Immer engere Union?: Differenzierte europäische Integration in der Post-Brexit-Ära – Deutsche und polnische Perspektiven [1 ed.] 9783737016346, 9783847116349


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German Pages [189] Year 2023

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Immer engere Union?: Differenzierte europäische Integration in der Post-Brexit-Ära – Deutsche und polnische Perspektiven [1 ed.]
 9783737016346, 9783847116349

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Alexander Radunz / Rafał Riedel

Immer engere Union? Differenzierte europäische Integration in der Post-Brexit-Ära – Deutsche und polnische Perspektiven

Mit 12 Abbildungen

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des polnischen Narodowe Centrum Nauki (NCN) und der Universität Opole. Diese Monografie ist das Ergebnis des Forschungsprojekts »Determinants and Dynamics of Differentiated Integration in a Post-Brexit Europe«, welches vom Narodowe Centrum Nauki gefördert wurde (Zuschussnummer 2020/37/B/HS5/00230). © 2023 Brill | V&R unipress, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Brill Wageningen Academic, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © photocase, Foto-ID: 4669819 Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-7370-1634-6

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1 Einführung – Aufbau, Herausforderungen und methodisches Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2 Differenzierung und Cleavages – Europäische Integration und politischer Konflikt im 21. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Differenzierte Integration in Europa aus heutiger Perspektive . . . 2.2 Die grand theories europäischer Integration . . . . . . . . . . . . . 2.3 Postfunktionalismus – vom permissive consensus zum constraining dissensus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Parteisysteme und Wählerbindungen – die Cleavage-Theorie . . . . 2.5 Ingleharts neue Agenda – Postmaterialismus und Materialismus . . 2.6 Neue Strukturen: Die Transformation des Nationalstaats als Konfliktraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.7 Die Folgen der Transformation – das transnationale Cleavage . . . 2.8 Der Status der Cleavagetheorie im 21. Jahrhundert: Sozialer Wandel und das neue Prekariat . . . . . . . . . . . . . . .

27 27 35 43 51 56 58 63 69

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4 Angebot und Nachfrage nach differenzierter europäischer Integration . 4.1 Einstellungen zu differenzierter europäischer Integration aus analytischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Operationalisierung von Angebot und Nachfrage für europäische Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3 Das Jahrhundert der Krisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Der Brexit als Krise der differenzierten Integration? . . . . 3.2 Kritische Punkte des europäischen Integrationsprozesses . 3.3 Der kumulative Charakter europäischer Krisen . . . . . . 3.4 Der anthropogene Charakter von europäischer Integration

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6

Inhalt

5 Innerer Kern – Deutschland im Herzen der europäischen Integration 5.1 Das Erbe der Vergangenheit und das europäische Vehikel . . . . 5.2 Die Nachfrage nach Europa als Motor der Integration? . . . . . . 5.3 Das Angebot für die Integration – Kartierung des deutschen Parteiensystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6 Äußerer Kern: Polen an der Ostflanke der europäischen Union 6.1 Polen in der Europäischen Union nach dem Brexit . . . . . 6.2 Die Nachfrage der polnischen Bürger . . . . . . . . . . . . . 6.3 Das Integrationsangebot an der östlichen Semiperipherie . .

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7 Diskussion und Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Determinanten und Dynamik differenzierter europäischer Integration im Zeitalter der Krisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Grenzen der Messung von Angebot und Nachfrage für europäische Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Differenzierte europäische Integration in der Post-Brexit-Ära – Deutsche und Polnische Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort

Mit dieser Publikation möchten wir einen Beitrag zu der sich entwickelnden Debatte über die differenzierte europäische Integration leisten. Wir versuchen, Wissenschaftlern und politischen Beobachtern wertvolle Einblicke in die aktuellen Entwicklungen von differenzierter europäischer Integration zu bieten, welche als Prozess in dem besonderen Kontext kumulativer Krisen stattfindet.1 Wir konzentrieren uns auf den Zeitraum der Krisen der europäischen Integration im 21. Jahrhunderts, beginnend mit der Verfassungskrise der Europäischen Union, über die Wirtschafts- und Finanzkrise, die Migrations- und Flüchtlingskrise, den Prozess des Brexit, die Krise der Rechtsstaatlichkeit als Folge der illiberal challenge einiger Mitgliedsstaaten bis hin zur Covid-19 Pandemie und die damit verbundenen Einschränkungen ab 2020. Während des Forschungsprozesses brach eine weitere große Krise aus, nämlich die Eskalation des russischen Angriffskriegs gegen die Gesamtukraine im Februar 2022. Obwohl wir die Bedeutung dieser Krise für das europäische Integrationsprojekt anerkennen, wird sie in dieser Analyse nicht behandelt. Dafür gibt es zwei Gründe: Erstens ist diese Krise noch zu frisch, um in der Art der Analyse, wie sie in dieser Monografie vorgenommen wird, systematisch erfasst zu werden. Zweitens wurden die empirischen Daten, auf denen die statistische Analyse beruht, im Dezember 2022 aktualisiert und beziehen sich auf die aktuellen verfügbaren Erhebungen aus den Jahren 2020–2021, so dass sie die Krisen im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine nicht abdecken. Wir untersuchen die innerstaatlichen und transnationalen politischen Konfliktstrukturen zu europäischer Integration, die durch die genannten Einschnitte angefacht werden, und erklären, wie sie die Wahrnehmung von differenzierter Integration in Europa durch die europäischen Bürger beeinflussen. Im Ergebnis liefert diese Monografie eine kohärente interdisziplinäre Studie, die die klassi1 Aus Gründen der sprachlichen Vereinfachung wird in dieser Publikation hauptsächlich das generische Maskulinum verwendet. Damit sind jedoch alle Geschlechter gleichermaßen angesprochen.

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Vorwort

schen politikwissenschaftlichen Theorien mit den großen Debatten der Integrationsliteratur verbindet. Auf der methodischen Ebene verbinden wir quantitative statistische Analysen, die den Schwerpunkt dieser Untersuchung bilden, mit einigen qualitativen Elementen als ergänzende Maßnahmen. Krisen, verstanden als kritische Zeitpunkte, ermöglichen es, die Mechanismen und treibenden Kräfte der Entwicklung der differenzierten Integration (DI) in einem schärferen Bild zu sehen. Das Leitziel der Autoren besteht insbesondere darin, die Gründe oder Anreize für die Differenzierung zu untersuchen, die sich aus innenpolitischen Konflikten und dem Druck auf und durch politische Parteien ergeben. Die übergreifenden Fragen, die es zu beantworten gilt, lauten daher: Wie lassen sich die politische Nachfrage und das politische Angebot für verschiedene Formen der Integration, Differenzierung und Desintegration identifizieren, untersuchen und erklären? Welche Wechselwirkungen bestehen zwischen den innerstaatlichen und transnationalen Spaltungen, den vielfältigen Krisen und dem Prozess der differenzierten Integration? Was können wir aus der vergleichenden Analyse des Kerns und der Peripherie der europäischen Integration lernen, indem wir die politischen Konflikte in den ausgewählten Ländern eingehend untersuchen? Der Brexit hat dazu beigetragen, die europäische Differenzierung zu formalisieren. Er hat die Kreise der äußeren Differenzierung ausgedehnt und als Folge davon wird eine noch stärkere Differenzierung antizipiert oder vielleicht sogar erwartet. Die Unterscheidung zwischen einer politischen Euro-Union, die immer enger zusammenarbeitet, also einem Kerneuropa, und einer Peripherie von zögerlichen Mitgliedern, die sich dem Kern jederzeit anschließen können, ist möglicherweise nicht nur ein vorübergehendes Phänomen. Bei der europäischen Differenzierung geht es nicht nur um die Anpassung an heterogene Präferenzen und Interessen, um politics und policies, sondern auch um die politische Ordnung selbst. Die strukturell-institutionelle Beschaffenheit des Systems und seine verfassungsrechtlichen Grundlagen wirken sich auf den Status der integrierenden Staaten und Bürger aus. Das System der differenzierten europäischen Integration schafft eine Situation, in der für alle Betroffenen die gleichen Gesetze gelten. In der normativen Vision des geeinten Europas kann eine differenzierte Ordnung, in der nicht alle den gleichen Regeln unterliegen gegen die Grundsätze der Gleichheit vor dem Gesetz verstoßen und zu willkürlichen Eingriffen führen.2 Gleichzeitig stellt die Europäische Union selbst einen Schock für nationale Gemeinschaften dar, weil sie »die Herrschaft derjenigen einführt, die als Ausländer angesehen werden, die Autorität der Nationalstaaten über ihre eigene Bevölkerung schwächt, wirtschaftliche Unsicherheit bei denjenigen erzeugt, 2 Eriksen, E. (2019), Contesting Political Differentiation. European Division and the Problem of Dominance, Basingstoke: Palgrave Macmillan: Cham, S. 4–5.

Vorwort

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denen es an mobilem Kapital mangelt und die Einwanderung erleichtert«. Auf diesen Annahmen basierte auch die Leave-Kampagne im Zuge des britischen Referendums über den Verbleib in der EU.3 Im Verlauf unserer vorliegenden Studie stellen wir außerdem an verschiedenen Stellen fest, dass die Idee einer weiteren oder tieferen europäischen Integration die Ängste vor kultureller Unterwanderung durch Migration auf der politischen Rechten tangiert, nicht aber die Ängste vor einem ungebremsten, internationalen Kapitalismus auf der politischen Linken. Dies birgt erhebliches Umstrukturierungspotenzial, vor allem in der immer noch primären Arena des politischen Willensbildungsprozesses, nämlich nationale Wahl- und Parteiensysteme. Während sich die meisten Studien auf den Brexit als den wichtigsten Meilenstein in der Entwicklung der differenzierten Integration konzentrieren, bieten die Autoren dieser Monografie eine dynamische Perspektive, in der der Brexit selbst als ein Prozess verstanden wird, der in einem bestimmten Kontext stattfand.4 Während die Wissenschaft scharfe Erkenntnisse zu den rechtlich-institutionellen Erklärungen der differenzierten Integration auf supranationaler Ebene geliefert hat, wissen wir immer noch wenig über die Determinanten der nationalen politischen Systeme, die für ein besseres Verständnis der Schlüsselfaktoren für differenzierte Integration entscheidend sind.5 Dies ist überraschend, da die Präferenzbildung und -positionierung in supranationalen Verhandlungen, als auch Verhandlungen in einem bestimmten politischen Umfeld der Nationalstaaten stattfindet. Im Kern konzentriert sich unsere Publikation auf zwei Länder, die aus unserer Sicht mit ihrer Größe, ihrer Geschichte und ihrem wirtschaftlichen Gewicht, vor allem aber aufgrund ihrer gesellschaftlichen, innenpolitischen Determinanten kritische Fälle innerhalb und außerhalb des Kerns der Europäischen Union darstellen. Dem allgemeinen Konsens der Literatur von differenzierter Integration folgend bildet Deutschland dabei den inneren Kern ab. Den äußeren Kern wiederum repräsentiert Polen, dem größten »neuen« Mitglied der EU. Differenzierte Integration als wissenschaftliches Konzept ist ein relativ neues Phänomen in den Europastudien, oder weiter gefasst in den internationalen 3 Hooghe, L.; Marks, G. (2017), Cleavage theory meets Europe’s crises: Lipset, Rokkan, and the transnational cleavage, in: Journal of European Public Policy 25(1), S. 2. 4 Gänzle, S.; Leruth, B.; Trondal, J. (2019), Differentiation, differentiated integration and disintegration in a ›post-Brexit-era‹. Oxfordshire: Routledge; Siehe: Schimmelfennig, F.; Leuffen, D.; De Vries, C. E. (2023), Differentiated integration in the European Union: Institutional effects, public opinion, and alternative flexibility arrangements, in: European Union Politics 24(1), S. 3–20. 5 Schimmelfennig, F.; Winzen, T. (2020), Ever Looser Union? Differentiated European Integration. Oxford: Oxford University Press.

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Vorwort

Beziehungen, Rechtswissenschaften, Politikwissenschaft oder der Wirtschaft.6 Sie wuchs zusammen mit der realen Zunahme der Differenzierung, wie z. B. Optouts, Ausnahmen, verstärkte Zusammenarbeit, konstruktive Enthaltung, Sonderklauseln oder Zusatzprotokolle. In den letzten zwei Jahrzehnten war die Differenzierung ein dominierendes Merkmal der europäischen Integration.7 Es wird argumentiert, dass etwa die Hälfte der EU-Politikfelder auf unterschiedliche Weise umgesetzt werden.8 Zweifellos trägt die Untersuchung der differenzierten Integration zu einem besseren und verfeinerten theoretischen und empirischen Verständnis des europäischen Integrationsprozesses bei.9 Differenzierte Integration kann am besten als institutionelle Antwort auf die zunehmende Heterogenität der Präferenzen und Kapazitäten der Mitgliedstaaten verstanden werden, die sich sowohl aus der Erweiterung als auch aus der Vertiefung der EU ergibt.10 Im Falle einiger Länder, wie z. B. Großbtritannien, sind es nicht die Kapazitäten, sondern die Präferenzen, die sie außerhalb des europäischen Kerns halten. Sie gehören zur Kategorie der weniger willigen Länder, zusammen mit Außenseitern wie den Quasi-Mitgliedern, die Schweiz oder Norwegen. Einige Mitgliedstaaten entscheiden sich für den Austritt, während einige Nichtmitgliedstaaten sich für den Beitritt entscheiden, woraus sich die Notwendigkeit ergibt, die Heterogenität innerhalb und außerhalb der Union in Einklang zu bringen. Die politische Idee der differenzierten Integration lässt sich bis zum Tindemans-Bericht 1975 zurückverfolgen, während sie als rechtliches Konzept in der Einheitlichen Europäischen Akte 1986 auftaucht. Die akademischen Debatten zu diesem Thema haben ihre Wurzeln in den 1970er Jahren in Dahrendorfs Formulierung vom Europa á la carte. Bereits in den 1980er Jahren haben Wissenschaftler mehrere Varianten der differenzierten Integration identifiziert und der wissenschaftliche Diskurs hat sich seither explosionsartig entwickelt. In der Literatur lassen sich viele verschiedene Konzeptualisierungen finden, darunter flexible Integration, Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten, Europa als 6 Andersen S.; Sitter, N. (2006), Differentiated Integration: What is it and How Much Can the EU Accomodate?, in: European Integration 28(4), S. 313–330. 7 Boerzel, T. (2005), Mind the Gap! European Integration between Level and Scope, in: Journal of European Public Policy 12(2), S. 217–236. 8 Leruth, B.; Lord C. (2015), Differentiated integration in the European Union: a concept, a process, a system or a theory?, in: Journal of European Public Policy 22(6), S. 754–764. 9 Genschel, P.; Jachtenfuchs, M. (2014), Introduction: Beyond Market Regulation. Analysing the European Integration of Core State Powers, in: Beyond the Regulatory Polity? The European Integration of Core State Powers, (Hrsg.) Genschel, P.; Jachtenfuchs, M., Oxford: Oxford University Press, S. 1–23. 10 Leuffen, D.; Rittberger, B.; Schimmelfennig, F. (2013), Differentiated Integration. Explaining Variation in the European Union, Basingstoke: Palgrave; Schimmelfennig, F. (2014), EU enlargement and differentiated integration: discrimination or equal treatment?, in: Journal of European Public Policy 21(5), S. 681–98.

Vorwort

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Imperium, Europa der variablen Geometrien, der konzentrischen Kreise oder Hemisphären.11 Dennoch ist die differenzierte Integration im Vergleich zu der umfangreichen Literatur über die Integration als Ganzes wenig erforscht. Der Grund dafür könnte sein, dass sie durch die funktionalistische Annahme begrenzt wurde, dass die differenzierte Integration im Laufe der Zeit erodieren würde.12 Die Mitgliedstaaten und ihre Nachbarschaft würden sich demnach stetig angleichen, unterschiedlich angewandte Reglements würden ihr kohärentes Ende finden. Diese Annahme wurde jedoch durch mehrere Krisen in Frage gestellt.13 Es deutet darauf hin, dass wir uns auf diversifizierte Formen der Integration zubewegen. John Eric Fossum behauptet, dass die EU von morgen alle drei der folgenden Aspekte in sich vereinen könnte: beschleunigte Integration für einige, völlige Desintegration für andere und größere Differenzierung für die übrigen.14 Die Vorstellung, dass eine differenzierte Integration auf wenig mehr als einen Prozess der Konvergenz zu ähnlichen Ergebnissen bei unterschiedlichen Geschwindigkeiten hinausläuft, erscheint zunehmend fragwürdig. Stattdessen beobachten wir einen wachsenden Konsens unter Beobachtern und Analysten, dass die differenzierte Integration ein dauerhaftes Organisationsprinzip der EU ist. Die Notwendigkeit, Spaltungen oder Meinungsverschiedenheiten zu verwalten, wird nicht einfach verschwinden.15 Es gibt diverse Möglichkeiten, dieses vielschichtige Phänomen zu analysieren, von der Analyse des Primär- und Sekundärrechts über multilaterale Verhandlungen bis hin zur Parteipolitik und gesellschaftlichen Spannungsfeldern im innerstaatlichen Kontext.16 Sie kann als Konzept, Prozess oder als System untersucht werden.17 Die Komplexität und Pluralität der Ansätze liegen in der Natur 11 Jensen, D.; Slapin, J. (2012), Institutional hokey-pokey: the politics of multispeed integration in the European Union, in: Journal of European Public Policy 19(6), S. 779–95; De Neve, J. (2009), The European Onion? How Differentiated Integration is Reshaping the EU, in: European Integration 29(4), S. 503–521. 12 Leruth, Lord 2015. 13 Lemke, C. (2014), Challenging the »Ever Closer Union«: Political Consequences of the Eurozone Crisis, in: American Foreign Policy Interests 36, S. 18–24. 14 Fossum, J. (2015), Democracy and Differentiation in Europe, in: Journal of European Public Policy 22(6), S. 799–815. 15 Leruth, Lord 2015; Radunz, A.; Riedel R. (2023), Differentiated integration beyond Brexit – revisiting cleavage perspective in times of multiple crises, Oxfordshire: Routledge. 16 Winzen, T., Schimmelfennig, F. (2015), The Choice for Differentiated Europe; Why European Union Member States Opt out of Integration, paper prepared for the 14th biennial conference of the European Union Studies Association, 5–7 March 2015, Boston MA; Siehe: Hooghe,. L., Marks, G. (2023), Differentiation in the EU and beyond. European Union Politics 24(1), S. 225–235; Leruth 2015; Vgl. Bellamy, R.; Kröger, S.; Lorimer, M. (2023). Party Views on Democratic Backsliding and Differentiated Integration. East European Politics and Societies 37(2), S. 563–583. 17 Genschel P, Jones E, Migliorati M (2023) Differentiated integration as symbolic politics? Constitutional differentiation and policy reintegration in core state powers. European Union

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Vorwort

der differenzierten Integration begründet. Dieses Publikationsprojekt bietet einen wissenschaftlichen Ansatz, der versucht, die nationale Ebene zusammen mit der subnationalen und supranationalen Ebene der Analyse zu integrieren. Wir befassen uns in diesem Buch mit dem Problem der europäischen Differenzierung angesichts komplexer Interdependenzen, der politischen Determinanten und der ständig neu auftretenden Krisen. Wir fokussieren uns dabei auf jene Wechselwirkungen, die die Krisen zwischen nationalen Bevölkerungen und dem Handeln ihrer Repräsentanten auf nationalstaatlicher Ebene entfachen. Eine der grundlegendsten Fragen, die zur Dynamik der Differenzierung beiträgt, ist die Unklarheit darüber, was das europäische Integrationsprojekt letztendlich erreichen soll. Da es sich um einen Prozess mit offenem Ende handelt, lässt es einen enormen Spielraum für flexible Lösungen im Bereich zwischen minimalistischem Intergouvernementalismus und föderaleren supranationalen Ambitionen. Wir haben es uns deshalb zum Ziel gemacht, auch einen Anstoß zur Messbarkeit von parteipolitischem Angebot und bevölkerungsspezifischer Nachfrage für europäischer Integration selber zu geben. Unsere Monografie ist das Ergebnis eines Forschungsprojekts, das vom Nationalen Wissenschaftszentrum (Narodowe Centrum Nauki) im Rahmen des Programms OPUS unter dem Titel »Determinants and Dynamics of Differentiated Integration in Europe« finanziert wurde.18 Das Forschungsprojekt, an dem die beiden Autoren beteiligt sind, konzentriert sich auf die Analyse der Dynamik und der Determinanten einer differenzierten Integration in Europa. Das Thema der differenzierten Integration hat in den letzten Jahren in der wissenschaftlichen Literatur einen enormen Aufschwung erfahren. Dies ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass die Differenzierung zu einem systemischen Merkmal des europäischen Integrationsprojekts geworden ist und als eines der wichtigsten Themen im heutigen Europa erkannt wurde. Diese Tatsache spiegelt sich auch in den wissenschaftlichen Diskussionen über die differenzierte Integration sowie ihrer Determinanten und Mechanismen wider.

Politics 24(1), 81–101; Dyson, K, Sepos, A. (2010), Differentiation as a Design Principle and as a Tool in the Political Management of European Integration, in: Which Europe? The Politics of Differentiated Integration, (Hrsg.) Dyson Kenneth, Sepos Angelos, Palgrave Macmilan, S. 3–23. 18 Zuschussnummer: 2020/37/B/HS5/00230.

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Einführung – Aufbau, Herausforderungen und methodisches Vorgehen

In diesem einleitenden Teil geben wir einen allgemeinen Überblick über die wichtigsten theoretischen Ansätze, die in unserer Analyse verwendet werden sowie über die methodischen Vorgehensweisen und Herausforderungen unserer Arbeit. Die zentralen Fragestellungen der Analyse werden ebenfalls vorgestellt und im Kontext der bereits vorhandenen Literatur erläutert. Wir gehen davon aus, dass neu aufkommende gesellschaftliche Konfliktlinien, die wir in der heutigen Politik beobachten, eine wichtige Rolle bei der Strukturierung der Einstellungen zur europäischen Integration spielen. Wir sind dabei jedoch nicht die ersten, die diese Beobachtung machen. Gary Marks und Liesbet Hooghe behaupten, dass die Perforation der Nationalstaaten durch Einwanderung, Integration und Handel einen kritischen Punkt in der politischen Entwicklung Europas darstellen könnte, der für Parteien und Parteiensysteme nicht weniger entscheidend ist als jene früheren critical junctures, die Martin Lipset und Stein Rokkan aufzeigen19. Sie beziehen sich dabei auch auf die weithin anerkannte Arbeit von Lipset und Rokkan, die 1967 ihre bekannte CleavageTheorie veröffentlichten, in der sie die Entstehung von politischen Parteiensystemen durch die Analyse historischer Konfliktlinien erklärten. Dabei identifizierten sie zwei kritische Zeitpunkte, die für die Strukturierung nationaler Parteiensysteme verantwortlich sind – die industrielle und die nationale Revolution. Einige Jahrzehnte später steht die Europäische Union vor einer Vielzahl von Herausforderungen, die das Transformationspotenzial der europäischen Integration deutlich machen. Noch immer sind die sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Finanzkrise von 2008 spürbar und die Fiskalpolitik bleibt ein Streitpunkt. Die Migrationskrise hat mehrere Konflikte zwischen den Mitgliedstaaten und der Europäischen Kommission ausgelöst, wie z. B. die illiberale Herausfor-

19 Hooghe, L.; Marks, G. (2017), Cleavage theory meets Europe’s crises: Lipset, Rokkan, and the transnational cleavage, in: Journal of European Public Policy 25(1), S. 1.

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Einführung – Aufbau, Herausforderungen und methodisches Vorgehen

derung durch die mittel- und osteuropäischen Länder. In diesem »age of crisis«20 sind populistische und nationalistische EU-skeptische Parteien in die Arena der politischen Auseinandersetzung in den nationalen Parlamenten sowie im Europäischen Parlament selbst eingetreten. Dies wurde in den Wochen vor dem Brexit-Referendum 2016 deutlich sichtbar, als eines von zahlreichen gefälschten Videos viral ging, in dem unkontrollierte und illegale Einwanderung aus dem arabischen und nordafrikanischen Raum übers europäische Festland in das Vereinigte Königreich propagiert wurde.21 Die Polarisierung im Zusammenhang mit dem Referendum hatte eine starke kulturelle Prägung. Die Menschen in Großbritannien stimmten für die Unabhängigkeit von europäischen Handelsnormen, für eine romantisierte Renaissance des unreglementierten Bauernwesens, aber sie stimmten vor allem gegen potenzielle Migrationsströme aus Frankreich, Deutschland oder Osteuropa.22 Demoskopische Untersuchungen zeigen, dass das typische Profil eines euroskeptischen Wählers eher einwanderungs- oder minderheitenfeindlich ist.23 Aus dieser Perspektive hat die Botschaft der Leave-Kampagne schlicht jene gesellschaftliche Prädisposition aufgegriffen.24 Aber wie sehen diese genau aus? Und wie werden sie von europäischer Integration beeinflusst und in sie einbezogen? Auf der Suche nach der Antwort versucht sich die Politikwissenschaft notorisch darin, die Erklärkraft der sogenannten grand theories der europäischen Integration für das 21. Jahrhundert zu eruieren25. Neofunktionalismus und liberaler Intergouvernementalismus zielen darauf ab, die Entstehung, den Verlauf und die Ergebnisse der politischen und wirtschaftlichen Union zu erklären. Sie verallgemeinerten in der Vergangenheit jedoch zunächst die ersten drei Jahr20 Dinan, D.; Nugent, N.; Paterson, W. (2017), The European Union in Crisis, in: Macmillan International Higher Education. 21 Watson, T.; Byrne, L. (2019), Leave. EU’s latest scandal shows digital propaganda is out of control, https://www.independent.co.uk/voices/brexit-leave-eu-fake-videos-migrants-digital -advertising-facebook-a8874961.html. 22 Zappettini, F. (2019), The Brexit referendum: How trade and immigration in the discourses of the official campaigns have legitimised a toxic (inter) national logic, in: Critical Discourse Studies 16(4), S. 403–419. 23 Cutts, D.; Ford, F.; Goodwin, M. (2011), Anti-immigrant, politically disaffected or still racist after all? Examining the attitudinal drivers of extreme right support in Britain in the 2009 European elections, in: European Journal of Political Research 50(3), S. 418–440; Hobolt, S.; Wittrock, J. (2011), The second-order election model revisited: An experimental test of vote choices in European Parliament elections, in: Electoral Studies 30(1), S. 29–40. 24 Garrett, A. (2019), The Refugee Crisis, Brexit, and the Reframing of Immigration in Britain, https://www.europenowjournal.org/2019/09/09/the-refugee-crisis-brexit-and-the-reframing -of-immigration-in-britain/. 25 Leuffen D.; Rittberger B.; Schimmelfennig F. (2022), Integration and Differentiation in the European Union. Theory and Policies, Basingstoke: Palgrave Macmillan Cham.

Einführung – Aufbau, Herausforderungen und methodisches Vorgehen

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zehnte der europäischen Integration, die vor allem durch die Nachfrage nach der Beilegung wirtschaftlicher Streitigkeiten zwischen Unternehmen angetrieben wurden. Die Auswirkungen waren für die meisten Menschen in Europa begrenzt oder nicht transparent. »Die öffentliche Meinung war untätig. Es waren Jahre des permissiven Konsenses, der von isolierten Eliten ausgehandelten Deals«.26 Der einflussreiche Politikwissenschaftler Peter Mair schrieb vor der Eurokrise, dass der »europäische Riese nicht nur schläft, sondern absichtlich ruhiggestellt wurde«.27 Hooghe und Marks stellen wiederum in ihrem Artikel »Cleavage Theory Meets Europe’s Crisis« fest, dass für die etablierten oder sogenannten Mainstream-Parteien der Konsens über EU-Integration keine Rolle spielte oder das Thema lange heruntergespielt wurde. Geht es nach dem Postfunktionalismus als neue Theorie der europäischen Integration, markierten die 1990er Jahre das Ende dieser Periode und den Beginn des sogenannten constraining dissensus: »Der Riese ist in einer Ära erwacht, in der Einstellungen zu Europa in nationalen Wahlen, Europawahlen und nationalen Referendumskampagnen zum Ausdruck kommen, die sich der Kontrolle durch den Mainstream entziehen«.28 Politische Eliten, Verantwortungsträger und insbesondere die verantwortlichen Parteiführer müssen fortan über ihre Schultern schauen, wenn sie europäische Themen verhandeln. »Was sie sehen, beruhigt sie nicht«.29 Die postfunktionalistische Theorie beansprucht ihren Platz im Spektrum der großen Theorien, wo die anderen Perspektiven der europäischen Integration kaum eine rationale Erklärung für Phänomene wie den Brexit oder den Illiberalismus in Zentral-Osteuropa liefern. Sie projizieren die Integration lediglich als eine Reihe rationaler Entscheidungen, die von Staatsführern als Reaktion auf funktionale Zwänge getroffen werden, während Hooghe und Marks (2017) die zunehmenden Spannungen zwischen diesen und postfunktionalen Zwängen in Form einer exklusiven Identität betonen. Staatsmänner und -frauen sind in zunehmendem Maße solchen cross-pressures ausgesetzt. So wird der Anstieg der nationalistischen Opposition gegen die europäische Integration als eine innenpolitische, populäre Reaktion betrachtet, die nicht nur als Ursache und Folge der europäischen Krisen wirkt, sondern auch die nationalen Parteikonfigurationen neu strukturiert. Der anfängliche Enthusiasmus, der den Gründungsprozess der Europäischen Gemeinschaften und später des Aufbauprozesses der Europäischen Union begleitete, ist größtenteils 26 Hooghe, L.: Marks, G. (2009), A postfunctionalist theory of European integration: From permissive consensus to constraining dissensus, in: British Journal of Political Science 39(1), S. 5. 27 Mair, P. (2007), Political opposition and the European Union, in: Government and Opposition 42(1), S. 12. 28 Hooghe, Marks 2017, S. 23. 29 Ebd.

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Einführung – Aufbau, Herausforderungen und methodisches Vorgehen

verflogen. Auch die nach jeder Erweiterungsrunde zu beobachtende Energie der Neuankömmlinge hat nachgelassen. Das sich vereinigende Europa hat seinen Schwung verloren und leidet unter einem Mangel an Orientierungspunkten. Die Idee des europäischen Integrationsprozesses hin zu einer immer engeren Union scheint zum Stillstand gekommen zu sein. Er wurde jedoch nicht von einer geheimnisvollen, unantastbaren Kraft aufgehalten, sondern vor allem von Politikern, Parteien und dem sogenannten »Volk« des Nationalstaats. Wissenschaftler aus verschiedenen disziplinären Perspektiven versuchen, das allgemeine Verständnis über die Dynamik von europäischer Integration und ihrer unterschiedlichen Ausprägung in Europa zu verbessern. So haben Studien zur differenzierten Integration in Europa, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Europäischen Union, in den letzten Jahren stark zugenommen.30 Relativ wenig Aufmerksamkeit wurde jedoch den demoskopischen Determinanten dieses Phänomens gewidmet und noch weniger den ideologischen Präferenzen, die diese Einstellungen begleiten.31 In diesem Buch versuchen wir, jene Lücke zu schließen, indem wir sowohl die gesellschaftlichen Einstellungen zu weiterer oder tieferer europäischer Integration auf der Nachfrageseite als auch die Positionierung der politischen Parteien zu den entstehenden Spaltungslinien analysieren. Unser Hauptziel ist es, die ideellen Grundlagen zu erklären, die den Einstellungen zu europäischer Integration und ihrer Differenzierung zugrunde liegen und zu erörtern, wie sich die Präferenzen der Bürger und die Positionierung der Parteien in dieser Hinsicht über die Zeit hinweg entwickelt haben. Darüber hinaus werden wir einige mögliche Erklärungen dafür liefern, warum dies geschehen ist. Damit bereichern wir die bestehende Forschungsliteratur in mehrfacher Hinsicht. Wir versuchen uns an einer neuartigen, empirisch fundierten Analyse der konvergierenden Determinanten für die gesellschaftliche Unterstützung bzw. Ablehnung eines immer tiefer integrierten Europas. Gleichzeitig untersuchen 30 Vergioglou, I.; Hegewald, S. (2023), From causes to consequences: Investigating the effects of differentiated integration on citizens’ EU support. European Union Politics 24(1), S. 206–224; Tekin, F. (2012), Differentiated integration at Work, Nomos; Schweiger, C., Magone J. (2014), Differentiated Integration and Cleavage under Crisis Conditions, in: Perspectives on European Politics and Society 15(3), S. 259–265; Schimmelfennig, F.; Winzen, T. (2020), Ever Looser Union? Differentiated European Integration. Oxford: Oxford University Press. 31 Boomgaarden, H.; Schuck, A.; Elenbaas et al. (2011), Mapping EU attitudes: Conceptual and empirical dimensions of euroscepticism and EU support. European Union Politics 12(2), S. 241–266; Bakker, B; de Vreese, C. (2016), Personality and European Union attitudes: Relationships across European Union attitude dimensions. European Union Politics 17(1), S. 25–45, Schimmelfennig, F.; Leuffen, D.; De Vries, C. E. (2023). Differentiated integration in the European Union: Institutional effects, public opinion, and alternative flexibility arrangements. European Union Politics 24(1), S. 3–20.

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wir, welches Wertesystem hinter diesen Einstellungen steht. Die untersuchten Werte und Normen sind eingebettet in historisch gewachsene politische Cleavages, wie sie in der klassischen politikwissenschaftlichen Literatur bekannt sind. Die Nachfrage und das Angebot für die europäische Integration werden aus der Perspektive aktualisierter Cleavage-Konzepte analysiert, interpretiert und diskutiert, die für das Verständnis eines diskontinuierlichen Weges des Europäischen Integrationsprozesses notwendig sind. In der Frage der europäischen Integration orientieren sich gesellschaftliche und parteipolitische Konfliktlinien zunehmend an einem Wertegefälle. Auf der einen Seite, so glauben wir, stehen Menschen, Parteien und Führungspersönlichkeiten, die grün-alternativ-liberale (GAL) Werte verkörpern und im Allgemeinen für eine weitere und tiefere europäische Integration stehen. Sie sind in Bezug auf ihr Humankapital mobil und sehen Einwanderung und Denationalisierung eher als Gewinn, denn als Bedrohung an. Auf der nationalistischen Gegenseite dieses Wertegefälles könnte die europäische Integration als Schock für diejenigen empfunden werden, die über wenig mobiles Humankapital verfügen, Schutz in der nationalen Staatsbürgerschaft suchen und das Gefühl haben, unter dem verstärkten Wettbewerb durch Handel, aber vor allem durch Migration zu leiden. Wir gehen davon aus, dass diese Wähler und ihre Vertreter in ihrer kulturellen Verankerung verunsichert sind und traditionell-autoritäre-nationalistische (TAN) Positionen vertreten sowie Abgrenzung und Partikularismus gegenüber politischer oder wirtschaftlicher Integration befürworten. Wir fokussieren uns bei der Untersuchung der verschiedenen Einstellungen zur europäischen Integration und ihrer Differenzierung unter anderem auf die Einwanderung – ein Thema, das infolge der kumulativen Krisen des 20. Jahrhunderts stark an Bedeutung gewonnen hat. Die Migration wird als eine gesellschaftliche Sollbruchstelle bei der Entstehung des transnational cleavage behandelt. Diese Bedenken standen im Mittelpunkt einiger früherer prominenter Wissenschaftler, darunter Liesbet Hooghe und Gary Marks, die dies betonten: Aus einer Cleavage-Perspektive ist es wichtig, wie jene Themen, die ansonsten nicht miteinander interagieren, in ein kohärentes politisches Programm überführt werden, wie politische Parteien sich mit solchen Programmen einen Namen machen und wie sich diese Programme von denen bestehender Parteien unterscheiden. Ebenso von Relevanz ist, wie Parteien durch ein neues Cleavage in Reaktion auf diese Themen polarisieren.32 Sie behaupten, dass insbesondere die europäische Integration und die Einwanderung von den politischen Parteien, die auf der TAN-GAL-Konfliktlinie mobilisieren, aus diametral entgegengesetzten Standpunkten wahrgenommen werden. Während sich die meisten traditionellen Mainstream-Parteien, wie sozialdemokratische, christdemokratische, konser32 Hooghe, Marks 2017, S. 123 (Eigene Übersetzung).

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vative und einige liberale Parteien, diesen Themen zaghaft angenähert haben oder ihnen weniger Bedeutung beimessen, nehmen TAN-Parteien und GALbasierte Parteien unterschiedliche Positionen ein, die sie in Richtung der polaren Extreme platzieren. Während politische Parteien, die auf früheren Cleavages gegründet wurden, Europa und Einwanderung als schwach miteinander verbunden betrachten, sehen TAN- und GAL-Parteien sie als eng miteinander verbunden an. Mithilfe der Cleavage-Perspektive untersuchen wir, ob und wie sich diese widersprüchlichen Positionen zwischen Wählern und Parteien in der europäischen Integration niederschlagen und diese weiter verstärken. Darüber hinaus sind die europäischen Krisen entscheidend für unsere Analyse. Wir gehen davon aus, dass sie die bereits bestehenden gesellschaftlichen Cleavages verstärken, die schließlich im nationalen Parteiensystem und in der supranationalen Entscheidungsfindung an die Oberfläche dringen – was auf ein transnationales Cleavage hinweist. Indem wir GAL- und TAN-Werte in den Kern unserer Forschung einbeziehen, nehmen wir an, dass sich diese Spaltung zunehmend zu einer kulturellen entwickelt. Wir folgen damit dem sich überschneidenden Weg des postfunktionalistischen Paradigmas und der erneuerten Cleavage-Theorie. Die Zusammenführung der Nachfrage- und der Angebotsseite der Politik liefert ein klareres Bild jener Innenpolitik, die sich um das Thema der europäischen Integration und seine spezifischen Komponenten rankt. Die Untersuchung der Entwicklung von Angebot und Nachfrage im inneren und äußeren Kern des Systems der differenzierten Integration trägt zu einem besseren Verständnis der Grundlagen bei, auf denen das System der differenzierten europäischen Integration aufgebaut ist. Unter anderem begründet dies im weiteren Verlauf auch unseren Fokus auf die beiden Länder Deutschland und Polen. Die postfunktionalistische Perspektive unterstreicht die Bedeutung der Innenpolitik für die Erklärung der europäischen Integrationsprozesse. In Übereinstimmung mit diesem Paradigma versuchen wir, die Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem vermuteten transnationalen Cleavage und der Einstellung gegenüber verstärkter europäischer Integration zu beantworten. Vor diesem Hintergrund lautet die zentrale übergreifende Frage dieser Analyse, wie mögliche neue politische Konfliktlinien die Einstellungen und Positionen zur differenzierten Integration prägen. Folglich befassen wir uns mit einer Reihe miteinander verbundener Fragen: Wie korrespondieren kumulative und sich überlagernde Krisen mit der Restrukturierung von politischer Repräsentation und Konflikt im nationalen Kontext? Wie korrelieren diese neuen Cleavagestrukturen mit den (Prä-)Dispositionen der polnischen und deutschen Bürger zur europäischen Integration und was lässt sich daraus wiederum auf differenzierte Integration schließen? Welche Rolle spielen Parteipositionen dabei und was können wir aus den besagten Einstellungen der Bürger und den Par-

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teipositionen über die ideellen Grundlagen von europäischer Integration und Differenzierung lernen? Und schließlich, was sagt uns die vergleichende Analyse zwischen den Fällen in Polen und Deutschland über den Prozess in Europa im Allgemeinen? Diesen Fragen widmen wir uns mit theoretischen und empirischen Untersuchungen unter der Verwendung von verschiedenen Forschungsmethoden. Sie bilden ein komplexes Problem ab, welches bisher nicht hinreichend gelöst wurde. Die meisten der bestehenden Untersuchungen auf diesem Gebiet konzentrieren sich innerhalb der Grenzen ihrer jeweiligen methodischen Disziplin. Wir schlagen dagegen die Integration verschiedener disziplinärer Ansätze vor, was bisher nur unzureichend erfolgt ist. In der internationalen Literatur gibt es nur eine geringe Anzahl von Studien, die versuchen, unterschiedliche Forschungsmethoden zu integrieren.33 Die Europäische Union ist von Natur aus ein interdisziplinäres Forschungsobjekt. Deshalb wird sie von Ökonomen, Juristen, Politikwissenschaftlern, Soziologen und vielen anderen Vertretern verschiedener Disziplinen untersucht.34 Bei unserer Analyse stützen wir uns sowohl auf klassische politikwissenschaftliche Ansätze als auch solche der europäischen Integration.35 Die Kombination von klassischen politikwissenschaftlichen Theorien und grand theories der europäischen Integration ermöglicht ein besseres Verständnis der politischen Determinanten, die tief in den nationalen politischen Systemen verwurzelt sind und den supranationalen Prozess der differenzierten Integration beeinflussen. Auf der methodischen Ebene verwenden wir ein quantitatives statistisches Instrumentarium. Die Länderstichprobe wird mit einer nachfrage- und angebotsseitigen Analyse untersucht, um spezifische innenpolitische Determinanten und Triebkräfte für die europäische (differenzierte) Integration zu ermitteln, wie z. B. die Bereitschaft der repräsentativen Bevölkerung zu integrationsbezogenen 33 Princen, S.; Schimmelfennig, F.; Sczepanski, R.; Smerkal, H.; Zbiral, R (2022), Differentiated integration and flexible implementation in the European Union, Working Paper, EUI RSC, 2022/17; Ruszkowski, J. (2007), Wste˛p do studiów europejskich, Warszawa; De Neve, J. (2009), The European Onion? How Differentiated Integration is Reshaping the EU. European Integration 29(4), S. 503–521; Eriksen, E. (2018), Political differentiation and the problem of dominance: Segmentation and hegemony, in: European Journal of Political Research 57(4), S. 989–1008. 34 Riedel, R. (2013), Teoretyzowanie integracji europejskiej ex. post – ewolucyjna adaptacja podejs´c´ analitycznych do powojennych procesów integracyjnych w Europie, in: Przegla˛d Politologiczny 4(8), S. 49–66; Puchala, D. (1972), Blind men, elephants and international integration, in: Journal of Common Market Studies 10. 35 Riedel, R.; Gierlich C. (2021), Between Differentiation and (Dis)Integration – Theoretical Explanations of a Post-Brexit European Union, in: Studies in European Affairs 25(2), S. 7–28; Rokkan, S. (1980), Eine Familie von Modellen für die vergleichende Geschichte Europas, in: Zeitschrift für Soziologie 9(2), S. 118–128.

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politischen Maßnahmen und die Anreize der Parteien, sich dafür einzusetzen. Wir gehen der Nachfrageseite durch Polarisierungsmessungen unter den jeweiligen Wählerpools sowie durch Faktorenanalysen und Regressionsmodelle zu verschiedenen Zeitpunkten nach, um die Determinanten ihrer Einstellung zur europäischen Integration zu ermitteln. Letztere stellt unsere abhängige Variable dar. Wir beziehen mehrere andere Einstellungselemente, wie z. B. die Einstellung zur Migration, zusammen mit anderen sozioökonomischen und soziostrukturellen Variablen ein. Daher stützen wir uns auf repräsentative Umfragedaten aus dem European Social Survey (ESS). Dieses Verfahren ermöglicht die Beobachtung des Einflusses spezifischer Variablen auf die Einstellungen zu europäischer Integration im Zeitverlauf und den Vergleich allgemeiner Muster über die Länderauswahl hinweg. Auf der Angebotsseite werden die Positionen der politischen Parteien zur europäischen Integration und ihren konstitutiven Elementen analysiert, wie z. B. die Verteilung der EU-Haushalte, das Funktionieren des Binnenmarktes und vor allem die Migration. Letzteres wird durch eine gewichtete multidimensionale Skalierung (weighted multidimensional scaling, WMDS) der Parteipositionierung zu integrationsspezifischen Themenkategorien unter Verwendung des Chapel Hill Expert Survey on party positioning (CHES) als Datenbasis ermöglicht. Auf beiden Seiten liegt ein besonderer Schwerpunkt auf dem Einfluss sozioökonomischer und soziokultureller Faktoren, um länderübergreifende Trends der letzten zwei Jahrzehnte zu ermitteln. Auf empirischer Ebene konzentrieren wir uns auf zwei Länder, die aufgrund ihrer Größe, politischen Bedeutung und wirtschaftlichen Schwere die kritischen Fälle innerhalb und außerhalb des Kerns der Europäischen Union darstellen. Der Logik der differenzierten Integration folgend, repräsentiert Deutschland den inneren Kern des europäischen Integrationsprozesses. Als Gründungsmitglied ist es an den meisten supranationalen Politikfeldern beteiligt. Deutschland nimmt nicht nur eine führende Rolle nach innen und außen ein, es bestehen auch innereuropäische Narrative über klare deutsche Visionen für eine weitere Föderalisierung der EU in der Zukunft. Mitunter spielt dafür eine Rolle das historische Erbe Deutschlands, seine Wirtschaftskraft, und die wichtigen Funktionen, die der europäische Integrationsprozess für Deutschland selbst spielt. Der wahrgenommene Konsens im deutschen öffentlichen Diskurs über die Rolle Deutschlands in der EU und dessen Selbstzweck geriet jedoch spätestens seit den gesellschaftlichen und politischen Einschnitten der Flüchtlingskrise und dem Aufkommen der Alternative für Deutschland (AfD) als starke anti-EU Partei ins Wanken. Dabei bedarf der Tatsache besondere Aufmerksamkeit, dass jene Partei sich bereits zu den Bundestagswahlen 2013 als starker Newcomer im eurokritischen Lager präsentieren konnte und den Einzug ins Parlament aus dem Stand heraus nur knapp verpasste.

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Der äußere Kern wird von Polen repräsentiert, dem größten neuen EU-Mitgliedstaat, der nicht an allen EU-Politikfeldern teilnimmt und eine zunehmende Skepsis gegenüber Brüssel und jeder Idee einer weiteren Vergemeinschaftung zeigt. Die Auswahl Polens als Fallstudie für diese Analyse ist nicht nur durch die Größe des Landes, gemessen an der Fläche, der Bevölkerung oder dem Potenzial seiner Wirtschaft bedingt. Sie ist auch durch die relative Größe Polens im Verhältnis zu anderen Staaten und Volkswirtschaften der Region gerechtfertigt. In diesem Sinne kann Polen als kritischer Fall betrachtet werden, da es mehr als die Hälfte der Erweiterung von 2004 ausmachte und außerhalb der Eurozone bis heute die größte EU-Volkswirtschaft ist, die sich zwischen Deutschland und Russland, von Skandinavien im Norden über Österreich in Mitteleuropa bis hin zu Griechenland im Süden erstreckt. Gleichzeitig ist sie ein Beispiel für einen besonderen Fall von einseitiger Selbstdifferenzierung, die für die Ambitionen Polens und der gesamten Region, in Zukunft ein Motor der Integration zu sein, höchst kontraproduktiv ist. Und da einige Autoren ein Europa der zwei oder mehreren Geschwindigkeiten als Bedrohung nicht nur für die Region, sondern für das gesamte Integrationsprojekt im Allgemeinen sehen, spielt Polens Platz auf der Landkarte der differenzierten Integration eine Schlüsselrolle und muss im Detail verstanden werden. Wir beobachten die Entwicklung der polnischen und deutschen Nachfrageund der Angebotsseite ab dem Jahr 2004, dem ersten Jahr nach der big bang Erweiterung der EU. Von diesem Zeitpunkt an überschneidet sich der Analysezeitraum mit diversen Krisen der europäischen Integration. Von der Verfassungskrise im Jahr 2005 über die Wirtschafts- und Eurozonen-Krise ab 2008, die Flüchtlings- und Schengen-Krise bis hin zum Brexit-Referendum und der illiberal challenge in Mittelosteuropa sowie allen spillovers und externen Effekten, die die vielschichtigen Krisen mit sich gebracht haben. Aufgrund der zeitlichen Verzögerung bei der Bereitstellung neuer Daten sowie der hohen Aktualität und Volatilität der Themen können die Covid-19-Pandemie und die durch die russische Invasion in der Ukraine verursachte Wirtschafts- und Energiekrise in dieser Arbeit noch nicht berücksichtigt werden. Wir erwarten jedoch, dass wir mittelfristig kausale Zusammenhänge ableiten und in zukünftigen Arbeiten darlegen können. Wir gehen außerdem davon aus, dass die unterschiedlichen Niveaus der europäischen Integration mit einem möglen Match oder Mismatch zwischen Nachfrage und Angebot an integrationspolitischen Maßnahmen in der Bevölkerung und bei den politischen Parteien zusammenhängen. Es ist daher von entscheidender Bedeutung, die sich verändernde Struktur des innerstaatlichen Parteienraums im 21. Jahrhundert aufzudecken. Ein solcher methodischer Ansatz erlaubt es, die langfristige Stabilität von Verbindungen (alignments) zwi-

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schen Wählern und Parteien zu messen und Rückschlüsse auf mögliche Brüche (dealignment) und neue Mobilisierungspotenziale (realignment) zu ziehen. Das skizzierte Forschungsdesign ist insofern innovativ, als es kein vergleichbares Konzept gibt, das die Restrukturierung der europäischen Parteiensysteme durch eine ideologische Kartierung der Positionen der Parteien für europäische Themen in Kombination mit einer Tiefenanalyse repräsentativer Umfragedaten in einer vergleichenden länderübergreifenden Perspektive empirisch untersucht. Darüber hinaus wirft dieser neue Ansatz die zukunftsträchtige Frage auf, ob die Nachfrage und das Angebot nach differenzierter Integration zunehmend eher soziokulturellen als sozioökonomischen Logiken folgen. Die Implikationen dieser Erkenntnisse sind für die Wissenschaft, den politischen Diskurs und die politischen Parteien selbst von großer Bedeutung. Ein solcher Ansatz geht auf einige Einschränkungen anderer Studien ein, die bei ihrer Untersuchung von europäischer Integration und differenzierter Integration in Europa lediglich den Nationalstaat mitsamt seinen Staatsmännern und -frauen als Analyseeinheit verwenden. Der Vergleich von Ländern als kohärente Einheiten sagt jedoch immer weniger darüber aus, wie sich die Bevölkerungen in ihnen selbst regieren wollen. Klassische Definitionen von Staatlichkeit, welche sich auf die Souveränität und das Monopol des legitimen Zwangs fokussieren, sind unzureichend für eine Untersuchung von europäischer Integration und Differenzierung.36 Wir analysieren daher auch innenpolitische, gesellschaftliche Determinanten, zeitliche und thematische Lücken zwischen parteipolitischem Angebot und politischer Nachfrage sowie reaktionäre Elemente zwischen Bevölkerung und Parteien. Unser Ziel ist es nicht nur, unser Wissen über die europäische Integration und Differenzierung zu aktualisieren, sondern auch ein besseres Verständnis einiger Schlüsseldeterminanten zu erlangen, die den aktuellen Kurs des europäischen Integrationsprojekts beeinflussen. Und dazu gehört eben der latente oder manifeste Konflikt über europäische Integration und verwandte politische Themenfelder in den jeweiligen nationalen – in unserem Fall den polnischen und deutschen Bevölkerungen. Somit entsteht eine mehrdimensionale Perspektive, die mit einem kritischen Literaturüberblick über die differenzierte europäische Integration beginnt und dann zur Analyse spezifischer Cleavage-bezogener Theorien übergeht – sowohl der klassischen Ansätze als auch der moderneren Perspektiven. Theoretisch positionieren wir unsere Studie an der Kreuzung der beiden Literaturströme. Dies ermöglicht es uns, einige Interpretationsansätze weiterzuentwickeln. Unser Beitrag baut auf der sowohl für die Cleavage-Theorie als auch 36 Hooghe, L.; Marks G. (2022), Differentiation in the European Union and beyond. European Union Politics, S. 1–11.

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für den Postfunktionalismus grundlegenden Annahme, dass die zentralen Akteure in der Politik die Bürger und politischen Parteien sind. Sie können Initiatoren oder Vermittler politischer Auseinandersetzungen sein, die zu einer direkten oder indirekten Politisierung von Themen im Zusammenhang mit der europäischen Integration führen können, wie z. B. Migration, Freihandel oder das Konzept der »offenen Grenzen« im Allgemeinen. Inspiriert von der CleavageTheorie stehen die Zusammenhänge zwischen dem transnationalen Cleavage und den Ideen, Werten und Normen von Individuen und sozialen Gruppen im Mittelpunkt des Interesses, wie sie mit den Dispositionen zur europäischen (differenzierten) Integration interagieren. Mit anderen Worten, dieser Beitrag informiert uns besser darüber, wie die Präferenzen der europäischen Bürger durch ihr jeweiliges nationales Parteiensystem vermittelt oder gespiegelt werden und wie sie mit ihren Einstellungen zur europäischen Integration korrespondieren. Eine wichtige Herausforderung für die Forschung besteht darin, die besonderen Merkmale einer solchen segmentierten politischen Ordnung genauer zu beschreiben.37 Das transnationale Cleavage strukturiert die politische Landschaft über die nationalen Grenzen hinweg. Darüber hinaus werden wir einige mögliche Erklärungen dafür liefern, wie es zu dieser Entwicklung gekommen ist. Besonderes Augenmerk wird auf die krisenbedingten Momente in der EU gelegt. Vor den Krisen ging man allgemein davon aus, dass sich die Mitgliedstaaten zwar unterschiedlich schnell integrieren, aber alle mehr oder weniger dasselbe Ziel erreichen würden. Nach den Krisen hat sich gezeigt, dass die EU weniger in der Lage ist, an einem Strang zu ziehen, um eine »immer engere Union« zu schaffen; ihre künftige Entwicklung ist weitaus offener als zuvor.38 Die EU nach der Krise weist eine stärkere strukturelle Differenzierung in Kombination mit einer stark fokussierten und ideologisch geprägten Krisenreaktion auf. Der Brexit war der stärkste Weckruf, der daran erinnerte, dass Europa stets einem desintegrativen Druck ausgesetzt ist.39 Wir bringen das Verständnis über Differenzierung insofern voran, als dass wir nur die Rolle von Ideen und Ideologien einbeziehen, sondern auch berücksichtigen, wie Ideen und Ideologien strukturell bedingt sind und gleichzeitig Strukturen und institutionelle Arrangements bedingen.40 37 Bátora, J.; Fossum J.E. (2021), Differentiation and segmentation. EU3D Research Paper (9), S. 4. 38 Ebd., S. 2 (Eigene Übersetzung). 39 Ebd., S. 8. 40 Lord, C. (2020), Integration through Differentiation and Segmentation. He case of one Member State from 1950 to Brexit (and beyond), in: Towards a Segmented European Political Order. The European Union’s Post-Crisis Conundrum (Hrsg.: Jozef Batora; John Erik Fossum), Oxfordshire: Routledge 2020, S. 245.

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Wir können drei Quellen der Variation innerhalb Europas vorhersehen: Unterschiede in den institutionellen Arrangements für gemeinsame Entscheidungen, Unterschiede in der Integration von Mitgliedern und Nicht-Mitgliedern in spezifische EU-Politiken und -Institutionen und Unterschiede in den Annahmen über Fakten und Werte innerhalb bestimmter Politikbereiche.41 Die wachsende Literatur zur europäischen Integration behauptet, dass die Europäische Union vielfältiger geworden ist als Teil eines Übergangs von einer zeitlich begrenzten oder vorübergehenden Differenzierung zu dauerhafteren Unterschieden in der europäischen Integration. Diese Differenzierung umfasst auch Ideen, Ideologien oder Werte. Der Ansatz der differenzierten Integration bietet uns ein geeignetes konzeptionelles Instrumentarium, um das, was sich derzeit abspielt, adäquat zu erfassen. Der Umfang und das Ausmaß der politischen, strukturellen, institutionellen, kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen, ethnischen und sprachlichen Vielfalt Europas prägen und beeinflussen den Integrationsprozess in hohem Maße. Je mehr die verschiedenen Staaten miteinander verbunden sind, desto mehr wird ihre Vielfalt in den Integrationsprozess hineingezogen und spiegelt sich in ihm wider. Die Mitgliedstaaten haben unterschiedliche sozioökonomische Systeme und Regierungsphilosophien – das bedeutet, dass es für die EU umso schwieriger ist, diese miteinander in Einklang zu bringen, je größer die Zahl und die Bandbreite der Beiträge der Mitgliedstaaten ist.42 Das charakteristische Merkmal der segmentierten politischen Ordnung in Europa ist, dass jedes Segment mit einem spezifischen Repertoire an Ideen und ideologischen Prädispositionen ausgestattet ist, die die kognitive Schließung des jeweiligen Segments aufrechterhalten.43 Unser Einführungskapitel diente dazu, Forschungsfrage und -design zu erläutern, in die wichtigsten theoretischen Konzepte einzuführen und unsere Studie in der breiteren Literatur der betreffenden Fachgebiete zu verorten. Im zweiten Kapitel gehen wir dann zum Konzept der differenzierten Integration in Europa über, indem wir den Stand der Wissenschaft in diesem Bereich rekonstruieren und unsere Analyse darin einordnen. Mit der Politisierung von europäischer Integration schließen wir das Kapitel mit einer theoretischen Erklärung ab, in der wir darlegen, warum der Postfunktionalismus der wichtigste Ansatz in dieser Studie bleibt. Im anschließenden Kapitel wird die klassische CleavageTheorie mit ihren Annahmen und Implikationen zur politischen Anfechtung umrissen. Darauf folgt eine konzeptionelle Darstellung Post-Lipset-Rokkan’scher Cleavage-Ansätze. Abgerundet wird dies durch eine zentrale Diskus41 Ebd., S. 244. 42 Bátora, Fossum 2021. 43 Ebd.

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sion über den gegenwärtigen Status der Cleavage-Theorie selbst und ihre Anwendbarkeit auf neue gesellschaftliche Entwicklungen oder exogene Faktoren. Dann befassen wir uns mit den Krisen der europäischen Integration, die für ein tieferes Verständnis der gegenwärtigen Phase des Prozesses selbst entscheidend ist. Der Begriff der Krise und die damit einhergehenden Konflikte sind von entscheidender Bedeutung. Der Brexit, der selbst oft als Symptom des Zerfalls wahrgenommen wird, wird in dieser Analyse als ein Element einer Reihe sich überschneidender und kumulativer Krisen gesehen, die eine Dynamik erzeugen, in der die so genannte Polykrise als eine quasi permanente Krise verstanden werden kann, in die das europäische Integrationsprojekt im 21. Jahrhundert eingebettet ist. Der Abschnitt behandelt folglich die Fälle Deutschland und Polen in den Jahren 2004 bis 2020 und ist in zwei Ansätze unterteilt. Der eine befasst sich mit der Angebotsseite des organisierten politischen Wettbewerbs, der Themenpositionierung der politischen Parteien. Mit Hilfe der gewichteten multidimensionalen Skalierung (WMDS) wird untersucht, inwieweit eine Umstrukturierung des jeweiligen nationalen Parteienraums stattgefunden hat und ob EUThemen dabei eine bedeutende Rolle spielen. Im zweiten Analyseabschnitt wird mit Hilfe der multiplen linearen Regressionsanalyse (MLR) untersucht, ob die Nachfrageseite, d. h. die Dispositionen und Einstellungen der Wählerschaft, mit den parteipolitischen Restrukturierungen übereinstimmen. Im abschließenden Kapitel diskutieren wir die Ergebnisse im Lichte der bestehenden Theorien und interpretieren sie im Zusammenhang mit einigen früheren Untersuchungen, die in ähnlicher Weise durchgeführt wurden. Die Grenzen unserer Ergebnisse werden ebenso angesprochen wie einige Vorschläge für weiterführende Forschung.

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Differenzierung und Cleavages – Europäische Integration und politischer Konflikt im 21. Jahrhundert

2.1

Differenzierte Integration in Europa aus heutiger Perspektive

Zunächst widmen wir uns der Literatur zur differenzierten Integration, angefangen bei den klassischen Werken, die bereits im 20. Jahrhundert erschienen sind, bis hin zu den neuesten Veröffentlichungen der letzten Jahre. Wir nehmen eine Analyse der wichtigsten theoretischen Instrumente, die bei der Untersuchung der differenzierten Integration im heutigen Europa nach dem Brexit verwendet werden. Sie diskutieren das theoretische und empirische Potenzial der ausgewählten Ansätze, die an der Schnittstelle von Desintegrations- und Differenzierungsdiskurs eingesetzt werden. Am Ende bleibt die ultimative Theoretisierung der dynamischen Prozesse der Integration, Desintegration und Differenzierung zwar unentdeckt, dennoch bedarf es einer ständigen Suche nach theoretischen Erklärungen in den vertieften Analysen des aktuellen Zustands der Europäischen Union.44 Die EU bindet 27 Länder und eine ganze Reihe von Nachbarstaaten an einen gemeinsamen Rahmen, der zwischenstaatliche Aggressionen abschafft, was vor allem im Zusammenhang mit dem akuten Konflikt in der Ukraine von entscheidender Bedeutung ist. Er fördert eine enge Zusammenarbeit, die zu einer wirtschaftlichen und politischen Union führt. Auf diesem Weg zu einer »immer engeren Union« trennt die differenzierte Integration, was nach der Logik der einheitlichen Integration vereint sein sollte. Und gleichzeitig hält sie das ganze System der sich mehrfach überschneidenden Gruppierungen zusammen, trotz seiner wachsenden Heterogenität.45 Die differenzierte Integration in Europa ist sowohl in den wissenschaftlichen als auch in den öffentlichen Diskursen ganz oben auf der Agenda angekommen.46 44 Riedel, Gierlich 2021, S. 7–28. 45 Eriksen 2019, S. 259. 46 Duttle, T. (2016), Differentiated Integration at the EU Member State Level. An Empirical Comparison of European Integration Theories, Nomos, Baden Baden; Gänzle, S.; Leruth, B.;

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Differenzierung und Cleavages

Auch wenn sie im europäischen Integrationsprojekt seit Jahrzehnten präsent ist, hat sie aufgrund ihrer Salienz und Dynamik noch nie so viel Aufmerksamkeit erlangt.47 Der Brexit und der Wandel in der französischen und deutschen Haltung gegenüber der Abgrenzung, nämlich offen, tolerant, akzeptierend und sogar einladend haben das Paradigma der »immer engeren Union« erheblich verändert. Der Austritt Großbritanniens aus der EU erweitert die Kreise der Integration, gleichzeitig ist der deutsch-französische Motor entschlossen, die Integration zu vertiefen, und die beiden Dynamiken werden höchstwahrscheinlich zu einem neuen System der Differenzierung führen, welches in der Geschichte des europäischen Integrationsprojekts bisher unbekannt ist. Die sich neu entwickelnde Situation erfordert eine intensive wissenschaftliche Untersuchung, die unser Wissen über ihre Determinanten und Dynamik erweitern wird. Ziel ist es daher, einen Beitrag zum Stand der Forschung über differenzierte Integration zu leisten, verschiedene Perspektiven zu integrieren und gleichzeitig die Dynamik und die Determinanten der wachsenden Differenzierung in Europa zu erklären. Die verwendeten Konzepte reichen von der Metapher des Europa à la Carte über ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten, der konzentrischen Kreise, der differenzierten Geometrien bis hin zu den diversifizierten Hemisphären der Integration. Immer mehr Analysten, Experten und Wissenschaftler behaupten, dass die beobachtete Zunahme der Differenzierung an Grenzen stößt, die das Potenzial zur Desintegration in sich tragen. Ausnahmen von der Eurozone und dem Schengen-Raum sind bereits recht prominente Beispiele für Differenzierung.48 Aber die Aushöhlung einer der vier Freiheiten, nämlich der Freizügigkeit, wie es beim Brexit-Referendum der Fall war, greift eine der Grundlagen an und stellt die Idee des europäischen Integrationsprojekts selbst in Frage. Wenn man sich offen gegen den Kern des Binnenmarktes wendet, ändert sich die Richtung der europäischen Integration.49 Üblicherweise wird das Thema der differenzierten Integration aus der Perspektive der Einzeldisziplin analysiert.50 Die bestehenden Theorien zur inter-

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Trondal, J. (2019), Differentiation, differentiated integration and disintegration in a ›postBrexit-era‹. Routledge; Bernstein A. (2016), To Brexit or to Brexit?, »News Extra« April 2016, S. 7. Deutsch, K. (1957), Political Community and the North Atlantic Area: International Organisation in the Light of Historical Experience, Princeton; Dahrendorf, R. (1973), Plädoyer für die Europäische Union, München-Zürich; Fossum, J. (2015), Democracy and Differentiation in Europe, in: Journal of European Public Policy 22(6), S. 799–815; Schimmelfennig, Winzen 2020. Schimmelfennig, F.; Winzen, T. (2019), Grand theories, differentiated integration, in: Journal of European Public Policy 26(8), S. 1–21. Riedel, Gierlich 2021. Schimmelfennig, F. (2014), EU enlargement and differentiated integration: discrimination or equal treatment?, in: Journal of European Public Policy 21(5), S. 681–98.

