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German Pages 543 [556] Year 2003
Dieter Cassel und Paul J. J. Weifens (Hg.) Regionale Integration und Osterweiterung der Europäischen Union
Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft
Herausgegeben von Prof. Dr. Gernot Gutmann, Köln Dr. Hannelore Hamel, Marburg Prof. Dr. Helmut Leipold, Marburg Prof. Dr. Alfred Schüller, Marburg Prof. Dr. H. Jörg Thieme, Düsseldorf
Unter Mitwirkung von Prof. Dr. Dieter Cassel, Duisburg Prof. Dr. Karl-Hans Hartwig, Münster Prof. Dr. Hans-Günter Krüsselberg, Marburg Prof. Dr. Ulrich Wagner, Pforzheim
Redaktion: Dr. Hannelore Hamel Band 72: Regionale Integration und Osterweiterung der Europäischen Union
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Lucius & Lucius • Stuttgart • 2003
Regionale Integration und Osterweiterung der Europäischen Union
Herausgegeben von
Dieter Cassel und Paul J. J. Weifens
Mit Beiträgen von Thomas Apolte, Leszek Balcerowicz, Hartmut Berg, Dieter Cassel, Dietrich von Delhaes-Guenther, Roland Döhrn, Ralf Geruschkat, Ruslan Grinberg, Carsten Hefeker, Ullrich Heilemann, Klaus Heine, Peter Hertner, Wolfgang Kerber, Andreas Rnorr, Claudius Kobel, Rolf J. Langhammer, Albrecht F. Michler, Werner Pascha, Thomas Pfahler, Heinz G. Preuße, Wolf Schäfer, Stefan Schmitt, Alfred Steinherr, Torsten Sundmacher, Theresia Theurl, H. Jörg Thieme, Uwe Vollmer, Paul J. J. Weifens, Dirk Wentzel, Silvia ¿igovä
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Lucius & Lucius • Stuttgart • 2003
Anschriften der Herausgeber: Prof. Dr. Dieter Cassel Universität Duisburg-Essen, Standort Duisburg Institut für Europäische Wirtschafts- und Sozialpolitik Lotharstraße 65 47048 Duisburg Prof. Dr. Paul J. J. Weifens Bergische Universität Wuppertal Europäisches Institut für Internationale Wirtschaftsbeziehungen (EIIW) Gaußstraße 20 42119 Wuppertal
Diese Publikation wurde gefördert durch das Duisburger Volkswirtschaftliche Forschungsseminar e.V., Duisburg, das Forschungsseminar Radein zum Vergleich von Wirtschafts- und Gesellschaftssystemen e.V., Marburg, der Haniel Stiftung, Duisburg, und der Ludwig-Erhard-Stiftung, Bonn. Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
© Lucius & Lucius Verlags-GmbH • Stuttgart • 2003 Gerokstraße 51 • D-70184 Stuttgart Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Druck und Einband: ROSCH-BUCH Druckerei GmbH, 96110 Scheßlitz Printed in Germany
ISBN 3-8282-0278-0 ISSN 1432-9220
Vorwort Das Forschungsseminar Radein fuhrt seit 1968 alljährlich im Februar Wirtschaftswissenschaftler aus dem In- und Ausland zu einem einwöchigen Diskurs über aktuelle ordnungstheoretische und -politische Fragestellungen zusammen. In der Abgeschiedenheit von Radein, einem kleinen südtiroler Bergdorf in der Nähe von Bozen, behandeln die etwa vierzig Teilnehmer, darunter überwiegend Professoren und ihre wissenschaftlichen Mitarbeiter, wechselnde Generalthemen, die in zahlreichen Referaten und Korreferaten kritisch durchleuchtet werden. Ziel des Radeiner Forschungsseminars ist es, vor allem jüngeren Wirtschaftswissenschaftlern ein ordnungsökonomisches Diskussionsforum zu bieten und ihre Forschungsergebnisse durch Publikation der Tagungsbände allgemein zugänglich zu machen. Nachdem im vergangenen Jahr unter der wissenschaftlichen Leitung von Alfred Schüller und H. Jörg Thieme, die aus der zunehmenden Internationalisierung resultierenden „Ordnungsprobleme der Weltwirtschaft" (Band 71 der Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft) behandelt wurden, schien es geboten, die Diskussion dieser Thematik unter dem besonderen Blickwinkel der regionalen Integration und des immer stärker um sich greifenden Regionalismus fortzuführen. Ziel des diesjährigen Forschungsseminars war es, die in bestehenden, sich erweiternden und neu formierenden integrierten Wirtschaftsräumen ablaufenden Integrationsprozesse hinsichtlich ihrer treibenden Kräfte, konzeptionellen Grundlagen, ökonomischen Wirkungen und wirtschaftspolitischen Gestaltungserfordemisse zu analysieren. Wie wichtig diese Thematik ist, zeigt der nach Seattle 1999 im September dieses Jahres im mexikanischen Cancün abermals gescheiterte Versuch, im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO) die noch bestehenden Handelsbarrieren abzubauen und weltweit Freihandel zu ermöglichen. Kommt die multilaterale Lieberalisierung aber nicht voran, könnten sich die 146 WTO-Mitgliedsländer noch stärker als bisher bilateralen und regionalen Integrationsprojekten zuwenden und damit einer Fragmentierung der internationalen Wirtschaftsbeziehung zum Schaden aller Vorschub leisten. In insgesamt 22 Referaten mit Korreferaten wurde deshalb die regionale Integration als faktische Alternative oder Ergänzung zur WTO-Freihandelsidee auf den Prüfstand gestellt. Ausgehend von der theoretischen Basis der regionalen Wirtschaftsintegration, wurden aktuelle und historische Integrationsprojekte und -konzepte vorgestellt und kritisch hinterfragt. Dabei zieht sich das Spannungsverhältnis zwischen der multilateral geprägten Internationalisierung bzw. Globalisierung und dem mit Abschottungs- und Fragmentierungseffekten verbundenen Regionalismus wie ein roter Faden durch die Analyse der Einzelaspekte. Schließlich wurde dem bedeutsamsten Integrationsprojekt des frühen 21. Jahrhunderts, der Osterweiterung der Europäischen Union, besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Hierbei standen vor allem die institutionellen Anpassungs- und Reformprozesse, die eine Erweiterung von 15 auf 25 Mitgliedsländer unabdingbar machen, im Vordergrund. Die Herausgeber hoffen, dass die vorliegende Veröffentlichung der überarbeiteten Beiträge zum 36. Radeiner Forschungsseminar 2003 zum besseren Verständnis der sich verstärkenden regionalen Integrationsprozesse, ihrer ordnungsökonomischen Bedingungen und Folgewirkungen sowie ihrer besonderen Risiken - vielleicht auch Chancen für die Schaffung einer liberalen, wettbewerblichen Weltwirtschaftsordnung beiträgt. Dies gilt auch und gerade für das Projekt einer erweiterten und vertieften Europäischen
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Vorwort
Union, das im Erfolgsfall eine prägende Rolle im Beziehungsgeflecht integrierter Wirtschaftsräume wie bei der Weiterentwicklung der Welthandelsordnung spielen wird. Dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die zum Verständnis regionaler Integrationsprozesse und zur Gestaltung integrierter Wirtschaftsräume erforderlich sind, gewonnen und verbreitet werden konnten, verdanken die Autoren und Herausgeber zahlreichen persönlichen und institutionellen Förderern, darunter insbesondere der Haniel Stiftung, Duisburg, der Ludwig-Erhard-Stiftung, Bonn, dem Forschungsseminar Radein zum Vergleich von Wirtschafts- und Gesellschaftssystemen e. V., Marburg, und dem Duisburger Volkswirtschaftlichen Forschungsseminar e. V., Duisburg. Besonders zu Dank verpflichtet sind die Herausgeber aber auch Frau Ulrike Michalski, Duisburg, für die Erstellung des druckfertigen Manuskripts sowie Herrn Dipl.-Vw. Jaroslaw Ponder und Frau cand. oec. Julia Tillmann für die redaktionelle Durchsicht der Beiträge.
Duisburg und Wuppertal, im Oktober 2003
Dieter Cassel und Paul J.J. Welferts
Inhalt I.
Einführung Dieter Cassel und Paul J.J. Weifens Wirtschaftsintegration, Regionalismus und multilaterale Wirtschaftsordnung: Entwicklungstendenzen und Gestaltungsprobleme
II.
III.
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Intégrations- und ordnungstheoretische Grundlagen Paul J.J. Weifens Regionale Integration in der Ordnungs-, Außenwirtschaftsund Wachstumstheorie
29
Carsten Hefeker Internationale Handels- und Finanzarchitektur im Umbruch: Globale Integration und die institutionelle Arbeitsteilung von IWF, Weltbank und WTO
77
Klaus Heine und Wolfgang Kerber Integrationstheorie und Wettbewerbsföderalismus
107
Hartmut Berg und Stefan Schmitt Marktöfihung und Wettbewerb bei regionaler Integration
129
Ralf Geruschkat und Dirk Wentzel Virtuelle Integration: Zur Rolle der Internet- und Medienwirtschaft im Integrationsprozess
157
Albrecht F. Michler und H. Jörg Thieme Finanzmärktintegration, Krisenprävention und Krisenmanagement
187
Torsten Sundmacher Internationaler Korporatismus: Erscheinungsformen, Funktionsbedingungen und die Rolle im Integrationsprozess
219
Integrationskonzepte und außenwirtschaftspolitische Strategien Rolf J. Langhammer Alternative Integrationskonzepte: Theoretische Begründung, empirische Befunde und pragmatische Implikationen
249
Theresia Theurl Europäische Integration: EU als .Vertiefte Integration'
267
Heinz G. Preuße Amerikanische Integration: NAFTA und FTAA als .Neuer Regionalismus'
285
vra
IV.
Inhalt
Werner Pascha Asiatisch-pazifische Integration: APEC als .Offener Regionalismus'
311
Ruslan Grinberg Integration und Desintegration im postsowjetischen Wirtschaftsraum
339
Peter Hertner und Dietrich von Delhaes-Guenther Regionale Integration in historischer Perspektive: Integrationsinitiativen in Mitteleuropa vom 19.- bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts
349
Osterweiterung als Gestaltungsproblem der Europäischen Union Roland Döhrn und Ullrich Heilemann Strukturwandel und Integration: Theoretische und empirische Aspekte der EU-Osterweiterung
375
Uwe Vollmer Finanz-, Geld- und Währungsordnung der EU: Reformbedarf durch die Osterweiterung?
393
Andreas Knorr und Silvia ¿igovä Zukunftsperspektiven der Agrarmarktordnung in der erweiterten EU
417
Thomas Pfahler Osterweiterung als Herausforderung zur Reform der Arbeitsmarktordnungen in der EU
453
Thomas Apolte und Claudius Kobel Sozialordnung in einer erweiterten EU zwischen Wanderungshemmnissen und Überschussmigration
471
Wolf Schäfer Institutionenreform in der EU im Spannungsfeld von Integrationsvertiefung und -erweiterung
503
Leszek Balcerowicz The Adoption of the Euro and Economic Growth of the Accession Countries
519
Alfred Steinherr Are 25 Members Enough? Some Economic Reflections on the Optimal Size of the European Union
527
Autoren und Seminarteilnehmer
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I. Einführung
Dieter Cassel und Paul J.J. Weifens (Hg.) Regionale Integration und Osterweiterung der Europäischen Union Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft • Band 72 • Stuttgart • 2003
Wirtschaftsintegration, Regionalismus und multilaterale Wirtschaftsordnung: Entwicklungstendenzen und Gestaltungsprobleme
Dieter Cassel und Paul J.J. Weifens
Inhalt 1. Regionale Wirtschaftsintegration als ordnungstheoretische und ordnungspolitische Herausforderung 2. Dimensionen regionaler Wirtschaftsintegration 2.1. Integrationsstufen 2.2. Integrationsräume 2.3. Integrationsdynamik 3. Regionale Wirtschaftsintegration und struktureller Wandel 4. Regionalismus und multilaterale Wirtschaftsintegration 5. Ordnungspolitischer Analyse- und Handlungsbedarf Literatur
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Dieter Cassel und Paul J.J. Weifens
1. Regionale Wirtschaftsintegration als ordnungstheoretische und ordnungspolitische Herausforderung Die Globalisierung der Wirtschaftsbeziehungen ist in den letzten drei Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts rasch vorangeschritten. Vor allem durch den Abbau von Kapitalverkehrsbeschränkungen und die außenorientierte Wirtschaftspolitik vieler asiatischer und osteuropäischer postsozialistischer Länder wurde die internationale Verflechtung via Portfolioinvestitionen, Direktinvestitionen und Außenhandel verstärkt. Hinzu kam die Wirkung des beschleunigten technischen Fortschritts im Bereich von Verkehr und Nachrichtentechnik: Sinkende Distanzkosten haben grenzüberschreitende Wirtschaftstransaktionen und internationale Unternehmensaktivitäten erleichtert. Schließlich hat das Zusammenwirken der globalen Wirtschaftsorganisationen Internationaler Währungsfonds (IWF), Weltbank, Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) und General Agreement of Tariffs and Trade (GATT) bzw. World Trade Organization (WTO) einen weltweiten Ordnungsrahmen für internationale Transaktionen auf marktwirtschaftlicher Basis geschaffen. Ein wachsender Anteil des intraindustriellen Handels mit differenzierten technologieintensiven Industrieprodukten und ein relativer Bedeutungszuwachs von Direktinvestitionen gegenüber Portfolioinvestitionen können als Merkmale der modernen Globalisierung gegenüber früheren Globalisierungsphasen gelten. Möglicherweise kommt durch das Internet bzw. die Digitalisierung von Daten, Ton und Bild auch ein wachsender Anteil des Dienstleistungshandels als Charakteristikum hinzu. Parallel zur modernen Globalisierung ist es verstärkt zu regionaler Integration gekommen: Sie hat in verschiedenen Regionen der Welt zu institutionellen Reformen, institutioneller Vernetzung und institutioneller Angleichung gefuhrt. Fortschreitende regionale Wirtschaftsintegration kann als ein Kennzeichen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelten. Anfang dieses Jahrhunderts waren von den 144 WTO-Mitgliedsländem nur Japan, Hongkong, Macao und die Mongolei nicht in ein regionales Handelsabkommen eingebunden. Betrachtet man Hongkong und Macao als Teil Chinas, und vergegenwärtigt man sich die im Jahre 2002 von China ergriffenen Freihandelsinitiativen in Richtung der ASEAN-Länder, dann kann man regionale Handelsabkommen als einen Normalfall der WTO-Länder zu Beginn des 21. Jahrhunderts betrachten (Kaiser 2003). Immerhin wurden bis Mitte 2002 250 regionale Handelsabkommen bei der WTO notifiziert, davon 129 nach Januar 1995. Bis Ende 2005 könnten, so der WTO-Jahresbericht 2002, etwa 300 regionale Handelsabkommen in Kraft sein (WTO 2002). Von daher ist eine starke Tendenz zur Regionalisierung von Handels- bzw. Wirtschaftsbeziehungen zu verzeichnen. Der politische Wille nationaler Politikakteure, regionale Wirtschaftsbeziehungen gegenüber globaler allgemeiner Zusammenarbeit zu präferieren, ist - abgesehen von Japan und zum Teil der US-Supermacht - weltweit zu beobachten. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben sich verschiedene regionale Integrationszonen entwickelt: so die Europäische Gemeinschaft (EG) bzw. Europäische Union (EU) ab 1957, die North Atlantic Free Trade Agreement (NAFTA) seit 1994 (USA und Kanada, später plus Mexiko) sowie die Association of South East Asian Nations (ASEAN) und der Mercado Comün del Sur (MERCOSUR) verstärkt in den späten 1990er Jahren. Die Intemationalisierung der Wirtschaft einerseits und die regionale Integration bzw. der Bedeutungszuwachs von supranationalen Organisationen an-
Wirtschaftsintegration,
Regionalismus
und multilaterale
Wirtschaftsordnung
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dererseits haben bereits zu einer breiten ordnungsökonomischen Analyse der weltwirtschaftlichen Entwicklungstendenzen Anlass gegeben (Schüller und Thieme 2002). Nach fünf Jahrzehnten Erfahrungen mit regionaler Integration sind jedoch noch eine ganze Reihe spezifischer Fragen offen; denn das Phänomen der regionalen Integration selbst ist recht heterogen, wie ein Blick auf die nach Mitgliederzahl und Intensität der Wirtschafts- und Politikintegration recht unterschiedlichen Modelle zeigt. Die Integrationsräume EU, NAFTA, ASEAN und MERCOSUR repräsentierten in 2001 36 % des Welthandels, wobei der Intra-EU-Handel anteilsmäßig zulegte, während die drei anderen bedeutenden Integrationsgruppen einen Rückgang im Intra-Handel verzeichneten. Die EU hat mit der Währungsunion Weichen für einen erhöhten IntraHandel gerade in der Eurozone als Teilraum der EU gestellt. Aber es ist keineswegs sicher, dass auch der Anteil der EU am Welthandel - bei Bereinigung der Handelszahlen um Erweiterungseffekte - längerfristig steigen wird. Ein globaler Anstieg des EU-Handelsanteils ist nur zu erwarten, wenn die EU im weltweiten Vergleich ein überdurchschnittlich hohes Wachstum erreicht. Ob aber hierfür durch die Währungsunion und andere supranationale ordnungspolitische Weichenstellungen einerseits und die Wirtschaftspolitik wichtiger Mitgliedsländer und der EZB andererseits entsprechende Voraussetzungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts erfolgt sind, bleibt zu untersuchen. Der Welthandel ist nicht unerheblich mit der Präsenz von multinationalen Unternehmen und deren Direktinvestitionen verbunden. Etwa ein Drittel des OECD-Handels ist Intra-Firmenhandel, also ein Handel innerhalb multinationaler Unternehmen, die aber gerade die Quelle von Direktinvestitionen sind. Die Direktinvestitionsströme sind - ähnlich wie der Handel - stark konzentriert, wobei sich etwa 75 % innerhalb der OECD-Länder vollziehen. Es ist nicht zu übersehen, dass die 1990er Jahre nicht nur eine Phase stark wachsender regionaler Handelsabkommen waren, sondern auch zu einer deutlichen Erhöhung der Direktinvestitionen führten. Neben das global gleichauf mit den USA als Zuflussland führende China sind in den 1990er Jahren die osteuropäischen Länder als neue wichtige Zielregion multinationaler Investitionsprojekte getreten. Ein Mehr an Direktinvestitionen und ein Mehr an interregionalem Handel haben zweifellos zu den realen Einkommenszuwächsen in vielen Ländern beigetragen. Da Handelsschaffungseffekte bei regionaler Integration den Handel zwischen den Vertragspartnern typischerweise relativ verstärken, entstehen im Zuge solcher Abkommen Möglichkeiten zu intensivierten Vertragsbeziehungen zwischen Handelsakteuren im Rahmen des Privatrechts. Aber es gibt auch Impulse für institutionellen Wandel. Soweit die Qualität von Institutionen für anreizkompatibles Handeln bzw. Effizienz wichtig ist, kann von einer integrationsbedingten Verbesserung der Institutionenqualität der Partnerländer eine langfristig positive Wachstumswirkung erwartet werden. Wirtschaftliche Integration könnte allerdings auch zu einer Schwächung des politischen Wettbewerbs und zu verstärktem Politikversagen fuhren, so dass den statischen und dynamischen Effizienzgewinnen der Wirtschaftsintegration Wohlfahrtsverluste von der Politikebene bzw. aus verstärktem Politikversagen gegenüberzustellen wären. Die Analyse der Verbindung zwischen Handelsintensität und Institutionenqualität im regionalen Integrationsraum ist eine wichtige ordnungsökonomische Fragestellung. Der im Zuge von verstärktem Handel intensivierte Wettbewerb auf den Gütermärkten hat in der Regel Rückwirkungen auf die Faktormärkte, wobei erfahrungsgemäß
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Dieter Cassel und Paul J.J. Weifens
kleine offene Volkswirtschaften besonders lernbereit sind, wenn es um Reformen bzw. institutionelle Innovationen geht, die der internationalen Wettbewerbsfähigkeit forderlich sind. Eine Harmonisierung von Institutionen wiederum kann sich ergeben, wenn das Zusammenspiel von Handelsintensivierung und verschärftem Standortwettbewerb zu einem internationalen ,Benchmarking' fuhrt: Die überlegenen institutionellen Arrangements aus dem Ausland werden dann unter Umständen übernommen oder adaptiert. Alternativ ist eine institutionelle Harmonisierung durch vergemeinschaftete Wirtschaftspolitik denkbar, was allerdings die Schaffung entsprechender gemeinschaftlicher Politikbereiche über eine Zollunion hinaus voraussetzt. Differenzierte Politikpräferenzen vorausgesetzt, droht allerdings im Zuge der Harmonisierung von Regeln ein Wohlfahrtsverlust, sofern nicht überkompensierende dynamische Effizienzgewinne auftreten (Apolte 2000). Aus ordnungspolitischer Sicht stellt sich damit die Frage, wie sich das Zusammenspiel verschiedener institutioneller Arrangements im Kontext der regionalen Integration der beteiligten Länder entwickelt. Soweit regionale Integrationsräume miteinander um Mitglieder konkurrieren, ist nicht nur die institutionelle Binnenwirkung von regionaler Integration zu thematisieren, sondern auch die Außenwirkung - etwa im Sinne einer Vorbild- oder Sogwirkung eines Regionalen Handelsclubs'. Greift man die Institutionenökonomik in der Tradition von Coase (1998), Richter und Furubotn (2003) sowie Williamson (2000) auf und verwendet man die Systematik von Erlei, Leschke und Sauerland (1999, S. 69 ff.), dann geht es institutionenökonomisch insbesondere um die Frage, ob sich marktbasierte Vertragsbeziehungen im Zuge der regionalen Integration verstärken und dabei besondere Probleme in den PrincipalAgent-Beziehungen entstehen. Dies deshalb, weil regionale Integration Marktvergrößerung und dies wiederum in der Regel Zunahme der mindestoptimalen Betriebsgröße bedeuten und größere Unternehmen bzw. Betriebseinheiten möglicherweise schwieriger zu kontrollieren sind. Zudem geht es aus institutionenökonomischer Sicht um staatlich gesetzte Regeln bzw. staatliche Institutionen, deren Rolle sich u. a. aus der Defmierbarkeit bzw. Definiertheit privater Eigentumsrechte und der Art des politischen Wettbewerbs ergibt. Hier stellt sich u. a. die Frage, ob regionale Integration die Bedeutung der Widerspruchsoption (voice) oder aber der Abwanderungsoption (exit) im Wettbewerb von Jurisdiktionen - und damit den Systemwettbewerb - stärkt oder schwächt. Der Systemwettbewerb, der schon in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an Bedeutung auf internationaler Ebene gewonnen hat (Cassel 1996; Apolte, Caspers und Weifens 1999), erhält durch die Konkurrenz von Integrationsräumen mit unterschiedlichen Integrationstiefen eine zusätzliche Dimension. Schließlich geht es bei vertiefter Integration auch um konstitutionenökonomische Fragen, nämlich ob und inwieweit im Zuge regionaler Integration bzw. Kooperation ein länderübergreifender Grundkonsens entsteht, der Basis einer gemeinschaftlichen Verfassung sein könnte. 2. Dimensionen regionaler Wirtschaftsintegration 2.1. Integrationsstufen Regionale Integration kann nach der Zahl der Handelspartner und der relativen Bedeutung sektoraler Ausnahmeregelungen charakterisiert werden. Je mehr Handelspartner beteiligt sind, desto geringer sind die zu erwartenden Handelsablenkungseffekte
Wirtschaftsintegration, Regionalismus und multilaterale Wirtschaftsordnung
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einerseits, desto größer sind aber andererseits auch die Schwierigkeiten, einen funktionsfähigen Integrationsclub zu bilden. Denn aus spieltheoretischer Sicht sind bekanntlich mit zunehmender Zahl und Heterogenität der Akteure (hier der beteiligten Länder) Konsens- bzw. klare Mehrheitsentscheidungen immer schwerer zu erreichen. Sektorale Ausnahmeregeln wiederum sind problematisch, weil sie de facto ein besonderes Protektionsregime für bestimmte Branchen schaffen, das dem Risiko einer politischen Proliferation unterliegt: Andere Sektoren werden vergleichbare Protektion fordern, die sich in der Praxis meist auf nichttarifäre Handelshemmnisse und Subventionen beziehen. Dabei spielt seit Jahrzehnten besonders der Agrarprotektionismus der OECD-Länder eine wichtige Rolle. Integration kann sich in unterschiedlicher Intensität vollziehen, wie sich aus der bekannten ,Integrationstreppe' ergibt (Abbildung 1): Abbildung 1: Stufen der regionalen Wirtschaftsintegration
'irtschaftspolitische Koordination
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Freihandelszone: Hier führen die Länder im Handel untereinander Freihandel ein, behalten aber unterschiedliche nationale Außenzölle bei. In dieser Integrationsform ergibt sich eine besondere Bedeutung von Ursprungszeugnissen bzw. für Ursprungsregeln, da Anbieter aus Drittländern bei fehlenden Ursprungsmerkmalen naturgemäß den Zugang zu jedem Teilmarkt der Freihandelszone über das Mitgliedsland mit dem niedrigsten Außenzollsatz suchen.
- Zollunion: Hier wird zusätzlich zur innergemeinschaftlichen Zollfreiheit ein gemeinsamer Außenzoll vereinbart, was eine gemeinsame Außenwirtschaftspolitik und damit das formale Abtreten nationaler Politikautonomie verlangt. Ohne politische Bereitschaft zur Kooperation kann es keine Zollunion geben. - Wirtschaftsunion: Hierbei werden für die Gütermärkte und gegebenenfalls auch für Faktormärkte gemeinsame Wettbewerbsregeln zusätzlich zur Zollunion festgelegt, so dass die Wettbewerbspolitik teilweise vergemeinschaftet wird - zumindest insoweit, wie es um handelbare Güter geht. Offen ist, ob ein gemeinsamer Markt im Sinne einer supranationalen Rahmenordnung für die Wettbewerbspolitik (und die Subventionspolitik wie im Falle der EU) auch einer gemeinsamen Rahmenordnung für den Kapital- und Arbeitsmarkt bedarf. - Wirtschafts- und Währungsunion: Hier kommt zur Wirtschaftsunion noch eine gemeinsame Geldpolitik oder eine supranationale Geldpolitik mit Gemeinschaftswährung hinzu, so dass neben der Wettbewerbs- auch die Geldpolitik vergemeinschaftet ist. Auch wird die laufende Geldpolitik - wie etwa bei der Europäischen Währungsunion (EWU) - supranational durchgeführt. Umstritten ist dabei, inwieweit es gemeinsamer flankierender Regeln und Institutionen für die Fiskalpolitik oder für andere Politikbereiche bedarf. Zu den wichtigen Eigenarten regionaler Integration gehört die multilaterale Kooperation, die sich in eigenständigen Institutionen oder im Rahmen von jährlichen multilateralen Treffen der Staats- und Regierungschefs vollzieht. Regionale Integration als Politikansatz schließt von daher ein Regime des Unilateralismus aus. Ein gewisses Spannungsmoment besteht zwischen den auf globale Integration angelegten internationalen Organisationen wie IWF und WTO und den regionalen Integrationsansätzen. Aus ordnungsökonomischer Sicht stellen sich u. a. die folgenden Fragen: - Welche Politikbereiche sollen grundsätzlich vergemeinschaftet werden und verlangen daher nach einer gemeinsamen Rahmenordnung? -
Welche sekundären Integrationszwänge gibt es, also Politikbereiche, die quasi komplementär zu den grundlegenden Integrationsfeldem sind? - Wie kann eine effiziente vertikale Arbeitsteilung der Wirtschaftspolitik gesichert werden, also eine sinnvolle Abgrenzung von Kompetenzen auf supranationaler und nationaler Ebene? -
Wie ist das Verhältnis verschiedener regionaler Integrationsräume in der Weltwirtschaft zueinander?
