbeiterfunktionär Alfred Baumann (ebenfalls eine Person aus Die Interviewer), der als eine rechte „Gründergestalt" sehr viel Ähnlichkeit hat mit dem Typ, den Jakobs in einer Studie über Adolf Hennecke7 porträtiert und ein weiteres Mal in dem Hörspiel Letzter Tag unter der Erde darstellt. Es ist abzusehen, daß Jakobs seine Erkundungen über das neue Verhältnis zur Arbeit fortsetzen wird, weil er davon ausgeht, daß dieses wirklich neue Verhältnis nichts Statisches ist, sondern mit der fortschreitenden Entwicklung neue Züge annehmen wird, sich unter Umständen sogar komplizieren kann und so immer neuen Stoff für Entdeckungen 64

bietet. In ihrem sehr neuen Verhältnis zur Arbeit sind Jakobs' Figuren selbst Unfertige, Fragende, denn sie sind mitten auf dem Weg zwischen zwei Grundformen der Organisation menschlicher Arbeit. Was Lenin die „Disziplin des Stocks" und die „Disziplin des Hungers" 8 in der feudalen und kapitalistischen Formation nennt, haben sie weit hinter sich gelassen und bilden in einem widerspruchsvollen Prozeß jene neue, freie und bewußte Disziplin der Werktätigen aus, die, wie Lenin sagt, im Kommunismus die Organisation der gesellschaftlichen Arbeit bestimmt. D i e Jakobsschen Figuren sind dabei, Elemente dieser neuen Disziplin zur Arbeit unter den Bedingungen der ersten Phase des Sozialismus/Kommunismus zu formen. D i e Gequältheit, Gehetztheit, Besessenheit, von denen dieses neue Verhältnis zur Arbeit begleitet ist und wodurch es besonders auffällig wird, resultieren aus einem ihnen selbst und dem Autor vielleicht auch - noch nicht bewußten Widerspruch. In ihrer vollen Hingabe an die Arbeit stoßen sie in einem Zustand der gesellschaftlichen Entwicklung, dem nach Lenins exakter Unterscheidung „sozialistische Arbeit" entspricht, ständig vor zum Wesen „kommunistischer Arbeit" 9 . Sie helfen damit, jene Bedingungen zu schaffen, die in einem langen Prozeß das noch vereinzelte kommunistische Verhalten zur Arbeit als ein allgemeines möglich machen werden. Dieses Miteinander von sozialistischem und kommunistischem Verhalten zur Arbeit erzeugt die Unruhe solcher Figuren, die selbst nicht voll durchschauen, was von ihnen geleistet und historisch neu geprägt wird. Deshalb scheinen sie eher von den neuen inneren Antrieben beherrscht zu sein, als daß sie freie und bewußte Schöpfer dieser Verhaltensweisen wären. Bei diesem von Jakobs bevorzugten Figurentyp fällt das Geldverdienen als Antrieb des Handelns aus. Niemals wird über diesen Sachverhalt reflektiert. E s muß dahingestellt bleiben, ob er dies bewußt oder unbewußt ausgespart hat. Festzustellen ist dagegen, daß Jakobs' Figuren trotz ihrer Eigenheit, nicht nach dem Geld zu fragen, keineswegs idealisiert wirken, und zwar vor allem, weil sie alles andere als Verächter von Lebensgenüssen sind. Das Genießen ist bei ihnen nicht auf Essen und Trinken beschränkt, ist nicht mit Konsum identisch. Ihre Bedürfnisse sind reicher, vielfältiger; Bedürfnisbefriedi5

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gung und damit Genuß entspringen bei ihnen vor allem dem Tätigsein, dem Produktivwerden, dem Kommunizieren mit anderen Menschen, der aktiven Auseinandersetzung mit der Natur. Bei ihnen tritt keimhaft und in noch unharmonischen Formen in Erscheinung, was wir nach Marx unter Arbeit als erstem Lebensbedürfnis verstehen. Jakobs unterstellt nicht, daß das auf Produktivitätsentfaltung orientierte Verhalten seiner Figuren heute bereits eine massenhafte Erscheinung sei. Indem er solches Verhalten als merkwürdig, als geradezu Staunen erregend gestaltet, bringt er die Differenz zwischen dem Gewöhnlichen, Massenhaften und dem Außergewöhnlichen zur Geltung. Sowohl das, was ist, als auch das, was sein sollte, kommt zur Sprache, aber beides ist weder miteinander zu verwechseln noch einander starr entgegengesetzt. Sehr eindeutig gestaltet Jakobs so sein ganz persönliches Ideal vom Menschen und vom Leben. Es ist frei von Utopie und Illusion, weil aufgespürt in der wirklichen Bewegung des Lebens. In ihrer beispielhaften Positivität wirken diese Figuren völlig lebensecht und überzeugend, weil sie selbst daraus entscheidenden Persönlichkeitsgewinn ziehen. Was sie unter größter psychischer und physischer Anspannung geben, bereichert ihr gesamtes Lebensgefühl unermeßlich. Sie können nicht anders, und sie können nicht einmal die Verluste zählen, die sie dabei erleiden. Durch genaue politisch-weltanschauliche, soziale und altersmäßige Motivierung solcher Grundsachverhalte verhindert der Autor ihr Erstarren zum Klischee. Indem Jakobs immer wieder diesen Menschentyp gestaltet, bringt er die Vorzüge des Sozialismus für den Menschen, den menschlichen Zweck des Sozialismus unrhetorisch und anschaulich zur Geltung. In der Anziehungskraft, die der Aufbau auf jenen Passagier im Schnellzug, auf einen Tom Breitsprecher, eine Elsa Baumann und andere ausübt, bewährt nicht irgendeine, sondern die sozialistische Gesellschaftsordnung ihre eigentümlichen Qualitäten: Sie bietet den Menschen die Möglichkeit zu einem sinnvollen Leben. Das ist das Grunderlebnis von Menschen, die noch als Kinder und Jugendliche die kapitalistische Gesellschaft, Krieg und Faschismus und die Orgien der Zerstörung von Menschen und Dingen miterlebt haben. Das gilt etwa für den genannten Reisenden, für Tom Breitsprecher, 66

und - in Eine Pyramide für mich - für Hanka und vor allem für Trümpi, der seine gesamte Familie im Krieg verloren hat und in jungen Jahren Soldat sein mußte, der sich aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft in den Osten Deutschlands entlassen ließ und nun als gelernter Friseur und angehender Staudammbauer sagt: „Endlich eine Arbeit, bei der ich sehe, daß es einen Sinn hat."10 Es liegt nahe, hierin auch Jakobs' eigenes Grunderlebnis zu sehen. Gedichte11 geben darüber Aufschluß, wie lange und tief er darunter gelitten hat, als Fünfzehnjähriger zum Töten und Zerstören abgerichtet, in seiner menschlichen Substanz deformiert worden zu sein. Die Tatsache, daß er im geschichtlichen Wandel unseres Landes vor allem die Befreiung von der Destruktion, die Befreiung zur menschlichen Produktivität als Grunderlebnis an sich erfuhr und überdachte, lenkte ihn offenkundig auf die Spur, das Werden des „neuen Menschen" in seinem Verhältnis zur Arbeit zu verfolgen. In der 1959 entstandenen Erzählung Der Wald12 beschreibt Jakobs eine Großbaustelle der Jugend, das große Abenteuer junger Leute, ein großes Industriewerk aus Sand und Kiefernwald zu stampfen, die Härte und Anstrengung der Arbeit, die Begeisterung und den heroischen Kampf gegen Waldbrände, die der Gegner legte, die heißen, schwärmerischen Diskussionen der Jugendlichen um die kommunistische Zukunft, die Auseinandersetzungen um Arbeitsmoral, Ehrlichkeit und Freundschaft. Als Erzähler fungiert ein junger Maurer, der, beseelt von der gleichen Begeisterung wie die Masse der Jugendlichen, von dem großen Schwung und Überschwang als von einer selbstverständlichen Gegebenheit berichtet. Der Enthusiasmus, der Stolz auf die mit unerhörten Anstrengungen und Entbehrungen errungenen Erfolge, die Gewißheit, in der direkten Auseinandersetzung mit dem Klassengegner zu stehen und die Überzeugung, den Kommunismus zum Greifen nahe zu haben, bilden das Pathos des Erzählens. Die Spannung ergibt sich vor allem durch die Zuspitzung der Alltags-Arbeitssituation zur „unerhörten Begebenheit" der Waldbrände, die den Jugendlichen das Letzte an Kraft abfordern und denen sogar zwei von ihnen zum Opfer fallen. Das Hinarbeiten auf diesen Schluß ergibt den tragisch-heroischen Grundton der 5*

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Erzählung. Arbeit ist hier unmittelbar, für jeden greifbar, Klassenkampf. Im Roman Beschreibung eines Sommers tauchen diese Waldbrände auch wieder auf, aber als e i n e ungewöhnliche Episode innerhalb eines Prozesses von komplizierter Alltags-Aufbauarbeit und von Konflikten unter den Erbauern eines großen Werks. Wir begegnen der gleichen Grundsituation, einer Jugendbaustelle mit ihrem überschäumenden Arbeitselan, und erleben sie doch in einer eigentümlichen emotionalen Brechung und Mischung. Das Pathos der Begeisterung ist gekoppelt mit etwas Gegenläufigem, mit dem Indifferentismus und Zynismus des erzählenden Ichs, des Ingenieurs Tom Breitsprecher. Aus der Sicht und Gefühlswelt dieser Gestalt, die sich von der Aufbaubegeisterung der anderen in widerspruchsvoller Weise zugleich angezogen und abgestoßen fühlt, erscheinen Verhalten, Denken und Fühlen der jugendlichen Bauleute nicht als unreflektierte Selbstverständlichkeit, sondern als etwas Unbekanntes und Beunruhigendes, das zum Spott und Neid, vor allem aber zur Auseinandersetzung herausfordert. Dieses Grundverhältnis, und nicht nur die Frage, ob die Liebenden sich am Ende „kriegen" werden, gibt dem Buch seine Spannung und seinen Reiz, der bis heute 13 seine Wirkung nicht verfehlt. Die vom Buch ausgehende Atmosphäre lebendiger Widersprüchlichkeit hat ihre tieferen Wurzeln in der Grundlage der Figurenwelt und Konfliktkonstellation, deren Entdeckung dem Autor große Mühe bereitet hatte. Jakobs erzählt in seinem Interview mit Joachim Walther, er sei vom Verlag Neues Leben nach Schwedt geschickt worden, habe dort ein dreiviertel Jahr gearbeitet und sei fast verzweifelt, weil er nicht wußte, w a s er schreiben sollte. „Es war alles zu beschreiben." Der rettende Einfall kam am Ende, durch Zufall. „Ich konnte eine halbe Stunde mit Ingenieuren sprechen, die sich bisher vor mir verschlossen hatten". 14 Das waren offensichtlich junge Ingenieure, die im Unterschied zu den arbeitsbegeisterten FDJlern gegenüber dem Bau und zum Sozialismus überhaupt eine recht distanzierte Haltung einnahmen. 15 * Der kurze Kontakt mit ihnen half, den prägnanten Punkt zu finden, um den sich Idee, Thema und Fabelansatz kristallisieren konnten und der es gestattete, aus der Fülle des 68

Tatsachenmaterials begründet auszuwählen, Konflikte zu finden und eine mit innerer Notwendigkeit ablaufende Fabel aufzubauen. Das Auffinden eines produktiven Widerspruchs im Leben selbst setzte die schöpferische Phantasie und damit das massenhaft gespeicherte Material in Bewegung. Deutlich hat die Bewegung im Roman mit diesem Widerspruch zu tun, und sie wächst nicht aus dem Aufbau starrer, einander ausschließender Gegensätze, wenn auch der skeptisch-unterkühlte E r zählton eine simple Antithetik der Positionen zu betonen scheint. E r überspielt zunächst das grundlegende Moment von Übereinstimmung zwischen Tom und den anderen, das die Handlung überhaupt erst ermöglicht. Dieses Gemeinsame ist die - auf beiden Seiten grundverschieden motivierte - Leidenschaft zur Arbeit. Für Breitsprecher, der als Fünfzehnjähriger durch den Faschismus zum Zyniker wurde, der jegliche gesellschaftlichen Ziele und Werte für Schwindel hält, der politische Bindung und moralische Verantwortung scheut, ist die Arbeit ein Fluchtpunkt; weil sie Abenteuer, Spaß und Selbstbestätigung bietet, wird sie zum Lebensinhalt. Dagegen erwächst die Arbeitsbegeisterung seiner Liebsten Grit und ihrer Freunde direkt aus dem politischen Engagement, aus der sozialistischen Überzeugung; das wiederum gibt ihrem Fühlen, Denken und Handeln die Ganzheit, Unbedingtheit und Ungebrochenheit, um die sie der kühle Skeptiker, seiner Losgelöstheit manchmal überdrüssig, trotz allen Spotts beneidet. Auf diese allgemeinen Voraussetzungen gründet sich die Liebesgeschichte, die das Hauptinteresse der meisten Leser auf sich zieht. D i e Jugendbaustelle ist für diese Sommerliebe nicht beliebig auswechselbares „Milieu", sondern der Boden, auf dem Breitsprecher empfänglich gemacht wird für das große Gefühl, für die Liebe, und mit ihr in ersten Ansätzen für Verantwortlichkeit und Bindung. Nicht zufällig wählt Jakobs als Partnerin Toms eine verheiratete Frau. Gerade das schafft den tiefen Ernst, der einen in seinen Gefühlen so stark verbildeten Mann im Innersten anzurühren vermag, und der zugleich der Liebesgeschichte in den Konfliktsituationen mit der Umwelt ihre dramatische Zuspitzung gibt. Alle Figuren, nicht nur die Liebenden, geraten innerlich in Bewegung, überprüfen angesichts der Liebe und

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des daraus erwachsenden Konflikts gewohnte Grundsätze und Haltungen. Durch diese oft quälenden Auseinandersetzungen verändern sich alle, am meisten Tom. Jakobs ist Realist genug, die in wenigen Monaten vor sich gehende Charakterentwicklung nicht zu übertreiben. Toms Wandlung, sein Abrücken von gefühlloser Indifferenz, vollzieht sich zunächst und hauptsächlich in der Intimsphäre und zeigt sich nach außen darin, daß er die Einmischung anderer in sein Privatleben nachdenklich hinnimmt und dadurch die anderen zu neuen Überlegungen bringt. Das Buch schließt nicht mit einem Happy-end, es bricht mitten im offenen Prozeß, im Kampf um diese Liebe ab, zu einem Zeitpunkt allerdings, als Charakterveränderungen, neugewachsene Kraft und Einsichten bei allen Beteiligten so weit ausgebildet sind, daß eine glückliche Lösung des Konflikts absehbar wird. Mit jedem Schritt zeigt die Handlung Prozesse von konfliktreicher Persönlichkeitsentwicklung, deren Richtung vom Leser über die letzte Romanseite hinaus weitergedacht werden kann. Seinerzeit wurde manchmal auf Hemingway16* verwiesen, wenn von Beschreibung eines Sommers und den aufreizend schnoddrigen Tönen des Erzählers die Rede war. Doch eignet sich dieser Vergleich nicht für die Charakterisierung der Jakobsschen Schreibweise, die keineswegs in dem Understatement aufgeht, das der Name Hemingway assoziiert. Die Elemente von Understatement sind bei Jakobs ausdrücklich figurengebunden, und zwar in einer Weise, daß die begeisterungslose Distanz Breitsprechers von der Handlung in Frage gestellt wird. Der Erzähler berichtet nicht aus dem Rückblick, sondern gleichlaufend mit den Ereignissen. Da die auf den ersten Seiten sich äußernde Gefühlswelt die eines Menschen ist, der noch keine Liebe und keinen Ernst kennengelernt hat, müßte das erzählende Ich - in dem Maße, wie sich Toms Charakter ändert auch seinen Ton ändern; diese Wandlung des Sprechens wäre selbst anschauliches Aussageelement. Das ist angelegt, aber nicht voll bewältigt. Nicht nur von Tom, sondern auch von Grit und ihren Genossen geht emotionale Wirkung aus. Verschiedenartige, einander widersprechende Emotionen sind in diesem Buch nebeneinander und miteinander wirksam, das schafft eine eigenartige Spannung, die dem Buch „Atmosphäre" 70

gibt. Die distanzierte Betrachtungsweise Toms wird nicht benötigt, um die Begeisterung „abzukühlen", sondern um ihr durch den Kontrast Kontur zu geben, um sie in ihrem Wesen als historisch-konkrete Erscheinung genauer zu fassen. Im übrigen mag Jakobs bereits damals gespürt haben, daß große Gefühle im eigenen Herzen sich nicht ohne weiteres aufs Papier und von dort auf den Leser übertragen. Man erinnert sich an Heinrich Heines ironische Auslassungen, als er fragt, ob große Emotionen einem Schriftsteller hinderlich oder förderlich seien, wenn er „den Stoff beherrschen und hübsch objektiv bleiben soll [.. .]". 17 Es geht Jakobs nicht darum, das Subjektive (das Pathos, die Emotion) zu unterdrücken oder herunterzuspielen, sondern es so zu objektivieren, gedanklich und gestalterisch so zu beherrschen, daß es im Werk wirksame Kraft wird, daß es sich überträgt. Jakobs' Romane, aber auch seine Reportagen zeigen die unablässige Bemühung um dieses Problem, das er auch theoretisch reflektiert. 1974 bekannte er, sein Stil sei durch das sich immer genauer artikulierende Bewußtsein von der historischen Bedeutsamkeit des Aufbaus des Sozialismus in der D D R geprägt worden, und er bemerkt: „Daher leite ich auch meinen Anspruch auf Pathos ab. Gleichzeitig fürchte ich mich davor [ . . . ] Auf das Heldenhafte will ich nicht verzichten, denn auch unsere Zeit bietet genügend Widerstände, für deren Überwindung Größe und Leidenschaft aufgebracht werden müssen". 18 Die Begriffe Pathos, Leidenschaft, Größe sollten bei der Betrachtung von Jakobs' Schaffen wohl mitbedacht werden. Das gilt besonders für den Roman Eine Pyramide für mich. Er erschien fast zehn Jahre nach Beschreibung eines Sommers. In einer unter dem Titel Vergangenes besiegt Gegenwärtiges19 erschienenen Rezension des Romans wurde bemängelt, die Handlung der Gegenwartsebene wirke im Unterschied zu der, die in den Jahren 1949/50 spielt, blaß und verschwommen, die literarischen Figuren erschienen nicht recht lebensfähig, und ihr Verhalten, vor allem die Kränklichkeit Paul Saties, sei recht unmotiviert. Der Rezensent vermißte in der Darstellung der Gegenwart etwas, was mit Leidenschaft, Größe und Pathos zusammenhängt. Bietet der Roman Anlässe für solche Interpretation? 71

In den zwei Tagen der Gegenwartshandlung macht Satie, die Zentralgestalt des Buches, unfroh und von Herzanfällen geplagt, in der Tat keine gute Figur. Die Spur seiner früheren Taten, die Folgen seines Tuns und Lassens für andere Menschen sprechen oft nicht für ihn. Geht es also im Roman darum, einen Helden „abzubauen", dessen Namen vor zwanzig Jahren eine naive und autoritätsgläubige Brigade auf eine Pyramide gesetzt hatte, um ihr kollektives Werk, die Macht der Klasse und die „große Sache" zu rühmen? Von Entheroisierung zu reden, hieße, bestimmte Elemente des Romans für das Ganze zu nehmen und dieses Ganze damit gründlich mißzuverstehen. Wohl ist es so, daß die Episoden, die in der Vergangenheit spielen, in kräftigen Farben leuchten, während das Gegenwartsgeschehen in ein seltsam gedämpftes Licht getaucht ist - und dennoch spielt sich, was die konkreten Fakten betrifft, auf dieser Gegenwartsebene kraftvolles, vielfältiges Leben ab. Die unterschiedliche emotionale Wirkung der beiden Handlungsebenen beruht auf verschiedenen Faktoren; einmal darauf, daß in der Vergangenheitsebene vor allem gehandelt wird, und zwar von jungen, gesunden, erwartungsvollen, enthusiastischen Menschen, und in der Gegenwartsebene vor allem daran erinnert, gedacht und davon geredet wird. Das nährt den Eindruck, als wäre alle Jugendkraft und Aktivität in der Zeit der großen strahlenden Anfänge aufgebraucht worden, als fördere die Bilanz nach zwanzig Jahren hauptsächlich kränkelnde, müde, seelisch beschädigte Menschen mit getäuschten Glückserwartungen, mit rückläufigen Kaderentwicklungen oder Karrieren voller dunkler Flecke zutage. Doch dieser Eindruck gibt nicht den Ausschlag für die Beantwortung der Fragen, die sich aus der Konfrontation von Vergangenheit und Gegenwart stellen. Es wird gefragt: W i e haben wir angefangen, wie waren wir damals, was haben wir geleistet, was ist aus uns geworden, wie sind wir heute? Seit Hermann Kants Aula stehen Notwendigkeit und Reiz der historischen Selbstverständigung als künstlerische Aufgabe außer Frage, und das für die Aula gewählte Heine-Motto 20 könnte mit großem Recht auch Jakobs' Roman voranstehen. In Wahrheit gehört das Hauptinteresse des Autors, obgleich die Vergangenheitshandlung so kraftvoll herausgearbeitet ist, 72

der Gegenwart - und der Zukunft, deren Gesicht davon mitbestimmt wird, wie gut wir heute lernen, uns produktiv zu unserer eigenen Vergangenheit zu verhalten. Die in manchen Passagen äußerst sparsam, aber präzise dargestellte Gegenwartshandlung ist nicht nur „Aufhänger" und Anlaß zum Erinnern, sondern Raum, in dem bedeutsame Themen entwickelt und zur Entscheidung gebracht werden. Gleichsam im Hintergrund der Szene spielend und durch „Botenbericht" in das angestrengte Erinnern Saties und seiner Freunde eingeblendet, vollzieht sich in den zwei Tagen der Gegenwartshandlung eine höchst dramatische Begebenheit, die handfeste Tatsachen für die Beantwortung der Frage liefert, was aus uns geworden ist. Es spielt sich ein dramatischer Kampf um das Projekt eines neuen Staudamms ab, der mit der Niederlage des Spezialister» Satie und dem Sieg ehemaliger Brigademitglieder und ihrer Verbündeten endet. Obgleich „hinter den Kulissen" ablaufend, ist dieses Geschehen im Zusammenhang aller Romanelemente sehr bedeutungsvoll. Nicht in Reflexionen und Kommentaren, sondern in der Sphäre der Tatsachen, die durch menschliches Wollen und Handeln bewirkt werden, liegen Jakobs' zusammenfassende, verallgemeinernde Wertungen und Urteile. Indem er sehr genau begründet, warum die eine Seite siegt und die andere unterliegt, legt er die Schlußfolgerung nahe, daß da sehr gereifte und kluge Sozialisten siegen, die ihre reichen und auch bitteren Erfahrungen richtig verarbeitet haben und durch nichts auf ihrem Wege aufgehalten werden können, den sie einst so naiv begonnen haben. Dieses Aussageelement hat wenig mit Entheroisierung oder Desillusionierung zu tun. Allerdings gibt es daneben auch Passagen, in denen - hauptsächlich stimmungsmäßig, atmosphärisch - der Eindruck von Abgekämpftheit und Bedenklichkeit vermittelt wird. Welche der beiden Aussagerichtungen gilt nun? Oder ist aus Jakobs' Roman zu entnehmen, daß kein Entweder-Oder zur Wahrheit führt, sondern nur eine dialektische Sicht, die alle Widersprüche und Härten unseres Weges einschließt, wenn sie die wahre Größe unserer Leistung und unseres Vorwärtsschreitens sichtbar machen will? Die komplexe Gesamtaussage des Romans erwächst wesentlich aus zwei ganz ins Indirekte zurückgenommenen Polemiklinien. Die eine richtet sich gegen eine einseitig verklärende 73

Sicht unserer Vergangenheit und Gegenwart, die nur Triumph, Glanz und unentwegte Aufstiege wahrnimmt. Dagegen protestierend, rückt Jakobs deutlich in den Vordergrund, was sich wenig glänzend ausnimmt. Indem der Leser schrittweise mit Paul Saties früherem Tun bekannt gemacht wird, scheint sich ein Prozeß von Heldendemaskierung zu vollziehen. Alles spitzt sich auf die Vermutung zu, daß man in Saties ehemaliger Liebsten Hanka einem zerstörten, unglücklichen Menschen begegnen und daß schließlich gerade deshalb ein negatives Urteil über Satie zu fällen sein werde. Und hier erfolgt die entscheidende Umkehrung, die mit der zweiten Polemiklinie zusammenhängt. Diese Hanka, die lange schwer gelitten hat und die die alten Freunde gegenwärtig vor Satie schützen zu müssen glauben, tritt Satie und dem Leser als eine erstaunlich starke und sichere Persönlichkeit gegenüber. Ihre bewundernswerte Entwicklung ist freilich nicht Saties Verdienst, aber er begreift schnell, daß sie ihm überlegen ist, leidenschaftlich engagiert in ihrer Arbeit als ökonomischer Direktor und als Mensch, der auf jedem Lebensgebiet mit aller Kraft kämpfen wird, wo zu kämpfen nötig ist. Damit ist Satie freilich nicht gerechtfertigt, aber auch einem generellen Verdammungsurteil entzogen, das der Autor listig indirekt in Aussicht gestellt hatte. Satie wird bei aller notwendigen schonungslosen Kritik an konkreten Mängeln und Fehlleistungen als Gesamtpersönlichkeit und Sozialist nicht in Frage gestellt. Dies ist als dialektisches Prinzip von Menschenauffassung und -gestaltung aus diesem Buch zu lernen und lernbar unter der Voraussetzung, daß der Leser dieser Figur mit einer Haltung begegnet, die Identifizierung und Distanzierung gleichermaßen umschließt und nicht auf einem vorgefaßten Ja oder Nein beharrt. An der Entwicklung einzelner Figuren wie am gesamten Handlungszusammenhang ist ablesbar, daß, wer von Fortschritt und Siegen ohne Fehler, Schmerzen und Rückschlägen träumt, den Prozeß des sozialistischen Aufbaus genauso mißversteht wie der, der nur die Fehler und Irrtümer, Verluste und Narben und in ihnen eine Widerlegung des Sozialismus sehen will. Ein prägnantes Beispiel der letztgenannten Art historischer Fehleinschätzung wird mit dem Verhalten des Bauern Balanschin vorgeführt. Balanschin, der wegen des Stau74

dammbaues vor zwanzig Jahren unter Saties Leitung mit wilden Methoden von seinem Anwesen verjagt wurde (seine Umsiedlung hätte wenig später in jedem Fall erfolgen müssen) und seitdem als lebendiges Denkmal vermeintlichen historischen Unrechts paradiert, wird vom Autor in der neuerlichen Konfrontation mit Satie gründlich ins Unrecht gesetzt. Er gibt vor, allein aus Schadenfreude nicht in den Westen abgehauen zu sein, denn: „Damals habt ihr mich fertiggemacht, jetzt macht ihr euch fertig, rabotet und rabotet." 21 Alle Anstrengung habe sich nicht gelohnt, was das Beispiel Hankas zeige, die deutlich „fertig" sei. Als letzten Beweis für seine These vom Scheitern des Sozialismus führt Balanschin an, Hanka und die Ihren würden auf Grund von Saties ablehnendem Gutachten in der Staudammangelegenheit einen Mißerfolg erleiden. An dieser Stelle gibt Jakobs Satie Gelegenheit, Lernfähigkeit und historische Klarsicht zu beweisen. Er sagt voraus, daß entgegen allem Anschein der Staudamm gebaut werden wird, auch wenn Balanschin dieses „Wunder" wegen seines Unverständnisses für den dialektischen und historischen Materialismus nicht begreifen könne. Den formelhaften Wendungen vom „Fertig-sein" und „Sichfertig-machen", die, vom unbelehrbaren Balanschin ins Feld geführt, Zerstörung assoziieren, ist eine andere Formel entgegengestellt, die vom „Nicht-fertig-werden". Sie wird dem scheinbar resignierenden und wenig heroischen Trümpi in den Mund gelegt, den Satie bemitleiden und gönnerhaft behandeln zu können glaubt. Trümpi aber sagt mit Blick auf die Zukunft: „Wir werden und werden nicht fertig mit unserem Wolfsgrün" 22 , und er zählt auf, was sie in den nächsten Jahren nach dem zweiten Staudamm benötigen und bauen werden, um das Leben für die Menschen angenehmer und schöner zu machen. Gerade dieses Nicht-fertig-werden-können mit der Entwicklung neuer Bedürfnisse, Fähigkeiten, Kräfte, Wünsche, Potenzen bewirkt, daß sie - manchmal fast am Ende ihrer Kräfte - doch nicht „fertig" sind. Beobachtungen der beschriebenen Art geben Anlaß, ein Wort über Jakobs' besondere, mit und seit Eine Pyramide für mich ausgebildete Kompositionstechnik zu sagen. Er bezeichnet sie selbst als „Montage" und „Assoziativtechnik"23. Ihr 75

auffälligstes Charakteristikum ist der nicht-chronologische Handlungsaufbau. Er mag sich bei der Arbeit an diesem Roman aus der Absicht ergeben haben, zwei zeitlich auseinanderliegende Handlungsebenen möglichst eng miteinander zu verflechten, damit sie sich gegenseitig beleuchten und deuten. Dieses Aufbauprinzip wurde dann später ohne eine solche Nötigung im Roman Die Interviewer weiterentwickelt. In beiden Romanen erweist sich, daß mit der chronologischen Ordnung nicht jede Ordnung aufgegeben, sondern im Gegenteil ein Ordnungsprinzip versucht wurde, das im Herstellen von Sinnzusammenhängen tiefer lotet als die einfache Übereinstimmung von Handlungs- und Zeitablauf, das ein reiches Beziehungsgefüge zwischen den Elementen des Romans herstellt und auch dadurch differenzierte Aussagemöglichkeiten schafft. Jakobs erklärt dazu: „Zwei verschiedene Dinge mit verschiedenen Sinnaussagen nebeneinandergestellt, ergeben einen neuen Sinn, der vorher nicht vorhanden war." 24 Das unvermittelte Nebeneinandersetzen von Handlungsdetails mit Aussageelementen, deren gemeinsamer Bezug nicht sofort auf der Hand liegt, sondern vom Leser aufgesucht, durch Kombination ermittelt werden muß, lenkt auf Sinnzusammenhänge, auf verallgemeinernde „Untertexte"25*, die vom Autor nicht expressis verbis ausgesprochen, aber im kausalen Zusammenhang konkreter Fakten angelegt sind. So bekommt z. B. die Episode, die das Zusammenfinden der Brigade am ersten Tag des Staudammbaus schildert, durch ihre Stellung im Schlußteil des Romans Aussagewerte, die bei einer Stellung am Romananfang nicht gegeben wären. Sie sagt zunächst aus, wie dieser Anfang beschaffen war. Darüber hinaus bekräftigt sie, insbesondere durch Trümpis Jubel über das Glück, bei dieser „großen Sache" des Aufbaus dabeisein zu dürfen, daß dieser Anfang nach wie vor gilt, daß wir in seinem Sinne leben oder leben sollten und daß es nicht verkehrt wäre, auch unser heutiges Leben als Teil eines großen Anfangs zu begreifen. Bereits in Beschreibung eines Sommers hatte Jakobs das sonst eingehaltene chronologische Prinzip bei der Gestaltung des Romanschlusses durchbrochen, indem er scheinbar willkürlich eine Episode aus der Blütezeit dieser Sommerliebe als Schluß- und Lichtpunkt setzte. 76

Mit seiner Montagetechnik 26 * erreicht Jakobs einen hohen Grad von Verdichtung, Verkürzung, Verknappung und Intensivierung. Freilich muß das, was da montiert und ineinandergeschnitten wird, so angelegt und formuliert sein, daß es Beziehungen herzustellen erlaubt, Assoziationen auslöst. Die Details (Beschreibung von Gegenständen, Verhalten, Vorgängen usw.) sind in der Tat sehr sorgsam ausgewählt, in sich äußerst ökonomisch verknappt und zugleich so anschaulich und plastisch, daß sie in den montierten Funktionszusammenhängen ein Höchstmaß an Aussagekraft erzeugen. Das macht erklärlich, wie Jakobs auf nur 250 Seiten eine erstaunliche Fülle von Lebenstatsachen und Figurenschicksalen erzählerisch bewältigt. Deshalb kann er aus unzähligen, zum Teil winzigen Details von Figurenverhalten ableiten, welche Eigenschaften vor allem Saties praktische Unterlegenheit und die Überlegenheit der alten Freunde bedingen. Charakteristisch für Jakobs' Kompositionsweise ist, daß solche für die Aussage zentralen thematischen Linien bereits im ersten Kapitel eingeführt, „angespielt" werden, zum Teil ohne an die Hauptfigur gebunden zu sein. So beginnt der Roman mit dem Problem des richtigen oder falschen Verhältnisses zur Vergangenheit. In den merkwürdig spannungsgeladenen Debatten zwischen Palester und Luzerke werden zwei Varianten falschen, unproduktiven Verhaltens zu Krieg und Faschismus vorgeführt. Beide Figuren treten erst gegen Ende des Romans wieder auf, wo sie auf ihre Niederlage im Staudammstreit unbelehrt und dumm reagieren. Diesen beiden und Satie fehlt, was die Reife und Stärke der alten Freunde um Trümpi ausmacht: die enge Verbundenheit mit der Vergangenheit und die daraus resultierende Fähigkeit, aus Fehlern zu lernen. Im ersten Kapitel ist an unauffälliger Stelle vom Zusammengehörigkeitsgefühl die Rede. Der redselige Zugschaffner und Heimatforscher, eine Nebenfigur, die später nicht mehr auftaucht, gebraucht das Wort, um zu erklären, warum er jedesmal froh ist, wieder in der D D R zu sein: „Drüben denkt jeder nur an sich. Kein Zusammengehörigkeitsgefühl." 27 Hier wird deutlich, daß es um etwas Großes geht, um etwas, das die ganze Gesellschaftsordnung auszeichnet, und genau das ist es, wofür

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Satie der Sinn fehlt. Diese Schwäche hängt nach Jakobs' Motivierung mit der Unfähigkeit zusammen, Menschen als gleichberechtigte Partner und Individualitäten zu behandeln. Das betrifft auch Freundschaft und Liebe; sie sind ihm nur dann möglich, wenn sie ihm in kritikloser Ergebenheit entgegengebracht werden. Deshalb ist ihm Trümpi als Freund zu unbequem, deshalb läßt er die sehr selbständige Hanka im Stich und heiratet Margot. Solche Eigenschaften machen ihn, der als Leiter echt mitreißen kann, in hohem Grad zu wirklicher Gemeinschaftlichkeit, Kollektivität und Solidarität unfähig. Das Maß positiver Veränderung in zwanzig Jahren zeigt sich darin, daß die Freunde damals aus Unerfahrenheit seiner Autorität allzusehr vertrauten, seine bewußt inszenierten Kraftund Machtproben 28 * nicht durchschauten, aber heute die inzwischen geschulte und erprobte „Zusammengehörigkeit" als ein wirksames sozialistisches Lebensprinzip gegen ihn ausspielen können. Jakobs legt nahe, die Ursachen für Saties Herzanfälle durchaus nicht nur in der medizinisch-biologischen Sphäre zu suchen, obwohl (und gerade weil) die Erörterungen über Herzmedikamente 29 * auffallend ausführlich ausgesponnen werden. Ihm fehlt vor allem - neben dem ausgewogenen Verhältnis zur Vergangenheit und dem Zusammengehörigkeitsgefühl - ein lebendiges inneres Engagement, ein menschliches Interesse in seinem beruflichen Tun. Deshalb wird im ersten Kapitel sein indifferentes, technokratisches, rein rechnerisches Verhältnis zu Landschaft und Staudammbau der naiven Begeisterung für Land und Leute gegenübergestellt, die der erwähnte Schaffner bekundet. Sie korrespondiert mit der Leidenschaft, mit der sinnerfüllten Beziehung zur Arbeit, aus der heraus Trümpi, Hanka und die anderen Saties dürre Zahlen und Daten bekämpfen, unter denen das lebendige menschliche Bedürfnis erstickt. Weil sie den Staudamm nicht „an sich", sondern „für sich" wollen, besiegen Trümpi und Hanka Saties Gutachten, das, rein rechnerisch gesehen, unangreifbar erscheint, auf dessen Freiheit von „Zorn und Mitleid" 30 er sich viel zugute hält. Weil sie den menschlichen Zweck allen sozialistischen Aufbaus im Auge haben, deshalb ist ihr Leben in der Kleinstadt nicht beschränkt und langweilig, nicht die „nichtssagende kleine Welt" 31 , auf 78

die Satie, der Mann mit der großen Karriere, der Mann aus der Hauptstadt, der die „weite, bunte und abenteuerliche Welt" 3 2 der Zahlen und Linien rühmt, herabsehen zu können glaubt. Damit wird unterstrichen, daß es für Leute, denen es um die „große Sache" geht, keine Scheidung in kleine und große Welt, in kleine und große Leute geben kann. Gefragt wird dagegen nach Positionen und Haltungen, die dem reifen Sozialismus gemäß bzw. nicht gemäß sind. In den Differenzen und Konflikten, von denen Jakobs erzählt, geraten Positionen und Parteiungen miteinander in Widerstreit, deren Ursprung ausdrücklich nicht in Überbleibseln von Krieg und Faschismus33* zu suchen ist, die vielmehr als Widersprüche nichtantagonistischer Art auf unserem eigenen Boden entstehen und gelöst werden müssen. Wie sich zeigt, zielt Jakobs in Eine Pyramide für mich darauf ab, eine oberflächliche und schematische Art, Menschen und ihre Beziehungen zu betrachten, nachdenklich, spöttisch oder ironisch zurückzuweisen. Diese Tendenz setzt sich im Roman Die Interviewer (1973) fort, wird ausgeweitet und zugespitzt und erscheint nun sogar als eigenständiges Thema, als ein Beitrag zu der breiten Debatte um die Kunst, die in der Literatur der D D R zu Anfang der siebziger Jahre geführt Wurde. Fragen der Kunst und des ihr zugrunde liegenden Wirklichkeitsverhältnisses sind in diesem Buch offenkundig mit der Figur des Filmdokumentaristen Kritzki verbunden. Er sucht für einen Dokumentarfilm in einem Glühlampenwerk nach guten Arbeitern und Sozialisten, findet auch viele hervorragend tüchtige Menschen, streicht sie aber alle wieder aus seinem Programm, weil keiner seinem Ideal des makellosen Mustermenschen entspricht. Mit derb-satirischen Mitteln wird hier eine Kunstauffassung und -praxis lächerlich gemacht, die die sozialistische Entwicklung gröblich vereinfacht und vereinseitigt, die den Widerspruch verteufelt oder aus ihr wegdenkt, die Idyllen und Harmonien konstruiert und Zustände „relativer Ruhe" 34 oder eines toten „Fertig-geworden-seins" an die Stelle von Bewegung und Prozeß setzt. Um diesen Kritzki weht aber auch ein Hauch von Tragikomik, weil seine Auffassungen nicht blankem Opportunismus oder Karrierismus entspringen, son-

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dern der subjektiv ehrlichen Vorstellung, der Künstler könne bei seinem Bestreben, an der Veränderung der Welt teilzuhaben, von den Bedingungen des materiellen Lebensprozesses absehen und die Menschen allein durch moralische Einwirkung erziehen, z. B. durch die Propagierung absolut positiver Beispiele oder dessen, was er dafür hält. Der Titel Die Interviewer ist sehr beziehungsreich; einmal kommen im Roman mehrere wichtige Personen vor, die von Berufs wegen interviewend auftreten (Kritzki, die Operationsforscher Radek und Schlaf, der Staatsanwalt, der Erzieher Dr. Wohro), zum anderen ist gemeint, daß in gegebenen Lebenssituationen und -zusammenhängen Interviewer und Interviewte ihre Rollen mit Notwendigkeit ständig tauschen, daß jeder jeden befragt: Man sucht beim anderen Rat und Hilfe, fordert Rechenschaft, verlangt Verantwortlichkeit. Das zentrale Motiv des Interviewens zielt auf das schwierige Geschäft der Wahrheitsfindung. Daß Kritzki mit seiner Manier, dem Leben vorgefertigte Idealvorstellungen aufzwingen zu wollen, scheitern muß, liegt auf der Hand. Schwieriger ist es, Problem und Krise der Hauptfigur, des Operationsforschers und Diplompsychologen Hermann Radek, zu verstehen. Ist er als positives Gegenstück zu Kritzki aufzufassen? Immerhin beruht seine Methode der Wirklichkeitserkundung auf genauer Beobachtung und Berechnung und auf der Befragung tatsächlicher, nicht erdachter Verhältnisse und Menschen. Doch auch Radeks Verfahren fordert insofern ironische Kritik heraus, als es das Kritzkische schematisch umkehrt und darin gefährlich einseitig verfährt: Radek will nur die Zustände korrigieren, „die Menschen folgen dann selbst"35. Bei den an Kritzki und Radek untersuchten allgemeinen Fragen nach unserem Wirklichkeitsverhältnis und unserer Wahrheitssuche geht es zugleich um spezielle Probleme des Schriftstellers und des Reporters. Wenn Jakobs sagt, daß er in diesem Buch seine „eigene Arbeitsmethode als Reporter ironisiere" 36 , dann bleibt hinzuzufügen, daß diese Ironisierung mit tiefem Ernst verbunden ist. Denn er bringt - in vielleicht sehr vermittelter Form - komplizierte Probleme des Schriftstellers und vor allem auch des Reporters zur Sprache, mit denen er sich immer wieder auseinandersetzt. Es ist deshalb angebracht, 80

nach der Rolle zu fragen, die die Reportertätigkeit für Jakobs' Entwicklung, für sein literarisches Schaffen spielt. Seine Neigung und Fähigkeit, die gesellschaftliche Entwicklung vor allem als materiellen Lebensprozeß zu begreifen und sie von ihrem Ausgangs- und Kernpunkt, der materiellen Produktion her zu erfassen, hängt zu einem guten Teil damit zusammen, daß er gelernter Maurer ist, in diesem Beruf jahrelang arbeitete und ihn ab und zu auch noch ausübte, als er bereits Berufsschriftsteller war. Das Herstellen materieller Dinge und insbesondere das Bauen ist ihm ein vertrauter Vorgang, in dieser Sphäre fühlt er sich heimisch, mit ihr hält er durch ständige Reportertätigkeit Kontakt. Dadurch verschafft er sich eine immense Fülle von Lebensbeobachtungen und -kenntnissen, einen großen Materialfundus, aus dem zunächst die im Auftrag geschriebenen Reportagen und Reportagebücher, dann aber auch Ideen, Figuren, Probleme für Romane und andere poetische Arbeiten herauswachsen. Die Reportertätigkeit erweist sich für Jakobs' Gesamtarbeit als ungemein produktiv, weil ihm die Scheidung in „eigentliche" und „uneigentliche" schriftstellerische Arbeit fremd ist. 37 Sein zweiter Beruf hilft ihm wesentlich, mit der stürmischen, widerspruchsreichen gesellschaftlichen Entwicklung Schritt zu halten; er wird nicht, wie Jakobs es ausdrückt, zu einer „Schriftstellerleiche" 38 , die die Welt nicht mehr versteht. Gerade weil Jakobs mit der Reportertätigkeit so eng verwachsen ist, sieht er auch ihre möglichen Einseitigkeiten und Gefahren; als verallgemeinerte Erfahrungen, transponiert in literarische Gestalten mit zum Teil anders gearteten Berufen, bringt er sie im Roman zur Sprache. D a wird gegen die Einbildung angegangen, ein Interviewer (unter diesem Begriff sind Operationsforscher, Dokumentarist und Künstler in eins zusammengezogen) könne andere ausfragen, analysieren, beurteilen, ohne innerlich betroffen zu sein, ohne sich zu engagieren, er könne den unparteiischen Beobachter spielen und dabei der Wahrheit auf die Spur kommen. In Frage wird gestellt, ob man sich als Reporter nur mit Sachlichem, mit Fakten, Daten und Zahlen begnügen und sowohl die eigene Subjektivität als auch die derjenigen Menschen wegschneiden kann, die mit diesen sachlichen Verhältnissen verbunden sind. Die exaktesten Daten und Zah6

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len erlauben noch keine sicheren Rückschlüsse auf die wichtigste Frage, die nach dem Menschen. Vielen seiner Reportagen 3 9 , besonders wenn sie mit komplizierten ökonomischen Tatsachen zu tun haben, ist anzumerken, daß J a k o b s die eigene Subjektivität nicht zurücknimmt, sondern seine persönlichen Schwierigkeiten beim Interviewen und Erkunden durchscheinen läßt, daß er statistisches Material immei; ergänzt durch die subjektiven Auskünfte und Haltungen von Menschen, und zwar von vielen verschiedenen. Auch dort, wo es um Sachliches, etwa um die Entwicklung des Bauwesens in der D D R geht, interessiert ihn das Technische und Ökonomische nur im Hinblick auf die menschlichen Zwecke und Voraussetzungen, auf die Menschen als Nutznießer und Schöpfer neuer Technologien und Verfahren. Damit gerät der Reporter notwendig in den Bereich subjektiver Leidenschaften, Interessen, Deutungen, auseinandergehender, zum Teil gegensätzlicher Standpunkte - was die Wahrheitsfindung nicht erleichtert. D i e Wahrheit aufdecken über gesellschaftliche Erscheinungen, Prozesse und Zusammenhänge heißt bei Jakobs nicht, lediglich das Gemeinsame und Übereinstimmende aus der Fülle divergierender subjektiver Positionen auszusondern, sondern die Wahrheit im Ensemble und als Ensemble von Handlungen, Wirkungen, Fakten, Zahlen, subjektiven Absichten, Interessen, Emotionen und Deutungen aufzudecken. Unter einem etwas anderen Aspekt gesehen, bedeutet das: D i e Wahrheit ist nur zu gewinnen, wenn die Entwicklung des einzelnen und der Gesellschaft in ihrer lebendigen, aufregenden, unbequemen, zum Lachen und Weinen herausfordernden Widersprüchlichkeit gesehen und vermittelt wird. D i e Erörterung der Methode des Reporters Jakobs führt uns direkt an Inhalte und Gestaltungsmethoden des Romans Die Interviewer heran. Bei seiner Reportertätigkeit stößt Jakobs unablässig auf solche Fragen und Probleme, die für eine Zeitungs- oder Zeitschriftenreportage zu kompliziert und umfassend sind, die der Darstellung des Gesamtzusammenhangs und ebenso der feinsten Nuancierung bedürfen, um in ihrer Vielschichtigkeit und widersprüchlichen inneren Bewegung erfaßt zu werden. Kritzki glaubt, Menschen in ihrer „klaren, schlichten Schönheit" 4 0 erfassen zu können, wenn er alle störenden Ein82

zelheiten wegdenkt; deshalb lehnt er es ab, einen Film über einen Meister zu machen, der schlecht arbeitet, „über einen Betriebsleiter, der stirbt, über einen Operationsforscher, der zurücktritt" 41 , über eine ökonomische Direktorin, der der halbwüchsige Sohn wegläuft usw. usf. - Und eben dieser Figuren und Vorkommnisse nimmt sich Jakobs an, und zwar indem er, polemisch zugespitzt, gerade diejenigen Fakten in den Vordergrund rückt, die mit Schwierigkeiten, Krisen, Konflikten zu tun haben - nicht wegen der banalen Spießerweisheit, daß halt jeder seine „Fehler und Schwächen" habe und ihretwegen „menschlich" erscheine, sondern um einige ernste und weitreichende Fragen zu provozieren, die etwa lauten: Was besagen diese Fakten für den ganzen Menschen und für unser Leben im gegenwärtigen Stadium der sozialistischen Entwicklung; reichen solche Fakten aus, alle übrigen Qualitäten und Leistungen ein^s Menschen darüber zu ignorieren, sind sie überhaupt unnormal und schreckenerregend, kann man ihnen mit moralisierenden Erklärungen und Urteilen beikommen; welche objektiven Ursachen liegen subjektivem Versagen zugrunde? Wie z. B. ist Radeks tiefe Krise - deren Ausbruch, Verlauf und Auflösung die am meisten ins Auge fallende Handlungslinie des Romans bildet - zu erklären und zu bewerten? Sie entsteht daraus, daß ihm die zahlreichen, verschiedenartigen Anforderungen privater und öffentlicher Natur über den Kopf wachsen. Als bewährter Fachmann genießt er hohes Ansehen; als Psychologe gilt er vielen als einer, der sich besonders gut auf Menschen versteht und sie „umzumodeln" 42 vermag. Der Betrieb erwartet von ihm eine allseitige, optimale Lösung der Probleme in der Abteilung Endfertigung; seine Frau braucht ihn dringend als Verständnis- und liebevollen Partner, das

Mädchen Lore erhofft, daß er ihr das Frau-Werden erleichtert, der Sohn möchte seinen Vater endlich einmal ohne Überlegenheitspose erleben; der Freund Moses Schlaf bittet ihn, sich seiner schwierigen Tochter Maria anzunehmen. Das bloße Aneinanderreihen dieser Anforderungen macht bereits deutlich, daß sie sich nicht harmonisch miteinander vereinbaren lassen und warum sich Radek im Gewirr der Widersprüche nicht mehr zurechtfindet und durch ein zufälliges Zusammentreffen unglücklicher Umstände die Nerven verliert. Alles, was er gut 6*

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und richtig zu machen vermeint, scheint sich gegen ihn zu wenden. Dies ist jedenfalls an einem bestimmten Zeitpunkt sein zum Teil richtiges Gefühl; die Menschen um ihn herum haben zwar dieses und jenes an ihm auszusetzen, ohne daß ihn einer grundsätzlich in Frage stellte. Auch dies ist ein Widerspruch, den Jakobs als Verwunderung erregenden Kontrast spürbar werden läßt. Als Radek nach dem Verschwinden seines Sohnes mit Panik reagiert, gehen andere Menschen, vor allem seine Frau, höchst gelassen mit ihm um. Alle anderen zusammen sehen ihn richtiger, als er sich in zugespitzter Krisensituation selbst sieht. Eine hintergründige, zugleich eindeutige und differenzierte Wertung des ganzen Menschen gibt Jakobs durch die befremdlich leichte Art, in der Radeks Krise gelöst wird. Die Wolken, die sich über seinem Haupt - vielleicht nur in seiner Einbildung? - bedrohlich zusammengezogen haben, lösen sich völlig auf. Da ist nichts, was in den Aufgabenbereich des Staatsanwaltes gehörte. Der Verlauf des Gesprächs zwischen ihm und Radek ergibt, daß sich hier nicht ein Ankläger und ein Beschuldigter gegenüberstehen, sondern zwei Leute, die gleichberechtigt und gleichgesinnt um die gleichen wichtigen gesellschaftlichen Probleme besorgt sind. Dies steht dahinter - und ist doch auf den ersten Blick kaum zu verstehen - , wenn der Staatsanwalt dem erstaunten Radek anbietet, ihm in seinen Arbeitssorgen mit einer Anklage zu helfen. Dies geschieht im letzten Satz des vorletzten Kapitels. Im nächsten Satz, unmittelbar am Beginn des letzten Kapitels, erfährt man, daß Radek selbst manchmal nach dem Staatsanwalt gerufen 43 hatte, wenn es um Probleme ging, die nicht durch die Justiz, sondern nur durch ökonomische, soziale oder andere Maßnahmen zu beheben gewesen wären. Indem Jakobs Hermann Radek aus seinen Nöten und Ängsten befreit, spricht er ihn keineswegs von allen Fehlern frei. Im Gegenteil. Er wird zuguterletzt besonders kräftig ironisiert als einer, der noch längst nicht genug gelernt hat, der die inzwischen ins Bewußtsein getretenen Lebensprobleme mit unbrauchbaren Methoden beheben will: Er will seine Frau „auf der Flucht nach vorn" zu einem neuen Baby überreden und den Sohn mit drakonischen autoritären Erziehungsmaßnahmen 84

bessern. Er versucht, was in diesen wie in anderen Fällen zum Scheitern verurteilt ist: Er will die Probleme hinwegkommandieren, ohne „ihre Ursachen" 44 zu beseitigen. Ist er demnach unbelehrt und unbelehrbar? Jakobs gibt uns Anlaß, in Radeks Lernfähigkeit Vertrauen zu setzen, indem er zeigt, wie dieser seine jüngst praktizierten autoritären Erziehungsmethoden im Kopf durchspielt und zunächst einmal theoretisch in ihrer Unangemessenheit und Aussichtslosigkeit begreift. Bis zur letzten Romanseite ist Radek voller Widersprüche; und das heißt, er hat noch viel vor sich an Kämpfen, Leiden, Einsichten, Freuden und Irrtümern. Seine Lebendigkeit verdankt er zu einem guten Teil der bewußten Abneigung seines Schöpfers gegen Kritzkische Kunstvorstellungen. Doch hat diese Zurückweisung mehr als eine bloße schematische Antithese zum Ergebnis. Jakobs geht es nicht schlechthin um die Gestaltung von Widersprüchen, sondern darum, ihre Objektivität aufzudecken und vor allem darum, die Produktivität einer solchen Sicht für die Menschen- und Gesellschaftsdarstellung zu zeigen. Sie ermöglicht, ein moralisierendes Verhältnis zu den Menschen auszuschalten, ohne damit auf die Wertung ihres Charakters und Verhaltens zu verzichten. Indem der Autor die objektiven Voraussetzungen und Folgen des Handelns gestaltet, zeigt er, daß das Tun und Lassen der Figuren nicht an sich gut oder böse ist, sondern aus den konkreten, sich stark verändernden materiellen Lebensbedingungen erklärt und beurteilt werden muß. Diese Bewertungsart ist um so sicherer und ergiebiger, als das Romangeschehen in der Produktionssphäre angesiedelt ist. Das heißt nicht, daß der Autor den Wert der Menschen allein nach ihrer Arbeitsleistung mißt, sondern daß er die Probleme der Persönlichkeitsentwicklung und der Gestaltung der zwischenmenschlichen Beziehungen an ihrer eigentlichen Wurzel faßt. Lebensweise und Stimmung der Jakobsschen Figuren sind von hoher Anspannung und Belastung gekennzeichnet. Jakobs gibt dem eine überzeugende Begründung. In der Produktionssphäre verläuft die Bewegung besonders dynamisch, weil die sozialen und wissenschaftlichtechnischen Veränderungen komplizierte Widersprüche auslösen und die Menschen vor vielfältige und hohe Anforderungen stellen. Der Roman erregt oft den Anschein, als unterlägen 85

seine Hauptgestalten einem starken Zwang, den sie sich kaum bewußt machen. Er kommt zum Ausdruck in Radeks wiederholten Überlegungen, ob, warum und wie die Leute um ihn herum die Umstände und sich selbst verändern wollen, ohne die konkreten Voraussetzungen und Auswirkungen genügend zu berücksichtigen. Dieser objektiven Notwendigkeiten entspringende Veränderungsdrang schafft die Unruhe im Leben und Charakter vieler Figuren. Im Romangeschehen erweist sich, daß die Handelnden in der unendlichen Verflechtung sachlicher und personeller Beziehungen niemals alle Begleiterscheinungen und Konsequenzen auch nur einer Tat voraussehen. Die Anlage der - sehr komplex zusammengesetzten - Romanfabel trägt diesem Umstand Rechnung. An ihrem Anfang, freilich nicht auf der ersten Buchseite, steht die wirtschaftliche Notwendigkeit, im Larganter Glühlampenwerk bessere Arbeitsorganisation und Leitungsmethoden einzuführen. Diesem Erfordernis entsprechend handeln einige Leute bewußt und aus eigenem Antrieb, allen voran Liane Radek. Sie fördert den Veränderungsprozeß mit allen Mitteln, hinter dem Rücken des veränderungsunwilligen alten Betriebsdirektors und ohne die Kraft, sich dessen panikartigen Reaktionen offen zu stellen. Sie holt Mann und Freund ins Werk, ohne zu ahnen, welche Konflikte sie dadurch für ihren Mann und ihrer beider Ehe auslöst. Jakobs macht auf solche Weise deutlich, daß die so leichthin ausgesprochene „Veränderung der Verhältnisse" für die Veränderer ein sehr mühevoller Prozeß ist, der ihre subjektiven Interessen und Emotionen tief berührt und von ihnen selbst Veränderungen verlangt. Dies wird an der Ehekrise besonders augenfällig. An Eheproblemen und -krisen ist die DDR-Literatur der letzten Jahre nicht arm; dennoch ist in Jakobs* Roman wirklich Neues, bisher nicht so Gesehenes und Gesagtes zu entdecken. Auch das hängt mit seiner künstlerischen Neigung zusammen, die wesentlichen menschlichen Beziehungen, hier die Ehe, über die Arbeit zu vermitteln. Mit Handlungsbeginn werden beide Partner in einen gemeinsamen Arbeitsbereich versetzt und damit ihre eheliche Beziehungen einer besonders hohen Belastung unterworfen. In unendlichen Varianten hat Literatur bisher nachgewiesen, wie sich die nicht gleichbe86

rechtigte Stellung von Ehepartnern im Lebens- und Arbeitsprozeß auf die Ehe auswirkt. Jakobs spielt in einer besonderen individuellen Charakterkonstellation durch, welche Probleme in einer Ehe entstehen können, in der die Frau dem Manne an Engagement und Arbeitsleistung ebenbürtig, wenn nicht gar überlegen ist. Mit diesem Umstand, der einen gewaltigen Schritt des allgemeinen gesellschaftlichen Fortschritts dokumentiert, entstehen jedoch eine Fülle neuartiger und komplizierter Probleme, für die eine Lösung noch kaum abzusehen ist und bei der eine moralisierende Gut-Böse-Wertung restlos versagen muß. Liane Radek ist in ihrem Betrieb als ideenreiche, aufopferungsvoll arbeitende ökonomische Direktorin eine hervorragende Kraft. Aber der Sohn, dem die Motive ihres Engagements weitgehend unverständlich sind, wünscht sich, von seinen Interessen ausgehend, eine Mutter, die sich mehr um ihn kümmert. Ist sie „schlecht", weil sie beide Bereiche nicht mit gleicher Intensität ausfüllt? Solches Urteil entspräche Kritzkischer Denkweise, der als Norm setzt, die moderne sozialistische Frau genüge allen Verpflichtungen ohne „Lücke" 45 - die besondere Ironie dabei ist, daß Liane, ihre eigenen Nöte überspielend, in Kritzkis Begeisterungstiraden über die vollkommene Frau miteinstimmt. Für Radek - und in seinen Reaktionen erleben wir Liane hauptsächlich - ist sie keineswegs eine vollkommene Frau, sondern ein Mensch, der eine permanente Überlastung, psychische Überforderung und Nervosität am Ehepartner abreagiert. Beide sind füreinander anstrengend, beide fordern einander, es gibt sogar Anflüge von Rivalitätsgefühlen, besonders dem Sohn gegenüber. Unter solchen von objektiven Bedingungen geschaffenen Voraussetzungen muß Liebe neu gelernt werden. Es scheint überhaupt, als ob Jakobs' Figuren in Gefühlsdingen Schwierigkeiten haben, nicht weil sie besonders zurückgeblieben sind, sondern weil die Gefühlskultur, die den veränderten Lebensbedingungen entspräche, nicht mit diesen zugleich entsteht, sondern mühevoll erarbeitet werden muß. Diese Ungleichmäßigkeit in der Entwicklung der Persönlichkeiten und ihrer Beziehungen quält die Menschen und treibt sie voran, bedingt zu einem guten Teil die Atmosphäre von Hektik und nervöser Spannung in vielen Romanpassagen. Diese Disproportionen und 87