Differenzierte Integration in Europa aus heutiger Perspektive

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nationalen Integration sind zersplittert und in den disziplinären Lagern gefangen, ohne dass ein Dialog zwischen ihnen stattfindet.51 Das Thema der differenzierten Integration stellt ein ideales Feld dar, auf dem das Zusammenspiel verschiedener theoretischer Ansätze praktiziert werden kann. Dazu gehören z. B. in der klassischen Politikwissenschaft die Europäisierung und der Euroskeptizismus. In der Ökonomie wiederum die Theorie der optimalen Währungsräume, Binnen- oder Zollunions-Theorien oder generelle Strömungen der internationalen Beziehungen, wie Transaktionalismus, Neofunktionalismus, liberaler Intergouvernementalismus. Neben diesen werden auch große Theorien der Sozialwissenschaften, wie z. B. Institutionalismus und Konstruktivismus herangezogen.52 Unsere Ausgangsannahme besteht in der Feststellung, dass das Niveau und der Umfang der Differenzierung in verschiedenen Politikbereichen von Land zu Land in Abhängigkeit vom Zeitfaktor unterschiedlich ist und durch eine Gruppe von Faktoren soziopolitischer, wirtschaftlicher, rechtlicher und institutioneller Art bestimmt wird. Trotz aller Grenzen und Tücken dieses Integrationsmodus wird die differenzierte Integration als ein legitimes Mittel des europäischen Einigungsprojekts betrachtet. Integration wird in dieser Sichtweise als übergeordneter Imperativ betrachtet und Differenzierung als Instrument zu dessen Verwirklichung. Und der Mangel an realistischen Alternativen treibt die differenzierte Integration voran. Jede Abkehr unabhängiger Staaten von Europa würde – unter den gegenwärtigen Umständen kaskadierender Interdependenz – Probleme und zwischenstaatliche Konflikte vermehren, die Transaktionskosten und negativen externen Effekte erhöhen und es schwieriger machen, die positive Bilanz in jeder anderen Form der Zusammenarbeit zu erreichen. Das System der differenzierten Integration ist bei weitem nicht perfekt, aber näher am Optimum (wenn man bedenkt, was realistisch ist) und das Kerneuropa ist der Trendsetter und Schrittmacher der europäischen Integration. Die Geschichte der europäischen Integration kann als eine Geschichte ihrer Vertiefung und Erweiterung erzählt werden – diese beiden Dynamiken haben bisher die Mechanismen der Differenzierung bestimmt. Folglich bedeutete der Fortschritt der Integration im Laufe der Zeit eine Zunahme der Differenzierung.53 Die jüngsten politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen in der Europäischen Union und darüber hinaus zeigen jedoch deutlich, dass die Differenzierung an Schwung gewonnen und sich ihre Dynamik beschleunigt hat.54 Darin 51 Rosamond, B. (2000), Theories of European Integration. The European Union Series. Basingstoke: Palgrave. 52 Riedel, R. (2016), Ekonomia polityczna jako interdyscyplinarne podejs´cie do studiów nad integracja˛ europejska˛, in: Rocznik Integracji Europejskiej 10, S. 37–50. 53 Schimmelfennig, Winzen 2014. 54 Gänzle et al. 2019.

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Differenzierung und Cleavages

liegt die außerordentliche Bedeutung des zu lösenden wissenschaftlichen Problems. Eines der wichtigsten Merkmale des gegenwärtigen europäischen Integrationsprozesses muss weiter erforscht werden, um unser Verständnis seiner Dynamik und seiner Determinanten zu verbessern. Es ist sowohl aus der Sicht der wissenschaftlichen Erklärungen als auch aus der praktischen Sicht der real existierenden Phänomene von grundlegender Bedeutung, um den kritischen Punkt zu erhellen, an dem sich das vereinte Europa befindet. Die diesbezüglichen wissenschaftlichen Überlegungen sind für die reale Politik auf nationaler und europäischer Ebene von entscheidender Bedeutung.55 Die frühe und einflussreiche Typologie von Alexander Stubb schlägt im englischen Original die Bezeichnungen »multi-speed differentiation«, »multi-tierdifferentiation«- und »multi-menue-differentiation« vor.56 Die Differenzierung mit mehreren Geschwindigkeiten wird durch die Zeit bestimmt, wobei die Differenzierung ein vorübergehendes oder temporäres Phänomen ist, das sich in einem definierbaren Zeitraum der Einheitlichkeit annähert. Die mehrstufige Differenzierung ist eine Differenzierung über den Raum hinweg – sie unterscheidet dauerhaft Gruppen von Staaten nach ihrem Differenzierungsgrad. Nicht zuletzt ist die mehrstufige Differenzierung durch Politikfelder strukturiert. In diesem Modus ist die Integrationstiefe innerhalb eines jeden Politikbereichs in etwa gleich. Die teilnehmenden Staaten variieren jedoch von Politikbereich zu Politikbereich. Die Mitgliedstaaten wählen aus der Karte oder dem »Menü« der Politikbereiche aus, und jeder Staat stellt seine eigenen Menüs zusammen, gemäß einem »Europe á la carte«. Ein weiterer wichtiger Unterschied in den Typologien ist die Unterscheidung zwischen de jure, d. h. rechtlich kodifizierter Differenzierung, und de facto Differenzierung, die sich aus der flexiblen und ungleichen Umsetzung oder der informellen Zusammenarbeit jenseits rechtlicher Verpflichtungen ergibt.57 Seit dem Bestehen der Europäischen Union haben Wissenschaftler versucht zu erklären, ob die EU in verschiedene Klassifizierungstabellen passt, um zu bestimmen, was sie überhaupt verkörpert. Einige Wissenschaftler wie Ferry behaupten, dass die EU mit der Konnotation eines völlig neuen Staates beschrieben werden kann.58 Eine andere Gruppe von Wissenschaftlern betrachtet die Euro-

55 Leuffen, D.; Rittberger, B.; Schimmelfennig, F. (2022), Integration and Differentiation in the European Union. Theory and Policies, Palgrave Macmillan Cham. 56 Stubb, A. C. G. (1996). A categorization of differentiated integration, in: Journal of Common Market Studies 34(2), S. 283–295. 57 Ebd. 58 Ferry, J. (2000), La Question de L’État Européen, Paris: Gallimard.; Schmidt, V. (2004), The European Union: Democratic Legitimacy in a Regional State, in: Journal of Common Market Studies 42(4), S. 975–999.

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päische Union als ein nichtstaatliches politisches System.59 Es ist nicht das Ziel dieser Analyse dieses Dilemma zu lösen, dennoch ist es legitim zuzustimmen, dass die europäische Integration einen tiefgreifenden und zunehmenden Einfluss auf die Politik der Mitgliedsstaaten hat. Die EU selbst kann als ein quasiföderales System betrachtet werden, in dem sich die transnationalen soziopolitischen Cleavages widerspiegeln, die im politischen System der Nationalstaaten eingebettet sind. Kein Fall kann in dieser Hinsicht beispielhafter sein als der Brexit. In gewissem Sinne hat sich die differenzierte Integration immer auf den Brexit bezogen, weil das Vereinigte Königreich im Rahmen seiner präferenziellen Mitgliedschaft Ausnahmen erhielt. Wenn man das »neue« empirische Beispiel des Brexit betrachtet, kann man den Umstand hervorheben, dass es mit der realen Zunahme der Differenzierung (Opt-outs, Ausnahmen, verstärkte Zusammenarbeit, konstruktive Enthaltung, Sonderklauseln, Zusatzprotokolle, usw.) zusammengewachsen ist und London dabei eine unbestrittene Führungsrolle spielte. In den letzten zwei Jahrzehnten war die Differenzierung ein dominierendes Merkmal des europäischen Integrationsphänomens. Das Vereinigte Königreich hat seine interne Position von einem integrationsfreundlichen Land zu einem integrationsfeindlichen Land verändert, was die Grundlagen des Integrationsprozesses gefährdet. Dies führt zu externen Effekten, die auch von anderen Mitgliedstaaten und Nichtmitgliedern in Anspruch genommen werden. Zudem sind die bereits bestehenden Ausnahmen von der Eurozone und dem Schengen-Raum recht prominente Fälle von Differenzierung.60 Wissenschaftler, die sich mit der europäischen Integration befassen, identifizieren eine Reihe von Dimensionen und Mechanismen der Differenzierung. Schimmelfennig, Leuffen und Rittberger betonen, dass die EU als ein System der differenzierten Integration zwei Differenzierungsverdikte aufweist. Zum einen gibt es die bestehende vertikale Differenzierung, die sich durch die Mittel in den Zentralisierungsebenen manifestiert, aber auch die Variation in der territorialen Ausdehnung, die als horizontale Differenzierung bezeichnet wird.61 »Die Differenzierung ist eine Begleiterscheinung der Vertiefung und Erweiterung und hat sich in dem Maße verstärkt und verfestigt, wie die Befugnisse, die politische Reichweite und die Mitgliedschaft der EU gewachsen sind«.62 Zur Erklärung 59 Hix S. (2005), The Political System of the European Union, Basingstoke. 60 Riedel, R. (2018), Great Britain and Differentiated Integration in Europe, in: (Hrsg. Troitiño David Ramiro, Kerikmäe Tanel, Chochia Archil), Brexit – History, Reasoning and Perspectives, Springer (Professional) International Publishing, S. 99–112. 61 Schimmelfennig, F.; Leufen, D.; Rittberger, B. (2015), The European Union as a system of differentiated integration: interdependence, politicisatio, differentiation, in: Journal of European Public Policy 22(6), S. 764–782. 62 Ebd., S. 766 (Eigene Übersetzung).

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führen diese Autoren die Figur der differenzierten Integration in der EU auf den Zusammenhang von Interdependenz und Politisierung zurück. Nach Leuffen und Kollegen lassen sich Gemeinwesen als eine dreidimensionale Konfiguration von Autorität konzeptualisieren. Dieser Zentralisierungsgrad manifestiert sich auf folgende Weise: Politische Systeme, die autoritative Entscheidungen im Zentrum monopolisieren, weisen einen maximalen Zentralisierungsgrad auf, während Entscheidungsbefugnisse, die auf eine Vielzahl von Akteuren verteilt sind, einen niedrigen Zentralisierungsgrad anzeigen. Zusätzlich zur ersten Bedingung variiert der funktionale Umfang zwischen der Zuständigkeit für ein einzelnes Thema und der Zuständigkeit für ein ganzes Spektrum von Politikbereichen.63 Ebenso wie die pfadabhängige differenzierte Integration ist auch das Konzept der differenzierten Desintegration ein seltenes, aber bedeutendes Phänomen der differenzierten Integration in der EU. Zwar entspricht die differenzierte Desintegration der Logik der konstitutionellen Differenzierung, die der traditionellen britischen Sorge um den Erhalt der nationalen Souveränität und Identität in Bereichen der staatlichen Kernkompetenzen folgt und diese verstärkt.64 Nach Schimmelfennig und Winzen werden in Verhandlungen über eine differenzierte Desintegration jedoch europaskeptische Regierungen zu »Demandeuren« und die anderen Mitgliedstaaten zu Verteidigern des Status quo. Differenzierte Integration bezieht sich daher auf eine Situation, in der die Integration insgesamt voranschreitet, aber mindestens ein Staat im Status quo verbleibt oder nicht auf dem gleichen Integrationsniveau wie die anderen teilnimmt. Im Gegensatz dazu bedeutet differenzierte Desintegration die selektive Verringerung der Einhaltung der integrierten Rechtsregeln durch einen Staat, was zu einer allgemeinen Verringerung des Integrationsniveaus und -umfangs führt.65 Es ist wichtig zu betonen, dass die Verhandlungen über die Position des Vereinigten Königreichs in der Europäischen Union zwischen Ende 2015 und Anfang 2016 die interne differenzierte Desintegration betrafen, da bis zum Referendum unklar war, ob das Vereinigte Königreich in der Europäischen Union bleiben würde.66 Die meisten Wissenschaftler und Politiker glaubten noch, dass ein negatives Brexit-Referendum überhaupt keine Option sei und das Vereinigte Königreich als Teil der 28 Mitgliedsstaaten in der Europäischen Union verbleiben würde.67 Der Phänotyp der binnendifferenzierten Desintegration passt am besten 63 64 65 66 67

Leuffen et al. 2013. Ebd. Schimmelfennig, Winzen 2020. Schimmelfennig 2018. Hix, S.; van der Linden C.; Massie, J. et al. (2023) Where is the EU-UK relationship heading? A conjoint survey experiment of Brexit trade-offs, in: European Union Politics 24(1), S. 184– 205.

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zu dieser Phase, da das Vereinigte Königreich noch immer in der Europäischen Union war und intern über mehrere Desintegrationsschritte stritt, die Europäische Union aber nicht vollständig verließ. Aber dieser Wechsel des Phänotyps von interner differenzierter Desintegration zu externer differenzierter Desintegration war im Begriff, sich durch den Umstand des negativen Brexit-Referendums vom Juni 2016 zu ändern. Anschließend ging es in den Verhandlungen eher um einen tatsächlichen Austritt aus der Europäischen Union als um eine selektive Integration als Ausschluss und Herausnahme aus der Europäischen Union. Hier wird die erwähnte Verschiebung von der binnendifferenzierten Desintegration zur außendifferenzierten Desintegration deutlich. Nach Schimmelfennig gibt es drei Arten der differenzierten Desintegration.68 Die erste Form der differenzierten Desintegration hängt zweifelsohne mit der im Diskurs über differenzierte Integration verbreiteten Ursache der inneren Differenzierung zusammen. Sie wird als interne differenzierte Desintegration bezeichnet und tritt auf, wenn ein Staat eine flachere Integration innerhalb der EU anstrebt (interne Differenzierung). Was bei der binnendifferenzierten Integration jedoch am meisten auffällt, ist die Tatsache, dass sie aus Gründen des Trittbrettfahrens von den anderen EU-Mitgliedstaaten abhängt, worauf im nächsten Abschnitt näher eingegangen wird. Darüber hinaus beinhaltet die interne differenzierte Integration kein Abkommen wie im Falle der externen differenzierten Integration.69 Viele Länder sind sowohl horizontal als auch vertikal lose mit der EU integriert. Die vertikale Differenzierung bezieht sich auf die Politikbereiche, die im Laufe der Zeit mit unterschiedlicher Geschwindigkeit integriert wurden und verschiedene Zentralisierungsgrade erreicht haben. Horizontale Differenzierung hingegen bedeutet, dass viele integrierte Politikbereiche weder einheitlich noch ausschließlich in allen EU-Mitgliedstaaten gelten. So nahm das Vereinigte Königreich beispielsweise nicht an allen EU-Politikbereichen teil an einigen anderen nimmt es in seinem eigenen Tempo und Umfang teil. Dies wird als horizontale und vertikale Differenzierung bezeichnet.70 In den vergangenen Jahrzehnten haben viele wertvolle Analysen den dynamischen Diskurs über die differenzierte Integration bereichert. Unter ihnen sind einige der ausführlichsten Veröffentlichungen zu nennen, die unser Wissen über die differenzierte Integration in Europa erweitert haben. Eine Studie von Frank Schimmelfennig und Thomas Winzen konzentriert sich auf die rechtlichen und institutionellen Aspekte. Sie befassen sich mit dem Stand, der Dynamik und den Determinanten der Differenzierung der europäischen Integration auf der 68 Ebd. 69 Ebd. 70 Ebd.

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Grundlage ausgefeilter theoretischer Modelle. Die Arbeit von Schimmelfennig und Winzen bietet eine umfassende konzeptionelle, theoretische und empirische Analyse der Differenzierung in der europäischen Integration. Der Schwerpunkt liegt jedoch auf der Erklärung der Differenzierung in den EU-Verträgen und im Sekundärrecht. Es stellt die differenzierte Integration als ein rechtliches Instrument vor, das die europäischen Regierungen regelmäßig einsetzen, um den Integrationsstau in den EU-Vertragsverhandlungen und der Gesetzgebung zu überwinden. Ihr Buch zeigt, dass die differenzierte Integration die Integration neuer Politiken, neuer Mitglieder und sogar von Nicht-Mitgliedern erleichtert hat, sie war hauptsächlich »multi speed« und inklusiv, denn die meisten Differenzierungen enden nach ein paar Jahren und diskriminieren die Mitgliedstaaten nicht dauerhaft.71 Der Schwerpunkt dieser Studie liegt hingegen auf den innerstaatlichen und transnationalen Konfliktlinien, die den Prozess der Differenzierung der europäischen Integration auf supra- sowie auf nationalstaatlichen Ebene beeinflussen können. Der Sammelband von Gänzle, Leruth und Trondal sowie das Werk von Duttle sind ebenfalls wichtige Beiträge zur differenzierten Integrationsforschung. Sie berücksichtigen bereits den Brexit-Faktor, ihr Schwerpunkt liegt jedoch viel mehr auf der Bewertung der Folgen des Brexits für die Politik, die Institutionen und die Mitglieder der EU.72 Andere Beiträge erörtern ebenfalls die Bedeutung der Differenzierung für die Zukunft der europäischen Integration, allerdings meist aus der Perspektive vor dem Brexit. Sie berücksichtigen auch nicht die jüngsten Entwicklungen, wie die sogenannte illiberal challenge in den östlichen Peripherien, die eine erhebliche Herausforderung für die normative Integrität der EU als Werteunion darstellt. Insgesamt wagt jedoch keine der bisher vorliegenden Studien den Übergang von der Analyse rechtlicher und institutioneller Aspekte der Differenzierung hin zu einem tieferen Eintauchen in die spezifischen politischen Verhältnisse, um die für die Politik der ausgewählten Länder bedeutsamen Cleavages zu untersuchen. Wir konzentrieren uns dagegen speziell auf Wählereinstellungen und Parteipositionierungen während und nach kumulativen kritischen Entwicklungen als wichtige Faktoren zur Erklärung der Besonderheiten und zunehmenden Dynamiken der differenzierten Integration.

71 Schimmelfennig, Winzen 2020. 72 Gänzle et al. 2019; Duttle, T. (2016), Differentiated Integration at the EU Member State Level. An Empirical Comparison of European Integration Theories, Nomos, Baden Baden.

Die grand theories europäischer Integration

2.2

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Die grand theories europäischer Integration

Die europäische Integration stellt ein herausragendes Phänomen in der klassischen Literatur der Politikwissenschaften dar. Um in die Vielfalt der europäischen Integrationstheorien eintauchen zu können, bedarf es auch eines kurzen, aber umfassenden Verständnisses dessen, was Theoretisierung von europäischer Integration in einer breiten Perspektive bedeutet. Es ist es von entscheidender Bedeutung, die Theoretisierung der europäischen Integration für eine Zeit nachzuzeichnen, die eine Pfadabhängigkeit zur weiteren Integration – und darüber hinaus – projiziert. Bei der Untersuchung der theoretischen Grenzen einer immer tieferen Integration kommt folgerichtig die theoretische Perspektive der differenzierten Integration ins Spiel. In den letzten Jahren wurde das Feld der Integrationstheorien neu belebt, und es entstanden theoretische Ansätze, die neue, in unterschiedliche Richtungen weisende Ereignisse einbeziehen. »Während sich Wissenschaftler lange Zeit auf spezifische Merkmale der EU und ihrer Governance konzentriert haben, gibt es eine Rückbesinnung auf große Theorien und das Verständnis der Transformation des gesamten politischen Systems als Ergebnis dieser Krisen«.73 Zwei Theorien dominierten lange Zeit die wissenschaftliche Debatte über die EUIntegration, nämlich der Neofunktionalismus und der Intergouvernementalismus. Beide Theorien beschäftigen sich mit der Frage, warum und unter welchen Bedingungen Staaten durch regionale Integration kooperieren. Mit anderen Worten: »Warum haben sich souveräne Regierungen in Europa wiederholt dazu entschlossen, ihre zentralen Wirtschaftspolitiken zu koordinieren und auf souveräne Vorrechte zu verzichten«.74 Es war bereits Ernst Haas, der Pionier des neofunktionalistischen Ansatzes, der Integration als einen neuen Prozess definierte, »bei dem politische Akteure in verschiedenen nationalen Kontexten davon überzeugt werden, ihre Loyalitäten, Erwartungen und politischen Aktivitäten auf ein neues Zentrum auszurichten«.75 In Abkehr von den klassischen realistischen Annahmen über staatliche Interessen in der Spieltheorie konzeptualisiert der Neofunktionalismus den Nationalstaat als eine Arena, in der sich Akteure für die Verwirklichung ihrer Interessen engagieren und somit die internationalen Beziehungen als ein Zusammenspiel mehrerer gesellschaftlicher Akteure. Die internationale Zusammenarbeit wird nicht mehr 73 Brack, N.; Gürkan, S. (2020). Introduction: European integration (theories) in crisis? In: Theorising the Crises of the European Union, Oxfordshire: Routledge, S. 1–20 (Eigene Übersetzung). 74 Moravcsik, A. (1998), The Choice for Europe. Social Purpose and State Power from Messina to Maastricht, Ithaca: Cornell University Press (Eigene Übersetzung). 75 Haas, E. (1958), The Uniting of Europe: Political, Social and Economic Forces, 1950–1957, Stanford: Stanford University Press, S. 16 (Eigene Übersetzung).

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durch das Überleben des Staates bestimmt, sondern durch eine funktionalistische Idee, als Antwort auf Skalenökonomien bei der Bereitstellung öffentlicher Güter. Während Funktionalisten argumentieren, dass der einzig gangbare Weg zur Umgehung staatlicher Souveränität in der Übertragung spezifischer staatlicher Funktionen auf spezialisierte internationale Agenturen besteht, betonen Neofunktionalisten das Potenzial für eine tiefere und breitere Governance auf regionaler Ebene.76 Wenn zudem gesellschaftliche Gruppen die Überzeugung teilen, dass eine supranationale Organisation erfolgversprechender ist als nationale Institutionen, wird es zu einer Integration kommen, um ihre Interessen durchzusetzen. Ernst Haas behauptet daher, dass Spill-over-Mechanismen, die von nationalen und supranationalen Eliten initiiert werden, die Ausdehnung der Integration von ehemals begrenzten Politikbereichen auf neue Bereiche implizieren. Er widmet diesen dynamischen Effekten, die durch supranationalen Aktivismus entstehen, detaillierte Aufmerksamkeit: Sie erzeugen unvorhergesehene Probleme, die weitere Integration auslösen. Der Neofunktionalismus geht davon aus, dass die Integration pfadabhängig ist, d. h. dass Krisen auftreten und den Prozess verzögern können, aber die Annahme bleibt bestehen, dass auf lange Sicht politische Spillover-Mechanismen Aufwärtstendenzen erzeugen. »Der Begriff der europäischen Integration selbst spiegelt die neofunktionalistische Prämisse wider, dass wir Zeugen eines Prozesses sind, der eine Richtung hat«.77 Folglich erzeugt die frühere Integration unvorhergesehene Krisen nur als Nebenprodukt oder als integraler Bestandteil der Integration selbst, was den Status quo als fehlerhaft erscheinen lässt. Aufgrund möglicher versunkener Kosten ist es jedoch unwahrscheinlich, dass der Kurs langfristig umgekehrt wird und die positiven Effekte anhalten.78 In einer anderen Studie fassen Brack und Kollegen zusammen, dass neofunktionalistische Wissenschaftler versucht haben, die Zunahme von Integrationskonflikten durch das Konzept des Spillback zu erklären und damit »den automatischen Charakter des Spill-over-Effekts zu relativieren«.79 Demnach können nationale Widerstände und eine Überforderung ausgelöst werden, wenn die Integration zu schnell in sensible Politikfelder eindringt: »Euroskepsis und Souveränitätsbewusstsein können den Spill-over-Effekt einschränken«.80 Nichtsdestotrotz konzentrieren sich Neofunktionalisten auf low politics und nicht auf konfligierende Identitäten oder Souveränitätsvorstellungen. 76 Hooghe, Marks 2019, S. 1114. 77 Ebd. (Eigene Übersetzung). 78 Brack, N.; Coman, R.; Crespy, A. (2020), Sovereignty Conflicts in the European Union, in: Theorising the Crises of the European Union, London: Routledge, S. 42–62. 79 Brack et al. 2020, S. 42–62 (Eigene Übersetzung). 80 Ebd. (Eigene Übersetzung).

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Für die Theorie des liberalen Intergouvernementalismus wiederum steht der Prozess der Verhandlungen zwischen Nationalstaaten im Fokus. Die Theorie bewertet das Niveau der Kooperation und des Wettbewerbs zwischen Nationalstaaten, die nach gegenseitigen, potenziell pareto-optimalen Abmachungen suchen. Dementsprechend geben die Staaten ihre Souveränität an niemanden ab und bleiben »Schlüsselakteure und Meister der europäischen Integration«.81 Befürworter der Intergouvernementalismus-Theorie argumentieren, dass die Integration mit den Souveränitätsregeln im Einklang steht. Die Mitgliedstaaten haben aus freien Stücken und mit Bedacht beschlossen, supranationale Institutionen zu schaffen, die eine ihnen entgegengesetzte Politik vertreten können. »Die EU ist das Produkt staatlicher Souveränität, weil sie durch freiwillige Vereinbarungen zwischen ihren Mitgliedstaaten geschaffen wurde«.82 Nach Hoffmanns Argumentation ist Integration ökonomisch begründet, lässt die politische Souveränität unangetastet und stärkt damit sogar den Nationalstaat, da der Staatsmann von Natur aus nicht so handeln könne, als gäbe es seinen Nationalstaat nicht. »So leidvoll seine Gestalt auch sein mag, oder als wäre die Welt eine andere als sie ist. Die nationale Situation kann Einigungsbemühungen erleichtern, selbst wenn das nationale Bewusstsein stark ist. Sie kann sich aber auch als gewaltiges Hindernis erweisen, wenn das nationale Bewusstsein schwach ist. Der Punkt ist, dass selbst wenn der Politiker versucht, ›über den Nationalstaat hinauszugehen‹, er dies nur tun kann, wenn er die Nation mit ihrem Gepäck an Erinnerungen und Problemen mit ihrer Situation mitnimmt. Ich möchte nicht behaupten, dass die Situation eine ›Gegebenheit‹ ist, die die Politik diktiert; aber sie setzt komplizierte Grenzen, die die Entscheidungsfreiheit beeinflussen«.83 Brack und Kollegen stellen dies in Frage: »Integration kommt zum Stillstand, sobald sie die hohe Politik betrifft«. Und doch hat der Vertrag von Maastricht, wie sie betonen, die nationale Rechtsautonomie in der Tat in erheblichem Maße untergraben: »Mit der Unterzeichnung dieses Vertrages haben sich die Mitgliedstaaten in mühsamen Kompromissen und Verhandlungen bereit erklärt, Teile ihrer Souveränität abzugeben. Damit öffneten sie auch die Büchse der Pandora für zunehmende Anfechtungen und akute Krisen, da sich sowohl die Bürger als auch die Parlamente in den EU-Mitgliedstaaten von den nationalen Exekutiven zunehmend ihrer eigenen Befugnisse beraubt fühlten«.84 Die Theorie des Intergouvernementalismus kam an einen kritischen Punkt. Einer der bekanntesten Theoretiker der grand theories, Andrew Moravcsik entwickelte das Konzept weiter und war Mitbegründer des liberalen Intergou81 Ebd. (Eigene Übersetzung). 82 Krasner, S. (2019), Sovereignty, in: Foreign Policy 122, S. 28 (Eigene Übersetzung). 83 Hoffmann, S. (1966), Obstinate or obsolete? The fate of the nation-state and the case of Western Europe, in: Daedalus 95(3), S. 868. 84 Brack et al. 2020, S. 52 (Eigene Übersetzung).

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vernementalismus, der die EU-Integration als eine Reihe rationaler Entscheidungen der nationalen Führer definiert. Diese Entscheidungen entsprachen den Zwängen und Möglichkeiten, die sich aus den »themenspezifischen gesellschaftlichen Interessen mächtiger einheimischer Wählergruppen, der relativen Macht der Staaten aufgrund asymmetrischer gegenseitiger Abhängigkeit und der Rolle der Institutionen bei der Stärkung der Glaubwürdigkeit zwischenstaatlicher Verpflichtungen ergaben«.85 Dies kann als eine Ausweitung des Intergouvernementalismus auf die Verhandlungen zwischen den Mitgliedstaaten durch die Anwendung der internationalen politischen Ökonomie und die Ablehnung der These von den Interessen und der Entscheidungsfindung als einem Nullsummenspiel zwischen den Staaten verstanden werden. Sie »kombiniert eine liberale Theorie der innerstaatlichen Präferenzbildung mit einer institutionalistischen Darstellung zwischenstaatlicher Verhandlungen, bei denen die Staaten instrumentell und hauptsächlich von wirtschaftlichen Interessen geleitet sind«.86 Darüber hinaus geht die Theorie von institutionellen Ergebnissen wie der Delegation von Befugnissen an supranationale Gremien als funktionale Antworten auf Kooperationsprobleme aus. Darüber hinaus werden die Staaten »gerade genug Autorität zusammenlegen, um sicherzustellen, dass die nationalen Regierungen ein Interesse daran haben, die Vereinbarung einzuhalten. Das typische Ergebnis ist also ein kleinster gemeinsamer Nenner, aber der Grad der Integration, den dies mit sich bringt, hängt von der Art des Kooperationsproblems ab«.87 Dies hat zur Anwendung europäischer Integrationstheorien geführt, um krisenbedingte politische Entscheidungsprozesse und Integrationsergebnisse in der EU zu erklären. Zahlreiche Analysten haben versucht, diese krisenbedingte Dynamik der institutionellen Innovation in der EU durch die Brille alter und neuer Theorien der europäischen Integration zu interpretieren.88 Verschiedene Theorien haben unterschiedliche Erklärungskraft für die Krisenpolitik in der EU, je nach der spezifischen Art des Krisendrucks, dem sie und ihre Mitglieder ausgesetzt sind.89 85 86 87 88

Moravcsik 1998, S. 18 (Eigene Übersetzung). Hooghe, Marks 2019, S. 1116 (Eigene Übersetzung). Ebd. (Eigene Übersetzung). Jacoby, W. (2014) The politics of the Eurozone crisis: two puzzles behind the German consensus, German Politics and Society 32(2), S. 70–85; Zeitlin, J. (2016), EU experimentalist governance in times of crisis, in: West European Politics 39(5), S. 1073–94; Genschel, P.; Jachtenfuchs, M. (2018), From market integration to core state powers: the Eurozone crisis, the refugee crisis, and integration theory, in: Journal of Common Market Studies 56(1), S. 178–96; Genschel, P.; Jachtenfuchs, M. (2018) From market integration to core state powers: the Eurozone crisis, the refugee crisis, and integration theory, in: Journal of Common Market Studies 6(1), S. 178–96. 89 Schimmelfennig, F. (2018), European integration (theory) in times of crisis. A comparison of the Euro and Schengen crises, in: Journal of European Public Policy 25(7), S. 969–989; Ferrara,

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Wir verdeutlichen dies an den unterschiedlichen Ergebnissen der Staatsschuldenkrise und der Schengen-Krise. Die erste führte zu mehr Integration, die zweite zu weniger.90 Der Neofunktionalismus kann, wie Brack und Kollegen argumentieren, die Krise in der Eurozone erklären, indem er auf die Ausweitung der wirtschaftlichen Governance hinweist: »Statt des Zerfalls der gemeinsamen Währung haben wir – zugegebenermaßen begrenzte – Versuche erlebt, die Föderalisierung der Geldpolitik mit einer stärker zentralisierten Haushaltsüberwachung durch die ›Verhärtung‹ der im Stabilitäts- und Wachstumspakt verankerten Regeln in Einklang zu bringen«.91 Andererseits scheint der neofunktionalistische Ansatz der Spillover-Effekte durch die Schengen-Krise verworfen worden zu sein, da die nationalen politischen Führer nicht bereit waren, der Kommission und den supranationalen Mechanismen der Dublin-Verordnung zur Steuerung der EU-weiten Migration zu folgen. Die unilateralen Maßnahmen der Mitgliedstaaten zur Bewältigung der Flüchtlings- und Migrationsströme stehen eher im Einklang mit der intergouvernementalistischen Erklärung. Der entscheidende Punkt sind die Kosten der Nicht-Einigung oder Nicht-Kooperation. Frank Schimmelfennig argumentiert, dass transnationale Verflechtungen und Akteure, d. h. die Interdependenz der Finanzmärkte, in der Eurozone nach der Einführung der gemeinsamen Währung stark zugenommen haben. Folglich »bedrohten die Finanzmarktakteure die hoch verschuldeten Länder der Eurozone mit einem Staatsbankrott; und diese Länder waren nicht in der Lage, dem Druck der Finanzmärkte aus eigener Kraft standzuhalten. Die Kosten für den Austritt aus der Eurozone waren für alle Mitgliedsstaaten unerschwinglich«.92 Im Gegensatz dazu war die transnationale Interdependenz in der Schengen-Krise viel schwächer, da Migranten als »machtlose transnationale Akteure« gelten, so dass »selbst die am stärksten betroffenen und schwächsten Länder auf den Flüchtlingsrouten in der Lage waren, den Migrationsdruck durch einseitige Maßnahmen wie die Verstärkung der Grenzen oder die Unterstützung des Transits von Migranten abzuwehren«.93 Daher waren die Kosten der Nichteinhaltung des Schengener Abkommens geringer als die der Währungsunion. Darüber hinaus profitierte die Währungsunion von der EZB als mächtige supranationalen Organisation, die sowohl über die Ressourcen als auch über die Autonomie verfügte, um die supranationale Integration auszubauen. Die europäischen Organisationen wie Frontex oder das Europäischen

90 91 92 93

F.; Kriesi, H. (2022), Crisis pressures and European integration, in: Journal of European Public Policy 29(9), S. 1351–1373. Vgl. Eriksen E. O. (2019), Contesting Political Differentiation. European Division and the Problem of Dominance, Palgrave Macmillan, Cham. Brack et al., (2020), S. 48 (Eigene Übersetzung). Schimmelfennig, F. (2018), Brexit: differentiated disintegration in the European Union, in: Journal of European Public Policy 1(20), S. 2 (Eigene Übersetzung). Ebd. (Eigene Übersetzung).

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Unterstützungsbüro für Asylfragen hatten dagegen keine Möglichkeit, eigenständig auf das Krisenmanagement einzuwirken.94 Weiterhin stellt sich die Frage, wie und ob die differenzierte Integration in das Gesamtbild der europäischen Integrationstheorie passt? Obwohl die differenzierte Integration zu einem der Kernelemente geworden ist, wurde sie in der wissenschaftlichen Literatur kaum entsprechend behandelt. Die benannten grand theories haben sich daher fast ausschließlich auf die einheitliche Integration konzentriert. Aus einer Vielfalt neu anzuwendenden Theorien ist der Postfunktionalismus zu erwähnen, der eine differenzierte Integration und Desintegration auf eine bestimmte Ebene des Politisierungsprozesses zurückführt, die die Themen der europäischen Integration von der Interessenebene der Gruppenpolitik auf die Ebene der Massenpolitik verlagert, wo die Identitätslogik eine größere Rolle spielt.95 Der Postfunktionalismus ist aus der Annahme heraus entstanden, dass Neofunktionalismus und liberaler Intergouvernmentalismus aufgrund der erwähnten Politisierung immer weniger geeignet sind, um als theoretische Grundlage für die europäische Integration zu dienen.96 Zur Erklärung dieser Verschiebung schlägt der Postfunktionalismus mehrere Elemente vor, die einzeln oder kumulativ auftreten können: einerseits die Tiefe der Integration, andererseits die exklusive nationale Identität, aber auch der Aufstieg euroskeptischer Parteien und Referenden in der EU. Um desintegrative Elemente und nicht nur eine einfache Ablehnung von mehr Integration zu erklären, muss es zudem eine signifikante Zunahme dieser Faktoren geben, die die genannte Verschiebung vorantreiben.97 Hierbei sei auch erwähnt, dass nach Nikolas Jabko und Meghan Luhman die Politisierung in Krisensituationen die Rekonfiguration fragiler Souveränitätspraktiken beschleunigen kann, oder anders gesagt, dass die Logik der europäischen Integration in der Krise von der Erwartung abweichen kann, dass Politisierung die Integration behindert. »Nachdem eine Krise die Anfälligkeit bestehender Souveränitätspraktiken offenbart hat, suchen die Staats- und Regierungschefs der EU nach integrationsfördernden Maßnahmen, nehmen Souveränitätsbelange als wichtige Reformbestandteile auf und schließen sich zusammen, um Souveränitätsansprüche, die die Integration bedrohen, zu marginalisieren. Diese Logik stellt die weit verbreitete Ansicht in Frage, dass Politisierung zwangsläufig schlechte Aussichten für die Integration mit sich

94 Ebd. 95 Hooghe, Marks 2009, S 93. 96 Czech, S.; Krakowiak-Drzewiecka, M. (2019), The rationale of Brexit and the theories of European integration, in: Oeconomia Copernicana 10, S. 591. 97 Schimmelfennig 2018, S. 8.

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bringt«.98 Die Krisen haben die Fragilität der EU-Regime, aber auch ihre Plastizität offenbart, selbst angesichts einer intensiven Politisierung99. Die Spannungen zwischen den Souveränitätspraktiken und der europäischen Integration erreichten demnach einen Höhepunkt, aber sie führten letztlich zu neuen Souveränitätspraktiken. Die Staats- und Regierungschefs der EU waren in der Lage, die bestehenden Institutionen zu reformieren und gleichzeitig die hochgradig politisierten Anliegen der Mitgliedstaaten sorgfältig zu berücksichtigen.100 Während Neofunktionalismus und Intergouvernementalismus die europäische Integration als effizienzsteigernden Prozess betrachten, bei dem die wirtschaftlichen Akteure nach Gewinnen streben, betont der Postfunktionalismus das disruptive Potenzial eines Konflikts zwischen funktionalen Zwängen und exklusiver Identität. Dieser Ansatz ist eng mit der vergleichenden Forschung zu Identität und innerstaatlicher Anfechtung verbunden. Die theoretischen Ergebnisse des Postfunktionalismus sind jedoch offen – die Theorie spricht nicht ausdrücklich von Desintegration oder Differenzierung, vielmehr sind in dieser Perspektive verschiedene Szenarien denkbar. Wenn es um Desintegration als theoretisches Konzept geht, tritt der Neofunktionalismus sehr stark in den Vordergrund. Schmitter und Lefkofridi diskutieren die Relevanz des Neofunktionalismus als Desintegrationstheorie, um weitere Erklärungen für desintegrative Elemente der europäischen Integration zu finden.101 Sie untersuchen den Neofunktionalismus als konzeptionellen und theoretischen Rahmen, der hilft, die gegenwärtigen Krisen zu verstehen und die zukünftigen Konsequenzen zu untersuchen. Schmitter und Lefkofridi lehnen den Neofunktionalismus nicht ab, sondern wollen ihn wissenschaftlich untersuchen. In ihrer Arbeit formulieren sie eine Reihe von Annahmen und Hypothesen, die anhand vorhandener Datenquellen und verwandter Forschungen bewertet werden. Bei der Überprüfung des Neofunktionalismus in der Desintegration machten sie die Entdeckung, dass sich das Konzept der Spillover auch umkehren lässt. Anstelle von Spillover führen Schmitter und Lefkofridi den Begriff des Spillbacks ein, der sich auf das Vorgängerkonzept nur als Gegenstück bezieht. Sie sprechen von einem Spillback in einer Situation, in der sich die Mitgliedstaaten nicht mehr mit einer Politik auf supranationaler Ebene befassen wollen. Bei der Vorstellung dieses neuen theoretischen Ansatzes nennen Schmitter und Lefkofridi einige Beispiele, in denen 98 Jabko, N.; Luhman, M. (2019), Reconfiguring sovereignty: crisis, politicization, and European integration, in: Journal of European Public Policy 26(7), S. 1037. 99 Zeitlin, J. (2016), EU experimentalist governance in times of crisis, West European Politics 39 (5), S. 1073–94. 100 Ebd., S. 1052. 101 Schmitter, P.; Lefkofridi, Z. (2016), Neo-Functionalism as a Theory of Disintegration, in: Chinese Political Science Review 1, S. 1–29.

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Differenzierung und Cleavages

ein solcher Spillback als üblicher Verhaltenskodex im europäischen Integrationsprozess angesehen werden kann. Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass Spillback-Elemente im Falle eines potenziellen Zusammenbruchs des Euro oder generell beim Austritt eines Mitgliedstaates aus der Eurozone oder sogar beim Projekt der Europäischen Union selbst festgestellt werden können. Als zwei harte, empirische Beispiele nennen sie den Brexit und den Grexit. In der Regel werden diese Ausstiege von Parteien der radikalen Linken und Rechten innerhalb der nationalen politischen Systeme vorangetrieben. Natürlich verfolgen sie unterschiedliche politische Gründe für den Vorschlag von Spillback-Tendenzen in Gläubiger- und Schuldnerstaaten.102 Andere Wissenschaftler wie Erik Jones teilen diese Meinung nicht. Letzterer stellt fest, dass die Schaffung einer neuen Desintegrationstheorie, die nicht dieselben Gemeinsamkeiten mit den klassischen europäischen Integrationstheorien aufweist, einfach unvermeidlich ist, da sie, obwohl sie sich mit der europäischen Integration im Allgemeinen befassen, nicht bedeuten, dass sie wissenschaftlich gültige und angemessene Informationen für das Forschungsfeld der europäischen Integration liefern können.103 Brack und Kollegen stellen fest, dass Integration zum Stillstand kommt, sobald sie high politics tangiert. Wie sie betonen, hat der Vertrag von Maastricht in der Tat die nationale Rechtsautonomie in erheblichem Maße ausgehöhlt: »Mit der Unterzeichnung dieses Vertrags haben sich die Mitgliedstaaten bereit erklärt, als Ergebnis schmerzhafter Kompromisse und Verhandlungen einen Teil ihrer souveränen Befugnisse abzugeben. Damit öffneten sie auch die Büchse der Pandora für zunehmende Anfechtungen und akute Krisen, da sich sowohl die Bürger als auch die Parlamente in den EU-Mitgliedstaaten von den nationalen Exekutiven zunehmend ihrer eigenen Befugnisse beraubt fühlten«.104 Die Theorie des Intergouvernementalismus ist an einem kritischen Punkt angelangt. So gibt es eine herausragende Besonderheit, die mit den jüngsten Entwicklungen der europäischen Integration einhergeht und die beide großen Theorien nicht berücksichtigen: die Politisierung von Identität und Souveränität im Zuge der Massenmobilisierung, die sich eher gegen als für eine vertiefte europäische Integration ausspricht, wie sie im Wandel der Parteienlandschaft und im BrexitReferendum zu beobachten ist: »Komplexe Dynamiken im Zusammenhang mit sozioökonomischen Fragen und Identitätspolitik haben zu einer Form der Desintegration geführt, die die territoriale Integrität der Union beeinträchtigt hat«.105 Die historisch einmalige territoriale Schrumpfung der EU lässt sich mit den beiden großen Theorien der europäischen Integration nicht rational erklä102 Ebd. 103 Jones, E. (2018), Towards a theory of disintegration, in: Journal of European Public Policy 25(3) , S. 440–451. 104 Brack et al. 2020, S. 52 (Eigene Übersetzung). 105 Ebd., S. 49 (Eigene Übersetzung).

Postfunktionalismus – vom permissive consensus zum constraining dissensus

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ren. »Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich Funktionalisten und Intergouvernementalisten weniger mit der Neuordnung von Souveränität befassen, sondern eher mit der Dynamik, die erklärt, warum die Mitgliedsstaaten zustimmen, sie zusammenzulegen oder zu delegieren. Beide haben eine dichotome Vision von Souveränität als Gegensatz zwischen der nationalen und der supranationalen Ebene«.106 Nach der Staatsschuldenkrise hat sich die Debatte von einer Debatte zwischen supranationaler und staatlicher Souveränität zu einer mehrdimensionalen Debatte verlagert, an der nationale Parlamente und Menschen beteiligt sind. Wir wenden uns nun dem Postfunktionalismus zu, um seine wechselseitigen Quellen sowie die Folgen auf der Ebene der innenpolitischen Auseinandersetzung zu erfassen. Die großen Theorien der europäischen Integration liefern alle Bausteine, die notwendig sind, um die wichtigsten Elemente des Prozesses zu erklären – von den Quellen und Motivationen über die Dynamik und Mechanismen, den institutionellen Rahmen, den Wandel und die Kontinuität, den sozialen Kontext, die Beteiligung der politischen Akteure, die Verhandlungen und das Feilschen bis hin zu den Ergebnissen und Wirkungen. Es ist nicht die Absicht der Autoren, hier einen umfassenden Überblick über alle Aspekte der bestehenden Theorien zu geben, sondern vielmehr die Dimensionen herauszuarbeiten, die für die Erschließung von differenzierter Integration als Prozess, Zustand und Merkmal der europäischen Integration produktiv sind. Besonderes Augenmerk wird auf den Postfunktionalismus gelegt, da er aufgrund seiner einzigartigen Eigenschaften ein besonders geeignetes theoretisches Vehikel zur Interpretation der Differenzierungsentwicklungen darstellt. Dies bedeutet nicht, dass wir das Erklärungspotenzial der übrigen Theorien ablehnen. Im Gegenteil, wir erkennen an, dass sie sich teilweise überschneiden, sich ergänzen und daher kompatibel sind. Dennoch sind wir davon überzeugt, dass der Postfunktionalismus am besten zur aktuellen Analyse passt, wenn man bedenkt, dass sein Schwerpunkt auf Politisierung, politische Auseinandersetzung zwischen Parteien und Bürgern sowie deren Identität liegt.

2.3

Postfunktionalismus – vom permissive consensus zum constraining dissensus

Ursprünglich schenkten die großen Theoretiker der Frage der Differenzierung keine systematische Aufmerksamkeit, und daher waren theoriegeleitete Analysen äußerst selten. Dies hat sich in den letzten Jahren vor allem aufgrund der

106 Ebd. (Eigene Übersetzung).

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Differenzierung und Cleavages

aktuellen Entwicklungen in der europäischen Integration geändert – der Brexit hat den analytischen Fokus von der internen zur externen Differenzierung verschoben, und die Reformdebatte über die Zukunft Europas hat differenzierte Integration in den Vordergrund der europäischen Agenda gerückt.107 Bestehende Forschungen gehen häufig von der Annahme aus, dass die beteiligten Akteure rationale Entscheidungen bei der Anwendung von Differenzierung treffen. Bei den Akteuren handelt es sich in der Regel um die EU-Mitgliedstaaten, die nach mehr Effizienz oder Legitimität streben. In vielen Fällen sind es jedoch nicht die nationalen Regierungen, sondern andere Akteure, die den Prozess der europäischen Integration bestimmen – seien es supra- oder subnationale Akteure.108 Neofunktionalisten und Intergouvernementalisten projizieren die europäische Integration nach wie vor als einen effizienzsteigernden Prozess, bei dem die Akteure nach wirtschaftlichen Gewinnen streben. Im Gegensatz dazu ist der Postfunktionalismus als neue Theorie der europäischen Integration entstanden, die »das disruptive Potenzial eines Zusammenstoßes zwischen funktionalen Zwängen und exklusiver Identität« betont.109 Die Theorie stützt sich auf die wachsende nationalistische Opposition gegen die europäische Integration, vor allem als innenpolitische Reaktion auf die monetäre und politische Vereinheitlichung in den 90er Jahren und die Eurokrise. Diese Opposition lähmt Regierungen, egal ob die wirtschaftlichen Kosten der Untätigkeit steigen, und führt daher zu unangemessenen Reaktionen auf Kooperationsprobleme. Hooghe und Marks argumentieren, dass sich europäische Themen über die Verhandlungen von Interessengruppen hinaus in eine breitere öffentliche Sphäre ausgebreitet haben. Da das europäische Rechtssystem früher von der Beilegung wirtschaftlicher Streitigkeiten zwischen Unternehmen geprägt war, waren die Auswirkungen für die meisten transparent oder begrenzt. Diese Zeiten waren als Jahre des »permissiven Konsenses« (permissive consensus) gekennzeichnet, während die Zeit seit den 1990er Jahren von den Autoren als »hindernder Dissens« (constraining dissensus) beschrieben wird. Die Postfunktionalismustheorie analysiert die Ursachen und Auswirkungen dieser umfassenden Politisierung in drei Schritten. Erstens führt die Interdependenz zu einer Diskrepanz zwischen dem institutionellen Status quo und dem funktionalen Druck für eine Multi-Level-Governance. Im Allgemeinen geht es dabei um »die Neukonfiguration des Staates, um die Vorteile der Bereitstellung öffentlicher Güter auf verschiedenen Ebenen von der lokalen bis zur nationalen und internationalen Ebene zu nutzen«.110 107 108 109 110

Schimmelfennig et al. 2023. Ebd., S. 3. Hooghe, Marks 2019, S. 1116 (Eigene Übersetzung). Ebd. (Eigene Übersetzung).

Postfunktionalismus – vom permissive consensus zum constraining dissensus

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Ein zweiter Schritt betrifft die Arena der Entscheidungsfindung, die entweder isoliert zwischen europäischen Gremien, Regierungschefs, Beamten und Interessengruppen stattfinden könnte. Oder sie könnte in die Massenpolitik eintreten, d. h. in die (Boulevard-)Medien, die politischen Parteien in Regierungskoalitionen oder in der Opposition. »Dies hängt von der Bedeutung des Themas ab und, was noch wichtiger ist, von der Fähigkeit der konkurrierenden Akteure, ein Thema zu politisieren, das standardmäßig in einem konventionellen Elitenkontext verhandelt werden würde. Der Postfunktionalismus schenkt der Arena, in der ein Thema debattiert wird, große Aufmerksamkeit, da sie die Art des Konflikts beeinflusst. Die Massenpolitik bei Wahlen, Referenden und Vorwahlen öffnet die Tür für die Mobilisierung der nationalen Identität als Hemmnis für die Integration«.111 Im Anschluss daran untersucht die postfunktionalistische Analyse in einem dritten Schritt, wie die europäische Integration die Struktur nationaler politischer Konflikte durch die potenzielle Aktivierung von Identitätsfragen im Zusammenhang mit der Neukonfiguration des Nationalstaats prägt. Sie stört die etablierten Parteiensysteme, lässt neue radikale linke und radikal nationalistische Parteien entstehen und schränkt weiterhin die supranationale Problemlösung ein.112 Das zugrundeliegende Konzept ist in der politischen Psychologie der Massenpolitik verwurzelt und unterscheidet sich von dem rational-ökonomischen Ansatz der anderen großen Theorien. Meinungsforscher betrachten wirtschaftliche Präferenzen nur als eine von vielen möglichen Motivationen für menschliches Verhalten, und zwar eine, die häufig geringer sein kann als Religion, ethnische Zugehörigkeit oder kommunale Identität.113 Folglich unterstreicht der Begriff Postfunktionalismus die Idee der Funktionalität als treibende Kraft hinter der Entscheidungsfindung oder ihren Ergebnissen. Anstelle von kooperativen Prozessen zwischen Interessengruppen und Regierungen wird die supranationale Integration als »konfliktreicher Prozess, der aus unvereinbaren Glaubenssystemen entsteht« und als eine Art Neustrukturierung projiziert, ähnlich wie die Entwicklung des Nationalstaats im 19. Jahrhundert, die zu einer tiefgreifenden kulturellen Spaltung geführt hat. Folglich umfasst die Reihe möglicher Ergebnisse durch die Linse dieser Theorie nicht nur »den Status quo oder seine punktuelle Reform«, sondern vor allem eine differenzierte Desintegration.114 Wir versuchen, das postfunktionalistische Paradigma zu begreifen, indem wir seine Erklärung für die Euro- und Migrationskrise kurz zusammenfassen: Der 111 112 113 114

Ebd., S. 1117 (Eigene Übersetzung). Ebd. Ebd. Ebd. (Eigene Übersetzung).

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Differenzierung und Cleavages

funktionale Druck, der durch die EU-Koordinierung erzeugt wurde, stieß auf Widerstand gegen supranationale Ansätze, als die Finanzkrise in der Arena der Innenpolitik, sowohl im Norden als auch im Süden, sichtbar wurde. Die Regierungen des Nordens zögerten, dem Rat der Weltbank, des IWF und der ObamaRegierung zu folgen, den Handel wieder ins Gleichgewicht zu bringen, indem sie den Binnenkonsum steigern und ihre »me-first«-Politik des exportorientierten Wachstums aufgeben. »Diese Regierungen handelten, wie es der Postfunktionalismus erwartet, als Parteikoalitionen, die sich der öffentlichen Meinung sehr bewusst waren«.115 Die Politisierung der exklusiven nationalen Identität schränkte also die Möglichkeiten für Reformen ein. »Nachdem die Fiskalunion vom Tisch war, bestand die wichtigste Reaktion darin, die Euro-Krise zu entpolitisieren, indem man sie als ein Regulierungsproblem darstellte, das von nicht-majoritären Institutionen behandelt wurde. Der letztendliche Cocktail aus EZB-Maßnahmen, Rettungsaktionen, verstärkter makroökonomischer Überwachung und Bankenaufsicht war unvollständig, verspätet und pareto-inferior«.116 Dies hatte einen hohen Preis für die nord- und südeuropäischen Regionen, in denen die etablierten Parteien insbesondere seit der Eurokrise an Boden verloren haben. Dies betrifft Parteien im gesamten ideologischen Spektrum, wobei nationalistische Parteien im Norden und radikale linke Parteien im Süden gestärkt werden, christlich-demokratischen Parteien die Unterstützung entzogen wird und sozialdemokratische Parteien, die in den ersten Jahren der Eurokrise an der Macht waren, auf der Strecke bleiben.117 In Bezug auf die Migrationskrise lenkt die Theorie die Aufmerksamkeit auf die Identitätspolitik. »Die Migrationskrise berührte einen Nerv der nationalen Identität, weil sie von den europäischen Bevölkerungen verlangte, kulturell unähnliche Menschen aufzunehmen«.118 Und so kam es, dass 2015 die Einwanderung in fast allen Ländern der EU zum wichtigsten Thema wurde und die steigende öffentliche Unterstützung für nationalistische Parteien es den Regierungschefs erschwerte, Vereinbarungen auf europäischer Ebene auszuarbeiten. Die daraus resultierende Politisierung schränkte die Möglichkeiten der etablierten Parteien ein, die aus funktionaler Sicht eine EU-weite Antwort auf den Flüchtlingsstrom anstreben. Nationalistische Herausforderer in ganz Europa zwangen die Regierungen, Beschränkungen einzuführen, was in der Öffentlichkeit unmittelbar auf positive Resonanz stieß. »Anfang 2016 schien der Druck der Wähler, die Tür zu schließen, unwiderstehlich zu sein«.119 Die Theoretiker weisen darauf hin, dass die Regierung von Angela Merkel, als ihre Popularität rapide 115 116 117 118 119

Ebd. S. 1119 (Eigene Übersetzung). Ebd. (Eigene Übersetzung). Ebd. S. 1120. Ebd. (Eigene Übersetzung). Ebd. (Eigene Übersetzung).

Postfunktionalismus – vom permissive consensus zum constraining dissensus

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abnahm, ein restriktiveres Asylgesetz verabschiedete und ein Abkommen mit der türkischen Regierungen aushandelte, um Migranten von der Überfahrt über die Ägäis abzuhalten. Die damalige sozialdemokratisch geführte Regierung in Österreich beschloss jährliche Obergrenzen für Migranten und Schweden reduzierte die Sozialhilfe für Flüchtlinge.120 Darüber hinaus gilt der postfunktionalistische Erklärungsanspruch sowohl für den Brexit als auch für die illiberale Herausforderung. Abgesehen von der Asymmetrie in den anschließenden Brexit-Verhandlungen ist die Entscheidung selbst, ein Referendum abzuhalten, ein eigenes Thema. Danach wird das Spannungsverhältnis zwischen nationalem Volkswiderstand und funktionalem Integrationsdruck auf der einen Seite und den Spannungen innerhalb der britischen konservativen Partei auf der anderen Seite deutlich. »Die Entscheidung von Premierminister David Cameron, nach der Parlamentswahl 2015 ein Referendum abzuhalten, war ein kalkulierter Versuch, den Aufstieg der UKIP einzudämmen und eine wachsende EU-ablehnende Fraktion innerhalb seiner regierenden konservativen Partei zu unterdrücken«. Für Cameron selbst war dies ein Pakt mit dem Teufel. Das Referendum würde nur stattfinden, wenn er daraus stark hervor geht und eine konservative Einparteienregierung bilden würde. Er war überzeugt, dass auf einen Wahlsieg auch ein Sieg beim Referendum folgen würde. »Er hat sich geirrt«.121 Darüber hinaus erklärt die Theorie die Quellen des Illiberalismus in Mittelund Osteuropa und hilft so, den Widerstand der ungarischen und polnischen Regierungen gegen den Druck der EU zu verstehen, der sogar ihre eigene Unterstützung aufrechterhält. In diesen Ländern stoßen die Maßnahmen der EU auf nationalistischen, anti-elitären Widerstand gegen eine wahrgenommene Bedrohung durch Ausländer oder multinationale Unternehmen. Daher polarisieren die politischen Parteien EU-Themen absichtlich mit traditionell-autoritärnationalistisch gefärbten Standpunkten und nicht mit einer wirtschaftlichen Links-Rechts-Dimension. Sie mobilisieren Nativisten gegen ein multikulturelles Europa, was ihnen auch eine organisatorische Basis bietet, um potenzielle rechte Konkurrenten zu neutralisieren.122 Eine länger schwelende Konfliktlinie ist schließlich an die Oberfläche getreten, als die Migrationskrise bereits bestehende soziokulturelle Prädispositionen aufgriff. Diese Spaltung hat die Form einer sozialen Kluft angenommen, die wohl den politischen Konflikt neu strukturiert.123

120 121 122 123

Ebd. S. 1122 (Eigene Übersetzung). Ebd. S. 1123 (Eigene Übersetzung). Ebd. Hooghe, L.; Marks, G. (2023), Differentiation in the EU and beyond, in: European Union Politics 24(1), S. 225–235.

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Differenzierung und Cleavages

Wie können wir nun die Theorie des Postfunktionalismus mit der Theorie der differenzierten Integration verbinden? Letztere analysiert theoretisch die Ursachen und Bedingungen der Differenzierung und setzt dabei vor allem den intergouvernementalen Rahmen ein. Aus dieser Perspektive wird differenzierte Integration als ein Ergebnis zwischenstaatlicher Verhandlungen interpretiert, die innenpolitisch geprägt sind und dadurch eingeschränkt werden. So gesehen ist Differenzierung ein Ergebnis nicht nur internationaler, sondern auch nationaler Heterogenität des Willens, der Präferenzen und der Bereitschaft zur Integration auf verschiedenen Ebenen und Skalen. Sie bietet eine Alternative zu gemeinsamen Entscheidungsfallen und Sackgassen, indem sie die verstärkte Integration auf eine begrenzte, aber homogene Gruppe von Mitgliedstaaten mit ausreichend homogenen internen Präferenzen beschränkt.124 Die Gesellschaften und Regierungen der Mitgliedstaaten sind in unterschiedlicher Weise besorgt über die Übertragung staatlicher Souveränität auf die EU. Solche Bedenken treten am ehesten bei Verhandlungen über staatliche Kernkompetenzen auf, die Bedenken hinsichtlich der staatlichen Souveränität hervorrufen. Sie sind besonders relevant in euroskeptischen Ländern, in denen die nationalen Identitäten stark und oft exklusiv sind. Wie Hooghe und Marks vermuten, wird in solchen Fällen zu einer Strategie, um die Temperatur der Selbstbestimmung wieder zu senken.125 Als status-quo-orientierte Staaten genießen europaskeptische Länder eine günstige institutionelle Verhandlungssituation in Verhandlungen über die Vertiefung.126 Die Präferenzbildung für oder gegen die EU findet nicht in einem sozialen und politischen Vakuum statt – verschiedene innenpolitische Akteure informieren und beeinflussen die staatlichen Präferenzen. Selbst die zwischenstaatlichen Vertragsabschlüsse bedürfen der Ratifizierung durch die Mitgliedstaaten. Die EU-Gesetze werden tagtäglich von nationalen Interessengruppen, Parteien und – nicht zuletzt – von den Wählern kritisch geprüft. Die verschiedenen Integrationstheorien geben uns unterschiedliche Informationen über die verschiedenen Aspekte des Integrationsprozesses sowie über die Rolle der nationalen Akteure in diesem Prozess. Während sich der liberale Intergouvernementalismus auf mächtige inländische Wirtschaftsinteressen konzentriert, um die Integrationspräferenz der Regierungen zu erklären, verweist der Postfunktionalismus auf die Massenpolitisierung der europäischen Integration und die Bedeutung der Identitätspolitik.127 Im Gegensatz zum liberalen Intergouvernementalismus und Neofunktionalismus, die Staaten, supranationale Behörden oder Interessengruppen in den 124 125 126 127

Schimmelfennig et al. 2023, S. 5. Hooghe, Marks 2009. Schimmelfennig et al. 2022, S. 5. Schimmelfennig, Winzen 2020, S. 21.

Postfunktionalismus – vom permissive consensus zum constraining dissensus

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Mittelpunkt stellen, fokussiert sich der Postfunktionalismus auf die Bürger und Parteien als Akteure. Wir konzentrieren uns also auf die Meinungen der Bürger als Nachfrageseite und die Parteien als Angebotsseite der europäischen (differenzierten) Integration. Der Postfunktionalismus folgt der Logik der politischen Psychologie, wonach Organisationen Gemeinschaften darstellen, die auf gemeinsamen Kulturen und Identitäten basieren. Als Gemeinschaftswesen haben die Individuen ein grundlegendes Interesse an der kollektiven Selbstbestimmung ihrer Gemeinschaft. Tabelle 1: Quellen der Heterogenität128 Realistischer Intergouvernementalimus

Liberaler Intergouvernementalism / Neofunktionalismus

Postfunktionalismus

Präferenzen Akteure Ziele Sektoren

Staaten Autonomie / Sicherheit High Politics

Interessengruppen Wirt. Wachstum Low politics

Wähler und Parteien Selbstbestimmung Identity politics

Kapazität

Größe

Wohlstand

Identität

Die Theorie des Postfunktionalismus geht von der Annahme aus, dass die regionale Integration entweder als Folge oder als logische Konsequenz der raschen politischen Integration in den 1990er Jahren fest in der Massenpolitik der Mitgliedstaaten verankert ist. Erklärungen der regionalen Integration müssen daher bei den Einstellungen der Bürger, ihren kollektiven Identitäten und ihrer Unterstützung für die Integration ansetzen. Darüber hinaus müssen sie die Struktur der Parteiensysteme und den Parteienwettbewerb in Bezug auf die europäische Integration sowie die Wahl- und Referendumssysteme berücksichtigen. Nach Hooghe und Marks ist Identität in solchem Maße kausal wichtig, in dem ein Thema (a) undurchsichtige wirtschaftliche Implikationen und (b) transparente kommunale Implikationen hat, die (c) in öffentlichen Foren von (d) Massenorganisationen und nicht von spezialisierten Interessengruppen debattiert werden. Dementsprechend neigt auch differenzierte Integration dazu, in Politikbereichen aufzutreten, die mit der Selbstbestimmung von Gemeinschaften zu tun haben. Wann immer die Identitätslogik ins Spiel kommt, erwarten Hooghe und Marks einen zunehmenden Abwärtsdruck auf den Umfang und das Niveau der Integration, eine Einschränkung des Handlungsspielraums der Regierungen als auch ein Ungleichgewicht zwischen funktional effizienten und politisch machbaren Lösungen.129 128 Ebd. 129 Hooghe, Marks 2009, S. 13, 21.

