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German Pages [384] Year 1998
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 127
V&R
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Herausgegeben von Helmut Berding, Jürgen Kocka Hans-Peter Ullmann, Hans-Ulrich Wehler
Band 127 Philipp Ther Deutsche und polnische Vertriebene
Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen
Deutsche und polnische Vertriebene Gesellschaft und Vertriebenenpolitik in der SBZ/DDR und in Polen 1945-1956
von
Philipp Ther
Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen
Umschlagbild: Vertriebene Deutsche auf der Autobahn westlich von Breslau. Archiv für Kunst und Geschichte, Berlin.
Die Deutsche Bibliothek -
CIP-Einheitsaufnahme
Ther, Philipp: Deutsche und polnische Vertriebene: Gesellschaft und Vertriebenenpolitik in der S B Z / D D R und in Polen 1945-1956/ von Philipp Ther. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1998 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; 127) ISBN 3-525-35790-7 Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein und der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn.
© 1998, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. - Printed in Germany. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Z u s t i m m u n g des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen u n d die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Text & Form, Pohle. Druck und Bindung: G u i d e - D r u c k G m b H , Tübingen.
Inhalt
Vorwort Einleitung
9 11
Einführung in das Thema (11) - Quellen und Methode (21) 1.
Vertreibung
28
1.1.
Vorgeschichte u n d G r u n d l a g e n der Vertreibung
29
Beispiele in der Frühen Neuzeit (29) - Bevölkerungspolitik im 19. und 20. Jahrhundert (31) - Die Etablierung von Vertreibung als Mittel der internationalen Politik (33) - Territoriale und ethnische Neuordnung während des Zweiten Weltkrieges und danach (35) - Teheran, Jaita und Potsdam (38) Rechtliche Grundlagen für die Vertreibung von Deutschen und Polen (45) 1.2.
V e r l a u f d e r V e r t r e i b u n g e n v o n D e u t s c h e n u n d Polen
50
Die Vertreibung der Deutschen (52) - Flucht (54) - Wilde Vertreibung (55) - Vertraglich festgelegte Vertreibung (58) - Die Vertreibung der Polen (67) - Exkurs in den polnisch-ukrainischen Konflikt (68) - Deportation (71) Flucht und wilde Vertreibung (73) - Vertraglich festgelegte Vertreibung (77) 1.3.
K l ä r u n g eines historischen B e g r i f f s
88
Begriffsbildung in der S B Z / D D R und in Polen (91) - BegrifFsbildung in Westdeutschland (94) - Diskussion terminologischer Alternativen (96) Definition von Vertreibung (99) 1.4.
Zusammenfassung
101
2.
Politik g e g e n ü b e r d e n Vertriebenen
107
2.1.
A n k u n f t u n d A u f n a h m e der Vertriebenen
110
Die Ausgangslage in beiden Ländern (110) - Konzeptionelle und reale Irrwege in der S B Z (116) - N o t und Elend der Vertriebenen (117) - Organisierte Aufnahme (118) - Transportprobleme in Polen (121) - Besiedlungspolitik in den Westgebieten (123) - Der »wilde Westen« (126) - N o t und Elend der Vertriebenen (131) 5
2.2.
Allgemeine Ziele der Vertriebenenpolitik
136
Integration als Leitmotiv (137) -Einbürgerung (138) -Egalitarismus in der SBZ/DDR (139) - Nationalkommunismus in Polen (142) - Einstellungen beider Regime zu den Vertriebenen (146) 2.3.
U m s e t z u n g der Politik g e g e n ü b e r d e n Vertriebenen
148
Die SMAD (148) - Die Vertriebenenverwaltung in der SBZ/DDR (149) Die Rolle der KPD/SED (151) - Die Rote Armee in Polen (152) - Das Staatliche Repatriierungsamt (153) - Die Rolle der PPR/PZPR (156) 2.3.1. D e r sozialcaritative Ansatz
157
Der SMAD-Befehl 304 (159) - Hilfsaktionen auf gesellschaftlicher Basis (161) - Das Umsiedlergesetz von 1950 (163) - Sonderzuteilungen und Sondergesetze in Polen (165) - Finanzpolitische Prioritäten des polnischen Staates (169) 2.3.2. D e r Sozialrevolutionäre Ansatz
171
Die Schlüsselbedeutung von Land im Europa der Nachkriegszeit (171) Die Bodenreform in der SBZ (175) - Strukturelle Probleme der Bodenreform (176) - Spezielle Probleme der Vertriebenen (177) - Das Neubauernbauprogramm (179) - Abbau der Vertriebenenpolitik im Agrarbereich (183) - Die Landreform in Polen (188) - Strukturelle Probleme der Landreform (191) - Spezielle Probleme der Vertriebenen (193) 2.3.3. D e r redistributive Ansatz
204
Wohnraumpolitik in der SBZ/DDR (206) - Die Debatte um einen Lastenausgleich (211) - Bestätigung des Status quo in Polen (216) - Die ungelöste Eigentumsproblematik (219) 2.4.
Vertriebenenpolitik u n d Stalinisierung
227
Negative Vertriebenenpolitik in der SBZ/DDR (230) - Die Auflösung der Sonderverwraltung (232) - Ende der Vertriebenenpolitik (239) - Negative Vertriebenenpolitik in Polen (240) - Machtverfall der Sonderverwaltung (244) - Vorläufiges Ende der Vertriebenenpolitik (249) 2.5.
Zusammenfassung
250
3.
Das Verhältnis zvwschen d e n Vertriebenen u n d a n d e r e n Bevölkerungsgruppen
258
Einstellungen u n d Verhalten der Vertriebenen: R ü c k b e s i n n u n g und Neubeginn
262
3.1.
6
Hoffnung auf Rückkehr (262) - Berufliche Umorientierung (265) - Binnenmigration (269) - Vertrieben in die Fremde (272) - Versuche der Resuuration (275) - Folgen der Stalinisierung (277) 3.2.
Konfliktlinien in den Gesellschaften der S B Z / D D R und Polens .... 279 Die Auswirkungen sozialer und kultureller Unterschiede (279) - »Imaginäre« Unterschiede und Stereotype (281)
3.2.1. Das Verhältnis zwischen Einheimischen und Vertriebenen in der S B Z / D D R
282
Unfreiwillige Aufnahme (282) - Konkurrenz um Ressourcen (285) - Kulturelle und konfessionelle Unterschiede (288) - Stereotype (290) 3.2.2. Das Verhältnis zwischen Zentralpolen und Vertriebenen
293
Pioniere erster und zweiter Klasse (293) - Verteilungskonflikte (295) - Stereotype (297) 3.2.3. Das Verhältnis zwischen Einheimischen und Vertriebenen in den Westgebieten
301
Die »Repolonisierung« (301) - Eigentumskonflikte (306) - Konfessionelle und kulturelle Unterschiede (310) - Abwendung der Einheimischen von Polen (314) 3.3.
Zusammenfassung
320
4.
Schlußbetrachtung
327
Das Wesen der Integration (327) - Faktoren der Integration (330) - Stand der Integration Mitte der fünfziger Jahre (334) - Uber das heutige Verständnis erzwungener Migrationen (347)
Abkürzungsverzeichnis
355
Abbildungsnachweis
356
Inventar der Ortschaften
357
Quellen und Literatur
358
Orts- und Personenregister
377
Sachregister
378
Vorwort
Hiermit lege ich der Öffentlichkeit eine leicht überarbeitete Fassung einer Dissertation vor, die im Juli 1997 vom Fachbereich Geschichtswissenschaften der Freien Universität Berlin angenommen wurde. Über dieser Arbeit steht nur ein Autorenname, aber es gab viele Urheber, deren Namen ich hier leider nicht alle erwähnen kann. Der Dank geht vor allem an die Menschen, die mich nie haben spüren lassen, daß es in Ostmitteleuropa einmal historische Konflikte mit tragischen Folgen für sie und ihre Familien gab. Sie haben mir das Vertrauen eingeflößt, ein so umstrittenes Thema wie Vertreibung zu bearbeiten, und ich hoffe, daß ihnen dieses Buch gerecht wird. Zu den frühen Förderern gehört mein Magistervater Professor Andrej S. Kaminski, der mich auf das Thema gestoßen und mir während des Hauptstudiums das kritische Denken beigebracht hat. Am meisten in meiner wissenschaftlichen Entwicklung verdanke ich meinem Doktorvater Professor Klaus Zernack, von dem ich das genaue Denken gelernt habe. Die heute fast schon altmodisch klingende Bezeichnung Doktorvater ist bewußt gewählt, denn Professor Zernack hatte immer Zeit, ein Ohr und Rat für mich und meine Arbeit. Eine Betreuung dieser Intensität möchte ich jedem Doktorkandidaten wünschen. Bedanken möchte ich mich auch bei meinem Zweitkorrektor Professor Wlodzimierz Borodziej von der Universität Warschau, der hoffentlich noch viele weitere deutschen Studenten und Promovenden zu deren Nutzen betreuen wird. Dank gebührt auch Professor Jürgen Kocka, von dessen Anmerkungen und Kritik dieses Buch ebenfalls profitiert hat. Ihm und den anderen Herausgebern der »Kritischen Studien« bin ich für die Aufnahme der Untersuchung in die Reihe verbunden. Weitere Kollegen und Freunde haben meine Forschungen vor allem am Anfang unterstützt. Professor Wieslaw Lesiuk, der Leiter des Schlesischen Instituts in Oppeln, hat mir den ersten längeren Studienaufenthalt in Polen ermöglicht, mir mit Rat in Fachfragen und Tat bei praktischen Problemen beigestanden. Bei zwei weiteren Kollegen im Schlesischen Institut möchte ich mich ausdrücklich bedanken: Bei Dr. Danuta Berliñska für ihre theoretischen und methodologischen Ratschläge und bei Dr. Bernard Linek für die vielen Diskussionen über Oberschlesien. In Warschau geht mein Dank an Professor Krystyna Kersten und Piotr Madajczyk, die mein Wissen über Polen erweitert und mir die Möglichkeit gegeben haben, es vor polnischen Kollegen zur Diskussion zu stellen. Mein ausdrücklicher Dank gilt auch den Mitarbeitern in
polnischen Archiven, die ich kennengelernt habe. Sie waren ohne Ausnahme zuvorkommend und freundlich. Nicht selten haben sie den Kopierer noch am Feierabend angestellt. Auch in Deutschland waren die Archivangestellten in den Lesesälen stets hilfsbereit. In Dresden erwies sich Dr. habil. Manfred Jahn zu Beginn der Forschungen über die SBZ/DDR als mehr als kollegial. Ihm und anderen, die sich schon vor 1990 in der D D R dieses unbequemen Themas angenommen haben, haben ihr großes Vorwissen selbstlos weitergegeben. Später fand ich im Zentrum für Zeithistorische Forschungsvorhaben in Potsdam ein Forum für Diskussionen; für die vielen Anregungen und die anfängliche Ermutigung möchte ich mich besonders bei Dr. Arnd Bauerkämper bedanken. Ohne das Mitwirken einer Reihe von Freunden und Verwandten hätte ich diese Arbeit niemals rechtzeitig und mit einer erträglichen Anzahl an Fehlern fertigstellen können. Für ihre klugen Anmerkungen und Korrekturvorschläge zur gesamten Arbeit sei Claudia Kraft gedankt. Für die Uberprüfung von großen Teilen bin ich meinem Vater, Katrin Steffen, Kai Struwe, Michael Pöppl und Uli Unfug verbunden. Franziska Bauermeister hat mir zusätzlich den Kopf hochgehalten, wenn es einmal nicht vorangehen wollte. Bedanken möchte ich mich auch bei meinen finanziellen Förderern, zum einen der Friedrich-Ebert-Stiftung für die großzügige Förderung mit einem Herbert-Wehner-Stipendium, zum anderen dem Deutschen Historischen Institut in Warschau für ein kurzfristig bereitgestelltes Forschungsstipendium, außerdem für die Möglichkeit, die Arbeit zur Diskussion zu stellen. Philipp Ther
10
Einleitung
E i n f ü h r u n g in das T h e m a Jedes fin de siècle bringt zahlreiche Retrospektiven auf das vergangene J a h r h u n dert mit sich. Die Rückschau auf das 20. Jahrhundert kann nicht allzu positiv ausfallen. Es war das Zeitalter, das Auschwitz, den Gulag und zwei Weltkriege hervorgebracht hat. Ein weiteres trauriges Kennzeichen des 20. Jahrhunderts waren massenhafte Vertreibungen. Vorsichtig geschätzt wurden seit den Balkankriegen 1912/13 bis z u m Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien zu Beginn der neunziger Jahre allein in Europa 50 Millionen Menschen ihrer Heimat beraubt. Sie verloren dabei meistens ihr Eigentum, manchmal auch ihre Gesundheit, mehrere Millionen kamen u m s Leben. Diese Menschen waren Opfer der Idee, daß ein Nationalstaat n u r noch ein Staat für eine Nation sein sollte. Der britische Historiker Edward Hallett Carr hat Vertreibung daher treffend als einen H ö h e p u n k t des Nationalismus bezeichnet.' Der größte Exodus im Jahrhundert der Vertreibung geschah aber nicht auf d e m Balkan, sondern in der Mitte des Kontinents, während des Zweiten Weltkrieges und danach. Zwischen 1939 und 1949 mußten etwa ein Fünftel aller D e u t schen und Polen, aber auch insgesamt mehrere Millionen Ukrainer, Ungarn, Tschechen, Finnen, Balten und Weißrussen ihre Heimat verlassen. Allein aus der ungeheuren Anzahl von Betroffenen erschließt sich die Bedeutung von Bevölkerungsverschiebungen f ü r die Nachkriegsgeschichte Europas. Die Staaten und Gesellschaften in der Mitte und im Osten des Kontinents können ohne ein solides Wissen über die Zwangsmigrationen u n d ihre Folgewirkungen nicht verstanden werden. Eine Aufarbeitung dieses politisch immer noch brisanten Themas ist auch eine Voraussetzung dafür, die oft schwierigen Beziehungen der Nationen zueinander auf eine neue Basis zu stellen. Auslöser und Urheber der beispiellosen Völkerwanderung zviischen 1939 und 1949 war Adolf Hitler. Er veränderte im Pakt mit Stalin die Staatsgrenzen in Europa und begann nach dem Angriff auf Polen mit der Vertreibung und Deportation von Polen, u m »Lebensraum« für Deutsche zu schaffen. Z u m Ende des Zweiten Weltkrieges fielen die von Hitler initiierten Änderungen der staatlichen und ethnischen Grenzen auf Deutschland zurück. Stalin behielt
1 Vgl. Carr, S. 33.
11
einen Großteil der von der Sowjetunion annektierten polnischen Ostgebiete, dies hatte eine Entschädigung Polens auf Kosten Deutschlands zur Folge. Entsprechend dem von allen Alliierten getragenen Ziel, in Europa möglichst h o mogene Nationalstaaten zu schaffen, mußten die meisten Polen die Ostgebiete verlassen. Parallel dazu trennten die Alliierten die Ostgebiete des Deutschen Reiches ab. Als Folge dieses international gesteuerten Prozesses wurde auch die dort ansässige Staatsbevölkerung zu einem großen Teil vertrieben. Die Vertreibung gliederte sich im Falle der Deutschen u n d der Polen in die Phasen der Flucht, der »wilden Vertreibung« und der vertraglich festgelegten Vertreibung (alternativ: Zwangsaussiedlung). Dagegen unterschied sich die Aufnahme u n d Ansiedlung in Deutschland u n d Polen. Die deutschen Vertriebenen mußten in einem komprimierten Staatsgebiet Platz finden, die polnischen Vertriebenen wurden im Zuge der Westverschiebung Polens vorwiegend in den ehemaligen deutschen Ostgebieten angesiedelt (s. die Karten zur Westverschiebung Polens und zur Vertreibung der Deutschen und Polen in Kap. 1.1). Aufgrund der Parallelität, der gegenseitigen Abhängigkeit und der Ähnlichkeiten der beiden M i grationsprozesse werden sie mit dem gleichen Terminus benannt; w a r u m in dieser U n t e r s u c h u n g das Wort Vertreibung gewählt wurde, wird im ersten Hauptteil ausführlich erläutert. Eine kurze Definition dieses Begriffs soll aber vorweg erfolgen: Vertreibung ist immer massenhaft, beinhaltet die A n w e n d u n g unmittelbaren oder mittelbaren Zwangs, geschieht über staatliche Grenzen hinweg u n d ist endgültig. Primäres Untersuchungsobjekt dieser Arbeit sind nicht die Vertreibungen selbst, sondern die von ihr Betroffenen. Zwischen 1945 bis 1950 kamen 11.730.000 Flüchtlinge und Vertriebene auf d e m Nachkriegsterritorium von Deutschland an. Sie stammten zu einem großen Teil aus den Ostgebieten des Deutschen Reiches und d e m 1938 angeschlossenen »Sudetenland«, zu einem kleineren Teil waren sie Angehörige der deutschen Minderheiten in Ostmittelund Südosteuropa.^ Etwa 7,5 Millionen lebten 1949 in den Westzonen bzw. der Bundesrepublik,^ 4,3 Millionen in der SBZ/DDR." N a c h Polen strömten m i n destens 2,1 Millionen Menschen aus den polnischen Ostgebieten, die 1945 an die Sov^jetunion abgetreten wurden.^ Die Anzahl der polnischen Vertriebenen 2 Diese Zahl ist zitiert aus Frantzioch, S. 93. 3 Für beide Bezeichnungen wird fortan bis zum Ende der deutschen Teilung der BegrifFWestdeutschland als Synonym verwendet. 4 Vgl. Reichling, Die Heimatvertriebenen, S. 14 f.; Hoffmann u. a., S. 19. 5 Die Schätzung von mindestens 2,1 Millionen ergibt sich aus 1.517 Millionen sogenannter »Repatrianten«, die in den Regierungsstatistiken geführt wurden (vgl. dazu Czerniakiewicz, S. 54). Dazu müssen 200.000-300.000 Menschen, die vor dem polnisch-ukrainischen Bürgerkrieg nach Westen flohen, die Überlebenden unter den 500.000 polnischen Zwangsarbeitern, die aus den polnischen Ostgebieten ins Deutsche Reich verschleppt worden waren, und eine fünfstellige Zahl von Menschen, die aus Angst vor Verfolgung nach dem Krieg ihre ostpolnische Herkunft ver-
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würde allerdings nach dem in der Bundesrepublik angewandten Zahlungsmodus etwas höher liegen, da dieser auch die nach 1939 Geborenen sowie die Kinder von Vertriebenen erfaßt. In Westdeutschland waren somit 16,5% der Gesamtbevölkerung Vertriebene, in der SBZ/DDR 24,2% und in Polen etwa 10%.'· Der Forschungsstand über diese Gruppe unterscheidet sich in den drei genannten Ländern erheblich. In Westdeutschland füllten die Untersuchungen über Vertriebene eine umfangreiche Bibliographie, auch in den neunziger Jahren sind etliche detaillierte Studien über die Vertriebenen erschienen.' Dagegen sind die Vertriebenen in der SBZ/DDR noch kaum, und in Polen so gut wie gar nicht erforscht. Der Grund dafür liegt in der Zensur in beiden Ländern und in einem Tabu über dieses Thema, das in der D D R besonders strikt war. Strenggenommen gab es in beiden Ländern überhaupt keine Vertriebenen. In der SBZ/DDR hießen sie gemäß der amtlichen Sprachregelung »Umsiedler«. Nicht weniger euphemistisch war der Begriff »Repatriant«, mit dem Volkspolen die Vertriebenen bezeichnete. Mit Rücksicht auf die Forschungslage wurden daher nur zur SBZ/DDR und zu Polen Archivstudien durchgeführt. Der Vorteil der Einschränkung liegt darin, daß sich diese Arbeit voll auf den Vergleich zwischen der SBZ/DDR und der Volksrepublik Polen konzentrieren kann. Dies heißt nicht, daß Westdeutschland ausgeblendet wäre. Die beiden deutschen Staaten kommunizierten und konkurrierten miteinander politisch und gesellschaftlich. Die Geschichte des Ostens ist daher ohne ein gewisses Eingehen auf den Westen nicht verständlich. Außerdem war die Bundesrepublik gerade für die Vertriebenen in der D D R ein Bezugspunkt. Es wird daher wiederholt aus wissenschaftlichen Erwägungen und mit Rücksicht auf westdeutsche Leser auf die Geschichte der »alten« Bundesrepublik eingegangen. Die Arbeit ist in drei Hauptteile und eine Schlußbetrachtung gegliedert. Der erste Hauptteil behandelt die Vertreibung der Deutschen und Polen, der zweite die Politik der SBZ/DDR und Polens gegenüber den Vertriebenen im Rahmen des allgemeinen Systemwandels und der dritte das Verhältnis zwischen Vertriebenen und anderen Bevölkerungsgruppen. Die Schlußbetrachtung untersucht, inwieweit die Vertriebenen Mitte der fünfziger Jahre in die Gesellschaf-
schwieg, addiert werden. Vgl. zur Flucht vor dem polnisch-ukrainischen Bürgerkrieg Eberhardt, Cranica Wschodnia, S. 136; vgl. zur Statistik der Zwangsarbeiter aus den polnischen Ostgebieten Gtówny Urz^d Statystyczny, S. 196. Näheres dazu im ersten Abschnitt dieser Arbeit. 6 Nach Polen kehrten außerdem mindestens 2 Millionen Zwangsarbeiter zurück, die zuvor nach Deutschland verschleppt worden waren. Wie Wolfram Wette hervorhebt, machten diese Menschen ähnliche Erfahrungen wie die Vertriebenen, von denen sie sich allerdings dadurch unterschieden, daß sie wieder in ihre Heimat zurückkehren konnten. Vgl. Wette, S. 258. Wie Waclaw Dlugoborski errechnet hat, mußten 16-18% der polnischen Bevölkerung während des Krieges ihre Heimat verlassen. Vgl. Dlugoborski, S. 312 f 7 Vgl. zum Forschungsstand in der Bundesrepublik Grosser, Die Flüchtlingsfrage.
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ten der D D R und Polens integriert waren, wobei hier in einem Ost-West-Vergleich wieder verstärkt auf die Entwicklung in der Bundesrepublik eingangen wird. Es ist als eines der großen Defizite der westdeutschen Vertriebenenforschung anzusehen, daß die meisten Arbeiten ohne nähere Begründung im Jahr 1945 einsetzen. Plötzlich sind sie da, die Flüchtlinge und Vertriebenen, und dann beginnt auch schon die Integration. U m über diese schematische Darstellungsweise hinwegzukommen, geht diese Arbeit zunächst auf die Geschichte der Vertriebenen vor ihrer Ankunft in Deutschland und Polen ein. Von der Art und Weise, wie vertrieben wurde, hingen alle weiteren Entwicklungen, die Aufnahme dieser Bevölkerungsgruppe, die Vertriebenenpolitik, das Verhältnis der Vertriebenen zur Aufnahmegesellschaft und schließlich die Geschwindigkeit der Integration ab. Zudem überschnitt sich die Vertreibung aus den deutschen Ostgebieten zeitlich mit der Ansiedlung der ersten ostpolnischen Vertriebenen, beide Prozesse beeinflußten sich auch gegenseitig. Die Rückschau auf die Zeit vor der Ankunft und Aufnahme der Vertriebenen ist auch eine Voraussetzung dafür, diese Bevölkerunsgruppe mit der ihr angemessenen Differenzierung zu betrachten. Der Begriff »Äe Vertriebenen« täuscht eine Homogenität der Gruppe vor, die so nie bestand. Unter anderem unterschied sich das Schicksal der Vertriebenen je nach dem Zeitpunkt, wann sie die alte Heimat verlassen mußten und je nach Herkunftsregion. Darüber hinaus ist die Vertreibung ein wichtiges, politisch brisantes, aber noch ungenügend erforschtes Thema für sich. Über die Vertreibung der Polen aus den polnischen Ostgebieten liegen bis auf wenige Aufsätze keine Publikationen vor. Die Forschung zur Vertreibung der Deutschen ist seit den fünfziger Jahren, als Theodor Schieder ein breit angelegtes Oral-History-Projekt durchführte, nur wenig vorangekommen. Zudem hat die alte Bundesrepublik Vertreibung lange Zeit als ein nur von Deutschen erlittenes Unrecht begriffen. Ein Grund dieser geistigen Selbstbeschränkung liegt in der Charakteristik von Schieders »Dokumentation der Vertreibung«, die wie alle anderen Veröffentlichungen in der Bundesrepublik auf den Uberlieferungen von Betroffenen beruht.® U m diese Perspektive zu erweitern, wurden für die vorliegende Studie Quellen aus polnischen Archiven verwendet, die in Deutschland bislang weitgehend unbekannt sind. Der Hauptteil zur Vertreibung behandelt zuerst, wie es zu den massenhaften und gewaltsamen Bevölkerungsverschiebungen gegen Ende des Zweiten Weltkrieges und danach kam. Kernfrage des zweiten Kapitels ist, warum eine »ord-
8 Abhilfe wird hier erstmals ein großangelegtes Forschungsprojekt über die Vertreibung der Deutschen in polnischen Akten schaffen, das Hans Lemberg und Wiodzimierz Borodziej in deutsch-polnischer Kooperation durchführen. Darüber hinaus sind in Polen seit 1989 etwa ein Dutzend Aufsätze erschienen, die das Thema unter Bezug auf polnische Akten bearbeiten.
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nungsgemäße und humane Durchführung« der Vertreibung, wie sie die Alliierten vorsahen, weitgehend scheiterte. In unmittelbarem Zusammenhang mit dem Ablauf der Vertreibung steht die historische Aufarbeitung dieses Themas. Im Unterschied zur Bundesrepublik versuchten die S B Z und Polen schon sehr bald nach dem Krieg, eine offizielle Lesart der Vertreibung durchzusetzen. Der bereits genannte Umsiedler- und Repatriantenbegriff zeugt davon. Doch auch der in der Bundesrepublik übliche Terminus »Vertriebene« ist nicht unproblematisch. Eine Kritik dieser und anderer Begriffe erfolgt im dritten Kapitel. Der zweite Hauptteil geht zunächst auf die Ankunft und Aufnahme der Vertriebenen in der S B Z und in Polen ein. Beide Staaten entwickelten noch 1945 eine integrative Grundkonzeption. Die mit den Vertriebenen befaßten Institutionen - sie sind Thema des zweiten Kapitels - versuchten die Integration mit einer Vielzahl von Maßnahmen zu erreichen, die sich von der Bodenreform, der Eigentumsverteilung bis zur Wohnraumpolitik erstreckten. U m die Politik gegenüber den Vertriebenen überschaubar zu machen, wird sie in einen sozialcaritativen, einen redistributiven oder unmittelbar umverteilenden und einen Sozialrevolutionären Ansatz untergliedert (Kapitel 2.3.1.-2.3.3.). Diese strukturelle Unterteilung gestattet es auch, bei jedem Ansatz neben den Konzeptionen bis in die fünfziger Jahre hinein die Wirksamkeit der Politik zu untersuchen. Außerdem erfolgt eine zeitbezogene Differenzierung, die den Unterschied zwischen dem Mischsystem vor 1948 und der stalinistischen Diktatur danach berücksichtigt. Im vierten Kapitel wird kondensiert gezeigt, wie sich die Vertriebenenpolitik während des Stalinismus (1948-1956) zum Negativen veränderte. Die einzelnen Kapitel befassen sich zuerst mit der S B Z / D D R und dann mit Polen. Dadurch besteht die Möglichkeit, die zahlreichen Unterschiede zwischen beiden Ländern, die ihren Hintergrund in der Teilung Deutschlands und der verschiedenen Entwicklung der S B Z / D D R und Polens auf dem Weg zum »realen« Sozialismus hatten, klarer herauszuarbeiten. Nach diesem politikgeschichtlichen Schweφunkt ist das Verhältnis der Vertriebenen zu anderen Bevölkerungsgruppen das Thema des dritten Hauptteils. In der S B Z / D D R waren dies wie in Westdeutschland die Einheimischen, während in Polen in den Aufnahmegebieten für Vertriebene neben den Einheimischen auch Umsiedler aus Zentralpolen lebten.' Die Existenz einer dritten großen Gruppe macht einen der wesentlichen Unterschiede zwischen der SBZ/ D D R und Polen aus. Die überwiegend negative, von zahlreichen Konflikten und Stereotypen geprägte Einstellung zu den Vertriebenen gehörte in ganz Deutschland und in Polen zu den wichtigsten Gründen, warum die Integration langsamer verlief als erhofft, und die integrative Vertriebenenpolitik unterlaufen und gebremst wurde. 9 Diese Migranten aus Zentralpolen können tatsächlich als Umsiedler bezeichnet werden, weil sie freiwillig und aus eigenem Antrieb in die ehemaligen deutschen Ostgebiete kamen.
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Jedem der Hauptteile ist zu Beginn ein Überblick über den Inhalt der einzelnen Kapitel vorangestellt. Aufgrund der verschiedenen Gewichtung von politischer Geschichte, Sozial- und Gesellschaftsgeschichte in den drei Hauptteilen der Arbeit ist jedem der Abschnitte auch eine eigene Zusammenfassung zugeordnet. In der Schlußbetrachtung wird anhand mehrerer soziologischer Indikatoren versucht, den Stand der Integration Mitte der fünfziger Jahre zu messen.Zusätzlich werden einige historische Probleme analysiert, die ebenfalls erlauben, das Maß der Integration näher zu bestimmen. Dazu gehören das Verhältnis der Vertriebenen zu den Aufnahmestaaten und -gesellschaften, ihre soziale Position, ihre Einstellungen zu den neuen Grenzen in Europa, die ihre Rückkehr in die alte Heimat ausschlossen, die Binnenmigration und die Wanderung von Vertriebenen über Staatsgrenzen hinweg. Die Möglichkeit zur Migration in ein anderes Land besaßen nur Vertriebene in der SBZ/DDR, von denen zwischen 1949 und 1961 800.000 nach Westdeutschland gingen. Allerdings gab es auch aus Polen eine starke Abwanderung, die als Indikator für die Integration der gesamten Gesellschaft angesehen werden kann. Vor allem ehemalige Bürger des Deutschen Reiches verließen als Aussiedler Polen in Richtung Deutschland. Polen hatte andere und bessere Voraussetzungen für die Integration der Vertriebenen als Deutschland, weil für deren Aufnahme und Ansiedlung in den ehemaligen deutschen Ostgebieten weitgehend von ihren ursprünglichen Bewohnern entleerte Landstriche zur Verfügung standen. Potentiell waren also für die ostpolnischen Vertriebenen Unterkünfte und Arbeitsplätze vorhanden. Allerdings ging dieser Vorteil aufgrund der Spezifika der polnischen Besiedlung der »Wiedergewonnenen Gebiete«" und der Probleme beim Aufbau der Verwaltung im 1945 sogenannten »wilden Westen« Polens weitgehend verloren. In der SBZ war die Vertriebenenproblematik allein aufgrund der im Vergleich zu Polen doppelten Anzahl Vertriebener schwerer zu bewältigen. Als ein
10 Es w u r d e darauf verzichtet, d e n Begriff Integration im Titel der Arbeit zu verwenden, da diese in der S B Z / D D R u n d in Polen selbst gegen E n d e des hier behandelten Z e i t r a u m s n u r ansatzweise fortgeschritten war. A u ß e r d e m hätte eine auf die Integration beschränkte Fragestellung die Forschungsperspektive zu sehr eingeengt. In der Bundesrepublik hat der Streit, ob u n d w a n n die Vertriebenen als integriert gelten k o n n t e n , zwar eine Zeit lang der Vertriebenenforschung neue Impulse verliehen, doch sind die T h e s e n zu dieser Frage insofern arbiträr, als Integration kein eindeutig definierter Begriff ist u n d somit selbst bei strenger Wissenschaftlichkeit u n t e r schiedlichste Antworten auf die gleiche Ausgangsfrage gegeben w e r d e n k ö n n e n . Vgl. dazu die M o n o g r a p h i e n von Paul Lüttinger, M a r i o n Frantzioch, Friedrich Prinz u n d Edding/Lemberg, die jeweils verschiedene T h e s e n zur Integration aufgestellt haben. 11 So w u r d e n die ehemals deutschen Ostgebiete nach d e m Krieg genannt. D a m i t w u r d e suggeriert, daß die ehemals deutschen Ostgebiete nach J a h r h u n d e r t e n deutscher Fremdherrschaft zu i h r e m eigentlichen Mutterland zurückgekehrt seien. Ab Mitte der sechziger J a h r e w u r d e n die Wiedergewonnenen Gebiete meist als Westgebiete bezeichnet. Dieser heute noch in Polen übliche Begriff wird auch in dieser Arbeit verwendet.
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Vorteil erwies sich aber, daß wie in den Westzonen Deutschlands auf einer bestehenden Verwaltung aufgebaut werden konnte. Obwohl beide Länder grundsätzlich einer ähnlichen Integrationsagenda folgten, setzten sie die integrative Politik auf verschiedenen Wegen um. Polen versuchte, die Vertriebenen und andere Bevölkerungsgruppen unter dem Dach des polnischen Nationalismus zu einen. Der nationale Appeal des Regimes war zunächst weit stärker als sein egalitärer bzw. sozialistischer. In den Aufnahmeregionen für die Vertriebenen, den ehemaligen deutschen Ostgebieten, war der Nationalismus als Bestandteil der politischen Kultur besonders ausgeprägt, da diese Territorien für Polen gesichert und besiedelt werden sollten. Allerdings erwiesen sich das nationalistische Paradigma der Politik bzw. der Nationalkommunismus als nicht sehr tragfähig, da in den Westgebieten verschiedene Bevölkerungsgruppen mit unterschiedlicher Herkunft, Geschichte und Kultur existierten, die zudem verschiedene Interessen und Erwartungen an den Staat hatten. Die KPD und später die SED konnten aufgrund der endgültigen Kompromittierung des deutschen Nationalismus durch den Nationalsozialismus diesen nicht als Instrument ihrer Politik einsetzen. Die von der Sov^jetunion installierte Regierung der SBZ betrieb daher eine im Vergleich zu Polen ausgeprägt egalitäre Politik. Durch Umverteilung sollte eine Gesellschaft der Gleichen geschaffen und auch die Integration der Vertriebenen sichergestellt werden. Ähnlich v^e in Polen überschätzte die Regierungjedoch die Solidarität innerhalb der Gesellschaft sowie zwischen Einheimischen und Vertriebenen. Die angestrebte soziale Gleichstellung der Ankömmlinge ließ sich trotz massiver staatlicher Eingriffe nicht bewerkstelligen. Da sowohl in Polen der nationalistische als auch in der SBZ der egalitäre Lösungsansatz im großen und ganzen versagten, griffen beide Regime Ende der vierziger Jahre zunehmend zu polizeistaatlichen Maßnahmen. Wie im Kapitel über »Vertriebenenpolitik und Stalinisierung« gezeigt wird, rückte die Unterdrückung der Vertriebenenproblematik vor einer Lösung derselben in den Vordergrund. Der 1948 beginnende, in der SBZ/DDR und in Polen dann unterschiedlich verlaufende Ubergang vom Mischsystem der »Volksdemokratie« zu einer stalinistischen Diktatur hatte auf die Vertriebenen ambivalente Auswirkungen. Ein Teil der Vertriebenen wurde in beiden Ländern dem politischen System entfremdet, allerdings schritt ihre Integration in die Gesellschaft voran. Dies war jedoch weniger das Ergebnis von Vertriebenenpolitik, als vielmehr eine mittelbare Folge des rapiden gesellschaftlichen Wandels in beiden Ländern. Im Zuge der stalinistischen Industrialisierungswelle konnten in der D D R und in Polen viele Vertriebene besser bezahlte Arbeit finden und zu einem höheren Lebensstandard gelangen. Wie im dritten Hauptteil gezeigt wird, waren sie als zuvor unterprivilegierte Gruppe besonders flexibel und profitierten daher überproportional von der gestiegenen sozialen Mobilität. Der Schwerpunkt der 17
Integration verlagerte sich vom Land, wo zunächst die große Mehrheit der Vertriebenen aufgenommen worden war, in die Städte und die neuen Industriezentren. Dort verliefen gesellschafdiche Integrationsprozesse grundsätzlich schneller als in den Dörfern. Die Forschung über ehemals sozialistische Staaten hat noch nicht genügend berücksichtigt, wie sehr die Existenz von Millionen von Vertriebenen die unmittelbare Nachkriegszeit in der S B Z / D D R und in Polen p r ä g t e . I n dieser Arbeit wird daher der Wechselwirkung zwischen Entwicklungen, die Vertriebene betrafen, und allgemeinen Prozessen besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Ein Beispiel für eine solche gegenseitige Beeinflussung ist die Bodenreform in der SBZ, deren Ausführung durch die Existenz zahlreicher vertriebener Landwirte und den Versuch, die Ankömmlinge den einheimischen Bauern gleichzustellen, wesendich verändert wurde. Mit der Notwendigkeit, bestimmten Bevölkerungsgruppen beim Aufbau einer neuen Existenz helfen zu müssen, konnten massive Eingriffe in Eigentumsrechte legitimiert werden, die ebenso wie die Konfiszierung des deutschen Eigentums in Ungarn, der Tschechoslowakei und Polen einen wichtigen Schritt auf dem Weg zum Sozialismus darstellten. Auch wäre die stalinistische Industrialisierungspolitik in der D D R und in der Volksrepublik Polen ohne das mobile Arbeitskräftereservoir der Vertriebenen langsamer vorangekommen. Auf ähnliche Weise unterstützte die Existenz von Millionen von Vertriebenen das >Wirtschaftswunder« in der Bundesrepublik. Der Lastenausgleich zugunsten von Vertriebenen und anderen Kriegsgeschädigten war ein Meilenstein auf dem Weg zu einer sozialen Marktwirtschaft. Allerdings sollte man den Einfluß der Vertriebenen auf die Geschichte Deutschlands und Polens auch nicht überschätzen. Generell gingen die Impulse eher in die andere Richtung; allgemeine Entwicklungen beeinflußten also die Geschicke der Vertriebenen. Deutlich wird dies am Beispiel des Systemwandels nach 1948. Polen folgte in zentralen Bereichen wie den Verstaatlichungen von Handel und Gewerbe sowie der Kollektivierung schon 1948 dem sowjetischen »Vorbild«, während die S B Z / D D R diesem Modell aufgrund gesamtdeutscher Rücksichten weniger entsprach. Viele Vertriebene in Polen wechselten deshalb erneut ihren Lebensort und ihren Beruf, während in der D D R vergleichbar tiefe Umbrüche erst einige Jahre später begannen. Dagegen erreichte die S E D die Gleichschaltung der Parteien und die Unterdrückung der Opposition früher und umfassender als die polnischen Kommunisten. Die Vertriebenen in Ostdeutschland wurden daher in höherem Maße als die »Repatrianten« in Polen zum Opfer geistiger und kultureller Unterdrückung. Die-
12 In Westdeutschland besteht hingegen dieses Desiderat nicht. Dort wurde der Beitrag der Vertriebenen zum Wiederaufbau und zum Wirtschaftswunder in der Literatur über Vertriebene breit dargestellt.