Disharmonien treten zutage, weil Jakobs damit ernst macht, die Arbeits- und die sogenannten Privatsphäre als Einheit 46 * zu gestalten. In Jakobs' Roman Die Interviewer treten viele außerordentlich tüchtige Menschen auf, Menschen, die unsere gesellschaftliche Entwicklung und sich selbst mächtig voranbringen. Warum spielen dann komische Wertungen - von der hintergründig-nachdenklichen Ironie bis zur kräftigen Satire - im Roman eine so große Rolle? - Daß eine Gestalt wie Kritzki durchweg ironisch, bisweilen derb satirisch behandelt wird, leuchtet ein. Aber auch in der Gestaltung anderer Figuren ist Komisches im Spiel. Es tritt in den verschiedensten Schattierungen hauptsächlich dann auf, wenn Figuren die Widersprüche nicht wahrhaben wollen, vor der Realität davonlaufen und sich insofern ähnlich verhalten wie Kritzki. Das reiche Instrumentarium komischer Mittel dient dazu, kenntlich zu machen, inwiefern die Gestalten, oft in Details psychischer Reaktionen oder Sprecheigentümlichkeiten, unausweichbaren Lebensproblemen zu ihrem eigenen Schaden auszuweichen versuchen. In zahlreichen Dialogen, zwischen Kritzki und Radek oder zwischen Radek und Liane, wirken Menschen dadurch komisch, daß sie krampfhaft über die zwischen ihnen schwelenden Spannungen und offenen Fragen hinwegzureden versuchen. So erklärt sich rückwirkend die Stimmung grenzenloser Peinlichkeit im ersten Romankapitel. Aus Gründen, die der Leser erst zu einem späteren Zeitpunkt erfährt, benehmen sich alle am Begräbnis des verstorbenen Chefs Beteiligten vollkommen unnatürlich, fast teilnahmslos, weil sich jeder scheut, über den Charakter des Toten und die näheren Umstände seines Todes nachzudenken oder gar zu sprechen. Das Peinliche, Beklemmende beruht darauf, daß man noch davor zurückschreckt, sich mit den Sachverhalten vertraut zu machen. Bewußt läßt der Autor das Groteske als Ausdruck undurchschauter Widersprüche hervortreten. Werden sie aufgehellt, wie in der Szene, in der Liane ihrem Mann von den Vorgängen berichtet, so schwindet das Fluidum des Unheimlichen und Befremdlichen. Wo die Menschen offen miteinander reden und die Probleme bei ihrem wirklichen Namen nennen, so in Dialogen zwischen Radek und Lore, Radek und Baumann, Radek und dem Staats88

anwalt, fällt der komische Aspekt weg. Nicht komisch gesehen wird Baumann; er imponiert als Persönlichkeit, wenn er ohne Wehleidigkeit und falsche Bescheidenheit sagt, seine Absetzung als Meister sei sowohl richtig (für die Verbesserung von Arbeitssituation und -klima) als auch ungerecht (in Anbetracht seiner Lebensleistung als revolutionärer Kämpfer). Radek dagegen verfällt im Roman mehrfach komischer Kritik wegen seines Unvermögens, die Widersprüche richtig wahrzunehmen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Kritisiert wird sein Wunsch, davonzulaufen, zurück zu einer Forschungsaufgabe, bei der er es nicht mit lebendigen Menschen, sondern mit „Schrittmustern bei Insekten" 47 oder der „Pickordnung von Hühnern" 48 zu tun hatte, wo er z. B. nicht mit einem schlecht arbeitenden Meister konfrontiert wäre, dem er wegen dessen Tochter Lore dringlich auszuweichen wünscht. In seiner bohrenden Polemik gegen alles Verkleistern und Verteufeln gesellschaftlicher Widersprüche ist Jakobs engagierter Erzieher. Er will - anders als Kritzki - den Leser gleichsam darin schulen, die Welt wahrzunehmen, wie sie ist, damit sie durch Erkenntnis und entsprechendes Handeln zunehmend wird, wie sie sein kann und sein soll. Indem er die objektive Widersprüchlichkeit herausstellt, möchte er ein produktives Verhältnis zu den vielberedeten nichtantagonistischen Widersprüchen herstellen helfen, deren Erscheinungsformen und Wirkungen oft überraschend, befremdlich und hart sind. Im Verlauf der Romanhandlung wird - wie das ein ironisch eingesetztes Motto 49 ankündigt - eine idealisierende, sterile, lebensfremde Auffassung vom Schönen rücksichtslos ad absurdum geführt. Gibt es deshalb in Jakobs' Menschen- und Weltsicht kein Schönes, oder ist das Schöne nur anders geartet? Indirekt wird darauf resümierend eine Antwort gegeben, wenn auf der letzten Romanseite Hermann und Liane Radek abenteuerliche Zukunftsabsichten erörtern und Radek sagt: „Das ist schön [. . .], es geht alles wieder von vorn los." 50 Das klingt ironisch und ist doch wahr und sehr ernst gemeint: Schön ist, daß sich die Menschen, die gerade Schweres hinter sich gebracht haben, nicht ohne manche Selbsttäuschung in neue schwierige Aufgaben und Vorhaben stürzen. Schön daran sind das Lebendige, die unablässige Veränderung, die sinnvolle

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Bewegung. Im Gegensatz zu Kritzki, der die im Handlungszeitraum vor sich gegangene Bewegung wegen der „komplizierten Umwege" 51 ignoriert und negiert, einigen sich die Radeks darauf, daß es sich nicht um einen Kreislauf handelt, sondern daß alles von vorne anfängt „auf höherer Stufe" 52 . Die so denken und handeln - und das sind alle wesentlichen Figuren nicht nur in diesem Roman Jakobs' - bedürfen keiner Verschönerung. Jede Idealisierung würde das Bild ihrer, unserer historischen Leistung verkleinern.

Sozialismus, Arbeit, Persönlichkeit

l Manches deutet darauf hin, d a ß die literarische Gestaltung d e s Menschen bei der Arbeit den Schriftstellern unter heutigen Bedingungen schwieriger erscheint und mehr Kopfzerbrechen bereitet als vor zehn oder zwanzig Jahren. Ist Arbeit ein „spröder" Stoff? Beginnen wir mit einem Beispiel, mit Volker Brauns Gedicht Die Haltung einer

Arbeiterin:

1 In den ersten Jahren der Integration -ereignete sich unauffällig der Fall Der Weberin Hanna Wagenseil Sechsundvierzig Jahre alt Ruhiger Gemütsart, in Ebersbach. 2 Lange gewöhnt A n ihre langsamen Maschinen, brach sie A l s die neuen sowjetischen Automaten Montiert waren und in der Halle lärmten In ein Geschrei aus, mitteilend Ihre Ablehnung derselben.

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3 Als aber die Weberin schrie Die sonst ruhige, ging sie doch Keinen Augenblick von dem lärmenden Kasten Während acht Tagen Schrie herum und bediente ihn und hörte nicht auf zu schreien. 4 Aber am neunten Tag, als sie schon still war Aber schlecht angesehn bei den erschütterten Leitungen Hatte sie die Erfindung im Kopf Die Vorrichtung, die einigen Lärm wegnahm. 5 Dies wurde nicht gemeldet in den Zeitungen (Seines gewöhnlichen Hergangs wegen) Soll aber bekannt werden als die Haltung Der Arbeiterin Hanna Wagenseil Aus Ebersbach. 1 Das Gedicht bewegt sich ausschließlich im Bereich der materiellen Produktion. Erzählt wird von der Einführung einer neuen Maschine und ihrer weiteren Verbesserung durch eine Arbeiterin. Ist demnach das Sachliche der Produktionsvervollkommnung Gegenstand und Ziel der literarischen Darstellung? Sicherlich nicht. Bereits der Gedichttitel macht darauf aufmerksam, daß das Interesse dem Menschen gilt, daß es auf den vielzitierten „menschlichen Bezug" ankommt. Doch ist das Menschliche, das den Kern des Gedichtes bildet, kein aller konkreten Umstände entkleidetes „Wesen". Die menschliche Haltung, um die es geht, entsteht vielmehr aus einem historischkonkret gefaßten Verhältnis von Mensch und Arbeit, Mensch und Technik, Mensch und Gesellschaft. Der hohe Grad an Geschichtlichkeit und politischem Gehalt ist in den konkreten Bestimmungen des Vorgangs gegeben. Es ist z. B. durchaus wesentlich, daß diese winzige, alltägliche Begebenheit so und nicht anders „in den ersten Jahren der Integration" sich ereignet und daß die neuen Maschinen aus der UdSSR stammen. 92

Die vom technischen Vorgang ausgelöste Reaktion der Arbeiterin ist eingebettet in einen politischen und sozialen Zusammenhang. An einem Fall, der exemplarische Bedeutung hat und zugleich so alltäglich ist, daß es die Zeitungen schon nicht mehr melden, wird ein Stück wirklicher weltgeschichtlicher Bewegung gezeigt. So widerspruchsvoll und aufregend verläuft die sozialistische ökonomische Integration; so stark wirkt sie sich auf den einzelnen Arbeiter aus, der sie selbst realisiert. Der menschliche Bezug ist der grundlegende soziale Gehalt des erst in seinen Anfängen stehenden Umwälzungsprozesses; ihn deckt das Gedicht auf. Paul Wiens äußerte einmal, ein Leiter sei literarisch ergiebiger, weil „der Arbeiter, der als Delegierter seiner Klasse an einem zentralen Machthebel steht [. . .] deutlicher und direkter eine Kraft der Geschichte [. . .]" 2 darstellt. Hanna Wagenseil ist Produktionsarbeiterin. Brauns Gedicht fixiert einen prägnanten Punkt, an dem die Produktionsarbeiterin deutlich als „Kraft der Geschichte" erkennbar wird - und zwar nicht außerhalb, sondern innerhalb der Produktion. Der berichtete Vorgang erfaßt einen dramatisch zugespitzten Moment der den Zusammenhang von prägendem Einfluß der Verhältnisse auf das Individuum und seinen Anteil an der Veränderung dieser Verhältnisse besonders anschaulich zutage treten läßt. Die Produktionsarbeiterin wird literarisch „ergiebig", weil in dem stark gerafften Vorgang der ganze Mensch in Bewegung gerät und als Gesamtpersönlichkeit, als Charakter ausgestellt wird. Die Frau, sonst von „ruhiger Gemütsart", schreit durch vierfache Wiederholung hebt Braun dies besonders hervor - , und er gibt mit wenigen Fakten Anhaltspunkte dafür, selbständig die Gründe zu erschließen. Hanna Wagenseil ist in Aufruhr geraten, weil die neuen sowjetischen Automaten einen tiefen Eingriff in die Lebens- und Arbeitsweise der Sechsundvierzigjährigen bedeuten, die an ihre langsamen Maschinen gewöhnt ist. Mit dem Geschrei reagiert sie spontan ihren Protest gegen die Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen durch den Lärm ab. Auch wenn nichts von den sonstigen Lebensumständen der Frau vermerkt wird, spürt man, daß sie, aus dem gewohnten Geleise gerissen, scheinbar kopflos auf unerwartete Belastungen in der Arbeit reagiert. Das Ge93

schrei verdeckt vorerst - für die „erschütterten Leitungen" wie für den Leser - die zweite Komponente ihrer Haltung, die Tatsache nämlich, daß sie weder kündigt, noch um Versetzung einkommt, sondern weiterarbeitet. Sie nimmt die effektiver produzierende, aber lautere Maschine als Herausforderung an ihre eigenen Kräfte und Fähigkeiten an; sie bittet niemals um Hilfe, sondern handelt selbst. Wer, wenn nicht der Hauptbetroffene, sollte das größte Interesse an der Veränderung haben? Man kann vermuten, daß dieses Aktivwerden für die Frau selbst unvermutet kommt und einen zusätzlichen Anlaß darstellt, ihrer Erregung durch Geschrei Luft zu machen. Indem sie sich tätig dagegen wehrt, als Objekt den Vorgang einfach zu erleiden, erhebt sie sich zum Subjekt des Geschehens. Sie entdeckt in sich bisher ungeahnte Möglichkeiten. Braun zeigt den Menschen in der Auseinandersetzung mit der von ihm geschaffenen technischen Welt als Sieger, aber er zeigt auch, daß dieser Sieg errungen sein will (die Niederlage deutet sich als Möglichkeit an). Die Integration wird nicht als Ankündigung und Programm aufgefaßt, die man beklatscht, sondern als Praxis, die zu meistern ist. Das geschichtlich Neue tritt als neuer Widerspruch auf, der unser Handeln herausfordert und dessen Lösung nicht ohne Erschütterung, Mühsal und Geschrei vor sich geht. Das Gedicht schildert eine Situation, die insofern außergewöhnlich ist, als sie die unendliche Kette tausendfach sich wiederholender Handgriffe an der Maschine durchbricht. Gezeigt wird nicht, wie die Frau die Maschine einfach bedient, sondern wie sie sie verändert. Der Autor hebt gerade den Augenblick heraus, in dem die Weberin schöpferische Arbeit leisten kann. Hier findet er den poetisch fruchtbaren Ansatz. Das ist charakteristisch für viele Darstellungen von Arbeit. Wie aber verhält sich Literatur zu der von vielen Menschen täglich zu leistenden Arbeit, die wenig oder nichts Schöpferisches an sich hat? Die Haltung einer Arbeiterin ist ein Lobgedicht. Braun rühmt, in der Tradition von Brechts Kohlen für Mike, eine menschliche Tat, die zu alltäglich ist, um in die Zeitung zu kommen, und er rühmt die Haltung, die zur Tat führt. Auf sie wird aufmerksam gemacht, sie wird durch Bekanntmachen als 94

Muster empfohlen, auch ohne daß - wie in Brechts Erziehung der Hirse - ein direktes „Lebt ihm nach" ausgesprochen würde. Darin dokumentiert sich eine dichterische Haltung, die heute in unserer Literatur verhältnismäßig selten zu finden ist. Braun knüpft an Arbeitsdarstellungen aus den fünfziger Jahren an, von denen mancher meint, sie seien heute nur noch als historische Dokumente interessant. Er erneuert, obgleich im Ton des sachlichen Berichts, das Pathos von Engagiertheit und Lob, das vielen heute als überholt gilt. Ist die verbreitete Scheu vor einer solchen Art literarischer Darstellung darauf zurückzuführen, daß heute weniger Rühmenswertes existiert? Oder wird es nicht mehr gesehen und empfunden? Waren damals die Verhältnisse einfacher, besser, leichter darstellbar? Eine Fülle von Fragen tut sich auf. 2 Zu einem Zeitpunkt, als er vom Marxismus und von der Arbeiterklasse theoretisch und praktisch noch weit entfernt war, feierte Georg Maurer in seinen Gedichten bereits die befreite Arbeit. Man kann sogar sagen, daß ihm das Verständnis des Sozialismus wesentlich erleichtert wurde, weil er die Arbeit „als das Kernproblem unserer Epoche"3 zu begreifen begann. Zu dieser Entdeckung war er auf ungewöhnliche Weise gekommen: Als Kriegsgefangener in der Sowjetunion mußte er, der bis in sein viertes Lebensjahrzehnt nur mit geistiger Arbeit zu tun gehabt hatte, unter Tage schwere körperliche Arbeit verrichten. Das war nach dem jahrelangen Erleben von Tod und Zerstörung eine harte und heilsame Kur und führte zu der Einsicht, „daß menschliche Arbeit menschliches Leben überhaupt erst ermöglicht"4. Auf dieser Grundlage konnte er, da sein religiöses Weltbild und die klassischen humanistischen Ideale keine Orientierung mehr gaben, neue realitätsverbundene Vorstellungen von Humanität entwickeln. In den Hymnen 1945 und in Gedichten der fünfziger Jahre besingt er die Arbeit als das große menschliche Ideal. Das hohe Pathos dieser Gedichte wirkt auch heute echt, weil nicht nur die subjektive Überzeugung ausgedrückt, sondern die histo95

arische Wahrheit über die Rolle der Arbeit für die Entwicklung der Menschheit formuliert wird. Durch die geschichtsphilosophische Abstraktionshöhe vermeidet er es, sich im Gedicht mit den konkreten Bedingungen auseinanderzusetzen, unter denen die befreite Arbeit in der DDR, um 1950 etwa, zu realisieren war. Gegenstand seiner Überlegungen und Lobpreisungen sind •die neuen historischen Grundtatsachen, z. B., daß zusammen mit der Ausbeutung die Wurzeln von Krieg und Faschismus ausgetilgt werden. Deshalb erscheint Arbeit in einigen Gedichten, darunter Arbeit und Tod und Arbeit5, als Synonym für Leben schlechthin. Arbeit wird als etwas gesehen, was das Individuum unsterblich macht, vor dem spurlosen Ausgelöschtwerden bewahrt, insofern, als es in den hinterlassenen Arbeitsprodukten und -erfahrungen weiterlebt. Die Eigenart dieser Gedichte besteht darin, daß Maurer, die Arbeit anfangs stark unter idealistischen und abstrakt humanistischen Gesichtspunkten betrachtend, gerade durch diesen Gegenstand gezwungen wird, sich mehr und mehr an die Materialität des menschlichen Lebens heranzuarbeiten und den Menschen als ein gesellschaftliches, durch Arbeit gewordenes Wesen .zu begreifen: „Arbeit ist die große Selbstbegegnung des Menschen. Wüßte er sonst, wer er ist? Sammelt er das Wasser am Staudamm, so sammelt er sich . . . Facht er das Feuer an im gemauerten Ofen, so ist er es, der w ä r m t . . ."6 Seine neue Vorstellung von Humanität basiert auf dem tieien historischen Verständnis von Arbeit. Er faßt den Aufbau •des Sozialismus/Kommunismus als die entscheidende Wende auf, durch die die Menschheit, aller hemmenden Fesseln der Klassengesellschaft entledigt, ihre Kräfte bei der Aneignung der Natur und der Vermenschlichung aller Lebensverhältnisse ins Unermeßliche steigert. Dazu dienen ihm die seinerzeit viel besprochenen Großbauten des Kommunismus in der 'Sowjetunion als anschaulicher Beweis. Die gigantischen Kanäle, Dämme, Stauseen und Baumaschinen werden im Zyklus Hoch96

zeit der Meere von 1953/54 zum Gegenstand hymnischen Lobes, weil sie den Menschen endgültig aus Mühsal und Not befreien. In diesem Lichte erscheint auch jede Anstrengung als schön, weil sich durch sie bisher brachliegende oder zu destruktiven Zwecken mißbrauchte Kräfte frei entfalten. Der Jubel darüber, daß in der neuen gesellschaftlichen Ordnung nichts mehr „dem Menschen unmöglich" 7 ist, läßt keinen Raum für die nüchterne Überlegung, in welchem Tempo und mit welchen Auseinandersetzungen diese neue geschichtliche Möglichkeit verwirklicht werden kann. Vieles scheint in Maurers Gedicht schon errungen zu sein, was erst im Verlauf der gesamten Epoche geleistet werden kann. Trotz gewisser Elemente von Utopismus und Idealisierung sah Maurer mit Recht später (keinen Anlaß, diese Richtung seines Denkens und Dichtens zu revidieren. 1968 bekräftigte er, daß das Verständnis von Arbeit zum bleibenden Grunderlebnis und Herzstück seines Dichtens geworden sei. So wird spürbar, daß ihm die Feststellung von Karl Marx: „Die Gesellschaft findet nun einmal nicht ihr Gleichgewicht, bis sie sich um die Sonne der Arbeit dreht" 8 *, 2um Schlüssel für das Verständnis geschichtlicher Kämpfe und Möglichkeiten werden konnte. Als Brecht Die Erziehung der Hirse (1950), sein Lobgedicht auf die befreite Arbeit, schrieb, war sein Ausgangspunkt ein anderer. Er, der Antifaschist und Sozialist, hatte sich nicht an ein wirkliches Geschichtsverständnis langsam heranzuarbeiten; er behandelt die befreite Arbeit aus der Haltung des souveränen Lehrers, der auf den unmittelbaren Ausdruck eigener Emotionen weitgehend verzichtet und dafür ein konkretes Beispiel befreiter Arbeit aus sich heraus wirken läßt. In diesem Zusammenhang wird für den Lyriker der Stoff sehr wichtig, und er wählt mit gutem Grund - wie wenige Jahre später Maurer - den Stoff aus sowjetischen Verhältnissen. Denn um Menschen, deren Vorstellungen von Arbeit durch die kapitalistische Ausbeutung und nazistische Phraseologie ge- und verbildet worden waren, das Wesen befreiter Arbeit zu erklären und von ihrer Kraft zu überzeugen, brauchte es Tatsachen des wirklichen Lebens, die den Argumenten Beweiskraft verleihen konnten. Was befreite Arbeit sein könnte und sollte, war am anschaulichsten an dem 7

Kaufmann, Studien

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zu zeigen, was sie bereits vermocht hatte - am Sieg der Volksmassen der Sowjetunion über den deutschen Faschismus. Brecht wählte einen authentischen Fall, die - literarisch bereits vorgeformte 9 * - Geschichte des kasachischen Hirsezüchters und Leninpreisträgers Tschaganak Bersijew. In ihr verbinden sich politisches Zeitgeschehen und geschichtsphilosophische Dimension besonders glücklich. Bersijews Arbeitsleistung ist ein direkter Beitrag zum Sieg über Hitlerdeutschland. Dabei fällt doppelt ins Gewicht, daß ein Analphabet und einstiger Nomade in geduldiger, systematischer Arbeit der Natur ihre Geheimnisse abringt. Um diesen erstaunlichen Vorgang zu erklären, wird im Gedicht der Reihe nach erzählt, wie dieser Mann, aufgewachsen in Urzuständen der „freien Wüsteneien", 1 0 mit fünfzig Jahren einem Kolchos beitritt und fortan ins Große denkend und wirtschaftend immer ertragreichere Hirsesorten züchtet. So ist in diesem einen Menschenleben wie mit einem Zeitraffer ein großes Stück Menschheitsgeschichte zusammengedrängt. Im Triumph Bersijews über die Natur triumphiert zugleich die Gattung Mensch. Brecht stellt diesen Mann ausdrücklich als Beispiel hin. „Lebt ihn nach" 1 1 , heißt es am Schluß sogar. Aber das wirkt nicht moralisierend und fordernd, sondern eher werbend und einladend. Leben und Tat Bersijews werden so einleuchtend einfach dargeboten, daß der Reichtum seiner Fähigkeiten, seine Güte und Freundlichkeit, seine selbstverständliche Bereitschaft, anderen zu geben, als große menschliche Verlockung dastehen. Erzählt wird vom Glück des freien, nicht von den Schranken des Mein und Dein beengten Produzierens - in einer Haltung ruhiger, überlegener Distanz. In dieser historisierenden Distanz steckt eine Überredungskunst, die ihren Hörer nicht suggestiv bedrängen, sondern dauerhaft geistig beschäftigen und überzeugen will. Diese Haltung sachlicher Überlegenheit ist dem in jeder Hinsicht neuen Gegenstand besonders angemessen. Dieses Lob auf einen Mann, „der das Unmögliche wahrgemacht hat" 1 2 , soll schließlich vor allem auf deutsche Leser wirken, auf Menschen, die noch gestern die halbe Welt verwüstet hatten, die an militaristische und faschistische Auffassungen von Heldentum gewöhnt waren und denen es fremd, 98

ja widersinnig erscheinen mochte, in friedlicher Arbeit Heldentum zu sehen. Im Gedicht werden nicht Aufopferung und Sterben verlangt, sondern tagtägliche Mühe und tätige Vernunft empfohlen. Und gerade darin liegt das Ungewohnte, vielleicht Unvorstellbare. Auffallend genau werden Details des Hirsezüchtens wiedergegeben, um das Heroische des Arbeitsalltags nachvollziehbar zu machen, um herauszustellen, daß solches Verhalten nicht an besondere Begabungen gebunden, sondern jedermann möglich ist - unter der grundlegenden sozialen Voraussetzung allerdings, daß nicht für den privaten Profit produziert wird. Von den unendlichen Opfern und Entbehrungen, die die Völker der Sowjetunion in all den Jahrzehnten des sozialistischen Aufbaus, vor allem während des Krieges, aber auch in den Nachkriegsjahren auf sich nehmen mußten, ist in Brechts Gedicht wenig zu spüren. Angesichts der Größe des Sieges über den Faschismus und der durch ihn eröffneten Perspektive friedlicher und sozialistischer Entwicklung erscheinen Schwierigkeiten als zweitrangig. Anders als Maurer und Brecht gewinnt Wilhelm Tkaczyk in seinem Gedicht TOT der Fabrik den poetischen Ansatz nicht aus einer allgemeineren geschichtsphilosophischen Fragestellung, sondern aus dem unmittelbaren persönlichen Erlebnis eines Arbeiters, der sich plötzlich als Eigentümer der Fabrik sieht, die ihm jahrzehntelang Stätte der Ausbeutung und Drangsalierung war. Das Gedicht ist durch die Gegenüberstellung alter und neuer Besitzverhältnisse strukturiert. Damals war alles Qual, heute ist alles Glück. Im ersten Teil erscheinen die Maschinen, von denen sich das Ich wie ein Leibeigener gefesselt und ausgesaugt fühlte, als „Krokodile", „Kröten" und „Drachen". Umgekehrt werden sie unter den neuen Bedingungen - an deren Schaffung dieses Ich bezeichnenderweise nicht beteiligt war - als „Kathedrale", „Freunde" und „treue Hunde"13 gesehen. Subjektiv sind damit das Glück des Befreitseins und die Erwartung artikuliert, mit den neuen Besitzverhältnissen an den Produktionsmitteln sei die Arbeit zu einer reinen Freude geworden, von allen gern verrichtet. In dem Freudenrausch wird übersehen, daß dieses Ich keineswegs die Stimmung aller, nicht einmal die der meisten Arbeiter ausdrückt, daß das Be7*

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wußtsein, Herr der Fabriken zu sein, in großem Umfang erst hervorgebracht werden muß. Maurer, Brecht und Tkaczyik repräsentieren drei charakteristische soziale und politische Positionen der Anfänge der DDRLiteratur: Jeder nähert sich dem neuen Gegenstand auf seine Weise - der bürgerliche Humanist Maurer, indem er sein bisheriges Leben kritisch durcharbeitet, der erfahrene antifaschistische und sozialistische Dichter Brecht, indem er Arbeit in Beziehung setzt zu den entscheidenden historischen Prozessen der Epoche, und der proletarische Dichter Tkaczyk, indem er die Erfahrungs- und Gefühlswelt eines Arbeiters einbringt, dessen Träume von befreiter Arbeit in Erfüllung gegangen sind. Gemeinsam ist diesen drei Dichtern die Unbedingtheit, mit der die befreite Arbeit - und es handelt sich dabei in allen Fällen um Lyrik - hymnisch besungen wird. Der Grund dafür liegt darin, daß die Anfänge des Aufbaus völlig unter dem Eindruck des Sieges über den Gegner gesehen werden. Das Neue wird gerühmt, weil es der Gegensatz zum verhaßten, endlich überwundenen Alten ist. Unter diesem Aspekt ist es kein Widerspruch, daß die Arbeit das reine, ungeteilte Lob erfährt, obwohl sie damals unter schwersten materiellen Bedingungen verrichtet werden mußte und durchaus nicht ohne Auseinandersetzungen vonstatten ging. Im Vergleich zu diesen lyrischen Versuchen stellte sich Eduard Claudius mit dem Roman Menschen an unserer Seite (1951) eine unvergleichlich schwierigere künstlerische Aufgabe: Die tatsächlichen sozialen und politischen Bedingungen der Jahre 1949/50 sind Grundlage der Handlung. Von diesem Roman ist immer wieder - in Zustimmung und Kritik - die Rede, weil er Kraft und poetische Substanz hat. Im Unterschied zu den genannten lyrischen Beispielen kommt hier zur Sprache, daß auf der Grundlage des errungenen historischen Fortschritts soziale und politische Kämpfe von großer Härte beginnen. Sie sind unvermeidlich, weil der Arbeiterklasse der DDR die befreite Arbeit nicht als Geschenk in den Schoß gelegt werden kann, sondern in unzähligen individuellen Auseinandersetzungen und Entscheidungen aktiv und praktisch erkämpft werden muß. Claudius nimmt die gesellschaftlichen Widersprüche völlig 100

ernst, die bittere Tatsache z. B., daß die ersten Aktivisten oft genug von ihren eigenen Klassengenossen als „Arbeiterverräter" und „Russenknechte" beschimpft und verfolgt wurden. Das Heroische in Aehres Arbeitstat liegt nicht nur darin, daß er unglaubliche körperliche Strapazen aussteht und kühne, risikoreiche Neuerungen einführt, sondern daß er die Kämpfe mit den Menschen an seiner Seite moralisch und psychisch durchsteht. Gerade die Dynamik der sozialen und politischen Bewegung in diesem Roman reizte später Heiner Müller, mit seinem Stück Der Lohndrücker an Claudius' Roman anzuknüpfen. Gegenüber Romanen wie Maria Langners Stahl (1952) oder Hans Marchwitzas Roheisen (1955) behauptet sich Claudius' Buch auch deshalb, weil hier der sachliche Zweck der Produktionstat den menschlichen, den sozialen Zweck nicht verdeckt. Dem Autor gelang es - wenngleich hier mancherlei Abstriche zu machen sind - , den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen. Zu danken ist dies auch dem Umstand, daß Claudius den Roman von einer dominierenden Hauptfigur her aufbaute: Hans Aehre hat sein historisches Vorbild in dem bekannten Aktivisten und Ringofenmaurer Hans Garbe. Der eindrucksvolle Ansatz in der Menschengestaltung liegt in der dialektischen Sicht von Mensch und Arbeit. Es wird gezeigt, wie Hans Aehre eine volkswirtschaftlich überaus wichtige Arbeit bewältigt und wie ihn umgekehrt diese Arbeit zu etwas macht, was er vorher nicht war: zu einem selbstbewußten Arbeiter, dem Machtausübung nicht mehr fremd, sondern vertraut und praktische Erfahrung ist. Das Bedürfnis, die Last der Vergangenheit, die „Hauptmannsgesichter", endlich vollständig loszuwerden, ist eine wichtige Komponente seines Handelns. Und der Erfolg in der Arbeit wirkt auf sein politisches Reifen spürbar zurück. Ihm hilft die Arbeit weiter, weil er durch sie bisher ungekannte Fähigkeiten und Kräfte in sich mobilisiert und sich Gesamtpersönlichkeit entwickelt. Um diesen Vorgang zu verdeutlichen, mußte Claudius in gewissem Umfang technische Details des Arbeitsvorgangs mitgeben. Wo sich diese verselbständigen, erlahmt das Interesse des Lesers. Die Notwendigkeit, mehr und besser zu arbeiten, war in 101

jenen Jahren mehr denn je zuvor die Schlüsselfrage der Entwicklung. Das ist die große Chance und Schwierigkeit des Stoffs. Es wäre falsch anzunehmen, künstlerische Mängel des Buchs rührten aus der Bindung an die konkrete historische Situation her - umgekehrt liegt eine Schwäche darin, daß die historische Sicht nicht tief und genau genug ist. Man vermißt nicht eine größere Zahl historischer Fakten, sondern die stärkere Einordnung des gegebenen Moments in den Gesamtprozeß. Diese mangelnde Historisierung - nicht allein bei Claudius zu beobachten - wird bereits in den Hauptelementen des Handlungsaufbaus sichtbar. Ziel der Handlung ist es, ein bestimmtes Produktionsvorhaben durchzusetzen. Mit seiner Verwirklichung sind auch alle anderen wesentlichen Konflikte und Probleme und das sind sehr viele - gelöst. So erscheint das Kräfteverhältnis zwischen den gegensätzlichen Figurengruppierungen den bewußten Erbauern und den Gegnern der neuen Gesellschaft - grundsätzlich verschoben, ohne daß ein so immenser, allseitiger politischer und sozialer Fortschritt zureichend motiviert wäre. Ungewollt entsteht der Eindruck, als seien nunmehr die entscheidenden Kämpfe um „das Neue" - so allgemein wurde oft formuliert, da vom Aufbau des Sozialismus in der DDR noch nicht ausdrücklich gesprochen wurde - ausgestanden. Das heißt, dieser eine, im gegebenen Moment lebenswichtige Schritt wurde überschätzt und die danach zu bewältigenden, komplizierten Schritte auf dem Wege zum Sozialismus wurden unterschätzt. Da am Romanende alle Konflikte gelöst erscheinen, verschwindet der Prozeß, hört die Bewegung auf. In der Fähigkeit, die historische Dynamik und Perspektive, das Verhältnis von Einzelschritt und Gesamtbewegung richtig zu fassen, erweist sich Fjodor Gladkows Roman Zement weitaus überlegen. Das mag auch ein Grund dafür sein, daß dieses Buch so frisch und aktuell wirkt und zu Beginn der siebziger Jahre zur Adaption anregte: Heiner Müller zum Stück und Manfred Wekwerth zum Fernsehspiel. Diese Aktualität ergibt sich keineswegs aus historischer Unbestimmtheit. Der Roman ist, was die konkreten historischen Umstände betrifft, sehr genau gearbeitet. Seine Handlung gründet sich auf gesellschaftliche Prozesse, die durch den Übergang vom Bürgerkrieg zur systematischen Aufbauarbeit, vom Kriegskommunismus zur 102

NÖP ausgelöst wurden. Indem dieser Teilschritt der sozialen Bewegung in seiner Tiefe und Dialektik durchdrungen wird, geraten entscheidende Fragen des gesamten Umwälzungsprozesses ins Blickfeld. Gladkows Zement ist das erste große Buch der Sowjetliteratur, in dem die befreite industrielle Arbeit ins Zentrum rückt. Es ist zugleich ein Musterbeispiel dafür, daß die Darstellung der Arbeit nicht Einengung und Absonderung von anderen Lebensbereichen bedeuten muß, sondern Schlüssel für den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang sein kann. Kompositorisch bekommt die Produktionshandlung großes Gewicht. Am Romananfang beginnt mit Gleb Tschumalows Ankunft der Kampf um die Wiederaufnahme der Zementproduktion; der Roman endet, als dieses Ziel erreicht ist. Und dennoch entsteht nicht der Eindruck, als käme damit die große gesellschaftliche Bewegung zur Ruhe. Während in der Produktionshandlung eine grundlegende Wende erzielt wird, geht die Auseinandersetzung um die vielfältigen Widersprüche zwischen den Klassen, Schichten und Individuen weiter, die mit dem Kampf um Zement in enger oder weitläufiger Beziehung stehen und nur zum kleineren Teil mit dem Produktionssieg gelöst wurden. Der Roman läßt ahnen, daß die Lösung dieser Widersprüche weit in der Zukunft liegen kann, so daß wir einige von ihnen sogar noch heute als gegenwärtig auffassen können. Um die Eigenart und Leistung dieses Romans genauer zu bestimmen, lohnt es zu fragen, welcher besondere Zweck in den Auseinandersetzungen um Arbeit verfolgt wird. Gewiß geht es um Zement. Aber Gleb Tschumalow hat noch etwas anderes, Wichtigeres im Auge, wenn er um die Wiederaufnahme der Produktion kämpft. Bei seiner Rückkehr schockierte ihn der Verfall in der Haltung der Arbeiter. Seit langem dazu verurteilt, nicht arbeiten zu können, weil das Werk infolge verschiedener historischen Umstände stilliegt, sind sie sozial und menschlich tief demoralisiert. Sie sind in die Anarchie des Spekulantentums und der kleinen Warenproduktion abgesunken und denken nur daran, ihren Magen zu füllen. Wer aber soll dann die anderen Klassen und Schichten „uihmodeln" und zum Sozialismus führen? Das Proletariat muß in der Arbeit wieder zur führenden Klasse formiert werden. Gleb und andere 103

Funktionäre erfahren, daß mit Gewissensappellen oder Drohungen bei diesen deklassierten Arbeitern, auf deren Schultern dennoch das weitere Schicksal der Revolution ruht, nichts auszurichten ist. Es müssen die objektiven Existenzbedingungen der Arbeiterklasse wiederhergestellt, es muß industriell produziert werden. 14 * Gladkow unterstellt, daß Gleb Tschumalow, da er in sich die Qualitäten des militärischen Führers mit denen des langerfahrenen Arbeiters vereint, schärfer als andere erkennt, worauf es ankommt. Die Kraft der Arbeiterklasse durch die Arbeit zu stärken, erscheint im gegebenen historischen Moment doppelt wichtig, weil mit dem Übergang zur N Ö P die kleinbürgerlichen und kleinbäuerlichen Kräfte neue ökonomische Energien gewinnen. In dieser Situation ist die Rückkehr zur Arbeit selbst für die Arbeiter und die ganze Gesellschaft beinahe wichtiger als das Produkt der Arbeit. Deshalb interessiert es in diesem Buch auch nicht, wie schwer und strapaziös, eintönig oder ermüdend die Arbeit sein würde. So versteht sich auch ,daß der Autor offenkundig mit den Figuren voll übereinstimmt, die die Schönheit und Kraft der zum Stillstand verurteilten Maschinen schwärmerisch preisen. Der Zusammenhang von Arbeit und Menschlichkeit wird in der zweiten Szene des Romans drastisch zugespitzt vorgeführt: Der Faßbinder Sawtschuk ist in einer elenden Verfassung, er mißhandelt seine Frau unmenschlich. Da er kein Arbeiter sein kann, ist er auch kein Mensch mehr. - Da von der Arbeit alles zu erwarten ist, wird auch alles zu ihrem Lobe gesagt. Dieses Pathos entspricht im gegebenen Zusammenhang vollauf der historischen Wahrheit. Es kann in dieser spezifischen Form in wesentlich anders gelagerten historischen Situationen nicht beliebig reproduziert werden.

3 In seinem Gedicht Sagen wird man über unsre Tage15 (1948) entwirft Kuba die Vorstellung von einer Zukunft, in der die Menschen angesichts einer jungen .Stadt mit ihren „gläsernen Terassen", mit „Brücken" und „Gärten" voller Staunen auf die 104

heroischen Anstrengungen jener zurückblicken, die den schweren Anfang bewältigten. Die sprachlich betonte Unterscheidung „Sagen wird m a n über u n s e r e Tage / Altes Eisen hatten s i e " ) der Heutigen und der Künftigen verstärkt den Eindruck, daß eine sehr große Spanne zwischen beiden Zeiten liegt, daß es sich um völlig andere Generationen handelt. Indem Kuba den heutigen Tag auf den künftigen bezieht, gelingt es ihm, die historische Größe des schweren Beginns fühlbar zu machen und damit Impulse für eine selbstbewußte Zuversicht zu geben. Wie lange dauerte es, bis in der literarischen Spiegelung auf jenen schweren Anfang als auf eine schon ferne Zeit zurückgeblickt wurde? Die zwei Zeitebenen von Kants Aula-, 1949/50 und 1962, stehen für diese Zeitspanne. Vergleicht man die Lebensverhältnisse um 1960, wie sie in Spur der Steine oder Beschreibung eines Sommers erscheinen, mit denen in Claudius' Roman dargestellten, dann wird bewußt, welches Maß gesellschaftlicher Veränderung in zehn bis fünfzehn Jahren erreicht wurde. Die Produktionsverhältnisse sind von Grund auf umgewälzt, die Frage: Wer - Wen? ist entschieden, die Grundlagen des Sozialismus sind geschaffen. Die neue gesellschaftliche Situation wirft für die Darstellung der Arbeit neue Fragen auf. Auskunft darüber geben zwei herausragende Romane aus der ersten Hälfte der sechziger Jahre, die Menschen in der materiellen Produktion zum Hauptgegenstand machen: Erik Neutschs Spur der Steine und Erwin Strittmatters Ole Bienkopp. Denken wir nochmals kurz an Menschen an unserer Seite: Aehre wurde Aktivist aus politischen Motiven. Rasch, sogar etwas forciert (nämlich ohne gründliche Bewältigung der Vergangenheit), war er in die politische Avantgarde aufgerückt, stellte sich gegen die Mehrheit der Arbeiter, die der Aktivistenbewegung noch ablehnend gegenüberstanden, und gab damit ein noch vereinzeltes Beispiel. Der Roman vollzieht in seiner Welt- und Menschensicht diese Haltung nach. Alles ist auf den schmalen Durchbruch konzentriert, das - historisch bedingte - asketische Moment setzt der Aufmerksamkeit für den „ganzen Menschen" Grenzen. Zwölf Jahre später begegnen wir in der Literatur bereits einer Reihe von Gestalten, die durch ihre unter neuen Verhältnissen 105

geleistete Arbeit zu Sozialisten werden, dadurch in ganz anderer Weise mit der Masse der Werktätigen eins sind und die Vielfalt von Interessen, Bedürfnissen, Lebensäußerungen zur Geltung bringen. Spur der Steine und Ole Bienkopp etwa haben nicht zuletzt deshalb so nachhaltige Wirkung, weil sie am Schicksal sehr einprägsamer Hauptgestalten nachzeichnen, welche sozialen und kulturellen Veränderungen sich in den Menschen im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Grundprozessen vollziehen. Der Brigadier Balla in Neutschs Roman gehört zunächst nicht zur politischen Avantgarde - im Gegenteil: Wie die Eingangsszene eindringlich zeigt, schwimmt er politisch gegen den Strom. Doch das erweist sich als sekundär gegenüber seiner sozialen Rolle. Entscheidend ist seine Arbeit, die Produktionspraxis, die ihn auf allerlei Umwegen, aber zwangsläufig, ohne sein Wollen dem Sozialismus zutreibt. Charakteristisch ist, daß die hohen Arbeitsleistungen und die Produktionsverbesserungen die Balla erbringt, subjektiv nicht als politische Aktionen, nicht als uneigennützige Taten im Gesamtinteresse vollbracht werden. Im Interesse des Sozialismus zu arbeiten ist zu dieser Zeit schon nicht mehr die Sache einiger selbstloser Vorkämpfer vom Typ Aehre, sondern bereits die Lebensgrundlage einer breiten Schicht. Aehre mußte sich erst mühsam bewußt machen, daß er Arbeiter unter Bedingungen der „befreiten Arbeit" ist. Balla ist keineswegs selbstlos, und sein überschäumendes Selbstbewußtsein ist von Anfang an gegeben; es gründet sich darauf, daß ihn solche Bedingungen als Arbeiter geprägt haben, die schon von Ausbeutung und Unterdrückung frei waren. Der „goldene Westen" wurde für ihn zu keiner ernsthaften Verlockung, weil er wußte oder ahnte, daß er sich in der Hauptsphäre seines Lebens nur in der D D R entfalten, „ausleben", eine Persönlichkeit werden, eine gesellschaftliche Größe sein konnte. (Ähnlich liegen die Dinge bei dem Ingenieur Tom Breitsprecher in Karl-Heinz Jakobs' Roman Beschreibung eines Sommers). Der Sozialismus, den er nicht erstritten hat, ist für ihn das Selbstverständliche, er lohnt sich für ihn sehr. Er will nützliche Arbeit leisten, allen politischen Forderungen sucht er auszuweichen. Triebkraft seines Denkens und Handelns sind seine eigenen Bedürfnisse. Auch als er in 106

einem dynamisch und dialektisch gefaßten Entwicklungsgang „die Perle aus dem Ohr nimmt" und Parteimitglied wird, wandelt er sich nicht von einem Saulus zu einem Paulus. Nur seine Bedürfnisse verändern sich, sie werden reicher, differenzierter, kultivierter. Dieses letzte Stadium der Entwicklung Ballas hat Neutsch erzählerisch nicht mehr voll bewältigt. Aber die neue soziale Qualität, die tätige Selbstverwirklichung in der Gesellschaft, wird deutlich, und damit „steht" Balla als literarische Gestalt. Diesem Mann ist zu glauben, daß das Geldverdienen bei aller Wertschätzung handfester Genüsse nicht das Hauptziel seines Arbeitens ist; die Arbeit selbst gibt ihm Befriedigung, vor allem durch das soziale Prestige, das sie ihm verleiht: Als •einer der erfahrensten und erfolgreichsten Brigadiere auf der Baustelle ist er ein Machtfaktor, mit dem im guten wie im •schlimmen zu rechnen ist. Das legitimiert Neutschs Idee, die Handlung sehr stark auf die Bemühungen des Parteisekretärs Horrath um Balla, auf das Duell dieser beiden Männer zu konzentrieren. In der Arbeit entfaltet sich Ballas Drang, seine Kräfte zu messen und zu entwickeln, weil er, ohne darüber nachzudenken, davon ausgeht, daß das, was es schafft, keinem fremden Interesse dient. Gerade deshalb ist Genuß für ihn nicht identisch mit Konsum - das wird deutlich, wenn man ihn mit •einer Gestalt wie dem Bauarbeiter Ahlers aus Christian Geißlers Roman Kalte Zeiten vergleicht: Ahlers, der seine Arbeit mag, findet dennoch wenig Befriedigung in ihr, weil er das Ausbeutungsverhältnis wahrnimmt, und er wird mit seinen Bedürfnissen immer stärker auf das bloße Konsumieren gelenkt. Für Balla entscheidet sich der Wert der Gesellschaft schon nicht mehr vorrangig daran, was man sich für sein Geld kaufen, sondern daran, wie man in ihr arbeiten kann. (Eine - ebenfalls unreflektiert hingenommene - Voraussetzung dafür ist selbstverständlich, daß man nicht mehr hungern, frieren und in Lumpen herumlaufen muß.) Balla kann als Figur überzeugen, weil der Prozeß, in dessen Verlauf er lernt, sich nicht ausschließlich oder vorrangig für sich selbst, sondern für andere, für das Ganze zu interessieren -und Verantwortung zu tragen, nicht abstrakt als Gedankenbewegung, sondern als praktische Tätigkeit vorgeführt wird. 107

Von daher erhalten auch die sachlichen Details der Produktionsvorgänge im großen und ganzen ihren richtigen Stellenwert, auch wenn Neutsch ihnen bisweilen zu breiten Raum gibt. Entscheidend ist nicht das quantitative, sondern das qualitative Verhältnis. Wird die Mitteilung von Sachverhalten der Industrie, der Planung und Leitung Selbstzweck, erscheint im Gesellschaftsentwurf des Autors der Mensch als Mittel äußerer Zwecke? - Dies wird man Neutsch kaum vorwerfen können, schon eher, daß die Fülle der Produktions- und Organisationsdetails, von denen er als den Anlässen menschlicher Bewährung nicht abstrahieren konnte, zu sehr im Stofflichen verbleibt. Er braucht sie aber, um die wirklichen Beziehungen von Mensch und Natur, von Gesellschaft und Persönlichkeit ins Spiel zu bringen. Unter dem Aspekt von Eigennutz und Uneigennützigkeit scheint Ole Bienkopp ein Gegenstück zu Balla zu sein. Zu Bienkopps hervorstechenden Eigenschaften gehört, daß er sein eigenes Wohl über das der anderen vergißt und unablässig an die Verbesserung des allgemeinen Lebens denkt. Sein leidenschaftlicher Trieb, an der Aneignung und vernünftigen Veränderung der Natur zu arbeiten, entspringt nicht seinem eigenen materiellen Interesse, sondern dieser sozialen Tugend. Mit Ausnahme seiner ersten Versuche im produktiven Umgang mit der Natur - der Hunger trieb das Kind Ole, den Bienen Honig abzulisten - , dient sein unermüdliches Forschen niemals der persönlichen Bereicherung. Er schafft Reichtum und bleibt selbst arm. Nicht aus Verbitterung oder Rechthaberei kratzt er am Ende mit bloßen Händen den Mergel für die Verbesserung der genossenschaftlichen Felder aus dem Boden; nicht „geduckt und bedrückt", sondern zornig und arbeitswütig „wie ein Erdgeist", „wie der Urmensch, der sich das Feuer suchte", 16 bringt er sich in seiner Uneigennützigkeit um Leib und Leben. Dieses Übermaß an Selbstlosigkeit und Gleichgültigkeit gegenüber dem eigenen materiellen Wohlstand wird aber auch zur Quelle einer gewissen Verblendung gegenüber den Bestrebungen anderer Menschen. Oles Eigensinn hat damit zu tun. Reflektiert wird dieses Problem auch in Anna Seghers' Vertrauen. Die erste Szene des Romans endet mit der wichtigen 108

Überlegung, ob die Eigenschaft des Ingenieurs Riedl, wenig nach materiellen Gütern zu fragen, ein politischer Fehler sei. Auf einer Dienstreise in die Bundesrepublik zwingt ihn der Anblick der von Waren strotzenden Schaufenster und die Erinnerung an die Begehrlichkeit vieler seiner Kollegen und Bekannten zur Auseinandersetzung: „Ich aber, ich brauche nichts. Ich hab nach nichts Besonderem Verlangen. Bestimmt ein Fehler. Sogar ein schlimmer Fehler. Denn deshalb versteh ich gar nicht, warum die Menschen um mich herum so zornig verlangen, was sie nun einmal brauchen." 17 Daran zeigt sich, daß nicht nur bei Erwin Strittmatter die materielle Interessiertheit eine wichtige Funktion bei der Gestaltung des Menschen- und Gesellschaftsbildes hat. Aber zurück zu Ole Bienkopp, dessen soziale Charakteristik der Autor besonders sorgfältig ausarbeitete. Innerhalb des bäuerlich-ländlichen Milieus wächst Ole als Waldarbeitersohn in ausgesprochener Gegnerschaft zum bäuerlichen Streben nach Privatbesitz an Boden und anderen Gütern heran. Damit ist für ihn die Genossenschaft gleichsam die Naturform sozialer Existenz. Ole will nichts für sich, aber er ist dennoch kein Mann des Verzichts, er ist kein Asket. Sein Leben erscheint reich und erfüllt, weil er sein Hauptbedürfnis - das nach schöpferischer Arbeit - voll entwickelt und befriedigt. Er kann dies, weil er erstens frei ist von Privatbesitzerinteressen, weil zweitens die Genossenschaft die soziale Form darstellt, die seiner Arbeit unmittelbar sichtbar ihren Sinn gibt, und weil er drittens im ländlichen Milieu, bei nicht vollentwickelter Arbeitsteilung und in der direkten Konfrontation mit dem Naturstoff, die Anreize zu vielfältigsten Tätigkeiten vor sich sieht. Trotz der Unterschiede in den subjektiven Triebkräften, die zwischen Ole Bienkopp und Balla bestehen, ähneln beide einander darin, daß Arbeit für sie elementares Bedürfnis ist. Voraussetzung dafür ist, wie gesagt, daß die Arbeit den Menschen in der Vielfalt seiner Anlagen fordert und entwickelt. Auch Bailas Arbeit ist äußerst abwechslungsreich, beansprucht körperliche und in wachsendem Umfang auch geistige Fähigkeiten - einmal im Zimmermannsberuf selbst, wo große technologische Veränderungen neue Fertigkeiten und Überlegungen in hohem Maße fordern, zum anderen in seiner Funktion als 109