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Differenzierung und Cleavages

Die Heterogenität der Präferenzen wird im Wesentlichen durch die nationale Identität bestimmt.130 Darüber hinaus argumentiert der Postfunktionalismus, dass »Identität in der öffentlichen Meinung ein größeres Gewicht hat als für Eliten oder Interessengruppen«.131 In dem Maße, in dem sich die europäische Integration von der Interessengruppen- zur Massenpolitik verlagert, werden Identitätsüberlegungen daher einflussreicher. Die Identität wirkt sich auch auf die Heterogenität der Abhängigkeiten und Kapazitäten aus. Sie kann zu unterschiedlichen Wahrnehmungen von Abhängigkeiten und Kapazitäten zwischen Ingroup und Outgroup führen und Konflikte verschärfen, die aus asymmetrischer Interdependenz resultieren. Der Postfunktionalismus behauptet, dass »je mehr sich ein Individuum ausschließlich mit einer Ingroup identifiziert, desto weniger ist es geneigt, eine Rechtsprechung zu unterstützen, die Outgroups umfasst«.132 Die Unterstützung für die europäische Integration variiert mit der Exklusivität der nationalen Identitäten. Die relevante Heterogenität der Präferenzen besteht also zwischen mehr oder weniger nationalistischen Gesellschaften. Staaten mit weniger exklusiven nationalen Identitäten bevorzugen ein höheres Maß an Integration, ergo ein geringes Maß an eigener Differenzierung; Staaten mit exklusiveren nationalen Identitäten bevorzugen ein niedrigeres Maß an Integration und demnach stärkere eigene Differenzierung. Folgt man dem postfunktionalen Paradigma, scheint dies plausibel, wenn auch nicht offensichtlich. Dennoch widmen wir uns in den folgenden Kapiteln und Analysen der Frage, wie die Wechselbeziehungen zwischen Exklusivismus und Einstellungen zur europäischen (differenzierten) Integration aussehen. Um die Übersetzung von Einstellungsmerkmalen und Präferenzen zu europäischer Integration, dem Nationalstaat und verwandten Themen in die Arena der politischen Repräsentation adäquat nachvollziehen zu können, wird im nächsten Kapitel das Konzept der klassischen Cleavage als systematische Trennlinie zwischen Wählergruppen und Parteien dargestellt. Seine Nachfolgerkonzepte sollen uns dann als wegweisendes Element in die Realitäten des politischen Konflikts im 21. Jahrhunderts begleiten.133

130 Genschel, P., Jones, E., Migliorati, M. (2023), Differentiated integration as symbolic politics? Constitutional differentiation and policy reintegration in core state powers, in: European Union Politics 24(1), S. 81–101. 131 Ebd., S. 12 (Eigene Übersetzung). 132 Ebd. (Eigene Übersetzung). 133 Vgl. Princen et al. (2022).

Parteisysteme und Wählerbindungen – die Cleavage-Theorie

2.4

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Parteisysteme und Wählerbindungen – die Cleavage-Theorie

In den vorangegangenen Kapiteln wurden bereits Fachbegriffe oder analytische Konzepte der sogenannten Cleavage-Theorie vorweggenommen. Nun widmen wir uns dieser Theorie als Ausgangspunkt für die systematische Erfassung und Weiterentwicklung von gesellschaftlichen und partei-politischen Konfliktstrukturen in Europa und wie letztere in der aktuellen Politikwissenschaft aufgegriffen werden. Dabei werden auch neuere Cleavage-Konzepte auf ihre Methodik und ihren Erklärungswert hin überprüft. Unter Berücksichtigung historischer Veränderungen und methodischer Aspekte schließt das Kapitel mit der Frage, was eine Cleavage im Zuge einer sich verändernden politischen und gesellschaftlichen Umwelt im 21. Jahrhundert eigentlich ausmacht. In ihrem Werk »Party Systems and Voter Alignments« beschäftigen sich die beiden mit der Übertragung sozialer Konfliktlinien in Parteiensysteme.134 Mit dieser Veröffentlichung begründeten sie die Cleavage-Theorie als sozialwissenschaftliches Instrument, das Aufschluss über die Entstehung unterschiedlicher nationaler Parteiensysteme in etablierten Demokratien gibt.135 Sie konzentrieren sich auf makrosoziologische Faktoren und damit auf langfristige Parteizugehörigkeiten. Diese sind Vermächtnisse historisch gewachsener Bindungen zwischen Wählern und Parteien, die in der Sozialstruktur verankert sind und reziprok aus ihr hervorgehen, sich aber in Abhängigkeit vom jeweiligen historischen Kontext in jedem Nationalstaat in ihrer relativen Stabilität unterscheiden können. Vor allem die Einteilung in soziale Bevölkerungsgruppen gibt Aufschluss über eine langfristige Bindung und damit die kontinuierliche Stimmabgabe für eine bestimmte politische Partei. Dabei soll eine erste Abgrenzung vorgenommen werden: Die Stimmabgabe für eine Partei aus objektiven Gruppeninteressen heraus, ohne die Werte der Partei zu teilen, stellt ebenso wenig eine solche historische Konfliktlinie dar wie die Stimmabgabe für eine Partei aus gemeinsamen Werten heraus, ohne jedoch Mitglied der mit der Partei verbundenen sozialen Gruppe zu sein.136 Die Autoren fragen daher, wie einzelne Subjekte sich im Falle von Konkurrenz und Konflikt zwischen verschiedenen Mobilisierungsorganisationen entscheiden.137 Bei der Betrachtung eines Zeitraums von 150 Jahren stellen sie in Westeuropa vier 134 Lipset, S.; Rokkan, S. (1967), Cleavage Structures, Party Sytems, and Voter Alignments. An Introduction., in: Lipset, Seymour M. und Rokkan, S. (Hrsg.): Cleavage Structures, Party Systems, and Voter Alignments. Cross National Perspectives, New York: Free Press, S. 1–64. 135 Eith, U.; Mielke, G. (2001), Gesellschaftliche Konflikte und Parteiensysteme. Länder- und Regionalstudien, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 77–95. 136 Knutsen, O.; Scarbrough, E. (1995), Cleavage Politics, in: van Deth, Jan W.; Scarbrough, E. (Hrsg.): Beliefs in Government Volume Four. The Impact of Values., New York: Oxford University Press, S. 492–523. 137 Lipset, Rokkan 1967, S. 8.

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Differenzierung und Cleavages

»critical lines of cleavage« fest, die sich zwar in ihrer Ausprägung unterscheiden, aber alle auf demselben Muster beruhen: Sie entwickelten sich im Zuge von zwei kritischen Wendepunkten und wurden zu Produkten der nationalen und der industriellen Revolution. Diese beiden kritischen Wendepunkte setzten die bestehenden Machtverhältnisse und die gesellschaftliche Strukturierung unter Druck. Die nationale Revolution spiegelt sich in der Entwicklung der feudalen Gesellschaft zum modernen Nationalstaat wider. Spannungen entstanden, als die neue Kultur einer zentralistischen politischen und sozialen Elite auf den Widerstand ethnisch, sprachlich und religiös vielfältiger Bevölkerungsgruppen in den Peripherien oder Provinzen eines neu gegründeten Nationalstaats mit seiner westfälischen Souveränität traf.138 Die Territorialisierung einzelner Teilregionen zu einem politisch abgegrenzten Raum setzte eine wirtschaftliche Vereinheitlichung und kulturelle Mediatisierung voraus, gegen die sich sowohl die feudalen Herrscher als auch die regionalen Minderheiten wehrten.139 Auf diese Weise begründen die CleavageTheoretiker die Aufteilung in Zentrum und Peripherie. Darüber hinaus entstand im Zuge dieser Revolution eine weitere Spannungslinie: der Konflikt zwischen dem mobilisierenden Nationalstaat und den historisch gewachsenen Privilegien der Kirche. Der Französischen Revolution waren bereits Säkularisierungstendenzen vorausgegangen. Enteignungen liefen den »korporativen Ansprüchen« der Kirche zuwider. Es ging um weit mehr als um wirtschaftliche Interessen oder die Finanzierung kirchlicher Aktivitäten: »Die grundlegende Frage war eine der Moral, der Kontrolle der Gemeinschaftsnormen« und der Kontrolle und Organisation der Bildung.140 Im Zuge des wirtschaftlichen Fortschritts nahm die Integration der Kirchen weiter ab und ein allgemeiner Trend zur Entsäkularisierung der Nationalstaaten setzte sich fort.141 Eine andere Revolution, nämlich die industrielle Revolution, brachte mit dem massiv beschleunigten Wachstum von Handel und Produktion zwei sozioökonomische Konfliktlinien hervor. Die Interessen der ländlichen Produzenten von Primärgütern kollidierten mit denen der industriellen Unternehmer im städtischen Umfeld, die nach Kostenregulierung und Preiskontrolle auf dem Warenmarkt strebten, insbesondere hinsichtlich des Preisniveaus von Agrarprodukten. An einem der Pole dieses Konflikts, der sich als Stadt gegen Land bestimmen lässt, siedelten sich neben Grundbesitzern und Industriekaufleuten immer auch diejenigen an, die primär vom jeweiligen Wirtschaftssektor abhängig waren.142

138 139 140 141 142

Ebd., S. 14. Detterbeck, K. (2011), Parteien und Parteiensystem, Konstanz: UVK, S. 41. Lipset, Rokkan 1967, S. 15 (Eigene Übersetzung). Jagodzinski, Dobbelaere 1993, S. 75–79. Ebd.; Mielke, G. (2001), Gesellschaftliche Konflikte und ihre Repräsentation im deutschen Parteiensystem. Anmerkungen zum Cleavage-Modell von Lipset und Rokkan, in: Eith, U.;

Parteisysteme und Wählerbindungen – die Cleavage-Theorie

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Überlagert wurde dies durch den Konflikt Arbeit vs. Kapital, der für eine einheitliche Aufteilung innerhalb der einzelnen Wirtschaftssektoren sorgte. Die wachsende Masse der Lohnarbeiter organisierte sich gegen die Arbeits- und Vertragsverhältnisse in selbstverwalteten Wohlfahrtsverbänden und Gewerkschaften, während die Kapitaleigentümer ihre Interessen in Arbeitgeber- oder Unternehmerverbänden artikulierten. Die beiden skizzierten Konfliktdimensionen stehen nicht allein und isoliert voneinander im sozialen Raum. »Die Nationale Revolution zwang immer größere Kreise der territorialen Bevölkerung, in Konflikten um Werte und kulturelle Identitäten Partei zu ergreifen. Die industrielle Revolution löste ebenfalls eine Vielzahl kultureller Gegenbewegungen aus, tendierte aber längerfristig dazu, die Wertgemeinschaften innerhalb der Nation zu zerschneiden und die entrechtete Bürgerschaft zu zwingen, sich für eine Seite im Hinblick auf ihre wirtschaftlichen Interessen zu entscheiden«.143 Die Entstehung einer neuen Cleavage innerhalb einer Gesellschaft hängt in hohem Maße von den vorherrschenden Spannungslinien ab, die sie geprägt haben. Diese müssen nicht notwendigerweise in genau der hier beschriebenen Reihenfolge verlaufen. Sozioökonomische Konflikte können territorialen Konflikten vorausgehen und diese überlagern, aber Klassenkonflikte kristallisierten sich erst in Folge der Nationalen Revolution als Cleavage heraus. In der Folge der Einführung des allgemeinen Wahlrechts und der damit einhergehenden Politisierung großer Teile der Staatsbürgerschaft wurden diese Konfliktlinien mit der Entwicklung und Struktur des Parteiensystems verknüpft. Zentrum Stadt vs. Land

Minderheiten vs. nationale Eliten

sozioökonomisch

kulturell Kapital vs. Arbeit

Kirche vs. Staat Peripherie

Abbildung 1: Historische Konfliktlinien nach Lipset und Rokkan144

Mielke, G. (Hrsg.), Gesellschaftliche Konflikte und Parteiensysteme. Länder- und Regionalstudien, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 77–95. 143 Lipset, Rokkan 1967, S. 18–19 (Eigene Übersetzung). 144 Eigene Darstellung nach Lipset, Rokkan 1967, S. 10–15 und Rokkan 1980, S. 121.

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Differenzierung und Cleavages

Viele Jahre lang entwickelten sich sozialistische und sozialdemokratische Parteien aus den Positionen Staat, Zentrum, Stadt, Arbeit. Am entgegengesetzten Pol entstanden christlich-katholische Parteienfamilien aus den Interessen von Kirche, Peripherie, Land und Kapital. Cleavages jedoch ergeben sich nicht von selbst. Es gibt Überlegungen zu organisatorischen und wahltaktischen Strategien.145 Die Cleavage-Theorie konstruiert sozioökonomische Konfliktlinien durch einen zweidimensionalen politischen Raum, analysiert aber auch, wie sich diese tatsächlich in Parteibindungen niederschlagen. Um sich der Übersetzung zu nähern und sie zu verstehen, muss zunächst eine große Menge an Informationen über die Bedingungen für die Interessenvertretung in jeder Gesellschaft herausgesiebt werden. Schließlich skizzieren Lipset und Rokkan vier Schwellen, die für eine effektive Umwandlung von Cleavage-Strukturen in Parteiensysteme überwunden werden müssen. Der Grad der Legitimität, mit der der Protest gegen bestehende Verhältnisse geäußert wird: Werden alle Proteste als konspirativ abgelehnt, oder wird das Recht auf Opposition anerkannt? Die Inkorporation steht für das Vorhandensein von politischen Rechten als Teilnehmer oder Vertreter: Werden sie mit den gleichen politischen Bürgerrechten ausgestattet wie ihre Gegner? Repräsentation bezeichnet den Zugang zu repräsentativen Organen als eigenständige Kraft oder im Verbund mit anderen: Muss sich die neue Bewegung größeren und älteren Bewegungen anschließen, um Zugang zu den Vertretungsorganen zu erhalten, oder kann sie sich die Vertretung allein sichern? Mehrheitsmacht wird als Hürde für Interventionsmöglichkeiten gegen die Mehrheitsherrschaft gesehen: Gibt es in dem System checks und balances gegen eine numerische Mehrheitsregel?146 Insbesondere die Analyse der länderspezifischen Schwellenwerte ermöglicht es den Autoren, die Parteiensysteme in einer Weise zu typologisieren, die mit den Beobachtungen des jeweiligen Zeitraums übereinstimmt. Von einer solchen Schwellendifferenzierung muss nach Lipset und Rokkan jede systematische Analyse der unterschiedlichen Bedingungen des Parteienwettbewerbs ausgehen. An dieser Stelle sei auf die Ausführungen von Giovanni Sartori zur Repräsentation verwiesen. Demnach werden die Interessen verschiedener Gruppen gebündelt, um parlamentarische Repräsentation zu erfahren.147 Dies stellen auch Lipset und Rokkan in ihrer Analyse fest: »Die neuen Wähler sahen ihre einzige Chance auf Repräsentation in gemeinsamen Kandidaturen mit den reformorientierteren der etablierten Parteien«. Sartori ordnet dieser Tendenz den Begriff »Zentrifugation« zu.148 145 Lipset, Rokkan 1967, S. 27. 146 Ebd., S. 30. 147 Sartori, G. (2005), Parties and party systems: A framework for analysis., Colchester: ECPR Press. 148 Lipset, Rokkan 1967, S. 31 (Eigene Übersetzung).

Parteisysteme und Wählerbindungen – die Cleavage-Theorie

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Mit Blick auf den Ersten Weltkrieg, die folgenden Angriffe des Faschismus auf die Demokratie vor und während des Zweiten Weltkriegs und das Wiederauftauchen bereits bestehender Parteien, wie z. B. der Sozialdemokratischen Partei in Deutschland, fragen die Autoren, wie die sie solch große Massen von Bürgern über so lange Zeiträume an sich binden konnten. Gerade die vorgelagerten Massenorganisationen und die frühe, regionale Regierungsbeteiligung während der Entwicklung des allgemeinen Wahlrechts ermöglichten es den Parteien, eine dauerhafte Beziehung zu den Wählern einzugehen. Die Verengung des Mobilisierungsmarktes und das Wachstum der Massenparteien, während dieses letzten Schubs in Richtung Vollwahlrechtsdemokratie ließen nur sehr wenige Möglichkeiten für neue Bewegungen.149 Lipset und Rokkan schließen daher ihre Analyse der historischen Determinanten bis zu den 1920er Jahren mit der Einfrierungshypothese (freezing hypothesis). Demnach wurde der soziale Raum von den etablierten Parteien fast vollständig mobilisiert und die Parteiensysteme waren in diesem Zustand weitgehend eingefroren. Die Parteiensysteme der 1960er Jahre spiegeln die Cleavage-Strukturen der 1920er Jahre wider. Laut Simon Bornschier wird die Hypothese des »Einfrierens« der europäischen Parteiensysteme immer noch häufig missverstanden. Seit der zunehmenden Volatilität der Parteiensysteme ab den 1970er Jahren gibt es Widersprüche im Verständnis politischer Cleavages, die seine analytische Nützlichkeit eingeschränkt haben.150 Allerdings haben die Gründerväter der Cleavage-Theorie selbst die Weiterentwicklung des Konzepts vorgeschlagen. Sie betrachten ihr Modell selber als ein Werkzeug, dessen Nützlichkeit nur durch ständige Weiterentwicklung geprüft werden kann: Durch die Hinzufügung weiterer Variablen, um die beobachteten Unterschiede zu erklären sowie durch Verfeinerungen der bestehenden Variablen.151 Bei der Theorie des Zentrum-Peripherie-Konflikts sahen die Autoren ein »frühes Wachstum der nationalen Bürokratie« als Tendenz, im Wesentlichen territoriale Gegensätze zu produzieren. Die Beschleunigung der ortsübergreifenden Interaktionen führte allmählich zu viel komplexeren Systemen und Ausrichtungen, einige davon zwischen Ortschaften und andere zwischen und innerhalb von Ortschaften.152 Bevor jedoch die Cleavage-Logik direkt auf die europäische Integration angewandt wird, sollte das Erbe der Theorie und ihre Evolution hin zu modernen Cleavage-Konzepten dargestellt werden, welche neuartige politische Entwicklungen aufnehmen und Restrukturierungen systematisch verarbeiten. 149 Ebd., S. 51. 150 Bornschier, S. (2010), Cleavage politics and the populist right, Philadelphia: Temple University Press. 151 Lipset, Rokkan 1967, S. 41. 152 Ebd., S. 13.

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2.5

Differenzierung und Cleavages

Ingleharts neue Agenda – Postmaterialismus und Materialismus

Seit der Veröffentlichung des Werks zur Clevage-Theorie und seiner untergeordneten Hypothese über das Einfrieren der Parteiensystem im gesellschatlichen Zustand der zwanziger Jahre sind mehr als 25 Jahre vergangen, als Ronald Inglehart den Anspruch stellt, eine neue manifeste Konfliktlinie gefunden zu haben. Er erklärt das Entstehen neuer Parteien in der nationalen politischen Arena durch die Idee einer neuen Konfliktlinie, die des Materialismus vs. Postmaterialismus. Inglehart argumentiert u. a., dass der Rückgang des traditionellen Cleavage-Wahlverhaltens mit einem Anstieg der postindustriellen Werte zusammenhängt, wodurch sich die Wähler weniger mit Gruppeninteressen und mehr mit individualistischen Themen befassen.153 Er betitelt diesen Wertewandel als »Stille Revolution«, die in allen industrialisierten Gesellschaften Westeuropas seit der Nachkriegszeit stattgefunden hat und in erster Linie auf die Erfüllung materieller Bedürfnisse zurückzuführen ist. In der Tat scheint der Erklärungswert seiner empirischen Grundlage revolutionär. Inglehart analysierte repräsentative Umfragen über mehrere Jahrzehnte, die den »culture shift« belegen. Dabei haben sich generationenübergreifende Werteunterschiede herausgebildet, die über die Zeit stabil bleiben und die bestehenden Verbindungen zwischen Wählern und Parteien, die Alignments, unter chronischen Stress setzen.154 Die etablierten Parteien boten bis dahin keine programmatische Basis für die neuen Orientierungen. Die Parteiloyalität nimmt ab und damit auch das Klassenwahlverhalten im Sinne von Lipset und Rokkan. Es kommt zum dealignment und ein neues Cleavage manifestiert sich. Durch die Erfassung individueller Wertprioritäten ordnet Inglehart demnach Befragten in seine Studien in ein neues Links-Rechts-Schema ein.155 Inglehart geht auch explizit auf die Frage der Denationalisierung ein: »Seit dem Zweiten Weltkrieg gab es in Westeuropa einen starken Anstieg des durchschnittlichen Bildungsniveaus und einen starken Rückgang der Landbevölkerung. Der Besitz von Fernsehapparaten und Automobilen hat sich weit verbreitet und damit das Potenzial für eine breitere Kommunikation geschaffen«.156 Laut Inglehart fördere dies die Integration sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene. Sein Value Priorities Index, in Kombination mit dem, Cognitive Mobilization Index erklärt für einen Großteil der Variation im Verständnis der 153 Inglehart, R. (1990), Culture Shift in Advanced Industrial Society, Princeton: Princeton University Press. 154 Ebd., S. 333. 155 Inglehart, R. (1977), The Silent Revolution. Changing Values and Politic Styles among Western Publics, Princeton: Princeton University Press, S. 5. 156 Ebd., S. 335 (Eigene Übersetzung).

Ingleharts neue Agenda – Postmaterialismus und Materialismus

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nationalen Identität in. Demnach haben postmaterialistische Werte einen moderierenden positiven Effekt auf die Bildung einer nicht-exklusiven supranationalen Identität, was bedeutet, sich mit »Europa« oder der »Welt als Ganzes« zu identifizieren.157 Mit dem Aufkommen postmoderner Werte, wie z. B. weniger Respekt vor Autoritäten, Sorge um die Umwelt und individuelle Selbstverwirklichung, häufen sich zunehmend gegenläufige Werte und bilden neue Antipoden. Diese Gegenwerte sind gekennzeichnet durch Orientierungen an verstärktem Autoritarismus, Nationalstolz und dem Bedürfnis nach wirtschaftlicher Sicherheit. Inglehart spricht in diesem Zusammenhang von neuen Politiken, die den Wertekonflikt in die politische Arena übersetzen. Seine repräsentativen Studien zeigen eine hohe Erklärungskraft für das Aufkommen umweltorientierter grüner Parteien als klassische Vertreter des Postmaterialismus in westeuropäischen Parteiensystemen.158 Die politische Mobilisierung und Politisierung löste demnach eine Transformation der zweidimensionalen politischen Räume in Westeuropa aus, die traditionell durch die sozioökonomische Klassen- und die kulturelle Religionsdimension strukturiert waren. Letztere verwandelte sich in einen Gegensatz zwischen traditionell-autoritären Ansichten auf der einen und kulturell-libertären auf der anderen Seite.159 Inglehart neigt jedoch dazu, den von Lipset und Rokkan konzipierten Konfliktraum eindimensional zu interpretieren, während sich die zeitgenössische Forschung einig ist, dass Ingleharts Postmaterialismus-These den von Lipset und Rokkan entworfenen Konfliktraum weder verkleinert noch eine neue Dimension hinzugefügt hat.160 Stattdessen veränderte die neue Welle von Werten die Bedeutung der bestehenden Dimensionen, indem sie sie in zusätzliche Themen wie kulturellen Liberalismus und insbesondere Umweltschutz einbettete. Die Träger dieser neuen Werte stellten eine Herausforderung für das etablierte System der Interessenakkumulation und -vermittlung dar, da sie sich in Massenprotesten engagierten und mehr partizipatorische Formen anstrebten, um ihre Anliegen auf die politische Agenda zu bringen.

157 Ebd., S. 340–362. 158 Inglehart 1990, S. 258–267. 159 Hutter, S.; Schäfer, I., 2020, Cleavage Politics and European Integration, in: Theorising the Crises of the European Union, London: Routledge, S. 67. 160 Hutter, S.; Borbáth, E. (2019), Challenges from left and right: the long-term dynamics of protest and electoral politics in Western Europe, in: European societies 21(4), S. 487–512.

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2.6

Differenzierung und Cleavages

Neue Strukturen: Die Transformation des Nationalstaats als Konfliktraum

Über die Jahre zu einem Nischenprodukt der Politikwissenschaft verkommen, erlebt die Auseinandersetzung mit der klassischen Cleavage-Theorie und dem Konzept von systematischen Trenn- und Konfliktlinien seit dem Anfang des 21. Jahrhunderts zunehmend eine Renaissance. Die meisten Forscher gehen von Ingleharts Erkenntnissen über das Entstehen neuer postmaterialistischer Parteien aus und erkennen einen neuen Konflikt, der sich im zweidimensionalen Konfliktraum abspielt. Ihre theoretischen Konzepte konzentrieren sich vor allem auf die Erklärung kommunitaristischer und autoritär-nationalistischer Parteien als langfristige Gegenreaktion auf den bereits erwähnten manifestierten Wertewandel sowie den Prozess der Entnationalisierung seit den 1980er Jahren.161 Mit der Beschleunigung der wirtschaftlichen und sozialen Globalisierung sowie der weiteren politischen Integration der westeuropäischen Länder wurde die Rolle des Nationalstaates umgedeutet.162 Es entstehen neue systematische Konfliktlinien innerhalb und zwischen den Nationalstaaten in (West-)Europa. Als institutioneller Ausgangspunkt für eine Post-Lipset-Rokkan’sche Cleavage im 21. Jahrhundert gilt eine »Reihe von großen Reformen in den frühen 1990er Jahren, die die Kosten des internationalen Handels und der Migration verringerten und gleichzeitig die Autorität von den Zentralstaaten auf Organe innerhalb und zwischen den Staaten verteilten. Der Vertrag von Maastricht dehnte die Befugnisse der EU auf weite Bereiche des öffentlichen Lebens aus, erleichterte es den Menschen, in einem anderen EU-Land zu arbeiten, schuf eine gemeinsame Währung und machte Staatsangehörige zu EU-Bürgern«.163 Darüber hinaus nahm die Migration zu, da die Auflösung der Sowjetunion mehr als 100 Millionen Menschen in Europa freisetzte. Daher ist dieses Jahrzehnt symbolisch für einen raschen Anstieg des internationalen Handels, der Migration und der Ungleichheit der wirtschaftlichen Chancen.164 Unter Berücksichtigung einer relativen Abnahme der nationalstaatlichen Souveränität geben Wolfgang Merkel, Michael Zürn, Simon Bornschier sowie Hanspeter Kriesi und Kollegen eine neue Vorstellung vom politischen Konflikt in Westeuropa.165 Dabei beschreiben sie alle eine neue Konfliktlinie, die die bis161 In Anlehnung an Inglehart hat Ignazi (1992, S. 25) bereits 1992 eine silent counterrevolution festgestellt. 162 Zürn, M. (2016), Jenseits der Klassenfrage: Neue Konfliktlinien zeigen sich in Europa, der Türkei und Amerika, in: WZB Mitteilungen 154, S. 7–10. 163 Hooghe, Marks 2017, S. 9 (Eigene Übersetzung). 164 Ebd. 165 Merkel, W. (2017), Kosmopolitismus versus Kommunitarismus: Ein neuer Konflikt in der Demokratie, in: Harfst, P.; Kubbe, I.; Poguntke, T.: Parties, Governments and Elites, Wies-

Neue Strukturen: Die Transformation des Nationalstaats als Konfliktraum

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herigen überschneidet. Es entstanden weitere methodische Ansätze mit ihren jeweiligen Begrifflichkeiten, wobei bei allen die maßgebliche Verlagerung auf supranationale Institutionen und Entscheidungsprozesse eine große Rolle spielt. Wolfgang Merkel, als auch Michael Zürn unterteilen die politischen Hauptkonfliktparteien in Gewinner vs. Verlierer der Globalisierung. Demnach sind die Befürworter von Globalisierung und Integration überdurchschnittlich gebildet und verfügen über ein höheres Einkommen und Humankapital als die breite Masse der Bevölkerung. Daher sind sie in einer integrierten Wirtschafts- und Kulturwelt weniger stationär, das heißt an regionale oder nationale Gegebenheiten gebunden.166 Merkel versucht, die Komplexität der neuen Polarisierung über Globalisierung und supranationale Integration auf eine normative Frage zu reduzieren: Inwieweit sollen die Grenzen der Nationalstaaten geöffnet werden und wo sollen sie bleiben oder wieder geschlossen werden? Die Öffnung der Grenzen betrifft Waren, Kapital und Dienstleistungen ebenso wie die Frage der Migration, der Universalität der Menschenrechte, der grenzüberschreitenden Umweltverschmutzung, des Klimawandels oder die Verlagerung nationaler Souveränitätsrechte auf supranationale Organisationen und Regime.167 Eine empirische, in sich geschlossene Fundierung des neuen Konflikts zeigen Kriesi et al. und Bornschier. Sie gehören zu den ersten, die den Begriff Integration vs. Demarkation verwenden und in abstrakterer Form zwei neue Gegenpole entlang einer politischen Konfliktdimension beschreiben, die von libertär-universalistischen bis zu traditionell-kommunitären Werten reicht.168 »Die eine Seite vertritt universalistische Vorstellungen von Gemeinschaft und plädiert für individuelle Autonomie; die andere Seite betont das Recht, traditionelle Gemeinschaften zu bewahren, in denen sich gemeinsame Wertvorstellungen entwickelt haben und die von der multikulturellen Gesellschaft als bedroht angesehen werden«.169 Wie bereits für Ingleharts Wertewandel argumentiert, haben die europäische Integration und ihre parteipolitischen Gegenbewegungen keine neue grundlegende Konfliktdimension geschaffen, sondern die Bedeutung der beiden LipsetRokkan’schen Dimensionen verändert. Dennoch bleibt der politische Raum zweidimensional, definiert durch eine kulturelle und eine sozioökonomische

166 167 168 169

baden: Springer VS, S. 9–23; Zürn 2016; Bornschier 2010; Kriesi, H.; Grande, E.; Lachat, R.; Dolezal, M.; Bornschier, S.; Frey, T. (2008), West European Politics in the Age of Globalization, Cambridge: University Press, S. 3–22; Kriesi, H.; Grande, E.; Dolezal, M.; Helbling, M.; Höglinger, D.; Hutte, S.; Wüest, B. (2012), Political Conflict in Western Europe, Cambridge: University Press. Zürn 2017, S. 12–14. Ebd. Kriesi et al. 2008, 2012. Bornschier 2010, 3–4 (Eigene Übersetzung).

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Differenzierung und Cleavages

Dimension.170 Auf jeder dieser Dimensionen steht eine offene, integrationsorientierte einer defensiven, protektionistischen Position gegenüber.171 In der wirtschaftlichen Dimension steht die neoliberale Freihandelsposition dem nationalen Protektionismus gegenüber. In der kulturellen Dimension kollidiert eine universalistische, multikulturalistische oder kosmopolitische Position mit der Bewahrung nationaler Kulturen und Traditionen. Diese Orientierungen müssen nicht unbedingt in die gleiche Richtung der Konfliktpole auf beiden Dimensionen weisen. Zürn beispielsweise behauptet, dass der Handel gewissermaßen eine alte Konfliktlinie darstellt, die quer zu anderen Bereichen steht.172 Auch Grande und Kriesi haben gezeigt, dass Rechtspopulisten aus strategischen Gründen vor allem auf die Mobilisierung von Entnationalisierungsverlierern auf der kulturellen Achse setzen. »Die kulturellen Dimensionen der neuen Cleavage sind politisch folgenreicher als die wirtschaftliche Dimension. Es findet eine Verlagerung von einer ökonomischen auf eine kulturelle Basis der Schichtung statt, weltweit«.173 Bornschier belegt dies anhand einer Analyse der westeuropäischen Parteien mit rechtspopulistischem Charakter.174 Zu diesem Zweck wertet er die thematischen Profile der Parteien aus und erkennt eine deutliche Variation ihrer wirtschaftlichen Programme, während die kulturellen Determinanten konstant bleiben. Die Umstrukturierung des westeuropäischen Parteiensystems wird demnach vor allem durch die politischen und kulturellen Ängste der mobilisierten sogenannten Verlierer von Globalisierung, Integration und Supranationalismus angetrieben.175

170 171 172 173

Kriesi et al. 2008, S. 13; Merkel 2017, S. 1; Zürn 2016, S. 8. Kriesi et al. 2008, S. 11. Zürn 2016, S. 9. Grande, E.; Kriesi, H. (2012), The transformative power of globalization and the structure of political conflict in Western Europe, in: Kriesi, H.; Grande, E.; Dolezal, M.; Helbling, M.; Höglinger, D.; Hutter, S.; Wüest, B.: Political Conflict in Western Europe, Cambridge: University Press, S. 16 (Eigene Übersetzung). 174 Bornschier 2010, S. 36–42. 175 Grande, Kriesi 2012, S. 16.

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Neue Strukturen: Die Transformation des Nationalstaats als Konfliktraum

Integration (kosmopolitisch) Neue Linke / Grüne »Dritter Weg« Sozialdemokraten

Liberale

Klassische Linke kulturelle Dimension

Liberalradikal

Liberalkonservativ Christdemokraten Konservative

Demarkation (nationalistisch) Demarkation (interventionistisch)

Rechtspopulisten ökonomische Dimension

Integration (neoliberal)

Abbildung 2: Rechtspopulistische Mobilisierungspotentiale im zweidimensionalen politischen Raum176

Der ideologische Kern der populistischen Rechten besteht grundsätzlich in der Opposition gegen den gesellschaftlichen Modernisierungsprozess, der sich seit den 1960er Jahren beschleunigt hat. Statt länderspezifische oder sozioökonomische Potenziale zu mobilisieren, leben diese Parteien von einer ideologisch homogenen Wählergruppe, welche am traditionalistisch-kommunitaristischen Pol der neuen kulturellen Konfliktdimension angesiedelt ist.177 Komplementär dazu betont Wolfgang Merkel die Überschneidung der beiden Dimensionen und die Dominanz der kulturellen Konfliktlinie innerhalb der Unterstützergruppen.178

176 Es werden lediglich kulturelle Mobilisierungspotentiale für kommunitaristische bzw. rechtspopulistische Parteien dargestellt, da die behandelten Cleavage-Konzepte von Kriesi et al. 2008 und Bornschier 2010 bereits nach der Etablierung der kosmopolitischen grünen Parteien ansetzt; Eigene Darstellung in Anlehnung an Kriesi et al. 2008, S. 15 und Grande, Kriesi 2012, S. 22. 177 Bornschier 2010, S. 3. 178 Merkel 2017, S. 15.

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Differenzierung und Cleavages

Grande und Kriesi liefern dafür eine theoretische Grundlage. In dem Maße, wie sich Länder modernisieren, werden kognitive Fähigkeiten und kulturelle Ressourcen wichtiger für die Stellung eines Individuums in der Gesellschaft.179 Folglich liegt es nahe, dass sich im Zuge der gesellschaftlichen Entnationalisierung ein neues Profil der politischen Parteien entlang der beiden Dimensionen entwickelt hat. Die grünen und – in unterschiedlichem Maße – die (neo-)liberalen Parteien gelten als idealtypische Vertreter des Kosmopolitismus und damit der europäischen Integration. Auch die westeuropäischen sozialdemokratischen Parteien und die meisten christdemokratischen Parteien haben sich im Zuge der gesellschaftlichen Veränderungen zunehmend dem kosmopolitischen Pol zugewandt.180 Als Reaktion darauf haben sich die Wähler und die etablierten Parteien, die dem wirtschaftlichen, aber vor allem dem kulturellen Wandel kritisch gegenüberstehen, dem kommunitaristischen Zweig zugewandt, darunter die traditionellen linken, rechtspopulistischen und transformierten konservativen Parteien.181 Das Entstehen einer neuen politischen Strömung erfordert jedoch nicht das unmittelbare Auftreten einer neuen Partei in der Wahllandschaft. An dieser Stelle setzen Kriesi und Kollegen, als auch Bornschiers Werke an, indem sie eine empirische Grundlage für eine solche Konfliktlinie konstruieren. Anders als Lipset und Rokkan oder Inglehart stützen sie sich auf zusätzliche Daten zur Positionierung der Parteien zu bestimmten politischen Themen. Diese programmatischen Angebote werden mit ihrer öffentlichen Medienwahrnehmung (Salienz) gewichtet. Durch eine gewichtete multidimensionale Skalierung wird die wahrgenommene Salienzposition einer Partei in Relation zur allgemeinen Medienwahrnehmung von Themenkategorien wie z. B. europäische Integration und Einwanderung berechnet. Bornschier veranschaulicht dies am Beispiel der Auswertung der deutschen Parteipositionierung von 1994 bis 2002. So verlor die SPD, als sie Mitte der 80er Jahre die Opposition zur kulturell-kommunitaristischen CDU verließ und sich in der Mitte der kulturellen Konfliktlinie positionierte, einen Teil der libertär-universalistischen Wählerschaft an die aufstrebende grüne Partei. Mitte der 90er Jahre mobilisierten die Christdemokraten jedoch stark in der kulturellen Dimension, indem sie eine rigidere Migrationspolitik betonten. Auf diese Weise entzogen sie den rechtspopulistischen oder extremistischen Parteien in Deutschland ihr Potenzial.182 Die parlamentarische Zusammensetzung eines Parteiensystems verkörpert somit nur einen von mehreren Erklärungsfaktoren für die Entstehung einer Cleavage und muss daher 179 Grande, Kriesi 2012, S. 16 (Eigene Übersetzung). 180 Lacewell, O.; Merkel, W. (2013), Die neue Komplexität der Globalisierung, Berliner Republik 13(2), S. 72–73. 181 Kriesi et al. 2008, S. 15. 182 Bornschier 2010, S. 197.

Die Folgen der Transformation – das transnationale Cleavage

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immer im Zusammenhang mit den Positionen, der Salienz und den Strategien bereits etablierter Parteien gesehen werden. Kriesi et al. verweisen auf den adaptiven Charakter der bereits bestehenden Parteien: »Die etablierten Parteien nehmen die neuen Präferenzen, Identitäten, Werte und Interessen auf und interpretieren und artikulieren sie auf ihre eigene Weise. Wir vermuten, dass sich die etablierten Parteien infolge des aufkommenden neuen Konflikts neu positionieren und ausrichten«.183 Dies bedeutet, dass sich in der politischen Arena hinter einer Pseudokontinuität erhebliche Veränderungen verbergen können. Die Anzahl und sogar die relative Stärke der Parteien kann sich kaum ändern, während sich die Identität, die Ideologie und die strukturelle Unterstützung jener Parteien tiefgreifend verändert haben können. Es kann sein, dass einige Parteien nur noch dem Namen nach dieselben sind, sich aber grundlegend transformiert haben.184 Entsprechend ist das Aufkommen der rechtspopulistischen Alternative für Deutschland (AfD) im Bundestag 2017 zum Teil auf die Annäherung der deutschen etablierten Parteien an die Mitte der kulturellen Konfliktdimension und die Unfähigkeit der konservativen Christdemokratischen Union (CDU) und der Linken (DIE LINKE) zurückzuführen, sich auf die kulturelle Konkurrenz von rechts einzustellen.185

2.7

Die Folgen der Transformation – das transnationale Cleavage

In den vorangangenen Kapiteln wurde der Postfunktionalismus mit der Bedeutung der jüngsten Krisen die Staats- und Regierungschefs und ihren eingeschränkten Handlungsspielraum für die europäische Integration selbst in Verbindung gebracht. Demnach hat sich der Prozess der europäischen Integration von einem rationalen, von supranationalen Eliten gesteuerten Wirtschaftsprozess zu einem Prozess des Konflikts und der Massenmobilisierung innerhalb der Wählerschaft gewandelt. Daher ist es von entscheidender Bedeutung, die Arena der nationalen Politik, z. B. der nationalen Wählerschaften, zu betreten und die Bestandteile dieses Konflikts aus einer gesellschaftlichen Perspektive zu betrachten. Lisbet Hooghe und Gary Marks verwenden ebenfalls die Bausteine der klassischen Cleavage-Theorie und stellen sie in den Rahmen der postfunktionalistischen Theorie der europäischen Integration und damit der Differenzierung. Sie argumentieren, dass sich die europäische politische Landschaft durch eine neue Cleavage verändert hat, und beziehen sich dabei auf die Bedeutung von 183 Kriesi et al. 2008, S. 14 (Eigene Übersetzung). 184 Ebd. 185 Dorn, F.; Gäbler, S.; Kauder, B.; Krause, M.; Lorenz, L.; Potrafke, N.; van Roessel, A. (2017), Demokratische Vielfalt in Deutschland – unterscheiden sich die Volksparteien noch? in: ifo Schnelldienst 70(20), S. 28–37.

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Differenzierung und Cleavages

critical junctures, die von den Begründern der ursprünglichen Theorie eingebracht wurden, um zu beleuchten, ob die Eurokrise und die Migrationskrise eine veränderte politische Konfliktstruktur in Europa hinterlassen haben.186 Sie identifizieren die europäische Integration und ihre Krisen als einen neuen kritischen Punkt für europäische politische Systeme, der für Wähler und Parteien nicht weniger entscheidend ist als die früheren Punkte, die Lipset und Rokkan in ihrem klassischen Werk festlegten. »So wie die bolschewistische Revolution ein kritischer Punkt für die Ausprägung des Klassencleavage war, so können die Eurokrise und die Migrationskrise als kritisch für die Entstehung eines transnationalen Cleavage angesehen werden. Diese Krisen haben die Bedeutung von Europa und Einwanderung in der öffentlichen Debatte erhöht, die Spaltung innerhalb der etablierten Parteien verstärkt und zu einem Aufschwung ablehnender politischer Parteien geführt«.187 Die Europäische Union selbst stellt einen solchen Schock für die nationalen Gemeinschaften dar, weil sie »die Herrschaft derjenigen einführt, die als Ausländer angesehen werden, die Autorität der Nationalstaaten über ihre eigene Bevölkerung schwächt, wirtschaftliche Unsicherheit bei denjenigen erzeugt, denen es an mobilem Vermögen mangelt, und die Einwanderung erleichtert«. Hooghe und Marks kommen zu dem Schluss, dass Migration als ein besonderer Schock für diejenigen empfunden werden kann, »die kulturellen oder wirtschaftlichen Schutz in den Rechten der Staatsbürgerschaft suchen«.188 Hutter und Schäfer unterstreichen diesen Ansatz: »Eine Cleavage-Perspektive auf die europäische Integration betont, dass die aktuellen Konflikte um Europa in einen langfristigen Restrukturierungsprozess eingebettet sind. Dieser Prozess hat lange vor den jüngsten Krisen auf dem europäischen Kontinent stattgefunden und ist nicht ausschließlich mit der Übertragung von Kompetenzen auf die EU verbunden. Es gibt keine Trennung sui generis bei der europäischen Integration«.189 In der Literatur zum transnationalen Cleavage wird daher betont, dass der Konflikt um die europäische Integration Teil eines umfassenderen Integration-Demarkation-Konflikt zwischen Gegnern und Befürwortern der weiteren Öffnung und des Umbaus politischer, kultureller und wirtschaftlicher Grenzen ist.190 Im Zusammenhang mit der europäischen Integration gehört die Zuwanderung zu den konfliktträchtigsten Themen, weil sie »an verschiedene Konfliktquellen um nationale Souveränität, Identität und Solidarität anknüpft«.191 186 187 188 189 190 191

Hooghe, Marks 2017, S. 2. Ebd., S. 14 (Eigene Übersetzung). Ebd., S: 3 (Eigene Übersetzung). Hutter, Schäfer 2020, S. 74 (Eigene Übersetzung). Ebd. Ebd. (Eigene Übersetzung).

Die Folgen der Transformation – das transnationale Cleavage

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Daher sind die Befürworter des sogenannten transnational Cleavage versucht zu erwarten, dass »etwas Grundlegendes stattfindet, nämlich die Entstehung eines ausgeprägten, verwurzelten und dauerhaften Konflikts, der die bestehende Struktur des Parteienwettbewerbs überlagern und stören wird«. Die Autoren bezeichnen die neue Trennline als transnational, da »sie die Verteidigung nationaler politischer, sozialer und ökonomischer Lebensweisen gegen externe Akteure, die durch Migration, Warenaustausch oder Herrschaftsausübung in den Staat eindringen, zum Gegenstand hat«.192 Dies wurde insbesondere im Zuge der europäischen Integration wahrgenommen, wo die Verflechtung der Völker mit der Errichtung eines supranationalen Gemeinwesens zusammenfiel.193 Die meisten der komplexen Probleme, mit denen die Menschheit heute konfrontiert ist, erfordern eine kontinuierliche Zusammenarbeit über die Ebene der Nationalstaaten hinaus, wie etwa Umweltverschmutzung, globale Erwärmung, failed states oder, seit dem Jahr 2022, wieder Kriege im großen Stil. Schließlich ist der Ausdruck der nationalen Souveränität in Form eines von einem Nationalstaat erklärten Vetos ein potenziell starkes Hindernis für die Problemlösung. Daher erfordert die funktionale Effizienz bei der Bereitstellung öffentlicher Güter eine mehrstufige, transnationale Governance. Der Transnationalismus als Ganzes hat jedoch konkrete und über die Zeit transparente Verteilungskonsequenzen, welche die Gewinne aus transnationalem Handel und Dienstleistungsverkehr zu Gunsten derjenigen verschieben, die über mobile Vermögenswerte und Humankapital, sprich mobile assets verfügen. Die Verlierer, die das Gefühl haben, ohne Aussicht auf Aufstieg abzurutschen, bemängeln eine Verwässerung der Rechte und des Schutzes der Staatsbürgerschaft und dahingehend auch der nationalen Zugehörigkeit. »Das Versprechen des Transnationalismus war ein Gewinn für alle, aber die Erfahrung der letzten zwei Jahrzehnte zeigt, dass er vielen schadet«.194 Als der Höhepunkt der Schengenkrise auf supranationaler Ebene gerade abgeklungen war, diagnostiziert Martin Wolf in der Financial Times, dass schließlich der Anteil der Zuwanderer an der Bevölkerung sprunghaft angestiegen sei. Er äußert Zweifel daran, ob dies für die breite Masse der Bevölkerung große wirtschaftliche, soziale und kulturelle Vorteile gebracht hat. »Es hat jedoch zweifelsohne denen an der Spitze genutzt«.195 Dies gilt insbesondere für die nationalen Bürger, die das Gefühl haben, unter dem Transnationalismus zu leiden (wie auch immer sie ihn selbst benennen): die kulturell Unentschlossenen, die Ungelernten oder bildungstechnisch abgehängten, oder in den Worten von Hooghe und Marks: »Jene, denen es an der 192 193 194 195

Hooghe, Marks 2017, S. 15. Ebd., S. 4. Ebd., S. 11 (Eigene Übersetzung). Wolf, M. (2016), The economic losers are in revolt against the elites, https://www.ft.com/con tent/135385ca-c399-11e5-808f-8231cd71622e (Eigene Übersetzung).

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Differenzierung und Cleavages

notwendigen Bildung fehlt, um in einer mobilen Welt zu bestehen. Bildung erweist sich als mächtiger strukturierender Faktor, der für diejenigen notwendig ist, die sich auf ihre eigenen Talente verlassen, um ein wirtschaftlich sicheres Leben in einer Welt mit niedrigen Handelsschranken zu führen«. Darüber hinaus prägt die Bildung die Art und Weise, wie der Einzelne die Welt und ihre verschiedenen Kulturen sieht. »Bildung ermöglicht es einer Person, die Dinge von der anderen Seite zu sehen, ein Schlüssel zur Empathie für diejenigen, die eine andere Lebensweise haben«.196 Folglich erweist sich der Nationalismus im Gegensatz zum Transnationalismus als Zufluchtsort für diejenigen, die unsicher sind und das Gefühl haben, ihren Status zu verlieren. Er stellt eine »populistische Reaktion gegen Eliten, die wenig Verständnis für nationale Grenzen haben«.197 Neben der nationalen politischen Souveränität löste die europäische Integration die auch Verteidigung der nationalen Kultur, Sprache und Identität gegen konkurrierende Identitätsquellen aus. Der Postfunktionalismus skizziert systematisch die Rolle von Werten im Allgemeinen und von Einstellungen im Besonderen auf beiden Seiten der Gleichung. Das nationalistische Ende dieser Konfliktdimension, das der Demarkation besteht aus traditionell-autoritär-nationalistischen Parteien (TAN). Sie werden häufig als rechtspopulistisch bis rechtsradikal klassifiziert, weisen eine größere innere Geschlossenheit auf und messen den oben genannten Themen mehr Gewicht bei als der Rest der politischen Konkurrenz. Den IntegrationsGegenpol bilden grün-alternativ-liberale Parteien (GAL), bei denen es sich häufig um grüne oder »neulinke« Parteien handelt. Hinsichtlich der gesellschaftlichen Repräsentativität dieser potenziellen Konfliktpole haben Kriesi et al. für die frühen 2000er Jahre festgestellt, dass »Bürger, die zu den Globalisierungsgewinnern gehören und eine positive Einstellung zu Europa haben, sich aktiver in der europäischen Parteipolitik engagieren«. Auch bei der Beteiligung an nationalen Wahlen »findet man eine Überrepräsentation von ›Gewinner‹-Einstellungen zu kulturellen Fragen«.198 Nach Hooghe und Marks scheinen sich diese Muster zu ändern: »Da die transnationale Konfliktlinie deutlich geworden ist, sind die etablierten Parteien gezwungen, mit Themen zu konkurrieren, die weit von ihrem programmatischen Kern entfernt sind.«199 Dementsprechend begann sich die von Kriesi et al. festgestellte Repräsentationslücke zu schließen. An dieser Stelle kommt schließlich die Methodik von Hooghe und Marks ins Spiel, die das Entstehen eines transnationalen oder Integration vs. Demarkation-Cleavage belegen. Sie konzentrie196 197 198 199

Hooghe, Marks 2017, S. 15 (Eigene Übersetzung). Ebd. (Eigene Übersetzung). Kriesi et al. 2012, S. 85 (Eigene Übersetzung). Kriesi et al. 2017, S. 5 (Eigene Übersetzung).

Die Folgen der Transformation – das transnationale Cleavage

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ren sich auf Themenpositionen, Themensalienz und langfristige Flexibilität in nationalen Parteiensystemen. Unter der Überschrift »sticky political parties« fassen die Autoren zusammen, dass Veränderungen in der Regel in Form neuer politischer Parteien auftreten, die die bestehenden Parteien auf einem neuen Cleavage herausfordern, da ihre Positionen auf dem letzteren von keiner anderen Partei angemessen vertreten werden.200 Wenn etablierte Parteien nicht in der Lage sind, ihre politischen Positionen im Laufe der Zeit effektiv zu verändern, kommt es innerhalb dieser Parteien zu starken Spannungen, insbesondere in Systemen mit hohen Wahlbarrieren, oder es entstehen herausfordernde Parteien, wenn die Wahlbarrieren niedrig sind. Insgesamt und im Gegensatz zu Bornschier behaupten Hooghe und Marks, dass politische Parteien in ihrer Themenpositionierung langfristig nicht flexibel sind.201 Sie präsentieren Beweise durch den Vergleich der Richtung, der Bedeutung und des Dissenses der Positionierung europäischer Parteien zur europäischen Integration anhand ihrer Expertenbefragungsdaten zur Parteipositionierung. Demnach ist der interne Dissens bei nationalen Parteien, die in dieser Frage eine mittlere Position einnehmen, am höchsten, während er bei Parteien, die polare Positionen einnehmen, am niedrigsten ist. Dementsprechend könnten konservative Parteien besonders anfällig für diese Art von internem Dissens sein, da sie meist neoliberale Unterstützung für Transnationalismus in der wirtschaftlichen Dimension mit nationalistischen Elementen der Souveränitätsverteidigung kombinieren.202 Dementsprechend gehen die gemäßigten Parteien, die aus den von Martin Lipset und Stein Rokkan beschriebenen Cleavages hervorgingen, in ganz Europa zurück. Der Stimmenanteil für christlich-konservative, sozialdemokratische oder sozialistische und liberale Parteien sank in Europa um elf Prozent und die große Mehrheit von ihnen unterstützte die europäische Integration in einer Zeit der Krise und zunehmender Skepsis, z. B. durch Gegenmobilisierung.203 Im Jahr 2014 äußerten sich beispielsweise nur 23 von 112 Mainstream-Parteien negativ zu diesem Thema. Die Zustimmung zur europäischen Integration unter den etablierten Parteien spielte keine große Rolle, solange das Thema marginal war. »Mainstream-Parteien versuchten, das Thema herunterzuspielen, ihre Antwort zu verwischen oder das Thema zu ignorieren«.204 Letzteres ergibt sich aus der Beobachtung der Salienz und des Dissenses dieser Parteien gegenüber der europäischen Integration im Laufe der Zeit. 200 Hooghe, Marks 2017, S. 12. 201 Ebd., S. 18–20. 202 Der Datensatz der Chapel Hill Expert Survey (CHES) wird auch im folgenden Analyseabschnitt verwendet. 203 Ebd. 204 Hooghe, Marks 2017, S. 23 (Eigene Übersetzung).

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Differenzierung und Cleavages

Folglich ist die strategische Flexibilität etablierter politischer Parteien in einer wichtigen Konfliktdimension auf das Ausmaß beschränkt, in dem sie über eine »dauerhafte Wählerschaft, eine dezentralisierte Entscheidungsstruktur, einen selbstgewählten Kader von Aktivisten, eine sich selbst reproduzierende Führung und einen ausgeprägten programmatischen Ruf verfügen«. Politische Parteien können in bestimmten Fragen flexibel sein, aber Bemühungen, ihre Position auf der Ebene einer Konfliktdimension zu ändern, sind selten.205 Die durchschnittliche Parteipräsenz für die europäische Integration ist zwischen 2006 und 2014 um fast 30 % gestiegen. Während der Krise in der Eurozone »gewannen rechtsradikale Parteien ausgerechnet in den Ländern, in denen nationale Interessen die Regierungspolitik bestimmten. Im Süden hingegen führten Sparmaßnahmen und eine unflexible Währung zu wirtschaftlichem Elend und Ressentiments, die vor allem von der radikalen Linken mobilisiert wurden«. Rechtsradikale oder TAN-Parteien im Norden streben nach ethnischer Homogenität, wohingegen die radikale Rechte aufgrund der Verteilungsfragen der Euro-Krise bisher nicht die Hauptnutznießer der breiten Unzufriedenheit im Süden war.206 Diese Aussage scheint jedoch überholt zu sein. Seit der zitierten Veröffentlichung im Jahr 2017 haben rechtsradikale Parteien auch bei südeuropäischen Parlamentswahlen tatsächlich überproportional an Stimmen gewonnen.207 Hooghe und Marks erweitern ihre Annahmen über das transnationale Cleavage auf Mittelosteuropa als weiteres wichtiges Ergebnis der Schengen-Krise. Demnach zeigt die Massenerhebung, dass die öffentliche Besorgnis über die Einwanderung deutlich zugenommen hat. Im Jahr 2014 bezeichnete keine der mittelosteuropäischen Bevölkerungen die Einwanderung als »eines der beiden wichtigsten Themen«, mit denen die Länder derzeit konfrontiert sind, während viele nördliche und südliche Länder Werte von über zehn Prozent verzeichneten. Im Jahr 2016 lag der Wert im Osten jedoch bei 28 Prozent. »Die mittel- und osteuropäischen Länder waren nicht mehr isoliert. Zuwanderung war in allen östlichen Ländern außer Rumänien ein Top-Thema«.208 Dem postfunktionalistischen Paradigma folgend hat also das transnationale Cleavage und damit die kulturell bedingte Forderung nach Differenzierung auch die Zentral-Ost-Europäischen Länder erreicht. Zum Abschluss dieser Ausarbeitung über klassische und zeitgenössische Cleavages soll jedoch eine sorgfältige Untersuchung des Cleavage-Konzepts und seiner Manifestation selbst durchgeführt werden. Sie dient dazu, die Bemühungen der genannten Forscher um die Erfassung politischer Anfechtung und ihrer Auswirkungen auf die Politik – von Lipset und 205 Ebd., S. 7. 206 Ebd., S. 27. 207 Ballantyne, S. (2021), The populist radical right in southern Europe, https://euideas.eui.e u/2021/03/01/the-populist-radical-right-in-southern-europe/. 208 Hooghe, Marks 2017, S. 18 (Eigene Übersetzung).

Der Status der Cleavagetheorie im 21. Jahrhundert

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Rokkan über Inglehart, Kriesi bis zu Hooghe und Marks – zu unterstützen und zu kritisieren.

2.8

Der Status der Cleavagetheorie im 21. Jahrhundert: Sozialer Wandel und das neue Prekariat

Martin Lipset und Stein Rokkan betrachten in ihrer Analyse von 1967 historische Prozesse ausschließlich aus einer makrosoziologischen Perspektive: Welcher Beruf, welche Lokalität und welche Religion bestimmen langfristig die Wahlentscheidung für welche Partei? In Bezug auf spezifische Wertorientierungen erwähnen sie lediglich, dass »das entscheidende Kriterium der Ausrichtung die Bindung an den Ort und seine dominante Kultur ist«. So beschreiben sie den Staat-Kirche-Konflikt als »einen Konflikt der Moral, der Kontrolle von Gemeinschaftsnormen«. Dies wird jedoch in ihren Werken nicht weiter ausgeführt.209 Wie bereits erwähnt, haben weder Ingleharts noch die anderen post-LipsetRokkan’schen Cleavage-Konzepte eine Konfliktdimension reduziert oder hinzugefügt, sondern den bestehenden eine neue Bedeutung hinzugefügt. Allerdings haben Lipset und Rokkan vorausgesehen, dass die analytische Erklärungskraft ihres klassischen Modells möglicherweise nicht bis zum Ende des Politischen reicht. Es ist daher angebracht, den analytischen Status der klassischen Cleavagetheorie angesichts gesellschaftlicher Veränderungen und Brüche zu hinterfragen. In Bezug auf die Auswirkungen der Nationalen Revolution stellen Lipset und Rokkan fest, dass die mit der Nationalstaatsbildung einhergehenden Normierungen in die ursprünglichen lokalen Strukturen eindrangen. Das frühe Wachstum der nationalen Bürokratie tendierte dazu, territoriale Gegensätze zu erzeugen und die Beschleunigung der ortsübergreifenden Interaktionen führte allmählich zu viel komplexeren Systemen von Ausrichtungen, welche davon einige zwischen Ortschaften, andere zwischen und innerhalb von Ortschaften waren. Diese ortsübergreifenden Interaktionen könnten im Zuge der europäischen Integration durch länderübergreifende Interaktionen ersetzt werden. In diesem Zusammenhang könnten die »early waves of countermobilization« gegen die Unitarisierung des Nationalstaates konzeptionell in den Widerstand gegen die soziale, ökonomische und politische Denationalisierung, d. h. die länderübergreifende oder supranationale Unitarisierung, überführt werden.210 Vor allem aber haben Lipset und Rokkan nicht näher ausgeführt, wie ein Cleavage als solches zu definieren ist. Dies führte letztlich dazu, dass sich in der 209 Lipset, Rokkan 1967, S. 13–15 (Eigene Übersetzung). 210 Ebd.

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Differenzierung und Cleavages

Politikwissenschaft ein begrifflicher Pluralismus und eine konzeptionelle Vielfalt durchsetzte. Die in diesem Kapitel vorgestellten Post-Lipset-Rokkan-CleavageKonzepte unterscheiden sich in ihrer methodischen Herangehensweise erheblich und sind daher schwer vergleichbar, eine Vereinheitlichung ihrer empirischen Argumente erscheint schwierig. Inglehart gründet sein bahnbrechendes Postmaterialismus vs. Materialismus-Cleavage auf vergleichende Querschnittserhebungen, die die Entwicklung von Werten über Jahrzehnte in repräsentativen Populationen verfolgen. Kritiker haben jedoch Bedenken geäußert, dass der Anstieg des Postmaterialismus nicht nur auf wirtschaftliche Bedingungen, sondern auch auf weitere soziostrukturelle Faktoren zurückzuführen sein könnte. Das Problem mit Ingleharts Thesen besteht darin, dass sie sich hauptsächlich darauf konzentrieren, den Wertewandel in der Gesellschaft abzubilden, während sie nicht viel darüber aussagen, wie diese sich entwickelnden Werte in konkurrierenden politischen Parteien organisiert werden.211 Die neueren Arbeiten von Kriesi et al. aus dem Jahre 2008 und 2012 sowie von Bornschier aus 2010 weisen eine entgegengesetzte Komposition aus Stärken und Schwächen auf. Sie konzentrieren sich auf organisatorische Aspekte und operationalisieren die Themen, über die Parteien sprechen und auf die sie bestimmte Schwerpunkte setzen. »Dieser Ansatz liefert systematische Belege dafür, wie Parteiensysteme ihre Appelle an neuen ideologischen Trennlinien ausrichten, aber er liefert uns wenig direkte Belege für die Veränderungen innerhalb der Wählerschaft, die diese Verschiebungen anregen«. Daher ist nicht klar, ob das Entstehen einer neuen Cleavage über die Migration oder die europäische Integration das Ergebnis kompositorischer Verschiebungen in der Zusammensetzung der sozialen Gruppen und Wertorientierungen in der Wählerschaft, die elitengetriebene Aktivierung seit langen bestehenden Spaltungen durch wirtschaftliche und soziale Veränderungen wie die Globalisierung und den Aufstieg der Europäischen Union oder eine Mischung aus beidem ist.212 Wenn es schon solche begrifflichen Unklarheiten bei der Erfassung der klassischen Cleavage-Theorie gibt, welche Indikatoren sollten dann überhaupt in Betracht gezogen werden, um einen Konflikt in der revolutionären Nachfolge zu klassifizieren? Von welchem theoretischen Niveau sollten die Indikatoren sein? Stefano Bartolini und Peter Mair setzen sich mit dieser Ungenauigkeit der Cleavage-Konzeptualisierung bereits in den Neunzigern auseinander und entwickeln ein Modell, das der Analyse von Cleavage-Politik eine gewisse Struktur verleiht.213 Demnach werden Cleavages oft als politisch, kulturell oder institu211 Ford, R.; Jennings, W. (2020), The changing cleavage politics of Western Europe, in: Annual Review of Political Science 23, S. 299. 212 Ebd. (Eigene Übersetzung). 213 Bartolini, S.; Mair, P. (1990), Identity, Competition, and Electoral Availability: The Stabilization of European Electorates 1885–1985, Cambridge: University Press.

Der Status der Cleavagetheorie im 21. Jahrhundert

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tionalisiert vorausgesetzt – »eine Praxis, die zwar oft klärt, was der einzelne Autor meint, aber unweigerlich dazu tendiert, das Konzept selbst seines eigenständigen theoretischen Wertes zu berauben«.214 Daher stützen sie den Begriff auf ein analytisches Konzept, das aus drei Elementen besteht. Das empirische Element identifiziert einen eindeutigen soziostrukturellen Bezugspunkt. Das normative Element bezeichnet einen kohärenten Satz von Werten und Überzeugungen, der auch die Selbstwahrnehmung sozialer Gruppen bestimmt. Das organisatorische bzw. verhaltensbezogene Element bildet die Interaktionen zwischen Individuen und Organisationen, wie z. B. Parteieliten im Zuge von Mobilisierungsstrategien, ab. Das daraus resultierende Konzept der Cleavage reduzieren die Autoren auf die Angabe einer Trennlinie, die sich in einem Gemeinwesen auf alle drei Aspekte bezieht und diese miteinander verbindet.215 soziale Homogenität (empirisch)

Organisationsdichte

(organisational/behavioral)

kulturelle Unterscheidungskraft (normativ)

Abbildung 3: Modell der Cleavage-Ausprägung in Anlehnung an Bartolini und Mair

Die Stärke bzw. Ausprägung eines Cleavage wird also durch seine Ausprägung auf den jeweiligen Dimensionen charakterisiert. Aus methodischer Sicht erscheint weder ein reiner Bottom-up-Ansatz, der sich auf die adäquate Aggregation von Interessen gesellschaftlicher Gruppen konzentriert, noch ein reiner Top-down-Ansatz, der die Mobilisierungsfunktion von Parteieliten in den Vordergrund stellt, sinnvoll.216 Die ausschließliche Beobachtung einer Wahlentscheidung für eine Partei liefert keine befriedigende Information über eine Veränderung der Cleavage-Struktur, und somit auch nicht über das Restruktu214 Ebd., S. 213 (Eigene Übersetzung). 215 Ebd., S. 216. 216 Holländer, M. (2003), Konfliktlinien und Konfiguration der Parteiensysteme in Ostmitteleuropa 1988–2002, Hamburg: BoD, S. 29–30.

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Differenzierung und Cleavages

rierungspotenzial von europäischer Integration. Auch die Identifikation eines neuen Cleavages sowie die Einschätzung seiner Stärke ist nicht automatisch durch Wahlergebnisse bestimmt und muss daher unabhängig vom Wahlverhalten gemessen werden. Nach Bartolini und Mair sind die verschiedenen Perspektiven eng miteinander verknüpft und ihre Erklärungshypothesen überschneiden sich in hohem Maße. Die Bevorzugung nur einer bestimmten Dimension oder Perspektive führt daher tendenziell zu Spekulationen über den Status der traditionellen Konfliktlinien. Und genau hier, so die Autoren, liegt das eigentliche Problem.217 Mehr als fünfzig Jahre sind seit der Erstveröffentlichung der Cleavagetheorie vergangen und mehr als dreißig Jahre seit Bartolinis und Mairs methodologischer Neubewertung des Konzepts der Cleavage. Wir möchten daher betonen, dass insbesondere die empirische Dimension, nämlich der soziostrukturelle Referent, eine weitere Kontextualisierung benötigt. Bartolini behauptet, dass sich von den beiden von Lipset und Rokkan festgestellten Dimensionen der sozioökonomische Klassenkonflikt länderübergreifend als durchdringender erwiesen hat.218 In den letzten zwei Jahrzehnten konzentrierte sich die Debatte über den gegenwärtigen Status von Cleavages jedoch hauptsächlich auf die Frage, ob die traditionellen Cleavage-Strukturen, also Klasse und Religion, aufgrund gesellschaftlicher Veränderungen wie der Entsäkularisierung und dem Niedergang traditioneller Industrien zurückgegangen sind. »Diese Veränderungen haben die sozialen Gruppen, in denen religiöse und Arbeiterparteien ursprünglich beheimatet waren, schrumpfen lassen und eine Vielzahl von Forschungsarbeiten angeregt, die die relativen Auswirkungen veränderter Gruppengrößen, veränderten Verhaltens innerhalb der Gruppen und veränderter Appelle der Parteien an die Gruppen auf die Muster der Klassen- und Religionswahlen diskutieren«.219 Zwar sind sich die meisten Wissenschaftler über den Rückgang der auf Klasse und Religion basierenden Spaltungswahlen einig, aber die Debatte darüber, »ob Klasse und Religion als politische Cleavages tot sind, und wenn ja, wer sie getötet hat«, bleibt intensiv.220 Einerseits erkennen Lipset und Rokkan an, dass sich funktionale Oppositionen nur nach einer anfänglichen Konsolidierung des nationalen Territoriums entwickeln können. Andererseits waren sie sich des sozialen Wandels als korrodierendem Faktor für Klassenkonflikte bewusst.221 Aber sie hatten keine Vorstellung davon, dass sich die Container dessen, also die Nationalstaaten selbst 217 Ebd., S. 223. 218 Bartolini, S. (2000), The Political Mobilization of the European Left, 1860–1980. The Class Cleavage, Cambridge: Cambridge University Press; Hutter, Schäfter 2020. 219 Jennings, Ford 2020, S. 297 (Eigene Übersetzung). 220 Ebd. (Eigene Übersetzung). 221 Lipset, Rokkan 1967, S. 13.