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se ersten Hinweise auf gesamtgesellschaftliche und systemspezifische Phänomene sollen andeuten, daß mit dieser Arbeit nicht beabsichtigt ist, eine reine Vertriebenengeschichte zu verfassen, wie sie in der alten Bundesrepublik schon vielfach geschrieben worden ist. Die Geschichte der Vertriebenen als einer spezifischen gesellschaftlichen Gruppe sowie ihr Verhältnis zu anderen Bevölkerungsgruppen sollen als Vehikel dienen, um allgemeine Probleme j e ner Gesellschaften zu analysieren. Diese Analyse setzt aufgrund des Charakters der beiden behandelten Staaten und Systeme einen politikgeschichtlichen Schwerpunkt voraus. Wie Jürgen Kocka zur SBZ/DDR feststellt, waren »unter den Bedingungen der Diktatur soziale Prozesse hochgradig politisch determiniert«." Das Primat der Politik brachte ein Ubergewicht der Exekutive gegenüber Legislative und Jurisdiktion sowie durch die Einschränkung autonomer Subsysteme die Mediatisierung gesellschaftlicher Organisationen mit sich. Auch eine Gesellschaftsgeschichte der SBZ/DDR und der Volksrepublik Polen bedarf daher einer vergleichsweise starken Berücksichtigung von Politik. Doch wird Politik nicht als autonome Sphäre untersucht, sondern in ihren einzelnen Bereichen jeweils auf ihre Umsetzung überprüft. Dabei wird im Gegensatz zu vielen, mehr oder weniger explizit von Totalitarismustheorien geprägten Publikationen keine Dialektik zwischen Unterdrükkern und Unterdrückten oder dem Parteistaat und einer vermeintlich entdifferenzierten Gesellschaft konstruiert.''' Das Augenmerk liegt auf den Wechselbeziehungen zwischen den Machthabern und gesellschaftlichen Gruppen sowie der gesamten Gesellschaft, auf gegenseitigen Beeinflussungen und Formen der Anpassung. Damit soll die einseitige Orientierung mancher Untersuchungen auf die herrschende Ideologie und die staatlichen Institutionen vermieden und die von Rainer M . Lepsius erkannte »Lücke zwischen der Institutionenbeschreibung und dem Nachweis der den Institutionen zuzurechnenden Folgen für die Struktur und Entwicklung einer Gesellschaft« geschmälert werden.'^ Der Vergleich zwischen der SBZ/DDR und Polen eröffnet hier neue Perspektiven. Dafür zwei kurze Beispiele: Staatliche Eingriffe in die Eigentumsverhältnisse wirkten sich in der SBZ/DDR auf die Schichtung der Gesellschaft bis Mitte der fünfziger Jahre überraschend gering aus. Wie sehr die Wirklichkeit der Politik Grenzen setzte, zeigt der Vergleich mit Polen. Dort waren die Regierung und die Partei eher geneigt, sich in ihrem Gestaltungsdrang zurückzuhalten und sich an bestehende Strukturen anzupassen. In vielen Fällen, beispielsweise der Umgestaltung der Landwirtschaft, führten die umfangreichen Maßnahmen in der SBZ/DDR und die geringeren Eingriffe in Polen zu über-
13 Kocka, Ein deutscher Sonderweg, S. 37. 14 Vgl. zu diesem BegriffMeuschel, S. 56 ff. und 120. 15 Lepsius, S. 18.
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raschend ähnlichen Resultaten. Der in der SBZ/DDR besonders ausgeprägte Glaube an die Wirkung staadicher Eingriffe und die alleinige Kompetenz des Staates zur Lösung tiefgreifender Strukturprobleme erzeugte gerade im Bereich der Vertriebenenpolitik Fehlentwicklungen, die Polen teilweise erspart blieben. Umgekehrt ist anhand Polens nachzuweisen, daß die rücksichtslosere Durchsetzung der marxistisch-leninistischen Ideologie seit 1948 positive gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen hemmte, zunichte machte und neue Probleme aufwarf Auch die Bedeutung des Egalitarismus und das nationale Defizit für die Legitimation der SBZ/DDR zeichnen sich erst im Vergleich mit Polen deutlich ab. Anhand des Vergleichs läßt sich erschließen, daß der Nationalismus in Polen gesellschafdiche Brüche auf Dauer betrachtet eher vertiefte als milderte. Wie schwierig wiederum der Aufbau der staadichen Strukturen für das nach Westen verschobene Polen war, zeigt die gleichzeitige Analyse der SBZ. Darüber hinaus gestattet die Komparatisdk zweifach begründete Urteile über Defizite von sozialistischen Systemen. Dazu gehörte die mangelnde Fähigkeit, divergierende Interessen und Interessenvertretungen in das System zu integrieren sowie die erheblichen Kommunikationsdefizite zwischen gesellschaftlichen Gruppen und zwischen Staat und Gesellschaft."' Angesichts der positiven Erfahrungen mit dem »Ost-Ost-Vergleich« in dieser Studie ist zu hoffen, daß solche Vergleiche kein Lippenbekenntnis der Forschung bleiben. Daß diese Arbeit die bislang erste Monographie ist, die die Geschichte Volkspolens und der SBZ/DDR vergleicht, verrät weniger über die Originalität ihres Autors als darüber, wie sehr Deutschland mit sich selbst beschäftigt ist. Gemessen an der Prämisse, daß für einen Vergleich ein umfangreicher Grundstock an Ähnlichkeiten vorhanden sein sollte," erscheint die Gegenüberstellung der SBZ/DDR mit anderen Staaten, die früher im sov^jetischen Einfiußbereich lagen, für viele Themengebiete als potentiell ergiebiger als der seit dem Zusammenbruch des ostdeutschen Teilstaats über die Maßen populäre Diktaturvergleich zwischen der D D R und dem Nationalsozialismus.'® Ein weiterer Grund für die Ausweitung dieser Studie über Deutschland hinaus lag im internationalen Charakter der Vertreibungen nach dem Zweiten Weltkrieg. Es ist als eines der großen Defizite der deutschen Vertriebenenfor-
16 I m Kapitel 3.2.3. wird auch ausführlich auf die A u s w i r k u n g e n dieser Defizite auf die sogen a n n t e n A u t o c h t h o n e n , also die einheimische Bevölkerung in Oberschlesien u n d M a s u r e n , die nicht vertrieben w u r d e , eingegangen. 17 Vgl. Haupt/Kocka, S. 24 f 18 D e r Bezug zur N S - D i k t a t u r ist f ü r die F o r s c h u n g über die S B Z / D D R gleichwohl u n e n t behrlich. D e r auffällige Unterschied zwischen Anpassung an die n e u e O r d n u n g u n d verbreitetem Widerstand, der zwischen der S B Z / D D R u n d Polen bestand u n d u n t e r a n d e r e m auch im Verhalten von Vertriebenen nachweisbar ist, hat seine U r s a c h e auch in der unterschiedlichen Vorgeschichte beider Gesellschaften zwischen 1939 u n d 1945.
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s c h u n g anzusehen, daß erzwungene Migrationen bisher k a u m als europäisches P h ä n o m e n w a h r g e n o m m e n oder begriffen w u r d e n . Diese A u s b l e n d u n g ist unhaltbar, weil nach d e m Zweiten Weltkrieg n e b e n den D e u t s c h e n auch Polen, Ukrainer, U n g a r n u n d zahlreiche kleinere Volksgruppen von Zwangsmigratio n betroffen waren. Die beiden deutschen Staaten u n d Polen, aber auch andere Länder w a r e n mit Vertriebenenproblemen massiven Ausmaßes k o n f r o n t i e r t . " Die Allierten, die die Vertreibungen veranlaßten, u n d die Staaten Ostmitteleuropas, die sie d u r c h f ü h r t e n , begriffen Bevölkerungsverschiebungen allerdings nicht als Problem, sondern als Voraussetzung f ü r die Schaffung stabiler Nationalstaaten. Polen war deshalb ein O p f e r von Vertreibung u n d zugleich ein Vertreiberstaat. N e b e n den D e u t s c h e n m u ß t e n 482.000 U k r a i n e r das nach Westen v e r s c h o b e n e Staatsgebiet verlassen, 140.000 in Polen verbliebene U k r a i n e r w u r d e n 1947 in die ehemaligen deutschen Ostgebiete deportiert. G r u n d dieser Bevölkerungsverschiebungen war das u n g e h e u r e Projekt, einen Vielvölkerstaat mit großen M i n d e r h e i t e n in einen h o m o g e n e n Nationalstaat zu verwandeln. Die Tschechoslowakei v e r f u h r nach d e m Krieg mit der ocysta, der Säuberung von den Sudetendeutschen u n d einer teilweisen Vertreibung der U n g a r n ähnlich. Auch die Ukraine machte d u r c h die Vertreibung der Polen u n d das gleichzeitige H e r e i n s t r ö m e n von U k r a i n e r n aus Polen einen Schritt in die R i c h t u n g eines Nationalstaates, w e n n auch n o c h unter sowjetischer O b e r herrschaft. Ähnliches gilt f ü r Litauen. I m Z u g e der H o m o g e n i s i e r u n g der Nationalstaaten in Ostmitteleuropa w a n d e r t e n auch viele der J u d e n aus, die den Holocaust überlebt hatten. Eine Beschäftigung mit den Folgen der Vertreibung erlaubt es somit. Aussagen darüber zu treffen, inwieweit die von den Alliierten u n d den jeweiligen Regierungen bezweckte Stabilisierung der Nationalstaaten u n d die Befriedung eines von Nationalitätenkonflikten zerrissenen Kontinents gelangen.
Quellen und Methode Seit 1989 m a c h e n die Archive in Polen aus der Vertreibung der D e u t s c h e n u n d der Polen kein G e h e i m n i s mehr. I m Archiv f ü r neue Akten in Warschau (AAN) u n d den jeweiligen Wojewodschaftsarchiven sind daher umfangreiche Bestände zur Vertreibung der D e u t s c h e n zugänglich. Auch zur Vertreibung der Polen
19 Der amerikanische Historiker Michael Marrus hat als erster Autor versucht, erzwungene Migrationen auf einer gesamteuropäischen Ebene darzustellen. Allerdings konzentriert er sich vor allem auf »Displaced Persons«, also auf während des Krieges Verschleppte, während gegen Ende des Zweiten Weltkrieges und danach endgültig Vertriebene nur gestreift werden. Vgl. dazu Marrus, S. 325-331.
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gibt es zahlreiche Akten, da die polnische Regierung bzw. vor 1945 das Polnische Komitee der Nationalen Befreiung (Polski KomitetWyzwolenia Narodowego, kurz PKWN) als formeller Vertragspartner der Sowjetunion, der Litauischen, Weißrussischen und Ukrainischen SSR Einsicht in den Ablauf der Vertreibung hatte und diese begrenzt auch beeinflussen konnte. Wie bereits erwähnt, liegt jedoch der eigentliche Schwerpunkt dieser Studie auf der Zeit nach der Ankunft der Vertriebenen auf polnischem bzw. deutschem Territorium. Zu diesem Zweck wurden wiederum im AAN und in mehreren Wojewodschaftsarchiven die Akten eingesehen, die sich unmittelbar oder mittelbar mit den sogenannten Repatrianten befassen. Neben den rein verwaltungstechnischen Vorgängen erwiesen sich Inspektionsberichte als besonders ergiebig. Eine noch stärkere subjektive Komponente weisen Eingaben und Beschwerden auf, die ebenfalls zahlreich überliefert sind. Zusätzlich Verden in Polen als Quellen ausschließlich subjektiven Charakters Erinnerungen und Memoiren ausgewertet. Relevant sind dabei nicht nur die Niederschriften von Vertriebenen, sondern auch von Einheimischen und Umsiedlern aus Zentralpolen. Somit war es möglich, die Vertriebenenproblematik und das Verhältnis der Bevölkerungsgruppen zueinander aus verschiedenen Perspektiven heraus zu rekonstruieren. Die Erinnerungen und Memoiren wurden überwiegend zu Wettbewerben eingesandt, die wissenschaftliche Institutionen in den polnischen Westgebieten ausschrieben. Die eigentliche Aufgabe der Wettbewerbe war es, die verbreiteten Integrations- und Aufbaumythen zu bestätigen. Viele Autoren nahmen jedoch kein Blatt vor den Mund, deshalb sind vor allem die Einsendungen von Interesse, die nicht oder zensiert veröffentlicht wurden.^" Die teilweise schon gegen Kriegsende und in den fünfziger Jahren verfaßten Tagebücher und Erinnerungen erwiesen sich außerdem als authentischer als nach der Wende abgerufene Überlieferungen.^' Wegen der Existenz dieser Memoiren und Erinne-
20 Von besonderem Interesse sind im Posener Westinstitut (Instytut Zachodni, Poznañ) die Bestände des Wettbewerbs »Pamiçtniki Osadników« (Erinnerungen der Siedler) von 1957 und des Wettbewerbs »Pamiçtniki mieszkañców ziem zachodnich« (Erinnerungen von Einwohnern der Westgebiete) von 1970; desweiteren sei hier verwiesen auf den Wettbewerb »Pamiçtniki trzech pokolen mieszkañców Ziem Odzyskanych« (Erinnerungen von drei Generationen der Einwohner der Wiedergewonnenen Gebiete) von 1986 im Schlesischen Institut in Oppeln (Instytut Sl^ski w Opolu) und die zahlreichen gedruckten Memoiren und Tagebücher des Studienzentrums »Karta« in Warschau. Bei gedruckt vorliegenden Memoiren empfiehlt es sich, die Originalversion der gedruckten Ausgabe vorzuziehen. Ein Vergleich der beiden Versionen erlaubt einen Einblick in die Funktionsweisen und Ziele von Zensur im Zusammenhang mit der Vertriebenenproblematik. 21 Das erste Problem liegt in dem langen Zeitabstand, das zweite in der inhaltlichen Beeinflussung. Der deutsch-polnischen Aussöhnung folgend werden heute häufig Reflexionen völkerverständigenden Inhalts abgefragt. Vgl. als Beispiel das 1995 in Gleiwitz veröffentlichte Buch »Dankeschön - Dziçkuje bardzo«, das auf einem Wettbewerb unter dem Motto »Deutsche sprechen Gutes über Polen, Polen sprechen Gutes über Deutsche« beruht.
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rungen bestand in Polen auch keine Notwendigkeit, wissenschaftlich systematisierte Befragungen durchzuführen. Die »oral history« erscheint für die Erforschung der frühen Geschichte der Vertriebenen in Polen und in der SBZ/DDR grundsätzlich als nur bedingt ergiebig. Ein Zeitabstand von vierzig und mehr Jahren erzeugt Gedächtnislücken und Ungenauigkeiten, die vor allem dann auftreten, wenn graduelle Prozesse wie die Integration abgefragt werden.^^ Überdies waren für beide verglichene Länder genügend archivalische Quellen vorhanden, um auf die Befragung von Augenzeugen verzichten zu können. Viele Kenntnisse über die damalige Zeit können in Polen aus soziologischen Forschungen erschlossen werden, die dort sowohl vor als auch nach dem Ende des Stalinismus in vergleichsweise großer Freiheit durchgeführt wurden. Die hohe Qualität mehrerer Arbeiten ist mit der Existenz einer polnischen Schule bzw. Forschungstradition erklärbar, die durch Florian Znaniecki begründet wurde und die empirische Sozialwissenschaft in den USA stark beeinflußte. Nach 1945 kamen viele Impulse aus Amerika nach Polen.^ Aufgrund dieses direkten Einflusses waren manche polnische Studien zur Integration aus den fünfziger Jahren methodisch weiter entwickelt als vergleichbare westdeutsche Veröffentlichungen. Soziologische Untersuchungen waren vor allem für den letzten Hauptteil dieser Arbeit, die Messung der Integration, von Bedeutung. In der SBZ/DDR entstanden hingegen keine die Integration begleitenden, empirischen Arbeiten, die heute noch verwendbares Datenmaterial liefern könnten. Für die SBZ/DDR wurden Akten im früheren DDR-Zentralarchiv und späteren Bundesarchiv, Außenstelle Postdam (jetzt Außenstelle Berlin-Lichterfelde) ausgewertet, außerdem umfangreiche Bestände im Brandenburgischen Landeshauptarchiv in Potsdam (BLHA) und im Sächsischen Hauptstaatsarchiv (SHSA) in Dresden. Persönliche Erinnerungen liegen für die SBZ/DDR nicht in gesammelter Form vor, da die Vertriebenenproblematik dort Anfang der fünfziger Jahre zum Tabu erklärt wurde und erst seit den siebziger Jahren Forschungen zur Integration von Vertriebenen möglich waren. Daher wird für die SBZ/DDR verstärkt auf Überlieferungen in literarischer Form zurückge22 Skeptisch gegenüber von Historikern durchgeführten empirischen Feldstudien machten auch die in diesem Bereich über die SBZ/DDR veröffenthchten Arbeiten. Die 1987 von Lutz Niethammer auf eine »ethnologische Verhaltenheit« der D D R zielende Fragestellung war zwar vielleicht zum damaligen Zeitpunkt aktuell, greift jedoch für die umfassenden Erkenntnisziele dieser Arbeit etwas zu kurz. Ein weiterer Vertreter der oral history, Alexander von Plato, versuchte in seinen Befragungen politische Paradigmata der 1968er Generation in die D D R zu exportieren, anstatt sich auf die genaue Abfrage historischer Vorgänge zu konzentrieren. Die überliefenen Fakten halten einer Überprüfung durch Akten daher nicht immer stand. Angesichts dieser Eindrücke erscheint die »oral history« eher als ergänzende Methode zu Aktenstudien oder für die Untersuchung kürzer zurückliegender Ereignisse geeignet. 23 Vgl. dazu das für diese Studie wichtigste Werk von F. Znaniecki Modern Nationalities (Urbana 1952).
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griffen. Die Verwaltungsakten enthalten zwar mehr und genauere statistische Angaben und Sonderuntersuchungen zur Vertriebenenproblematik als in Polen, allerdings achteten die Behörden bei diversen Archivinventuren darauf, möglichst die Akten zu beseitigen, welche die von der SED zugelassene Version der Geschichte hätten widerlegen können. Polen folgte in dieser Hinsicht im Gegensatz zur D D R nicht dem so\\getischen Modell. Schon bald nach Beginn der Archivarbeit wurde deshalb klar, daß weitere Akten erschlossen werden müßten, zumal die Bestände des Bundesarchivs (kurz: BAP) bereits relativ gut erforscht sind. Als ergiebig erwiesen sich ehemalige Landkreisarchive, deren Bestände in geringerem Maße gesäubert vmrden als von zentralen Instanzen gelagerte und erstellte Akten. Manche Kreise gaben die Akten auch nur teilweise oder verspätet an die Länder bzw. Bezirke ab. Aufgrund dieser erfreulichen Ausfallerscheinungen preußischer Verwaltungsdisziplin läßt sich heute die Politik gegenüber Vertriebenen in einzelnen Kreisen relativ genau nachvollziehen. Grundsätzlich wurde bei den Archivstudien in zwei Schritten verfahren. In den Zentralarchiven der SBZ/DDR und Polens lag das Augenmerk vorwiegend auf den Konzeptionen der Vertreibung und der Vertriebenenpolitik, in den Landes- bzw. Wojewodschaftsarchiven auf deren Umsetzung und auf dem Verhältnis der Vertriebenen zu anderen Bevölkerungsgruppen.^" Für die Fallstudien auf regionaler Ebene wurden jedoch nicht etwa beliebige Kreise ausgewählt, sondern ein methodisch bedingter Anforderungskatalog erstellt. Z u den Kriterien für die Auswahl eines speziellen Untersuchungsgebietes gehörten: Ausdehnung in der Größe eines Landkreises, eine Mischung einheimischer und zugewanderter Bevölkerung nach einem Verhältnis, das dem einer Region oder des gesamten Staatsgebietes entsprach, außerdem eine Mischung agrarisch und industriell geprägter Strukturen.^^ Wie dieser Anforderungskatalog demonstriert, sollten anhand der Mikrostudien eingehender, als dies für ein gesamtes Staatsgebiet möglich wäre, die Faktoren analysiert werden, die die Geschichte der Vertriebenen in beiden Ländern beeinflußten.^'' Über die lokalen Studien hinaus vmrden die Akten der sie umgebenden Regionen, in der SBZ/DDR also die Lausitz und in Polen Ober- und Niederschlesien, beson-
24 Bezüglich Polens unterschied sich die Vorgehensweise insofern, weil dort Akten aus den Wojewodschaften und Kreisen zum Teil im AAN eingelagert wurden. 25 Trotz dieser Mischung wird jedoch auf das ländliche Umfeld stärker eingegangen, da der Schweφunkt der Ansiedlung von Vertriebenen insgesamt auf dem Lande lag. 26 Somit können die in den Fallstudien gewonnenen Erkenntnisse zumindest ansatzweise auf die SBZ/DDR bzw. Polen übertragen werden. Eine solche Systematik bei der Auswahl von Fallstudien wird trotz ihrer offensichtlichen Vorzügejedoch in anderen Projekten nicht immer eingehalten, so daß der vesprochene »exemplarische Charakter« mancher wissenschaftlichen Arbeit wohl nicht einzuhalten sein wird. Vgl. als Beispiel ein im Postdamer Bulletin für Zeithistorische Studien, Dez. 1995, S. 37-52, beschriebenes Projekt.
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ders eingehend studiert. Auf Fallstudien wird in der vorliegenden Arbeit allerdings nicht durchgehend, sondern nur dann zurückgegriffen, wenn dies bestimmte Vorgänge anschaulicher macht oder dazu auf der Ebene der gesamten SBZ/DDR oder Polens keine Akten vorliegen. In der SBZ/DDR fiel die Auswahl der Fallstudie auf den Kreis Calau-Senftenberg. Dieser Kreis gleicht in seiner Mischung agrarisch geprägter Gebiete im Norden und dem Industrierevier im Süden sowie dem Anteil von Vertriebenen an der Gesamtbevölkerung einer »DDR en miniature«.^^ In Polen war die Auswahl eines Kreises als Gebiet einer Fallstudie wesentlich schwieriger, weil sich dort die Politik und die Gesellschaft abhängig von der Existenz einheimischer Bevölkerung unterschieden. Es woirden daher mehrere Kreise in den Aufnahmegebieten für Vertriebene untersucht. Als Beispiel eines ICreises, aus dem die ursprüngliche, deutsche Bevölkerung fast vollständig entfernt worden war, diente Neisse^® in der heutigen Wojewodschaft Oppeln. Die Situation in diesem Kreis entsprach der in großen Teilen Pommerns, Niederschlesiens und Ostbrandenburgs. Zusätzlich zum Kreis Neisse wurden die Akten zweier oberschlesischer Kreise ausgewertet, in denen die einheimische Bevölkerung in größerer Zahl blieb. Diese beiden Kreise sind Kreuzburg mit einem Bevölkerungsanteil der Vertriebenen von 44,2% und Cosel, w o die Vertriebenen 1950 9,9% der Bevölkerung ausmachten. Der Einblick in die Akten ausgewählter Kreise und Regionen ermöglicht es, der einseitigen Fixierung der Zeitgeschichte auf zentrale Institutionen eine Befassung mit dezentralen Entscheidungsinstanzen entgegenzusetzen. Die politischen Konzeptionen und Direktiven der zentralen Leitungsinstanzen 27 Der Kreis hatte gut 100.000 Einwohner, wovon knapp 24% Vertriebene waren. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung lag in den Dörfern teilweise erheblich darüber und in den Städten wie in der gesamten SBZ/DDR darunter. Bei dem Vergleich zu Westdeutschland ward auch dort häufig auf Untersuchungen Bezug genommen, die sich auf Kreise beziehen und somit mit den hier angefertigten Fallstudien vergleichbar sind. 28 Die polnischen Orte, fur die ein deutscher Name existiert, werden, wie von der Gemeinsamen Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission vorgeschlagen, mit ihrem deutschen Namen genannt. Die heutigen polnischen Bezeichnungen können im zweisprachigen Ortsregister nachgeschlagen werden. Als deutsche Ortsnamen werden aber die traditionellen und nicht die 1936/37 und während des Krieges von den Nationalsozialisten eingeführten verwendet. Lodz ist also Lodsch und nicht Litzmannstadt, Kçdzierzyn in Oberschlesien Kandrzin und nicht das germanisierte Heydebreck. Analog zu dieser Vorgehensweise werden ehemals polnische Städte in der heutigen Ukraine, Litauen und Weißrußland wie in Polen üblich mit dem polnischen Namen versehen. Das ostgalizische, schon zu österreichischen Zeiten so genannte Tamopol wird demnach nicht zu Ternopil, wne es heute ukrainisch heißt. Wenn deutsche Namen vorhanden sind, wie im Falle von Lemberg, werden aber wiederum diese benutzt. Polnische Ortsnamen ergeben sich auch aus den Quellennachweisen, in denen die in den polnischen Archiven gängige polnische Ortsbezeichnung verwendet wird. Bei Bedarf kann auch hier der jeweilige deutsche Name im Ortsregister nachgeschlagen werden. Durch die Archivbezeichnungen in polnischer Originalsprache ist hoffentlich in ausreichendem Maße dokumentiert, daß die Ostgebiete des Deutschen Reiches seit dem Potsdamer Abkommen polnisch sind.
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wichen z u m Teil erheblicii von ihrer U m s e t z u n g ab, da Politik auf d e m langen Weg von den Hauptstädten in die Provinz modifiziert, unterlaufen oder manchmal gar nicht zur Kenntnis g e n o m m e n wurde. Selbst in einem zentralen Bereich staatlicher Hoheit, dem Aufbau von Verwaltungsgliederungen, sind in der S B Z / D D R u n d in Polen Unterschiede von Region zu Region nachweisbar.2' Dies wirft auch die Frage auf ob die verbreitete Einordnung der D D R und bis 1956 auch Polens als totalitäre Systeme richtig ist. Regionale Studien gestatten einen tieferen Einblick darin, wie die Menschen in der S B Z / D D R und in Polen gelebt haben - nicht nur, wie sie nach den Vorstellungen der Machthaber leben sollten.^" Ein spezielles Problem bei der Erforschung der fünfziger Jahre liegt darin, daß die Anzahl der Quellen, in denen Vertriebene zumindest beiläufig erwähnt werden, in diesem Jahrzehnt rapide zurückgeht. In der D D R war der G r u n d für diesen Quellenschwund das ab 1948 entstehende Dogma einer gelungenen u n d beendeten Integration der Vertriebenen. Demzufolge f ü h r t e n die Behörden nach 1949 generell keine Statistiken zu dieser Bevölkerungsgruppe. Lediglich im Rahmen des »Umsiedlergesetzes« von 1950 w u r d e n nochmals DDR-weite Erhebungen durchgeführt u n d Lageberichte erstellt. Danach vers t u m m e n die Akten in bezug auf die Vertriebenen. Deren weitere Geschichte läßt sich nur noch anhand von Berichten rekonstruieren, die Sonderkommissionen verfaßten oder die zu besonderen Anlässen wie etwa Volkskammerwahlen angefertigt wurden. In Polen w u r d e n die Vertriebenen in den für diese Arbeit einschlägigen Quellen letztmalig im Z u s a m m e n h a n g mit dem Widerstand gegen die Kollektivierung erwähnt, allerdings gestatten dort M e m o i r e n und Tagebücher eine Fortschreibung ihrer Geschichte. In Polen nahmen die Berichte der Verwaltungen ebenfalls immer seltener auf die sogenannten Repatrianten Bezug. Sie wurden in den Aufnahmegebieten schon unmittelbar nach d e m Kriegsende gemeinsam mit den Umsiedlern aus Zentralpolen als »Siedler« bzw. »Ansiedler« (polnisch osadnicy) bezeichnet. Diese Praxis setzte sich im Laufe der Jahre immer mehr durch. Hintergrund f ü r die Zusammenfassung zweier so unterschiedlicher Gruppen war z u m einen ähnlich wie in der D D R ein staatlich geforderter Mythos, daß die Gesellschaft integriert und die Nation homogen sei. Außerdem V e r d e n Vertriebene 29 Dazu nur ein kurzes Beispiel: Im Kreis Hoyerswerda wurde kein »Umsiedlerausschuß« gegründet, der im benachbarten Kreis Calau-Senftenberg ein enorm wirksames Gremium zur Umsetzung von Vertriebenenpolitik war. In Polen waren die Unterschiede noch ausgeprägter; auf die Gründe dafür wird im zweiten Hauptteil eingegangen. 30 Als sehr fruchtbar erwiesen sich auch zahlreiche regionale und lokale Fallstudien, die über die Vertriebenen in den Bundesrepublik erstellt wurden. Vgl. insbesondere die Monographien von Barbara Sallinger, Paul Erker und Doris von der Brelie-Lewien sowie zahlreiche weitere Sammelbände und Aufsätze, die hier nicht alle aufgezählt werden können. Das Vorhandensein dieser Publikationen war ein weiterer Grund, warum sich diese Arbeit bei der Erhebung von Fallstudien auf die SBZ/DDR und Polen beschränkte.
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seit 1946 rechtlich in fast allen wichtigen Belangen wie Umsiedler aus Zentralpolen behandelt. Somit besaß ein besonderer Vertriebenenstatus keinen Zweck mehr. In der Bundesrepublik hingegen hält der Gesetzgeber bis in die heutige Zeit einen besonderen Vertriebenenstatus aufrecht. Der zeitliche Endpunkt der Arbeit fallt mit einem tiefen Einschnitt in der Geschichte Ostmitteleuropas zusammen. Die Rede von Nikita Chruschtschow auf dem zwanzigsten Parteitag der KPdSU leitete massive Änderungen in der Sov^getunion ein. Wenige Wochen nach dieser Rede endete auch in der Volksrepublik Polen die Phase des Stalinismus. In der D D R änderte sich ähnlich wie in der Tschechoslowakei weniger, so daß dort das Schlagwort vom Stalinismus ohne Stalin zutrifft. Dieser wird hier daher systemspezifisch und nicht nur auf die Person des Diktators bezogen verstanden. Z u den Kennzeichen des Stalinismus in Ostmitteleuropa gehörte die Ausschaltung nichtstaatlicher Organisationen, die Gleichschaltung der Behörden und Massenorganisationen, die Verfolgung von Systemkritikern und der Opposition. Die Fortführung dieser Studie bis Mitte der fünfziger Jahre gestattet es auch, zwei weitere wesentliche Elemente des Stalinismus, die Kollektivierung und eine rapide Industrialisierung samt ihrer ersten Auswirkungen miteinzubeziehen. Neben diesem politischen Einschnitt Mitte der fünfziger Jahre gab es auch eine für die Geschichte der Vertriebenen spezifische Zäsur. Im Zuge des Tauwetters vmrden nach 1956 die Grenzen geöffnet. Nach Deutschland und Polen kam nachfolgend eine hohe Anzahl an Spätaussiedlern aus dem Osten. Diese erneuten, massenhaften Migrationsbewegungen vmrden jedoch die Grenzen des ohnehin weit gefaßten Dissertationsthemas endgültig sprengen und wurden daher nicht mehr berücksichtigt.
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1. Vertreibung
Wie bereits in der Einleitung dargestellt wurde, ist Vertreibung kein Phänomen, das erst seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges existiert. Gewaltsame Bevölkerungsverschiebungen als Mittel der Politik haben eine Vorgeschichte, die bis ins 19. Jahrhundert reicht. Im folgenden Kapitel wird nach einem Überblick über historische Beispiele für Vertreibung und ihre Vorläufer gezeigt, wie massenhafte Bevölkerungsverschiebungen zu einem Bestandteil der internationalen Politik Verden. Dies begann mit den Verträgen zwischen Bulgarien, Griechenland und der Türkei nach den Balkankriegen 1913, die erstmals einen Bevölkerungsaustausch vorsahen. 1923 vereinbarten Griechenland und die Türkei im Abkommen von Lausanne erneut einen »Austausch«, der jedoch Zwangscharakter besaß und de facto die Vertreibung der jeweiligen griechischen bzw. türkischen Minderheit bedeutete. Das Abkommen war insofern ein Präzedenzfall, als sich die Vertreibung der jeweiligen Minderheiten auf das gesamte Staatsgebiet der Türkei und Griechenlands erstreckte' und unter Beihilfe der internationalen Staatengemeinschaft beschlossen und umgesetzt wurde. Im weiteren Verlauf des ersten Kapitels wird dargestellt, wie Adolf Hitler auch in diesem Bereich der Politik als negativer Neuerer wirkte. Für ihn waren Bevölkerungsverschiebungen nicht nur ein Mittel, sondern ein Ziel von Politik. Sie waren auch nicht mehr nur das Resultat oder die Begleiterscheinung von Krieg, sondern einer dessen Zwecke. Hitler veränderte zunächst im Pakt mit Stalin die staatlichen, dann im besetzten Polen auch die ethnischen Grenzen in Europa. Es wird gezeigt, welchen Einfluß dies auf die Politik der Alliierten hatte. Diese beschlossen auf den Konferenzen von Teheran, Jaita und Potsdam über die betroffenen Nationen hinweg eine ethnische und territoriale Neuordnung Europas. Sie beinhaltete eine weite Verschiebung der Staatsgrenzen in Ostmitteleuropa, die mit den ethnischen Grenzen übereinstimmen sollten. Die Alliierten entschieden sich daher auch für die Vertreibung der Deutschen und Polen aus den jeweiligen Ostgebieten und die Auflösung von Minderheiten und Siedlungsinseln in Ostmitteleuropa. Die rechtlichen Grundlagen zur Vertreibung von Deutschen und Polen unterschieden sich allerdings im Detail, was zahlreiche Auswirkungen auf den Ablauf der Bevölkerungsverschiebungen hatte. 1 A u s g e n o m m e n von d e m »Austausch« waren lediglich M u s l i m e in Westthrakien u n d die Griechen in Istanbul. Vgl. dazu Sundhaussen, S. 35.