Brigadier, die ihn zu disponieren, mit Menschen umzugehen und vielerlei soziale Kontakte zu pflegen veranlaßt. Wenn aber von derart schöpferischer Arbeit, von Arbeit, die ihren subjektiven Zweck nicht mehr vorwiegend in der Entlohnung findet, die Rede ist, so haben wir es mit Momenten kommunistischer Arbeit zu tun. Sie werden möglich, weil beide Autoren, als die Grundlagen des Sozialismus gerade geschaffen sind, ihre Helden in reale, damals durchaus vorhandene Bedingungen hineinstellten, die ihnen sowohl Bedürfnisbefriedigung als auch Entwicklung ihrer Anlagen und Kräfte ermöglichten. Obwohl in den Alltag eingebettet, sind solche Bedingungen jedoch keineswegs bereits für alle oder für die Mehrheit der Werktätigen gegeben oder herstellbar. „Kommunistische Arbeit im engeren und genauen Sinne des Wortes", sagt Lenin, „ist unbezahlte Arbeit zum Nutzen der Gesellschaft, die man leistet, nicht um eine bestimmte Dienstpflicht zu erfüllen, nicht um Anspruch auf bestimmte Produkte zu erhalten, Arbeit, die nicht nach vorher festgelegten gesetzlichen Normen geleistet wird, sondern freiwillige Arbeit, Arbeit ohne die Bedingung der Entlohnung, aus der Gewohnheit, für das Gemeinwohl zu arbeiten, und aus der (zur Gewohnheit gewordenen) Erkenntnis von der Notwendigkeit für das Gemeinwohl, Arbeit als Bedürfnis eines gesunden Organismus." Lenin fährt fort: „ E s ist jedem klar, daß wir, d. h. unsere Gesellschaftsordnung, noch sehr, sehr weit davon entfernt sind, daß wirklich breite Massen eine s o l c h e Arbeit leisten." 1 8 Wenn die hier betrachteten Werke Gestalten vorführen, für die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern in gewissem Umfang schon „selbst das erste Lebensbedürfnis geworden" 1 9 ist, dann sind auch immer die entsprechenden Bedingungen mitgegeben: zunächst die stillschweigende Voraussetzung, daß Essen, Trinken, Kleidung, die für die Lebensfunktionen unabdingbaren Bedürfnisse, so weit befriedigt sind, daß mir voller geistiger und körperlicher Kraft, mit dem Genuß dieser Kraft, gearbeitet werden kann. D a s war vorausgesetzt auch schon in den Gedichten Maurers, bei Brechts Tschaganak Bersijew, sogar - unter Verhältnissen allgemeinen Mangels - bei Aehre, der sich als Aktivist mehr leisten konnte als andere, und erst recht bei Baila und Bienkopp. Dann aber haben all diese Ge110

stalten auch die Möglichkeit - die Freiheit von Ausbeutung wird als allgemeinste, allmählich selbstverständlich werdende Bedingung im Lauf der literarischen Entwicklung immer weniger ausdrücklich genannt - , im erwähnten Sinn schöpferisch zu arbeiten. Aus dem Zusammenwirken dieser Momente ergibt sich eine besondere Funktion und Wirkungschance solcher Figuren: Durchaus in der Realität angesiedelt, haben sie zugleich Entwurfscharakter, sie reizen an, im Prozeß gesellschaftlicher Selbstverständigung, den die Literatur vermittelt, wichtige Elemente künftigen Lebens dem Denken und Fühlen einzuprägen. Gewisse Züge kommunistischer Arbeit konnten bereits in den frühen Phasen sozialistischer Gesellschaftsentwicklung realistisch gestaltet werden - freilich, wie wir sahen, nur in besonderen Fällen. Da erschien in der Mitte der sechziger Jahre eine literarische Figur und forderte die voll befriedigende, schöpferische, „schöne" Arbeit für alle und gerade für diejenigen, die unter rückständigen Produktionsbedingungen einförmige Arbeit zu leisten hatten: der Kipper Paul Bauch, geschaffen von dem damals fünfundzwanzigjährigen Volker Braun. Hier wurde der Widerspruch zwischen dem vom Sozialismus produzierten Lebensanspruch und der historisch begrenzten Möglichkeit, ihn zu realisieren, auf die Spitze getrieben. Braun warf die Frage auf, ob und wie das Schöpferische, das gerade den Anfängen des Aufbaus so fühlbar eigen war, in den Alltag einer - in ihren Grundzügen - bereits sozialistischen Gesellschaft überführt werden könnte. Die Eingangsszene des Stücks Die Kipper zeigt exemplarisch, daß eine neue Phase begonnen hat: Bauch will die Baustelle, auf der er seit einiger Zeit arbeitet, verlassen, wie er andere vorher verließ. Ihn zieht es immer dahin, wo etwas neu begonnen und eine unqualifizierte Arbeit dadurch interessant wird, daß im sichtbaren Wachstum neuer Anlagen auch der ungelernte Arbeiter sich als Mitschöpfer des Neuen fühlen kann. Ist der Betrieb erst eingespielt, so befriedigt ihn die Arbeit nicht mehr. Die ewig gleichen drei Handgriffe ermüden Geist und Körper, und im Hin- und Herbewegen des Sandes sieht man nicht, was man tut, fühlt sich an nichts Großem beteiligt. In dem Augenblick, da Bauch aufbrechen will, geschieht etwas

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Unerhörtes: Ein junger Mann tritt auf, der genau von der Baustelle fortgegangen ist, zu der Bauch wollte. Und zwar ging er von dort aus den gleichen Gründen fort, die Bauch von hier wegtreiben. Bauch begreift, daß die Zeit der typischen „Baustellen"-Situation, die Zeit, in der man vom Enthusiasmus des Neubeginns leben konnte, vorbei ist. Es gilt, sich einer neuen Situation, dem Alltag, zu stellen. Und da Bauch sich nicht damit abfinden will, daß dieser Alltag grau ist, kommt er auf die Idee, die Arbeit an Ort und Stelle zu einer „schönen", den Menschen ganz und gar fordernden und befriedigenden Sache zu machen. Braun zeigt im Thema des Verhältnisses von Mensch und Arbeit - und dies mußte schockierend wirken - , daß mit dem Eintritt in eine höhere Phase nicht alles leichter, sondern einiges auch schwieriger wurde. Indem er durch seine Zentralfigur die „Gründer'-Situation, den heutigen Alltag und die auf den Kommunismus orientierte Perspektive gleichzeitig zur Sprache bringt, also nach der Einheit und Differenz der Phasen des Sozialismus/Kommunismus fragt, stellt er besonders drastisch die Dialektik des Fortschritts zur Diskussion. Die Beziehung von Teil und Ganzem, das Verhältnis des einzelnen Schritts nach vorn zum Ziel der Gesamtbewegung wird provozierend •erfragt, wenn Bauch unverzüglich die „schöne" Arbeit für Kipper einführen will - ohne auf die materiell-technischen Voraussetzungen viel Rücksicht zu nehmen. Das kann nicht gut gehen: Bauch richtet viel Schaden an, er zerstört Werte, und ein Arbeiter verliert durch gewaltsam forcierte Leistungssteigerung ein Bein. Einerseits ist Bauch damit widerlegt (man kann den zweiten, dritten und vierten Schritt nicht vor dem ersten tun), andererseits aber wird er doppelt bestätigt durch die von ihm initiierte Entwicklung der Brigade und durch die schrittweisen Veränderungen der Arbeitsbedingungen. Schließlich hat er den Prozeß eingeleitet, in dem das Ziel Stücik für Stück, •nach Maßgabe der gesellschaftlichen Möglichkeiten, näher gerückt wird, in dem also Ziel und Weg eine dialektische Einheit werden. Der Anspruch auf das Ganze wirkt durchaus als Triebkraft, wenn er von den Arbeitern aufgenommen wird und sich mit ihren kollektiven Erfahrungen und ihrer Diszipliniertheit vereint. Folgerichtig wächst die Brigade, die Bauch in Bewe112

gung gebracht hat, ihm über den Kopf und treibt den vorläufig nicht lernbereiten Brigadier aus. Aber sie hat zugleich sein Erbe angetreten. Paul Bauch leidet keine Not, die Deckung seines Bedarfs an Konsumgütern ist nicht sein Problem. Offensichtlich ist es eher möglich, die Konsumbedürfnisse der Menschen zu befriedigen als ihr Bedürfnis nach tätiger Selbstverwirklichung in der Arbeit. Offensichtlich ist aber auch, daß sich derartige Wünsche und Erwartungen im Hinblick auf die Arbeit in der sozialistischen Literatur der siebziger Jahre häufiger artikulieren.

4 Sei einiger Zeit wird von einem „Neuansatz" in der Gestaltung der Arbeiterklasse in einigen Literaturen der sozialistischen Staatengemeinschaft um die Wende der sechziger/ siebziger Jahre gesprochen. Dieser Neuansatz steht im Zusammenhang mit der Gestaltung des reifen Sozialismus und des Kommunismus, die in den Dokumenten des X X I V . Parteitages der K P d S U und des VIII. Parteitages der S E D ihre theoretische Verallgemeinerung fanden. Die Feststellung z. B., daß „die maximale Befriedigung der materiellen und kulturellen Bedürfnisse der Menschen das höchste Ziel der gesellschaftlichen Produktion im Sozialismus" 2 0 ist, daß „die Wirtschaft Mittel zum Zweck" 2 1 ist und daß „dieser gesetzmäßige Zusammenhang zwischen Produktion und Bedürfnissen der Menschen [. . .] immer unmittelbarer wirksam" 2 2 werden kann und muß, hat für eine Literatur, die den produzierenden Menschen zum Gegenstand macht, besondere Bedeutung. Ebenso sind aus der sozialistischen ökonomischen Integration und aus der Forderung, die Errungenschaften der wissenschaftlich-technischen Revolution mit den Vorzügen des Sozialismus zu verbinden, auch für die Literatur weitreichende Konsequenzen abzusehen. Und in der Tat zeigten die Debatten vor, auf und nach dem VII. Schriftstellerkongreß der D D R einige interessante neue Akzente und Tendenzen im Verhältnis von Literatur, Arbeit und Arbeiterklasse. Zahlreiche Schriftsteller berichteten von 8

Kaufmann, Studien

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ihren Aufenthalten, Studien und praktischen Tätigkeiten in Produktionsbetrieben als von selbstverständlichen Gewohnheiten, u. a. Helmut Baierl, Franz Fühmann, Werner Heiduczek, Karl-Heinz Jakobs, Margarete Neumann, Erik Neutsch, Joachim Nowotny, Herbert Otto, Helmut Richter, Helga Schütz, Benito Wogatzki. Es bedurfte dazu keiner organisierten Kampagnen mehr, weil die Schriftsteller selbst das Bedürfnis spürten, mit diesem Bereich unseres Lebens unmittelbar Berührung zu haben und dort Impulse verschiedenster Art zu sammeln, auch wenn damit noch kein bestimmtes literarisches Projekt verbunden war. Solche Initiativen gelten nicht mehr als besondere, hervorhebenswerte Leistung, sondern als unverzichtbare Voraussetzung künstlerischen Schaffens. Diesen organisch gewachsenen Praxisbeziehungen war es wohl auch zu verdanken, daß z. B. in der Diskussion der Arbeitsgruppe „Literatur und Wirklichkeit" viel über Fakten, Vorfälle, Probleme, Personen und Geschichten aus diesem Erfahrungsbereich gesprochen wurde. Scheinbar weniger direkt mit den praktischen künstlerischen Sorgen der Schriftsteller verbunden als die um die „Poesie der Arbeit" 23 geführte Debatte, kann eine solche Verständigung über die Wirklichkeitsverhältnisse manches literarische Problem überraschend aufhellen. Immer wieder zeigt sich, daß die Fragen nicht enden, sondern anfangen, wenn man sich darüber einig ist, daß Arbeit und Arbeiterklasse in unserer Literatur wirkungsvoller zur Geltung gebracht werden müßten. Es gibt im Konkreten viele offene Fragen und Meinungsverschiedenheiten. Das mag erklären, warum die genannten praktischen und theoretischen Bemühungen in literarischen Werken noch verhältnismäßig wenig Niederschlag fanden. In den letzten Jahren dominierten durchaus andere Themen- und Stoffkreise in unserer Literatur, und Produktionsarbeiter waren in ihrer Figurenwelt bekanntlich rar. Unter diesen Bedingungen können Versuche, den Selbstverständigungsprozeß des Schriftstellers künstlerisch zu gestalten, weiterhelfen. Das geschieht z. B., wenn Franz Fühmann in seiner Geschichte Bagatelle, rundum positiv24 die Schwierig114

keiten eines Schriftstellers, seiner Verantwortung gegenüber der Arbeiterklasse gerecht zu werden, in mancherlei dialektischen Wendungen vorführt. In den letzten Jahren gibt es bei der Gestaltung des Verhältnisses von Mensch und Arbeit manche noch ungenügend ausgewertete positive Erfahrung. Dazu gehört auch Erwin Strittmatters Erzählung Der Stein. Ihre polemische Spitze richtet sich gegen Auffassungen, die eine solche Geschichte für einen „verflucht privaten Spaß" und dementsprechend für „unerwünscht"25 halten. Dabei geht es sehr direkt und ausschließlich um Arbeit, in einer Weise allerdings, die nicht auf einen bestimmten Produktionszweck zielt, sondern der Verständigung über einen tiefen sozialen und menschheitsgeschichtlichen Zusammenhang dient. Das mag angesichts der Alltäglichkeit der erzählten Begebenheit paradox klingen. Indem minutiös motiviert wird, wie und warum der Traktorist Wurzel ohne Auftrag und Entgelt, mit größten Anstrengungen und Triumphgefühlen einen riesigen Findling, der ihm beim Pflügen in die Quere kam, vom Acker bugsiert, wird anschaulich, wieviel sich im Verhältnis von Mensch, Natur und Technik durch die sozialgeschichtlichen Veränderungen gewandelt hat. Gerade die Tatsache, daß Wurzel diese Arbeitsanstrengung als „privaten Spaß" erlebt, besagt viel über den gesellschaftlichen Fortschritt. Diese Geschichte ist ein Hymnus auf die wachsenden Fähigkeiten des Menschen, seine Verhältnisse zu meistern - und darin z. B. den lyrischen Bemühungen Maurers aus den fünfziger Jahren gut vergleichbar. Damals ergab sich die hohe Rhetorik daraus, daß die befreite Arbeit vorwiegend noch als neue geschichtliche M ö g l i c h k e i t gefeiert wurde, heute wird ihr heiter-„prosaisches" Lob aus der R e a l i t ä t des Alltags gewonnen. Eine solche Geschichte hätte zwanzig Jahre früher nicht geschrieben werden können; sie setzt eine bestimmte gesellschaftliche Reifestufe voraus und dokumentiert sie zugleich. Hier zeigt sich eine seit dem Ende der sechziger Jahre in unserer Literatur häufiger auftretende Tendenz, das neue Verhältnis von Mensch und Arbeit philosophisch vertieft zu betrachten und aus dieser Sicht den Ansatz für reizvolle poetische Fabeln, Sujets und Figuren zu gewinnen. Man entdeckt Möglichkeiten, über dieses große Thema und diesen „spröden" 8»

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Stoff unbefangen zu fabulieren. So z. B. Joachim Nowotny in seiner Geschichte Der kleine Riese26. Auch hier steht die kleine Begebenheit in dem großen Beziehungsgefüge Mensch-NaturTechnik. In diesem geschichtsphilosophischen Kontext kann der Autor wahrscheinlich machen, wie ein Mann durch seine erste erfolgreiche Bekanntschaft mit der Technik ein so hohes Maß von Selbstbewußtsein gewinnt, daß sein Leben von nun an eine neue Richtung nimmt. Diese beiden Erzählungen - und noch einige andere, von denen hier nicht die Rede sein kann - gehen unter einem speziellen Aspekt der übergreifenden Frage nach, welche Rolle die Arbeit für die Vermenschlichung des Menschen spielt. Diese Frage aller Fragen mußte verständlicherweise auch zu weitausholender epischer Behandlung im Roman verlocken. In Joachim Knappes Roman Die Birke da oben z. B. bildet sie den Zielpunkt der Handlung: Am Ende des Buches nimmt der Arbeiter Runewski seine Kinder zu sich, die er nach dem Tode seiner Frau für Jahre der Obhut einer Bekannten überlassen hatte. Als der Krieg endete, war er in einem solchen Maße demoralisiert, daß er die elementare menschliche, ja kreatürliche Fähigkeit eingebüßt hatte, sich um seine Kinder zu kümmern. In diesem Stadium geistiger und seelischer Lethargie können ihm auch die Begegnungen mit Frauen nicht helfen. Liebe bedarf offensichtlich bestimmter Voraussetzungen, die außerhalb der intimen oder Familienbeziehung gewonnen werden müssen. Und sie werden gewonnen. Zwei Dinge retten und wandeln Runewski: Der Selbstmord eines jungen Burschen führt ihm den Wert des Lebens, dessen er überdrüssig ist, drastisch vor Augen. Das Erlebnis, das seinen „Aufstieg von den Toten" 27 endgültig macht, ist die befreite Arbeit. Der Auftrag, aus einem halbzerstörten Fabrikkeller eine funktionstüchtige Werkstatt herzurichten, bringt seine Lebensgeister in Bewegung wenn auch zunächst in Mißtrauen, Abwehr und Feindseligkeit. Die innere Auseinandersetzung um diesen Auftrag und seine praktische Ausführung, die dem Arbeiter ein niegekanntes Gefühl von Wert und Würde geben, führt Knappe in einer packenden dramatischen Handlung vor. Dabei spielen Faktoren eine Rolle, die im Laufe dieser Untersuchung mehrfach zur Sprache kamen (Entdeckung und Entwicklung neuer Fähigkeiten, Be116

friedigung durch schöpferische Arbeit, die Freude, nicht „nur zum Zwecke des Geldverdienens zu arbeiten" 28 usw.). Eines ist in Knappes Darstellung besonders auffällig: Runewski braucht zu seiner Menschwerdung Klassenbewußtsein. Im faschistischen Deutschland hatte er als junger Arbeiter kein Klassenbewußtsein und kein Selbstbewußtsein gewinnen können. Beides hängt - das bringt Knappes Buch sehr poetisch zur Anschauung - untrennbar zusammen. Beides gewinnt Runewski nicht durch abstrakte Überlegungen oder theoretische Studien, sondern durch praktische Tätigkeit, durch die aus der Arbeitsbeziehung sich ergebenden Reibungen mit anderen Menschen, mit anderen sozialen und politischen Positionen. In der befreiten Arbeit holt Runewski aktiv das Erlebnis der Befreiung nach, für die er 1945 keine Augen und Ohren gehabt hatte. In einer bestimmten Handlungssituation sagt Runewski einmal: „Diese Fabrik hier fabriziert Menschen" 29 , während die Leute meinen, es ginge nur um die Produktion bestimmter Maschinen. Es geht - wäre hinzuzufügen - im Buch vorrangig auch um die Formierung der Klasse (wir waren bei Zement auf einen analogen Vorgang gestoßen). Aus der sozialen und geschichtlicher Durchdringung des Zusammenhangs von Arbeit und Menschwerdung zieht Knappe für die Menschen- und Gesellschaftsgestaltung großen Gewinn. Fast alle literarische Werke, die in dieser Untersuchung bisher erörtert wurden oder noch werden, stellen die vermenschlichende Funktion der Arbeit heraus. Dabei handelt es sich offensichtlich immer um bestimmte Arten von Arbeit sowie um bestimmte soziale und Umweltbeziehungen, in denen die jeweilige Tätigkeit steht. Hervorgehoben werden soll der schöpferische Charakter von Arbeit. Das hat einerseits zur Folge, daß ein sehr großer Teil von Tätigkeiten aus dem Bereich der materiellen Produktion und von Menschen, die sie ausüben, in der Literatur überhaupt nicht erscheint. Andererseits ist zu beachten, daß das, was als schöpferische Arbeit aufgefaßt wird, nie durch ein einziges, etwa ein technologisches Kriterium ein für allemal bestimmbar ist. Unter verschiedenen Umständen können gleiche Arbeitsvorgänge sowohl schöpferisch als auch unschöpferisch sein und empfunden werden. Einige in der Literatur bevorzugte Berufe, Arbeitssitua117

tionen und -milieus lassen sich besonders herausheben. Dabei stützen wir uns auch auf Werke aus der neuesten Sowjetliteratur. Schöpferisch tätige Arbeiter sind in Büchern, die die A n f ä n g e des sozialistischen Aufbaus darstellen, besonders häufig. In einer gesellschaftlichen Situation, da größter Mangel an materiellen Ressourcen, entwickelter Technik und qualifizierten Kadern herrschte, konnten und mußten Arbeiter vom Typus eines Hans Aehre, Gleb Tschumalow oder Max Runewski unter äußerster Kraftanstrengung auf allen Gebieten Initiative und Erfindungsgeist entwickeln. So wurden sie selbst zu vielseitig fähigen starken Persönlichkeiten. Das prägte den historisch bedingten Charakter und Reiz der „Griinder"-Gestalten. Im Zusammenhang mit solchen ersten Anfängen, aber auch in fortgeschritteneren Phasen des Aufbaus wird oft das „Milieu" der Baustellen gewählt (u. a. von Neutsch, Braun, Nowotny, Jakobs, Marchwitza). Diese Handlungsschauplätze haben immer etwas vom „ersten Schöpfungstag" an sich. In bezug auf Beispiele der frühen Sowjetliteratur heißt es: „Die Atmosphäre des gewaltigen gesellschaftlichen Aufschwungs [ . . . ] machte es möglich, jeder beliebigen, sogar der schwersten und eintönigsten Arbeit einen sozialen und schöpferischen Inhalt zu geben. Die Schläge mit der Spitzhacke beim Bau der Turksib und des Magnitogorsker Kombinats, des Dneprkraftwerks und der Stalingrader Traktorenfabrik waren durchaus nicht nur E r d arbeiten': die Erdarbeiter fühlten sich als Bahnbrecher, als Forschungspioniere, die den Weg in eine unbekannte Zukunft bauten." 30 Hinzu kommt, daß das auf solchen Baustellen übliche Gemeinschaftsleben meist junger Leute, die Abwechslung in der Arbeit, eine gewisse Atmosphäre von „Romantik" sowie abenteuerliche Zwischenfälle und Schwierigkeiten aller Art die besten „natürlichen" Bedingungen für die Persönlichkeitsformung und die dynamische Entwicklung der zwischenmenschlichen Beziehungen abgeben. Im Bereich der industriellen Produktion gehören zu den bevorzugten Berufen vor allem Hochöfner, Bergleute, Schweißer und diverse Bauberufe 31 * (siehe Popow, Bokarjew, Wogatzki, Baierl, Kolesnikow, Neutsch, Jakobs, Viertel, Otto, Nowotny). 118

Wladimir Popow, der Verfasser von Havarie im Stahlwerk, meint dazu, es sei „leichter und dankbarer, über Stahlwerker zu schreiben als über Arbeiter an anderen Produktionsabschnitten, denn die Arbeit am Schmelzofen sei immer schöpferisch, kein Schmelzvorgang gleiche dem anderen". 32 Die genannten Berufe sind wenig monoton und vereinen in verhältnismäßig hohem Maße die körperliche mit der geistigen Arbeit. Dieses Kriterium gilt in besonderer Weise für die Arbeit in der Landwirtschaft. Nicht zufällig stammen zwei Urbilder des schöpferisch tätigen Menschen - Tschaganak Bersijew und Ole Bienkopp - aus dieser Sphäre. Dabei ist wohl zu beachten, •daß es sich in diesen Fällen nicht um die moderne industriemäßig betriebene und stärker arbeitsteilig organisierte Landwirtschaft handelte, wie sie sich heutzutage entwickelt. Diese •neuen Bedingungen und ihre widerspruchsvollen Auswirkungen auf die Menschen spiegeln sich in ersten Ansätzen in Vetters fröhliche Fuhren von Martin Stade und Karen W. von Gerti Tetzner. Eine besondere Chance für schöpferische Arbeit und Persönlichkeitsentwicklung von Arbeitern liegt offenkundig im Amt des Brigadiers und Meisters. Die Notwendigkeit zu disponieren, zu organisieren, mit sehr verschiedenartigen Menschen umzugehen, verlangt und entwickelt vielseitige Fähigkeiten. (Das bestätigen die entsprechenden Figuren bei Erik Neutsch, Volker Braun, Karl-Heinz Jakobs, Benito Wogatzki, Herbert Otto und anderen). Gern werden Arbeitssituationen gewählt, in denen ein Arbeiter mit einer Maschine oder mit technischen Apparaturen zu tun hat, die er vollkommen überschaut und beherrscht und dadurch unmittelbar als seinen „verlängerten Arm" oder Vervielfältigung der eigenen Kräfte erlebt. Es ist eine Beziehung zwischen Mensch und Arbeitsmittel, in der der einzelne Mensch und nicht die Technik das Arbeitstempo bestimmt, in der der Mensch nicht als bedienendes Anhängsel, sondern als Schöpfer und Lenker der Technik, als Subjekt auftritt. Es sind bei Strittmatter der Traktor, bei Nowotny die Ramme, bei Maurer der Schreitbagger, bei Viertel das Bohrgerät des Bergmanns,33* in den Erzählungen Wolfgang Müllers die Flußkähne, bei Michail Rostschin34 die Drehbank, die diese Funktion haben. 119

Wie sich zeigt, sind viele Schriftsteller beim Aufspüren der für schöpferische Arbeit günstigen Bedingungen zu ähnlichen Lösungen und wichtigen künstlerischen Entdeckungen gekommen. Erinnern wir noch einmal an die Erzählungen Der Stein und Der kleine Riese, die vom Verhältnis Mensch-NaturTechnik eine positive Modellvorstellung entwerfen. Sie hat ihre Poesie, ihre Berechtigung - aber auch ihre Grenzen. Es handelt sich jeweils um verhältnismäßig isolierte Fälle, Figuren und Beziehungen, die von einzelnen leicht überschaut und beherrscht werden können. In dieser Vereinfachung treffen sie jedoch nicht zu auf jene massenhaften komplizierten Beziehungen von Mensch und Technik und vor allem zwischen Mensch und Mensch, wie sie in der modernen industriellen Produktion seit langem, und mit fortschreitender wissenschaftlich-technischer Revolution zunehmend, existieren. Dieser komplizierten Beziehungsstruktur stellte sich Anna Seghers z. B. bewußt, als sie den Großbetrieb zum zentralen Schauplatz und kompositorischen Kernpunkt des Romans Das Vertrauen machte. Das für den industriellen Großbetrieb charakteristische Gefüge menschlicher und sozialer Beziehungen war der geeignete Rahmen, um komplizierte gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge und Prozesse aufzuhellen. Wie verläuft Persönlichkpitsentwicklung und wie gestalten sich zwischenmenschliche Beziehungen, wenn der einzelne Arbeiter innerhalb eines nicht unmittelbar überschaubaren technischen und sozialen Mechanismus steht, wenn Produzent und Produkt weit auseinanderliegen, wenn Produzenten über ihre Produkte miteinander in Beziehung stehen, ohne, einander persönlich zu kennen usw.? Das aber sind die hauptsächlichen Bedingungen, unter denen sich die Persönlichkeiten und ihre Beziehungen in unserer entwickelten sozialistischen Gesellschaft herausbilden. Vermag Literatur in diese Prozesse einzugreifen? Bei Nowotny konnte sich der bislang geduckte Herr Radewagen plötzlich als Riese fühlen, weil er lernte, die Ramme nach seinem leisesten Fingerdruck tanzen zu lassen; damit vermochte er sich die Achtung anderer zu verschaffen. Eindeutig ist dieser Mensch Herr über seine Arbeitsbedingungen. Ein Verhältnis der Überlegenheit dieser Art stellt sich bei einem ungelernten Arbeiter, der einige wenige Teilfunktionen 120

eines riesigen chemischen Aggregats zu überwachen hat, nicht ohne weiteres ein. Von einem solchen Menschen und entsprechenden Lebensverhältnissen handelt z. B. Margarete Neumanns Erzählung Wälder (1974). Wo sich der Mann früher als Waldarbeiter im Umgang mit der lebendigen Natur „heimisch"35 fühlte, erstreckt sich jetzt ein Riesenwerk, in dem er gewissenhaft seine Kontrollgänge macht. Der Leser muß selbst die Antwort finden, ob sich der Mann in diesen Lebensbedingungen „heimisch" fühlt. Ist diesem elegisch gefaßten Einzelfall im Ensemble unserer Literatur seine Berechtigung abzusprechen? Gerade die Produktionssphäre bringt eine besonders große Mannigfaltigkeit an Lebenserscheinungen hervor. Im Gesamtbild unseres Lebens und unserer Literatur darf vor allem der Typ des Arbeiters nicht fehlen, dessen eigentliches Lebenselement objektiv und subjektiv - wie bei Jakobs' Elsa Baumann 36 — die große Industrie und ihre besonderen sozialen Beziehungen sind.

5 Daß heute über Arbeit anders geschrieben werden muß als in den zwanziger oder dreißiger Jahren, hat sich in der seit einigen Jahren in der Sowjetunion geführten öffentlichen Literaturdiskussion immer klarer herausgeschält. Das Warum und Wie solcher Veränderungen beschäftigt die Disputanten — Schriftsteller, Literaturwissenschaftler und Vertreter der Produktionspraxis - nach wie vor stark. Dabei traten, das machte die Auswahl der in deutscher Ubersetzung vorliegenden Diskussionszeugnisse37 hinreichend deutlich, außerordentlich interessante Fragen und Aspekte und zum Teil weit auseinandergehende Positionen zutage. Dieser seit Jahren unvermindert lebhaft geführte, anregende Streit verdankt seine Existenz nicht zuletzt dem Umstand, daß eine Reihe von literarischen Werken erschienen war, die zum Streit 38 * herausforderten, weil sie in manche gewohnte Vorstellung über Literatur und Arbeit nicht hineinpaßten. So wurde vor Jahren z. B. mit Erstaunen registriert, daß ein unvermutet lebhafter spontaner Andrang zu Dworezkis Stück Der Mann von draußen zu verzeichnen war, 121

obwohl es dem Typus des „reinen Produktionsstücks" 39 ähnlich war, das seit langem keine Anziehungskraft hatte. Nach drei bis vier Jahren weiterer Literaturdiskussion wurde resümiert, d a ß dieses Stück trotz seiner zahlreichen Mängel eine erstaunliche Ausstrahlung 40 * gehabt und dazu beigetragen habe, den Blick für eine tiefere historische und wirklichkeitsverbundene Betrachtung der Problematik von Literatur und Arbeit zu schärfen. Dworezkis Stück, aber auch einige andere in der D D R bekanntgewordene Werke, darunter Schatrows Stück Das Wetter für morgen, Lipatows Roman Die Mär vom Direktor P. oder der Einakter des Bulgaren Chaitow Wege überraschen durch originelle Charaktere und Kollisionen, durch ungewöhnliche Fragestellungen und formale Lösungen. In zugespitzt polemischer Weise stellen sie sich brennend aktuellen Lebensfragen. Liebgewordene Muster von „reinen" Identifikations- oder Vorbildfiguren werden bei Betrachtung dieser Werke gänzlich unbrauchbar. Einer ihrer Vorzüge besteht darin, daß sie alltägliche menschliche Haltungen und Kollisionen auf soziale und ökonomische Grundprozesse zurückführen, daß sie sich nicht mit leichten Antworten zufrieden geben, sondern den Dingen auf den Grund gehen. Michail Schatrows Stück Das Wetter für morgen zeigt in zahlreichen locker verbundenen Episoden, mit welcher Fülle komplizierter Widersprüche die Arbeiter und Leiter des bekannten Automobilwerkes in Togliatti zu kämpfen haben - obwohl es mit den modernsten technischen Anlagen ausgerüstet ist, mit weit effektiveren Methoden geleitet wird als andere Betriebe und für seine Mitarbeiter in sozialer und kultureller Hinsicht mehr leistet als andere. Von Szene zu Szene mehren sich die Fragen, woran es liegen mag, daß allenthalben Pannen auftreten und Menschen - es sind durchweg keine schlechten - in Konflikte geraten. Die Schuldfrage stellt sich um so dringlicher, als das Stück, eine „Reportage vom Ort des Geschehens in Dialogen, Briefen, Telegrammen und anderen Dokumenten" 41 , direkt auf namentlich kenntlich gemachte Wirklichkeitsumstände zielt. Zunächst scheint es, als ob es ausreiche, auf das Versagen einzelner Leiter und Arbeiter aufmerksam zu machen. Aber im Verlauf des Stücks wird klar, daß dies erst die halbe Wahrheit 122

wäre. Schatrow führt schrittweise zu der Erkenntnis, daß die Schwierigkeiten aus objektiven sozialökonomischen Widersprüchen, aus dem Fortschreiten der sozialistischen Entwicklung selbst erwachsen. Mit einer moralisierenden Formel vom „Kampf zwischen Gut und Böse" oder dergleichen ist diesen Prozessen nicht beizukommen. „Schuld" trägt in diesem Falle der Umstand, daß das Automobilwerk im sozialen, technischen und organisatorischen Niveau so stark vorprescht, daß zwischen ihm und dem Durchschnitt der über das ganze Land verteilten Zulieferindustrie ein großes Mißverhältnis besteht, das zu absurd anmutenden Zwischenfällen und Produktionsstörungen führt und die Menschen dabei ernstlich in Mitleidenschaft zieht. Wenn z. B. die gigantische Taktstraße, auf der die bekannten Shigulis montiert werden, beinahe stillgelegt werden muß, weil die Fußmatten - eines der tausend Ausrüstungsdetails - ausfallen und diese Panne von Großvater Akop, dem Wächter eines Jerewaner Betriebes, verursacht wird, der die Matten nicht in das bereitgestellte Flugzeug verladen läßt, weil nicht der rechte Passierschein mit der rechten Unterschrift vom Vertreter des Shiguli-Werks vorgewiesen und auch nicht gleich beschafft werden kann, weil Sonnabend ist usw. - ein Vorgang, bei dem man nicht weiß, ob man lachen oder weinen soll - , dann ist es unsinnig, auf Großvater Akop oder irgendeinen anderen zu schimpfen. Es geht im Stück überhaupt nicht um Schimpfen oder Wehklagen, sondern darum, Ursachen und Zusammenhänge durchschauen zu lernen. Erkannt werden soll, daß es sich hier um objektive Bedingungen handelt, die weder mit moralischen Appellen oder enthusiastischen Aufwallungen aus der Welt zu schaffen sind, die vielmehr in langwierigen mühevollen sozialökonomischen Prozessen zu verändern sind. Ist demnach das Durchschauen des Produktionsmechanismus der Zweck dieses Stücks? Formal gesehen ja. Ausgangs- und Zielpunkt der Handlung ist, ob der 500 000. Shiguli termingemäß vom Band läuft. Das ist der Sache nach durchaus nicht unwichtig. Aber wo bleibt da der Mensch? Letzten Endes wird der unendlich komplizierte Mechanismus vom Taktstraßenarbeiter über Dispatcher und diverse Direktoren bis hin zum Generaldirektor und Mitarbeiter der Parteiführung daraufhin untersucht, wie und warum es wiederum von jedem einzelnen 123

abhängt, ob das Ganze funktioniert. Und es soll schließlich so funktionieren, daß dabei das richtige politische, ökonomische und moralische Klima, das „Wetter für morgen", der Kommunismus entstehen kann. Aus diesem Grunde führt Schatrow seinen Generaldirektor in eine große Versuchung. Infolge objektiver Schwierigkeiten müßte mit betrügerischen Manipulationen gearbeitet werden, um den 500 000. P K W termingemäß und feierlich vom Band rollen zu lassen. D a s entspräche gewohnten Praktiken. Aber an dieser Stelle bricht der Generaldirektor aus; lieber riskiert er einen Skandal. E r wehrt sich gegen „Potemkinsche Dörfer", weil sich die Menschen „das Recht auf Wahrheit schwer genug verdient" 4 2 haben. D e r menschliche Zweck des Produzierens steht auf dem Spiel; Schatrow zeigt, daß dies durchaus keine nur theoretische, sondern eine Frage des täglichen praktischen Lebens ist. Gerade in der Produktion, durch die die Menschen ihre wichtigsten Lebenseindrücke empfangen, geht es um „eine solche gesellschaftliche Atmosphäre, ein solches soziales Wetter [. . .] d a ß jeder sich an seinem Platz wie der Vorsitzende des Ministerrats fühlt!" 4 3 Das klingt angesichts der vorgeführten Lebensverhältnisse sehr nach Zukunftsmusik. Andererseits - wem ist das „Wunder" zu verdanken, wenn am Ende der 500 000. Wagen wider E r warten planmäßig und ohne Betrug vom Band läuft? An dieser Stelle des Stücks montiert Schatrow den Brief eines Arbeiters ein, aus dem hervorgeht, daß er den schweren technischen D e fekt behoben hat, der die große Gefahr heraufbeschworen hatte. E r handelt voll verantwortlich, obwohl er kurz zuvor schwer ire seiner Würde gekränkt worden war. Diese Wendung der E r eignisse läßt an einen deus ex machina denken und soll es wohl auch, allerdings in einer gewissen ironischen Umkehrung, die die Gedanken z. B. auf die notwendige Verbindung von wissenschaftlich-technischer Revolution mit den Vorzügen des Sozialismus lenkt. Schatrows und Dworezkis Stücke, deren Handlungsorte nie über die Grenzen des Betriebes hinausgehen, unterscheiden sich grundsätzlich von einem Literaturtypus, dem - meist in abwertendem Sinn - die Termini „Produktionsstück" oder „Betriebsroman" beigelegt worden waren. Für ihn ist vor allem charak124

teristisch: Er erweckt-infolge einer bestimmten Konfliktanlage, Figuren- und Handlungsführung - den Eindruck, als sei der Mensch für die Produktion da und nicht umgekehrt die Produktion ein Mittel zur Verwirklichung menschlicher Zwecke. Solche meist unbeabsichtigten Vertauschungen sind durch die energische Orientierung auf das dialektische Verständnis von Ziel und Mittel beim kommunistischen Aufbau durch die Partei bereits in größerem Maß abgebaut worden. Um einen anderen, nicht weniger wichtigen Aspekt sozialistisch-kommunistischer Gesellschaftsentwicklung, um Probleme kommunistischer Arbeit in dem oben zitierten Leninschen Sinne, geht es in Nikolai Chaitows Einakter WegeEs wird eine modellhaft vereinfachte Handlungssituation aufgebaut, in der der Vorsteher einer Straßenmeisterei einen alten Mann zur Verantwortung zieht, der ohne Auftrag und Entgelt im Gebirge Wege anlegt, weil es ihm einfach Freude bereitet, für andere Menschen Schönes und Nützliches zu schaffen. Der Straßenmeister schwankt, ob er den Alten als harmlosen Geistesgestörten oder gefährlichen Störenfried behandeln soll. Wozu will das Stück uns überreden? Predigt es bedingungslosen Verzicht auf Entlohnung? Stellt es sich damit in direkten Gegensatz zur Praxis des sozialistischen Lebens? Wie anders verfährt in dieser Beziehung der bulgarische Dokumentarfilm Erbauer, wenn er die materielle Interessiertheit der Arbeiter als normale sozialistische Haltung vorführt. In einer kleinen Episode dieses Films befragt ein eifriger Reporter einen älteren, hochverdienten Schornsteinbauer nach seinen persönlichen Motiven für gute Arbeit und erhält eine entschiedene Abfuhr, als er diesem die Leugnung seiner materiellen Interessen suggerieren will. Warum sollte er, der gut und mit Freude arbeitet und dabei durchaus den gesellschaftlichen Nutzen im Auge hat, auf das Geld verzichten, das er für Essen, Trinken und andere Bedürfnisse braucht? E r ist darin als klassenbewußter Arbeiter und guter Sozialist durchaus im Recht. Werfen wir an dieser Stelle kurz einen Blick auf das Stück Campanella und der Kommandeur (1972), in dem Schatrow die Dialektik von niederer und höherer Phase der kommunistischen Gesellschaft in bezug auf das Verhältnis von Arbeit und 125

Entlohnung, von materieller Interessiertheit und Bewußtheit herausarbeitet. In einer geschickt aufgebauten sozialen Experimentiersituation wird durchgespielt, welche sozialen Folgen die Abschaffung des sozialistischen Leistungsprinzips bzw. die Reduktion der Lebensweise auf den Lebensstandard verursacht. Die Prinzipien des materiellen und des ideellen Antriebs prallen in der 1. Szene in anschaulichen Stichworten aufeinander. Hier heißt es: „Weshalb ein reines Herz mit unterschiedlichen Rubeln messen. Wir wollen schön leben." Und dort tönt es: „Fünf Blaue - das ist Schönheit."45 Die Handlung erweist, daß das Leistungsprinzip selbst unter den 'Sonderbedingungen des Neulandeinsatzes von enthusiastischen Jugendbrigaden nicht willkürlich abgeschafft werden kann. Damit fällt die entscheidende Triebkraft des Handelns sozial ungleich gestellter Individuen aus. In der Gestaltung des geistigen Duells der beiden Hauptfiguren will Schatrow eine dialektische Aufhebung des zunächst unüberbrückbar erscheinenden Gegensatzes beider Prinzipien vorführen. Es geht um die komplizierte Frage, wie die sozialistische Gesellschaft auf dem Wege über die Stimulierung des materiellen Interesses zum Ziel des Kommunismus kommt, in dem die Arbeit erstes Lebensbedürfnis ist. Alle dialektischen Fähigkeiten, alles Wissen über Kampf und Einheit der Gegensätze werden angestrengt, um verständlich zu machen, daß der Kommunismus nur erreicht werden kann, indem das Prinzip der materiellen Interessiertheit gleichermaßen ausgebaut, ausgenutzt und überwunden werden muß. Es ist abzusehen, daß die Literatur unserer sozialistischen Länder noch lange mit diesem Problemkreis (hierein fallen auch die oft einseitig angelegten Auseinandersetzungen mit Konsumdenken und Kleinbürgerlichkeit im Sozialismus) zu tun haben wird. Damit zurück zu Chaitow, der in teils komischer, teils satirisch zugespitzter Weise bewußt macht, daß die heute gültige Aneignungsweise nicht das letzte Wort der Geschichte ist und daß die kommunistische menschlicher und schöner ist. Durch knappe, aber sorgfältige Handlungsmotivierung stellt Chaitow klar, daß der Alte weder ein Narr noch ein Heiliger ist, sondern ein Mensch, der sich auf Grund besonderer konkreter Lebensumstände (Gelderwerb durch Halbtagsarbeit als Flick126

schuster, einfachste Ansprüche materieller Art) das ihm teure Vergnügen leistet, Wege zu bauen. Der Charme und die Anziehungskraft des alten Wlascho liegen nicht zuletzt darin, daß sein Handeln kein mühsamer moralischer Kraftakt und nicht Aufopferung ist, sondern ein echtes Lebensbedürfnis befriedigt und so zur Quelle des Spaßes und Lebensgenusses wird. Für Wlascho ist möglich, woran Brechts Shen Te scheitern mußte, denn: „[. . .] gut sein zu anderen und zu mir konnte ich nicht zugleich."46 Wegen dieser Unvereinbarkeit mußte sie sich in zwei feindliche Wesen spalten. Von Chaitow wird die Frage umgekehrt und die Harmonie der Persönlichkeit aus der neuen geschichtlichen Möglichkeit konstituiert - wie sich zeigt, nicht ohne Kampf und Widersprüche. Diese Widersprüche liegen der Konfliktsituation von Wege zugrunde. Sie liefern auch den Schlüssel zum Verständnis der stark umstrittenen Hauptfigur in Wil Lipatows Roman Die Mär vom Direktor P. Verwirrend und provozierend wirkt hier nicht nur, daß Prontschatow unlautere Mittel anwendet, um seinen Konkurrenten im Kampf um den Direktorposten eines riesigen Flößereibetriebes auszustechen, sondern vor allem die Tatsache, daß dieses Vorgehen nicht einfach als Karrierismus abgetan wird. Der Autor unterstellt nämlich, daß dieser Posten weder mehr Geld und Macht noch andere Vorteile einbringt, sondern lediglich mehr Arbeit und Verantwortung, aber auch mehr gesellschaftliche Wirksamkeit bedeutet. Lipatow selbst formuliert kategorisch, Prontschatows Verhalten sei kein Karrierismus, „sondern die Verwirklichung des für den Sozialismus gültigen Prinzips Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung'. Die Gesellschaft würde viel verlieren, wenn sie Oleg Prontschatow nicht ermöglichte, seine Persönlichkeit vollständig zu entfalten."47 Diese bewußte Zuspitzung des Problems sollte veranlassen, nicht nur die Anwendung unlauterer Mittel zu verurteilen (das versäumen der Held und sein Autor keineswegs), sondern auch danach zu fragen, warum sie angewandt werden mußten. Erstaunlicherweise gibt sich der Autor wenig Mühe, die mindere Eignung von Prontschatows Rivalen durch diesen selbst bezeugen zu lassen. Er tritt nie in der Handlung auf und 127

wird nur beiläufig, aber mit abgrundtiefer Verachtung abgefertigt. Gegen ihn reicht ein einziges Argument: Er ist ein unschöpferischer Mensch, dem die Arbeit vollkommen gleichgültig ist und der dadurch in seinem Leitungsbereich alle Entwicklung hemmt. Lipatow verläßt sich offensichtlich darauf, daß Prontschatows unbedingte Eignung hinreichend deutlich wird, wenn er ausführlich darstellt, wie leidenschaftlich engagiert, verantwortungsvoll, ideen- und initiativreich •dieser Mann arbeitet, und zwar aus innerem Bedürfnis heraus. Er schont seine Kräfte nicht, aber jedwede Anstrengung empfindet er - und so auch der Leser - nicht als Entsagung und Aufopferung, sondern als Genuß der eigenen Kraftentfaltung. Mit diesem Prontschatow wird der Entwurf eines Menschen versucht, der sich als Persönlichkeit voll entfaltet, der den Selbst- und Lebensgenuß (vom Autor besonders herausgestellt!) nicht aus dem Konsumieren und parasitärem Müßiggang, sondern aus Aktivität und gesellschaftlicher Nützlichkeit gewinnt. Es muß allerdings betont werden, daß dieser Menschenentwurf an besondere, konkrete Bedingungen geknüpft ist: Als Leiter gebietet Prontschatow über ein Tätigkeitsfeld von der Größe Westeuropas. In seiner Arbeit verfügt er über optimale Bedingungen für allseitige Entwicklung. Diese Möglichkeiten hat die Masse der im Flößereibetrieb Arbeitenden nicht. Nicht nur der Terminus „Mär" im Buchtitel und den einzelnen Kapitelüberschriften, sondern auch der demonstrativ spielerische Umgang mit dem erzählten Geschehen (deutliche Scheidung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft) schafft dem Leser genügend Distanz, um die vorgestellten Vorgänge und Verhaltensweisen nach allen Seiten hin zu durchdenken, ihre Ursachen, Zusammenhänge und Konsequenzen aufzuspüren und mit den eigenen Erfahrungen zu vergleichen. Man soll über vieles stutzig werden. Man kann diesem in seiner Polemik zuweilen einseitig verfahrenden Buch manches vorwerfen, aber gewiß nicht, daß es langweilig und unwichtig ist. Stellt es doch den Typus des produktiven Menschen groß heraus und macht deutlich, welche unermeßliche gesellschaftliche Triebkraft in einem so vielseitig entwickelten und wirksamen menschlichen Dasein steckt. 128

Verglichen mit der Einheitlichkeit und Ungebrochenheit der Persönlichkeit Prontschatows fällt die Gespaltenheit der Hauptfiguren von Dworezkis Mann von draußen und Gennadi Bokarjews Stahlschmelzer besonders auf. Einerseits besitzen beide außerordentliche Fähigkeiten, eine moderne Produktion zu leiten bzw. zu sichern, andererseits sind ihre Bemühungen ständig vom Scheitern bedroht, weil sie im Umgang mit den Menschen auf unerklärliche Weise hart, kompromißlos, maximalistisch verfahren. Auch in der Fähigkeit zum Selbst- und Lebensgenuß sind sie das genaue Gegenteil von Prontschatow. Diese Widersprüche in den Personen sind die gleichen, die die Konfliktkonstellation der Stücke bestimmen. Bokarjew erklärt selbst, daß sein Stück auf dem Konflikt „zwischen Tatkraft und Menschlichkeit" 48 beruhe. Warum fallen diese beiden Faktoren auseinander? Warum kommt es bei Tscheschkow, dem „Mann von draußen", wenn er einen ordnungsgemäß funktionierenden Produktionsablauf organisiert und damit den Arbeitern spürbar bessere, menschlichere Arbeitsbedingungen schafft, zu unerträglichen Schroffheiten und Verhärtungen? Die verwickelte Konfliktlage läßt ahnen, daß die Vorzüge der sozialistischen Ordnung noch sehr unzureichend mit der wissenschaftlich-technischen Revolution verbunden sind und viele Widersprüche hier ihre Wurzel haben. Deutlich wird zumindest, daß Disproportionen in den Produktionsabläufen und -beziehungen zu Disharmonien in den zwischenmenschlichen Beziehungen und bei den einzelnen Persönlichkeiten führen. Mit Recht suchen die Autoren die Konfliktlösung deshalb nicht in erster Linie im Subjektiven, in der moralischen Läuterung dessen, der es an Menschlichkeit mangeln ließ. Gesucht werden muß vielmehr nach einer umfassenden, auch die objektiven Bedingungen einschließende Lösung: Es sind die Umstände zu ändern, die die Härte der einen Konfliktpartei und die Gewohnheiten der Schluderei und des Betrugs der anderen verursachten bzw. begünstigten. Es kommt zum Ausdruck, daß es noch schwere Kämpfe kosten wird, ehe die Menschen ihre Verhältnisse beherrschen. Das aber bedeutet: den Kommunismus aufbauen. Und dazu ermutigen all diese Werke.