Der Status der Cleavagetheorie im 21. Jahrhundert

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im Zuge europäischer Integration verändern würden. Sie waren nicht in der Lage, zu erkennen, dass der nationale Rückzugsraum territorial und politisch im Rahmen einer autoritativen Neugestaltung entsolidarisiert werden könnte. Hooghe und Marks verorten die Ursache dessen darin, dass damals die territoriale Identität als Motiv für Konflikte der Vergangenheit zugeschrieben wurde.222 Darüber hinaus argumentieren Hooghe und Marks, dass zum Zeitpunkt des Auftretens von Parteien der Massenpolitik soziale Konfliktstrukturen bereits vorhanden und meist institutionalisiert waren, z. B. durch Gewerkschaften oder Arbeitnehmerverbände. »Nun ist die Reihenfolge umgekehrt. Konkurrierende Parteiensysteme existieren bereits vor dem Auftreten neuer Cleavages. Daher macht es keinen Sinn zu glauben, dass herausfordernde politische Parteien in bereits existierenden, sozial geschlossenen Gruppen verwurzelt sind«.223 Darüber hinaus ist es bemerkenswert, dass die soziale Schließung zu dieser Zeit bei weitem nicht vollständig war. So wählte beispielsweise einer von drei Arbeitern in Großbritannien die Konservativen oder die Liberalen, ein deutscher Arbeiter war häufig auch gewerkschaftlich gebundener Arbeiter und katholisch und erlebte Querschüsse, oder der Beruf erklärte nur etwa fünf Prozent der Varianz in der Parteienwahl in Frankreich.224 Im Vergleich dazu zeigen aktuelle Analysen, dass soziostrukturelle Determinanten wie städtische oder ländliche Lage, Bildung und Beruf zehn Prozent der Varianz bei der Wahl der radikalen Rechten (TAN) oder der Grünen (GAL) erklären.225 Klassen- und religionsbedingte Angleichungen zwischen Parteien und Wählern sind im Rückgang begriffen. Damit ist der Zusammenhang zwischen wählenden Bevölkerungsgruppen, Milieus und der Befürwortung oder Verweigerung der europäischen Integration und den Werten, die diesen Prozess begleiten und polarisieren, nicht bewiesen. Dies verdient die Feststellung von Bornschier et al., dass »wir also wissen, dass Klasse, Bildung und Wohnsitz in der Stadt oder auf dem Land für die Wahl entlang der Universalismus-Partikularismus-Grenze objektiv von Bedeutung sind, aber es ist nicht klar, ob diese Kategorien für die Wähler selbst von Bedeutung sind. Die Wähler identifizieren sich in der Regel nicht selbst als ›ungebildet‹ oder als ›Modernisierungsverlierer‹«. Die soziale Identität ist nicht völlig unabhängig von den strukturellen Grundlagen; die 222 Hooghe, Marks 2017, S. 9. 223 Ebd., S. 8–9 (Eigene Übersetzung). 224 Ebd.; Mielke, G. (1989), Des Kirchturms langer Schatten. Konfessionell-religiöse Bestimmungsfaktoren des Wahlverhaltens, in: Schultze, R. (Hrsg.): Wahlverhalten, Stuttgart/Berlin/Köln: Kohlhammer, S. 149–150. 225 Dolezal, M. (2010), Exploring the stabilization of a political force: the social and attitudinal basis of green parties in the age of globalization, in: West European Politics 33(3), S. 534–552; Oesch, D. (2008), Explaining workers’ support for right-wing populist parties in Western Europe: evidence from Austria, Belgium, France, Norway, and Switzerland, in: International Political Science Review 29(3), S. 349–373.

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Differenzierung und Cleavages

Forscher schlagen jedoch vor, dass die Verbindung zwischen letzterer und »anderen, kulturell konnotierten sozialen Gruppen mindestens ebenso stark sein sollte. Mit anderen Worten: Auch nicht-ökonomische, kulturelle Identitäten sollten strukturell verwurzelt sein«.226 Zum Abschluss dieses Abschnitts sei noch auf Ford und Jennings Neuinterpretation der konzeptionellen Reflexion von Lipset und Rokkan hingewiesen. Sie argumentieren, dass abgesehen von den vielen Forschern, die sich auf das Einfrieren und Auftauen von Parteiensystemen konzentrieren, »Cleavage-Strukturen sich organisch verändern können, wobei neue Trennlinien entstehen, während andere verschwinden. Ein Rückgang traditioneller Cleavages muss nicht zwangsläufig zu einer offenen, unstrukturierten Politik führen, sondern könnte stattdessen zu einer Reorganisation des Parteienwettbewerbs um neue strukturelle Cleavages herumführen, da sich neue Cleavages in der Gesellschaft auftun und entweder durch neue Parteien oder durch größere Umschichtungen in der Unterstützung bestehender Parteien mobilisiert und organisiert werden«.227 Es stellt sich jedoch die Frage, ob das angenommene transnationale Cleavage tatsächlich einen permanenten Umbruch in der Struktur des politischen Wettbewerbs widerspiegelt, wie es die Arbeit von Lipset und Rokkan einst tat. In der Tat ist dies ein zentraler Kritikpunkt an den meisten der zuvor vorgestellten postLipset-Rokkan’schen Cleavage-Konzepte: der zeitliche Aspekt ihrer Beobachtungsgrundlage. In der klassischen Cleavage-Theorie basiert die historische Analyse der Parteistruktur in den 1960er Jahren auf der Auswertung einer Zeitspanne von mehr als hundert Jahren. Demgegenüber betrachtet Ronald Inglehart einen Zeitraum von etwa 40 Jahren, Kriesi et al. sowie Bornschier untersuchen eine Spanne von etwa 30 Jahren. Der behandelte Zeitraum für diese Arbeit ist sogar auf 15 Jahre begrenzt. Hinsichtlich der langfristigen Persistenz oder des Rückgangs von Cleavages können die Ergebnisse solcher Analysen auf bestimmte Probleme aufmerksam machen.228 Es reicht nicht aus, nur die Sprache der klassischen Theorie zu übernehmen und die Starrheit des makrosoziologischen Ansatzes von Lipset und Rokkan zu kritisieren. In Bezug auf den Nationalstaat als Behälter für soziale Schichten hat sich viel verändert, und die Zweckmäßigkeit, immer noch von Klasse zu sprechen, sollte in Frage gestellt werden. Die Behauptung eine neuen Cleavage oder einer critical juncture auf der Grundlage dieser relativ kurzen Zeitspannen läuft jedoch Gefahr, die Entstehung

226 Bornschier, S.; Häusermann, S.; Zollinger, D.; Colombo, C. (2021), How »us« and »them« relates to voting behavior – social structure, social identities, and electoral choice, in: Comparative Political Studies, S. 8–9 (Eigene Übersetzung). 227 Jennings, Ford 2020, S. 289 (Eigene Übersetzung). 228 Bartolini, Mair 1990, S. 220.

Der Status der Cleavagetheorie im 21. Jahrhundert

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neuer politischer Parteien und populärer Einstellungen bereits als epochale Zeitenwende zu postulieren.229 Zum Abschluss dieses Abschnitts wurde ein Zusammenhang zwischen den Dispositionen und Anreizen zur Ablehnung bzw. Abgrenzung des europäischen Integrationsprozesses aus der Perspektive individueller Positionen in sich verändernden gesellschaftlichen Verhältnissen und der Massenmobilisierung hergestellt. Es wurde gezeigt, dass die Cleavage-Theorie und ihre Renaissance im 21. Jahrhundert es erlauben, nicht nur den Weg der europäischen Integration, sondern auch den der differenzierten Integration, etwa der Desintegration, zu theoretisieren und zu analysieren. Wir haben ein Verständnis dafür geliefert, was Cleavages ausmacht, wie sie sich kontinuierlich in politische Realitäten umsetzen und warum ihre Konzeptualisierung methodisch anspruchsvoll ist. Daher konzentrieren wir uns nicht ausschließlich auf die Behauptung, dass ein weiteres ausgeprägtes Cleavage entstanden ist, sondern bedenken, dass Lipset und Rokkan selbst einräumen, dass sich Cleavages sich nicht von selbst ergeben, sondern es Überlegungen zu organisatorischen und wahlpolitischen Strategien vonseiten der Akteure und Gruppen gibt.230 Wir argumentieren jedoch, dass die kontextualisierte Cleavage-Theorie ein verlässliches Instrument und damit der Postfunktionalismus eine Erklärungsperspektive für differenzierte Integration in verschiedenen europäischen Hemisphären darstellt. Der Postfunktionalismus stellt eine neue theoretische Strömung dar, die differenzierte Integration und Desintegration erklärt, indem sie die klassische Cleavage-Theorie von Martin Lipset und Stein Rokkan wiederentdeckt und in ihren eigenen Kontext der Europäisierung, z. B. der Entnationalisierung der Politik, stellt. Das postfunktionalistische Paradigma betont im Gegensatz zu seinen Vorgängern das disruptive Potenzial eines Zusammenstoßes zwischen exklusiver Identität und funktionalen Zwängen und projiziert den Aufschwung ablehnender Parteien in Opposition zur europäischen Integration als innenpolitische Reaktion auf die rasche monetäre und vor allem politische Vereinheitlichung.231 Dieser Anstieg der nationalistischen Opposition hemmt die Regierungen unabhängig von den wirtschaftlichen Kosten der Untätigkeit, was zu unzureichenden Antworten auf die Probleme der Zusammenarbeit führt. Unabhängig der Transaktionskosten kann dies weiterhin auch durch die Umsetzung von populären Ideen und dem damit verbundenen Druck auf Politiker und Entscheidungsträger zu verstärkten Differenzierungstendenzen auf europäischer Ebene führen. Das zugrunde liegende Konzept ist in der politischen Psychologie der Massenpolitik verwurzelt und unterscheidet sich von den ra229 Mielke, G. 2001, S. 89. 230 Lispet, Rokkan 1967, S. 26. 231 Hooghe, Marks 2019, S. 1116.

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Differenzierung und Cleavages

tional-ökonomischen Ansätzen des Neo-Funktionalismus und des Liberalen Intergouvernementalismus. Folglich wird in den folgenden Kapiteln der Gedanke der Funktionalität als Hauptantriebskraft für supranationale Entscheidungsprozesse und deren Auswirkungen auf den Integrationsprozess in Frage gestellt.232

232 Radunz, A.; Riedel, R., (2023), Differentiated integration beyond Brexit – revisiting cleavage perspective in times of multiple crises, Oxfordshire: Routledge.

3

Das Jahrhundert der Krisen

3.1

Der Brexit als Krise der differenzierten Integration?

Eine der wichtigsten Kontextvariablen für unsere Analyse ist die Polykrise, die Europa in den letzten Jahrzehnten erlebt hat. Sie wird als permanentes und chronisches Merkmal dargestellt, das den europäischen Integrationsprozess begleitet. Und der Brexit, der einen wichtigen Meilenstein in dieser Analyse darstellt, wird als elementarer Teil einer Reihe von Krisen betrachtet, die nicht nur für das aus der EU austretende Vereinigte Königreich, sondern für die gesamte Union von Bedeutung sind.233 Die von den Historikern des europäischen Integrationsprozesses geteilte Idee besagt, dass sich der Integrationsprozess von einer Krise zur nächsten entwickelt. Er passt sich in einem evolutionären Prozess an die entstehenden kritischen Situationen an, seien es externe Impulse oder interne Blockaden. Schon die Gründerväter der Gemeinschaften waren überzeugt, dass »Europa in Krisen geschmiedet wird«.234 Dennoch sind sich die Beobachter der europäischen Integration uneinig, ob sie mehr ist als die Summe der in den Krisenzeiten getroffenen Entscheidungen. Wir berücksichtigen den kumulativen Charakter der Krisen von der Verfassungskrise der Europäischen Union über die Wirtschafts- und Finanzkrise, die Migrations- und Flüchtlingskrise, den kritischen Punkt des Brexit bis hin zu den aktuellen Krisen, die durch die Pandemie und die damit verbundenen Einschränkungen sowie die Krise der Rechtsstaatlichkeit ausgelöst wurden, die eine Folge der illiberalen Wende ist. In diesem Kapitel werden die kumulativen Krisen, die Europa im 21. Jahrhundert erlitten hat, als wichtiger analytischer Rahmen festgelegt, der für die folgende quantitative Analyse von Bedeutung ist. Jeder 233 Hix, S.; van der Linden, C.; Massie, J.; Pickup, M.; Savoie, J. (2023), Where is the EU-UK relationship heading? A conjoint survey experiment of Brexit trade-offs, in: European Union Politics 24(1), S. 184–205. 234 Monnet 1976.

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Das Jahrhundert der Krisen

Versuch, den potenziellen Krisenimpuls des Brexit für das europäische Integrationsprojekt und insbesondere für die differenzierte Integration zu bewerten, sollte mit der Annahme beginnen, dass das Vereinigte Königreich das erste Land war, das die EU verlassen hat, aber das letzte einer langen Liste von nahen und fernen Nachbarländern, die einen bevorzugten Zugang zum Binnenmarkt der Union beantragt haben.235 Dies bedeutet, dass das Vereinigte Königreich von der Sphäre der internen Differenzierung zur externen Differenzierung übergegangen ist. Im Laufe der Jahre hat die EU ein System von sehr unterschiedlichen Modi differenzierter Integrationsrahmen entwickelt, die der spezifischen Dynamik des europäischen Integrationsprojekts entsprechen. Trotz der Tatsache, dass der Brexit der erste empirische Fall einer differenzierten Desintegration ist, kann man die Brexit-Entscheidung, der Logik der Integration folgend, die von einer Krise zur nächsten führt, als Chance für die Reform der EU interpretieren.236 Der Reformimpuls des Brexit kann die europäische Integration auf verschiedene Weise fördern. Erstens kann er dazu beitragen, die EU zu einem differenzierteren System zu reformieren, das es ermöglicht, Länder aufzunehmen, die sich in unterschiedlichem Tempo und Umfang integrieren wollen. Zweitens kann die EU, nachdem sie den größten Unruhestifter und internen Marodeur, nämlich Großbritannien, »losgeworden« ist, den Weg zu einer »immer engeren Union« beschleunigen. Drittens kann es zu einer differenzierten Integrationskrise kommen, wenn es unmöglich wird, einige policies vom Kern der EU auf die Peripherie der EU zu übertragen.237 Es gibt viele alternative Szenarien sowohl für die EU als auch für das Vereinigte Königreich, aber es muss anerkannt werden, dass die Briten noch nicht die vollen negativen externen Effekte des Ausschlusses vom größten Markt der Welt (nach Kaufkraft) zu spüren bekommen haben. Dies macht die britische Anomalie noch merkwürdiger. Die anderen »zögerlichen« Europäer, wie die Schweiz oder Norwegen, mussten eine Lösung für die mit der wirtschaftlichen Isolation verbundenen Risiken finden und erreichten einen Zustand der »Mitgliedschaft ohne Beitritt« oder der »unvollendeten Integration« im Rahmen des Europäischen Wirtschaftsraums.238 Nach Abwägung der Kosten und Vorteile einer Mitgliedschaft 235 Eisl, A.; Fabry, E. (2020), Is Brexit a Game-Changer for EU External Differentiated Integration? Policy Brief 2020, Jacques Delors Institute. 236 Sikora, A. (2022), Brexit and Europe á géometrie variable: towards the beginning or the end of the differentiated integration within the EU legal order?, in: Research Handbook on Legal Aspects of Brexit (Hrsg. Adam Łazowski and Adam Cygan), Edward Eldgar Publishing, S. 491–506. 237 Markakis, M. (2020), Differentiated Integration and Disintegration in the EU: Brexit, the Eurozone Crisis, and Other Troubles, in: Journal of International Economic Law 23, S. 489– 507. 238 Gstöhl, S. (2002), Scandinavia and Switzerland: small, successful and stubborn towards the EU, in: Journal of European Public Policy 9(4), S. 529–549.

Der Brexit als Krise der differenzierten Integration?

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oder Nichtmitgliedschaft entschieden sie sich für eine Annäherung an den Kern der EU. Der britische Fall ist anders. Der Unterschied lässt sich in der Metapher einer »Heirat und Scheidung« darstellen. Die Schweizer und Norweger zögern und stehen womöglich noch vor der »Hochzeitszeremonie«, während die Briten die »Scheidung« bereits hinter sich haben. Die Atmosphäre in der Familie ist in diesen beiden Situationen unterschiedlich, insbesondere wenn die Scheidung den gesamten »Familienzusammenhalt« zerstört. Nicht zu heiraten ist dagegen etwas ganz anderes als sich scheiden zu lassen. Dies gielt im Vergleich zu Norwegen und zur Schweiz insbesondere für die Beziehungen der Briten zum Rest der EU.239 Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob man aus der Vollmitgliedschaft aussteigt oder ob man sich selektiv an die EU-Politik von außen anhängt, zumal man eine negative Geschichte der Zusammenarbeit hat, denn die Verlierer des Brexits werden nie vergessen.240 Die Zeit vor dem Referendum wurde als ein Spiel gesehen, in dem London noch günstigere Bedingungen innerhalb der EU hätte erreichen können. Die Zeit nach dem verlorenen Referendum ist jedoch die Zeit, in der Großbritannien versuchen wird, den Status einer präferenziellen Nichtmitgliedschaft aufzubauen.241 Ob Brüssel dies zulässt, ist eine fragwürdige Hypothese. Unmittelbar nach dem Referendum war die Verhandlungsatmosphäre eher kalt. Ein erfolgreicher Austritt Großbritanniens aus der EU könnte ein sehr negatives Signal für andere potenzielle Mitgliedsstaaten sein, die einen Austritt aus der EU erwägen. Brüssel hat kein Interesse daran, den Übergang zu einer Nichtmitgliedschaft für London sanft und reibungslos zu gestalten. Dies wäre nicht nur unfair gegenüber den Vollmitgliedern, sondern auch unangenehm für andere Drittländer wie Norwegen, Liechtenstein oder Island. Es ist wichtig, diese Prozesse in einem langfristigen Zeithorizont zu betrachten, da wir so den evolutionären Charakter der Veränderungen und ihren Hintergrund erkennen können. Als das Vereinigte Königreich 1973 beitrat, befanden sich die Europäischen Gemeinschaften noch im Trend der »immer engeren Union«. Nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs kann man die vorherrschende Dynamik als Differenzierung bezeichnen. Die Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs in der EU und seiner vorangegangenen Körperschaften markierte eine Epoche, die sich parallel zu den sich überschneidenden Krisenserien entwickelte. Sie führte auch zu einem Status quo, der als »institutionell polyarchische Architektur konzentrischer Kreise« bezeichnet werden kann.242 Die beobachtete Zunahme der Differenzierung stieß an Grenzen, die das Po239 Malet, G.; Walter, S. (2023), Have your cake and eat it, too? Switzerland and the feasibility of differentiated integration after Brexit, West European Politics. 240 Schimmelfennig 2018, S. 1–31. 241 Jones 2021. 242 Trondal et al. 2022, S. 27., Vgl. Zeitlin, J. (2016), EU experimentalist governance in times of crisis, West European Politics 39(5), S. 1073–94.

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tenzial zur Desintegration in sich tragen. Wie der britische Fall zeigt, waren Ausnahmen von der Eurozone und dem Schengen-Raum bereits recht prominente Beispiele für Differenzierung. Aber die Aushöhlung der Freizügigkeit als einer der vier Freiheiten greift eine der Grundlagen an und stellt die Idee des europäischen Integrationsprojekts selbst in Frage. Wenn man sich offen gegen den Kern des Binnenmarktes wendet, ändert sich die Richtung des Integrationskurses. Die Wirtschaftstheorien der internationalen Integration lehren uns, dass ein gemeinsamer Markt nicht nur aus dem freien Verkehr von Waren und Dienstleistungen besteht. Für seine Schaffung und sein Funktionieren ist es jedoch erforderlich, auch den freien Verkehr der Produktionsfaktoren zu liberalisieren: des Kapitals und der Arbeit. Aus diesem Grund wurden die vier Freiheiten bisher als untrennbare Bestandteile eines Konzepts behandelt. Für die EU bedeutete die Infragestellung der vier Freiheiten einen Kampf um die Integrität des Binnenmarktes. Der Brexit ist zu einem zusätzlichen Anreiz geworden, die Kontrolle der EU über bevorzugte Partner wie z. B. die Schweiz zu verstärken. Der Brexit führte zu einer härteren Haltung der EU in Bezug auf einheitliche Rahmenabkommen mit stärkeren institutionellen Mechanismen zur Gewährleistung gleicher Wettbewerbsbedingungen mit Drittländern, um eine Situation zu vermeiden, in der eine präferenzielle Nichtmitgliedschaft attraktiver ist als die reguläre Mitgliedschaft. Unter diesem Gesichtspunkt könnte der Brexit zu einem ganz anderen Ergebnis führen als dem erwarteten Zerfall Europas. Im Gegenteil – er könnte sogar ein Wendepunkt sein, um die Hebelwirkung des Binnenmarktes zu erhöhen.243 Auf längere Sicht könnte der Brexit das System der differenzierten externen Integration konsolidieren und somit die alte Weisheit »jede Krise macht uns stärker« wieder wahr machen. Darüber hinaus behaupten manche Autoren, dass die EU angesichts vergangener Krisen Widerstandsfähigkeit bewiesen hat. Sie hat sich durch etablierte Institutionen, Regeln, Routinen und Normen auf unterschiedliche Weise angepasst. In diesem Sinne kann Differenzierung für die EU ein mächtiges Werkzeug sein, um sich durch kritische Zeiten zu kämpfen.244 Aus dieser Perspektive kann differenzierete Integration als ein elastisches Instrument betrachtet werden, das flexible Reaktionen auf die entstehenden Herausforderungen ermöglicht. Sie wurde zu einem festen Bestandteil des europäischen Integrationssystems, ähnlich wie die Krisen, die die EU chronisch zu begleiten scheinen. Daher muss der Brexit als untrennbares Element einer Kaskade von sich überschneidenden Krisen betrachtet werden. Jede einzelne nachfolgende Krise veränderte die Regelung des differenzierten Integrationsrahmens, zum Beispiel veränderte die Krise der Eurozone die Beziehungen in243 Eisl, A.; Fabry, E. (2020), Is Brexit a Game Changer for EU External Differentiated Integration?, in: Power Europe Policy Brief, June 2020, Notre Europe – Jacques Delors Institute. 244 Ebd.

Der Brexit als Krise der differenzierten Integration?

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nerhalb des inneren Kerns der EU. Jede potenzielle Vertragsreform wird den Brexit bei der Anpassung des differenzierten Integrationsrahmens berücksichtigen müssen. In diesem Sinne kann der Brexit als eine Krise verstanden werden, die der Debatte über die gewünschte weitere Entwicklung des differenzierten europäischen Integrationssystems und seinen optimalen Endstatus neue Impulse verleiht.245 In Anbetracht der Anti-Brüssel-Rhetorik der Brexit-Kampagne muss auch daran erinnert werden, dass sich dieser Diskurs weitgehend auf die Frage nach einer mehr oder weniger liberalen Haltung gegenüber der europäischen Integration als solcher konzentrierte. Der Brexit-Diskurs war gespickt von Debatten über die Öffnung oder Schließung der nationalen Wirtschaft und des Nationalstaats im Allgemeinen. So waren die wirtschaftlichen Ideen, wie der europäische Binnenmarkt zu organisieren sei, ein wichtiger Teil dieser Diskussion. Paradoxerweise hat das Vereinigte Königreich unmittelbar nach dem Brexit eine Reihe protektionistischer Maßnahmen im Sinne von mehr Regulierung ergriffen, z. B. ein restriktiveres Migrationssystem oder eine großzügigere Verteilung staatlicher Beihilfen. Dies steht im krassen Gegensatz zu dem Versprechen der konservativen Regierungschefs, dass der Austritt aus der EU mehr Deregulierung, Freihandel und eine Liberalisierung der Arbeitsbeziehungen mit sich bringen wird. Darüber hinaus zeigt die Praxis nach dem Brexit, dass die Argumentation des Leave-Lagers, der Brexit würde eine liberale Hyperglobalisierung bringen, nicht stimmt.246 Das Framing »Neoliberale gegen Europa« ist angesichts der Entscheidung der Freihändler, den größten Markt der Welt zu verlassen, logisch problematisch. Nichtsdestotrotz war eine der stärksten treibenden Kräfte hinter dem Brexit die Ideologie des großen, globalen Britanniens, in der die Überregulierung durch Brüssel als Haupthindernis für die Erreichung dieses Ziels dargestellt wurde. Die Reinheit des freien Marktes wurde zum Slogan der neoliberalen Brexiteers. Und diese Tradition hat eine lange Tradition, die bis zu Margareth Thatchers konsequenter Opposition gegen jede europäische Autorität zur Liberalisierung reicht. Von Thatchers Feindseligkeit gegenüber dem europäischen Binnenmarkt, der mehrheitlich in der Einheitlichen Europäischen Akte beschlossen wurde, bis hin zum groß-Britannischen Diskurs der Brexiteers verläuft eine sehr gerade ideelle Linie. Der Thatcher’sche Neoliberalismus lehnte stets die Vorstellung ab, dass eine Autorität auf europäischer Ebene gut für die Märkte sein könnte. Die Realität nach dem Brexit zeigt, dass es nicht die Liberalisierung an sich war, die das Lager der Leaver leitete. Vielmehr war es die Notwendigkeit, Großbritannien 245 Markakis 2020. 246 Siehe: Ferrara, F. M.; Kriesi H. (2022), Crisis pressures and European integration, in: Journal of European Public Policy 29(9), S. 1351–1373.

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von der EU-Behörde zu befreien und so viel Zugang zum Binnenmarkt wie möglich zu behalten. Die Brexit-Krise entstand jedoch nicht in einem Vakuum, sondern folgte auf eine Reihe von Krisen. Im folgenden Abschnitt dieses Kapitels wird das Wesen der zahlreichen Krisen definiert, die das europäische Integrationsprojekt im 21. Jahrhundert herausgefordert haben. Sie dienen hier nicht nur als Kontextvariablen, sondern stellen einige wichtige Erklärungsfaktoren dar, die uns helfen, die Dynamik der differenzierten Integration im heutigen Europa besser zu verstehen.

3.2

Kritische Punkte des europäischen Integrationsprozesses

Der Logik des krisenhaften europäischen Integrationsprozesses folgend, in dem die Krisen als kritische Knotenpunkte und Meilensteine der europäischen Einigung fungieren, ist es wichtig, an Philippe Schmitters Modell der krisenbedingten Entscheidungszyklen zu erinnern. In einem vor vier Jahrzehnten verfassten Artikel hat Philippe Schmitter den Begriff der intrinsischen Krise in ein überarbeitetes Verständnis des von Ernst Haas entwickelten grundlegenden neofunktionalistischen Paradigmas aufgenommen. Schmitters Argument basierte auf der Annahme, dass vertragsgestützte internationale Organisationen, ob regional oder global, besonders anfällig für Entropie sind. Sie würden sich in einer sich selbst abkapselnden »Zone der Gleichgültigkeit« einrichten, die auf ihrer ursprünglichen Aufgabenausstattung und ihren Ressourcen beruht, und einfach die ihnen zugewiesenen begrenzten Aufgaben mit so wenig Auswirkungen wie möglich auf ihre Mitgliedstaaten oder andere internationale Organisationen erfüllen – bis eine Krise sie zwingt, ihre Praktiken zu überarbeiten.247 In Krisenzeiten gibt es alternative Strategien, die von den Akteuren auf nationalstaatlicher oder supranationaler Ebene, in länderübergreifend in Parteien, Interessenverbände oder sozialen Bewegungen verfolgt werden können. Das Ergebnis ihrer Konflikte zwingt die regionale Organisation, wenn die Krise ausreichend ist, aus ihrer besagten entropischen Zone der Gleichgültigkeit heraus. Dies kann entweder den Umfang ihrer Aufgaben oder das Niveau ihrer Autorität erhöhen. Und unter günstigen Bedingungen kann ein Gesamtpaket zustande kommen, das beides erfüllt: Ein Ergebnis, welches wir als spill-over aus der neofunktionalistischen Theoriebildung kennen. Das Argument hat eine zeitliche Struktur und besteht aus Entscheidungszyklen, die durch aufeinanderfolgende Krisen ausgelöst werden. Jedes Mal, wenn EU ihre Zuständigkeiten 247 Schmitter, P. (2012), European disintegration? A way forward, in: Journal of Democracy 23(4), S. 39–48.

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erweitert hat, standen immer komplexere Pakete von Maßnahmen auf dem Spiel, deren interaktive Effekte und emergente Eigenschaften sich als schwieriger vorherzusagen erwiesen.248 Ab Mitte der 1970er Jahren proklamierten die Pessimisten und die politischen Beobachter in regelmäßigen Abständen das Auslaufen und Scheitern des Europäischen Integrationsprojekts. Seit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl ist sie ein diskontinuierlicher und konfliktgetriebener Prozess.249 Von De Gaulles Politik des leeren Stuhls über die Haushaltskonflikte der Thatcher-Ära und den scharfen britischen Widerstand gegen eine politische Union bis hin zur Verfassungskrise. In fast jedem Jahrzehnt der europäischen Integration gab es eine Krise, die die Befürchtung aufkommen ließ, »dass der Integrationsprozess nachhaltig beeinträchtigt oder beschädigt werden könnte«.250 Aus heutiger Sicht steht die EU vor einer Vielzahl alleinstehender Herausforderungen. Unter dem Eindruck der sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Finanzkrise von 2008 ist die Wirtschaftspolitik auch heute noch umstritten. Die Migrationskrise hat mehrere Konflikte zwischen den Mitgliedsländern und der Kommission ausgelöst, wie zum Beispiel die illiberale Herausforderung.251 Nichtsdestotrotz, so Brack und Gürkan, ist die »Abfolge von Krisen, die alle unterschiedlich sind, aber alle das europäische Projekt erschüttern, eine einzigartige Gelegenheit, darüber nachzudenken, was Krisen sind und was sie für die europäische Integration bedeuten«.252 Van Middelaar sieht in der Krise einen »Moment der Wahrheit«, in dem »ein politisches Gremium mehr über sich selbst erfahren kann als in Wochen oder Jahren, in denen die Zeit einfach vergeht«.253 Es geht also nicht nur um Ursachen, sondern auch um Reaktionen und Widerstandsfähigkeit. Krisen werden als zentral für die Gründungsgeschichte des europäischen Projekts und als entscheidender Faktor für das Vorantreiben des Projekts angesehen.254 Dennoch handelt es sich um einen unerwarteten, unmittelbaren Schock, der die politischen Akteure zwingt, sofort eine Reihe neuer Entscheidungen zu treffen. »Diese politische Reaktion ist unverzichtbar, da die Kosten des Nichthandelns in dieser heißesten Phase der Krise hoch sind«.255 248 Schmitter, Lefkofridi, 2016, S. 5–6. 249 Brack, Gürkan 2020, S. 1 (Eigene Übersetzung). 250 Webber, D. (2019), European disintegration?: the politics of crisis in the European Union. Basingstoke: Palgrave, S. 3 (Eigene Übersetzung). 251 Ebd. 252 Brack, Gürkan 2020, S. 1 (Eigene Übersetzung). 253 Van Middelaar, L. (2016), The Return of Politics–The European Union after the crises in the eurozone and Ukraine, in: JCMS: Journal of Common Market Studies 54(3), S. 436 (Eigene Übersetzung). 254 Brack, Gürkan 2020, S. 3. 255 Ebd. (Eigene Übersetzung).

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Eine weitere Facette betrifft die Zeit nach der politischen Reaktion: Die Krise ist meist ein Prozess, »da dieser anormale Zeitpunkt oder die (Nicht-)Reaktion nachfolgende Formen des Regierens oder der ›Handlungsweisen‹ in der EU beeinflusst«. Dementsprechend können Probleme nicht mit bereits bestehenden Regeln, Instrumenten oder Verfahren gelöst werden. Dies führt zu einer »Veränderung der Integrationsdynamik oder der Form des Governance-Systems in der EU. Diese Krisensituation kann wiederum zu einer Desintegration oder zu einer weiteren vertikalen politischen Integration durch die Ausweitung der formalen Kompetenzen der supranationalen Institutionen führen«.256 Im Folgenden wird eine Auswahl von Perioden der europäischen Integration vorgestellt, die in der wissenschaftlichen Literatur durchweg als Krisen bezeichnet werden. Aufgrund des begrenzten Umfangs dieser Arbeit und des methodischen Vorgehens in den folgenden Kapiteln konzentriert sich die ausführliche Darstellung auf die Zeit nach der Jahrtausendwende. Zunächst scheiterte nach der Unterzeichnung des Pariser Vertrages und der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) das Projekt einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft. Es war das erste Ereignis, das Kommentatoren glauben ließ, dass ein supranationales Projekt keine Zukunft hat.257 Der Vorschlag lautete, eine europäische Armee, einschließlich der Deutschen, unter einer einzigen politischen europäischen Autorität gegen eine potenzielle kommunistische Bedrohung aus dem Osten aufzustellen. Der Plan wurde von vielen westlichen Ländern akzeptiert, in Frankreich jedoch heftig debattiert und schließlich 1954 von der Assemblé Nationale abgelehnt.258 Mitte der 1960er Jahre kam es zur Krise des leeren Stuhls, die den Integrationsprozess zurückdrängte und den Intergouvernementalismus in der Gemeinschaftsarbeit wieder stärkte. Auslöser dieses Konflikts zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der französischen Regierung waren die Vorschläge der Kommission aus dem Jahr 1965, die einen direkten Zusammenhang zwischen der Erneuerung der Finanzregelung der gemeinsamen Agrarpolitik, dem Übergang zu einem System von Eigenmitteln aus Agrarabgaben und Zöllen sowie der Stärkung der Befugnisse des Europäischen Parlaments herstellten.259 Als Charles de Gaulle alle namhaften französischen Ver256 Ebd. (Eigene Übersetzung). 257 Brack, Gürkan 2020, S. 6; Parsons, C. (2006), The triumph of community Europe, in: Origins and evolution of the European Union, S. 107–25, Vgl. Genschel, P.; Jachtenfuchs, M. (2018), From market integration to core state powers: the Eurozone crisis, the refugee crisis, and integration theory, in: Journal of Common Market Studies 56(1), S. 178–96. 258 Centre Virtuel de la Connaissance sur l’Europe (2021), Historical events in the European integration process (1945–2014), https://www.cvce.eu/en/recherche/unit-content/-/unit/02 bb76df-d066-4c08-a58a-d4686a3e68ff. 259 Ebd.

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treter aus Brüssel entließ und das Abstimmungsverfahren mit qualifizierter Mehrheit im Rat ablehnte, waren die Wissenschaftler der Ansicht, dass die europäische Integration an ihre Grenzen gestoßen war. Dieses Ereignis gilt als eine der größten Krisen, die die EWG durchgemacht hat. Der Konflikt wurde gelöst, als der so genannte »Luxemburger Kompromiss« den Plan der Kommission, mehr Autonomie von den Mitgliedsstaaten zu erlangen, für gescheitert erklärte. Der Vorrang des Ministerrats wurde bestätigt, allerdings mit dem Vetorecht Frankreichs anstelle der Mehrheitsentscheidung.260 Im folgenden Jahrzehnt kam es zu einer fünf Jahre dauernden Haushaltskrise, als das Vereinigte Königreich über seinen Beitritt zur EWG verhandelte. Neben den Schwierigkeiten, eine gemeinsame Grundlage für die britische Umsetzung der Gemeinsamen Agrarpolitik zu finden, ging es vor allem um den britischen Finanzbeitrag zur Gemeinschaft. Nachdem die sechs ursprünglichen Mitgliedstaaten beschlossen hatten, den Gemeinschaftshaushalt aus eigenen Mitteln zu finanzieren, sah das Vereinigte Königreich die Gefahr, dass seine Rechnung sehr hoch ausfallen würde. Frankreich forderte London auf, bei seinem Beitritt seinen gesamten Beitrag zu zahlen, der ein Fünftel des gesamten Haushalts ausmachte. Aus Angst um ihren fairen Anteil setzten die Briten alles daran, ihren Beitrag zum Gemeinschaftshaushalt zu reduzieren. Eine Zeit lang glaubten Beobachter in Medien und Politik, dass die Krise so schwerwiegend sei, dass sie das Ende der Integration bedeuten würde. Andrew Moravcsik bezeichnete sie als einen Höhepunkt der Stagnation und des Euro-Pessimismus.261 Auf dem Treffen von Fontainebleau wurde der Integrationsprozess wieder in Gang gebracht, indem eine Einigung über die Höhe der dem Vereinigten Königreich zu gewährenden Ausgleichszahlungen und eine Kürzung des Gemeinschaftshaushalts erzielt wurde. Nichtsdestotrotz soll diese Zeit den Weg für eine utilitaristische Haltung gegenüber der EU geebnet haben, »die auch heute noch mehr oder weniger latent in den Debatten über Europa in mehreren Ländern zu finden ist, im britischen Kontext, aber auch in einigen mittel- und osteuropäischen Ländern«.262 Nachdem der Integrationsprozess in den 1980er Jahren mit der Einheitlichen Europäischen Akte weiter beschleunigt wurde, brachte das folgende Jahrzehnt zwei Krisen mit sich. Zunächst war da die schwierige Umsetzung des Europäischen Währungssystems, die auf nationalen Widerstand stieß und Zweifel an der Zweckmäßigkeit und Lebensfähigkeit einer gemeinsamen Währung aufkommen ließ. Sie wurde durch unterschiedliche Wirtschaftspolitiken und Bedingungen auf nationaler Ebene gebremst. Regelmäßige Anpassungen führten dazu, dass 260 Ebd. 261 Moravcsik, A. (1993), Negotiating the Single European Act: national interests and conventional statecraft in the European Community, in: International organization 45(1), S. 19–56. 262 Brack, Gürkan 2020, S. 6 (Eigene Übersetzung).

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der Wert der starken Währungen stieg und der der schwächeren sank. So wurden die Zinssätze geändert, um die Währungen innerhalb einer bestimmten Bandbreite zu halten.263 Der Ausstieg Dänemarks aus der Europäischen Währungsunion war jedoch eine der ersten großen Folgen dieser Situation. Eichengreen untersucht die Hauptgründe für die Krise.264 Erstens war die Wirtschaftspolitik in der Vergangenheit nicht ausreichend harmonisiert: Das Vereinigte Königreich, Italien und Spanien haben ihre Inflationsraten nicht auf das Niveau der anderen Mitglieder gesenkt, was zu Wettbewerbsungleichgewichten führte. Dadurch wurde der Spekulationsdruck freigesetzt, und auch die Harmonisierung der künftigen Politik war unzureichend. Obwohl die Deutsche Bundesbank den Leitzins senkte, waren die schwächeren Länder des Systems, insbesondere das Vereinigte Königreich und Italien, von umfangreichen Kapitalabflüssen betroffen. Das Vereinigte Königreich beschloss, aus der Wechselkursvereinbarung auszusteigen, und nur zwei Tage später setzte Italien die Interventionen zur Verteidigung der Lira aus, da dies das Land den Abbau von Währungsreserven im Wert von 29 Milliarden Lira gekostet hätte.265 Im August 1993 beschlossen die Mitgliedsstaaten, die noch dem EWS angehörten, die zulässige Schwankungsbreite des Wechselkurses von 2,25 auf 15 Prozent zu erweitern, wobei die zentralen Paritäten unverändert blieben.266 Außerdem war die schwierige Ratifizierung des Maastrichter Vertrags »ein entscheidender Wendepunkt in der europäischen Integration. Die Umwandlung der Gemeinschaft in eine Union und die Verlagerung dessen, was oft als staatliche Kernkompetenzen wahrgenommen wird, auf die supranationale Ebene löste sowohl in der Bevölkerung als auch bei den Eliten Widerstand aus«.267 Dies ist auf das gescheiterte erste Referendum in Dänemark und das sehr knappe Ergebnis in Frankreich zurückzuführen. In der Tat ist die Frage der europäischen Integration in die Arena der Volksabstimmung und der Massenmobilisierung mit einem Rückschlag eingetreten. Der dichte und komplexe Vertrag von Maastricht war für den Laien nur schwer zu verstehen, und die breite Öffentlichkeit war noch eher mit den Argumenten der Souveränität einverstanden.268

263 Ebd. 264 Eichengreen, B. (2000), The EMS Crisis in Retrospect, in: National Bureau of Economic Research (8035). 265 Pittaluga, G. (2016), The European Monetary System, in: The History of the European Monetary Union, S. 89–106. 266 Ebd. 267 Brack, Gürkan 2020, S. 6 (Eigene Übersetzung). 268 Gerbet, P. (2016), Hard won ratification, https://www.cvce.eu/obj/hard_won_ratification-en -a6cda0c1-d0cb-489e-8bed-e31a522724e5.html, Vgl. Ioannou, D.; Leblond, P.; Niemann, A. (2015), European integration and the crisis: practice and theory, in: Journal of European Public Policy 22(2), S. 155–176.

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Zwölf Jahre später sah sich die Europäische Union mit einer anderen Krise konfrontiert, die ähnliche Muster aufwies, aber stärkere Auswirkungen hatte: die Verfassungskrise, die vier Jahre lang andauerte. Mit dem Vertrag über eine Verfassung für Europa sollte eine gemeinsame konsolidierte Verfassung für die Europäische Union geschaffen und alle bestehenden EU-Verträge durch einen einzigen Text ersetzt werden. Letzteres hätte die Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit auf Politikbereiche ausgedehnt, die zuvor einstimmig von allen EUMitgliedern beschlossen worden waren. Außerdem war geplant, der Charta der Grundrechte Rechtscharakter zu verleihen. Alle Vertreter der 25 Mitgliedstaaten unterzeichneten den Vertrag im Jahr 2004 zunächst mit der Absicht, ihn später entweder durch ein Referendum oder eine Abstimmung im Parlament zu ratifizieren.269 Die Referenden führten jedoch zu einer Ablehnung des Verfassungsdokuments durch die niederländische und französische Bevölkerung, was den gesamten Ratifizierungsprozess in eine Sackgasse brachte. »Die EU stürzte in eine neue Periode der Düsternis und des Pessimismus, was einige zu der Behauptung veranlasste, dies sei eine der tiefsten Krisen des europäischen Projekts«.270 Was folgte, war eine selbst auferlegte »Periode der Reflexion, Klärung und Diskussion« mit dem Ziel, »der EU die Möglichkeit zu geben, verfassungsrechtliche Schwierigkeiten zu lösen, die Bürgerinnen und Bürger der Mitgliedstaaten einzubeziehen und eine demokratischere und umfassendere Überprüfung der neuen Bestimmungen und Konzepte des Vertrags vorzunehmen«.271 Die folgenden Jahre werden von Frank Schimmelfennig als »Jahrzehnt der Krise« beschrieben.272 Die US-Finanzkrise 2008 löste weltweit Kettenreaktionen aus. Das Vertrauen der Anleger brach ein, als Finanzinstitute zusammenbrachen und Immobilienspekulationsblasen platzten. Die Kosten für die Kreditaufnahme stiegen durch die Forderung nach höheren Zinssätzen seitens der Banken. Die globale Krise ist eng mit den Ursachen der Krise in der Eurozone bzw. der Staatsschuldenkrise in der Eurozone verknüpft. Letztere war eine Kettenreaktion aufgrund des eng verflochtenen europäischen Finanzsystems. Die Mitglieder der Eurozone verfolgten eine gemeinsame Geldpolitik. Sie betrieben jedoch eine autonome Finanzpolitik, die es ihnen ermöglichte, übermäßig viel Geld auszugeben und beträchtliche Summen an Staatsschulden anzuhäufen.273 Die Anhäufung von Schulden war auf die makroökonomischen Unterschiede zwischen den Mit269 Ebd. 270 Ebd., S. 6 (Eigene Übersetzung). 271 Niemann, A.; Schröder, S.; Tunick, M. (2008), Recovering from the constitutional failure, S. 8 (Eigene Übersetzung). 272 Schimmelfennig 2018. 273 Corporate Finance Institute (2021), European Sovereign Debt Crisis, https://corporatefi nanceinstitute.com/resources/knowledge/credit/european-sovereign-debt-crisis/.

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gliedstaaten der Eurozone vor der Einführung der Euro-Währung zurückzuführen. Die EZB »konnte nur eine einzige Geldpolitik für die Eurozone umsetzen, und sie wählte eine, die versuchte, einen Mittelweg zwischen den Bedürfnissen der nördlichen und südlichen Mitgliedstaaten der Eurozone zu finden. Dies bedeutete vor allem, dass die Zinssätze in den Peripherieländern im Vergleich zur nationalen Inflation sehr niedrig waren«. Dies wiederum veranlasste die Mitglieder der nördlichen Eurozone dazu, dem Süden Kredite zu gewähren, während letztere aufgrund der niedrigen Zinssätze einen Anreiz hatten, Kredite aufzunehmen. Das Ergebnis war ein massiver Kapitalfluss von den nordwestlichen Überschussländern zu den Defizitländern in der südlichen Peripherie. Diese Kapitalströme verstärkten die makroökonomischen Unterschiede innerhalb der Union. Ein schuldenfinanzierter Konsumboom in den Ländern der Peripherie führte zu einem Anstieg der Löhne und Preise, was die Divergenz zwischen den Regionen noch verstärkte. Einige Volkswirtschaften wie Griechenland stützten sich stark auf Schulden und kämpften daher mit dem Staatsbankrott, als der Wert ihrer bestehenden Schulden mit steigenden Zinsen zunahm.274 Im Zusammenhang mit der globalen Krise führten diese Bedingungen zu einem erheblichen Versagen des Finanzsystems der EU. In Zeiten finanzieller Schwierigkeiten greifen Länder häufig auf eine Abwertung ihrer Währung zurück, um ihre Exporte durch niedrigere Wechselkurse anzukurbeln. Dadurch erhöht sich der Wert bestehender Staatsschulden, wenn diese von Ländern mit anderen Währungen aufgenommen werden, wie es bei Griechenland oder Portugal der Fall ist. Die EU konnte nicht auf klassische Mittel wie die Abwertung des Euro zurückgreifen, da dies zu einer massiven Ausweitung der Staatsschulden geführt hätte. Infolgedessen wurde das Überleben der gemeinsamen Währung und der Eurozone zwischen 2010 und 2015 öffentlich in Frage gestellt.275 Die Panik auf den Finanzmärkten nahm ihren Lauf, als EZB-Präsident Mario Draghi bekanntlich erklärte, »alles zu tun, was nötig ist«, um den Euro zu retten.276 Finanzielle Unterstützungsmaßnahmen wie der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) wurden 2010 eingeführt, und die EZB selbst trug zur Senkung der Zinssätze in der Eurozone bei, indem sie den europäischen Banken billige Kredite gewährte, um den Geldfluss aufrechtzuerhalten. Die Länder, die Rettungsmaßnahmen beantragten, mussten sich an strenge Sparmaßnahmen halten, zu denen die Kürzung der Ausgaben des öffentlichen Sektors gehörte, wie die Finanzierung öffentlicher Güter, Löhne und höhere Einkommenssteuern. Folglich führten die begrenzten Staatsausgaben zu einer eingeschränkten Lenkung und einem begrenzten Beitrag zum Wachstum der 274 Ebd. 275 Brack, Gürkan 2020, S. 6. 276 Schimmelfennig 2018.

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Volkswirtschaft.277 Die Staatsschuldenkrise führte zum Verlust von Arbeitsplätzen, zum Schrumpfen des BIP und damit zu sozialen Folgen wie hohen Arbeitslosenquoten, zunehmender sozialer Ungleichheit und mehr Menschen, die von Armut bedroht sind. Sicherlich gab es schon lange vor der europäischen Staatsschuldenkrise Spuren eines Nord-Süd-Gefälles in der Eurozone in Bezug auf wirtschaftliche Fundamentaldaten wie Arbeitslosigkeit, Kaufkraft, ProKopf-Einkommen oder Pro-Kopf-BIP. Weil die Eurokrise die Spaltung zwischen Nord und Süd, aber auch zwischen den verschiedenen Regionen innerhalb dieser beiden Pole selbst tiefgreifend verschärft hat wird das Potenzial der EU, wirtschaftliche und soziale Konvergenz zu erreichen, zunehmend in Frage gestellt.278 Anders verhält es sich mit der Ukraine-Krise, die Sicherheitsbedenken in die Nähe des eigenen Landes brachte und die Europäische Union unerwartet dazu veranlasste, in einem frühen Stadium der Krise eine führende Rolle zu übernehmen. Die Aussetzung der ukrainischen Vorbereitungen für ein Assoziierungsabkommen mit der EU löste Massenproteste aus, insbesondere auf dem Maidan-Platz in Kiew. Nachdem Präsident Janukowitsch zurückgetreten war und das Land verlassen hatte, breiteten sich die Unruhen in den russischsprachigen östlichen Teilen des Landes aus. Diese Bewegung, die vom russischen Militär unterstützt wurde, entwickelte sich zu einem Aufstand und einem anschließenden Krieg in den Oblasts Luhansk und Donezk. Die autonome ukrainische Halbinsel Krim wurde von Russland annektiert, nachdem ein Referendum mit Mängeln an Transparenz durchgeführt worden war.279 Diese erste Ukrainekrise brachte Sicherheitsbedenken in die Nähe des eigenen Landes, was etwas unerwartet dazu führte, dass die Europäische Union in einem frühen Stadium der Krise eine führende Rolle übernahm. Angesichts früherer langfristiger Divergenzen zwischen den Mitgliedstaaten und ihrer unilateralen Politik gegenüber Russland bezweifelten viele, dass die EU in der Lage gewesen wäre, sinnvolle Maßnahmen als Reaktion auf die russischen Aggressionen zu ergreifen.280 Vertrauen wurde zu einer wichtigen Frage unter den EU-Mitgliedern, da die gegenseitigen Abhängigkeiten in den Bereichen Energie, Handel und Finanzen einige davon abgehalten hätten, sich auf Sanktionen zu einigen. Die Mitgliedstaaten verließen sich darauf, dass Frankreich und Deutschland eine

277 Corporate Finance Institute 2021. 278 Rappold, J. (2014), https://eu.boell.org/en/2014/02/11/are-austerity-measures-leading-nort h-south-divide. 279 Natorski, M.; Pomorska, M. (2016), Special Issue Trust and Decision-making in Times of Crisis: The EU’s Response to the Events in Ukraine, in: Journal of Common Market Studies 55, S. 54–70. 280 Ebd., S.1 (Eigene Übersetzung).

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führende Rolle bei einer Einigung zwischen der Ukraine und Russland übernehmen und die Interessen der EU im Allgemeinen berücksichtigen würden.281 Die Sicherheit und Stabilität Europas wird durch eine weitere Krise in Frage gestellt. Wenn man bedenkt, dass die Ursprünge des europäischen Integrationsprojekts in den 1950er Jahren auf dem Trauma des Zweiten Weltkriegs beruhten, wird die russische Aggression gegen die Ukraine spätestens seit 2022 zu einem Moment der Wahrheit auch für das vereinte Europa. Krisen wie diese erinnern daran, dass die Einigung Europas als Sicherheitsprojekt begann, und erneut stehen Sicherheitsüberlegungen im Mittelpunkt der europäischen Agenda. Nach der Invasion wurden in mehreren Studien die direkten und indirekten Auswirkungen des Konflikts und der begleitenden Sanktionen auf verschiedene Dimensionen des sozioökonomischen Lebens untersucht. Das Bild ist immer noch unklar. Kurzfristig wird erwartet, dass der russisch-ukrainische Krieg zu einem geringeren Wirtschaftswachstum in Europa führen wird. Nach der allmählichen wirtschaftlichen Erholung von den pandemischen Einschränkungen hatte sich bereits ein Inflationsdruck aufgebaut, und der Krieg – mit seinen Auswirkungen auf die Lebensmittel- und Energiepreise – hat die Inflation weltweit beschleunigt. Die Aktienmärkte hingegen reagierten relativ milde auf den Krieg in der Ukraine. Eine vergleichende Analyse der Reaktion auf die jüngste Covid-19-Pandemie und nicht auf die weltweite Finanzkrise zeigt, dass die Rohstoff- und Aktienmärkte mit einigen Ausnahmen, Weizen und Nickel, in beiden Fällen sind Russland und die Ukraine bedeutende Exporteure, sehr bescheiden reagiert haben.282 Die langfristigen Folgen des Krieges in der Ukraine werden von seiner Dauer, seinem Ausmaß und den Reaktionen Dritter abhängen und müssen noch abgeschätzt werden. Wie Carl von Clausewitz bereits vor fast zwei Jahrhunderten feststellte, ist der Krieg von Unsicherheit geprägt. Daran hat sich nichts geändert, es ist für Beobachter wirklich schwierig geworden, eine fundierte Analyse zu erstellen, insbesondere solange der Konflikt noch andauert.283 Der Kampf findet nicht nur auf dem Gebiet des Krieges und der Militärstrategie statt, sondern auch zwischen Weltanschauungen und Zukunftsvisionen. Der Krieg in der Ukraine kann auch als ein weiteres Kapitel im Kampf zwischen

281 Ebd., S. 3–4. 282 Izzeldi, M.; Muradogolu, Y.; Pappa, V.; Petropoulou, A; Sivaprasad, S. (2023), The impact of the Russian-Ukrainian war on global financial markets, International Review of Financial Analysis 87. 283 Dijkstr, H.; Cavelty, M. Dunn, J.; Reykers, Y. (2022), War in Ukraine, Contemporary Security Policy 43(3), S. 464.

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dem Westen und dem Osten betrachtet werden.284 Er zeigt die Grenzen des Demokratisierungs- und Verwestlichungsprojekts der EU sowie die fragile Architektur der Sicherheits- und Wohlstandsstrukturen in Europa auf. Die UkraineKrise deutet an, dass die Ausbreitung von Risiken und Unsicherheiten weiter voranschreitet, begleitet von einem mangelnden Konsens über die Zukunft Europas, einschließlich der Grenzen des vereinten Europas und seiner internen Organisation.285 Wir erkennen daher die Bedeutung dieser Krise für das europäische Integrationsprojekt zweifelsfrei an, einschließlich der Wahrnehmung einer äußeren Bedrohung, des Flüchtlingsdrucks und der Spannungen zwischen den EU-Mitgliedstaaten über die angemessene Reaktion auf diese Krise. Ebenso möchten wir hervorheben, dass sich die dadurch aufgetretenen Überwerfungen im linkssowie rechtspopulistischen ideologischen Parteienspektrum zwischen West- und Zentralosteuropa bezüglich der Relativierung oder Verurteilung des russischen Angriffskrieges sich als einschneidend herausstellen könnte. Dennoch wird darauf im Nachfolgenden nicht weiter empirisch eingegangen, da die Entwicklungen in der Ukraine, als auch in den europäischen Parteiensystemen noch zu frisch sind, um in unserer Analyse systematisch empirisch erfasst werden zu können. Die neuesten Daten, auf die sich die statistische Analyse stützt, wurden im Dezember 2022 aktualisiert und beziehen sich auf die Erhebungen der Jahre 2020–2021, so dass sie die Krisen im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine nicht abdecken. Die Krimkrise, war noch nicht abgeklungen, als sich im Sommer 2015 die Flüchtlings- oder Schengen-Krise abzeichnete, als die Migration aus den Kriegsgebieten im Nahen Osten und aus Nordafrika in das Gebiet der Europäischen Union rapide zunahm und direkt in die Schengen-Krise mündete. Ein Großteil der Flüchtlinge überquerte das Ägäische Meer von der Türkei nach Griechenland und anschließend über den Balkan, um in den Westen zu gelangen. Im September 2015 schloss die ungarische Regierung den Zugverkehr ab Budapest, der hauptsächlich von Flüchtlingen für die Reise nach Österreich und Deutschland genutzt wurde. In der Budapester Innenstadt bildete sich eine Menge gestrandeter Flüchtlinge. Tausende machten sich zu Fuß auf den Weg zur österreichischen Grenze, wobei sie von den ungarischen Behörden durchgeleitet wurden. In der Folge nahmen Österreich und Deutschland alle auf dem Balkan gestrandeten Migranten auf, um Asyl zu beantragen, was dazu führte, dass innerhalb weniger Wochen schätzungsweise eine halbe Million Menschen nach 284 Brzezinski, Z. (1997), The grand chessboard. New York: Basic Books.; Mearsheimer, J. (2001), The tragedy of great power politics. W.W. Norton & Company; Mearsheimer J. (2022), The Causes and Consequences of the Ukraine Crisis – speech given at the European Union Institute (EUI) in Florence on June 16. 2022. 285 Eriksen 2019, S. 219.

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Deutschland kamen. Kurz nach der Entscheidung, Asylbewerber aus Ungarn aufzunehmen, war die deutsche Bürokratie mit dem Zustrom von Menschen überfordert, so dass das Land Grenzkontrollen einrichtete. Ein Dominoeffekt trat ein, als die Mitgliedsstaaten im Südosten, die Slowakei, Österreich, Ungarn und Kroatien ihre Grenzen schlossen und re-militarisierten.286 Die Europäische Kommission ermahnte sie, nicht gegen EU-Recht wie die Dublin-Verordnung zu verstoßen. Diese legt fest, welcher EU-Mitgliedstaat für den Abschluss eines Asylverfahrens für Personen zuständig ist, die internationalen Schutz gemäß der Genfer Konvention suchen. Ihr wichtigstes Prinzip ist es, zu verhindern, dass Asylsuchende in mehreren Mitgliedsstaaten einen Antrag stellen und so »migrants in orbit« zu vermeiden.287 Standardmäßig ist der erste Mitgliedstaat, den der Antragsteller betritt, für die Bearbeitung des Asylantrags zuständig. Infolgedessen entwickelte sich die Flüchtlingskrise zu einer vollwertigen Krise des Schengen-Raums, in der die Mitgliedstaaten »nicht in der Lage oder nicht willens waren, gemeinsame Lösungen für diese Migrationsherausforderung zu entwickeln. Stattdessen griffen sie zu einseitigen Maßnahmen wie der vorübergehenden Schließung der Binnengrenzen, die das Überleben des SchengenRaums gefährdeten«.288 Dies mündete schließlich in ein weiteres Ereignis: das Referendum über die EU-Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs im Jahr 2016. Euroskeptische Tendenzen waren von Anfang an Teil der britischen Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft oder EU. Rund 52 % stimmten für den Austritt, die Premierministerin trat zurück, und eine neue britische Regierung begann mit dem Brexit-Prozess. Wie in der Einleitung erwähnt, stimmte die Bevölkerung Großbritanniens unter anderem über die Unabhängigkeit von europäischen Handelsnormen ab, vor allem aber auch gegen weitere potenzielle Migrationsströme aus Frankreich, Deutschland oder mittelosteuropäischen Ländern.289 Aufgrund der Blockade im britischen Parlament und der Unfähigkeit des Vereinigten Königreichs und der EU, sich über die weitere Fortsetzung ihrer Beziehungen zu einigen, wurde der Artikel 50-Prozess dreimal verlängert.290 Dennoch war das Vereinigte Königreich im Januar 2020 das erste Land, das nach 47 Jahren Mitgliedschaft offiziell aus der Europäischen Union austrat.

286 Hooghe, Marks 2019, S. 1122. 287 European Parliament Research Service (2019), migration and asylum, https://www.europ arl.europa.eu/thinktank/infographics/migration/public/index.html?page=asylum, S. 2. 288 Brack, Gürkan 2020, S. 8 (Eigene Übersetzung). 289 Zappettini 2019. 290 Europäisches Parlament (2020), Article 50 TEU in practice, https://www.europarl.europa.e u/cmsdata/227556/EPRS_IDA(2020)659349_EN.pdf.

Kritische Punkte des europäischen Integrationsprozesses

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Die EU würde sich nicht auflösen, nur weil sich ein Mitglied für den Austritt entscheidet. Die Glaubwürdigkeit der Union, Länder in Europa zu vereinen, was ihr ursprünglicher Zweck war, wird jedoch in Frage gestellt.291 Der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn wies deshalb darauf hin, dass die EU wieder erklären müsse, »warum wir die Europäische Union nach dem Zweiten Weltkrieg brauchten und warum wir die Europäische Union für dieses Jahrhundert brauchen«.292 Langfristig »schwächt der Brexit die Anziehungskraft der EU erheblich und setzt den Kontinent damit der Gefahr aus, in historische Muster nationaler Spaltungen und Divergenzen zurückzufallen«.293 Derzeit ist die EU gleichzeitig mit einer weiteren, sogenannten illiberal challenge durch mehrere Regierungen konfrontiert, die hauptsächlich in Mittel- und Osteuropa angesiedelt sind und die europäischen Werte und damit die liberale Demokratie herausfordern. Diese Anfechtung der EU-Werte wird oft als nationaler Souveränitätswiderstand gegenüber supranationalen Akteuren wie der Europäischen Kommission interpretiert. Die vier Länder der Visegrád-Gruppe widersetzten sich offen dem EU-Recht, auf das man sich gemeinsam geeinigt hatte, insbesondere dem Flüchtlingsumverteilungsprogramm. Die EU-Akteure forderten die Einhaltung, während die nationalen Politiker argumentierten, dass sie ihre Wähler verteidigen müssten. Sie ergänzten ihre Opposition mit einer scharfen Anti-EU-Rhetorik.294 So wurde aus der Opposition gegen bestimmte EU-Politiken eine allgemeine EU-Kritik. Die betreffenden Länder, allen voran Polen und Ungarn, in geringerem Maße auch Tschechien und die Slowakei, haben nicht nur ständig »die Legitimität der EU und der Kommission angezweifelt, tätig zu werden, wenn Regierungen auf nationaler Ebene Gesetzesänderungen beschließen, die die liberale Verfassungsordnung und die Unabhängigkeit ihrer Justiz belasten, sondern in letzter Zeit auch die Pflicht der supranationalen Institutionen in Frage gestellt, die gemeinsamen Werte zu schützen, auf denen die EU beruht«.295 Infolge dieser illiberalen Tendenzen gelten die ehemaligen Flaggschiffe der Demokratisierung und Integration im postsowjetischen Europa heute als Paradebeispiele für demokratisches backsliding. In der Folge untergraben gewählte

291 Luo, C. (2017), Brexit and its implications for European integration, in: European Review 25 (4), S. 520. 292 Rettman, A. (2016), EU wonders how to win back people’s trust, https://euobserver.com /eu-presidency/134483 (Eigene Übersetzung); Luo 2017, S. 520. 293 Luo 2017, S. 520 (Eigene Übersetzung). 294 Lorenz, A.; Anders, L. (2021), Illiberal trends and anti-EU politics in East Central Europe, Basingstoke: Springer Nature. 295 Brack et al. 2020, S. 56 (Eigene Übersetzung).