- Wie beeinflusst die Herausbildung regionaler Integrationsräume die Rolle von globalen internationalen Organisationen - etwa weil nicht mehr einzelne Mitgliedsländer in einer Organisation repräsentiert sind, sondern ein Vertreter des Integrationsraums
Wirtschaftsintegration,
Regionalismus
und multilaterale
Wirtschaftsordnung
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als solcher in der Organisation agiert? Oder kommt es zu koordiniertem Abstimmungsverhalten der Mitgliedsländer von Integrationsräumen? Eine Wirtschaftsintegration ist dadurch charakterisiert, dass Nationalstaaten nationale Souveränität und damit das immaterielle Gut .nationale Identität' teilweise aufgeben. Aus politischer Sicht ist ein länderübergreifendes Integrationsprojekt nur dann attraktiv, wenn dem politischen Autonomieverlust ein hinreichender Gewinn ökonomischer Art gegenübersteht, etwa ein nachhaltiger integrationsbedingter Wachstumsimpuls, der seinerseits machtpolitisch positiv gewertet wird. Von daher ergibt sich vor allem aus Sicht kleiner Länder ein besonderer Vorteil der regionalen Wirtschaftsintegration. Denn die integrationspolitische Zusammenarbeit mehrerer kleiner Länder kann im ökonomischen Sinne zu einem großen Land fuhren, dessen Unternehmen nicht länger Preisnehmer im Weltmarkt sind. Aus dieser Perspektive macht dann insbesondere auch eine Zollunion Sinn, da das Setzen eines gemeinsamen Außenzollsatzes im Falle eines großen Landes eine Verbesserung der Terms of Trade und damit einen Wohlfahrtsgewinn bringt. Regionale Wirtschaftsintegration begünstigt im Prinzip kleine Länder relativ stark, da sie in besonderer Weise von der integrationsbedingt verbesserten Nutzungsmöglichkeit von Massenproduktionsvorteilen profitieren. Letzteres spielt für große Länder eine geringere Rolle, aber die räumliche Integration mit mehreren anderen Ländern kann auch für große Länder vorteilhaft sein. 2.2. Integrationsräume Weltweit spielen zahlenmäßig Freihandelszonen zwar die größte Rolle - unter den bei der WTO gemeldeten präferenziellen Handelsabkommen überwiegen Freihandelsabkommen aber qualitativ dürfte der Einfluss der EU als Zollunion und Binnenmarkt - sowie partieller Währungsunion - zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine dominierende Rolle spielen. Das umso mehr, als die EU-Osterweiterung zum 1. Mai 2004 die Gemeinschaft der 15 um immerhin zehn neue Mitgliedsländer vergrößern wird. Die erweiterte Gemeinschaft hat ihrerseits wiederum 30 Freihandelsabkommen mit anderen Ländern, so dass sich um den EU-Binnenmarkt ein Netzwerk präferenzieller Abkommen bzw. Handelsbeziehungen bildet. Quantitativ wie qualitativ kann die EU als international führender Integrationsraum eingeordnet werden; unklar aber ist, ob die erweiterte EU langfristig Bestand haben wird. Nach dem Zweiten Weltkrieg ergab sich zunächst durch die 1957 erfolgte Gründung der EG mit Deutschland, Frankreich, Italien, Belgien, den Niederlanden und Luxemburg als Startländer ein erster Versuch zu einer regionalen Wirtschaftsintegration. Neben ökonomischen Motiven spielten hierbei sicherheitspolitische Überlegungen eine zentrale Rolle, da man von der EG-Gründung nicht zuletzt auch eine friedenssichemde Einbindung Deutschlands - Aggressor im Ersten und Zweiten Weltkrieg - in Westeuropa bzw. gestärkte transatlantische Sicherheitsstrukturen im Kalten Krieg erwartete. Die gemeinsame Furcht vor der Sowjetunion und dem Warschauer Pakt war sicherlich ein politisch wichtiger Integrationsimpuls und -kitt für die EG-Integration bis Ende der 1980er Jahre. Diese Gründungsgeschichte - wie auch die der ASEAN - legen Fragen nach der Verbindung ökonomischer Integrationsmotive und sicherheitspolitischer Aspekte bei regionaler Integration nahe.
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Historisch gesehen war die EG bekanntlich nicht der erste Versuch regionaler Wirtschaftsintegration in Europa. Denn der Deutsche Zollverein von 1834 sowie die Skandinavische und die Lateinische Währungsunion im 19. Jahrhundert - die Skandinavische hielt immerhin fünf Jahrzehnte - waren regionale Integrationsprojekte. Aus heutiger Sicht von besonderem Interesse ist die Deutsche Zollunion mit ihrer Verbindung von wirtschaftlicher Integration und politischer Entwicklung. Das sozialistische Konkurrenzprojekt zur EU-Integration, die Wirtschaftsintegration im Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW), war durch eine starke Politisierung der Außenwirtschaftsbeziehungen geprägt; und gerade dies war einer ihrer wichtigsten Schwachpunkte: Nicht nur im Intra-Handel spielten politische Überlegungen der Sowjetunion als .sozialistischer Hegemon' eine wesentliche Rolle, auch mit Blick auf den Westhandel und viele internationale Kooperationsprojekte waren sie maßgeblich. Die sozialistische RGW-Integration, die eine internationale Arbeitsteilung unter den Zentralverwaltungswirtschaften Osteuropas (einschließlich der Sowjetunion) errichten sollte, endete, als die zentralosteuropäischen Länder in 1990/91 zur marktwirtschaftlichen Systemtransformation übergingen und die UdSSR als RGW-Führungsmacht im Jahre 1991 zerfiel. Schon 1993 trat das Central European Free Trade Agreement (CEFTA) in Kraft, in dem sich acht ehemalige zentralosteuropäische RGW-Länder zusammenschlössen, um sich auf den EU-Beitritt vorzubereiten. Heute sind bereits die meisten Ex-RGW-Länder designierte EU-Mitglieder, während eine EU-Mitgliedschaft der Ex-UdSSR aus heutiger Sicht unwahrscheinlich ist. Gleichwohl stellt sich auch für Russland bzw. die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) die Integrationsfrage; denn einerseits haben bereits vier Republiken eine mittelasiatische Integrationszone gebildet und andererseits erwägt man eine globale Integration durch Mitgliedschaft etwa in der WTO, die helfen könnte, Regeln von außen in die von diversen Verzerrungen und institutioneller Instabilität geprägte Ex-UdSSR zu importieren ( W e i f e n s 1999; Wiegert 2003). Die WTO-Mitgliedschaft, die für Russland - anders als für China, das im Jahre 2002 Mitglied wurde - noch aussteht, könnte von außen her nicht nur konkrete Regelsetzungen im Außenwirtschaftsbereich bringen, sondern auch Anstöße zur effizienzfordernden Setzung komplementärer nationaler Regeln im Bereich der handelsfähigen Güter geben. Mit dem MERCOSUR in Lateinamerika gibt es seit 1991 einen weiteren Versuch zur Bildung einer Zollunion mehrerer Staaten, die jedoch den Sprung über die Freihandelszone als erster Integrationsstufe nicht nachhaltig geschafft haben. Dies zeigen auch die wirtschaftlichen Probleme Argentiniens und Brasiliens im Zeitraum von 1997-2002 mit der faktischen Aussetzung von Vertragsbestandteilen. Die mangelnde Bereitschaft der Vertragsstaaten zu einer makroökonomischen Koordination, die sich indirekt aus dem vom Mitgliedsland Argentinien gewählten Currency-board-System als Erfordernis ergab, ist einer der wichtigen Schwachpunkte der MERCOSUR-Integration (Baer, Cavalcanti und Silva 2002). Bei der ASEAN-Freihandelszone wiederum ist zwar noch keine Zollunionstufe absehbar, aber eine Zollunion ist auch nicht ausgeschlossen. Interessanterweise werden im Kreise der zehn Mitgliedsländer auch Fragen der regionalen monetären Integration diskutiert. Somit steht auch ASEAN, das 1967 im Zeichen des Vietnamkrieges als sicherheitspolitisches regionales Staatenbündnis begann, für eine längerfristig ambitionierte Regionalintegration (Fischer 2003).
Wirtschaftsintegration, Regionalismus und multilaterale Wirtschaftsordnung
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Wenn man diese verschiedenen Integrationsmuster betrachtet, dann drängt sich die Frage auf, weshalb unterschiedliche Intensitätsgrade der Integration gewählt werden. Die Geschichte der früheren European Free Trade Association (EFTA) wie die NAFTA-Erfahrungen zeigen jedenfalls, dass eine Freihandelszone durchaus als relativ stabile Integrationsform gelten kann. Darüber hinaus interessieren die Motivation und Methoden nachhaltiger Integrationsvertiefung sowie die Antriebskräfte und Ergebnisse der relativ erfolgreichen Integrationsclubs. Zugleich ist nicht zu übersehen, dass eine Vielzahl anderer regionaler Integrationsbemühungen stagnierten oder scheiterten - hier sind vor allem regionale Integrationsversuche von Entwicklungsländern in Afrika zu nennen. Integrationsräume in Afrika, die unter marktwirtschaftlichen Vorzeichen entstanden, erwiesen sich als wenig erfolgreich, wobei politische Instabilität und Bürgerkriege einer nachhaltigen Umsetzung von Integrationsbestrebungen entgegenstanden. Kurios ist allerdings, dass der Euro als Nebeneffekt der Mitgliedschaft Frankreichs in der EWU quasi in Teilen des frankophonen Afrikas eingeführt wurde. Denn der FFCFA mit seiner Bindung an den Französischen Franc ist durch den Euro ersetzt worden. Interessanterweise haben sich die meisten regionalen Integrationsclubs in den 1990er Jahren parallel zur WTO-basierten multilateralen Liberalisierung entwickelt. Nach dem Ende des Kalten Krieges gelang es nicht nur, die Vielzahl transformierter osteuropäischer Länder in das GATT aufzunehmen, sondern konnte das völkerrechtlich relativ schwach verankerte GATT 1995 im Zuge der Uruguay-Runde auch in eine internationale Organisation, die WTO, überführt werden. Mit der Aufnahme Chinas im Jahre 2001 hat die WTO einen weiteren Erfolg erzielt, da das bevölkerungsreichste Land der Welt - und dem Bruttoinlandsprodukt auf Kaufkraftparitätenbasis nach die globale Nr. 2 - nunmehr dem WTO-Regelwerk unterliegt, also Meistbegünstigung und Nichtdiskriminierung befolgt. Sollte die WTO in den nächsten Jahren auch Russland als Mitgliedsland aufnehmen, dann wären immerhin 95 % des Welthandels von der WTO abgedeckt. Damit stellt sich u. a. die Frage nach dem Wechselverhältnis von globaler Integration - hier via WTO-Mitgliedschaft - und regionaler Integration (Langhammer und Wössmann 2002). Denn regionale Integration stellt nämlich aufgrund der präferenziellen Handelsbeziehungen für die Integrationsländer eine gewisse Diskriminierung von Drittländern dar, wobei diese unter GATT-Artikel 24 anzumelden sind oder aber in relevanten Fällen im Zuge besonderer GATT-Ausnahmeklauseln für Entwicklungsländer realisiert werden können (Kaiser 2002). Die Wechselwirkungen zwischen WTO-Mitgliedschaft und regionaler Integration bzw. das Zusammenwirken beider stellt einen wichtigen Fragenkreis dar, wobei Mexiko, das Mitte der 1990er Jahre WTO- und NAFTA-Mitglied wurde, einen besonders spektakulären Fall darstellt: Binnen einer Dekade hat es eine Verdoppelung der Exportquote erreicht. Das Beispiel Mexiko lässt mit Blick auf osteuropäische Transformationsländer mit WTO- und EU-Mitgliedschaft ähnlich positive Entwicklungen im Bereich der Außenwirtschaft ab 2004 erhoffen. Mexiko ist im Übrigen auch aus einem anderen Grund von Interesse im Kontext der EU-Osterweiterung: Wegen der bestehenden handels- und kapitalmäßigen Verflechtungen zwischen den USA und Mexiko, aber auch mit Blick auf die potenzielle Anfälligkeit des US-Banken- bzw. Finanzsystems für nachhaltige schwere Finanz- und Währungskrisen des südlichen Nachbarlandes, haben die USA in den 1980er und 1990er Jahren Mexiko bilateral und multilateral Hilfe zur
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Stabilisierung geleistet; dabei mag die Furcht vor hohen Einwandererzahlen aus Mexiko für die USA ein zusätzlicher Motivationsfaktor bei der US-Stabilisierungshilfe gewesen sein. In ähnlicher Weise könnten sich etwa für Deutschland im Falle einer Finanzkrise im Nachbar- und Partnerland Polen Hilfserfordemisse ergeben, wobei die deutsche Hilfsmotivation im Ernstfall sicher auch Reflex der gewachsenen regionalen Interdependenz wäre. Deutsche bzw. EU-seitige Hilfsmaßnahmen für ein osteuropäisches EU-Neumitgliedsland im Krisenfall wären so gesehen nicht einfach Ausdruck politischer Solidarität, sondern würden auch durch wirtschaftliche Eigeninteressen wesentlich mitbestimmt sein. Die aus der bilateralen Zusammenarbeit USA-Kanada entstandene NAFTA in der Zusammensetzung USA-Kanada-Mexiko ist naturgemäß von den Vereinigten Staaten dominiert und hat einen Schwerpunkt im Bereich der realwirtschaftlichen Integration. Das Schließen eines Freihandelsabkommens zwischen NAFTA und Chile im Jahre 2002 ist ein erster Erfolg für das regionale Wachstum der NAFTA in Lateinamerika. Mit dem Konzept einer um mittel- und lateinamerikanische Länder erweiterten NAFTA, einer FTAA, zielen die USA auf eine südliche Ausdehnung der Kooperation. Dabei müssten bestehende Integrationsgruppen wie die fünf Länder der Andean Community (ANDEAN) und der MERCOSUR erst noch zum Beitritt gewonnen werden. Die Wirtschaftsintegration in Nordamerika ist jedenfalls deutlich vorangeschritten und kann mit Blick auf die Handelsliberalisierung USA-Kanada auf eine längere Erfolgsgeschichte verweisen. Demgegenüber ist die südamerikanische MERCOSUR-Integration von relativer Instabilität gekennzeichnet, wobei die unterschiedliche Währungspolitik der Mitgliedstaaten die realwirtschaftliche Integration zu erschweren scheint. Insgesamt ist festzustellen, dass sich weltweit nach fünf Jahrzehnten regionaler Wirtschaftsintegration erhebliche Veränderungen wirtschaftlicher und wirtschaftspolitischer Art ergeben haben, die vom Globalisierungsprozess mit seinen Anpassungsimpulsen überlagert werden. Angesichts der Entwicklungstendenzen bei regionaler Integration und Globalisierung der Wirtschaftsbeziehungen kann man - abgesehen von den USA und China - durchaus von einem Bedeutungsverlust des Nationalstaates sprechen (Giersch 2002). Gibt es mehrere dauerhafte Integrationsräume - wie etwa EU, NAFTA, MERCOSUR, und ASEAN so wird sich der internationale Systemwettbewerb zudem nicht nur als Konkurrenz nationaler Wirtschaftsordnungen, sondern auch als Wettbewerb zwischen Integrationsräumen vollziehen. Die Integrationsclubs bzw. ihre jeweiligen Führungsmächte wiederum werden den globalen Ordnungsrahmen zu beeinflussen suchen. So könnten etwa die USA bzw. die NAFTA über die W T O indirekt den ordnungspolitischen Autonomiegrad für ASEAN und EU zu beschränken versuchen. Auch die EU könnte mit zunehmender Mitgliederzahl in internationalen Organisationen wirkungsmächtiger auftreten und besondere Beziehungen zu anderen Integrationsräumen zu entwickeln trachten. Allerdings fehlen der EU hierfür noch weitgehend die institutionellen bzw. politischen Voraussetzungen, da die Kompetenzen im Bereich der supranationalen Außenwirtschaftspolitik und der Außenpolitik auf drei Kommissare und einen vom Europäischen Rat eingesetzten Sonderbeauftragten verteilt sind. Den USA hingegen werden einerseits weltweite integrationsrelevante Ambitionen nachgesagt, und andererseits sind sie politisch auch handlungsfähig: Schon mit der C/;«io«-Initiative für eine lateinamerikanische Freihandelszone haben sie ihr Interesse
Wirtschaftsintegration, Regionalismus und multilaterale Wirtschaftsordnung
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an der Ausweitung der N A F T A in Richtung Mittel- und Lateinamerika demonstrativ bekundet; auch sind sie an der APEC, der Asian Pacific Economic Cooperation, beteiligt: Damit haben die USA, deren transpazifische Handelsströme schon in den späten 1980er Jahren die transatlantischen erstmals übertrafen, eine nachhaltige Integrationsinitiative Richtung Asien entwickelt. Zugleich treffen hier die regionalen Führungsmächte U S A und China erstmals in einem wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Kooperationsclub zusammen. 2.3.
Integrationsdynamik
Im Zuge regionaler Wirtschaftsintegration hat nach WTO-Angaben (Tabelle 1) der Anteil des Intra-Warenhandels in ausgewählten Integrationsclubs in den 1990er Jahren zugenommen - wenn man von der EU-15 und der osteuropäischen C E F T A absieht, bei der jedoch methodische Umstellungen den zeitlichen Vergleich erschweren. Allerdings hat sich bei der EU-15 wegen der Handelsliberalisierung gegenüber den CEFTA-Ländern auf dem Weg zur EU-Erweiterung der Anteil des Ost-West-Handels erhöht, so dass der europäische Intra-Handel faktisch gestiegen ist. So gesehen gilt allgemein, dass Integrationsabkommen den Intra-Handel stärken. Geht man realistischerweise davon aus, dass bei einem Intra-Anteil von über 60 % die Gefahr egozentrischer, im Zweifelsfall protektionistischer Politik zu Lasten von Drittländern hoch ist, dann droht bei APEC und EU die Gefahr einer protektionistischen Blockbildung. Die regionale Wirtschaftsintegration ist in Westeuropa insbesondere durch die EGZollunion (etabliert 1968), den EU-Binnenmarkt (seit 1992) und die Euro-Währungsintegration (seit 1999) vorangeschritten, wobei sich nach dem Ende des Kalten Krieges bzw. seit der Transformation osteuropäischer Staaten eine umfassende EU-Osterweiterung für 2004 abzeichnet. Quantitativ und qualitativ dürfte die EU-Integration zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine neue Dimension erreichen: Die EU-Osterweiterung wird auf mittlere Sicht die ökonomische Heterogenität der Gemeinschaft deutlich erhöhen und das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen gegenüber der EU-15 in der ersten Erweiterungsdekade deutlich vermindern. Im Vergleich mit anderen Integrationsclubs ist die E U insofern ein gewisser Sonderfall, als sie im Zeitablauf Integrationsvertiefung und -erweiterung gleichzeitig realisieren muss. Gelänge eine EU-Osterweiterung im Zuge einer Erhöhung des Wachstums und einer starken Reduzierung der Arbeitslosenquote, dann dürfte die EU-Erweiterung kaum Protektionismusgefahren gegenüber Drittländern bedeuten. Ob aber die EU-Osterweiterung tatsächlich in Wachstums- und beschäftigungsfördernder Weise ablaufen wird, ist eine offene Frage (Hoffmann 2000; Caesar 2003). Die Herausforderungen der EU-Osterweiterung sind schon wegen der großen Zahl von Neumitgliedem viel ernster als bei der EG-Süderweiterung in den 1980er Jahren, als die Gemeinschaft der 12 die drei relativ armen Länder Griechenland, Spanien und Portugal aufnahm. D a die EU im Zeitraum von 1957-2002 über die Stufen ZollunionWirtschaftsunion-Wirtschafts- und Währungsunion eine enorme Vertiefung der Integration im Zeitablauf erfahren hat, sind die verschiedenen Erweiterungsrunden schwerlich miteinander vergleichbar. Zeitlich spätere Erweiterungsrunden - wie die unmittelbar bevorstehende EU-Osterweiterung - finden bei einem viel anspruchsvolleren .Acquis
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Dieter Cassel und Paul J.J. Weifens
Tabelle 1: Handelsvolumen ausgewählter regionaler Integrationsgruppen, 1990-2001 Veränderung pro Jahr in %
Anteilswerte Exporte/Importe in %
Gesamtwert in Mrd. US-Dollar 2001
1990
1995
2001
1990-01
2000
2001
APEC (21) Exporte insgesamt Intra-Exporte Extra-Expoite Importe insgesamt" lntni-Importe Extra-Importe
2700 1938 762 2969 2076 893
100 67,5 32,5 100 65,4 34,6
100 73,1 26,9 100 71,7 28,3
100 71,8 28,2 100 69,9 30,1
7 7 5 7 8 6
17 20 11 21 20 24
-8 -9 •4 -7 -8 -2
ASEAN (10) Exporte insgesamt Intra-Exporte Extra-Exporte Importe insgesamt Intra-Importe Extra-Importe
385 90 295 336 77 260
100 20,1 79,9 100 16,2 83,8
100 25,5 74,5 100 18,9 81,1
100 23,5 76,5 100 22,8 77,2
9 11 9 7 10 6
19 28 16 22
-10 -12 -9 -8 -12 -7
EU (15) Exporte insgesamt Intra-Exporte Extra-Exporte Importe insgesamt Intra-Importe Extra-Importe
2291 1417 874 2334 1421 913
100 64,9 35,1 100 63 37
100 64,0 36,0 100 65,2 34,8
100 61,9 38,2 100 60,9 39,1
4
CEFTA (7) Exporte insgesamt Intra-Exporte Extra-Exporte Importe insgesamt lntra-lmporte Extra-Importe
138 17 121 168 17 151
100 14,5 85,5 100 11,3 88,7
100 12,4 87,6 100 9,9 90,1
-
NAFTA (3) Exporte insgesamt Intra-Exporte Extra-Exporte Importe insgesamt11 Intra-Importe Extra-Importe
1149 637 512 1578 624 954
100 42,6 57,4 100 34,4 65,6
100 46,1 53,9 100 37,7 62,3
Importe insgesamt Intra-Importe Extra-Importe
88 15 73 84 16 68
100 8,9 91,1 100 14,5 85,5
ANDEAN (5) Exporte insgesamt Intra-Exporte Extra-Exporte Importe insgesamt 1 Intra-Importe Extra-Importe
53 6 47 44 6 38
100 4,2 95,8 100 7,7 92,3
MERCOSUR (4) Exporte insgesamt Intra-Exporte Extra-Exporte
a
3 5 4 3 4
28 21 3 1 7 6 1 15
-2 0 -3 -2 -4
-
13 12 13 11
11 14 11 8 12 8
100 55,5 44,5 100 39,6 60,5
7 9 4 8 9 7
15 18 11 18 17 19
-6 -6 -6 -6 -7 -6
100 20,5 79,5 100 18,1 81,9
100 17,3 82,7 100 18,9 81,1
6 13
14 17
4 -14
5 10 13 9
13 8 12 8
9 -6 -11 -5
100 12,2 87,8 100 12,9 87,1
100 11,2 88,8 100 13,3 86,7
5 15 4 9 14 8
34 30 34 9 29 7
-9 14 -12 12 8 12
-
13 14
-1
Importe von Kanada, Mexiko (1990-99), Peru, und Australien sind bewertet nach f.o.b. Importe von Kanada, Mexiko (1990-99) sind bewertet nach f.o.b. c Importe von Peru und Venezuela sind bewertet nach f.o.b. Bemerkung: Die vorliegenden Daten sind nicht vollständig an unterschiedliche statistische Methoden der Handelsdatenerfassung in einzelnen Ländern der Integrationsgruppen angepasst.
b
Quelle:
WTO (2002).