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K a u f m a n n , Studien

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6 In der sowjetischen Literaturdiskussion zeichnet sich ab, daß die Schriftsteller auch künftig keine Not haben werden, in der gesellschaftlichen Entwicklung, in der Sphäre der materiellen Produktion für die Literatur neue und lohnende Aufgaben aufzuspüren. Daniii Granin z. B. erzählt von einem hochmodernen Halbleiterwerk. Dort gibt es trotz hervorragender sozialer Einrichtungen und hohen Lohns eine starke Fluktuation, weil die Arbeit eintönig ist und kein eigenes Denken erfordert. Viele Mädchen kündigen und nehmen eine schlechter bezahlte Arbeit an, bei der sie ihre Fähigkeiten besser entfalten können. „Ein nobles Motiv, nicht wahr?" 49 fragt Granin. Leicht könnte es einen Schriftsteller verlocken, diese Haltung zu rühmen, weil sie das Streben nach schöpferischer Arbeit ausdrückt. Wie aber verhält sich die Literatur zu den Arbeiterinnen, die an solchen Bändern und analogen Arbeitsplätzen ausharren und ohne die die Produktion zusammenbrechen würde? Über das gleiche Thema sprach Wil Lipatow in der Diskussion „ÖkonomieLeben-Literatur." Er setzte sich damit auseinander, daß die Fließfertigung und andere moderne Produktionsprozesse nicht wenig Arbeiter für eine bestimmte Phase zu „Ausführungsorganen"50 werden ließen und nivellierten. - In der Debatte über Bokarjews Stahlschmelzer machte der Generaldirektor eines Werkzeugmaschinenkombinats auf die Tatsache aufmerksam, daß sich zu wenig Jugendliche von Arbeiterberufen angezogen fühlen und daß darunter die qualitative Zusammensetzung der Arbeiterklasse leidet, was wiederum das Entstehen von Raffgier und Konsumentenstimmungen begünstige.51 Die Liste solcher und ähnlicher Überlegungen ließe sich beliebig verlängern. Sie zeigen, wie gründlich über das Verhältnis von Literatur und Arbeit nachgedacht wird. Die Tendenz ist unverkennbar, auf jeden Fall die Probleme anzugehen, die die Massen und die ganze Gesellschaft bewegen, ohne sich dabei vor ästhetischen Postulaten zu fürchten. Das dürfte nicht zuletzt der Literatur selbst nützlich sein, auch unserer DDR-Literatur. Es ist durchaus möglich, daß die interessantesten Vorstöße zeitweilig vor allem in der dokumentierenden Literatur ge130

lingen. Aufregend liest sich, wie Sarah Kirsch in den unfrisierim Zusammenten Erzählungen aus dem Kasetten-Recorder52 hang mit Arbeit die Chancen, W e g e und U m w e g e der Persönlichkeitsentfaltung von fünf Frauen aufspürt. Gezeigt wird z. B . auch, welche Möglichkeiten die sozialistische Gesellschaft jenen Menschen bietet, denen - aus welchen G r ü n d e n auch immer - die Arbeit selbst zu wenig Entfaltung ihrer Fähigkeiten und Neigungen ermöglicht. D a findet die Historikerin, die von der wissenschaftlichen Tätigkeit unzureichend ausgefüllt i s t 5 3 * , in der erstaunlich initiativ- und ideenreichen Arbeit als Abgeordnete Ausgleich und Befriedigung. U n d für die ungelernte Arbeiterin ist das kulturvoll gestaltete L e b e n in der F a m i l i e der R a u m , in dem sie vorher unbekannte B e d ü r f nisse entwickelt und in dem sie lernt, als Persönlichkeit eine „ G a n z h e i t " 5 4 * zu sein. D i e - leider meist zu z a g h a f t geführten - Interviews mit zahlreichen Arbeiterinnen und Arbeitern in Ursula Püschels Buch Kernbauer55 lassen spüren, wie stark die verschiedenen Tätigkeitsarten innerhalb eines konkreten Produktionsbereichs die Arbeitenden prägen und wie individuell differenziert die einzelnen auf gleiche oder ähnliche Arbeitsbedingungen reagieren. In jedem F a l l scheint es ungünstig, sich das T h e m a Mensch und Arbeit durch eine vorgefaßte Fragestellung nach der „Poesie der A r b e i t " einzuengen. M a n sollte g e r a d e in der gegenwärtigen Situation vor allen Dingen nach der Wirklichkeit selbst fragen und ihrer Bewegung auf der Spur bleiben. Vielleicht ergeben sich dabei überraschende Entdeckungen, w a s die „ K u n s t f ä h i g k e i t " oder „Poetisierbarkeit" von Lebenserscheinungen betrifft. D a f ü r spricht manches, zieht man z. B . die R o m a n e von K a r l - H e i n z J a k o b s oder Volker Brauns Tinka in Betracht, die an anderer Stelle dieses Buches unter d e m Gesichtspunkt Mensch und Arbeit ausführlich behandelt werden. A n dieser Stelle sei auf einige interessante neue A s p e k t e bei der Gestaltung unseres Themenkomplexes in den Romanen Brigitte Reimanns und Gerti Tetzners verwiesen, in Büchern, die von ihrer thematischen und stofflichen A n l a g e nicht speziell auf die Arbeitsproblematik, sondern auf Gesamtbilder von Persönlichkeitsentwicklungen abzielen. Erinnern wir an M a r x ' Ausspruch, daß die Gesellschaft erst ihr Gleichgewicht findet, 9»

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wenn sie um die Sonne der Arbeit kreist. Angewandt auf den Individualfall könnte man sagen, daß gerade in diesen beiden Romanen die Haupt- und viele Nebenfiguren ihr menschliches Gleichgewicht in dem Maße finden bzw. verfehlen, wie sie in der Arbeit ihre eigenen Möglichkeiten und Verpflichtungen entdecken und das eigene Ich sinnvoll in den gesellschaftlichen Zusammenhang einzuordnen lernen. Eine besonders positive Rolle für die Persönlichkeitsbildung der Franziska spielt - ungeachtet aller konkreten Schwierigkeiten im einzelnen - die schöpferische Tätigkeit als Architektin. Dazu heißt es: „Da sie in ihre Arbeit vernarrt war, empfand sie jedesmal, wenn sie ihr Gehalt abhob, etwas wie eine freudige Überraschung: man bezahlte sie für ihr Hobby." 56 Diese Vernarrtheit in die Arbeit zieht die kapriziöse Bürgertochter - und darin ist sie mit vielen Figuren Jakobs' verwandt - immer stärker an den Sozialismus heran. Die Arbeitsbesessenheit verhindert auch, daß sie sich bei persönlichen Konflikten und Enttäuschungen auf sich selbst zurückzieht, sondern ermöglicht im Gegenteil, verstärkt soziale Kontakte herzustellen. Über die heilsame, persönlichkeitsaufbauende Wirkung des Tätigseins im Kollektiv heißt es: „In ihrer Arbeit aber existierte sie ungeteilt, sie wußte nichts mehr von einem angstvollen, bedrohten Ich, das sich manchmal von ihr abspaltete [ . . . ] Selbst in der Baracke am Stadtrand [. . .] behielt sie ihr Selbstvertrauen: sie war tätig, das verknüpfte sie mit den anderen." 57 Da Franziska arbeitet und immer zusammen mit anderen arbeitet, wird sie in intensive Auseinandersetzungen mit solchen Menschen verwickelt, die ihr durch Herkunft, Bildung, politische und weltanschauliche Positionen zunächst fremd sind und denen sie ohne die von der Arbeit gegebene Veranlassung ausweichen würde. So aber reibt sie sich an ihnen, tauscht sich mit ihnen aus und verändert sich unmerklich. Dies gilt vor allem für Schafheutlin, der im Buch am deutlichsten die Position des Sozialismus und der proletarischen Macht vertritt und der auf unerwartete Weise zunehmend zu Franziskas hauptsächlichem Partner wird. Durch die Arbeit wird Franziska unablässig in das Leben anderer Menschen hineingezogen und genötigt, den Sinn ihrer Arbeit an den Bedürfnissen der Menschen zu messen. Das ist der Weg, auf dem sie den Sozialismus, 132

in dessen Theorie sie offenkundig wenig eingedrungen ist, praktisch und als etwas für sie Lebensnotwendiges begreifen lernt. Ihre täglichen Arbeitserfahrungen und -kontakte befähigen sie, die durch ihr zwiespältiges Verhältnis zu den Menschen ihrer sozialen Herkunft in bezug auf humane Werte tief unsicher ist, den Wert des Menschen mehr und mehr nach dem Verhältnis zur Arbeit zu bestimmen. Menschlich zuverlässig erscheinen ihr vor allem Leute, die ihre Arbeit mit starker innerer Anteilnahme leisten: Engagement für Arbeit hat viel zu tun mit Engagement für das Menschliche. Und umgekehrt entscheidet der Mangel an solchem, die bloße Ichbezogenheit überspringendem Engagement, sogar darüber, ob (wie im Falle Jazwauks oder Bens) eine Liebesbeziehung hergestellt bzw. aufrechterhalten werden kann. In den langwierigen Auseinandersetzungen um die Arbeitsprobleme keimen in Franziska viele neue Ahnungen, Empfindungen und Erkenntnisse. Sie erfährt dabei, was es heißt, als Mensch ein gesellschaftliches Wesen zu sein. Dieser Prozeß des Sozialwerdens, der Vergesellschaftung eines ursprünglich zum Individualismus neigenden Charakters ist für die Autorin augenscheinlich-eine sehr wichtige Angelegenheit. Sie wiederholt ihn bei Franziskas Bruder Wilhelm in abgekürzter Form. E r hatte als junger Mann von großartigen Einzelleistungen als Forscher geträumt und überzeugt sich nach mehreren Jahren Arbeitsleben - vor allem auch in der Sowjetunion - , daß die „Zeit der Großen Einsamen Männer" vorbei ist und daß es darauf ankommt, ein „guter Mann in einem guten T e a m " 5 8 zu sein. Das sind wichtige Symptome für das Werden eines neuen Typs des Intellektuellen, der sich vom Typus des brillanten Stars, wie ihn Franziskas Lehrer Reger verkörpert, grundsätzlich unterscheidet und immer mehr der Arbeitsweise und -auffassung kollektiv Arbeitender, der Arbeiterklasse genau genommen, annähert. So vollzieht sich im realen Lebensprozeß, stimuliert durch den reifenden Sozialismus, in literarisch eindrucksvollen individuellen Entwicklungsgängen etwas von dem, was Goethe im utopisch begründeten Handlungsraum der Turm-Gesellschaft folgendermaßen antizipierte: „Es ist gut, daß der Mensch, der erst in die Welt tritt, viel von sich halte, daß er sich viele Vorzüge zu erwerben denke, daß er alles möglich zu machen suche;

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aber wenn seine Bildung auf einem gewissen Grade steht, dann ist es vorteilhaft, wenn er sich in einer größern Masse verlieren lernt, wenn er lernt, um anderer willen zu leben und seiner selbst in einer pflichtmäßigen Tätigkeit zu vergessen. Da lernt er erst sich selbst kennen, denn das Handeln eigentlich vergleicht uns mit andern." 59 Die Ahnung, daß das sinnvolle kollektive Tätigsein komplizierte persönliche Probleme lösen helfen kann, leitet auch Karen W. auf ihrer Suche nach einem neuen sicheren Lebensboden. Die Arbeit in der materiellen Produktion bildet für sie das zuverlässige Korrektiv, sich im Erkunden des Eigenen nicht ins gesellschaftliche Abseits zu verlieren. So wie Karen W. in der ständigen Konfrontation mit schwer arbeitenden Menschen ihr eigenes Lebensproblem objektiver betrachten lernt, gelingt es auch der Autorin - instinktiv um „die Sonne der Arbeit" kreisend - komplizierte gesellschaftliche Entwicklungsprozesse historisch zu objektivieren. Das bewährt sich z. B., wenn sie untersucht, wie sich die Einführung industrieller Methoden in die landwirtschaftliche Produktion auf die Menschen auswirkt. Als Zeugin tiefgreifender Veränderungen der Arbeits- und Lebensbedingungen wird es für Karen W. zum persönlichen Problem, sich mit der mächtig prägenden Rolle der Arbeit auseinanderzusetzen, zu fragen, wie der Charakter bis in die feinsten Gefühlsregungen von Arbeit beeinflußt wird und wie andererseits der Mensch im Zusammenhang mit seinem ganzen sozialen, kulturellen, politischen Lebensboden Kraft entwickelt, mit negativen Begleiterscheinungen des technisch-industriellen Fortschritts fertig zu werden. 60 Karl-Heinz Jakobs und Volker Braun, Gerti Tetzner und Brigitte Reimann und andere hier nicht genannte Autoren machen sich - jeder auf seine Weise - zunutze, daß sich die Menschen und ihre Beziehungen in der Sphäre der materiellen Produktion besonders reich und dynamisch entfalten. Nicht „obwohl", sondern „weil" 61 * die Charaktere und Begebenheiten aus dieser Lebenssphäre herausentwickelt wurden, glückte es, unsere gesellschaftliche Entwicklung lebendig und differenziert zu gestalten. Diese Werke bestätigen die Annahme, daß das Thema Mensch und Arbeit in keiner Weise ausgeschöpft ist. Im Gegenteil, das meiste davon ist noch zu erschließen! 134

Volker Brauns „Tinka"

„Es gefällt uns so wohl, es schmeichelt uns so sehr, wenn wir einen Helden sehen, der durch sich selbst handelt, der liebt und haßt, wenn es ihm sein Herz gebietet, der unternimmt und ausführt, alle Hindernisse abwendet und zu einem großen Zwecke gelangt. Geschichtsschreiber und Dichter möchten uns gerne überreden, daß ein so stolzes Los dem Menschen fallen könne. Hier werden wir anders belehrt..." Goethe 1

Das dritte dramatische Werk, das Volker Braun veröffentlicht - nach Die Kipper und Hinze und Kunze - ist es ein Produktionsstück? ein Drama der Liebe? eine von Shakespeares Narren inspirierte Intrigenkomödie? - Ein wenig von alledem und zugleich etwas, wofür - wie für Brauns frühere Stücke - keine Typenbezeichnung zur Hand ist. Der Gemeinsamkeiten sind jedoch noch mehr: Wie Die Kipper und Hinze und Kunze bilden auch in Tinka Stätten sozialistischer Produktion den hauptsächlichsten Schauplatz und den Ausgangspunkt der Handlung; wie dort wird auch hier auf der Grundlage der praktischen Tätigkeit, der gesellschaftlichen Verhältnisse, wie sie sind, die Frage nach der sozialistischen Qualität des Lebens überhaupt gestellt - und zwar soll in allen drei Dramen die Qualität nicht jenseits der Alltäglichkeit, sondern in ihr verwirklicht werden, indem die Menschen mit den gegebenen Umständen ihres Tuns sich selbst verändern. Braun ist also mit Tinka ganz bei „seinem" in Lyrik, Prosa und Drama wiederholt vorgetragenen Thema. Doch erhält es wichtige neue Akzente und wird auf neue Weise realisiert. Die Ingenieurin Tinka kehrt nach dreijährigem Studium an ihren Magdeburger Betrieb zurück und findet die Situation und die Menschen in erschreckender Weise verändert vor. Ihr Studium sollte sie befähigen, in einem zu automatisierenden Betriebsteil zu arbeiten. Jetzt ist durch Beschluß der frühere 135

Beschluß zur Automatisierung rückgängig gemacht worden und alle Verantwortlichen sind damit einverstanden, wie sie es früher mit dem anderen Beschluß waren. Zu den Verantwortlichen gehört auch der Mann, den Tinka liebt, der technische Leiter Brenner. Man sucht ihr alles „schonend" beizubringen - wie man es auch den Arbeitern „schonend" beibringt: Man verheimlicht so viel wie möglich. Nur durch Zufall erfährt Tinka, daß der alte Werkleiter nicht an einer Krankheit gestorben ist, sondern die Auseinandersetzungen nicht überlebt hat, die stattgefunden haben. Sie kann Brenner nicht verstehen, der all das mitmacht und von ihr fordert, ebenso „sachlich" und „klug" zu sein; sie wendet sich von ihm ab. Nun sind aber Brenner und der Parteisekretär Ludwig gar nicht so einverstanden, wie sie sich geben, und lenken insgeheim und diplomatisch die Aufmerksamkeit des Ministeriums auf die Lage. Tinka aber soll aus der Sache herausgehalten werden, sie soll schweigen. Jetzt beschließt sie zu handeln. Gemeinsam mit der Arbeiterin Helga kleidet sie sich in Männersachen, dringt zur Kommission des Ministeriums vor, beschimpft und provoziert Brenner, bis der nicht mehr an sich hält und offene Aussprache fordert. Doch nimmt er das bald wieder zurück, und es kommt zum Bruch mit Tinka. Der Werkleiter will sie hinauswerfen, nachdem sie ihn durch Anhalten der Produktion zum Auftreten vor den Arbeitern zu zwingen versucht hat, sie kündigt, sieht sich in einem anderen Betrieb in Marzahn um, kehrt aber zurück. Brenner hat inzwischen aus Trotz und Scham eiligst eine junge Arbeiterin zu seiner Braut gemacht. Beim Polterabend erscheint Tinka und stellt ihn zur Rede: Aus Feigheit, um sich nicht zu sich selbst zu bekennen und weil er nicht glaubt, ihrer Achtung wert zu sein, habe er so gehandelt. Brenner will sie zum Schweigen bringen, schlägt sie nieder und bricht - seine Untat und sein Versagen offenbar begreifend selbst zusammen. Tinka handelt von Anfang bis zum Schluß aus dem Impuls der liebenden Frau. Seit langem war sie mit Brenner zusammen, kommt nach dreijähriger Trennung heim, um seine Frau zu werden, und findet ihn so verwandelt, daß sie nicht zu ihm finden kann. Er muß sich ändern, muß wieder er selbst werden. Aber was ihn so verunstaltet, hängt mit seiner Lage und diese 136

wiederum mit der Lage des Betriebes (die ihrerseits allgemeinere Voraussetzungen hat), mit eingeschliffenen Formen und Normen des Umgangs und Verkehrs zusammen. Um aus Brenner wieder den liebenswerten Mann zu machen, genügt es nicht, auf ihn einzureden, ihn zu rütteln. Tinka muß in das Ganze eingreifen. Sie tut es insoweit mit Erfolg, als sie in mehreren Gestalten des Stücks mindestens den Wunsch erweckt, sich weder mit der Situation im Betrieb noch mit ihrer eigenen Lethargie und inneren Gelähmtheit länger abzufinden. Und dies führt in kleinen Schritten zu positiven Veränderungen. Der Impuls der liebenden Frau verschmilzt mit dem Bedürfnis, sich mit den Gegebenheiten nicht zufriedenzugeben. Tinka nimmt - damit nähern wir uns dem ideellen Zentrum des Stücks - allgemeine Interessen wahr, indem sie ihr persönliches: Interesse verfolgt. Sie erträgt nicht, daß Menschen von anderen Menschen als Mittel gebraucht, manipuliert werden. Mit dem gleichen Blick, der sie die Veränderungen an ihrem Geliebten entdecken läßt, bemerkt sie auch, daß man versäumt, offen mit den Arbeitern zu reden. Braun will keine Trennung, kein Zweierlei von Individuum und Gesellschaft, von Liebe und sachlich-nüchternem Erfordernis, von Gefühl und Verstand zulassen. Deshalb gibt es auch keinen gesonderten Schauplatz für die Szenen zwischen Tinka und Brenner, keine Parkbank, kein Wohn- oder Schlafzimmer. Alle wissen und respektieren, daß die beiden ein Paar sind. Das Öffentliche ist das Private, und das Private ist das Öffentliche. Der Parteisekretär Ludwig stellt es einmal aphoristisch auf die Spitze, wenn er sagt: „Emanzipierung müßte auch Erotisierung sein . . . Lieblosigkeit ist unser Laster. Das reibt uns auf." 2 Emanzipation meint in diesem Zusammenhang nicht ausschließlich die der Frau, sondern auch - wie bei Marx - die des Menschen überhaupt, und Erotisierung ist im Sinne der Haltung Tinkas etwa als Entanonymisierung, als besondereAufmerksamkeit für den anderen, als Förderung seiner menschlichen Substanz zu verstehen. An den teilweise parallel verlaufenden, aber anders endenden Liebesgeschichten Tinkas und Helgas macht Braun zweifach deutlich, daß dem Gelingen der Geschlechterbeziehung die gleichen Hindernisse entgegenstehen wie dem rascheren Fortschritt des öffentlichen Lebens. Beein137

druckt von Tinkas Konsequenz, entdeckt Helga, daß ihr Geliebter, der Arbeiter Latte, ebenfalls „feige" ist, und sie distanziert sich von ihm und läßt ihn nicht einmal wissen, daß das Kind, das sie erwartet, von ihm ist. Die Dialektik der weiblichen Emanzipation unter unseren Bedingungen verläuft hier so, daß die Frauen die moralische Kraft gewinnen, sich von unwürdigen Bindungen freizumachen und die Konsequenzen zu tragen. Das ist besser als sich aufzugeben - aber ist es gut? Die Frau baut sich, wie Ludwig an der zitierten Stelle sagt, „nach dem Bild des Mannes" um. So „kommt die Frau zu sich, aber Mann und Frau nicht." 3 Die durch die Nebenhandlung um Helga erweiterte Geschlechterproblematik unterliegt den gleichen Gesetzen ,wie die Entwicklung des Betriebes und die Haltung der für ihn Verantwortlichen. Indem der Autor dies unterstreicht, soll herauskommen - und es kommt heraus - , daß die Entwicklung der menschlichen Qualitäten im Mittelpunkt aller Handlungen und Maßnahmen zu stehen hat, daß der Fortschritt in dieser Hinsicht auch die Voraussetzung ist, um mit den Hemmnissen und Stockungen der Arbeit und der Planung fertig zu werden, daß objektive Schwierigkeiten nicht in Form von Routine, von Lüge, von menschlichem Desinteresse verinnerlicht werden dürfen. Man lebt, meint Braun, sowohl in praktischer Hinsicht besser als auch menschlicher, in jedem Betracht also dem Sozialismus gemäßer, wenn man mit den offen dargelegten, allen bewußten Widersprüchen unserer Gesellschaft lebt. Dies ist das wichtigste Mittel, um Praxis und Ethik nicht zu Gegensätzen erstarren zu lassen, um den objektiv gegebenen Verhältnissen selbst die Triebkräfte zu ihrer Meisterung zu entlocken. „Sie (Tinka H. K.) hat mehr Recht als ich dachte", bekennt Ludwig. „Wenn wir bloß danach fragen, was sich in dem Werk ändert, können wir uns einpacken . . . Was heißt denn das Werk, sind wir das W e r k ? . . . Was denken w i r ? Plan, Norm, Geld. An Qualität von A r b e i t . An Güte - von W a r e n . An Erfüllung von P l ä n e n . Um uns geht fast nichts." 4 Die Betonung sollte aber einmal nicht auf Arbeit, Waren und Plänen liegen, sondern auf Qualität, Güte, Erfüllung im Hinblick auf die Menschen. Spieler und Gegenspieler, Tinka hier, die Leiter des Betrie138

bes dort, sind dramaturgisch klar geschieden. Diese Scheidung beruht in der Hauptsache darauf, daß die Titelgestalt ihrer Einsicht entsprechend handelt, während die andern zögern oder sich weigern, dies zu tun. Ludwig, Dunkert und Brenner sind jedoch weder Schurken noch Egoisten. Sie arbeiten im Schweiße ihres Angesichts, ihr Verhalten zielt nicht auf ihren persönlichen Vorteil, sie tun, was sie im Interesse der Sache für gut halten. Außerdem zeichnet Braun in Gestalten wie dem Meister Kessel, dem Brigadier Hempel, den Arbeitern Latte, Anton und Senf Abstufungen und Übergänge zwischen den Haltungen •der hauptsächlichen Gegenspieler. Ein solches Figurenensemble •entspricht dem Inhalt der Kollision, die nicht auf dem Klassenantagonismus basiert. Der Konflikt bricht zwischen Menschen aus, die sämtlich aktive und bewußte Erbauer des Sozialismus sind. Dennoch handelt es sich um weit mehr als nur um Meinungsverschiedenheiten. Es prallen Lebensprinzipien aufeinander, die in der Struktur unserer Gesellschaft ihre Wurzel haben. Ohne Plan, ohne Disziplin, ohne Beschlußtreue wären wir nicht dahin gelangt, wo wir stehen (und es wäre ein grobes Mißverständnis, Braun zu unterstellen, er wolle das anfechten). Aber diese Prinzipien, zu alleinigen Maximen des Handelns •erhoben, zur Routine erstarrt, zu selbständigen moralischen Größen verinnerlicht, geraten in Widerspruch zu anderen Erfordernissen, die an einem bestimmten Punkt der Entwicklung - einen solchen führt das Stück vor Augen - mit neuer Dringlichkeit hervortreten. Benötigt wird nicht irgendeine nebelhafte „Vermenschlichung", vielmehr ein Zuwachs an Produktivkraft, der nur durch die Freisetzung aller Anlagen und Kräfte der Menschen zu erreichen ist. Den Motor der Bewegung bilden also Handlungsantriebe, die verschiedene Seiten und verschiedene Etappen eines widerspruchsvoll-einheitlichen Prozesses sozialistischer Entwicklung widerspiegeln. Auf die Spitze getrieben, schließen die gegensätzlichen Seiten einander aus: Tinka und Brenner können nicht zueinander finden. Aber aus dem Ringen beider Momente entsteht der Fortschritt. Der Aufbau der Figuren entspricht dieser Konfliktanlage. Obgleich unterschieden in ihrer Haltung zur entstandenen Situation, gleichen sich die Hauptpersonen darin, daß sich keine von ihnen wohl in ihrer Haut fühlt; alle bemerken und fühlen 139

die Mißverhältnisse und leiden unter ihnen. Durch Gegenbeispiele hebt der Autor das noch besonders hervor: D i e Kahlfeld und Windelmann bemerken nichts und reden nur immer so daher, was jeweils opportun ist; sie sind bloße Marionetten. Ludwig aber beispielsweise sieht, wie seine oben zitierte Äußerung (stellvertretend für viele ähnliche) bezeugt, die Dinge im Prinzip nicht anders als Tinka. Zugleich spielt er längere Zeit das diplomatische Spiel, schreibt mit Brenner gemeinsam hinter dem Rücken des Werkleiters den Brief ans Ministerium, beschließt, Brenner zu decken, wenn der Trick herauskommt, und gelangt dann doch zu der Einsicht, daß es nicht weitergeht, wenn man nicht mit den Arbeitern redet. Auch Dunkert weiß, was auf ihn zukommt, fühlt sich in der Klemme, zieht aber den Schluß, seinen Bankrott zu erklären, weil er zu selbständigem Handeln unfähig ist. D a ß Brenner nach kurzem Aufbegehren wieder ganz in seine starre Haltung zurückfällt, macht seinen Gegensatz zu Tinka allmählich unausgleichbar. Aber auch er empfindet die Verkrustung, das Rollenspiel, das bloße Funktionieren, den drohenden Identitätsverlust als Last und Qual. Alle Figuren haben als Persönlichkeiten eine Chance, jeder Ausbruch aus der eigenen Haut läßt die Besinnung auf die eigene Kraft und die Kraft aller reifen und bringt die gute Sache einen Schritt oder ein Schrittchen voran. Tinka ist eine naive Gestalt und damit schon wirklich das, was die anderen mehr oder minder erst der Möglichkeit nach sind. Sie handelt nach den Einsichten, deren Konsequenzen die anderen sich und ihren Mitmenschen ganz oder teilweise verbergen. Nur die Einheit von Denken, Fühlen und Handeln kann sie sich als menschenwürdige Haltung vorstellen. W i e aber setzt sich diese intendierte Einheit durch, da sie alleinsteht, während doch die Weisheit und Anstrengung aller erfordert würde? W o alle ihre Rolle spielen, muß auch sie eine Rolle übernehmen. Diejenige, die am stärksten auf Ehrlichkeit drängt, greift zu List und Verstellung. W o die Berufenen, Klugen und Vernünftigen das Notwendige versäumen, muß die Vernunft in unberufener Gestalt, in Verkleidung, wenn nötig sogar als Narr auftreten. Tinka geht aufs ganze, ihr Impuls ist rigoros und unbedingt, die Art ihres Handelns wird aber von den Bedingungen mitgeprägt. Sie durchschaut, was vor sich

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geht, versteht jedoch nicht, wie man es hinnehmen kann. Unter der Verschüttung menschlicher Möglichkeiten leidend, entschlossen, sich nicht anzupassen, begehrt sie auf - notgedrungen als Selbsthelferin, jedoch als eine, die die Potenz des Kollektivs sichtbar und wirksam macht. Das Eingangsmotiv Tinkas Rückkehr nach längerer Abwesenheit, ihr fremder Blick auf die vor sich gegangenen, sie erschreckenden Veränderungen erhebt die Situation sogleich auf das Niveau einer sehr weitgehenden und allgemeinen Frage: Die Welt scheint aus den Fugen zu sein, aber sie, Tinka, kann sie nicht einrichten. Die Anspielung stellt sich nicht zufällig ein: Braun hat in die Handlung und Figurencharakteristik seines Stücks Motive aus Shakespeares Hamlet eingezeichnet. Leicht erkennt man dies, wie erwähnt, schon in der ersten Szene, der Heimkehr der Zentralfigur vom Studium zu einem Zeitpunkt, da nach dem Tod des alten Leiters ein neuer eingesetzt wird; es folgen das Motiv der Verstellung (Verkleidung), das Spiel im Spiel zu dem Zweck, die Verantwortlichen zu überführen, die Unfähigkeit der Liebenden, sich zu verstehen, weil sie verschiedene Sprachen sprechen, die Verbannung und unerwartete Rückkehr, das närrisch-philosophische Gespräch, das hier beim Polterabend statt auf dem Friedhof stattfindet (und damit auf Umkehrungen und Umwertungen der adaptierten Motive hindeutet). In der Arbeiterin Helga ist Tinka eine Art Horatio beigegeben. Das Paar Windelmann und Kahlfeld ist offensichtlich aus dem gleichen Holz geschnitzt wie Shakespeares Rosenkranz und Güldenstern, und die Art, in der Tinka sarkastisch erweist, wie die beiden sofort bereit sind, ihre Meinung ins Gegenteil umzukehren, wenn man ihnen das vorredet, ist die gleiche, in der Hamlet den Polonius und später den Osrick entlarvt. Nun soll man diese Parallelen nicht übertreiben. Das Figurenensemble von Tinka entspricht im ganzen nicht dem von Hamlet, das Handlungsganze ebenfalls nicht. (Braun hat sich ausdrücklich gegen die Übernahme alter Fabeln in unsere Dramatik ausgesprochen.) Auch Tinka ist nicht einfach ein Hamlet in Röcken. Der Weg von der rigorosen Kritik zur adäquaten Tat, der sich für Shakespeares Helden als sehr verschlungen, ja als ungangbar erweist, ist für Tinka weitaus offener und geradliniger. Der „bange Zweifel, welcher zu genau ,/ Bedenkt den 141

Ausgang"5, ist nicht das, was Tinka quält. Gang und Ausgang der Handlung können nicht von Hamlet entlehnt werden. Die auf einer abgeschlossenen tragischen Kollision basierende Fabelstruktur gibt nicht her, was Braun zu sagen hat. Am Schluß seines Stücks treffen Tinka und Brenner wieder aufeinander. Beide sind unverändert: Sie ist die Aktive, die auf Klarheit und Wahrheit dringt - wobei sie gleichsam nebenbei die auf falsche Voraussetzungen sich gründende Heirat verhindert er ist weiterhin defensiv, starr, uneinsichtig. Das Stück endet mit einer scharfen Konfrontation, der am Anfang entbrannte Kampf ist nicht zu Ende. Das gleiche gilt für die Vorgänge im Betrieb, auf die die vorletzte Szene zurückkommt. „Es ist gar nichts entschieden!"6 stellt Dunkert fest und zieht daraus den Schluß, abzudanken. Ludwig aber resümiert: Auf der Grundlage des bisher Errungenen erweist sich die von ihm jetzt klarer gesehene Offenheit auffindbarer Lösungen gerade als Vorzug des Landes, in dem er lebt. Die Unabgeschlossenheit des Einzelfalls, der einzelnen Menschenschicksale und Beziehungen und des in der Reflexion zur Sprache gebrachten großen Ganzen gehört zum ideellen Anliegen des Stücks, und sie muß sich auch in dessen Struktur niederschlagen. Braun will nicht das anekdotische Stück, das einen vereinzelten Fall vorführt, einen isolierten Konflikt aufwirft und löst und den Widersprüchen ein vorschnelles Ende bereitet. Er will die „exemplarische" Handlung, in deren Struktur die widerspruchsvolle und unabgeschlossene Bewegung des Gesellschaftsganzen sich abbildet. Dazu taugen die alten Fabeln nicht, weil sie Ausdruck einer auf dem Klassenantagonismus basierenden Kräfte- und Figurenkonstellation sind. Die Handlung um Tinka besitzt (unter den dargestellten Handlungsvoraussetzungen) exemplarische Züge, sie ist aber ohne Zweifel auch anekdotisch (ein in wenigen Sätzen wiedergebbarer ungewöhnlicher Vorfall). Tinkas überlegen-listige Replik auf die Borniertheit ihrer Gegenspieler hat etwas komödisch Heiteres, aber auf dem durchaus ernsten Untergrund ihres Kampfes um ihr Glück und für die Verbesserung der Situation aller. Daß die Gegenspieler vorhandene Handlungschancen auslassen, macht sie partiell zu komischen Gestalten; doch ist, was sie hindert, weit mehr als nur persönliche Marotte, so daß dem Komischen meist die 142

satirische Spitze abgebrochen wird und hier wie bei Tinka elegische Töne vordringen. Humoristisch heiter oder überwiegend satirisch geht es in Episoden um Nebenfiguren zu (die Heiratslust Karins und die Kündigungsabsichten der Arbeiter Anton und Latte einerseits, Kahlfeld und Windelmann andererseits). Im Pathos der Reflexionen und Ausbrüche, im Vermeiden einschichtiger satirischer Zuspitzung bei den Hauptgestalten kommt die Kompliziertheit der Lage, die relative Berechtigung beider kollidierender Seiten (darunter auch die Schwierigkeit, die Bedingtheit, die Grenze individueller und sogar kollektiver Handlungsmöglichkeit) angemessen zum Ausdruck. Die Vermischung der Genres, die Konfrontation verschiedener Handlungs- und Stilebenen stellen sich mit einer gewissen Notwendigkeit ein. Das Durchscheinen Shakespearescher Motive ist dennoch durchaus kein beiläufiges Element in Brauns Stück, es bestimmt dessen Pathos mit. Die qualvoll-lustige Verstellung, das philosophische Narren- und Maskenspiel entsprechen einer Situation, in der das Neue, das Tinka einbringt, noch die Form des „persönlichen Einfalls" hat - wie es Marx in einem Zusammenhang sagt, 7 der auch das Verhalten Hamlets charakterisiert. Darüber hinaus erlauben diese Züge eine szenische und sprachliche Darstellungsart, die im Moment das Zeitalter, im Detail das Ganze blitzartig aufleuchten läßt. Die Hauptpersonen reden immer über die gegebene Situation hinweg, erfassen im bisweilen paradoxen Hin- und Herwenden der Widersprüche, auf die sie stoßen, die großen Zusammenhänge, in denen sie stehen; sie vermögen zu sagen, wer sie sind, sie tragen, wenn man so will, ihre Visitenkarte vor sich her. „Dunkert: Ich kann nicht in die Halle (um vor den Arbeitern zu sprechen - H. K.) . . . Sagen Sie, ich sei beschäftigt . . . Was heißt hier Beschluß. Führe ihn aus, aber identifizier dich nicht mit ihm . . . Warten Sie . . . Ich mache keine Fehler mehr, höchstens die der andern . . . Und doch hab ich mich selbst satt jetzt, wenn ich nur im Auftrag lebe und nicht l e b e , nur funktionier, damit die Arbeit rollt . . . Weshalb ich auch mit mir nicht rede, oder nur sozusagen dienstlich, jedenfalls nicht unter zwei Augen - bleiben Sie! . . . Der Beschluß ist richtig. Das nehme ich auf mich, daß sich die Welt dreht. Ich hab143

kein Recht dazu, mich nicht ins Unrecht zu setzen . . . " 8 Um bloß den Vorgang zu veranschaulichen, wären nur wenige Worte nötig. Das bedeutet nicht, daß die Handlung des Stücks unwesentlich, nur Anlaß zur Reflexion wäre. Sie ist wesentlich, sie trägt eine Aussage. (Wir kommen darauf zurück.) Aber der Autor zeichnet sie sehr sparsam und läßt den Analysen und Selbstanalysen breiten Raum. D i e Reflexionsteile sind mit der Handlung dadurch verbunden, daß sie dem Bedürfnis entspringen, aus den Zwängen der Situation auszubrechen, die vorgegebene Rolle nicht mehr zu spielen, die Maske zu lüften. Aus den Schwierigikeiten, die die Personen haben, miteinander zu reden, wie es sich gehört, erwächst eine Tendenz zum Monolog oder zu einem Dialog, der kein echtes Gespräch ist, sondern in dem die Partner aneinander vorbeireden. Durch den Kontrast hebt Braun das ausdrücklich hervor. In der 14. Szene z. B., in der sowjetische und deutsche Projektanten in Marzahn fröhlich ein gemeinsames Unternehmen bereden, versteht man sich trotz sprachlicher Schwierigkeiten ausgezeichnet. Tinka wird sich ihres Konflikts gerade hier besonders bewußt: „Welche Vertraulichkeit, nach allem Streit . . . Welche Entwicklung! W o bin ich abgeblieben. Mit v i e l e n kann ich leben, aber nicht mit einem . . . Wir, was denn, reden eine Sprache, und verstehen uns nicht . . . Zwei, nicht Millionen, hier, nicht irgendwo im Dschungel. Ich - und er - was ist daran schwer . . . Warum sind wir so . . . " 9 Auch dort, wo die Intrigen gesponnen werden, wo die Aufmerksamkeit der Sprechenden nur auf dem bestimmten Zweck liegt, verstehen sich die Beteiligten (Ludwig und Brenner, wenn sie den Brief entwerfen, Tinka und Helga, als sie die Verkleidung vorbereiten usw.). Echtes zwedkbestimmtes Gespräch, hintersinniges Gespräch, Aneinandervorbeireden und Monolog sind also bewußt und differenziert eingesetzte Mittel zur Charakterisierung unterschiedlicher Beziehungen zwischen den Menschen. Doch liegt, was die Kunst der Sprache und die Bedeutung der Aussagen angeht, ein starkes Übergewicht auf den Monologen und monologähnlichen, analytischen und verallgemeinernden Partien, besonders wenn man sie mit solchen Szenenteilen vergleicht, die nur den Fortgang der Handlung bedienen und in denen der Doppel- und Hintersinn der Worte nicht zur Geltung kommt.

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Die Hamlet-Elemente haben weiterhin die Funktion, einer einfachen Identifizierung des Bühnengeschehens mit einem bestimmten Ausschnitt aus der Wirklichkeit entgegenzuwirken. Das Stück verfolgt nicht die Absicht, diesen und jenen Beschluß für oder gegen die Automatisierung eines Betriebsteils zu diskutieren und Werkleitern praktische Detaillösungen vorzuschlagen. Das Drama muß durchaus als Kunstwerk genommen werden, dessen Beziehungen zur Lebenspraxis indirekt und weitläufig sind und sich nicht auf den stofflich abgebildeten Bereich beschränken. Zu betonen ist das Moment des komödischen Spiels, das zum ernsthaften Geschehen Distanz schafft, Überblick und Analyse ermöglicht und Impulse auslöst, deren Wert nur zum Teil daran abzulesen ist, was sie für den Fortgang der Handlung, für die Lösung der Betriebsprobleme leisten. Das gleiche gilt für das Auftreten Tinkas. Ihre zum guten Zweck angesponnene Intrige bedeutet keine Empfehlung an die Arbeiterklasse oder an die werktätigen Frauen, künftig so zu verfahren wie Tinka. Aus der Sicht der zu lösenden praktischen Probleme ist sie keine Vorbildfigur, obwohl sie viele Sympathien auf sich zieht. Wie sie es anfängt, geht es nicht, auch wenn man wünscht, es ginge so. Der Realpolitik ihrer Gegenspieler, die sich allzu sehr auf die Bedingtheiten berufen, setzt sie die Unbedingtheit ihres Wollens entgegen. Es ist nicht planvoll, nicht praktisch, will Bedingtheit des Handelns nicht gelten lassen. Tinkas Auftreten enthält etwas Utopisch-Idealistisches, das sich jedoch mit berechtigter Betonung moralisch fundierter subjektiver Triebkräfte verbindet. Dabei erscheint die Titelgestalt nicht als wandelnde These oder Antithese; durch den Anspruch, den sie als Liebende stellt, die für ihr Glück kämpft, wird ihre Unbedingtheit zu etwas individuell Lebendigem. So affiziert sie uns mit ihren Impulsen und stellt uns den Ergebnissen ihres Tuns und dem Geschehen überhaupt gegenüber. Eine Aufführung hätte in jedem Fall den nicht völlig realen Charakter, die Spiel- und Experimentfunktion dieser Figur und ihres Auftretens zu unterstreichen: Was wäre, wenn plötzlich ein solcher Mensch uns zwänge, das Gewohnte auf ungewohnte Weise anzusehen und zu behandeln? - So etwa. Beispielhaft wird das Verhältnis von Werk und Wirklich10

Kaufmann, Studien

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keit, von Spiel und Ernst in der 9. Szene durch das Spiel im Spiel verdeutlicht. (Von der Spiel-im-Spiel-Szene her gesehen, ist ja das Spiel der Gesamthandlung die „Wirklichkeit", zu der Stellung genommen wird.) Tinka und Helga sind in der Arbeitskleidung von Männern in die Kantine eingedrungen, wo die Werkleitung besorgt die Kommission vom Ministerium umgibt. Um Dunkert und Brenner heimzuleuchten und die Kommission auf Unstimmigkeiten hinzuweisen, mimen die beiden Frauen die „Stimme des Volkes" - die sie wirklich sind. Sie äußern sich jedoch nicht direkt zu dem umstrittenen Beschluß, sondern inszenieren, auf die bekannte Fernsehfolge anspielend, Krupp und Krause - wobei Tinka den Part des Krupp übernimmt, Brenner als Krause auf die Herausforderung antworten muß. „Krupp" trumpft mit seiner technischen Überlegenheit auf, „Krause" versucht zunächst (und das charakterisiert Brenner), auf diesem Gebiet dagegenzuhalten: „Für den Export haben wir sogar beßre" (Maschinen - H. K.). Aber während Tinka als gekränkte Frau den starrsinnigen Mann mit Ohrfeigen derb abstraft, lenkt sie als „Krupp" die Aufmerksamkeit „Krauses" auf jene Bereiche, die entscheidend dafür sind, daß die Überlegenheit des Sozialismus wirksam wird: Tinka: Ja, was haben Sie zu sagen ? Doch nicht viel mehr als meine Leute, Krause. Hempel: Ha Tinka (boxt Brenner in den Leib): Was winden Sie sich denn, hat Sie meine Frage verletzt? Ich wußte doch, daß das Ihr wunder Punkt ist . . . Entschuldigen Sie, Krause, daß ich Sie bewußt kompromittiere . . . Zum Beispiel der Lehrgang. Wird das über Ihren Kopf hinweg entschieden? . . . Hempel: Ja, der Lehrgang. (Stille.) Ttnka: Halten Sie denn als Arbeiter hier nichts von Demokratie? (Brenner schwankt vor Zorn) Ja, was wackeln Sie da? Ist das Ihre ganze Arbeiterbewegung? (Brenner schweigt. Die Arbeiter lachen.)^ Dunkert, der schon längere Zeit versucht hat, die Kommission wegzulocken, beendet ärgerlich das „Arbeitertheater". Aber es hat schon seine Wirkung getan: Die Kommission wird hell146

hörig, Brenner und Dunkert packen gegeneinander aus, Hempel bemerkt, daß sich die Leiter „gar nicht einig" sind. Das Arbeitertheater bringt nicht nur formal, sondern auch inhaltlich eine neue Dimension in das Stück ein. Es vertieft das Verständnis für die gegebene Situation, indem es deren weltgeschichtlichen Kontext in Erinnerung ruft, damit das historisch Neue als Chance und Aufgabe begriffen wird. Das Zeitstück mit operativer Tendenz weitet sich zum Zeitgeschichts- und geschichtsphilosophischen Drama. Damit und darüber hinaus führt das Spiel im Spiel gleichsam das Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit, das ästhetische Prinzip vor Augen, das für das gesamte Werk gilt. Die Art, in der ein bestimmter, nicht austauschbarer Wirklichkeitsausschnitt in seiner tatsächlichen Beschaffenheit ernstgenommen und zugleich artistisch überhöht wird, besitzt Logik und künstlerische Überzeugungskraft. Und doch liegen hier ungelöste Probleme. Das Krupp-undKrause-Spiel macht nämlich auf der anderen Seite augenfällig, daß der große weltpolitische Kontext, an den es erinnert, für die Haupthandlung und das Bewußtsein der Gestalten keine Rolle spielt. Die Handlung wird sogar von großen zeitgeschichtlichen Bezügen sorgfältig abgetrennt. Ein Beschluß ist gefaßt worden, alle erkennen ihn an, und es werden Folgen gezeigt, die sich daraus ergeben, und menschliche Qualitäten, die sich dabei offenbaren. Was jedoch dem Beschluß zugrunde liegt, wird von den Gestalten nicht reflektiert und dem Urteil des Lesers oder Zuschauers entzogen. Wo übergeordnete Instanzen auftreten (Mitarbeiter des Ministeriums) oder von ihnen die Rede ist (Bezirks- und Kreisleitung der Partei), werden sie so behandelt, daß das, was sie tun oder lassen, nicht dem Urteil unterliegt. Auf diese Weise schneidet Braun den leitenden Personen des Betriebes die Möglichkeit ab, die Verantwortung von sich abzuwälzen. Die nimmt ihnen kein höheres Wesen, auch keine höhere irdische Instanz ab. Die Berufung auf irgendeine „Notwendigkeit" soll ihnen nicht als faule Ausrede dienen dürfen. Der Autor zielt auf ein für das Selbstverständnis und die Praxis unserer Gesellschaft in der Tat höchst wichtiges Problem: Die Befreiung von den Fesseln der kapitalistischen Aus10*

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beutung und vom Klassenantagonismus müsse sich darin bemerkbar machen, daß die Menschen, die wirklichen Individuen, nicht mehr wie bisher von den Umständen beherrscht werden, sondern immer mehr ihre Umstände beherrschen. Die Automatisierung, so kann man folgern, wäre ein großer Schritt in dieser Richtung gewesen, ihre Vertagung wird dementsprechend schmerzhaft empfunden. Da nun die Notwendigkeit dieser Maßnahme zwar nicht bestritten wird, die Gründe dafür Erfordernisse der gesamten Volkswirtschaft, internationale Verflechtung usw. - aber aus dem Gesichtsfeld gerückt sind, erhält die Notwendigkeit etwas Abstraktes. Sie erscheint nicht als reales Umfeld der Handlung, sondern in emotionalisierter Form, als Aufbegehren gegen eine abstrakte Fatalität, als Alpdruck von schlechten Gewohnheiten und Anpassung, der auf das Denken und Fühlen der Personen drückt und Bekenntnisse aus ihnen herauspreßt. So entsteht eine Ebene der Reflexion, in der das begrenzte Geschehen unter Umgehung der größeren realen Handlungsbedingungen unvermittelt umschlägt in Überlegungen sehr genereller Art: Was ist der Mensch, was könnte, was müßte er sein, welche seiner Kräfte sind durch die Anpassung an äußere Umstände noch nicht freigesetzt? - usw. (Im Gespräch zwischen dem Standesbeamten und dem Brigadier setzt sich dieses Thema bis in die Schlußszene fort.) In die Ebene der milieugebundenen, in kleinen Schritten vorrückenden Handlung im Betrieb ist die Ebene geschichtsphilosophischer Sinngebung durch Reflexion hineingespiegelt. Einerseits wird die Haltung der Leiter im Gefolge des Beschlusses der Kritik unterworfen und damit der Anschein erregt, als müsse bei richtigem Verhalten die Lösung des Konflikts, der durch die Vertagung entstanden ist, im Bereich des Betriebs auffindbar sein. Die ganz unliterarische Frage drängt sich auf, ob es wirklich vom guten Willen, von der Bereitschaft zur Eigenverantwortung abhängt, die Automatisierung dennoch durchzusetzen. Andererseits beziehen sich die geforderten und eingeleiteten Aktivitäten auf allgemeine sozialistische Verhaltensnormen (offenes Austragen der Widersprüche, Einbeziehung der Arbeiter in die Entscheidungen), die mit oder ohne Automatisierung durchzusetzen wären. Es bleibt, wie man es auch wendet, ein Unverhältnis zwischen 148

der ins Bild gesetzten Handlungs- und der Reflexionsebene des Stücks. Die Frage nach dem Verhältnis allgemeiner objektiver Gesetzmäßigkeiten, denen menschliches Handeln unterliegt, und ihren besonderen Ausprägungen im Sozialismus/Kommunismus, nach der Beziehung von objektiver Wirkung und subjektiver Handhabung ökonomischer Gesetze ist, soweit ich sehe, auch für die philosophische Theorie ein harter Brocken. Braun nimmt sich dieser verwickelten Problematik an und vermag zu zeigen, wie sehr dies - was in theoretischer Formulierung überaus abstrakt erscheint - alle betrifft. D a ß sein Ziel die Herausarbeitung der qualitativen Vorzüge des Sozialismus ist und er dafür auch wirklich etwas tut, ist mit Händen zu greifen. D a ß der Versuch, aus einem ideell-ästhetischen Zentrum heraus auf geschichtsphilosophischem, politisch-moralischem und dramenästhetischem Felde neue Lösungen anzubieten, bestimmte Vereinseitigungen mit sich bringt, ist vielleicht unvermeidlich, darf aber dennoch gesagt werden. Der ungelöste Widerspruch zwischen der gegebenen Konfliktsituation und der geschichtsphilosophischen Reflexion findet seinen künstlerischen Ausdruck in dem - wie mir scheint, ebenfalls nicht völlig adäquat gelösten - Verhältnis von milieugebundenen und überhöhten Handlungszügen. (Bei der Erörterung der Tinka-Figur und der sowohl „exemplarischen" als auch „anekdotischen" Handlung deutete sich dies an.) Einerseits erscheint die Betriebshandlung als Vehikel, um die großen Fragen zu transportieren. Andererseits schreibt Braun kein Parabelstück, in dem die ins Bild gesetzte Sache eine andere vertritt; die Vorgänge im Werk sind die Sache selbst. Das Milieugebundene, Partikulare und das Überhöhte, Exemplarische sind in der Anlage der Handlung wie der Figuren weder völlig zur Deckung gebracht noch klar voneinander geschieden. Und dieser Kompromiß erscheint problematisch. Während das Exemplarische zur Überhöhung tendiert, zur Entfernung von „den Formen des Lebens selbst", zum frei hingestellten Modell, das den Zuschauer einlädt, die Experimentierhaltung des „was wäre, wenn. . . " einzunehmen, bindet das Partikulare die Optik des Betrachters ans Milieu und läßt das Bedürfnis nach Ähnlichkeit, nach dem Wiedererkennen des Vertrauten ent149

stehen. Jedes ist eine große Möglichkeit des Dramas. Ob beide miteinander so zu synthetisieren sind wie in Tinka oder ob da nicht vielleicht Stilentscheidungen fällig wären, das ist hier die Frage. Die reale Dialektik gesamtgesellschaftlicher Bewegung als dramatische Handlung hinzustellen, ist ein sehr hohes Ziel, und „die Vollendung ist" (wie Engels sagt) „wahrhaftig nichts Geringes" 11 . Wir wollen nicht so tun, als liege die Lösung der Probleme, die Braun aufwirft, schon fertig auf der Hand, als habe der Künstler demnach nichts zu tun als sie in Bildern nachzuvollziehen. Die marxistische Theorie bietet - um an den philosophischen Drehpunkt des Stücks zu erinnern - ohne Zweifel den Leitfaden, um Fatalismus und Voluntarismus gegenüber der objektiven Realität der Natur und Gesellschaft gleichermaßen auszuschließen. Das bedeutet jedoch nicht, daß für die Praxis und Perspektive der Kurs zwischen Scylla und Charybdis in jedem Fall schon fertig vorgezeichnet wäre. Die Unabgeschlossenheit der neuen Prozesse fordert schöpferisches Suchen im Leben wie in der Kunst. Die Kritik am Unvollkommenen hat nicht von einem Phantom von Vollkommenheit auszugehen, das sich aus bloßen Wünschen oder aus klassischen Vorbildern nährt. Sie soll den Vorstoß zur künstlerischen Bewältigung zentraler Fragen unseres Lebens unterstützen. Es sind nicht sehr viele, die so beharrlich und mit so viel Talent wie Braun die führende Rolle der Arbeiterklasse in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft zum Ausgangs- und Zielpunkt ihrer künstlerischen Arbeit machen. Tinka ist ein neuer Beweis dafür - ein originelles, kühnes Stück, das der Dramatik neue Möglichkeiten erschließt und sich noch in seinen Fehlern als lehrreich erweist.