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Das Jahrhundert der Krisen

Mehrheiten Minderheitenrechte, die Justiz, die freie Tätigkeit von NGOs sowie unabhängige Medien.296 Schließlich traf die Covid-19-Pandemie im Frühjahr 2020 alle Mitgliedstaaten, was wiederum zu einseitigen Maßnahmen wie der vollständigen Schließung der Grenzen und der anfänglichen Weigerung oder Koordinationsunfähigkeit führte, Ländern zu helfen, die medizinische Hilfsgüter benötigten, wie etwa Italien. Am auffälligsten war die langsame Reaktion der anderen EU-Länder auf die Aufforderung Italiens, das Katastrophenschutzverfahren der Europäischen Union für die Bereitstellung von persönlicher medizinischer Schutzausrüstung zu aktivieren. Obwohl das Zentrum für die Koordinierung der Notfallmaßnahmen inzwischen aktiv ist, war das anfängliche Schweigen der EU-Mitgliedstaaten ein schockierendes Signal. Nach mehreren Wochen der Selbsterhaltungsmaßnahmen teilten besser gestellte EU-Länder wie Deutschland nun zunehmend medizinische Vorräte und nahmen einige kritische Patienten von überforderten Nachbarn auf.297 Die Covid-19-Pandemie hatte neben ihrer offensichtlichen medizinischen Dimension auch gesellschaftspolitische und wirtschaftliche Auswirkungen. Sie hat die Beziehungen zwischen den Staaten, den supranationalen Behörden und den Gesellschaften stark belastet. Viele Regierungen führten Notmaßnahmen ein, die mit beispiellosen Einschränkungen der Bürger und ihrer Bürgerrechte einhergingen.298 Einige Regime rechtfertigten diese Einschränkungen mit dem Kampf gegen das Virus und nutzten die Gelegenheit, um ihre undemokratischen Praktiken auszubauen. Unter anderem führte die Covid-19-Pandemie zum Aufstieg der Autokratie in einigen mittelosteuropäischen Staaten.299 Vor dem Hintergrund des bereits bestehenden Illiberalismus und der Übernahme des Staates durch autoritär-polulistische Politiker beobachteten wir einen pandemischen Rückfall mit einer zunehmenden Ausweitung der Exekutive. Einige Länder, wie Ungarn, entwickelten sich in den Jahren der Pandemie von einer

296 Hooghe, Marks 2019, S. 1125–1128. Vgl. Jabko N.; Luhman M. (2019), Reconfiguring sovereignty: crisis, politicization, and European integration, in: Journal of European Public Policy 26(7), S. 1037–1055. 297 Deen, B.; Kruijver, K. (2020), Corona: EU’s existential crisis. Why the lack of solidarity threatens not only the Union’s health and economy, but also its security, https://www.clin gendael.org/publication/corona-eus-existential-crisis. 298 Fike, I.; Pudar, D.; Vujo, I., G. (2023), The pandemic in illiberal democracies: challenges and opportunities for social movements in Serbia, Southeast European and Black Sea Studies. 299 Guasti P. (2020), The Impact of the COVID-19 Pandemic in Central and Eastern Europe. The Rise of Autocracy and Democratic Resilience, Democratic Theory, Volume 7, Issue 2, Winter 2020: S. 47–60; Guasti P.; Bi´lek J. (2022), The demand side of vaccine politics and pandemic illiberalism, East European Politics 38(4), S. 594–616.

Kritische Punkte des europäischen Integrationsprozesses

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illiberalen Demokratie zu einer Autokratie.300 Einige andere Länder haben wichtige Aspekte ihrer Bürgerrechte zurückgeschraubt, was erheblich zu ihrer liberal-demokratischen Erosion beigetragen hat. Die Pandemie übte zusätzlichen Druck auf die Regierungen und die Demokratie aus, und die Auswirkungen dieses Drucks werden uns noch lange begleiten.301 Die Reaktionen auf die Covid-19-Krise werden aus der Perspektive der Zeit bewertet – einige werden als Überreaktionen andere als Unterreaktionen betrachtet, wie zum Beispiel in China und Schweden. Wir konnten beobachten, dass Demokratien, wie die USA schlecht und Autokratien, wie die Philippinen relativ gut in der Pandemiebekämpfung abschnitten. Die Entscheidung zwischen wirtschaftlichen und gesundheitlichen Erwägungen wurde in hohem Maße politisiert, ebenso wie die nachträgliche Überprüfung der ergriffenen Maßnahmen. Bestimmte illiberale Regime nutzten diese Krise als Vorwand, um den autokratischen Charakter ihrer Systeme zu stärken.302 In einigen anderen hat der übermäßige Gebrauch von Notstandsbefugnissen die Bedenken geweckt, dass Covid die Demokratie selbst infiziert. Es ist eine weithin anerkannte Tatsache, dass Demokratien unter normalen Umständen einen komparativen Vorteil bei der Bereitstellung von öffentlichen Gütern haben, die die Gesundheitsergebnisse verbessern.303 Die ersten Erkenntnisse aus der Pandemie zeigen jedoch keine Korrelation zwischen Demokratie und Covid-19-bedingten Todesfällen. Hinzu kommt, dass im Laufe der Zeit und der Entwicklung der Covid-19-Pandemie viele Demokratien zu denselben Maßnahmen griffen wie Autokratien, was die Wechselwirkungen zwischen der Demokratie und ihren Standards auf der einen Seite und der Pandemie und ihren Ergebnissen auf der anderen Seite noch interessanter macht.304 Auch wenn die Pandemiebeschränkungen in Europa im Jahr 2022 endeten, ist die Krise in dem Sinne noch nicht vorbei, dass ihre sozioökonomischen, finanziellen und politischen Auswirkungen in der gesamten EU anhalten. Die Konjunkturpakete führten in ganz Europa zu einer hohen Inflation, die in einigen Ländern 20 % pro Jahr überstieg. Die durch den Staatsinterventionismus verursachten Ungleichgewichte führten zu Marktstörungen in verschiedenen Sektoren. Einige Wirtschaftszweige, z. B. der Tourismus, haben sich nach langen 300 Halmai, G. (2022), The Pandemic and Constitutionalism, Jus Cogens 2022(4), S. 306. 301 Guasti, P.; Bi´lek, J. (2022); Guasti, P.; Bustikova, L. (2022) Pandemic power grab, East European Politics 38(4), S. 529–550. 302 Halmai 2022, S. 303. 303 Wang, Y.; Mechkova, V.; Andersson, F. (2019), Does Democracy Enhance Health? New Empirical Evidence 1900–2012. Political Research Quarterly 72(3), S. 554–569. 304 Maerz, S.; Luehrman, A.; Lachapell, J.; Edgell, A. (2020), Worth the sacrifice? Illiberal and authoritarian practices during Covid-19, Working Paper series 2020 (110), The Varieties of Democracy Institute.

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Das Jahrhundert der Krisen

Schließungen noch nicht erholt. In politischer Hinsicht sind die Krise und ihre Auswirkungen noch nicht überwunden.305 Die krisenbedingte Unzufriedenheit schlägt sich in einem weit verbreiteten Populismus nieder, der in vielen europäischen Ländern zunimmt. Dies wirkt sich auch auf die Haltung gegenüber der EU aus, da sich ein großer Teil dieser Unzufriedenheit gegen Brüssel richtet und sich in einem wachsenden Euroskeptizismus äußert.

3.3

Der kumulative Charakter europäischer Krisen

Derzeit stehen in Europa so viele Krisen wie nie zuvor auf der Tagesordnung, die mit neuen Konflikten, Dilemmata und Polarisierungen einhergehen. Es gab eine Staatsschuldenkrise, eine Währungskrise, eine soziale Krise, die allesamt zu Legitimationsproblemen geführt haben. Nicht nur die Finanz- und Wirtschaftskrise, sondern auch die Migrations- und Flüchtlingskrise haben zu ernsthaften Spannungen zwischen den EU-Ländern geführt. Die Flüchtlingskrise, die vor allem externer Schock war, hat zudem eine breite Kontroverse mit Ländern ausgelöst, die dabei sind, einen backslide in den Illiberalismus zu vollziehen.306 Jede Krise ist ein Schock, der uns wachrüttelt und uns mit der Instabilität konfrontiert, die durch externe oder hausgemachte Impulse verursacht wird. Abgesehen von den zuvor beschriebenen Krisen wie der Finanzkrise oder dem Brexit wurde Europa in den letzten Jahren von einer Reihe neuer Krisen heimgesucht, die klare Auswirkungen auf die Mitgliedstaaten und das Integrationsprojekt als solches hatten. In Folge der Eurozonenkrise, der Migrationskrise und den aufkommenden, widerstrebenden Tendenzen in Zentralosteuropa spricht Jean-Claude Juncker von der Polykrise, mit der die EU konfrontiert sei.307 Es stellt sich die Frage, ob sie sich von früheren Krisen der europäischen Integration unterscheidet und ob wir eine Reihe von »üblichen« Krisen beobachten, eine Art quasi permanente Krise, in die sich in den skizzierten europäische Integrationsprozess einfügt. Oder ist es diesmal anders, und die Polykrise, die Europa in den letzten Jahren erlebt hat, eine noch nie dagewesene Kumulation sich überschneidender krisenhafter Entwicklungen, die eine für Europa gefährliche kritische Masse an Herausfor305 Sikora 2022. 306 Eriksen (2019). Vgl. Fiket I.; Pudar D. G.; Ilic´ V. (2023), The pandemic in illiberal democracies: challenges and opportunities for social movements in Serbia, Southeast European and Black Sea Studies. 307 European Commission (2016), Speech by President Jean-Claude Juncker at the Annual General Meeting of the Hellenic Federation of Enterprises (SEV), https://ec.europa.eu/com mission/presscorner/detail/en/SPEECH_16_2293.

Der kumulative Charakter europäischer Krisen

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derungen bilden. Brack und Gürkan schreiben dem Zeitraum ab der Finanzkrise einige besondere Merkmale zu. Dementsprechend scheint der Pessimismus unter den Wissenschaftlern gerechtfertigt zu sein: Erstens wegen ihrer Multidimensionalität, d. h. »einer Krise, die mehrere Bereiche der europäischen Integration berührt. Während sich frühere Krisen mit einem Aspekt wie Verteidigung oder Haushaltsfragen befassten, betrifft die aktuelle Krise zahlreiche Politikbereiche, von der Migration über den Handel bis hin zur wirtschaftlichen Governance«.308 Zweitens geht es nicht mehr um Randthemen, da alle in den letzten zehn Jahren entstandenen Subkrisen Schlüsselelemente der europäischen Integration berührten, nämlich die Freizügigkeit von der Schengen-Krise und dem Brexit, die gemeinsame Währung von der Eurozonen-Krise, die Identität, die gemeinsamen zentralen Werte durch den Brexit und die illiberal challenge.309 Ein drittes charakteristisches Merkmal dieser Multi-Krisen-Periode ist ihr komplexer Charakter und damit ihre Langlebigkeit. Die Bestimmung, wann eine Krise begonnen hat und wann sie endet, ist von Natur aus eine subjektive Angelegenheit. Seit 2008 hat die EU jedenfalls eine Krise nach der anderen erlebt und selbst wenn die größte Bedrohung vorüber zu sein scheint, sind die Folgen stets noch lange spürbar.310 Schließlich verweisen Brack und Gürkan auf die contagion als ein besonderes Element: »Aufgrund ihrer Dauer und ihrer Art war es für die Entscheidungsträger sehr schwierig, diese Krisen einzudämmen, bevor sie sich auf andere Bereiche der Integration auswirken«.311 So führte die exogene Migrationskrise zu einer endogenen Schengen-Krise. Im Gegenzug erleichterte dies den populistischen Diskurs und trug zum Anstieg der illiberalen Rhetorik in den EU-Mitgliedstaaten bei.312 Nach Jean-Claude Juncker hat die Europäische Union die schlimmste Wirtschafts-, Finanz- und Sozialkrise seit dem Zweiten Weltkrieg hinter sich. Und sie hat immer noch mit den Folgen zu kämpfen. »Unsere verschiedenen Herausforderungen – von den Sicherheitsbedrohungen in unserer Nachbarschaft und zu Hause über die Flüchtlingskrise bis hin zum britischen Referendum – sind nicht nur gleichzeitig eingetroffen. Sie nähren sich auch gegenseitig und schaffen ein Gefühl des Zweifels und der Unsicherheit in den Köpfen unserer Menschen«.313 308 309 310 311 312 313

Brack, Gürkan 2020, S. 8 (Eigene Übersetzung). Ebd. Ebd. Brack, Gürkan 2020, S. 9 (Eigene Übersetzung). Ebd. Europäische Kommission (2016), Speech by President Jean-Claude Juncker at the Annual General Meeting of the Hellenic Federation of Enterprises (SEV), https://ec.europa.eu/com mission/presscorner/detail/en/SPEECH_16_2293 (Eigene Übersetzung).

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Das Jahrhundert der Krisen

Die dargestellten kritischen Ereignisse erwecken den Eindruck, dass sie vielschichtig sind. Sie haben oft unterschiedliche Erscheinungsformen und betreffen verschiedene Bereiche, in letzter Zeit sogar gleichzeitig. So erleben wir in den jüngsten Entwicklungen des europäischen Integrationsprojekts nicht nur eine Polykrise, die als eine Mischung aus einer Abfolge von Eurokrise, Migrationskrise, Brexit-Referendum, Coronavirus-Pandemie und demokratischem Rückfall in Mitteleuropa verstanden wird.314 Es handelt sich um eine Abfolge, die kumulativ ist und eine kritische Masse erreicht, die existenzielle Bedrohungen für die Zukunft des europäischen Projekts schafft. Es gibt verschiedene Szenarien, auf die sich die Europäische Union in Zukunft zubewegen könnte. Die Europäische Kommission hat in ihrem Weißbuch zur Zukunft Europas fünf Szenarien vorgestellt, wie sich die Europäische Union in Zukunft bis 2025 entwickeln könnte.315 Szenario 3 entspricht am ehesten der differenzierten Integration, bei der sich die Koalition der Willigen, d. h. verschiedene Untergruppen der EU-Mitgliedstaaten, auf bestimmte Politikbereiche einigen würden.316 Der Vorteil eines solchen Szenarios beruht auf der Annahme, dass die Differenzierung zu einem Nettogewinn für die europäische Integration als Ganzes führt. Die Beziehung zwischen den Krisen und der differenzierten Integration bleibt jedoch unklar. Die krisenbedingte Politisierung hat die Auseinandersetzungen und Spannungen zwischen den Mitgliedstaaten und den Bürgern verschärft und könnte die Mitgliedschaft weiter auseinandertreiben und damit die Differenzierung verstärken.317 Die Polykrise hat das begrenzte Potenzial der differenzierten Integration für die weitere Reform und Entwicklung der EU offenbart. Die Krisen haben gezeigt, dass es notwendig ist, die grundlegenden Prinzipien und Werte der EU zu bewahren und die Regulierung durch eine umverteilende Integration zu ergänzen. In diesen Fällen würde eine differenzierte Integration die Integration eher untergraben als fördern. Bei den Reformen nach der Krise besteht die Wahl zwischen einheitlicher Integration – wie beim Konjunkturfonds, der Verteidigung der Integrität des Binnenmarktes und der Rechtsstaatskonditionalität für EU-Fonds – und Stagnation, nicht zwischen Differenzierung.318

314 Riddervold, M.; Trondal, J.; Newsome, A. (2021), The Palgrave Handbook of EU Crisis. Houndmills: Palgrave Macmillan. Siehe: Jones, E.; Kelemen R.D.; Meunier, S. (2016), Failing forward? The Euro crisis and the incomplete nature of European integration, Comparative Political Studies 49(7), S. 1010–34. 315 Europäische Kommission (2017), Weißbuch zur Zukunft Europas, https://commission.euro pa.eu/publications/white-paper-future-europe_de. 316 Ebd. 317 Schimmelfennig 2022. 318 Ebd., S. 2.

Der kumulative Charakter europäischer Krisen

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Krisen dienen als Stresstest für die europäische Integration. Sie prägen auch die Meinungen und Präferenzen der Europäer. Die jüngsten Krisen haben die Politisierung von EU-Angelegenheiten sowohl in der nationalen als auch in der supranationalen Politik gefördert.319 Die politische Anfechtung lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die traditionellen politikwissenschaftlichen Theorien. Es ist die klassische Cleavage-Theorie, die besagt, dass soziopolitische Spaltungen als Ergebnis von Krisen, wie Revolutionen, entstehen. Darüber hinaus wurde diese für die Erforschung von Cleavages innerhalb der als Nationalstaaten verstandenen Gemeinwesen entwickelt. Die EU ist, im Gegensatz zu vielen euroskeptischen Stimmen, weit von einem nationalstaatlichen Format entfernt. Bestenfalls kann sie als ein quasi-föderales System beschrieben werden, dem viele Elemente eines traditionellen politischen Systems fehlen, die wir von der nationalstaatlichen Ebene kennen, z. B. das institutionalisierte Parteiensystem. Wie jedoch von einigen Wissenschaftlern behauptet wird, haben die Krisen einige föderalisierende Effekte, wie das Beispiel der Einführung des Next Generation Fund zeigt.320 Polykrisen regen die Entwicklung des europäischen Integrationsprojekts an, und seine zunehmend föderalistische Struktur ermöglicht die Anwendung politikwissenschaftlicher Theoriewerkzeuge bei der Untersuchung der wachsenden Konfliktstruktur, die mit europäischer Integration einhergeht. Van der Brug et al. heben drei Entwicklungen hervor: Zunächst, die Einführung des Euro, dann die zunehmende Bedeutung der Einwanderung und anschließend das demokratische backsliding in einigen Mitgliedstaaten, die die Anfechtung des status quo der europäischen Integration maßgeblich vorangetrieben haben.321 Diese Krisen haben das Potenzial, die EU-Mitgliedstaaten und ihre Gesellschaften gegeneinander aufzubringen. Sie alle tragen zur potenziellen Unzufriedenheit und Spaltung der europäischen Länder und Gesellschaften bei. Einige Krisen, wie die Krise in der Eurozone, haben Nord-Süd-Trennlinien geschaffen, die auf Konflikten über die Verteilung der wirtschaftlichen Lasten beruhen, während andere Konflikte, wie die Meinungsverschiedenheiten über die Qualität der Demokratie, die Rechtsstaatlichkeit und die Minderheitenrechte, einige West-Ost-Trennlinien hervorgebracht haben. Die Migration scheint das »universellste« aller Themen zu sein, welches sowohl innerhalb als auch außerhalb der EU politische Aus319 de Vries, C. (2022), Analysing how crises shape mass and elite preferences and behaviour in the European Union, in: European Union Politics (1), S. 161–168. Siehe: Jones, E.; Kelemen, R.D.; Meunier, S. (2016), Failing forward? The Euro crisis and the incomplete nature of European integration, Comparative Political Studies 49(7), S. 1010–34. 320 Fabbrini, F. (2021), Brexit and the Future of European Integration. EU3D Research Paper No. 17. 321 Van der Brug, W.; Gatterman, K.; de Vreese, C. (2022), Electoral responses to the increased contestation over European integration. The European elections of 2019 and beyond, in: European Union Politics.

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Das Jahrhundert der Krisen

einandersetzungen auslöst.322 Diese Entwicklungen haben einige Spuren in der öffentlichen Meinung hinterlassen und prägen die Präferenzen und Positionen gegenüber der europäischen Integration.323 Die krisenhafte Entwicklung des europäischen Integrationsprozesses schränkt einerseits seine Entwicklung ein, andererseits eröffnet sie auch einige Möglichkeiten, da es sich nicht um ein planmäßiges Wachstum handelt, sondern vielmehr um ein Wachstum, das durch Chancen und Notwendigkeiten bestimmt wird.324 Die EU ist nicht nur der Zusammenschluss der Mitgliedsstaaten, sondern auch ihrer Bürger, die auf die Krisen und ihre Folgen reagieren. Dies spiegelt sich auch in der postfunktionalistischen Theorie wider, in der die krisenbedingten Spannungen als Quelle politischer Anfechtung und als fruchtbarer Boden für die Politisierung dienen. Dasselbe gilt für die Cleavagetheorie, in der die critical junctures eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung der soziopolitischen Spaltung spielen. So wie die großen Revolutionen der Vergangenheit, die nationale und die industrielle Revolution die sozialen Strukturen für die Entwicklung der Parteiensysteme im 19. und 20. Jahrhundert definierten, haben die vielfältigen Krisen des 21. ein ebenso nicht unerhebliches Restrukturierungspotenzial für die heutigen politischen Systeme.

3.4

Der anthropogene Charakter von europäischer Integration

Der Supranationalismus der EU zeigt sich insbesondere darin, dass ihre Organe Rechtsverordnungen erlassen können, die für jeden Bürger gelten. In ihren Kerneigenschaften als supranationale Organisation hat die Union damit in einigen Bereichen die Hoheitsrechte des Nationalstaates übernommen und tritt als Gesetzgeber auf.325 Darüber hinaus ist die Kommission für die Überwachung der korrekten und pünktlichen Anwendung des EU-Rechts zuständig. Diese Rolle hat der Kommission den Namen »Hüterin der Verträge« eingebracht. Die Kommission »wird Maßnahmen ergreifen, wenn ein EU-Land eine Richtlinie nicht fristgerecht in nationales Recht umsetzt oder EU-Recht nicht korrekt anwendet. Wenn die nationalen Behörden die EU-Gesetze nicht umsetzen, kann die

322 Ebd. 323 Siehe: Jacoby, W. (2014), The politics of the Eurozone crisis: two puzzles behind the German consensus, German Politics and Society 32(2), S. 70–85. 324 Schimmelfennig, F. (2022), Differentiated integration has been of limited use in the EU’s polycrisis, Policy Briefs, 2022/31, Integrating Diversity in the European Union (InDivEU), http://hdl.handle.net/1814/74520. 325 Europäische Kommission (2020), Applying EU law, https://ec.europa.eu/info/law/law-ma king-process/applying-eu-law_en.

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Kommission ein förmliches Vertragsverletzungsverfahren gegen das betreffende Land einleiten«.326 Die EU ermöglicht ihren Bürgern, sei es in Form von Arbeitskräften oder Touristen, ihrem Kapital, ihren Waren und Dienstleistungen, die Grenzen jederzeit frei zu überschreiten. Dank der Abschaffung der Grenzkontrollen zwischen den EU-Ländern können die Menschen in den meisten Teilen des Kontinents frei reisen. Und es ist viel einfacher geworden, im europäischen Ausland zu leben, zu arbeiten und zu reisen. »Alle EU-Bürger haben das Recht und die Freiheit zu wählen, in welchem EU-Land sie studieren, arbeiten oder ihren Ruhestand verbringen wollen. Jedes EU-Land muss die EU-Bürger in Bezug auf Beschäftigung, Sozialversicherung und Steuern genauso behandeln wie seine eigenen Bürger«.327 Daher überwachen die supranationalen Institutionen ständig die wirtschaftlichen, politischen und rechtlichen Aktivitäten ihrer Mitgliedsstaaten. Heute haben die meisten EU-Mitglieder und einige assoziierte Nachbarländer die Grenzkontrollen abgeschafft, eine gemeinsame Währung eingeführt und interne Handels- oder Investitionsbarrieren beseitigt. Dennoch ist ein Gefälle bei den Lohnkosten und dem Einkommensniveau zwischen den höher und den weniger entwickelten Ländern innerhalb der Wirtschaftsunion zu beobachten. Diese Disparität ist im Laufe der letzten Jahrzehnte relativ stabil geblieben.328 Hinzu kommt, dass sich die technologischen Möglichkeiten zur Verlagerung von Produktionsstätten und Dienstleistungen vor allem im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts verändert haben. Einschlägige Beispiele sind die Kostensenkung beim Transport von Waren und Personen sowie die Entwicklung von Informationssystemen und Datenübertragungsmöglichkeiten. Die Nutzungsmöglichkeiten dieses Lohngefälles werden also durch die technologischen Bedingungen der Massenproduktion neu konstituiert.329 Es entstehen Anreize zur Verlagerung von Kapital über nationalstaatliche Grenzen hinweg sowie zur grenzüberschreitenden Migration, während die Eingriffsmöglichkeiten der nationalen Finanzbe-

326 Ebd., (Eigene Übersetzung). 327 Ebd., S. 7 (Eigene Übersetzung). 328 Institut der deutschen Wirtschaft Köln (2016), Industrielle Arbeitskosten im internationalen Vergleich, https://www.iwkoeln.de/fileadmin/publikationen/2016/296545/IW-Trend s_2016-03-03_industrielle_Arbeitskosten.pdf. 329 Heitmeyer, W. (2001), Autoritärer Kapitalismus, Demokratieentleerung und Rechtspopulismus. Eine Analyse von Entwicklungstendenzen, in: Heitmeyer, W.; Loch, D.: Schattenseiten der Globalisierung, Berlin: Suhrkamp, 497–533. Siehe: Lefkofridi Z.; Schmitter P. (2015), Transcending or Descending? European Integration in Times of Crisis, European Political Science Review (2015), 7(1), S. 3–22.

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Das Jahrhundert der Krisen

hörden schwinden. Dörre spricht plakativ von einem schwer kalkulierbaren »Bedrohungspotential« auf der Seite des Kapitals.330 Brock argumentiert, dass diese Entwicklungen auf eine Umkehrung des Abhängigkeitsverhältnisses zwischen internationaler Wirtschaft und Nationalstaat hinweisen.331 Während sich Wirtschaftskrisen schnell grenzüberschreitend ausbreiten können, entzieht sich flexibles Kapital einer demokratisch legitimierten nationalen Steuerpolitik. Im Falle einer Steuererhöhung kann Kapital beispielsweise in Sekundenschnelle über die Grenzen der EU-Staaten hinweg in ein Land mit einer liberaleren Steuergesetzgebung transferiert werden.332 Es sind nicht mehr nur Unternehmen, die miteinander konkurrieren, sondern auch Staaten, die durch steuerpolitische Liberalisierung Anreize für langfristige Auslandsinvestitionen schaffen.333 Dies kann erhebliche soziale Auswirkungen haben. Zürn konstatiert einen Rückgang oder eine Stagnation der sozialstaatlichen Ausgaben in den westlichen Industriegesellschaften trotz stetigen Wirtschaftswachstums.334 Die Macht der profitorientierten multinationalen Konzerne geht mit dem traditionellen Machtmonopol der nationalen Regierungen einher. Nach Strange stellt diese Situation ein fragwürdiges Verständnis von Souveränität aus einer klassischen demokratietheoretischen Perspektive dar.335 Wenn es um die Steuerung der Wirtschaft geht, sind die nationalen Banken und Regierungen insofern eingeschränkt, als sie die Preis- und Geldmengenpolitik nicht autonom nach eigenem Gutdünken ausüben können. Eine Änderung der Geldpolitik eines Landes ist für neu gewählte Regierungen und parlamentarische Mehrheiten nicht möglich, es sei denn, sie entscheiden sich im Vorfeld, bzw. langfristig für eine gewisse Differenzierung oder ziehen sich – wenn möglich – aus der Politik zurück. Der politische und akademische Diskurs über die europäische Integration ist geprägt von der Frage nach der Existenz und dem Ausmaß eines so genannten »Demokratiedefizits« innerhalb der EU. Sowohl die nationalen Parlamente als auch das Europäische Parlament werden in einigen Politikbereichen als zu 330 Dörre, K. (1997), Globalisierung – eine strategische Option. Internationalisierung von Unternehmen und industrielle Beziehungen in der Bundesrepublik, in: Industrielle Beziehungen 4(4), S. 265–290. 331 Brock, D. (1997), Economy and the State in the Era of Globalization. From National Economies Towards a Global World Economy, in: Politeconom. Deutsch-russische Zeitschrift zu Theorie und Praxis der Wirtschaftspolitik (3), S. 27–34. 332 Li, Q.; Reuveny, R. (2003), Economic Globalization and Democracy: An Empirical Analysis, in: British Journal of Political Science 33(1), S. 29–54. 333 Zürn, M.; Leibfried, S. (2005), Reconfiguring the National Constellation, In: Leibfried, Stephan; in Zürn, M. (Hrsg.): Transformations of the State?, Cambridge:University Press, S. 150. 334 Ebd., S. 128. 335 Strange, S. (1996), The retreat of the state: The diffusion of power in the world economy, Cambridge: University Press.

Der anthropogene Charakter von europäischer Integration

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schwach wahrgenommen, während die Europäische Kommission mit ihrem Gesetzgebungsmonopol eine starke Position einnimmt. Durch die Übertragung bestimmter Politikbereiche auf Exekutivagenturen wird das politische Handeln zudem noch weiter vom Europäischen Parlament entfernt. Darüber hinaus ist die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments nicht proportional zur Bevölkerungszahl der Mitgliedstaaten und widerspricht dem Grundsatz der Stimmengleichheit. So vertritt beispielsweise ein Mitglied des EP 859.000 EU-Bürger in Deutschland oder Frankreich, während ein anderes 83.000 in Luxemburg und 67.000 in Malta vertritt.336 Auf lokaler Ebene fördert die europäische Integration den kulturellen Austausch durch Migration und Tourismus. Viele ehemals homogene Gesellschaften haben sich in multikulturelle Gemeinschaften verwandelt, in denen Menschen mit unterschiedlichem kulturellem Hintergrund und unterschiedlicher ethnischer Herkunft zusammenleben und arbeiten.337 Ideen, Konstruktionen und Semantiken dringen in die scheinbar geschlossene symbolische Welt einer Gesellschaft ein und lösen dort ihre eigenen Reaktionen aus.338 Die Entwicklung von multikulturellen Gesellschaften verläuft nicht ohne Probleme und Widerstände. Soziokulturelle Faktoren verändern sich folglich nicht einfach durch die Integration. Sie können sowohl Ursache als auch Herausforderung für den Integrationsprozess selbst sein.339 Das hohe Maß an Zuwanderung in nordwesteuropäische Länder fördert möglicherweise die Wahrnehmung eines Wettbewerbs um knappe wirtschaftliche und (sozio)kulturelle Ressourcen unter der einheimischen Bevölkerung. Ethnisch vielfältige Bevölkerungsgruppen werden zum Symbol einer potenziellen Bedrohung für den Lebensstil und die kollektive Identität der einheimischen Bevölkerung.340 Es ist jedoch wichtig, darauf hinzuweisen, dass die letztgenannten Beschreibungen, mit Ausnahme des Demokratiedefizits und des enormen Grades der wirtschaftlichen und politischen Integration in die Union, auch für die Determinanten und Folgen der Globalisierung gelten341. Seit Mitte der 1990er Jahre gibt es eine umfangreiche Literatur, die sich mit dem Phänomen der Globali336 Fondation Robert Schuman (2019), Meps, https://elections-europeennes.robert-schuman.e u/en/meps/; Siehe: Niemann, A.; Speyer, J. (2018), A neofunctionalist perspective on the »European refugee crisis«: the case of the European border and coast guard, in: Journal of Common Market Studies 56(1), S. 23–43. 337 Dreher, A.; Gaston, N.; Martens, P. (2008), Measuring Globalisation. Gauging Its Consequences, New York: Springer. 338 Brock 2008, S. 15. 339 Dreher et al. 2008, S. 11–12. 340 Kriesi et al. 2008, S. 6. 341 Siehe: Kreuder-Sonnen, C. (2016), Beyond integration theory: the (anti-)constitutional dimension of European crisis governance, in: Journal of Common Market Studies 54(6), S. 1350–66.

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Das Jahrhundert der Krisen

sierung und ihren Auswirkungen auf die wirtschaftlichen, politischen oder soziokulturellen Wertesysteme der Nationalstaaten sowie auf die individuelle Ebene beschäftigt. Gegenstand des Interesses der Wissenschaftler waren internationale Organisationen wie der Internationale Währungsfonds, die Vereinten Nationen oder die Welthandelsorganisation. Einige der Autoren und ihre Konzepte, die in den folgenden Teilen dieser Arbeit erwähnt werden, befassen sich nicht ausschließlich mit der EU-Integration, sondern nehmen eine Perspektive der Entstaatlichung ein, wie zum Beispiel Kriesi et al. und Bornschier. Einige argumentieren, dass die europäische Integration eine Entfaltung der Globalisierung in Europa sein könnte. Alternativ dazu könnte die Globalisierung eine weitere europäische Integration als Abwehrreaktion ausgelöst haben, um ihre unerwünschten, »ungebremsten« Auswirkungen zu verhindern. Daher könnte die EU-Mitgliedschaft in einer globalisierten Welt als ein Gewinn an »MultiLevel-Governance« für Nationalstaaten in einer globalisierten Welt betrachtet werden.342 Darüber hinaus werden diese beiden Prozesse nicht synonym interpretiert. Doch ob Globalisierung, bilaterale Abkommen oder europäische Integration – das 21. Jahrhundert hat uns gelehrt, dass nationale Gemeinschaften, indem sie ihr Votum zum Ausdruck bringen, oder politische Führer, indem sie die nationale Souveränität als Entscheidungsträger beanspruchen, in der Lage sind, einige dieser Prozesse und Rechtsbeziehungen zumindest teilweise umzukehren. Europäische Integration ist von Natur aus anthropogen und wurde von Beginn an von diversen Akteuren herbeigeführt und gesteuert. Es handelt sich also nicht um ein unumkehrbares Phänomen. Theoretisch können einige der politischen Entscheidungen, die zur Delegation von Macht geführt, wieder rückgängig gemacht werden, und zwar durch die Beibehaltung von Opt-outElementen, eine Änderung des Mitgliedsstatus (Brexit-Referendum), einen (in)offiziellen Politikwechsel (Schengen-Krise) oder einen Paradigmenwechsel (Aufstieg und Regieren von EU-feindlichen, nationalistischen Parteien). Daher lohnt es sich, einen tieferen Blick in den diversifizierenden Werkzeugkasten der Integration zu werfen: die Elemente der differenzierten Integration.343

342 Zürn, M. (2015), Globalisierung und Global Governance, http://www.bpb.de/izpb/204663/ globalisierung-und-global-governance?p=all. 343 Siehe: Schimmelfennig, F. (2018), European integration (theory) in times of crisis. A comparison of the Euro and Schengen crises, in: Journal of European Public Policy 25(7), S. 969– 89; Radunz, Riedel 2023; Schmitter P. (2012), European disintegration? A way forward, in: Journal of Democracy 23(4), 39–48.

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Angebot und Nachfrage nach differenzierter europäischer Integration

4.1

Einstellungen zu differenzierter europäischer Integration aus analytischer Perspektive

Das System der differenzierten europäischen Integration entwickelte sich organisch als pragmatische Antwort auf die Blockaden, Risiken und Turbulenzen, die den europäischen Integrationsprozess herausfordern. Die Differenzierung ist zu einer Möglichkeit geworden, ein dynamisches System in Zeiten kumulativer Krisen zusammenzuhalten. Der Umgang mit dem System kommt jedoch nicht ohne Kosten und Konsequenzen aus. Der mögliche unterschiedliche Status von EU-Mitgliedschaft (interne Differenzierung) und der Nicht-Mitgliedschaft (externe Differenzierung) wirken sich auf Identitäten, Machtstrukturen sowie die Integrität und Lebensfähigkeit der EU aus. Dennoch wissen wir erstaunlich wenig über die öffentliche Meinung über differenzierte Integration und deren spezifischen Dimensionen und Determinanten. Eine Analyse der öffentlichen Meinung zu jedem einzelnen Aspekt der differenzierten Integration erscheint schwierig. Das Projekt »Comparative Opinions on Differentiated Integration« hat beispielsweise einen Datensatz hervorgebracht, der eine Reihe von Aspekten und einen großen Teil, wenn auch nicht alle, der europäischen Bevölkerung abdeckt. Die methodische Herausforderung im Zusammenhang mit der Untersuchung der Unterstützung oder Ablehnung einer differenzierten Integration hängt mit dem konzeptionellen Rätsel derer selbst zusammen. Während Differenzierung von den Wissenschaftlern der europäischen Integration selbst auf viele verschiedene Arten verstanden wird, ist es noch schwieriger, sie in der öffentlichen Meinung zu erfassen. Die europäische Öffentlichkeit kann sie je nach Politikbereich unterschiedlich verstehen, ebenso wie auf einer allgemeinen Ebene, wenn sie mit ähnlichen, aber dennoch unterschiedlichen Konzepten konfrontiert wird, wie z. B. Europe á la carte oder Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten. Darüber hinaus werden diese verschiedenen Konzepte im politischen Diskurs in

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Angebot und Nachfrage nach differenzierter europäischer Integration

Form von Schlagwörtern wie »Europa der Vaterländer« oder »Europäische Föderation« verwendet, was nicht zu mehr Klarheit führt. In der Wissenschaft werden sie oft mit der Unterstützung für eine tiefere oder flachere Integration in Verbindung gebracht, während sie je nach Kontext ganz unterschiedliche Auffassungen offenbaren können. Viele kämpfen gegen den Supranationalismus und entscheiden sich für mehr Differenzierung im Namen der Freiheit und der demokratischen Selbstverwaltung. Die Folgen dessen, was scheinbar der Souveränität und Unabhängigkeit zugutekommt, können jedoch in Wirklichkeit zum Gegenteil führen.344 Differenzierung ist nicht nur ein unschuldiges Instrument für den Umgang mit Konflikten und Spannungen, die sich aus der wachsenden Heterogenität ergeben. Flexibilität und Differenzierung können die Autonomie der partizipierenden Staaten und die Selbstbestimmung der Bürgerinnen und Bürger bis zu einem gewissen Grad und bei kluger Anwendung stärken. Jenseits der roten Linie beginnt die Desintegration, und der britische Fall zeigt sehr anschaulich die Grenzen einer differenzierten Integration und dessen Folgen, vor allem für die britische Bevölkerung. Bei der Untersuchung der verschiedenen Arten von Unterstützung für diverse Arten der differenzierten Integration zeigen Wissenschaftler verschiedene Dimensionen und Faktoren auf, die mit dieser Unterstützung zusammenhängen.345 Da die differenzierte Integration eine entscheidende Rolle in der Entwicklung der EU spielt, bedeutet dies, dass die Bürger der Mitgliedsstaaten an ihr oder zumindest an einigen ausgewählten Aspekten interessiert sind. Verschiedene Analysen zeigen wesentliche Unterschiede in der Unterstützung der differenzierten Integration auf. Julian Schuessler, Max Heermann, Lisanne de Blok und Catherine De Vries untersuchen zum Beispiel zwei Dimensionen, die die Bewertung der differenzierten Integration durch die Bürger zu strukturieren scheinen. Die erste bezieht sich auf die Auswirkungen der differenzierten Integration auf das europäische Integrationsprojekt, die zweite auf die Wahrung der nationalen Autonomie. Ihre Untersuchung zeigt, dass die Pro-EU-Bürger integrationsorientierte Formen der differenzierten Integration positiver bewerten, aber skeptischer sind, wenn es darum geht, sie zur Wahrung der nationalen Autonomie einzusetzen. Daher sind einige Beurteilungen zwangsläufig mit allgemeineren Fragen zur europäischen Integration verbunden. Abhängig von ihrer spezifischen Form kann die differenzierte Integration entweder als Motor oder als Hindernis für eine stärkere europäische Integration wahrgenommen wer344 Eriksen (2018), siehe: Lasiewicz, E. (2015), The crisis and its effect on disparities in the European Union, Annales Universiattis Mariae Curie-Skłodowska Lublin – Polonia Sectio K, Vol XXII, 1, S. 91–101. 345 Schuessler, J.; Heermann, M.; de Blok, L.; De Vries, C. E. (2022), Mapping public support for the varieties of differentiated integration, European Union Politics, S. 1–20.

Einstellungen zu differenzierter europäischer Integration aus analytischer Perspektive 107

den.346 Aus diesem Grund besteht in der Wissenschaft kein Konsens darüber, welche Fragen bei der Erhebung verschiedener Aspekte der Einstellung zur differenzierten Integration verwendet werden sollen. Wir versuchen auch, der Falle zu entgehen, die Einstellungen ausschließlich anhand von Fragen zu messen, die sich auf eine Dimension des Systems konzentrieren, z. B. das Europa der zwei Geschwindigkeiten, welches für differenzierte Integration in hohem Maße unrepräsentativ ist. Stattdessen ziehen wir es vor, uns auf eine eher horizontale Frage zu konzentrieren, die die Präferenzen der Europäer gegenüber der Idee einer weitergehenden und tiefer gehenden Einigung misst. Einige Wissenschaftler setzen die Unterstützung für die Integration mit der Unterstützung für eine differenzierte Integration gleich, was alles andere als selbstverständlich ist. Einerseits kann Differenzierung als eine Bedrohung für die Einheit des Integrationsprojekts angesehen werden, da sie die Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten zementiert.347 So gesehen sollten die EU-Befürworter gegen differenzierte Integration sein. Andererseits kann sie als notwendige Maßnahme zur Überwindung des Stillstands in einer heterogenen EU angesehen werden; in einer solchen Perspektive ermöglicht sie zumindest einer Untergruppe von Mitgliedstaaten, als Vorreiter zu agieren, mit der Möglichkeit, dass andere Staaten im Laufe der Zeit folgen.348 Für integrationswillige Bürger kann die Teilintegration als zweitbeste Option betrachtet werden, die einer vollständigen Stagnation des Integrationsprozesses vorzuziehen ist.349 Unter Berücksichtigung aller oben genannten Bedenken operationalisieren wir in dieser Studie die Unterstützung für eine vertiefte und verstärkte Integration unter den EU-Bürgern, indem wir uns auf die Frage aus dem European Social Survey (ESS) beziehen, die folgendermaßen formuliert ist: »Wenn wir jetzt über die Europäische Union nachdenken, sagen einige, dass die europäische Einigung noch weiter gehen sollte. Andere sagen, sie sei bereits zu weit fortgeschritten. Welche Zahl auf der Skala beschreibt Ihre Position am besten?« Wir glauben, dass diese Frage geeignet ist, die Einstellung der europäischen Bürger zur differenzierten Integration zu diagnostizieren, indem sie sie in den Kontext der europäischen Integration im Allgemeinen stellt. Sie ermöglicht es den Befragten, ihre Meinung über die Notwendigkeit, die Integration zu verstärken (»mehr Europa«) gegenüber der Notwendigkeit, sie zu stoppen (»weniger Europa«) oder sogar zu verringern, darzustellen. Gleichzeitig suggeriert es den

346 Ebd. 347 Siehe: Umin´ski, S. (2017), The Pros and Cons of Integration VS. Disintegration Scenarios for Europe, in: European Integration Studies 11, S. 8–18. 348 Schimmelfennig, F. (2018), European integration (theory) in times of crisis. A comparison of the Euro and Schengen crises, in: Journal of European Public Policy 25(7), S. 969–89. 349 Leuffen et al. 2022, S. 221.

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Befragten keine bestimmte Version von differenzierter Integration, sei es ein Europa á la carte oder ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten. Wir argumentieren, dass einige allgemeinere Einstellungen zur europäischen Integration auch die Präferenzen der EU-Bürger in Bezug auf differenzierte Integration beeinflussen können. Eine ähnliche Logik wurde in verschiedenen Studien angewandt, unter anderem von De Blok und de Vries.350 Aufgrund des lange anhaltenden Trends der zunehmenden Bedeutung der europäischen Integration beobachten wir auch die wachsende Bedeutung der differenzierten Integration in der Innenpolitik. Sie ist in den innenpolitischen Diskursen in großen Fällen wie der währungspolitischen Integration sichtbarer und weniger sichtbar in nuancierteren Akten der Differenzierung, wie zum Beispiel im Fall der Europäischen Staatsanwaltschaft. Unabhängig davon, ob sie innenpolitisch sichtbar sind oder nicht, bleiben sie für die EU-Bürger von Bedeutung, und es ist zu erwarten, dass die politische Auseinandersetzung über die differenzierte europäische Integration eine immer wichtigere Rolle spielen wird. Darüber hinaus überschneiden sich die Momente der Politisierung der europäischen Integration im Allgemeinen mit den Momenten der politischen Auseinandersetzung über einige spezifische Themen, die das System der differenzierten Integration definieren. So ist das schwedische Referendum über den möglichen Beitritt zur Eurozone ein Beispiel für eine Entscheidung über den Eintritt in eine tiefere Integrationsstufe. Das Votum für oder gegen die Ratifizierung des Vertrags über eine Verfassung für Europa hingegen ist Ausdruck einer allgemeineren Haltung gegenüber der europäischen Integration. Gleichzeitig wurden diese demokratischen Handlungen durch verschiedene innerstaatliche Faktoren bestimmt, wie z. B. die Unterstützung für lokale politische Akteure und deren Beziehung zum Thema der betreffenden Abstimmung. Darüber hinaus konzentrieren wir uns nicht nur auf die Frage, ob und inwieweit die EU-Bürger eine weitere Integration in Europa unterstützen oder ablehnen, sondern wir schauen hinter diese Einstellungen und versuchen herauszufinden, was hinter ihnen steht und sie begründet. Insbesondere versuchen wir, die zugrundeliegenden Dimensionen zu identifizieren und zu erklären, entlang derer die Bürger ihre Präferenzen bezüglich der DI bilden. Folglich setzen wir die aktualisierte Cleavage-Theorie als Interpretationsinstrument ein. Auf diese Weise folgen wir der Logik von Dirk Leuffen et al., die untersucht haben, wie die Präferenzen für differenzierte Integration mit den Positionen zu verschiedenen gesellschaftlichen Fragestellungen übereinstimmen. Ihre Untersuchungen zeigen, dass Differenzierung von Bürgern mit einer liberalen Wirtschaftsideologie befürwortet wird, während eher gleichheitsorientierte Bürger sie 350 de Blok, L.; de Vries, C. (2022), A blessing and a curse? Examining public preferences for differentiated integration, in: European Union Politics 24(1).

Einstellungen zu differenzierter europäischer Integration aus analytischer Perspektive 109

ablehnen, was auch auf die Erfahrungen mit der Wirtschaftskrise zurückzuführen ist.351 Wir stimmen jedoch darin überein, dass die Einstellungen zur differenzierten Integration mit allgemeineren Konflikten über sozioökonomische Fragen zusammenhängen. Die EU-Bürger bewerten DI in Übereinstimmung mit ihren allgemeineren Einstellungen zur sozioökonomischen Differenzierung. Sie sind sich uneinig über den Umfang und die Tiefe spezifischer politischer Maßnahmen sowie über die Geschwindigkeit ihrer Umsetzung. Diese Präferenzen auf individueller Ebene schränken die kollektiven Integrationszwänge ein.352 Unter diesem Gesichtspunkt sind die polarisierten Meinungen und ideologischen Positionen der EU-Bürger wichtig für ihre direkt und indirekt formulierten Einstellungen zu verschiedenen Aspekten der europäischen Integration. Abgesehen von den vielen Erklärungen in der Literatur, die auf wirtschaftlichem Utilitarismus, nationalen Erwägungen, territorialen Identifikationen oder anderen Determinanten beruhen, konzentrieren wir uns in dieser Studie auf die ideologischen Dispositionen, die die Unterstützung der differenzierten Integration untergraben. Eine solche analytische Perspektive ermöglicht es, der Falle eindimensionaler Erklärungen zu entkommen und die vielschichtige Natur des Systems individueller Anreize zu erforschen, die die Einstellung zur EU und ihren verschiedenen Integrationsmodi bilden. Um mehr über die Dispositionen der Bürger zu erfahren, die mit der Unterstützung oder Ablehnung der differenzierten Integration einhergehen, werden in diesem Abschnitt die Präferenzen der Bürger in Verbindung mit anderen Variablen analysiert, die sich auf ihre Haltung zu bestimmten sozioökonomischen und soziokulturellen Fragen beziehen. Die Entschlüsselung der Nachfrageseite trägt zu einer besseren Erklärung der Bedürfnisse und Präferenzen der EU-Bürger bei und hilft uns daher, die InputLegitimität für die europäische Integration zu verstehen. Die gesellschaftlichen Unterschiede bei den Präferenzen für eine tiefere oder schnellere Integration müssen von den politischen Akteuren und ihrem politischen Angebot beantwortet werden. Aus diesem Grund betrachten wir auch die Angebotsseite des politischen Marktes. Die europäische Integration als solche und die DI im Besonderen führen zu zahlreichen Kontroversen zwischen und innerhalb der Mitgliedsstaaten. Diese artikulieren sich direkt, wie im Falle von Vertragsratifizierungsreferenden – oder indirekt, durch nationale Wahlen. Manchmal werden die Meinungen direkt zu bestimmten EU-Politiken und -Entscheidungen gebildet (z. B. Sparmaßnahmen oder Klima-Energie-Paket), und manchmal werden sie vermittelt und indirekt

351 Leuffen et al. 2022. 352 De Blok, de Vries 2022.

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Angebot und Nachfrage nach differenzierter europäischer Integration

ausgedrückt (z. B. die Einstellung zur Migration).353 Viele Wissenschaftler haben argumentiert, dass die Einstellung gegenüber Einwanderern ein wichtiger Erklärungsfaktor in Analysen der Unterstützung oder Ablehnung der europäischen Integration ist.354 Die Einstellung gegenüber Zuwanderern steht seit Jahren im Mittelpunkt der politischen und wirtschaftlichen Agenda auf dem gesamten Kontinent, nicht nur in Zeiten der Flüchtlingskrise, sondern auch in der BrexitDebatte, als Folge der russischen Aggression gegen die Ukraine oder der Sparmaßnahmen in den südlichen Randgebieten der EU.355 Die Beziehung zwischen der Einstellung gegenüber Migration und der Einstellung gegenüber der Europäischen Union erfährt zu Recht eine neue Welle der gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Aufmerksamkeit. Die These, dass Bürger, die eine einwanderungsfeindliche Einstellung haben, auch eher kritisch gegenüber der EU und der europäischen Integration eingestellt sind, ist nicht neu.356 Unsere Analyse liefert neue Einblicke in die komplizierte Beziehung zwischen Einwanderungseinstellungen, Differenzierungs-Einstellungen und den ideologischen Prädispositionen, die diese Einstellungen prägen. Wir wollen beurteilen, wie Fragen der europäischen Integration in Verbindung mit anderen Anliegen, wie Migration und Handel behandelt werden, indem wir die polnische und die deutsche Gesellschaft vergleichen. Darüber hinaus interessieren wir uns für die Dynamik der Beziehungen zwischen Migrationseinstellungen und DIEinstellungen – wie sie sich im Laufe der Zeit entwickelt haben, mit besonderem Augenmerk auf den Meilensteinen, nämlich den auftretenden Krisen. Aus einigen früheren Forschungsarbeiten wissen wir bereits, dass DI-Präferenzen weitgehend mit ideologischen Prädispositionen übereinstimmen, z. B. unterstützen Bürger mit einer Präferenz für Gleichberechtigung die DI mit geringerer Wahrscheinlichkeit, während diejenigen, die liberal-konservative Ansichten vertreten, der DI eher positiv gegenüberstehen.357 Darüber hinaus behaupten 353 Vgl. Caiani, M.; Weisskircher M. (2020), How many ›Europes‹? Left-Wing and Right-Wing Social Movements and their Visions of Europe, in: Cristina Flesher Fominaya and Ramo´n Feenstra (Hrsg.): The Handbook of Contemporary European Social Movements, Routledge, S. 30–45. 354 McLaren, L. (2002), Public support for the European Union: Cost/benefit analysis or perceived cultural threat?, in: Journal of Politics 64(2), S. 551–566; Bakker, B; de Vreese, C. (2016), Personality and European Union attitudes: Relationships across European Union attitude dimensions, in: European Union Politics 17(1), S. 25–45; Kentmen-Cin, C.; Erisen, C. (2017), Anti-immigration attitudes and the opposition to European integration: A critical assessment, in: European Union Politics 18(1), S. 3–25. 355 de Vreese, H. (2017), How changing conditions make us reconsider the relationship between immigration attitudes, religion, and EU attitudes, in: European Union Politics (1), S. 137– 142. Vgl. Mearsheimer, J. J. (2022), The Causes and Consequences of the Ukraine Crisis – speech given at the European Union Institute (EUI) in Florence on June 16. 2022. 356 De Vreese 2017, S. 138; Vreese, Boomgarden 2005; McLaren 2002. 357 Leuffen et al. 2022.

Einstellungen zu differenzierter europäischer Integration aus analytischer Perspektive 111

Leuffen und andere, dass »die Daten auffällige Unterschiede zwischen den Makroregionen offenbaren: Die Unterstützung für DI ist in den südeuropäischen Staaten deutlich geringer geworden. Sie führen diese Ablehnung auf die negativen Auswirkungen der Krise in der Eurozone zurück.«358 Diese ideologischen Prädispositionen sind in ihren Köpfen leichter abrufbar und dienen als Maßstab, um zu bestimmen, wie man über DI denkt.359 Die Tatsache, dass wir die wachsende Bedeutung der europäischen Integration im Leben der EU-Bürger beobachten, manifestiert sich jedoch nicht oft in den europäischen Themen, die in den innenpolitischen Diskursen präsent sind. Noch deutlicher wird dies im Fall der differenzierten Integration, die in den meisten Debatten der Mitgliedsstaaten noch weniger präsent ist360. Sie ist viel häufiger ein Elitendiskurs, und das in Zeiten des constraining dissens. Aus diesem Grund vermuten wir, dass die Menschen bei ihrer Meinungsbildung über die DI ideologische Maßstäbe anlegen, die sich hauptsächlich auf ihre allgemeinen Neigungen gegenüber der EU beziehen.361 Daher untersuchen wir die Beziehungen zwischen ihrer Unterstützung für eine weitere Integration auf der einen Seite und ihren ideologischen Positionen zu verschiedenen sozioökonomischen und -kulturellen Themen auf der anderen Seite.362 Angesichts des Mangels an Wissen und manchmal auch an Interesse an der EU-Politik extrapolieren die Bürger ihre allgemeinen ideologischen Prädispositionen. Dies macht die ideologischen Prädispositionen von entscheidender Bedeutung für unser Verständnis der neu entstehenden Cleavages und ihrer Beziehung zu den Präferenzen gegenüber der EU.363 Da DI zu einem systemischen Merkmal des institutionellen und rechtlichen Rahmens der EU geworden ist, haben viele Wissenschaftler behauptet, dass sie eine praktikable Lösung bietet, um der Heterogenität unter den EU-Mitgliedern Rechnung zu tragen.364 Dasselbe gilt für die Heterogenität innerhalb der Mit358 Ebd, S. 18 (Eigene Übersetzung). 359 Anderson, L. C. (1998), When in Doubt, Use Proxies. Attitudes Toward Domestic Politics and Support for European Integration, »Comparative political Studies« S. 569–601; De Vries, C. (2018), Euroscepticism and the Future of European Integration, Oxford; Kritzinger, S. (2003), The Influence of the Nation-State on Individual Support for the European Union, in: European Union Politics 4(2), S. 219–241; Sanchez-Cuenca, I. (2000), The Political Basis of Support for European Integration, in: European Union Politics 1(2), S. 147–171. 360 Siehe: Cianciara, A.K. (2021), (De-)legitimating Differentiated (Dis)integration in the European Union: Between Technocratic and Populist Narratives, in: Journal of Contemporary European Research 17(2), S. 128–146. 361 De Blok, de Vries 2022. 362 Anderson 1998; Kritzinger 2003; De Vries 2018. 363 Siehe: Telle, S.; Badulescu, C.; Fernandes, D. (2023), Attitudes of national decision-makers towards differentiated integration in the European Union. Comp Eur Polit 21, S. 82–111 364 Bellamy, R; Kröger, S. (2017), A demoicratic justification of differentiated integration in a heterogeneous EU, in: Journal of European Integration 39(5), S. 625–639, Vgl. Bellamy, R.,

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Angebot und Nachfrage nach differenzierter europäischer Integration

Einstellung zu »Europa à la carte« Einstellung zu »multi-tier« …

Status quo »mehr«/»weniger« EI Cleavages Postfunktionalismus

Politische Entscheidungsträger

GAL vs. TAN

Einstellung zu »multi-speed«

Einstellung zu (differenzierter) europäischer Integration

gliedsstaaten. Die Trennlinien verlaufen über nationale Grenzen hinweg, aber sie existieren auch innerhalb der Gesellschaften der EU-Mitgliedstaaten. Meinungsvielfalt ist in jedem demokratischen Gemeinwesen natürlich, doch die große Frage ist, ob diese Trennlinien tatsächlich ein manifestes Cleavage abbilden. Und wie stark sind diese Trennlinien strukturell im demokratischen Gefüge der beiden Gesellschaften verwurzelt? Wie lassen Sie sich in den politischen Systemen empirisch belegen? Bevor wir uns den methodologischen Aspekten widmen, soll an dieser Stelle noch einmal zusammenfassend ein grobes Schema über das diverse, jedoch konsistente Zusammenspiel von Einstellungen zu europäischer Integration, dessen Zusammenspiel mit differenzierter europäische Integration, Postfunktionalismus und Cleavagestrukturen schematisch dargestellt werden.

Eimstellung zu Migration Einstellung zu grüner Transformation Einstellung zu kulturellem Liberalismus ...

Abbildung 4: Theoretische Intersektion zwischen grün-alternativ-liberalen und traditionellautoritär-nationalistischen Werten und Einstellungen zu (differenzierter) europäischer Integration

Jenes Zusammenspiel wurde in den vorangegangenen Kapiteln historisch und konzeptionell herausgearbeitet. Dabei orientierten wir uns an den theroretischen Vehikeln der grand theories zu europäischer Integration und der CleavageTheorie mit ihren Ursprüngen im 20. Jahrhundert. Eine Aktualisierung durch die historischen Prozesse und Ereignisse in der Zwischenzeit sowie die durch die neuen Gegebenheiten des 21. Jahrhunderts wurden als notwendig betrachtet. Die Updates beider genannter theoretischer Disziplinen durch erneuerte Cleavagekonzepte, wie dem des transnationalen Cleavage und dem Postfunktionalismus wurden schließlich in Verbindung gebracht. Ihr großer gemeinsamer Nenner sind die (Prä-)Dispositionen von nationalen Wählergruppen und deren Mobilisierung durch politische Parteien und Organisationen sowie dessen Auswirkungen auf das Handlungsrepertoire von politischen Entscheidungsträgern. Dies

Kröger, S., Lorimer, M. (2023). Party Views on Democratic Backsliding and Differentiated Integration. East European Politics and Societies 37(2), S. 563–583.

Operationalisierung von Angebot und Nachfrage für europäische Integration

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soll in folgenden Kapiteln nun auch empirisch untersucht werden. Bevor jedoch Zahlen und Zusammenhänge präsentiert werden, soll eine methodologische Hinführung zur statistischen Untersuchung von Angebot und Nachfrage für europäische Integration und demnach auch für differenzierte Integration unternommen werden.

4.2

Operationalisierung von Angebot und Nachfrage für europäische Integration

Wir stellen uns in diesem Methoden-Kapitel den technischen Fragen und konzeptionellen Herausforderungen, die uns bei der Erfassung von parteipolitischem Angebot und wählergruppenspezifischer Nachfrage für weitere oder tiefere europäische Integration begegnen. Selbstverständlich können wir bei deren Bewältigung nicht alle Problematiken oder methodologischen Zweifel beseitigen, dies vor allem aufgrund noch immer herrschender geringer Dichte an Datensets, die über die Zeit hinweg, als auch zwischen den verschiedenen Bevölkerungen Vergleiche und Schlüsse zulassen. Hierauf gehen wir noch einmal in Kapitel 7 zu den Grenzen der Erfassung und Analyse von Angebot und Nachfrage für europäische Integration ein. Die Angebotsseite erschließen wir mithilfe einer gewichteten multidimensionalen Skalierung (weighted multidimensional scaling, WMDS) der Parteipositionen und der relativen Aufmerksamkeit, die einem bestimmten Thema gewidmet wird. Anschließend wird die Nachfrageseite mit einer Reihe von multiplen linearen Regressionsanalysen (MLR) anhand von repräsentativen Umfragedaten hinzugezogen. Diese werden durch den European Social Survey (ESS) erhoben. Ebenso soll eine Faktorenanalyse Aufschluss darüber geben, wie die Einstellungen der Befragten strukturiert sind. Die Methode der gewichteten multidimensionalen Skalierung wurde bereits zuvor für die Erfassung der Restrukturierung von Parteienlandschaften im Zuge eingesetzt. Bornschier sowie Kriesi und seine Kollegen wenden sie an, um die Veränderung des westeuropäischen Parteiraums im Zuge der Denationalisierung und Globalisierung aufzuzeigen. MDS ist eine statistische Methode zur Visualisierung von Daten. Sie wird verwendet, um Informationen über die paarweisen Abstände zwischen einer Menge von Objekten oder Individuen mittels einer Distanzmatrix der Unähnlichkeiten in eine grafische Darstellung zu übersetzen. Letztere kann mit einer, zwei oder mehr Dimensionen berechnet werden. Diese Dimensionen tragen nicht notwendigerweise ein eindeutig zuordenbares Label

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Angebot und Nachfrage nach differenzierter europäischer Integration

wie »kulturell« oder »wirtschaftlich«, sondern sind durch Interpretation theoretisch sinnvoll.365 Objekte, die sich ähnlicher sind oder kürzere Abstände zueinander haben, werden auf dem berechneten Graphen näher visualisiert als Objekte, die sich weniger ähnlich sind. Das Modell versucht, sich einer niedrigdimensionalen Darstellung der Daten durch die Minimierung einer Verlustfunktion anzunähern, die in ihrer allgemeinen Form als stress in distance bezeichnet wird. Technisch gesehen handelt es sich bei den angestrebten Daten um »Unähnlichkeiten zwischen n Zeilenobjekten und m Spaltenobjekten, die in einer n × m Matrix Δ zusammengefasst sind«. Mair et al. definieren die grundlegende Funktion für eine metrische mehrdimensionale Skalierung (unfolding) und minimieren sie mit dem Term σ(X, Y) = nΣi = 1mΣj = 1wij (δij – dij (X, Y))2 mit wij als fakultativer n × m Gewichtsmatrix.366 Zur Minimierung der Verlustfunktion kann jedes Statistikprogramm für multidimensionale Skalierung verwendet werden, das mit Gewichten und fehlenden Daten umgehen kann. In der anschließenden Analyse werden das Statistikprogramm R und die unfoldingFunktion verwendet, um die Ergebnisse zu berechnen und darzustellen. In politischer Hinsicht kann der Ansatz verwendet werden, um die Struktur des parteipolitischen Raums aufzudecken. Allerdings richten konkurrierende politische Parteien in ihren Programmen und rhetorischen Beiträgen zu öffentlichen Debatten unterschiedlich viel Aufmerksamkeit auf sich. So würde beispielsweise eine traditionelle linke Partei ihren Schwerpunkt eher auf die Umverteilung legen als eine progressive linke Partei auf den kulturellen Liberalismus, auch wenn beide ähnliche Positionen zu beiden Themen haben. Um hervorstechenden Beziehungen zwischen politischen Parteien und Themenkategorien mehr Gewicht zu verleihen als weniger hervorstechenden Beziehungen, kann eine gewichtete multidimensionale Skalierung angewendet werden. Es gibt immer statistische Verzerrungen zwischen den »echten« Abständen und ihrer visuellen Darstellung in niedrigdimensionalen Räumen. Das Gewichtungsverfahren stellt jedoch sicher, dass die Abstände, die den auffälligen Beziehungen zwischen Parteien und Themen entsprechen, genauer sind als die Abstände, die den weniger auffälligen Beziehungen entsprechen.367 Bei der Reduktion der Komplexität auf wenige Dimensionen treten immer wieder Fehler 365 Bornschier 2010, S. 39. 366 Mair, P.; Groenen, P.; de Leeuw, J. (2019), More on multidimensional scaling and unfolding in R: smacof version 2, in: J. Stat. Softw., S. 24. 367 Kriesi et al. 2012, S. 55.

Operationalisierung von Angebot und Nachfrage für europäische Integration

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auf, aber die Gewichtung stellt sicher, dass sie auch dort zugelassen werden, wo die Themen von geringer Bedeutung sind. So kann das Modell gleichzeitig die Positionierung der Parteien in Bezug auf die Themenkategorien und ihre Salienz für diese Themenkategorien berücksichtigen. Die Datengrundlage für die folgende Analyse bildet der Chapel Hill Expert Survey (CHES), der seit 1999 die Parteipositionierung zu Ideologie, europäischer Integration und spezifischen politischen Themen für nationale politische Parteien erhebt. In den Wellen 2002, 2006, 2010, 2014 und 2019 wurde die Anzahl der Länder von 14 westeuropäischen Ländern auf 31 erhöht, die nun alle EU-Mitgliedstaaten abdecken. In diesem Zeitraum stieg die Zahl der Parteien von 143 auf 277. Zwischen 235 Experten im Jahr 2006 und 421 im Jahr 2019 analysierten die Wahlprogramme der Parteien und damit ihre Themenpositionierungen und deren Salienzen. Allen Erhebungswellen gemeinsam sind Fragen zur allgemeinen Position der Parteien zur europäischen Integration, zu verschiedenen EU-Politiken und zu allgemeinen links-rechts Positionierungen. »Neuere Umfragen enthalten auch Fragen zu politischen Themen außerhalb der EU, wie Einwanderung, Umverteilung, Dezentralisierung und Umweltpolitik«.368 Die vollständige Variablenliste kann dem Anhang entnommen werden. Die Ausgabewerte der CHES-Datenbank sind Mittelwerte, die aus den Schätzungen aller Experten gebildet werden. Die Erhebungen umfassen mehrere Zeitpunkte für alle in der Stichprobe enthaltenen Länder. Aus praktischen Gründen werden Parteien mit einem »unbedeutenden« Einfluss auf elektoraler oder parlamentarischer Ebene von der MDS ausgeschlossen. Die Voraussetzung für die Aufnahme in unsere Stichprobe ist daher mindestens 2,5 % der Gesamtstimmen bei nationalen Parlamentswahlen oder mindestens drei vergebene Sitze. Wie bereits erwähnt, liefern die Dimensionen, die sich aus der WMDS-Analyse ergeben, hauptsächlich Informationen über die Darstellbarkeit der Daten in einem n-dimensionalen Raum. So ist es möglich, theoretisch sinnvolle Achsen zwischen polarisierenden Themenkategorien zu legen, etwa von Antimigration zu Multikulturalismus für eine kulturelle Achse und von Umverteilung zu Deregulierung für eine wirtschaftliche Achse. Diese konstruierten Trennlinien sollen die Interpretation erleichtern. In der grafischen WMDS-Lösung ist die Positionierung der Parteien eine Funktion ihrer gemeinsamen Nähe zu allen einbezogenen Themen und nicht nur zu denen, die als die Pole einer Dimension identifiziert wurden. Daher muss die Achse, die durch die genannten Themenkategorien gebildet wird, theoretisch sinnvoll sein, und sie sollten an den Ex368 Polk, J.; Rovny, J.; Bakker, R.; Edwards, E.; Hooghe, L.; Jolly, S.; Koedam, J.; Kostelka, F.; Marks, G.; Schumacher, G.; Steenbergen, M.; Vachudova, M; Zilovic, M. (2017), Explaining the salience of anti-elitism and reducing political corruption for political parties in Europe with the 2014 Chapel Hill Expert Survey data, in: Research & Politics, S. 1–9.