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Im zweiten Kapitel wird der Verlauf der Vertreibung empirisch untersucht. Im Falle der Deutschen wie der Polen sind drei Phasen zu unterscheiden: Flucht, wilde Vertreibung und vertraglich geregelte Vertreibung (alternativ: Zwangsaussiedlung). Die Darstellung stützt sich zum einen auf Akten der für die Vertreibung zuständigen Behörden, die im Falle Polens noch weitgehend unbekannt sind. U m diese rein bürokratische Perspektive zu erweitern, v«rd die Vertreibung zum anderen aus der Sicht von Betroffenen nachgezeichnet. Im Falle der Deutschen liegen dazu zahlreiche Veröffentlichungen vor, im Falle der Polen dienten bisher nicht erschlossene Erinnerungen und Memoiren als Quellen. Danach folgt im dritten Kapitel eine Begriffsdiskussion, die nicht mehr nur abstrakt, sondern anhand der in der Vorgeschichte gegebenen Denkansätze und der anschließenden empirischen Darstellung geführt werden kann. Es soll geklärt werden, warum der Begriff Vertreibung trotz seiner für den wissenschaftlichen Gebrauch problematischen Konnotationen verwendet wird, wie er sich definiert und wie Vertreibung von anderen Formen der freiwilligen und erzwungenen Migration unterschieden werden kann. Diese Definition erfolgt in kritischer Distanz zur meisten bis 1989 erschienenen Literatur in Polen und Deutschland, die das Problem Vertreibung häufig beschönigte, Teilaspekte ausblendete bzw. zur Begründung einer Martyrologie benutzte und im Zusammenhang mit dem Kalten Krieg politisierte. In der Zusammenfassung werden die Unterschiede und Gemeinsamkeiten bei der Vertreibung der Deutschen und Polen summarisch dargestellt und außerdem die Folgewirkung der Vertreibung für die Betroffenen, die Aufnahmestaaten und -gesellschaften gezeigt.
1.1. Vorgeschichte und Grundlagen der Vertreibung Beispiele in der Frühen
Neuzeit
Das ausgehende 20. Jahrhundert trägt den Beinamen »Jahrhundert der Vertreibung« insofern zu Recht, als in diesem Zeitalter mehr vertrieben wurde als Je zuvor. Dies war zum einen Folge der gewachsenen technischen Möglichkeiten, zum anderen der Radikalisierung des Nationalismus und anderer Ideologien. Die etwa 50 Millionen Menschen, die in Europa vertrieben wurden, mußten ihre Heimat verlassen, weil sie die falsche Nationalität oder Volkszugehörigkeit besaßen, die sie nicht einfach bei Bedarf abstreifen oder ändern konnten. Anonyme, meist von außen zugezogene Behörden stellten die Ethnie eines Menschen fest und beschlossen dann, ob er an seinem Wohnort bleiben durfte oder nicht. 29
Das Prinzip, jemand wegen eines scheinbar objektiven Kriteriums wie der Nationalität seines Hauses und seiner Stadt zu verweisen, ist allerdings wesentlich älter als der moderne Nationalismus. Schon in der Frühen Neuzeit wurden Menschen zur Emigration gezvmngen, damals meistens deshalb, weil sie anderen Glaubens waren. Ähnlich wie später in die nationalen Konflikte spielten soziale Probleme in religiöse Auseinandersetzungen hinein, aber Auslöser und Rechtfertigung für Vertreibung waren stets ideelle Werte und Ideologien. Eines von deren Kennzeichen war Intoleranz, unter der von allen Nationen Europas die J u d e n am meisten litten. Sie wurden schon im Mittelalter und dann auch in der Frühen Neuzeit wiederholt aus Städten, Regionen u n d Ländern ausgewiesen, eben weil sie Juden waren. Ein frühes Opfer von Zwangsmigration waren auch die ehemals muslimischen Moriscos, die im Zuge der Inquisition 1610 Andalusien verlassen mußten. Die Exultation der protestantischen Salzburger von 1731 bis 1733 ist ein weiteres Beispiel für Vertreibung, ehe sich im Absolutismus die Einstellung der Regierenden gegenüber der eigenen Bevölkerung grundsätzlich änderte. In Ostmitteleuropa kam es im 16. und 17. Jahrhundert zu besonders zahlreichen Bevölkerungsverschiebungen. Z u den G r ü n d e n dafür gehörte die Instabilität der polnischen Ostgrenze. Die dortigen Vertreibungen waren allerdings nicht m e h r nur, wie die zuvor genannten Beispiele, überwiegend religiös, sondern partiell schon national motiviert. Beispielsweise können die polnischen egzultanci, die infolge der Gebietsabtretungen von Polen an Rußland von 1667 dessen Territorium verlassen mußten, als Vorläufer der Vertriebenen des 20. Jahrhunderts betrachtet werden.^ Dies betrifft nicht n u r die Gründe, waru m sie ihre Heimat verlassen mußten, sondern auch ihre politische Rolle in der Adelsrepublik z u m Ende des 17. Jahrhunderts. Die egzultanci bildeten ähnlich den deutschen Vertriebenen in der Bundesrepublik eine mächtige Lobby im Sejm, die lautstark Entschädigung für ihr verlorenes Eigentum oder aber die Rückkehr in die Heimat forderten. Schon damals existierte also das Problem, Vertriebene in die Gesellschaft integrieren zu müssen. Nach der Verwüstung durch die Religionskriege änderte sich jedoch im 18. Jahrhundert die Einstellung der Herrschenden zu Zwangsmigrationen. Die jeweiligen Herrscher erkannten im Zeitalter des Merkantilismus Bevölkerung als einen Wert, den es zu halten galt, da er die Steuerkraft eines Landes bestimmte. Das Erzbistum Salzburg oder auch Frankreich nach den Hugenottenkriegen machten die Erfahrung, daß Vertreibung schwere wirtschaftliche Schäden nach sich zieht. Diese Lehre beherzigten die Habsburger unter anderem in Schlesien, w o die Protestanten bleiben durften, seit Beginn des 18. J a h r h u n derts sogar mit erweiterten Rechten. Charakteristisch für die Zeit vor der Bevölkerungsexplosion im 19. Jahrhundert war es auch, daß es genug Siedlungs2 Vgl. zu den Egzultanci Kaminski, S. 35 f.
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räum und Staaten gab, die gewillt waren, Vertriebene aufzunehmen. Als ein Beispiel hierfür können wiederum die Salzburger und deren Ansiedlung in Ostpreußen dienen.
Bevölkerungspolitik
im Í9. und 20. Jahrhundert
Im 19. Jahrhundert traten mehrere qualitative Veränderungen ein. Die Siedlungsräume verdichteten sich und waren zur Aufnahme zusätzlicher Bevölkerungsgruppen kaum noch bereit. Bevölkerung wurde zunehmend als Belastung angesehen, besonders wenn sie einer anderen Volksgruppe angehörte. Die neu entstehenden modernen Nationen grenzten sich im Zuge der Ausbreitung des Nationalismus so stark voneinander ab wie in der Frühen Neuzeit die unterschiedlichen Glaubensrichtungen. Die jungen Nationalstaaten und Nationalbewegungen Mittel- und Osteuropas zielten darauf, die Angehörigen der eigenen Nation in einem Staat zu vereinen. Dem stand im Wege, daß die ethnischen Grenzen unscharf waren und mit den staatlichen Grenzen nur selten übereinstimmten. Zu Zeiten des Völkerfrühlings war dieser Nationalismus noch tolerant und, wie die große Polenbegeisterung im Vormärz zeigt, auch internationalistisch. Mitte des 19. Jahrhunderts begannen sich die Nationalismen aber zunehmend gegenseitig auszuschließen. Deutlich wird dies an der Forderung des deutschen Nationalisten Paul de Lagarde, der schon 1855 schrieb: »Es ist zweifellos nicht statthaft, daß in irgendeiner Nation eine andere Nation bestehe; es ist zweifellos geboten, diejenigen welche ...jene Dekomposition befördert haben, zu beseitigen: Es ist das Recht jeden Volkes, selbst Herr auf seinem Gebiet zu sein, für sich zu leben, nicht für Fremde.«^ Die Stoßrichtung gegen die Minderheiten im Deutschen Reich ist nicht zu übersehen. Bald folgte die Regierung diesen Forderungen und setzte insbesondere die Polen im Deutschen Reich unter Druck.'* Der Nationalismus, der hier wie in der englischsprachigen Literatur üblich als Ideologie der Nationalbewegungen verstanden wird, wurde im späten 19. Jahrhundert in ganz Europa zunehmend expansiv und intolerant. Es war das Ziel der Mehrheitsnationen, ihre Minderheiten demographisch zu schwächen, sie zu unterdrücken oder zu assimilieren. U m diese Ziele zu erreichen, wurde Ende des 19. Jahrhunderts erstmals Bevölkerung als Mittel nationaler Politik eingesetzt. Ein frühes Beispiel dafür ist die Ansiedlung deutscher Bauern im preußischen Teilungsgebiet Polens. 3 Zit. nach Heckmann, S. 45. Vgl. zur Genesis von gewaltsamen Bevölkerungsverschiebungen auch Sundhaussen, S. 25-34, hier besonders S. 26. 4 Eine besondere Entwicklung nahm der Balkanraum. Dort zielten die sich neu bildenden Nationalstaaten seit der Mitte des 19. Jahrhunderts auf eine Entfernung »der Türken« bzw. der muslimischen Bevölkerung. Es kam dort daher wesentlich früher zu massenhaften und erzwungenen Migrationen als in Ostmitteleuropa. Vgl. dazu Höpken, S. 4-11.
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1886 wurde in Preußen ein Gesetz »betreffend die Beförderung deutscher Ansiedlungen in den Provinzen Westpreußen und Posen« erlassen.^ Ziel des Gesetzes war es, zusätzliche deutsche Bauern in einem gemischt-nationalen Gebiet anzusiedeln u n d gleichzeitig den polnischen Adel zurückzudrängen. Mittels einer nationalen Bevölkerungspolitik sollte also die ethnische Z u s a m mensetzung in den Provinzen Posen und Westpreußen manipuliert werden. Sowohl bei den Besitzverhältnissen als auch bei Volkszählungen strebte die Regierung eine Majorität der Deutschen an.^ 1908 erlaubte eine Novelle des Ansiedlungsgesetzes sogar die Enteignung polnischen Grundbesitzes. O b w o h l dieses Gesetz nur in drei Fällen angewendet wurde,' bedeutete es doch, daß eine nationalistische Bevölkerungspolitik Anfang des 20. Jahrhunderts Priorität vor Rechtsstaatlichkeit besitzen konnte. Polen hatte aufgrund seiner fehlenden Staatlichkeit Ende des 19. J a h r h u n derts nicht die nötigen Mittel, eine nationalistische Bevölkerungspolitik nach preußischem Vorbild zu betreiben. Verschiedene Konzeptionen der Nationaldemokratie enthielten jedoch bereits Elemente einer solchen Politik. In einem Programm von 1903 für die Stärkung des Polentums in Ostgalizien forderten die Nationaldemokraten unter anderem, »die polnische Kolonisation auf aufgeteilten polnischen Gütern so zu erleichtern u n d zu unterstützen, daß polnisches Land nicht in die H ä n d e ukrainischer Bauern fällt«.' Mit d e m berühmten Ausspruch des polnischen Premiers Wincenty Witos, daß nur der polnische Bauer die mit Ukrainern gemischt besiedelten Gebiete f ü r Polen retten könne,' wurde diese Konzeption in der Zvwschenkriegszeit in die Praxis umgesetzt. Zwischen nationaler Bevölkerungspolitik und den späteren Vertreibungen bestehen mehrere Zusammenhänge. Auffallig ist z u m einen, daß in den von »innerer Kolonisation« betroffenen Gebieten die Auseinandersetzungen zwischen den dort lebenden Nationen besonders heftig waren. Dort wurden die Vertreibungen während des Zweiten Weltkrieges und danach unter sehr hohen O p f e r n durchgeführt. Als Beispiele können hier Wolhynien oder Westpreußen dienen. Ein anderer Z u s a m m e n h a n g bestand darin, daß in den Denkmustern nationaler Bevölkerungspolitik zwischen Ansiedlung und Aussiedlung n u r ein kleiner Schritt, eine veränderte Vorsilbe, Hegt. Bei der inneren Kolonisation war 5 Vgl. Brodai, S. 112. 6 Wie der damalige Führer des Zentrums, Windhorst, feststellte, verletzte das Ansiedlungsgesetz den verfassungsmäßigen Grundsatz der Gleichbehandlung. Vgl. Broszat, S. 114. Ein negatives und juristisch äußerst zweifelhaftes Novum war auch die Ausweisung von fast 26.000 Polen aus dem preußischen Teilungsgebiet. Vgl. dazu auch: Deutsche Geschichte im Osten Europas, Bd. 1, S. 387.
7 Vgl. dazu Broszat, S. 126. 8 Zitiert nach Partacz, S. 178. Sämtliche Ubersetzungen polnischer Quellen und Literatur, die in dieser Arbeit zitiert werden, sind durch den Verfasser angefertigt worden. 9 Vgl. Torzecki, Polacy i Ukraificy, S. 12.
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nationalistische Bevölkerungspolitik noch »positiv«. Man siedelte zusätzlich an, um die nationale Struktur einer Region zu verändern. Wollte man diese Veränderungen später rückgängig machen, war die Aufhebung der inneren Kolonisation bzw. die Vertreibung der vermeintlichen oder echten Kolonisten der erste Schritt. So gesehen war Vertreibung eine negative Konsequenz der Siedlungspolitik, die in Westpreußen oder Ostgalizien durchgeführt wurde. Diese Zusammenhänge erklären auch, warum sich deutsche, tschechische, polnische und ukrainische Nationalisten so lange und erbittert darüber stritten, welche Nation welches Gebiet zuerst besiedelte oder wer »Kolonist« war.
Die Etablkrung
von Vertreibung als Mittel der internationalen
Politik
Auf dem Balkan waren erzwungene und massenhafte Migrationen bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts gang und gäbe. Sie betrafen zunächst vor allem die muslimische Bevölkerung in den neu entstehenden Nationalstaaten, die ins Osmanische Reich zurückgedrängt vmrden.'" Anfang des 20. Jahrhunderts überschnitten sich die Interessen der Nationalstaaten und der Nationalbewegungen auf dem Balkan schon derart, daß sie nun nicht nur die Türken, sondern sich auch gegenseitig bekämpften und vertrieben." Mit den Balkankriegen wurden gewaltsame Bevölkerungsverschiebungen schließlich erstmals ein Bestandteil von internationaler Politik. 1913 wurden neue Grenzen zwischen der Türkei, Bulgarien und Griechenland gezogen und - hierin liegt das N o vum - Verträge zum Austausch von Bevölkerung abgeschlossen. Noch blieb diese Politik auf den Balkan beschränkt, außerdem galt zumindest auf dem Papier das Prinzip der Freiwilligkeit. Die jeweiligen Minderheiten im Grenzgebiet mußten ihrer Umsiedlung zustimmen. Als in Mittel- und Osteuropa nach dem Ersten Weltkrieg neue Nationalstaaten und Grenzen entstanden, wurde die ethnische Zusammensetzung der einzelnen Regionen nicht gewaltsam manipuliert. Z u massenhaften Wanderungsbewegungen kam es aber auch dort. Etwa zwei Drittel der Deutschen verließen die ehemals preußischen Gebiete, die an das wiedererrichtete Polen fielen, mehrere hunderttausend Polen emigrierten zwdschen 1918 und 1924 aus der Sovvjetunion, weil sie dort für sich keine Zukunft sahen.
10 Vgl. Höpken, S. 5, der einen »fundamentalen Anti-Osmanismus« bei den Nationalbewegungen aller Balkanvölker feststellt. 11 Vgl. dazu Sundhaussen, S. 29, der die Virulenz von Vertreibungen auf dem Balkan dadurch erklärt, daß die dortigen Nationalbewegungen das deutsche Nationsverständnis mit dem französischen Staatsverständnis kombiniert hätten. 12 Artur Patek nennt eine Zahl von 1.264.845 Menschen, darunter 469.000 ethnische Polen, die im Rahmen der offiziellen, d.h. staatlich gelenkten Repatriierung von N o v e m b e r 1919 bis Juni 1924 nach Polen b m e n . Vgl. Patek, S. 314; vgl. auch Uluch, S. 103. Vgl. bezüglich der verbliebenen Deutschen in Polen ATrefeeier, S. 11 f
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Die Konferenz von Lausanne setzte die in den Balkankriegen begonnene ethnische »Flurbereinigung«" fort. Unter Zustimmung der internationalen Staatengemeinschaft vereinbarten Griechenland und die Türkei 1923 einen »Austausch« von Bevölkerung. Die Beschlüsse von Lausanne sind deshalb von so großer Bedeutung, weil sie in mehrerer Hinsicht einen Präzedenzfall darstellen. Sie erstreckten sich mit Ausnahme weniger Sonderregelungen auf das gesamte Staatsgebiet, der »Austausch« hatte Zwangscharakter,^'^ außerdem wurden massenhafte Bevölkerungsverschiebungen von außen, von der internationalen Staatengemeinschaft sanktioniert. Exemplarisch für spätere Zeiten war die Rechtfertigung des Abkommens. Begründet wurden die Bevölkerungsverschiebungen zwischen der Türkei und Griechenland mit einem Argument, das 1945 bei dem »Transfer« von Deutschen und der »Repatriierung« von Polen wiederkehrten: Mit der Behauptung, daß nur damit der Frieden gesichert werden könne.'' Tatsächlich stellte die Konferenz von Lausanne den Versuch dar, die zuvor bereits unter hohen Opfern in Gang gekommenen wilden Vertreibungen unter Kontrolle zu bringen und zu organisieren. Von einem paritätischen Austausch konnte aber keine Rede sein, da wesentlich mehr Griechen die Türkei verlassen mußten als umgekehrt. Diese Begriffsverdrehungen und Euphemismen erschweren den historischen Rückblick auf das Sujet international sanktionierter Bevölkerungsverschiebungen außerordentlich. Auch nach dem türkisch-griechischen Vertrag von 1923 scheiterte das Vorhaben, den Bevölkerungsaustausch zu organisieren oder gar zu humanisieren. U m ihr Gesicht zu wahren, wollte dies die internationale Staatengemeinschaft jedoch nur ungern zugeben. Die Tendenz zur Beschönigung von Bevölkerungsverschiebungen, die nach der Konferenz von Lausanne das erste Mal auftrat, war 1945 auf der Konferenz von Potsdam bei der Kreation des Begriffs »Transfer« erneut zu beobachten. Die Gegenreaktion dazu lag in der Neigung von türkischen und vor allem griechischen Betroffenen, ihr Schicksal als ein größeres Leiden zu beschreiben, als es das vielleicht in Wirklichkeit gewesen war. Zwischen den Extremen der Beschönigung und der Martyrologie Geschichte zu schreiben, die Anspruch auf Objektivität erhebt, ist ein schwieriges Unterfangen. Immerhin eine positive Konsequenz hatte das Leid der türkischen und griechischen Zwangsausgesiedelten: Unter anderem wegen der negativen Erfahrungen nach dem Abkommen von Lausanne trat in Europa bis 1938 eine Pause bei gewaltsamen Bevölkerungsverschiebungen ein.
13 Vgl. zur Definition dieses Begriffs Sundhaussen, S. 35. 14 Ebd. 15 Vgl. Lemberg, Ethnische Säuberung, S. 28.
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Territoriale und ethnische Neuordnung während des Zweiten Weltkrieges und danach
Adolf Hitler war auch im Bereich der Bevölkerungspolitik ein negativer Neuerer. Zunächst wurde die von den Nationalsozialisten anvisierte ethnische und territoriale Neugestaltung Europas noch getrennt vollzogen. Beim Anschluß Österreichs und des Sudetenlandes veränderte Hitler die staatlichen Grenzen, während die ethnische Zusammensetzung der Anschlußgebiete weitgehend gleichblieb.Bei der »Heim ins Reich«-Aktion verfuhr Hitler umgekehrt. Verändert wurde die ethnische Zusammensetzung von Gebieten, in denen deutsche Minderheiten lebten, nicht jedoch die Grenzen. Grundlage für diese Politik waren, ähnlich wie zuvor 1922/23 in Lausanne, Abkommen mit den betroffenen Staaten, also Italien, den baltischen Staaten und der So\\jetunion. Weit über eine halbe Million Deutsche mußten 1939 und 1940 ihre Koffer packen und in das Deutsche Reich umsiedeln. Nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges nahm Hitler keine Rücksichten mehr. Im besetzten Polen verbanden die Nationalsozialisten erstmals die territoriale mit einer radikalen ethnischen Neuordnung. Die Grenze des deutschen Reiches wojrde in Großpolen noch weit über die ehemalige Teilungsgrenze hinweg nach Osten und Süden vorgeschoben. Bald darauf begannen die deutschen Behörden mit massenhaften Deportationen und Vertreibungen, wie sie Theodor Schieder in seiner Polendenkschrift vom 7. Oktober 1939 vorgesehen hatte. Schieder erklärte: »Die Herstellung eines geschlossenen deutschen Volksbodens in diesen Gebieten macht Bevölkerungsverschiebungen allergrößten Ausmasses notwendig.«" Heinrich Himmler ordnete dementsprechend am 30. Oktober die Deportation von 550.000 Juden und einer noch nicht näher bestimmten Zahl an Polen aus dem vom Deutschen Reich annektierten Warthegau an.'® Die Deutschen vertrieben aus dem Warthegau 1939 und 1940 etwa 450.000 Polen," hätte Himmler seine Pläne voll verwirklicht, wären es noch weit mehr gewesen. Vor diesem Schicksal bewahrte sie unter anderem die Tatsache, daß die Lieferung von Kriegsgütern Vorrang vor der sofortigen Umsetzung der Lebensraumpläne hatte.^" Hitlers Vorgehen fand eine Entsprechung in den sowjetisch okkupierten polnischen Ostgebieten. Die Rote Armee marschierte nur zweieinhalb Wo16 Erwähnt werden muß an dieser Stelle jedoch, daß aus dem Sudetenland tschechoslowakische Bürger nicht-deutscher Herkunft, bei den meisten handelte es sich um Beamte, in größerer Anzahl ausgewiesen wurden. 17 Vorläufer des Generalplans Ost, S. 87. 18 Vgl. Л/у, Endlösung, S. 65. 19 Vgl. Cz. Madajczyk, S. 251 f Zweiter Schwerpunkt von Vertreibung aus einem geschlossenen Siedlungsgebiet war die Gegend um Zamosc im heutigen Südosten Polens. Dort wurden 116.000 Menschen vertrieben. Vgl. zu der Vertreibung und Deportation von Polen durch die Nationalsozialisten auch Luczak, S. 145 f 20 Vgl. Nawrocki, S. 126.
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chen nach dem Angriff Deutschlands in dem Teil Polens ein, der ihr nach dem Hider-Stalin-Pakt zustand. Stalin strebte eine rasche So-wgetisierung der annektierten Gebiete an. Mehrere hunderttausend polnische Staatsbürger mußten im Zuge dieses Prozesses ihre Heimat verlassen. Gemäß den Akten des NKVD deporderten die sowjetischen Behörden insgesamt 330.000 Personen.^' Sie wurden in vier großen Wellen zwischen Februar 1940 und Juni 1941 nach Sibirien und Zentralasien verschleppt.^ Die sov^etischen Deportationen in Ostpolen unterschieden sich von den Vertreibungen im Warthegau aber in der Hinsicht, daß sie auf soziale und gesellschaftliche Veränderungen zielten, während die Nationalsozialisten aus nationalistischen und rassistischen Motiven heraus handelten.^^ In Ostpolen wurden Menschen deportiert, weil sie Angehörige des polnischen Staatsapparates oder Grundbesitzer waren, oder weil sie der Intelligenz angehörten. Entsprechend der sozialen Schichtung in Ostpolen waren unter den Deportierten im Verhältnis zu ihrem Bevölkerungsanteil übeφroportional viele Polen undjuden.^"* Die angestrebte Sovvjetisierung setzte die Ausschaltung der früheren gesellschaftlichen Eliten voraus und war somit mit einer Entnationalisierung bzw. Entpolonisierung verbunden. Eine Ähnlichkeit zwischen dem sowjetischen Vorgehen in Ostpolen und dem der Deutschen im Warthegau und anderen Regionen Polens bestand darin, daß auf Menschenrechte und Menschenleben wenig oder gar keine Rücksicht genommen vmrde.^^
21 Vgl. dazu Ciesiebki u.a., S. 68 u n d den Aufsatz von Gutjanow. Die in der polnischen F o r s c h u n g bis 1993 aufgestellten, aber nie in sowjetischen Archiven й Ь е ф г й Й е п Schätzungen zwischen 800.000 u n d 1,2 Millionen Deportierten m ü s s e n daher als ü b e r h ö h t angesehen w e r d e n . Vgl. diese Angaben inAlbert, S. 320; Siedlecki, S. 45 {.• Eberhardt, Polska Cranica, S. 72; Zaron, S. 132; Kersten, Repatriacja, S. 32. 22 D e r in diesem Z u s a m m e n h a n g eher gebräuchliche T e r m i n u s ist die Deportation. Dieser Begriff unterscheidet sich von der Vertreibung dadurch, daß er eine v o r ü b e r g e h e n d e Freiheitsber a u b u n g beschreibt, bei der eine Rückkehr an d e n f r ü h e r e n W o h n o r t nicht grundsätzlich ausgeschlossen ist. Deportation findet stets innerhalb des Herrschaftsbereiches eines Staates statt, in diesem Fall der Sowjetunion. 1945 w u r d e n über 250.000 deportierte Polen u n d J u d e n , die die Deportation überlebt hatten, aus Sibirien u n d Zentralasien nach Polen »repatriiert«. Somit w u r d e ihr Heimatverlust endgültig. M a n k ö n n t e sie daher auch als Vertriebene bezeichnen. N ä h e r e s dazu im dritten Kapitel in der BegriflFsdiskussion. 23 Götz Aly stellt in seinem Buch »Endlösung« folgende T h e s e auf: »Im Z u s a m m e n h a n g m i t der Angriffsplanung gegen die Sowjetunion u n d vor d e m H i n t e r g r u n d der selbstgeschaffenen >Sachzwänge< der Umsiedlungspolitik w u r d e spätestens im M ä r z 1941 beschlossen, die europäischen J u d e n nach O s t e n zu deportieren.« Л/у, E n d l ö s u n g S. 392; vgl. auch zusammenfassend S. 18-20. Alys Erklärung des Holocaust als Folge der N S - U m s i e d l u n g s p o l i t i k erscheint j e d o c h im Lichte von j ü n g e r e n u n d umfangreicher d o k u m e n t i e r t e n U n t e r s u c h u n g e n wie Dieter Pohls M o nographie zur J u d e n v e r f o l g u n g in Ostgalizien als zu linear u n d auch zu monokausal. 24 Vgl. Ciesielski u. a., S. 9; Kersten, Przemieszczenie, S. 25. 25 Die Schlußfolgerung v o n J a n Gross, »if w e measure the victimization of Polish citizens in terms of loss of life, of sufferings inflicted by forced resettlement, and of material losses through confiscation and fiscal measures, the Soviet actions, relatively speaking, w o u l d prove far m o r e
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Die Kopplung von ethnischer und territorialer Neuordnung Europas fand auch bei den Westmächten Widerhall. 1942 erarbeitete eine Expertengruppe des britischen Außenministeriums eine Expertise, in der die Abtrennung von deutschen Gebieten vorgeschlagen vmrde, die mit der Ausweisung der dort lebenden Deutschen einhergehen sollte.^'^ In die Planungen der Briten und Amerikaner ging ein in Lausanne bereits benutztes Argument ein, daß ohne eine ethnische Flurbereinigung die Sicherung des Friedens in Europa unmöglich sei. Auch die in London ansässigen Exilregierungen Polens und der Tschechoslowakei begannen, die Vertreibung von Deutschen aus ihren Ländern zu fordern. Hans Lemberg hat nachgewiesen, daß in der internationalen Politik Konsens über die Notwendigkeit von Bevölkerungsverschiebungen entstand, der in den vierziger Jahren rasch über andere Lösungsmöglichkeiten bi- oder multinationaler Konflikte dominierte.^^ Wie bereits über 20 Jahre zuvor in Lausanne herrschte die Überzeugung, daß ohne eine »Entmischung der Völker« und ohne klare ethnische Grenzen kein dauerhafter Friede in Europa hergestellt werden könne. Konsens über die Notwendigkeit einer ethnischen Neuordnung gab es auch in den Gesellschaften Mittel- und Osteuropas, die mit Deutschen oft viele Jahrhunderte zusammengelebt hatten. Tschechen und Polen waren sich nach sechs Jahren Besatzung weitgehend darüber einig, daß sie auf ihrem Staatsgebiet keine deutsche Minderheit mehr dulden wollten.^® Doch auch das Verhältnis anderer Nationen Ostmitteleuropas zueinander war derart zerrüttet, daß eine Entflechtung und Trennung der Völker vielfach als einzige Möglichkeit gesehen wurde, bestehende Konflikte zu lösen und zukünftige Auseinandersetzungen zu vermeiden. Zur gleichen Zeit, als die Alliierten auf den großen Dreimächtekonferenzen die ethnische Neuordnung Europas beschlossen, begannen verschiedene Völker außerdem auf eigene Faust mit »ethnischen Säuberungen« und der gegenseitigen Vertreibung aus gemeinsamen Siedlungsgebieten. Der Bürgerkrieg zwischen Polen und Ukrainern, auf den noch gesondert eingegangen wird, ist ein Beispiel dafür. Ziel der Kriegsführenden auf beiden Seiten war es, ethnisch einheitliche Siedlungsgebiete herzustellen. Vertreibung war also nicht nur ein international gesteuerter Prozeß, den die westdeutsche Vertriebenenliteratur vielfach den »Angloamerikanern« und Stalin angelastet hat,^ sondern wurde auch »von unten«, von den jeweiligen Völkern
injurious than those of the Nazis«, erscheint daher aus polnischer Sicht als einseitig, ausjüdischer Sicht auf keinen Fall haltbar. Gross, S. 226. 26 Vgl. Lemberg, Ethnische Säuberung, S. 33. 27 Ebd., S, 33-36. 28 Vgl. Stanek, S. 123-127; Kren, Odsun, S. 16; Sutaj, S. 82. Vgl. für Polen Dmitrów, S. 226. 29 Vgl. dazu deZayas, Die Anglo-Amerikaner und die Vertreibung der Deutschen. Alfred Maurice de Zayas Buch ist vor allem in seinem emotionalen, anklagenden Tonfall typisch für andere Vertriebenenliteratur.
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selbst betrieben.^" Die Feindseligkeit zwischen den Nationen war für die Alliierten ein willkommenes Argument, um über deren Köpfe hinweg eine ethnische Neuordnung zu rechtfertigen. Das Argument der Befriedung, das 1922/23 in Lausanne eine entscheidende Rolle gespielt hatte, wurde nun auf Mittel- und Osteuropa übertragen.
Teheran, Jaita und
Potsdam
Auf den Konferenzen von Teheran, Jaita und Potsdam legten die Alliierten die ethnische und die territoriale Neuordnung Europas fest. Schon vor dem Treffen in Teheran Ende 1943 zeigten sich Spätfolgen des Hitler-Stalin-Paktes. Auf der Außenministerkonferenz von Moskau im Oktober 1943 attackierte der stellvertretende sov^etische Außenminister Litvinov Polen als »kleine Nation«, die in ihren ethnischen Grenzen leben müsse.^' Stalin wollte also die Gebietsgewinne in Ostpolen, die Hitler der UdSSR im geheimen Zusatzprotokoll des Abkommens zugestanden hatte, nicht mehr herausgeben.^^ Er beharrte in den Verhandlungen mit den Westmächten auf einer deutlichen Korrektur der alten polnisch-sowjetischen Grenze. Somit zeigten sich schon 1943 die Folgen der von Hitler initiierten vierten Teilung Polens, die letztlich die Westverschiebung und damit die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den deutschen Ostgebieten nach sich zog. Die Westmächte konnten sich Stalins Wünschen in Ostpolen mit Blick auf die strategische und militärische Lage im Weltkrieg schwerlich verschließen. Im Osten hatte die Sovvjetunion in Stalingrad bereits die Wende des Krieges eingeleitet, während die Westmächte in Frankreich und Italien noch keine oder wenig militärische Fortschritte gemacht hatten. Entsprechend stark war die Position Stalins gegenüber den Westalliierten und den Staaten Ostmitteleuropas. Auf der Konferenz von Teheran gaben die Westmächte dem sowjetischen Druck rasch nach. Sie stimmten zu, daß die polnisch-sovvjetische Grenze entlang der Curzon-Linie verlaufen solle.^^ Wie Churchill in seinen Memoiren
30 E. H. Carr bezeichnet Vertreibung als Höhepunkt des Nationalismus, da dessen Ziel die Verwirklichung homogener Nationen war und nun tatsächlich mit allen Mitteln durchgesetzt wurde. Vgl. Carr, S. 33. 31 Vg\. Eberhardt, Cranica wschodnia, S. 109. 32 Den Expansionsdrang Stalins gilt es hervorzuheben, denn in der westdeutschen Literatur finden sich auch aus der sovqetischen Geschichtsschreibung bekannte Fehlbewertungen; »Der Sowjetunion ging es um die Zurückgewinnungjener ostpolnischen Gebiete, die Polen 1921 nach einem aggressiven Grenzkrieg gegen die Sowjetunion im Frieden von Riga zugesprochen bekommen hatte«. Zitiert aus von der Brelie-Lewien, S. 95. 33 Analog zu den Unklarheiten, welche Neiße, die Glatzer oder die Lausitzer, einmal die neue Ostgrenze Deutschlands markieren sollte, wurde in Teheran nicht festgelegt, ob die westlich oder östlich von Lemberg verlaufende Variante der Curzon-Linie die polnische Ostgrenze bilden sollte,
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schrieb, war ihm und dem US-Präsidenten Roosevelt in Teheran klar, »daß drei bis vier Millionen Polen, die auf der falschen Seite der Linie lebten, nach Westen gebracht werden müssen«.^'* Außerdem wurde grundsätzlich beschlossen, daß Deutschland im Osten Territorien abtreten werde. Deutsche sollten diese Gebiete verlassen, außerdem sollten auch deutsche Minderheiten aus verschiedenen Ländern Ostmittel- und Südosteuropas ausgewiesen werden. In Teheran triumphierte also ein Prinzip, das Hitler 1939 in die internationale Politik eingebracht hatte: Die territoriale wurde mit einer ethnischen Neuordnung gekoppelt, staatliche Grenzen sollten mit nationalen übereinstimmen. Explizit wurde in Teheran ein Junktim zwischen der Vertreibung von Polen und Deutschen hergestellt. Unklar blieb lediglich noch der Umfang der Bevölkerungsverschiebungen. Mit den Zugeständnissen an Stalin in der Frage der ostpolnischen Grenze wurde gleichzeitig das Recht des Stärkeren bei der Neuordnung Europas zugelassen. Bevölkerungsverschiebungen, die allein den imperialen Ambitionen der Sowjetunion dienten, vmrden von den Westallierten über den Kopf ihres Verbündeten Polen hinweg sanktioniert.Anfang Januar 1944 schuf die So•wgetunion bereits Fakten. Die Rote Armee begann nach dem Überschreiten der früheren polnische Ostgrenze mit dem Aufbau einer sov^etischen Verwaltung in den polnischen Ostgebieten. Ihre Politik war nun nicht mehr primär gesellschaftspolitischen Zielsetzungen unterworfen, sondern eindeutig antipolnisch und auch bereits entpolonisierend. Erneut begannen Deportationen. Gleichzeitig spitzte sich auch das Vorgehen des ukrainischen Untergrundes gegen Polen zu. Die Ukrainische Aufständischenarmee (Ukrajinska Powstanska Armija, kurz UPA) sah die Polen als Hindernis für die Errichtung eines ukrainischen Nationalstaates und begann mit deren flächendeckender Vertreibung. Uber den endgültigen Verlauf der sowjetisch-polnischen Grenze und damit den Umfang der Bevölkerungsverschiebungen entschieden die Alliierten bereits im Vorfeld der Konferenz von Jaita. Anfang 1944, also direkt nach dem Einmarsch der Roten Armee in Ostpolen, beharrte Stalin in einem Briefwechsel mit Churchill darauf, daß Lemberg sowjetisch werden solle. Churchill antwortete, daß Polen dann ein so großes Gebiet bis an die Oder erhalten solle, wie es seine Regierung wünsche.^'' Als ein halbes Jahr später, also im August 1944, immer deutlicher wurde, daß Lemberg für Polen verloren war, meldete die polnische Exilregierung erstmals Ansprüche auf Breslau und Stettin an. Diese Ansprüche waren dann auch Gegenstand von Verhandlungen mit Stalin, der somit bezüglich der polnischen und der deutschen Ostgrenze bereits das ent34 Churchill, S. 648. 35 Vgl. Davies, God's playground, S. 509. 36 Vgl. Eberhardt, Cranica wschodnia, S. 160.