Wirtschaftsintegration, Regionalismus und multilaterale
Wirtschaftsordnung
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Communnautaire' statt; d. h. das Ausmaß an Institutionenanpassung und Regelimport seitens der Neumitglieder, die das EU-Regelwerk übernehmen müssen, ist weit umfassender als bei der EU-Süderweiterung, als Überlegungen zu Binnenmarktprogramm und Währungsunion noch in den Anfängen standen. Die EU-Osterweiterung, die auf dem Gipfel von Kopenhagen im Dezember 2002 beschlossen wurde, ist als Glied in einer historischen Kette von EU-Erweiterungsschritten einerseits Beleg für die politische Attraktivität des EU-Integrationskonzeptes. Andererseits scheint die Expansions- bzw. Integrationsdynamik der E U kaum kontrollierbar zu sein, da im Auswärtigen Amt und bei der Europäischen Kommission bereits über eine EU-Südosterweiterung (z. B. Bulgarien und Rumänien) diskutiert wird und die U S A von außen auf die Aufnahme der Türkei in die EU drängen. Mit wachsender Größe der EU dürfte ihr politisches Gewicht jedoch zunehmen, und Nachbarländer ohne EU-Mitgliedschaft werden sich fragen, ob die Nettovorteilsanalyse einer Nichtmitgliedschaft tatsächlich die einer Mitgliedschaft überwiegt, wie man etwa mit Blick auf die Schweiz fragen könnte (Meier-Schatz, Nobel und Waldburger 2001). Die EU-Osterweiterung um 10 Länder in 2004 ist mit Blick auf frühere Erweiterungsrunden gewaltig: Die Zahl der Clubmitglieder steigt um 66 %, das Bruttoinlandsprodukt der Gemeinschaft aber um weniger als 10 %. Nicht nur bei der Begrenzung der Mitgliederzahl stellt sich die Frage nach einer Kontrollierbarkeit der Integrationsdynamik. Fraglich ist auch, inwieweit Eigeninteressen der Mitgliedsländer sowie die rasche Binnenmarktintegration der Beitrittsländer und die Übernahme bestimmter Erfordernisse im Vorfeld der Währungsunion - z. B. Unabhängigkeit der Nationalbank, Einbindung in das Brüsseler Politikmonitoring - nicht auch eine rasche Eurozonen-Erweiterung mit zusätzlichen Problemen nach sich ziehen. Die EU-Osterweiterung ist somit eine wichtige und komplexe wirtschaftspolitische Herausforderung, von der erheblicher institutioneller und wirtschaftspolitischer Anpassungsdruck ausgeht. Mit 25 Ländern erreicht der EU-Club eine mit Blick auf praktische Funktionserfordernisse kritische Größe. Hinzu kommt, dass die Länder ökonomisch relativ heterogen sind. Es ist keineswegs sichergestellt, dass endogene Marktanpassungsprozesse und politische Transfermechanismen einen nachhaltigen Konvergenzprozess in der erweiterten EU zur Folge haben. Von daher stellt sich die Frage, wie rasch die EU-Beitrittsländer ab 2004 den Acquis Communautaire übernehmen und inwieweit diese institutionellen Änderungen und die jeweilige nationale Wirtschaftspolitik zu einer nachhaltigen wirtschaftlichen Konvergenz fuhren. Fraglich ist auch, welche Eigendynamik die EU-15 in ordnungspolitischen Kernfeldern entfaltet bzw. inwieweit nationale Reformdefizite in wichtigen Bereichen überwunden werden. Die EU-Integrationsdynamik mag ihre eigenen Probleme haben. Bezüglich der Außenwirkung relevant ist aber auch eine mögliche internationale EU-Vorbildwirkung, und zwar insbesondere für die ASEAN- und die MERCOSUR-Länder. Tatsächlich ist z. B. in Asien ein verstärkter Wille zur Errichtung einer regionalen Freihandelszone vorhanden, wobei China den ASEAN-Ländern ebenso Vorschläge in dieser Richtung gemacht hat wie die USA. In den ASEAN-Ländern werden wiederum die EU-Integrationserfahrungen und die Entwicklungen in der Eurozone mit großem Interesse verfolgt - hier sucht man sichtbar nach Modellbausteinen für eine stufenweise Integration. Falls
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Dieter Cassel und Paul J.J. Weifens
China zu einer dynamischen stabilen Wirtschaftsmacht mit akzeptiertem Führungsanspruch in Asien werden sollte, könnte insofern ein Regionalismusproblem drohen, als China und seine asiatischen Partnerländer einer regionalen Integration Priorität gegenüber dem globalen Regelwerk der WTO geben könnten. Es ist jedenfalls bemerkenswert, dass China in der Asienkrise trotz massiver Abwertungen in asiatischen Schwellenländern nicht abgewertet hat: Dieser Strategie Chinas kommt sicher mehr als nur symbolischer Wert zu. 3. Regionale Wirtschaftsintegration und struktureller Wandel Wie bereits erwähnt, ist die regionale Integrationsdynamik zugleich eingebettet in anhaltende Globalisierungstendenzen, die sich in der Form steigender Handels- und Direktinvestitionsquoten sowie in einer wachsenden Informationsvernetzung über das Internet bzw. digitale Medien zeigen. In der digitalen Weltwirtschaft sind die Transformations- und Informationskosten in handels- und kapitalverkehrsförderlicher Weise gesunken, wobei die verstärkte Nutzung internationaler Telekommunikationsdienste sowie eine Vielzahl internetbasierter Dienstleistungen den Handel verstärken (Weifens und Jungmittag 2001, 2002; Weifens 2002; Freund und Weinhold 2003). Die Konkurrenz auf Güter- und Dienstleistungsmärkten, die Standortkonkurrenz und der Systemwettbewerb haben im Zuge der Globalisierung an Intensität zugenommen. Nicht zu übersehen ist dabei, dass im Internet auch Informationen über die globalen Standortbedingungen umfassender als bisher verfügbar sind, so dass ihm - und allgemeiner: der digitalen Informationswirtschaft - eine erhebliche Bedeutung für Reformimpulse in der Ordnungs- und Wirtschaftspolitik zukommt. Zumindest temporär als problematisch könnte sich die Interdependenz der Teilordnungen im sich herausbildenden EU-Wirtschaftssystem erweisen, weil die Integration über verschiedene Mechanismen Anpassungsdruck erzeugt. Die durch den Euro als einheitliche Währung und die Aktivitäten der EZB als einziger Notenbank im EWU-Raum verstärkte Kapitalmarktintegration gibt in Verbindung mit dem wettbewerbsintensiven Binnenmarkt auch Anpassungsimpulse in den Arbeitsmärkten bzw. für den sektoralen Strukturwandel. Dabei wird die Entwicklung der integrierten nationalen Wirtschaftsordnungen in Europa, aber auch in anderen Regionen der Weltwirtschaft, durch globale Anpassungsimpulse insbesondere im Bereich der Währungs-, Medien-, Umwelt- und Arbeitsmärkte bzw. der entsprechenden Teilordnungen überlagert. Zu den wichtigen Problemen gehören u. a. Anpassungsimpulse für die Arbeitsmärkte in EU-Hochlohnländern (insbesondere Deutschland, Frankreich, UK, Benelux), die relativ reichlich mit qualifizierter Arbeit bzw. Humankapital ausgestattet sind. Gemäß dem Heckscher-Ohlin-Samuelson-ModeW wird eine Verstärkung des interindustriellen Handels der EU-Hochlohnländer mit den ärmeren Partnerländern, die über reichlich Arbeit mit geringerer Qualifikation verfügen, zu einem importbedingt vergrößerten Angebot an einfacher Arbeit in EU-Hochlohnländem fuhren: Der relative Preis der entsprechenden Güter sinkt, weshalb der arbeitsintensive Sektor schrumpft und der humankapitalintensive expandiert. Es besteht die Gefahr, dass es zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit bei Geringqualifizierten kommt bzw. weniger lernfähige ältere Arbeitnehmer einem erhöhten Arbeitslosigkeitsrisiko ausgesetzt werden. Letzteres ist fiir die
Wirtschaftsintegration, Regionalismus und multilaterale Wirtschaftsordnung
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alternde EU-15-Gesellschaft ein bislang wenig thematisiertes Problem. Auch bei wachsendem intraindustriellen Handel kann es zu ähnlichem Anpassungsdruck kommen, sofern der vertikale intraindustrielle Handel - bei Spezialisierung der Hochlohnländer auf höherwertigere Qualitäten unter Einsatz humankapitalintensiver Produktionsweisen längerfristig an Bedeutung gewinnt. Der Reformdruck in EU-Hochlohnländern wird im Arbeitsmarktbereich von daher in eine andere Richtung als in EU-Niedriglohnländern gehen, was sich nach der EU-Osterweiterung verstärkt als Problem herausstellen dürfte. Die Herausbildung integrierter Gütermärkte- bzw. Finanzmärkte führt in der EU einerseits zu einer Verstärkung der Rolle multinationaler Unternehmen; andererseits erhöht sich grundsätzlich der Druck auf Kapitalgesellschaften, eine marktkonforme Rendite zu erwirtschaften. Da Großbritannien der Startergruppe der Eurozone nicht angehört, ist das sonderbare Phänomen entstanden, dass das Finanzzentrum der Eurozone außerhalb der Wirtschafts- und Währungsunion liegt. Großbritannien und Schweden könnten zwar mittelfristig noch Euro-Mitgliedsländer werden, aber das Erreichen entsprechender politischer Mehrheiten ist unsicher. Zu den wichtigen Fragen der Integration gehört auch der Zusammenhang von Strukturwandel, Wachstum und Handel. Theoretische und ökonometrische Untersuchungen bauen insbesondere auf der C'Ae«ery-Normalstrukturhypothese auf, wobei neben so genannten Universalfaktoren - u. a. solche Bestimmungsgründe, die im Querschnittsvergleich verschiedener Länder eine Rolle spielen - auch Spezialeinflussfaktoren betrachtet werden (relative Preise, Wechselkurse oder rechtliche Rahmenbedingungen). Als Hauptanliegen der Normalstrukturhypothese gilt es, die Rolle der Universalfaktoren herauszuarbeiten, wobei sektorale Wachstumsfunktionen geschätzt werden. Der inländische Output eines Sektors hängt langfristig von der inländischen Endnachfrage, der Zwischennachfrage und den Exporten ab - die Inlandsnachfrage wird primär als vom Pro-Kopf-Einkommen (Proxy für den Entwicklungsstand der Volkswirtschaft) und der Bevölkerungszahl abhängig angesehen. Letztere Variable reflektiert Möglichkeiten zur Nutzung von Massenproduktionsvorteilen. Außerdem wird die sektorspezifische Ausstattung mit natürlichen Ressourcen als relevant angesehen. Mit der Visegrad-Integration ergaben sich in den osteuropäischen Transformationsländern neue Möglichkeiten, im regionalen Rahmen Kostendegressionseffekte bei handelsfähigen Gütern zu nutzen, und diese Möglichkeiten werden bei einer EU-Osterweiterung noch potenziert. Hinzu kommt, dass aus handelsschaffenden Effekten Realeinkommenseffekte entstehen, die für den Strukturwandel relevant sind. Hierzu liegen Untersuchungen von Döhrn und Heilemann (1992) vor, die theoretische und empirische Analysen verbinden. Es könnten sich im Zuge von Strukturwandel und internationaler Arbeitsteilung regionale Wirtschaftsstrukturen bzw. Produktionsnetzwerke bilden, die auch endogene Einflüsse auf die Ordnungspolitik auf nationaler und supranationaler Ebene haben dürften. Sollten sich etwa mittelfristig mehrere Beitrittsländer auf die Produktion skalenintensiver Produkte spezialisieren wollen, so könnten damit West-Ost-Betriebsverlagerungen in der erweiterten EU verbunden sein, die in den alten EU-Ländern den Protektionismus verstärken. Zugleich dürfte in skalenintensiven Produktionsbereichen in Osteuropa der gewerkschaftliche Organisationsgrad wegen der relativ geringen Organisationskosten steigen, was aus Sicht der Internationalen Politischen Ökonomie einerseits temporär er-
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Dieter Cassel und Paul J.J. Weifens
höhte Subventions- und Transfernachfrage hervorrufen, andererseits aber auch einen allgemeinen Korporatismus begünstigen dürfte. Im Übrigen wäre zu fragen, ob sich die mittelfristige Spezialisierungsdynamik eher in Richtung einer Expansion von Industrien mit geringen oder aber mit hohen ,Sunk Costs' auswirkt; bei relativ geringen Sunk Costs und wenig ausgeprägten Economies of Scale - oder gar normalen Kostenverläufen - ergeben sich längerfristig verbesserte Möglichkeiten für Markteintritte bzw. Unternehmensneugründungen, wobei eine hohe Gründerdynamik O/sowschen Verkrustungseffekten entgegenwirken könnte. Hieraus ergeben sich neue Ansatzpunkte für eine endogene Ordnungsdynamik bzw. dynamikorientierte Wirtschaftspolitik im Kontext von Strukturwandel und Integration. 4. Regionalismus und multilaterale Wirtschaftsintegration Wenn sich die Globalisierung - parallel zur regionalen Wirtschaftsintegration - fortentwickelt und damit die Rolle globaler Wirtschaftsorganisationen wie WTO, IWF und BIZ verstärkt, dann stellt sich die Frage nach einem möglichen Spannungsverhältnis bzw. Gegensatz vor allem von WTO und regionaler Wirtschaftsorganisation; im Falle von Entwicklungsländern könnte auch ein Gegensatz von Währungsintegration und IWF- bzw. BIZ-Vorgaben entstehen. Das Spannungsverhältnis zwischen WTO und regionaler Integration ist jedenfalls von grundsätzlicher Relevanz und hoher Aktualität. In der weltwirtschaftlichen Realsphäre ergibt sich aus dem Zusammenspiel von regionaler Integration und WTO-Aktivitäten die realwirtschaftliche Weltwirtschaftsordnung. Da die WTO via GATS, das für Dienstleistungen - inklusive Finanzdienstleistungen und Direktinvestitionen von Banken und Versicherungen - relevant ist, auch in die Finanzmärkte hineinreicht, bildet es letztlich den Kern einer umfassenden real- und finanzwirtschaftlichen Weltwirtschaftsordnung. Triebkräfte der regionalen Integration sind neben wirtschaftlichen Erwägungen vor allem auch allgemein- und sicherheitspolitische Aspekte. In einigen Fällen - wie bei EU, MERCOSUR und ASEAN - spielt auch die Überlegung ein Rolle, dass kleine Länder im Rahmen eines größeren Integrationsclubs sich verbesserte Chancen der Interessendurchsetzung auf globaler Ebene ausrechnen. Mittelmächte, die zugleich starke Exportnationen sind, betrachten die regionale Integration erfahrungsgemäß auch als Strategie zur Sicherung von Absatzmärkten in Nachbarländern: Präferenzielle Handelsbeziehungen mit diesen Ländern können die natürliche wirtschaftsgeographische Begünstigung des Handels mit Nachbarländern - bei geringen Transportkosten - verstärken. Schon in der Zeit des GATT wurde die regionale Wirtschaftsintegration in Europa vom .Hegemon' USA akzeptiert, da man in der Bildung von EG und EFTA wachstumsforderliche Integrationsprojekte sah, die auf lange Sicht auch den transatlantischen Handel zu verstärken versprachen. Denn mit steigenden Pro-Kopf-Einkommen in Westeuropa würde die Nachfrage gerade nach technologie- und kapitalintensiven Gütern steigen, bei denen die USA komparative Vorteile haben. Allerdings hat die US-Administration schon unter Präsident Kennedy darauf geachtet, dass die fortschreitende regionale Integration in Europa mit globaler Handelsliberalisierung auf GATT-Basis verknüpft wurde. Die Ä!ennea[y-Liberalisierungsrunde des GATT war die aus USA-Sicht logische ordnungspolitische Antwort auf globaler Ebene zur Gründung der EG. Denn
Wirtschaftsintegration, Regionalismus und multilaterale
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Wirtschaftsordnung
die generelle Reduzierung bzw. Abschaffung aller Zollsätze würde die aus der EGZollunion resultierenden negativen Handelsablenkungs- bzw. Wohlfahrtseffekte aus Sicht der USA minimieren und damit politisch akzeptabel machen. Regionale Wirtschaftsintegration ist nach Artikel XXIV GATT als Ausnahme vom Prinzip der Meistbegünstigung zugelassen. Man findet in der Literatur einerseits kritische Einwände gegen die regionale Integration, da solche Integrationsclubs die multilaterale Welthandelsordnung bzw. die WTO zu unterminieren drohen; andererseits gibt es auch eine Reihe von Gegenargumenten, die eine Parallelität bzw. Komplementarität von regionaler und globaler Integration betonen (Kaiser 2003). Unbestreitbar ist für die 1990er Jahre zunächst nur die sichtbare Parallelität in der Expansion des GATT/WTO-Regelbereichs - im Sinne neuer Mitglieder und der Ausweitung des Regelwerks bei der WTOGründung - und der wachsenden Zahl von regionalen Handelsabkommen (Abbildung 2). Abbildung 2: Entwicklung der Zahl der Handelsabkommen Zahl der regionalen Handelsabkommen
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Quelle: WTO (2002). Eine in der Literatur oftmals zugunsten der regionalen Integration vorgebrachte Argumentation betont das integrationsbedingte Senken der Transaktionskosten. Im Vergleich zum multilateralen globalen Vorgehen, das eine gewaltige Zahl von über 150 Ländern zum Konsens führen müsste, erscheint Regionalismus als die relativ effektivere und effizientere Strategie, um international Liberalisierungen durchzusetzen - denn die regionale Integration lässt sich stufenweise mit einer überschaubaren Zahl von Akteuren umsetzen (Kaiser 2002, S. 109). In der traditionellen Regionalismusdebatte werden die bei regionaler Handelsintegration zu erwartenden Konflikte zwischen handelsschaffenden Effekten in den Integrationsländern und wohlfahrtsmindemden Handelsablenkungseffekten bei Drittländern hervorgehoben. Dagegen hat man zumindest im Falle von Entwicklungsländern im Regionalismus eine Chance zur gemeinsamen Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen im Integrationsraum gesehen - eine Einschätzung, die Langhammer und Hiemenz (1990) jedoch als empirisch nicht haltbar einstufen.
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Vertreter des neuen Regionalismus weisen noch auf eine weitere Wechselbeziehung zwischen multilateraler Handelsliberalisierung und Regionalismus hin. So wird die multilaterale Handelsliberalisierung als Impuls für regionale Integration betrachtet: Bindende multilaterale Vereinbarungen zur Handelsliberalisierung seien vorteilhaft, um die Vorteile regionaler Kooperation zu realisieren. Dies dürfte aus ökonomischer Sicht vor allem für kleine offene Volkswirtschaften zutreffen, die naturgemäß relativ stark spezialisiert und damit gegenüber globalen Schocks anfällig sind. Gelingt es durch regionale Integration, den Anteil des Regionalhandels im Zuge einer effizienten raumwirtschaftlichen Vernetzung im Integrationsgebiet zu erhöhen, dann sind die Länder des Integrationsraums weniger schockanfällig als zuvor. Einige Autoren - wie Lawrence (1996) und Ethier (1998) - betonen im Übrigen, dass beim modernen Regionalismus nicht so sehr die regionale Handelsintegration im Vordergrund des politischen Interesses steht, sondern vielmehr eine verstärkte Kooperation in Kernbereichen der Wirtschaftspolitik. Soweit eine solche Kooperation die Wirtschaftspolitik in den Partnerländern verbessert, könnte man in der Tat ein Weniger an Unsicherheit fur den Integrationsraum bzw. die dort angesiedelten Unternehmen erwarten. In der Perspektive des neuen Regionalismus ist die wachsende Zahl von regionalen Integrationsabkommen also durchaus zu begrüßen. Im Zuge der stark wachsenden Zahl regionaler Integrationsabkommen in den 1990er Jahren hat sich allerdings ein gewisser Wildwuchs hinsichtlich sektoraler Ausnahmen wie auch eine rechtliche Grauzone entwickelt, da ungeklärt ist, wie Streitfälle hinsichtlich der Vereinbarkeit einer Mitgliedschaft in der WTO und einer Mitwirkung in Integrationsabkommen zu regeln sind. Auch können juristische oder natürliche Personen aus Integrationsräumen die Kompatibilität regionaler Integrationsabkommen mit globalen Regelsystemen nicht überprüfen lassen (Langhammer und Wössmann 2002, S. 388). Der WTO selbst ist es seit 1995 nicht mehr gelungen, die Vereinbarkeit der notifizierten Regional Trade Agreements (RTAs) mit der WTO-Mitgliedschaft ausreichend zu prüfen (WTO 2002, S. 30): „The WTO surveillance mechanism for the formation of RTAs is, to a large extent, nonoperational. Indeed, the Committee on Regional Trade Agreements (CRGA) ... has failed so far in its task of verifying the compliance of notified RTAs with WTO provisions, due to various political and legal difficulties mainly inherited from the GATT years. As of June 2002, the Committee had 22 RTAs under active consideration ('factual examination'), and 27 on the waiting list." Hierin wird eine grundlegende Schwäche bzw. Ineffektivität der WTO sichtbar, die beim mächtigeren IWF nicht vorstellbar ist, denn nicht nur die USA würden beim IWF eine Liste unerledigter Prüfverfahren keinesfalls hinnehmen. Es besteht somit die Gefahr, dass die normative Kraft des Faktischen die Welthandelsordnung vom Wildwuchs regionaler Integrationsabkommen her unterminiert, wobei vor allem eine Vielzahl sektoraler Sonderregelungen als ordnungspolitisch bedenklich erscheint. Der Regionalismus ist freilich auf den einzelnen Kontinenten unterschiedlich ausgeprägt: In Afrika ist er schon wegen der politischen Instabilitäten sehr schwach, zudem gelten traditionell Gruppenbildungspräferenzen bei westlich orientierten englisch- und französischsprachigen Ländern einerseits und islamisch-arabischen Ländern andererseits. In Asien hat die ursprüngliche Gruppe der sechs ASEAN-Länder immerhin zu Beginn des 21. Jahrhunderts schon eine Erweiterung um vier Länder vollzogen; ob sich
Wirtschaftsintegration, Regionalismus und multilaterale Wirtschaftsordnung
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wirtschaftliche Schwergewichte wie Korea oder Japan hinzugesellen, muss allerdings einstweilen als offen gelten. Auf dem amerikanischen Kontinent gibt es eine gewisse Frontstellung zwischen der USA-dominierten NAFTA und der als Gegenpol zu den Vereinigten Staate gedachten MERCOSUR-Gruppe, die wegen der wirtschaftlichen Probleme Argentiniens und Brasiliens allerdings auf das Wohlwollen von IWF und Weltbank angewiesen ist - also auch auf die Unterstützung der USA. Australien hat erhebliche Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen mit Blick auf Asien, ist aber aus historischen Gründen an starken Beziehungen zu Großbritannien bzw. der EU einerseits und den USA andererseits interessiert. Die erhebliche internationale Integrationsdynamik in Nord- bzw. Südamerika und Asien sowie Europa könnte mittelfristig nicht nur Probleme hinsichtlich der Vereinbarkeit regionaler und globaler Regelsysteme bringen, sondern auch politische Reibungen zwischen führenden Integrationsländern nach sich ziehen: Die USA beanspruchten in Asien einen Platz bei der Integrationsdiskussion und setzten hierbei auf die APEC; zudem haben sie Interesse daran, die EU-Wirtschaftsentwicklung zu beeinflussen, wobei ihr besonderes Anliegen in einer Türkei-Mitgliedschaft in der EU besteht. Die EU-Länder sind zumindest potenziell bei der ASEAN-Integration involviert, denn spätestens bei Fragen nach einer monetären Integration würde die ASEAN wohl auf die Erfahrungen der EU bzw. der Euro-Länder zurückgreifen wollen. Die EU setzt im Übrigen bei internationalen Konfliktlösungen erkennbar auf multilaterale Verhandlungslösungen, die internationale Organisationen involvieren. Hingegen scheinen die USA als einzige Super- bzw. Hegemonialmacht nach dem Ende des Kalten Krieges gelegentlich auch unilaterale Strategien - vor allem in der Sicherheitspolitik - zu verfolgen. Die erhöhte Zahl von Mitgliedsländern in internationalen Organisationen verlangt nach inneren Reformen, da sonst den Organisationen zunehmend Ineffizienz droht. Kritisch diskutiert werden u. a. Reformerfordernisse von IWF und Weltbank (Leschke 2002). Zudem sind die Kompetenzfelder der einzelnen Organisationen sowie die Regeln für ihre Kooperation festzulegen. Probleme bestehen auch hinsichtlich der Klarheit von Aufnahmeregeln bei neuen Mitgliedern; so hat etwa der IWF nach wie vor keine feste Regel, nach der neue Mitglieder Stimmrechte zuerkannt bekommen bzw. die Stimmenverteilung bei Aufnahme neuer Mitglieder neu geregelt wird, sondern es bestehen diskretionäre Entscheidungsspielräume im Verhandlungsprozess. Ähnliches kann man für die Veränderung von Stimmengewichten der Mitgliedsländer im Kontext von EU-Erweiterungen konstatieren. Hier bestehen bis heute Lücken im Bereich der Politikordnung. Institutionelle Reformimpulse im monetären Bereich betreffen primär den IMF - weniger die BIZ, die bei der Bankenaufsicht einen globalen Regelsetzungsauftrag hat, sich aber nur auf eine recht begrenzte Zahl von Mitgliedsländern stützen kann. Der IWF hat unter Leitung von Horst Köhler zugesagt, sich stärker auf seine Kernaufgaben zu konzentrieren. In Wahrheit aber findet eine faktische Expansion der IWF-Aktivitäten statt, da der IWF zu Beginn des 21. Jahrhunderts verstärkt die Durchsetzung der BIZ-Regeln in die Hand genommen hat. Mit Blick auf die WTO muss vor dem Hintergrund der Zunahme des schwierig zu fassenden Dienstleistungshandels konventioneller und digitaler Art einerseits und der Erhöhung der Mitgliederzahl in globalen und regionalen Organisationen andererseits nach ihrer Effizienz gefragt werden. Inwieweit regionale Wirtschaftsintegration die WTO-Funktionsfähigkeit stärken oder eher schwächen, ist
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Dieter Cassel und Paul J.J. Weifens
eine offene Frage. Sollte die W T O durch regionale Integration nachhaltig beschädigt werden, droht auch bei anderen multilateralen Organisationen wie IWF oder BIZ eine Unterminierung ihrer Regelwerke mit der Schwächung ihrer globalen Ordnungsmacht als unmittelbarer Folge. Wenn es richtig ist, dass eine konsistente und transaktionskostensenkende Wirtschaftsordnung Basis für eine effiziente Allokation ist und die Unterschiedlichkeit der Anpassungsgeschwindigkeiten in den Märkten zusammen mit informationsgetriebenen Erwartungsbildungsprozessen die Zyklik der Wirtschaftsentwicklung national und international wesentlich mitbestimmen, dann kommt der Entwicklung und Erhaltung einer liberalen Wirtschaftsordnung auf nationaler, aber eben auch auf supranationaler Ebene erhebliche Bedeutung zu. Je eher Wirtschaftsordnungen stabilisierende Anpassungsprozesse ermöglichen und fördern, desto geringer ist der Druck auf die wirtschaftspolitischen Akteure, diskretionär in die Wirtschaftsentwicklung zu intervenieren.