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tremen der Verteilung liegen, was ein Hinweis auf die tatsächliche Polarisierung in Bezug auf diese Themen ist. Im Hinblick auf die Relevanz innerhalb dieses Rahmens ist es von besonderem Interesse, ob sich die Themenposition der europäischen Integration (anti_eu) als polarisierend erweist und wenn ja, welche Themen und Parteien sie umgeben. Dabei ist zu beachten, dass die jeweiligen Abstände in der Lösung nicht absolut, sondern in Relation zueinander zu interpretieren sind.369 Eine rechtspopulistische Partei kann z. B. nicht absolut neben der Issue-Kategorie Antimigration stehen, weil ihre Nähe zu weiteren Themen sie in andere Richtungen zieht.370 Wenn ein Thema weit von allen anderen Themen und/oder Parteien entfernt ist, wie z. B. die Einwanderung, kann das entweder daran liegen, dass das Thema nicht salient ist, dass das Thema nicht in die allgemeine Dimensionsstruktur passt oder dass es eine Art Polarisierung entfaltet. In Anlehnung an unsere Ableitungen aus dem Postfunktionalismus und der Cleavage-Theorie erwarten wir eine Divergenz von Randparteien an beiden Enden des politischen Links-Rechts-Spektrums und dass die Parteien am rechten Ende dazu neigen, sich konsequenter zur Ablehnung von Migration und europäischer Integration zu positionieren. Darüber hinaus gilt es als Grundvoraussetzung für eine zweidimensionale WMDS-Konfiguration, dass sie hinsichtlich akzeptabler Stresswerte (Stress-I unter 0,2) statistisch angemessen ist. Die weitere Erwartung ist, dass sich die Frage der europäischen Integration von der wirtschaftlichen Dimension weg und hin zur kulturellen Achse ausrichtet. In diesem Fall könnten sich die »Mainstream-Parteien in der wirtschaftlichen Dimension annähern, sich aber in kultureller Hinsicht zunehmend differenzieren. Gerade in Bezug auf die kulturelle Dimension wird von den etablierten Parteien erwartet, dass sie sich unter dem Druck neuer Strukturkonflikte neu positionieren«.371 Konservative Mainstream-Parteien werden sich eher transformieren und von den anderen etablierten Parteien abheben. Sollte dies nicht der Fall sein, ist mit dem Entstehen neuer rechtspopulistischer Parteien zu rechnen. Auf der Nachfrageseite geht es darum, mögliche Determinanten und die ihnen zugrundeliegenden Faktoren für EU-Skepsis in den jeweiligen Bevölkerungen in Europa zu identifizieren. Die Gewinnung von länderübergreifend vergleichenden Ergebnissen ermöglicht es uns, die allgemeine Einstellung zur europäischen Integration aus der Cleavage-Perspektive zu betrachten. Daher wird die Datenbasis des European Social Survey (ESS) für alle weiteren statistischen Analysen auf der Nachfrageseite verwendet. Der ESS ist eine »akademisch geführte länderübergreifende Umfrage, die seit ihrer Einführung im Jahr 2001 in ganz Europa 369 Bornschier 2010, S. 75–77. 370 Ebd., S. 39. 371 Kriesi et al. 2012, S. 98.

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durchgeführt wird. Alle zwei Jahre werden persönliche Interviews für Querschnittstichproben durchgeführt. Die Umfrage misst die Einstellungen, Überzeugungen und Verhaltensmuster verschiedener Bevölkerungsgruppen in mehr als dreißig Ländern«.372 Die Daten werden mittels multipler linearer Regression (MLR) und Faktorenanalyse (FA) analysiert, was einer kurzen Erklärung bedarf. MLR ist eine Erweiterung der ordinary least squares-Methode und verwendet mehrere erklärende unabhängige Variablen, um das Ergebnis einer abhängigen Antwortvariablen durch eine modellierte lineare Beziehung vorherzusagen. Bei diesem Verfahren wird die beste Anpassung für eine Verteilung von Datenpunkten gefunden, indem die Summe der Residuen von einer modellierten Kurve minimiert wird. Die statistische Umsetzung der Methode stützt sich auf zwei grundlegende Anforderungen an die Validität: die Überprüfung auf Multikollinearität und Homoskedastizität. Multikollinearität liegt vor, wenn einige der unabhängigen Variablen zu stark miteinander korreliert sind. Daher wird ein Varianzinflationsfaktor (VIF) berechnet, der das Ausmaß der durch Multikollinearität bedingten Varianzen angibt. Ein VIF-Wert von mehr als 10 deutet auf problematische Multikollinearität hin. Folglich ist die erste Annahme, dass die Multikollinearität gering ist. Die zweite ist die Abwesenheit von Heteroskedastizität, die sich auf eine ungleiche Varianz der in der Regression verwendeten Population bezieht, z. B. eine ungleiche Streuung der Residuen. Andernfalls sind die Regressionskoeffizienten und Signifikanzniveaus ungültig. Daher wird für jede Regression ein Breusch-Pagan-Test auf Heteroskedastizität durchgeführt. Im Falle einer Ungültigkeit wird die Regression mit einem Schätzmodell durchgeführt, das robust gegenüber Heteroskedastizität ist. Von den vorhandenen Items, die in allen ESS-Wellen abgefragt werden, werden die nachfolgend gelisteten verwendet, um den Einfluss von individuellen Einstellungen und soziostrukturellen Dispositionen auf die Zustimmung zur europäischen Integration zu untersuchen. Wie im vorangegangen Teil ausgeführt, versuchen wir damit auch jene Rückschlüsse auf die »verschlüsselten« Einstellungen gegenüber differenzierter Integration zu ziehen. Da diese Analyse der Nachfrageseite gewidmet ist, soll sie einen »Ruf« nach bestimmten politischen Maßnahmen oder einer bestimmten Rhetorik in Bezug auf die europäische Integration aufzeigen. Es wird nicht behauptet, dass politische Akteure innerhalb von Parteien oder Wähler den politischen Wettbewerb und die Nachfrage nach politischen Positionen im Allgemeinen aktivieren. Ziel ist es, das Mobilisierungspotenzial der Mainstream-, aber insbesondere der GAL- und TAN-Parteien 372 European Social Survey (2023), ESS 1–10, European Social Survey Cumulative File, Study Description. Bergen: Sikt – Norwegian Agency for Shared Services in Education and Research, Norway for ESS ERIC.

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in der Bevölkerung zu untersuchen, die sich möglicherweise entlang einer Konfliktlinie Integration vs. Demarkation spaltet. Hinsichtlich der zuvor formulierten Hypothesen wird davon ausgegangen, dass die statistischen Ergebnisse eine Tendenz der Mobilisierungsanreize über die kulturelle Dimension des Konflikts anzeigen. Mit anderen Worten: Es wird erwartet, dass der Effekt von sozioökonomischen oder soziostrukturellen Variablen abnimmt, während kulturelle Elemente die Varianz innerhalb des Regressionsmodells zunehmend erklären könnten. In unserem Forschungsdesigns bildet für die Analyse der Nachfrageseite folglich die Einstellung gegenüber weiterer Europäischer »Einigung« die unabhängige Variable. Die Teilnehmer wurden hierzu gefragt: »Jetzt kommen wir zum Thema Europäische Union. Manche Leute sagen, dass die europäische Einigung weiter gehen soll. Andere sagen, dass sie schon jetzt zu weit gegangen ist. Welche Zahl der Skala […] beschreibt Ihre Einschätzung am besten?«.373 Hierbei konnten die Teilnehmer auf einer Skala zwischen 1 »Einigung ist schon zu weit gegangen« und 10 »Einigung sollte weitergehen« wählen. Dabei ist zu erwähnen, dass der European Social Survey seine Begriffswahl für die Möglichkeit der Längsschnittauswertung seit den 1990ern nicht geändert hat und folglich »Einigung« nie durch »Integration« ersetzt hat. Zu den unabhängigen Variablen der MLR zählen die ökonomische und kulturelle Einstellung zur Einwanderung in das jeweilige Land der Umfrageteilnehmer (»Was würden Sie sagen, ist es im Allgemeinen gut oder schlecht für die deutsche Wirtschaft, dass Zuwanderer hierher kommen«, »Würden Sie sagen, dass das kulturelle Leben in Deutschland im Allgemeinen durch Zuwanderer untergraben oder bereichert wird?«). Ebenso die Einstellung gegenüber Homosexualität (»Schwule und Lesben sollten ihr Leben so führen dürfen, wie sie es wollen«), gegenüber staatlichen Eingriffen zur Reduzierung von Einkommensunterschieden (»Der Staat sollte Maßnahmen ergreifen, um Einkommensunterschiede zu verringern«) und einem starken Staat im Allgemeinen, der seine Bürger schützt und deren Sicherheit gewährleistet (»Es ist ihr [, ihm] wichtig, dass der Staat ihre [, seine] persönliche Sicherheit vor allen Bedrohungen gewährleistet. Sie [,Er] will einen starken Staat, der seine Bürger verteidigt«). Weiterhin werden die Einstellungen zum Umweltschutz (»Sie [, Er] glaubt fest daran, dass die Menschen sich um die Natur kümmern sollten. Der Schutz der Umwelt ist ihr [, ihm] wichtig«), die Zufriedenheit mit der Funktionsweise der Demokratie im jeweiligen Heimatland und die Wahrnehmung der Komfortabilität der eigenen Einkommenssituation auf der unabhängigen Seite hinzugezo373 Social Survey (2018), ESS 1–9, European Social Survey Cumulative File, Study Description. Bergen: Sikt – Norwegian Agency for Shared Services in Education and Research, Norway for ESS ERIC, S. 14.

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gen. Als Kontrollvariablen dienen hier der Sektor der Erwerbstätigkeit mit aufsteigender Codierung von Primär bis »Quartär«-Sektor, die Urbanität des Wohnraums, den höchsten erreichten Schulabschluss sowie die Entscheidung zur Enthaltung bei den letzten nationalen Parlamentswahlen. Außerdem wird für jedes Jahr und jedes Land eine Faktorenanalyse, genauer gesagt eine Hauptkomponentenanalyse (PCA), durchgeführt. Diese Methode wird in der explorativen Datenanalyse zur Reduzierung von Dimensionalität durch die Projektion jedes Datenpunktes auf nur wenige Hauptkomponenten verwendet. Obwohl man dadurch weniger dimensionale Daten erhält, bleibt die Datenvariation so weit wie möglich erhalten. In diesem Fall wird die PCA mit einer orthogonalen Varimax-Rotation durchgeführt, wodurch die Komplexität der Faktorladungen minimiert wird und das Ergebnis einfach zu interpretieren ist. Die Stichprobenadäquatheit der Hauptkomponentenanalyse wird mit einem Keyser-Meyer-Olkin-Test (KMO) überprüft, dessen Werte unter 0,5 liegen sollten. In Anlehnung an Kriesi et al. (2012) werden die sechs Einstellungsvariablen, die Teil der Regressionsanalyse sind, in die Faktorenanalyse einbezogen (migr_ökon, migr_kult, anti_hms, starker_staat, red_eink_dif, umwelt, zufrieden_dem, komf_eink). Dieses Verfahren zeigt, ob individuellen Einstellungen Faktoren zugrunde liegen, die eindeutig auf eine wirtschaftliche und kulturelle Dimension der Einstellungen oder auf gemischte Dimensionen wirken. Wenn sich die Einstellungskoeffizienten im Regressionsmodell als stark und signifikant erweisen, erfolgt eine zusätzliche Überprüfung auf kulturelle oder ökonomische Logiken mittels PCA. Als Nebenprodukt der Regressionsanalyse wird die Entwicklung der Richtung und Polarisierung der mittleren Einstellungen der nationalen Wähler zur europäischen Integration im Zeitverlauf verfolgt, ausgehend vom Jahr 2004. Dieses Jahr wird als Ausgangspunkt für die Entwicklung des Dissenses in der Bevölkerung über die europäische Integration verstanden. In Anlehnung an Bramson et al. dient ein Streuungsmaß wie die Standardabweichung als adäquater Indikator für die gesellschaftliche Polarisierung bei einem bestimmten Thema.374 Im Gegensatz zur Streuung, die nur die Extrempositionen der Bevölkerung berücksichtigt, berücksichtigen Streuungsmaße die Gesamtform einer Verteilung.375 Die Analyse der Nachfrageseite beginnt daher für jedes Land mit der Entwicklung der durchschnittlichen Einstellungen der Bevölkerung zur europäischen Integration und ihrem jeweiligen Streuungsmaß, also der Polarisierung in den ESS-Runden 02 (2004), 04 (2008), 06 (2012), 07 (2014), 09 (2018) und nur 374 Bramson, A.; Grim, P.; Singer, D.; Berger, W.; Sack, G.; Fisher, S.; Flocken, C.; Holman B. (2017), Understanding polarization: Meanings, measures, and model evaluation, in: Philosophy of science 84(1), S. 115–159. 375 Ebd.

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teilweise in Runde 10 (2020–2022). Anschließend folgen jeweils die länderspezifischen Faktoren- und Regressionsanalysen. Weiterhin befassen wir uns mit der Auswahl der Fälle und Zeitpunkte, die mit den vorangegangenen Methoden erhoben werden. Die Kernidee des transnationalen Cleavage ist es, die sozialen Aspekte eines Integration vs. DemarkationCleavage zwischen den jeweiligen nationalen Bevölkerungen mit den politischen Ergebnissen der europäischen Krisen zu verbinden. Dies steht im Einklang mit dem postfunktionalistischen Paradigma der Massenpolitisierung als Ergebnis von Krisen. Die letzten beiden Jahrzehnte wurden als »Zeitalter der Krise« bezeichnet, es gibt mehrere kritische Zeitpunkte, die sich in ihren Auswirkungen überschneiden.376 Diese Ereignisse sollten berücksichtigt werden, wenn man die Entstehung und Kultivierung einer politischen Spaltung über den Transnationalismus vermutet. Zur Überprüfung der Hypothesen sind mehrere Messungen im Zeitverlauf notwendig, um eine Rekonfiguration des nationalen Parteiraums im Zuge der europäischen Integration und der europäischen Krise festzustellen. Dabei soll untersucht werden, ob die gesellschaftlichen Dispositionen mit der Entwicklung der parteipolitischen Programmangebote übereinstimmen. Der Euro und die Migrationskrise haben gezeigt, dass es eine plausible Verzögerung zwischen den sich ändernden Einstellungen der Wählerschaft als Reaktion auf kritische Ereignisse und den Handlungen der politischen Führer aufgrund dieses Wahldrucks gibt. Entweder das eine oder das andere könnte zuerst eintreten und eine Reaktion auf der anderen Seite des politischen Matchmaking auslösen – wenn es überhaupt ein Match gibt. Auch hier gibt es keine allgemeine Annahme darüber, von welcher Seite die Konfliktaktivierung und anschließende Kultivierung ausgeht. Darüber hinaus bedarf die Fallauswahl einiger weiterer Anmerkungen. Im Rahmen dieser Arbeit erscheint es plausibel und vorteilhaft, Länder auszuwählen, die im Zentrum postfunktionalistischer Erklärungen liegen. Großbritannien scheint ein Muss für jede solche Stichprobe zu sein. In Anlehnung an die Annahmen von Hooghe und Mark versuchen wir, eine Cleavage-Perspektive für europäische (differenzierte) Integration über Länder und Hemisphären in Europa hinweg einzunehmen.377 Der empirische Schwerpunkt liegt schließlich auf Deutschland und Polen, da sich diese an verschiedenen Stellen der europäischen Landkarte der differenzierten Integration befinden.378 Diese Länder repräsentieren den inneren Kern und den äußeren Kern. Der Logik der integrativen Hemisphären folgend, repräsentiert Deutschland den inneren Kern des europäischen Integrationsprozesses – als Gründungsmitglied, das an den meisten supranationalen Politikbereichen teil376 Dinan et al. 2019. 377 Vgl. Radunz, Riedel 2023. 378 Winzen. Schimmelfennig 2015.

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nimmt. Der äußere Kern wird von Polen repräsentiert – dem größten neuen EUMitgliedstaat, der sich nur an einigen EU-Politiken beteiligt und zunehmende Skepsis gegenüber Brüssel und jeder Idee einer weiteren Vergemeinschaftung zeigt. Die Stichprobe berücksichtigt die postfunktionalistische Behauptung, dass das transnationale Cleavage nach der Eurokrise an die Oberfläche gebrochen ist und ein Nord-Süd-Gefälle zwischen Kreditgeber- und Schuldnerländern verursacht hat. Mit der Migrationskrise hat jenes transnationale Cleavage jedoch auch die Mitgliedsländer Mittel- und Osteuropas erfasst – in einer kulturellen Logik. Darüber hinaus stellen Hooghe und Marks 2017 fest, dass sich die radikale Rechte und Rechtspopulisten zum Hauptprofiteur und »Promoter« eines vor allem kulturell konnotierten Cleavages in ganz Europa entwickeln könnten. Wir wollen damit nachweisen, dass dies nicht nur für Westeuropa gilt. Unsere Stichprobenauswahl beinhaltet auf der Nachfrageseite die Jahre 2004, 2008, 2012, 2014, 2018 und in Teilen 2020 bis 2022. Dabei decken wir die krisenhaften Ereignisse und Entwicklungen ab, wie die Verfassungskrise, die Eurokrise, den Beginn und die Ausbreitung des Kriegs in der Ukraine, den Brexit, den aufkommenden Illiberalismus, als auch mit gewissen Einschränkungen die Covid19 Pandemie. Die Angebotsseite wird für die Jahre 2006, 2010, 2014 und 2019 erhoben und soll damit – soweit möglich – jene Krisen der europäischen Integration auch auf Seite der Parteipositionen abbilden. Die Auswahl der ESS-Wellen auf der Nachfrageseite ist uneinheitlich. Im Jahr 2010, der ersten Erhebungswelle nach Ausbruch der Finanzkrise, wurde im ESS die Frage nach der Einstellung der Befragten zur EU-Integration abgeschafft, die als abhängige Variable für die Regressionsanalysen dient. Um dennoch mehrere Zeitpunkte beizubehalten, die für die Abbildung von Tendenzen in der Bevölkerung sinnvoll sind, wird die Welle von 2012 anstelle der von 2010 betrachtet. Da die globale Finanzkrise zwei Jahre brauchte, um sich zu einer vielschichtigen Eurokrise zu entwickeln, erscheint diese Wahl sinnvoll.379 Da weder die angebots- noch die nachfrageseitigen Daten eine verlässliche Zeitreihenanalyse erlauben, zielt diese Arbeit nicht darauf ab, kausale Rückschlüsse von den jeweiligen externen Stimuli auf die unmittelbaren Veränderungen von Parteipositionen oder Wählereinstellungen zu ziehen. Vielmehr dienen sie als Referenzpunkte und methodische Grundlage für die Hypothesenprüfung selbst. In den folgenden Kapiteln wandern wir also vom inneren Kern der europäischen (differenzierten) Integration bis zur äußeren Peripherie, begründen die Position der einzelnen Länder auf dieser »Landkarte« der Integration und führen eine Analyse des parteipolitischen Angebots sowie der bevölkerungsspezifischen Nachfrage in Deutschland und Polen durch. 379 Schimmelfennig, F. (2018), European integration (theory) in times of crisis. A comparison of the Euro and Schengen crises, in: Journal of European Public Policy 25(7), S. 969–89.

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Deutschland steht seit der Gründung der Europäischen Gemeinschaften in den 1950er Jahren geographisch, als auch politisch im Zentrum europäischer Integration.380 Westdeutschland war eines der Gründungsmitglieder und gilt seit jeher als Motor des Integrationsprojekts.381 Diese Rolle wurde einige Jahrzehnte lang mit Frankreich in Form eines deutsch-französischen Antriebs geteilt.382 Gemäß des Konsens in der Literatur wird Deutschland als Teil des inneren Kreis des Systems der europäischen Integration angesehen.383 Grund dafür sind unter anderem solche Faktoren wie das historische Erbe, die Wirtschaftskraft, die politische Schwerkraft als auch die geopolitische Verortung Deutschlands. Dazu kommen der allgemeine Konsens im deutschen öffentlichen Diskurs über die Rolle Deutschlands in Europa und umgekehrt wiederum die Bedeutung des Binnenmarktes für Deutschland.384 Mit Blick auf den gesamten Horizont der Integrationsgeschichte ist das euroskeptische Narrativ in der deutschen Öffentlichkeit marginal. Die breite Mehrheit der Bevölkerung, als auch die meisten etablierten politischen Parteien stellen die zentrale Position Deutschlands in der EU nicht in Frage. Der Kosten-Nutzen-Faktor geriet jedoch in wirtschaftlicher als auch politischer Hinsicht im letzten Jahrzehnt zunehmend in den Vordergrund, sodass der besagte pro-europäische Konsens einen backclash erleiden musste. 380 Beck, U. (2013), Niemiecka Europa, Warszawa 2013. 381 Dehio, L. (1955), Deutschland und die Weltpolitik im 20. Jahrhundert. Oldenbourg, München. 382 Giddens, A. (2013), Turbulent and Mighty Continent. What Future for Europe? Polity; Burley, A. (1990), The Once and Future German Question, Foreign Affairs, 1989/1990, Winter Issue. 383 Schoellgen G. (1992), Die Macht in der Mitte Europas. Stationen Deutscher Aussenpolitik von Friedrich dem Grossen bis zur Gegenwart, Verlag Beck, Muenchen. 384 Röpke, W. (2008), The German Question, Ludwig von Mises Institute; Wolf, S. (2004), The German Question Since 1919: An Analysis with Key Document.; Habermas, J. (2015), In the favour of a strong Europe – what does it mean, Juncture, vol. 21, issue 1, S. 82–88.

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Interessanterweise führt die zentrale Stellung Deutschlands in Europa nicht automatisch zu einer bewusten und akzeptierten Führungsrolle.385 Aus einer Reihe von Gründen, von denen der Schatten der Geschichte immer noch der entscheidende zu sein scheint, versucht Berlin, die Führungsrolle386 und die damit einhergehenden Risiken, der Hegemonialstellung bezichtigt zu werden, zu vermeiden. Infolgedessen können wir eine Lücke der Deutungshoheit identifizieren, die im Raum zwischen dem politischen Potenzial Deutschlands und seiner Zentripedalkraft auf der einen Seite und der Selbstwahrnehmung als »widerwilligen Hegemon«387 auf der anderen Seite entsteht. Um Deutschlands Position im inneren Kern des europäischen Integrationsprojekts zu verstehen, müssen mehrere Aspekte berücksichtigt werden. Das historische Erbe als mächtiger Staat in der Mitte Europas. Das europäische Integrationsprojekt wurde auf den Trümmern des Zweiten Weltkriegs und dem daraus resultierenden Trauma aufgebaut. Deutschlands Politik der Selbstbeschränkung nach dem Zweiten Weltkrieg bedeutete unter anderem das Paradigma der »Europäisierung Deutschlands«. Desweiteren ist die Währungsunion von entscheidender Bedeutung für die deutschen Beziehungen zu den anderen EU-Partnern. Obwohl es sich nicht um ein deutsches Projekt handelte, hat die deutsche Wirtschaft zwei Jahrzehnte nach der Einführung des Euro zweifellos am meisten davon profitiert, in relativen und absoluten Zahlen. Anthony Giddens behauptet, dass Deutschland es geschafft hat, wirtschaftlich viel mehr Macht zu erreichen, als es sich historisch jemals hätte erträumen können. Als Reaktion auf die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs hat sich in Europa ein Übergang von heftigen militärischen Konflikten zu Kooperation und politischer Regulierung vollzogen. Ab 1945 erlebten die internationalen Beziehungen eine nie dagewesene Verrechtlichung von Macht und Gewalt. Der Nationalismus und die »faschistischen Verherrlichung des Nationalstaates« waren eine deutliche Lektion über die Probleme, die durch die mangelnde Koordinierung zwischen den europäischen Regierungen verursacht wurde.388 Diese Lektion spiegelt sich am deutlichsten in der Entwicklung der deutschen Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg wider, die sich zu einem demokratischen Gemeinwesen entwickelt hat, welches tief in der politischen Kultur seines Bildungssystem, seiner 385 Schwarz, H. (2005), Republik ohne Kompass, Anmerkungen zur deutschen Aussenpolitik, Berlin: De Gruyter. 386 Stephens, P. (2013), Germany should face the German question, Financial Times, April 18, 2013. 387 Schönberge, C. (2012), Hegemon wider Willen. Zur Stellung Deutschlands in der Europäischen Union, in: Merkur 66 (2012), S. 1–8. 388 Bradley, B. (2012), Post-war European Integration: How We Got Here, E-INTERNATIONAL RELATIONS, https://www.e-ir.info/2012/02/15/post-war-european-integration-how-we-go t-here/.

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Verfassung und seiner Rechtsstaatlichkeit verwurzelt ist, und ebenfalls in der deutschen Innen- sowie Außenpolitik verankert ist. Im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden die Ängste vor einem allmächtigen deutschen Nationalstaat vor allem durch die deutsch-französische Völkerverständigung relativiert.389 Während der zweiten und dritten Beitrittswelle der EU galt die größte Angst der deutschen Nachbarn den Auswirkungen der deutschen Vereinigung und ihrem wirtschaftlichen Potenzial, welches das vermeintliche Gleichgewicht der wirtschaftlichen Kräfte in Europa ins Wanken bringen würde. Eine tiefere Integration, mit und durch die Wiedervereinigung, war damals die Antwort, wie z. B. eine Wirtschaftsunion mit einer gemeinsamen Währung. Allerdings war es Deutschland, das »die Währung aufgeben musste, die einst die Grundlage der deutschen nationalen und staatlichen Identität bildete«.390 Im Zusammenhang mit den Vorteilen, die die deutsche Wirtschaft aus der Teilnahme an der Währungsunion gezogen hat, wird oft vergessen, dass die Deutschen die D-Mark nur sehr ungern aufgeben wollten. Dieser Verzicht erfolgte auf Wunsch der Franzosen, die im Gegenzug die deutsche Wiedervereinigung begrüßten.391 Dennoch gibt es verschiedene systematische Perspektiven für Deutschland und die Begründung der Eurozone.392 Abgesehen von der Senkung der Transaktionskosten könnte man sie als die ultimative Lösung betrachten, die Europa »davor schützt, das Ungleichgewicht zugunsten Deutschlands zu verschieben. Für Europa, aber auch für ein Deutschland, das auf seiner Verbundenheit mit der D-Mark beruht, bedeutet die Präsenz Deutschlands in der Eurozone die Europäisierung Deutschlands«.393 Die Entwicklung bis zur Finanzkrise im Jahr 2008 war deshalb auch ein Derivat der Friedensdividende. Der Vollzug der deutschen Wiedervereinigung im Gegenzug für die Intensivierung der europäischen Integration erwies sich als ein Gewinn für alle Beteiligten.394 Auf der anderen Seite gilt der Euro jedoch auch als ein deutsches Instrument zur Steuerung der Wirtschaft in Europa. Das Gefälle zwischen Zentrum und Peripherie wurde durch den zunehmenden Wettbewerb zwischen den europäischen Ländern verschärft.395 Deutschland und seine westlichen Nachbarn sind mit jenen notwendigen technologischen Fähigkeiten ausgestattet, um den wirt389 390 391 392

Ebd. Czarny; Menkes 2015, S. 23. Sauga et al. 2015. Kubin, T. (2012), Kryzys gospodarczy i zadłuz˙ eniowy a zro´z˙ nicowanie integracji w Unii Europejskiej, Studia Europejskie, no. 3. 393 Czarny; Menkes 2015, S. 23. 394 Ebd., S. 25. 395 Gräbner, C.; Jakob, H. (2020), The emergence of core-periphery structures in the European Union: A complexity perspective, in: ZOE Discussion Papers 6.

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schaftlichen Wettbewerb innerhalb des Binnenmarktes zu meistern.396 Daher ist die Akkumulation solcher Fähigkeiten ein pfadabhängiger Prozess, bei dem die »Kernländer« in der Regel in die Lage versetzt werden, noch schneller noch mehr Kapazitäten zu akkumulieren, was wiederum zu einer Situation führt, in der »Erfolg weiteren Erfolg hervorbringt und Misserfolg mehr Misserfolg erzeugt«.397 Die Finanzkrise, die zur Eurokrise wurde, ist hierfür ein bekanntes Beispiel. Die Europäische Zentralbank, die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble sprachen sich dafür aus, Griechenland die Selbstbestimmung über die Abwertung seiner Währung zu entziehen. Stattdessen wurde ein Wechselkurs von einem griechischen Euro zu einem deutschen Euro durchgesetzt, um die Überweisungen und die griechische Wirtschaft selbst zu stützen. Dies führte zu dem Eindruck, dass »der deutsche Überschuss Ausdruck eines ›tugendhaften‹ Sparverhaltens ist, das auf die Peripherie übertragen werden soll«.398 Ob die deutschen Leistungsbilanzüberschüsse in gleiche Defizite der Länder der europäischen Peripherie übersetzt werden, ist bis heute umstritten. Fest steht, dass die Interdependenz Ursache und Folge der Krisen in der Eurozone ist, während die wirtschaftlichen Kosten für die NichtKooperation in dieser Zeit am höchsten waren. Deutschland stand in dieser Zeit an vorderster Front für eine tiefere Integration. Im Jahr 2011 erklärte der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble, dass es in Europa zwar eine gemeinsame Währung und damit eine gemeinsame Geldpolitik gibt, aber immer noch eine nationale Finanzpolitik. Es wurde darauf gesetzt, dass sich die nationalen Finanzpolitiken durch die Notwendigkeiten einer gemeinsamen Währung und dem Stabilitäts- und Wachstumspakt angleichen würden. Das sei jedoch nur teilweise gelungen, sodass es einem schärferen Stabilitätspakt bedarf.399 Czarny und Menkes kommen zu dem Schluss, dass alle genannten Ansichten über Deutschland und die Eurozone richtig sind, »da es keinen einzigen entscheidenden Faktor für die Schaffung der gemeinsamen Währung gab«.400 Dennoch sind die populären Ergebnisse dieser Krise entscheidend. Wie bereits angeführt, drückten die nordeuropäischen Regierungen ihren Unwillen aus, ihr exportgetriebenes Wachstum wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Die Politisierung der exklusiven nationalen Identität wiederum wirkte 396 Ebd.; Kapeller et al., 2019. 397 Kaldor 1980, S. 88. 398 Simonazzi, A.; Ginzburg, A.; Nocella, G. (2013), Economic relations between Germany and southern Europe, in: Cambridge Journal of Economics 37(3), S. 653–675. Siehe: Sachs, D. (2015), The End of Poverty. Economic Possibilities for Our Time, Penguin Books, New York. 399 SPIEGEL (2011), There is No Unlimited Support, https://www.spiegel.de/international/euro pe/german-finance-minister-wolfgang-schaeuble-there-is-no-unlimited-support-a-780248. html. 400 Czarny; Menkes 2015, S. 24.

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dem funktionalen Druck für Reformen entgegen. Das gesellschaftliche price tag der Währungsreform führte jedoch zum Aufstieg von rechtspopulistischen und rechtsradikalen Parteien im Norden und linksradikalen Parteien im Süden, wodurch die Unterstützung für etablierte, pro-europäische Parteien abnahm.401 Ähnlich wie die griechischen Demonstranten fühlten sich die Anhänger des »neuen« Euroskeptizismus in Deutschland durch die zunehmende Steuerung durch supranationale Gremien ihres Wohlstands beraubt. In Griechenland gewann die linksradikale Syriza die Parlamentswahlen 2012 und auf den Schildern der Demonstranten und den Titelseiten der Zeitungen wurden Angela Merkel und Wolfgang Schäuble als Reinkarnationen von Adolf Hitler dargestellt. In Deutschland hingegen wurde die öffentliche Meinung vor allem auf der rechten Seite des ideologischen Spektrums politisiert. Bei der Bundestagswahl 2013 erreichte die Alternative für Deutschland 4,7 % der Wählerstimmen und scheiterte damit nur knapp an der Fünf-Prozent-Hürde für den Einzug in den Deutschen Bundestag, verblüffte aber die Öffentlichkeit mit diesem nie dagewesenen Stimmenzuwachs aus dem Stand heraus. Die Partei wurde erst wenige Monate zuvor aus Protest gegen die Eurorettungspolitik gegründet.402 An der Schwelle zur Flüchtlingskrise und der anschließenden Schengen-Krise verkündet die Merkel-Regierung vermeintlich unilateral alle auf dem Balkan gestrandeten Migranten aufnehmen zu wollen, was dazu führte, dass innerhalb weniger Wochen schätzungsweise eine halbe Million Menschen nach Deutschland kamen, um sich um Asyl zu bewerben. In der deutschen Öffentlichkeit gab es eine breite Unterstützung für die Aufnahme von Flüchtlingen und eine herzliche Begrüßung an größeren Bahnhöfen. Kurz nach dieser Entscheidung jedoch war die deutsche Bürokratie mit dem Zustrom von Menschen überfordert, so dass das Land Grenzkontrollen einführte. Ein Dominoeffekt trat ein, als die Mitgliedsstaaten im Südosten, die Slowakei, Österreich, Ungarn und Kroatien, ihre Grenzen schlossen und re-militarisierten. Ausgehend von Deutschland als Epizentrum entwickelte sich die Flüchtlingskrise zu einer vollwertigen Krise des Schengen-Raums, in der die Mitgliedsstaaten nicht in der Lage oder nicht willens waren, gemeinsame Lösungen für diese Migrationsherausforderung zu entwickeln. »Stattdessen griffen sie zu unilateralen Maßnahmen wie der vorübergehenden Schließung der Binnengrenzen, die das Überleben des Schengen-Raums bedrohten«.403 Die öffentliche Unterstützung für die Willkommenskultur sank und wurde stark polarisiert, da sich nicht nur das Momentum der Protestarena von links nach rechts verschob. Die AfD als Anti-EU-Protestpartei drängte in die 401 Hooghe, Marks 2019, S. 1120. 402 Decker, F. (2022), Etappen der Parteigeschichte der AfD, Etappen der Parteigeschichte der AfD, bpb.de. 403 Brack, Gürkan 2020, S. 8.

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Innerer Kern – Deutschland im Herzen der europäischen Integration

Landesparlamente und schließlich 2017 mit 12,6 % der Stimmenanteile in den Bundestag. Das deutsche politische System galt bis dato als eines der letzten Bollwerke gegen den Rechtspopulismus in Europa und das Schlagwort Rechtsruck kursierte in den Medien, um das plötzlich wahrgenommene Auftreten nationalistischer Töne in der Bevölkerung sowie auf politischen Kundgebungen und dessen folgende parteipolitische Institutionalisierung zu beschreiben. Da der deutsche Euroskeptizismus zuvor vor allem im liberal-konservativen politischen Spektrum anzutreffen war und sich lediglich in einer ökonomischkonnotierten nationalistischen Rhetorik äußerte, traf die Migrationskrise schließlich »einen Nerv der nationalen Identität, weil sie Europas Bevölkerungen aufforderte, kulturell unterschiedliche Menschen aufzunehmen«.404 Im Jahr 2015 wurde die Einwanderung in fast allen Ländern der EU zum wichtigsten Thema und die wachsende öffentliche Unterstützung für nationalistische Parteien erschwerte es den Regierungschefs, auf europäischer Ebene Vereinbarungen zu treffen. Anfang 2016 schien der Druck der Wähler, »die Tür zu schließen, unwiderstehlich«.405 Angela Merkels Popularität sank aufgrund der Besorgnis über den Zustrom von Flüchtlingen und Migranten nach Deutschland rasch ab. Die Regierung verabschiedete ein restriktiveres Asylgesetz und führte Verhandlungen über ein Abkommen mit der türkischen Regierung, um Migranten von der Überfahrt über die Ägäis abzuhalten. Die damalige sozialdemokratisch geführte Regierung in Österreich beschloss jährliche Obergrenzen für Migranten und Schweden reduzierte die Sozialhilfe für Flüchtlinge.406 Angesichts der unilateralen Maßnahmen und ihrer negativen Externalitäten in der EU bemühte sich die Große Koalition um die Durchsetzung von Flüchtlingsumverteilungsquoten gemäß dem Dublin-Abkommen. Der deutsche Motor der europäischen Integration scheint aus heutiger Perspektive den Prozess durch eine Überstrapazierung, vor allem in der eigenen Gesellschaft, selbst ins Stottern geraten zu sein und hinterließ nicht nur zwischenstaatlich, sondern auch innerhalb der anderen europäischen Mitgliedsstaaten nachhaltige gesellschaftliche Gräben. Die Entscheidung der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel spielte auch eine wichtige Rolle bei der Vorbereitung des Brexit-Referendums über den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der Europäischen Union.407 Nach dem Referendum gab Merkel die langjährige Opposition gegen ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten auf, konstatierte die Notwendigkeit einer differenzierten Integration und den Mut für einige Länder, voranzugehen, wenn nicht alle mitmachen wollen. Ein Europa der 404 405 406 407

Hooghe, Marks 2019, S. 1122. Ebd. Ebd. Leruth et al. 2021, S. 9.

Das Erbe der Vergangenheit und das europäische Vehikel

129

unterschiedlichen Geschwindigkeiten wurde fortan als notwendig angesehen, sonst bliebe der Integrationsprozess stecken.408 Deutschlands Platz und die Rolle innerhalb der europäischen Integration geht weiterhin mit Widersprüchen einher, in seinem Anspruch, der Anführer eines geeinten und gestärkten Europas zu sein. Bereits 2014, nach der russischen Annexion der Krim und dem Krieg in der Donbass-Region, setzte sich die Regierung um Bundeskanzlerin Merkel gemeinsam mit Frankreich für eine harte Haltung bei den Sanktionen gegen Russland und für eine tiefere Integration in der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ein, damit die EU einheitlich auf externe Schocks reagieren kann. Außerdem sollte eine Energieunion die Anfälligkeit der einzelnen Staaten in Bezug auf die Energieabhängigkeit von russischem Öl und Gas verringern. Im Gegensatz dazu ruderte Deutschland zurück und kooperierte im Fall von Nord Stream II sogar aktiv mit der russischen Pipelinepolitik, was den Zusammenhalt der EU im Energiesektor untergrub.409 Im unmittelbaren Anschluss and die russische Invasion der Gesamtukraine im Februar 2022 rief Olaf Scholz, der designierte Bundeskanzler der neuen sozialdemokratisch-liberal-grünen Ampelkoalition im Deutschen Bundestag die Zeitenwende aus. Diese steht für ein neues Verständnis von deutscher (außen-) politischer Führung in Europa. Hierfür wurde eine Investition von 100 Milliarden Euro angekündigt und sich damit dem wiederauferstandenen Realismus der Machtpolitik in Europa angepasst. Jedoch sollte diese Summe ursprünglich vielmehr der öffentlichen Hand dazu dienen, das eigene Militär, das in den Jahrzehnten zuvor stark vernachlässigt und bürokratisiert wurde, wieder auf Vordermann zu bringen. Vor allem die erste Hälfte des Jahres 2022 war geprägt von (inter-)nationalen Auseinandersetzungen über das Zögern der Scholz-Koalition, sich an den vom Westen unterstützten Waffenlieferungen zur Verteidigung der Ukraine zu beteiligen. In der Öffentlichkeit gab es eine relativ breite Unterstützung für eine Wende des strategischen Verständnisses Deutschlands in einem veränderten politischen Umfeld. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wandte sich an die Bevölkerung, um ihre Verbündeten und ihr Land zu verteidigen. Dafür sei eine starke Armee notwendig. Als das »starke Land im Herzen Europas« habe Deutschland eine Aufgabe zu erfüllen, muss konfliktfähig werden.410 Nachdem Olaf Scholz den Begriff der Zeitenwende für Deutschland in Europa in Anspruch genommen hat, scheint seine strategische Bedeutung jedoch bereits in Koalitionsstreitigkeiten und Bürokratie verpufft zu sein und die Zustim408 Vgl. Telle, S., Badulescu, C.; Fernandes, D. (2023), Attitudes of national decision-makers towards differentiated integration in the European Union. Comp Eur Polit 21, S. 82–111. 409 Wigell, M.; Vihma, A. (2016), Geopolitics versus geoeconomics: The case of Russia’s geostrategy and its effects on the EU, in: International Affairs (92), S. 605–627. 410 Quinville, R., (2022), Germany’s Zeitenwende: New Era, New Language, Wilson Center.

130

Innerer Kern – Deutschland im Herzen der europäischen Integration

mungsrate von Olaf Scholz, seiner Partei und seiner Koalition.411 Es bleibt daher offen, ob die erste Mitte-Links-Regierung nach der Ära Merkel über genügend interne und externe Kapazitäten verfügt, um einen Weg zur weiteren Vertiefung der europäischen Integration mit deutschem Antrieb zu gestalten, oder ob ihre Parteien die Tür zu einer differenzierten Integration offen halten. Dennoch ist Deutschlands Entschlossenheit, im inneren Kern der EU zu bleiben, unbestreitbar. Ebenso klar sind die deutschen Visionen für die Zukunft Europas, die sich Berlin als immer stärker integriert, föderalistischer und mittlerweile auch differenzierter vorstellt. Blickt man auf die letzten drei bis vier Jahrzehnte zurück, so verlieren die ältesten historischen Volksparteien CDU und SPD, Lipsets und Rokkans deutsche Paradebeispiele für den Prototyp der Volkspartei, kontinuierlich an Mitgliedern und Wählern. Der Aufstieg der AfD steht dabei für einen fortgeschrittenen Zustand der Fragmentierung. Wie diese jüngsten Veränderungen in der Parteistruktur mit der politischen Nachfrage der Wählerschaft zusammenpassen, und ob erst die Flüchtlingskrise ab 2015 den sogenannten Rechtsruck in Deutschland hervorgerufen hat, wird im nachfolgenden nachgegangen. Mithilfe der WMDS-Technik wird die (Re-)Positionierung der deutschen Parteien, insbesondere in Bezug auf integrationsspezifische Issues untersucht. Darauf folgen mehrerer, die die repräsentativen Determinanten und Prädispositionen der deutschen Bevölkerung im Hinblick auf europäische Integration der letzten zwanzig Jahre modellieren.

5.2

Die Nachfrage nach Europa als Motor der Integration?

Eine Analyse der deutschen Nachfrageseite deutet an, dass die durchschnittlichen Einstellungen der deutschen Wahlbevölkerung zur europäischen Integration von 2004 bis 2018 kontinuierlich um mehr als einen Punkt auf der ZehnPunkte-Skala gestiegen sind, von 5,10 auf 6,21, und dann wieder auf 6,02 im Jahr 2020 gesunken sind. Die jeweilige Standardabweichung von den Mittelwerten, in diesem Fall unsere Messung für die gesellschaftliche Polarisierung zu europäischer Integration, ist von 0,0561 im Jahr 2002 auf 0,0524 im Jahr 2014 gesunken, stieg dann aber um 14,5 % auf 0,0600 im Jahr 2018. Folglich nahm auch die Polarisierung in der repräsentativen Bevölkerung zu. Bis 2020 sank das diese wieder auf 0,0325 Standardabweichungen ab.

411 Forschungsgruppe Wahlen e.V. (2023), Politbarometer Mai II 2023, https://www.forschungs gruppe.de/Aktuelles/Politbarometer/.

ei migr_ einst. ökon

migr_ kult

P>|t| 0.000

0.000

0.000

0.006

.062666

.0291783

0.000

0.001

0.014

.0670581 .1914163

.2219554 -.4706203

0.000 .1719704

.0512489

.0429555

.240475

Std. .0262256 .0257733 .0553357 .0216383 Err. P>|t| 0.000 0.000 0.035 0.000

0.044 .1941207

P>|t| 0.000 0.000 0.000 Coef. -.1975108 -.2444958 -.1169676 .2636365

Coef. -.1671713 -.212305 Std. 2018 .0361288 .0338561 Err.

2014

-.1646426

.0554215

.0270717

0.042

.0516649

.104945

0.000

0.000

.1918526

urban

.0494991

nichtwahl

.0284047

0.001

.0568447

.0266363 0.000 .1882089

.1865285

comf uminc welt

red_ zufrieden_ starker_ eink_ dem staat diff .1472169

.1119277

anti_ hms

.2393003

Std. .0341388 .033424 Err. P>|t| 0.000 0.000

Coef. -.1926085 -.2256564 Std. 2012 .0277146 .0276465 Err.

2008

P>|t| 0.000 0.000 Coef. -.2549407 -.2054239

Coef. -.249306 -.2381518 Std. 2004 .0334191 .0331293 Err.

DE

R2

N

0.021

0.2410 1,885

0.2744 2,553

0.1989 2,357

0.2119 2,103

.0709874 0.2346 2,152

.1645441

bilsekt dung

Tabelle 2: Ergebnisse der multiplen linearen Regression für die wahlberechtigte deutsche Bevölkerung von 2004 bis 2018 auf Basis der ESS-Runden 02–09

Die Nachfrage nach Europa als Motor der Integration?

131

132

Innerer Kern – Deutschland im Herzen der europäischen Integration

Um mit der Analyse der deutschen Nachfrageseite zu beginnen, sollen die Ergebnisse der Faktorenanalysen für den jeweiligen Zeitraum kurz repliziert werden. Die sechs Einstellungsitems, die in allen Modellen enthalten sind, laden mit Ausnahme von 2012 fast ausschließlich auf einen kulturellen Faktor (migr_ökon, migr_kult, anti_hms). Die anderen Einstellungsitems laden auf einen Faktor, der nicht eindeutig interpretiert werden kann. Zusätzlich deutet die Faktorenanalyse 2018 einen weiteren gemischten Faktor und einen kulturellen Faktor, der als Wohlfahrts-Chauvinismus interpretiert wird: ökonomische und kulturelle Zurückhaltung gegenüber Migration sowie die Präferenz für die Senkung von Einkommensunterschieden (migr_ökon, migr_kult, red_eink_diff) laden auf einen Faktor. In Bezug auf R2 erklären die Regressionsmodelle etwa 20 % bis 27 % der Variation in den Einstellungen zur europäischen Integration unter der deutschen wahlberechtigten Bevölkerung. Von den nachfolgend genannten Variablen sind alle Regressionskoeffizienten signifikant und wirksam für den gegebenen Zeitraum unter der Bedingung, dass alle anderen Variablen im Modell enthalten und konstant sind. Die Befürwortung einer Verringerung der Einkommensunterschiede (red_ eink_diff) übt einen positiven Effekt auf die Einstellung zu mehr europäischer Integration in den Jahren 2004 und 2018 aus. Der Wunsch nach einer starken Regierung zum Schutz der Bürger (starker_staat) hat nur einmal im Jahr 2014 einen moderat negativen und signifikanten Effekt (-.16). Von den sozioökonomischen und soziostrukturellen Items erweist sich die Selbsteinschätzung über eine komfortable Einkommenssituation (komf_eink), nie als signifikant, ebenso wie die Variable Bildung. Die Variable für den Berufssektor der Befragten (sekt) mit ihrer aufsteigenden Kodierung vom primären bis hin zu einem »quartären« Sektor ist nur 2004 signifikant, mäßig stark und positiv (.16). Der Koeffizient für die Urbanität des Wohnorts (urban) erweist sich als stark im Jahr 2008 (.19) und mäßig stark im Jahr 2012 (.10). Im Gegensatz dazu erweisen sich die Koeffizienten für die wirtschaftliche und kulturelle Ablehnung der Migration (migr_ ökon, migr_kult)) in allen Modellen als stark negativ und signifikant. Die Einstellung, dass Migranten für die Wirtschaft des Landes schädlich sind, ist im Jahr 2004 relativ gesehen stärker negativ (-.25) als die Einstellung, dass das kulturelle Leben des eigenen Landes durch die Migration untergraben wird (-.24). Dies ändert sich jedoch im Laufe der Zeit und die kulturelle Ablehnung der Migration überwiegt konstant der ökonomischen, wobei der stärkste negative Effekt auf die EI-Einstellungen im Jahr 2014 (-.24) zu verzeichnen ist und danach bis 2018 auf einem ähnlichen Niveau bleibt (-.21). Zudem deuten die Faktorenanalysen

Die Nachfrage nach Europa als Motor der Integration?

133

darauf hin, dass die ökonomische Ablehnung von Migration kulturell zu interpretieren ist, da sie konsistent auf einen Faktor mit kulturellen Items lädt.412 Das Item zur Messung der Zufriedenheit mit der Demokratie (zufrieden_dem) hat hingegen einen starken positiven und signifikanten Effekt auf die ahängige Variable, der in den Jahren 2014 (.26) und 2018 (.24) seinen Höhepunkt erreicht. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass Wähler, die mit dem Funktionieren der Demokratie in Deutschland unzufrieden sind, mit höherer Wahrscheinlichkeit die europäische Integration ablehnen. Die Ablehnung der Freiheiten von Homosexuellen (anti_hms) ist nur 2014 signifikant und wirkt sich negativ auf die EI-Einstellungen aus (-.12). Schließlich ist der Koeffizient für Umweltfürsorge signifikant und stark positiv im Jahr 2004 (.19) und von 2012 bis 2018 (.11, .19, .22). Auffallend ist vor allem, dass im Regressionsmodell der letzten ESS-Welle die Wahlenthaltung bei der letzten nationalen Parlamentswahl (nichtwahl) einen sehr starken negativen Effekt auf die Einstellung zu weiterer europäischer Integration hat (-.47). Insgesamt zeigt sich deutlich, dass die Ablehnung der Integration durch migrationsfeindliche Einstellungen in der Wählerschaft bedingt ist. Der Effekt der Angst vor kultureller Unterminierung überwiegt im Laufe der Zeit eindeutig der Angst vor wirtschaftlichen Verlusten. Umgekehrt ist es wahrscheinlicher, dass die Befragten, die den Multikulturalismus als Folge der Migration begrüßen, die EU-Integration im Rahmen der Logik dieses Modells gutheißen. Interessanterweise spielt keine der soziostrukturellen Variablen Bildung, Beruf und Wohnort eine konsistente Rolle bei der Erklärung der Unterschiede. Die Variable, die die Einstellung zur Verringerung von Einkommensunterschieden angibt (red_ eink_diff), spielte ebenfalls nur in 2018 eine signifikante Rolle für die unabhängige Variable (.17). Komfortabel mit dem eigenen Einkommen zurecht zu kommen (komf_eink) entfaltet im Regressionsmodell keine Erklärungskraft. Die konsistente Dominanz von kultureller Abneigung gegenüber Migration, die Wichtigkeit des Umweltschutzes sowie die Zufriedenheit mit dem Funktionieren der nationalen Demokratie scheint daher mit den Merkmalen des Intergration vs. Demarkation-Cleavage übereinzustimmen. Es ist allerdings nach wie vor überraschend, dass das Item für Wahlabstinenz im Jahr 2018 Signifikanz erlangt und einen sehr starken negativen Effekt ausübt, auch nachdem die EUskeptische AfD bei der Wahl 2017 den größten Teil der Wähler aus dem Nichtwählerlager gewonnen hat.413 Unserem Modell zufolge besteht weiterhin ein erhebliches Potenzial, dass EU-feindliche, kulturell konservative Wahlberechtigte, 412 Kriesi et al. 2012. 413 Hoerner, J.; Hobolt, S. (2017), The AfD succeeded in the German election by mobilising nonvoters on the right, https://blogs.lse.ac.uk/europpblog/2017/09/29/the-afd-succeeded-in-the -german-election-by-mobilising-non-voters-on-the-right/.

134

Innerer Kern – Deutschland im Herzen der europäischen Integration

die sich der Stimme enthalten, von den Rechtspopulisten mobilisiert werden können.

5.3

Das Angebot für die Integration – Kartierung des deutschen Parteiensystems FDP

deregulierung

DIE GRÜNEN

multikult

dimension 2

CDU

urban

antimig

SPD

galtan

CSU

laworder

eu_intmark

umverteilung

anti_eu DIE LINKE

DE 2006

dimension 1

Abbildung 5: WMDS-Output für die Positionierung deutscher Parteien in 2006

galtan umverteilung

laworder antimig

SPD

DIE LINKE

dimension 2

DIE GRÜNEN

CSU CDU

umwelt

urban eu_intmark

multikult anti_eu FDP

deregulierung

DE 2010

dimension 1

Abbildung 6: WMDS-Output für die Positionierung deutscher Parteien in 2010

Das Angebot für die Integration – Kartierung des deutschen Parteiensystems CDU

FDP

SPD

135

deregulierung DIE GRÜNEN

multikult

CSU

dimension 2

umwelt

laworder

urban

galtan eu_budgets

Piraten

umverteilung DIE LINKE

DE 2014

AfD

antimig

anti_eu eu_intmark

dimension 1

Abbildung 7: WMDS-Output für die Positionierung deutscher Parteien in 2014 deregulierung

FDP

urban umwelt multikult

CDU CSU SPD

dimension 2

DIE GRÜNEN

eu_budgets

DIE LINKE

umverteilung

DE 2019

eu_intmark

antimig laworder galtan

AfD

anti_eu

dimension 1

Abbildung 8: WMDS-Output für die Positionierung deutscher Parteien in 2019

Das WMDS-Modell für das Jahr 2006 zeigt einen klaren zweidimensionalen Querschnitt einer kulturellen und wirtschaftlichen Achse, die von Antimigration bis Multikulturalismus und von Deregulierung bis Umverteilung verläuft. Der parteipolitische Raum für skeptische Positionen gegenüber der Integration (anti_eu) und dem Binnenmarkt (eu_intmark) wird von der deutschen linken, DIE LINKE (Linkspartei/PDS) eingenommen. Letztere ist auch der Umverteilungsfrage am nächsten. Anti-EU-Positionen sind wohl mit Ideen verbunden, die dem »entgrenzten« globalen Freihandel und Kapitalismus kritisch gegenüberstehen.

136

Innerer Kern – Deutschland im Herzen der europäischen Integration

Kulturelle Themen wie Multikulturalismus und Urbanismus werden von den Grünen besetzt, die damit eine typische GAL-Position vertreten, im Gegensatz zu ihrem Gegenstück, den konservativen christdemokratischen Schwesterparteien CDU und CSU. Sie besetzen jenen Pol, der autoritär-traditionell-nationalistische Werte (TAN), Migrationsskeptizismus, sowie Recht und Ordnung widerspiegelt, wobei die CSU diesen Themen am nächsten steht. Die sozialdemokratische SPD nimmt im Rahmen dieses Modells mit Ausnahme der Deregulierung eine relative Mittelposition zu den Themen ein und positioniert sich im ökonomisch linken und kulturell rechten Raum der Verteilung – relativ zu den anderen Parteien. Für 2010 behält DIE LINKE ihre Umverteilungsposition bei, gibt aber die EUskeptischen Themen relativ gesehen auf. Beide Themen erfahren überraschenderweise einen beobachtbaren Rückgang in ihrer Salienz. Darüber hinaus ist die Ablehnung der EU und des Binnenmarktes im Verhältnis zu den anderen Themen am weitesten von allen Parteien entfernt und weder programmatisch ausgerichtet noch polarisierend. Zudem haben sich CDU und CSU leicht vom zuvor besetzten kulturellen Pol (TAN, Antimigration, Recht und Ordnung) in die Mitte bewegt. Die Bundestagswahl 2013 war die erste, die mitten in der Euro-Krise stattfand. Obwohl sie die Fünf-Prozent-Hürde des Deutschen Bundestages nicht überwinden konnten, tauchten neue Parteien in der Wahllandschaft auf, die erheblich an Zuspruch gewannen: die rechtspopulistische Alternative für Deutschland (AfD) erreichte auf Anhieb 4,7 % und die Piratenpartei (PIRATEN) 2,2 %. Im WMDS-Modell 2014 besetzt die AfD zusammen mit DIE LINKE den ehemals verlassenen EU-skeptischen Parteiraum, wobei erstere näher an der allgemeinen EU-Gegnerschaft und letztere näher an der Binnenmarktopposition ist. Beide sind gleich weit von der neu aufgenommenen EU-Haushaltsfrage entfernt, wobei die Linke eindeutig die ökonomische Flanke (Umverteilung) und die Rechte die kulturelle Flanke (TAN, Antimigration, Rechtsstaatlichkeit) EU-kritischer programmatischer Angebote einbringt. Zudem ist die AfD inzwischen näher an TAN und Antimigration als die ehemals konservativste Partei, die CSU. Die deutschen Grünen befinden sich auf der genau entgegengesetzten Seite des kulturell konnotierten Anti-EU-Pols, der sich auch an Themen wie Umweltschutz und Multikulturalismus ausrichtet. Im Jahr 2019 ist die Spaltung innerhalb des Anti-Integrationsraums ähnlich geordnet wie in der vorangegangenen Periode. Allerdings ist die AfD im Vergleich zur Linken weiter in den Anti-EU-Parteiraum gerückt und ergänzt nun die TAN-Nähe mit der Ablehnung des EU-Haushalts. Nach wie vor ist die AfD weniger ablehnend gegenüber dem EU-Binnenmarkt als DIE LINKE. Abschließend lässt sich zusammenfassen, dass im Jahr 2010 die kulturellen und wirtschaftlichen Themen weniger übergreifend cross-cutting waren als davor und danach. Ein programmatischer Angebotsraum, der EU-kritisch ist, wurde

Das Angebot für die Integration – Kartierung des deutschen Parteiensystems

137

weder von der konservativen CDU/CSU noch von DIE LINKE besetzt. Das Parteienspektrum war damals schwächer zweidimensional strukturiert, bevor die AfD die politische Bühne betreten konnte, was den politischen Raum wiederum auf einen klaren zweidimensionalen Querschnitt ausdehnte. Zudem ist das Gegenstück zu dieser kulturell konnotierten EU-Skepsis seit 2014 stark mit Urbanismus, Umweltbewusstsein und vor allem Multikulturalismus verbunden. Betrachtet man das Aufkommen, die Kultivierung und die konsequente Ausrichtung der Rechten auf die EU-Themen und die Grünen als deren parteipolitischen Gegenpol, so liefert die Analyse der deutschen Angebotsseite deutliche Hinweise auf ein Integration vs. Demarkation-Cleavage entlang der zuvor diskutierten typischen Themen. Zudem ist eine Tendenz von einem ehemals ökonomischen Konflikt um die europäische Integration hin zu einem kulturellen Konflikt deutlich zu beobachten. Wir diagnostizieren daher, dass die Fahnenstange des EU-Skeptizismus innerhalb des von uns beobachteten Zeitraumes eindeutig vom traditionell-linken ins neu-rechte politische Spektrum gewandert ist. Die kulturelle Rechte ist damit zum Hauptmobilisator jenes Teils der Bevölkerung geworden, der der europäischen Integration und seinen verwandten Issues gegenüber skeptisch gesinnt ist. Sozioökonomisch betrachtet mögen diese Gruppen recht heterogen oder sogar diametral gegenübergestellt sein, kulturelle Themen üben jedoch im politischen Demarkations- bzw. anti-EU Raum Deutschlands die stärkeren Restrukturierungspotenziale aus.

6

Äußerer Kern: Polen an der Ostflanke der europäischen Union

6.1

Polen in der Europäischen Union nach dem Brexit

In diesem Teil erläutern wir die Position Polens auf der »äußeren Kernbahn« des europäischen Differenzierungssystems. Bevor wir mit der statistischen Analyse fortfahren, beschreiben wir den Weg, der Polen zu seinem derzeitigen Status unter den EU-Mitgliedern geführt hat und wie seine derzeitigen Beziehungen zum Kern der europäischen Integration sind. Vor fast zwei Jahrzehnten, am 7. und 8. Juni 2003, beantworteten 13,5 Millionen Polen die Frage des Referendums positiv: »Sind Sie damit einverstanden, dass die Republik Polen der Europäischen Union beitritt?«. Bis heute ist ein ähnlich großer Teil der polnischen Bevölkerung mit der EU-Mitgliedschaft zufrieden und erkennt an, dass die Teilnahme am europäischen Integrationsprozess ihren Lebensstandard erhöht hat. 80,1 % der Polen erkennen die wirtschaftlichen Vorteile der EU-Mitgliedschaft an. 27,8 % der jungen Polen (im Alter von 18 bis 29 Jahren) erklären, dass sie Polen verlassen würden, falls es die Europäische Union verlässt. 53,9 % der jungen Polen halten das derzeitige Niveau und den Umfang der Integration für angemessen, und nur 31,5 % würden sich für eine stärkere Integration entscheiden. Aus diesem Grund wird die Teilnahme an der Währungsunion von der öffentlichen Meinung nicht unterstützt. Nur 51 % der jungen Polen sind dagegen und 42,3 % dafür.414 Nach der Wende von 1989 war der Beitritt zur EU eine der beiden polnischen Prioritäten nicht nur in der Außenpolitik, sondern auch in der langfristigen Entwicklungsstrategie. Die andere war die Mitgliedschaft in der NATO, die bereits 1999 vollzogen wurde. Diese beiden Ereignisse krönten die westlichen Bestrebungen und dem Return to Europe, den Polen nach der Befreiung von der Ära des Kommunismus und der Abhängigkeit von Moskau nach dem Zweiten Weltkrieg einschlug. 414 Riedel, R. (2022), Poland in the European Union. LI Facts 3/2022. Liechtenstein-Institut, Gamprin-Bendern.

140

Äußerer Kern: Polen an der Ostflanke der europäischen Union

Polen trat als größtes Land, gemessen an Größe, Bevölkerung und Wirtschaft – unter den zehn neuen Mitgliedsstaaten bei. Dieser historische Erweiterungsprozess fand zehn Jahre nach der Einreichung des formellen Antrags im Jahr 1994 statt. Er schloss die vier Jahre dauernden Beitrittsverhandlungen und die zehnjährige Assoziierungsphase ab. Polen trat 2007 dem Schengen-Abkommen bei, nie allerdings in die »Endphase« der Wirtschafts- und Währungsunion ein. Nach dem Ende der einfachen Ost-West-Spaltung, die für die Zeit vor 1989 charakteristisch war und in der Polen unfreiwillig zum Ostblock gehörte, erlangte die polnische Republik ihre Unabhängigkeit zurück und konnte über ihr wirtschaftliches Schicksal unabhängig von Moskau entscheiden. Dennoch ist das historische Schicksal, zwischen Russland und Deutschland eingezwängt zu sein, in den neuen Realitäten nach dem Kalten Krieg wieder aufgetaucht. Polen, das durchaus repräsentativ für die gesamte mitteleuropäische Region ist, bleibt eine marginale halbperiphere Wirtschaft und muss sich gegenüber dem deutschen Schwergewicht positionieren. Gleichzeitig bleibt es ständig zwischen dem Wunsch nach Integration und der allgegenwärtigen Identitätsfrage gefangen, die untrennbar mit dem Bestehen eines unabhängigen Nationalstaats verbunden ist. In der Komplexität der Weltanschauungen, Visionen, Werte, Zugehörigkeit und Identität nährte die gegenseitige Nichtanerkennung der Beiträge des Westens und des Ostens zu Freiheit und Demokratie eher das Gefühl der Entfremdung als der Zusammengehörigkeit.415 Dieses Problem spiegelt sich wiederum in der Positionierung des Landes auf der Landkarte der differenzierten Integration wider. Darüber hinaus manifestiert es sich auch in der Struktur der Wirtschaft und den Arbeitsbeziehungen. Die Nachahmung der liberalen Marktwirtschaft führte nicht unbedingt zu einer ähnlichen Version des rheinischen Wohlfahrtsstaates und anderer Parameter eines spezifischen kapitalistischen Modells. Der Übergang zur Marktwirtschaft umfasste nicht nur Maßnahmen, die im neoliberalen Geist des Washingtoner Konsenses umgesetzt wurden, wie Privatisierung und Liberalisierung. Er umfasste auch Elemente wie Stabilisierung und institutionelle Harmonisierung – die Übernahme von Gesetzen, Verfahren und Normen Westeuropas, um ein erfolgreicher Kandidat für die Europäische Union zu sein.416 Es ging um ein grundlegendes Leitkonzept für eine breit angelegte sozioökonomische Transformation – ein Konzept, das stark genug ist, um die großen Debatten in Politik und Gesellschaft zu framen und den Millionen von Bürgern eine Richtung zu geben, an der sie sich orientieren können. In Polen war das Leitbild – vor allem – die Rückkehr nach Europa. Die Aussicht auf die 415 Brix E.; Busek E. (2022), Central Europe Revisited. Why Europe’s Future Will Be Decided in the Region?, Oxfordshire: Routledge. 416 Sachs J. D. (2015), The End of Poverty. Economic Possibilities for Our Time, New York: Penguin Books, S. 115.