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scheidende Wort hatte. Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß 1944 die Westverschiebung Polens ungeahnte Ausmaße annahm. Der Verlust von Lemberg, einem der großen historischen und kulturellen Zentren Polens, hatte den Verlust von Breslau für Deutschland zur Folge. Die Amerikaner und die Briten erkannten bereits 1944 die Gefahr, die in einer solch umfassenden Westverschiebung Polens lag. Sie befürchteten Bevölkerungsverschiebungen von unbeherrschbarem Ausmaß und deutsche Revanchegelüste gegen Polen. Eine ev^^ige Feindschaft zwischen Deutschland und Polen lag durchaus im Kalkül von Stalin, der hoffte, Polen damit auf Dauer außenpolitisch an sich binden zu können. Auf der Konferenz von Jaita Verden die Beschlüsse zur polnisch-sov^jetischen Grenze bestätigt. Insgesamt erlitt Polen einen Gebietsverlust von 179.000 Quadratkilometern, also fast der Hälfte des ehemaligen Staatsgebietes. Der Umfang der polnischen Verluste hatte Auswirkungen auf Deutschland, denn zumindest auf dem Papier war Polen ein Verbündeter der Alliierten und durfte nicht vollkommen düpiert werden. Die weite Verschiebung der Grenze im Osten mußte also eine große Veränderung der polnischen Grenze im Westen zur Folge haben. Da es im Laufe des Krieges zum Ziel aller Alliierten geworden war, für eine möglichst weitgehende Ubereinstimmung staatlicher und ethnischer Grenzen zu sorgen, war es Anfang 1945 bereits klar, daß erheblich mehr Polen und mehr Deutsche von einem »Bevölkerungstransfer« betroffen sein vmrden, als zunächst geplant. Außerdem v^oirde Europa zvwschen den Alliierten in Einflußsphären aufgeteilt, die in etwa den militärischen Fronten entsprachen. Die SoA^jetunion als bestimmende Macht in Ostmitteleuropa konnte von nun an den Verlauf der staatlichen und ethnischen Grenzen auch ohne Beteiligung der Westmächte beeinflussen. Allerdings wurde die sov^getische Hegemonie vorerst noch von einer gemeinsamen imperialen Ordnung der Großmächte überdeckt, die einschneidende politische Veränderungen in Ostmitteleuropa zusammen beschlossen. Betreffend Polen und seiner Grenzen handelten nicht nur die Sov^etunion, sondern auch die Westmächte gegen ausdrückliche vorherige Beschlüsse der polnischen Exilregierung, die bei der Entscheidung über die Grenzen im Kreis der drei Großmächte nicht einmal zugelassen vrarde.^® Die Alliierten hatten in Jaita wichtige Details der territorialen Neuordnung Europas offengelassen. Sie hatten nicht ausdrücklich festgelegt, ob die deutschpolnische Grenze an der Glatzer oder an der Görlitzer Neiße verlaufen sollte. Infolgedessen fand ein neues Prinzip ethnisch-territorialer Neuordnung Eingang in die internationale Politik: Bevölkerung wurde massenhaft vertrieben, um eine spätere territoriale Zuordnung vorzubereiten. Dieses Handlungsmu37 Vgl. Lemberg, Ethnische Säuberung, S. 34; Eberhardt, Cranica wschodnia, S. 184-187. 38 Vgl. dizu Eberhardt, Cranica wschodnia, S. 188.
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Westverschiebung Polens 1945
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Ehemalige polnische Ostgebiete Eheníialige deutsche Ostgebiete
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ster zeichnete sich ansatzweise bereits im polnisch-ukrainischen Bürgerkrieg seit 1944 ab. Polen wurden wild vertrieben, um für einen späteren ukrainischen Nationalstaat bzw. eine großukrainische Sovvjetrepublik Voraussetzungen zu schaffen. Das politische Kalkül dabei war simpel: Wenn die ethnische Zusammensetzung eines bestimmten Gebietes nicht oder kaum mehr von Polen geprägt wurde, war es auf internationaler Ebene leichter, mit völkischen Argumenten eine Einverleibung dieses Gebietes in einen ukrainischen Staat bzw. die Sov^getunion zu fordern. Massenhafte Anwendung fand das Prinzip der präventiven Bevölkerungsverschiebungen dann in den deutschen Ostgebieten. Dort wurde bis Sommer 1945 überstürzt, »wild« vertrieben, um in Hinblick auf eine territoriale Neuordnung Europas bzw. eine allgemein erwartete Friedenskonferenz ein fait accompli zu schaffen.'' Diese Politik der vollendeten Fakten war von großer Eile geprägt. Rasche, rücksichtslose Bevölkerungsverschiebungen hatten nun Vorrang vor einem geplanten, organisierten Vorgehen. Die Vertreibung der Polen aus ihren Ostgebieten sollte in nur wenigen Monaten geschehen. Eine Abmachung des Polnischen Komitees der Nationalen Befreiung in Lublin mit der Ukrainischen SSR sah vor, die sogenannte »Evakuierung« der Ostpolen bis zum 1. Februar 1945 abzuschließen. Die Vertreibung aus dem Gebiet der Litauischen SSR sollte ursprünglich in nur vier Monaten, vom 1. Dezember 1944 bis zum 1. April 1945, durchgeführt werden.''® Später mußten diese Termine mehrfach verlängert werden, weil sie unrealistisch waren. Im Mai 1945 begannen auch in den deutschen Ostgebieten die sogenannten »wilden« Vertreibungen. Hunderttausende von Menschen vrarden aus den der Oder und der Görlitzer Neiße angrenzenden Gebieten vertrieben, um eine spätere Grenzziehung an beiden Flüssen zu präformieren. Analog zur Vertreibung beschloß der polnische Ministerrat, den polnischen Bevölkerungsanteil in den deutschen Ostgebieten möglichst rasch zu erhöhen. In einer Beschlußvorlage vom Mai 1945 heißt es, daß die Wiederbesiedlung der polnischen Westgebiete schnell geschehen müsse, »ohne die Aufmerksamkeit auf die unter diesen Bedingungen unvermeidbaren Mißstände und Fehler zu lenken«. Diese Politik, so hieß es, sei »diktiert durch die Staatsraison«.'" Damit war gemeint, daß Polen bis zur nächsten Konferenz der Alliierten oder einer allgemeinen Friedenskonferenz die Bevölkerungszusammensetzung der deutschen Ostgebiete so verändern wollte, daß sich polnische Ansprüche auf diese Gebiete mit ethnischen Argumenten bekräftigen ließen. Ganz im Sinne dieser Politik behauptete Stalin auf der Potsdamer Konferenz, daß östlich der Oder und Neiße
39 Vgl. dazu auch Marczak, S. 74. 40 Vgl. Banasiak, Panstwowy Urz^d, S. 338 ff. 41 Erläutert wurde dies im Anhang des Ministerratsbeschlusses, siehe Archiwum Akt Nowych (AAN), Ministerstwo Ziem Odzysbnych ( M Z O ) , sygn. 1658, Bll. 11-24.
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kein.e Deutschen mehr vorhanden seien, sondern nur noch Рокп."·^ Die Politik der vollendeten Fakten in den deutschen Ostgebieten betrafjedoch nicht nur deutsche Vertriebene, die je nach Bedarf über Nacht aus ihren Häusern gejagt wurden, sondern auch die polnischen Vertriebenen, die rücksichtslos und weitgehend beliebig in die deutschen Ostgebiete verfrachtet woirden, um dort den polnischen Bevölkerungsanteil zu erhöhen. Als die Alliierten in Potsdam zu ihrer nächsten Konferenz zusammentraten, waren Polen und Deutsche aus den jeweiligen Ostgebieten bereits massenhaft in Bewegung. Aus den polnischen Ostgebieten war bis Mitte 1945 etwa ein Viertel der sogenannten polnischen »Repatrianten« vertrieben worden. Sie waren entweder schon in den deutschen Ostgebieten angekommen oder befanden sich auf dem Weg dorthin.''^ In die SBZ kamen bis zum Sommer 1945 zwei bis zweieinhalb Millionen deutsche Flüchtlinge und »wild« Vertriebene."'^ In Potsdam wurde also nicht die Vertreibung an sich beschlossen, da diese schon längst massenhaft in Gang gekommen war. Die Alliierten wollten vor allem die Bevölkerungsverschiebungen unter Kontrolle bringen und organisieren. In diesem Sinne ist auch die im Paragraphen XIII des Potsdamer Protokolls enthaltene Aufforderung an die Vertreiberstaaten zu verstehen, »daß inzwischen weitere Ausweisungen einzustellen sind«.·*' Der Paragraph enthielt auch einen Passus, daß der »Transfer« der Bevölkerung ordnungsgemäß und human durchzufuhren sei, eine implizite Kritik an der Praxis der wilden Vertreibungen. Der Versuch, die Bevölkerungsverschiebungen zu kontrollieren und zu organisieren, brachte es mit sich, daß die Vertreibung der Deutschen aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn im Potsdamer Abkommen erstmals auf internationaler Ebene kodifiziert wurde.'*' Endgültig regelten die Alliierten in Potsdam auch die ethnisch-territoriale Neuordnung Ostmitteleuropas. Neben dem bereits erwähnten Beschluß zum »Transfer« der deutschen Bevölkerung aus der Tschechoslowakei, Polen und Ungarn legten die Alliierten die OderNeiße-Linie mit der Görlitzer Neiße als künftige deutsch-polnische Verwaltungsgrenze fest. In Potsdam v^mrde das Ziel der Alliierten, daß ethnische und staatliche Grenzen aneinander angepaßt werden, bis dahin am konsequentesten umgesetzt. In Ostmitteleuropa sollten nur noch homogene Nationalstaaten
42 Vgl. Churchill, S. 654. Diese Behauptung war falsch. Bis z u m Sommer 1946 lebten in den »Wiedergewonnenen Gebieten« mehr Deutsche als Polen. 43 Vgl. Czemiakiewkz, S. 54. Vgl. Z u m Terminus »Repatrianten« Kapitel 1.3. 44 Vgl Hoffmannu.a.,S. 12. Der Flüchtlingsbegriffwird im Kapitel 1.3. näher diskutiert. Es war bis z u m Abschluß des Potsdamer Abkommens insofern der richtige Terminus für die Ankömmlinge, als bis dahin aus der vorübergehenden Flucht noch keine endgültige Vertreibung geworden war. 45 Das Potsdamer Abkommen ist abgedruckt in: Ausgewählte D o k u m e n t e zur Deutschlandfrage 1943 bis 1949, Berlin 1971, S. 55-73. 46 Nicht geregelt wurde hingegen die Vertreibung der Deutschen aus anderen europäischen Ländern wie Z.B.Jugoslawien.
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existieren.'·^ Diese Idee fand bald auch außerhalb Europas die ersten Anhänger. Der pakistanische Staatsgründer Mohammad Ali Jinnah forderte und bekam einen eigenen Staat für die Muslime in Britisch-Indien.''^ Die Teilung der Kolonie setzte 1947 eine Welle von Flucht und Vertreibung in Gang, die mehr als 12 Millionen Menschen erfaßte und bis zu einer Million das Leben kostete.'^' Die ethnisch-territoriale Neuordnung Europas während des Zweiten Weltkrieges und danach, die mit dem Potsdamer Abkommen abgeschlossen wurde, war ein gewaltiger Einschnitt in der Geschichte Polens und Deutschlands. Beide Länder verloren in der Folge dieses international gesteuerten Prozesses ihre Ostgebiete. Für Deutschland bedeutete dies einen Verlust von gut einem Viertel des Staatsgebietes von 1937. Polen verlor im Osten fast die Hälfte seines Territoriums von 1939. Im Westen wurde es zwar mit deutschen Gebieten kompensiert, aber Polen schrumpfte unter dem Strich ähnlich wie Deutschland um ein Viertel seiner Fläche. Deutschland und Polen waren die beiden Staaten Europas, die nicht nur von der territorialen, sondern auch der ethnischen Neuordnung Europas am stärksten betroffen waren. In Deutschland trafen bis 1948 11,7 Millionen Vertriebene ein, wovon 8 Millionen aus den ehemaligen Ostgebieten des Deutschen Reiches und 3,6 Millionen aus den übrigen Siedlungsgebieten der Deutschen in Ostmittel- und Südosteuropa stammten. In Westdeutschland stellten die Vertriebenen 195016,5% der Bevölkerung, in der SBZ/DDR 24,2%,^° wobei der Vertriebenenanteil regional sehr verschieden war. Aus den ehemaligen polnischen Ostgebieten und der Deportation in Sibirien und Zentralasien kamen bis 1948 mindestens 2,1 Millionen
47 Eine A u s n a h m e von dieser Regel stellten die Sorben dar, die bei Deutschland verblieben. Die politische F ü h r u n g der Sorben h o f f t e 1945 vergebens auf d e n Anschluß an die Tschechoslowakei, später auch auf eine Unabhängigkeit. Vgl. dazu »A M e m o r a n d u m of a Small N a t i o n of Lusatian Serbes Living u n d e r the Oppression of the Germans«, Budysin (Bautzen), 10.7.1945 [ M e m o r a n d u m des Sorbischen Nationalrats an die Öffentlichkeit in Europa u n d Amerika] ; »A M e m o r a n d u m Submitted by the Lusatian Sorbs (Wends) to the C o n f e r e n c e of the F o u r Foreign Ministers in Moscow«, Budysin (Bautzen), M a r c h 1947 [ M e m o r a n d u m der D o m o w i n a an die vier Siegermächte]; siehe auch Kaplan, Pravda о Ceskoslovensku, S. 76-84-,Jahn, Vertriebene in der Lausitz, S. 262. Eine weitere große M i n d e r h e i t stellten die U k r a i n e r in Polen dar, deren Siedlungsgebiet aber v o n 1945 bis 1947 mittels Vertreibungen u n d Deportationen modo soviético gewaltsam aufgelöst w u r d e . 48 Pakistan bot zwar schließlich nicht allen M u s l i m e n Indiens eine Heimstatt, entwickelte sich aber zu einem weitgehend h o m o g e n e n muslimischen Staat. Jinnahs Zwei-Staaten-Theorie, w o nach die indischen M u s l i m e einen eigenen Staat b e k o m m e n sollten, war eine Adaption des westlichen Nationalstaatskonzepts, das gegen Gandhis u n d N e h r u s Ideal eines multikulturellen u n d multireligiösen Indien gerichtet war. 49 Vgl. zu den Zahlenangaben Talbot, S. 12 u n d 154. Vgl. z u m Ablauf der Bevölkerungsverschiebungen zwischen Indien u n d Pakistan T h e J o u r n e y to Pakistan (eine D o k u m e n t a t i o n pakistanischer Verwaltungsakten); Talbot, S. 175-186 (hier w e r d e n Augenzeugen zitiert) u n d ebd., S. 107-145 (zur Bewältigung der Vertreibung in der Literatur). Vgl. auch Schofield, S. 119-164. 50 Alle Zahlenangaben nach Reichling, Die Heimatvertriebenen, S. 14 f u n d 23.
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Vertriebene nach Polen.^' Sie stellten knapp 10% der Gesamtbevölkerung. Die polnischen Vertriebenen wurden bevorzugt in den ehemals deutschen Ostgebieten angesiedelt. Dort machten sie mit 26,6% einen ähnlichen Anteil wie die Vertriebenen in der SBZ/DDR aus."
Rechtliche Grundlagen für die Vertreibung von Deutschen
und Polen
Obwohl Polen und Deutschland Objekte im Rahmen ein und desselben, international gesteuerten Prozesses waren, bestanden in der Behandlung beider Länder zahlreiche Differenzen, die aus ihrer unterschiedlichen internationalen Stellung hervorgingen. Dies betraf insbesondere die Abtrennung der Ostgebiete. Das PKWN, also die Vorgängerin der moskautreuen Regierung Polens, stimmte 1944 dem Verlust der Ostgebiete in sogenannten Evakuierungsverträgen mit den weißrussischen, ukrainischen und litauischen Sowjetrepubliken zu.^^ Allerdings waren weder das PKWN noch die am I.Januar 1945 neu gebildete polnische Regierung gleichberechtigte Vertragspartner Stalins. Sie konnten allenfalls die Rolle eines Bittstellers spielen.^ Polen war zwar kein nomineller, aber ein faktischer Verlierer des Krieges und wurde von den Alliierten bezüglich seiner Ostgrenze mehrfach vor vollendete Tatsachen gestellt. Die strategische Lage Polens sah zwischen den Konferenzen von Jaita und Potsdam fatal aus: Über die Verluste im Osten war bereits endgültig entschieden, über den Umfang des Zuwachses im Westen noch nicht." Wie der polnische Völkerrechtler Artur Hajnicz feststellt, verdeutlicht Jaita, daß Polen ähnlich wie
51 Genaue Angaben über die Zahl der polnischen Vertriebenen sind sehr schwer zu erstellen. Die höchste Schätzung gibt Banasiak mit 2,4 Millionen »Repatrianten« an, wovon sich 949.529 als ländhche und 912.309 als städtische Siedler in den polnischen Westgebieten niedergelassen hätten. Vgl. Banasiak, Settlement, S. 148 f. Gemäß der offiziellen Vertriebenenstatistik (zu den Termini mehr im Kapitel zur BegrifFsdiskussion) wurden 1944 117.211 Polen »repatriiert«, 1945 742.631, 1946 640.014, 1947 10.801 und 1948 7.325. Dies ergibt eine Gesamtzahl von 1.517.982 Repatrianten. Vgl. Czemiakiewicz, S. 54. Zu dieser offiziellen Statistik müssen jedoch mindestens 600.000 Polen aus den Ostgebieten dazugerechnet werden, die auf eigene Faust flohen, aus Angst vor Verfolgung ihre Identität verheimlichten oder von der Zwangsarbeit in Deutschland zurückkehrten. Somit ergibt sich eine geschätzte Gesamtzahl von mindestens 2,1 Millionen. 52 Die Zahl von 26,6% wurde anhand der Bevölkerungsstatistik vom 31. Dezember 1948 errechnet. Vgl. Osfkowski, S. 53 f 53 Die Repatriierungsverträge sind einsehbar im Bestand Hauptbevollmächtigter der polnischen Regierung für Repatriierungsangelegenheiten (Generalny Pelnomocnik Rz^du RP do Spraw RepatriacjiwWarszawne,kurzGPRzd/sRepatr.),sygn. Ι,ΒΙΙ. 19-21 undAAN,GPRzd/sRepatr., sygn. 1, Bll. 28-37. Der Vertrag zwischen Polen und der Ukrainischen SSR ist auf ukrainisch veröffentlicht in: Ukrajinska RSR u miznarodnych vidosynach, S. 193-199. Fraglich bleibt, ob das PKWN 1944 diese Verträge überhaupt hätte abschließen dürfen, da damals die rechtmäßige polnische Regierung im Londoner Exil amtierte. 54 Vgl. Czubinski, Przesuniçcie granic, S. 196, 201 und 203; Eberhardt, Granica wschodnia, S. 154. 55 Vgl. Marczak, S. 72.
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Deutschland Objekt und nicht Subjekt der Vertreibung und der ethnisch-territorialen N e u o r d n u n g Europas war.^^ Die untergeordnete Rolle, die Stalin d e m westlichen Nachbarland zugedacht hatte, wird auch aus d e m bilateralen Verhältnis der Sowjetunion und Polens deutlich. In den Evakuierungsverträgen wurde die Verschiebung der polnischen Bevölkerung aus den ehemaligen Ostgebieten auf das polnische Nachkriegsterritorium geregelt. Das PKWN schloß die Verträge jedoch nicht mit der Sov^jetunion, sondern mit den ihr nachgeordneten litauischen, weißrussischen u n d ukrainischen Sowjetrepubliken. Im diplomatischen System Stalins wurde Polen 1944 also auf den Status einer Sov^jetrepublik herabgestuft. Lediglich in Einzelfällen gelang es Polen, der Sov^jetunion Zugeständnisse abzuringen. Beispiele dafür sind die Grenzkorrekturen im Gebiet u m Suwalki, das an Litauen angrenzt, und u m Bialowieza, das an der Grenze zu Weißrußland liegt. Indes demonstrieren diese kleinen polnischen Erfolge einen fundamentalen Unterschied in den Positionen Polens und Deutschlands. Immerhin besaß Polen eine halbsouveräne Regierung. Das Deutsche Reich wurde dagegen zerschlagen, in vier Besatzungszonen aufgeteilt und konnte im Unterschied zu Polen zu keinen Verträgen über Grenzen oder Umsiedlungen genötigt werden, aber auch nicht dazu Stellung nehmen. Das geteilte Deutschland verlor seine Ostgebiete nach d e m Potsdamer A b k o m m e n defacto mit der Vertreibung eines Großteils der dort ansässigen Staatsbevölkerung." Die im Vergleich zu Polen ungünstigere Lage Deutschlands spiegelte sich auch in den Verträgen, in denen die Vertreibung geregelt wurde. Die Vorschriften für die Vertreibung von Polen waren wesentlich konkreter und großzügiger als im Falle der Deutschen. Im Potsdamer A b k o m m e n wurde lediglich pauschal eine h u m a n e u n d ordnungsgemäße D u r c h f ü h r u n g verlangt. D e r e n U m s e t z u n g blieb jedoch den im Paragraphen XIII genannten Staaten Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei überlassen, die damit auch für die Art und Weise der Vertreibung verantwortlich waren. Die Deutschen durften ein bis zwei Gepäckstücke mit einer Gewichtsbegrenzung zwischen 20 und 60 Kilogramm ausführen. Eine Richdinie der polnischen Regierung zur Aussiedlung v o m 15. Januar 1946 bestimmte 40 Kilogramm Gepäck als Obergrenze.^® Die mehrfache Änderung dieser Richtlinien zwischen 1945 und 1950 zeigt jedoch, daß die Definition von »human« und »ordnungsgemäß« willkürlich war und erst recht die Ausführung. Das P K W N hatte beim Abschluß der Verträge über die Evakuierung, so nannte man die Vertreibung der Polen ursprünglich, weitgehende Ziele. Es war zu56 Hajnicz, S. 16. 57 Dies ist ein historischer Grund, warum die ehemals deutschen Ostgebiete in dieser Arbeit als polnische Westgebiete bezeichnet werden, obwohl sie formell nur unter polnischer Verwaltung standen. 58 Mte/îfee, Wysiedlenie, S. 107.
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nächst vorgesehen, ganze Dörfer oder Teile von Ortschaften aus Ostpolen in die ehemaligen deutschen Ostgebiete zu verpflanzen. In diesem Sinne durften polnische Vertriebene, w e n n sie vom Land stammten, Vieh und pro Familie 2 Tonnen Gepäck mitnehmen, die Städter eine Tonne.^' Die sowjetischen Behörden waren verpflichtet, den Vertriebenen ausreichend Lebensmittel bis zu ihrer Ankunft mitzugeben. In den Verträgen zur Evakuierung war darüber hinaus festgelegt, daß alle Betroffenen Anspruch auf Entschädigung im U m f a n g des Eigentums hatten, das sie zurückließen.® Davon ausgenommen war lediglich Land, dessen Erstattung im R a h m e n eines Gesetzes zur Landreform angekündigt vmrde. Ein relativer »Vorteil« der polnischen Vertriebenen bestand darin, daß es einen Hauptbevollmächtigten der polnischen Regierung für Repatriierungsangelegenheiten''' mit einem bis in die einzelnen Vertreibungsregionen hinab gegliederten Apparat gab. Aus den Aktenbeständen dieses Hauptbevollmächtigten stammen auch die schon mehrfach zitierten Verträge. Laut Vertrag hatte er das Recht, in einer gemeinsamen so\^getisch-polnischen Kommission für polnische Vertriebene zu intervenieren. Allerdings wies die Sovvjetunion Forderungen von polnischer Seite nach einem generellen Interventionsrecht der polnischen Mitglieder dieser Kommission zurück, da es sich u m »innere Angelegenheiten der UdSSR« handle. Die Sowjetunion lehnte auch die Ernenn u n g von gemischten Kommissionen für die einzelnen Regionen, aus denen »evakuiert« v^airde, ab.^^ Diese Beispiele zeigen, daß die Evakuierungsverträge zwar einen zweiseitig kontrollierten Prozeß vorsahen, aber von der So\\jetunion nach ihrem G u t d ü n k e n iπteφretiert wurden. Ein Passus in den Verträgen, der zu den meisten Fehlschlüssen über die Vertreibung der Polen führte, besagt, daß die »Evakuierung« nach Polen »freiwillig« sei." Diese Freiwilligkeit war jedoch weitgehend fiktiv. Die große M e h r heit der polnischen Vertriebenen verließ ihre Heimat unter mittelbarem oder unmittelbarem Zwang. Mehrere Hunderttausend waren vor dem ukrainischpolnischen Bürgerkrieg geflohen bzw. von Ukrainern vertrieben worden. Viele Polen sahen nach den Erfahrungen mit der sov^etischen Besatzung von 1939 bis 1941, die Kollektivierung, Massendeportation und den N K V D in das Land gebracht hatte, keine Z u k u n f t mehr in ihrer Heimat. Wer bleiben wollte, m u ß te außerdem die sowjetische Staatsbürgerschaft annehmen. Für die Ostpolen,
59 AAN, GP Rz d/s Repatr., sygn, 1, Bl. 19 und Bl. 33; vgl. auch Zygutski, Repatrianci, S. 20. 60 AAN, GP Rz d/s Repatr., sygn. 1, Bll. 20 f. und Bll. 33 f. 61 Auf den Gebrauch und das Verständnis des Begriffs Repatriierung wird im Kapitel zur Begriffsdiskussion näher eingegangen. Für den Moment soll die Information genügen, daß die Evakuierung seit 1945 als Repatriierung bezeichnet wurde, beide Begriffe aber amtlicherseits den gleichen Vorgang, die Vertreibung der Ostpolen, beschreiben sollten. 62 Vgl. einen Tätigkeitsbericht der polnischen Delegation vom 3. Januar 1946 in AAN, G P Rz d/s Repatr., sygn. 4, Bl. 4. 63 AAN, G P Rz d/s Repatr., sygn. 1, Bl. 19 und Bl. 28.
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die trotzdem darauf beharrten, in ihrer Heimat zu bleiben, enthielten die Evakuierungsverträge Paragraphen, die wenig Alternativen zu einer »freiwilligen« Ausreise ließen. So sahen beispielsweise die Ausführungsbestimmungen zum Evakuierungsvertrag zwischen Polen und der Ukrainischen SSR vor, daß die Schulden der polnischen Bauern in Form von Naturalien, Steuern oder Zahlungen an die berufsgenossenschaftliche Versicherung im Falle einer Ausreise gestrichen Verden." Dieser Passus bedeutete somit gleichzeitig, daß Ostpolen, die blieben, vor dem wirtschaftlichen Ruin standen. Die wenigen Polen, die in den Städten ausharrten, wurden bei Lebensmittelzuteilungen übergangen oder von der Polizei und vom NKVD solange bedroht, bis auch sie sich zur Ausreise entschlossen.'^ Allerdings muß ergänzt werden, daß in Polen ansässige Litauer, Weißrussen und allen voran die Ukrainer ebenfalls den Evakuierungsverträgen unterlagen. Die Verträge waren zweiseitig, d.h. auch die östlichen Nachbarn sollten, wenn sie auf dem Territorium Polens ansässig waren, »freiwillig« ihre Heimat verlassen. De facto zweiseitig waren die Verträge nur im Falle der Ukrainer, die in größerer Anzahl von der Evakuierung - in diesem Fall also gen Osten - betroffen waren. 482.000 Ukrainer beugten sich dem Vertreibungsdruck und verließen das Gebiet der Volksrepublik Polen 1945 und 1946.« 140.000 Ukrainer, die blieben, wurden im Rahmen der sogenannten »Akcja Wisla« zwischen April und Juli 1947 in die polnischen Westgebiete deportiert, bis 1950 stieg die Zahl der Deportierten noch auf 150.000.*^^ Vertreibung hatte somit für Polen zweierlei Dimensionen: Z u m einen waren polnische Bürger nach den Deutschen am häufigsten von Vertreibung betroffen, zum anderen war jedoch Polen ein Vertreiberstaat, der Minderheiten entweder aus dem Land entfernen oder alternativ dazu assimilieren wollte. Das ungeheure Projekt, aus Polen einen einheitlichen Nationalstaat zu machen, nährte sich aus mehrere Erfahrungen. Die Zwischenkriegsrepublik war unter anderem wegen ihrer zahlreichen Minderheiten, allen voran den Ukrainern und den Deutschen, instabil geblieben - zumindest sahen dies die Zeitge-
64 AAN, GP Rz d/s Repatr., sygn. 1, Bl. 30. 65 Vgl. dazu das Tagebuch von Gansiniec, S. 10 und 22. 66 Diese Zahl wird in einem Abschlußbericht des Innenministeriums der UdSSR vom 31. Oktober 1946 über die Umsiedlung von Ukrainern, Weißrussen und Litauern in die jeweiligen Sovqetrepubliken genannt. Vgl. Rossijski Centr Chranenija i Sucenija Dokumentov Novejsej Istorii (Das russische Zentrum für die Aufbewahrung und Erforschung von Dokumenten der neuesten Zeit, kurz RCChiDNI), Font 17, op. 121, Techsekratriat Org.Büro, SK VKP (b), Delo 545, Ell. 47-51, hier 81. 47. Z u beachten ist bei dieser Zahl, daß sie wie im Falle der Polen nur die amtlich registerierten »Umsiedler« erfaßt, nicht aber die auf eigene Faust geflohenen. Diese Schlüsselquelle wurde von Jochen Laufer vom Zentrum für zeithistorische Forschung in Potsdam im Archiv gefunden und freundlicherweise fur diese Arbeit zur Verfügung gestellt. Vgl. zur Vertreibung von Ukrainern auch Czech, S. 4; Torzecki, Polacy i Ukraiñcy, S. 300 f 67 Vgl. Chojnomka, S. 58; Torzecki, Polacy i Ukraiñcy, S. 302, Lukaszów, S. 188; Czech, S. 4.
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nossen so. Während des Krieges verschlechterten sich die Beziehungen zu sämtlichen Nachbarnationen und den Minderheiten weiter.'® Sie gingen in das kollektive Gedächtnis vielleicht mit Ausnahme der Tschechen und Slowaken als Konkurrenten oder Feinde ein.® Wie Krystyna Kersten in einer Analyse der Schriften führender polnischer Kommunisten festgestellt hat, wurde im Verlauf des Krieges »Nation zu dem am häufigsten gebrauchten Wort, das alle anderen mit gesellschafdichem oder klassenhaftem Hintergrund verdrängte«.™ 1943 u n d 1944 entwickelte die Polnische Arbeiterpartei (Polska Partia Robotnicza, kurz PPR) erstmals Pläne, daß Polen ein Nationalstaat mit ethnischen Grenzen sein solle." Die Kommunisten standen mit dieser Konzeption keineswegs allein. Auch für die bürgerlichen Parteien war ein einheidicher Nationalstaat das Ziel, allerdings wurden sie rasch vom Nationalismus der regierenden Linken übertönt. Es war deren erklärtes Ziel, wie es Bierut, G o m u l ka und andere mehrfach sagten, einen »monolithischen« (polnisch jednolity) Nationalstaat zu schaffen. Dieses Adjektiv verrät bei genauer Betrachtung ebensoviel über polnische Ängste wie über die damaligen politischen Ziele der Regierung. Der Wortwahl gemäß wollte das neue, sozialistische Polen aus ein e m Fels gehauen, stark und standhaft sein. Wie sich die Utopie eines h o m o genen Nationalstaats u n d einer homogenen polnischen Nation auf die polnische Gesellschaft, darunter die Vertriebenen, u n d die Politik auswirkte, wird in dieser Studie noch darzustellen sein. Die Situation der deutschen Bevölkerung in den Vertreibungsgebieten war nicht n u r rechtlich, sondern auch faktisch schlechter als die der polnischen Vertriebenen. Die im Osten verbliebenen Deutschen waren nach d e m Potsdam e r A b k o m m e n exterritoriale Angehörige eines f r e m d e n Landes, das den Krieg begonnen und verloren hatte. Sie waren ohne Schutz, Rechte und Vertretung und somit komplett der Willkür der Behörden, des Militärs und der Bevölkerung in den Vertreibungsgebieten ausgeliefert. Eine deutsche Regierung, die gegenüber Polen oder der Tschechoslowakei hätte intervenieren können, gab es nicht. Die Alliierten, die die Regierungsgewalt ausübten, reagierten in der Regel nur, w e n n beim »Transfer« der Grundsatz der Menschlichkeit schwerwiegend verletzt, also krass gegen die Bestimmungen des Potsdamer 68 Vgl. zur sozialen Entwicklung Polens Dtugohorski (Hg.), Zweiter Weltkrieg und sozialer Wandel, Göttingen 1981. 69 Obwohl Polen und Juden gemeinsam in den Konzentrationslagern saßen, erzeugte der Holocaust nur selten Solidarität zwischen ihnen, sondern häufig Konflikte, unter anderem u m das jüdische Eigentum. Sie entstanden vor allem dann, wenn Überlebende des Holocaust in ihre Häuser zurückkehren wollten, in denen sich inzwischen Polen niedergelassen hatten. 70 Vgl. Kersten, Pañstwo Narodowe, S. 473. Eine Rolle spielte in diesem Zusammenhang auch, daß die Deutschen durch die Ermordung der meisten polnischen Juden die ethnische Zusammensetzung Polens bereits so verändert hatten, daß in vielen Gebieten nur noch ethnische Polen lebten. 71 Vgl. Ciesielski, Mysi polityczna, S. 376 f.; Kersten, Pañstwo narodowe, S. 442.