Glück ohne Ruh Zur Darstellung

der

Gescblecbterbe^iehungen

Kennst du die herrliche Wirkung der endlich befriedigten Liebe? Körper verbindet sie schön, wenn sie die Geister befreit. Goethe 1 Die

Macht als absolute ist [. . . ]

nicht Herr über ein

anderes, sondern Herr über sich selbst, Reflexion in sich selbst, Persönlichkeit. Hegel 2

1 Den Preis für die schönste Liebesszene in unserer Literatur, gäbe es ihn und hätte ich über ihn zu verfügen, erhielte Günter de Bruyn für das dreizehnte Kapitel seines Romans Buridans Esel. Zur Begründung gäbe ich an, daß in dieser Szene, die freilich im Kontext des ganzen Buches gelesen werden muß, auf wenigen Seiten alle wesentlichen Aspekte einer Liebesbeziehung wenigstens andeutungsweise berührt sind. Besagte Szene, fast genau in der Mitte des Romans stehend und so auch äußerlich als ein Höhepunkt charakterisiert, beruht - formell gesehen - auf einigen sehr allgemeinen Momenten, die breite Identifizierungsmöglichkeiten bieten: Die Partner, die sich lange nacheinander gesehnt, an eine glückliche Vereinigung kaum noch geglaubt haben, treffen sich fast unverhofft und erleben in einer Liebesnacht eine hohe körperliche, geistige und seelische Beglückung. Sie „erkennen" einander im mannigfachen Sinn des Wortes; der Genuß der Körper korrespondiert mit dem Gefühl und Bewußtsein völliger Harmonie, man glaubt sich füreinander bestimmt, sieht das bisherige Leben nur als Vorbereitung auf diesen Höhe- und Wendepunkt, der Augenblick ist Ewigkeit, das Glück unvergleichlich, daher unaussprechlich. Nun sind aber in dem „Bericht", wie de Bruyn sein Buch 151

beharrlich nennt, diese allgemeinen Momente auf verschiedene Weise überlagert und durchkreuzt. Indem der Autor-Erzähler die äußeren und inneren Vorgänge - stellenweise in hymnisch preisender Prosa - vorträgt, erweist sich das EinzigartigUnaussprechliche doch als aussprechbar und daher als nicht so unvergleichlich. Der Umstand, daß jeder, der Ähnliches erlebt hat, sich hier wiedererkennen kann, wird ironisch zum Problem gemacht, der geschilderte Vorgang hat - de Bruyn gebraucht das Wort - etwas von einer „Schablone". Soweit es sich nur um die allgemeinen Momente handelt, erscheinen die Teilnehmer der Szene austauschbar. Andererseits sind sie es nicht, denn das Allgemeine, das die Szene formell konstituiert, erhält seinen besonderen Inhalt durch die Individualitäten, die da unter bestimmten Umständen zueinanderfinden. Karl E r p ist vierzig, Familienvater, Parteimitglied, erfolgreicher, geschätzter, gut verdienender Bibliotheksleiter und lebt dabei in einem inneren Zwiespalt. E r weiß, daß er stagniert, den Elan eingebüßt hat, aber auch, daß er sich an seine gehobene Stellung und an Wohlstand gewöhnt hat und davon nicht mehr loskommen wird. Seine Partnerin, Fräulein Broder, lebt in sehr bescheidenen Verhältnissen, ist an Selbständigkeit gewöhnt und hat - wie aus sparsamen Andeutungen zu vermuten ist - einige ungute Erfahrungen mit Männern hinter sich. Diese zwei treffen sich, und zwar nachdem sie ihn Monate zuvor schon zweimal zurückgewiesen hat einmal kühl und enttäuscht, dann nochmals, als sie sich besser kannten und sie ihn bereits gern hatte. In der Zwischenzeit hatten beide in peinvoller Heuchelei unter Kollegen ihre Gefühle verheimlicht, und endlich hatte Erp, spießig-reaktionären Verwandtenbesuch aus dem Westen zum Anlaß oder Vorwand nehmend, am Heiligabend 1965 sein Haus verlassen. Bis in Einzelheiten formieren diese hier flüchtig in Erinnerung gerufenen Eigenarten der Personen und ihrer Lage ihr intimes Beisammensein. So überfällt - als beiläufig charakteristisches Detail — während einer Pause der Erschöpfung, in der „man" an ganz andere Dinge denkt (so weit die „Schablone"), ihn oder sie oder beide plötzlich die Scham, sich ganz dem Privatglück hinzugeben und nicht an den Krieg in Vietnam zu denken. Nicht zufällig läßt de Bruyn offen, wer von ihnen (beide 152

sind politisch engagierte Menschen) dies gedacht hat. Er behandelt sie im sprachlichen Ausdruck nachdrücklich als Einen, so ihre Gleichgestimmtheit, ihre - momentane - Gleichheit betonend. Waren die früheren Begegnungen noch Verführungsversuche mit typischer Rollenverteilung, so ist nun keine Rede davon, daß er sie „eroberte" oder „nahm" und sie sich „hingab"; vielmehr heißt es: „Da liebten sich zwei [ . . . ] D a erkannten zwei einander [ . . . ] D a bewunderten zwei einander" 3 usw. Den kleinen, aber ausschlaggebenden Anstoß dazu, daß aus dem halb zufälligen und schon beendeten Treffen auf der Straße eine Liebesnacht wurde, hatte sie gegeben. - Auf dieser Grundlage wird wichtig, was die Umarmung in beiden an Gedanken und Gefühlen in Bewegung setzt. Erp hat nicht mehr das Bedürfnis, die Heldenmaske zu tragen, er ist imstande zu ehrlicher Lebensbilanz und will in diesem Augenblick wirklich den Neubeginn (sein Lieblingsgedanke ist: aufs Land zu gehen und dort kulturelle Pionierarbeit zu leisten). Freilich verwirklicht er dann nichts davon, versagt im Alltag schimpflich, und die Geschichte nimmt deshalb ein gar klägliches Ende. Doch bleibt wahr, daß die Liebe seine beste Möglichkeit hervortreibt oder, besser gesagt: Indem die intime Begegnung das menschlich Wertvollste an ihm hervortreten läßt, erhält sie die Qualität von Liebe. Und dies ist es, was das „kühle" Fräulein Broder auftauen läßt. Sie hatte sich nicht aus Prüderie dem von ihr geschätzten Chef verweigert, der anfangs bloß einen Seitensprung gewollt hatte, auch nicht nur, weil sie sich als bequemes Liebchen zu gut war, sondern vor allem, weil sie hoffte, in dem eitlen Verführer im Laufe der Zeit noch den liebenden und achtenswerten Mann zu entdecken. Und da dies nun erreicht scheint, gibt sie sich ohne Reserve, aber auch ohne aufzuhören, ein Mensch zu sein, der über sich selbst entscheidet. Sie hat sich nicht überrumpeln lassen, sie will es so. „Diese spezielle Erp-Broder-Wirklichkeit", kommentiert der Autor-Erzähler, erführen die Leser nicht, wenn er es lediglich ihrer Phantasie überlassen hätte, sich die Szene nach Gutdünken auszumalen. Naheliegende „Mißdeutungen" machten es notwendig, daß er an dieser Stelle nicht die „übliche Lücke" lasse, daß er nicht mit den Worten: „Als sie am nächsten Morgen erwachten" ins nächste Kapitel springe, sondern die Schwierig-

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keit auf sich nehme zu berichten, was war - „soweit Anstand, Geschmack und Ämter es erlauben". 4 Günter de Bruyn will klarmachen - und das soll trotz des erschreckend raschen Verfalls der Liebe Erps doch wohl ernstgenommen werden - , daß da „Großes geschah". Der menschliche Gehalt, der in der Liebesnacht hervortrat, erweist sich als der von Menschen einer bestimmten Zeit, Gesellschaft, sozialen Situation und sozialen Psyche. Das „Schablonen"-hafte, was in vergleichbarer Situation immer getan und gesagt wird, erhält dadurch seine Bedeutung, seinen Wert oder Unwert. Dies um so mehr, als der Autor in seinem Roman äußere Zwänge materieller, juristischer oder moralischer Art eine geringe, jedenfalls nicht bestimmende Rolle spielen läßt. Erps Frau, die dritte Hauptperson des Buches, übt keinen Druck auf ihn aus, seine Kollegen und Vorgesetzten sind nachsichtig und verständig. Er könnte mit der Geliebten ein neues Leben beginnen. Wie sehr er in seiner moralischen und intellektuellen Physiognomie durch die Gesamtheit seiner Lebensverhältnisse determiniert ist, so wenig ist ihm seine Entscheidung unmittelbar durch Umstände aufgezwungen. Erp hätte eventuell den Arbeitsplatz zu wechseln, ein geringeres Gehalt in Kauf zu nehmen, auf sein Auto zu verzichten, vielleicht aufs Land zu gehen. Er müßte dann leben, wie die Geliebte ohnehin lebt. Und er gewänne in Fräulein Broder eine Partnerin, die - was er wünscht oder zu wünschen glaubt - im Unterschied zu seiner Frau Elisabeth nicht als sein Trabant um ihn kreist, sondern in der Partnerschaft ein Wesen mit eigenem Willen bleibt. Obendrein stellt sich dann heraus, daß Erp die erwähnten zumutbaren Opfer gar nicht bringen müßte: Günstige Umstände und wohlwollende Freunde bewahren ihn davor. De Bruyn arrangiert Erps Verhältnisse ausdrücklich so, daß er ausreichend Spielraum hat, zu handeln und zu entscheiden. In desto grellerem kritischen Licht steht, was er tut und läßt. Auf diese Weise kommt besonders deutlich die uns angehende Frage in Sicht, ob sich mit dem Zurückgehen äußerer Zwänge die in der Beziehung der Geschlechter enthaltenen Probleme bereits auflösen oder ob sie sich - wie Buridans Esel zu schlußfolgern nahelegt - damit erst in aller Klarheit oder jedenfalls auf neue Art stellen. „Wenn es stimmt", schreibt de 154

Bruyn gegen Ende seines Buches, „daß Größe durch Widerstände entsteht, wäre unsere verständige Gesellschaft kein Boden für große Liebesgeschichten. Möglich. Aber das spricht für die Gesellschaft." 5 Die unter äußerem Druck stehende, ihm erliegende oder über ihn triumphierende Liebe zieht alle Emotionen der Bejahung ungebrochen und unreflektiert auf sich, sie ist das Gute in einer schlimmen Welt, die damit den „Boden für große Liebesgeschichten" abgibt. Hat sich die Liebe jedoch nicht in erster Linie im Kampf gegen äußere feindliche Mächte zu bewähren, so hängt es desto mehr von den Qualitäten ab, die Mann und Frau in die Beziehung einbringen, ob etwas entsteht, was zu bejahen ist. Und wovon hängen diese Qualitäten ab, was ist ihr Maßstab? Die Liebesbeziehungen stehen in einem neuen Zusammenhang und verlangen nach einem neuen Wertungsgefüge. Gerade darum arbeitet de Bruyn sehr bewußt die beschriebene Konstellation heraus. Sie entspricht - ohne daß andere damit auszuschließen wären - besonders direkt einer gesellschaftlichen Situation, in der fundamentale, unantastbare Grundlagen des Sozialismus bereits geschaffen sind und mit der in alle Lebensbereiche vordringenden entwickelten sozialistischen Gesellschaft auch alle ihre Widersprüche sich entfalten. Danach lohnt es sich zu fragen: wie in den literarisch gestalteten Beziehungen der Geschlechter unser Leben in seinen neuen Qualitäten und Möglichkeiten, in seinen verwirklichten und unverwirklichten Erwartungen sich darstellt. Um vom Besonderen ins Allgemeinere vorzudringen, beginnen wir mit dem, was de Bruyn die „übliche Lücke" nennt, mit der Gestaltung erotischer Beziehungen im engeren Sinn. Es wird sich rasch zeigen, wie wenig dieser Bereich von anderen das menschliche Zusammenleben betreffenden Faktoren isolierbar ist. Mit ein paar Beispielen sei zuvor die literatur- (und kultur-) geschichtliche Stellung unseres Problems andeutungsweise kenntlich gemacht.

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Tolstoi sprach, so berichtet Gorki, gern und viel über Frauen, „aber stets derb wie ein russischer Bauer"6. Einmal habe er Tschechow mit der Frage überfallen, ob er in seiner Jugend „ein sehr ausschweifendes Leben geführt" habe. „Anton Pawlowitsch zupfte, verlegen lächelnd, an seinem Bärtchen und brummte etwas Unverständliches. Lew Nikolajewitsch aber heftete seinen Blick versonnen aufs Meer und bekannte: ,Ich war ein unermüdlicher . . . ' Er sagte das zerknirscht und schloß mit einem mehr als derben Bauernwort. [...] Vom herkömmlichen Standpunkt aus war seine Rede (über zwei Novellen Gorkis - H. K.) eine Kette von .unanständigen' Worten [...] Jetzt aber begreife ich, wie dumm es war, das übelzunehmen."7 In der internen Aussprache unter Schriftstellerkollegen verständigte man sich in „unanständigen" Worten über das, was in der für die Öffentlichkeit bestimmten literarischen Äußerung - das wird mit Selbstverständlichkeit unterstellt - nicht gesagt werden kann. Im gleichen Gespräch bezeichnete Tolstoi als die „schlimmste Tragödie" des Menschen „die Tragödie des Schlafzimmers".8 Gorki hatte diese Bemerkung veranlaßt, indem er auf Die Kreutzersonate anspielte, die in der Tat als eine Tragödie des Schlafzimmers gelten kann. Der Autor läßt in dieser berühmten Erzählung die fürchterliche Geschichte einer üblichen Standes- und Konvenienzehe von einer anderen Person berichten, mit der er offensichtlich in der Empörung und radikalen Verneinung solcher ehelichen Beziehungen übereinstimmt, die darauf beruhen, daß Mann und Frau zu untätigem Wohlleben erzogen sind, der als verliebter Freier auftretende Mann zuvor seine Jugend in Bordellen verschwendet hat, die Frau sich für ihre Unterdrückung zu rächen und schadlos zu halten sucht und sich die Partner bis aufs Blut hassen und peinigen. „Schweinisch" wird ein solches Leben genannt, und deshalb ist die sexuelle Beziehung, in der sich der Haß und die parasitäre, egoistische Haltung fortsetzen, ebenfalls „schweinisch". Der Erzähler hat dieser Situation durch die Ermordung seiner Frau ein Ende gesetzt und meint rückblickend, die einzig mögliche Lösung der vollkommen unmenschlichen Geschlechterbeziehung 156

sei die absolute Askese aller, die religiöse Aufhebung der Menschheit selbst. Aber auch in dieser Erzählung, die in der sozialen und psychologischen Analyse, im Bloßlegen der Triebkräfte des Handelns an Radikalität und Offenheit nichts zu wünschen übrig läßt, kommt das Schlafzimmer, das eigentliche Handlungszentrum, nur summarisch referierend vor. Ein anderes, in manchem Betracht entgegengesetztes Beispiel. Goethe zeigte Eckermann Anfang 1824 zwei ungedruckte erotische Gedichte, darunter Das Tagebuch, in dem das Schlafzimmer durchaus den Schauplatz bildet. Goethe bejaht und feiert in den Stanzen des Tagebuchs nicht nur die mit Liebe verbundene sexuelle Beziehung, er schildert sie auch: Zu dem Reisenden legt sich im fremden Gasthaus des Nachts die sehr junge Wirtstochter, schmiegt sich an ihn und schläft ein. Der Reisende ist über diese Naivität derart erstaunt, ja erschüttert, daß sich seine männliche Kraft nicht regt, und er überlegt, daß ihm dergleichen bei seiner Geliebten nie geschieht, daß sich in ihrer Gesellschaft sogar zur Unzeit und „an manchem Unort" sexuelle Wünsche bei ihm einstellten - selbst in der Kirche: „Vor deinem Jammerkreuz, blutrünst'ger Christel Verzeih mir's Gott, es regte sich der Iste" 9 . (Blutrünstig heißt hier etwa: blutüberströmt, und „Iste" ist „jener", für den, wie Goethe an anderer Stelle bedauernd bemerkt, die deutsche Sprache ein poesiewürdiges Wort vermissen läßt. - Davon später.) Diese Erinnerungen erwecken „jenen" nun doch, aber der Reisende läßt die Schöne neben sich unberührt, denn nicht ihr, sondern der Geliebten ist die Erweckung geschuldet. Diese eindeutige und provozierende Verherrlichung einer auf Liebe sich gründenden Sexualität bleibt Geheimliteratur. (Erst um die Jahrhundertwende, nach dem Tode der großherzoglichen Schirmherrin der „historisch-kritischen" Gesamtausgabe von Goethes Werken, wagten die Editoren, Das Tagebuch zu veröffentlichen, und zwar an möglichst entlegener Stelle, hinter „Lesarten" verschanzt und mit schamhaften Pünktchen versehen. Noch während meiner Studienzeit machte man seine Freunde verstohlen auf den berüchtigten Band 53 der SophienAusgabe aufmerksam.) Goethe bekennt sich intern zu der Dichtung, liefert aber die Theorie zu ihrer Verheimlichung gleich mit. „Könnten Geist und höhere Bildung", sagte er zu Ecker157

mann, „ein Gemeingut werden, so hätte der Dichter ein gutes Spiel; er könnte immer durchaus wahr sein und brauchte sich nicht zu scheuen, das Beste zu sagen." Da jedoch das gedruckte Wort „in die Hände einer gemischten Welt" komme, habe er „Ursache, sich in acht zu nehmen, daß er der Mehrzahl guter Menschen durch eine zu große Offenheit kein Ärgernis gebe." Was den Griechen und noch Shakespeare erlaubt gewesen sei, „will uns zu sagen nicht mehr anstehen." 10 Die Gegenbeispiele lassen sich dadurch aufeinander beziehen, daß die beiden großen Meister des Realismus - die beide auch große „Sinnenmenschen" waren - das Verhältnis zum Leser bei ihren Dichtungen berücksichtigten. Der eine spart in dem der Öffentlichkeit zugedachten Werk die auf Grund ihrer unmenschlichen Voraussetzungen abgelehnte, häßliche Sexualität aus der Darstellung aus, der andere enthält der Öffentlichkeit die auf Grund ihrer menschlichen Voraussetzung bejahte, schöne Darstellung der Sexualität vor. Beide verweisen auf die Zukunft - Tolstoi in religiöser Hoffnung auf Erlösung von dem Übel, Goethe in unbestimmter Hindeutung auf einen Zustand, in dem Geist und höhere Bildung Gemeingut aller würden. An dieser Stelle sei daran erinnert, daß Friedrich Engels, als er 1883 in der sozialdemokratischen deutschen Presse den in Vergessenheit geratenen Georg Weerth in Erinnerung rief, als dessen besondere Leistung, „worin er Heine übertraf (weil er gesünder und unverfälschter war) und in deutscher Sprache nur von Goethe übertroffen wird", gerade den „Ausdruck natürlicher, robuster Sinnlichkeit und Fleischeslust" 11 hervorhob. Er wolle, sagt Engels, die Leser des Sozialdemokrat nicht dadurch vor den Kopf stoßen, daß er die „anstößigen Sachen" Weerths zum besten gebe, könne jedoch „die Bemerkung nicht unterdrücken, daß auch für die deutschen Sozialisten einmal der Augenblick kommen muß, wo sie dies letzte deutsche Philistervorurteil, die verlogene spießbürgerliche Moralprüderie offen abwerfen, die ohnehin nur als Deckmantel für verstohlene Zotenreißerei dient." 12 Mit dem Hinweis auf Freiligrath, dessen Gedichte die Sinnlichkeit verleugnen und der dabei besondere Freude „an einem stillen Zötlein" 13 gehabt habe, trifft Engels - selbstverständlich in voller Absicht - in dem besonderen Problem zugleich das allgemeinere einer partiell in der damali158

gen Sozialdemokratie noch vorhandenen Abhängigkeit von der kleinbürgerlichen Demokratie. Die Scheu, von den „natürlichen, unentbehrlichen und äußerst vergnüglichen Dingen" des Geschlechtslebens „unbefangen zu sprechen"14 (die Zote ist als unentbehrliche Ergänzung immer mitzudenken), ist ein Symptom dafür, daß die Arbeiterpartei noch nicht in jeder Hinsicht zu vollem Selbstverständnis ihrer Lage und Rolle gelangt ist. Tatsächlich werden in der sozialdemokratischen Literatur der Zeit bis zum ersten Weltkrieg erotische Motive häufig so behandelt, daß für die Wertung von Verführung, Untreue, sexuellem Begehren usw. die Maßstäbe kleinbürgerlicher Wohlanständigkeit gelten, und verhältismäßig rar sind die Fälle, in denen auf diesem Gebiet der herrschenden Moral ein trotziges „Ihre Ehre ist nicht meine Ehre!" entgegengesetzt wird 1 5 (wie es Karl Liebknecht tat, als ihn die imperialistischen Kriegstreiber einen Ehrlosen nannten). Was den Tageskampf der Arbeiterklasse angeht, war dies gewiß nicht die Hauptfrage damaliger sozialistischer Literatur und Ideologie. Im Hinblick auf die Befreiung der Arbeiterklasse von den Fesseln der alten Gesellschaft war sie jedoch wichtig genug, daß ihr Engels und Bebel umfangreiche wissenschaftliche Untersuchungen widmeten (Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats bzw. Die Frau und der Sozialismus), die zu den am meisten gelesenen und diskutierten Werken der Literatur des wissenschaftlichen Sozialismus gehören.

3 Ohne daß sich die - unterschiedlichen - Erwartungen Tolstois, Goethes und Engels' erfüllt hätten, begann die bürgerliche Literatur seit dem Ende des 19. Jahrhunderts das von Goethe sarkastisch formulierte eherne Gesetz zu durchbrechen, man dürfe „nicht vor keuschen Ohren nennen,/ Was keusche Herzen nicht entbehren können"16. Und seit etwa fünfzehn Jahren ist in einer Reihe kapitalistischer Länder mit dem „Tabu" auf sexuellem Gebiet mehr oder minder gründlich Schluß gemacht worden. Das bedeutete unter kapitalistischen Verhältnissen zunächst einmal die Entdeckung einer großen 159

„Marktlücke", in die die erotischen Klassiker außereuropäischer Kulturen, der klassischen Antike und der Renaissance, die Geheimliteratur der Aristokratie und der Bourgeoisie oder manche politisch „links" gefärbten provozierenden Protestwerke ebenso hineinpaßten wie eine serienmäßig hergestellte Wegwerfliteratur sexüellen Inhalts. Jeder, der es bezahlen kann und Lust darauf hat, kann all dies nun lesen; ein „Tabu", das Ausdruck von Unfreiheit war, ist gebrochen worden. Wie steht es nun mit der befreienden Funktion ? Der weniger von Unwissenheit, Aberglauben und Geheimniskrämerei bestimmte Umgang mit dem sexuellen Bereich hat selbstverständlich große positive Bedeutung. Verdienst in dieser Hinsicht kommen vor allem der Sexualwissenschaft und -pädagogik zu. Was jedoch die nicht wissenschaftliche literarische „Sexwelle" angeht, so sei hier die Behauptung gewagt und zu exemplifizieren versucht, daß es Ursache gibt, an ihrer Befreiungsfunktion zu zweifeln, weil sich in ihr als Dominante die Tendenz durchsetzt, hinter dem lautstark vorgetragenen Schlagwort vom Bruch mit dem sexuellen Tabu zu verbergen, daß andere, am Ende noch wichtigere Tabus, die das menschliche Zusammenleben betreffen, damit undiskutiert weitergeschleppt, ja befestigt werden. Noch in den fünfziger Jahren hatte der amerikanische Schriftsteller Henry Miller große Schwierigkeiten bei der Veröffentlichung seiner Werke, weil er in einer bis dahin unerhört rücksichtslosen Weise sexuelle Vorgänge schilderte. Doch enthielten beispielsweise seine Romane Wendekreis des Krebses und Wendekreis des Steinbocks auch Betrachtungen über die Situation des heutigen Menschen in der kapitalistischen Welt überhaupt, über den Sinn des Lebens, über Dante, Goethe, Dostojewski usw. Miller kann nicht einfach als ein Verkäufer von „Pornographie" angesehen werden; er wollte eine bestimmte Haltung zu seiner Umgebung, eine eigene Weltsicht artikulieren, und dabei spielte der sexuelle Bereich eine wichtige Rolle. Das Erzähler-Ich der genannten Romane hat es längst aufgegeben, ein „normales" bürgerliches Leben zu führen, etwa zu arbeiten, eine Familie zu ernähren. Im Wendekreis des Steinbocks wird einleitend geschildert, wie der Erzähler in einem riesigen Trust arbeitet, in einer Menschenmühle, die sich nach 160

der Melodie „Heuern und Feuern" dreht und ganze Völkerschaften aufsaugt und wieder ausspeit. Dieses absurde Karussell, diese moderne Apokalypse erscheint als Weltmodell und bleibt es auch, nachdem sich der Erzähler diesem Treiben entzogen hat und als Outsider, Schnorrer und Betrachter ein Leben ohne anderes Ziel aufgenommen hat als das, sich als bindungsloses Wesen zu fühlen und zu bestätigen. Aus den Zwängen des Trusts befreit, fühlt er sich wiedergeboren und hat nun Liebe und Haß, jedes moralische Verhältnis zum anderen Menschen hinter sich gelassen. Es gibt im Roman nur noch dieses isolierte Ich einerseits und andererseits eine chaotische Welt, die nur dazu gut ist, ihr Genüsse zu entlocken. Wer die geistige Welt Gottfried Benns in den zwanziger Jahren kennt, findet sich in der Welt Henry Millers leicht zurecht. Den Ausgangspunkt bildet hier wie dort Haß gegen die imperialistische Welt, der sich jedoch manifestiert als Absage an Vernunft und Moral, an das soziale Wesen des Menschen überhaupt, als radikaler Solipsismus, der die Welt, mag sie gut oder böse sein, auf sich beruhen läßt. Der solipsistische Selbstgenuß tendiert bei Benn mehr zum Ästhetizismus, doch hat Benn auch ausgesprochen, wie eine Geschlechterbeziehung auf dieser Grundlage aussieht: „Ich bin gehirnlich heimgekehrt Aus Höhlen, Himmeln, Dreck und Vieh. Auch was sich noch der Frau gewährt, ist dunkle, süße Onanie." 17 Was Benn in ein paar Versen kurz und bündig sagt, malt Miller in zahlreichen Szenen breit aus. Reihenweise läßt er Frauen einzig zu dem Zweck auftreten, einerseits dem ErzählerIch Genuß zu bereiten, andererseits seine Welthaltung dadurch zu bestätigen, daß die Frauen gerade dies und nur dies wollen. Brunst ist ihr Wesen. Welche körperlichen und sozialen Attribute sie auch besitzen - sie wollen nichts als geschlechtlich konsumiert sein, sie sind im „Wesen", das aus ihrer Leibesmitte leicht herauszulocken ist, alle gleich. Ein gelegentliches Entsetzen des Erzählers in Wendekreis des Krebses beim Anblick einer halb verhungerten Prostituierten, die maschinenmäßig die ihr gebotenen fünfzehn Francs abarbeitet, bleibt beiläufig, ja 11

Kaufmann, Studien

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die Szene bekräftigt nur die Grundauffassung vom Irrsinn einer mechanisierten Welt. In Wendekreis des Steinbocks wird der Zynismus eines egoistischen Genießens kräftig unterstrichen durch die Schilderung besonderer Erniedrigungen, die man der eigenen Frau zufügt, von Brutalitäten gegen Mütter usw. Die Sexualszenen bekräftigen nur wieder und wieder, was in der Beschreibung des Trusts schon angelegt war: Die Welt ist ein Karussell, an dessen zielloser Fahrt man auf gut Glück teilnehmen kann. Miller ist, wie gesagt, ein Schriftsteller mit geistigem Anspruch, über dessen Inhalt man diskutieren kann. Das Erstaunliche, Erschreckende ist jedoch, daß wesentliche Merkmale der von ihm entworfenen Modelle des Verhaltens und der Partnerbeziehungen in ordinärer, trivialer, ohne jeden geistigen Anspruch lediglich zu Konsumzwecken fabrizierter Sexliteratur wiederkehren. Dabei ist völlig gleichgültig, ob die Verfertiger solcher Schriften bewußt Miller kopieren, ob sie ihn überhaupt kennen oder nicht. Sie bringen ihre Ware an den Mann, sie müssen bestimmte Erwartungen sowohl zufriedenstellen als erwecken, und dabei erweist sich die bei Miller anzutreffende Sicht auf den Menschen als zweckmäßig. Auf die Klischees, die dabei herauskommen, ist schon verschiedentlich hingewiesen worden. Zu ihnen gehören unter anderem das Bild von der ewig sexualhungrigen und im übrigen uninteressierten und uninteressanten Frau und vom ewig potenten Mann, die Gleichförmigkeit der Beziehungen, die Unfähigkeit zu jeglicher Entdeckung. Was bei Miller weltanschaulich ausdrücklich motiviert ist, findet in fataler Parallele spontan und total in der trivialen Sexualliteratur statt: die völlige Entleerung der menschlichen Persönlichkeit. Da die handelnden Personen die anderen ausschließlich als Genußobjekte betrachten und behandeln - wie, sagen wir, Zigaretten - , da die geschlechtliche Beziehung folglich eine rein dingliche ist und andere Beziehungen nicht existieren, da der Genuß den Charakter des Konsums, nicht den des Austauschs hat, erscheinen die Menschen gänzlich leer - denn wirklicher menschlicher Reichtum ist Beziehungsreichtum. Man erinnere sich der Erörterung Kalles und Ziffels in Brechts Flüchtlingsgesprächen über den Menschen und seinen Paß: Ohne Paß sei der Mensch nichts, 162

das eigentlich wichtige sei der Paß, jedoch ganz ohne Menschen habe auch der Paß keinen Sinn, der Mensch verhalte sich zum Paß etwa wie der Notenständer zu den Noten. So ist es hier: Ganz ohne Menschen geht es nicht (man' kann nicht einfach immer wieder die Funktion der Geschlechtsorgane beschreiben), notdürftig müssen menschenähnliche Figuren hergerichtet, Episoden erfunden und verkettet werden. Doch ist die Funktion des Menschen im Geschehen lediglich die (analog zum Notenständerbeispiel), ein Träger von Geschlechtsorganen zu sein. Die dem Anschein und Anspruch nach weltanschaulich gänzlich uninteressierte triviale Sexliteratur transportiert in Wahrheit sehr massiv Ideologie: Sie faßt den Menschen unter dem Aspekt einer schwer noch überbietbaren Selbstentfremdung und lädt ihn ein, sich in dieser Situation heimisch zu fühlen, die Erfüllung seiner Wünsche innerhalb der nicht diskutierbaren gegebenen Voraussetzungen zu suchen, die Selbstentfremdung als seine Macht und Glücksmöglichkeit zu empfinden. Die Funktion der kapitalistischen Konsumliteratur mit sexuellem Inhalt erschöpft sich nicht darin, dem Produzenten Profit, dem Konsumenten Zerstreuung zu bieten, sie hat vielmehr einen ausgesprochen apologetischen Charakter, sie bestätigt die herrschenden Verhältnisse. Nun läßt sich natürlich einwenden, daß die Beispiele tendenziös gewählt sind, daß es in der heutigen bürgerlichen Literatur auch belletristische Werke mit sexuellem Inhalt gibt, in denen die Dinge mindestens komplizierter oder sogar ganz anders liegen. Das sei unbestritten. (Der kritische und humanistische Beitrag, den beispielsweise Heinrich Boll in seinem Roman Gruppenbild mit Dame zum Thema Sexualität in der Literatur leistet, wäre eine eigene Untersuchung wert.) Es geht hier, wie gesagt, nicht um die Geschichte einer literarischen Strömung, sondern darum, auf eine dominierende Tendenz hinzuweisen und den Verdacht zu bekräftigen, daß unter kapitalistischen Verhältnissen die „Befreiung vom sexuellen Tabu" sich mit der Bekräftigung anderer Tabus verbindet, an deren Erhaltung das kapitalistische System interessiert ist. In der trivialen Massenliteratur dient die Phrase von der Befreiungsfunktion allein als Vorwand für die Organisation des störungsfreien Konsums. Selbst der konfektionierteste Schund 11*

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nimmt - mindestens in Werbetexten - für sich in Anspruch, an der Befreiung der Menschheit mitzuarbeiten, Aggressionen abzubauen, dadurch künftige Weltkriege zu verhindern und dergleichen mehr. Robert Merle hat in seinem Roman Hinter Glas - er behandelt, gestützt auf viel Tatsachenmaterial, Probleme des Lebens der Pariser Studenten in der politisch brisanten Situation von 1968 - unter anderem sehr anschaulich gezeigt, wie wenig Beglückung und Bereicherung viele der jungen Leute dadurch erfahren, daß sie die alten Bande frommer Scheu in den Partnerbeziehungen abwerfen. Neue Zwänge entstehen, bei einem Teil der Männer bilden sich gefühlsarme, veräußerlichte Einstellungen, bei anderen Verklemmungen heraus, viele Mädchen fühlen sich frustiert. Es deutet sich hier schon an, daß es keine sexuelle Befreiung außerhalb und unabhängig von den übrigen gesellschaftlichen Bestimmungen gibt, die für die Emanzipation des Menschen ausschlaggebend sind. Abgesehen von streng wissenschaftlichen Untersuchungen gibt es auch keine Darstellung menschlicher Intimbeziehungen, die sexuellen eingeschlossen, in der nicht die Welt- und Menschensicht des Verfassers insgesamt voll anwesend wäre. Dies vielleicht um so mehr, als sich viele nicht bewußt sind, daß sie über ihre Wünsche und Ideale, über ihre Vorstellungen vom Wert oder Unwert des Menschen etwas aussagen, indem sie von Dingen des Geschlechts sprechen. (Der, wie einige Kritiker formulieren, „wertfrei" gebrauchte Begriff der „Pornographie" für alles, was Sexualität zum Gegenstand hat - sei es Catull oder zeitgenössischer Massenkitsch - , faßt das Problem rein formal; d. h. aber, er faßt diese Literatur nur unter dem Aspekt, eine Ware zu sein.) Ist das generelle Verbot, sexuelle Vorgänge zur Sprache zu bringen, einmal gefallen, so wird klar, daß nicht die Extensität und Detailliertheit der Darstellung darüber entscheidet, was gut oder schlecht, schön oder häßlich, verabscheuungswürdig oder begehrenswert, sittlich oder unsittlich daran ist, sondern das in solchen Darstellungen sich manifestierende Verhältnis des Menschen zum Menschen. Von einem solchen Gefühl für Sittlichkeit waren jene amerikanischen Frauen geleitet, die, auf die Sexwelle anspielend, den imperialistischen Machthabern 164

die Losung entgegenhielten: „Obszön ist euer Vietnam-Krieg". Man kann pauschal und vorwegnehmend unserer sozialistischen Literatur bescheinigen, daß sie, sei es in bewußter Abgrenzung, sei es einfach im Gefolge ihrer humanistischen Grundorientierung, bei der Darstellung intimer Vorgänge eine recht eindeutige Alternative zu den skizzierten spätbürgerlichen Haltungen geboten oder mindestens in klar erkennbarer Weise gesucht, daß sie keine oder nur im Einzelfall geringe Konzessionen an die kritiklose Reproduktion der Selbstentfremdung gemacht hat. Nun ist jedoch die an Brechts Paß- und Notenständerbeispiel exemplifizierte Entfremdungsproblematik in spätbürgerlicher Sexualliteratur nur die allgemeinste, in anderen Themenbercichen ebenso aufweisbare, offen zutage liegende Seite des Problems. Sie verbindet sich mit einer anderen, dem Thema spezieller angehörigen und bedeutend komplizierteren Seite. Bei Miller gibt es neben dem Erzähler noch ein paar gleichoder ähnlich gesinnte Kumpane, die sich gegenseitig mit Geld und mit Frauen aushelfen, gemeinsame Abenteuer unternehmen und Erlebnisse austauschen. Diese Gestalten sind im wesentlichen Verdopplungen, Varianten des Erzähler-Ichs, werden aber noch in gewissem Maß als Personen mit Eigenleben gesehen. Dies sind selbstverständlich Männer. Um so nachdrücklicher akzentuiert der Autor damit, daß die total verdinglichten, die bloß konsumierten Figuren, die Objekte der auf egoistischen Genuß gerichteten Handlungen die Frauen sind. Der Handlungs- und Figurenaufbau, der einer unkritisch reproduzierten Entfremdungssituation entspricht, vermittelt zugleich das Schema eines Verhältnisses der Geschlechter, in dem der Mann das wollende Subjekt, die Frau das willige Objekt des Geschehens ist. Miller gibt sich als Verächter der Normen des allgemeinen bürgerlichen Lebens. Flüchtend aus der offiziellen Welt der Herrschaft und Unterdrückung, nimmt sein Erzähler-Ich in seine inoffizielle, private Welt, in der jene Normen nicht gelten sollen, mit größter Selbstverständlichkeit die Vorstellung mit, daß Genuß durch Machtausübung und Unterwerfung zustande kommt, und zwar durch Machtausübung des Mannes und Unterwerfung der Frau. Das bürgerliche Privatleben - und auch das vorgeblich antibürgerliche, 165

bohemehafte - reproduzieren die Grundsachverhalte des öffentlichen bürgerlichen Lebens. Das der Sexliteratur meist unentbehrliche Klischee vom gewaltig potenten Mann und der stets geschlechtshungrigen Frau ist nur die sensualistisch verinnerlichte Form, in der dem Mann suggeriert wird, daß er im geschlechtlichen Kontakt Macht ausübt und Macht genießt. Die sozusagen obligatorische Manifestation dessen ist die Schilderung der Beherrschtheit des Mannes bei gleichzeitiger unerhörter Verzückung, in die die Frau gerät. In dieser Vorstellung bestätigt sich der Mann, der als Täter, als Schreiber und als Adressat des Geschriebenen überwiegend in Betracht kommt, zunächst einmal, daß sein Wille geschieht. Indem zugleich unterstellt wird, daß die Frau die Ausübung des männlichen Willens, d. h. ihre Unterwerfung, genießt, erscheint die Welt in bester Ordnung. „Das Glück des Mannes heißt: ich will. Das Glück des Weibes heißt: er will", so stand es schon bei Nietzsche.18 Ein Naturgesetz scheint sich zu vollziehen, wenn das Gesetz der Unterordnung der Frau unter den Mann aus- und eingeübt wird. Eine fatale Wirkung übt solche Suggestion von Naturhaftigkeit insofern aus, als sie den Schein erzeugt, die extensiv beschriebenen sexuellen Vorgänge seien notwendig und untrennbar mit der Verwandlung des Partners in einen Gegenstand des Konsums, mit Zynismus, Kälte, Erniedrigung verbunden. Sexualität und ihre Äußerungen gelten dann (wie es der Erzähler in der Kreutzersonate für unvermeidlich hält) als „schweinisch"; man meint entweder, um in ihren Genuß zu kommen, den Verlust an Selbstachtung hinnehmen, dem „Tierischen", dem schwachen und sündigen Fleisch Konzessionen machen zu müssen, oder man weist sie aus Widerwillen gegen die Erniedrigung, gegen die Objektsituation zurück. So oder so zeichnen sich auf diese Weise Entfremdungsstrukturen tief in die menschliche Psyche ein. Mit dem Hinweis auf die „Natur" soll die heuchlerische bürgerliche Wohlanständigkeit entlarvt oder mit Verachtung gestraft werden. Aber diese „Natur" ist das unreflektierte Ergebnis langwährender - und wegen der langen Dauer nicht als historisch und vergänglich wahrgenommener - Verhältnisse der Ausbeutung, Unterdrückung und gesellschaftlichen Ungleichheit. Seiner sozialen Bedeutung nach ist das „Naturgesetz" 166

der Unterwerfung der Frau unter den Mann von der gleichen Güte wie jene Axiome, mit deren Hilfe man dem seiner öffentlichen Rechte beraubten kleinen Mann einredet, der Jude oder der Neger stünden unter ihm. (Der Vergleich der sozialen Stellung der Frau mit der des Juden und des Negers kommt bereits in Tolstois Kreutzersonate vor - etwa zur gleichen Zeit, in der Engels die Frau das „Proletariat" in der Familie nennt.) Was geht uns das an? - Im Hinblick auf das Welt- und Menschenbild im ganzen (Verhältnis zur Arbeit, zur Gesellschaft in ihrer aktuellen Beschaffenheit und ihrer Perspektive, allgemeine moralische Normen usw.) und seine Auswirkungen auf die Sicht der Geschlechterbeziehungen haben wir es mit einer spezifisch spätbürgerlichen Ideologie zu tun, von der unsere Lebensverhältnisse und Anschauungen und - wie schon angemerkt - die Grundpositionen unserer Literatur prinzipiell verschieden sind. Auf der anderen Seite spiegeln sich jedoch in den besonderen Inhalten und Formen, in denen sich die Geschlechterbeziehung hier darstellt, in der rücksichtslosen, grellen Manier, der fatalistischen und zynischen Haltung, die der Autor an den Tag legt, Beziehungen und Verhaltensnormen, die jahrhunderte- ode;r jahrtausendelang wirkten und von denen es reichlich vermessen wäre zu sagen, sie hätten mit unserem Leben gar nichts zu tun. Trifft es also zu, daß die Literatur der DDR begonnen hat, eine neue Sicht der Geschlechterbeziehung zu schaffen, so ist einmal danach zu fragen, ob zu jener Art unverhüllter Darstellung der Sexualität, die zugleich im Bannkreis der Gesetze und Normen der imperialistischen Gesellschaft verharrt, eine Alternative angeboten wird, zum anderen, ob und wie sich literarisch die Überwindung der durch Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnisse überhaupt geprägten Partnerbeziehungen abzeichnet. Beide Momente sind miteinander verflochten, aber nicht identisch, und in der Entwicklung der Literatur tritt bald die eine, bald die andere Seite stärker hervor. Betrachten wir also nacheinander, wie eine natürliche Sinnlichkeit, die nicht auf Macht und Unterwerfung beruhende Verhaltensklischees reproduziert, und wie die wirklichen oder nötigen Bedingungen, unter denen neue Beziehungen zwischen Mann und Frau stattfinden, in unserer Literatur sichtbar werden. 167

4 Unschuld der Natur heißt ein Gedichtband, den Günter Kunert 1966 herausgab. E r enthält ein polemisches Gedicht {Puritannhäuser), in dem der Autor prüde Ansichten attackiert, die darauf abzielen, Kunst zu „beseelen [. . .] um sie zu entleiben". 1 9 Dies polemische Moment ist freilich als Untertext des ganzen Bandes mitzudenken, drängt sich aber in den übrigen Gedichten nicht vor. Und das ist gut. Denn gerade weil sie keine Rechtfertigung benötigt, kann die Feier der fleischlichen Liebe den Begriff der Unschuld mit Recht für sich in Anspruch nehmen. Heiterkeit herrscht vor - nicht durchweg, aber speziell in jenen Gedichten, die geradeheraus vom Glück der Umarmung sprechen. D a gibt es nicht die zweideutige Anspielung, die heuchlerische Lüsternheit, nicht die in der bürgerlichen Unterhaltungsliteratur von Kotzebue bis zum Revueschlager perfekt entwickelte Manier, die konventionelle Moral am Ende triumphieren zu lassen, zuvor aber mit Fleiß die Phantasie in eine „unkeusche" Richtung zu lenken. („Der Poet ist der Wirt und der letzte Aktus die Zeche ;,/Wenn sich das Laster erbricht, setzt sich die Tugend zu Tisch", heißt es dazu treffend bei Schiller. 19 ») Kunert unterstreicht humoristisch das Derbe und Direkte: „Die abgefallnen feuchten Blätter von den Birken zerdrückte sie mit ihrem Hintern fest und weiß derweil da einer sich auf ihr vergnügte so selbstvergessen und gewärtig ihres Schreis [. . . ] " 2 0 beginnt das Gedicht, das dem Band den Namen gab. D e r Dichter setzt damit ein pedantisch moralisierendes Urteil matt, das nach einem höheren Sinn des momentanen Glücks verlangen mag und vielleicht eine Haltung, „wo Fleisch bloß ist des Fleisches Zeitvertreib" 2 1 , auf die philosophische Goldwaage legen möchte. Diese Unbefangenheit läßt die Zweisamkeit als natürliches Bedürfnis Liebender, für sich zu sein, nicht aber als prinzipielle Abgrenzung von anderen Menschen erscheinen. Ohne aufgesetzte Programmatik stellt sich doch, nimmt man den Band insgesamt, ein Zusammenhang zwischen dem hier 168

bevorzugten Thema und dem ganzen Leben her: Das Ich der Gedichte sieht die Partnerin nicht nur in ihren Geschlechtsmerkmalen, sondern in physischer und psychischer Ganzheit, man denkt an den anderen, wenn man getrennt ist, Erregung und Ermattung, Freude und Leid werden reflektierend auf das Leben überhaupt bezogen, und der Autor stellt durch die Wahrnehmung der Umwelt - andere Menschen, ein Stück Landschaft, ein Zimmer in der Stadt, das vorhanden ist oder dringend benötigt würde - zwanglos den wirklichen Kontext her, in dem Liebe stattfindet. Der Vielfalt der Aspekte, unter denen sie gesehen wird, entspricht die Mannigfaltigkeit lyrischer Ausdrucksarten (provozierend kesse und liedhaft leise Reimstrophen, reimlose Berichte und Reflexionen usw.). Kunert war zu jener Zeit nicht der einzige Lyriker, der einen solchen Vorstoß unternahm. Die Liebesgedichte, die der junge Volker Braun veröffentlichte, zeigen die gleichen Merkmale, durch die Brauns Lyrik aus jenen Jahren überhaupt hervorstach. In dem jungen Mann, der da einer Geliebten entgegentritt, ist der gleiche erkennbar, der etwa in Schlacht bei Fehrbellin, Jazz, Anspruch usw. seinesgleichen aufforderte, das neue Leben als eigenes aufzufassen und zu schaffen und dabei kraftvolle Individualität zu entwickeln („Unverwechselbar er im Haß, im Lieben, im Kampf" 22 ). Die erotischen Gedichte aus diesem Umkreis sind ebenfalls „unschuldig" in dem wesentlichen Sinn, daß moralisierende Verteufelung, Idealisierung und vages Drumherumreden als Problem gar nicht mehr zu existieren scheint. Unverfälscht stellt sich der „Unverwechselbare" selbst dar, auch in seiner Unvollkommenheit, auch in dem Egoismus, der durchschlägt, wenn er die Geliebte hauptsächlich unter dem Aspekt der Begierde sieht. Dabei erscheint der Verliebte keineswegs durchweg strahlend und beglückt, er sieht sich vielmehr mehrfach in Probleme verwickelt, denen er nicht gewachsen ist. Wo er sich aus politischen Gründen von der Freundin trennt ( L i e b e s g e d i c h t e für Susanne M. in Flensburg), liegen die Dinge noch am klarsten. Schwieriger ist es schon, wenn (in Liebessonett) das Mädchen in dem Augenblick, da die „Liebe übergreift auf das Geschlecht"23, jedes Begehren verscheucht durch das Ansinnen, geheiratet zu werden. Statt des Liebesidylls entwickelt sich eine - durch die strenge Sonett169

form stark akzentuierte - Reflexion, die in Ratlosigkeit endet. In den Versen aus der Annachronik läßt Braun mit bemerkenswertem Vermögen, intimste Details poetisch und unverhüllt zu sagen, die Schilderung einer unvollkommenen Liebesnacht einmünden ins Nachdenken über sein Verhalten und über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit, in der Umarmung eine Individualität zu erkennen und selbst eine zu sein. Selbstbehauptung ohne Selbstgerechtigkeit und das Gefühl, in der so einfach und natürlich erscheinenden Partnerbeziehung sich einem Komplex verwickelter Sachverhalte gegenüberzusehen, waltet in diesen Gedichten. Sie zielen daher nicht auf eindeutige Urteile (vgl. auch die Natursymbolik in Auseinander gehn), ihre Konflikte gehen nicht wie simple Formeln ohne Rest auf. Liebe erscheint - und dies setzt sich in den späteren Gedichten fort - als schwierige und ungelöste Aufgabe. In Karl Mickeis Band Vita nova mea - Mein neues Leben finden sich einige bemerkenswerte erotische Gedichte. Fast ohne Vergleich in unserer Lyrik steht das Gedicht Deutsche Frau 46 da. Auf knappstem Raum läßt Mickel eine Arbeiterfrau von ihrer Ehe berichten, in der ihr und ihres Mannes, des Waldarbeiters, „tollen Burschen" und Kommunisten, Wunsch nach Kindern unerfüllt blieb: Das Dienstmädchen hätte bei einer Schwangerschaft ihre Arbeit verloren, unter Hitler wollte sie kein Kind, nun, als der Mann aus dem Strafbataillon und der Kriegsgefangenschaft heimkehrt, ist es für sie zu spät. In derben und kargen Worten übermittelt Mickel den Anspruch auf ein volles Leben, den die ältere Generation erhob, für den sie kämpfte, dessen Erfüllung ihr versagt blieb, der neuen Gesellschaft: „Spaß muß es machen, sonst machts keinen Spaß / Sagte mein Otto [. . ,]" 2/ ' Wäre er nicht kinderlos geblieben, möchte man diesen Mann den Vater des Kippers Paul Bauch nennen. Im poetischen Umgang mit diesem Spaß begegnet Mickel ein Problem von allgemeinerer Bedeutung: das der Sprache. Es ist wohl nicht ganz zufällig, daß er sich in zwei Gedichten, in denen er Sexuelles noch um einige Grade derber ausspricht als etwa Kunert, auf die Antike beruft oder bezieht. Im Zusammenhang mit Odysseus (Odysseus in Ithaka) bzw. in Anlehnung an Catull (Elegie 2 nach Catull)25 verwendet er Formulierungen aus einem allgemein geläufigen, aber in der offiziellen 170

Schriftsprache fast immer gemiedenen Jargon (man denke auch an die „mehr als derben Bauernworte", die Tolstoi im Gespräch, aber nicht in Dichtungen gebrauchte). Mickel ist ein sprach- und formbewußter Schriftsteller, und man darf die von ihm - übrigens nur vereinzelt - verwandten Jargoriausdrücke auch als Experiment, als provisorische Antwort auf die nicht leichte Frage auffassen: Wie sagt man „es"? „Denn ich Deutscher, ich bin übel als Dichter geplagt" 2 6 , beklagte sich Goethe beim Gott Priapus in einem zu Lebzeiten unveröffentlichten Epigramm. Den Griechen hätte das prächtige Wort „Phallos" zur Verfügung gestanden, auch das lateinische „Mentula" klinge noch leidlich, doch die deutsche Entsprechung „Schwanz" will ihm nicht über die Lippen oder aus der Feder, weshalb auch er sich auf die berühmten Pünktchen („Sch...") zurückzieht. Goethe empfindet es als Schaffenshemmung, d a ß sich die Trennung von „hoher" und „niederer" Kultur, die, mindestens nach damaliger Ansicht, in der Antike nicht existierte, in unterschiedlichen Sprachebenen fixiert hat. D i e Sprache der Gebildeten erlaubte ihm nicht zu sagen, was er sagen wollte, und vor der Terminologie der Zote schreckte er zurück. Etwas Ähnliches meinte wohl Brecht, als er, wie Feuchtwanger berichtet, erklärte, Horaz hätte in Marmor gearbeitet, während die heutigen Dichter in Dreck arbeiteten („Brecht gebrauchte ein derberes Wort.") 2 7 . In seinem Arbeitsjournal faßte er das Problem deutlicher als historisches und kulturelles: „auffällig", notierte er - zu einer Zeit, in der er bedeutende Liebesgedichte schrieb - , „daß wir in deutschland keinerlei anzeichen einer verfeinerten Sinnlichkeit haben! [. . .] nur goethe und mozart wären zu nennen [. . .] die lyrik hat nichts zwischen dem ätherischen, überspannten immateriellen und der zote der wirtinnen verse." 2 8 Der sprachliche und der ästhetische Mangel signalisieren den Mangel an Kultur. Sieht man von der medizinischen Terminologie ab, so sind gerade im sexuellen Bereich die Vokabeln und Redewendungen keineswegs wert- und emotionsfreie Bezeichnungen von Dingen und Sachverhalten, sondern stark mit Affekten aufgeladen. D e r Leser oder Hörer wertet das Wort nach seiner eigenen Einstellung zur besprochenen Sache. (Auch beim Schreiben dieser Zeilen macht sich das als Schwierigkeit bemerkbar: Attribute 171

wie „derb" oder „roh" können als zimperlich, das Wort „Fleischeslust" kann vom Standpunkt anderer Leser bereits als frivol gerügt werden.) Kann, fragt man sich, der Jargon etwa der Wirtinnenverse angewendet werden, ohne daß er die traditionsreiche und weit verbreitete Rohheit der sexuellen Beziehungen mitschleppt, belebt und in dieser Richtung ermunternd oder aber abschreckend wirkt? Die Preisgabe von Vorurteilen, die Durchbrechung konventioneller Schranken ist nur die eine, die negative und leichtere Seite der Aufgabe. Die Bande frommer Scheu vor der unverhüllten Benennung sexueller Vorgänge können heute auch innerhalb der bürgerlichen Welt zerrissen werden. Bei manchen Autoren gilt es offenbar für einen Ausweis besonderer Aufgeklärtheit und Modernität, selbst in Texten mit wissenschaftlichem Anspruch den Sexual- und Fäkaljargon zu übernehmen (und zwar nicht als Untersuchungsgegenstand, sondern als Sprache des Verfassers). Dabei ist längst bemerkt worden, daß solcherart forcierte sprachliche Hervorkehrung des bislang Verpönten nur die Unfähigkeit ausdrückt, mit Verklemmungen, Frustrationen, Selbsthaß und sonstigen Symptomen der Selbstentfremdung fertig zu werden. Da fehlt ganz die von Kunert berufene „Unschuld". Sehr viel schwieriger ist es, für die Darstellung sexueller Vorgänge eine literarische und sprachliche Kultur zu schaffen, in der die natürliche Sinnlichkeit von Roheit und Zynismus befreit ist. Diese Aufgabe fällt offensichtlich in unseren Tagen der sozialistischen Literatur zu. Das Thema ist nicht unbedingt streng zeitgebunden. Doch ist es kein Zufall, daß sich wichtige Ansätze zu seiner Gestaltung in der ersten Hälfte der sechziger Jahre finden. Ohne daß unverwechselbare zeitgeschichtliche Bezüge in jedem Fall erkennbar und zu erwarten wären, gehören diese Werke entstehungsgeschichtlich in den Zusammenhang mit der definitiven Entscheidung für den Sozialismus, die nach der Sicherung seiner materiellen, sozialen und politischen Grundlagen in breiterem Ausmaß fällig war und vollzogen wurde. Neben anderen wichtigen Themen der Literatur, die in dieser Zeit in den Vordergrund rückten, gehörte das Bedürfnis, die Geschlechterbeziehungen in der von Engels vorgezeichneten, dem Sozialismus gemäßen Weise zur Sprache zu bringen, sie als Element der Befreiung zu feiern, zu denjenigen Erscheinungen, die das 172

Heimisch-Werden in der sich festigenden neuen Gesellschaft artikulierten. (Von einer anderen Seite wird die gleiche Problematik in einigen wichtigen epischen Werken aus jenen Jahren sichtbar, deren starke Liebeskonflikte mit den gesellschaftlichen Entscheidungen direkt verbunden sind: Die in Christa Wolfs Erzählung Der geteilte Himmel gestaltete Kollision und Lösung gibt in etwa ein Bild dessen, was jenem Heimisch-Werden vorausging.) Doch ist dieser dem positiven Ausdruck sich anbahnender neuer Beziehungen günstige Moment kein Endpunkt der Entwicklung. Auch bei der Darstellung der Geschlechterbeziehungen verlagern sich in den folgenden Jahren die Akzente. Einerseits ist die einmal erreichte Fähigkeit, sich über Dinge des Geschlechts künstlerisch unbefangen auszusprechen, in Romanen, Erzählungen, lyrischen Zyklen und Dramen wiederzufinden, jedoch in umfassendere Lebenszusammenhänge integriert und damit auch in ihrer Bedeutung und Wertung verändert. (Auf der Grundlage wahrgenommener realer Veränderung knüpft Literatur auch an Literatur, reichert sie Aussagemöglichkeiten an.) Darauf kommen wir zurück. Andererseits wird die in der ersten Hälfte der sechziger Jahre gewonnene „Unschuld der Natur" in charakteristischer Art umakzentuiert - am deutlichsten beim Urheber dieser Losung. Kunerts Gedichtband Offener Ausgang von 1972 enthält einige Gedichte, die erneut die Fleischeslust loben. Einzelne Stücke wie Kleines Gedicht können als einfache Fortsetzung der früheren Weise gelten. Das Lob der „starken Worte", die, so der Dichter, „wie ein starker Liebestrank" wirken und „beim Geschäfte" 29 stärken, mag dem individuellen Geschmack überantwortet werden. Überhaupt möchte man die einzelnen, meist kurzen Gedichte nicht interpretierend überfordern. Doch in ihrer Summe und im Kontext des Bandes wird erkennbar, daß Kunert dem Sexuellen eine veränderte Funktion zuweist: die einer Zuflucht. Was in Unschuld der Natur gelegentlich anklang - und als Teilmoment gewiß seine Berechtigung hat - , wird hier dominant. Der geschlechtliche Kontakt wird gefeiert als Oase in der Wüste {Zu

Bunuels „Simon in der Wüste"), als Zu-sich-Kommen in Abgeschiedenheit und Geschichtslosigkeit. Indem man sein fleischliches Dasein stark empfindet, kann man sein soziales Dasein 173

vergessen. Hogarths Bild einer einladend liegenden üppigen Frau veranlaßt den Dichter zu sagen, [. . .] wo Gutsein währe und sei. Inmitten der vielen Kulissen nicht, wo der Schein den Schein überblendet, wo wir schon fürchten, da wir Einkehr halten in uns, alle Hülsen verdorrter Bedeutungen von draußen drinnen wiederzutreffen, eine Versammlung bekannter Mumien, da sagt uns das Fleisch seine nackte Wahrheit [. . ,] 30 Das Ich definiert sich als fühlender Organismus, als physische Abgrenzung vom anderen. Daraus ergibt sich auch die Sicht auf den Partner und auf andere Menschen überhaupt (soweit nicht umgekehrt die Auffassung vom Individuum eine Folge der Auffassung von der Gesellschaft ist). Das zitierte Gedicht heißt Zuspruch, wortfrei, und in der Schlußwendung von Zu Bunuels „Simon in der Wüste" hebt der Autor rühmend hervor, daß zwischen die sich vereinigenden Geschlechtsorgane sich „kein fälschendes Wort" 3 " schiebt. Gelobt wird, daß im Liebesakt das Denken und Sprechen, der allgemeine Ausdruck des sozialen Wesens des Menschen, abgeschaltet werden können, daß man „drinnen" die „Hülsen verdorrter Bedeutungen von draußen" nicht wiederfinden muß. Durch die Haltung der Ab- und Einkehr schränkt sich die Beziehung zum Partner ein auf die Dankbarkeit für die Möglichkeit, sich als einzelnes Ich zu fühlen. 32 In diesen Zusammenhang gehört auch Kunerts Erörterung der Losung „All you need is love" in dem Prosaband Die geheime Bibliothek. Wenn sich Kunert gegen eine flache, gedankenlose Auffassung von allgemeiner Menschenliebe wendet und die Empfindung, die er für die ihm Nächststehenden aufbringt, vom Verhältnis zu den übrigen Menschen geschieden wissen will, möchte man ihm zustimmen. Ein Abstraktum wie „die Menschheit" lasse unser Herz nicht schneller klopfen. Hier liegt in der Tat ein Problem - auch, aber nicht nur, ein künstlerisches. Dennoch befremdet Kunerts Antithese. 174