Polen in der Europäischen Union nach dem Brexit

141

Mitgliedschaft in der Europäischen Union bildete den Bezugspunkt. Unsicherheit wurden in der Gesellschaft toleriert, wenn der Endpunkt erreichbar schien. Nach dem EU-Beitritt begann die Insider-Perspektive zu dominieren, und es wurde klar, dass die EU-Mitgliedschaft kein Nullsummenspiel ist. Es gibt viele Ebenen und Dimensionen der Integration, und verschiedene neue Mitgliedstaaten haben in dieser Hinsicht unterschiedliche Wege eingeschlagen. Nicht nur verschiedene Versionen des so genannten Sozialismus, sondern auch verschiedene Varianten des Postkommunismus haben für jedes einzelne Land spezifische Pfadabhängigkeiten geschaffen. Daher ist es wichtig, sich daran zu erinnern, dass die ehemaligen Ostblockländer ein kompliziertes Gefüge aus verschiedenen Wirtschaftsmodellen mit unterschiedlichen politischen Präferenzen bildeten. Komplexität erfordert eine differenzierte Diagnose.417 Heterogenität erfordert Differenzierung. Kein Governance-Muster kann als universales Rezept für Entwicklung gelten. Daher überrascht es nicht, dass verschiedene postkommunistische Staaten unterschiedliche Positionen auf der Landkarte der europäischen Integrationsdifferenzierung gewählt haben. Im Jahr 2003 fand das Referendum zur Ratifizierung des Beitrittsvertrags statt, bei dem 77,45 % der Polen für den EU-Beitritt stimmten, 22,55 % stimmten dagegen, und die Wahlbeteiligung erreichte 58,85 %. Nach der polnischen Verfassung sind die Ergebnisse des Referendums verbindlich, wenn die Wahlbeteiligung über 50 % liegt. Ein Jahr später, bei den ersten Wahlen zum Europäischen Parlament, lag die Wahlbeteiligung bei nur 20,9 %. Eine niedrige Wahlbeteiligung ist für viele postkommunistische Gesellschaften charakteristisch und das Ergebnis der Pfadabhängigkeit passiver politischer Kultur.418 Seit dem Beitritt ist das polnische Bruttoinlandsprodukt um insgesamt 85 % gestiegen. Es wird geschätzt, dass die EU-Mitgliedschaft das polnische BIP jährlich um mehr als 1 % erhöht (1,04 % nach Angaben des Polnischen Wirtschaftsinstituts). Zum Zeitpunkt des Beitritts war die polnische Wirtschaft eine der schwächsten in der Europäischen Union, mit einem Pro-Kopf-BIP (in Kaufkraftparität) von 51 % des EU-Durchschnitts (40 % im Jahr 1990). Nach fast zwei Jahrzehnten EU-Mitgliedschaft liegt es nun bei fast 80 %. Der Zugang zum Binnenmarkt erhöht die ausländischen Direktinvestitionen um 4,07 % und die polnischen Exporte um 3,2 %. In einem alternativen Szenario ohne Mitgliedschaft wäre das polnische BIP um 31 % niedriger und würde ca. 60 % des EUDurchschnitts betragen. Zum Vergleich: 1991, zur Zeit des Zusammenbruchs der Sowjetunion, waren das polnische und das ukrainische BIP auf einem ähnlichen Niveau. Vor dem russischen Einmarsch in die Gesamtukraine war das polnische Pro-Kopf-BIP 3,5 mal höher. Der Saldo der Transfers zwischen dem polnischen 417 Sachs J. D. (2015), S. 76. 418 Riedel 2022.

142

Äußerer Kern: Polen an der Ostflanke der europäischen Union

und dem EU-Haushalt im Zeitraum 2004–2021 beläuft sich auf insgesamt 142 Mrd. Euro. Polen zahlte 68,6 Mrd. Euro an den EU-Haushalt und erhielt 210,4 Mrd. Euro. Der größte Teil davon, 137,2 Mrd. (65,2 %), wurde für die Kohäsionspolitik ausgegeben, 66 Mrd. (31,4 %) für die Gemeinsame Agrarpolitik.419 In der Finanziellen Vorausschau 2021–2027 der Europäischen Union wird Polen der größte Empfänger sein. Im Rahmen der Kohäsionsziele sind 75 Mrd. Euro für Polen vorgesehen. Die Region, die am meisten profitieren wird, ist Schlesien, wo sich die Infrastrukturprojekte auf die Klima- und Energiewende konzentrieren werden.420 Im Rahmen der Fazilität für den Wiederaufbau und die Widerstandsfähigkeit nach der Covid-19 Pandemie stehen Polen 23,9 Mrd. Euro an Zuschüssen in Aussicht, das Land ist damit der fünfte Empfänger nach Italien, Spanien, Frankreich und Deutschland. Die Kosten-Nutzen-Analyse der polnischen Beteiligung an der Europäischen Union geht weit über die bloße Messung der Haushaltstransfers hinaus. Die Zugehörigkeit zum Binnenmarkt und die Nutzung der vier Freiheiten bringen der polnischen Wirtschaft einen enormen Mehrwert. Der freie Kapitalverkehr stimulierte den Zufluss ausländischer Direktinvestitionen. Der freie Fluss von Arbeitskräften öffnete die westlichen Arbeitsmärkte, und Millionen polnischer Arbeitnehmer nutzten die Gelegenheit, im Ausland in saisonalen oder dauerhaften Positionen zu arbeiten. Der freie Handel mit Waren und Dienstleistungen trug zur Steigerung der polnischen Importe und Exporte bei und machte Polen zu einer Überschusswirtschaft. Polen steigt auch in der Wertschöpfungskette des europäischen Binnenmarktes auf. Im Jahr 2001 war Polen führend beim Export von Stein- und Braunkohle, 2010 bei Möbeln und bereits 2020 beim Verkauf von Monitoren und anderer Elektronik. Bemerkenswert ist, dass 55 % des polnischen Exports durch ausländische Investoren generiert wird. Diese Zahl ist immer noch einzigartig im Vergleich zu anderen Volkswirtschaften der Region, wo das inländische Kapital hinter 25 % der tschechischen, 18 % der rumänischen und 13 % der slowakischen Exporte steht. Interessanterweise ist die hohe Abhängigkeit von Deutschland seit jeher das dominierende Merkmal der polnischen Wirtschaft. So hatte die deutsche Wirtschaft 1929 einen Anteil von 32 % an den polnischen Exporten, während er im Jahr 2020 mit 29 % auf einem sehr ähnlichen Niveau lag. Eine solch geringe

419 Riedel, R. (2022), Polish Economy and the European Union’s Single Market. LI Facts 4/2022. Liechtenstein-Institut, Gamprin-Bendern. 420 Ebd.

Polen in der Europäischen Union nach dem Brexit

143

Diversifizierung des Exports ist typisch für Schwellenländer und kennzeichnet auch andere mittel- und osteuropäische Staaten.421 Unmittelbar nach dem Fall der Berliner Mauer begann Polen zusammen mit einer Gruppe von ehemaligen Ostblockländern die »Rückkehr nach Europa«, was schließlich volle Integration bedeutete. Dieses Europäisierungsprojekt führte dazu, dass sie in den drei Erweiterungswellen 2004, 2007 und 2013 als Vollmitglieder in die EU aufgenommen wurden. Und trotz all dem wurde ihr Pro-EUEngagement immer wieder in Frage gestellt. Als stärkster Trend lässt sich in Polen und Ungarn eine demonstrative Kehrtwende beobachten. Sie ist nicht nur durch demokratische Rückschritte und illiberale Tendenzen gekennzeichnet, sondern auch durch eine begleitende De-Europäisierung. Für viele euroskeptische politische Akteure, wie für die Prawo i Sprawiedliwos´c´ (PiS) in Polen, entwickelte sich Großbritannien, regiert von der Konservativen Partei, zu einem wichtigen Verbündeten. Sie betrachteten den britischen Fall als ein Beispiel für einen möglichen Re-Nationalisierungsprozess422. Der Brexit-Prozess kann als Test für die Grenzen der Differenzierung in Europa angesehen werden. In der Tat testet dieser, wo Differenzierung in Desintegration umschlagen kann. Vor dem Brexit genoss London einige Ausnahmeregelungen in der Eurozone und im Schengen-Raum, die bereits als Beispiele für Differenzierung galten. Die Aushöhlung einer der vier Freiheiten, nämlich die Freizügigkeit. die in der BrexitKampagne zu einem der Hauptstreitpunkte wurde, griff jedoch eine der Grundlagen des Integrationsprojekts an und stellte die Idee der europäischen Integration in ihrem Kern in Frage. Der britische Fall hat gezeigt, dass die offene Ablehnung des Kernelement des Binnenmarktes die Richtung des Integrationskurses für Großbritannien verändert hat. Aus den Wirtschaftstheorien zur internationalen Integration wissen wir, dass ein Binnenmarkt nicht nur aus dem freien Verkehr von Waren und Dienstleistungen besteht. Die Schaffung und das Funktionieren eines Binnenmarktes hängen auch von der Liberalisierung und der Freizügigkeit der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital ab. Aus diesem Grund wurden die vier Freiheiten als untrennbare Bestandteile eines Konzepts behandelt. Zumindest bis 2020, als es dem Vereinigten Königreich gelungen ist, einen Status auszuhandeln, in dem es Zugang zum Binnenmarkt hat, während die kontinentaleuropäischen Länder keinen offenen Zugang zum britischen Arbeitsmarkt haben.423 2015 wurden sowohl die Präsidentschafts- als auch die Parlamentswahlen von der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) gewonnen, die zwar als selbsternannter 421 Ebd. 422 Ruszkowski, J. (2022), Regresywna koncepcja Unii Europejskiej na przykładzie dyskursu prowadzonego przez Prawo i Sprawiedliwos´c´, in: Rocznik Integracji Europejskiej 16, S. 21– 45. 423 Radunz, Riedel 2023.

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Äußerer Kern: Polen an der Ostflanke der europäischen Union

Euro-Realist auftrat, in der Praxis aber ein stark euroskeptischer politischer Akteur ist, sowohl in der Rhetorik als auch im Handeln. Jarosław Kaczyn´ski, der Vorsitzende der PiS, liest die Stimmungen der polnischen Gesellschaft genau und das Verhalten seiner Regierungspartei gegenüber Brüssel ist keine Überraschung. Dazu gehören unter anderem die fremdenfeindlichen Ressentiments, welche im Zuge der Flüchtlings- und Schengen-Krise angefacht wurden, die pandemiebedingten Einschränkungen, als auch der russisch-ukrainischen Konflikt. Alles in allem wird die EU nicht mehr als gelobtes Land, als Allheilmittel für die Unzulänglichkeiten der polnischen Politik und Wirtschaft oder als Preis für die Transformationsmüdigkeit gesehen. Statt einer Lösung ist die EU in den Augen vieler Polen zu einem Problem geworden. Die Euro-Skepsis von Polens engsten Nachbarn, wie Tschechien oder Partnern, wie Ungarn ist ebenfalls ein wichtiger kontextbezogener Faktor. Im Falle Polens sind wir Zeugen einer Verschlechterung der Beziehungen zwischen Brüssel und Warschau424. Dies könnte langfristig schwerwiegende Folgen haben, da die regierende PiS-Partei über alle möglichen Kommunikationsmittel verfügt und im öffentlichen Diskurs in Polen eine offen EU-feindliche Haltung vertritt.425 Der Ausdruck Polexit wurde enttabuisiert und ist in den Mittelpunkt der politischen Debatte gerückt. Nach der Rückkehr von Donald Tusk in die polnische Politik im Jahr 2021 wurde der Pro- vs. Anti-EU-Konflikt als eines der wichtigsten Themen in der polnischen öffentlichen Debatte gefördert. Dies war seit der Kampagne zum Beitrittsreferendum im Jahr 2003 nicht mehr der Fall. Der persönliche TuskKaczyn´ski-Konflikt wurde unter den neuen Umständen nach dem Brexit reaktiviert und manifestierte sich auf neue Weise. Mit Blick auf die pro-europäische Haltung der großen Mehrheit der polnischen Gesellschaft haben Tusk und seine Partei Platforma Obywatelska (PO) versucht, die Agenda der für die PiS problematischen Themen zu bestimmen. Im Gegenzug wurde die PiS-Darstellung noch souveränistischer und als Folge davon offen EU-feindlich. Eine solch starke Polarisierung in der Debatte unter den politischen Eliten könnte schließlich einen ähnlichen Effekt bei den polnischen Bürgern hervorrufen. Weiterhin ist Migration in Polen ein wichtiges Thema, insbesondere im Zusammenhang mit der europäischen Integration. Die polnische Gesellschaft ging aus dem Sozialismus als eine sehr homogene Gesellschaft hervor, was ihre ethnische und nationale Zusammensetzung betrifft. Dieses beispiellose Phänomen war das Ergebnis der Schließung der Grenzen über drei Generationen hinweg und der mangelnden Freizügigkeit innerhalb der Satellitenstaaten des Ostblocks. 424 Barcz, J. (2018), Spójnos´c´ Unii Europejskiej w dobie zmian, Sprawy Mie˛dzynarodowe, nr 2, S. 21–39. 425 Vgl. Cianciara, A.K. (2021), (De-)legitimating Differentiated (Dis)integration in the European Union: Between Technocratic and Populist Narratives, in: Journal of Contemporary European Research 17(2), S. 128–146.

Polen in der Europäischen Union nach dem Brexit

145

Seit Jahrhunderten ist Polen eine Gesellschaft, die Migration »exportiert«, was die polnische Diaspora zu einer der größten in Amerika oder Westeuropa macht. Dieser Trend hat sich nach dem EU-Beitritt sogar noch beschleunigt, als das Vereinigte Königreich, Irland und Schweden ihre Arbeitsmärkte öffneten und damit die Abwanderung von Migranten aus Polen in großem Umfang förderten. Im Laufe der Zeit, und vor allem mit dem wirtschaftlichen Aufschwung, hat sich dies geändert. Gegenwärtig befindet sich die polnische Gesellschaft im Hinblick auf das Phänomen der Migrationsströme in einer Übergangsphase. Es wandelt sich von einem Land, das Migranten exportiert, zu einem Land, das Migranten importiert, und das war schon vor dem massiven Zustrom ukrainischer Flüchtlinge als Folge der russischen Aggression gegen die Ukraine der Fall. Für einige Gruppen von Migranten und Flüchtlingen ist Polen ein Transferland, für andere wurde es zu einem Zielland, und die wachsende Zahl von Migranten in der polnischen Gesellschaft ist ein relativ neues Phänomen. Die wachsende Wirtschaft braucht den Zustrom von Arbeitskräften, insbesondere angesichts des Problems der Überalterung der polnischen Bevölkerung. Gleichzeitig ist die Entwicklung zu einer Migrationsgesellschaft in Polen politisch noch nicht verdaut worden. Anti-Migrations- und daher auch Anti-Flüchtlings-Stimmungen werden leicht als politisches Vehikel verwendet, insbesondere von den rechtsgerichteten Parteien. Die migrationsfeindliche Rhetorik bringt leichte Wahlgewinne, vor allem in den ländlichen, unterentwickelten Regionen, aufgrund der etablierten Selbstwahrnehmung der polnischen Gesellschaft als eine homogene Gesellschaft. Ethnische und nationale Vielfalt ist für einen großen Teil der polnischen Gesellschaft fremd, obwohl sie seit fast zwei Jahrzehnten im grenzenlosen EU-Raum leben. Dies ist im Zusammenhang mit der nachstehenden statistischen Analyse besonders interessant, da sich die kulturellen Grundlagen, der vorherrschende Katholizismus und die damit verbundenen traditionalistischen Werte, als entscheidend für die Erklärung der Einstellung gegenüber Migranten erweisen Für Polen und andere mittel- und osteuropäische EU-Mitgliedstaaten ist der Brexit auch im Hinblick auf den dynamischen Prozess der Differenzierung und Fragmentierung der europäischen Integration lehrreich. Vor zwei Jahrzehnten, in der Phase vor dem Beitritt, nahm das Paradigma der »Rückkehr nach Europa« eine vollständige und umfassende Mitgliedschaft in den westlichen Strukturen vorweg. Im heutigen Mittel- und Osteuropa ist das Bild sehr viel gemischter. Neben den voll integrierten Staaten, die zum Kern der EU gehören, wie die baltischen Staaten oder die Slowakei, gibt es zögerliche EU-Mitglieder, die die Grundlagen des europäischen Integrationsprojekts in Frage stellen, wie z. B. Polen und Ungarn.426 Die Kernzeit des Brexit-Prozesses fiel mit einer beispiel426 Riedel 2021.

146

Äußerer Kern: Polen an der Ostflanke der europäischen Union

losen De-Europäisierung an der Ostflanke der Europäischen Union zusammen. Mehr als zehn Jahre nach der big bang EU-Erweiterung verloren viele der neuen Mitgliedstaaten ihren anfänglichen Integrationsimpuls und begannen, sowohl auf supranationaler Ebene als auch in bilateralen Beziehungen mit Großbritannien und seiner EU-widerstrebenden Haltung zu flirten. Nach den gewonnenen Wahlen im Jahr 2015 wählte die nationalistisch-konservative Regierung Polens das Vereinigte Königreich zum strategischen Partner Nummer eins in ihrer Außen- und EU-Politik. Im Europäischen Parlament verbündeten sich die britischen Konservativen mit der tschechischen ODS (Obcˇanská demokratická strana / Demokratische Bürgerpartei) sowie der polnischen PiS in der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformisten.427 Die Entscheidung des Vereinigten Königreichs, die Europäische Union zu verlassen, warf wichtige Fragen zu den Folgen und Auswirkungen für verschiedene EU-Mitgliedstaaten sowie die Union insgesamt auf. Mit dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU hat Polen den Status eines der problematischsten Mitglieder der Union erlangt. Dies liegt sowohl an der offen euroskeptischen Haltung der Regierungspartei als auch an einigen strukturellen Merkmalen der polnischen Wirtschaft. Daher ist der polnische Fall im PostBrexit-Kontext interessant, insbesondere in Zeiten nach der Pandemie, wenn sich das System der differenzierten europäischen Integration dynamisch verändert. Die russische Aggression gegen die Ukraine ist auch für die polnischen Beziehungen zu Brüssel bzw. zu den westlichen Strukturen im Allgemeinen von entscheidender Bedeutung. Die russische Bedrohung hat schon immer als PushFaktor für die pro-europäische Haltung der polnischen Bürger gewirkt. Die beispiellose Einigkeit des Westens gegen den russischen Aggressor dient der Konsensbildung in der polnischen Europapolitik. Die Schlüsselfrage in diesem Zusammenhang ist, ob die britische Erfahrung des EU-Austritts als positives oder negatives Beispiel für andere Mitgliedsstaaten als Maßstab dienen kann. Möglicherweise könnte der Brexit die nationalistisch-populistische Regierung in Warschau zu einer noch souveränistischeren Haltung gegenüber Brüssel veranlassen. Jede Wahrnehmung eines britischen Erfolgs außerhalb der EU könnte die euroskeptischen Stimmen in Polen unterstützen und die Illusion nähren, dass Polen zum »zweiten Großbritannien« wird. So wie das Vereinigte Königreich einer der Hauptbefürworter der EU-Osterweiterung war, könnte sein Austritt aus der EU als eines der Hauptargumente für die Euroskeptiker dienen, dass es »Leben« da draußen »außerhalb der EU gibt«.428 Trotz der allgemein breiten Akzeptanz der polnischen Mitgliedschaft in der EU müssen viele Symptome ernsthaft berücksichtigt werden. Immer mehr junge 427 Radunz, Riedel 2023. 428 Riedel 2017.

Polen in der Europäischen Union nach dem Brexit

147

Polen im Alter von 18–29 Jahren sind der Meinung, dass Polen die Herausforderungen der Welt besser bewältigen würde, wenn es auf sich allein gestellt wäre. Die Flaggschiffe der EU-Politik, wie der Green Deal for Europe oder die Währungsintegration, stoßen in Polen auf starken Widerstand. Der öffentliche Diskurs ist von Euroskepsis und einer negativen Haltung gegenüber den wichtigsten EU-Institutionen sowie den größten und führenden EU-Mitgliedern, vor allem Deutschland, geprägt. In den meisten grundlegenden Fragen, wie etwa der Rechtsstaatlichkeit, befindet sich Polen in einem Konflikt mit der EU.429 Das Vereinigte Königreich, damals noch als EU-Mitglied, wurde in Polen insbesondere von der nationalistisch-populistischen Regierungspartei PiS als natürlicher Verbündeter in der Europäischen Union wahrgenommen. In Zeiten der zunehmenden Marginalisierung Polens ist der Verlust eines so wichtigen Partners innerhalb der Union von erheblichem Nachteil.430 Im Europäischen Parlament hat die PiS-Partei ihre wichtigsten Verbündeten verloren, nämlich die konservativen Europaabgeordneten. Im Rat hatte das Vereinigte Königreich den Ruf eines Unruhestifters, insbesondere in Zeiten, in denen Euroskepsis die britische Politik bestimmte. Diese Rolle des Unruhestifters wird nun von den sogenannten illiberalen Demokratien Mittel- und Osteuropas, vor allem Polen und Ungarn, eingenommen.431 Aus wirtschaftlicher Sicht darf man nicht vergessen, dass Polen in Bezug auf Wirtschaftskraft und -potenzial nicht mit Großbritannien vergleichbar ist. Im Vergleich zu Großbritannien ist Polen viel stärker vom Handel mit anderen EULändern abhängig, mehr als 70 % aller Exporte und 80 % aller Importe werden mit EU-Ländern gehandelt. Die Handelsströme zwischen den beiden Ländern unterscheiden sich erheblich. Das Vereinigte Königreich ist nicht nur traditionell ein wichtiger Akteur in der Weltwirtschaft, auch die geografische Verteilung der Handelsströme unterscheidet sich erheblich. Der Anteil des Handels des Vereinigten Königreichs mit seinen EU-Partnern war bemerkenswert niedriger als im Falle Polens. Die ersten vier Handelspartner des Vereinigten Königreichs sind die USA, Deutschland, die Schweiz und China. Drei der vier wichtigsten Handelspartner des Vereinigten Königreichs sind also Nicht-EU-Staaten. Im Gegensatz dazu werden 75 % des polnischen Handels mit EU-Ländern abgewickelt. Trotz 429 Matysek-Je˛drych, A.; Mroczek-Da˛browska, K. (2021), Brexit and its potential consequences for Poland – the perspective of Single Market Principles, in: (Hrsg.: Visvizi, A.; MatysekJe˛drych, A.: Mroczek-Da˛browska, K.), Poland in the Single Market: Politics, economics, the euro, Series: Europa – Perspectives on the EU Single Market, London and New York: Routledge, S. 299–313. 430 Agh, A. (2017), The ›Populist Explosion‹ in the West and its Effect on the NMS. The Polish and Hungarian Blind Alley of Populism Compared, Czech Journal of Political Science, nr 1/ 2018, S. 45–63. 431 Radunz, Riedel 2023.

148

Äußerer Kern: Polen an der Ostflanke der europäischen Union

der Tatsache, dass Deutschland Polens wichtigster Partner ist, bleibt das Vereinigte Königreich ein wichtiger Markt für polnische Exporte.432 Auf bilateraler Ebene können wir eine Art Asymmetrie in Bezug auf die Bedeutung des gegenseitigen Außenhandels zwischen Polen und dem Vereinigten Königreich beobachten. Großbritannien ist wiederum der zweitgrößte Markt für den polnischen Export, wohingegen Polen als Abnehmer für das Vereinigte Königreich nicht bedeutend zu sein scheint, da es hier auf Platz 11 liegt. Ein eindeutige Handelsüberschuss macht Polen abhängiger von Exporten in das Vereinigte Königreich als von Importen aus dem Vereinigten Königreich, was dazu führt, dass Polen anfälliger für alle Arten von Beschränkungen des Zugangs zum britischen Markt nach dem Brexit ist. Es ist der Zugang zum britischen Markt, viel mehr als die Ressourcen, die von dort kommen, die Polen in den Wirtschaftsbeziehungen mit Großbritannien abhängig machen. Eine weitere Dimension, die von entscheidender Bedeutung ist, ist die große polnische Diaspora, die in Großbritannien lebt. Unmittelbar nach der Erweiterung im Jahr 2004 beschloss das Vereinigte Königreich, den Arbeitsmarkt zu öffnen, ohne die siebenjährige Übergangsfrist in Anspruch zu nehmen. Dies war bei den anderen kontinentalen EU-Mitgliedstaaten der Fall, für Polen und Großbritannien allerdings für beide Seiten von Vorteil, da Polen zu dieser Zeit eine hohe Arbeitslosenquote hatte und die britische Wirtschaft in Zeiten des Wirtschaftswachstums Arbeitskräfte benötigte. Infolgedessen blieb das Vereinigte Königreich als große und dynamische Volkswirtschaft für mehr als ein Jahrzehnt nach 2004 der erste Empfänger von polnischen Wirtschaftsmigranten. Zum Zeitpunkt des Brexits war es nach Deutschland immer noch das zweitwichtigste Ziel polnischer Migranten, wenn auch in deutlich geringerem Umfang als unmittelbar nach der Erweiterung. Dennoch bedeutet der Austritt Großbritanniens aus der EU für Hunderttausende von polnischen Migranten eine Einschränkung der Möglichkeiten zur Arbeitsmobilität. Dies gilt sowohl für neue Migrationswellen als auch für Migranten, die sich bereits im Vereinigten Königreich niedergelassen haben und die von London als Folge des Brexit-Prozesses aufgestellten Kriterien für den Aufenthalt nicht erfüllen. In Zeiten, in denen die Zahl der ausreisenden polnischen Migranten deutlich zurückgegangen ist sowie im Kontext weiterer Arbeitsmärkte, die für potenzielle Migranten offenbleiben, neben der EU auch der Europäische Wirtschaftsraum und die Schweiz, spielt die Schließung der britischen Arbeitsmärkte wirtschaftlich gesehen keine so große Rolle. In Bezug auf die sozialen Aspekte allerdings schon. Die etablierten Migrationsnetzwerke in Großbritannien haben gut funktioniert. Der Brexit jedoch verschließt ihre weitere Entwicklung. Auch sprachlich war der britische Arbeitsmarkt für polnische Migranten aufgrund der weit verbreiteten englischen 432 Ebd.

Die Nachfrage der polnischen Bürger

149

Sprachkompetenzen leichter zugänglich. Nicht zuletzt begünstigte auch das liberale britische Wirtschaftsmodell den leichten Zustrom von Migranten im Vergleich zu anderen europäischen Arbeitsmärkten. Es muss auch daran erinnert werden, dass die Brexit-Kampagne zu einem großen Teil durch eine AntiMigrations-Rhetorik angeheizt wurde. Dies scheint angesichts der kolonialen britischen Geschichte und der traditionellen Offenheit des Vereinigten Königreichs für Migranten aus aller Welt recht überraschend. Dennoch stieß der Zustrom von Migranten aus Mittel- und Osteuropa und unter ihnen anteilig am meisten aus Polen in Großbritannien auf starke Kritik und Widerstand. Dies spiegelte sich in der Kampagne vor dem Brexit-Referendum wider und fand seine Konsequenzen in der Vereinbarung mit der EU nach dem Brexit. Wie die hier aufgezeigten ökonomischen und kulturellen Konfliktthemen mit der Frage der EU-Integration interagieren und daher potenziell die politische Konfliktstruktur in Polen neugestalten, wird in den nachfolgenden statistischen Ergebnissen dargestellt.

6.2

Die Nachfrage der polnischen Bürger

Ein Blick auf die polnische Nachfrage nach europäischer Integration zwischen den ESS-Runden 2 (2004) und 7 (2014) zeigt sinkende Mittelwerte um mehr als 17 % auf.433 Ab dem Jahr 2018 stiegen diese wieder auf 6,07 und endeten 2020 bei 5,99. Die Standardabweichung für die mittleren Einstellungen, und damit die Polarisierung, stieg über den gesamten Untersuchungszeitraum bis 2018 signifikant um fast 12 % und sank bis 2020 auf 0,0696 Standardabweichungen.434

433 Mittelwerte: 6,64, 6,48, 5,66, 5,49. 434 Standardabweichungen: 0,0656, 0,0649, 0,0659, 0,0729, 0,0734, 0,0696.

migr_ kult

Std. .0455663 Err. P>|t| 0.000

P>|t| 0.054 0.001 Coef. -.1783353

ei migr_ einst. ökon

0.006 .0337243

.3345493

0.000

.0702634 .0361226

0.000 0.000 -.1939422 .1504407

anti_ hms

P>|t|

Coef. Std. 2018 Err. 0.013

0.027

0.011

.0813107 .1489784

0.010

.0493854

-.1280757

0.048

0.006

0.021

0.001

0.033

.0683466 .048547

.0440484 .0728381 .0343824

0.001

bildung

-.1881075 -.0961113

0.052

.060294

-.1173719

nicht- urwahl ban

.0770199 .1410463 .0954078 -.1800146 .3795179

0.000

umwelt

-.254114 .3010034 .2207517

comf inc

-.1800521 -.2491087 -.0851401

Std. 2014 .0381406 .0400729 .0652148 .0335034 Err. P>|t| 0.002 0.000 0.000 0.001

P>|t| 0.006 0.016 0.000 Coef. -.1194425 -.1485424 -.2647974 .1156829

Coef. -.1121207 -.1051433 Std. 2012 .0406129 .0434771 Err.

2008

POL

red_ zufrieden_ starker_ eink_ dem staat diff Coef. -.0788472 -.1376885 -.2315695 .1332579 Std. 2004 .040951 .0429204 .0619621 .0348282 Err.

N

0.1092 938

0.1366 1,029

0.1383 1,275

0.0897 1,084

0.0841 1,086

sekt R2

Tabelle 3: Ergebnisse der multiplen linearen Regression für die wahlberechtigte polnischen Bevölkerung von 2004 bis 2018 auf Basis der ESSRunden 02–09

150 Äußerer Kern: Polen an der Ostflanke der europäischen Union

Die Nachfrage der polnischen Bürger

151

Das Modell erklärt im Durchschnitt für 10 % der Variation der Einstellungen zur europäischen Integration. Die Faktorenanalyse der Einstellungsitems ergibt einen kulturellen Faktor (migr_kult, migr_ökon, anti_hms) und einen gemischten Faktor für alle Zeiträume mit Ausnahme der Welle 2014. Für dieses Jahr werden ein eindeutiger kultureller und ein wirtschaftlicher Faktor (umwelt, red_eink_diff, komf_eink) extrahiert. Die Ergebnisse der Regressionsmodelle zeigen ein eigenes Erklärungsmuster für die Unterschiede in den Einstellungen zu weiterer europäischer Integration. Anders als in Deutschland ist ein negativer Effekt für alle Items, die auf einen kulturellen Faktor laden, am auffälligsten. Der negative Koeffizient für Angst vor nationalem wirtschaftlichem Schaden durch Migration (migr_ökon) ist signifikant und stark negativ in den Jahren 2008 (-.18) und 2014 (-.12). Wie bereits erwähnt, lädt diese Variable in der Faktorenanalyse auf einen gemeinsamen Faktor mit ausschließlich kulturellen Einstellungselementen. Die Furcht vor kultureller Untergrabung durch Migranten (migr_kult) ist signifikant und stark im Jahr 2004 (-.14) und nach unbedeutenden und niedrigen Werten in den Jahren 2008 und 2012 (-.11) steigt ihr Effekt im Jahr 2014 (-.15) signifikant an und erreicht im Jahr 2018 (-.18) einen Höhepunkt. Noch konsistenter ist der negative und starke Koeffizient für das Item, welches Ablehnung von Homosexualität misst (anti_hms). Es bewirkt in fast allen Perioden die stärkste Erklärungskraft innerhalb des Regressionsmodells und nimmt ab 2014 kontinuierlich zu (-.23, -.19, -.26, -24). Das Item zur Messung der Zufriedenheit mit der Funktionsweise der nationalen Demokratie (zufrieden_dem) hat 2012 einen positiven und starken Effekt (.33) und in den anderen Wellen, mit Ausnahme der letzten, einen moderaten Effekt (.13, .15, .12). Keine der soziostrukturellen Dispositionsvariablen scheint im Laufe der Zeit eine Rolle zu spielen (urban, bildung, Sekt). So sind nach 2014 die Items zur Messung der wahrgenommenen Einkommenssituation (.30, .38) und der Einstellung zur Verringerung von Einkommensunterschieden (red_eink_diff) signifikant (-.25, -.18). Beide deuten innerhalb der Grenzen des Modells darauf hin, dass die Befragten, die die EU-Integration befürworten, eher mit ihrem Einkommen zufrieden sind und eine Umverteilung nicht befürworten. Dies weicht sehr stark von den Ergebnissen Deutschlands ab, steht jedoch, wie sich in der folgenden WMDS-Analyse zeigt, im Einklang mit der polnischen Parteienpositionierung.

152

6.3

Äußerer Kern: Polen an der Ostflanke der europäischen Union

Das Integrationsangebot an der östlichen Semiperipherie

Wie die Migrationsfrage und andere kulturell eingebettete Konfliktthemen mit der Frage der EU-Integration interagieren und damit potenziell die politische Konfliktstruktur in Polen neugestalten, wird anhand der folgenden statistischen Outputs analysiert.

urban

dimension 2

laworder

galtan

PiS SDPL

LPR

SLD

umverteilung anti_eu eu_intmark S

multikult

PO

antimig

deregulierung

PSL

POL 2006

dimension 1

Abbildung 9: WMDS-Output für die Positionierung polnischer Parteien in 2006 umwelt PSL

multikult

umverteilung

dimension 2

SDPL SLD

PiS

galtan

laworder

urban

anti_eu eu_intmark antimig

PO

deregulierung

POL 2010

dimension 1

Abbildung 10: WMDS-Output für die Positionierung polnischer Parteien in 2010

153

Das Integrationsangebot an der östlichen Semiperipherie deregulierung PO

laworder

dimension 2

urban

PiS

multikult RP

galtan PSL

eu_budgets

SLD

umverteilung antimig anti_eu

umwelt

POL 2014

eu_intmark

dimension 1

Abbildung 11: WMDS-Output für die Positionierung polnischer Parteien in 2014 deregulierung PO

urban

anti_eu

SLD

dimension 2

eu_budgets antimig Wiosnia

multikult

umwelt

PiS

laworder

galtan

umverteilung PSL

eu_intmark

POL 2019

dimension 1

Abbildung 12: WMDS-Output für die Positionierung polnischer Parteien in 2014

Im Jahr 2005 ist der polnische Parteiraum nicht so klar wie zum Beispiel in Deutschland. Der traditionalistisch-autoritär-nationalistische Wertekanon und das Eintreten für Recht und Ordnung liegen relativ nahe bei den Themen Umverteilung, Ablehnung des Binnenmarktes und Anti-EU. Anders als im vorangegangenen Fall, als kulturell rechte Parteien eher mit Wirtschaftsliberalismus verbunden waren, sind die polnische rechtspopulistische PiS und die konservative bis rechtsextreme Liga Polnischer Familien (Liga Polskich Rodzin, LPR) in einem politischen Raum positioniert, der innerhalb der Länderstichprobe einzigartig strukturiert ist. Die LPR steht den Anti-EU-Themenkategorien eindeutig am nächsten, während die nationalistisch-agrarische und linke Selbstverteidi-

154

Äußerer Kern: Polen an der Ostflanke der europäischen Union

gung der Republik Polen (Samoobrona RP, S) fast nahtlos die Antimigrationskategorie besetzt. Im Gegensatz zu den Erkenntnissen über das deutsche Parteiensystem werden Multikulturalismus, Urbanismus und Deregulierung am weitesten von der Umverteilung entfernt modelliert, nur der Multikulturalismus ist von linken und liberalen Parteien umgeben. Von allen Parteien, die für den Zeitraum 2007 berücksichtigt wurden, ist die PiS eng mit einem ganzen Bündel von EU-feindlichen und kulturell rechten Themenkategorien verbunden. Die EU-Themen sind nun Teil eines stark zentripetalen nationalistischen Pols. Während es zu diesen Themen kein Gegenkonglomerat gibt, erscheint der Rest des Parteienspektrums nur auf eine bestimmte Themenkategorie ausgerichtet. Innerhalb dieses Raums hat sich die PiS nur geringfügig von der Themenkategorie der Umverteilung entfernt und steht ihr nach wie vor ähnlich nahe wie linke Parteien. Im WMDS-Modell, das das polnische Parteiensystem im Jahr 2011 abbildet, haben sich die Polnische Volkspartei (Polskie Stronnictwo Ludowe, PSL) und insbesondere die PiS allmählich von der Ablehnung der Einwanderung, der EUIntegration und des Binnenmarktes entfernt, sind aber nach wie vor eng mit den TAN-Werten und Recht und Ordnung verbunden. Die Umverteilung ist nun relativ gleichauf mit dem Demokratischen Linksbündnis (Sojusz Lewicy Democraktycznej, SLD) und der Bewegung der Bürgerplattform Palikot (Ruch Palikota, RP). Die Parteistruktur ist in dieser Periode von spezifischer Natur. Die wirtschaftlichen und kulturellen Hauptkonflikte sind eher getrennt, als dass ihre Pole aufeinander abgestimmt sind oder sich überschneiden. Einige Themenkategorien wie Umwelt und EU-Gegnerschaft scheinen sich der Erklärungskraft der wirtschaftlichen Achse zu entziehen. Die WMDS-Analyse 2019 enthüllt, dass der Anti-EU-Parteiraum erneut von der PiS und Kukiz als rechtem Konkurrenten besetzt wurde, welcher sich stark am TAN-Pol der Parteikonfiguration ausrichtet. Auch hier überschneiden sich die Hauptkonfliktachsen nicht, weshalb sich der EU-Binnenmarkt der Modelllogik dieser Konflikte entzieht. PiS führt nun die Regierung an und hat sich hauptsächlich auf kulturell konnotierte EU-Stimmungen wie Antimigration ausgerichtet, aber die Umverteilung nicht völlig aufgegeben. Sie scheint sich um Souveränität zu bemühen, wenn es um den EU-Haushalt geht, um TAN-Werte und Recht und Ordnung, aber weniger um den Schutz der nationalen Wirtschaft vor dem EU-Handel. Darüber hinaus wurde 2019 ein vorläufiger EU-freundlicher, multikultureller und umweltfreundlicher Gegenpol durch Wiosna besetzt, welcher zuvor nur lose strukturiert war. Fasst man die polnischen WMDS-Analysen von 2005 bis 2019 zusammen, so ist der zunächst grob strukturierte parteipolitische Konfliktraum von einer Neuorientierung an EU-Themenkategorien geprägt, insbesondere für das rechte Parteienspektrum, welches kulturell konnotierte Anti-EU-Stimmungen

Das Integrationsangebot an der östlichen Semiperipherie

155

aufnimmt, aber seine räumliche Nähe zur Umverteilung beibehält. Obwohl sich seit 2007 langsam ein EU-freundlicher, multikultureller GAL-Gegenpol entwickelt hat, ist das polnische Parteiensystem stark durch einen Schwerpunkt strukturiert, der aus Antimigration, Recht und Ordnung, TAN-Werten und Opposition zur EU-Integration besteht und nicht umgekehrt. Dies könnte mit der verbleibenden Nähe zur Kategorie der Umverteilungsthematik und damit der Popularität des Wohlfahrts-Chauvinismus, als autoritäre Reaktionen gekoppelt mit gesetzgeberischen Maßnahmen, die darauf abzielen, der einheimischen Mehrheit einen Anschein von sozialer Gerechtigkeit zu verleihen, erklärt werden.435 Die polnischen Modelle zeigen, dass die Spaltung über die europäische Integration zwischen 2012 und 2019 einen starken kulturellen Verlauf nimmt. Die Gegner von europäischer Integration sind tendenziell stark gegen Multikulturalismus und GAL-Werte, repräsentiert durch die Einstellung zu Migration und Homosexualität. Sie neigen jedoch dazu, anders als die deutschen IntegrationsGegner, eine aktive Umverteilungspolitik zu befürworten. Die Beobachtungen auf der polnischen Nachfrage- und Angebotsseite deuten darauf hin, dass bei der Konfiguration des polnischen Parteienspektrums und den unterschiedlichen Einstellungen zur Integration in der polnischen Bevölkerung ebenfalls eine Cleavage im Spiel ist, die der Integration vs. DemarkationLogik folgt und, in Kombination mit wohlfahrtschauvinistischen Tendenzen, auf der Rechten stark kulturell konnotiert ist.

435 Norocel, C.; Hellström, A.; Jørgensen, M. (2020), Nostalgia and Hope: Intersections between Politics of Culture, Welfare, and Migration in Europe, Basingstoke: Springer Nature, S. 3.

7

Diskussion und Schlussfolgerungen

7.1

Determinanten und Dynamik differenzierter europäischer Integration im Zeitalter der Krisen

In Anbetracht der zunehmenden Komplexität der europäischen Politik, einschließlich ihres systematischen Charakters, ist ein eindimensionaler Ansatz für Einstellungen gegenüber der EU naturgemäß unzureichend. Verschiedene Prädiktoren der öffentlichen Meinungsbildung sind in unterschiedlichem Ausmaß von Bedeutung, wenn es darum geht, die Einstellung zur verstärkten europäischen Integration zu erklären. Boomgaarden und Kollegen weisen beispielsweise auf das Vorhandensein von fünf Dimensionen der EU-Einstellungen hin: Leistung, Identität, Zuneigung, Utilitarismus und Stärkung.436 Frühere Studien über die Einstellung der Bürger gegenüber der EU oder dem europäischen Integrationsprozess waren in der dichotomen Denkweise zwischen Unterstützung und Ablehnung gefangen, während sie als die beiden Seiten derselben Medaille behandelt werden sollten. In Anbetracht des vielschichtigen Charakters der europäischen Integration sind wir der Meinung, dass eingehende Untersuchungen zu diesem Thema über die Verwendung von Schlagwörtern wie Euroskeptizismus hinausgehen müssen, wenn sie die Einstellung zur EU untersuchen. Politische Unterstützung oder Verweigerung kann sich auf verschiedene Objekte der Unterstützung richten, sie kann diffus oder spezifisch sein und kann utilitaristischer oder affektiver Natur sein.437 Um die Einstellungen gegenüber dem europäischen Integrationsprozess oder seiner Differenzierung zu erklären, ist es notwendig, sie mit den ideologischen Präferenzen der unterminierenden Bevölkerungsgruppen zu kombinieren. Aus diesem Grund haben wir die Unterstützung für differenzierte Integration mit mehreren Einstellungskomponenten kombiniert, die das Gesamtbild der Einstellungen der EU-Bürger klären können. Die meisten Studien greifen auf ähnliche Modelle zurück, um die Einstellungen gegenüber der 436 Boomgaarden et al., 2011. 437 Ebd., S. 243.

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Diskussion und Schlussfolgerungen

EU zu erklären, auch wenn diese oft recht unterschiedlich konzeptualisiert sind.438 Unsere Angebots- und Nachfrage-Analyse trägt zur aktuellen Debatte über das Modell der differenzierten Integration bei. Es besteht allgemein Einigkeit darüber, dass die weitere innere Differenzierung der Europäischen Union zu einem strukturellen und wesentlichen Element der Entwicklung der europäischen Integration geworden ist. Unmittelbar nach der Finanzkrise haben viele Wissenschaftler betont, dass sich der grundlegende Kern der EU-Reform um die Eurozone dreht. Die Mitgliedschaft in der Eurozone hat einen direkten Einfluss auf die Position eines Staates in der EU. Der andere wichtige Bezugspunkt ist das Prinzip der demokratischen Rechtsstaatlichkeit, welches die Grundlage für die Zusammenarbeit innerhalb der EU und ihre Effektivität ist.439 In der von uns replizierten Literatur wird der kumulative Charakter einer Reihe von Krisen, die die europäische Integration und ihre Ausdifferenzierung betreffen, weithin anerkannt. Die sich überschneidenden Krisen müssen im Zusammenhang mit ihren Auswirkungen auf die Entwicklung und die Ungleichheiten innerhalb der Struktur der Europäischen Union auf den verschiedenen Ebenen ihrer Funktionen betrachtet werden. Die Polykrise, von der die EU betroffen ist, trägt zur Differenzierung ihrer Politik bei. Dies steht teilweise im Widerspruch zum Konzept der europäischen Integration aus den 1950er Jahren, welches davon ausging, dass sich die EU-Mitgliedsstaaten mit der gleichen Geschwindigkeit und im Rahmen einer gleichberechtigten Beteiligung an den Integrationsprojekten weiterentwickeln müssen.440 Es ist eine weithin anerkannte Tatsache, dass die Polykrise zur Differenzierung der Europäischen Union beigetragen hat. Um die Krise(n) zu bekämpfen, werden Maßnahmen ergriffen, wie zum Beispiel der Fiskalpakt. Das Ergebnis jedoch ist weitere Differenzierung und Fragmentierung der Union, die Marginalisierung der supranationalen Institutionen und die Schaffung eines separaten Haushalts für die Eurozone. Infolgedessen ist die Europäische Union zahlreichen Spaltungen und Spannungen ausgesetzt. Die Krise ab 2008 hat den Prozess der Schaffung einer Europäischen Union »der verschiedenen Geschwindigkeiten« mit mehreren Ebenen noch verstärkt. In diesem politischen Modell wird die Hierarchie zwischen den zentralen und den peripheren Staaten immer deutlicher. Die zentralen Staaten sind größer und stärker innerhalb des paneuropäischen politischen Systems. Im Zusammenhang mit der Intensivierung der Integrationsprozesse und der Zunahme der Zahl der 438 Ebd., S. 244. 439 Barcz, J. (2018), Spójnos´c´ Unii Europejskiej w dobie zmian, Sprawy Mie˛dzynarodowe, nr 2, S. 21. 440 Laciewicz, E. (2015), Zróz˙nicowanie procesów integracji europejskiej. Wybrane problemy, Wydawnictwo Naukowe Wydziału Nauk Politycznych i Dziennikarstwa UAM, Poznan´, S. 91.

Determinanten und Dynamik differenzierter europäischer Integration

159

Teilnehmer und der Vielfalt droht der Europäischen Union jedoch die Gefahr eines Zerfalls. Die Anwendung der flexiblen Integration auf den Integrationsprozess scheint eine Notwendigkeit zu sein.441 Der Brexit – der in dieser Publikation ebenfalls als Element der Krisenkette behandelt wird – löste insbesondere neue Diskussionen über eine differenzierte Integration in der Europäischen Union aus. Dieser wurde nicht nur als potenzielles Instrument für weitere Integrationsschritte in bestimmten Politikbereichen wahrgenommen, sondern wies auch darauf hin, dass der Versuch, jeden einzelnen Mitgliedstaat zu zwingen, dasselbe Tempo einzuhalten, ein weitreichendes Risiko auf gesellschaftlicher und damit wiederum auf staatlicher Ebene darstellt. In ihren Anfängen war die europäische Integration hauptsächlich eine Angelegenheit von Verhandlungen zwischen nationalen Eliten. Mit der Erweiterung und Vertiefung der Europäischen Union wurde sie jedoch zu einem äußerst umstrittenen politischen Thema, da die verschiedenen nationalen Öffentlichkeiten zunehmend unterschiedliche Ansichten über die EU und ihre Zukunft vertraten. Angesichts der zahlreichen Krisen, mit denen die EU konfrontiert ist, ist die differenzierte Integration in der Rechtsordnung der EU zu einer Selbstverständlichkeit geworden.442 Differenzierung wird auch als Möglichkeit gesehen, sowohl die Effizienz als auch die Legitimität der EU-Entscheidungsfindung angesichts der Herausforderungen zu erhöhen, die durch die wachsende und immer vielfältigere Mitgliedschaft in der EU entstehen. Was den Hintergrund und den Zweck der differenzierten Integration betrifft, so wird sie in erster Linie als eine Möglichkeit gesehen, mit der Heterogenität zwischen den Mitgliedstaaten umzugehen. Letztere kann sich bei der Entscheidungsfindung bemerkbar machen, wenn unterschiedliche Präferenzen es schwierig machen, zu gemeinsamen Lösungen zu gelangen. Diese Heterogenität kann sich jedoch auch auf gesellschaftlicher Ebene innerhalb eines Mitgliedsstaates niederschlagen. Die Zulassung von Differenzierung kann dann ein Weg sein, um Mitgliedstaaten oder – in unserem Kontext – Bevölkerungen und Wählergruppen zu beschwichtigen, die aus ganz verschiedenen Gründen nicht an Maßnahmen auf EU-Ebene gebunden sein wollen.443 Gleichzeitig ist die EU insgesamt weniger bereit, eine differenzierte Integration zu tolerieren, d. h. die Existenz unterschiedlicher institutioneller Regeln in den Staaten zu unterstützen, die an einigen EU-Verein441 Lasiewicz 2015, S. 100. 442 Vergioglou, I.; Hegewald, S. (2023), From causes to consequences: Investigating the effects of differentiated integration on citizens’ EU support, in: European Union Politics 24(1), S. 206– 224. 443 Schimmelfennig, F.; Sczepanski, R.; Smekal, H.; Princen, S.; Zbiral, R. (2022): Different yet the same? Differentiated integration and flexibility in implementation in the European Union, West European Politics.

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Diskussion und Schlussfolgerungen

barungen teilnehmen, aber nicht unbedingt an allen. Wähler in anderen Ländern, die eine Differenzierung anstreben, sowohl in EU-Mitgliedstaaten als auch in Nicht-Mitgliedstaaten mit differenzierteren Beziehungen zur EU, sind somit mit zwei widersprüchlichen Erzählungen konfrontiert: Auf der einen Seite hören sie von den Vorteilen der Abkehr von immer tieferer Integration und der scheinbaren Leichtigkeit der Umsetzung einer solchen Strategie. Andererseits behauptet die EU, sie sei entschlossen, es den Ländern nicht zu überlassen, sich ihre bevorzugten EU-Regeln für ein »Europa à la carte« auszusuchen. Die Entscheidung zwischen diesen beiden Darstellungen kann schwierig sein, da es für Wähler, die eine Differenzierung anstreben, gute Gründe gibt, die Entschlossenheit der EU, keine Rosinenpickerei zuzulassen, in Frage zu stellen. Die Drohung der EU, auf Differenzierungswünsche nicht einzugehen, hat ein Glaubwürdigkeitsproblem, da eine Nichtkooperation für beide Seiten kostspielig ist. Als Reaktion auf die jüngsten Krisen und Herausforderungen, mit denen sie konfrontiert ist, hat die EU insgesamt an Begeisterung für eine differenzierte Integration eingebüßt, da diese die Stabilität der EU gefährden könnte. Um zu vermeiden, mit neuen Differenzierungsangeboten konfrontiert zu werden, hat die EU daher auch weiterhin einen Anreiz, ihre Entschlossenheit zu signalisieren, weiteren Differenzierungsforderungen nicht nachzukommen.444 Wie das vorangegangene und nachfolgende Kapitel zeigt, steht diese Logik zumindest im Kontext des inneren Kerns (Deutschland) und der Peripherie (Polen) im Widerspruch zu den Determinanten und Prädispositionen der nationalen Bevölkerungen und damit eng verbunden mit den Handlungsoptionen nationaler Politiker und Regierungschefs. Um jene gesellschaftliche, innerstaatliche Determinanten und Dispositionen für (differenzierte) europäische Integration zu verstehen, ist eine eingehende Analyse der innenpolitischen Strukturen der beteiligten Länder erforderlich. Das Zusammenspiel zwischen der nationalstaatlichen und der supranationalen Dimension eines Multilevel-Governance-Systems ist sehr komplex. Es erfordert die Integration verschiedener Theorien, vor allem der großen Theorien der europäischen Integration, um supranationale Entwicklungen zu erklären und der klassischen politikwissenschaftlichen Theorien, um die Entwicklungen in der nationalen Politik zu interpretieren. Aus diesem Grund haben wir die Analyse der innerstaatlichen Nachfrage, die Wählereinstellungen und des Angebots (Parteipositionierung) eines Landes für eine differenzierte Integration und Desintegration vorgesehen. Dies ist ausdrücklich für Phänomene notwendig, die nur bedingt durch die erwähnten großen Theorien der europäischen Integration erklärt werden können, wie der Brexit im Falle Großbritanniens und die illiberal 444 Malet, G.; Walter, S. (2023), Have your cake and eat it, too? Switzerland and the feasibility of differentiated integration after Brexit, West European Politics.

Determinanten und Dynamik differenzierter europäischer Integration

161

challenge im Falle der mittelosteuropäischen Staaten. Daher trägt ein quantitativer Ansatz zum interdisziplinären Wert dieses Publikationsprojekts bei. Innerhalb des Gesamtrahmens hilft die statistische Analyse repräsentativer Umfragedaten in Kombination mit der Analyse parteipolitischer Programmdaten dabei, die treibenden Kräfte für die verschiedenen Ergebnisse der Integration auf der innenpolitischen Ebene zu identifizieren. Das Forschungsdesign geht davon aus, dass die Determinanten für die Nachfrage und das Angebot an integrationspolitischen Maßnahmen in der nationalen Bevölkerung und bei den politischen Parteien sowie deren (Mis-)Match als wichtige Triebkräfte für die europäische Integration wirken. Dies erweist sich für differenzierte Integrationsergebnisse als ebenso wichtig, wie die supranationalen Machtverhältnisse zwischen politischen Akteuren. Im Umkehrschluss gilt dies wiederum auch für die Restrukturierung nationaler Parteiensysteme. Unser Ansatz ist insofern bahnbrechend, als es bisher kein Konzept gibt, welches die Umstrukturierung der europäischen Parteiensysteme durch eine ideologische Kartierung der Positionen der Parteien einschließlich ihrer Bedeutung für EU-Themen wie Migration, den EU-Haushalt und die systematische Analyse von länderübergreifend vergleichenden, repräsentativen Umfragedaten empirisch untersucht hat. Die Methode erlaubt uns, die langfristige Stabilität von Alignments zwischen Wählern und Parteien zu messen und Rückschlüsse auf mögliche Brüche (Dealignments) oder neue Mobilisierungspotenziale (Realignments) zu ziehen. Wir untersuchten daher zunächst die Angebotsseite mit einer gewichteten multidimensionalen Skalierung (WMDS) der Parteipositionen und der relativen Aufmerksamkeit (Salienz), die bestimmten Themen programmatisch zukommt, betrachtet. Der Chapel Hill Expert Survey (CHES) liefert die Datenbasis, indem er die Parteiprogramme und das Verhalten ihrer politischen Führer für beide behandelten Länder zum gleichen Zeitpunkt vergleichend kodiert. Dieses statistische Modell ermöglicht eine mehrdimensionale ideologische Zuordnung von Parteipositionen und ihrer relativen Distanz zueinander und zu politischen Themenkategorien – über mehrere Zeitpunkte hinweg. Dieser Ansatz ist entscheidend, um die sich verändernde Struktur des parteipolitischen Raums im Zuge der europäischen Integration im 21. Jahrhunderts systematisch zu erfassen. In einem zweiten Schritt wurden die Einstellungen der nationalen Bevölkerungen auf der Nachfrageseite mit einem Polarisierungsmaß und Regressionsanalysen von repräsentativen Umfragedaten aus dem European Social Survey (ESS) berücksichtigt. Ziel ist es, die sich verändernden Determinanten und die ihnen zugrundeliegenden Faktoren für die Einstellungen gegenüber weiterer europäischer Integration in den Bevölkerungen der Stichprobe zu identifizieren, die Nachfrage nach dieser Politik im Zeitverlauf zu verfolgen und die Ergebnisse länderübergreifend zu vergleichen. Die Polarisierung in Bezug auf das Ausmaß

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Diskussion und Schlussfolgerungen

und die Tiefe der europäischen Integration wurde im Laufe der Zeit anhand der Streuung (Standardabweichung) der mittleren Einstellungen der Menschen zur europäischen Integration verfolgt und dient als grundlegendes Indiz für einen wachsenden Dissens in dieser Frage. Darüber hinaus wurden zahlreiche multiple lineare Regressionsanalysen durchgeführt, um die Einstellungen der Befragten – als abhängige Variable – im Zeitverlauf zu erklären. Dabei wurden mehrere unabhängige soziokulturelle und sozioökonomische Items sowie soziostrukturelle Kontrollvariablen einbezogen. Die durchschnittliche Einstellung zur weiteren europäischen Integration hat sich unterschiedlich entwickelt. Die polnische Bevölkerung hat über die Zeitpunkte hinweg bis 2014 den höheren Durchschnittswert bei den Einstellungen zur europäischen Integration mit rund 6,5 auf der Acht-Punkte-Skala gehalten. Ab 2014 ist dieser Wert jedoch rapide gesunken. Die deutschen Wähler erreichten mit 5,2 die zweithöchste Punktzahl und erreichten 2018 den höchsten Wert. Im Gegensatz zu Deutschland sank in Polen die durchschnittliche Zustimmung um 17 %. Interessanterweise hat dieser Rückgang seinen niedrigsten Stand im Zeitraum 2014 erreicht. Danach ist ein deutlicher Anstieg der Einstellung zur EU-Integration zu beobachten. Darüber hinaus ist das Maß der Streuung, die Standardabweichung der mittleren Einstellungen, und damit das von uns gewählte Maß für die Polarisierung in Bezug auf europäische Integration, in Deutschland (15 %) und Polen (12 %) im Laufe der Zeit stark angestiegen. Diese eingänglichen Basismessungen dienen als erste Indikatoren, die die Behauptung stützen, dass ein allgemeiner Anstieg eines constraining dissensus zwischen den jeweiligen Einwohnern in unserer Stichprobe zu verzeichnen ist. Der Anstieg der allgemeinen Einstellungen gegenüber der Integration zwischen 2014 und 2018 in Polen lässt jedoch Raum für Interpretationen, ob nicht länderspezifische kritische Ereignisse zu einer Wiederentdeckung der EU oder der Funktionalität der europäischen Union geführt haben. Für Polen wird dieser Anstieg mit der ersten russischen Invasion im Donbass und der Annexion der Krim in Verbindung gebracht. Im öffentlichen Diskurs Polens wird der ukrainische Fall oft als alternatives Schicksal zur prowestlichen Orientierung Polens ab 1989 dargestellt. In diesem Zusammenhang fungiert Russland als Push-Faktor für die Pro-EU-Haltung der Polen.445 Daher könnte die Europäische Union in diesen Zeiten als ein sicherer Hafen gegen weitere russische Aggressionen projiziert werden. Letztlich mag der Brexit auch dazu geführt haben, dass man sich verstärkt über die Nachteile dessen, aber vor allem über die Vorteile der polnischen Integration in der Europäischen Union informiert hat. In jedem der oben genannten Fälle ist der gemeinsame Nenner, abgesehen von den länderspezifischen Merkmalen, die Migrationsproblematik. Sie wird jedoch in den jeweiligen Gesellschaften aus 445 Riedel 2019.

Determinanten und Dynamik differenzierter europäischer Integration

163

einer etwas anderen Perspektive gesehen – als kulturelle Bedrohung, als wirtschaftliche Herausforderung, als Flüchtlingsdruck. Innerhalb der Grenzen der Regressionsmodelle zeigt das Gesamtmuster, dass über die Stichproben und Zeitpunkte hinweg das kulturelle Zögern gegenüber Migranten den stärksten, konsistentesten und eindeutig negativen Effekt auf die Einstellung zu weiterer europäischer Integration ausübt. Andere kulturelle Einstellungsvariablen, wie z. B. das Item, das die Ablehnung der Freiheiten von Homosexuellen misst, wirken als starke Prädiktoren für die abhängige Variable. Ähnlich wie beim Vergleich der Parteistruktur auf der Angebotsseite sind die Befragten jedoch in Bezug auf die Auswirkungen ihrer wirtschaftlichen Präferenzen auf die Einstellungen zur sozialen Eingliederung in den verschiedenen Ländern stärker diversifiziert. Darüber hinaus nimmt die Wirkung der soziostrukturellen Variablen im Laufe der Zeit in der gesamten Stichprobe fast vollständig ab. Daraus schließen wir, wiederum innerhalb der interpretativen Grenzen des statistischen Modells, dass soziokulturelle Einstellungselemente die Bildung von Einstellungen zur europäischen Integration im 21. Jahrhundert gegenüber sozioökonomischen dominieren. Da diese Analyse der Nachfrageseite, also den (Prä-)Dispositionen der Bürger gewidmet ist, deutet sie auf einen gewissen Ruf nach Politik oder Rhetorik bei der Betrachtung der europäischen Integration in der jeweiligen nationalen politischen Arena hin. Dies stellt das Potenzial der Mainstream-Parteien, aber insbesondere der grün-alternativ-liberalen und der traditionell-autoritär-nationalistischen Parteien dar, im Laufe der Zeit auf einer vermeintlichen Konfliktlinie zwischen Integration und Demarkation innerhalb der polnischen und deutschen Wählerschaft zu mobilisieren. Auf der Nachfrageseite wird deutlich, dass in allen ausgewählten Ländern mit ihren ganz eigenen nationalen Charakteristika und Logiken ein offensichtliches Potenzial für rechtspopulistische und nationalistische Parteien besteht, überwiegend auf kultureller Ebene gegen eine weitere Vertiefung und Ausweitung oder sogar den Status quo der europäischen Integration zu mobilisieren. Dies gilt auch für die Abgrenzung oder Desintegration von letzterer. Dieses Potenzial wird hauptsächlich durch die kulturelle Ablehnung der Wählerschaft gegenüber der Migration und weniger durch ihre Einstellung zu wirtschaftlichen Fragen wie der Umverteilung bestimmt. Die Analyse der Angebotsseite zeigt also, dass die konsistente Strategie der EU-skeptischen Parteien in der Tat darin besteht, die Wähler fast ausschließlich über die kulturelle Dimension gegen die politische Integration zu mobilisieren. Umgekehrt gilt dies auch für grün-alternativ-liberale Parteien und Wähler mit starken pro-europäischen kulturellen Einstellungen. Schließlich deutet unsere Fallauswahl darauf hin, dass die innenpolitische Spaltung über den Status quo und die Zukunft der Union eine entscheidende

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Diskussion und Schlussfolgerungen

Determinante für die Erklärung der unterschiedlichen Integrationsniveaus ist. Sie sind jedoch eher kultureller als wirtschaftlicher Natur, was einen wichtigen Beitrag zur bestehenden Literatur über die differenzierte Integration in Europa darstellt. Sie steht im Einklang mit anderen Erkenntnissen, die die Wissenschaftler der differenzierten europäischen Integration in den vergangenen Jahren vorgelegt haben. Liesbet Hooghe und Gary Marks sind der Ansicht, dass die Themen Einwanderung, Integration und Handel einen kritischen Punkt in der politischen Entwicklung Europas darstellen, der für politische Parteien und Parteiensysteme nicht weniger folgenreich ist als die früheren Punkte, die Lipset und Rokkan in ihrem klassischen Werk aufzeigen. Sie legen Beweise vor, die darauf hindeuten, dass Parteiensysteme in episodischen Brüchen von der Vergangenheit bestimmt werden, politische Parteien programmatisch unflexibel sind und als Folge davon der Wandel von Parteiensystemen in Form von aufsteigenden Parteien erfolgt.446 In diesem Sinne ist es wichtig zu betonen, dass sowohl die polnische PiS und die deutsche AfD in Bezug auf ihre jeweiligen Parteiensysteme relativ neue Parteien sind. Sie entstanden 2001 und 2013 in Opposition zum bestehenden Parteiensystem und als Raktion zu festgefahrenen »alten« Cleavagestrukturen. Sie bauen auf dem Fundament der entstehenden soziokulturellen Gräben auf, die ihnen als politische Vehikel dienen. Wir behaupten jedoch nicht, dass die alten Cleavages ihre Gültigkeit verloren haben. Die Strukturierungskraft früherer Cleavages für die Parteienlandschaft nimmt im Laufe der Zeit ab, aber nur wenige traditionelle Cleavages sterben vollständig aus. Das von Lipset und Rokkan beschriebene territoriale Cleavage, das religiöse Cleavage und das Klassencleavage, haben jeweils an Biss verloren, keines wurde völlig ausgelöscht, sondern vielmehr transformiert und in neue Kontexte integriert. Die Cleavage-Theorie geht von mehreren Schichten der parteipolitischen Bindung aus und nicht von der Ersetzung einer Dimension des Streits durch eine andere. Das Parteiensystem eines bestimmten Landes spiegelt sowohl die Geschichte früherer Kämpfe als auch die aktuellen Konflitklinien wider.447 Aus diesem Grund haben wir uns in dieser Studie auch mit zwei unterschiedlichen Parteiensystemen vor ihrem jeweiligen innenpolitischen Hintergrund beschäftigt. Die Cleavage-Theorie kann schließlich auch als eine Theorie der Diskontinuität in der Reaktion von Parteiensystemen auf schwerwiegende exogene Schocks verstanden werden. Veränderungen treten vor allem in Form neuer politischer Parteien auf, die bestehende Parteien auf einer neuen Konfliktlinie herausfordern.448 Die positionelle Manövrierfähigkeit politischer Parteien, die 446 Hooghe, Marks 2018, S. 109. 447 Ebd., S. 127. 448 de Vries, Hobolt 2012.