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Abkommens verstoßen wurde. Doch Grundsätze und Bestimmungen galten 1945 ohnehin nicht viel. Recht und Unrecht waren nach sechs Jahren Krieg und Devastierung keine klaren oder einklagbaren Kategorien, schon gar nicht für die Angehörigen der Nation, die für den Besatzungsterror und Auschwitz verantwortlich war. Auf die Deutschen im Osten fielen die Verbrechen und Untaten zurück, die Hider, die SS, die Wehrmacht und die zivilen Besatzungsbehörden zwischen 1939 und 1945 begangen hatten. Insofern blieb die Vorschrift über eine ordnungsgemäße und humane Durchführung der Vertreibung der Deutschen ebenso eine Fiktion wie die Abmachungen in den Evakuierungsverträgen Polens mit seinen so^^jetischen Nachbarrepubliken.
1.2. Verlauf der Vertreibungen von Deutschen und Polen
Es wäre ein vergebliches Unterfangen, den Verlauf der Vertreibungen während des Zweiten Weltkrieges und danach innerhalb eines Kapitels komplett darstellen zu wollen. Allein über die Vertreibung der Deutschen existieren unzählige Veröffentlichungen, 1989 erschien eine mehrere hundert Seiten dicke Bibliographie zum Thema.^^ Trotz der Menge an Publikation ist die Vertreibung der Deutschen ein vergleichsweise wenig erforschtes Gebiet, da bis 1989 der Zugang zu den entsprechenden Akten in der Sowjetunion und in den Ostblockstaaten weitgehend gesperrt war.^^ Die westdeutschen Historiker konnten sich daher lediglich auf Aktenbestände beziehen, die den Vertreibungsvorgang aus einer Opferperspektive darstellen. In der D D R waren Forschungen zur Vertreibung mit Rücksicht auf die So\\getunion und die sozialistischen Bruderstaaten vollkommen tabu.''^ Erst ab Mitte der siebziger Jahre erschienen einzelne Arbeiten zur Geschichte der Vertriebenen. Im Zuge der Wiedervereinigung wojrde jedoch viel nachgeholt. Inzwischen sind insgesamt etwa ein Dutzend Aufsätze, Sammelbände und Quelleneditionen über die Vertriebenen in der SBZ/ D D R erschienen, die zumindest einen Einstieg in das Thema erlauben. In Polen galten zweiseitige Beschränkungen. Gemäß der Parteidoktrin betonten die Regierung und die Forschung stets, daß die »Umsiedlung« der
72 G. Krallert-Sattler: Kommentierte Bibliographie z u m Flüchtlings- u n d Vertriebenenproblem in der Bundesrepublik Deutschland, in Osterreich u n d in der Schweiz,Wien 1989. 73 Vgl. dazu Henfec.S. 137. 74 Eine b a h n b r e c h e n d e Verletzung dieses T a b u s war der R o m a n »Kindheitsmuster« v o n Christa Wolf, der 1976 erschien. Heiner Müllers D r a m a »Die Umsiedlerin« erschien zwar schon f r ü h e r , behandelt aber das Leben der Vertriebenen erst nach ihrer A n k u n f t in der D D R .
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Deutschen aus Polen human und ordnungsgemäß verlaufen sei, also den Vorschriften des Potsdamer Abkommens entsprochen habeJ^ Nicht weniger groß waren die Scheuklappen vor der Vertreibung der eigenen Landsleute. Die Rolle der Sowjetunion bei der sogenannten Repatriierung blieb ebenso tabu wie der Komplex um Katyn, wo Tausende polnischer Offiziere vom NKVD ermordet worden waren. Die Vertreibung der Polen aus den Ostgebieten wurde daher, wenn sie überhaupt thematisiert wurde, im Sinne der offiziellen Parteilinie legalistisch und euphemistisch als gelungene »Repatriierung« beschrieben^^ und in ihrem Ablauf kaum erforscht. Erst nach der politischen Wende von 1989 erschienen einige kurze Aufsätze, die sich mit der Vertreibung der Polen befassen.^ In der internationalen Forschung ist die Vertreibung der Polen deshalb noch ein weißer Fleck. In der Volksrepublik Polen waren die polnischen Vertriebenen immerhin insofern ein Thema, als die Forschung darauf ausgerichtet war, in den Westgebieten die Bildung einer homogenen und dynamischen Gesellschaft nachzuweisen.^® In zahlreichen Veröffentlichungen spielen die polnischen Vertriebenen zumindest eine Nebenrolle. Die gesellschaftliche Integration in den Westgebieten galt in den sechziger Jahren aber als weitgehend erledigt und wurde daher nur noch vereinzelt weiter erforscht. Einzelne Autoren waesen allerdings schon zu Beginn der sechziger Jahre daraufhin, daß die Gesellschaft in den Westgebieten nicht verstanden werden könne, wenn man nicht berücksichtige, daß ein großer Anteil der Bevölkerung, die sogenannten Repatrianten, nicht freiwillig nach Westen gewandert war.^' Mehrere Publikationen beschrieben auch offen die Probleme der polnischen Vertriebenen nach ihrer Ankunft in den Westgebieten. Als Quellenbasis für die Vertreibung der Polen dienen vor allem polnische Verwaltungsakten, daneben die jüngere Literatur in Polen, die in Deutschland noch kaum rezipiert wurde. Die Akten aus dem Bestand der PPR, des PUR und des Hauptbevollmächtigten für Repatriierungsangelegenheiten, also den mit der Vertreibung unmittelbar befaßten polnischen Regierungsvertretern, erwiesen sich als besonders ergiebig. Zusätzlich Verden Erinnerungen und
75 Vgl. dazu Bamsiak, Przesiedlenie Niemców, die erste in der Volksrepublik Polen erschienene Monographie zu dieser Thematik von 1968. Vgl. auch Lempmskis Monographie zur »Umsiedlung« der Deutschen. Kritisch mit der polnischen Literatur zur Vertreibung der Deutschen befaßt sich Whdzimierz Borodziej in Historiografía Polska, besonders S. 251-259. 76 Vgl. die Monographie von Czerniakiewicz, der ein später und zugleich der letzte Vertreter dieser regimenahen Sichtweise war. 77 Vgl. Misztal, Wysiedlenia i repatriacja; Borkowicz, 1945: Wypçdzeni Polacy. 78 Als typisches Beispiele dieser Art von wissenschaftlicher Literatur vgl. Dulczewski, S. 54 ff.; Markiewicz u. Rybkki, Przemiany spoleczne. 79 Vgl. Zygulski, Repatrianci, S. 11 80 Als frühe Beispiele können dienen: Nowakowski, Adaptacja ludnos'ci; Zygulski, Repatrianci; Kersten, U Podstaw. Spätere kritische Aufsätze und Monographien, die dieses Thema behandeln oder streifen, werden im Laufe dieser Studie themenbezogen zitiert.
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persönliche Aufzeichnungen genutzt. In Polen gibt es wegen des damals herrschenden Tabus keine archivalischen oder veröffentlichten Sammlungen, die mit der Dokumentation der Vertreibung vergleichbar v^^ären. Als Ersatz wurden daher zahlreiche Schilderungen von Betroffenen über die Vertreibung ausgewertet, die in bisher weitgehend unveröffentlichten Memoirensammlungen enthalten sind.®' Die Berichte der Behörden und die biographischen Aufzeichnungen, also zwei ganz unterschiedliche Quellengattungen, sollen soweit möglich ein vollständiges Bild der Vertreibung der Polen entstehen las-
Die Vertreibung der
Deutschen
Bei der Erforschung der Vertreibung der Deutschen stützte sich die Forschung in der Bundesrepublik bisher weitgehend auf die Ost-Dokumentation im Bundesarchiv Koblenz. Bis 1989 war dies vertretbar, weil andere Quellen als die systematisch erfaßten Augenzeugenberichte nicht zugänglich waren. Diese schon viel benutzte Quellenbasis erscheint jedoch deshalb als problematisch, weil die Ereignisse nur aus der Perspektive von Betroffenen geschildert werden. U m diese einseitige Quellenbasis zu ergänzen, werden in dieser Arbeit bisher unbekannte polnische Verwaltungsakten zitiert, um zumindest für die Vertreibung aus den Gebieten östlich der Oder und Neiße neue Aussagen treffen zu können. Die anderen Vertreibungsgebiete in Ostmittel- und Südosteuropa werden anhand der jüngeren Literatur behandelt, die vor allem in Tschechien in reichlichem Umfang erschienen ist.® Die benutzten polnischen Akten, die überwiegend aus den Untersuchungsgebieten stammen, sollen erklären helfen, warum die Vertreibung der Deutschen nicht wie im Postdamer Abkommen vorgeschrieben verlief und damit für so viele Betroffenen zum Trauma v ^ r d e . Z u diesem Zwecke werden auch polnische Historiker zitiert, die seit 1989 mit viel Elan begonnen haben, die Vertreibung der Deutschen zu erforschen. Die Akten in der SBZ enthalten ebenfalls Berichte, die Rückschlüsse über den Ablauf der Vertreibung gestatten. U m die damaligen Vorgänge nicht nur aus der Perspektive von Behörden wiederzugeben, greift diese Arbeit auch auf Augenzeugenberichte von deutschen Vertriebenen zurück.
81 Vgl. dazu in der Einleitung das Kapitel über Methoden und Quellen. Bei gedruckt vorliegenden Memoiren empfiehlt es sich, die Originalversion der gedruckten Ausgabe vorzuziehen. Ein Vergleich der beiden Versionen erlaubt einen Einblick in die Funktionsweisen und Ziele von Zensur im Zusammenhang mit der Vertreibung der Ostpolen. 82 In derWestukraine liegen u.a. im Regionalarchiv (Oblastni Archiv) in Lemberg umfangreiche Bestände des uyddil repatriaqjny, d.h. der Repatriierungsabteilung beim Ministerrat der Ukrainischen SSR vor, die Aufschluß über die Vertreibung aus Sicht der ukrainischen Regierung geben. 83 Vgl. zurjüngeren tschechischen Literatur über die Vertreibung der Deutschen auch Jaroslav Kuceras Überblick über die Forschung in: Ders., Ceská historiografie, S. 365-373.
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Vertreibung der Deutschen und Polen 1944-1948
) Britische > Zone
Deutsche Vertriebene Polnische Vertriebene Umsiedler aus Zentralpolen
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Die Vertreibung war ein mehrere Jahre dauernder Prozeß, der in drei Phasen unterteilt werden kann. Je nach Gebiet, aus dem vertrieben wurde, gab es auch verschiedene Formen von Vertreibung. Diese Differenzierungen sind eine Voraussetzung, um den Sammelbegriff Vertreibung transparent werden zu lassen. Nicht nur der Zeitpunkt von Flucht und Vertreibung, auch das jeweilige Herkunftsgebiet hatten Auswirkung auf das Schicksal jedes Vertriebenen. Im vorigen Kapitel wurde bereits gezeigt, daß die Vertreibung von Deutschen und Polen im selben Bezugsrahmen steht. Beide Vertreibungen waren Teil eines international, konkret von den Siegermächten gesteuerten Prozesses: der ethnisch-territorialen Neuordnung Europas. Auf der Basis der vorhandenen Literatur zur Vertreibung und der in dieser Arbeit vorgelegten Ergänzungen soll erklärt werden, warum sich die Vertreibung der Deutschen und die Vertreibung der Polen trotz aller Unterschiede bei ihrer rechtlichen Regelung auf die Betroffenen, die Aufnahmestaaten und -gesellschaften ähnlich auswirkten.
Flucht
Die Vertreibung der Deutschen kann im wesentlichen in drei Phasen, in Flucht, wilde Vertreibung und die vertraglich festgelegte Vertreibung nach dem Potsdamer Abkommen, unterteilt werden. Die Flucht setzte in den östlichsten Gebieten des Deutschen Reiches und den besonders exponierten deutschen Siedlungen in Osteuropa bereits 1944 ein. Grund war der rasche Vormarsch der Roten Armee. Wie die in der Dokumentation der Vertreibung überlieferten Augenzeugenberichte zeigen, war die Flucht von chaotischen Umständen geprägt. Erhebliche Schuld an dem Ausmaß des Chaos hatte die deutsche Regierung. Insbesondere in Ostpreußen riefen führende Nationalsozialisten zu einem hoffnungslosen Widerstand auf, verboten zunächst die Flucht und leiteten die Evakuierung viel zu spät ein.®^ Auch die verbreitete Angst vor den Russen, die durch verschiedene Greueltaten Ende 1944 neue Nahrung erhielt, trug zu dem Chaos bei.®^ Viele Menschen flüchteten in wilder Panik und im allerletzten Moment, als es schon zu spät war. Die Folge waren verstopfte Landstraßen und Züge, die häufig von russischen Truppen überrollt wurden. Viele Menschen verloren dabei ihr Hab und Gut, der harte Winter ließ die Zahl der Opfer
84 Besonders betrofFen von der Rücksichtslosigkeit der Nationalsozialisten waren die Bewohner Ostpreußens. Vgl. Dokumentation der Vertreibung, Bd. V\, S. 11E-13E. In den einzelnen Berichten wird u.a. auf S. 12, 38-47, 58, 65 und 78 auf die Evakuierung Bezug genommen. Vgl. zur chaotischen Evakuierung aus anderen Gebieten ebd., S. 365 und 372. 85 Der bekannteste Vorfall war das Massaker von Nemmersdorf, das sowjetische Soldaten im Oktober 1945 verübten. Bei dem Massaker wurden zwischen 62 und 72 Bewohner des Dorfes ermordet. Seine traurige Bekanntheit erreichte das Massaker deshalb, weil die Wehrmacht das Dorf nochmals von der Roten Armee zurückeroberte und dann die Leichen der Dorfbewohner entdeckte. Vgl. zu dem Massaker Dokumentation der Vertreibung, Bd. I/l, S. 7 f
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zusätzlich in die H ö h e schnellen. Dagegen waren die Menschen, die rechtzeitig geflohen waren, noch gut weggekommen. Sie konnten meist einen Wagen, etwas Vieh und Hausrat nach Westen retten. Anfang 1945 konnte sich unter den Flüchtlingen kaum j e m a n d vorstellen, daß die Flucht und der Abschied von der Heimat endgültig sein sollten. Auch die Einheimischen westlich der O d e r u n d Neiße gingen von einer vorübergehenden Erscheinung aus und bezeichneten die Ankömmlinge aus dem Osten eben deshalb als Flüchdinge. Viele von ihnen versuchten im Frühjahr und Sommer 1945 in ihre Heimat zurückzukehren.**® Doch im Mai und Juni 1945 sperrten polnische Einheiten den Ubergang über die O d e r und Neiße, u m eine Rückwanderung der Flüchtlinge zu vereiteln. Somit war schon in der ersten Jahreshälfte von 1945, also vor d e m Potsdamer Abkommen, die Flucht defacto endgültig. Deshalb erscheint es auch als gerechtfertigt, diese Flüchtlinge im Nachhinein als Vertriebene zu bezeichnen.®'
Wilde Vertreibung Im Gefolge der Roten Armee begannen bald die ersten Vertreibungen, die für die Zeit bis zu den Beschlüssen von Potsdam am 2. August 1945 als »wilde Vertreibung« bezeichnet werden. Wie bereits erwähnt, waren diese einerseits Bestandteil der Politik der vollendeten Fakten, andererseits auch Ausdruck von Haß, den sich Deutsche während des Krieges zugezogen hatten. Vor allem im Wmter 1944/45, als die verschiedenen Verbände der Roten Armee in Ostpreußen und Schlesien erstmals deutsches Gebiet erreichten, waren Rache und Vergeltung gang und gäbe. Auch unter den unmittelbaren Nachbarn der D e u t schen, Polen und Tschechen, entluden sich im Frühjahr 1945 die im Krieg aufgestauten Gefühle. Die F ü h r u n g der zweiten polnischen Armee gab an ihre Einheiten den Befehl, »mit den Deutschen so zu verfahren, vwe sie mit uns verfuhren«.^ Mit Befehlen wie diesen schürten das Militär u n d die Regierung den verbreiteten Haß gegen die Deutschen. Ein anderes Beispiel für politisch geförderte Exzesse war das Verhalten der tschechoslowakischen Revolutionsgarden, die aus dem ehemaligen Protektorat in die Grenzgebiete zogen und dort mit der wilden Vertreibung der Deutschen begannen.®' Besonders trau86 Eine eindrucksvolle Passage aus Werner Heiduczeks Roman Abschied von den Engeln (Halle, 1968), S. 114-123, war einer der wenigen Versuche in der DDR, vor den siebziger Jahren die Vertreibung und das nachfolgende Heimweh zu thematisieren. In der genannten Passage wird beschrieben, wie einer der Helden des Romans versuchte, nach Oberschlesien zurückzukehren. 87 Als sinnvoll erscheint dies auch deshalb, weil damit eine Verwechslung mit den Flüchtlingen aus der SBZ/DDR ausgeschlossen ist. 88 Zitiert nach Nitschke, Sytuacja, S. 37. 89 Vgl. Stanek, S. 60-85; Vgl. zur wilden Vertreibung aus Nordwestböhmen Radmnovsky, S. 48-64; vgl. zu Mähren Hraborec, S. 117-134. Vgl, aus der Sicht von Betroffenen Dokumentation der Vertreibung, Bd. IV/2, S. 404 f. und 408-410.
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matisch für die Betroffenen waren die spontanen Vertreibungen aus deutschen Siedlungsinseln. Dort wurden vielfach persönliche Rechnungen beglichen, ehemalige Nachbarn beteiligten sich an der Vertreibung. Beispiele hierzu sind die Vertreibung der Deutschen aus Brünn, Prag und Lodsch. In Polen lagen die Arbeitslager für Deutsche bzw. Vertriebene, die besonders viele Opfer forderten, wie Lamsdorf und Potulitz, auch nahe an den ehemaligen staatlichen und ethnischen Grenzen. Die Beobachtung, daß aus gemischt besiedelten Gebieten besonders rücksichtslos vertrieben wurde, korreliert mit der Situation in den Ostgebieten Polens. Auch dort war die Vertreibung in den Gegenden, in denen Polen und Ukrainer nah beieinander gelebt und sich seit dem Entstehen des modernen Nationalismus um Ressourcen, Einfluß und Macht gestritten hatten, mit einem hohen Blutzoll belastet. Deutsche und Polen, die aus ethnischen Siedlungsinseln stammten, konnten meist froh sein, wenn sie mit dem nackten Leben davonkamen. Diese Nuancen des Schreckens sind deshalb von Bedeutung, weil die Art und Weise, vwe vertrieben wurde, die weitere Geschichte der Betroffenen beeinflußte. Vom Ablauf der Vertreibung hing ab, ob ein kleiner Teil des Eigentums gerettet werden konnte - dies war bei einer späteren Existenzgründung wichtig - und ob die Betroffenen ihre Gesundheit bewahren konnten. Anders als in den ethnischen Mischgebieten war die Situation dort, wo ausschließlich Angehörige einer Nation lebten und die Grenzen weit entfernt waren. Beispiele hierfür sind das westliche Niederschlesien und Pommern. In diesen Gebieten war das spontane Element der wilden Vertreibungen weniger ausgeprägt. Im Vordergrund stand strategisches Kalkül im Hinblick auf den künftigen Verlauf der Grenzen. Ein Beispiel für eine organisierte Variante wilder Vertreibung war die Ausweisung der Deutschen aus dem Grenzstreifen an der Oder und Neiße. Auf der Sitzung des Zentralkomitees der Polnischen Arbeiterpartei am 21./22. Mai 1945 gab der Generalsekretär der Partei, Wladyslaw Gomulka, folgende Losung aus: »An der Grenze ist ein Grenzschutz aufzustellen und die Deutschen sind hinauszuwerfen. Denen, die dort sind, sind solche Bedingungen zu schaffen, daß sie nicht dableiben wollen. ... Der Grundsatz, von dem wir uns leiten lassen sollen, ist die Säuberung des Terrains von den Deutschen, der Aufbau eines Nationalstaates.«'® Von Juni bis Mitte Juli 1945 vertrieben das polnische Militär und die Miliz aus den Kreisen, die nahe an den Flüssen lagen, fast die gesamte Bevölkerung. Das von dem katholischen Pfarrer und späteren Theologieprofessor Franz Scholz verfaßte Tagebuch beschreibt die »wilde Vertreibung« im östlich der Neiße und somit heute in Polen gelegenen Teil von Görlitz: »Ist mit den katholischen Polen nun etwa ein dritter apokalyptischer Reiter angekommen? Die Bevölkerung wird vertrieben, aus den Häusern gejagt, umstellt, über die Brük90 Zit. nach Dokumenty do dziejów PRL, S. 42 f.
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ke abgeschoben. (21.-22.6.1945) Als ich früh, kurz nach 7 Uhr, vom Altar in die Sakristei komme, werde ich von vielen bleichen Gesichtern erwartet. >Herr Pfarrer, helfen Sie uns, wir müssen in zehn Minuten die Wohnung verlassen.< Auf der Götzendorfstraße und der Schenkendorffstraße (jetzt in >Ulica Warszawska< umgetauft) ist alles in Aufruhr. Vor den Haustüren stehen Kommandos der polnischen Miliz, sie rufen die Bewohner, die erst vom Schlaf erwachen, notdürftig bekleidet auf die Straße, halten sie dort fest, gestatten nicht mehr, daß jemand in seine Wohnung zurückkehrt.«"^' Ein ähnliches Schicksal erlitten insgesamt zwischen 230.000 und 300.000 Deutsche, die nahe der Neiße und der Oder lebten.'^ Organisiert war diese Form wilder Vertreibung insofern, als polnische Militäreinheiten nach einem festen Plan Ortschaft für Ortschaft von ihren Bewohnern räumten. Auf dem Weg in die SBZ, den die Vertriebenen meist zu Fuß zurücklegen mußten, waren die Vertriebenen Banden und Plünderern schutzlos ausgeliefert. Sie erreichten die Oder-Neiße-Linie fast immer ausgeraubt und ausgehungert.'^ Der Bericht über einen Rotkreuztransport aus Pommern in die SBZ vom Sommer 1945 gibt dies wieder: »Nun wiederholte sich auf jeder Haltestelle folgendes: Sobald der Zug fuhr, sprangen 12 bis 15 Polen in unseren Wagen und plünderten. Wenn der Zug hielt, sprangen sie ab und verschwanden. So wurden wir und auch die anderen Insassen der weiteren Wagen immer wieder geplündert, den ganzen Nachmittag hindurch. Der Wäschesack meiner Tochter wurde mit dem ganzen Inhalt abgeschleppt. Unser eigener Wäschesack aufgetrennt, der Inhalt durchwühlt und mitgenommen, was den Banditen paßte, das übrige auf den Fußboden geworfen und zertreten. Als das Gepäck fort war, begannen die Banditen damit, Frauen und Männern, die gute Sachen anhatten, die Mäntel, Anzüge und Kleider auszuziehen. Ein Teil der Insassen des Wagens hatte nur noch Unterkleider an.«'"* Der bereits zitierte Görlitzer Pfarrer Frank Scholz faßte die Zustände so zusammen: »Der Deutsche hat aufgehört, Rechtssubjekt zu sein. Seine Ehre, sein Leib und sein Leben und sein Eigentum stehen einem übermütigen Sieger
91 Schotz,S.5\. 92 Vgl. dazu einen Bericht an das ZK der PPR aus dem östlich der Neiße gelegenen Teilen des Kreises Görlitz und der Stadt Guben in: AAN, 295/VII/51, Nr. 2, Bl. 17. Vgl. auch Osfkowski, S. 104 f., der die Zahl der wild Vertriebenen entlang der Oder und Neiße nach den Angaben der polnischen Armee auf 230.000 bis 250.000 schätzt. Vgl. zum Ablauf der wilden Vertreibung entlang der Oder und Neiße aus der Sicht von Betroffenen Dokumentation der Vertreibung, Bd. 1/2, S. 665 f., 686, 688 f., 694 f. und 699. 93 Vgl. Bundesarchiv, Außenstelle Potsdam (BAP), D O 1-10, Nr. 11, Bl. 162. Auf das Zitieren von weiteren Berichten über Plünderungen aus der Dokumentation wird hier verzichtet, weil sie den meisten Vertriebenen widerfuhren. 94 Dokumentation der Vertreibung, Bd. 1/2, S. 657 f. Vgl. zu einem im Inhalt ähnlichen Bericht über die wilde Vertreibung aus der Tschechoslowakei in Dokumentation der Vertreibung, Bd. IV/2, S. 379 und 382.
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gnadenlos zur Verfügung.«'^ Bis zur Potsdamer Konferenz spitzten sich die Verhältnisse immer mehr zu. Die Zahl der Vertriebenen stieg ständig, außerdem war deren Gesundheitszustand bei der Ankunft in Deutschland häufig so schlecht, daß dies eine ernste Belastungsprobe für die Besatzungsbehörden wurde.
Vertraglich festgelegte
Vertreibung
Das Potsdamer Abkommen sollte diesen Zuständen ein Ende bereiten und den Alliierten, die die Aufnahme der Vertriebenen in ihren Zonen kaum noch bewältigen konnten, einen Aufschub verschaffen. Trotz seiner Bedeutung für das internationale Recht nahm das Abkommen auf den Ablauf der Vertreibung zunächst nur geringen Einfluß. Wie verschiedene Berichte aus der SBZ und aus den ehemals deutschen Ostgebieten belegen, herrschten weiterhin chaotische Zustände. Die humanitäre Situation besserte sich nach dem August 1945 nur insofern, als die polnischen, tschechischen und ungarischen Behörden nicht mehr so überstürzt vertrieben.^'' Sie waren sich insbesondere im Falle Polens des Erwerbs der von Deutschen besiedelten Gebiete sicher und betrachteten den »Transfer« als eine langfristige Aufgabe. Die Vertriebenen bekamen nun meist etwas mehr Zeit, ihre Habseligkeiten zu packen und konnten, wenn alles gut ging, ein paar Gepäckstücke mit sich führen. Eine »ordnungsgemäße Durchführung« der Transfers, wie es das Potsdamer Abkommen vorsah, scheiterte aber weiterhin aus mehreren Gründen. Der erste lag in den umfangreichen Kriegszerstörungen und den daraus resultierenden Transportproblemen. Bevölkerungsverschiebungen von einem derartigen Ausmaß hätten das Verkehrsnetz der beteiligten Länder schon in Friedenszeiten überfordert. 1945 waren so viele Straßen, Brücken, Schienen und Züge zerstört,^^ daß ein rascher Abtransport mit ausreichend Platz für die einzelnen Vertriebenen und ihr Gepäck von vorneherein ausgeschlossen war.'® Auch die Lieferung von Lebensmitteln und Heizmaterial für die Reise war wegen der katastrophalen Versorgungslage nicht möglich, selbst wenn auf Seiten der Vertreiber der Wille dazu vorhanden gewesen wäre. 95 Scholz, S. 33 [Tagebucheintrag vom 9. Mai 1945]. 96 Vgl. Ueberschär, S. 33. 97 Nach Czeslaw Luczak waren 1945 in Polen ein Drittel der Eisenbahnlinien zerstört. Die Zahl der Triebwagen war im Vergleich zu 1939 um 81%, die der Gepäckwagen um 84% gesunken. Vgl. Luczak, S. 685. In den polnischen Westgebieten waren die Schäden noch weit höher. Dort waren von 11.083 Eisenbahnkilometern 6.727 (63%) beschädigt oder zerstört, außerdem waren 70% der Brücken nicht passierbar. Vgl. Osçkowski, S. 28 ff. 98 Der Transport aus Schlesien nach Brandenburg oder Sachsen, vor dem Krieg eine wenige Stunden dauernde Zugreise, nahm in der Regel mehrere Tage in Anspruch. Im Winter führte dies zu zahlreichen Erkrankungen und Erfrierungen. Zu den Transportproblemen siehe auch Nitschke, Sytuacja, S. 43.
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Die Zentralverwaltung für deutsche Umsiedler (ZVU), die in der SBZ unter anderem für die Aufnahme der Vertriebenen zuständig war, klagte noch im ersten Halbjahr 1946, daß »die Umsiedlertransporte unorganisiert und unplanmäßig über die Grenze geschleust wurden«.'' Erst ein volles Jahr nach dem Potsdamer Abkommen besserten sich der ZVU zufolge die Zustände: »In der zweiten Hälfte des Jahres war eine planmäßige Übernahme der Umsiedler aufgrund der getroffenen Vereinbarungen mit der Tschechoslowakei und Polen ... möglich«,"*' heißt es im Jahresbericht der ZVU. Diese Beobachtung, daß ab Mitte 1946 die Vertreibung besser organisiert war, deckt sich mit polnischen Verwaltungsberichten aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten."" Dennoch erfroren auch im Winter 1947 noch zahlreiche Menschen auf den Transporten, weil die Züge unbeheizt w a r e n . E i n e m Bericht des PUR in der Wojewodschaft Stettin vom 17. Februar 1947 zufolge erlitten auf einer Zugfahrt von Stettin nach Schivelbein 47 Menschen Erfrierungen, darunter eine Person so schwere, daß sie nicht einmal mehr ins Spital eingeliefert wurde. Sechs Kinder bekamen Lungenentzündung, eine weitere Person brach sich bei der Entladung die Hüfte.'o^ Ein weiterer Grund für die organisatorischen Mängel lag in der Spezifik des polnischen Verwaltungsaufbaus. Erst im Laufe des Jahres 1945 begann die polnische Verwaltung überhaupt ordnungsgemäß zu funktionieren, in den ehemaligen deutschen Ostgebieten vielfach später, da dort die Macht zunächst von den Kommandaturen der Roten Armee ausgeübt vioirde und erst im Frühjahr und Sommer 1945 prinzipiell auf die polnische Verwaltung überging. Die j ü n gere polnische Historiographie verwendet deshalb für diese Periode den treffenden Begriff Doppelherrschaft {dwuwkdza)}^ Auch nach deren Ende erschwerten willkürliche Eingriffe der Roten Armee die Tätigkeit der polnischen Verwaltung.'"^ Zwar ging die Zahl der Überfälle und Schießereien im Zuge der 99 BAP, D O 1-10, Nr. 4, Bl. 28. 100 Ebd. 101 Vgl. speziell zur Vertreibung aus dem Oppelner Schlesien die gesamte Sygnatur 73 im Bestand M Z O des AAN; vgl. auch Lempiñski, S. 161 f. und S. 169, der Transportprobleme als einen der größten Mängel beim »Transfer« der Deutschen ansah; vgl. als Beispiel aus dem Gebiet der Fallstudie Archiwum Pañstwowe (AP) w Opolu, P U R Kozle, sygn. 4, Bl. 37. Die Rote Armee vergrößerte die bestehenden Transportprobleme, indem sie Züge, die fur Vertriebenentransporte eingeplant waren, willkürlich für sich beanspruchte. 102 Vgl. Nitschke, Sytuacja, S. 44; vgl. auch die in Wille, Die Zentralverwaltung auf S. 35 f zitierten Quellen. 103 Vgl. AP w Szczecinie, PUR, sygn. 546, zit. nachJankowiak. 104 Os(kowski, S. 36-38; Misztal, Przesunçcie, S. 46-54; P. Madajczyk, S. 94-108; MagUrska, S. 45. 105 In der Wojewodschaft Schlesien-D^rowa (im Polnischen wurde die 1945 eingerichtete Wojewodschaft Sl^sk-D^rowa häufig auch nur als Wojewodschaft Schlesien oder als Oberschlesien bezeichnet. Analog dazu werden in dieser Arbeit die Begriffe »oberschlesischer Wojewode« und »oberschlesische Wojewodschaftsverwaltung« verwendet. D^browa - wörtlich übersetzt be-
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Disziplinierung der Roten Armee zurück, doch fühlten sich deren Kommandaturen in den Westgebieten weiter als die eigentlichen Herren im Haus. Die Streitigkeiten zwischen sov^jetischen und polnischen Behörden behinderten auch konkret den Abtransport von Vertriebenen in die SBZ. Wiederholt behielt die Rote Armee in der SBZ die Waggons, weil sie ihrer Ansicht nach Besitz der So\^getunion und nicht von Polen waren. Zahlreiche Meinungsverschiedenheiten gab es auch über die Geschwindigkeit und den Ablauf der Vertreibung.'»^
Die polnische Verwaltung bekam die Verhältnisse auch wegen häufiger Querelen in den eigenen Reihen nur langsam in den Griff Nicht zuletzt wegen dem erbitterten Machtkampf zwischen Kommunisten und der Opposition behinderten sich die von verschiedenen Parteien regierten Ministerien und deren Abgesandte in der Provinz mehr, als daß sie kooperierten, viele lokale und regionale Verwaltungseinheiten in den >Wiedergewonnenen Gebieten« standen bis Anfang 1946 nur auf dem Papier. Einen so komplexen und aufwendigen Vorgang wie die Vertreibung zu organisieren hätte einer eingespielten, etablierten Verwaltung bedurft. Das staatliche Repatriierungsamt (Pañstwowy Urz^d Repatriacyjny, kurz PUR), das für die »Repatriierung« der Deutschen verantwortlich war, betreute auch die Remigranten aus Westeuropa und war für die Ansiedlung der polnischen Vertriebenen verantwortlich. Das PUR war also für alle Migrationsbewegungen von und nach dem Ausland zuständig und mit diesen multiplen Aufgaben völlig überfordert. Neben der fehlenden Versorgung mit Brennstoff war die Lieferung von Lebensmitteln ein Problem, das während der Transporte nach Deutschland, aber auch schon zuvor, vielen Menschen das Leben kostete. Berüchtigt waren die Übergangs- und Sammellager, in denen die verbliebenen Deutschen auf den Abtransport nach Westen warteten. In manchen Baracken gab es nicht einmal Fenster, andere waren nicht für den Winter ausgestattet. Bezeichnend war die Situation im Sammellager in Schivelbein in Pommern. Dort erkrankten nach der Zählung der Gesundheitsabteilung im PUR in Stettin allein im Februar
deutet dies Eichenwald - hieß die Region, die im e h e m a h g e n russischen Teilungsgebiet angrenzend z u m oberschlesischen Kohlerevier lag) w u r d e n noch A n f a n g 1947 R a u b m o r d e u n d U b e r f ä l le d u r c h Angehörige der Roten A r m e e gemeldet. Vgl. AP w Katowicach, Urz^d Województwa Sl^slciego ( U W á l ) , Sp-Pol., sygn. 41, Bl. 20. Zahlreiche Angehörige der polnischen Sicherheitsorgane, die p o s t h u m verschleiernd als Kämpfer gegen d e n N a z i s m u s geehrt w u r d e n , kamen bei d e m Versuch u m s Leben, diese Straftaten zu verfolgen. 106 Vgl. A r c h i w u m Ministerstwa Spraw Zagranicznych w Warszawie, zespól 6, t. 1725, zit. nachJankowiak. Wie der Autor zeigt, setzte sich die Rote A r m e e m a n c h m a l auch f ü r die verblieben e n D e u t s c h e n ein, weil sie auf diese als Arbeitskräfte angewiesen war u n d in der S B Z M e n s c h e n a u f n e h m e n wollte, die möglichst arbeitsfähig waren. 107 Bamsiak, Pañstwowy, S. 339; Serafín, S. 106; Osfkowski, S. 44 f f Das P U R war an vielen O r t e n in den Westgebieten die erste polnische B e h ö r d e ü b e r h a u p t u n d blieb in edichen Kreisen bis z u m Aufbau der Provinzial- u n d nachgeordneten Landkreisverwaltungen die einzige.