5. Ordnungspolitischer Analyse- und Handlungsbedarf Die Theorie der Ordnungspolitik hat traditionell geschlossene und offene Volkswirtschaften untersucht, zum Teil auch die Elemente der Weltwirtschaftsordnung im Sinne der Gestaltungsfelder und Politikprinzipien internationaler Organisationen. Regionale Integrationsfragen und die wachsende Rolle internationaler Organisationen verlangen aber nach erweiterter Analyse. Das dynamische Zusammenspiel nationaler Wirtschaftsordnungen unter den Bedingungen von regionaler und globaler Integration bzw. der veränderte Systemwettbewerb im Zuge einer informationsmäßig stark vernetzten Weltwirtschaft sind dagegen bisher nur ansatzweise thematisiert worden. Hier geht es mit Blick auf die Internetwirtschaft und die internationale Medienwirtschaft um Fragen der digitalen Medien- bzw. Telekomordnung. Das Internet erhöht die globale Transparenz bei den Standortbedingungen, und es erlaubt eine flexible und effiziente Vernetzung von Akteuren der internationalen Wirtschaft und Wirtschaftspolitik. Zu den besonders dynamischen Technologiefeldern des späten 20. Jahrhunderts gehört die Informations- und Kommunikationstechnologie, die via Digitalisierung zur Verschmelzung bislang separierter Informations- und Medienmärkte beiträgt: Die Rolle der Internet- und Medienwirtschaft gilt es von daher besonders zu beleuchten. Hinsichtlich der Parallelität von globaler und regionaler Integration ist aber auch die Frage nach einer adäquaten institutionellen Arbeitsteilung bezüglich Weltbank, IMF und WTO zu stellen. Ob sich der Aktionsradius globaler Wirtschaftsinstitutionen ausdehnen sollte, ist umstritten. Dies muss insbesondere auch mit Blick auf die Frage geprüft werden, ob bei verstärkter regionaler Interdependenz mit einem zunehmenden Auftreten größerer Finanzmarktinstabilitäten zu rechnen ist. Was Integrationskonzepte und außenwirtschaftspolitische Strategien angeht, so sind alternative Integrationskonzepte aus theoretischer und empirischer Sicht zu beleuchten. Zudem ist ergänzend auf wirtschaftshistorische Erfahrungen zurückzugreifen. Schließlich ist von besonderem Interesse, eine kritische Bestandsaufnahme wichtiger Integrationsprojekte in der Weltwirtschaft vorzunehmen, also den Blick zu richten auf: -
die EU-Integration als Phänomen vertiefter Integration; NAFTA und FTAA als Formen des Neuen Regionalismus; sowie
Wirtschaftsintegration, Regionalismus und multilaterale Wirtschaftsordnung
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- die APEC im asiatisch-pazifischen Raum, wo man offenbar einen offenen Regionalismus zu realisieren bestrebt ist. In der Realität finden sich nicht nur konkrete Integrationsprojekte mit verstärkter regionaler Politik- und Wirtschaftsvemetzung. Vielmehr gibt es auch einen internationalen Korporatismus, bei dem Lobby-Gruppen als Einflussfaktoren der Wirtschaftspolitik auf nationaler und supranationaler bzw. multilateraler Ebene wirken und dabei Integrationsprozesse beeinflussen und gestalten. Schließlich ist das herausragende Integrationsprojekt des frühen 21. Jahrhunderts, die EU-Osterweiterung, zu analysieren und zu prüfen. Sinnvollerweise steht am Beginn einer umfassenden Analyse die theoretische und empirische Untersuchung des im Zuge der EU-Osterweiterung zu erwartenden Strukturwandels. Wendet man sich den institutionellen Anpassungs- und Reformprozessen zu, dann ist zunächst das Spannungsmoment von EU-Vertiefung und EU-Erweiterung zu beleuchten, bevor man auf wichtige Teilordnungen und ihren Reformbedarf eingeht (Cassel 1998); hierbei geht es insbesondere um - die Geld-, Währungs- und Finanzordnung; - die Agrarmarktordnung; - die Arbeitsmarktordnung; sowie - die Sozialordnung. Schließlich sind übergreifende Fragen der EU-Osterweiterung im monetären Bereich - wie die Frage des Weges der Beitrittsländer zum Euro - zu untersuchen sowie strategische Fragen künftiger EU-Reformprozesse zu thematisieren. Auch wenn unvermeidbar im Rahmen eines relativ weit gesteckten Analysefeldes eine Konzentration auf Schlüsselfragen stattfinden muss, so ist doch zu erwarten, dass die verbindende Analyse grundlegender und zum Teil neuer Problemaspekte einen wesentlichen analytischen Fortschritt bringt, von dem auch die praktische Wirtschaftspolitik auf der nationalen, multilateralen und supranationalen Ebene profitiert. Wissenschaftliche Analyse ist strukturiertes Denken in Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen, und rationale Wirtschaftspolitik kann ordnungspolitische Reformkonzeptionen kaum ohne Rückgriff auf umfassende wirtschaftswissenschaftliche Analyse umsetzen. Literatur Apolte, Th. (2000), Internationale Koordinierung der Wirtschaftspolitik: Beschränkung des politischen Wettbewerbs oder notwendige Konsequenz der Globalisierung?, in: K.-E. Schenk u. a. (Hg.), Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie, 19. Bd., Globalisierung und Weltwirtschaft, Tübingen, S. 89-120. Apolte, Th., R. Caspers und P.J.J. Weifens (1999) (Hg.), Standortwettbewerb, wirtschaftspolitische Rationalität und internationale Ordnungspolitik, Baden-Baden. Baer, W., T. Cavalcanti und P. Silva (2002), Economic Integration without Policy Coordination: The Case of Mercosur, in: A. Schüller und HJ. Thieme (Hg.), Ordnungsprobleme der Weltwirtschaft, Stuttgart, S. 443-468. Caesar, R. (2003), Chancen und Risiken der Osterweiterung, in: H. Knödler und M.H. Stierle (Hg.), Globale und monetäre Ökonomie, Heidelberg, S. 151-172.
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Dieter Cassel und Paul J.J. Weifens
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II. Integrations- und ordnungstheoretische Grundlagen
Dieter Cassel und Paul J.J. Weif ens (Hg.) Regionale Integration und Osterweiterung der Europäischen Union Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft • Band 72 • Stuttgart • 2003
Regionale Integration in der Ordnungs-, Außenwirtschaft- und Wachstumstheorie Paul J.J. Weifens Inhalt 1. Regionale Integration als theoretische und wirtschaftspolitische Herausforderung
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2. Ordnungspolitische Problematik der regionalen Integration
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2.1. Qualitätsdynamik von Wirtschaftsordnungen und Führungsstrukturen 2.1.1. Wirtschaftsordnungsintegration als institutionelles Qualitätsproblem 2.1.2. Regionale Vertragsperspektiven aus institutionenökonomischer Sicht 2.1.3. Ordnungsökonomische Kernfragen
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2.2. Effizienzgewinne und Politikversagensproblematik
41
2.3. Zur Interdependenz von Außenhandels-, Wachstumsund Ordnungstheorie
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3. Außenwirtschaftstheoretische Analyse der Wirtschaftsintegration
35
37 39
45
3.1. Regionale Integration aus außenwirtschaftstheoretischer Sicht 3.1.1. Traditionelle und erweiterte Zollunionsanalyse 3.1.2. Handel, Distanzkosten und Ländergruppen 3.1.3. Einige Konvergenzfragen im Kontext der HeckscherOMn-Theorie 3.1.4. Drei-Länder-Modellperspektive: Analysebasis, Wettbewerb und Kooperation
45 46 50
3.2. Generalisierte Kritik an //ecAscßer-OWw-Modellannahmen
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54 54
3.3. Aspekte der Finanzmarktintegration
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3.4. Rolle der W T O bei der Finanzmarktintegration
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3.5. Regionale Währungsunion
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4. Wachstumstheoretische Betrachtung von Integration 4.1. Konvergenz in einem Hybrid-Wachstumsmodell 4.2. Finanzmarktintegration im Wachstumsmodell
66 66 71
5. Perspektiven
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Literatur
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Paul J.J. Weifens
1. Regionale Integration als theoretische und wirtschaftspolitische Herausforderung Regionale Wirtschaftsintegration ist in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem weltweit zunehmend gewichtigen Phänomen geworden. Praktisch alle WTO-Länder - mit Ausnahme Japans - sind zu Beginn des 21. Jahrhunderts in regionale Handelsabkommen involviert. Eine Verknüpfung von globaler Handelsliberalisierung und regionaler Integration scheint vor diesem Hintergrund zumindest auf den ersten Blick als relativ unproblematisch. Zu untersuchen ist, worin die Attraktivität von regionalen Handelsabkommen begründet ist und weshalb ihre Zahl nach 1945 und speziell in den 1990er Jahren so spektakulär zugenommen hat. Darüber hinaus ist zu prüfen, welche mittel- und langfristigen Effekte bzw. Anreizprobleme sich aus der Existenz bzw. dem Wachstum regionaler Integrationsclubs ergeben. Regionale Handelsintegration kann endogen zu einer ordnungspolitischen Harmonisierung fuhren, und zwar über endogene politische Lernprozesse aus verschärfter Gütermarkt- und Standortkonkurrenz im Integrationsraum: Dies setzt voraus, dass im nationalen politischen Wettbewerb überlegene institutionelle Arrangements aus relativ erfolgreicheren Partnerländern übernommen werden. Allerdings sind derartige Lernprozesse aus dem Intra-Wettbewerb praktisch für die supranationale Politikebene ausgeschlossen, da hier eigenständige politische Prozesse wirken, und zwar bei oft schwacher Intensität des politischen Wettbewerbs. Alternativ können mit Blick auf den Intra-Wettbewerb nationale Institutionen im Wege politischer Verhandlungen harmonisiert werden. Bei einer solchen Harmonisierung von oben kann Integration aus ordnungstheoretischer Sicht als eine vertragsbasierte internationale Harmonisierung nationaler Ordnungspolitik aufgefasst werden. Einerseits müsste eine moderne Ordnungstheorie erklären, warum es zu regionaler Integration kommt und unter Rückgriff auf die allgemeine Wirtschaftstheorie verdeutlichen, welches die ökonomischen Wirkungen regionaler Integration sind. Daraus ergibt sich normativ ein Ansatz zur Bestimmung des optimalen Integrationsgrades. Tatsächlich hat die Ordnungstheorie - verstanden als Theorie der Gestaltung der Wirtschaftssysteme - nur wenige originäre Beiträge zur regionalen Wirtschaftsintegration aufzuweisen, wenn man von einigen Ausnahmen (z. B. Gröner und Schüller 1993; Schüller und Thieme 2002) und dem Sonderthema der sozialistischen Wirtschaftsintegration absieht. Angesichts der Existenz verschiedener regionaler Integrationsclubs ist u. a. zu thematisieren, ob und inwieweit marktwirtschaftliche Integrationsgruppen besondere Beziehungen untereinander aufbauen. Darüber hinaus kann die Frage nach den ökonomischen Wirkungen regionaler Integration bzw. Integrationsprojekte mit Blick auf das langfristige Wachstum der Pro-Kopf-Einkommen, aber auch auf mittelfristige Entwicklungen bzw. Zyklen bei Beschäftigung, Wechselkurs, Zins und Inflation untersucht werden. Die Analyse zyklischer Aspekte wird im Weiteren weitgehend ausgeblendet. Schließlich kann nach den Bestimmungsgründen einer rationalen Wahl der Mitgliedschaft in Integrationsclubs gefragt werden; selbst wenn man von einer Art natürlicher Neigung zur Integration mit benachbarten Ländern ausgeht, so ist zumindest in den potenziellen und aktuellen Überlappungsbereichen von benachbarten Integrationsclubs die Frage nach Mitgliedschaft in alternativen Integrationsclubs zu stellen.
Regionale Integration in der Ordnungs-, Außenwirtschafts- und Wachstumstheorie
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Folgt man der Analyse von Ben-David (1993), Frankel (1995), Baldwin und Venables (1995), Puga und Venables (1998), dann spricht einiges dafür, dass regionale Wirtschaftsintegration mit realer ökonomischer Konvergenz verbunden ist; d. h. dass die relativ armen Länder beim Pro-Kopf-Einkommen aufholen, wofür es international nur Teilevidenz gibt (Gries 1999). Venables (1999) weist jedoch auch auf Fälle von Integration zwischen armen Ländern in Afrika hin, wo sich Integration einseitig zugunsten beschleunigter Industrialisierung in einem einzigen Land bzw. wenigen Ländern des Integrationsraums auswirkte. Sofern Industrialisierung die Voraussetzung für ökonomische Aufholprozesse ist, kann Integration also auch ökonomische Divergenz zur Folge haben. Eine Reihe von Modellen der Integrationstheorie hat sich im Übrigen mit Blick auf Fragen der Entwicklungsländerintegration als fruchtbar erwiesen (Kreinin und Plummer 2002). Interessanterweise wird die Aufholdebatte regelmäßig im Kontext von HeckscherOMn-Modellen des Außenhandels gefuhrt, die jedoch von den Voraussetzungen her für die Analyse einiger Integrationsfälle offenkundig wenig geeignet sind. Als besonders kritisch kann die Annahme gleicher Produktionstechnologie im In- und Ausland gelten. Da die Weltwirtschaft nach 1945 von einer zunehmenden Schumpeterschen Konkurrenz geprägt ist - sichtbar u. a. in der OECD in einer ansteigenden Relation von F&E-Ausgaben zum Bruttoinlandsprodukt - ist die technologische Konkurrenz bzw. die unterschiedliche Verfügbarkeit von Technologien vielfach charakteristisch. Da es verschiedene Formen der regionalen Wirtschaftsintegration gibt, muss bei der theoretischen bzw. wirtschaftspolitischen Analyse eine Beschränkung auf einige ausgewählte Typen und Fälle erfolgen. Neben der Freihandelszone bzw. der Zollunion steht hierbei die Währungsintegration und zum Teil die Finanzmarktintegration im Vordergrund des Erkenntnisinteresses. Im Kontext von regionaler Integration kommt es zu einer Wettbewerbsintensivierung auf den Gütermärkten und - Kapitalverkehrsliberalisierung vorausgesetzt - auch zu einem verstärkten Wettbewerb um mobiles Realkapital. Damit aber intensiviert sich zumindest temporär der Systemwettbewerb, bei dem es um die Konkurrenz der Wirtschaftsordnungen (inklusive typischer Verhaltensweisen) geht. Ob die verschärfte Systemkonkurrenz effizienz- und stabilitätsförderlich ist, kann ohne nähere Analysen nicht beantwortet werden. Eine Wirtschaftsordnung hat einerseits allokationsrelevante Regeln, andererseits verteilungs- und stabilitätsrelevante Regeln, wobei von Umverteilungsregeln nachteilige Wirkungen auf das Wachstum ausgehen können - jedenfalls dann, wenn über eine überzogene Sozialpolitik Ieistungs- bzw. produktivitätsfeindliche Anreize auf die Menschen in der Wirtschaftsgesellschaft ausgehen (Apolte und Vollmer 2002). Von daher kann eine Integrationsanalyse auch die Frage der Veränderung der Sozialordnungen miteinbeziehen. Nicht übersehen werden darf aber auch eine denkbare positive Verbindung zwischen Verteilungs- bzw. Sozialordnung und Allokationsdynamik. Denkbar ist eine positive Rolle der Sozialpolitik im Sinne begrenzter und effizienter allgemeiner Kranken- und Rentenversicherung: Anders als Kinder in Entwicklungsländern sind die Kinder in OECD-Ländern dank Sozialversicherung nicht mit unmittelbaren Fürsorge- bzw. Ver-
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sorgungsnotwendigkeiten für die Eltern bei Krankheit und Verrentung konfrontiert, so dass die Bildungsbiographien der Menschen in Sozialen Marktwirtschaften eine starke - produktivitäts- und innovationsförderliche - Humankapitalbildung reflektieren. Mit erhöhtem Bildungsgrad aber steigt nicht nur das längerfristige Durchschnittseinkommen, es kommt auch zu einer Intensivierung des politischen Wettbewerbs dank erhöhtem Anteil von Wechselwählern, die man eben typischerweise unter Gebildeten findet. Ihr Anteil an der Bevölkerung ist in den OECD-Ländern deutlich höher als in Entwicklungsländern, was nicht nur wachstumstheoretisch, sondern auch mit Blick auf die Systemkonkurrenz bzw. die relative Intensität des politischen Wettbewerbs in reichen und armen Ländern als ordnungsrelevant zu betrachten ist. Eine Wirtschaftsordnung wird hier als ein Set Z von Institutionen und Regeln betrachtet. Aus ökonomischer Sicht hängt der Wert von Z - so die hier formulierte Hypothese - von mehreren Elementen ab, wobei wir von einem grundsätzlichen Überlebensziel der Wirtschaftssubjekte und der Wertschätzung von Freiheit bzw. Gestaltungsspielraum und Eigentum ausgehen. - Konsistenz: Konsistente Regeln reduzieren das interpretatorische Konfliktpotenzial bei Regeln bzw. Wirtschaftsaktivitäten und erleichtern von daher die Bewältigung des Knappheitsproblems - die Faktorproduktivität steigt. -
Legitimität: Eine hohe Legitimität von Regeln unterstützt die Durchsetzung von Regeln und spart daher Durchsetzungskosten ein. Komplexe Regelkombinationen, die sich aus der Kombination einfacher Regeln ergeben, werden in der Realität auf Ablehnung stoßen, soweit die Grundregeln nicht von den Betroffenen auch beschlossen wurden - hieraus ergibt sich ein Argument für demokratische Prozesse - und von diesen in ihren sekundären Regelkomplexität intellektuell akzeptiert werden (von daher ist auch der Bildungsgrad eine wesentliche Nebenbedingung von Legitimität von Regeln).
- Minimalität (Liberalität): Je weniger umfangreich das Regelset ausfallt, desto größer die Freiheitsgrade der Individuen. Große Liberalität kann allerdings zu komplexen Aktivitäten führen, deren Auswirkungen auf Individuum und Staat nur schwer überschaubar sind. Von daher stellt sich die Frage, ob Menschen Unsicherheit bzw. Innovation - also auch evolutorische Vielfalt - akzeptieren. - Verallgemeinerbarkeit: Regeln für einen bestimmten Aktivitätsbereich, die verallgemeinerbar sind, sparen Regelentwicklungskosten, so dass allgemeine Regeln vorteilhaft sind (zudem wird die Konsistenzprüfung erleichtert und das Liberalitätsanliegen gefördert). In diesem Kontext ist Korruption kritisch zu sehen, da hier diskriminierende Regelungen unsichtbar für Dritte realisiert werden. -
Vollständigkeit: Zumindest im Sinne von Verboten müssen Aktivitäten negativ sanktioniert sein, die Leben, Einkommen und Vermögen des Einzelnen unmittelbar gefährden. In Abhängigkeit u. a. von technologischen Entwicklungen sind hier entsprechende Verbots- und Sanktionskataloge notwendig.
Diese fünf Aspekte des Institutionensets fassen wir in der Variablen Q (...), einem Qualitätsindex der Wirtschaftsordnung, zusammen. Als weitere Hypothese sei formuliert, dass die Nachfrage der Individuen nach Q eine positive Funktion von Pro-Kopf-
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Einkommen y und -Vermögen (A'/L) sind. Je höher der Lebensstandard einerseits und das grundsätzlich dem Risiko wirtschaftlichen und physischen Untergangs ausgesetzte Vermögen (A') andererseits ist, desto größer das Interesse der Menschen an qualitativ hochwertigen Regeln der Wirtschaftsordnung; insbesondere an Regeln, die Eigentumsrechte bzw. den Wert des Vermögens schützen und zu mehren erlauben. Von daher ergibt sich im Kontext einer ordnungsökonomischen Analyse mit doppeltem Gewicht die Frage, wie die Qualität der Wirtschaftsordnung zur Einkommensentwicklung beiträgt. Mit hohem Q kann y gesteigert werden. Zugleich steigt mit y bzw. A'/L die Nachfrage nach Q. Veränderungen von Z bzw. Q können aus analytischer Sicht auch in Veränderungen der Elastizitäten von Verhaltensfunktionen zum Ausdruck kommen. Mit Blick auf die gesamtwirtschaftliche Produktionsfunktion kann Q als Niveauvariable Hicks-neutral in die Produktionsfunktion Y - mit Produktionsfaktoren Arbeit L, Kapital K und Realkasse m(=M/P) eingeführt werden. Grundsätzlich lässt sich das Konzept der Produktionsfunktion natürlich auch auf sektorale Betrachtungen anwenden. Nachfolgend wird eine Cobb-Douglas-Produktionsfunktion verwendet, in die zusätzlich ein arbeitsvermehrender Harrod-neutraler technischer Fortschritt A(t) eingeht. (I)
Y = QK ß m 0 '(AL)'- ß - ß '.
Da die Produktion bzw. das Erhalten H des Regelsets Ressourcen - im einfachsten Fall Arbeit L - erfordert, gilt bei Abschreibung auf K (Abschreibungsrate 5; C steht für Konsum) die Gleichgewichtsbedingung für den Gütermarkt: (II)
Y(K,L 2 ,m) = C(Y) + H[Q(L,)] + dK/dt +8K.
Eine minimalistische Wirtschaftsordnung ist unter diesem Aspekt positiv zu werten, da sonst über den erhöhten Einsatz von Li für das Aufrechterhalten der Wirtschaftsordnung die Möglichkeiten der Kapitalakkumulation bzw. das Niveau des jetzigen und künftigen Konsums beeinträchtigt werden. Denn bei gegebenem Bestand L muss gelten L=Li+L 2 . Nachfolgend gehen wir vereinfachend davon aus, dass es nur einmalige Errichtungskosten einer Wirtschaftsordnung gibt, so dass man eine institutionelle Abschreibungsrate von null hat. Dann kann man nach der ersten Produktionsperiode die Gleichung (II) ohne Q(Li) schreiben. Entsprechend ist die Produktionsfunktion ab der zweiten Periode bezüglich des Pro-Kopf-Einkommens y:=Y/L zu kennzeichnen als: (m)
y = Qk D (m/L) ß 'A , ~ M '.
Von daher wird y durch Q, die Kapitalintensität k=K/L, den realen Geldbestand pro Kopf und den technischen Fortschritt erklärt. In dieser Betrachtung gilt: Je höher Q, desto höher die Arbeitsproduktivität bzw. das Pro-Kopf-Einkommen. Das Institutionenset Q kann neben der direkten Einwirkung als Niveauparameter auch indirekte Output- bzw. Wachstumswirkungen haben, etwa wenn innerhalb eines neoklassischen Modells (ohne Realkasse in der Produktionsfunktion) eine positive Abhängigkeit der Sparquote von Q angenommen würde: Je mehr Vertrauen Menschen in
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die Qualität, Konsistenz und Legitimität der Wirtschaftsordnung haben, desto höher die Sparquote s. Im neoklassischen Wachstumsmodell (Jones 1998) mit exogenem Harrodneutralem Fortschritt A(t)=Aoe'at und einer Co/)ö-Z)oug/as--Produktionsfunktion Y=Kß[AL]'"ß beträgt bei exogenem Bevölkerungswachstum n und exogener Fortschrittsrate a das gleichgewichtige Pro-Kopf-Einkommen y#:=Y/L (mit e' für die Euler-Zahl): (IV)
y# = e' at {Ao[s/(a+n+8)] ß/, - ß }.
Im neoklassischen Wachstumsmodell ist die Wachstumsrate bekanntlich exogen bzw. gleich a, während das Niveau des Wachstumspfades durch den geschweiften Klammerausdruck in (IV) gegeben ist. Das Vertrauen in die Stabilität der Wirtschaftsund Politikordnung wird sich in der Höhe der Sparquote s bzw. der Investitionsquote unmittelbar niederschlagen. In diesem Kontext ist anzusprechen, dass die Ausprägung des Sozialstaates und damit ein wesentliches Teilelement der Wirtschaftsordnung die Wachstumsrate der Bevölkerung beeinflusst - die Einfuhrung des Sozialstaates reduziert die Wachstumsrate der Bevölkerung, da ohne Sozialstaat hohe Kinderzahlen als implizite unverzichtbare Alterssicherung gelten, womit wir einen weiteren Parameter im Wachstumsmodell haben, der von der Wirtschaftsordnung beeinflusst wird. Schließlich könnte man im Kontext eines Modells der neuen Wachstumstheorie - mit endogenisiertem technischem Fortschritt - einen Einfluss von Q auf die Wachstumsrate a von A(t) postulieren. Im Kontext regionaler Wirtschaftsintegration ist aus ordnungsökonomischer Sicht zu fragen, wie sich Integration auf die Qualität der Wirtschaftsordnung auswirkt. Zugleich sind die wirtschaftlichen Integrationswirkungen zu thematisieren, wobei insbesondere die integrationsinduzierten Wirkungen auf das Pro-Kopf-Einkommen von Interesse sind. Im Weiteren wird - von Ausnahmen abgesehen - von einem nichtmonetären Wachstumsmodell ausgegangen, was die Analyse erheblich vereinfacht. Denn mit Realkapital als einzigem Vermögensobjekt wird bei gegebener Bevölkerung vor dem Hintergrund einer Coöö-ßoug/as-Produktionsfunktion die Maximierung des Pro-KopfEinkommens implizit mit der Maximierung der Kapitalintensität zusammenfallen. Alternativ könnte man eine Maximierung des Pro-Kopf-Konsums betrachten. Grundlegende außenwirtschaftstheoretische Aspekte der regionalen Wirtschaftsintegration beziehen sich auf die Fragen: - Wie viele Länder wirken in einem Integrationsclub zusammen? Je mehr Länder zusammenwirken, desto mehr implizite Kompensationszahlungen bzw. Transfers relativ zur Wertschöpfung dürften im Integrationsraum vereinbart werden. Dies könnte wachstumsschädlich wirken, so dass es eine kritische Mitgliederzahl gibt, ab der der negative Transferzahlungseffekt die ökonomisch positiven Integrationseffekte überwiegen dürfte. - Welche Länder finden sich in einem Integrationsclub zusammen - etwa reiche und reiche oder arme und arme oder arme und reiche? Hier sind Modelle zu entwickeln, die zeigen, welche Kombinationen insgesamt relativ wachstumsdynamisch sind. - Inwieweit bedeutet eine veränderte Interdependenz integrierter Wirtschaftsregionen - mit verstärkter Handelsverflechtung und gegebenenfalls auch verstärkten Direktin-
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Wachstumstheorie
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vestitionsbrücken sowie gegebenenfalls Währungsintegration - Anreize zu verstärkter internationaler Kooperation in der Wirtschaftspolitik? - Welche Wohlfahrtseffekte der regionalen Handelsintegration gibt es aus außenwirtschaftstheoretischer Sicht; und zwar für die Clubländer und die Drittländer bzw. Outsider? Hier geht es u. a. um Handels- und Einkommenseffekte sowie gegebenenfalls um dynamische Innovations- und Wettbewerbsaspekte. Wachstumstheoretisch von Interesse sind insbesondere: - Wie wirkt sich Integration bezüglich Einkommenskonvergenz bzw. -divergenz aus? - Wie werden Anpassungsprozesse und Steady-state-Lösungen durch Integration beeinflusst? Zu den grundlegenden Fragen aus ordnungspolitischer Sicht gehören: -
Wie wirkt sich die Existenz regionaler Wirtschaftsräume auf den internationalen Systemwettbewerb aus?
- Welche Auswirkung hat nationale Ordnungspolitik bzw. ein Transaktionskosten senkender ordnungspolitischer Reformschritt auf die Allokation? -
Wie kann ein kontraproduktives Gegeneinander von WTO-Regelwerk und den Regeln regionaler Integrationsclubs vermieden werden?