Er arbeitet mit einer physikalischen Modellvorstellung, wenn er sagt, die Liebesfähigkeit erstrecke sich, und auch das mit Mühe, auf einige uns Nahestehende und werde immer schwächer, je weiter ein Mensch von uns entfernt sei (wie eine Wärme- oder Lichtquelle entferntere Objekte schwächer anstrahlt als näherliegende). „Unsere Liebesfähigkeit auf psychischer Ebene ist doch abhängig von unserer physiologischen Art." 33 In dieser rein naturalen Auffassung vom Ich und den anderen tritt eine mechanische und geradlinige Abhängigkeit an die Stelle der tatsächlichen - unter Umständen komplizierten - Wechselbeziehung zwischen der privaten und der öffentlichen Sphäre. Die Berufung auf „unsere physiologische Art" und die rhetorische Frage „Liebe ich meinen Briefträger?" können nicht vergessen machen, daß Sozialisten - und zwar solche, die nicht im Verdacht stehen, Schwätzer zu sein - über diese Frage ganz anders dachten: „Du gabst mir die Brüderlichkeit zu ihm / den ich nicht kenne [•. J " 3 4 sagte Neruda über die Kommunistische Partei. Kunerts ideologiekritischer Ansatz ist selbst ideologisch vermittelt - vor allem durch eine permanente, sich verselbständigende polemische Haltung. (Sie im einzelnen nachzuzeichnen, würde uns zu weit von unserem Thema wegführen. Es sei lediglich darauf verwiesen, daß sich Kunert im Nachwort zu Offener Ausgang immer noch mal wie nun schon seit Jahren - dagegen verwahrt, „Gedichte wie Aufrufe zum Maisanbau oder wie Anleitungen zur Destruktion von Schrebergärten" zu lesen. 35 ) Historisch gesehen nicht ohne jeden Grund, führt ihn doch dieses beständige Sich-Verwahren gegen wirkliche oder angebliche Zumutungen dazu, allmählich für alle Lebensbereiche Antithesen zu entwerfen. In der Neigung zum Sentenziösen schlägt sich dies auch ästhetisch in den neueren erotischen Gedichten nieder. Von der „Unschuld" der früheren Produktionen sind nur noch Reste geblieben. Die Liebesgedichte, die Heinz Kahlau unter dem Titel Du (1970) veröffentlichte, können in mancher Hinsicht als Gegenstücke zu denen aus Kunerts Offener Ausgang angesehen werden. Beim Vergleich fällt zunächst auf, daß Kahlau die Geschlechterbeziehung bewußt und vielfältig in den Rahmen aller Lebensverhältnisse stellt. Die Sinnlichkeit ist nur eine Komponente der Liebe, die auch noch von vielen anderen Faktoren 175

bestimmt wird. Geistige Gemeinsamkeiten, gemeinsame und getrennte Arbeit, Rückbeziehungen auf die Beschaffenheit der Gesellschaft, Geschichte und Alltag wirken an der Beziehung mit. So erscheint in dem kleinen Zyklus Gedichte um ]uditb die Liebesbeziehung ganz beherrscht vom Alpdruck der Vergangenheit; über die Tatsache, daß die Geliebte schwer unter dem Faschismus gelitten hat, ist nicht hinwegzukommen. Zumeist aber gelingen in Kahlaus weitgespannter Konzeption schon die Bennung der Themenkreise deutet auf einen programmatischen Zug des Ganzen hin - am besten die Gedichte, die aus Alltagsmomenten oder kleinen Situationen entspringen und sie genau erfassen. Das gilt für einige Stücke des abschließenden Zyklus (Alltägliche Gedichte von der Liebe), für manche Versuche, spruchhaft-einprägsame Merkverse für Liebende zu formulieren, und für einzelne erzählende Gedichte, die Erlebtes ohne verallgemeinernde Sentenzen vortragen {OsterSpaziergang). In anderen Fällen wirkt dagegen die allwissende und belehrende Haltung des Autors recht ernüchternd, auch wenn man sein humanistisches Anliegen theoretisch bejaht. Dies Didaktische und Prosaische geht direkt aus der Programmatik hervor, die Kahlau in diesem Band seiner Auffassung von Liebe zugrunde legt und auch ausdrücklich formuliert: „in einer Welt, in der wir alle gleichen Stellenwert besitzen, in Rechten und Pflichten voreinander gleich sind, liegt alle Divergenz nur in den Köpfen." 36 Selten hat sich ein Schriftsteller so unverblümt wie Kahlau hier die Theorie der Konfliktlosigkeit zu eigen gemacht. Die Welt ist am Ziel („Jetzt gibt es ein Land,/ wo die Liebe gesiegt hat,/ da macht jetzt die Liebe die Gesetze [. . .]" 37 ), und so hat der Poet nur noch die Aufgabe, denen, die dies noch nicht sehen, die Köpfe zurechtzurücken. Aus dieser Selbstgewißheit macht Kahlau im Gedicht Rechnungen auf, die immer glatt aufgehen und in deren Ergebnis das Ich des Gedichts zur Ruhe kommt. Die vorherrschende Rationalität und nüchterne 176

Verständigkeit, für die es keine offenen Fragen gibt (und die mit Verständlichkeit des Bildaufbaus und der Sprache nicht gleichgesetzt werden sollte), läßt die mögliche Größe und Totalität einer Liebesbeziehung kaum glaubhaft in Erscheinung treten. Das Fertig-Sein mit den Problemen erregt Widerstand. Hat die Gleichheit von „Recht und Pflichten" wirklich keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern übriggelassen als den, daß die Frauen die Kinder kriegen? Hat wirklich die Tatsache, daß „Die X " eine Frau ist, „keinen Einfluß auf den Wert der Lösung, die sie (in der Arbeit - H. K.) zu bieten hat?" 38 Es sind gerade diese und ähnliche Ansichten, gegen die einige Werke der jüngsten Zeit nachdrücklich und mit Recht polemisieren.39

5 Vor einiger Zeit reagierte in der Presse ein Zuschauer auf die Fernsehfolge Eva und Adam mit der unmutigen Feststellung, die Autoren stellten die Dinge so dar, als hätten alle Männer, die doch in ihrer täglichen beruflichen und gesellschaftlichen Arbeit den Sozialismus erbauten, eine „Macke". Der Verfasser der Zuschrift wollte eine solche Unterstellung, in der er eine Verleumdung des sozialistischen Menschen vermutete, abweisen, sagte aber ungewollt, worum es geht: um die ungleichmäßige Durchsetzung sozialistischer Beziehungen und Verhaltensweisen in den verschiedenen Bereichen des äußeren und inneren Lebens., Es werden nicht Outsider, Asoziale, Faulpelze oder sonst außerhalb des Normalen stehende Personen entlarvt; vielmehr ist von normalen, tätigen, am Aufbau des Sozialismus beteiligten Menschen die Rede, wenn etwa das Zurückbleiben von Frauen in der beruflichen Entwicklung auf Grund der familiären Belastung, eheliche Langeweile im Gefolge von Saturiertheit oder von Divergenz der Interessen, männliches Zurückschrecken vor der ebenbürtigen Partnerin, die ehrbare, aber unzeitgemäße Auffassung vom Mann als dem Versorger, der Frau als Hüterin des Herdes, aber auch die neuen Konflikte und Schwierigkeiten für die Familie (vor allem für die Kinder), wenn Mann und Frau starken gesellschaftlichen 12

K a u f m a n n , Studien

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Belastungen ausgesetzt sind, in den Büchern abgehandelt, in ihren sozialen Wurzeln untersucht und in ihren Folgen für die Entwicklung der Persönlichkeiten und deren Beziehungen zueinander ergründet werden. Dabei fällt auf, daß sich unsere Literatur gerade in jüngster Zeit, unter den bisher reifsten gesellschaftlichen Bedingungen also, häufiger und mit zunehmender Dringlichkeit solchen Fragen zuwendet. D i e juristische Gleichstellung der Geschlechter versteht sich längst von selbst, ohne die in fast allen Berufen und Bereichen tätige Frau ist unser Leben nicht denkbar, ein neues Verhalten und Selbstgefühl sind massenweise entstanden. Nicht der den Kinderwagen schiebende Mann gilt als lächerlich, sondern der, der dies lächerlich findet (oder etwa nicht?). Ein Mann, der - wie unlängst ein CSU-Politiker - sich zu dem Ausspruch versteigt, eine gute Verwaltung sei „wie eine gute Frau: man spricht wenig von ihr" (leider hat es Schiller einst ähnlich gesagt), wäre für uns mehr ein Gegenstand der Erheiterung als der Empörung (oder nicht?). Weder nach der Ansicht der hier in Betracht kommenden Autoren noch objektiv signalisiert das Vordringen problematisierender Darstellungen der Geschlechterbeziehungen etwa rückläufige Tendenzen in der Gesellschaft oder Rückzugspositionen in der Literatur. E s ist umgekehrt der erreichte Stand sozialer Entwicklung und der materiellen und geistigen Kultur, der die Probleme hervortreibt. Sie sind zumeist nicht neu, sondern alt; neu und für unsere Gesellschaft heute spezifisch ist das Drängen auf Lösungen, von denen man weiß, daß keine frühere Gesellschaft sie ermöglichte. Was in dieser Hinsicht von der Literatur zu leisten ist und zum Teil geleistet wurde, setzt mehr oder minder ein unbefangenes Sprechen über Intimverhältnisse zwar voraus, geht aber darin bei weitem nicht auf. Umgekehrt ist vielmehr rückblickend - nicht als nachträgliche Abqualifizierung, sondern als Feststellung, die den Prozeß vertiefter Aneignung verdeutlicht - zu sagen, daß das unbeschwerte Lob der Fleischeslust eben Unbeschwertheit voraussetzt, Aussparung also oder Hintenanstellung der für eine glückliche Geschlechterbeziehung sonst noch maßgebenden Komponenten. Wo sie ins Spiel kommen, wo folglich die erotische Beziehung als eine durch die Gesamtheit der Lebensverhältnisse der Partner bestimmte gesehen wird, ent178

steht eine ganz andere Situation. Eine Reife und Selbstverständlichkeit jener Verhältnisse vorausgesetzt, führt die Absicht des sozialistischen Autors, den eigenen Platz in ihnen zu bestimmen, zu der Entdeckung, daß die Beziehung zwischen Mann und Frau ein Indikator dafür ist, inwieweit sich in der Gesamtheit der Verhältnisse und Verhaltensweisen die Ablösung von der alten Gesellschaft tatsächlich allseitig und alltäglich durchgesetzt hat. (Die entsprechenden Hinweise, die Marx in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten und in einem Brief an Kugelmann gab, werden daher in den letzten Jahren in Kritiken oder als Leitsätze von Liebesgeschichten besonders häufig zitiert.40) Fortschrittlich sind, wie Brecht mit Recht meinte, solche Positionen, die Fortschritt ermöglichen. Und das sind in unserem Fall jene, die, Mißklänge und Mißverhältnisse beobachtend, neue Fragen stellen und damit auf das zu betretende Neuland wenigstens hindeuten. Die persönliche Betroffenheit, die naturgemäß beim Thema Geschlechterbeziehungen besonders stark zur Geltung kommt, bringt es mit sich, daß schreibende Männer andere Akzente setzen als schreibende Frauen. Manfred Jendryschiks Roman Johanna oder die Wege des Dr. Kanuga betont den Doppelcharakter seiner Thematik schon im Titel und noch stärker in zwei Mottos, von denen sich eines auf die Liebe, das andere auf die Rolle der Wissenschaft bezieht. Das ganze Leben Kanugas wird in diesem Buch zur Diskussion gestellt (und gewisse Lebensbereiche, denen der Held begegnet - biologische Forschung und Praxis, das Leben in einer LPG - gewinnen dabei eine selbständige Bedeutung, auf die hier nicht einzugehen ist). Als Gradmesser für den Wert seines Lebens gilt dem Helden die Beziehung zu einer Frau. Johanna, eine gereifte, in ihrem wissenschaftlichen Beruf schwer arbeitende Frau, löst ihr Liebesverhältnis mit Kanuga in dem Augenblick, da er sich für sie entschieden hat und sich von seiner Ehefrau trennt. Um Johanna wiederzugewinnen, muß er seine Beziehung zum Leben ändern, seine Ziellosigkeit, seine Beobachterhaltung aufgeben. Er tut es und gewinnt aufs neue Johannas Gunst. Der Roman fordert mancherlei Einwände heraus, steuert aber zu unserem Thema Wichtiges bei. Jendryschik ist bemüht, 12«

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die Vielfalt der Faktoren zu analysieren, die in einer Liebesbeziehung mitspielen. Die Zurückweisung bringt Kanuga zum Nachdenken über das Glück, das eigene und fremdes, über die angemessene Haltung seiner Generation zum Sozialismus, über die Frage, was es heute bedeutet, Kommunist zu sein. Kanuga sucht durch sein Leben, durch seine Arbeit vor allem, eine Antwort zu geben, und die Wertungen, die er sich dabei erwirbt, bestimmen auch sein Urteil über die persönlichen und intimen Beziehungen. Von seiner Frau, die ihm im Grunde noch gefällt und mit der er sich sexuell gut versteht, löst er sich, weil sie sich dem kleinbürgerlichen mütterlichen Einfluß beugt, während Kanuga die problemlose Familienidyllik widerstrebt. Unter diesem Gesichtspunkt prüft er auch kritisch das familiäre Glück, zu dem ein früherer Freund gelangt ist. Bei allem Drang, die Liebe neu zu gestalten, der Konvention zu entgehen, bringt Kanuga doch, angeregt durch Willi Sittes Bild der Eltern, Verständnis für Menschen aus einer früheren proletarischen Generation auf, in deren Leben, das nur aus schwerer Arbeit bestand, die eheliche Gemeinschaft ein fester Halt war. Jendryschik betont, wie die Verhältnisse zwischen Partnern, aber auch die Ideale von Liebe, historisch geworden sind: So spielt in Kanugas Liebe zu Johanna sein Verhältnis zur Mutter hinein, die er liebte, weil sie gern fröhlich war, und von der er sich entfremdete, nachdem sie sich vom Vater hatte unterkriegen lassen. Nur in der Gestaltung der Johanna setzt diese historische Sicht weitgehend aus. Was in ihr vorgeht, warum sie Kanuga liebt und sich ihm nach der Trennung wieder zuwendet, bleibt undeutlich. Kanuga reicht an sie nicht heran, und da bei aller Kritik des Autors am Helden dessen Sicht die des Buches ist, kann Johanna nur von außen gesehen werden. Das entspricht ganz der Tatsache, daß Kanuga genauer weiß, was er nicht will, als was er will. Johanna bleibt die personifizierte Zielvorstellung, und über ihre marmorne Blässe täuschen auch die aufmerksamen Beobachtungen ihres Habitus und die Beschreibung ihrer sozialen Stellung nicht hinweg. (Wir rühren hier, ohne näher darauf einzugehen, an die schwache Seite des Buches, das nicht ausschließlich Liebesroman ist: Der Autor gelangt selbst über die am Helden gescheit analysierte Haltung 180

des Beobachters, des Dilettanten, und Experimentators gegenüber dem Leben nicht hinaus.) Johanna ist die Antwort, die der Autor nicht kennt; aber daß er sie sucht und um die Schwierigkeit, sie zu finden, weiß, läßt ihn richtige Fragen stellen. Jendryschik will durchaus beunruhigen und Gewohntes in Frage stellen, weniger, scheint mir, durch die Darstellung von intimen Szenen - die durchaus vorkommen, aber bereits als etwas Normales in den Erzählvorgang integriert sind - als durch die Berührung anderer konventioneller Tabus. Charakteristisch ist die Schilderung, wie Kanuga mit Johanna seinen inzwischen verheirateten alten Freund Bertram besucht: Bertrams Frau begrüßt Johanna als „Frau Kanuga", Kanuga aber erklärt: „Das ist nicht meine Frau, das ist meine Geliebte" 4 ! 1 was als kecker Scherz mit Gelächter quittiert w i r d ; daß dies jemand, der verheiratet ist, wahrheitsgemäß öffentlich sagt, liegt platterdings außerhalb der Denkmöglichkeit. Die kleine Episode hat es, was das Verhältnis von Literatur und Wirklichkeit angeht, in sich. Soll Kanugas provozierende Offenheit als Anleitung zum Handeln gelten? Oder, wenn nicht, was soll die Bloßlegung des gewöhnlich Verschwiegenen sonst? - Die Frage, wieviel Wahrheit über die Intimbeziehungen gesagt werden kann, ist, bezogen auf die gesamte Gesellschaft, keine abstrakt-moralische, sondern eine praktische Frage, denn sie beruht darauf, welche nicht nur in einzelnen Fällen, sondern für den Bestand und die Entwicklung der Gesellschaft vertretbaren und gültigen Formen der Geschlechterbeziehung bereitstehen. (Die über ein paar Jahre hinweg in einigen kapitalistischen Ländern unternommenen Versuche beispielsweise, mit Großfamilien, Kommunen usw. die bürgerliche Familie zu überwinden, ergeben auch bei wohlwollender Betrachtung noch keine Anhaltspunkte für dauerhafte gesellschaftliche Lösungen). Man sollte also die erwähnte Episode weniger als praktische Empfehlung denn als Hinweis darauf ansehen, daß da Prozesse in Gang sind, über die das letzte Wort noch lange nicht gesprochen ist. Und dies gilt überall, wo in dieser Hinsicht offene Fragen aufgeworfen werden. In zweierlei Betracht behandelt Volker Braun in seinen Erzählungen vom „ungezwungenen Leben Kasts" Liebe ähnlich 181

wie Jendryschik. Einmal hängen auch bei Braun die Beziehungen des Helden zu Frauen eng zusammen mit seiner Suche nach einem Platz im Leben, der ihm erlaubt, dieses Leben zu begreifen und mitzugestalten, und die Partnerbeziehung ist wesentlich mitgeprägt vom Verhältnis zur Arbeit, von seiner Haltung zur Gesellschaft und seiner menschlichen Reife. Zum anderen erscheinen bei Braun wie bei Jendryschik Held und Autor gleichsam als Lehrlinge der Liebe. Dabei stehen beide als Angehörige einer in der DDR aufgewachsenen jungen Generation keineswegs unter dem Alpdruck der Vergangenheit, überlebte Konventionen und äußere Zwänge spielen gerade in den erotischen Beziehungen für die männlichen Gestalten keine bestimmende Rolle, ein gewisser Grad von Emanzipiertheit bildet die nicht weiter diskutierte, ihnen selbstverständliche Voraussetzung. Und auf dieser Grundlage stellt sich ihnen die Gestaltung solcher Partnerbeziehungen, die ihrer in der Arbeit und gesellschaftlichen Aktion sich formierenden Haltung gemäß sind, als komplizierte Angelegenheit dar, deren Lösung nicht ohne weiteres auf der Hand liegt. Sie bemerken oder empfinden die Ungleichmäßigkeit der Entwicklung der Verhältnisse, Beziehungen und Charaktere in den verschiedenen Lebensbereichen. In den drei Kast-Erzählungen entspricht jeder Phase der Entwicklung des Helden eine neue Stufe der Liebesbeziehung; die Entsprechung erscheint im dritten Erzählstück sogar etwas zu programmatisch genau. Nach einem Krach der Schule entlaufen, gerät der Abiturient Kast (in Schlamm) auf eine Großbaustelle, in der Arbeit und Menschenbeziehungen zunächst einigermaßen wüst und undurchsichtig auf ihn wirken und erst allmählich - durch die Gewöhnung an die schwere Arbeit, die Herausbildung realistischer Vorstellungen und die Klärung der Zustände - dieses Leben einen Sinn erhält. Der junge Kast trägt in sich das Bild der Schulkameradin Anka herum, die für ihn den Reiz des anderen Geschlechts verkörpert, mit der es aber nichts wurde, weil er ihr aufrichtig sagt, daß er unbeständig sein würde. Ein anderes Mädchen kommt ihm nahe, als er von Anka spricht, aber die Beziehung bleibt dumpf. Unbestimmt schwebt ihm vor, der Liebesgenuß könnte der Inbegriff des Lebens sein - im Gegensatz zur monotonen Arbeit, zur Tätigkeit überhaupt. Ein vages 182

Idealbild und die noch neue sexuelle Erfahrung kommen nicht zusammen - auch nicht am Schluß, als Kast, der sich nun in seiner Arbeit eins mit der allgemeinen Entwicklung und mit sich fühlt, zu Anka zurückkehrt: Er liebt sie noch, sie aber ist im Begriff, sich mit einem anderen zu verloben. Kasts Glück und Pech in der Liebe entspringen wesentlich seiner provozierenden Ehrlichkeit, die mit seiner Ratlosigkeit korrespondiert. Über Qual und Lust der Arbeit, über die Herausbildung sozialistischer Beziehungen zwischen den Menschen und die dabei auftretenden Hindernisse, über moralische und ästhetische Werte, die im Sozialismus entstehen, wird vielfach reflektiert. Um so auffälliger ist, daß im erotischen Bereich die Klärungsversuche rasch versiegen. Auf Höhepunkten der Begegnung mit der Geliebten flammt die Vorstellung auf, in der Umarmung seien alle Werte und Schönheiten des Lebens sinnlich manifestiert. Aber das verliert sich wieder, ohne daß Gründe dafür angegeben werden können. In der zweiten Erzählung (Der Hörsaal) ist das noch ähnlich, doch sucht sich der Philosophiestudent Kast jetzt Rechenschaft darüber abzulegen, warum sein Verhältnis zu Linde, die ihn aufrichtig liebt, so wechselhaft ist. Er versteht, daß sie, besonders während sie ein Kind erwartet, die dauerhafte Bindung sucht, ihn aber schreckt die Ehe, nicht zuletzt, weil sie ihn gegen andere menschliche Beziehungen abschließen würde: „Unsere Gefühle, ja, waren noch so, daß man in der einen Bindung stecken bleiben konnte, sich verkriechen, und unsere Verhältnisse noch so, daß die vielen Beziehungen nicht leicht und greifbar sind untereinander, unsere Häuser, aus Einzelzellen immer nur im kleinsten Kreis!" 4 2 Kast hält die Trennung für ehrlicher und trennt sich. Diese Lösung wird in Die Bretter korrigiert. Kast, jetzt Dramatiker und in der komplizierten Situation von 1968 mit der Einstudierung eines Stücks beschäftigt, hat nun die Gefährtin, mit der er voll übereinstimmt. Schwierigkeiten entstehen aus der äußeren Situation, den politischen und, damit verbunden, den dramaturgischen Sorgen, von denen der Kopf so voll ist, daß in der Nähe der Geliebten die Sinne schweigen. Um so bewußter wird Kast in der Bedrängnis die Gemeinsamkeit: „Wenn dieses Leben ganz und voll sein sollte, was sonst! 183

mußte es in der kleinsten Beziehung beginnen, hier, jetzt, mit ihr. Im kleinsten Verhältnis, dämmerte mir, ist die größte Freiheit, und wir werden am stärksten gefordert! [. . .] ,Und doch - müßte jeder leben wie er muß', sagte sie, ,wie es für ihn richtig ist !"' /l3 Dabei bleibt es; die Trennung wegen beruflicher Pflichten unterstreicht diesmal die Untrennbarkeit. Was Kast sich nicht bewußt macht (was jedoch aus dem Gang der Dinge, verglichen mit dem Lob der „größten Freiheit" im „kleinsten Verhältnis", hervorgeht), ist, daß die harmonische Sicht auf die Privatbeziehung von den ungelösten Fragen des öffentlichen Lebens hervorgebracht wurde. D a ß Kast am Ende ausgelernt hat, ist nicht der stärkste Zug dieser Erzählung. Denn das Produktive gerade der „Lehrlings'-Haltung bei Braun und Jendryschik - auch an Plenzdorfs Edgar Wibeau in seinem Verhältnis zu Charlie wäre hier zu denken - besteht in der naiven oder reflektierten Entdeckung des Ensembles von Beziehungen, in denen das Glück oder Unglück der Liebe steht und die gemeistert werden müssen, damit sie gelingt. Dabei kommt jedenfalls mehr an wirksamer Wahrheit heraus als bei der Schilderung idealisierter Klassefrauen, die in Liebe, Ehe und Beruf alle Schwierigkeiten hervorragend meistern. In Wahrheit liegt Darstellungen der letztgenannten Art eine in jüngster Zeit mit Recht scharf kritisierte, vom Mann aufgebaute Vorstellung von weiblicher Emanzipation zugrunde, die darauf hinausläuft, daß alles bleiben kann, wie es ist - mit Ausnahme der Frauen, die sich zu den literarischen Idealgestalten noch nicht emporgearbeitet haben. Da werden - zum Teil auch von namhaften Schriftstellern - literarisch und gesellschaftlich überlieferte Klischeevorstellungen in modifizierter Form reproduziert. Umgekehrt ist für die Versuche, die öffentliche Selbstbehauptung kraftvoller Frauen realistisch zu gestalten, kennzeichnend, daß das Unharmonische und damit die energische Bewegung betont wird. Nur indem sie ausgefahrene Geleise verlassen, die üblichen Maße zerbrechen und diejenigen, die mit diesen Maßen zu messen gewohnt sind, rücksichtslos vor den Kopf stoßen, vermögen diese Frauen etwas zu bewirken, und gerade so werden sie zu Persönlichkeiten und zu bemerkenswerten literarischen Gestalten. Das gilt etwa für „Lona die Schwarze", 184

die in ihrer Genossenschaft „die Herrschaft an sich riß", in Jendryschiks Kanuga-Roman (die Episode hatte er schon früher gesondert veröffentlicht) oder für „die unheilige ¡Sophia" in Eberhard Panitz' gleichnamigem Buch. Ein Gegenstück zur erwähnten Lehrlingshaltung bilden die Dramen mit mythologischen Stoffen, die Peter Hacks in den letzten Jahren vorlegte. Lehrlinge der Liebe sind in Amphitryon und Omphale die männlichen Hauptfiguren; der Autor aber ist - auch in seinen erotischen Gedichten - durchaus Lehrer der Liebe. Im Sinne von Brechts Suche nach einer „verfeinerten Sinnlichkeit" zeigt Hacks, wie die Männer - Amphitryon und Herakles - durch die Lebenspraxis der Klassengesellschaft (der mythologische Stoff erlaubt hier kühne Verkürzungen und parabelähnliche Verallgemeinerungen) rauh und roh bleiben, ja barbarisch werden, unfähig zu wirklicher Liebe und ihrer unwert. Satirisch-komisch wird Amphitryon abgeführt, dem die Barbarei des Krieges selbstverständlicher Lebensinhalt ist, der sich bei seiner Frau als Held spreizen und sonst lediglich ausruhen und erfrischen will und den Alkmene daher bewußt mit dem göttlichen Idealmann betrügt. Amphitryons Verteidigung, er habe als Mensch, der in irdischer Bedingtheit lebt, den ehemals göttlichen Hauch der Liebe gegen die Prosa der Ehe notwendig vertauschen müssen, wird nicht angenommen. Beschämt und spät belehrt, wird er zu neuem Anfang aufgefordert. Ompbale ist philosophisch anspruchsvoller angelegt. Herakles ist kein Totschläger von Geblüt, aber als der nützlich Tätige, der Schädlinge der Menschheit ausrottet, ist er rauh, roh und einseitig. Die Liebe läßt ihn seinen Mangel entdecken, und er sucht im Geschlechtertausch der weiblichen Empfindungsfähigkeit habhaft zu werden, die sein Wesen erst zu voller Menschlichkeit ergänzt. Die Synthese des männlichen, tätigen und des weiblichen, sensiblen Prinzips ergibt die Befreiung und Erneuerung des Menschen. Die geistreichen Scherze, Lebens- und Liebeslehren besonders des Amphitryon werden mit zustimmender Heiterkeit aufgenommen, doch ist nicht zu verkennen, daß in dem männlichen und weiblichen Prinzip, wie es sich bei Hacks darstellt, die traditionelle, historisch fixierte Stellung von Mann und Frau reproduziert wird und unangetastet bleibt. Alkmene ver185

gleicht sich selbst mit einem Musikinstrument, das vom Künstler, dem zur Liebe fähigen Mann, gehandhabt werden will. Der Mann erscheint als ein durch sein gesellschaftliches Sein geprägtes Wesen in seiner menschlichen Unzulänglichkeit. Die Frau gibt als die zur Liebe Fähige den Maßstab ab, zu dem der Mann erst emporreifen muß; sie ist und bleibt eben darum ein geschichtsloses Wesen, zu nichts als zur Liebe gut. Selbstparodistisch kehrt diese Figurenkonstellation in den Briefen wieder, mit denen Hacks seinen neuen Gedichtband einleitet. Er schildert sich als konventionell schmachtenden Ritter und Sänger, der seiner Dame zu Füßen liegt und ihr, die für nichts als Schmeicheleien ein Ohr hat, seine Poetik erläutert. Unfreiwillig erweckt Hacks damit den fürchterlichen Verdacht, er stelle sich die Leserinnen seiner Gedichte so vor wie dieses Rokoko-Gänschen seiner Briefe.

6 Ungefähr im Zeitraum eines Jahres erschien 1973/74 eine beachtliche Reihe von Büchern, die von Frauen geschrieben sind, Frauen zu Zentralfiguren haben und auch deutlich einen weiblichen Standpunkt (wir wollen noch versuchen zu sagen, was das ist) zur Geltung bringen. Gemeint sind vor allem die Romane Franziska Linkerhand von Brigitte Reimann, Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz, nach Zeugnissen ihrer Spielfrau Flora von Irmtraud Morgner, Karen W. von Gerti Tetzner, sowie die Erzählungsbände Unter den Linden von Christa Wolf, Die Pantherfrau und Die ungeheuren bergehohen Wellen auf See von Sarah Kirsch und - nicht zuletzt - die Lyrik der Zaubersprüche, ebenfalls von Sarah Kirsch. Hierher gehört auch die Anthologie Blitz aus heiterm Himmel, in der weibliche und männliche Autoren in der Behandlung des Geschlechtertausch- Motivs wetteifern. Im einzelnen werden diese Bücher andernorts43a - zum Teil auch in diesem Buch - besprochen. Wir beschränken uns hier auf einige allgemeine Bemerkungen, zu denen die genannten Werke und ihr literarischer und gesellschaftlicher Kontext Anlaß geben. In Sujets, Umfang, Schreibweise, im individuellen Habitus 186

ihrer Verfasserinnen unterscheiden sich diese Werke sehr stark voneinander. Läßt sich dennoch etwas Gemeinsames über sie aussagen? - Es war zuvor von „Lehrlingen der Liebe" die Rede, und das bedeutete, daß männliche Gestalten, von Männern beschrieben, auf ungelöste Rätsel in den Intimbeziehungen stießen, die sie teils nach ihrer Fähigkeit zur Liebe fragen ließen, teils auf Schwierigkeiten in der gesellschaftlichen Stellung der Partnerinnen hindeuteten. Bei den von Frauen beschriebenen weiblichen Gestalten der genannten Bücher liegt der Kern der ungelösten Probleme in ihrer Stellung im und gegenüber dem öffentlichen Leben. Die glückliche oder unglückliche Liebe kann der Anlaß zum Schreiben sein, sie kann den Vorder- oder Hintergrund der Handlung abgeben. Doch steht für diese Gestalten nicht die eigene Liebesfähigkeit in Frage, eher die des Partners und die Möglichkeit, die Liebe im Gesamtzusammenhang des Frauenlebens zu realisieren. Diese Akzentuierung hat vielleicht etwas Anstößiges, sie kann den Verdacht erwecken, es solle hier eine „Männer"- und eine „Frauen"-Literatur statuiert werden. Und es gibt gute Gründe zum Mißtrauen, wenn soziale Erscheinungen auf anthropologische oder biologische Begriffe, z. B. auf die Generations- oder Geschlechterfrage, zurückgeführt werden. Das Erscheinungsbild der jüngsten DDR-Literatur weist allerdings solche unterschiedlichen Akzente unstreitig auf. Jedoch so wenig man Brauns Kast- Erzählungen als „Männerliteratur" bezeichnen würde, so wenig sind die genannten, von Frauen verfaßten Bücher „Frauen"-Literatur in dem Sinn, daß sie auf eine besondere, vom gesamtgesellschaftlichen Interesse abgetrennte Frauensphäre orientieren. Es sind sozialistische Werke, die sich an jeden wenden, der sie lesen mag. Sie vertreten keine vom Sozialismus ablösbaren gesellschaftlichen Interessen, wohl aber machen sie darauf aufmerksam, daß sich in diesem Rahmen die konkrete Interessenlage der Individuen nicht völlig deckt. Das kann in polemischer Direktheit geschehen, aber auch in Schilderungen von Episoden, sachlichen Berichten, romanhaft erzählten Lebensläufen, die nicht den Zweck verfolgen, spezielle Emanzipationsfragen aufzuwerfen. 44 * Befragt nach ihrer Erzählung Selbstversuch, hat Christa Wolf das Problem auf die Spitze gestellt: „Je mehr wir in der 187

Lage sein werden, die materiellen Voraussetzungen für gleiche Startbedingungen beider Geschlechter sicherzustellen (dies ist ja die erste Stufe und muß sie sein), um so akuter wird das Problem werden, beiden Geschlechtern die Möglichkeit zur Differenzierung zu geben." 4 5 E s klingt sonderbar und kennzeichnet doch den erreichten Stand gesellschaftlicher Entwicklung: Während wir in dem Kampf um die Gleichstellung von Mann und Frau, der in kapitalistischen Ländern noch geführt werden muß, Ergebnisse von geschichtlicher Bedeutung erreicht haben und sie - z. B. durch Verbesserung der sozialen Einrichtungen, aber auch durch den Abbau von Vorurteilen weiter ausbauen, also die G l e i c h h e i t vertiefen, taucht das Bedürfnis nach Herausarbeitung der U n g l e i c h h e i t auf. Und das bei Frauen, denen keine Sehnsucht nach dem Dasein der Frau in der bürgerlichen Gesellschaft nachgesagt werden kann, die vielmehr in ihrem Sein und Bewußtsein dem Sozialismus verbunden sind. Im Ergebnis also der Entwicklung, nicht etwa durch deren Ablehnung, tritt das neue Bedürfnis hervor. So gestellt, erweist sich aber die „Geschlechterfrage" als ein Teil, ein wichtiger Sonderfall der allgemeineren Frage nach dem Verhältnis von Gleichheit und Ungleichheit der Individuen überhaupt. Sie taucht auf jeder Stufe gesellschaftlicher Entwicklung mit jeweils besonderem Akzent neu auf. Die Begriffe Gleichheit und Ungleichheit (der Individuen, der Geschlechter) haben im antifeudalen Kampf einen anderen Inhalt als im antikapitalistischen, und in der ersten, der sozialistischen Phase des Kommunismus bedeuten sie wieder etwas anderes. Gleichheit kann unter unseren Bedingungen nur die Anwendung gleichen Rechts und gleicher gesellschaftlicher Normen (gleicher Lohn für gleiche Arbeit) bedeuten. Wenn Christa Wolf zweifelnd fragt, ob es denn „das Ziel der Emanzipation" sei, „daß die Frauen .werden wie die Männer', also dasselbe tun dürfen, dieselben Rechte wie sie bekommen und immer mehr auch wahrnehmen können" 4 6 , so muß die Antwort wohl lauten: Dies ist nicht das Ziel, aber ein Teil davon und vor allem der einzige Weg zum Ziel. Hinzuzufügen ist, daß — wie früher schon erörtert 47 - die am Maß der Arbeit gemessene Gleichheit noch nicht mit vollkommen gleichen Entwicklungsbedingungen für alle Individuen zu identifizieren ist; vielmehr 188

lassen erst die real gleichen Entwicklungsbedingungen jenseits von gleichen Normen die Individualitäten, also auch Mann und Frau, in ihrer Besonderheit, also Ungleichheit, voll zur Geltung kommen. In diesem Rahmen steht die Geschlechterfrage. Sie erhält innerhalb der allgemeinen Problematik von Gleichheit und Ungleichheit ein besonderes Erscheinungsbild und eine gewisse Brisanz wegen der heute noch sozial relevanten Folgeerscheinungen des biologischen Unterschieds, durch den Alpdruck der Tradition und wegen des Umstands, daß intime und öffentliche Sphäre hier besonders stark einander durchdringen. Im Grunde genommen artikuliert sich also in der Literatur, die die Frage nach der Gleichstellung und Ungleichheit der Geschlechter aufwirft, das Bedürfnis, auf dem weiteren Wege sozialistischer Entwicklung den Horizont des Kommunismus auftauchen zu sehen. Sie kann damit Wichtiges über Stand und Perspektive der Gesellschaft überhaupt verdeutlichen, und zwar am besten dadurch, daß sie wirkliche Verhältnisse und Verhaltensweisen analytisch darstellt. Dünn und abstrakt dagegen bleiben nicht zufällig die Versuche, innerhalb des literarischen Werkes oder außerhalb, in Reden, Aufsätzen usw., etwas Allgemeines darüber auszusagen, was „der Mann" und „die Frau" eigentlich sind. Denn es gibt außerhalb der einerseits biologischen, andererseits historischen Existenzform kein „Eigentliches", und so gelangt man entweder nicht darüber hinaus, die unbestreitbare Tatsache, daß ein Mann keine Frau, eine Frau kein Mann ist, etwas aufwendiger noch einmal zu formulieren, oder man skizziert erneut mit mehr oder weniger Geist die bekannten historischen Charaktermasken der Geschlechter, oder man spricht schließlich in polemisch gespitzten Formeln z. B. von einer „Männergesellschaft" oder (wie Irmtraud Morgner mit boshaftem Esprit sagt) „Frauenhalterordnung" 48 *, - Formeln, die, cum grano salis genommen, im einzelnen nicht ohne Wahrheitsgehalt, im ganzen aber für eine ernsthafte Analyse ungeeignet sind. Wenn jedoch im analytischen Verfahren am besonderen, in einem geschichtlich bestimmten Kontext stehenden Fall gezeigt wird, wie auch heute noch die historischen Charaktermasken das Verhalten von Männern und Frauen bestimmen, wenn beispielsweise de Bruyn (in Geschlechtertausch) beschreibt, daß (im Gegensatz zu 189

Kahlaus oben zitierter Annahme) im öffentlichen Leben sehr wohl ein Unterschied zwischen dem Auftreten eines Mannes und dem Versuch zu sachlich gleichem Auftreten einer Frau gemacht wird, wenn Sarah Kirsch (in Blitz aus heiterm Himmel) darstellt, wie eine Frau erst ihre Weiblichkeit ablegen muß, um von dem Geliebten als Kamerad behandelt zu werden, so deuten sie darauf hin, was an der im ganzen falschen Formel von der „Männergesellschaft" richtig ist, d. h. sie regen zum Nachdenken über den realen Stand der Emanzipation an. In Christa Wolfs Selbstversuch findet sich sowohl das sozialpsychologisch scharf beobachtete, analytische Exempel als auch die theoretische Reflexion, die in anthropologische Vorstellungen hinübergleitet (Technik, Rationalität, Nützlichkeit als männliche, Emotionalität und Humanität als weibliche Prinzipien) . Der Vorteil eines künstlerischen Vorgehens, das die Probleme der Emanzipation in ihrer Verflochtenheit mit den übrigen bestimmenden Tendenzen des Lebens zeigt, liegt darin, daß auf diese Weise das Zusammenwirken objektiver und subjektiver Faktoren sichtbar wird. Denn obwohl es durchaus notwendig ist, gegen rückständige Auffassungen, Selbstzufriedenheit, männlichen Egoismus, weiblichen Fatalismus usw. anzukämpfen, wäre es - und diese Gefahr entsteht bei zu stark isolierender Betrachtung - ganz falsch, den Anschein zu erregen, als könnte Christa Wolfs Forderung, „beiden Geschlechtern die Möglichkeit zur Differenzierung zu geben", allein durch Willensakte realisiert, als könnten also historisch notwendige Stufen übersprungen werden. Das Bedürfnis, Kritik an Unvollkommenheiten der Emanzipation zu üben, sollte nicht dazu verführen, den geschichtlichen Prozeß in Frage zu stellen, der von den unvollkommenen zu den entwickelteren Stufen führt. Sonst kann es geschehen, daß man der Position Konzessionen macht, die Rolf Hochhuth in dem Nachwort zu seinem Stück Lysistrate und die Nato einnimmt. Hochhuth weist ebenfalls auf den Umstand hin, daß die gegenwärtig erreichte bzw. in kapitalistischen Ländern erstrebte Frauenemanzipation Gleichstellung mit dem Mann, also Preisgabe des spezifisch Weiblichen bedeute, und er nimmt dies zum Anlaß, den Kampf der Frauen um ihre Emanzipation überhaupt für einen Irrweg zu erklären. 190

Ein paar historische Streiflichter und Anekdoten sind ihm Beweis genug, die These von der Unterdrückung der Frau in der bisherigen Geschichte für falsch auszugeben. Die Frauen hätten vielmehr die Chance ausgelassen, Macht auszuüben und Geschichte besser zu machen als die Männer, die nur Unheil angerichtet hätten. Statt der Gleichstellung mit den Männern (vor allem in der Sphäre der Arbeit) tue den Frauen die Besinnung auf ihre Weiblichkeit not, auf „weibliche Waffen" 4 9 , „ihre erotische Macht" 50 , ihre „.Vertrautheit mit den dunklen Tiefen der weiblichen [ . . . ] Gefühlswelt' " 5 1 u. a. Mit diesen „Waffen" könnten sie den Männern die Macht entreißen und Geschichte menschlicher gestalten. Als Spezialist für die Erkundung von Herrschaftsvarianten innerhalb der imperialistischen Gesellschaftsordnung (er sucht, und das ist natürlich sympathisch, nach unkriegerischen Varianten) kann sich Hochhuth - und darin erweist er sich als bürgerlicher Ideologe - die Veränderung der Geschlechterbeziehung nur als Machtkampf, als Ablösung der Männerherrschaft durch Frauenherrschaft vorstellen, also wiederum nur als Herrschaft von Menschen über Menschen - während doch die Antinomie zwischen Mann und Frau, der zwischen ihnen stattfindende „Machtkampf", Ausdruck und Folgeerscheinung des Klassenantagonismus ist, folglich nur mit diesem überwunden werden kann, und das, was in unserer Gesellschaft an sozial bedingter Spannung zwischen den Geschlechtern noch existiert, in dem Maße verschwindet, wie Macht und Herrschaft von Menschen über Menschen überhaupt gegenstandslos werden. Deshalb gehört auch jenes von uns als Motto vorangestellte Hegel-Zitat aus seiner Staatslehre hierher, die nicht nur preußischen Staat und objektiven Idealismus konservativ versöhnt, sondern auch die Hoffnungen aus der Revolutionszeit wachhält: „Die Macht als absolute ist [. . .] nicht Herr über ein anderes, sondern Herr über sich selbst, Reflexion in sich selbst, Persönlichkeit." 52 Was sozialistische Menschen als Liebende in der Beziehung zum Partner gewahr zu werden meinen, was ihnen in der engsten, elementarsten, alle Kräfte des Menschen erfassenden Bindung zwischen Mann und Frau als sinnliche Gewißheit erscheint, ist eine Beziehung ohne Macht, ohne Herrschaft, eine soziale Mikrostruktur, die die Struktur künftig möglicher sozialer Makroorganismen anti191

2ipiert. Dabei ist dies nicht wie innerhalb des Klassenantagonismus als Gegensatz des Privaten und Öffentlichen zu fassen, sondern als eine Wechselwirkung. Denn umgekehrt erwächst der neue, hohe Anspruch an die Liebesbeziehung daraus, daß die Partner ihre gesellschaftliche Erfahrung, so das Erlebnis gesellschaftlich nützlicher Tätigkeit (im Unterschied zum stumpfsinnigen Kreislauf einer als hauptsächlichen Lebensinhalt betriebenen Hausarbeit), die Mannigfaltigkeit der menschlichen Kontakte (damit auch der „Chancen" im erotischen Sinn), kurz: „Persönlichkeit" in die Intimsphäre einbringen und damit die alten Praktiken und Ansichten über Macht und Unterwerfung auf diesem Gebiet über den Haufen werfen. Literatur kann diese Vorgänge bewußt machen. Sie tut es in den erwähnten Fällen und bringt damit - die Beziehung zwischen Mann und Frau erforschend - zur Sprache, inwieweit die Menschen in unserer Gesellschaft bereits Herren der gegenständlichen und ihrer eigenen Natur, „Herren ihrer eigenen Vergesellschaftung" 53 geworden sind, wie es die Klassiker voraussagten.

Ein Vermächtnis, ein Debüt Brigitte Keimann: „Franziska Linkerband"; Gerti Tet^ner: nKaren W" „Die wahrhaft schöne Seele handelt und ist wirklich." 1 Hegel „Rahel liebte vielleicht Börne um so mehr, als sie ebenfalls zu jenen Autoren gehörte, die wenn sie gut schreiben sollen, sich immer in einer leidenschaftlichen

Anregung,

in einem gewissen Geistesrausch befinden müssen."2 Heine

Wenn es einen Sinn hat (ich zweifle daran), die neuen Werke unserer Literatur danach zu unterscheiden, ob in ihnen „das Individuelle" oder „das Gesellschaftliche", „das Subjektive" oder „das Objektive" überwiegt - auf welche Seite fallen dann der nachgelassene, unabgeschlossene Roman Brigitte Reimanns und Gerti Tetzners literarischer Erstling? - Jedes der beiden Werke stellt eine Frauengestalt in den Mittelpunkt, und in beiden Fällen ist es nicht nur deren Gesichtskreis, sondern auch ihr Gesichtspunkt, der ganz überwiegend die Weltsicht der Romane bestimmt. Das Erleben der Zentralfiguren umgrenzt (von geringen Ausnahmen abgesehen) den gegenständlichen Bereich, der uns dargeboten wird; und die Welt wird uns weitgehend so gezeigt, wie sie sich im Kopf der Heldinnen spiegelt. Wie sie heißen, so heißen die Romane. Lakonisch betonen die Buchtitel, wenn man so will, das „Subjektive" und „Individuelle". Gleichzeitig aber stechen beide Werke hervor durch ihren Reichtum an beobachteten Sozialbeziehungen, durch die Mannigfaltigkeit konfliktreicher menschlicher Entwicklungen, durch die Fülle der gegenständlichen Welt. D e r Alltag unseres Lebens kommt in seiner „Objektivität" und „Gesellschaftlichkeit" durchaus zu seinem Recht. Die Vermutung liegt nahe, daß die Leistung beider Bücher nicht einem abstrakten Prinzip der Subjektivität geschuldet ist, sondern der besonderen Beschaffenheit 13

Kaufmann, Studien

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der Subjektivität. Franziska Linkerhand und Karen W. sind Frauen, die sich in voller Absicht mitten in den Alltag des Sozialismus begeben, um an ihm tätig teilzunehmen, für die ein sinnvolles Leben bedeutet, daß sie sich den Produzenten der materiellen Güter, den Arbeitern bzw. Genossenschaftsbauern, praktisch gleichstellen. Diese Haltung wird auffällig dadurch, daß sie sich in beiden Fällen nicht von selbst versteht, sondern Ergebnis eines Entschlusses und Aufbruchs ist, daß die Heldinnen bequemere Wege, die sich anbieten, ausdrücklich verwerfen. Obgleich durch Reflexion der Zentralfiguren vermittelt, erscheint das Weltverhältnis beider Romane nicht theoretisch, sondern praktisch. Das ins Bild gesetzte Leben ist nicht dazu da, Ansichten zu bekräftigen, vielmehr werden die Ansichten dem Leben ausgeliefert und je nachdem erhärtet oder verworfen, konkretisiert oder modifiziert. Betrachten wir dies näher. Die nahezu enthusiastische Aufnahme, die Franziska Linkerhand in der Kritik zuteil wurde, ist freilich nicht ganz von dem Umstand zu trennen, daß Brigitte Reimann mit neununddreißig Jahren starb - so alt wurde, wie es im Roman heißt, Chopin, dessen Musik Franziska besonders liebt - und, um ihren baldigen Tod wissend, bis zuletzt das Werk fertigzustellen suchte.3 Wenn jedoch der zu frühe Tod der Autorin für ihre Leistung eine besondere Aufmerksamkeit hervorrief, so ist es doch die wirkliche Leistung, der die Aufmerksamkeit gilt. Etwa dem letzten Drittel des Textes ist anzumerken, daß die Autorin nach schon langjähriger und weit gediehener Arbeit die Anlage zu verändern suchte; sie arbeitete zum Teil das gleiche Material noch einmal durch, die letzten fünfzig Seiten führen in sehr gedrängter Form, wie in atemloser Eile, bisweilen in halben Sätzen, Handlungsfäden weiter; der Schluß ist fragmentarisch, sein Sinn gerade noch auszumachen. Man kann nicht ohne Ergriffenheit lesen, wie Brigitte Reimann als letzte Botschaft den Ausgang der Handlung skizzierte: Franziska kehrt nach einer (nicht näher beschriebenen) Flucht zu ihrer selbstgewählten Aufgabe zurück und bekennt sich zu dem Gesetz, nach dem sie angetreten ist. 4 * In dieser Skizze tritt noch einmal besonders deutlich vor Augen, wie die Autorin ihre geistige und emotionale Haltung auf ihre Heldin überträgt. Sind demnach die Schriftstellerin und ihre Zentralfigur iden194

tische Gestalten? - Was die mitgeteilten Lebenstatsachen angeht, gewiß nicht. Franziska Linkerhand ist der literarische Entwurf eines Menschen, zu dem sich B. Reimann bekennt. Sie wird damit nicht unbedingt zur Vorbildfigur, nach der alle sich zu richten hätten, auch nicht zu einer höchsten moralischen Instanz, von der aus die Welt in ihrer Gewöhnlichkeit abgeurteilt würde. Sie ist nicht die Beste, aber sie gibt ihr Bestes, sie bringt in die gemeinsame sozialistische Sache ein, was sie zu geben vermag. Darin liegt der Aufforderungs- und Bekenntnischarakter, der auch entschiedene moralische Wertung einschließt und sich gleichzeitig mit der Betonung des individuell Einmaligen verbindet. Franziska hat eine besondere Biographie und eine besondere Psyche. Und wenn uns nun Menschen und Begebenheiten so und nur so gezeigt werden, wie Franziska sie sieht und beurteilt, so wissen wir doch zugleich, wer da in welcher äußeren Situation und inneren Verfassung sieht und urteilt, wir erfassen die Bedingtheit der An- und Einsichten. Die nicht normativ abstrakte, sondern bestimmte Subjektivität wird zum Medium der Objektivierung des Geschehens. „Dieses beständige Konstatieren meiner Persönlichkeit", schreibt Heine in seinem Buch über Ludwig Börne, sei „das geeignetste Mittel, ein Selbsturteil des Lesers zu fördern". 5 Er zeichne das Bild Börnes „mit genauer Angabe des Ortes und der Zeit, wo er mir saß. Zugleich verhehle ich nicht, welche günstige oder ungünstige Stimmung mich während der Sitzung beherrschte. Ich liefere dadurch den besten Maßstab für den Glauben, den meine Angaben verdienen." 6 Etwa diese Sehweise wird in Franziska Linkerhand mit romanhaften Mitteln (die für Heine kaum in Betracht kommen) realisiert. Das Buch beginnt und endet als Brief Franziskas an Ben, einen Geliebten, von dem noch zu sprechen sein wird. Auch zwischendurch kehrt die Anrede an Ben mehrfach wieder. (Dem entspricht die Redeform: Die überwiegend verwendete 3. Person wird gelegentlich von der 1. Person abgelöst; der Wechsel wirkt durchaus zwanglos, er bedeutet im Grunde keine Veränderung des Blickpunkts.) Die Autorin konstituiert damit eine irgendwann nach den erzählten Begebenheiten liegende Zeitebene, eine Distanz des Erzählers zum Geschehen. Dem entspricht als dominierende Zeitform das Präteritum. Es gibt 13»

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sogar ein paar (nicht sehr viele) Stellen, an denen die Haltungen und Urteile der Heldin ausdrücklich aus zeitlichem Abstand gesehen und relativiert oder korrigiert werden: „Hier müssen wir Franziska das Wort entziehen" 7 , heißt es einmal; an anderer Stelle wird gesagt: „Sie (Franziska - H. K.) spürte nicht, daß Schafheutlin [. . .] gerecht zu sein versuchte" 8 . Es kommt auch vor (ebenfalls nicht häufig), daß Sachverhalte mitgeteilt werden, die Franziska nicht weiß, oder die Heldin wird durch die Augen anderer Personen gesehen. Insoweit geht es hier durchaus episch zu. Doch schränkt dies die Dominanz der Sicht durch Franziskas Augen nur geringfügig ein, hebt sie keineswegs auf. Inhaltlich und formal wird die Einheit des Werkes hergestellt durch jenen erwähnten Entwurf eines Menschen, zu dem sich die Autorin alles in allem - bekennt. Es waltet ein halb episches, halb lyrisches Prinzip, das gestattet, große, detailliert darstellende Szenen abzuwechseln oder zu unterbrechen mit Impressionen und Lyrismen, ganze Entwicklungsetappen zu überspringen (so wird Franziskas Studienzeit nur flüchtig gestreift), visionär eine mögliche Zukunft auszumalen, dokumentarische Materialien, Biographien, Porträts einzumontieren. Der Roman wird so außerordentlich welthaltig, und nie oder selten entsteht der Eindruck, daß er bloße Stoffülle bietet. Denn alles, was mitgeteilt wird, ist durchtränkt von Franziskas Verhältnis zu den Menschen und Dingen, von ihrem Staunen, Respekt oder Zorn, von ihrer Liebe oder ihrer Trauer. Die neuen Siedlungen und die alten Städte, die Beziehungen der Menschen, der Vietnamkrieg und die Natur erscheinen unter dem Aspekt potentieller Tätigkeit, als Aufgabe, die zur Lösung drängt, als geforderte Bewährung, als „aufgeschlagenes Buch menschlicher Wesenskräfte". 9 Darin liegt die Einladung, sich mit Franziska zu identifizieren - über alle von ihrer Leidenschaft momentan hervorgebrachten (und als solche erkennbaren) Einseitigkeiten, Ungerechtigkeiten und „goldnen Rücksichtslosigkeiten" (wie Storm einmal sagte) 1 0 hinweg. Die lyrische Emphase wird zurechtgerückt durch die Biographie eines bestimmten Menschen. In ihr manifestiert sich bis ins Detail der gesellschaftliche Inhalt des Individuellen. Dies ist der sichere Fundus für den Realismus des Romans. 196