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1947 3.450 Menschen, bei 724 wäre ein chirurgischer Eingriff nötig gewesen. 95 Menschen starben. Da die Kanahsation nicht funktionierte und kein Wasser mehr flöß, befürchteten die Behörden ständig den Ausbruch einer Epidemie. Auch außerhalb der Lager war die Versorgungslage wenig besser. Die Vertriebene Dagmar von Mutius schrieb in ihren Erinnerungen kurz und bündig: »Von dem wenigen, das nun noch bleibt, kann niemand, weder die Polen noch die Deutschen, leben.«'®' Die ehemals deutschen Ostgebiete waren von 1945 bis ins Frühjahr 1946 ein praktisch rechtsfreier Raum. Die schütz- und wehrlosen Vertriebenen wurden zum bevorzugten Opfer von Kriminellen und Banden. Selbst polnische Bürger waren im »wilden Westen«, wie die ehemals deutschen Ostgebiete 1945 genannt wurden, einer erschreckend hohen Kriminalität ausgesetzt. Die Sicherheitsorgane waren schlecht bezahlt, litten daher unter hoher Fluktuation und Korruption"" und waren überdies mit dem Schutz der polnischen Bürger vollaufbeschäftigt. Nicht nur das Eigentum, sondern auch die Gesundheit und das Leben der Deutschen waren daher auch nach dem Potsdamer Abkommen ungeschützt. Zahlreiche Augenzeugenberichte wie der folgende aus Breslau belegen dies: »Wir mußten uns vor dem Bahnhof in einer langen Schlange von Vertriebenen anstellen. Die Polen, die dort ihren Dienst verrichteten, nahmen von unserem Gepäck, was ihnen gefiel und warfen die w e ^ e n o m m e n e n Dinge auf einen großen Haufen. Man nahm uns auch das, was wir am Leib trugen. Der Vater hatte eine Tasche mit unseren Geburtsurkunden. Man hat sie ihm entrissen und mit den Papieren auf den Haufen geworfen. In diesem Moment habe ich die Polen von ganzem Herzen gehaßt. Trotz späterer Erfahrungen ist es mir nicht gelungen, dieses Gefühl ganz zu überwinden.«'" Kurz vor dem Übergang in die S B Z wurden die Vertriebenen häufig ein zweites Mal ausgeraubt. Wie die Banden tätig waren, zeigt der Bericht eines polnischen Eisenbahners aus der Nähe von Stettin, der selbst zuvor aus Ostpolen vertrieben worden war: »Die Russen, die von der Zwangsarbeit aus Deutschland zurückkehrten und Deserteure der sowjetischen Armee schlossen sich den regulären Banden an und begingen Räubereien, wobei die vertriebenen Deutschen ein leichtes Ziel waren, da für sie niemand einen Konvoi bildete. Die Räuber waren mit leicht zu erbeutenden Feuerwaffen bis auf die
108 Vgl. AP w Szczecinie, sygn. 546, zit. nachJankowiak.. 109 Mutius, S. I I I ; vgl. zur allgemeinen Versorgungskrise und zur besonderen Notlage der verbliebenen Deutschen in den polnischen Westgebieten auch Härtung, Gewiegt von Regen, S. 243 und Ders., Schlesien 1944/45. 110 Vgl. zu besonders krassen Fällen von Korruption AAN, M Z O , sygn. 1245, Bll. 114-123; AAN, 295/VII/51, Bd 1, 31. 25; vgl. auch IZ, Ρ 201. Näher vvird auf diese Problematik im Kapitel zur Ankunft und Aufnahme der Vertriebenen eingegangen. 111 Kitul, S. 87. Vgl. als Beispiele zu ähnlichen Vorgängen in der Tschechoslowakei Dokumentation der Vertreibung, Bd. IV/2, S. 379,382 und 385.
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Zähne bewaffnet. Wenn eine sowjetische Brigade den Zug führte, genügte ein Schuß und der Zug hielt, da die Belegschaft der Lokomotive ein Bakschisch bekam und geduldig auf ein Signal für das Ende des Raubes wartete. Als sich der Zug in Bewegung setzte, warfen einige Spätkommer noch Koffer und Pakkete aus den Türen hinaus ... Einmal reagierten die Maschinisten nicht auf das von den Banditen gegebene Signal. Diese zündeten jedoch eine der vielen Brücken-Übergänge an, die es auf der Strecke gab, um den Zug zum Halten zu bringen. Dann stand der Zug. Die Banditen drangen mit einem Schrei >hurrra< in die Waggons ein und raubten mit noch größerer Wildheit.«"^ Die Vertriebenenverwaltung in der SBZ beklagte sich 1946 heftig über den Zustand der ankommenden Vertriebenen, denn sie mußte die ausgehungerten Menschen in den Auffanglagern schließlich wieder aufpäppeln: »Die Aufnahme der U m siedler wird von Banditen außerordentlich erschwert. Es ist fast die Regel, daß die Umsiedler vollkommen ausgeplündert werden und ihre letzte Habe beim Überschreiten der Grenze verlieren. Sehr viele Fälle von körperlicher Mißhandlung sind uns bekannt.«'" Eindeutig gegen die Humanität verstießen Anweisungen der polnischen Behörden, wie die verbliebenen Deutschen vor ihrer Vertreibung zu behandeln seien. Schon im November 1945 ordnete das Ministerium für öffentliche Verwaltung (Ministerstwo Administracji Publicznej, kurz MAP) an, die deutsche Bevölkerung als Arbeitskräfte einzusetzen. " ' ' I n der Regel betrug die Entlohnung zwischen 25 und 50 % dessen, was polnische Arbeiter verdienten. Das reichte nicht einmal, um Lebensmittel für eine einzelne Person, geschweige denn einen ganzen Haushalt zu beschaffen. Eine geheime Instruktion des PUR von 1946 sah vor, daß Deutsche bei minimaler Entlohnung mindestens 60 Stunden pro Woche arbeiten. Der Arbeitseinsatz sollte bis zu 14 Stunden täglich in der Landwirtschaft und bis zu 12 Stunden in der Industrie betragen. Ausdrücklich wurde festgehalten, daß Deutsche kein Recht auf Pausen hätten."^ Auch die Wojewodschaftsverwaltungen erließen Anweisungen, die die Würde des Menschen verletzten. Der oberschlesische Wojewode Aleksander Zawadzki verfügte 1946 in einem Rundschreiben zum technischen Ablauf der 112 Kowacz, S. 96. T r o t z dieser Vorfälle u n d d e n massenhaften Vergewaltigungen im F r ü h j a h r 1945 gab es u n t e r deutschen Vertriebenen aber auch das Bild des gnädigen Russen, wie folgender Bericht einer Bäuerin aus P o m m e r n belegt: »Auf diesem W e g war m a n m a n c h m a l der Verzweiflung nahe, aber trotz allem hat u n s G o t t nicht fallen lassen, u n d in m a n c h einem Russen war ein rettender Engel. Wie litten die fönder oft H u n g e r , u n d m a n c h e r Russe gab ihnen Brot, aber nie die Polen. Ein Russe gab meiner vierjährigen T o c h t e r vor Löcknitz [nahe der O d e r , d. V f ] Fleisch u n d Brot u n d sagte dann: >Laß essen, ich auch Kinder, diese i m m e r gerne essen.«< Zitiert nach D o k u m e n t a t i o n der Vertreibung, Bd. 1/2, S. 667, vgl auch Scholz, S. 61. 113 EAP, D O 1 - 1 0 , N r . 11, Bl. 162. 114 Vgl. Nitschke, Sytuacja, S. 38. 115 Vgl. A P w O p o l u , P U R H u c z b o r k , N r . 4, Bll. 2 f f ; AP w O p o l u , P U R Koile, sygn. 4, Bll. 3 9 - 4 0 u n d Bl. 45.
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Vertreibung, verbliebene Deutsche bis zu ihrem Abtransport zur Arbeit zu verpflichten'"' und Arbeitslager einzurichten."' Angesichts solcher Anweisungen kann der erbärmliche Zustand vieler Vertriebener bei ihrer Ankunft in Deutschland nicht verwundern. Insbesondere in den Lagern entwickelte sich ein System des Terrors gegenüber Deutschen, das jüngst in Deutschland und in Polen eine große Aufmerksamkeit in der Publizistik und unter Historikern erfahren hat."® Ein ärztlicher Bericht aus Brandenburg über einen Transport aus dem Kreis Namslau, dem Nachbarkreis zum bereits mehrfach erwähnten Kreuzburg, belegt, wie sehr die Vertriebenen bei ihrer Ankunft erschöpft waren: »Bei der Generaluntersuchung bot sich bei einem großen Teil der Umsiedler das Bild von Unterernährung mit Ödemen an den Unterschenkeln, Blutunterdruck, Blässe und allgemeiner Schwäche. Die Kinder im Pubertätsalter hatten vergrößerte Schilddrüsen, eine Erscheinung, die auch auf Mangelerkrankungen zurückzuführen ist. Die festgestellten Tyerotexihosen gaben übereinstimmend an, daß die für diese Krankheit typischen Syndrome erst im letzten Jahr bei schwerer Arbeit und mangelhafter Ernährung aufgetreten waren. ... Die U m siedler gaben übereinstimmend an, daß seit fast einem Jahr keinerlei ärztliche Behandlung für sie vorhanden war. Daraus erklärt sich, daß unter den Männern des Transports ein großer Teil wegen Leistenbrüchen für schwere Arbeit nicht einsatzfähig ist. Ebenso ist ein großer Teil der Frauen nur bedingt arbeitsfähig, da sie an Herzkrankheiten, Frauenleiden, Magenbeschwerden usw. erkrankt sind.«"' Unter den Deutschen, die noch im Osten verblieben waren, änderte sich die Stimmung. Galt 1945 noch die Vertreibung als das schlimmste Schicksal, erschien diese seit 1946 als immer noch besser als ein Leben unter tschechischer oder polnischer Herrschaft. Das Tagebuch von Franz Scholz gibt dies wieder: »Alle hier vegetierenden, verängstigten Deutschen haben nur eine einzige Sehnsucht: Hinweg aus dem Machtbereich dieses Terrors. Ganz gleich wohin. N u r weg von hier nach Westen! Das Leben in der russischen Zone, wo es keine Vertreibung gibt, erscheint trotz der dort herrschenden Hungersnot als die große Hoffnung. Deutsch-Görlitz ist mit seinen so nahen Häusern und Türmen Symbol für Deutschland, für das Land, in dem man nicht zum Verkümmern
116 Vgl. AP w Opolu, PUR Kozle, sygn. 2, Bll. 55 f., Bl. 67 und Bl. 72; vgl. dazu auch Orzechowsld, Repolonizacja, S. 229. 117 Vgl. AP w Opolu, PUR Kozle, sygn. 4, Bl. 24. Zawadzki befahl darüber hinaus, polnische Eheleute zurückzuhalten, wenn der deutsche Partner ausgewiesen wurde. Vgl. AP w Opolu, PUR Kozle, sygn. 2, Bll. 44 f. Vgl. zur Thematik der Arbeitslager für Deutsche die umfangreichen und deuillierten Forschungen in P. Madajczyk, S. 237-293, vgl. auch die überblicksartige Darstellung in Borodziej, Historiografía Polska, S. 263 f 118 Vgl. die Publikationen von H. Hirsch und E. Nowak. 119 BLHA, Rep. 332, Nr. 574, Bll. 252 f [Sprachfehler im Original],
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verurteilt ist, nur weil man eine deutsche Mutter hatte und die deutsche Sprache spricht.w'^" Andererseits sorgten Zustände wie im Kreis Namslau in vielen Fällen dafür, daß Polen, vor allem solche, die selbst vertrieben worden waren, Mitleid mit den Deutschen bekamen.'^' Aus weniger lauteren Motiven bemühten sich außerdem die polnischen Behörden, die Mißstände kurz vor und während der Vertreibung in den Griff zu bekommen. Zwei Motive spielten dabei eine Rolle. Die Regierung in Warschau war sich bewußt, daß der Verlauf der Vertreibung gegen die Vorschriften des Potsdamer Abkommens verstieß und im Westen zur »antipolnischen Propaganda« genutzt werden k o n n t e . I n mehreren Anweisungen an die ausführenden Behörden mahnte die Regierung deshalb, die Prinzipien der Menschlichkeit zu achten sowie Gepäck- und Versorgungsvorschriften einzuhalten.™ Auch die Armee erließ nach Übergriffen auf deutsche Zivilisten mehrere Befehle, gegen derartige Ausschreitungen vorzugehen.'^'' Ab dem Sommer 1946 stieg die Zahl der Schreiben aus den einzelnen Regionen stark an, die Verstöße gegen die Vorschriften zum Schutz von Deutschen bei der Regierung in Warschau meldeten.'^^ Dieser innerbehördliche Briefverkehr zeigt, daß in Polen ein Rechtsbewußtsein in bezug auf die ordnungsgemäße Durchführung der Vertreibung und eine humane Behandlung der verbliebenen Deutschen entstand. 1947 wurden erste Sanktionen gegen Beamte ergriffen, die gegen die Vorschriften v e r s t i e ß e n . I n s g e s a m t besserten sich den polnischen Akten zufolge - dies deckt sich weitgehend mit Berichten von Betroffenen - die Lage der Vertriebenen seit Ende 1946. Auch ein pauschales Urteil, daß die Vertreibung aller Deutschen aus Ostmitteleuropa unorganisiert ablief, wäre falsch. Ein frühes Beispiel für ein organisiertes Vorgehen war die vergleichsweise reibungslose Ubersiedlung der sudetendeutschen Antifaschisten in die SBZ.'^^ Nachdem der Umfang der Be120 Scholz, S. 77. 121 Vgl. die bereits 1950 beim Göttinger Arbeitskreis erschienenen »Dokumente der Menschlichkeit aus der Zeit der Massenaustreibungen«, sowie nach der Wende in Polen herausgegebene Titel wie z.B. die Memoirensammlung »Danke schôn/Dziçkuje bardzo«, die 1995 in Gleiwitz erschienen ist. Auch viele Beiträge zu Memoirenwettbewerben überliefern ein in Einzelfällen freundliches Verhältnis zwischen Polen und Deutschen. Vgl. als Beispiel Sobków, S. 59. 122 Vgl. AAN, M Z O , sygn. 73, Bll. 1 ff.; AAN, M Z O , sygn. 84., Bl. 60. 123 Für entsprechende Regelungen in der Tschechoslowakei vgl.Jahn, Kriegsende, S. 225; vgl. zur vertraglich geregelten Vertreibung aus Nordwestböhmen auch Radvanovsky, S. 125-129; vgl. zu Mähren Hrabovec, S. 134-140. 124 Vgl. Nitschke, Sytuacja, S. 37. 125 Vgl. AAN, M Z O , sygn. 1245, Bl. 47; AAN, M Z O , sygn. 1251, Bl. 207; AP w Katowicach, Urz^d Województwa álísko-D^browskiego (UWSl), Wydzial Spoleczno-Polityczny (Sp-Pol)., sygn. 49, Bl. 7. 126 Vgl. AAN, M Z O , sygn. 1245, Bl. 47. Dieses Beispiel betraf eine Gruppe von fünfBeamten aus dem Kreis Kreuzburg. 127 Vgl. Schneider, S. 258 f f ; siehe auch Wille, Die Sudetendeutschen, S. 31-74. Ähnlich wie die
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völkerungsverschiebungen abgenommen hatte, bekam auch die polnische Verwaltung die Vertreibung langsam in den Grifft® Verschiedene Anweisungen und Berichte der polnischen Behörden zu kleineren Transporten zwischen 1948 und 1950 belegen glaubhaft, daß der »Transfer« nun reibungslos und ohne Zwischenfälle funktionierte. Als ein spätes Beispiel kann auch die Vereinbarung über die »Umsiedlungsaktion 1950« angesehen werden, die die D D R mit der Volksrepublik Polen abschloß. In der Vereinbarung wurde festgelegt, daß die Betroffenen mit Ausnahme von Möbeln bewegliche Habe nach Deutschland mitnehmen durften."" Ungeachtet der verbesserten Organisation und des steigenden Rechtsbev^ßtseins gab es strukturelle Faktoren, die die Vertreibung für viele Betroffene zum Trauma werden ließen. Anweisungen zum Nachteil von Deutschen wie zum Beispiel über ihren Arbeitseinsatz wurden meist eingehalten, zum Teil auch schon durch Privatpersonen vorwe^enommen, die Deutsche auf den Bauernhöfen als billige Arbeitskräfte einspannten. Die Vertriebenen schützende Regelungen wie zum Beispiel die Vorschrift, daß 40 fölogramm Gepäck pro Person mitgenommen werden durften,''' konnten aufgrund objektiver Faktoren wäe der begrenzten Transportkapazitäten erst gar nicht eingehalten werden oder vmrden zum Vorteil von Plünderern oder korrupten Beamten unterlaufen. Die Willkür staatlicher Organe und Bediensteter gegenüber Deutschen kannte praktisch keine Grenzen. Die eigenartige Mischung aus negativer Rechtsstaatlichkeit, also diskrimierenden Vorschriften und allgemeiner Rechtlosigkeit war für Menschen, die sich nicht wehren konnten, die keine Lobby oder Ressourcen besaßen, fatal. Wie sich zeigen wird, galt dies vornehmlich für die verbliebenen Deutschen, aber auch für die polnischen Vertriebenen, die im Gesellschaftsgefüge der Westgebiete ebenfalls zu den Schwächeren gehörten. Daß Menschen gezielt und in größerer Anzahl ermordet vmrden - schließlich hat man in Westdeutschland die Vertreibung wiederholt als Genozid bezeichnet und falsche Vergleiche zum Holocaust gezogen"^ - ist allerdings nicht nachweisbar. Selbst in den Arbeitslagern für Deutsche wie Lamsdorf und Potu-
polnischen Vertriebenen, die im Rahmen der Evakuierungsverträge vertrieben wurden, besaßen viele sudetendeutsche Antifaschisten eine eingeschränkte Option, in der Tschechoslowakei zu bleiben. Unter dem Einfluß eines mittelbaren Zwangs (zu diesem Begriff Näheres unter Kapitel 1.3) verließen jedoch auch sie in großer Mehrheit ihre Heimat. 128 Vgl. AP w Opolu, P U R Kozle, sygn. 6, Bl. 5; AP w Opolu, P U R Nysa, sygn. 15, Bll. 34,36, 67 und sygn. 16, Bll. 10-12. 129 Vgl. AP w Opolu, P U R Kozle, sygn. 3, Bl. 33; AP w Opolu, P U R Kozle, sygn. 6, Bl. 5. 130 Vgl. Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Potsdam (BLHA), Rep. 332, Nr. 574, Bll. 112 f. 131 Vgl.Niöf/ifee,Wysiedlenie,S. 107. 132 Betreffend die Sudetendeutschen siehe Habel, S. 101. Bei einem Genozid zielen die Täter primär darauf ab, eine ethnische Gruppe zu vernichten. Dagegen ist bei Vertreibung die Entfernung einer ethnischen Gruppe aus ihrer Heimat das primäre Ziel.
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litz,"^ in denen die Verhältnisse besonders schlimm waren, starben die Opfer meist an Vernachlässigung, Unterernährung und Erschöpfung. N u r in wenigen Fällen wäre es im Nachhinein möglich, einzelnen Personen einen T ö tungsvorsatz nachzuweisen. Das Schlagwort Vertreibungsverhrechen, mit dem Politiker und Historiker in der Bundesrepublik vor allem zu Zeiten des Kalten Krieges hantierten, ist daher für die Beschreibung der komplexen Mißstände vor und während der Vertreibung nicht präzise genug. Die Vertriebenen lebten vor ihrem Abtransport als exterritoriale Bürger eines fremden und besiegten Staates in einem rechtsfreien Raum. U m ein Verbrechen als solches zu benennen und zu verfolgen, bedarf es geltenden Rechts. Doch die Nationalsozialisten hatten Recht zwischen 1939 bis 1945 in zuvor unbekanntem Maße gebrochen. Es gab daher de facto kein Recht mehr. In den ehemaligen deutschen Ostgebieten kam ein weiteres Element hinzu: Ein polnisches Recht, das durchgesetzt worden wäre, und ein funktionierendes Rechtssystem konnte dort erst im Laufe der Jahre entstehen und v^oirde schon bald von kommunistischer Rechtswillkür in Frage gestellt. Außerdem hinterließen die äußeren und inneren Verwüstungen des von den Deutschen begonnenen Kriegs in ganz Ostmitteleuropa ein moralisches Vakuum. In Polen bekamen das alle Minderheiten, neben den Deutschen auch die Ukrainer und die Juden, zu spüren. Die Ukrainer wurden ähnlich wie die Deutschen brutal aus ihren Siedlungsgebieten vertrieben und deportiert, nicht einmal die aus den Konzentrationslagern kommenden Juden waren ihres Lebens sicher."^ Als moralisch ungerecht kann die Vertreibung in mehrfacher Hinsicht gelten. Sie traf die Deutschen, die in den Ostgebieten des Reiches und den deutschen Siedlungsgebieten verblieben. Nur sie wurden in diesem Maße Opfer von Konfiszierungen, erzwungenen Arbeitseinsätzen und Vergeltung. Die Vertriebenen büßten also doppelt für den verlorenen Krieg und die Verbrechen der Nationalsozialisten. Sie verloren nicht nur wie die Ausgebombten ihr Hab und Gut, sondern obendrein die Heimat.
133 Vgl. dazu Stankowski, S. 223. In Potulitz und den Außenstellen des Lagers kamen nach polnischen Quellen zwischen 1945 und 1949 4.495 Deutsche ums Leben. Es war damit das polnische Arbeitslager für Deutsche, das auch die meisten Opfer forderte. Vgl. zum Lager in Lamsdorf Edmund Nowaks Monographie Cien Lambinowic. Proba rekonstrucji dziejów Obozu pracy u> Lambinowicach 1945-1946, Opole 199Í. 134 Vgl. Henke, S. 139. Vgl. auch die 1982 erschienene, von Heinz Nawratil herausgegebene Dokumentation Vertreibungsverbrechen an Deutschen. 135 Der bekannteste Zwischenfall war das Pogrom von Kielce am 4. Juli 1946, bei dem 42 Menschen ums Leben kamen. Zu zahlreichen Konflikten kam es auch, als aus den KZ heimkehrende Juden von Polen ihre Wohnungen und Häuser zurückforderten. Diesen Eigentumskonflikten fielen weit mehr Juden zum Opfer als dem Pogrom von Kielce. Vgl. Szaynok, S. 9 f. und 27.
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Die Vertreibung der Polen
Die Vertreibung der Polen ist allein deshalb komplizierter, weil sie eigentlich schon mit dem Einmarsch der Roten Armee in den polnischen Ostgebieten begann, während des polnisch-ukrainischen Bürgerkriegs von einer Phase der Flucht und wilden Vertreibung abgelöst und von September 1944 bis Ende 1948 auf vertraglicher Grundlage vollendet wurde. Sie erstreckte sich also insgesamt über neun Jahre. Es ist auch schwieriger, die Ursache der Vertreibung der Polen aus ihren Ostgebieten zu benennen. Im Falle der Deutschen könnte man die Vertreibung stark vereinfacht und verkürzt als Folge des Hitler-StalinPakts, des Angriffskriegs und des Besatzungsterrors in Ostmitteleuropa, des verlorenen Kriegs und der daraus resultierenden Neuordnung Europas zurückfuhren. Im Falle der Polen war die Vertreibung nicht nur Resultat des Zweiten Weltkrieges. Eine weitere Ursache lag in den tiefgreifenden, über Jahrzehnte gewachsenen und im Krieg eskalierten Konflikten Polens mit den östlichen Nachbarvölkern bzw. den in der Zweiten Republik lebenden nationalen Minderheiten, allen voran den Ukrainern. In diesem Faktum liegt auch schon ein Unterschied zur Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten des Deutschen Reiches. Die polnischen Vertriebenen wurden allesamt aus ethnischen Mischgebieten vertrieben. Dies trifft bei den Deutschen nur auf die Volksdeutschen, teilweise auf die Sudetendeutschen und auf die Reichsbürger zu, die in Gebieten mit einer Minderheitenbevölkerung lebten. Doch bevor die Arbeit tiefer auf die Hintergründe zur Vertreibung der Polen eingeht, muß vorausgeschickt werden, was sie nicht leisten kann. Unberücksichtigt bleibt aus Platzgründen eine zahlenmäßig bedeutende Gruppe unter den Vertriebenen aus Ostpolen: Die polnischen Juden, die auch unter die Evakuierungsverträge fielen."'' Unmöglich ist es außerdem, ein flächendeckendes Bild der Vertreibung der Polen zu zeichnen, die sich allein dadurch unterscheidet, ob sie in der litauischen, weißrussischen oder der ukrainischen SSR durchgeführt v ^ r d e . Innerhalb dieser Sowjetrepubliken sind weitere Differenzierungen zu beachten, zum Beispiel je nachdem, ob aus der Stadt oder den Dörfern vertrieben wurde. Vertieft eingegangen wird hingegen auf die heutige Westukraine. Der relativ gute Forschungsstand über diese Region erlaubt einen Einblick darin, wie Nationalitätenkonflikte derart eskalieren können, daß es zu einer gegenseitigen Vertreibung von zwei Nachbarvölkern k o m m t . E i n wei-
136 Unter den 1,5 Millionen Vertriebenen, die im Rahmen der offiziellen Evakierungsverträge nach Polen abtransportiert wurden, waren 157.420 Juden. Vor allem von amerikanischen und britischen Historikern wurden zu diesem Themenkomplex mehrere Aufsätze veröffentlicht. Vgl. die in der Bibliographie genannten Publikationen von YozefLitvak und Hanna Shlomi. 137 Die nationalen Konflikte in den historischen polnisch-ukrainischen Siedlungsgebieten wurden zwischen 1941 und 1945 mit einer Härte ausgetragen, daß sich Parallelen zum Bürgerkrieg
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terer Grund für diesen polnisch-ukrainischen Schwerpunkt liegt darin, daß aus dem früheren Ostgalizien die Mehrheit der polnischen Vertriebenen stammte.
Exkurs in den polnisch-ukrainischen
Konflikt
U m den polnisch-ukrainischen Konflikt während des Zweiten Weltkrieges und danach zu verstehen muß man in der Entstehungszeit des modernen Nationalismus ansetzen. Die Polen im österreichischen Teilungsgebiet konnten sich im Vergleich zu ihren Landsleuten in den russischen und preußischen Gebieten als Nation relativ früh, seit der Gewährung einer Autonomie 1867 entwickeln. Galizien war, wie Norman Davies es treffend ausdrückt, das »polnische Piémont«."® Es gab dort die meisten polnischen Institutionen, Schulen und in Lemberg auch eine polnische Universität, neben der &akauer damals die einzige. Das polnische Nationalbewußtsein verbreitete sich aus den Städten rasch auf das Land und auf die bäuerlichen Schichten. Da Ostgalizien gemischt besiedelt war, erwachte dort nicht nur die polnische, sondern wenig später auch die ukrainische Nation. Ostgalizien war daher gleichzeitig das »ukrainische P i é m o n t « . D a s , was die Polen im Bereich der Kultur, Bildung und Politik erreicht hatten, forderten die Ukrainer auch für sich. Jedoch schlossen sich die Ambitionen beider Völker, vor allem die Forderung nach einem eigenen Staat, gegenseitig weitgehend aus. Einen gewichtigen Unterschied zu Gebieten, die Deutsche zusammen mit anderen Nationen bewohnten, gab es jedoch: In Ostgalizien wurden Gewalt und Attentate seit der Jahrhundertwende zu einem Bestandteil der politischen Auseinandersetzung.''"' Die Radikalität des ukrainischen Nationalismus nährte sich unter anderem daraus, daß die nationalen Konflikte eine starke soziale Komponente hatten, denn der struktuφrägende Großgrundbesitz in Ostgalizien war in der Hand des polnischen Adels. Während des Ersten Weltkrieges spitzten sich die Konflikte zu. Die militärischen Fronten zogen mehrmals über Ostgalizien hinweg und zerstörten einen erheblichen Teil der wirtschaftlichen Ressourcen der Provinz, die schon zuvor das Armenhaus des alten Osterreich gewesen war. Außerdem wandten die Großmächte im Ersten Weltkrieg ein Prinzip von Besatzungspolitik an, das sich im Zweiten Weltkrieg erneut großer Beliebtheit erfreute : Die Österreicher und die Russen nutzten die brüchigen Verhältnisse der verschiedenen Ethnien für im ehemaligen Jugoslawien geradezu aufdrängen. Auch die »ethnische Säuberung« war ähnlich gründlich wie in den 1991/92 umkämpften Gebieten Kroatiens und Bosnien-Herzegowinas. 138 Davies, God's playground, S. 159. 139 Ebd., S. 160 140 Vgl. Partacz, S. 201 ff und S. 227 ff. Auftakt zu einer unheilvollen Serie national motivierter Anschläge in der weiteren Geschichte Ostgaliziens war das Attentat eines ukrainischen Extremisten auf den galizischen Statthalter Andrzej Potocki 1908.
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ihre Ziele. Sie spielten die Volksgruppen gegeneinander aus und säten damit langanhaltende Zwietracht. Nach d e m Ersten Weltkrieg wollten Polen u n d Ukrainer eigene Staaten gründen, über deren Existenz die Waffen entschieden. Im polnisch-ukrainischen Krieg siegten die Polen, die sich somit Ostgalizien und das im russischen Teilungsgebiet liegende Wolhynien einverleibten. In beiden Regionen stellten Ukrainer eine relative, auf dem Land fast ausschließlich eine absolute Mehrheit. Die Einstellung der meisten Ukrainer zu d e m neuen polnischen Staat war von G r u n d auf nicht unbedingt positiv, zumal sich ihre Lage in essentiellen Bereichen, allen voran d e m Schulwesen, im Vergleich z u m alten Österreich verschlechterte. Polen befand sich in einem Teufelskreis, in dem alle neu gegründeten Staaten Ostmitteleuropas steckten. Nationale Zugeständnisse in einem Ausmaß, das die Minderheit hätte befrieden können, wurden als zu gefährlich für den Zusammenhalt der j u n g e n Republik verstanden. Die Alternative war Zentralismus u n d eine m e h r oder weniger ausgeprägte Unterdrückung, die die Ukrainer immer mehr v o m polnischen Staat entfernte. Besonders umstritten war die »innere Kolonisierung« der Ostgebiete durch polnische Ansiedler und Gesetze, die die Bildung betrafen. 1924 führte ein Sprach- und Schulgesetz »zur Vernichtung praktisch des gesamten ukrainischen Schulwesens, das eine Errungenschaft von Generationen war«."' Der zunehmende Antagonismus zwischen Polen und Ukrainern entlud sich unter anderem in Terroranschlägen auf prominente polnische Politiker, auf die der Staat mit einer nicht minder blutigen »Pazifizierung« ukrainischer Dörfer reagierte. Torzecki schreibt die »extreme Verstärkung der Feindschaft«'"^ am Vorabend des Zweiten Weltkrieges vor allem der polnischen Politik nach dem Tod von Staatsgründer Pilsudski zu, die das Polentum in den Ostgebieten künstlich stärken w o l l t e . I n bestimmten, als strategisch angesehenen Gebieten wurden »unsichere Elemente«, also allen voran Ukrainer, aus d e m Staatsdienst entfernt und orthodoxe Kirchen gesprengt. Analog zu Юaus Zernacks Begriff negative Polenpolitik könnte man im Osten auf der Seite Polens eine Tradition negativer Ukraine-Politik konstatieren. Polen gelang es nicht, die Ukrainer in die eigene Nation oder als loyale Minderheit in den eigenen Staat einzubinden. Die eigene Staatsgründung ging wie 50 Jahre zuvor die deutsche Reichsgründung auf Kosten der östlichen Nachbarnation. Eine weitere Parallele zwischen D e u t schen u n d Polen liegt darin, daß die weiter entwickelte Nation im Westen, die sich als höherstehend empfand, auf den östlichen Nachbarn herabblickte. In diesem Unverständnis der Aspirationen der Polen durch die Deutschen und der Ukrainer durch die Polen liegt einer der Gründe, w a r u m die Geschichte
141 Torzecki, Polacy i Ukraincy, S. 12. 142 Ebd., S. 13; Eberhardt, Przemiany narodowosciowe, S. 104. 143 Vgl. Eberhardt, Przemiany narodowosciowe, S. 102.
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der Deutschen und der Polen im Osten so abrupt und opferreich endete. Als Reaktion auf die zahlreichen nationalen und sozialen Konflikte radikalisierte sich der ukrainische Nationalismus. Die Führung der 1929 gegründeten »Organisation Ukrainischer Nationalisten« (Orhanizacja Ukrajinskych Nacionalistiw, kurz O U N ) entwickelte kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges erstmals Pläne, wie man die Polen in den als ukrainisch betrachteten Gebieten loswerden könne. Trotz der tiefgreifenden Konflikte blieb das Verhältnis zwischen Polen und Ukrainern in den Ostgebieten kurz vor und nach dem Einmarsch der Roten Armee weitgehend friedlich. Die sov^jetische Propaganda ließ verbreiten, daß die Rote Armee von den unterdrückten Ukrainern und Weißrussen, die endlich das Joch der polnischen »Herren« abschütteln konnten, jubelnd empfangen worden sei.''*® Dieses Propagandabild kehrt bei der Behandlung der polnischen Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg wieder, als ihnen die polnischen Kommunisten erneut das Etikett von Unterdrückern und Herren anhefteten. Allerdings sprechen die Ereignisse vor und kurz nach dem Einmarsch der Roten Armee gegen diese Jubel-Propaganda. N u r in wenigen Fällen kam es zu Uberfällen auf polnische Truppen, die nach dem verlorenen Krieg in Richtung Rumänien abzogen.^''® Auch spontane Attacken auf polnische Beamte oder Gutsbesitzer blieben, trotz der bestehenden Nationalitätenkonflikte, die Ausnahme. Ruhiger als in der späteren Westukraine blieben die Verhältnisse ohnehin im heutigen Weißrußland und in Litauen, das sich zwar das umstrittene Wilna sicherte, aber relativ tolerant gegenüber den damit einverleibten Polen blieb. Die Auseinandersetzungen eskalierten, als die Besatzungsmacht dies förderte. Schnellgerichte, die ohne sovvjetische Duldung nie hätten arbeiten können, verurteilten Polen zum Tode,'"*® Ukrainer und Weißrussen wurden direkt dazu aufgefordert, die »polnischen Herren zu schlagen« und von ihren Positionen zu e n t f e r n e n . N a c h d e m diese Aufforderung zur Revolution von unten nur in einzelnen Orten zündete, griffen die Sov^gets im Februar 1940 erstmals mit Massendeportationen massiv in die ethnische Z u sammensetzung der polnischen Ostgebiete ein.
144 Vgl. Torzecki, Polacy i Ukraiñcy, S. 15. 145 Vgl. Gross, S. 3 6 ffi, Zio\kowski, S. 17. 146 Vgl. Eberhardt, P o l s b Cranica, S. 70. 147 Vgl. Luczak, S. 524 ff.; Lossowski, S. 313. Auch die sowjetische Politik gegenüber den polnischen Intellektuellen in Ostgalizien war zunächst n o c h konziliant. Wie der Polonist Mieczyslaw Inglot nachweist, versuchten die Besatzer 1939 zunächst, polnische Intellektuelle f ü r sich zu gew i n n e n . Vgl. Inglot, S. 23 u n d 35. 148 Luczak, S. 511 f. 149 Vgl. Gross, S. 26 u n d S. 35; Luczak, S. 33; Ciesielski u. a., S. 35 f.