Diese und andere grundlegende Fragen werden nachfolgend thematisiert. Hierbei werden in der Analyse einige neue modelltheoretische Aspekte präsentiert. Zunächst erfolgt eine ordnungstheoretische Analyse ausgewählter Integrationsfälle. Anschließend werden Außenwirtschaftsaspekte der Integration betrachtet. Schließlich erfolgt die Wachstumsanalyse mit einigen neuen Befunden, wobei im Rahmen der neuen Wachstumstheorie u. a. eine neuartige Verbindung von handelsgetriebener und akkumulationsgetriebener Anpassung bzw. internationaler Konvergenz präsentiert wird - hierbei erfolgt erstmals auch eine Verbindung von Gewinnmaximierungsbedingung, Außenhandel und Kapitalakkumulation bei technischem Fortschritt. Dabei werden Integrationsaspekte berücksichtigt. Im Schlussabschnitt werden einige wirtschaftspolitische Konsequenzen der Analyse aufgezeigt. 2. Ordnungspolitische Problematik der regionalen Integration 2.1. Qualitätsdynamik von Wirtschaftsordnungen und Führungsstrukturen 2.1.1. Wirtschaftsordnungsintegration als institutionelles Qualitätsproblem
Regionale Integration wird im Nachfolgenden als Handelsintegration, Kapitalmarktintegration, Währungsunion oder Wirtschafts- und Währungsunion verstanden, wobei Integration zwischen Marktwirtschaften betrachtet wird. Grundlegende ordnungspolitische Fragen betreffen Fragen der Führungsstruktur im Integrationsclub und die Entwicklung der Qualität Q der Wirtschaftsordnung. Regionale Integration zwischen mehreren Marktwirtschaften kann Q und damit letztlich den Wohlstand schwächen, - indem das Zusammenwirken mehrerer Länder zu einem Mehr an innovations- und wachstumsfeindlichen Vorschriften und Regulierungen führt;
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- indem es zu einem Nebeneinander an inkonsistenten Regelungen kommt, die die Transaktionskosten auf den Märkten ansteigen lassen und damit das flexible Marktkoordinationssystem schwächen; - indem die Effizienz des politischen Wettbewerbs im Zuge zunehmend intransparenter Politiksysteme sinkt, was zusätzliche diskretionäre Entscheidungsspielräume für Bürokratie und Politik schafft. Stärkere Verbindungen zwischen nationalen Politiksystemen einerseits und die Schaffung supranationaler Institutionen andererseits ergeben sich bisweilen als Nebeneffekt regionaler Wirtschaftsintegration. Wenn die Effizienz des politischen Wettbewerbs auf supranationaler Politikebene schwächer als auf nationaler Ebene ist, dann sind Kompetenzverlagerungen auf supranationale Entscheidungsebenen kritisch zu sehen. Um Inkonsistenzen zu vermeiden und eine einheitliche Rechtsanwendung zu sichern, ist die Unterwerfung der Integrationsländer unter ein Gemeinschaftsgericht wesentlich. Hier hat die EU mit dem EuGH eine wichtige Institution, die es so in anderen Integrationsclubs nicht gibt. Eine schwächere Form der Herstellung von Rechtssicherheit stellen Schiedsgerichtsverfahren dar. Regionale Integration kann allerdings auch Q verbessern, und zwar über - verschärften Standortwettbewerb (uno actu: Intra-Systemwettbewerb), der vor allem an Direktinvestitionen ansetzt. Von daher sind isolierte Zollunionsprojekte kritisch zu sehen; wesentlich ist eine ergänzende wechselseitige Niederlassungsfreiheit, also letztlich die Schaffung eines Binnenmarktes. Problematisch sind in diesem Kontext Integrationsvorhaben zwischen reichen Ländern - mit zahlreichen multinationalen Unternehmen - und armen Ländern ohne eigene multinationale Unternehmen, da hiermit eine Asymmetrie im Standortwettbewerb aufgebaut bzw. möglicherweise verfestigt wird. Es wäre von daher zu erwägen, dass armen Ländern Anschubsubventionen erlaubt und Entwicklungshilfe zur Expansion des Bildungssektors gegeben werden, damit sich längerfristig multinationale Unternehmen entwickeln können. Auch wenn man Subventionen aus diversen Gründen kritisch sehen kann - man denke an Mitnahmeeffekte und die Notwendigkeit zu Steuererhöhungen zwecks Finanzierung von Subventionen so sind letztere doch grundsätzlich marktkonform. Die Sprache der relativen Preise bleibt Signalgeber im Allokationsprozess. Ob man armen Ländern zu selektiven Importzöllen als Schutzschild beim Aufbau einer inländischen multinationalen Industrie raten soll, kann bezweifelt werden: Denn Zollprotektion bedeutet bei flexiblen Wechselkursen eine Tendenz zur Währungsaufwertung, die faktisch die Schutzwirkung der Zölle aufhebt und die Importnachfrage stimuliert; - verschärften globalen Systemwettbewerb im Kontext der Schaffung einer supranationalen Politikebene, bei der die Akteure motiviert sind, die globale Wettbewerbsfähigkeit des Integrationsraums zu stärken. In diesem Kontext ist die EU bzw. die Europäische Kommission positiv hervorzuheben, deren Initiativen für die Deregulierung der Telekommunikation - wesentlich aus globalen Konkurrenzüberlegungen heraus entstanden - und anderer Netzindustrien zu einer EU-weiten Liberalisierung beigetragen haben. Verschärfter globaler Systemwettbewerb wird in der Regel zu einer Liberalisierung auf der supranationalen und nationalen Politikebene fuhren. Nicht gänzlich ausgeschlossen ist ein ineffizientes Herunterkonkurrieren von Stan-
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dards - etwa im Umweltbereich. Dieser Gefahr steht allerdings entgegen, dass integrationsbedingte Erhöhungen der Pro-Kopf-Einkommen die politische Nachfrage nach anspruchsvollen Standards stärken; -
über eine stärkende Rolle der Integration für den Sektor der handelsfähigen Güter, wodurch sich eine verstärkte Diffusion internationaler Verhaltens- und Qualitätsstandards ergeben kann. Dies kann im Zuge allgemeiner Standardsenkung bzw. von Verhaltensänderungen auch den Sektor der nichthandelsfähigen Güter positiv beeinflussen. Empirisch könnte man im Übrigen untersuchen, ob in Beitrittsländern zu einem Integrationsraum der Korruptionsindex sinkt - dies wäre eine Q-Verbesserung.
2.1.2. Regionale Vertragsperspektiven aus institutionenökonomischer Sicht Aus institutionenökonomischer Sicht ist von einer begrenzten Rationalität der Akteure in Integrationsräumen auszugehen, Integrationsprojekte sind relationale Verträge, die in Abhängigkeit von der Struktur der beteiligten Länder unterschiedliche Grade an Opportunismus zulassen. Von daher ist hier die Führungsfahigkeit von Integrationsclubs gefordert. Hegemoniale Integrationsräume, bei denen politisch-wirtschaftliche Macht eines großen Landes (mit relativ hohem Pro-Kopf-Einkommen) die Interpretations- und Opportunismusspielräume begrenzt, haben vermutlich institutionelle Startvorteile. Zweifelhaft aber sind die längerfristigen Stabilitätsperspektiven eines hegemonialen Integrationsraums - wie etwa bei der NAFTA mit Dominanz der USA da erfolgreiche Integration ja gerade ökonomische Aufholprozesse der ärmeren (kleinen) Integrationspartner bedeutet. Damit verschiebt sich die Machtbalance endogen langfristig zu Lasten des Hegemoniallandes, sofern dieses nicht relativ hohes und nachhaltiges Bevölkerungsund Wirtschaftswachstum aufweist. Die bisweilen bei Hegemonialländern vorfindbare politische Egozentrik unterminiert zudem längerfristig die Legitimität des Integrationspaktes, begünstigt also langfristig Opportunismus. Ein Integrationsraum mit einer Mehrzahl von Führungsländern soll polyphoner Integrationsclub genannt werden. Wenn eine solche Integrationsgruppe eine dynamische Führungsgruppe hat, wie etwa im Falle der EU mit dem Tandem Deutschland-Frankreich, kann, geschickte Diplomatie vorausgesetzt, der Eindruck hegemonialer Dominanz durch rotierende Führungsinitiativen vermieden werden. Zudem hat ein Führungsduo oder -trio den Vorteil, sich abwechselnd mit innovativen Integrationsprojekten profilbildend für das jeweilige Initiativland darstellen zu können. Führungspartnerschaft wirkt temporär für jedes Führungsland entlastend, die Gesamtführungsleistung - auch im Sinne dynamischer Innovationsprojekte - kann höher sein als bei Hegemonialclubs. Die Führungsaufgabe bzw. -last nimmt mit der Zahl der Club-Mitglieder und mit dem Grad ihrer Heterogenität zu, weshalb reale Konvergenz im Sinne einer weitgehenden Angleichung der Pro-Kopf-Einkommen wesentlich ist. Je geringer die Unterschiede zwischen y und y* zwischen Integrationspartner sind, desto größer dürfte die Ähnlichkeit der politischen Präferenzen sein, was konfliktmindernd ist und führungsentlastend wirkt. Einfachere Führungsstrukturen wiederum erhöhen die Politiktransparenz und stärken die Effizienz des politischen Wettbewerbs.
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Ein nachhaltiges Führungsduo oder -trio kann allerdings nur funktionieren, wenn ein erheblicher gemeinsamer wirtschaftspolitisch relevanter Grundkonsens besteht. Während ein solcher Grundkonsens für das Duo Deutschland-Frankreich oder ein Trio Deutschland-Frankreich-Großbritannien oder auch eine Quattro-Gruppe unter weiterem Einschluss Italiens diesbezüglich gegeben sein dürfte, wäre eine ähnliche Konstellation bei einer Aufnahme der Türkei in die EU - mit der Türkei als einem Element der Führungsgruppe - kaum vorstellbar. Die Türkei als bevölkerungsreichstes Land in Europa - außer Russland - wird naturgemäß einen Führungsanspruch in der Gemeinschaft erheben, wenn das Land erst einmal in der EU ist. Daraus resultierende Führungsschwäche der Gemeinschaft würde in der EU zumindest in Krisenzeiten latente Opportunismustendenzen begünstigen. Da man erhöhtem Opportunismuspotenzial - zumal im Kontext eines langfristigen oder ewigen Integrationsvertrages - nur begegnen kann, indem man zusätzliche Klauseln bzw. Vertragsbedingungen einführt, droht im Falle einer Türkei-EU-Mitgliedschaft eine Verkomplizierung des ohnehin komplexen Acquis Communautaire, was Flexibilität, Innovativität, Effizienz und Wachstumsdynamik der EU beeinträchtigen dürfte. Dieser Aspekt scheint insbesondere in den USA, die seit Jahren stark auf eine EU-Mitgliedschaft der Türkei als angebliches Mittel zur Sicherung einer laizistischen Regierung im größten europäischen NATO-Mitgliedsland drängen, übersehen zu werden. Im Übrigen kann man aus EU-Sicht - bei allem natürlichen Interesse an guten Beziehungen zur Türkei - nur warnen, mit einer Türkei-Mitgliedschaft die Ostgrenze der Gemeinschaft unmittelbar in den instabilen Nahen Osten vorzuschieben und womöglich einer wachsenden türkischen Fundamentalistengruppe Freizügigkeit zu gewähren, deren Radikalismus wesentlich durch einen seit Jahrzehnten ungelösten Konflikt zwischen Israel und Palästinensern gespeist wird (zu dessen Lösung wird wohl die USA den Schlüssel in der Hand haben). Unter dem Aspekt der relationalen Natur von Integrationsverträgen steht auch die ASEAN-Gruppe vor schwierigen Problemen, da hier zehn sehr heterogene Länder zusammenwirken, wobei es weder ein klares Führungsland noch eine akzeptierte Führungsgruppe als Motor der Integration gibt. Im MERCOSUR ist die Govemance-Problematik ebenfalls ausgeprägt, da das größte Mitgliedsland Brasilien seit Jahrzehnten von periodischen Krisenphasen geprägt ist. Eine dynamische Führungsgruppe der wirtschaftlich größten Länder - Brasilien und Argentinien - ist ebenfalls nicht absehbar, wobei Argentinien in historischer Perspektive (mit Blick auf die fünf Jahrzehnte nach 1945) noch instabiler als Brasilien ist. Soweit inadäquate nationale Wirtschaftsordnungen wesentlich für periodische wirtschaftliche Instabilität, Stagnation oder Krisen verantwortlich sind, müssten nationale ordnungspolitische Reformen regionalen Integrationsprojekten vorausgehen. Da insbesondere Eigentumsrechte und transaktionskostenrelevante Institutionen bzw. Regeln im politischen Prozess verankert werden, muss weitergehend nach der Stabilität und Effizienz des politischen Systems gefragt werden. Zumindest in vielen Ländern Lateinamerikas und Afrikas gibt es eine hohe latente politische Instabilität, die als Hinweis auf Defizite der Politikordnungen anzusehen sind: Empirisch nachweisbar ist dieses Instabilitätspotenzial in den angesprochenen Ländern durch die starken Abwertungen der jeweiligen Währungen im Vorfeld nationaler Wahlen.
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2.1.3. Ordnungsökonomische Kernfragen Aus ordnungsökonomischer Sicht stellt sich bei Integration von zwei bzw. n Ländern eine Reihe von Fragen: - Welche Teilordnungen sind zu harmonisieren bzw. wann sind gemeinschaftliche Standards sinnvoll? - Inwiefern ist Harmonisierung mit einem kritischen Verlust an evolutorischer Ordnungsvielfalt verbunden, der den globalen Systemwettbewerb schwächt? -
Welche ökonomischen Effizienzgewinne sind von Integration zu erwarten bzw. inwieweit ergeben sich Änderungen beim Grad an (gemeinschaftlichem oder nationalem) Politikversagen?
Was den Kooperations- bzw. Harmonisierungsbedarf angeht, so muss ein besonderes Augenmerk der Problematik positiver grenzüberschreitender externer Effekte gelten. Wenn es etwa durch eine Wirtschaftsunion zu einer verstärkten handelsmäßigen und direktinvestitionsmäßigen Vernetzung dank multinationaler Unternehmen kommt, dann ist von einer Zunahme grenzüberschreitender Innovationsübertragungseffekte im Integrationsraum auszugehen: Es kommt zu positiven grenzüberschreitenden externen Effekten, die Effizienz- bzw. Wachstumsverluste bedeuten; die Innovation in Sektor i in Land I hat positive - marktmäßig nicht vergütete - Technologie- bzw. Produktivitätseffekte in Partnerland II in Sektor i oder j. Dies schafft das Problem, dass nationale F&EFörderausgaben inzidenzmäßig zunehmend den Integrationspartnem zugute kommen, weshalb sich ein suboptimaler Rückgang der F&E-Quote auf der nationalen Politikebene einstellen kann. Diese Problematik könnte nur durch eine verstärkte Politikkooperation im Integrationsraum angegangen werden bzw. durch das Auflegen von unionsweiten F&E-Programmen, die gegebenenfalls ganz oder teilweise auf der supranationalen Politikebene anzusiedeln sind. Die Intemalisierung internationaler externer Effekte in der Zollunion im Kontext von im Markt nicht vergüteten Wissensübertragungseffekten kann sinnvoll nur über erhöhte Subventionen für Forschung und Entwicklung erfolgen, und zwar bei adäquater Kofinanzierung der nationalen F&E-Mittel durch die dank Spill-over-EfTekten begünstigten Partnerländer. Eine solche .Poolfinanzierung' von nationalen F&E-Förderprogrammen dürfte effizienter sein als der Ausbau von supranationalen F&E-Programmen, da auf der supranationalen Ebene relativ hohe bürokratische Ineffizienzen zu vermuten sind. Die Existenz nationaler gewachsener Innovationssysteme bedeutet auch, dass supranationale F&E-Förderprogramme ein beträchtliches Ineffizienzpotenzial haben. Mit Blick auf negative grenzüberschreitende externe Effekte ist ein Teil der Umweltpolitik zu vergemeinschaften. Selbstverständlich braucht über Fragen der lokalen Wasserverschmutzung nicht auf der supranationalen Politikebene bzw. im Wege zwischenstaatlicher Politikkooperation entschieden zu werden. Aber bei Fragen grenzüberschreitender Emissionen einerseits und im Zusammenhang mit handels- bzw. wettbewerbsverzerrenden internationalen Verkehrsemissionen andererseits ist die Schaffung eines gemeinschaftlichen Politikfeldes sinnvoll. Bezüglich der vertikalen Kompetenzverteilung ist dabei das Subsidiaritätsprinzip zu beachten, wenn eine effiziente und bürgernahe Trägerstruktur auf Seiten der Wirtschaftspolitik gewährleistet werden soll.
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Harmonisierungen von Regeln können effizienzförderlich oder -schwächend sein. Zu unterscheiden ist dabei grundsätzlich eine politische Harmonisierung von oben gegenüber einer Harmonisierung, die sich endogen aus dem Gütermarkt-, Standort- und Systemwettbewerb ergibt. Hier ist etwa an Industriestandards zu denken, die ohne staatliche Mitwirkung von fuhrenden Unternehmen einer Branche vereinbart werden. Die endogene Industriestandardisierung ignoriert in der Regel nationale Grenzziehungen. Von daher sind endogene Standardisierungsprozesse in der Industrie zum Teil globaler Natur. Aber es gibt in der Praxis auch regionale Industriestandards, wenn man an die noch in den 1990er Jahren bedeutsamen US-, EU- und japanische Industrienormen denkt. Ein EU-Erfolgsfall staatlich-industrieller Harmonisierung hat im GSM-Fall bei der Mobiltelefonie ergeben, allerdings ist dies ein besonderer Sektor insofern, als hier Netzwerkextemalitäten eine internationale bzw. kooperative Standardsetzung sinnvoll machen. Theoretisch lässt sich zeigen, dass einheitliche Standards suboptimal - mit Wohlfahrtsverlusten verbunden - sind, sofern man konstante Grenzkosten unterstellt. Allerdings können im Falle von economies of scale einheitliche Standards wohlfahrtsforderlich sein, und zwar dann, wenn der Wohlfahrtsgewinn aus der Kostenreduktion den standardbedingten Wohlfahrtsverlust bei der Konsumentenrente übersteigt. Geht man von zwei verschiedenen Nachfragern aus (Abbildung 1), dann ergibt sich bei annahmegemäß konstanten Grenzkosten, dass optimal individualisierte Standards Vi und V2 wären. Hingegen entsteht bei einem Gemeinschaftsstandard VEU ein Wohlfahrtsverlust in Höhe von Dreieck HDB für Nachfrager 2 und ABC für Nachfrager 1. Sind jedoch mit der gemeinsamen Standardsetzung statische oder dynamische economies of scale verbunden, so dass sich die Grenzkostenkurve nach unten verschiebt (K'i), so ergibt sich Abbildung 1: Wohlfahrtseffekte von Standardisierung
V,
VEU
v2
V
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für Nachfrager 1 ein Wohlfahrtsgewinn, der der Fläche EACF entspricht. Dieser Zugewinn muss mit möglichen Wohlfahrtsverlusten aus undifferenzierter (nichtindividualisierter) Standardsetzung verrechnet werden. Es ist eine empirische Frage, ob es Kostendegressionseffekte dieser Art bei Standardisierung gibt. Nicht übersehen werden sollte die Rolle kultureller Standards, die sich als relevant für Gütermärkte bzw. Handel und Kapitalverkehr herausstellen können. Man denke etwa an religiös bedingte Verbote des Konsums von Alkohol oder Schweinefleisch, die bei strenger Durchsetzung einem Prohibitivzoll entsprechen. Werden Teilordnungen zwischen n-Ländern im Zuge regionaler Integration harmonisiert, so stellt sich die Frage, welches Land sich mit seinen Regeln und Institutionen durchsetzen wird. Hier ist zu vermuten, dass das größte Land bzw. das Land mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen (und -vermögen) die besten Chancen haben, sich durchzusetzen. Ein absolut hohes Bruttoinlandsprodukt kann als Proxy für im internationalen politischen Verhandlungsprozess relevante politisch-militärische Macht einerseits angesehen werden. Andererseits dürfte mit diesem Indikator auch der größte Importmarkt der Region bezeichnet sein: Wer diesen Markt beliefern will, der wird bei der Produktion die Standards in diesem Markt beachten müssen und sich gegebenenfalls zu bestimmten Produktinnovationen veranlasst sehen (wenn dieser Markt zugleich das höchste ProKopf-Einkommen hat, dann ist auf diesem Markt in der Regel auch eine hohe Güterqualität gefordert). Da Produktinnovationen häufig parallele Prozessinnovationen erfordern - wobei man für die Inlandsmärkte selten eine disjunkt schlechtere Produktqualität produziert - und die Komplexität des Produktionsprozesses wiederum ein entsprechend qualifiziertes Humankapital erfordert, gehen vom Marktzugang zu einem ökonomisch großen Land erhebliche Anpassungsimpulse aus. Die im Ausland begehrten Gütermerkmale werden in der Regel leichter herzustellen sein, wenn staatliche Institutionen und Regulierungen mit entsprechender Motivationswirkung angepasst wurden. Ein Land mit geringem absoluten Bruttoinlandsprodukt Y, aber hohem Pro-KopfEinkommen y, kann keine vergleichbaren Marktsogeffekte ausüben wie im Falle des Zusammenfallens von hohem Y und hohem y. Allerdings kann ein solches Land - wie etwa die Schweiz oder Singapur - möglicherweise bei internationalen Vergleichen in eine Vorbildrolle rücken, da das Erzielen hoher Pro-Kopf-Einkommen als natürliches Ziel der meisten Menschen bzw. Gesellschaften angesehen werden kann. Sofem nicht einfach eine sehr reiche Ausstattung mit natürlichen Ressourcen Basis eines hohen y ist, wird die Außenwelt sich für Charakteristika der Wirtschaftsordnung des reichen kleinen Landes interessieren. 2.2. Efflzienzgewinne und Politikversagensproblematik Aus ordnungsökonomischer Sicht werden durch regionale Integration insbesondere Property-rights-Fragen und Transaktionskostenfragen aufgeworfen. Hierbei muss man die Problematik der Bildung eines Integrationsclubs von der Erweiterung des Integrationsclubs unterscheiden. Zunächst betrachten wir partialanalytisch die Transaktionskostenproblematik in einem einfachen Modell, bei dem in Land I (Inland) und Ausland (II,
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"-Variable). Dabei wird ein symmetrisches Modell mit gleichen Parametern auf Angebots- und Nachfrageseite betrachtet, wobei die Grenzkosten K' zur Vereinfachung als konstant angesehen werden (siehe Abbildung 2). Die Existenz von Transaktionskosten kommt in der Unterscheidung einer Bruttonachfragekurve DD' und einer pekuniären Nachfragekurve DD zum Ausdruck, wobei letztere die pekuniäre Zahlungsbereitschaft angibt. Das Vor-Integrationsgleichgewicht im Land I bzw. II ist gekennzeichnet durch den Punkt E 0 bzw. E 0 *, in dem die Nettonachfragekurve die Angebotskurve K' 0 bzw. K'* 0 schneidet: Der pekuniäre Preis ist P 0 ; der Bruttopreis - inklusive Transaktionskosten - beträgt P 0 ', so dass die Strecke FE 0 die durchschnittlichen Transaktionskosten anzeigt. Durch Integration werden annahmegemäß die Transaktionskosten gesenkt, wobei zur Vereinfachung angenommen werden soll, dass Integration die Transaktionskosten in beiden Ländern auf null drückt. Hiermit wäre ein positiver Wohlfahrtseffekt im Inland verbunden, der sich aus der Fläche P' 0 FE 0 G plus dem Dreieck FEiE 0 zusammensetzt. Für das zweite Land gilt eine entsprechende Betrachtung. Abbildung 2: Effekt des Senkens von Transaktionskosten im Zwei-LänderIntegrationsraum
Man kann kapitaltheoretisch die durch adäquate Regelsetzung erreichte Reduzierung der durchschnittlichen Transaktionskosten relativ zum Netto-Güterpreis als implizite Rendite der Regelsetzung im betreffenden Teilbereich der Wirtschaftsordnung betrachten. Die kapitalisierten eingesparten Transaktionskosten in allen Transaktionsbereichen - Güter-, Faktor- und Aktivamärkte betreffend - stellen dann den ökonomischen Wert der Wirtschaftsordnung dar. Als weitere Aspekte kann man ein integrationsbedingtes Sinken der Grenzkostenkurve (K'i=cK'o statt K'o, wobei 0 so ergibt sich (7)
da/dt = (ha* e ) a E - b a .
Dies ist eine inhomogene Differentialgleichung mit konstanten Koeffizienten, deren Lösung (mit e' für Euler-Zahl; C 0 ' als Konstante, die aus den Anfangsbedingungen zu bestimmen ist) lautet (8)
a(t) = {C 0 'e'- b(1+£)t + (ha* e )/b} I/(,+ e).
£) Die Rate des technischen Fortschritts konvergiert mit t—>oo gegen a* (h/b) 1/(l+ E), 0 wobei der Steady-state-Wert a# positiv von a* und von h=(jj*) v''' abhängt; d. h. je größer die Importquoten sind und je höher die F&E-Förderungsintensität, desto größer ist a langfristig. Im Übrigen bestimmen der Parameter z sowie (1+e) die Konvergenzgeschwindigkeit. Wenn die Anpassungsgeschwindigkeit bei a(t) relativ hoch ist, nämlich b(l+e)>(a+n+5)(l-ß), kann in einer Grenzbetrachtung mit t—>°o die Akkumulationsgleichung für k'(t) mit konstantem a# formuliert werden. Simulationen zeigen, dass bestimmte Parameterkonstellationen jedenfalls instabil sind, während andere zu einem konvergenten k' fuhren.