D i e beiden ausschlaggebenden Faktoren der Persönlichkeit Franziskas sind ihr Verhältnis zum Beruf als der Sphäre individueller Bewährung in der Gesellschaft und ihr Verhältnis zum anderen Geschlecht. Beides hat seine Wurzel in der Kindheit und Jugend des „Bürgermädchens". Der Roman setzt mit Szenen aus dem Kriegsende und der Befreiung ein, die von der Siebenjährigen als Zusammenbruch der bisher geordneten Bürgerlichkeit erlebt werden. D e r Vater, ein kleiner Verleger, dessen geistige Welt die der bürgerlichen Bildungselite aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg ist, wird mit einiger Sympathie, aber doch klar in dem Anachronismus seiner Existenz gezeichnet. Mit dem Faschismus konnte er sich arrangieren, dem Sozialismus steht er prinzipiell ablehnend gegenüber. Bevor er nach Westdeutschland übersiedelt, wo er noch Reste von „Kultur" zu finden hofft, schenkt er seiner Tochter eine kostbare GoetheAusgabe. Mit entschiedener Abneigung, ja mit H a ß sieht Franziska ihre Mutter, die von ihren bourgeoisen Instinkten ganz ausgefüllt ist: Sie treibt Schwarzhandel mit bibliophilen Kostbarkeiten, um Anschluß an die kapitalistische Entwicklung im Westen zu finden, ihre Tochter dressiert sie für ihre Rolle als künftige bürgerliche Frau, wobei sie deren Selbstbewußtsein knickt. Ein gewisses Gegengewicht schafft die prächtige Gestalt der „Großen Alten D a m e " , der Großmutter mit dem ungebrochenen Selbstbewußtsein und dem rheinischen Mundwerk, die es ablehnt, sich zu demütigen und zu heucheln. Sorgfältig und einleuchtend wird motiviert, wie und warum die Prägung durch dieses Milieu für Franziska noch folgenreich bleibt, nachdem sie daraus ausgebrochen ist. D i e Abneigung gegen die Frauenrolle, die ihr die Mutter vorlebt und vorschreibt, läßt in dem pubertierenden Mädchen Haß gegen seinen Körper aufkommen: „ S i e h a b e n m i c h , dachte Franziska [. . .] Ein Gefäß, dachte sie, ich bin ein G e f ä ß geworden." 1 1 Familie, Heim und Herd werden ihr tief anrüchig; sie wird später ohne Mitgefühl und M a ß die Frau ihres Chefs verurteilen, die ihr Berufsleben dem des Mannes geopfert hat und ein sich selbst bemitleidender „Wischteufel" geworden ist. Auflehnung gegen das Elternhaus führt auch dazu, daß Franziska ihre Verliebtheit in einen hübschen, rohen Burschen zum Anlaß nimmt, sich in das Abenteuer einer wahrhaft katastrophalen 197

Ehe zu stürzen - ein Erlebnis, das ihr für lange Zeit normale Beziehungen zu Männern unmöglich macht. Im Gefühlsleben der arg frustrierten jungen Frau spaltet sich das Bild vom anderen Geschlecht in eine reale und eine ideale Sphäre. Lange schaudert sie vor jedem sexuellen Kontakt zurück, aber zugleich sind ihre berufs- und alltagsbedingten Beziehungen zu Männern fast durchweg erotisch aufgeladen. Kaum eine männliche Gestalt tritt auf, von der sich Franziska nicht begehrt fühlte, und dieses Gefühl ist ihr durchaus angenehm. Manchmal, aber nicht durchweg, wird dadurch das künstlerisch vermittelte Bild von diesen Männern abgeflacht. Einer solchen Spaltung zwischen dem Sich-Hingezogen-Fühlen zum anderen Geschlecht und sexueller Gehemmtheit entspricht es, daß sich für Franziska der liebenswerte Mann am vollkommensten in einer Gestalt verkörpert, die als Sexualpartner nicht in Betracht kommt: in ihrem Bruder Wilhelm, zu dem sich das kleine Mädchen flüchtete, der sie ritterlich beschützte, mit dem sie auf dem Bett hocken und kameradschaftlich plaudern kann. Partnerschaft muß für sie die Qualität von Kameradschaft haben. Der ideale Mann trägt deshalb das Antlitz Wilhelms, muß dessen zerbrochene Nase aufweisen, er muß ein Gegenbild zu der Schönheit jenes Burschen darstellen, auf den Franziska so schmählich hereinfiel. Dieser ideale Geliebte ist Ben, der Adressat des Lebensberichts. Jedoch Ben existiert nicht. Den Namen, den Titel Ben verleiht Franziska zeitweilig und mit Vorbehalt dem Dumperfahrer Trojanowicz, der Wilhelms gebrochene Nase und auch etwas von dessen Ritterlichkeit an sich hat, der sich nicht aufdrängt, sondern eher zurückzieht und erst nach langem Zögern lernt, Franziska zu lieben. Die intellektuelle Physiognomie dieses Trojanowicz alias Ben ist allerdings überfrachtet. Er hat das Idealbild und schließlich auch noch das Gegenbild Franziskas zu sein. (Die Unfertigkeit des Romans ist dabei freilich in Rechnung zu stellen.) Bezeichnend genug für eine gewisse Unsicherheit ihrer sozialen Haltung, macht ihn die Autorin zum Arbeiter und zum Intellektuellen. Einer Arbeiterfamilie entstammend, hat Trojanowicz rasch Karriere als FDJ-Funktionär und begabter Journalist gemacht, ist dann in eine Republikflucht-Affäre geraten und führt nach Verbüßung einer Freiheitsstrafe - ver198

wunschener Prinz - ein gleichsam anonymes Dasein als Kraftfahrer. In seinem Stolz tief verletzt, wird er zum „Einzelwolf", 1 2 zum kalt-unbeteiligten Betrachter, der über Literatur und Städtebau so treffende und scharfe Dinge zu sagen weiß wie über Kernphysik, aber es ablehnt, sich zu engagieren. Er ist, heißt es, einer, dem es leicht fällt, sich aus allem herauszuhalten ; er weiß dies, leidet wohl auch darunter, kommt aber nicht darüber hinweg. Franziska liebt sein Anderssein, seinen Stolz, die Schwierigkeit, die er mit seinen Gefühlen hat. Sie lernt durch ihn die Liebe ganz kennen, und dann trennt sie sich von ihm. W a r u m ? Der fragmentarische Schluß teilt das Faktum ohne Begründung mit. Indessen geben einige Textstellen Aufschluß: Trojanowicz' universeller Skeptizismus erstreckt sich auch auf Franziskas Arbeit, er stellt ihren Lebensinhalt in Frage. Und gerade weil sie selbst große Schwierigkeiten hat, die Zuversicht in ihre Aufgabe aufrechtzuerhalten, erträgt sie nicht, daß er ihre Haltung als bloße Schwärmerei belächelt. Und angesichts von Trojanowicz' ungeliebter Gefährtin, deren Meinungen stets das Echo der seinen sind, hat Franziska geschworen: „Niemals werde ich dein Schatten sein." 13 Wenn die Hingabe an einen Mann sich nicht verträgt mit der Hingabe an die Anforderung, die sie an sich stellt: selbst etwas Nützliches zu leisten, so entscheidet sie sich für letzteres. Dabei ist der gleiche Widerspruch zwischen Realem und Idealem, der in ihren Partnerbeziehungen waltet, auch im Verhältnis zu ihrem Architektenberuf erkennbar, und auch hier ist sie das in den Sozialismus hineingewachsene Bürgermädchen. Bereit, sich der entstehenden neuen Gesellschaft zur Verfügung zu stellen, durch Bildungsvoraussetzungen begünstigt, aber durch ihre Herkunft etwas außerhalb der jetzt in den Vordergrund tretenden sozialen Kräfte gestellt, fühlt sie besonders stark den Drang, in ihrem ehrlichen Bestreben anerkannt zu werden. Sie gesteht ihren sozialen Minderwertigkeitskomplex offen ein, beschreibt das ungute Gefühl des Abstands zu den Arbeitern und die Wohltat der Momente, in denen sie sich als Gleiche fühlen kann, als Mitmensch akzeptiert wird - so in der großen, beeindruckenden Szene, in der eine Arbeiterin im Wohnheim ein Kind zur Welt bringt und Franziska mitten in

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der Schar der Frauen steht und wie die anderen den Ausgang des Ereignisses erwartet. Deshalb haben der Mut zum Bekenntnis zu sich selbst und die Entschlossenheit, niemandem zu schmeicheln (das Erbteil der Großen Alten Dame) für sie eine so große Bedeutung. So läßt sie sich nicht dadurch beirren, daß sich ihr trinkfreudiger, denkfauler, seine Frau prügelnder Mann darauf beruft, er sei „ein einfacher Arbeiter". Sie hat, was diesen Fall angeht, gewiß recht. Und doch ist nicht zu verkennen, daß ihren (Autorin und Heldin sind darin eins) Maßstäben und Wertungen Elemente der ihr anerzogenen „bildungsbürgerlichen" Vorstellungen anhaften. Wenn geschildert wird, wie sich Franziskas Chef vergeblich abmüht, vergessene Rilke-Verse in sein Gedächtnis zurückzurufen, so geschieht das mit einem gewissen Naserümpfen. Von den literarischen Anspielungen und Zitaten eröffnen einige eine neue inhaltliche Dimension (der „Einzelwolf" etwa erinnert an Hesses Steppenw o l f ) , andere jedoch haben lediglich die Funktion eines Zeichens, an dem sich die Eingeweihten erkennen. Und so haftet auch Franziskas Lebensplan, schöne Städte zu bauen, den Menschen Schönheit zu geben, eine spezifisch bildungsbürgerliche Komponente und sogar eine Spur jener Donquichotterie an, die der Existenz ihres Vaters eigen war. Spräche man dies nicht deutlich aus, so ginge man an der besonderen Weise vorbei, in der sich in Franziska Linkerhand Subjektives und Objektives miteinander verbinden. Denn zweifellos bilden im gegebenen Fall die genannten Züge die Voraussetzung dafür, daß der Roman an einem Gegenstand von großer Wichtigkeit, dem Städtebau, die Dialektik des Fortschritts in unserer Gesellschaft ungewöhnlich eindringlich zur Sprache bringt. Die Widersprüche der Zentralfigur schärfen ihren Sinn für bestimmte objektive Widersprüche, das donquichottische Prinzip erweist sich noch einmal als produktiv: wie in ihrer Beziehung zu den Männern, sieht Franziska auch in ihrem Beruf die Welt in eine ideale und eine reale Sphäre geteilt. Franziska hat Architektur studiert und ist die Lieblingsschülerin des berühmten Reger geworden. Dessen Lehren von der human-ästhetischen Aufgabe des Architekten begeistern sie um so mehr, als sie mit ihrem Sozialismusbild völlig übereinstimmen. Der Zusammenhang wird kaum reflektiert, vielmehr 200

als selbstverständlich unterstellt: Die Synthese von Nützlichem und Schönem, verkörpert in architektonischen Ensembles, in denen die Bewohner sich heimisch, in ihrem Menschsein bestätigt fühlen, ist nahezu identisch mit Franziskas Weltanschauung. So ausgestattet, geht sie voll missionarischen Eifers nach Neustadt und begegnet dort dem rauhen Alltag des industriellen Bauens auf der Grundlage ökonomischer Kennziffern, die zu strenger Plandisziplin und Sparsamkeit verpflichten. Ein erbitterter Kampf zwischen Poesie und Prosa entbrennt, ausgetragen vor allem zwischen Franziska und ihrem Chef Schafheutlin. Natürlich liegt - jedenfalls zunächst alles Licht auf der Poesie der Ideen Franziskas, aller Schatten auf der Prosa von Schafheutlins Praxis. Sympathien und Antipathien werden unverhohlen, vehement, offen parteiisch vorgetragen: „Schafheutlin war ihr sofort und entschieden unsympathisch", 14 heißt es nach der ersten Begegnung; dementsprechend fällt seine Charakteristik aus. Er ist der Exponent von straffer Leitung, Rechenhaftigkeit, Beschlußtreue, also - so wird gefolgert - von phantasieloser Mittelmäßigkeit, verkrampfter Autorität, Routine, Verleugnung seines besseren Selbst (er war in den frühen fünfziger Jahren mal ein Neuerer). Reger und Schafheutlin ringen - ein bißchen wie im Zauberberg - um eine Seele, und wie in Thomas Manns Roman schließt sich die Heldin keinem von beiden ganz an. Sie kommt schon bald nicht mehr an der Einsicht vorbei, daß sich die Ausnahmebedingungen, die für einzelne repräsentative Bauten gelten, nicht übertragen lassen, daß mithin Schafheutlins Vorwurf, Reger sei ein Schönredner und Phantast, nicht ganz von der Hand zu weisen ist. Doch bleibt sie dem Erbe ihres Lehrers insofern treu, als sie die Bemühung, über die Uniformität und Reizlosigkeit hinauszugelangen, nie aufgibt, realisierbare Teillösungen vorschlägt und in die Praxis umzusetzen sucht. Sie hört nicht auf, sich über die einförmigen Häuserzeilen zu ärgern und von einer schön und abwechslungsreich gegliederten Straße zu träumen, in der sie inmitten glücklicher Menschen einen Bummel machen könnte. Aber sie lernt auch, daß die Widersprüche des industriellen Bauens nicht im guten oder bösen Willen einzelner Personen ihre Wurzel haben. Mehr und mehr tritt die reale Dialektik zutage. Franziska sieht, daß die 201

Wohnungen in den malerischen alten Häusern, die der Planierraupe zum Opfer fallen, unhygienische Bruchbuden sind; die Leute wechseln gern in den modernen Neubau über, aber ein bißchen Sehnsucht nach demGärtchen hinterm alten Haus bleibt. D i e Laubenkolonie ist ein Anachronismus, aber für die Lampionfeste, bei denen sich die Menschen in Gemeinschaft wohlfühlten, liefern die neuen Viertel noch keinen Ersatz - usw. Das Buch bietet damit auch ein ungewöhnlich großes stoffliches Interesse. Auf irgendeine sein Wohlgehen betreffende Weise ist beinahe jeder, sei er Altbau-, Neubau- oder Villenbewohner, in den Streit verwickelt, den Franziska ausficht. Aber noch mehr. Im Städtebau kommen überaus wichtige Wesenszüge der Gesellschaftsordnung in ihrer aktuellen Beschaffenheit und ihrer historischen Dimension unmittelbar anschaulich zum Vorschein. Was heute gebaut wird, tritt an die Stelle von etwas Vergangenem, repräsentiert gegenständlich heutige Daseinsbedingungen und ragt weit in die Zukunft hinein. Und anders als bei anderen industriellen Gütern, die meist weitab von den Stätten ihrer Produktion konsumiert werden, steht hier der Produzent seinem Produkt gegenüber. E r kann - positiv ausgedrückt - das von ihm Geschaffene genießen; er hat - negativ gesehen - die Suppe, die er sich einbrockt, selbst auszulöffeln. Man kann daher als Leser die Neigung haben, Franziska heftig zuzustimmen oder aber heftig zu widersprechen, doch man wird kaum sagen können, daß sie sich um unwürdiger Dinge willen erregt. Ihre subjektive Leidenschaftlichkeit hat eine breite und tiefe substantielle Grundlage, der gegenüber alles Kokette und Kapriziöse ihres Wesens zweitrangig wird. In dem Roman, der eine lange Entstehungsgeschichte hat, widerspiegelt Franziskas Lernprozeß - das läßt der nicht abgeschlossene Text mit einiger Sicherheit vermuten - auch eine Evolution der Ansichten der Autorin. Ursprünglich war wohl alles einseitiger auf die Betonung der Antithesen angelegt. D i e konzeptionelle Veränderung zielt freilich nicht auf Harmonisierung und voreilige Synthese, aber auf die Bewegung der Widersprüche. Namentlich die Entdeckungen, die Franziska allmählich an Schafheutlin macht, und eine gewisse Wandlung ihrer Beziehungen zu ihm verdeutlichen dies. Schon ver202

hältnismäßig früh entdeckt sie im Gespräch mit ihrem Kollegen Jazwauk, einem oberflächlich-liebenswürdigen jungen Mann und routinierten Verführer, der seinen Beruf ohne innere Anteilnahme ausübt - sein Techtelmechtel mit Franziska wird in etwas überflüssiger Breite geschildert - , „daß sie nach Gründen sucht, ihm (Schafheutlin - H. K.) recht zu geben." 1 5 Und als sie Jazwauks Methoden, leicht zu Geld zu kommen, ablehnt, „entlarvt" er sie: „Ethos! sagst du, Pflicht! sagt Schafheutlin, ihr zankt euch, dabei gehört ihr derselben Sekte an [. . .] " 1 6 Mehr und mehr kommt heraus, daß der Chef und seine Adjutantin als engagierte sozialistische Architekten bei allem Streit dasselbe generelle Ziel haben. Franziska merkt, daß er sich um die Sache müht und - nicht nur als befangener Verehrer, sondern auch als erfahrener Kollege, der Neustadt eine fähige Kollegin erhalten will - um sie wirbt. Und sie beschließt, über das vorgesehene eine Jahr hinaus in Neustadt zu bleiben. Aber die Nackenschläge hören nicht auf. Der Aufbau des Stadtzentrums - die Hoffnung, an die sie sich geklammert hatte - ist „auf unbestimmte Zeit" verschoben worden, ihr redliches, aber schwaches Bemühen um die psychisch schwer angeschlagene Sekretärin Gertrud bleibt vergeblich (Gertrud begeht Selbstmord), Franziska ist der Verzweiflung nahe. W a s ihr Schafheutlin in dieser Situation zu sagen hat, sind nicht die bürokratischen Phrasen, die in früher geschriebenen Kapiteln von ihm zu erwarten gewesen wären, sondern - kurz vor dem Ende des Werkes - ernste Worte eines schwer arbeitenden Mannes: „Glauben Sie, mir sind Ihre Träume fremd, nur weil ich verlernt habe, sie zu deklamieren? Ich habe dutzendmal so dagesessen wie Sie jetzt und Enttäuschungen schlucken müssen, und Sie werden noch dutzendmal so dasitzen, und Sie werden es lernen, Schläge einzustecken ohne pathetische Schreie [. . .] Gehen Sie an Ihre Arbeit." 1 7 (Nichts dergleichen hört Franziska von Trojanowicz - daher heißt es ganz am Schluß: „Leb wohl, Ben [ . . . ] ich werde also zu Schafheutlin zurückkehren [ . . .]" 1 8 ). So findet der Roman zu einer Weisheit, die fern von Abgeklärtheit ist. Der Aufforderung des Bruders, „nachzudenken, wie du leben sollst", kann Franziska mit den Worten begegnen: „Aber das weiß ich doch". 19 Sie wird sich angesichts von Yoricks Totenschädel einem auch weiterhin kampfreichen Le203

ben stellen - das ist entschieden. Das sachliche Problem, der Kampf zwischen Poesie und Prosa, ist noch nicht zu Ende wie im Leben, so im Buch. Brigitte Reimann hatte bereits 1961 mit dem Titel ihres Romans Ankunft im Alltag der Literaturdebatte ein wichtiges Stichwort gegeben. Das Hineinwachsen einer jungen Generation in die entstehende sozialistische Gesellschaft und das Bekenntnis zu dieser erschienen damals als Endpunkt einer Entwicklung. Franziska Linkerhand kommt auf das Thema zurück. Was aber seinerzeit Endpunkt war, wird nun Ausgangspunkt der eigentlichen Geschichte, und was damals die eigentliche Geschichte war, erhält nun die Rolle der Vorgeschichte. Von Franziskas Lebensbericht steht etwa ein Fünftel den fünfundzwanzig Lebensjahren bis zur Ubersiedlung nach Neustadt, der gesamte Rest dem einen Jahr der Arbeit im Städtebau zur Verfügung. Inhaltlich und formal liegt der Hauptakzent auf einer Situation, in der die neue Gesellschaft nicht als Morgenröte am Horizont gesehen und in ihrem Anbrechen bejubelt werden kann, sondern in ihrem eigenen Wesen, in der Entfaltung ihrer Widersprüchlichkeit ernst zu nehmen ist. Von der geschichtlichen Vergangenheit und ihrem Fortbestehen im imperialistischen Westdeutschland grenzt sich der Roman unzweideutig ab. Aber nicht von daher, nicht aus einem verewigten Enthusiasmus des Aufbruchs kann er sein Pathos gewinnen. Dennoch wird nichts zurückgenommen, jugendlicher Überschwang wird nicht belächelt - im Gegenteil: Verachtung trifft die Enthusiasten von gestern, die behäbige Bürger geworden sind. Illusionen gehen verloren, ohne daß daraus die Grundhaltung der Desillusionierung, der Entlarvung entsteht. Der prosaische Alltag tritt gewichtig auf, doch herrscht nicht die starre Antinomie von poetischer Innerlichkeit und prosaischem Außen. In solcher Mannigfaltigkeit emotionaler Einstellungen gegenüber den verschiedenen Seiten des Lebens und ihrer ästhetischen Wertung wird die künstlerische Entsprechung zu jenen unabgeschlossenen Gegenwartsprozessen gesucht und gefunden, die das Thema des Romans bilden. Franziska Linkerhand gehört damit zu den Werken, die Fortschritt ermöglichen, indem sie eine wahre Standortbestimmung vornehmen. 204

„Nachdenken, wie du leben sollst" - diese in Franziska Linkerhand formulierte Aufforderung benennt offensichtlich auch das treibende Motiv, das Gerti Tetzners erstem Roman zugrunde liegt. Der Impuls zum Schreiben wird in beiden Fällen auch zum Thema des Geschriebenen. Die Autorinnen wollen mit der eigenen Person einstehen für die Wahrheit des Lebensbildes, das sie vorlegen. Daraus erwächst die überraschende Ähnlichkeit von Franziska Linkerhand und Karen W., was die angewandte künstlerische Methode angeht - vor allem das Verhältnis von Autorin und Zentralfigur und die durch sie vermittelte Wirklichkeitsbeziehung. Unterschiede ergeben sich einmal - selbstverständlich - aus den anderen Wirklichkeitsbereichen, die die Romane erfassen, zum anderen aus der Verschiedenheit der bestimmten Individuen, die über ihre Umwelt und Innenwelt aussagen. Brigitte Reimann und ihre Franziska wirken temperamentvoller, hinreißender, aber auch unbesonnen und in sich verliebt; Gerti Tetzner und ihre Karen dagegen - bei gleicher Engagiertheit - bedächtiger, rationaler, auch selbstkritischer. In dem Unterschied der Temperamente steckt ein nicht völlig entgegengesetztes, aber unterschiedlich akzentuiertes Verhältnis von Spontaneität und Bewußtheit, und dies prägt die im ganzen ähnliche künstlerische Methode im einzelnen doch anders aus. Die größere Fülle, die Begier, viel Leben einzufangen, das kühne Zupacken, der starke Lyrismus verbinden sich bei der Reimann auch mit Maßlosigkeit, mit geschmacklichen Mißgriffen und der Reproduktion von Klischees. Sie schreitet den einen gegenständlichen Bereich ganz aus. Demgegenüber zielt Karen W. auf eine größere, mit unterschiedlicher Intensität erfaßte Vielfalt gesellschaftlicher Beziehungen. Bestimmter als in der Biographie Franziskas zeichnen sich in der Karens geschichtliche Etappen der DDR-Entwicklung ab. Bei der Darstellung einiger Gestalten beweist G. Tetzner eine größere Kraft der sozialen Analyse, die sich allerdings noch nicht an allen Gegenständen gleichmäßig bewährt. Die Autorin geht noch nicht von einer gefestigten künstlerischen Methode aus, sondern erarbeitet sie sich erst im Entstehungsprozeß des Romans. 20 Auch was die Beherrschung der Sprache angeht, findet sich neben Schönem und Gelungenem Schwächeres, im Einzelfall 205

auch Mißglücktes. Als erstes Buch der Verfasserin ist Karen W. alles in allem eine sehr bemerkenswerte Leistung. Die Haupthandlung, im Präsens vorgetragen, setzt sogleich auf den ersten Seiten ein; stückweise wird dann in die Erzählung die Vorgeschichte eingeblendet. Die knapp dreißigjährige Karen nimmt ihre Tochter und verläßt ihren Mann und die Stadt L. Die letzten Jahre ihrer Ehe haben sie davon überzeugt,, daß sie nicht auf die richtige Weise lebt. Sie liebt ihren Mann Peters auch jetzt noch, aber es sind allmählich Veränderungen eingetreten, die ihren Lebensinhalt in Frage stellen. Eine Zeitlang war sie glücklich, seitdem sie ihren Beruf aufgegeben und Zeit für ihre Tochter gewonnen hatte. Sie half ihrem Mann bei seiner wissenschaftlichen Arbeit, von deren Bedeutung sie überzeugt war. Dies hat sich geändert, und damit hat auch das Zusammenleben seinen schöpferischen Charakter eingebüßt. Ohne genau zu wissen, was werden soll, geht Karen fort zurück in ihr Heimatdorf. Zu Weihnachten kehrt sie nach L. zurück, wo sich aber nach ein paar glücklichen Tagen erweist, daß sich die Voraussetzungen des gemeinsamen Lebens nicht geändert haben. Der alte Trott stellt sich rasch wieder ein trotz offener Aussprachen und liebevoller Umarmungen. Karen geht abermals in ihr Dorf, diesmal begleitet von Peters, der ausspannen und die Frist der Entscheidung verlängern will. Er reist bald ab; ob man sich wiederfinden wird, bleibt ungewiß. Karen wird fast heimisch im Dorf, geht beinahe eine neue Ehe ein, kehrt jedoch abermals um: sie findet Arbeit nahe bei L., zieht zurück in „seine" Stadt, in die auch er nach einem Studienaufenthalt bald wiederkommen wird. Warum dieser Schluß? - Um es vorweg zu sagen: Er ist vielleicht übereilt niedergeschrieben - der schwächste Teil des Buches. Natürlich kann im Leben vorkommen, was hier beschrieben ist; im Roman fragt man - nach Ablauf einer ideell bedeutenden Handlung - auch nach der Bedeutung des Ausgangs und erhält nur eine unbefriedigende Antwort. Das erzählte Geschehen hatte bezeugt, daß der gute Wille, die fortschrittlichen Lebensmaximen, sogar die Liebe, für sich genommen, nicht ausreichten, dem Zusammenleben auf die Dauer einen Sinn zu geben. Haben sich die Voraussetzungen geändert? Sind Anzeichen vorhanden, daß Karens Anspruch 206

an das Leben jetzt besser erfüllt wird? - Keineswegs. Oder ist ihr der Mut gesunken, hat sie aufgegeben? - Darüber wird nichts gesagt; ob die Autorin die Haltung ihrer Heldin billigt oder kritisiert, ist nicht erkennbar. Dieses Notdach ist der Gefahr ausgesetzt, als harmonisierende Abschwächung der angelegten Konflikte interpretiert zu werden. Das widerspräche jedoch dem Sinn des Buches, das auf ehrliche Befragung des Lebens und Selbstbefragung ausgeht und sie - von diesem Schluß abgesehen - auch leistet. Die Zickzackbewegung der Handlung (zweimaliger Abschied, zweimalige Rückkehr) bringt sinnfällig zum Ausdruck, daß die Heldin bis zum Schluß den Platz nicht gefunden hat, den sie bei ihrem Ausbruch suchte. Angetrieben von bestimmten Leitvorstellungen (sie werden im Buch an wichtigen Stellen benannt), ist Karen aufgebrochen. Als Kind der neuen Zeit will sie ihr „Eigenes, Unverwechselbares" einbringen, „frei über sich entscheiden", „dazugehören", „Geborgenheit" empfinden, und sie will wissen, wieviel von diesen Blütenträumen der Jugend für andere gereift ist. Naiv und ohne festen Plan setzt sie - und die Autorin mit ihr - ihre Ansichten und Ansprüche dem Leben aus und wird dabei sowohl praktisch als auch in ihrem Denken in beträchtliche Komplikationen verwickelt. Indem Karen nach längerer Zeit in ihre Heimat zurückkehrt, begegnet sie einerseits ihrer Vergangenheit und der des Dorfes, andererseits den Veränderungen, die sich zwischen der durchgehenden Vergenossenschaftlichung und dem Beginn industriemäßiger Produktion dort vollzogen haben. Indem sie sich von L. und von Peters nicht völlig löst, bleibt auch das Leben in der Stadt, vor allem der Lebenskreis ihres Mannes, in ihrem Gesichtsfeld. Die Geschichte der Ehe und die der mißglückten Berufswahl verbindet beide Stoffbereiche miteinander. (Im Gespräch erwähnt G. Tetzner verschiedene Fassungen; „eine spielte im Justizmilieu, eine andere nur auf dem Lande, eine dritte war eine Ehegeschichte. Bis ich die jetzige Form fand, alle drei Ebenen einzubeziehen." 21 ) So hat sich das Thema gleichsam unter der Hand gewaltig geweitet. Aus dem „einfachen" Anliegen einer Selbstbefragung ist beinahe das große Sujet einer Bilanz unserer Entwicklung geworden. Das kompositorische Prinzip, Karens Lebensgeschichte mit den auf der Ebene der Haupthandlung 207

spielenden Begebenheiten zu verklammern, Knotenpunkte ihrer Biographie und Gegenwartserlebnisse einander erhellen zu lassen, weist offensichtlich auch einen Weg, wie dieses große Sujet künstlerisch zu bewältigen ist. Gemeistert ist es freilich nur zum Teil. Neben tief und treffend analysierten Gestalten finden sich auch skizzen- und klischeehaft bleibende, und manchmal wird die Darstellung von Geschehen durch Räsonnement, durch bloßes Meinen und Dafürhalten nicht ergänzt, sondern ersetzt. Angesichts dessen liegt es nahe, darauf zu verweisen, daß ein Prosaautor gut daran tue, sich in seinem ersten Buch zu beschränken, z. B. auf schlicht Autobiographisches oder auf Episoden, daß sich in der Beschränkung der Meister zeige - und so fort. Viel unbestreitbar Richtiges ließe sich da sagen. Doch ich zögere, es zu tun. Denn mit einem Blick auf unsere literarische Landschaft kann man sich davon überzeugen, daß die Weisheit der Beschränkung zur Zeit verbreiteter ist als der Mut zum großen zeitgenössischen Thema, der das doppelte Risiko des Mißlingens und des Anstoßerregens einschließt. Wenn wir jene Autoren gelten lassen, die mit sicherer Hand den Wirklichkeitsausschnitt, den sie künstlerisch meistern, zu begrenzen verstehen (in der Prosa z. B. Helga Schütz, Martin Stade), so sollten wir diejenigen rühmen, die kühnere Griffe ins Leben wagen und auf ungelöste Probleme hinweisen. Gerade auch in dieser Hinsicht gehört Karen W. an die Seite von Franziska Linkerhand. Die einfache Notwendigkeit, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, veranlaßt Karen, in der Genossenschaft zu arbeiten. Schwere, unqualifizierte Arbeit zu leisten und mit denjenigen zu leben, die sie ausführen, das ist die erste Konsequenz, der sie sich nach ihrem Ausbruch zu stellen hat. Auffällig gemacht durch die besonderen Umstände, wird gewöhnliches Arbeitsleben ins Bild gesetzt: das von Frauen, die im Oktober und November bei immer schlechterem Wetter Kartoffeln und Rüben aus der Erde bringen, frieren, Kreuzschmerzen haben, auf die unzulänglichen Maschinen und die Männer, die sie bedienen, schimpfen, müde nach Hause fahren, wo weitere Arbeit auf sie wartet. Im Umkreis der Arbeit entstehen Geschichten, werden Menschen deutlich und beginnt die Selbstprüfung. Karen hat (ähnlich wie Franziska Linkerhand) damit zu ringen, 208

von den Arbeiterinnen akzeptiert zu werden, und sie schärft, indem sie deren Leben teilt, ihren Blick dafür, wie die Menschen durch ihre Lebensbedingungen geprägt wurden. Aus der Frauenbrigade läßt G. Tetzner die alte Frau Merten hervortreten, die durch ein langes Leben voller übermäßig schwerer Arbeit, verbunden mit dem Kampf um bäuerlichen Kleinbesitz, zu Güte und Menschenfreundlichkeit unfähig geworden ist. Die Beobachtung des freudlosen Frauenlebens - Karen denkt an ihre Mutter, die den Vater und seine Gäste, bei denen er sich anbiederte, demütig bediente, an ihre Tante, die sich um ein krankes Kalb weit mehr Sorgen machte als um ein krankes Kind - hatte in dem jungen Mädchen Karen den Entschluß reifen lassen, ein solches Leben nicht zu führen. Deshalb trennte sie sich von ihrem Jugendgeliebten, der sich darauf vorbereitete, den väterlichen Hof zu übernehmen, und sie zu seiner Bäuerin machen wollte. Inzwischen - zwölf Jahre später - ist dieser Günter Werlich ein tüchtiger Genossenschaftsvorsitzender geworden, der der Einzelbauernexistenz nicht nachtrauert. Anders sein Stiefvater Paul Werlich. Er ist die neben Karen und in Verbindung mit ihr am stärksten ausgearbeitete Romanfigur. Karen hatte früher eine kindliche Zuneigung zu dem verschlossenen Mann, dessen große Zeit mit der Bodenreform kam, als er für sich und seine Familie unter unendlichen Mühen ein eigenes Haus baute und dies Ereignis auf seine Weise mit Poesie umgab, indem er heimlich eine Chronik des Hausbaus verfaßte und sie ins Fundament einmauerte. Jetzt trifft ihn Karen wieder, wie er stumm und verbissen die Genossenschaftshühner besorgt und nicht mit ihr spricht. Er hat den Verlust des Traums vom Privatbesitz und die Kränkung, die Karen als sehr energische Helferin der Genossenschaftsbewegung ihm zugefügt hat, nicht verwunden. Die Katastrophe bricht über Werlich herein, als er die Hühnerpest in sein Gehege einschleppt und deshalb eines Verbrechens am Volkseigentum bezichtigt wird. Zwar kann er sich von dem Verdacht reinigen - er gibt unaufgefordert seine sämtlichen Ersparnisse her, um den Schaden, einen großen Betrag, zu bezahlen - , aber er ist gebrochen und erledigt. Als Nachtwächter geistert er mit seiner Laterne einsam durch die Genossenschaft. Karen fühlt sich ihm gegenüber schuldig, ohne ihm wesentlich helfen zu können. 14

K a u f m a n n , Studien

209

In Werlichs Geschichte und ihrer Verflechtung mit dem Leben Karens kommt der für diesen Roman charakteristische Zusammenhang von moralischem Anspruch und künstlerischer Methode am besten zum Ausdruck. Nicht nur Karens Leben, sondern auch das anderer Personen wird nach seiner Erfülltheit befragt, und zwar besonders unter dem Gesichtspunkt, inwieweit die Verheißungen aus den Anfangsjahren sozialistischer Entwicklung inzwischen eingelöst sind. In den Episoden aus Karens Biographie kommen sie zur Sprache. Damit erhält die moralische Fragestellung historischen Inhalt, sie wird Teil der Geschichte (d. h. sowohl des erzählten Vorgangs als der Historie selbst). Das Miteinander von aufmerksamer Beobachtung und ehrlicher Selbstprüfung führt zur Entdeckung der Dialektik des geschichtlichen Fortschritts. Die gesellschaftlichen und technischen Errungenschaften, die die Lebensbedingungen der Dorfbewohner verbessern, können Paul Werlich nicht mehr glücklich machen; das Leben geht über ihn hinweg. Das Tragische, das sich hier manifestiert, impliziert auch eine Antwort auf die Frage - die die Autorin ebenfalls als nicht nur Karen, sondern auch andere Personen angehend behandelt inwieweit der Gang des Lebens das Ergebnis eigener Entscheidung, damit persönlicher Verantwortung und „Schuld" oder zwanghaft durch äußere Umstände bedingt ist. Und je mehr letzteres der Fall ist, desto weniger scheinen G. Tetzner rasche Alternativurteile angemessen, desto stärker ist sie bestrebt, den Menschen gerecht zu werden, die nicht frei über sich entscheiden konnten. Sie will sie in ihrer Mannigfaltigkeit, von allen Seiten, sehen und begreifen. Der Aufbau einer epischen Sehweise bedingt den Abbau von Klischees, Illusionen und Vorurteilen. Karen nimmt dabei ihre Lebenshaltung nicht zurück, sie bekräftigt vielmehr das Fundamentale und Bleibende ihres sozialistischen Weltbildes, indem sie frühere Ansichten und Handlungen kritisch überdenkt, vor allem einige jugendliche Radikalismen und Schematismen, die vom jugendlichen Elan bei der sozialistischen Umgestaltung zwar nicht zu trennen waren, aber manchmal doch übereilte und schiefe Urteile hervorbrachten. Und diese Urteile hatten für die Betroffenen bisweilen Folgen. In zugespitzter Form wird der Widerspruch in Karens Gespräch mit Peters über ihren Vater ausgetragen. Die Abstoßung 210

vom Vater, der ein Nazi war, hat Karens Leben die Richtung verliehen. In ihm sah die Vierzehnjährige die Schuld der Generation personifiziert, die die faschistischen Untaten verübt hatte. Was nun, da sich herausstellt, daß die Dinge nicht so einfach lagen, daß der Vater wohl Mitschuldiger war, aber auch gebüßt hat für einen anderen, der schlimmer war und seinen Kopf aus der Schlinge zog? Wie, fragt Karen, werden wir dastehen, wenn unsere Kinder einmal ebenso pauschal und rigoros ihre Eltern verantwortlich für alles Übel machen, das noch in der Welt ist? - Solcherart Fragen, auf die sich nicht leicht allgemeine Antworten geben lassen, sind die eigentliche Ursache dafür, daß G . Tetzner sich als Epikerin versucht: Aufmerksamkeit für das Besondere, das Einmaliges und Gesetzmäßiges enthält, erscheint als Voraussetzung, um der Stimmigkeit oder Unstimmigkeit des Allgemeinen auf die Spur zu kommen. Im Rückblick auf Karens Juristenberuf wird das Problem thematisiert. E s ist kein besonderes Ereignis, das Karen aus dem Rechtswesen ausscheren läßt, auch nicht allein die starke Belastung, sondern vor allem die Überzeugung, daß ihre frühere Entscheidung auf falschen Voraussetzungen beruhte (das Verhältnis zum Vater war der eine, eine politisch gewendete Intrige in der Schule der zweite Anlaß für die Berufswahl), also „unfrei" gewesen sei. Können Normen das Wesen des Menschen ganz erfassen? Eine allgemeine Antwort auf diese alte Frage wird nicht zu geben versucht, stattdessen ergibt sich im vorliegenden Fall ein produktiver Ansatz für realistisches Schreiben. G. Tetzner hat einen Sinn auch fürs theoretische Begreifen der Wirklichkeit, und gerade deshalb wirft sie solche Fragen auf. Karens Verhältnis zu Peters macht das besonders deutlich. Peters ist aus Leidenschaft Historiker mit theoretischen Ambitionen. „ D i e Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte" lautet sein Thema - bezeichnenderweise; Einzelnes und Allgemeines stehen damit von einer anderen Seite zur Diskussion, der Mann fragt wissenschaftlich das Gleiche, was seine Frau empirisch und was die Autorin episch-analytisch fragt. D i e Beharrlichkeit, mit der er schon als Student Debatten über die Individualität zu erzwingen suchte, hat ihm Karens Liebe und einige amtliche Unannehmlichkeiten eingetragen. Dieser Mann wird nun unter 14*

211

die Dorfbewohner versetzt: ,„Was machen die Leute hier den Tag über?' ,Leben . . . ' .Aber wie?' .Verschieden. Einer füttert Hühner. Eine kocht Essen und putzt den Kindern die Nase. D e r alte Henneberg besucht wahrscheinlich seinen Schulkameraden im Unterdorf.' .Nicht sehr verschieden', meinte Peters." 2 2 Karen widerspricht nicht laut, aber in Gedanken. Für sie sind die Leute durchaus „sehr verschieden", aber was gibt ihr Leben her zum Verständnis der „Rolle der Persönlichkeit"? Die Frage bleibt offen. Dabei will G. Tetzner wohl kaum Karens ganzes Verhältnis zu Peters bezeugt es - theoretisches Denken als schlechthin unangemessen zeigen. Der gleiche Peters, der hier so fremd und hilflos wirkt, entdeckt in wenigen Tagen mit dem Blick des Historikers Dinge im Dorf, die seiner Frau, obgleich sie dort zu Hause ist, verborgen blieben: Ein Grabstein erzählt ihm Geschichten, er besorgt sich eine Chronik, aus der er Karen Aufschlüsse über wichtige Vorgänge in ihrem Leben verschafft. Nicht zufällig ist es die Situation des Dorfes und des Urlaubs, in der solche Züge an Peters zur Geltung kommen. In seiner eigentlichen Lebenssphäre war sein schöpferischer Elan, der Karen früher so für ihn eingenommen hatte, arg in Bedrängnis geraten. Besorgt - denn hier liegen die G r ü n d e für ihre Ehekrise - forscht Karen den Ursachen nach und entdeckt einige Symptome einerseits in seiner wachsenden Zugeknöpftheit und Starrheit, andererseits in den Menschen, die ihn umgeben. Heimlich besucht sie seine Vorlesung und wird mit Schrecken des Unterschieds gewahr, der zwischen diesem trokkenen, abgewogenen, die Studenten mäßig interessierenden Vortrag, der Zurückweisung unbequemer Fragen und der einstigen Streitbarkeit und Aufgeschlossenheit ihres Mannes besteht. In den Silvestergesprächen mit den Kollegen und deren Frauen ist ihr zu viel von kleinlichen Rücksichten und Sorgen um das Fortkommen die Rede, und Peters unterliegt dieser Atmosphäre. Es fällt auf, d a ß die literarische Analyse dieses Charakters auf andere Art erfolgt als die etwa Paul Werlichs. Was mit 212

diesem geschieht, ist klar durchschaubar, die Ursachen für sein Verhalten und Scheitern liegen in einem eng umgrenzten und übersehbaren Feld von Beziehungen. Das gilt für die Begebenheiten und Menschen in Karens Heimatdorf überhaupt. Die Heldin kann das gesellschaftlich und technisch Neue in seinem Für und Wider abwägen, sie kann sehen, wie die moderne Hühnerfarm mit der alten Schinderei Schluß macht, aber monotone technische Verrichtungen an deren Stelle setzt, sie kann an einer Gestalt wie der braunen Marlene ablesen, inwieweit diese in ihrem Beruf besonders tüchtige Frau insgesamt glücklich ist, sie lernt in dem Tierarzt Steinert einen Mann kennen, der nie - wie Peters - am Sinn seiner Arbeit zweifelt. Die dortige Welt stellt sich ihr nicht als Idylle, aber als ein in seiner Differenziertheit klar gegliedertes, perspektivisch aufgebautes Ensemble von Beziehungen dar; damit übereinstimmend, kann sie auch als Landschaft ins Bild gesetzt werden. Ganz anders, wenn von L. und von Peters und seiner Umgebung die Rede ist. Scharf und treffend sind Symptome seines Verhaltens beobachtet. Aber der Kausalnexus, in dem sie stehen, scheint nicht in der gleichen Art aufdeckbar zu sein wie etwa im Falle Werlichs. Was an weiterreichenden Beziehungen geahnt und vermutet wird, ist nicht erzählerisch entfaltet. Gewisse Ansätze zu satirischer Darstellung geraten offenbar in Widerspruch zu dem Willen der Autorin, den Menschen gerecht zu werden. Wo liegt die „Schuld" für das veränderte Verhalten des Mannes? - Die Spuren, die Karen verfolgt, verlieren sich in Bereiche außerhalb ihres Blickfeldes, auf die Reflexionen, Vermutungen, polemische Äußerungen lediglich hindeuten. Es ist leicht, dies als „künstlerische Schwäche" einer Anfängerin zu verstehen und zu verzeihen. Nur bliebe dabei unbeachtet, daß es sich hier nicht lediglich um individuelles Unvermögen handelt, sondern um ein weitreichendes Problem: das der Darstellbarkeit großer, der sinnlichen Anschauung sich nicht darbietender Systemzusammenhänge in ihrer Bedeutung für den Menschen. Gerade dadurch, daß sich G. Tetzner einer solchen Aufgabe stellt, daß sie sich nicht in schon eroberten poetischen Provinzen aufhält, daß sie auf Lebensprobleme aufmerksam macht, die künftig noch Kunstprobleme sein werden, gehört ihr Roman zu den wichtigen Büchern der jüngsten Zeit. 213

Die enge Beziehung zwischen Autor und Zentralfigur bringt es mit sich, daß Karen W. wie Franziska Linker band, unverstellt die Welt aus der Sicht von Frauen zur Anschauung bringen. (Vielleicht fällt dies nur deshalb auf, weil wir es bisher wenig gewohnt waren. Es gibt von Männern verfaßte Romane, bei denen das Verhältnis von Autor und Zentralfigur ganz ähnlich strukturiert ist - und wir vergessen zu betonen, daß sie „aus männlicher Sicht" geschrieben sind.) Bei G. Tetzner ist das besonders daran erkennbar, wie sie Karens Rolle als Mutter, das Erlebnis des Gebärens, die Beziehung zur Tochter herausarbeitet, aber auch an der Aufmerksamkeit, mit der das Leben von Frauen nach der Erfüllung eines heute zu stellenden Lebensanspruchs kritisch befragt wird. In beiden Romanen beruht der Lebensweg der Heldinnen auf der Freisetzung der Frau durch den Aufbau des Sozialismus. Die neuen Chancen und gänzlich veränderten Lebensansprüche heutiger Frauen - im Rückblick auf die Mütter und andere Frauen der älteren Generation kommen sie in beiden Büchern zur Sprache - und die neuen Konflikte und Schwierigkeiten, die bei ihrer Verwirklichung auftreten, die ungleichmäßige Entwicklung der verschiedenen Seiten des individuellen und gesellschaftlichen Lebens spielen thematisch eine wichtige Rolle. Dennoch haben wir es weder mit „Frauenromanen" zu tun, die vom sonstigen gesellschaftlichen Leben gesonderte weibliche Interessen bedienen, noch mit Thesenromanen, die eine isolierte Frauenemanzipation propagieren. Karen W. sollte man nicht als einen Roman auffassen, der Wege zur Lösung von Ehekrisen weist. Das spezifisch Weibliche ist vielmehr integriert in eine Gesamtbewegung gesellschaftlicher Emanzipation. Im Bild der Gesellschaft wie im Denken und Handeln der Zentralfiguren kommt, der realen Situation entsprechend, zum Ausdruck, daß es zwischen verschiedenen Klassen, Schichten und Gruppen in unserer Gesellschaft, damit zwischen verschiedenen Individuen, noch unterschiedliche (allerdings nicht mehr durch den Klassenantagonismus feindlich gegeneinandergestellte) Interessenlägen gibt. In diesem Kontext - dem Kontext, in dem sie tatsächlich stehen - kommen die wirklichen Spezifika der Frauenproblematik weniger in verbaler, thesenhafter Zuspitzung als vielmehr in dem Ensemble wirkender Faktoren zur Geltung. 214

„Es wird oft als normal empfunden"; erklärte G. Tetzner im Gespräch über ihr Buch, „daß angesichts von Realitäten Träume und Veränderungsvorschläge immer mehr abgebaut werden. Ich halte das nicht für normal. Große Ansprüche an das Leben sind nicht als Pubertätserscheinung abzutun." 23 Jeder einzelne, heißt es weiter - und das gilt für B. Reimann genauso beanspruche, „den ihm eigenen Platz im Leben zu suchen." 24 Damit ist der geschichtlich bedingte moralische Grundsatz ausgesprochen, auf dem auch das für diese Romane bezeichnende Verhältnis von Subjektivem und Objektivem beruht. Der Anspruch auf Realisierung der individuellen Anlagen und Kräfte wird von der sozialistischen Entwicklung hervorgebracht und nun als Erwartung artikuliert, als eigener vorgetragen und für alle reklamiert. In den Zentralfiguren, zu denen sich die Verfasserinnen bekennen, haben wir individuelle Gestalten, die zugleich in ihrem gesellschaftlichen Anspruch Jedermann sind, die nicht über und nicht unter anderen Menschen zu stehen wünschen und uns die Welt unter diesem Gesichtspunkt sehen lassen. Der allgemeine Inhalt dieses Kunstprinzips - und deshalb verdient es besonderes Interesse - ist sozialistischer Demokratismus.

Abkürzungen

KuL

Kunst und Literatur. Zeitschrift zur Verbreitung sowjetischer Erfahrungen. 1952 f.

Lenin

W. I. Lenin: Werke. Bd. 1 - 4 0 . Berlin 1 9 6 1 - 1 9 6 4 .

MEW

Karl Marx/Friedrich Engels: Werke. Bd. 1 - 3 9 u. 2 Ergän-

NDL

Neue Deutsche Literatur. 1952 f.

WB

Weimarer Beiträge. Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhe-

zungsbde. Berlin 1 9 5 7 - 1 9 6 8 .

tik und Kulturtheorie. 1954 f.

Anmerkungen

Literatur

in einer dynamischen

Gesellschaft

1 Lenin, Werke, Bd. 25, S. 486. 2 Anna Seghers: Der sozialistische Standpunkt läßt am weitesten blicken. In: VII. Schriftstellerkongreß der D D R , Protokoll. BerlinWeimar o. J . S. 22. 3 Vgl. Günter Kunert: Zeitgenossenschaft des Gedichts. In: Günter Kunert: Offener Ausgang. Berlin-Weimar 1972, S. 112. 4 Franz Fühmann: Diskussionsgrundlage zu Literatur und Kritik. In: VII. Schriftstellerkongreß der D D R , Protokoll (Arbeitsgruppen). Berlin-Weimar o. J., S. 257. 5 Peter Hacks: Das Poetische. Ansätze zu einer postrevolutionären Dramaturgie. Frankfurt a. M. 1972, S. 139 (Edition Suhrkamp). 6 Volker Braun: Fragen eines Arbeiters während der Revolution. In: Volker Braun: Gedichte. Leipzig 1972, S. 77 (Reclams Universalbibliothek Bd. 51). 7 Bertolt Brecht: Arbeitsjournal. Eintragung vom 9. 5. 1942. Bd. 1 : 1 9 3 8 - 1 9 4 2 . Hg. v. Werner Hecht. Frankfurt a. M. 1973, S. 439. 8 Anna Seghers : Der sozialistische Standpunkt läßt am weitesten blicken. In: VII. Schriftstellerkongreß der D D R , Protokoll. Berlin-Weimar o. J „ S. 21. 9 Vgl. dazu u. a. : Welt im sozialistischen Gedicht. Hg. v. Silvia Schönstedt, Heinrich Olschowsky u. Bernd Jentzsch. Berlin-Weimar 1974. 10 „Zwischen Sozialismus und Kommunismus, die bekanntlich zwei Phasen der kommunistischen Gesellschaftsformation sind, gibt es keine starre Grenzlinie." Erich Honecker: Bericht des Zentralkomitees an den VIII. Parteitag der S E D . Berlin 1971, S. 94. Vgl. dazu ferner u . a . : Georg Ebert/Gerhard Koch/Fred Matho/Harry Milke: Die ökonomischen Gesetze des Sozialismus umfassender erforschen. In: Einheit 29 (1974) 5, S. 5 5 4 - 5 5 5 . „Diese konsequente Hervorhebung der dialektischen Einheit beider Phasen des Kommunismus und die Zurückweisung der These vom .Sozialismus als einer relativ selbständigen Gesellschaftsformation' haben [. . .] zu wichtigen

217

Schlußfolgerungen in der Erforschung und Durchsetzung des ökonomischen Grundgesetzes geführt", das „für beide Phasen der einheitlichen

kommunistischen

Gesellschaftsformation

Gültigkeit

hat."

-

Werner K a i w e i t : D i e Kritik des Gothaer Programms in ihrer Bedeutung für unsere Zeit. I n : Einheit 30 (1975) 4/5, S. 479. „ D e r real existierende Sozialismus in der D D R ist dadurch

gekennzeichnet,

daß er schon nicht mehr in jeder Beziehung ökonomisch, sittlich, geistig mit den Muttermalen

der alten Gesellschaft behaftet ist,

obwohl in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, in den kräften in Stadt und Land, in den gesellschaftlichen

ProduktivBeziehungen

der Menschen und ihrer Lebensweise noch Spuren der Vergangenheit sichtbar sind, er ist aber auch noch längst nicht jene höhere Phase, die letztlich das Ziel der Bewegung ist." 11 Lenin: Werke, Bd. 25, S. 4 7 1 - 4 7 2 . 12 Erich Honecker: Bericht des Zentralkomitees an den VIII. Parteitag der S E D . Berlin 1971, S. 37. 13 Georg Wilhelm Friedrich H e g e l : Ästhetik. Berlin 1955, S. 5 5 7 - 5 5 8 . 14 Jürgen Kuczynski/Wolfgang Heise: Bild und Begriff. Studien übet die Beziehungen zwischen Kunst und Wissenschaft. Berlin-Weimar 1975, S. 1 4 7 - 2 5 5 . 15 Bertolt Brecht: Stücke. Bd. 5 Berlin 1957, S. 49. 16 Lenin: Werke, Bd. 27, S. 338. 17 Benito Wogatzki: D i e Zeichen der Ersten. In: D i e Geduld Kühnen/Zeit

ist

Glück/Die

Zeichen

der

Ersten.

Berlin

der 1969,

S. 3 0 9 - 3 1 3 . 18 Peter H a c k s : D a s Poetische. Ansätze zu einer

postrevolutionären

Dramaturgie. Frankfurt a. M. 1972, S. 10 (Edition Suhrkamp). 19 Ebenda, S. 119. 20 „ D e r sentimentalische Dichter hat es daher immer mit zwei streitenden Vorstellungen

und Empfindungen, mit

der Wirklichkeit

als

Grenze und mit seiner Idee als dem Unendlichen zu tun, und das gemischte Gefühl, das er erregt, wird immer von dieser doppelten Q u e l l e zeugen." Friedrich Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung. In: Gesammelte Werke. Bd. 8 : Philosophische Schriften. Berlin 1955, S. 573. 21 Vgl. dazu S. 1 8 6 - 1 9 2 dieses Buches. 22 Lenin: Werke, Bd. 25, S. 479. 23 E b e n d a S. 486. 24 M E W , Bd. 23, S. 393. 25 Karl M a r x : Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. Berlin 1953, S. 74. 26 Manfred Jendryschik: Johanna oder die Wege des D r . Halle 1973, S. 233.

218

Kanuga.