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Deportation
Die zahlenstärksten sozialen Gruppen unter der ersten Welle von Deportierten vom Februar 1940 waren polnische Gutsbesitzer, ehemalige Militärsiedler, Angehörige der Forstverwaltung, der Polizei und deren Familien. Damit wurden die auf dem Land führenden Schichten beseitigt. Die zweite Deportationswelle vom April 1940 traf in erster Linie Lehrer, Armeeangehörige, kommunale Beamte, sowie die Träger der Wirtschaft in den Städten. Bei den Transporten vom Aprili 940 waren daher auch Juden im Verhältnis zu ihrem Bevölkerungsanteil überproportional vertreten. Der dritte Deportationsschub vom Mai und Juni 1940 besaß erstmals keine klare klassenspezifische Zielrichtung. Opfer waren zahlreiche, zuvor aus dem Generalgouvernement geflohene Polen und Juden. Im Juni 1941, also kurz vor dem Einmarsch der Wehrmacht, veranlasste der NKVD eine letzte, umfassende Deportation. Betroffen waren nun überwiegend Menschen, die zufällig den vorherigen Verschleppungen entronnen w a r e n . V o r allem die beiden letzten, nicht systematisch zusammengestellten Massendeportationen offenbarten einen grundsätzlichen Zug des Stalinismus: die immerwährende Drohung von Terror. Die ersten beiden Deportationswellen zielten auf eine soziale Umgestaltung der Gesellschaft nach so^^Qetischem Vorbild. Sie trafen die Schichten, die der bis Sommer 1940 durchgeführten Kollektivierung im Wege standen. Stanislaw Ciesielski vergleicht sie daher zutreffend mit der Deportation der Kulaken in den dreißiger Jahren.'^^ Da die führenden Schichten auf dem Lande fast ausschließlich aus ethnischen Polen bestanden, war zwangsläufig der Anteil der Polen an den Verschleppten sehr hoch. Eine eindeutig nationale, anti-polnische Stoßrichtung hatten die beiden letzten Deportationswellen. Polen wurden nun unabhängig von ihrer Klassenzugehörigkeit deportiert. Außerdem sollte verhindert werden, daß die Zahl der Polen in den sov\jetisch okkupierten Gebieten im Zuge der Flucht aus dem von den Deutschen besetzten Generalgouvernement zunahm. Wurzeln für eine spezifisch antipolnische Politik Stalins lagen unter anderem in dessen Nationalitätentheorie, wonach Polen in der Sowjetunion ähnlich wie Esten und Letten zu den »Nationen ohne Territorium« zählen.·"
150 Vgl. zu d e n Deportationen Ciesielski u. a., S. 26-82. In die Kategorie von T e r r o r sind auch die massenhaften Verhaftungen einzuordnen, die nach d e m Einmarsch der Roten Armee in d e n polnischen Ostgebieten einsetzten. 151 Wie viele M e n s c h e n tatsächlich deportiert w u r d e n , ist in der F o r s c h u n g stark umstritten u n d wird sich wahrscheinlich nie genau nachweisen lassen. Ciesielski u.a. gehen auf der Basis sovkjetischer Q u e l l e n davon aus, daß bis zu 330.000 polnische Staatbürger nach Zentralasien u n d Sibirien verschleppt w u r d e n , v e r m u t e n allerdings eine Dunkelziffer von Deportierten, die nicht erfasst w u r d e n . Vgl. Ciesielski u. a., S. 82. 152 Vgl. Ebd., S. 47. 153 Vgl. Kowalska, S. 70.
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Insgesamt waren 63% aller Deportierten ethnische P o l e n , w ä h r e n d ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung der polnischen Ostgebiete 1939 knapp unter der Hälfte gelegen hatte. Allerdings waren allen voran Juden, in geringerem Maße auch Weißrussen und Ukrainer, von den Deportationen nach Mittelasien und Sibirien betroffen.'" Die Schlußfolgerung von Jan Gross, daß die Deportation allein einen nationalen, d.h. antipolnischen Charakter hatte, bedarf daher der Ergänzung. National waren die Deportationen in der Hinsicht, daß die ethnische Zusammensetzung der polnischen Ostgebiete nun bereits so manipuliert war, daß bei einer Volksabstimmung über die Zugehörigkeit der polnischen Ostgebiete keine Mehrheit mehr für Polen zu erwarten war.'^^ Tatsächlich stimmten bei den manipulierten Wahlen vom 22. Oktober 1939 93% der Bevölkerung in den polnischen Ostgebieten für die von den sovvjetischen Behörden aufgestellten Kandidaten und damit den Anschluß an die Sov^^etunion. Am S.Januar schlossen die neuen Machthaber die Jan-Kasimirs-Universität und benannten sie nach dem ukrainischen Nationaldichter Iwan Franko. Im Februar folgte das Ende des Ossolineums, der lange Zeit größten Bibliothek Polens, die als Filialbibliothek der Akademie der Wissenschaften der UdSSR angegliedert wurde. Die Deportationen markierten insofern den Beginn der Vertreibung, als deportierte Polen und Juden 1945 nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren durften, sondern als Ansiedler in die ehemals deutschen Ostgebiete gebracht wurden. Auf einem anderen Blatt steht, daß die Betroffenen dies nach mehreren Jahren Verschleppung meist als Ende eines langen Leidensweges begrüßten. Die Verschleppung nach Sibirien und Zentralasien führte zu hohen Opfern. Bereits die Transporte, die vielfach ohne Verpflegung bei bis zu 40 Grad Kälte gen Osten rollten, kosteten zahlreiche Menschenleben.'^® Die Deportierten wurden in den Arbeitslagern bzw. in der Verbannung - dies waren die zwei offiziellen Varianten der Deportation - in ärmlichen Baracken untergebracht, viel zu schlecht ernährt und kaum mit Kleidung versorgt. Sie erlebten die stalinistische Variante von Vernichtungspolitik: Die Tötung von Menschen wurde nicht industriell durchgeführt wie bei den Nationalsozialisten, man überließ das der Natur. Es gibt Schätzungen, daß die Sterblichkeit unter den
154 Vgl. Eberhardt, Cranica Wschodnia, S. 73; vgl. auch Ciesielski u. a., S. 47. A n h a n d sovqetischer Q u e l l e n w u r d e errechnet, daß 63,6% der Deportierten Polen, 21,2% J u d e n , 7,6% Ukrainer u n d 6% Weißrussen waren. 155 Insbesondere die westukrainische Intelligenz u n d die politischen F ü h r e r der ukrainischen M i n d e r h e i t in Polen w u r d e n deportiert. Vgl. Subtelny, S. 455. 156 Vgl. Gross, S. 198. 157 Eine ausschließlich nationale Motivation hatten dagegen die Deportationen im schon vor 1939 sovyjetischen Teil Weißrußlands, die den dortigen polnischen Bevölkerungsanteil zwischen 1937 u n d 1939 halbierten. Vgl. dazu Eberhardt, Przemiany, S. 541. 158 Vgl. Siedlecki, S. 47.
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Lagerinsassen pro Jahr bis zu 30% und unter den Verbannten bis zu 15% betrug.''' Stanislaw Ciesielski u.a. haben errechnet, daß nur etwa die Hälfte der Deportierten überlebte."^ Der im Londoner Exil amtierende polnische Ministerrat resümierte in seiner Sitzung v o m 19. Dezember 1940: »Die Bedingungen unter sowjetischer Okkupation sind bei weitem schlechter als unter deutscher, wenn die Vernichtung des polnischen Elements berücksichtigt wird.«'^' N a c h d e m die Nazis in Ostpolen zu wüten begannen, änderte die Regierung noch die Aussage des Vergleichs, doch dies kann nichts an der Beurteilung der sowjetischen Besatzung ändern. Der stalinistische Terror von September 1939 bis J u n i 1941 hatte unter den Ostpolen, die vorerst in ihrer Heimat blieben, zahlreiche Langzeitwirkungen. Die Angst, daß man jederzeit ein Opfer von Terror werden konnte, setzte sich auf Dauer in den Köpfen fest. M a n benutzte in Ostpolen im Z u s a m m e n h a n g mit der Deportation keine konkreten geographischen Begriffe wie Sibirien oder Zentralasien, sondern meist den Terminus »w gl^b« (in die Tiefe). Dieses »in die Tiefe« und die entsprechenden Überlieferungen mehrerer Generationen, die zaristische und später die so\\jetischen Deportationen überlebt hatten, zeigen, wie unheimlich und riesig die Sowjetunion ihren westlichen Nachbarn damals erschien. Diese Angst trug zwischen 1944 und 1948 dazu bei, daß viele Polen auf keinen Fall sov^etische Staatsbürger werden wollten und sich »freiwillig« zur Evakuierung aus den Ostgebieten registrieren ließen.''^
Flucht und wilde Vertreibung Die zweite Etappe der Vertreibung der Polen begann Ende 1942 in den polnischen Ostgebieten. Die deutschen Besatzer verfolgten in ihrer Politik den alten Grundsatz »divide et impera« und spielten Polen und Ukrainer gegeneinander aus. Als untergeordnete Organe des Besatzungsregimes wurden meist die rassisch als höherwertig eingestuften Ukrainer eingesetzt, teilweise auch kollaborierende polnische Schutzmannschaften. Es gab also ein nationales Konkurrenzverhältnis unterhalb der Ebene der Besatzer. Wie der polnische Historiker J a n Lukaszów feststellt, tolerierten die Deutschen nicht nur Nationalitätenkonflikte, »sondern stimulierten die verbrecherische Tätigkeit der polnischen
159 Vgl. Eberhard!, Cranica Wschodnia, S. 74 und S. 135; Ciesielski u. a., S. 30-33. Allerdings haben Ciesielski u.a. nachgewiesen, daß die Opferzahlen mehrerer polnischer Historiker wie z.B. Siedlecki, die in der Tradition einer nationalen Martyrologie schreiben, stark überhöht sind. 160 Ciesielski u.a.,S. 82. 161 Protokoly posiedzieñ rady ministrów, S. 214. 162 Vgl. als Beispiel Alma Heczkos Tagebuch aus den Jahren 1944-1945. »Wahrscheinlich werden sie am ersten Februar [1945] die Registrierung für die Ausreise schließen, danach werden sie alle behalten und die Polen nach Rußland bringen. S o wird das bestimmt sein, wenn Lemberg den Russen zugesprochen wird.« Vgl. Heczko, S. 6 f ; vgl. auch ähnlich im Inhalt Witter, S. 97.
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und ukrainschen Kollaboranten«.'" Wohl noch schädlicher für das Verhältnis von Polen und Ukrainern war die rücksichtslose Ausbeutung der besetzten Gebiete zu Kriegszwecken. Dies führte unvermeidbar zu tiefen Verteilungskonflikten in der Bevölkerung. Solidarität im Kampf um das letzte Stück Brot wurde jedoch vornehmlich entlang ethnischer Trennlinien geübt. Hunger und Elend führten also zu einer weiteren Verschärfung bestehender nationaler Gegensätze. Nicht überschätzt werden kann auch die Wirkung der Judenverfolgung, die den anderen Volksgruppen vorexerzierte, daß und wie man eine ungeliebte Minderheit beseitigen konnte.'^ Vor allem Ukrainer wurden von den Nazis bei der Judenvernichtung eingesetzt und somit an die Verfolgung Unschuldiger gewöhnt. Außerdem darf nicht übersehen werden, daß die tagtägliche Vernichtung von Menschenleben selbst die Maßstäbe derer ins Wanken bringen konnte, die nicht kollaborierten. Ende 1942 glaubten die ukrainischen Nationalisten, daß ihre Stunde gekommen sei. Sie hofften, entweder unter deutscher Ägide oder in einem wie nach 1918 bestehenden Machtvakuum einen ukrainischen Nationalstaat gründen zu können."^'Ein Schreiben der O U N aus Lemberg vom Oktober 1941 machte dies auf drastische Weise deutlich: »Es lebe die große selbständige Ukraine ohne Juden, Polen und Deutsche. Polen hinter den San, Deutsche nach Berlin, Juden an den Haken.«'^ Fast zeitgleich mit der konzeptionellen Ausarbeitung eines homogenen ukrainischen Nationalstaats durch die UPA setzten in Wolhynien, einer Provinz, in der der polnische Bevölkerungsanteil stets gering geblieben war, punktuell die ersten Morde an Polen ein.'^^ Diese Morde besaßen eine perverse Logik, denn 1918 war die Gründung eines ukrainischen Nationalstaats an den Polen gescheitert, die in Galizien und Wolhynien lebten. Ende 1942 massakrierte die UPA erstmals die polnische Bevölkerung eines ge163 Lukaszáw, S. 173. 164 Vgl. dìzu Dieter Pohb 1996 vorgelegte Monographie über »Nationalsozialistische Judenverfolgung in Ostgalizien 1941-1944«. 165 Der Generalsekretär der KPU, Nikita Chruschtschow, hatte schon 1939 eine Großukraine mit Bessarabien, der Bukowina, Wolhynien, Ostgalizien und der Karpathoukraine gefordert. Die Hoffnung war offensichtlich, die ukrainischen Nationalisten an die Sowjetunion binden zu können und die Säuberung der Partei von nationalistschen Abweichlern zu überspielen. Im April 1944 erklärte Chruschtschow: »Die ukrainische Nation trachtet nach einer Einbeziehung der uralten ukrainischen Lande, wie das Chelmer Land, Hrubieszów, Zamos'c, Tomaszów und Jaroslav, in den sowjetischen ukrainischen Staat an.« U m den Anspruch aufdiese Gebiete zu unterstreichen, die bis zu den äußersten Grenzen ukrainischen Siedlungsgebietes reichten, verwendete Chruschtschow die ukrainischen Ortsbezeichnungen. Vgl. Chruschtschows Äußerungen in: Dopovid Holovy R N K URSR M. Chruscova u Verchovnij Radi URSR 1 bereznja 1944, in: Pamjatki Ukrajiny: istoria i sucasnist 110, Nr. 3 (1995), S. 32. 166 Zitiert nach Pohl, S. 177. Wie Dieter Pohl jedoch anmerkt, steht die Echtheit dieses Schreibens unter Zweifel. Sollte es sich um eine Fälschung handeln, so ist dennoch zu bedenken, daß diese eine authentische Wortwahl gebrauchte und dem damaligen Zeitgeist entsprach. 167 Vgl. Lukaszáw, S. 165 -167. Gleichzeitig wurden in der Gegend von Lublin, wo die Ukrainer in der Minderheit waren, die ersten Ukrainer getötet.
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mischt besiedelten Dorfes. Im Herbst 1943 schrieb der Lemberger Erzbischof Twardowski an den Unierten Erzbischof Szeptycki: »Die Zwischenfälle, die sich auf dem Territorium meiner Diözese ereignen, die Morde, die an meinen Kaplanen und der Bevölkerung des lateinischen Bekenntnisses verübt wurden, haben die Grenze der individuellen Rache, oder auch der persönlichen, privaten und politischen Abrechnungen bereits überschritten.« Twardowski zählte dann die Zahl der ermordeten Priester und der Ortschaften auf, in denen die Polen bereits vertrieben w a r e n . T r o t z dieses und anderer Apelle weiteten sich die Kämpfe entlang der ehemaligen polnischen Ostgrenze nach Westen und Süden aus. Polen konnten sich häufig nur noch in sogenannten Selbstverteidigungszentren, d.h. größeren Dörfern oder Kleinstädten behaupten. Wolhynien ist seit dieser Zeit zu einem Symbol des polnisch-ukrainischen Konflikts geworden. Von einem zweiseitigen Bürgerkrieg und nicht nur einer einseitigen Vertreibung muß insofern gesprochen werden, als sich die verbliebenen Polen in Einheiten der AK (Armia Krajowa, die polnische Untergrundarmee) sammelten und insbesondere in mehrheitlich polnischen Gebieten zu Vergeltungsaktionen gegenüber Ukrainern schritten. Ende 1943 griffen die Kämpfe aus Wolhynien in das benachbarte Ostgalizien über"® und entwickelten sich dort im Laufe des Jahres 1944 zu einem Flächenbrand, der den gesamten Südosten der zweiten polnischen Republik erfaßte. Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß die deutsche Besatzung wie ein Katalysator für die gewaltsame Lösung sämtlicher zuvor existierenden Konflikte zwischen verschiedenen Volksgruppen wirkte. Am 4. Januar 1944 überschritt die Rote Armee ein zweites Mal die polnischsowjetische Grenze von 1939 und setzte dort im Prinzip die Politik der deutschen Besatzer fort. Erneut wurden Polen und Ukrainer gegeneinander ausgespielt. Chruschtschow wiederholte seine Forderung nach einer Großukraine bis weit ins heutige Polen hinein und benutzte Polen gleichzeitig für den Kampf gegen die ukrainischen Nationalisten. Der Bürgerkrieg war der Sovvjetunion insofern willkommen, als die Ukrainer die zwischen 1939 und 1941 be168 Vgl. Wokzanski, S. 475 (Brief v o m 15. O k t o b e r 1943). Vgl. z u m polnisch-ukrainischen Bürgerkrieg auch Subtetny, S. 474 f. 169 W a r u m die Kämpfe in dieser Region mit solcher H ä r t e u n d Grausamkeit g e f u h r t w u r d e n , bedarf n o c h der weiteren Erforschung. Eine mögliche Erklärung f ü r den Sonderfall Wolhynien liegt in e i n e m K o m m u n i k a t i o n s - u n d Öffentlichkeitsdefizit. D e r ukrainische N a t i o n a l i s m u s konnte sich dort nie in d e m M a ß e artikulieren wie in Ostgalizien, die nationalen S p a n n u n g e n stiegen demzufolge bis zu ihrem mörderischen Ausbruch. Ein weiterer G r u n d f ü r das »bosnische Szenario« zwischen 1942 u n d 1945 kann darin gesehen w e r d e n , daß d e r j u n g e polnische Staat nach 1921 in Wolhynien, das w ä h r e n d der T e i l u n g nicht zu Kongreßpolen gehört hatte, besonders hart durchgreifen m u ß t e , u m sich überhaupt als Staatsmacht zu etablieren. 170 M i t u n t e r stifteten die D e u t s c h e n Auseinandersetzungen auch direkt an. Vgl. IS, Ρ 95, in d e m aus der Wojewodschaft Lemberg berichtet wird.
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gonnene Depolonisierung fortsetzten. Die militärische Lage der Polen verschlechterte sich, weil die Rote Armee und der NKVD die Selbstverteidigungszentren grundsätzlich als Konkurrenz ansahen, sie auflösten und Mitglieder der AK verhafteten, soweit sie ihnen in die Hände fielen. Damit sollte die Londoner Exilregierung, der die AK unterstellt war, geschwächt werden und erst gar keine Konkuerrenz zum Moskau-treuen PKWN in Lublin entstehen. Stalin wollte auf alle Fälle verhindern, daß Polen sich aus eigener Kraft befreit, die AK und damit die Londonder Exilregierung im Land die Macht in die Hand bekam.'^' Andererseits war die Sov^etunion nicht in der Lage, Polen vor den Angriffen der UPA zu schützen. Im Herbst 1944 und Frühjahr 1945 griffen ukrainische Partisanen mit erneuerter Kraft Polen an.''^ Dabei kam es zu beispiellosen Grausamkeiten, weil die ukrainischen Nationalisten die Polen als natürliche und oft auch tatsächliche Verbündete der Roten Armee und des NKVD a n s a h e n . S c h w a n g e r e Frauen wurden absichtlich getötet, in den Dörfern versteckte Zivilisten bei lebendigem Leibe verbrannt."'* Auch die Rote Armee und die nachrückenden Zivilbehörden bekamen den erbitterten Widerstand der UPA zu spüren. Dem Abwehrkrieg der Ukrainer gegen die So^^jetunion fielen auf ukrainischer Seite über 100.000 Menschen zum Opfer, die sovvjetischen Behörden erlitten Verluste von über 30.000 und bekamen die Westukraine erst 1947 einigermaßen unter ihre Kontrolle."' Die Flucht und die wilde Vertreibung der Polen - oft lassen sich im Nachhinein beide Prozesse in den Bürgerkriegsgebieten kaum auseinanderhalten - erfolgte meist in mehreren Phasen. Zunächst erging in vielen Fällen die ultimative Aufforderung durch ukrainische Einheiten, das jeweilige Dorf zu verlassen. Wer dieser Aufforderung nicht nachkam, mußte mit der Eroberung des Dorfes und der unmittelbaren Vertreibung rechnen, wobei auf Menschenleben keine Rücksicht genommen wurde. Die Polen flohen aus den Streusiedlungen in die Selbstverteidigungszentren. Im Laufe des Jahres 1944 fielen auch viele dieser Zentren an die Bürgerkriegsgegner, so daß nur noch die Flucht in 171 Aus Wilna, das ein paar S t u n d e n vor der R o t e n Armee von AK-Einheiten befreit w o r d e n war, w u r d e n Piotr Eberhardt zufolge etwa 35.000 Polen deportiert, aus den Wojewodschaften Wilna u n d N o w o g r ó d e k bis D e z e m b e r 1944 bis zu 80.000. M e h r e r e T a u s e n d AK-Kämpfer w u r d e n a u ß e r d e m v o m N K V D ermordet. Vgl. Eberftardi, Cranica wschodnia, S. 134 f , dessen Z a h l e n angaben zu den O p f e r n u n t e r der A K j c d o c h als zu hoch erscheinen. I m Westen bekannter ist das Schicksal von Warschau, das ebenfalls von AK-Kämpfern im Warschauer Aufstand befreit w e r d e n sollte. Die Rote A r m e e ließen die Aufständischen, die schließlich vor den D e u t s c h e n kapitulieren m u ß t e n , im Stich. 172 Vgl. Lukaszów, S. 184; Heczko, S. 3 ff. 173 Vgl.Bwrdî, S. 1 1 8 f 174 Vgl. als Beispiel IS, Ρ 82; vgl. dazu auch v o m N K V D erbeuteten internen Berichte der U P A i n B u r d s . S . 106. 175 G e m ä ß e i n e m Bericht v o n Berija an Stalin w u r d e n allein zwischen Februar 1944 u n d O k t o b e r 1945 98.696 M e n s c h e n bei Kämpfen zwischen so\\getischen u n d ukrainischen Einheiten getötet. Vgl. dazu Burds, S. 97.
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größere Städte oder in Gebiete blieb, die sicher waren, weil ethnische Polen eine deutliche Mehrheit stellten. Die Flucht verlief also in Etappen, dauerte oft mehrere Monate oder Jahre und führte in den meisten Fällen zu einem Verlust allen Eigentums.'"' Hunderttausende Menschen waren auf der Flucht'" und konnten froh sein, wenn sie mit dem Leben davon gekommen waren. Ryszard Torzecki schätzt, daß auf polnischer Seite 80.000 bis 100.000 Menschen dem Bürgerkrieg zum Opferfielen,'^**etwa 300.000 gelang die Flucht über den Bug und den San nach W e s t e n . I m Südosten des heutigen polnischen Staatsgebietes forderten die Kämpfe ebenfalls einen hohen Blutzoll. Dort besaßen polnische Einheiten die Oberhand und zwangen eine hohe Zahl von Ukrainern zur Flucht in die Ukrainische SSR.'®* Ein Zusammenleben von Polen und Ukrainern in gemischten Siedlungsgebieten erschien 1944 nicht mehr möglich. Selbst Familienangehörige und Nachbarn bekämpften sich gegenseitig.'®' Der Bürgerkrieg markierte das Ende einer jahrhundertelangen Nachbarschaft. Unter dem Eindruck der Kämpfe und des gewaltsamen Untergangs des alten multi-ethnischen Polens setzte sich bei den polnischen Kommunisten die Überzeugung durch, daß nur in einem homogenen Nationalstaat eine bessere Zukunft liegen k ö n n e . N i c h t zufällig gehörten die Evakuierungsverträge neben der Landreform zu den ersten Beschlüssen, die das PKWN überhaupt faßte. Vertraglich festgelegte Vertreibung
Im September 1944, also mitten im Kriegsgeschehen, wurde die Vertreibung von Polen aus den Ostgebieten auf eine neue Grundlage gestellt. Die bereits zitierten Verträge zwischen Polen und den sov^etischen Nachbarrepubliken 176 Vgl. die detaillierten A u f z e i c h n u n g e n von vertriebenen Polen in: IZ, Ρ 26; IS, Ρ 82; IS, Ρ 88; IS Ρ 95; IS Ρ 100; siehe auch Eherhardt, Cranica Wschodnia, S. 91. 177 Vgl. Lukaszów, S. 172. 178 Torzecki, Polacy i Ukraiñcy, S. 267. Piotr Eberhardt zufolge sind allein in Wolhynien 40.000 Polen u m s Leben g e k o m m e n . Vgl. Eherhardt, Cranica Wschodnia, S. 38. Dies entspräche über 11 % der ethnisch polnischen Vorkriegsbevölkerung in der Wojewodschaft Wolhynien. Links des Bug, w o polnische Einheiten die Ü b e r m a c h t hatten, w u r d e blutige Vergeltung an d e n U k r a i n e r n geübt. Vgl. dazu Lukaszów, S. 180 f 179 Vgl. zu dieser Schätzung Latuch, S. 104; Eherhardt, Cranica Wschodnia, S. 136. Vgl. als Einzelbeispiel einer Flucht ins Generalgouvernement IZ, Ρ 148. 180 Vgl. Torzecki, Polacy i Ukraiñcy, S. 296-301. 181 Vgl. IS, Ρ 83; IS, Ρ 100 u n d IZ, Ρ 26. D e r polnische Schriftsteller Wlodzimierz Odojewski hat diese Ereignisse in seinem R o m a n Wyspa Ocalenia geschildert (eine deutsche Ü b e r s e t z u n g ist 1966 in F r a n k f u r t a. M . u n t e r d e m Titel Adieu an die Geborgenheil erschienen). Bei einem historischen Rückblick auf den polnisch-ukrainischen Bürgerkrieg ist andererseits zu beachten, daß es auch in M e m o i r e n überlieferte Beispiele v o n ukrainischer Solidarität gegenüber polnischen Flüchtlingen gab. Vgl. dazu IS, Ρ 95. 182 Vgl. Kersten, Pañstwo N a r o d o w e , S. 465.
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regelten, daß entsprechend dem künftigen Verlauf der polnisch-sowjetischen Grenze die Angehörigen der jeweiligen Nachbarnationen in ihren Nationalstaat »evakuiert« werden sollten. Nachdem die neue so-wjetische Westgrenze sehr weit im Westen verlief, betraf die Evakuierung wesentlich mehr Polen als Weißrussen und Litauer. N u r die Ukrainer im Südosten des polnischen Nachkriegsterritoriums wurden ebenfalls in größerer Anzahl Opfer von Vertreibungen. Ähnlich wie bei der Vertreibung der Deutschen verhinderten drei Umstände einen vertragsgemäßen Ablauf der »Evakuierung«: Erstens erhielt die Politik der vollendeten Fakten Vorrang vor einer reibungslosen Umsetzung der Vertreibung. Zweitens gab es ein Problem der Masse. Eine Bevölkerungsverschiebung dieser Größenordnung, es waren immerhin über 1,5 Millionen Betroffene, überforderte angesichts objektiver Faktoren wie den Kriegszerstörungen, dem Mangel an Transportmitteln und der schlechten Versorgungslage die Organisatoren der Vertreibung. Drittens herrschte in den polnischen ähnlich wie in den deutschen Ostgebieten kein Rechtsstaat, sondern Willkür. Lokale Behörden legten häufig fest, inwieweit sie sich an die Bestimmungen der Evakuierungsverträge hielten, eine zentrale und durchsetzungsfähige Kontrolle über den Ablauf der Vertreibung existierte nicht. Als erstes kam die Vertreibung aus der Ukrainischen Sowjetrepublik im Gang. Schon ab Oktober 1944 wurden aus der heutigen Westukraine ethnische Polen in den Südosten Polens verfrachtet, also in Gebiete, die gerade erst die Rote Armee befreit hatte. Die meisten der 117.211 Polen, die gemäß der offiziellen Statistik 1944 nach Westen abtransportiert Verden, waren zuvor von Ukrainern aus ihren Dörfern vertrieben worden und hatten in den Städten Zuflucht gefunden. Die Vertreibung von über hunderttausend Menschen zu diesem frühen Zeitpunkt Ende 1944 gestattete von vorneherein keinen vertragsgemäßen Ablauf der »Evakuierung«. Die von den polnischen und sowjetischen Regierungen als zukünftige Heimat der Vertriebenen bestimmten deutschen Ostgebiete waren noch nicht erobert. Die vorübergehenden Aufnahmegebiete, die links des Bug und San lagen, gehörten zum polnisch-ukrainischen Bürgerkriegsgebiet, waren mit Flüchtlingen überfüllt und in keiner Weise für die Aufnahme zusätzlicher Menschenmassen geeignet. Infolgedessen irrten die Vertriebenen häufig wochenlang in Zügen umher, weil keine Gemeinde sie aufnehmen wollte, und fanden sich in überlasteten Auffanglagern wieder. Diese Bedingungen, so vermerkte der Hauptbevollmächtigte für Evakuierungsangelegenheiten in einem Schreiben an den Ministerpräsidenten und den Präsidenten vom 16. März 1945, »trugen zu einer ernsthaften Zahl an Erkrankungen, ja sogar Todesfällen bei«.'® Verantwortlich fur diese Tragödie war 183 AAN, Urz^d Rady Ministrów (URM), sygn. 5/6, Bll. 50-52.
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nicht zuletzt die polnische Regierung selbst, deren Kabinett schon am 13. Februar 1945 im Zusammenhang mit der Eroberung von deutschen Gebieten beschloß, »auf der Stelle die massenhafte Repatriierung der polnischen Bevölkerung zu beginnen, ohne Rücksichten auf die Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Zerstörung des Landes durch den K r i e g « . D i e s e r Beschluß zur Forcierung der Vertriebenentransporte mitten im Winter war eine ausgesprochene Rücksichtslosigkeit gegenüber den Betroffenen und setzte ein Fanal für die spätere Behandlung von deutschen Vertriebenen und der ukrainischen Minderheit in Polen. Diese Zustände haben eine weitere Ursache in den damaligen politischen Prioritäten der Sov^etunion. Die Politik der vollendeten Fakten, die ein halbes Jahr später bei der wilden Vertreibung der Deutschen erneut angewendet wurde, stand in Ostpolen Pate. Man wollte genügend Polen schnell aus ihren Ostgebieten vertreiben, um die staatliche Zugehörigkeit dieser Territorien zu präjudizieren. Ganz in diesem Sinne war es ursprünglich vorgesehen, die Vertreibung aus der Westukraine schon bis zum 1. Februar 1945 abzuschließen. Die Vertreibung aus Litauen sollte ursprünglich in nur vier Monaten, von Dezember 1944 bis zum 1. April 1945 durchgezogen werden."^ 1945 und 1946 mußten diese Termine mehrfach verlängert werden, weil sie auf keinen Fall einzuhalten waren. Im Frühjahr 1945 besserte sich die Lage der Vertriebenen insofern, als daß sie nun nicht mehr ziellos über den Bug und San verfrachtet wurden. Die Rote Armee hatte die deutschen Gebiete erobert, in denen die Vertriebenen auf Dauer angesiedelt werden sollten. Gleichzeitig wurden die Eisenbahnen nach der Kapitulation des Deutschen Reiches teilweise vom militärischen Nachschub entlastet. Doch einer geregelten »Veφflanzung« der Bevölkerung, wie sie die Vertragspartner ursprünglich geplant und versprochen hatten,'^ standen neue organisatorische Probleme im Weg. Die Verschickung von über einer Million Menschen samt eines Teils ihrer Habseligkeiten und ihres Viehs erforderte ungeheure Transportkapazitäten. Wie im Falle der Deutschen gab es dafür nicht genügend Züge. Ein Bericht des stellvertretenden Bevollmächtigten für Evakuierungsangelegenheiten im wolhynischen Luck, Kapitän Pizío, beleuchtete die dramatische Situation. Pizlo schätzte im Mai 1945 den Gesamtbedarf an Eisenbahnwaggons auf 70.000. Er erhielt jedoch nur eine Zuteilung von 4.000 Waggons, die er als »Träne im Ozean« bezeichnete."'
184 Zarz^d Centralny (ZC) PUR, sygn II/3, Bl. 28. 185 Vgl. Banasiak, Pañstwowy Urz^d, S. 338 ff. 186 Als sich Vertriebene zur Evakuierung bereit erklärten, rechneten sie fest mit der Umsiedlung von geschlossenen Dörfern, da ihnen dies zuvor zugesagt worden war. Vgl. IZ, Ρ 106. 187 AAN, GP Rz d/s Repatr., sygn. 12, Bll. 12-14. Dabei ist zu bedenken, daß der Bedarf an Transponmitteln in Wolhynien nach den vorherigen, umfangreichen Vertreibungen während des Bürgerkriegs und aufgrund der ohnehin geringen polnischen Einwohnerzahl der Wojewodschaft
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Die Vertriebenen mußten an den Verladestationen vielfach Wochen und Monate warten, ehe der Transport begann.'®® Mit dem Mangel an Verkehrsmitteln begründete Pizlo auch, warum die Vertriebenen in offenen Waggons abtransportiert wurden, die besser und voller zu beladen waren. Eine Folge der Reise in Wind und Wetter waren zahlreiche Erkrankungen, außerdem kam der Hausrat der Vertriebenen vielfach durchnäßt und beschädigt in den Aufnahmegebieten an.'®^ Der Wojewode von Bromberg beklagte in einem Brief an das MAP vom 25. Juni 1945 den schlechten Gesundheitszustand der ankommenden Vertriebenen: »Die lange Reise in offenen Waggons, die manchmal sieben bis elf Wochen dauerte, bei unzureichender Ernährung - Mangel an Fett und Zucker - erschöpft den Zustand der Reisenden, speziell der Kinder.«'*' Statistiken aus den Aufnahmelagern für Vertriebene in Oberschlesien deuten daraufhin, daß während des Höhepunkts der Transporte vom Frühjahr 1945 bis zum Sommer 1946 etwa ein Viertel der Vertriebenen in einem Zustand ankam, der eine ärztliche Behandlung notwendig machte.'"^' Selbst wenn es ausreichend Züge gab, scheiterte ein geregelter Transport häufig am Unvermögen der polnischen Behörden. Die Reise aus den polnischen in die deutschen Ostgebiete dauerte, wie zahlreiche Berichte und amtliche Briefwechsel belegen, in der Regel zwei Wochen und länger."^ Eine an den Generalsekretär der PPR, Wtadyslaw Gomulka, gerichtete Beschwerde zeigt, welche Auswirkungen die Transportprobleme nicht nur auf die Gesundheit, sondern vor allem auf das Eigentum und mitgeführte Vieh der Vertriebenen hatte: >Wegen der langen Aufenthalte ermüden die Leute, und viel Vieh, das von den Repatrianten aus der UdSSR befördert wurde, verendet vor Hunger, weil ihm das PUR nicht die nötige Hilfe zukommen läßt. Davon profitieren Spekulanten und kaufen das vor Hunger plärrende Vieh von den Repatrianten. Ich werde hier nicht auf besondere Vorfälle eingehen, weil das fast überall pas-
vergleichsweise niedrig war. Ähnliche Klagen über logistische Mängel bei der Vertreibung kamen auch aus Litauen (vgl. dazu AAN, GP Rz d/s Repatr., sygn. 1, Bl. 7.) . 188 Vgl. Sobków, S. 58 ff.; Okrzesa, S. 109; IS, Ρ 95; AAN, GP Rz d/s Repatr., sygn. 12, Bl. 13. Die schweren Mängel in der Organisation des Abtransports von Vertriebenen aus den Ostgebieten war ein offenbar flächendeckendes Phänomen. Betroffen von wochenlangen Wartezeiten waren auch Ukrainer, die vom Territorium Nachkriegspolens in die Ukraine vertrieben wmrden. Vgl. AAN, GP Rz d/s Repatr., sygn. 9, Bl. 358 und Bl. 433. 189 Das Siedlungskomitee der Wojewodschaft Schlesien-D^rowa stellte daher im Oktober 1945 einen / ^ t r a g an den Evakuierungsbevollmächtigten Wolski, die Vertriebenentransporte wenigstens in bedachten Waggons durchzuführen. AAN, Ministerstwo Administracji Publicznej (MAP), sygn. 2467, Bl. 122; vgl. auch IZ, Ρ 54. 190 AAN, MAP, sygn. 2488, Bl. 13. 191 Vgl. AAN, M Z O , sygn. 70, Bl. 112. Entlang der Bahnstrecke durch Oberschlesien nach Westen wurden deshalb im Oktober 1946 spezielle Behandlungspunkte für kranke Vertriebene und Kinder eingerichtet. 192 Als Beispiele siehe AAN, GP Rz d/s Repatr., sygn. 2, Bl. 16; IS, Ρ 68; Okrzesa, S. 115.