Von regionaler Integration kann einerseits eine Erhöhung von j bzw. j* im Inland bzw. Integrationspartnerland ausgehen, zugleich könnten die Elastizitäten o bzw. y durch Integration erhöht werden. Hier sind empirische Untersuchungen gefordert. Ob der Bremseffekt in der Fortschrittsfunktion, der von b ausgeht, bei Integration vermindert wird, ist eine offene Frage. Aber bei intensiviertem Wettbewerb dank Integration, wird vermutlich ein Mehr an technologischen Entwicklungsoptionen verfügbar sein, so dass z nach der Integration in den Partnerländern kleiner als zuvor wäre. Insgesamt konvergiert a(t) gegen (9)
a# = a* E/ Form 4 Freihandelszone Zollunion Gemeinsamer Markt Wirtschaftsunion
Freihandel zwischen Mitgliedsländern
Gemeinsamer Zolltarif gegenüber Drittländern
Freie Mobilität Harmonisierung der Produktions- oder Vereinigung faktoren der Wirtschaftspolitiken
• •
•
•
•
•
•
•
•
•
Quelle: Blank, Clausen und Wacker (1998, S. 35). Eine solche Integrationsstrategie, die auch hinter dem in Abbildung 1 dargestellten Integrationsschema steht, wird als negative Integration bezeichnet, weil sich die Integrationsbemühungen primär auf die Beseitigung von Handelshemmnissen innerhalb des angestrebten integrierten Wirtschaftsraums beziehen. Eine positive Bestimmung, welche Institutionen die institutionell vereinheitlichte Integrationszone besitzen sollen, findet hingegen nicht statt (Tinbergen 1965; Blank, Clausen und Wacker 1998, S. 41). Damit wird zum einen deutlich, dass ein Integrationskonzept, das auf dem Gedanken der negativen Integration aufbaut, einen entscheidenden Teil der integrationspolitischen Fragestellung unbeantwortet lässt. Offen bleibt nämlich die Frage, wie denn der integrierte Wirtschaftsraum institutionell ausgestaltet werden sollte. Zum anderen stellt sich die Frage, ob die von der außenhandelstheoretischen Argumentation nahe gelegte Beseitigung aller institutionellen Unterschiede sinnvoll ist, d. h., ob überhaupt eine Integration bis hin zur Errichtung eines Einheitsstaates wünschenswert ist. Dass es den von der Theorie des Außenhandels inspirierten Integrationskonzepten häufig an Antworten fehlt, wie ein integrierter Wirtschaftsraum letztlich institutionell auszugestalten wäre, hat jüngst auch Pelkmans (2001, S. 7 ff.) festgestellt. Dabei wird von ihm keineswegs die Realisierung potenzieller Wohlfahrtsgewinne bezweifelt, die aus einer Durchsetzung von Freihandel resultieren können. Bei der Realisierung höherer Integrationsstufen müsse aber das Über- und Unterordnungsverhältnis verschiedener jurisdiktioneller Ebenen genauer geklärt werden, die den integrierten Wirtschaftsraum durchziehen. Hierfür sei es sinnvoll, auf Erkenntnisse der Föderalismustheorie zurückzugreifen. 2.3. Das Beispiel der Europäischen Integration Anhand der Entwicklung des europäischen Integrationsprozesses kann die integrationspolitische Problematik weiter verdeutlicht werden. So gelang der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) bereits sehr früh der Übergang zu einer Zollunion, mit der Folge einer gemeinschaftlichen Handelspolitik und mit einheitlichen Zolltarifen gegenüber Drittländern. Im Gegensatz zu den tarifaren Handelshemmnissen erwies sich jedoch der Abbau von nicht-tarifären Handelshemmnissen zwischen den Mitgliedstaaten als wesentlich schwieriger. Insbesondere die unterschiedlichen nationalen Regulierungen, beispielsweise bei Produkten oder technischen Standards, wurden als erhebliches Problem für die Entstehung eines gemeinsamen Marktes angesehen. Erst die Cassis de Z)z/oH-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs mit dem Übergang vom Bestimmungs- zum Ursprungslandprinzip und der damit verbundenen wechselseitigen
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Anerkennung von Produktregulierungen ermöglichte eine Zurückdrängung der Bedeutung nationaler Regulierungen. Dieses Beispiel negativer Integration implizierte allerdings einen erheblichen Kompetenzverlust fiir die Mitgliedstaaten, da diese seitdem nicht mehr frei über Regulierungen auf ihren nationalen Märkten entscheiden dürfen, sondern diese der Kontrolle des Europäischen Gerichtshofs in Bezug auf ihre Vereinbarkeit mit der Warenverkehrsfreiheit (in Form von Art. 28 bzw. 30 EGV: „Maßnahmen gleicher Wirkung") unterworfen sind. Die Strategie der negativen Integration ist mit der Umsetzung des Binnenmarktprogramms und der strikten Durchsetzung der vier Grundfreiheiten seit den 1980er Jahren konsequent weiter verfolgt worden. Ziel war es, alle Arten von Mobilitätshemmnissen für einen Gemeinsamen Markt systematisch zu beseitigen und damit völlig integrierte Märkte für Waren, Dienstleistungen und Produktionsfaktoren zu schaffen. Als Mittel zur Erreichung dieses Zieles wurden neben der wechselseitigen Anerkennung von Regulierungen auch Harmonisierungen (Rechtsangleichung) verwendet, insbesondere in Form von Mindestharmonisierungen. Insofern gab es für die Erreichung des Ziels der Durchsetzung des Binnenmarktes eine umfassende Verschiebung von Kompetenzen, vor allem Regulierungskompetenzen, von den Mitgliedstaaten hin zur Europäischen Union. Jüngstes Beispiel solcher Zentralisierungsbestrebungen ist die 2001 erschienene Mitteilung der Europäischen Kommission über das europäische Vertragsrecht.5 Nach Auffassung der Kommission bestehen nämlich Beeinträchtigungen des Binnenmarktes bereits dann, wenn unterschiedliche nationale Vertragsrechte zu „higher transaction costs, especially information and possible litigation costs for enterprises in general and SMEs and consumers in particular" führen würden. Dies bedeutet, dass jedwede zusätzliche Kosten verursachende Unterschiedlichkeit als ein Hemmnis für den Binnenmarkt zu interpretieren wäre. Mit einer solchen Argumentation, die ganz auf der Linie der Strategie der negativen Integration liegt, ließe sich - konsequent zu Ende gedacht - die Notwendigkeit einer vollständigen Vereinheitlichung des gesamten Zivilrechts (einschließlich der Abschaffung des deutschen BGB, Common Law usw.) begründen - wenn auch die Kommission in ihrer Mitteilung selbstverständlich momentan noch nicht so weit geht. Verwendet man folglich das Binnenmaiktargument in der Art, dass jedwede Kosten verursachende Unterschiedlichkeit zwischen Mitgliedstaaten als Hemmnis interpretiert wird, das es - im Rahmen der negativen Integration - abzubauen gilt, dann folgt hieraus zwangsläufig die Notwendigkeit einer vollständigen Harmonisierung und damit die Abschaffung jeder institutionellen Unterschiedlichkeit („leveling the playing field"). Wird das Binnenmarktargument in dieser radikalen Weise ohne Relativierung angewendet, bleibt für Dezentralität und Unterschiedlichkeit innerhalb der EU letzten Endes kein Raum mehr. 2.4. Zwisctaenfazit Der Einfluss außenhandelstheoretischer Argumentationsmuster auf die Integrationstheorie zeigt sich in der Strategie der negativen Integration, in der das Schwergewicht auf den Abbau von Hemmnissen für die Mobilität von Gütern und Faktoren gelegt wird. 5
Vgl. EU-Kommission (2001); vgl. hierzu auch den (ein breites Meinungsspektrum abdeckenden) Sammelband von Grundmann und Stuyck (2002).
Integrationstheorie
und
Wettbewerbsföderalismus
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Während dies zweifellos zur Bildung von integrierten Güter- und Faktormärkten mit positiven Wohlfahrtswirkungen beiträgt, besteht jedoch die Gefahr, dass über das Argument des Abbaus von nicht-tarifären Handelshemmnissen eine Vereinheitlichung von institutionellen Strukturen innerhalb des integrierten Wirtschaftsraums erzwungen wird. Da aber die Außenhandelstheorie die inneren staatlichen Strukturen von Ländern nicht betrachtet, bleibt die Frage nach Zentralität und Dezentralität staatlicher Entscheidungen in integrierten Wirtschaftsräumen unthematisiert. Je weiter fortgeschritten aber die Integration ist und je mehr Politiken somit von dem Integrationsprozess erfasst werden, umso stärker macht sich dieses Defizit bemerkbar. Insofern ist es nahe liegend, die außenhandelstheoretisch geprägte Integrationstheorie um die Föderalismustheorie zu erweitem. Mit ihrer Hilfe kann versucht werden, das geeignetste Mischungsverhältnis von Zentralität und Dezentralität für einen integrierten Wirtschaftsraum näher zu bestimmen. 3. Wettbewerbsföderalismus als notwendige Erweiterung der Integrationstheorie 3.1. Zur Frage von Zentralität und Dezentralität in integrierten Wirtschaftsräumen Die Frage nach dem adäquaten Ausmaß von Zentralität und Dezentralität innerhalb der EU gehört zu den aktuellsten und schwierigsten Problemen im Rahmen der Diskussion um die institutionelle Weiterentwicklung der EU. Konkret zeigt sich dies in der für praktisch jeden Bereich der Wirtschaftspolitik zu stellenden Frage, auf welcher staatlichen Ebene sie am besten angesiedelt sein sollte. Abstrakt formuliert geht es um die Frage der optimalen Allokation von Kompetenzen im Rahmen eines Mehr-EbenenSystems von Gebietskörperschaften, wobei es letztlich nicht nur um die Kompetenzverteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten geht, sondern ebenso um Kompetenzen von subnationalen Ebenen von Gebietskörperschaften wie beispielsweise Regionen (Bundesländern) und Kommunen. Für die Frage nach der optimalen Struktur eines Mehr-Ebenen-Systems von Gebietskörperschaften innerhalb eines wirtschaftlichen Integrationsraumes kann aus ökonomischer Sicht auf die Föderalismustheorie zurückgegriffen werden, wie sie in der Finanzwissenschaft entwickelt wurde. In diesem Rahmen wurde eine Anzahl von Kriterien abgeleitet, nach denen entschieden werden kann, welche Kompetenzen einer bestimmten Ebene zugewiesen werden sollten. Hierzu gehören ursprünglich die räumliche Reichweite öffentlicher Güter (Spill-over-Effekte), das Ausmaß von Skalenerträgen bei deren Bereitstellung und die räumliche Homogenität/Heterogenität von Präferenzen. In neueren Ansätzen werden zusätzlich Transaktions- und Entscheidungskosten, das Ausmaß dezentraler Informationsvorteile, Rent-seeking-Überlegungen und die Vorteile dezentralen Experimentierens und Lernens angeführt.6 Wenn aber in einem Raum wirtschaftlicher Integration durch Abbau von Mobilitätshemmnissen die freie Mobilität von Individuen, Firmen und Produktionsfaktoren gesi6
Vgl. hierzu Breton (1996); Oates (1999); Pitlik (1997) und Sauerland (1997). Diese Kriterien beziehen sich im Wesentlichen auf das Allokationsziel. Darüber hinaus können auch Stabilisierungs- und Verteilungsziele berücksichtigt werden.
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Klaus Heine und Wolfgang Kerber
chert wird, wie dies in der EU mit der Durchsetzung der vier Grundfreiheiten gegeben ist, dann ist zusätzlich zu berücksichtigen, dass die Gebietskörperschaften innerhalb eines integrierten Wirtschaftsraums in einen Wettbewerb um diese räumlich mobilen Wirtschaftssubjekte und Produktionsfaktoren geraten (Standortwettbewerb, inteijurisdiktioneller Wettbewerb). Versucht man den inteijurisdiktionellen Wettbewerb, der an Tiebouts Modell eines wettbewerblichen Angebots lokaler öffentlicher Güter („voting by feet") anknüpft (Tiebout 1956), in die traditionelle Föderalismustheorie zu integrieren, ergibt sich hieraus der Wettbewerbsföderalismus. Er kann verstanden werden als ein Konzept für die Gestaltung einer föderalen Mehr-Ebenen-Struktur von Gebietskörperschaften innerhalb eines integrierten Wirtschaftsraums, das das Wettbewerbsprinzip auch auf die von Gebietskörperschaften angebotenen Pakete von öffentlichen Gütern, Steuern und Regulierungen anwenden möchte und insofern dem inteijurisdiktionellen (Standort-)Wettbewerb einen systematischen Platz einräumt.7 3.2. Wettbewerbsföderalismus als Integrationskonzept Inwiefern könnte nun die Theorie des Wettbewerbsföderalismus als eine Erweiterung der Theorie wirtschaftlicher Integration verstanden werden? Sie ist insofern eine Erweiterung, als sie eine Antwort auf eine zentrale, von der traditionellen Integrationstheorie nicht thematisierte Problemstellung zu geben versucht, nämlich wie die staatliche Struktur innerhalb eines integrierten Wirtschaftsraums gestaltet sein sollte. Verbindet man mit wirtschaftlicher Integration aus marktwirtschaftlicher Perspektive zugleich die Idee einer möglichst weitgehenden Durchsetzung des Wettbewerbsprinzips innerhalb eines einheitlichen Marktes, dann kann das Konzept des Wettbewerbsföderalismus aber auch selbst als Integrationskonzept verstanden werden, weil es nämlich auf die Schaffung eines einheitlichen wettbewerblichen Marktes für Standorte (und deren Leistungen in Form von Steuer-Leistungs-Paketen) innerhalb eines integrierten Wirtschaftsraumes abstellt. Zwar besteht auch in einem staatlicherseits zentralisierten integrierten Wirtschaftsraum nach Abbau von Mobilitätsbarrieren freie Standortwahl. Ohne dezentralisierte Kompetenzen bezüglich öffentlicher Güter, Steuern oder Regulierungen bestehen jedoch für regionale Einheiten keine Möglichkeiten, in den Wettbewerb mit anderen regionalen Einheiten um mobile Individuen, Firmen und Produktionsfaktoren einzutreten. Folglich kann kein Standortwettbewerb entstehen und die freie Standortwahl führt nicht zur Herausbildung eines (wettbewerblichen) Marktes für Standorte. Über die konkreten Bedingungen der einzelnen Standorte würde in einem solchen zentralisierten integrierten Raum monopolistisch entschieden. Wettbewerbsföderalismus würde dagegen die Chance der Entstehung eines integrierten, wettbewerblichen Marktes für Standorte bieten. Welche Vorteile und Probleme verbinden sich mit der Realisierung eines wettbewerbsföderalistischen Konzepts für einen integrierten Wirtschaftsraum? 8 Als Vorteile
7
8
Zur Unterscheidung zwischen .competitive federalism' and .cooperative federalism' vgl. Kenyon und Kincaid (1991). Vgl. zu den Vorteilen und Problemen des inteijurisdiktionellen Wettbewerbs (einschließlich Regulierungswettbewerbs) Oates und Schwab (1988); Siebert und Koop (1990); Vanberg und Kerber (1994); Streit und Mussler (1995); Sun und Pelkmans (1995); Bratton und McCahery (1997); Sinn (1997); Gatsios und Holmes (1998); Kerber (1998); Apolte (1999); Van den Bergh (2000).
Integrationstheorie und Wettbewerbsföderalismus
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von Dezentralität und inteijurisdiktionellem Wettbewerb werden üblicherweise genannt: 1) Es kommt zu einem räumlich differenzierten staatlichen Angebot, wodurch Frustrationskosten aufgrund harmonisierter Durchschnittslösungen vermindert werden. 2) Wettbewerb kann zu einer effizienteren Bereitstellung und Produktion öffentlicher Leistungen fuhren. 3) Inteijurisdiktioneller Wettbewerb zwischen Regierungen kann deren Macht eindämmen und damit Rent-seeking-Probleme vermindern. 4) Dezentrale Entscheidungen über öffentliche Leistungen ermöglichen Experimentierungs- und Lernprozesse, mit der Folge, dass wettbewerbsfoderalistische Systeme eine größere Innovationsfahigkeit in Bezug auf öffentliche Leistungen aufweisen können.' 5) Weiterhin kann dezentral verteiltes Wissen über die adäquate Gestaltung von Steuer-Leistungs-Paketen besser genutzt werden. Allerdings kann auch eine Fülle von Problemen auftreten, die entweder durch Zentralisierung (bzw. Harmonisierung) und damit Ausschaltung von inteijurisdiktionellen Wettbewerbsprozessen oder durch eine geeignete Menge von übergeordneten Regeln (institutioneller Rahmen) gelöst werden müssen. Hierzu zählen generelle Vorteile von Zentralisierung wie die bessere Ausnützung von Skalenvorteilen, geringere Transaktions- und Entscheidungskosten sowie die Lösung von Spill-over-Problemen. Weiterhin können spezifische Probleme in Bezug auf die Funktionsfähigkeit des inteijurisdiktionellen Wettbewerbs auftreten. Hierzu gehört die Frage, ob durch Steuerwettbewerb um mobile Faktoren Ineffizienzen auftreten, wie z. B. die Unterversorgung mit öffentlichen Gütern oder eine zu geringe Redistribution. Weiterhin könnte ein inteijurisdiktioneller Wettbewerb bei Regulierungen zu einem zu geringen Regulierungsniveau fuhren (race to the bottom). Auch stellt sich die Frage, ob Politiker über adäquate Anreize zur Verbesserung der Standortbedingungen verfügen. Die vielfaltigen Vorteile und Nachteile von Zentralität und Dezentralität weisen darauf hin, dass sich die Frage nach der optimalen vertikalen Kompetenzverteilung nicht generell beantworten lässt, sondern dass bezogen auf die verschiedenen Arten von öffentlichen Gütern, Politikfeldem und rechtlichen Regelungen unterschiedliche Antworten zu geben sind. In integrierten Wirtschaftsräumen werden somit bestimmte Problembereiche zentral zu lösen sein, während andere j e nach den konkreten Bedingungen auf tieferen Jurisdiktionsebenen angesiedelt und damit dem inteijurisdiktionellen Wettbewerb ausgesetzt werden können. Die Umsetzung eines wettbewerbsföderalistischen Konzepts in einem integrierten Wirtschaftsraum erfordert folglich das Bestehen eines einheitlichen Ordnungsrahmens, in dem sowohl die Kompetenzen der Gebietskörperschaften innerhalb des Mehr-Ebenen-Systems von Gebietskörperschaften definiert und voneinander abgegrenzt als auch übergeordnete Regeln bereit gestellt werden müssen, die für die Funktionsfähigkeit des wettbewerbsföderalistischen Systems als Ganzes sorgen (Kerber 1998). Eine grundlegende Konsequenz der Erweiterung der (bisher außenhandelstheoretisch geprägten) Integrationstheorie um die Föderalismustheorie besteht darin, dass Integration nun nicht mehr verstanden werden muss als Übergang von mehreren, nicht in9
Zu den Innovationsvorteilen (wettbewerbs-)föderalistischer Systeme in Bezug auf die Politiken von Gebietskörperschaften vgl. Oates (1999, S. 1131 ff.); Kerber (2000a) sowie stärker modelltheoretisch Kollman, Miller und Page (2000).
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tegrierten Zentralstaaten zu einem großen neuen Zentralstaat, in dem alle Unterschiede zwangsläufig eingeebnet werden müssen. Vielmehr kann wirtschaftliche Integration - wesentlich realistischer - auch konzipiert werden als Transformation mehrerer Staaten zu einem föderalen Mehr-Ebenen-System von Gebietskörperschaften, das die Möglichkeit bietet, durch geschickte Gestaltung die Vorteile aus der Schaffung einheitlicher Güter- und Faktormärkte (durch Abbau von Mobilitätsbarrieren) mit den Vorteilen einer möglichst weitgehenden Dezentralität staatlicher Entscheidungen zu kombinieren. Zu letzteren gehört vor allem auch die Möglichkeit, einen erheblichen Teil der von Gebietskörperschaften angebotenen öffentlichen Leistungen nicht mehr monopolistisch, sondern wettbewerblich, d. h. durch inteijurisdiktionellen Wettbewerb kontrolliert, anzubieten. Während die bisherige Integrationstheorie darauf abzielte, durch Abbau von Mobilitätsbarrieren für Güter und Produktionsfaktoren, einheitliche, vom Wettbewerbsprinzip bestimmte (Güter- und Faktor-)Märkte innerhalb des integrierten Wirtschaftsraums zu erreichen, ermöglicht die Erweiterung um den Wettbewerbsföderalismus die Anwendung des Wettbewerbsprinzips auch auf die öffentlichen Leistungen von Gebietskörperschaften. Auf die europäische Integration übertragen könnte man davon sprechen, dass eine wettbewerbsföderalistische Konzeption der EU zu einem Binnenmarkt für Standorte bzw. zu einem Binnenmarkt für die öffentlichen Leistungen der Gebietskörperschaften fuhren würde. Anders ausgedrückt ermöglicht eine wettbewerbsföderalistische Erweiterung der Integrationstheorie, dass der Wettbewerb seine positiven Wirkungen sowohl auf den Märkten für private Güter und Produktionsfaktoren als auch auf den Standortmärkten erfüllen kann.10 3.3. Dezentralisierte Rechtssysteme, Regulierungswettbewerb und Rechtsföderalismus Hier soll nun noch einen Schritt weiter gegangen und zusätzlich das Rechtssystem thematisiert werden, denn auch hierfür stellt sich in integrierten Wirtschaftsräumen das Problem von Zentralität versus Dezentralität bzw. Einheitlichkeit versus Verschiedenartigkeit und die Frage eines möglichen Regulierungswettbewerbs. Benötigt ein integrierter Wirtschaftsraum ein harmonisiertes, einheitliches Recht? In Bezug auf die EU verweist dies auf die bereits angesprochene Diskussion über den Übergang vom Bestimmungsland- zum Ursprungslandprinzip durch die Cassis de DijoM-Rechtsprechung, die wechselseitige Anerkennung von Regulierungen, Möglichkeiten des Regulierungswettbewerbs, und auf die Notwendigkeit von (Minimum-)Harmonisierung und Rechtsangleichung. Aber die Frage stellt sich noch wesentlich grundsätzlicher: Benötigt eine wirtschaftliche Integration zum Beispiel ein einheitliches Zivilrecht? Interpretiert man beispielsweise - wie die Kommission in ihrer Mitteilung zum europäischen Vertragsrecht - faktisch alle Unterschiede zwischen den Vertragsrechten der Mitgliedstaaten als (zumindest Transaktionskosten verursachende) Hindernisse für den Binnenmarkt, so ist eine Argumentationslinie eingeschlagen, die - konsequent zu Ende gedacht - eine europäische Kodifikation als finale Lösung nahe legt. Demgegenüber wird in der rechtswissenschaftlichen Literatur meist nicht von der Notwendigkeit 10
Für Anwendungen wettbewerbsföderalistischer Überlegungen auf die EU vgl. z. B. Kirchner (1998); Frey und Eichenberger (1999); Kerber (2000b).
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eines vereinheitlichten Rechts ausgegangen, sondern es werden gerade auch die Vorteile von Diversität betont." Aus ökonomischer Perspektive lässt sich nun die Frage stellen, ob die Föderalismustheorie auch auf das Recht anwendbar ist (Rechtsföderalismus), d. h. es stellt sich die Frage nach den Vorteilen und Nachteilen von dezentralisierten Rechtssystemen (Kerber und Heine 2002). Kann man sich Mehr-Ebenen-Rechtssysteme vorstellen, in denen Rechtsetzungskompetenzen (und damit auch Regulierungskompetenzen) auf unterschiedliche jurisdiktionelle Ebenen verteilt sind? Was wären die Kriterien für die vertikale Allokation von Rechtsetzungskompetenzen? Inwieweit kann es dabei auch zu einem Wettbewerb zwischen rechtlichen Regeln (Regulierungen) kommen und wie ist dessen Funktionsfahigkeit zu beurteilen? Könnte folglich in einem integrierten Wirtschaftsraum ein Mehr-Ebenen-System von Gebietskörperschaften mit ihren je eigenen Rechtsetzungskompetenzen bestehen, das (1) zur Existenz unterschiedlicher rechtlicher Regelungen im Integrationsraum führen würde und (2) bei Mobilität von Wirtschaftssubjekten und Produktionsfaktoren auch implizieren würde, dass diese zwischen verschiedenen rechtlichen Regeln wählen können? Die traditionelle Föderalismustheorie hatte sich ebenso wie die 7ie6oui-Literatur zum inteijurisdiktionellen Wettbewerb weitgehend auf die Bereiche öffentliche Güter und Steuern beschränkt und rechtliche Regeln und Regulierungen aus ihrer Analyse ausgeblendet. Erst in den späten 1980er Jahren begann man, das Problem des Regulierungswettbewerbs als generelle Fragestellung zu thematisieren.12 Dagegen wurde die generelle Frage nach Zentralität und Dezentralität des Rechts und damit die Frage nach den Möglichkeiten dezentralisierter Rechtssysteme bis vor kurzem höchstens punktuell thematisiert. Insofern steht eine systematische Anwendung föderalismustheoretischer Überlegungen auf das Recht noch weitgehend aus. Die faktische Notwendigkeit, über die Entwicklung einer allgemeinen Theorie von konsistenten Mehr-Ebenen-Rechtssystemen nachzudenken, ergibt sich dabei direkt aus der bereits jetzt bestehenden ZweiEbenen-Struktur des Rechts in der EU und der sich zunehmend darüber legenden Schicht von internationalen rechtlichen Regeln als weiterer dritter Ebene. Insofern stellt sich auch für das Recht die Frage, auf welcher jurisdiktionellen Ebene welche Rechtsetzungskompetenzen angesiedelt werden sollen. Erste Ansätze, wie die Föderalismustheorie auf das Recht angewendet werden könnte, sind bereits entwickelt worden. Letztlich geht es - ähnlich wie bei der Gestaltung von Mehr-Ebenen-Systemen von Gebietskörperschaften - auch hier um die Frage, welche Kriterien für die vertikale Allokation von Rechtsetzungskompetenzen in einem Mehr-Ebenen-Rechtssystem anzuwenden wären, und welche übergeordneten Regeln wiederum notwendig wären (Metarechtsordnung), um trotz der weitgehenden Dezentralität von Rechtsetzungskompetenzen eine in sich konsistente und funktionsfähige Gesamtrechtsordnung zu erreichen. In ähnlicher Weise wie in Abschnitt 3.2. lässt sich auch hier eine Anzahl von Vor- und Nachteilen zentraler und dezentraler Rechtset" Für eine generelle rechtswissenschaftliche Diskussion um die Vor- und Nachteile von Einheitlichkeit und Unterschiedlichkeit des Rechts vgl. Kötz (1986) und Behrens (1986). 12 Dies gilt nicht für das bereits früher thematisierte Phänomen des Regulierungswettbewerbs im US-amerikanischen Gesellschaftsrecht; vgl. genauer den folgenden Abschnitt 3.4.
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zungskompetenzen aufzeigen. Eine sich hieraus ableitende vorläufige Liste von Kriterien umfasst z. B. statische und dynamische Skalenvorteile bei der Rechtsproduktion, Informationskosten, Pfadabhängigkeiten in der Rechtsentwicklung, Komplementarität von Rechtsregeln, räumliche Homogenität/Heterogenität von Präferenzen und Bedingungen, politische Transaktionskosten, räumliche Reichweite von Problemen (Spillover-Effekte, Externalitäten), Rent-seeking-Überlegungen, Dezentralität von Wissen sowie Vorteile aus Experimentierungs- und Lernprozessen (Innovations- und Anpassungsfähigkeit). 13 Darüber hinaus ist auch systematisch zu prüfen, inwieweit in dezentralisierten MehrEbenen-Rechtssystemen Wettbewerbsprozesse zwischen rechtlichen Regeln und Regulierungen auftreten und ob diese funktionsfähig sein können. Bei der Frage des Regulierungswettbewerbs ist es notwendig, zwischen verschiedenen Arten von Regulierungswettbewerb zu differenzieren. Selbst in integrierten Wirtschaftsräumen, in denen die Mobilität von Gütern und Produktionsfaktoren gesichert ist, können immer noch zwei verschiedene Grundtypen des Regulierungswettbewerbs auftreten. Ein Regulierungswettbewerbstyp (Typ III) bezieht sich auf die Möglichkeit, durch die Migration zwischen verschiedenen Gebietskörperschaften (jurisdiktioneller Wettbewerb) auch Rechtsregime zu wechseln, wodurch auch rechtliche Regeln als Teil des Steuer-Leistungs-Pakets von Gebietskörperschaften in Wettbewerb geraten. Dagegen liegt ein anderer Regulierungswettbewerbstyp (Typ IV) vor, wenn Wirtschaftssubjekte die Möglichkeit haben, in bestimmten Bereichen direkt das Recht einer anderen Gebietskörperschaft innerhalb des integrierten Wirtschaftsraums zu wählen, ohne ihren Standort in die entsprechende Gebietskörperschaft verlagern zu müssen (freie Rechtswahl). 14 Ebenso wie in Abschnitt 3.2. kann es folglich auch bei der Frage nach Zentralität und Dezentralität rechtlicher Regelungen in einem integrierten Wirtschaftsraum keine pauschalen Antworten geben. Vielmehr ist je nach den konkreten Bedingungen und der Art der Regulierung im Einzelnen zu prüfen, auf welcher Ebene eines Mehr-EbenenRechtssystems Rechtsetzungskompetenzen zugeordnet werden sollen, ob und welcher Typ von Regulierungswettbewerb möglich ist, und welche übergeordneten Regeln notwendig sind, um die Funktionsfähigkeit der Gesamtrechtsordnung in dem integrierten 13
Vgl. genauer Kerber und Heine (2002); Bratton und McCahery (1997) und Van den Bergh (2002). Für erste Versuche einer Anwendung solcher Kriterien auf das Wettbewerbsrecht vgl. Van den Bergh und Camesasca (2001); Kerber (2003) sowie für eine Anwendung auf das europäische Vertragsrecht Grundmann und Kerber (2002). Für eine umfassende rechtswissenschaftliche Arbeit zum Wettbewerb der Privatrechtsordnungen im Europäischen Binnenmarkt vgl. Kieninger (2002).