27 Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. Berlin 1953, S. 593. 28 M E W , Bd. 23, S. 512. 29 Ebenda, S. 514. 30 Lenin: Werke, Bd. 27, S. 3 2 5 - 3 2 6 . 31 Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. Berlin 1953, S. 599. 32 Demokratisierungsprozeß schnell vorantreiben. Interview mit Alvaro Cunhal. I n : Horizont 1975, 3, S. 5. 33 Bertolt Brecht: Leben des Galilei. Stücke. Bd.

8. Berlin

1959,

S. 1 5 4 - 1 5 5 . 34 Walter Benjamin: Kommentare zu Gedichten von Brecht. I n : Schriften Hg. v. Theodor W. Adorno u. Gretel Adorno Bd. 2. Frankfurt a. M. 1955, S. 367. 35 Bertolt Brecht: Von der Freundlichkeit der Welt. In:

Gedichte.

Bd. 1. Berlin 1961, S. 58. 36 Bertolt Brecht: Gegenlied zu „Von der Freundlichkeit der Welt". I n : Gedichte. Bd. 7. Berlin-Weimar 1969, S. 143. 37 Bertolt Brecht: Flüchtlingsgespräche. I n : Prosa. Bd. 3. Berlin-Weimar 1973, S. 3 0 9 - 3 1 0 . 38 Vgl. dazu etwa Martin

Stade: Vetters

fröhliche

Fuhren.

Berlin

1973. Auf S. 83 heißt es von der Zentralfigur: „Draußen, vor der Stadt, auf der Landstraße und im Wald, da war er zu Hause, da war alles eindeutig und bekannt, es gab das Land, das er kannte, und ein Dutzend Dinge, die er durchschaute. E r wußte von den Menschen, denen er dort begegnete, jede Kleinigkeit, er konnte ihnen in den Kopf sehen und ihre Gedanken lesen. Doch hier, in der Stadt, deren Geräusche über ihm zusammenschlugen und ihn verwirrten, hier war er ein Fremder, und es schien ihm, als stünden alle diese Menschen geschlossen ihm gegenüber, und als sei er mit dem Pferd allein." Vgl. dazu auch S. 213 dieses Buches. 39 Johann Wolfgang Goethe: Iphigenie auf Tauris. In: Werke. Berliner Ausgabe, Bd. 7. Berlin-Weimar 1963, S. 694. 40 Franz Mehring: Friedrich Spielhagen. In: Gesammelte Schriften. Bd. 11. Berlin 1961, S. 103. 41 Volker Braun: Allgemeine Erwartung. I n : Volker Braun:

Gegen

die symmetrische Welt. Halle 1974, S. 51 ff. 42 M E W , Bd. 8, S. 117. 43 Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. Berlin 1953, S. 387.

219

Zu Christa Wolfs

poetischem

Prinzip

Der Aufsatz ist in der Zeitschrift Weimarer Beiträge, H e f t 6 1974, S. 113-125, erschienen. Für den Wiederabdruck wurde er überarbeitet. 1 Christa Wolf: Unter den Linden. In: Unter den Linden. Drei unwahrscheinliche Geschichten. Berlin-Weimar 1974, S. 57. 2 Günter de Bruyn: Rita und die Freiheit. Nach Christa Wolf. In: Das Lästerkabinett. Deutsche Literatur von Auerbach bis Zweig in der Parodie. Leipzig 1970, S. 198 (Redams Universalbibliothek 468). 3 Christa Wolf: Unter den Linden. In: Unter den Linden. Drei unwahrscheinliche Geschichten. Berlin-Weimar 1974, S. 7. 4 Vgl. das ähnliche Bild in Ingeborg Bachmanns Undine geht: „Ich liebe das Wasser, seine dichte Durchsichtigkeit, das Grün im Wasser und die sprachlosen Geschöpfe (und so sprachlos bin auch ich bald!), mein Haar unter ihnen, in ihm, dem gerechten Wasser, dem gleichgültigen Spiegel, der es mir verbietet, euch anders zu sehen. Die nasse Grenze zwischen mir und mir [• . .]" Ingeborg Bachmann: Undine geht. Leipzig 1973, S. 125 (Reclams Universalbibliothek 530). 5 Christa Wolf: Unter den Linden. I n : Unter den Linden. Drei unwahrscheinliche Geschichten. Berlin-Weimar 1974, S. 58. 6 Ebenda, S. 7. 7 Ebenda, S. 57. 8 Günter de Bruyn: Fragment eines Frauenporträts. In: Liebes- und andere Erklärungen. 2. Aufl. Berlin-Weimar 1974, S. 410-416. 9 Christa Wolf: Nachwort. In: Ingeborg Bachmann: Undine geht. Leipzig 1973, S. 140 (Reclams Universalbibliothek 530). 10 Hans Kaufmann: Gespräch mit Christa Wolf. In: W B 20 (1974) 6, S. 106. - Im folgenden als „Gespräch" zitiert. 11 Dieter Schlenstedt: Motive und Symbole in Christa Wolfs Erzählung „Der geteilte Himmel". In: W B 10 (1964) 1, S. 77-78. 12 „Gespräch" S. 91. 13 Georg Büchner: Lenz. In: Werke und Briefe. Leipzig 1952, S. 92. 14 Christa Wolf: Nachdenken über Christa T. Halle 1968, S. 176. 15 Auch im Gespräch mit Christa Wolf betone und begründe ich das. Vgl. „Gespräch" S. 110-111. 16 Christa Wolf: Selbstversuch. In: Unter den Linden. Drei unwahrscheinliche Geschichten. Berlin-Weimar 1974, S. 132. 17 Ebenda, S. 133; vgl. dazu auch Christa Wolfs Äußerungen im „Gespräch" S. 108-109. 18 Ebenda, S. 107. 19 Christa Wolf: Lesen und Schreiben. Berlin 1972, S. 223.

220

20 Im „Gespräch" (S. 93) betont Christa Wolf, daß sich im Umkreis von Nachdenken über Christa T. ihr Verhältnis zu den Schaffensprinzipien von Anna Seghers gewandelt habe: „[. . .] nicht ohne Grund mußte ich eine mir näher liegende Aussage, die meine eigene Schreiberfahrung aus früheren Arbeiten zu bestätigen schien, in Frage stellen: Ich meine Anna Seghers' Bemerkung: Was erzählbar geworden ist, ist überwunden. Ich hatte nämlich erfahren [. . .], was es bedeutet, erzählen zu müssen, um zu überwinden; hatte erlebt, daß der Erzähler (aber ist das Wort noch am Platze? Der Prosaautor also) gezwungen sein kann, das strenge Nacheinander von Leben, .Überwinden' und Schreiben aufzugeben [. . .]". 21 Vgl. u. a. „Gespräch" S. 91. - Ein ähnlicher Wortgebrauch findet sich bei Irmtraud Morgner, wenn sie schreibt, sie bedauere nicht, daß Annemarie Auer „keine Prosaistin" geworden sei, sondern Verfasserin „kritischer Versuche": „Ihre Essays lese ich wie Prosa." (Sündhafte Beteuerungen. In: Liebes- und andere Erzählungen. Berlin-Weimar 1974, S. 14) Essays sind demnach keine Prosa; das Wort wird einer bestimmten Art von Erzählliteratur vorbehalten, die sich nicht so nennen will, um mit literarischen Traditionen, von denen sie sich abgrenzt, nicht verwechselt zu werden. 22 Christa Wolf: Lesen und Schreiben. Berlin 1972, S. 201. 23 Ebenda, S. 200. 24 Maxim Gorki: Brief an Pjatnitzki; ohne Datumsangabe zitiert bei Marietta Schaginjan: Weihnachten in Sorrent. Berlin 1974, S. 114. Vgl. dazu auch Christa Wolfs Wendung gegen den „blanken historischen Determinismus" usw. im „Gespräch" S. 112. - Wiederum erweist sich, daß, wie oben gesagt, das Verhältnis von Bedingtheit und Möglichkeit des Handelns den philosophischen Hintergrund des poetischen Prinzips bildet. 25 26 27 28

Christa Wolf: Lesen und Schreiben. Berlin 1972, S. 200. Ebenda, S. 201. Ebenda, S. 303. „Gespräch" S. 95; vgl. auch S. 93 u. 94, wo von „innerer Authentizität" die Rede ist. Heinz Plavius greift in seiner Rezension von Unter den Linden (Mutmaßungsmut. In: N D L 22 (1974) 10, S. 154-158) Christa Wolf hilfreich unter die Arme, indem er nichts Geringeres als Marx' Feuerbachthesen, die ersten Fundamentalsätze des historischen Materialismus, für die Begründung einer Schreibweise bemüht, in der „die Fabel [. . .] nicht aus einem gegebenen Ablauf von Ereignissen [kommt], sondern aus dem Sinn, aus den Absichten, aus den ideellen Anliegen, die über die Gestalten, über den Erzähler in Erscheinung treten". Die sei die „Art [,] den Gegenstand, die Wirklichkeit, als

221

s i n n l i c h m e n s c h l i c h e T ä t i g k e i t , P r a x i s [. . .] subjektiv'" zu fassen (S. 155). - Hier geht in wenigen Sätzen viel durcheinander. Erstens ist die Frage der Chronologie oder Nichtchronologie, von der Plavius ausgeht, bei weitem nicht identisch mit der nach der „geschlossenen" Fabel, und die Frage nach der Anwesenheit des Autors im Werk ist davon wiederum zu unterscheiden. Zweitens zeichnet sich das, was Christa Wolf erstrebt - wie wir darzutun versuchten nicht schlechthin dadurch aus, daß ein Erzähler-Ich vorkommt, geschweige dadurch, daß ein Sinn durch Gestalten in Erscheinung tritt. Drittens aber kehrt Plavius die Argumentation der ersten Feuerbachthese um: Marx kritisiert den mechanischen Materialismus, daß er „den Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit [ . . .] nicht [. . .] als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis; nicht subjektiv" (sondern nur „unter der Form des Objekts oder der Anschauung") fasse. (MEW, Bd. 3, S. 5) Plavius folgert: weil subjektiv, also als Praxis. E r eskamotiert damit die materialistische Grundlage, die Marx nicht leugnet, sondern nur in ihrer mechanistischen Form als unzureichend für das Begreifen gesellschaftlichgeschichtlicher Prozesse bezeichnet. D a Plavius offensichtlich ahnt, welche weitreichenden Konsequenzen sich aus dieser fragwürdigen Berufung auf die Autorität von Marx ergeben („Mit diesen Überlegungen ist ohne Zweifel auch eine Wertung der beiden Schreibweisen verbunden"), sinkt ihm rasch der Mutmaßungsmut, und er verläßt das heikle Thema. Weder versucht er, die so massiv behauptete besondere Beziehung von „Schreibweisen" und „Praxis" in den Ezählungen Christa Wolfs aufzuweisen, noch fragt er weiter, was es mit der „Wertung der beiden Schreibweisen" auf sich hat. Vor der in seiner Argumentation angelegten Gleichsetzung des „traditionellen" Erzählens mit dem mechanischen Materialismus, vor der Statuierung einer „mechanisch-materialistischen" und einer „dialektischen materialistischen Schreibweise" als grundlegendem Unterscheidungsmerkmal moderner Erzählliteratur schreckt er möglicherweise zurück. Und das mit Recht: Von seinem Einfall verführt, treibt Plavius Mißbrauch mit der Vieldimensionalität der Begriffe „subjektiv" und „Subjektivität". Beispielsweise nennt man häufig die besondere Art, in der sich die Individualität des Autors im lyrischen Gedicht geltend macht, „subjektiv". Das ist keine Wertung; gute und schlechte Gedichte können diese „Subjektivität" aufweisen. (Die „Subjektivität", für die Christa Wolf in der Prosa eintritt, ist der der Lyrik verwandt. Das ist ebenfalls keine Wertung.) Andererseits enthält jedes literarische Kunstwerk, gleich ob darin, formell gesehen, ein Ich vorkommt oder

222

nicht, eine persönliche Stellungnahme zum vorgestellten Geschehen, ist also insofern „subjektiv". Beides muß nichts zu tun haben mit Subjektivismus als weltanschaulicher Haltung, für die die gegenständliche Welt nur subjektive Setzung ist. Aber auch sie könnte sich nach Plavius' Argumentation auf Marx berufen! Wollte man über „moderne Prosa" ernstlich sprechen, in einer Weise also, die allgemeine Schlüsse zuläßt, so hätte man erstens ein riesiges literarisches Material auf seine Fähigkeit hin zu besichtigen, über die heutige Welt Bedeutendes auszusagen. Zweitens müßten die über „moderne Prosa" in Umlauf befindlichen Ansichten auf ihren sozialkulturellen Hintergrund hin befragt werden. Ähnlich wie Christa Wolf von „Newtonscher Dramaturgie", spricht Jean-Paul Sartre (Was ist Literatur?) von der „Romantechnik der Newtonschen Mechanik" in dem Sinn, daß er den „außerhalb der Geschichte" stehenden Erzähler früherer Zeiten für unzeitgemäß erklärt, (zitiert nach: Gesellschaft - Literatur - Lesen. Literaturrezeption in theoretischer Sicht. Berlin-Weimar 1973, S. 72. - Vgl. auch die Argumentation der Autoren zu dem Zitat.) Bei Sartre und anderen ist der Zusammenhang offensichtlich der, daß angesichts der sich in den Nachkriegsjahren stabilisierenden imperialistischen Gesellschaft der bisherige Roman als Inbegriff einer bürgerlichen Kultur mit affirmativer, systemstabilisierender Funktion aufgefaßt wird. Dagegen wendet man sich und projiziert dabei eine Abneigung gegen die gegenwärtige bürgerliche Kultur in die Geschichte und in eine geschichtlich entstandene ästhetische Struktur. Was dabei in der künstlerischen Praxis herauskommt, wäre gesondert zu untersuchen, desgleichen, inwiefern der Vorgang für eine unter unseren Bedingungen entstehende und wirkende Literatur lehrreich sein kann. All dies liegt aber jenseits der Aufgabe dieses Aufsatzes. Ich erhebe deshalb auch nicht - wie Plavius unterstellt - „Einspruch" gegen den Begriff „moderne Prosa" ( N D L S. 154), sondern befrage lediglich die künstlerische Methode eines Autors nach dem, was sie m. E . leisten und was sie nicht leisten kann, suche von daher eine Schriftstellerpoetik zu verstehen und melde bei dieser Gelegenheit Zweifel an einigen Argumenten an, die mir kurzschlüssig und der Entwicklung vielfältiger Ausdrucksarten sozialistisch-realistischer Prosakunst abträglich erscheinen. 29 „Gespräch" S. 95. 30 Vgl. Geschichte der deutschen Literatur. Bd. 9: Vom Ausgang des 19. Jahrhunderts bis 1917. Von einem Autorenkollektiv unter Leitung von Hans Kaufmann u. Silvia Schlenstedt. Berlin 1974, S. 105.

223

Dem Leben auf die Schliche kommen Dieser Aufsatz ist erstmals abgedruckt in Weimarer Beiträge H. 5/1975, S.80-104 1 Karl-Heinz Jakobs: Ein Schnellzug fährt vorbei (1962). In: KarlHeinz Jakobs: Merkwürdige Landschaften. Sieben ausgewählte Geschichten. Halle 1964. 2 Ebenda, S. 176. 3 Abgedruckt in: Eine Rose für Katharina. Begegnungen mit Frauen. Hg. von Edith Bergner. Berlin 1971. 4 Karl-Heinz Jakobs: Auf der Suche nach der Wahrheit. Frauen von Narva, 2. Bericht. In: Neues Deutschland v. 3. 1. 1971, S. 5. 5 Karl-Heinz Jakobs: Am Hebel der Macht. Frauen von Narva, 3. Bericht. In: Neues Deutschland v. 10. 1. 1971, S. 5. 6 Es umfaßt neben Romanen, Erzählungen, Gedichten, auch Reportagen unterschiedlichen Umfangs, die Reportagebücher Einmal Tschingis-Kabn sein und Tanja, Taschka und so weiter, Features für den Rundfunk, ein Hörspiel, Artikel und Reden. 7 Karl-Heinz Jakobs: Adolf Hennecke, In: Die erste Stunde. Porträts. Hg. von Fritz Selbmann. Berlin 1969. 8 Lenin, Werke, Bd. 29, S. 409. 9 Lenin, Werke, Bd. 30, S. 510. 10 Karl-Heinz Jakobs: Eine Pyramide für mich. Berlin 1971, S. 243. 11 Karl-Heinz Jakobs: Guten Morgen Vaterlandsverräter. Gedichte. Halle 1959 (vor allem die Gedichte Mein Gedicht, Krieg, Heimkehr, Sehnsucht, S. 9-13). 12 Zuerst abgedruckt in: Karl-Heinz Jakobs: Das grüne Land und andere Geschichten. Halle 1961. 13 Dieser Roman ist inzwischen in 200 000 Exemplaren verbreitet. 14 Interview mit Karl-Heinz Jakobs. In: Joachim Walther: Meinetwegen Schmetterlinge. Berlin 1973, S. 26. 15 Einer von ihnen war vor dem Reporter Jakobs sogar aus dem Fenster der Baubaracke entflohen, erzählt Jakobs in der Reportage Die Kunst zu bauen (Forum 8/1972). 16 In diesem Zusammenhang betont Jakobs, daß Ehrenburg, Seghers und Aragon für ihn stilbildend gewesen seien und vor Hemingway rangierten. In: Joachim Walther: Meinetwegen Schmetterlinge. Berlin 1973, S. 31. 17 Heinrich Heine: Werke und Briefe in zehn Bänden. Hg. v. Hans Kaufmann. Bd. 3, Berlin 1961, S. 490. 18 Übrig bleiben die großen Geschichten. Werkstattgespräch mit KarlHeinz Jakobs. In: Sonntag, 6/1974, S. 6.

224

19 Ch. F . : Vergangenes besiegt Gegenwärtiges. In: Der Morgen 3. 1. 1971.

v.

20 Heinrich Heine: „Der heutige Tag ist ein Resultat des gestrigen, was dieser gewollt hat, müssen wir erforschen, wenn wir zu wissen wünschen, was jener will". Heinrich Heine: Französische Zustände. I n : Heinrich Heine: Werke und Briefe in zehn Bänden. Hg. v. Hans Kaufmann. Bd. 4. Berlin 1961, S. 448. 21 Karl-Heinz Jakobs: Eine Pyramide für mich. Berlin 1971, S. 211. 22 Ebenda, S. 226. 23 Interview mit Karl-Heinz Jakobs. In: Joachim Walther: Meinetwegen Schmetterlinge. Berlin 1973, S. 27 f. 24 Ebenda, S. 27. 25 In der Wirkung auf den Leser hat diese Technik ihre Vor- und Nachteile. W e r nicht gewöhnt oder gewillt ist, auf die

Lektüre

große Aufmerksamkeit und Denkaktivität zu verwenden, findet das Buch unter Umständen verwirrend und langweilig, meint, daß allzu viele Probleme ins Spiel gebracht und ungelöst liegengelassen werden. Der zwischen den Zeilen sich herstellende Untertext kann beim ersten Lesen kaum realisiert werden; dazu ist ein zweites mehrfaches Lesen

erforderlich, wodurch

der Gehalt

oder

des Buches

immer tiefer und genauer ausgeschöpft und der ästhetische Genuß gesteigert wird. Dieser Mühe unterziehen sich freilich nicht alle Leser, und damit muß der Autor auch rechnen. 26 E r beschreibt sie folgendermaßen: „Ich schreibe auf sozusagen endlosen Blättern, indem ich Manuskriptseiten aneinanderklebe. Sagen wir, ich fange ein Kapitel an: immer schon forme ich es durch, aber wenn ich dann auf Seite fünf bin, fällt mir etwas ein, was vorher nicht berücksichtigt wurde, dann formuliere ich das und klebe es dazwischen. langen

Manchmal

angezweckten

stehe ich Stunden vor zwei, drei Manuskriptbändern

und überlege,

ineinandergeschnitten werden müßten. Aber jedes ist

durchformuliert."

I n : Interview

Meter

wie

sie

Manuskriptband

mit Karl-Heinz Jakobs.

In:

Joachim Walter: Meinetwegen Schmetterlinge. Berlin 1973, S. 12. 27 Karl-Heinz Jakobs: Eine Pyramide für mich. Berlin 1971, S. 12. 28 Satie will seine Absetzung als Brigadier verhindern (8. Kap.) und erzwingt, daß ihn die Brigade zur Auszeichnung als Aktivist vorschlägt (18. Kap.). 29 Satie denkt über Schlaftabletten nach, verfällt in quälende Träume, in denen es um Aufstieg und Abstieg geht. 30 Karl-Heinz Jakobs: Eine Pyramide für mich. Berlin 1971, S. 223. 31 Ebenda, S. 27. 32 Ebenda, S. 23. 15

K a u f m a n n , Studien

225

33 Dies dürfte der Grund dafür sein, daß Jakobs Paul Satie eine Herkunft gibt, die von Krieg und Faschismus subjektiv unberührt, frei ist: Pauls Vater ist Antifaschist und Kommunist, der Junge wächst im mexikanischen Exil auf. Mit dieser besonderen Biographie operiert der Autor in der Durchführung der Handlung recht wenig. 34 Karl-Heinz Jakobs: Die Interviewer. Berlin 1973, S. 264. 35 Ebenda, S. 172. 36 Übrigbleiben die großen Geschichten. Werkstattgeschichten mit KarlHeinz Jakobs. In: Sonntag 6/1974, S. 6. 37 Vgl. Das ist der Tank Wirklichkeit, Tonbandprotokoll eines JungeWelt-Gesprächs mit den Schriftstellern Werner Heiduczek, KarlHeinz Jakobs, Helfried Schreiter und Joachim Walther. In: Junge Welt v. 14. 11. 1973. 38 Übrigbleiben die großen Geschichten. Werkstattgespräch mit KarlHeinz Jakobs. I n : Sonntag 6/1974. 39 Neben Frauen von Narva (Neues Deutschland v. allem Transistoren nach Neubaus ( N D L 5/1972) Plimmen (Forum 7/1972) und Die Kunst zu bauen 40 Karl-Heinz Jakobs: Die Interviewer. Berlin 1973, 41 42 43 44 45 46

3. 1. 1971) vor und Reise nach (Forum 8/72) S. 266.

Ebenda, S. 168. Ebenda, S. 43. Ebenda, S. 93. Ebenda, S. 268. Ebenda, S. 183. „Die Arbeit hat entscheidenden Einfluß auf das Leben der Menschen [. . .] Im Beruf müssen Entscheidungen getroffen werden. Oft ist es ein erbitterter Kampf, der um die richtigen Beschlüsse geführt wird. Es gibt Ungerechtigkeiten. D u wirst ungerecht behandelt. Du selbst bis ungerecht, machst Fehler. All das wirkt zu Hause immer noch nach. Und es bestimmt einen wesentlichen Teil des Privatlebens. Für mich ist der arbeitende Mensch und der Mensch nach Feierabend eine Einheit. In meinen Büchern versuche ich diese Einheit darzustellen, und dabei kann ich auf komplizierte Psychologie nicht verzichten." I n : Karl-Heinz Jakobs: Übrigbleiben die großen Geschichten. Werkstattgespräch mit Karl-Heinz Jakobs. In: Sonntag 6/1974.

47 Karl-Heinz Jakobs: Die Interviewer. Berlin 1973, S. 99. 48 Ebenda, S. 21. 49 „Wir wollen schön sein und gestärkte Manschetten tragen". Jean Giraudoux: Die Irre von Chaillot. Frankfurt a. M. 1961, S. 181 (Fischer-Bücherei Nr. 258).

226

50 Ebenda, S. 278. 51 Ebenda, S. 262. 52 Ebenda, S. 278.

Sozialismus,

Arbeit,

Persönlichkeit

1 Volker Braun: Die Haltung einer Arbeiterin. In: N D L 21 (1973) 7, S. 35f. 2 Wir stehen im Wind der Epoche. Herbert Otto, Max Walter Schulz, Paul Wiens sprachen über literarische Zeitprobleme. In: Sonntag, 46/1973, S. 3. 3 Georg Maurer: Zu den „Hymnen 1945". In: Georg Maurer: Variationen. Halle 1965, S. 8. 4 Ebenda, S. 7. 5 Beide enthalten in der Sammlung Dichter und Materie (1963/1964). I n : Georg Maurer: Variationen. Halle 1965, S. 95-116. 6 Lyrik der D D R . Zusammengestellt von Uwe Berger und Günther Deicke. Berlin-Weimar 1974, S. 84f. 7 Georg Maurer: Hochzeit der Meere. In: Georg Maurer: Variationen. Halle 1965, S. 74. 8 Die Wahrheit über die Rolle der Arbeit habe ihn stärker und stärker durchdrungen, „bis sie ausgesprochen und unausgesprochen sich in meinen Gedichten so löste, wie ein Körnchen Salz oder ein Gewürz in Speisen sich auflöst und ihnen den spezifischen Geschmack gibt. Selbst in meinen kleinen Naturgedichten." Lyrik als Empfindungskorrelat der Welt. Interview mit Georg Maurer. In: Auskünfte. Werkstattgespräche mit DDR-Autoren. Berlin-Weimar 1974, S. 22. - Das Marx-Zitat stammt aus dem Nachwort zu 'Enthüllungen über den Kommunisten-Prozeß zu Köln (1875) I n : M E W , Bd. 8, S. 576. 9 Ausdrücklich aufmerksam gemacht wird auf die Stoffvorlage und den authentischen Charakter durch die Vorbemerkung: „Nach dem Bericht von G. Fisch ,der Mann, der das Unmögliche wahrgemacht hat'." Bertolt Brecht: Hundert Gedichte. Berlin 1951, S. 153. 10 Ebenda, S. 155. 11 Ebenda, S. 171. 12 Ebenda, S. 153. 13 Wilhelm Tkaczyk: Tor der Fabrik. In: Wilhelm Tkaczyk: Der Tag ist groß. Halle 1972, S. 121-124. 14 Es sei daran erinnert, wie energisch Lenin diesen Zusammenhang „paukte", als er das Wesen der N Ö P und die damit zusammenhängenden Aufgaben der Partei erklärte: „Andererseits wird, wenn 15»

227

der Kapitalismus gewinnt, auch die industrielle Produktion wachsen, mit ihr aber wird das Proletariat wachsen. Die Kapitalisten werden aus unserer Politik Vorteile ziehen und werden ein Industrieproletariat schaffen, das bei uns durch den Krieg und die furchtbare Verwüstung und Zerrüttung deklassiert, d. h. aus seinem Klassengeleise geworfen ist und aufgehört hat, als Proletariat zu existieren. Proletariat heißt die Klasse, die mit der Produktion materieller Güter in Betrieben der kapitalistischen Großindustrie beschäftigt ist. Soweit die kapitalistische Großindustrie zerstört ist, soweit die Fabriken und Werke stillgelegt sind, ist das Proletariat verschwunden. Es wurde wohl manchmal der Form nach als Proletariat gerechnet, aber es hatte keine ökonomischen Wurzeln. Wenn der Kapitalismus wiederersteht, so heißt das, daß auch die Klasse des Proletariats wiedererstehen wird, das mit der Produktion materieller, für die Gesellschaft nützlicher Güter beschäftigt ist, das in maschinellen Großbetrieben tätig ist und sich nicht mit Spekulation, nicht mit der Herstellung von Feuerzeugen zum Verkauf und mit „sonstiger" .Arbeit' befaßt, die nicht gerade sehr nützlich, aber bei dem zerrütteten Zustand unserer Industrie völlig unvermeidlich ist." W. I. Lenin: Die N Ö P und die Aufgaben der Ausschüsse für politisch-kulturelle Aufklärung. In: Lenin, Werke, Bd. 33, S. 46. 15 16 17 18 19 20

21

22 23

24 25 26

Kuba: Gedichte. Berlin 1952, S. 59. Erwin Strittmatter: Ole Bienkopp. Berlin 1963, S. 420. Anna Seghers: Das Vertrauen. Berlin-Weimar 1968, S. 21. Lenin, Werke, Bd. 30, S. 510. MEW, Bd. 19, S. 21. L. I. Breshnew: Rechenschaftsbericht des Zentralkomitees der KPdSU an den XXIV. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Berlin 1971, S. 57. Erich Honecker: Bericht des Zentralkomitees an den VIII. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlaads. Berlin 1971, S. 39. Ebenda. Durchgeführt in mehreren Sitzungen der Sektion Literatur und Sprachpflege der Akademie der Künste der D D R (1972 und 1973). Abdruck der Protokolle in: Arbeitshefte 17, Poesie der Arbeit. Berlin 1973. Franz Fühmann: Bagatelle, rundum positiv. In: N D L 22 (1974) 4, S. 71 ff. Erwin Strittmatter: Der Stein. In: Erwin Strittmatter: Ein Dienstag im September. Berlin 1969, S. 228. Joachim Nowotny: Der kleine Riese. In: Joachim Nowotny: Sonntag

228

27 28 29 30 31

32 33

34 35 36 37 38

unter Leuten. Halle 1971, S. 109 fi. und als Episode enthalten in: Joachim Nowotny: Der Riese im Paradies. Berlin o. J. (1969). Der Untertitel dieses ersten Bandes der geplanten Trilogie lautet Aufstieg der Toten. Joachim Knappe: Die Birke da oben. Halle 1970, S. 287. Ebenda, S. 185. J. Kusmenko: Menschliche Probleme sind literarische Probleme. In: KuL 19 (1971) 6, S. 566. Bei der gezielten Auswahl bestimmter Berufe und Arbeits-„milieus" handelt es sich, wie Willi Beitz und sein Autorenkollektiv zeigt, um eine internationale Tendenz. Offenkundig ist, daß die Handlung mancher Bücher dem „unpoetischen" Produktionsmilieu ausweicht und in exotische malerische Gegenden verlegt werde (Taiga, Polargebiete, Bergregionen). Willi Beitz/Helga Conrad/Dietmar Endler/ Adelheid Latchinian/Ilse Seehase/Elke Wiegand: Zur Gestaltung der Arbeiterklasse in einigen Literaturen der sozialistischen Staatengemeinschaft. In: WB 20 (1974) 10, S. 5 - 3 2 . Ebenda, S. 24. Gerade die Szenen, in denen geschildert wird, wie der junge Bergmann Janek Wolke mit dem Bohrgerät vertraut wird und neue Arbeitsmethoden ausknobelt, gehören zu den stärksten Partien des Romans. Martin Viertel: Sankt Urban. Berlin 1968. Michail Rostschin: Mein Lehrer Grischa Panin. In: Verwandlungen. Neue russische Novellen. Berlin 1974. Margarete Neumann: Wälder. In: Fünfzig Erzähler der DDR. Berlin-Weimar 1974, S. 331. Vgl. S. 63 f. in diesem Buch. Vor allem in der Zeitschrift Kunst und Literatur. Der sowjetische Literaturwissenschaftler Anaschenkow stellt 1974 fest, die Fülle des Materials zum Thema „Die wissenschaftlichtechnische Revolution und die Literatur" (das sich mit unserem sehr stark berührt, aber nicht deckt) und die Zahl der Richtungen in dieser Diskussion seien inzwischen kaum mehr zu übersehen, so daß er einen Systematisierungsversuch aufgegeben habe. B. Anaschenkow: Der „Mensch der Tat" und sein geistiges Potential. In: KuL 23 (1973) 3, S. 273 ff.

39 A. Janow: Das „Produktionsstück" und der literarische Held der siebziger Jahre. In: KuL 20 (1972) 11, S. 1125. 40 „Zurückschauend kann man heute sagen: Wenn es dieses Stück nicht gäbe, müßte es durch kollektive Bemühungen erfunden werden. Mit allen seinen Mängeln, die heute in vieler Hinsicht unvermeidbar erscheinen [. . .] Emporgetragen von der Welle eines bestimmten gesellschaftlichen Bedürfnisses, trug das Stück zur Vorbereitung der

229

nächsten Etappe des gesellschaftlichen Bewußtseins bei, vor der es selbst in den Hintergrund trat und verblaßte, aber zahlreiche Nachahmungen in Prosa, Film und Dramatik aufkommen ließen." B. Anaschenkow: Der „Mensch der Tat" und sein geistiges Potential. In: KuL 23 (1973) 3/S. 273 f. 41 Untertitel von Michail Schatrow: Das Wetter für morgen. In: Gennadi Bokarjew Stahlschmelzer. Michail Schatrow Das Wetter für morgen. Zwei Stücke. Berlin 1974. 42 Ebenda, S. 130. 43 Ebenda, S. 128. 44 Die Prosafassung von Wege ist abgedruckt in: Nikolai Chaitow: Wilde Geschichten. Berlin-Weimar 1973. 45 Michail Schatrow: Campanella und der Kommandeur. In: Theater der Zeit 28 (1973) 7, S. 49. 46 Bertolt Brecht: Der gute Mensch von Sezuan. In: Bertolt Brecht: Stücke Bd. 8. Berlin 1959, S. 391. 47 W. Lipatow: Probleme für den Schriftsteller. In: KuL 19 (1971) 6, S. 583. 48 Gennadi Bokarjew: Realistisch sein, heißt entdecken. In: Sonntag, 18/1974, S. 10. 49 Daniil Granin: Helden von gestern und heute. In: Sowjediteratur 24 (1972) 2, S. 5. 50 W. Lipatow: Probleme für den Schriftsteller. In: KuL 19 (1971) 6, S. 582. 51 G. Kulagin: Das Gebot des Lebens. In: KuL 21 (1973) 10, S. 965. 52 Sarah Kirsch: Die Pantherfrau. Fünf unfrisierte Erzählungen aus dem Kassetten-Recorder. Berlin-Weimar 1973. 53 I. S. Kon kommt zu der Schlußfolgerung, daß auch schöpferische wissenschaftliche Arbeit vereinseitigend wirken kann. Vgl. I. S. Kon: Soziologie der Persönlichkeit. Köln 1971, S. 415 f. 54 Vgl. Kons Ausführungen zu der Frage, daß selbst die befriedigende Arbeit allein nicht die Allseitigkeit und Ganzheit der Persönlichkeit ausmacht. Ebenda, S. 417 f. 55 Ursula Püschel: Kernbauer. Rostock 1974. 56 Brigitte Reimann: Franziska Linkerhand. Berlin 1974, S. 185. 57 Ebenda, S. 379. 58 Ebenda, S. 564. 59 Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. In: Poetische Werke. Berliner Ausgabe. Bd. 10. Berlin 1962, S. 516. 60 Vgl. dazu besonders: Gerti Tetznet: Karen W. Halle 1974, S. 312 bis 313, S. 321. 61 In seinen Beiträgen zur Diskussion „Poesie der Arbeit" äußerte Peter Hacks u.a.: „ [ . . . ] in den Beispielen, wo Interesse erregt

230

worden ist, ist das Interesse nicht erregt worden, weil Arbeitsvorgänge beschrieben sind, sondern obgleich sie beschrieben sind, weil dem Autor ein Trick eingefallen ist, in diese Arbeitsvorgänge wirklich wichtige Sachen mit einzubringen." In: Arbeitshefte 17. Akademie der Künste. Protokolle und Texte. Berlin 1973, S. 45.

Volker

Brauns

„Tinka"

1 Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meister. Werke. Berliner Ausgabe. Bd. 10. Berlin 1962, S. 264. - Die zitierte Äußerung gehört zu Wilhelm Meisters Hamlet-Analyse. 2 Volker Braun: Tinka, Szene 5 (zit. nach Typoskript). 3 Ebenda. 4 Ebenda, Szene 12. 5 William Shakespeare: Hamlet IV, 4. In: Sämtliche Werke in 4 Bänden. Hg. v. Anselm Schlösser. Bd. 4. Berlin 1967. 6 Volker Braun: Tinka, Szene 17 (zit. nach Typoskript). 7 MEW, Bd. 1, S. 381. 8 Volker Braun: Tinka, Szene 10 (zit. nach Typoskript). 9 Ebenda, Szene 14. 10 Ebenda, Szene 9. 11 MEW, Bd. 29, S. 602. (es handelt sich um Engels' Brief in der „Sickingendebatte"). Glück

ohne

Ruh

1 Johann Wolfgang Goethe: Vier Jahreszeiten. In: Werke. Berliner Ausgabe. Bd. 1. Berlin-Weimar 1965, S. 259. 2 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Die Vernunft in der Geschichte. 5. Aufl. Hamburg 1955, S. 113. 3 Günter de Bruyn: Buridans Esel. Halle o. J. [1968], S. 136. 4 Ebenda, S. 135-136. 5 Ebenda, S. 209. 6 Maxim Gorki: Erinnerungen an Zeitgenossen. Berlin 1951, S. 48. 7 Ebenda. 8 Ebenda, S. 49. 9 Johann Wolfgang Goethe: Das Tagebuch. In: Werke. Berliner Ausgabe. Bd. 2. Berlin-Weimar 1966, S. 100. 10 Goethes Gespräche mit Eckermann. Berlin 1955, S. 108 (Gespräch vom 25. 2. 1824). 11 MEW, Bd. 21, S. 8.

231

12 Ebenda. 13 Ebenda. 14 Ebenda. 15 Vgl. dazu Geschichte der deutschen Literatur. Bd. 9 : Vom Ausgang des 19. Jahrhunderts bis 1917. Von einem Autorenkollektiv unter Leitung von Hans Kaufmann u. Silvia Schlenstedt. Berlin

1974,

S. 247 f. 16 Johann Wolfgang Goethe: Faust 1. Teil. Wald und Höhle.

In:

Werke. Berliner Ausgabe. Bd. 8. Berlin-Weimar 1965, S. 255. 17 Gottfried Benn: Synthese. I n : Gesammelte Werke in 8 Bänden. Hg. v. Dieter Wellershoff. Bd. 1. Wiesbaden 1960, S. 57. Vgl. dazu auch: Hans Kaufmann: Erotik, Liebe, Humanität. In: Hans Kaufmann: Analysen, Argumente, Anregungen. Berlin 1973, u . a . S. 1 8 101 (Literatur und Gesellschaft). 18 Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen ( 1 8 8 3 - 1 8 8 5 ) . I n : Werke. Krit. Gesamtausg. 6. Abt., Bd. 1. Berlin 1968, S. 81. 19 Günter Kunert: Unschuld der Natur. Berlin-Weimar 1966, S. 65. 19aFriedrich Schiller: Shakespeares Schatten. I n : Schillers Werke in 5 Bänden. Ausgew. u. eingel. v. Joachim Müller. Bd. 1. Berlin-Weimar 1965, S. 8 8 - 9 0 . 20 Ebenda, S. 64. 21 Ebenda. 22 Volker Braun: Jazz. In: Volker Braun: Gedichte. Leipzig 1972, S. 24 (Reclams Universalbibliothek Bd. 51). 23 Ebenda, S. 35. 24 Karl Mickel: Deutsche Frau 46. I n : Karl Mickel: Vita nova mea. Mein neues Leben. Berlin-Weimar 1966, S. 35. 25 Ebenda, S. 16 f., S. 51. 26 Johann Wolfgang Goethe: Epigrammatisch (Nr. 38). I n :

Werke.

Berliner Ausgabe. Bd. 2. Berlin-Weimar 1966, S. 138. 27 Lion Feuchtwanger: Bertolt Brecht. In: Erinnerungen an

Brecht.

Leipzig o. J., S. 362 (Reclams Universalbibliothek. Biografien, Dokumente, Selbstzeugnisse. Bd. 117). 28 Bertolt Brecht: Arbeitsjournal. Eintragung vom 8. 3. 1941. Bd. 1 : 1 9 3 8 - 1 9 4 2 . Hg. v. Werner Hecht. Frankfurt a. M. 1973, S. 248. 2 9 Günter Kunert: Gewürz. In: Offener Ausgang, Berlin 1972, S. 19. 30 Günter Kunert: Zuspruch wortfrei. I n : Ebenda, S. 11. 31 Ebenda, S. 21. 32 Vgl. dazu auch Günter Kunert: Eins plus eins gleich eins. In: Günter Kunert: Die geheime Bibliothek. Berlin-Weimar 1973. S. 137 ff. 33 Günter Kunert: All you need is love. In: Günter Kunert: geheime Bibliothek. Berlin-Weimar 1973, S. 276 ff.

232

Die

34 Pablo Neruda: An meine Partei. I n : Pablo Neruda: D e r

große

Gesang (Canto general). Berlin 1953, S. 605. 35 Günter Kunert: Offener Ausgang. Berlin 1972, S. 1 1 1 ; vgl. Dieter Sellenstedt: Kraft gespannten Wesens. I n : Sinn und Form 26 (1974) 6, S. 1 2 7 3 - 1 2 9 8 . 36 Heinz Kahlau: Der kleine Unterschied. I n : Heinz Kahlau:

Du.

Liebesgedichte. 2. Aufl. Berlin-Weimar. 1972, S. 37. 37 Heinz Kahlau: Die Liebe muß sein. I n : Ebenda, S. 31. 38 Heinz Kahlau: Der kleine Unterschied. I n : Ebenda, S. 37. 39 Kahlaus 1974 veröffentlichter Gedichtband Flugbrett

für Engel

bietet

für unser Thema kaum neue Gesichtspunkte. 40 M E W , Ergänzungsband, 1. Teil, S. 535 -

sowie: M E W , Bd. 32,

S. 5 8 2 - 5 8 3 . 4 1 Manfred Jendryschik: Johanna oder die Wege des Dr. Kanuga. Halle 1973, S. 56. 42 Volker

Braun: Das

ungezwungene

Leben

Kasts.

Berlin-Weimar

1972, S. 9 4 - 9 5 . 4 3 Ebenda, S. 137. 43a Vgl.

Sigrid Damm/Jürgen

Engler:

Notate

des

Zwiespalts

und

Allegorien der Vollendung. I n : W B 21 (1975) 7, S. 3 7 - 6 9 . 44 Die Frauenemanzipation als Thema und spezifische Tendenz literarischer Werke und der wachsende Anteil von Frauen am Literaturprozeß sind selbstverständlich nicht dasselbe, doch haben beide Erscheinungen dieselbe gesellschaftliche Wurzel. So waren die bedeutendsten

deutschen

Schriftstellerinnen,

die in der Zeit vor dem

ersten Weltkrieg auftraten, Ricarda Huch und Else Lasker-Schüler, keine Verfechterinnen jener bürgerlich-liberalen Frauenemanzipation, die damals im Schwange war und deren literarische Repräsentantinnen (Gabriele Reuter und andere) heute vergessen sind. Dennoch konnte das Werk der Huch und der Lasker-Schüler nur im Umkreis eines gesellschaftlichen und geistigen Klimas entstehen, das Frauen überhaupt erst ermöglichte, aus der Stummheit herauszutreten. Auf anderer gesellschaftlicher Grundlage besteht der Zusammenhang und Unterschied auch heute: Frauenemanzipation als Stoff und Tendenz sind Teilmoment und Symptom gewachsener und offensichtlich weiter wachsender Teilnahme von Frauen an der Emanzipation im umfassenden, Marx'schen Sinn des Begriffs. 45 Hans Kaufmann: Gespräch mit Christa Wolf. In: W B 20 (1974) 6, S. 1 0 8 - 1 0 9 . 46 Ebenda, S. 108. 47 Vgl. S. 24 f. u. S. 3 0 - 3 2 dieses Buches. 48 V I I . Schriftstellerkongreß der Deutschen Demokratischen Republik. Protokoll (Arbeitsgruppen), Berlin o. J., S. 113. -

233

Läßt man den

49

50 51 52 53

Streit um einzelne verbale Zuspitzungen beiseite, so verficht Irmtraud Morgner in dieser kurzen Diskussionsrede ein durch und durch berechtigtes Anliegen, wenn sie für die Ausbildung eines zeitgemäßen Selbstbewußtseins der Frauen das „Bewußtsein ihrer Geschichte" für nötig hält und daraus Aufgaben der Literatur ableitet. Rolf Hochhuth: Frauen und Mütter, Bachofen und Germaine Greer. In: Rolf Hochhuth: Lysistrate und die Nato. Reinbek bei Hamburg 1973, S. 217 (Das neue Buch). Ebenda, S. 231. Ebenda, S. 217; diese Formulierung ist von Bachofen. Georg Friedrich Wilhelm Hegel: Die Vernunft in der Geschichte. 5. Aufl. Hamburg 1955, S. 113. MEW, Bd. 20, S. 264.

Ein Vermächtnis,

ein Debüt

1 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik. Berlin 1955, S. 106. 2 Heinrich Heine: Ludwig Börne. Eine Denkschrift. In: Heinrich Heine: Werke und Briefe. Hg. v. Hans Kaufmann. Bd. 6. Berlin 1962, S. 87. 3 Vgl. Brigitte Reimann: Franziska Linkerhand. Berlin 1974. Nachsatz von W. L., S. 584. 4 Wenn Sabine Brandt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 31. 10. 1974 ihre Besprechung von Franziska Linkerhand unter die Überschrift setzt: Auch in der DDR triumphiert das Private und lobend hervorhebt, die Autorin sei „in erster Linie mit sich selbst" beschäftigt, so fragt man sich, ob dies auf oberflächlicher Lektüre beruht oder aber auf der bewußt verleumderischen Absicht, nach bewährtem Rezept zwischen die sozialistischen Schriftsteller der D D R und die Politik ihres Staates einen Keil zu treiben. 5 Heinrich Heine: Werke und Briefe. Hg. v. Hans Kaufmann. Bd. 6. Berlin 1962, S. 213. 6 Ebenda. 7 Brigitte Reimann: Franziska Linkerhand. Berlin 1974, S. 81. 8 Ebenda, S. 154. 9 MEW, Ergänzungsband, 1. Teil, S. 542. 10 Theodor Storm: Für meine Söhne. In: Sämtliche Werke. Bd. 1. Berlin 1956, S. 114. 11 Brigitte Reimann: Franziska Linkerhand. Berlin 1974, S. 38. 12 Ebenda, S. 463. 13 Ebenda, S. 451.

234

14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24

Ebenda, S. 138. Ebenda, S. 324. Ebenda, S. 326. Ebenda, S. 572. Ebenda, S. 582. Ebenda, S. 405. Vgl. Gedanken zu Karen W.; Gespräch mit Gerti Tetzner. In: Für Dich. Nr. 50 / 1974, S. 30. Ebenda. Gerti Tetzner: Karen W. Halle 1974, S. 224. Gedanken zu Karen W.; Gespräch mit Gerti Tetzner. In: Für Dich. Nr. 50 / 1974, S. 30. Ebenda.

Personenregister

Anaschenkow, B. 229 Aragon, Louis 224 Auer, Annemarie 221

Chopin, Frédéric 194 Claudius, Eduard 100-102 Cunhal, Alvaro 34

Bachmann, Ingeborg 49 Bachofen, Johann Jakob 234 Baierl, Helmut 114 118 Balzac, Honore de 23 41 Bebel, August 159 Becher, Johannes R. 43 Becker, Jurek 10 Benjamin, Walter 34 Benn, Gottfried 161 Bokarjew, G. 118 129-130 Boll, Heinrich 163 Börne, Ludwig 195 Brandt, Sabine 234 Braun, Volker 11 12 4 1 - 4 3 91 9 3 - 9 5 111-112 118 119 131 134 135-150 169-170 1 8 1 182 184 187 Brecht, Bertolt 13-14 20 3 4 35 57 9 4 - 9 5 97-100 110 127 162 165 171 179 185 Bruyn, Günter de 10 49 1 5 1 -

Dante, Alighieri 160 Deicke, Günter 63 Diderot, Denis 60 Dostojewski, F. M. 160 Dworezki, I. M. 122 124

155 189 Büchner, Georg 53 55 Bulgakow, M. A. 51 Catull, Gaius Valerius 164 170 Chaitow, Nikolai 122 125-127

105

129

Eckermann, Johann Peter 157 Ehrenburg, I. G. 224 Eisler, Hanns 13 Einstein, Albert 58 Endler, Adolf 15 Engels, Friedrich 150 158-159 167 172 231 Feuchtwanger, Lion 171 Flaischlen, Cäsar 60 Freiligrath, Ferdinand 158 Fühmann, Franz 10 11-12 Fürnberg, Louis 43

114

Garbe, Hans 101 Geißler, Christian 107 Gladkow, F. W . 102-104 Goethe, Johann Wolfgang 9 40 133 157-158 159 160 171 Gogol, N . W. 11 Gorki, Maxim 58 156 Granin, D . A. 130

236

Hacks, Peter 12 22-23 185186 231 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 18-19 29 43-44 Heiduczek, Werner 114 Heine, Heinrich 71 158 195 Heisenberg, Werner 58 Hemingway, Ernest 70 224 Hennecke, Adolf 64 Hesse, Hermann 200 Hochhuth, Rolf 190-191 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 11 51 Hogarth, Paul 174 Honecker, Erich 16 Horaz, Quintus 171 Huch, Ricarda 233 Jakobs, Karl-Heinz 10 43 6 2 90 106 114 118 119 121 131132 134 224 226 Jendryschik, Manfred 10 28 179-181 182 184-185 Kafka, Franz 11 Kahlau, Heinz 175-176 190 Kant, Hermann 39-40 60 72 105 Kirsch, Sarah 38 131 186 190 Knappe, Joachim 116-117 Kolessnikow, M. 118 Kon, I. S. 230 Kotzebue, August von 168 Kuba (d. i. Kurt Bartels) 104105 Kugelmann, Ludwig 179 Kunert, Günter 11 168-169 170 172 173 174 175

Lipatow, W . W . 122 130 Lorenc, Kito 11 Lukäcs, Georg 57

127-128

Mann, Thomas 49 57 201 Marchwitza, Hans 101 118 Marx, Karl 16 28 2 9 - 3 1 32 36 43 54 66 97 131 143 179 221 222-223 233 Maurer, Georg 95-97 99-100 110 115 119 Mehring, Franz 41 Merle, Robert 164 Mickel, Karl 170-171 Miller, Henry 160-162 165 Morgner, Irmtraud 186 189 221 233 Mozart, Wolfgang Amadeus 171 Müller, Heiner 101-102 Müller, Wolfgang 119 Neruda, Pablo 175 Neumann, Margarete 114 121 Neutsch, Erik 105-106 107 108 114 118 119 Newton, Isaak 58-59 223 Nietzsche, Friedrich 166 Nowotny, Joachim 114 116 1 1 8 120

Langner, Maria 101 Lasker-Schöler, Else 233 Lenin, W . I. 16 20 25 28 30 58 65 110 125 227 Liebknecht, Karl 159

Otto, Herbert

114 118-119

Panitz, Eberhard 185 Pjatnitzki, K. P. 221 Plavius, Heinz 221-223 Plechanow, G. W . 58 Plenzdorf, Ulrich 184 Popow, W. F. 118-119 Püschel, Ursula 131 Reimann, Brigitte 43 131 134 186 193-204 205 215

237

Richter, H e l m u t

114

Tetzner, G e r t i

Robbe-Grillet, Alain Rostschin, M .

59

193

119

Tkaczyk, Wilhelm Tolstoi, L. N .

Sartre, Jean-Paul 125

122-123

124

126 24 168 178

Schlenstedt, D i e t e r Schüt2, Helga

50

9 10 11 15 3 3

58 108 120 221 2 2 4 Shakespeare,

William

135

141

143 158 Sitte, Willi

Spielhagen, Friedrich

41

109 115 119

36

68

Weerth, Georg

158

Weinert, Erich

43

Wekwerth, Manfred Wiens, Paul

102

93 Benito

W o l f , Christa

21

114

118

10 11 24

45-61

173 1 8 6 - 1 8 7 188 190 221 2 2 2 -

41

Erwin

45 118-119

1.19

119 2 0 8

Storm, T h e o d o r Strittmatter,

Varnhagen, Rahel Viertel, Martin

Wogatzki,

180

Stade, Martin

156

W a l t h e r , Joachim

114 2 0 8

Seghers, A n n a

99-100

156 158 167 171

Tschechow, A . P.

223

Schatrow, Michail Schiller, Friedrich

119 131 134 186

205-215

43

105

223 Zweig, Stefan

63

In der gleichen Schriftenreihe erschienen:

sind unter anderem

Ingeborg Spritwald

V o m „Eulenspiegel" zum „Simplicissimus" Zur Genesis des Realismus in den Anfängen der deutschen Frosaerzählung 1974 • 188 Seiten • 6 , - M Dieter Schiller

„. . . v o n Grund auf anders" Programmatik der Literatur im antifaschistischen Kampf -während dreißiger Jahre 1974 • 317 Seiten • 1 0 , - M

der

Georg Weerth Werk und Wirkung 1974 • 194 Seiten • 6,50 M Ingeborg Män^-Koenen

Fernsehdramatik Experimente — Methoden — Tendenzen Ihre Entwicklung in den sechziger Jahren 1974 • 293 Seiten • 9 , - M Hermann Käbler

Der kalte Krieg der Kritiker Zur antikommunistischen Kritik an der DDR-Literatur 1974 • 140 Seiten • 4,50 M Kaspar Maase

Volkspartei und Klassenkultur Grundlagen, Konzeptionen und Perspektiven der SPD-Kulturpolitik seit Mitte der fünfziger Jahre 1974 • 270 Seiten • 9 , - M Kainer Rotenberg

Literaturverhältnisse im deutschen Vormärz 1975 • 298 Seiten • 9,50 M M. B. Chraptscbenko

Schriftsteller- Weltanschauung- Kunstfortschritt 1975 • 366 Seiten • 11,50 M

Guirun KJatt

Arbeiterklasse und Theater Agitproptradition — Theater im Exil — Sozialistisches Theater 1975 • 213 Seiten • 1 - M L. Timofejewj G. Lomidse

Literatur einer sozialistischen Gemeinschaft Zur Herausbildung und Entwicklung der multinationalen Sowjetliteratur (1917-1941) 1975 • 219 Seiten • 1 - M Gudrun Dämel

Friedrich Wolf und Wsewolod Wischnewski Eine Untersuchung zur Internationalität sozialistisch-realistischer Dramatik 1975 • 253 Seiten • 8 , - M D. F. Markov

Zur Genesis des sozialistischen Realismus Erfahrungen und Leistungen süd- und westslawischer Literaturen in den zwanziger und dreißiger Jahren 1975 • 299 Seiten • 7,50 M Christoph

Tri/se

Antike und Theater heute Betrachtungen über Mythologie und Realismus, Tradition und Gegenwart, Funktion und Methode, Stücke und Inszenierungen 1975 • 364 Seiten • 11,50 M Frank

Wagner

„ . . . der Kurs auf die Realität" Das epische Werk von Anna Seghers (1933-1945) .1975 • 318 Seiten • 1 0 , - M Heinz

Hamm

Der Theoretiker Goethe Grundpositionen seiner Weltanschauung, Philosophie und Kunsttheorie 1975 • 267 Seiten • 8,50 M Anton

Hierscbe

Sowjetliteratur und wissenschaftlich-technische Revolution 1975 • etwa 250 Seiten . 8,50 M

Funktion der Literatur Aspekte — Probleme — Aufgaben 1975 • 429 Seiten . 13,50 M