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siert.«'''^ Nicht nur die Versorgung des Viehs, auch die der Menschen mit den vorgeschriebenen Lebensmittelrationen funktionierte nicht."'' Neben den Schwierigkeiten im Transportwesen scheiterte die vertragsgemäße »Evakuierung« der ostpolnischen Bevölkerung auch an der Willkür der Vertreiber. Aus allen drei Sovvjetrepubliken, aus denen vertrieben v ^ r d e , berichteten polnische Regierungsvertreter, daß den Vertriebenen die Mitnahme ihres Eigentums innerhalb der vertraglich festgelegten Gewichtsbegrenzung nicht ermöglicht wurde. In Litauen war es üblich, daß die örtlichen Behörden den Vertriebenen vor der Verladung einen Teil ihres Eigentums wegnahmen. Dies belegen entsprechende Berichte staatlicher polnischer Stellen von 1945"^ und 1946.·''^ In der Weißrussischen SSR waren diese Vertragsverletzungen weniger häufig. Daß sie vorkamen, deutet aber ein Protokoll vom November 1945 zu Verhandlungen polnischer und weißrussischer Regierungsvertreter an."^ In der Ukrainischen SSR war die humanitäre Situation am schlechtesten. Dort klagte der Evakuierungsbevollmächtigte Wladyslaw Wolski in einem bezeichnenderweise geheimen Brief an die Regierung: »Sie überfallen die Transporte mit Evakuierten und rauben ihr Eigentum.«"® Ahnlich erging es allerdings auch den Ukrainern, die aus Polen in die Sowjetunion vertrieben wurden. Das Innenministerium der UdSSR resümierte in seinem abschließenden Bericht zur »Evakuierung« der Ukrainer aus Polen vom 31. Oktober 1946 lakonisch: »Die Evakuierung der ukrainischen Bevölkerung verlief unter schwierigen Bedingungen. Die Handlungen von ukrainischen und polnischen nationalistischen Banden und anderer antisowjetischer Elemente führten zu einem Auseinandertreiben der Bevölkerung. Die Banditen haben Überfälle auf den Apparat des Hauptbevollmächtigten der ukrainischen Regierung für die U m siedlung und auf Ukrainer verübt, die den Wunsch nach einer Ausreise in die Ukraine geäußert hatten. Gegen die Eisenbahntransporte wurden Sabotageakte durchgeführt.«"« Kapitän Pizlo, der bereits erwähnte stellvertretende Evakuierungsbeauftragte in Luck, beschwerte sich in einem Brief an die polnische Regierung, daß die
193 AAN, M Z O , sygn. 690, Bll. 204-207. 194 Vgl. IZ, Ρ 54; muer, S. m-Januszkiewicz, S. 231. 195 Vgl. einen Bericht des Evakuierungsbevollmächtigten der polnischen Regierung, Wladyslaw Wolski, vom 22. März 1945 in: AAN; GP Rz d/s Repatr., sygn. 2, Bl. 96; vgl. auch ein Schreiben des polnischen Bevollmächtigten für die Evakuierung in der litauischen SSR, St. Ochocki an den polnischen Botschafter in Moskau vom 2. April 1945 in: AAN, GP Rz d/s Repatr., sygn. 3, Bll. 170-186. 196 Vgl. einen Brief der vier polnischen Regionalbevollmächtigten für die Evakuierung aus der Litauischen SSR (die Vertreibungsgebiete in Litauen waren zuvor in vier Regionen aufgeteilt worden) an das ZK der PPR vom 14, Januar 1946 in: AAN, 295/V1I/51, sygn. 76, Bl. 1 197 Vgl. AAN, GP Rz d/s Repatr., sygn. 1, Bl. 5. 198 AAN, GP Rz d/s Repatr., sygn. 12, Bll. 3 f 199 R C C h i D N I , Font 17, op. 121, Techsekratriat Org.Büro, SK VKP (b), Delo 545, Bl. 47.
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lokalen Behörden vor der Verladung Möbel beschlagnahmten und unter dem Vorwand veterinärer Untersuchungen die Ausfuhr von Pferden und Kühen nicht zuließen. Wenn sich die Besitzer wehrten, sei ihnen das Vieh »unter Anwendung von Gewalt« weggenommen worden.^™ Pizlo intervenierte nach diesen Vorkommnissen als Vertreter der polnischen Regierung bei so\\getischen Behörden, die erklärten, daß die Schuldigen zur Rechenschaft gezogen würden. Wenigstens für eine gewisse Zeit ließen die Viehdiebstähle daraufhin nach. Diese Episode markiert gleichzeitig einen wesentlichen Unterschied zwischen der Vertreibung von Deutschen und von Polen. Die deutschen Vertriebenen hatten keine Regierungsvertreter in den Vertreibungsgebieten, die für sie eintreten konnten. Daß die vertragswidrige Behandlung polnischer Vertriebener und ihres Eigentums trotz aller gegenteiliger Abmachungen und der Interventionen der polnischen Regierung durchaus die Regel war, belegen Quellen aus einzelnen Kreisen in den Westgebieten: Bei den Materialien des PUR im Kreis Kreuzburg liegt eine ungewöhnlich dicke Akte, die ausschließlich schriftliche Berichte von Vertriebenen über den Raub ihres Eigentum nach dem Einmarsch der Roten Armee in den polnischen Ostgebieten enthält.^"' Entgegen den Evakuierungsverträgen wurden von den Vertriebenen auch Steuern, Abgaben, Versicherungs- und Rentenbeiträge nachgefordert, die sie aufgrund ihres fehlenden Einkommens während der Kriegsjahre nicht leisten konnten. Die angedrohte Einziehung von Steuern und Abgaben war eine verbreitete Methode, mit der sov^jetische Stellen im Osten verbliebene Polen zum Verlassen der Heimat bewogen. Wie persönliche Überlieferungen zeigen, wurden in den Städten im Laufe des Jahres 1946 selbst die Menschen zum Verlassen der Heimat gezwomgen, die dort auf alle Fälle aus Patriotismus bleiben wollten.^"^ Zweck war die Auslöschung der polnischen Kultur in deren alten Zentren wie Lemberg und Wilna. Generell hat die polnische Historiographie bis 1989 den Umfang des Zwangs bei der Vertreibung entweder verschwiegen oder unterschätzt. Die Gründe dafür sind zum einen in der Zensur zu sehen, zum anderen darin, daß sich die Vertriebenen in der letzten, auf Verträgen basierenden Phase der Vertreibung für die Evakuierung bzw. Repatriierung registrieren lassen mußten. Dies ist vielfach im Sinne einer »freiwilligen Ausreise« fehlinterpretiert worden. Die Motive für die Registrierung waren vielfältig und können als eine
200 A A N , G P Rz d/s Repatr,, sygn. 12, Bl. 13; Ähnliche V o r k o m m n i s s e gab es in Lemberg, vgl. dazu Gansiniec, S. 25. 201 Vgl. AP w O p o l u , P U R Kluczbork, N r . 14. Insgesamt handelt es sich u m 289 Berichte. Ähnliche D o k u m e n t e sind in den Beständen des Kreisamts enthalten. Vgl. ÄP w Opole, SP w H u c z b o r k u , sygn. 101, Bl. 18. Diese Problematik streift mchBozenna Chmielewska, S. 74. 202 Vgl. das veröffentlichte Tagebuch des Lemberger Professors Ryszard Gansiniec.
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Kombination von unmittelbarem Zwang, Furcht u n d Erschöpfung beschrieben werden. Viele Polen in den Ostgebieten lebten in dem Bewußtsein, daß die Zeit Polens in den kresy abgelaufen u n d ein Zusammenleben mit Ukrainern nicht m e h r möglich war.^® O f t hatten die Menschen auch das Bedürfnis, nach sechs Jahren wechselnder Besatzung, Deportation und Bürgerkrieg endlich in einem Gebiet zu leben, w o Polen, d.h. Sicherheit und Frieden herrschten. Die Komplexität der Vertreibung der Polen, bei der verschiedene Formen des Zwangs wirksam wurden, auf die im nächsten Kapitel näher eingegangen v^drd, läßt sich anhand von Erinnerungen und Tagebüchern, also Quellen subjektiven Charakters, gut aufzeigen. Der erste Typ von Erinnerungen - soweit man solche Kategorien aufstellen kann - stellt die Angst vor dem eigenen Untergang heraus u n d übermittelt daher fast schon ein Gefühl der Erleichterung, als die Möglichkeit zur Übersiedlung nach Polen bestand: »Unter uns war eine Angst, die nicht z u m Aushalten war.« Der Autor der Erinnerungen, der 1944/45 gut zwanzig Jahre alt war, versteckte während dieser Zeit Frauen und Kinder des Dorfes in einer Kirche. Die polnischen M ä n n e r verbargen sich im Wald. Schließlich gelangte der Memoirenschreiber zu einem polnischen Stützpunkt in Ostgalizien, wo die Familie f ü n f Wochen lang vor sich hinvegetierte. Dann, so der Autor, »kam endlich die Verordnung, daß wir in den Westen gehen können«.^®^ Diese Art von Rezeption kam unter den Deportierten sowie den ehemaligen Bewohnern Wolhyniens u n d den Gebieten Ostgaliziens, in denen der Bürgerkrieg mit besonderer Härte geführt worden war, häufig vor. Je m e h r die Heimat der polnischen Vertriebenen verwüstet war, desto eher nahmen ihre Bewohner die Vertreibung als momentane Erleichterung oder sogar als Lebensrettung auf Doch wie die Uberlieferung aus einem Tagebuch zeigt, war sogar f ü r diese unmittelbaren Bürgerkriegsopfer die Stunde des Abschieds schmerzhaft und von Tränen begleitet. »Die Alteren und die Jüngeren haben geweint, aber am lautesten vermutlich mein Irek [der Sohn der Verfasserin, d. Vf ], der sechzehn Jahre in Druskienniki durchlebt hatte und nicht ausreisen wollte.w^·^
203 Deutsche Vertriebene, die nach 1947 in der SBZ ankamen, drückten ebenfalls vermehrt das Gefühl aus, daß die Zeit der Deutschen in den Vertreibungsgebieten vorbei sei. Vgl. fur Vertriebene aus den ehemaligen Ostgebieten BAP, D O 1-10, Nr. 31, Bl. 240; vgl. für Vertriebene aus der Tschechoslowakei Conrad, S. 4. Andererseits traf viele deutsche Vertriebene, die z.B. im westlichen und südlichen Niederschlesien oder im Sudetenland lebten, und die vorn Bombenkrieg und Kampfhandlungen weitgehend verschont geblieben waren, die Vertreibung in ihrer Perzeption aus nahezu »heiterem Himmel«. 204 IZ, Ρ 26, vgl. auch Szymanski, S. 92. Ergänzend sei hier nochmals angemerkt, daß die Erinnerungen aus dem Schlesischen Institut (zitiert als IS, Ρ ...) erst Anfang der achtziger Jahre gesammelt wurden, während die Memoiren des Westinstituts (zitiert als IZ, Ρ...) bereits Mitte der fünfziger Jahre verfaßt wurden. 205 Vgl. zwei Tagebücher aus der ehemaligen Wojewodschaft Tarnopol, IZ, Ρ 54 und IS, Ρ 68. 206 Witter, S. 98.
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In einer zweiten Kategorie von Erinnerungen wollten die Autoren das Verlassen der Heimat zunächst nicht hinnehmen. Ein Beispiel dafür sind die Memoiren eines Kleinbauern aus dem Kreis Zólldew, der nördlich von Lemberg in der heutigen Westukraine liegt. Der Autor organisierte in seiner Heimat die polnische Selbstverteidigung. Den Kämpfen fiel unter anderem der Vater des Autors zum Opfer, der von Angehörigen der UPA bei lebendigem Leibe verbrannt wurde. In dem beschriebenen Gebiet, das aus einem knappen Dutzend Dörfern bestand, konnten sich die Polen im Bürgerkrieg durchsetzen und gingen davon aus, daß die künftige Grenze östlich von ihnen verlaufen würde. Im Sommer 1945, als die neue Grenzziehung bekannt wnrde, resignierte der Autor: »Die Amter für Repatriierung haben schon groß Reklame gemacht für die Repatriierungsaktion der Polen in die Westgebiete. Die Polen haben ungern einen Antrag auf Repatriierung gestellt, aber beträchtliche Hilfe bei diesem Werk haben die Bandenmitglieder geleistet. Die Banden der UPA haben immer mehr Überfälle auf polnische Dörfer verübt, selbst in Lemberg hat man auf den Gehsteigen jeden Tag ermordete Polen gefunden. Die sowjetischen Sicherheitsorgane haben selten wegen der Morde eingegriffen, die von den Bandenmitgliedern verübt wurden. Es sah damals so aus, als würden der Regierung die Tätigkeiten der Bandenmitglieder zur Hand gehen. Der Autor ließ sich in dem Moment für den Abtransport nach Westen registrieren, in dem ihn sowjetische Sicherheitsorgane suchten und er Gefängnishaft oder die Deportation befürchtete. Gefühlsbetont schilderte er seinen Abschied von der Heimat: »Aus der heimatlichen Gemeinde fliehend, die mir den Anfang des Lebens schenkte, wo ich aufgewachsen bin, wo sich mein Wesen herausgebildet hat, wo ich meine seelische Kraft geschöpft habe und wo in meinem Herzen die Liebe für verschiedene Leute und Dinge entflammte - von all diesem war ich gezwungen, mich zu verabschieden.«^"® In einem dritten, eher seltenen Typ von Memoiren distanzierten sich die Verfasser im Nachhinein sogar von der staatlich vorgeschriebenen Terminologie und bezeichneten die Repatriierung als Verbannung oder Vertreibung (wygnanie oder wypçdzenie): »Es gab keine andere Rettung als die Flucht. Ich erinnere mich bestens an den Moment, als ich mit der Mutter und dem Großvater in die Verbannung ging.«^"' Die Autorin dieser Zeilen war zum Zeitpunkt ihrer Vertreibung sieben Jahre alt.^'"
207 Vgl. exemplarisch IS, P. 82. 208 IS, P. 82; siehe auch den Bericht v o n Л / т а Heczko aus der Stadt Lemberg, S. 5 - 7 , in d e m ebenfalls die Alternativen als Deportation oder »Ausreise« beschrieben werden. 209 IS, Ρ 95; vgl. auch Witter, S. 97. 210 Wie Alojsy Sitek nachweist, war das G e f ü h l , vertrieben zu sein, auch u n t e r Priestern aus den ehemaligen Ostgebieten verbreitet. Vgl. Sitek, S. 61. Allgemein w a r in Schichten mit e i n e m ausgeprägten polnischen Nationalbewußtsein, wie z.B. d e m katholischen Klerus, das G e f ü h l , daß mit der »Repatriierung« ein U n r e c h t begangen w o r d e n sei, besonders ausgeprägt. Vgl. dazu auch
Alle zitierten Erinnerungen vereint, daß die Betroffenen mit Wehmut an die Heimat zurückdachten und das Gefühl hatten, von einem ungerechten Schicksal getroffen zu sein. Diese subjektiven Gefühle waren denen der deutschen Vertriebenen ähnlich und existierten unabhängig davon, ob die Autoren im späteren Leben, in der »neuen Heimat«, erfolgreich waren oder nicht. Allerdings spielten die Entwurzelungserfahrungen in den Memoiren eine geringere Rolle, in denen die Autoren auf eine vergleichweise erfolgreiche Karriere in den Westgebieten zurückblickten und diese in den Vordergrund stellten. Ähnlich wie im Falle der Deutschen besserte sich der Ablauf der Vertreibung im Laufe des Jahres 1946, weil sich die sowjetische und die polnische Verwaltung stabilisierten. Die Zahl der Beschwerden und innerbehördlichen Hagen über die Vertreibung ließ deutlich nach. Im Herbst 1946 ging auch der Strom an Vertriebenen zurück. 1947 wurden nur noch 10.801 Polen »repatriiert«, 1948 7.325. Dieser rasche Rückgang verdeutlicht den insgesamt spürbar geringeren Umfang der Vertreibung der Polen, die im großen und ganzen etwa ein Jahr früher beendet werden konnte als im Falle der Deutschen. Entsprechend diesem Rückgang erhöhten sich die Chancen auf eine reibungslose Organisation.^" Wenn polnische Vertriebene 1946 und 1947 in einem schlechten Gesundheitszustand ankamen, hatte dies meist andere Gründe als logistische Probleme: Seit Ende 1945 traf das Gros der »Sibiriacy«, also der zwischen 1939 und 1941 nach Sibirien und Zentralasien Deportierten, in den Westgebieten ein. Ihr Gesundheitszustand war häufig kritisch, außerdem waren sie vollkommen mittellos. Seit Mitte 1946 trat in den ehemaligen polnischen Ostgebieten ein neues Phänomen auf, das sich später auch in den Vertreibungsgebieten der Deutschen manifestierte. Vor allem auf dem Land wurden Polen nicht mehr nur zur Ausreise gedrängt, sondern trotz ihrer fremden Volkszugehörigkeit zum Bleiben in der Sowjetunion gezv^ngen. Meist waren der Anlaß für ein Festhalten von Bevölkerung wirtschaftlicher Natur. Im Falle der Polen war vor allem ländliche Bevölkerung im Westen der weißrussischen SSR und in Litauen betroffen, denn im Falle einer Abwanderung aller Polen wurde eine Verödung und ein wirtschaftliches Ausbluten der betreffenden Gebiete befürchtet.^'^ Die das schon zitierte Tagebuch von Ryszard Gansiniec. Auch die genannteЛ/тbesitzlosen Eindringlinge aus dem Osten< loszuwerden, und majorisiert die Repatrianten in den örtlichen Selbstverwaltungsorganen und in der Miliz.«'^^ Im Unterschied zur SBZ, wo die Aufnahme unvermeidbar war, hatten die regionalen und lokalen Verantwortungsträger in Zentralpolen jedoch ein triftiges Argument, die Ankömmlinge tatsächlich »loszuwerden«. Sie verwiesen darauf, daß für die Aufnahme der »Repatrianten« eigens dafür vorgesehene Gebiete vorhanden seien, deren Besiedlung im nationalen Interesse Polens liege. Die meisten Vertriebenen konnten sich daher in Zentralpolen nicht halten und zogen mehr oder weniger freiwillig weiter in die Westgebiete. Dort bestanden andere Voraussetzungen für die Beziehungen zwischen Zentralpolen und vertriebenen Ostpolen, da beide Gruppen zugewandert waren. Die Bedingungen für ein konfliktarmes Verhältnis beider Gruppen waren
152 BLHA, Ld. Br. Rep. 203, Nr. 1075, Bl. 64. 153 AAN, M Z O , sygn. 690, BI. 29. Vgl. dazu für das Gebiet der SBZ eine sehr ähnlich klingende Beobachtung der ZVU: »Häufig werden Neubürger von der eingesessenen Bevölkerung als Eindringlinge bezeichnet.« BAP, D O 1-10, Nr. 25, BI. 105; vgl. dazu auch den Aufsatz von J. Kochanowski über die Vertreibung aus den ehemaligen polnischen Ostgebieten. 154 Vgl. zur Problematik der Vertriebenen in Ostoberschlesien Gotçbiowski, S. 104-110; vgl. zur Wojewodschaft Warschau IZ, P. 25; IZ, P. 225; Zaba, S. 69; vgl. zur erneuten Migration in die Westgebiete Banasiak, Osadnictwo, S. 167. Die Ausnahme hierzu waren bereits 1944 aus den Ostgebieten abtransportierte »Repatrianten«, die mehrheitlich in Zentralpolen blieben.
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auch insofern günstiger als in Zentralpolen, da in den Westgebieten praktisch das gesamte (ehemals deutsche) Eigentum für eine Aufteilung unter den Ankömmlingen zur Disposition stand. Dementsprechend war eine materielle Basis dafür vorhanden, Verteilungskonflikte weitgehend zu vermeiden. Wie im Kapitel zur Ankunft und Aufnahme der Vertriebenen dargestellt, schmolz diese Basis jedoch im »wilden Westen« schnell dahin, außerdem ließ die Dynamik des Besiedlungsprozesses keine gleiche Verteilung des Vermögens in den ehemaligen deutschen Ostgebieten zu. Weiteren Anlaß zu Konflikten lieferten die verschiedene Vorgeschichte von Umsiedlern und Vertriebenen, die ungleichen Rollenzuweisungen durch die Regierung und die verschiedenen Interessen beider Gruppen. Die Umsiedler waren eine dynamische Gruppe, die freiwillig mit dem Ziel eines materiellen und sozialen Aufstiegs migriert war. Die polnische Regierung hatte die U m siedlung mit Versprechungen, daß jeder Zentralpole in den Wiedergewonnenen Gebieten eine Hofstelle erhalten werde, gefördert. Die 1945 herausgegebene Werbebroschüre »Na Zachod!« (In den Westen!) gibt dies v^aeder. In dem Faltblatt hieß es: »Geh dorthin! Ehe Du Dich umschaust/ biste besser und reich/ denn der Bauer im Westen/ ist dem Wojewoden gleich!«'" Allein 1945 registrierte das PUR in den Westgebieten 1.630.000 Umsiedler aus Zentralpolen. In dieser Statistik waren die »wilden« Siedler nicht mitgezählt.''' Dagegen waren die sogenannten Repatrianten nicht freiwillig in die Westgebiete gekommen. Sie mußten erst den Vertreibungsschock überwinden und sich an die neuen Gegebenheiten gewöhnen, die ihnen wegen der weiten Entfernung zur alten Heimat fremder waren als den Zuwanderern aus Zentralpolen. Wie die verbreitete Hoffnung auf Rückkehr belegt, war ihr Denken und Fühlen zumindest noch teilweise auf die Vergangenheit gerichtet, während sich die Umsiedler schon unmittelbar nach der Ankunft in den Westgebieten auf ihre Karriere und die Vermehrung ihres Besitzstandes konzentrierten. Im Verlauf der Besiedlung der Westgebiete konnten sich die Umsiedler aus Zentralpolen höhere Stellen in der Wirtschaft und überproportional viele Positionen in der Politik, den mächtigen Sicherheitsorganen und der Verwaltung sichern. Sie schnitten auch bei der Verteilung von knappen Gütern wie Land und den für eine Individualbewirtschaftung geeigneten Hofstellen besser ab. In der Folge der Besiedlungspolitik entstanden somit spürbare soziale Unterschiede zwischen Vertriebenen und Umsiedlern. Diese waren zwar weniger ausgeprägt als zwischen Vertriebenen und Einheimischen in Deutschland, doch war beispielsweise das Repräsentationsdefizit in den staatlichen Strukturen etwa gleich groß. Dies verursachte zahlreiche Spannungen, Mißgunst und 155 Auf polnisch lautete der Vers: »Jedz tarn, Ani siç opatrzysz, Juzes' lepszy i bogatszy, Bowiem rolnik na Zachodzie, Bçdzie r ó w n y wojewodzie!« 156 Vgl. Stabek, S. 227.
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Neid. Grob vereinfacht standen Umsiedler einige Jahre nach dem Krieg als Gewinner der Westverschiebung Polens da, viele Vertriebene hingegen als Verlierer.
Verteilungskonflikte
Der Verlauf der Besiedlung der Westgebiete bewirkte, daß ein erster Schwung von Umsiedlern vor den Vertriebenen in den jeweiligen Aufnahmeorten ankam und sich die attraktivsten, unzerstörten Landwirtschaften und Wohnungen sichern konnte.'" Solange für alle Ankömmlinge Ansiedlungsmöglichkeiten vorhanden waren, entstanden aus dieser Situation heraus noch keine gesellschaftlichen Konflikte. Spannungen zwischen den Gruppen traten erstmals auf, als die Hofstellen, auf denen sofort eine Individualbewirtschaftung aufgenommen werden konnte, knapp wurden. In den Gebieten nahe der deutsch-polnischen Grenze von 1939 war dies schon im Frühsommer 1945 der Fall, in weiter von Zentralpolen entfernten Regionen Anfang 1946. Je mehr polnische Siedler ankamen, desto spürbarer wurde auch der Mangel an Lebensmitteln, Brennstoff und anderen Gütern des täglichen Bedarfs. In Oberschlesien registrierten die Behörden erstmals im Juli 1945 Beschwerden der Vertriebenen. Das PUR in Kreuzburg stellte fest: »Die Gründe für die Unzufriedenheit liegen im Mangel eigener Arbeitsstätten, von Lebensmitteln und Brennstoff. Sie sind enorm verbittert über die Regierung und die, welche die Repatriierung ausführten. Daher rühren auch die Vorbehalte gegenüber der örtlichen Bevölkerung, deren Verhältnis zu ihnen nicht gerade herzlich ist, sowie gegenüber den Siedlern aus Zentralpolen, von denen jeder, da sie früher ankamen, eine eigene Wirtschaft oder einen anderen Arbeitsplatz h a b e n . I m Kreis Kreuzburg, in dem aufgrund der hohen Anzahl nicht angesiedelter Vertriebener die Lage besonders angespannt war, notierte das PUR wegen der offensichtlich besseren Ausstattung der Umsiedler mit Land und Bauernhöfen einen »ausgeprägten Antagonismus zwischen Repatrianten und Ansiedlern«. Doch auch in den Teilen der Westgebiete, in denen aufgrund der fast vollständigen Vertreibung der ursprünglichen Bevölkerung mehr Ansiedlungsmöglichkeiten bestanden, berichteten die Behörden über ein schlechtes Verhältnis
157 Vgl. dazu die Situationsbeschreibungen aus verschiedenen Regionen in Pierwsze lata, Bd.
II, S. 319 und S. 347; IS, Ρ 80; IS, Ρ 95; IZ, Ρ 20\· Kempß, S. 93 ff. 158 AP w Opolu, P U R ЮисгЬогк, sygn. 6, Bl. 146. 159 AP w Opolu, P U R ЮисгЬогк, sygn. 8, Bl. 56; vgl. auch ähnliche Berichte anderer Stellen in AP w Opolu, SP w ЮисгЬогки, sygn. 79, Bl. 25; AP w Opolu, SP w ЮисгЬогки, sygn. 130, Bl. 88; AP w Opolu, SP w ЮисгЬогки, sygn. 135, Bll. 1 f. und 35 ff. Im Zusammenhang mit dem Streit um Bauernhöfe und Wohnungen kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Vertriebenen und Umsiedlern. Vgl. AP w Opolu, SP w Kozlu, sygn. 351, Bl. 2.
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beider G r u p p e n . D i e Gesellschaft organisierte sich entsprechend ihrer Herkunft, d.h. Umsiedler halfen Umsiedlern, Vertriebene unterstützten Vertriebene. Diese herkunftsbedingte Solidarität war insofern vorgezeichnet, als bei der Ankunft meist kleinere, manchmal auch größere Gruppen aus einem kleinen, überschaubaren Umkreis stammten. Umsiedler aus bestimmten Dörfern kamen oft gemeinsam an, wenn sie nicht ohnehin in Trecks nach Westen gezogen waren. Auch in den Vertriebenentransporten wurden zumindest Teile von Ortschaften en bloc nach Westen verfrachtet. Zu einer weiteren Belastung des Verhältnisses, das sich am Beispiel der Fallstudien am anschaulichsten zeigen läßt, trugen Umsiedler bei, die sich am Rande der Legalität bewegten. Ein Beispiel dafür war die Reservierung ehemaligen deutschen Eigentums für nachziehende Bekannte und Familienmitglieder. Beispielsweise hing in der Nähe von Kreuzburg an einer unzerstörten, von den Deutschen bereits verlassenen Mühle ein Schild »besetzt von einem Polen« (zajçty przez Polaka). Damit hatte ein früher angekommener Umsiedler die Mühle in Beschlag genommen, obwohl er über längere Zeit hinweg gar nicht dort lebte. Diese Praxis war in den Westgebieten verbreitet. Zahlreiche Bauernhöfe wurden über mehrere Monate hinweg von Umsiedlern belegt, aber nicht bewirtschaftet. Später ankommende Vertriebene konnten auf diesen Objekten trotz des dringenden Bedarfs an Hofstellen nicht angesiedelt werden. Wie das PUR in Kreuzburg festhielt, »ist es nicht verwunderlich, daß daraus Streit und Auseinandersetzungen zwischen Umsiedlern und Repatrianten entstehen«. Auch die ungleiche Verteilung von Inventar erzeugte zahlreiche Konflikte. Z u Beginn des Besiedlungsprozesses war es durchaus üblich, daß die zuerst angekommenen Siedler sich das Vieh und die Maschinen von benachbarten, noch unbewohnten Hofstellen nahmen. Überschüssiges Inventar wurde nach Zentralpolen geschmuggelt oder an Ort und Stelle verkauft.''^ Vielen Vertriebenen, die später ankamen, blieb nichts anderes übrig, als mit Höfen ohne jegliche Ausstattung vorliebzunehmen. Wie Beschwerden aus der Bevölkerung belegen, kam es vor, daß Vertriebene, die noch eine der wenigen voll ausgestatteten Landwirtschaften erhalten hatten, diese zugunsten von Umsiedlern abgeben mußten und auf deutlich schlechteren Hofstellen angesiedelt vrar-
160 Vgl. CA MSW, M Z O , sygn. 35, Bl. 4; AP w Opolu, P U R Nysa, sygn. 2, Ell. 5 und 9. Eine Besserung des Verhältnisses notierten die Behörden seit dem Frühjahr 1949, unter anderem weil Umsiedler in größerer Anzahl in die alte Heimat zurückkehrten und dadurch Hofstellen für Vertriebene frei wurden. 161 Vgl. AP w Opolu, P U R muczbork, sygn. 6, Bl. 46 und AP w Opolu, P U R Muczbork, sygn. 8, Bl. 36; vgl. zu ähnlichen Praktiken in Niederschlesien und speziell Breslau IZ, Ρ 148 und IS, Ρ 68.
162 Vgl. AP w Opolu, SP w rauczborku, sygn. 130, o. Bl.; ebd., sygn. 135, Bl. 1 und sygn. 79, Bll. 11 und 36; vgl. zum Kreis Cosel AP w Opolu, P U R Kozle, sygn. 74, Bl. 26.
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den.'" Das Staatliche Repatriierungsamt klagte in einem Brief an das M Z O : »In vielen Fällen machen die Bürgermeister und Gemeindevorsteher die Arbeit mit der Ansiedlung der Repatrianten vollkommen zunichte und nicht selten schaffen sie es, Repatrianten von Objekten zu vertreiben, die durch das PUR zugeteilt vmrden.«'" Die lokalen Behörden trugen wenig zur Schlichtung der Konflikte bei, weil ihnen einerseits die rechdiche Handhabe fehlte, und Beamte und Lokalpolitiker sich außerdem häufig mit den Siedlern solidarisierten, die aus ihrer jeweiligen Heimat stammten. Da die Umsiedler in den meisten Orten das politische Geschehen bestimmten und die Sicherheitsorgane dominierten, konnten sie Konflikte um Eigentum fast immer für sich entscheiden. Wiederum versuchten Vertriebene, die zu Gemeindesekretären oder Bürgermeistern aufgestiegen waren, Umsiedler aus ihren Dörfern fernzuhalten.
Stereotype
Hintergrund dieser Ablehnung waren die Plünderungen in den Westgebieten. Die Umsiedler waren bereits im Herbst 1945 als »szabrovraicy« (Plünderer) verrufen. Das Vorurteil, daß sie nur zur persönlichen Bereicherung in die Westgebiete gekommen seien, erhielt dadurch Nahrung, daß es in den einzelnen Gemeinden immer einen Fall gab, der dies zu bestätigten schien.'^ Auch in die Korruptionsskandale, die im Zuge der Stabilisierung der polnischen Verwaltung aufgedeckt wurden, waren vorwiegend Umsiedler verwickelt. Dies entsprach der Logik der Situation: Das Verschieben von Gütern aus den Westgebieten setzte Kontakte und Beziehungen in Zentralpolen voraus, über die Umsiedler eher als Vertriebene verfügten. Das Wort »Szaber« wurde Ende 1945 in den Westgebieten zum Sammelbegriff für alle Eigentums- und Korruptionsdelikte.'" Auch diese Vereinfachung trug zur Bildung des Stereotyps der Umsiedler als »Plünderer« bei, denn Straffällige wurden in der Öffentlichkeit meist nicht als Diebe, Betrüger oder korrupte Beamte, also als Täter eines bestimmten Delikts, sondern als »Szabrow-
163 Vgl. AP w Opolu, SP w Kluczborku, sygn. 135, Bl. 52; vgl. auch die in dem Tagebuch von W. Witter, S. 101, überlieferte Ausquartierung aus dem ersten Haus, das die Familie nach der Ankunft in den Westgebiete bewohnte. 164 AAN, MZO, sygn. 70, Bl. III. 165 Vgl. einen Bericht aus dem Kreis Neisse in AP w Opolu, PUR Nysa, sygn. 12, Bl. 44. Einem Dorfbürgermeister, der aus den ehemaligen Ostgebieten stammte und gegen Umsiedler vorging, wurde unterstellt, er sei »der Seele nach Ukrainer«. Vgl. ähnliche Fälle in AP w Opolu, PUR ЮисгЬогк, sygn. 6, Bl. 96; Chrzanowski, S. 35; vgl. bezüglich Niederschlesien IZ, Ρ 46. 166 Vgl. als Beispiel im Gebiet der Mikrostudien AAN, MZO, sygn. 1251, Bl. 217; AP w Opolu, SP w ЮисгЬогки, sygn. 364, o. Bl. Diese Fälle wurden in der Öffentlichkeit breit diskutiert. 167 Vgl. als Beispiel AAN, MZO, sygn. 1245, Bl. 118.
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nicy« bezeichnet. Wie die gedruckt vorliegenden Erinnerungen von Wladyslaw Kempfi über seine Tätigkeit bei einer Bank in Breslau beispielhaft zeigen, war dieses Stereotyp in abgeschwächter Form auch in Betrieben verbreitet: »Die Lemberger nota bene waren sehr negativ gegenüber den Warschauern eingestellt, von denen sie jeden als Schlitzohr und Gauner ansahen. Genau umgekehrt war die Einstellung der Warschauer gegenüber den Lembergern. Jeder Lemberger war voller Sentimente und sah sich oft als Helden an. Aufgrund dieses Antagonismus entstanden häufig Konflikte und Mißverständnisse.«"^ Neben der mit dem Begriff Szabrownik verbundenen Kriminalisierung war ein weiteres, daran angelehntes Stereotyp verbreitet: Das des Umsiedlers als Emporkömmling und Karrieristen. Diese Einordnung hielt sich länger als die des Plünderers, der ab 1946 zunehmend die reale Grundlage fehlte, und hatte ihre Ursache in der sozialen Schichtung der Westgebiete. Auf Seiten der Umsiedler machte sich wiederum Verachtung für die Vertriebenen breit. Deutlich wird dies am Beispiel einer Beschreibung von Vertriebenen in der Wojewodschaft Breslau von einem Mitarbeiter des Amtes für öffentliche Sicherheit, der selbst aus einfachen Verhältnissen in der Wojewodschaft Posen stammte: »Ihre Bauernhöfe unterschieden sich deutlich, sie waren schlampig, dreckig, die landwirtschaftlichen Maschinen waren durcheinandergeworfen. Überall herrschte Durcheinander und Unordnung, fehlte es an der sprichwörtlichen guten Hand. Der Mist war über den ganzen Vorhof ausgebreitet und rann bis zum Graben hinab, der entlang der Straße durch das Dorf führte. Mit einem Wort: Dreck, Schmutz, Not und Armut. Wenn man sie darauf aufmerksam machte, es ihnen bewußt machte, war es für sie nicht faßbar, daß wegen so einer Angelegenheit jemand an sie herantreten könnte. Man beschrieb sie mit der Bezeichnung >Das von hinter dem Bug