14
Zu dieser Differenzierung in verschiedene Regulierungswettbewerbstypen vgl. Kerber (2000a) sowie Heine (2003a). Regulierungswettbewerbstyp (I) bedeutet einen reinen Yardstick-Wettbewerb, bei dem die Jurisdiktionen vollkommen isoliert sind, aber sich gegenseitig beobachten können, so dass Vorteile aus parallelen Experimentierungsprozessen und wechselseitigem Lernen möglich sind (keine Mobilität von Gütern und Produktionsfaktoren). Bei dem Regulierungswettbewerbstyp (II) liegt dagegen freie Mobilität von Gütern, aber keine Mobilität von Produktionsfaktoren vor (Annahmen der normalen Außenhandelstheorie), so dass Regulierungen verschiedener Länder in einen indirekten Wettbewerb über den Wettbewerb auf internationalen Gütermärkten geraten. Für integrierte Wirtschaftsräume sind folglich nur die oben angesprochenen Regulierungswettbewerbstypen (III) und (IV) relevant.
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Wirtschaftsraum sicherzustellen. Damit fügt sich die Frage nach einem föderalen MehrEbenen-Rechtssystem in die in Abschnitt 3.2. skizzierte wettbewerbsföderalistische Konzeption eines integrierten Wirtschaftsraums ein und stellt letztlich einen Teil des föderalen Mehr-Ebenen-Systems von Gebietskörperschaften innerhalb eines integrierten Wirtschaftsraumes dar. Als Ergebnis lässt sich somit festhalten, dass eine allgemeine Theorie des Rechtsföderalismus die Perspektive eröffnet, eine institutionelle Alternative zu einem zentralisierten Einheitsrecht, wie es die traditionelle außenhandelstheoretisch geprägte Integrationstheorie nahe legt, anzubieten. Die Komplexität aber auch die Aktualität dieser Problemstellungen wird im folgenden Fallbeispiel über das Gesellschaftsrecht in der Europäischen Union verdeutlicht. 3.4. Gesellschaftsrecht in der Europäischen Union 3.4.1. Die Ordnung des europäischen Gesellschaftsrechts Die juristische Idee des Gesellschaftsrechts ist es, Vermögens- und Haftungsmassen rechtlich von natürlichen Personen zu trennen. Diese Logik liegt allen Gesellschaftsrechtsordnungen zugrunde (Neßler 2000, S. 1). Allerdings zeigen sich zwischen Staaten zum Teil ganz erhebliche Unterschiede im gesellschaftsrechtlichen Detail, wobei diese Unterschiede in Europa aufgrund der unterschiedlichen rechtlichen Traditionen (Common Law, Code Civil, BGB, skandinavischer Rechtskreis) besonders prägnant zu Tage treten. Diese Rechtsunterschiede sind so lange kein größeres Problem, wie Gesellschaften nur innerhalb einer Rechtsordnung wirtschaftlich aktiv sind. Dies ändert sich jedoch in dem Moment, wenn wie im Prozess der europäischen Integration vermehrt grenzüberschreitende Transaktionen unternommen werden sollen, die sich auch auf den Sitz der Gesellschaft beziehen. Zu nennen sind hier insbesondere: Sitzverlegungen, Kooperationen oder Fusionen von Gesellschaften. In solchen Fällen kann es zu Konflikten zwischen verschiedenen Rechtsordnungen kommen, weil geklärt werden muss, welches Gesellschaftsrecht maßgeblich ist für die rechtliche Organisation eines Unternehmens. Es besteht deshalb die Notwendigkeit von prozessualen Regelungen, die eine Entscheidung über das anzuwendende Recht treffen. Solche Regelungen über die Zuordnung von Recht tragen den Namen ,Kollisionsrecht' und die Beschäftigung mit ihnen stellt eine Spezialdisziplin innerhalb des Internationalen Privatrechts dar.15 Grundsätzlich gibt es für Staaten zwei Möglichkeiten, kollisionsrechtliche Probleme im Gesellschaftsrecht zu lösen. Die so genannte Sitztheorie verlangt von Gesellschaften, die ihren Firmensitz ins Ausland verlegen, dass die Gesellschaft aufgelöst wird und sich erst dann im Ausland neu gründen kann. Die kollisionsrechtliche Alternative zur Sitztheorie ist die so genannte Gründungstheorie. Nach dieser Konzeption sind Sitzverlegungen zwischen Staaten ohne Formwechsel möglich. Eine Gesellschaft, die es für sinnvoll erachtet, ihren Firmensitz ins Ausland zu verlegen, kann dies unter Beibehaltung ihres ursprünglichen Gesellschaftsrechts tun. Eine niederländische BV (Beslooten
15
Siehe beispielsweise das Lehrbuch von Kroppholler (1997).
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Vennootschap) kann beispielsweise in Deutschland uneingeschränkt ihrer Wirtschaftstätigkeit nachgehen und ist mit ihrem Statut uneingeschränkt parteifähig. Obwohl im EG-Vertrag (Art. 43 und Art. 48) die Niederlassungsfreiheit für juristische Personen verbrieft ist, herrschte lange Unklarheit darüber, welche Konsequenz dies für die anzuwendende kollisionsrechtliche Regel hat. Konkret: Ist ein Regime der Sitztheorie mit der Niederlassungsfreiheit des EG-Vertrags vereinbar, so wie es insbesondere von deutschen Juristen propagiert wurde? Hier kann nicht die über Jahrzehnte von Juristen sehr kontrovers geführte Debatte über diese Frage nachgezeichnet werden; jüngste Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes weisen aber mittlerweile eindeutig in die Richtung, dass eine Anwendung der Sitztheorie mit dem EG-Vertrag unvereinbar ist (Centros C-212/97, Überseering C-208/00 sowie die noch anhängige Entscheidung Inspire-Art C-167/01). 16 So mag Deutschland aus seinem nationalen Kollisionsrecht heraus zwar weiterhin die Sitztheorie vertreten, prozessual wird das nationale Kollisionsrecht aber nun vom EG-Vertrag überformt, mit der Folge, dass das nationale deutsche Kollisionsrecht für EU-Fälle unanwendbar wird. Aus ökonomischer Sicht wird man daher sagen können, dass das Kollisionsrecht im Bereich des europäischen Gesellschaftsrechts faktisch auf EU-Ebene angesiedelt ist und den institutionellen Rahmen absteckt, unter dem sich das europäische Gesellschaftsrecht in Zukunft entwickeln wird. 3.4.2. Wirkungsanalyse der Gründungstheorie Mit der Durchsetzung der Gründungstheorie als Metaregel für die Ordnung des europäischen Gesellschaftsrechts haben wir offensichtlich WettbewerbsfÖderalismus im Bereich gesellschaftsrechtlicher Regulierungen vorliegen. Denn zum einen ist Dezentralität gegeben, weil die Mitgliedstaaten ihr spezifisches Gesellschaftsrecht behalten, und zum anderen wird Mobilität ermöglicht, da Unternehmen vergleichsweise problemlos zwischen den gesellschaftsrechtlichen Angeboten der Mitgliedstaaten wählen können. Die Erfüllung der Kriterien für das Vorliegen von WettbewerbsfÖderalismus sagt freilich noch nichts darüber aus, ob der angestoßene Wettbewerbsprozess auch zu erwünschten Marktergebnissen führt. Es ist deshalb zu fragen, ob die Kollisionsnorm der Gründungstheorie eine geeignete Metaregel ist oder ob nicht eher die Sitztheorie als Metaregel fungieren sollte. In den Vereinigten Staaten, in denen die Gründungstheorie Gültigkeit besitzt, hat diese Frage in den letzten Jahrzehnten große Aufmerksamkeit genossen. 17 Die Diskussion kreist dabei um die Frage, dass unter der Gründungstheorie durch die Erweiterung der Rechtswahlmöglichkeiten (Choice of Law) wohl ein scharfer Regulierungswettbewerb herrschen mag, dies aber nicht gleichbedeutend damit sei, dass von den in Wettbewerb stehenden Jurisdiktionen auch ein effizienzsteigemdes Gesellschaftsrecht angeboten würde (Heine 2003a). Von den Gegnern der Gründungstheorie wird am Beispiel des US-amerikanischen Gesellschaftsrechts argumentiert, dass von den um Inkorporationen konkurrierenden 16
17
Zur Überseering-Entscheidung siehe Eidenmüller (2002); Schanze und Jüttner (2003) sowie Heine (2003b). Für einen Literaturüberblick siehe Romano (1993) sowie jüngst Kahan und Kamar (2002).
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Jurisdiktionen ein immer laxer werdendes Gesellschaftsrecht angeboten würde. Jurisdiktionen könnten beispielsweise den Gläubigerschutz lockern, die Rechte von Minderheitsgesellschaftem schwächen oder die Haftung der Geschäftsleitung vermindern, um Unternehmen zur Annahme ihres Gesellschaftsrechts zu bewegen. Da diese Strategie von allen Bundesstaaten betrieben würde, käme es zu einer kontinuierlichen Erosion des Gesellschaftsrechts und am Ende eines solchen ,race to the bottom' stünden Gesellschafter und gegebenenfalls Gläubiger ohne gesellschaftsrechtlichem Schutz da. Beschleunigt werde dieser Abwärtsprozess zudem, weil die Bundesstaaten für die Benutzung ihrer Rechtsformen eine Rechtsformsteuer (franchise tax) erheben (siehe Abbildung 2). Je mehr Inkorporationen ein Bundesstaat hat, desto größer sind also seine Steuereinnahmen. Darüber hinaus profitieren auch ortsansässige Anwälte und Hotelbetriebe von einer großen Anzahl an Inkorporationen, weil ein Großteil gesellschaftsrechtlicher Streitigkeiten am Irikorporationsort verhandelt werden muss. Diese Interessengruppen würden sich daher ebenfalls für ein laxes Gesellschaftsrecht einsetzen. Als ein weiteres Indiz für die mangelnde Funktionsfähigkeit des gesellschaftsrechtlichen Wettbewerbs in den Vereinigten Staaten wird zudem angeführt, dass die Bundesstaaten offenbar den im Bundesstaat beheimateten Großunternehmen besondere rechtliche Schutzmaßnahmen bieten, die die Effizienz des Marktes für Unternehmenskontrolle vermindern (Carney 1997). Abbildung 2: Einnahmen aus der „franchise tax" in % des Gesamtsteueraufkommens in den Jahren 1960 bis 1990 in ausgewählten US-Bundesstaaten Jahr Staat Alabama Delaware Kalifornien Louisiana Nevada New Jersey New York Pennsylvania Tennessee Texas Wyoming
1960
1970
1980
1990
3,1 13,7 0,1 3,2 1,1 8,7 0,2 5,4 2,7 7,6 0,4
2,3 22,5 0,1 3,1 0,6 k.A 0,1 4,5 2,6 5,7 0,3
2,4 12,9 0,02 2,8 0,5 3,7 0,1 3,9 2,4 5,2 0,2
2,7 17,7 0,1 6,3 0,4 1,3 0,1 4,6 4,6 4,1 0,3
Quelle: Nach Romano (1993, S. 10 ff.). Auch wenn der Wettbewerbsprozess ,nach unten' im Detail sicherlich viel komplexer ist als er hier skizziert werden konnte, lautet die klare Botschaft der Gegner eines Wettbewerbs zwischen Gesellschaftsrechten: Die Gründungstheorie ist eine Kollisionsnorm, die nicht nur einzelne Investoren der Problematik eines sich für sie stetig verschlechternden Gesellschaftsrechts aussetzt, sondern letztlich ganze Volkswirtschaften negativ belastet.' 8 Die Befürworter der Gründungstheorie argumentieren demgegenüber, dass der Regulierungswettbewerb zwischen Gesellschaftsrechten in den Vereinigten Staaten in den 18
Kritisch wird der Wettbewerb zwischen Gesellschaftsrechten insbesondere eingeschätzt von Cary (1974); Bebchuk (1989,1992); Charny (1991) sowie neuerdings Bebchuk und Ferrell (2000).
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letzten Jahrzehnten sicherlich zu einer Deregulierung des Gesellschaftsrechts geführt habe. Dabei seien jedoch nicht die Interessen der Investoren verletzt worden, sondern im Gegenteil, der Regulierungswettbewerb verhindere gerade, dass Interessengruppen vermittelt über den politischen Prozess das Gesellschaftsrecht zur Umverteilung von Renten missbrauchen könnten. Zudem würde eine Vielzahl an mehr oder weniger verschiedenen Gesellschaftsrechten den unterschiedlichen Regulierungspräferenzen von Unternehmen besser gerecht als ein harmonisiertes ,Durchschnittsgesellschaftsrecht'. Die Verschiedenartigkeit und der Wettbewerb von Gesellschaftsrechten trage außerdem dem Wissensproblem Rechnung, dass oftmals das optimale institutionelle Design gesellschaftsrechtlicher Regulierungen nicht bekannt sei und die Wahrscheinlichkeit des Auftritts wohlfahrtssteigemder gesellschaftsrechtlicher Innovationen bei dezentralen rechtlichen Experimentierungsprozessen steige (Easterbrook 1994)." Belegt wird die Ansicht, dass Wettbewerb zwischen Gesellschaftsrechten wohlfahrtssteigemd ist, damit, dass der Firmenwert von Unternehmen, die im Bundesstaat Delaware inkorporiert sind, signifikant höher ist als von Unternehmen, die in anderen Bundesstaaten inkorporiert sind (Daines 2001). Dies liege u. a. daran, dass Delaware besonders an Inkorporationen interessiert sei und seit vielen Jahren eine führende Rolle im Wettbewerb um Inkorporationen einnehme. Delaware hat mit weitem Abstand die meisten Inkorporationen von börsennotierten Unternehmen und kann regelmäßig bis zu 20 % seines Staatsbudgets aus der erhobenen Rechtsformsteuer speisen (Abbildung 2). Außerdem zeige sich am Beispiel Delawares deutlich, dass das Gesellschaftsrecht nicht den Wünschen der Manager folge, sondern den Wünschen der Investoren. So habe Delaware übemahmefeindliche Regelungen nur mit großer Verzögerung in sein Gesellschaftsrecht übernommen und zudem nur in abgeschwächter Form. Pennsylvania, das besonders übernahmefeindliche Regelungen eingeführt habe, habe hingegen einen Exodus an Unternehmen aus seinem Gesellschaftsrecht verzeichnen müssen (Romano 1993). Insgesamt wird also von den Anhängern eines föderal und wettbewerblich organisierten Gesellschaftsrechts davon ausgegangen, dass die Gründungstheorie zu einem ,race to the top' führt, in dem permanent das Gesellschaftsrecht innovativ den Bedürfnissen der Unternehmen angepasst wird. Dabei wird gleichzeitig angenommen, dass die permanenten Anpassungen des Gesellschaftsrechts auch volkswirtschaftlich vorteilhaft seien. Denn Unternehmen könnten es sich langfristig gar nicht erlauben, ein ineffizientes Gesellschaftsrecht nachzufragen, da ansonsten Investoren ausblieben. Jurisdiktionen würden umgekehrt kein ineffizientes Gesellschaftsrecht anbieten, da die Rechtsformsteuereinnahmen letztlich davon abhingen, dass die inkorporierten Unternehmen prosperieren. 3.4.3. Folgerungen für das Gesellschaftsrecht in der EU
Aus dieser zweiten Perspektive könnte man also argumentieren, dass es der Europäischen Union zu empfehlen sei, wenn die Niederlassungsfreiheit für Unternehmen im Sinne der Gründungstheorie interpretiert würde. Bislang hat die theoretische und empirische Forschung zwar keinen eindeutigen Beleg für die Richtigkeit der einen oder an" Dass der Wettbewerb zwischen Gesellschaftsrechten zu einem ,race to the top' fuhrt, wird insbesondere von Easterbrook und Fischel (1996); Romano (1985, 1993) sowie Carney (1998) vertreten.
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deren Sichtweise über die Ergebnisse eines Regulierungswettbewerbs im Gesellschaftsrecht ergeben; in den letzten Jahren scheinen allerdings die Argumente der Befürworter eines schärferen Regulierungswettbewerbs und der Gründungstheorie - gestützt auf empirische Untersuchungen - zunehmend mehr an Gewicht zu erlangen.20 Und auch in der deutschen Rechtswissenschaft setzt sich zunehmend die Auffassung durch, dass die Vorteile eines schärferen Regulierungswettbewerbs, der in eine föderale Ordnung eingebettet ist, die möglichen Gefahren wohl überwiegen dürften. So sieht beispielsweise Lutter (2000, S. 135) aufgrund der Vielzahl an EU-Richtlinien, die einen gesellschaftsrechtlichen Bezug haben (z. B. die Kapital-Richtlinie von 1976, die Richtlinie über interne Fusionen von 1978 oder die Spaltungs-Richtlinie von 1982), die Qualität des europäischen Gesellschaftsrechts auf alle Fälle gesichert. Damit wird aber auch deutlich, dass es beim Wettbewerb zwischen Gesellschaftsrechten in der EU keineswegs um einen unkontrollierten Wettbewerb geht. So hat der Europäische Gerichtshof bereits in der Centros-Entscheidung von 1999 festgestellt, dass der Gläubigerschutz durchaus ein legitimes Interesse einer nationalen Rechtsordnung sei. Es stelle sich aber die Frage, ob aus diesem berechtigten Schutzinteresse eine Behinderung der Mobilität von Gesellschaften folgen müsse oder ob nicht die Gläubigerinteressen mit einem weniger invasiven Mittel erreicht werden könnten (Grundsatz der Verhältnismäßigkeit). Ahnliches dürfte für die Unternehmensmitbestimmung gelten. Aus der in Deutschland verankerten Untemehmensmitbestimmung kann nämlich nicht resultieren, dass fremden Gesellschaften in Deutschland die Niederlassung unter Beibehaltung ihrer Form verweigert wird. Andererseits stellt die Mitbestimmung ein legitimes Regulierungsinteresse Deutschlands dar. Aus diesem Spannungsverhältnis folgt, dass in dem gesellschaftsrechtlich relevanten Bereich eine vertikale Kompetenzverteilung zwischen Mitgliedstaaten und EU gefunden werden muss, die das Recht auf Niederlassungsfreiheit einerseits sichert, andererseits aber eine Flucht deutscher Unternehmen aus der Mitbestimmung verhindert. Wie schwierig und komplex der Bereich der Mitbestimmung ist, lässt sich auch daran erkennen, dass in den Vereinigten Staaten die Frage der Untemehmensmitbestimmung in der Debatte um den Wettbewerb im Gesellschaftsrecht bislang keine Rolle gespielt hat, während sie in der EU über Jahrzehnte die entscheidende Frage war, die sowohl die gegenseitige Anerkennung der Gesellschaftsrechte verhinderte als auch die Einigung zur Einführung einer europäischen Aktiengesellschaft (Societas Europaea) blockierte. 4. Die wettbewerbsföderalistische Sicht wirtschaftlicher Integration aus ordnungsökonomischer Perspektive - ein Fazit Die Perspektiven der Außenhandelstheorie und der Föderalismustheorie auf das Problem der wirtschaftlichen Integration sind als komplementär zu betrachten. Während 20
Romano (1993); Carney (1997, 1998) und Ribstein (2002). Befürworter eines schärferen Regulierungswettbewerbs im Gesellschaftsrecht sind auch Kahan und Kamar (2002), wobei sie jedoch auf das Problem der Pfadabhängigkeit rechtlicher Regeln hinweisen. Rechtliche Pfadabhängigkeiten können nämlich ein Hindernis für einen reibungslosen Wettbewerbsprozess im Gesellschaftsrecht darstellen. Siehe zum Problem gesellschaftsrechtlicher Pfadabhängigkeiten auch Heine und Kerber (2002).
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in frühen Phasen der wirtschaftlichen Integration der Abbau von Zöllen und nicht-tarifaren Handelshemmnissen ganz im Mittelpunkt stehen, geraten mit zunehmend sich vertiefender Integration die Probleme der konkreten Gestaltung der institutionellen Struktur innerhalb des integrierten Wirtschaftsraums in den Fokus. Je größer dabei der zu in tegrierende Raum ist, desto wahrscheinlicher ist eine Zunahme der Heterogenität zwischen den Regionen des Integrationsraumes und desto größer werden die Vorteile föderaler Mehr-Ebenen-Strukturen sein. Dabei eröffnet die föderalistische Sichtweise die Möglichkeit der Einbeziehung des inteijurisdiktionellen (Standort-)Wettbewerbs als ein wichtiges Anwendungsfeld des Wettbewerbsprinzips in integrierten Wirtschaftsräumen. Insofern ist es verfehlt, die letzte Stufe der Integration, die in Abbildung 1 als Wirtschaftsunion bezeichnet wurde, mit der Harmonisierung oder Vereinigung der Wirtschaftspolitiken gleichzusetzen. Vielmehr wäre an dieser Stelle über die adäquate Gestaltung eines in sich konsistenten föderalen Mehr-Ebenen-Systems von Gebietskörperschaften nachzudenken, wobei dann jeweils zu klären wäre, welche wirtschaftspolitischen Kompetenzen welcher Ebene zuzuordnen wären. Am Ende des Integrationsprozesses stünde folglich kein vereinheitlichter Zentralstaat, sondern ein föderales MehrEbenen-System mit einem möglichst optimalen Mischungsverhältnis von Zentralität und Dezentralität. Eine .Vereinigung' würde nur insofern stattfinden, als im Laufe des Integrationsprozesses aus mehreren souveränen Staaten ein einheitliches, konsistentes föderales Mehr-Ebenen-System gebildet würde. Ebenso würde der Begriff der Integration nicht vordergründig mit Vereinheitlichung und Harmonisierung gleichgesetzt, sondern mit der Entstehung eines in sich konsistenten, integrierten Systems von Gebietskörperschaften, innerhalb dessen geeignete Regeln für ein möglichst gutes Funktionieren von gemeinsamen Güter-, Faktor- und Standortmärkten sorgen sollten, die die Präferenzen der Bürger in Bezug auf private Güter und öffentliche Leistungen möglichst effizient befriedigen. Eine solche föderalistische Erweiterung der Integrationstheorie erfordert auch eine wesentlich komplexere ordnungsökonomische Konzeption. Die Vorstellung eines einheitlichen Ordnungsrahmens, innerhalb dessen Marktprozesse ablaufen, ist deshalb systematisch zu erweitern zu einer Konzeption von komplexen Mehr-Ebenen-Ordnungen. Interpretiert man die institutionellen Strukturen von Gebietskörperschaften als das Angebot einer Ordnung für mobile Individuen, Firmen und Produktionsfaktoren, so wird innerhalb eines föderalen Systems von Gebietskörperschaften eine Vielfalt unterschiedlicher Ordnungen angeboten, zwischen denen - nach dem Abbau von Mobilitätsbarrieren - frei gewechselt werden kann und die deshalb auch in Wettbewerb zueinander stehen. Inteijurisdiktioneller Wettbewerb und Regulierungswettbewerb können deshalb auch als Ordnungswettbewerb verstanden werden, 2 ' der jedoch für seine Funktionsfähigkeit wiederum eine Ordnung im Sinne von übergeordneten Regeln (und damit im Sinne der Euckenschen Wettbewerbsordnung) benötigt. Eine wettbewerbsföderalistische Integrationskonzeption erfordert somit eine komplexere Ordnungsökonomik, die Mehr-Ebenen-Ordnungen zulässt.
21
In Beiträgen zum Systemwettbewerb wurde dieser Aspekt immer klar herausgearbeitet; vgl. z. B. Streit (1996); Vanberg (2001).
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Eine zentrale Konsequenz dieser Überlegungen besteht darin, dass Unterschiedlichkeit institutioneller Strukturen in solchen föderalen Mehr-Ebenen-Systemen systematisch zugelassen werden muss. Denn Unterschiedlichkeit ist nicht nur eine logische Konsequenz von Dezentralität, in der sich unterschiedliche Präferenzen und Bedingungen widerspiegeln, sondern die Zulassung von Vielfalt ist auch eine Voraussetzung für die Funktionsfahigkeit von inteijurisdiktionellen Wettbewerbsprozessen. Nur wenn Gebietskörperschaften Freiheitsspielräume haben, unterschiedliche Pakete von öffentlichen Gütern, Steuern und Regulierungen auf dem Standortmarkt auszuprobieren, können die inteijurisdiktionellen Wettbewerbsprozesse Wissen über die optimalen Steuer-LeistungsPakete von Jurisdiktionen (Standortleistungen) generieren (Kerber 1998). Eine Integrationspolitik, die auf der Basis des Arguments des Abbaus aller Handelshemmnisse für Gütermärkte alle institutionellen Unterschiede zwischen Gebietskörperschaften als potenziell problematisch ansieht und damit deren Harmonisierung nahe legt, steht in der Gefahr, die Vorteile von Dezentralität und Vielfalt einerseits und inteijurisdiktionellen Wettbewerbsprozessen andererseits zu ignorieren und gegebenenfalls zu eliminieren.
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Dieter Cassel und Paul J.J. Weifens (Hg.) Regionale Integration und Osterweiterung der Europäischen Union Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft • Band 72 • Stuttgart • 2003
Marktöffnung und Wettbewerb bei regionaler Integration
Hartmut Berg und Stefan Schmitt
Inhalt 1. Funktionelle Integration: Zielerreichung durch Wettbewerb in einem Gemeinsamen Markt
130
2. Verzögerte Marktöffiiung durch erfolgreiches Rent-Seeking: Die Fiat S.p.A. und der Wettbewerb auf dem italienischen Pkw-Markt
134
3. Marktöffiiung durch Deregulierung: Das Beispiel des europäischen Luftverkehrs
141
4. Beschränkungen des Dienstleistungsverkehrs: Die deutsche Handwerksordnung
148
5. Fazit: Marktöffiiung als Prozess und Aufgabe
153
Literatur
154
130
Hartmut Berg und Stefan Schmitt
1. Funktionelle Integration: Zielerreichung durch Wettbewerb in einem Gemeinsamen Markt Der Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft - sie bildet das Referenzsystem der folgenden Darstellung - zielte zunächst vor allem auf die Bildung einer Zollunion. In Art. 9 EWGV heißt es: „Grundlage der Gemeinschaft ist eine Zollunion, die sich auf den gesamten Warenaustausch erstreckt; sie umfasst das Verbot, zwischen den Mitgliedstaaten Ein- und Ausfuhrzölle und Abgaben gleicher Wirkung zu erheben, sowie die Einführung eines Gemeinsamen Zolltarifs gegenüber dritten Ländern." Die Zollunion sollte sodann zu einem Gemeinsamen Markt fortentwickelt werden, zu „einem Binnenmarkt, der durch die Beseitigung der Hindernisse für den freien Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedstaaten gekennzeichnet ist" (Art. 3 lit. c EGV). Der Vertrag schreibt vor, dass der Wettbewerb innerhalb des Binnenmarktes vor Verfälschungen zu schützen ist (Art. 3 lit. g EGV); ferner soll eine Angleichung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften erfolgen, soweit dies für das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes erforderlich ist (Art. 3 lit. h EGV). Durch die Beschlüsse von Maastricht wurde die Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten zudem „dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet" (Art. 4 Abs. 1 EGV). Die Überlegungen, die dem damit verfolgten Konzept einer so genannten funktionellen Integration zu Grunde liegen, lassen sich etwa wie folgt skizzieren (Predöhl und Jürgensen 1961; Balassa 1961; Sannwald und Stohler 1961; Sattler 1967; Berg 1972): Durch die Öffnung zuvor vielfach gegeneinander abgeschirmter nationaler Märkte erhofft man sich einen Wettbewerb gesteigerter Intensität und von diesem eine Verwirklichung der angestrebten wirtschaftlichen Ziele eines zunehmenden Wohlstandes und einer verbesserten Konsumentenversorgung. Leistungsstarken Unternehmen eröffnet sich die Möglichkeit zum Engagement auf ihnen zuvor verschlossenen Märkten. Es kommt zu Markteintritten, die den Wettbewerb stimulieren. Weniger leistungsstarke Unternehmen geraten verstärkt unter Druck. Sie müssen ihre Effizienz steigern, wenn sie nicht Gefahr laufen wollen, vom Markt verdrängt zu werden. Der nun entstehende größere Markt gestattet es, mögliche Massenproduktionsvorteile (Economies of Scale) besser als zuvor zu nutzen. Der Konsument sieht sich mit einer größeren Vielfalt von Angeboten umworben. Gegenüber dem Status-quo-Ante kann er unter Sortimenten wählen, die differenzierter und damit attraktiver geworden sind. Der Wettbewerb drückt mit gesteigerter Wirksamkeit auf Kosten und Preise. Er fuhrt zu einer höheren Innovationsrate und fordert die Anpassungsflexibilität. All dies ist gleichbedeutend mit einer zunehmenden Verwirklichung der durch den Prozess wirtschaftlicher Integration angestrebten Ziele: Die erzielten Produktivitätsfortschritte ermöglichen höhere Wachstumsraten des realen Bruttoinlandsproduktes als sie die Integrationspartner bei Fortschreibung des Status quo ante hätten erhoffen können. Steigender Wettbewerbsdruck reduziert die Preiserhöhungsspielräume und verbessert somit die Erfolgschancen einer Politik, die die Inflationsrate niedrig zu halten versucht. Zusätzlich gewonnene Wachstumsdynamik fuhrt schließlich auch zu mehr Beschäftigung.