Determinanten und Dynamik differenzierter europäischer Integration

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auf früheren Cleavages etabliert sind, wird durch selbstgewählte Aktivisten, sich selbst reproduzierende Führungspersönlichkeiten und eingebettete Reputationen eingeschränkt.449 Aus diesem Grund ist es für die alten und etablierten Parteien so schwierig, flexibel auf die kritischen Impulse und die neu entstehenden Cleavages zu reagieren. Gleichzeitig ist es für die neuen politischen Parteien relativ einfach, auf die neu entstehenden gesellschaftspolitischen Spaltungen zu bauen, die als Reaktion auf die Krisen und externen Schocks entstehen. Die Bausteine unserer Argumentation stammen aus der Cleavagetheorie. Wir konzentrieren uns darauf, wie Wähler und politische Parteien im europäischen Kontext auf diese Fragen reagieren. Wir folgen der Argumentationslinie der Literatur, die sich mit dem transnationalen Cleavage befasst, und versuchen herauszufinden, was hinter den Einstellungen der Bürger zur differenzierten europäischen Integration steht. Der TAN-Pol dieser Spaltung wird von der radikalen Rechten abgesteckt. Rechtsradikale Parteien nehmen in diesen Fragen extremere Positionen ein, messen ihnen mehr Bedeutung bei und weisen eine größere innere Geschlossenheit auf als die etablierten Parteien. So wie die religiöse Spaltung und die Klassenspaltung von katholischen und sozialistischen Parteien auf der einen Seite der Cleavagedimension hervorgerufen wurden, so wird das transnationale Cleavage von rechtsradikalen Parteien auf der einen Seite mobilisiert. In dem Maße, wie das transnationale Cleavage in den Vordergrund getreten ist, waren die etablierten Parteien gezwungen, mit Themen zu konkurrieren, die weit von ihrem programmatischen Kern entfernt sind.450 Der gleichen Argumentation folgend, erkennen wir an, dass der Kern des transnationalen Cleavage die politische Reaktion auf die europäische Integration und die Einwanderung ist. In unserer Analyse haben wir uns die Beziehung zwischen den Einstellungen zur europäischen Integration und zur Migration genauer angesehen. Sie sind ein Element eines umfassenderen Globalisierungsprozesses, der sich in einer Intensivierung des internationalen Austauschs, einschließlich der Handelsströme, manifestiert. In Europa haben die Länder, die die EU bilden, beschlossen, über den freien Waren- und Dienstleistungsverkehr hinauszugehen und einen gemeinsamen Markt zu gründen und den freien Fluss der Produktionsfaktoren, d. h. des Kapitals und der Arbeit, zu liberalisieren. In diesem Sinne ist Europa das beste Testfeld für jene Konfliktlinien, die mit der Migration und der supranationalen Integration im Allgemeinen verbunden sind. Die differenzierte Integration wirft zudem die Frage nach dem Umfang und dem Niveau der Integration auf, was sie für die Untersuchung der Präferenzen der Europäer für »mehr« oder »weniger« Europa noch interessanter macht. 449 Hooghe, Marks 2018, S. 118–119. 450 Ebd., S. 111.

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Diskussion und Schlussfolgerungen

Die EU stellt aus der Perspektive des transnationalen Cleavage eine Fremdherrschaft dar; sie untergräbt den Nationalstaat und seine Autorität über die eigene Bevölkerung bzw. die Kontrolle über die Grenzen, also die traditionellen Kernattribute des Staates. Darüber hinaus erzeugt der europäische Integrationsprozess ebenso wie die Globalisierung im Allgemeinen soziale Unsicherheit und Migration wird in dieser Konstellation als Bedrohung wahrgenommen. Die wirtschaftliche Dimension, in der die Migranten einen stärkeren Wettbewerb um Arbeitsplätze, Wohnraum oder Sozialleistungen auslösen, ist jedoch nur eine von vielen. Die andere wichtige ist die kulturelle Bedrohung: in dieser Sichtweise stehen Migranten für die Aushöhlung der einheimischen Werte oder einfach für den eigenen Status in der Gesellschaft. Sie werden daher als Träger fremder Normen und Ideen wahrgenommen. Die europäische Integration, so komplex sie auch sein mag, stellt also mehrdimensionale Herausforderungen dar, und die Migrationsfrage ist dabei die wichtigste. Die Migration selbst ist jedoch ein mehrdimensionales Phänomen und die wirtschaftlichen und kulturellen Dimensionen sind für ein besseres Verständnis des transnationalen Cleavage von entscheidender Bedeutung. Hooghe und Marks bezeichnen es als transnational, weil ihr Schwerpunkt auf der Verteidigung nationaler politischer, sozialer und wirtschaftlicher Lebensweisen gegen externe Akteure liegt, die durch Migration, Warenaustausch oder Herrschaftsausübung in den Staat eindringen. Sie ist eine Reaktion auf die Veränderungen, die die subjektiv wahrgenommene nationale Souveränität schwächten, den internationalen Austausch förderten, die Einwanderung verstärkten und – in der Folge – die kulturelle und wirtschaftliche Unsicherheit verschärften.451 Das transnationale Cleavage gilt außerdem noch als transnational, da es sich früher oder später zwar mit unterschiedlichen Spezifikationen und Eigenschaften, jedoch derselben Logik in den Gesellschaften aller europäischer Mitgliedsstaaten niederschlägt. Unser deutsch-polnischer Vergleich bestätigt dies soweit. Das transnationale Cleavage stellt die etablierte Ordnung in Frage, weshalb sie ein fruchtbarer Boden für neue politische Initiativen ist. Gleichzeitig ist es ein natürlicher Boden für das populistische politische Angebot, da es im Kern gegen das Establishment gerichtet ist, den Status quo in Frage stellt und auf dem Antagonismus zwischen »uns«, der nationalen Gemeinschaft und »denen«, den »korrupte Eliten« aufbaut. Das »gemeinsame Wir« wird oft ethnisch oder nationalistisch definiert, im Gegensatz zu »denen«, die als Befürworter von Migration, Asyl und kulturellem Liberalismus dargestellt werden. »Korrumpierte Eliten« werden oft als das kosmopolitische »Brüsseler Establishment« gesehen, das der nativistischen Heimatverbundenheit gegenübersteht. Aus diesem Grund sind europäische Integration und Migration so eng miteinander verknüpft und müs451 Hooghe, Marks 2018, S. 110.

Grenzen der Messung von Angebot und Nachfrage für europäische Integration

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sen im Zusammenhang analysiert werden.452 Demnach steht die Einstellung zur Migration im Einklang mit der Wahrnehmung, dass die europäische Integration zu weit fortgeschritten ist, und die spezifischen Determinanten dieser migrationsfreundlichen und -feindlichen Haltung füttern damit wiederum die Einstellungen zur differenzierten Integration.

7.2

Grenzen der Messung von Angebot und Nachfrage für europäische Integration

Die Ergebnisse des vorangegangenen Abschnitts sollen mit einigen Bemerkungen über die Logik und die Grenzen der Interpretation verbunden werden. So soll daran erinnert werden, dass die Analyse der Nachfrageseite selbst nicht generell feststellt, welche Faktoren und kognitiven Prozesse im Spiel sind, wenn z. B. negative Einstellungen gegenüber Migration oder Homosexualität einen starken und negativen Effekt auf die Zustimmung zu einer weiteren Integration ausüben. Es wird nicht kausal festgestellt, dass zum Beispiel in der polnischen Stichprobe EU-skeptische Individuen in jedem Fall wirtschaftlich benachteiligt und feindlich gegenüber Homosexualität eingestellt sind. Es wird jedoch aufgezeigt, dass es einen Anteil innerhalb der polnischen Bevölkerung gibt, der auf der Angebotsseite mit einer Rhetorik zu mobilisieren ist, die entweder auf eine der beiden oder beide Dispositionen abzielt. Darüber hinaus könnten sozioökonomische und soziokulturelle Einstellungen in einer oder mehreren moderierenden Variablen wie Beruf und Bildung, d. h. der sozialen Schicht, verankert sein. Daher wäre eine Moderations- und Mediationsanalyse erforderlich. In dieser Arbeit werden keine derartigen Aussagen getroffen. Stattdessen wird argumentiert, dass politische Akteure, die für europäische Integration oder Differenzierung sind, keine Anreize oder strategischen Grundlagen mehr haben, um Wähler langfristig in klassen- oder schichtspezifischen Mustern zu binden. Um Wahlerfolge zu erzielen, müssen sie daher an die Einstellungen der Menschen zu kulturellen Kontroversen im Allgemeinen und teilweise an ihre individuelle wahrgenommene wirtschaftliche Position appellieren – je nach den nationalen Gegebenheiten. Im Laufe der Zeit und für ausgewählte Länder dominieren die (kulturellen) migrationsfeindlichen Erklärungsvariablen zunehmend die Analysen der Nachfrageseite, während die Auswirkungen der soziostrukturellen Variablen abnehmen. Bei der Analyse der Nachfrageseite sind die einbezogenen soziokulturellen Einstellungsvariablen im Zeitverlauf durchweg signifikant und stark. Sie fun-

452 Radunz, Riedel 2023.

168

Diskussion und Schlussfolgerungen

gieren als vereinfachende, aber effektive Erklärung für die gegenwärtigen Konfliktmuster in Bezug auf Transnationalismus und europäische Integration, jeweils in ihrem eigenen nationalen Kontext. Ausgehend von der Nachfrage- und Angebotsseite sind diese Konfliktmuster nach 2010 ausgeprägter geworden, ebenso wie die Polarisierungsmaße für die Zufriedenheit der Bevölkerung mit der EU-Integration in beiden Fällen. Letztlich steht dies im Einklang mit der postfunktionalistischen Theorie von europäischen Krisen als »kritische(r) Wendepunkt(e)« oder Beschleuniger für nationale politische Umstrukturierungen. Diese Interpretation erfordert jedoch eine weitere Klärung der Überschneidung zwischen den länderspezifischen Ergebnissen und der postfunktionalistischen Projektion der europäischen Krisen. Wie bereits erwähnt, sind die nachfrage- und angebotsseitigen Analysen nicht darauf ausgelegt, kausale Beziehungen zwischen Krise und Wandel in der innenpolitischen Auseinandersetzung zu ermitteln. Daher muss man einen logischen Zwischenschritt machen, um die exogenen Ereignisse zu berücksichtigen, die die innenpolitische Realität in den ausgewählten Fällen prägen. Die Krise der Eurozone und die Schengen-Krise zeichnen sich dadurch aus, dass sie insofern wirklich transnational sind, als sich kein nationaler politischer Führer und keine Bevölkerung langfristig den Folgen entziehen kann. Es ist zu beobachten, dass die Angebotsseite dieser Länder zunehmend von Themen und Werten (GAL vs. TAN) geprägt ist, die im Mittelpunkt der Krisen stehen, wie eben vor allem Migration. Darüber hinaus polarisiert sich die Nachfrageseite zunehmend über die europäische Integration, worauf die Werte einen erheblichen Einfluss ausüben. Daraus lässt sich logischerweise schließen, dass die europäischen Krisen zumindest einen Teil der in den Analysen beobachteten Veränderungsmuster erklären. Ein zentrales Merkmal des Aufbaus dieses Werks ist die Einbeziehung unterschiedlicher empirischer Realitäten bei der Beobachtung von Veränderungen zwischen der EU und der staatlichen Ebene und, als postfunktionalistische Konsequenz, von Veränderungen zwischen der EU und der gesellschaftlichen Ebene. Die für beide Länder gewonnenen Ergebnisse sprechen für die Entstehung eines transnationalen Cleavage auf verschiedenen Stufen mit länderspezifischen Ausprägungen sowohl auf der Nachfrage- als auch auf der Angebotsseite. Dies entspricht durchaus der Weitsicht der klassischen Cleavage-Theoretiker, die weitere Ergänzungen und Verfeinerungen ihres Modells vorschlagen. Hinsichtlich der angebotsseitigen Determinanten des Integration vs. Demarkation-Cleavage stimmen die Ergebnisse auch mit den Arbeiten von Kriesi et al. und Bornschier überein, die behaupten, dass im Zuge der europäischen Integration aufstrebende und sich wandelnde Parteien vor allem auf der kulturellen Dimension mobilisieren. Dies wurde vor allem bei den konservativen Mainstream-Parteien beobachtet, die in dieser Arbeit analysiert wurden. In Überein-

Grenzen der Messung von Angebot und Nachfrage für europäische Integration

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stimmung mit Kriesi et al. können diese Mainstream-Parteien in der wirtschaftlichen Dimension relativ konvergieren, sich aber zunehmend kulturell differenzieren (Polen), oder, wenn dies nicht gelingt, neue rechtspopulistische Konkurrenten entstehen lassen (Deutschland). Dies steht teilweise im Widerspruch zu der Behauptung von Hooghe und Mark, dass politische Parteien sticky sind, d. h. dass sie nur begrenzt in der Lage sind, ihre Positionen zu wichtigen politischen Themen langfristig zu überdenken und anzupassen.453 Dies wiederum bestätigt die Behauptung von Bornschier und Kriesi et al., dass etablierte Parteien im Allgemeinen flexibel sind, solange es Wettbewerb gibt. Dass in diesem Zusammenhang eher den letztgenannten Autoren als Hooghe und Marks zugestimmt wird, mag an der Methode der Analyse von Parteipositionen liegen. Die Postfunktionalisten betrachten »nur« die Richtung, den Stellenwert und den Dissens von Parteipositionen. Nach unserer Methode hingegen wird die Beziehung zu anderen – der paarweise Vergleich in der gewichteten multidimensionalen Skalierung – genutzt, um ein mehrdimensionales und dynamischeres Bild der Realität zu erstellen.454 Schließlich steht der relativ geringe Einfluss der Bildung in den Regressionsmodellen nicht im Einklang mit zeitgenössischen Wissenschaftlern. Höhere Bildung wurde von uns als eine der wichtigsten Voraussetzungen für den Wettbewerb in einer mobilen Welt und somit als ein starker strukturierender Faktor dargestellt. Entsprechend wurde erwartet, dass Gegner der europäischen Integration hauptsächlich durch ihre Bildung als »unsicher« bestimmt werden und ihre Ablehnung wurde als »populistische Reaktion gegen Eliten, die wenig Verständnis für nationale Grenzen haben« projiziert.455 Die geringe Wirkung dieser soziostrukturellen Disposition lässt sich jedoch möglicherweise damit erklären, dass die »Ungebildeten« sich selbst oder ihr Umfeld nicht bewusst als »Verlierer« der europäischen Integration sehen. Und sie werden auch nicht von politischen Akteuren mit der Idee mobilisiert, dass sie in Wirklichkeit jene abgehängten und ungelernten sind, die kognitiv abgehängt sind und deshalb gegen die EU sein sollten. Ähnlich wie die Schichtzugehörigkeit ist die EU-feindliche Haltung wahrscheinlich bis zu einem gewissen Grad in der Bildung verwurzelt. In diesem Zusammenhang bieten jedoch die höher und die niedriger Gebildeten selbst keine allgemeine Masse für eine phasenweise Mobilisierung und Kultivierung innerhalb der vor uns beobachteten Zeithorizonte, wie es dagegen das Wertesystem einer beobachtbaren heterogenen Gruppe von Migrationsverweigerern tut. Mit anderen Worten: Bildung liefert innerhalb unserer Regressions-

453 Hooghe, Marks 2018. 454 Kriesi et al. 2008, 2012; Bornschier 2010. 455 Hooghe, Marks 2017, S. 11.

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Diskussion und Schlussfolgerungen

modelle neben den effektiven Migrationsitems auf der Nachfrageseite keinen zusätzlichen Erklärungswert. Darüber hinaus gibt es einige Überlegungen zur Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse, die sich auf die Datenbasis, das statistische Modell und die zeitliche Perspektive auf Cleavages an sich konzentrieren. Erstens weisen die Merkmale des Chapel Hill Expert Survey zur Schätzung der Positionierung europäischer Parteien eine gewisse Anfälligkeit auf, da diese Art von Umfrage für mehrere Verzerrungen anfällig ist. Zu berücksichtigen ist der Order Bias, wonach die Reihenfolge der Wahlprogramme, die den Experten vorgelegt wurden, sich störend auf ihre Einstufungen auswirken kann. Außerdem wäre da noch der Familiarity Bias, wonach die Befragten jene Parteien, die sie kennen, höhere oder niedrigere Werte zuweisen als unbekannteren. Wenn man diese und andere Tendenzen kontrolliert, bleibt das Dilemma der allgemeinen Subjektivität der Experten. Diese kann zum Beispiel durch die persönlichen Forschungsinteressen der Experten oder die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ihrer Forschungstätigkeit beeinflusst werden. Der European Sociel Survey generiert quantitative Daten aus repräsentativen Erhebungswellen, was gewisse Rückschlüsse von Stichproben auf die Grundgesamtheit sowie Quer- und Längsschnittvergleiche ermöglicht. Aus methodischen Gründen wurden die Grundgesamtheiten nach Wahlberechtigten gefiltert, bevor sie mit Regressionsanalysen sowie Mittelwert- und Streuungsmessungen angegangen wurden. Streng genommen verstößt diese Vorfilterung gegen die Bedingungen der Repräsentativität, und die Gültigkeit der Schlussfolgerungen der vorangegangenen Kapitel ist auf die definierte Gruppe der wahlberechtigten Bürger beschränkt. Der Filter berücksichtigt somit gezielt momentane, realistische Mobilisierungspotenziale der politischen Parteien. Ausgeschlossen sind jedoch solche Dynamiken, die mit dem potenziellen Erwerb der Staatsbürgerschaft und damit des Wahlrechts bei nationalen demokratischen Wahlen für Menschen mit Migrationshintergrund einhergehen. Regierungsparteien und andere politische Akteure, die die TAN-Werte teilen, könnten beispielsweise einen Anreiz haben, die bürokratischen Abläufe so zu gestalten, dass Einbürgerungsprozesse verzögert werden und somit Migranten davon abgehalten werden, potenziell für GAL-Parteien zu stimmen. Was die Besonderheiten der statistischen Methode betrifft, die für die Analyse der Angebotsseite in dieser Arbeit verwendet wurde, so reduziert die WMDS im allgemeinen Daten mit hoher Dimensionalität und damit Komplexität durch paarweisen Vergleich auf eine niedrigere Dimension. Da es sich bei der gewichteten Multidimensionalen Skalierung um eine numerische Optimierungstechnik handelt, kann es vorkommen, dass sie nicht die »beste« Lösung berechnet, da sie sich auf lokale Minima konzentriert. Diese sind nicht unbedingt die besten Lösungen, aber immer noch besser als alle anderen modellierten

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»nahen« Lösungen.456 Außerdem wurden die WMDS-Analysen unter der Prämisse durchgeführt, dass die Daten der Parteipositionierung gut in eine zweidimensionale Struktur passen. Die berechneten Stress-I-Werte bestätigen diese Annahme. Es wird damit jedoch nicht festgestellt, ob eine zweidimensionale Struktur des Parteiraums generell die beste Lösung für jedes Modell ist. Dennoch stellt sich die Frage, ob das Hooghe-Marks’sche transnationale Cleavage tatsächlich einen permanenten Umbruch in der Struktur der politischen Auseinandersetzung widerspiegelt, wie es die Arbeit von Lipset und Rokkan einst tat. In der Tat ist dies ein zentraler Kritikpunkt an den meisten der zuvor vorgestellten post-Lipset-Rokkan’schen Cleavage-Konzepte – der zeitliche Aspekt ihrer Beobachtungsgrundlage. In der klassischen Cleavage-Theorie basiert die historische Analyse der Parteistruktur in den 1960er Jahren auf der Auswertung einer Zeitspanne von mehr als hundert Jahren. Demgegenüber betrachtet Ronald Inglehart einen Zeitraum von etwa 40 Jahren und Kriesi et al. sowie Bornschier untersuchen eine Spanne von etwa 30 Jahren.457 Der behandelte Zeitraum für diese Arbeit ist sogar auf 20 Jahre begrenzt. »Hinsichtlich der langfristigen Persistenz oder des Rückgangs von Cleavages können die Ergebnisse solcher Analysen auf bestimmte Probleme aufmerksam machen«.458 Es reicht nicht aus, nur die Sprache der klassischen Theorie zu übernehmen und die Starrheit des makrosoziologischen Ansatzes von Lipset und Rakkan zu kritisieren. In Bezug auf den Nationalstaat als Container für soziale Schichten hat sich viel verändert und die Zweckmäßigkeit, immer noch von Klasse zu sprechen, sollte in Frage gestellt werden. Die Behauptung einer neuen Cleavage oder einer critical juncture auf der Grundlage dieser relativ kurzen Zeitspannen läuft jedoch Gefahr, das Aufkommen neuer politischer Parteien und populärer Einstellungen verfrüht als epochale Zeitenwende zu postulieren.459

7.3

Differenzierte europäische Integration in der Post-Brexit-Ära – Deutsche und Polnische Perspektiven

In der Debatte über die Zukunft Europas sollte berücksichtigt werden, dass das Problem der differenzierten Integration nicht nur ein technokratisches Problem rechtlich-institutioneller Art ist. Es hat auch eine wichtige politische Dimension. Es bedarf der Politisierung und der inner- wie zwischenstaatlichen demokratischen Kommunikation, um die normativen Ansprüche für und gegen Differen456 457 458 459

Holland 2008, S. 1. Kriesi et al. 2008, 2012; Bornschier 2010. Bartolini, Mair 1990, S. 220. Mielke 2001, S. 89.

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Diskussion und Schlussfolgerungen

zierung zu artikulieren. Komplexität erfordert eine differenzierte Diagnose und differenzierte Reaktionen. Heterogenität erfordert Differenzierung.460 Dabei ist zu bedenken, dass es seit den Anfängen der Integration in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Übergangsregelungen gibt, die den Mitgliedstaaten zeitlich befristete Ausnahmen von der Anwendung des europäischen Rechts einräumen. Eine solche vorübergehende Differenzierung wurde besonders häufig im Zusammenhang mit dem Beitritt neuer Mitgliedstaaten angewandt. Seit den 1990er Jahren hat die EU darüber hinaus eine Reihe von unbefristeten Differenzierungen für bestehende Mitgliedsstaaten erfahren.461 Das System der europäischen Differenzierung, in dem wir gegenwärtig leben, besteht – rechtlich-institutionell gesehen – aus einem stark integrierten Kern, der von 14 Ländern (Belgien, Frankreich, Deutschland, Italien, Luxemburg, Niederlande, Griechenland, Portugal, Spanien, Österreich, Finnland, Estland, Slowakei und Slowenien) gebildet wird. Sie weist nur eine sehr geringe Differenzierung bei den EU-Vertragsartikeln und vollständig differenzierten Rechtsakten auf, aber eine größere Variation bei teilweise differenzierten Rechtsakten und internationalen Verträgen. Entscheidend ist, dass seine Mitglieder dazu neigen, systematisch an allen wichtigen differenzierten »Clubs« teilzunehmen, die im Rahmen des EU-Rechts (Wirtschafts- und Währungsunion, Schengen, PESCO, vier verstärkte Kooperationen) und des internationalen Rechts (Fiskalpakt, Europäischer Stabilitätsmechanismus, NATO) eingerichtet wurden, wobei es nur wenige Ausnahmen gibt. Der zweite Kreis, der als äußerer Kern oder mittlere Halbperipherie bezeichnet wird, besteht aus sieben Ländern (Schweden, Tschechien, Ungarn, Lettland, Litauen, Malta und Polen) und weist ein höheres Maß an Differenzierung und internen Unterschieden auf. Die weniger integrierte Peripherie schließlich besteht aus sechs Ländern (Dänemark, Irland, Zypern, Bulgarien, Rumänien und Kroatien) und weist in allen Bereichen einen extrem hohen durchschnittlichen Differenzierungsgrad auf.462 In unserer Studie ging es zunächst darum, die Wechselwirkungen zwischen den kritischen Ereignissen in der Europäischen Union und der innenpolitischen Spaltung über die weitere europäische Integration zu beleuchten. Es wurden einige Überlegungen zum Phänomen der europäischen Integration selbst und ihrer diskontinuierlichen, krisenbedingten Entwicklung angestellt, was zum Begriff der differenzierten Integration führte. Anschließend wurden der aktuelle Stand der Clavagetheorie und ihre möglichen Anpassungen untersucht. Durch die Darstellung der Determinanten des transnationalen Cleavage wurden die Implikationen des Postfunktionalismus und der Cleavage-Theorie miteinander 460 Sachs 2015, S. 76. 461 Schimmelfennig, 2023. 462 Chiocchietti 2023, S. 15).

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verbunden. Die folgende Operationalisierung berücksichtigte sowohl die großen Theorien als auch die systematische Darstellung von Trennlinien in der politischen Auseinandersetzung um europäische Integration und Differenzierung. Dem folgte eine tiefergehende Frage nach dem allgemeinen konzpetionellen Status der Cleavage als systemtatische Trennlinie für politischen Konflikt und was eine Cleavage eigentlich im 21. Jahrhundert konstituiert. Wir stellten heraus, dass neben einem organisationalen und einem normativen Element vor allem auch ein empirisches Element untersucht werden muss, um die Manifestation eines transnationalen Cleavagekonzepts belegen zu können. Unser empirischer Analyseteil knüpft an jene formulierten Ansprüche an und begann mit einer gewichteten multidimensionalen Skalierung (WMDS) nationaler Issue-Positionen zwischen 2004 und 2020 für den deutschen und polnischen Parteiraum. Es wurde gezeigt, dass sich in Deutschland und Polen eine Umstrukturierung entlang einer neuen Trennlinie herausgebildet hat. Dabei wurde die Frage der europäischen Integration mit der Migration sowie den GALund TAN-Werten in Einklang gebracht. Darüber hinaus wurden mehrere multiple lineare Regressionen durchgeführt, um herauszufinden, ob jene Parteien, die die europäische Integration vor allem über die Zuwanderung und andere TAN-bezogene Themen polarisieren, tatsächlich mit der Nachfrage und den Bestimmungsfaktoren der Wählerschaft übereinstimmen. Die Ergebnisse zeigen, dass die Neukonfiguration des parteipolitischen Raums mit den Determinanten der Nachfrageseite für die ausgewählten Fälle in Deutschland und Polen übereinstimmt. Unsere Analyse bestätigt, dass die Trennung von Integration und Demarkation vor allem durch die europäische Integration und die Einwanderung geprägt ist, die eng miteinander verbunden sind. Diese Trennlinie selbst formt jedoch wiederum die Grundlagen für die europäische Integration selbst neu. Es liegt auf der Hand, dass Befürworter und Gegner der europäischen Integration diese entweder als Vermittler für einen vorteilhaften Multikulturalismus oder für nachteilige Migrationsströme projizieren. Darüber hinaus ist die dieser Cleavage zugrunde liegende Logik zunehmend kultureller Natur und deutet darauf hin, dass sie sich auch kulturell weiterentwickeln wird. Die Einstellungen zur EUIntegration sind in der gesamten Stichprobe nicht konsistent von wirtschaftlichen und soziostrukturellen Dispositionen geprägt. Die wirksame Mobilisierung der Abgrenzung ist also vor allem in der Kultur verankert, genauer gesagt in den erwähnten autoritär-nationalistischen Werten. Die Idee einer weiteren Integration tangiert die Ängste vor kultureller Unterwanderung durch Migranten auf der politischen Rechten, nicht aber die Ängste vor einem ungebremsten, internationalen Kapitalismus auf der politischen Linken. Nach unserer Analyse gilt dies für divergierende geographische und historische Voraussetzungen. In Bezug auf

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Diskussion und Schlussfolgerungen

die Fallauswahl gilt Integration vs. Demarkation gleichermaßen für die westliche und die zentral-östliche Peripherie der Europäischen Union. Letztlich erklärt der hybride Charakter des untersuchten transnationalen Cleavage nicht nur neue Determinanten der nationalen politischen Auseinandersetzung, sondern verweist auch auf die großen Theorien und die differenzierte Integration zurück. Im »Jahrzehnt« oder »Zeitalter« der Konflikte zwischen funktionalen und postfunktionalen Zwängen scheinen die Migrationskrise, das Brexit-Referendum und die illiberale Herausforderung die erwähnten gesellschaftlichen Prädispositionen aktiviert zu haben. Folglich sind die ausgelösten Reaktionen über die Staatsmänner und -frauen in die supranationale und intergouvernementale Arena der Europäischen Union übergegangen (spillback). Unsere Kombination aus Stichprobenauswahl und statistischen Methoden bietet eine empirische Grundlage für diesen postfunktionalistischen Geltungsanspruch. Des Weiteren haben wir uns mit der differenzierten Integration befasst, die sowohl als wissenschaftliches Konzept als auch als reales politisches Phänomen sowohl in der akademischen Reflexion als auch im öffentlichen Diskurs an Aufmerksamkeit gewonnen hat.463 Dennoch bedarf es weiterer wissenschaftlicher Erforschung, um es besser zu verstehen und zu erklären. Die vorliegende Analyse trägt dazu bei, die treibenden Kräfte, Hauptmerkmale und Beispiele zu identifizieren, gibt einen Überblick über die wichtigsten Klassifikationen und zeigt die grundlegenden Determinanten der differenzierten Integration. Sie weist auch auf ihre Dynamik, ihre möglichen Folgen und Nebenwirkungen hin. Verschiedene Konzepte der differenzierten Integration werden nicht mehr als Irrweg des europäischen Integrationsprozesses, sondern als dessen legitimer Mainstream behandelt. Differenzierung wird eher als eine Anpassung an die Diskrepanz zwischen lokaler oder regionaler Selbstverwaltung und den übergeordneten, übergreifenden Governance-Strukturen und -Praktiken auf supranationaler Ebene gesehen. Die Anerkennung der Vielfalt durch Differenzierung ist höchstwahrscheinlich die einzige Möglichkeit, das europäische Gemeinwesen zu erhalten. Diese Art des Zusammenhaltens durch Differenzierung ist ein Versuch, wirtschaftlichen oder kulturellen Unterschieden Rechnung zu tragen.464 Aus dieser Perspektive und im Zusammenhang mit den oben genannten Überlegungen kann die europäische Differenzierung als ein Versuch verstanden werden, eine übergreifende Governance aufrechtzuerhalten, indem einer Teilgemeinschaft die Möglichkeit gegeben wird, sich von einer gemeinsamen Politik zu lösen. Es ist eine Strategie, um die Temperatur des Konflikts um die Selbstbestimmung zu senken, indem die Souveränität teilbar gemacht wird, indem 463 Schimmelfennig, Winzen 2020. 464 Hooghe, Marks 2022.

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einer Region die Selbstbestimmung über eine Teilmenge von Politikbereichen übertragen wird, während die Architektur der gemeinsamen Herrschaft erhalten bleibt.465 Ein differenziertes Gemeinwesen ist ein Gemeinwesen, das innerhalb seiner Grenzen keine einheitliche Autorität ausübt und in dem mindestens eine konstituierende Einheit über eine formale Vereinbarung verfügt, die es ihr ermöglicht, sich von einer gemeinsamen Politik abzuwenden. Wir stellen außerdem fest, dass der Brexit einen Meilenstein in der Entwicklung des Systems der differenzierten europäischen Integration symbolisiert. Gleichzeitig betrachten wir den Brexit als einen Prozess und als ein Element der Abfolge von Krisen, die Europa im 21. Jahrhundert herausforderten. Der britische Fall ist sehr aufschlussreich für das Verständnis der Dynamik der Differenzierung. Logischerweise machte es für das Vereinigte Königreich wenig Sinn, aus der EU auszutreten, in der Hoffnung, eine größere Autonomie zu erlangen – und dem Binnenmarkt mit ähnlichen Verpflichtungen, aber weniger Entscheidungsrechten wieder beizutreten.466 Die Neuverhandlung der Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs entsprach jedoch einem anderen Bedürfnis – dem Bedürfnis nach einer Neugestaltung der Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU. In seiner Rede im Januar 2013 stellte der britische Premierminister David Cameron den Plan vor, das britische Volk um ein Mandat für die Aushandlung einer neuen Vereinbarung mit Europa zu bitten. Damals wurde dieses Vorhaben als eine Methode zur Stärkung seiner Position in der Konservativen Partei angesehen, endete aber offenbar mit seinem Rücktritt nach dem Referendum. Gleichzeitig wurde eine Prüfung eingeleitet, um die Kosten und den Nutzen der Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs in der EU zu berechnen. Die wichtigsten Punkte, auf die sich David Cameron konzentrierte, waren folgende: Ermöglichung eines Ausstiegs des Vereinigten Königreichs aus dem erklärten Ziel der EU, eine »immer engere Union« zu schmieden, Beschränkung des Zugangs zu Sozialleistungen für EU-Migranten bis zu einem Aufenthalt von vier Jahren, größere Befugnisse für die nationalen Parlamente, in Bezug auf ihre Befugnisse, EU-Gesetze zu blockieren, Sicherstellung der ausdrücklichen Anerkennung, dass der Euro nicht die einzige Währung der Europäischen Union ist. Die Brexit-Frage, die den Bürgern des Vereinigten Königreichs im Juni 2016 gestellt wurde, kann nur als eine Schlacht in dem seit langem andauernden Konflikt zwischen den konkurrierenden Visionen der Beziehungen des Vereinigten Königreichs mit der übrigen Welt, in diesem Fall Europa, gesehen wer-

465 Ebd. 466 Lord, Leruth 2015.

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Diskussion und Schlussfolgerungen

den.467 Die Brexit-Frage stellt die differenzierte Integration auf neue Weise auf die Probe. Die praktischen Aspekte der Entflechtung des Vereinigten Königreichs von seiner bestehenden Mitgliedschaft können den Kern einer Beziehung bilden, die sich qualitativ von allen Beziehungen unterscheidet, in denen die differenzierte Integration bisher eingesetzt wurde. Großbritannien könnte den ersten Fall einer differenzierten Desintegration darstellen. Paradoxerweise würden sowohl der britische Austritt als auch der Verbleib in der EU die Bedeutung der differenzierten Integration erhöhen. Infolgedessen könnte die EU eine institutionelle Neuordnung benötigen, die ihren eigenen Charakter als Union von Unionen deutlich macht.468 Welche Folgen hat der Brexit für das differenzierte Europa? Erstens, eine potenzielle Stärkung des Zentrums – des Kerns der Integration, der Deutschland ohne Ausgleichsmacht ist (unter Berücksichtigung des Status Frankreichs nach der Wirtschaftskrise). Zweitens bedeutet eine EU ohne Großbritannien auch eine EU ohne freie Marktwirtschaft – es war das Vereinigte Königreich, egal ob von der Labour Party oder den Konservativen regiert, das die liberale Komponente in das europäische Integrationsprojekt eingebracht hat. Weniger Großbritannien in Europa bedeutet auch weniger liberale Ideen. Drittens haben wir die Grenzen der inneren Differenzierung kennengelernt. David Cameron hat sich schlichtweg selbst überboten. Die britischen politischen Eliten haben sich bei den Versuchen, in Brüssel in die Innenpolitik einzugreifen, verrannt. Das Spiel mit nationalistischen Interessen und Fremdenfeindlichkeit geriet außer Kontrolle – im Ergebnis stellte sich Großbritannien außerhalb des geeinten Europas. Der britische Austritt erweitert potentiell auch die Kreise der differenzierten Integration. Er geht über die bekannten Schemata des inneren und äußeren Kerns sowie der inneren und äußeren Peripherie hinaus. Zu den bereits bestehenden Kategorien von Mitgliedern und Nicht-Mitgliedern kommt die in den europäischen Studien bislang unbekannte Kategorie der ehemaligen Mitglieder hinzu. Nach dem Brexit bewegt sich das Vereinigte Königreich im Orbit der äußeren Peripherie des europäischen Integrationssystems. Durch die Änderung des Status vom Mitglied zum Nichtmitglied überholte es in Bezug auf Differenziertheit sogar die Schweiz. Deutschland und Polen befinden sich beide im Kern des Systems der differenzierten Integration, allerdings sitzt Deutschland viel tiefer im inneren Kern, während Polen auf der äußeren Kernbahn bleibt. Die Position dieser Länder auf der Landkarte der differenzierten Integration wird durch eine Vielzahl von miteinander verbundenen Faktoren bestimmt, die seit Jahrzehnten von ver-

467 Kenny, M.; Pearse, N. (2016), After Brexit. The Eurosceptic dream of an Anglosphere, in: Juncture 22(4), S. 304–307. 468 Lord, Leruth 2015.

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schiedenen Wissenschaftlern mit unterschiedlichen Ansätzen untersucht werden. Unser analytischer Ansatz trägt ebenfalls zur wissenschaftlichen Debatte über differenzierte europäische Integration, vor allem aus einer CleavagePerspektive bei. Aufbauend auf der Idee des Updates der Cleavage-Theorie haben wir die Behauptung getestet, dass das transnationale Cleavage mit den Einstellungen zur europäischen Integration auf der Nachfrage- und Angebotsseite der europäischen Politik korrespondiert. Genauer gesagt haben wir die Behauptung anhand der Einstellungen der Bevölkerung zur europäischen Integration getestet, die im Mittelpunkt dieses Forschungsschwerpunkts steht. Folglich erforschen wir ein in der Literatur weitgehend unzureichend untersuchtes Thema, nämlich die mehrdimensionalen ideologischen Haltungen, die hinter der europäischen Integration im Allgemeinen und somit auch hinter differenzierter Integration stehen. Darüber hinaus konzentrieren wir uns sowohl auf die Nachfrage- als auch auf die Angebotsseite der Politik, um die Neigungen der Bürger gegenüber der europäischen (differenzierten) Integration und die Positionierung der politischen Parteien in Bezug auf die wichtigsten integrationsbezogenen Themen besser zu verstehen. Darüber hinaus stellen wir fest, dass in unserer statistischen Analyse der stärkste Prädiktor für die Einstellung zur (differenzierten) europäischen Integration nicht die wirtschaftliche, sondern vor allem die kulturelle Ablehnung oder Befürwortung von Migration ist. Diejenigen, die das europäische Integrationsprojekt in seiner gegenwärtigen Form unterstützen, sind für die Einwanderung. Unser Ergebnis steht im Einklang mit früheren, ähnlichen Untersuchungen, die ähnliche Korrelationen festgestellt haben. Allerdings fügen wir ein Element der Theoriebildung hinzu. Wir gehen davon aus, dass die Einstellung zur Einwanderung vor allem durch kulturelle Faktoren und weniger durch wirtschaftliche Überlegungen bestimmt wird. Unsere Ergebnisse zeigen, dass diejenigen, die eine negative Einstellung zur Migration zeigen, auch negativ auf die Frage nach einer weiteren europäischen Integration reagieren. Dies beweist, dass der Konflikt über Europa die Links-Rechts-Grenze überschreitet und Teil eines größeren kulturellen und wirtschaftlichen Konflikts ist, der gesellschaftlich strukturiert ist. Die grundlegenden Konfliktlinien in den Gesellschaften führen zu Cleavages, die die Parteiensysteme strukturieren, und die Parteiensysteme wiederum strukturieren umgekehrt die gesellschaftlichen Spaltungen. Die tektonischen Veränderungen erzeugen einen ausgeprägten Konflikt, der die bestehende Struktur des Parteienwettbewerbs überlagert und stört. Wie wir über alle vorangegangenen Kapitel hinweg dargelegt haben, bewegen sich innerhalb dieses Zusammenspiels aus Dealignment und Realignment auch die innenpolitischen Determinanten für weitere europäische Integration bzw. differenzierte Integration.

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Diskussion und Schlussfolgerungen

Der theoretische Beitrag, den unsere Forschungsarbeit leistet, ist an der Kreuzung zweier Theorieströmungen zu finden, nämlich der Cleavage-Theorie und des Postfunktionalismus. Das transnationale Cleavage wirft die Frage nach neuen Cleavages auf, die sich an der Abgrenzung von TAN- und GAL-Werten bilden. Der politische Konflikt, der entlang dieser Linien strukturiert ist, zeichnet sich durch politische Auseinandersetzungen aus, die sich auf die Migration als umstrittenste Themen konzentrieren. Dies steht in direktem Zusammenhang mit dem Postfunktionalismus und seiner Betonung von politischen Parteien und Bürgern. Aus diesem Grund konzentrieren wir uns auf die Präferenzen der Bürger auf der Nachfrageseite und auf die Positionierung der Parteien auf der Angebotsseite der Analyse. Wir betrachten sie als zwei Seiten derselben Medaille und analysieren folglich beide, um ein kohärenteres Bild des Problems zu erhalten. Darüber hinaus ergibt sich ein Bild in Bewegung, da wir die Entwicklung der Nachfrage- und Angebotsseite in einer dynamischen Perspektive darstellen. Folglich widmen wir in unserer Analyse dem Thema der Polykrise viel Raum. Nicht nur, weil die Logik der europäischen Integration nahelegt, dass es sich um eine Entwicklung von einer Krise zur nächsten handelt. Vor allem aber stimulieren die sich überlagernden und kumulierenden Krisen eine Veränderung der Cleavage-Strukturen, die letztlich als das interpretiert werden kann, was Piero Ignazi in Antwort auf Ingleharts »silent revolution« die »silent counter-revolution« genannt hat.469 Bereits der Vertrag von Maastricht brachte eine ernsthafte Vertiefung der europäischen Integration mit sich – er erweiterte die Befugnisse der EU in einer Vielzahl von Bereichen, erleichterte es den Menschen, in einem anderen Land zu arbeiten, schuf eine gemeinsame Währung und machte Staatsangehörige zu EUBürgern.470 Die Europäer traten in das 21. Jahrhundert unter völlig neuen Bedingungen ein. Darüber hinaus hat sich das geeinte Europa nach der big bangErweiterung von 2004 sowohl territorial als auch bevölkerungsmäßig ausgedehnt. Diese parallele Vertiefung und Erweiterung führte zu immer mehr Heterogenität und infolgedessen zu mehr Differenzierung. Gleichzeitig wurden wir Zeuge einer Reihe von Krisen, die sowohl Symptome als auch Syndrome der sich vollziehenden Veränderungen und der daraus resultierenden Spannungen waren. Die erste Krise, die die neu beigetretenen Staaten als Vollmitglieder der EU erleben konnten, war die Krise bei der Ratifizierung des Verfassungsvertrags im Jahr 2005. Sowohl im Fall der neuen als auch der alten EU-Mitgliedstaaten zeigen die nachfolgenden Krisen den Druck, der sich in den letzten Jahrzehnten kumuliert 469 Ignazi, P. (1992), The silent counter-revolution, in: European Journal of Political Research 22(1), S. 3–34. 470 Hooghe, Marks 2018, S. 113.

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hat. Sie können als kritische Wendepunkte betrachtet werden, die die etablierten Parteien und ihre Programme der Diskontinuität unterwerfen. Nach Hooghe und Marks geht dieser Wandel eher von den Wählern als von den Parteien selbst aus. Politische Parteien sind der Ausdruck bereits geformter Ideen oder sozialer Strukturen.471 Daher stimmen wir mit der Behauptung überein, dass sich Europa durch eine neue systematische Konfliktlinie, einer Cleavage gewandelt hat. Die alten Cleavages waren das Ergebnis von transformativen Revolutionen wie der industriellen und der nationalen Revolution, die das Parteiensystem des 20. Jahrhunderts geprägt haben. In ähnlicher Weise hatten die kumulativen Krisen, die wir im 21. Jahrhundert erlebt haben, Auswirkungen auf neue Konfliktstrukturen und folglich auch auf die Parteiensysteme. Die neue Ära des Transnationalismus, die von einer Reihe sich überschneidender Krisen begleitet wurde, erweist sich als höchst umstritten. Die europäische Integration warf grundlegende Fragen der Herrschaft und Zugehörigkeit für diejenigen auf, die sich dafür entschieden, nationale Kultur, Sprache, Gemeinschaft und Souveränität gegen den Zustrom von Migranten, gegen konkurrierende Identitätsquellen innerhalb des Staates sowie gegen den externen Druck anderer Länder und interoder supranationaler Organisationen zu verteidigen.472 Deshalb ist der Bezug zum GAL-TAN-Gefälle so stark legitimiert, wenn es um die Erklärung von individuellen Einstellungen zur europäischen (differenzierten) Integration geht. Der traditionell-autoritär-nationalistische Pol verbindet die Verteidigung der nationalen Kultur, Fragen der Souveränität, Ablehnung von Migration und Freihandelsskepsis. Der grün-alternativ-liberale Pol setzt dagegen auf Supranationalismus, offene Grenzen und Multikulturalismus. Diese Themen sind nicht nur miteinander verwoben, sondern verstärken auch diejenigen, die das Gefühl haben, dass sie beim Transnationalismus verloren oder gewonnen haben – wirtschaftlich, aber vor allem kulturell. In gewissem Sinne hat der Transnationalismus Verteilungskonsequenzen mit sich gebracht – er hat eine neue Wahrnehmung von Gewinnern und Verlierern in der Gesellschaft hervorgebracht. Diese neue Verteilung birgt ein hohes Erklärungspotenzial für diejenigen, die an der Erforschung von Einstellungen zur europäischen differenzierten Integration interessiert sind. Inkompatible Integrationspräferenzen, die zu Differenzierung führen, beruhen auf nationalen Identitäten. Je mehr sich ein Individuum ausschließlich mit einer In-Group identifiziert, desto weniger ist es geneigt, eine Rechtsprechung zu unterstützen, die Out-Groups einschließt.473 Liesbet Hooghe und Gary Marks argumentieren, dass die Themen Einwande471 Ebd., S. 110. 472 Ebd., S. 113. 473 Hooghe, Marks 2009, S. 12.

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Diskussion und Schlussfolgerungen

rung, Integration und Handel einen kritischen Wendepunkt in der politischen Entwicklung Europas darstellen, der für politische Parteien und Parteiensysteme nicht weniger folgenreich ist als die früheren Wendepunkte, die Lipset und Rokkan in ihrem klassischen Artikel feststellen.474 Sie verweisen auf die klassischen Fragen der Cleavage-Theorie: Was sind die grundlegenden Spaltungen in einer Gesellschaft? Welche Unterscheidungen innerhalb einer Bevölkerung bilden die Grundlage für Cleavages? Wie wirken sich diese Spaltungen auf die Wählerpräferenzen aus? Wie äußern sich die Wählerpräferenzen in Parteienbildung und -wettbewerb? Wie werden Cleavages durch die Spielregeln und die Strategien der Parteien vermittelt?475 In unserer Studie haben wir versucht, den Cleavage-Ansatz mit dem postfunktionalistischen Ansatz zu verbinden. Dabei haben wir eine Argumentation entwickelt, die auf der Annahme beruht, dass Organisationen, wie die Europäische Union, Kultur- und Identitätsgemeinschaften darstellen. Diese ideellen Grundlagen manifestieren sich in den Einstellungen und Präferenzen der Bürger und spiegeln sich auch in den sich entwickelnden Parteiensystemen der europäischen Staaten wider. In vielfältigen und demokratischen Gemeinschaften, die die EU ausmachen, ist Heterogenität zwischen nationalen Identitäten ein natürliches Phänomen. Das Eintauchen in die Innenpolitik ausgewählter Länder, die an der europäischen Integration teilnehmen, ermöglichte es uns, besser zu verstehen, was diese Identitäten ausmacht und wie sie mit der Unterstützung oder Vernachlässigung der europäischen (differenzierten) Integration zusammenhängen. All diese Fragen führen uns zu der zentralen Frage, wie die europäische Integration im eigenen Land politisiert wurde. Mehr noch – im Zuge des Politisierungsprozesses verlagerte sich die europäische Integration von der Interessengruppen-Arena und ihrer Verteilungslogik hin zur Massen-Arena und ihrer Identitätslogik.476 Differenzierte europäische Integration wird vor diesem Hintergrund ein immer wichtigeres Thema für Polik, Forschung und den öffentlichen Diskurs. Die Differenzierung verstärkt und erzeugt Implikationen und Externalitäten, die eine weitere wissenschaftliche Erforschung erfordern. Der wissenschaftliche Diskurs muss überprüft, erweitert und aktualisiert werden. Gleichzeitig liefert der interdisziplinäre Ansatz, der in dieser Analyse angewandt wird, neue Perspektiven auf die wichtigsten Dynamiken des heutigen europäischen Integrationsprozesses. Wir haben die differenzierte Integration in Europa untersucht und dabei prägnante Analysen der innenpolitischen Determinanten – politische Konflikte, 474 Hooghe, Marks 2018, S. 109. 475 Lipset, Rokkan 1967. 476 Hooghe, Marks 2009, S. 9.

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Reaktionen der Parteien und andere Elemente der Angebots- und Nachfrageseite – vorgenommen. Die beiden verglichenen Länder Deutschland und Polen bieten eine reiche Vielfalt, die ein breites empirisches Material für länderübergreifende Analysen bereitstellt. Das bestätigte postfunktionalistische Narrativ scheint jedoch für eine langjährige Kultivierung des transnationalen Cleavage zu sprechen. Um Letzteres zu beweisen und die Verallgemeinerbarkeit des Forschungsdesigns dieser Arbeit zu erweitern, sollten weitere Fälle im Quer- und Längsschnitt untersucht werden. Dies würde auch Aufschluss darüber geben, ob sich differenzierende oder desintegrierende Tendenzen im Laufe der Zeit durchsetzen werden. Wie Jean Asselborn es formulierte, muss die Europäische Union erneut erklären, warum sie für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gebraucht wird, um der Gefahr eines Rückfalls in historische Muster nationaler Konflikte zu begegnen. Daher könnten die entsprechenden Mobilisierungsstrategien der pro-europäischen Eliten neu bewertet werden. Die parteipolitische (Neu-)Definition gesellschaftlicher Konflikte findet tendenziell in einem subjektiv definierten Raum von Konfliktachsen statt. Das Verhalten der politischen Parteien mag weniger die bestehenden ökonomischen Konflikte innerhalb ihrer jeweiligen Wählerschaft ansprechen. Vielmehr neigen sie dazu, die soziokulturellen Differenzen der kognitiv gut ausgestatteten Parteieliten mit möglicherweise ursprünglich unterschiedlich polarisierten Konflikten ihrer Wählerschaft zu überlagern.477 So haben sich vor allem westeuropäische etablierte Parteien zunehmend dem kosmopolitischen Pol zugewandt, während ihre Basis nicht ganz mit ihnen mitgezogen ist.478 Bornschier veranschaulicht dies am Beispiel der deutschen Sozialdemokraten, die eine kontinuierliche Disharmonie zwischen ihrer kulturellen Themenpositionierung und der ihrer Wähler aufweisen.479 Letztere waren schon immer konservativer als ihre Parteiführung. Die von uns vollzogene Analyse und der Vergleich von Angebot und Nachfrage für europäische Integration in Deutschland und Polen lässt sich auch in zwei »einfachen« Erkenntnissen zusammenfassen. Zum einen ist die gesellschaftliche Polarisierung bezüglich europäischer Integration im 21. Jahrhundert in beiden Gesellschaften und Parteienlandschaften signifikant angestiegen. Der zunehmende Dissens über den stauts quo und den

477 Holländer, M. (2003), Konfliktlinien und Konfiguration der Parteiensysteme in Ostmitteleuropa 1988–2002, Hamburg: BoD–Books on Demand, S. 277; Körösényi, Andras (1999), Government and politics in Hungary, Budapest: Central European University Press, S. 57– 58. 478 Lacewell, O.; Merkel, W. (2013), Die neue Komplexität der Globalisierung, Berliner Republik 13(2), S. 73. 479 Bornschier 2010, S. 115, 128, 185.

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Diskussion und Schlussfolgerungen

weiteren Verlauf der Integration von Nationalstaaten in eine supranationale Entität äußert sich vor allem in einer kulturellen Logik. Gemäß dem Posfunktionalismus lässt sich ein jahrzehntelanger Mismatch zwischen Politikangeboten, die sich überwiegend an rational-ökonomischen und technokratischen Fragen orientiert haben, und der »irrationalen«, identitätsaufgeladenen Nachfrage der Bevölkerung beobachten. Unter diesem Eindruck erscheint der, vor allem in Deutschland ab 2015 proklamierte Rechtsruck in der Parteienlandschaft nicht weniger besorgniserregend, allerdings auch nicht überraschend. So könnte man eher von einem Rechtsruck sprechen, der auf eine bestehende, jedoch nicht politisch (re-)aktivierte und kultivierte Nachfrage nach kultureller Abgrenzung und Nativismus folgt. Um weiterhin zu verhindern, dass die gesellschaftliche Polarisierung im Zuge anhaltender Krisen über ein für die liberale Demokratie und das Integrationsprojekt erträgliches Maß hinaussteigt, könnten vor allem besser gebildete, proeuropäische politische Wortführer die Entstehung und Kultivierung ihres kosmopolitischen Weltbildes hinterfragen. Gleiches gilt für die Parteiführer des linken und rechten Mainstreams. Sie sollten, wie Wolfgang Merkel argumentiert, kommunitaristische Positionen nicht mit einer kognitiven und moralischen Überheblichkeit als bereits moralisch unzulässig aus dem Diskurs ausschließen.480 Aus Sicht der pro-europäischen liberalen Parteien verstärkt gerade die Verengung des Diskurses und die moralische Delegitimierung der Kritik am Transnationalismus als lokal begrenzte Perspektive das, was sie eigentlich verhindern soll, nämlich jenen Teil der Bevölkerung in die Arme der Rechtspopulisten zu treiben, der nach politischer Repräsentation sucht. Es bleibt daher abzuwarten, ob und mit welchen Mitteln die Befürworter der europäischen Integration und auch der immer engeren Europäischen Union ihre Gegenspieler im nationalen Diskurs der Zukunft überzeugen werden.

480 Merkel 2017, S. 20.

Anhang

Variablenliste der Angebotsseite (weighted multidimensional scaling Analyse) Variablen aus dem Chapel Hill Expert Survey, aus dem Englischen übersetzt anti_eu, »Gesamtausrichtung der Parteiführung gegenüber der europäischen Integration«; 1 = »stark ablehnend« bis 7 = »stark befürwortend«; eu_intmark, »Position der Parteiführung […] zum Binnenmarkt (d. h. freier Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Arbeit)«; 1 = »Starke Ablehnung« bis 7 = »Starke Befürwortung«; eu_budgets, »Position der Parteiführung […] zur Autorität der EU über die Wirtschafts- und Haushaltspolitik der Mitgliedstaaten (abgefragt in 2014 und 2019)«; 1 = »Starke Ablehnung« bis 7 = »Starke Befürwortung«; dereg, »Position zur Deregulierung der Märkte«; 0 = »lehnt die Deregulierung der Märkte strikt ab« bis 10 = »befürwortet die Deregulierung der Märkte strikt«; redist, »Position zur Umverteilung von Reichtum von den Reichen zu den Armen«; 0 = »befürwortet Umverteilung stark« bis 10 = »lehnt Umverteilung stark ab«; environ, »Haltung zur ökologischen Nachhaltigkeit (Gefragt in 2010, 2014 und 2019)«; 0 = »befürwortet Umweltschutz auch auf Kosten des Wirtschaftswachstums« bis 10 = »befürwortet Wirtschaftswachstum auch auf Kosten des Umweltschutzes«;

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Anhang

multicult, »Position zur Integration von Einwanderern und Asylbewerbern (Multikulturalismus vs. Assimilation)«; 0 = »Starke Befürwortung von Multikulturalismus« bis 10 = »Starke Befürwortung der Assimilierung«; urban_rural, »Position zu städtischen vs. ländlichen Interessen«; 0 = »befürwortet stark städtische Interessen« bis 10 = »befürwortet stark ländliche Interessen«; antimig, »Standpunkt zur Einwanderungspolitik«; Werte von 0 = »befürwortet stark eine liberale Einwanderungspolitik« bis 10 = »befürwortet stark eine restriktive Einwanderungspolitik«; laworder, »Position zu bürgerlichen Freiheiten vs. Recht und Ordnung«; 0 = »Befürwortet stark bürgerliche Freiheiten« bis 10 = »Befürwortet stark harte Maßnahmen zur Verbrechensbekämpfung«; galtan, »Position der Partei […] in Bezug auf ihre Ansichten zu sozialen und kulturellen Werten. ›Libertäre‹ oder ›postmaterialistische‹ Parteien befürworten erweiterte persönliche Freiheiten, zum Beispiel Abtreibungsrechte, Scheidung und gleichgeschlechtliche Ehen. Traditionelle oder ›autoritäre‹ Parteien lehnen diese Ideen zugunsten von Ordnung, Tradition und Stabilität ab und glauben, dass die Regierung eine feste moralische Autorität in sozialen und kulturellen Fragen sein sollte«; 0 = »libertär/postmaterialistisch« bis 10 = »traditionell/autoritär«; Die jeweils zugehörigen Gewichtungsvariablen zur Messung der relativen Wichtigkeit (Salienz) der Themen, z. B. galtan_salience; »relative Wichtigkeit von libertären/traditionellen Themen in der öffentlichen Haltung der Partei«; 0 = »Keine Bedeutung« bis 10 = »Große Bedeutung«.

Variablenliste der Nachfrageseite (Multiple lineare Regressionsanalyse)

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Variablenliste der Nachfrageseite (Multiple lineare Regressionsanalyse) Abhängige Variable Einstellungen zur europäischen Integration (ei_einstellungen); »Jetzt kommen wir zum Thema Europäische Union. Manche Leute sagen, dass die europäische Einigung weiter gehen soll. Andere sagen, dass sie schon jetzt zu weit gegangen ist. Welche Zahl der Skala […] beschreibt Ihre Einschätzung am besten?«

Unabhängige Variablen Einstellungen zur Einwanderung (migr_ökon); »Was würden Sie sagen, ist es im Allgemeinen gut oder schlecht für die deutsche Wirtschaft, dass Zuwanderer hierher kommen?«; 1 = »Schlecht für die Wirtschaft« bis 10 »Gut für die Wirtschaft«; Einstellungen zur Einwanderung (migr_kult); »Würden Sie sagen, dass das kulturelle Leben in Deutschland im Allgemeinen durch Zuwanderer untergraben oder bereichert wird?«; 1= »Kulturelles Leben wird untergraben« bis 10 = »Kulturelles Leben wird bereichert«; Einstellung gegenüber Homosexuellen (anti_hms); »Schwule und Lesben sollten ihr Leben so führen dürfen, wie sie es wollen«; 1 = »Stimme zu« bis 5 = »Lehne stark ab«; Einstellung zu einer starken Regierung, die ihre Bürger schützt (starker_staat); »Es ist ihr [, ihm] wichtig, dass der Staat ihre [, seine] persönliche Sicherheit vor allen Bedrohungen gewährleistet. Sie [,Er] will einen starken Staat, der seine Bürger verteidigt«; von 1 = »Ist mir sehr ähnlich« bis 6 = »Ist mir überhaupt nicht ähnlich«; Einstellung zur Verringerung der Einkommensunterschiede durch die Regierung (red_eink_diff); »Der Staat sollte Maßnahmen ergreifen, um Einkommensunterschiede zu verringern«; 1 = »Stimme zu« bis 5 = »Lehne stark ab«; Einstellung zum Umweltschutz (umwelt); »Sie [, Er] ist fest davon überzeugt, dass die Menschen sich um die Natur kümmern sollten. Umweltschutz ist ihr [ihm] wichtig«; 1 = »Ist mir sehr ähnlich« bis 6 = »Ist mir überhaupt nicht ähnlich«;

186

Anhang

Zufriedenheit mit der Funktionsweise der Demokratie auf nationaler Ebene (zufrieden_dem); »Und wie zufrieden sind Sie – alles in allem – mit der Art und Weise, wie die Demokratie in Deutschland funktioniert?«; 0 = »äußerst unzufrieden« bis 10 »äußerst zufrieden«; Wahrnehmung der Einkommenssituation (komf_eink); »Was […] beschreibt am besten, wie Sie Ihr gegenwärtiges Haushaltseinkommen beurteilen? Mit dem gegenwärtigen Einkommen kann ich/können wir…«; 1 = »bequem leben« bis 10 = »nur sehr schwer zurechtkommen«; Sektor der Erwerbstätigkeit (sekt): »Was produziert/produzierte oder macht/ machte der Betrieb oder die Dienststelle, für die Sie arbeiten/arbeiteten, hauptsächlich?«; Urbanität des Wohnorts (urban): »Was […] trifft am ehesten auf das Wohngebiet zu, in dem Sie leben?«; 1 = »Großstadt« bis 5 = »Bauernhof oder Haus auf dem Land«; Höchster Bildungsabschluss gemäß der ISCED-Standardisierung (bildung): »Was ist der höchste allgemeinbildende Schulabschluss, den Sie erreicht haben?«; 1 = »Grundschule nicht beendet« bis 6 = »Abitur, allgemeine oder fachgebundene Hochschulreife«; Wahlenthaltung bei der letzten nationalen Wahl (nichtwahl): »Manche Menschen gehen heutzutage aus verschiedenen Gründen nicht zur Wahl. Wie ist das bei Ihnen? Haben Sie bei der letzten Bundestagswahl im September 2017 gewählt?«.

Register

Alternative für Deutschland 130 Ampelkoalition 129

20, 63, 127,

Bartolini, Stefano 70–74 Binnenmarkt 20, 28–33, 78–84, 98, 123, 126–127, 137–175 Brexit 8–14, 23–31, 44–47, 77–92, 96–104 Cameron, David 175 Christlich Demokratische Union 62–63, 130–132 Christlich-Soziale Union 134–137 Cleavage 13–18, 45–50, 50–70, 99–100, 112 Covid-19 7, 21, 94–96 Differenzierung 8–14, 18–24, 27–32, 54, 172–180 DIE GRÜNEN 57–62, 61, 66, 77, 129, 134– 137 DIE LINKE 66–68, 134–137, 42–46, 154 Draghi, Mario 88 Europäische Kommission 39, 83–89, 92– 93, 98–103 Europäische Union 13–19, 31–33, 77–83, 87–93 Eurozone 21, 28, 39–42, 68, 80–88 Flüchtlingskrise 20, 76, 92, 96, 110, 122 Freie Demokratische Partei 134–137

Grexit 42 Grün-alternativ-liberal 179

17, 66, 112, 163,

Haas, Ernst 35 Hooghe, Liesbet 13, 17, 124, 179 Inglehart, Ronald 59–70 Intergouvernementalismus 12–14, 29, 37– 49, 84 Juncker, Jean-Claude

96–97

Kaczyn´ski, Jarosław 144 Kommunitarismus 58–62, 182 Kosmopolitismus 58–62 Kriesi, Hanspeter 58–69, 70, 104, 119, 168– 169 Liga Polskich Rodzin 152–154 Linksradikalismus 127 Lipset, Martin 13–14, 51–58, 69–75 Marks, Gary 13, 17, 124, 179 Merkel, Angela 46, 58, 126–136 Merkel, Wolfgang 58–59, 182 Moravcsik, Andrew 35–37, 85 Nationalismus 66 Neue Cleavage 56–73 Neue Linke 61, 66 Neue Rechte 61–63, 66 Neofunktionalismus 36–49, 82, 103

188 Palikot 152–154 Platforma Obywatelska 144, 152–155 Prawo i Sprawiedliwos´c´ 144, 152–155 Polexit 144 Polskie Stronnictwo Ludowe 152–155 Protektionismus 66, 81 Rechtsextremismus 66–68, 127, 165 Rechtspopulismus 66, 91, 116, 128, 134 Samobroona RP 152–155 Schäuble, Wolfgang 126–127 Schengen 65, 79, 91, 92, 97 Schimmelfennig, Frank 31–34, 39, 87 Scholz, Olaf 129–130 Sojusz Lewicy Democraktycznej 152–155

Register

Sozialdemokratische Partei Deutschlands 62–63, 130–132 Soziokultur 20–22, 103–109, 163–167, 181 Soziostruktur 20, 70–73, 117–118, 132, 151, 162–167 Stein, Rokkan 13–14, 51–58, 69–75 Steinmeyer, Frank-Walter 129 Thatcher, Margareth 81 Traditionell-autoritär-nationalistisch 17, 66, 112, 163, 179 Transnationales Cleavage 68–74, 112, 120, 165–167 Tusk, Donald 144 Zeitenwende 129 Zürn, Michael 58–60