Marktöffnung und Wettbewerb bei regionaler
Integration
131
Der beschleunigte Produktivitätsfortschritt verbessert zudem die internationale Wettbewerbsfähigkeit und eröffnet damit die Chance, auch an den Wohlstandsgewinnen einer intensivierten Eingliederung in die übrige Weltwirtschaft teilzuhaben (vgl. Abbildung 1). Die Bildung der Zollunion wurde bereits am 1. Juli 1968 als abgeschlossen deklariert, zu einem Zeitpunkt also, der erheblich vor dem Ende der Übergangsperiode lag, das sich bei Ausschöpfen der vertraglichen Möglichkeiten zur Verzögerung ergeben hätte. Die Fortentwicklung der Zollunion zu einem Gemeinsamen Markt konnte dagegen nicht annähernd ähnlich zügig und erfolgreich betrieben werden. In einer Phase der Stagnation, in die der Integrationsprozess in den 1970er Jahren eintrat, musste sogar befurchtet werden, dass möglicherweise nicht einmal der bereits erreichte Integrationsgrad dauerhaft gesichert werden könne. Das Mitte der 1980er Jahre mit viel Geschick vom damaligen Präsidenten der EU-Kommission Jacques Delors initiierte Programm ,EU-Binnenmarkt 92' erbrachte zwar bedeutsame Fortschritte, doch gelang es nicht, den Binnenmarkt, wie gewollt und angekündigt, tatsächlich bis zum 31. Dezember 1992 uneingeschränkt zu vollenden. Noch heute besteht hier vielmehr in nicht unerheblichem Ausmaß Handlungsbedarf. Verzögerungen ergeben sich immer wieder daraus, dass der Rat sich häufig nur gewillt oder in der Lage sieht, Maßnahmen, die zur Verwirklichung des Binnenmarktes erforderlich sind, in Form von Richtlinien zu beschließen. Diese sind nur in ihren Zielen verbindlich, bedürfen also, um wirksam werden zu können, der Umsetzung in nationales Recht. Hier zeigen sich dann die Regierungen häufig erfahrungsgemäß wenig engagiert, weil sie aus wahltaktischen Erwägungen nicht gegen den Widerstand einflussreicher Interessengruppen zu handeln gewillt sind. Abbildung 1: Ausgewählte Effekte der Marktöffnung
Quelle: Eigene Darstellung.
Hartmut Berg und Stefan Schmitt
132
Im Oktober 2002 hatten die EU-Mitglieder im Durchschnitt 96 % der 1.550 Richtlinien, die zur Verwirklichung des Binnenmarktes bereits beschlossen wurden, in nationales Recht umgesetzt. Anfang 1992 lag dieser Anteil noch unter 80 %. Als Zielgröße hat die Kommission einen Wert von 98,5 % vorgegeben. Im Oktober 2002 wurde dieser Prozentsatz nur in Großbritannien (98,6), den Niederlanden (98,7), Dänemark (99,3), Finnland (99,4) und Schweden (99,6) übertroffen. Deutschland fuhrt mit 97,3 % das untere Drittel an; an letzter Stelle steht Frankreich mit 96,2 %. Die zuvor genannten relativ hohen Prozentzahlen könnten den Eindruck erwecken, dass es nur noch geringer Anstrengungen bedarf, um den angestrebten Binnenmarkt zu verwirklichen. Tatsächlich dürfte der hier bestehende Handlungsbedarf indes immer noch erheblich sein. So zeigt Abbildung 2, dass am 31. August 2002 gegen die Mitgliedstaaten der Europäischen Union nicht weniger als 1.505 Verfahren wegen Verletzung der Binnenmarkt-Prinzipen anhängig waren. Im Folgenden soll an drei exemplarischen Beispielen gezeigt werden, wodurch die angestrebte Marktöffnung verzögert werden kann und wie sich derartige Widerstände und Hemmnisse gegebenenfalls überwinden und beseitigen lassen. Der italienische Pkw-Markt der 1960er und 1970er Jahre bietet ein anschauliches Beispiel dafür, dass sehr große Unternehmen bedeutender Branchen gegenüber eher schwachen Regierungen Protektionismus durchsetzen und auch auf staatliche Hilfe beim Organisieren eigener eintrittsverhindernder Strategien hoffen können. Der europäische Luftverkehr zeigt, dass nationale Regulierungssysteme Märkte weit rigoroser und wirksamer abzuschotten vermögen als Zölle und dass es hier vor allem der Europäische Gerichtshof war, der die Öffnung dieser Märkte dadurch erzwungen hat, dass er den blockierten Marktzugang für Anbieter der jeweils betroffenen anderen Mitgliedstaaten als mit dem EG-Vertrag unvereinbar befand. Abbildung 2: Umsetzung von Rechtsvorschriften in der EU a) anhängige Vertragsverletzungsverfahren Schweden
3
32
Luxemburg
•
33
Dänemark
•
33
Finnland Portugal Niederlande Österreich Großbritannien
Z]
b) Anteil umgesetzter Vorschriften
•
M-ri 97.7
39 • ZU
SSI
51
98.7
62 D
79 J
107
Belgien
121
98.0
Irland
•
132
97.4
Griechenland
•
133
96.7
•
134
Spanien Deutschland
97,?
I 143
Italien Frankreich
IZGD
3S2I -e"
Quelle: Europäische Kommission (2002a, S. 7, S. 12); eigene Darstellung.
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Integration
133
Ein letztes Beispiel betrifft mit der deutschen Handwerksordnung eine Form staatlich legitimierter Wettbewerbsbeschränkung, die noch immer besteht, obwohl ihre Reform vom Europäischen Gerichtshof bereits mehrfach angemahnt wurde. Wie auch in den beiden anderen angesprochenen Branchen - Automobilindustrie und Luftverkehr - kann dabei auch für das deutsche Handwerk vermutet werden, dass der gewährte Schutz den Begünstigten langfristig eher schadet als nützt, weil Anpassungsprobleme nicht kontinuierlich in kleinen Schritten zur Bewältigung anstehen, sondern sich aufstauen, bis sie nur noch unter Hinnahme einer Krise gelöst werden können. Wieweit die drei aufgeführten Sachverhalte als Pars pro Toto genommen werden könne, also generalisierbar sind, ist eine Frage, die naturgemäß offen bleiben muss. In ihrer zeitlichen Abfolge indes können sie als typisch angesehen werden. In der ersten Phase des Integrationsprozesses war die angestrebte Marktöffnung vor allem gleichbedeutend mit der Beseitigung der Zölle und mengenmäßigen Handelsbeschränkungen im gegenseitigen Warenverkehr. In diese Zeit fallen auch die ersten Versuche, den entfallenden Zollsatz durch privatwirtschaftliche Arrangements zu ersetzen. So galt nicht von ungefähr eine der ersten Anwendungen des Art. 85 Abs. 1 EWGV (nunmehr Art. 81 Abs. 1 EGV) der Untersagung eines Vertriebssystems, das den jeweiligen Repräsentanten des deutschen Unternehmens Grundig in dem ihnen zugewiesenen Partnerstaat einen absoluten Gebietsschutz sichern sollte (Europäische Kommission 1964). Die Fiat S.p.A. bediente sich zwar anderer Mittel, auch ging es hier nur um die Erschwerung des Marktzutrittes für ausländische Unternehmen auf dem italienischen PkwMarkt; aber die Absicht, entfallenden Zollschutz durch privatwirtschaftlich organisierte Strategien der Wettbewerbsbeschränkung zu ersetzen, war auch hier offensichtlich. Unser zweites Beispiel erinnert daran, dass der EWGV in seiner ursprünglichen Fassung zumindest de facto und zunächst vor allem auf einen Gemeinsamen Markt für Industrieerzeugnisse abzielte. Für die Landwirtschaft war ein Ausnahmeregime vorgesehen, das dann im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik geschaffen wurde. Eine Wettbewerbslösung kam hier bis heute nicht zustande, sie wurde aber eben auch nicht angestrebt. Kaum in den Integrationsprozess eingebracht wurde der Bereich der Dienstleistungen. Ebenso blieb es beim Fortbestehen von Bereichen, die durch eine hohes Maß an Regulierung gekennzeichnet waren (Telekommunikation, Energiewirtschaft, Verkehr, Versicherungswirtschaft, Kreditgewerbe, öffentliches Beschaffungswesen). Hier kam es erst im Rahmen des Programms ,EU-Binnenmarkt 92' zu ersten Liberalisierungsschritten. Der Luftverkehr zeigt dabei in durchaus typischer Weise, wie zögernd die MarktÖffnung hier zunächst betrieben wurde. Auch unser drittes Beispiel, das der deutschen Handwerksordnung kann durchaus als repräsentativ angesehen werden. Es belegt nämlich die nicht eben seltene Erfahrung, dass nationale Regierungen sich unter dem Einfluss starker Interessengruppen nicht scheuen, nicht nur immer wieder erneuerte Ermahnungen der Kommission, sondern (solange sich dies als möglich erweist) auch Entscheidungen des EuGH zu ignorieren.
134
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2. Verzögerte Marktöffnung durch erfolgreiches Rent-Seeking: Die Fiat S.p.A. und der Wettbewerb auf dem italienischen Pkw-Markt Als der Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft am 1. Januar 1958 in Kraft trat, betrug der Zoll, der auf importierte Personenkraftwagen erhoben wurde, in Italien 46,8 %. Er war damit erheblich höher als in allen anderen Mitgliedstaaten. Entsprechend gering war mit weniger als zwei Prozent die Importquote. Es ist die Vermutung nahe liegend, das hohe Protektionsniveau des italienischen Pkw-Marktes als Ergebnis erfolgreicher Rent-seeking-Aktivitäten der Fiat S.p.A. zu deuten. Als seit langem größtes italienisches Unternehmen in privatem Eigentum (nämlich jenem der Familie Agnellif war Fiat einer der bedeutendsten Arbeitgeber.2 Das Prosperieren dieses Unternehmens entschied über das Wohl und Wehe einer großen Zahl von Zulieferern sowie von Händler- und Servicebetrieben. Es war offenkundig, dass eine Krise von Fiat so gravierende Folgen für die übrige italienische Volkswirtschaft haben würde, dass das Vermeiden einer derartigen Situation gleichermaßen im Interesses des Großaktionärs, der Arbeitnehmer, der Gewerkschaften, der Banken sowie zahlreicher anderer direkt oder indirekt betroffener Branchen und damit eben auch im Sinne der Regierung sein musste. Von der gesamten italienischen Automobilproduktion des Jahres 1958 entfielen 91,5 % auf die Fiat S.p.A. Die Alfa Romeo S.p.A., damals noch eine Tochtergesellschaft der staatlichen Holding IRI (Istituto per la Ricostruzione Industriale), bestritt 5,6 % der Produktion; auf die Lancia S.p.A. entfielen 2,8 %; nahezu bedeutungslos war damals schon die Innocenti Soc. Generale per l'Industria Metalúrgica e Meccanica. Auf dem damals wichtigsten Teilmarkt, dem Segment der unteren Preisklasse, war Fiat ohne Konkurrenz. Angeboten wurden drei Typen, der ,Fiat 500', der ,Fiat 600' und der ,Fiat 850'. Auch in der Mittelklasse, in der das Unternehmen mit dem Typ ,Fiat 1500' vertreten war, gab es keinen ernstzunehmenden Wettbewerber. Lancia bot nur ein einziges Modell an, dessen Preis deutlich höher war als der des ,Fiat 1500', so dass eine Konkurrenzbeziehung zwischen diesen Angeboten kaum gegeben war. Alfa Romeo bediente ausschließlich Märkte der oberen Preisklasse und erreichte auch hier nur eher bescheidene Stückzahlen. Der Marktanteil von Fiat lag in den 1950er Jahren regelmäßig bei etwa 80 %. Das Unternehmen wies damit eine marktbeherrschende Stellung auf, die in der europäischen Automobilindustrie so ausgeprägt in keinem anderen Land anzutreffen war. Die hohen Gewinne, die das Automobilgeschäft eintrug, verwendete die Familie Agnelli vornehmlich zur Diversifizierung. Erworben wurden Zulieferer, Versicherungen, Unternehmen des Maschinenbaus und der Metallverarbeitung. Man engagierte sich im Flugzeugbau und im Presse- und Verlagswesen. Hinzu kamen Akquisitionen im Tourismus und im '
Die Fabbrica Italiana Automobili Torino (FIAT) war (zunächst unter dem Namen Società per la Costruzione e il Commercio delle Automobili - Torino) am 1. Juli 1899 von Giovanni I. Agnelli mit sieben weiteren Gesellschaftern gegründet worden. Giovanni I. Agnelli übernahm in den folgenden Jahren Aktien anderer Gründungsgesellschafter, bis er noch vor Beginn des Ersten Weltkriegs zum größten Aktionär geworden war.
2
Im Jahre 1960 beschäftigte Fiat 137.000 Arbeitnehmer; geschätzt wurde damals, dass weitere 800.000 Erwerbstätige in der Sicherheit ihres Arbeitsplatzes und in der Höhe ihres Einkommens indirekt von Fiat abhängig waren; Avantario (2002, S. 126).
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Integration
Profi-Sport. Einen Überblick über die aktuellen Beteiligungsverhältnisse bei der Fiat S.p.A. gibt Abbildung 3. Der fehlende Wettbewerbsdruck auf dem heimischen Markt führte zu Versäumnissen und Ineffizienzen, die später zum Problem werden sollten. Die Modellpolitik war zu einseitig auf die Erfordernisse des italienischen Marktes ausgerichtet, um im Exportgeschäft attraktive Wachstumschancen eröffnen zu können. Die angebotenen Fahrzeuge galten als .untermotorisiert'. Auch die Qualität der Verarbeitung erreichte nicht die Standards, die auf wichtigen Auslandsmärkten gefordert wurden. So konnte es auch nicht überraschen, dass die Marktposition von Fiat im Ausland immer eher schwach blieb und dass man auf einem so wichtigen Markt wie dem der USA gar nicht präsent war. Die Produktionsstätten, die man in Italien betrieb, waren in der Mehrzahl veraltet. So war das Stammwerk Lingotto in Turin bereits in den 1920er Jahren erbaut worden. Was damals als spektakuläre Neuerung galt, sollte sich später als Ursache weit überdurchschnittlich hoher Stückkosten erweisen - die Praxis nämlich, die Fertigung auf mehreren Ebenen zu betreiben. Wenn das Auto die dritte Ebene erreicht hatte, war der Produktionsprozess abgeschlossen und es folgte eine Testfahrt auf einer als Oval angelegten Versuchsstrecke mit stark überhöhter Fahrbahn, die der Architekt kühn auf das Dach des (heute unter Denkmalschutz stehenden und zum Kongresszentrum umgewidmeten) Gebäudes platziert hatte. Bei einer Öffnung des Marktes, wie sie der EWG-Vertrag gebot, war es vor allem die Konkurrenz durch die damalige Volkswagenwerk GmbH (die heutige Volkswagen AG), Abbildung 3: Beteiligungsverhältnisse bei der Fiat S.p.A. Weitere Aktionäre
Familie Agnelli —I— 100 •
in s.p.A.
General Motors Corp.
3.6
53,7
im s.p.A.
18,2
Dodeg & Co* 3,0 Ass. Generali 2,6 2.4 Deutsche Bank Sanpaolo !M1 2,3 Picet & Cie 2.3 Mediobanca 2.2 Southeastern A. M. 2,1 Libyscher Staat 2.0 47,1 Streubesitz 66
12 2
F i a t S.p.A.
JL
jl.
Ferrari/Maserati (56%) Sportwagen
Iveco Nutzfahrzeuge
CNH Global (84,5%) Land- und Baumaschinen
Umsatz: 1,1 Mrd. Euro Beschäftigte: 2.600
Umsatz: 8,7 Mrd. Euro Beschäftigte: 35.300
Umsatz: 10,8 Mrd. Euro Beschäftigte: 28.100
Fiat Auto Personenwagen
Magneti Marelli Autozulieferer
Cornau Maschinenbau
Teksid Metallerzeugnisse
Umsatz: 24,4 Mrd. Euro Beschäftigte: 55.200
Umsatz: 4,1 Mrd. Euro Beschäftigte: 24.200
Umsatz: 2,2 Mrd. Euro Beschäftigte: 17.200
Umsatz: 1,8 Mrd. Euro Beschäftigte: 13.800
Fiat Avio Luftfahrt
Toro Assicurazioni Versicherungen
Business Solutions Dienstleistungen
Itedi Medien
Umsatz: 1,6 Mrd. Euro Beschäftigte: 5.200
Umsatz: 5,8 Mrd. Euro Beschäftigte: 3.200
Umsatz: 1,8 Mrd. Euro Beschäftigte: 7.200
Umsatz: 0,3 Mrd. Euro Beschäftigte: 900
Quelle: FAZ, Unternehmensangaben; eigene Darstellung.
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die man bei Fiat so lange wie möglich abzublocken bemüht war. Auch Volkswagen war auf dem heimischen Markt eine ,dominant firm'. Auch dieses Unternehmen war in der unteren Preisklasse mit dem Typ ,VW 1200' (,VW Käfer') ohne nennenswerte Konkurrenz. (Die Fertigung des Typs .Kadett' der Adam Opel AG begann erst im Jahre 1962; bis dahin bestand zwischen Volkswagen und Opel keine Wettbewerbsbeziehung.) Volkswagen war von ähnlicher Größe und Kapitalkraft wie Fiat, beschränkte sich allerdings im Unterschied zum italienischen Hersteller auf das Kerngeschäft, verzichtete also auf Diversifizierung, um stattdessen dem ,Käfer' immer wieder neue Märkte zu erschließen, so etwa in den USA, in Mexiko und in Südamerika. Die ersten Zollsenkungen, die am 1. Januar 1959 begannen, reichten zunächst nicht aus, um das hohe Protektionsniveau des italienischen Pkw-Marktes fühlbar zu reduzieren; 1960 betrug der Zollsatz auf Personenkraftwagen immer noch 36 %. Hinzu kamen die Belastungen durch einen Umsatzsteuerausgleich (8,8 % und 3,3 %), eine Stempelsteuer (2 %) und eine Verwaltungsgebühr (0,5 %).3 Insgesamt ergaben sich somit Abgaben in Höhe von 53,6 %.4 Japanische Automobile wurden vom italienischen Markt nahezu gänzlich femgehalten. Hier war schon zu Beginn der 1960er Jahre, als die japanische Herausforderung' der europäischen Automobilindustrie noch nicht einmal im Ansatz erkennbar war, von der Regierung ein Importkontingent von 350 [!] Einheiten pro anno festgesetzt worden (Berg 1994). Weitere Zollsenkungen, die die italienische Regierung ihren Integrationspartnern nicht verweigern konnte, wenn sie nicht massiv gegen die entsprechenden Ratsbeschlüsse und Vertragsbestimmungen verstoßen wollte, waren in der Folgezeit dann immer wieder Anlass, nicht-tarifäre Handelshemmnisse zu ersinnen und zu implementieren, um im Interesse von Fiat (und den anderen heimischen Produzenten) neue Anbieter vom italienischen Markt nach Möglichkeit fernzuhalten. So folgte der Zollsenkung des Jahres 1960 eine Erhöhung des Umsatzsteuerausgleichs. Auch wurde die Zusage der italienischen Regierung, die Käufe italienischer und ausländischer Fahrzeuge gleich zu behandeln, nicht eingehalten: Italienische Fabrikate blieben die ersten sechs Monate von der Kfz-Steuer befreit, während importiere Fahrzeuge sofort angemeldet werden mussten und damit auch sofort der Kfz-Steuer unterlagen (o. V. 1960a; o. V. 1960b; o. V. 1960c). Auch 1962 erhob Italien unverändert von allen Mitgliedstaaten auf Pkw-Importe die höchsten Abgaben. Der Zollsatz betrug zwar nunmehr ,nur' noch 27 %, zusammen mit weiteren Abgaben der zuvor bereits erwähnten Art ergab sich jedoch noch immer eine durchschnittliche Belastung von 46,35 %. Obwohl der damit gewährte Schutz aus heutiger Sicht geradezu exzessiv anmutet, konnte er nicht verhindern, dass Volkswagen erfolgreich in den italienischen Markt eintrat (siehe Abbildung 4). Hatte der Marktanteil dieses Anbieters 1960 noch weniger 3
4
Zum Teil erweiterten die Abgaben die Bemessungsgrundlage anderer Abgaben. Die einfache Summe liegt daher unter 53,6 %. Der Großteil der im Folgenden verarbeiteten Informationen stammt aus dem Unternehmensarchiv der Volkswagen AG. Unserer Dank für die Unterstützung bei den Recherchearbeiten gilt Frau Dr. Ulrike Gutzmann und den weiteren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.
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als ein Prozent betragen, so konnte er bis 1962 auf 3,5 % gesteigert werden. Der italienische Pkw-Markt befand sich in diesem Zeitraum in einer ausgeprägten Boomphase. Dies hatte bei Fiat längere Wartezeiten zur Folge, die Volkswagen für sich nutzen konnte. Mitte November 1960 und Anfang September 1962 wurden zudem Preissenkungen vorgenommen (o. V. 1960d; o. V. 1962). Ferner wurden die Zoll- und Abgabenbelastungen zum größten Teil nicht überwälzt, sondern durch den Verzicht auf eine branchenübliche Marge ausgeglichen. Hatte sich doch mittlerweile die Überzeugung herausgebildet, dass die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft auf absehbare Zeit tatsächlich zur Bildung eines Gemeinsamen Marktes führen werde und dass es deshalb ratsam sei, den Eintritt in die zuvor weitgehend versperrten Märkte der Partnerstaaten möglichst zügig zu vollziehen, um dadurch ,first mover advantages' zu nutzen. Abbildung 4: Marktanteile von VW in Italien
Quelle: UNRAE, eigene Darstellung; eigene Berechnungen. Die Konsequenz derartiger Überlegungen bestand (auch in anderen Branchen) in einer Preispolitik, die erwartete Zollsenkungen zu Lasten der Gewinnmarge im Preis antizipierte, um im Preiswettbewerb möglichst frühzeitig mithalten zu können. Fanden diese Zollsenkungen dann statt, führten sie folglich nicht noch einmal zu Preisreduktionen; sie dienten vielmehr zur .Normalisierung' der Gewinnmargen. Dadurch ergab sich ein vielfach typischer Verlauf der Ursache-Wirkung-Beziehung von Zollsenkung und Importstimulierung: Die ersten Zollsenkungen, die zur Bildung einer Zollunion vorgenommen wurden, hatten häufig nur eine geringe Zunahme der Importe zur Folge - zum einen, weil das Ausgangsniveau der Zölle so hoch war, dass erste Zollsenkungen von 10 oder 20 % noch eine abschreckend hohe Barriere verbleiben ließen; zum anderen, weil die Unternehmen erst handelten, als sie sich hinreichend sicher sein konnten, dass der Integrationsprozess erfolgreich zu Ende gebracht werden würde, also erneuter Protektionismus ausgeschlossen werden konnte. Zollsenkungen im mittleren Bereich wirkten
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Hartmut Berg und Stefan Schmitt
dagegen besonders stark. Sie führten entweder schon dazu, dass zuvor versperrte Märkte für neue Anbieter bestreitbar wurden oder sie veranlassten die Unternehmen, künftige Zollsenkungen in den Preisen vorwegzunehmen, um ihren Marktanteil rasch zu steigern. Da diese Praxis dazu führte, dass der noch verbleibende restliche Zollabbau nicht ein weiteres Mal für Preissenkungen genutzt wurde, konnte eine abermalige Importzunahme als Folge einer derartigen Liberalisierung auch nicht erwartet werden. Noch erfolgreicher als im Zeitraum von 1960 bis 1962 war VW im Geschäftsjahr 1963. Während die italienische Produktion um rund 27 % zunahm, konnte das deutsche Unternehmen in Italien 61.215 Einheiten und damit 7 4 % mehr absetzen als im Jahr zuvor. Bezogen auf die Zahl der Neu-Zulassungen stieg der Marktanteil dadurch von 3,6 auf 5,4 %. Auch andere ausländische Hersteller konnten nunmehr auf dem italienischen Markt Fuß fassen, so die Régie Renault mit dem Typ ,Dauphine' und die NSU Motorenwerke mit dem Typ ,NSU Prinz'. Insgesamt kam es 1963 gegenüber dem Vorjahr zu einer Verdoppelung der Importe, eine Entwicklung ( Volkswagen 1964, S. 8 und S. 19), die bei Fiat offensichtlich als eine Art Schock empfunden wurde. So ließ der damalige Fiat-Präsident Valerio Valletta, damals schon hoch in den Siebzigern und nun in der Behaglichkeit seiner Monopolposition jäh aufgeschreckt, kaum eine Gelegenheit verstreichen, um die Regierung zu warnen, ein weiteres Sinken des Marktanteils von Fiat drohe viele Tausende Arbeitsplätze verloren gehen zu lassen. Die Botschaft wurde offensichtlich verstanden. Ende Februar 1964 führte Italien eine Sondersteuer auf Personenkraftwagen ein. Bemessungsgrundlage waren Hubraum und Geräumigkeit, diese indirekt gemessen durch die Bodenfläche. Wie beim deutschen Einkommensteuertarif gab es eine untere Proportionalzone, in der ein sehr niedriger Steuersatz galt. Begründet wurde diese Regelung mit dem Argument, Automobile der hier erfassten Art würden zumeist von den Beziehern geringer Einkommen genutzt, die nur begrenzt belastbar seien. In diese günstige Steuerklasse fielen die wichtigsten Modelle von Fiat; es folgte dann eine Progressionszone, die dort besonders wirksam wurde, wo der VW Käfer einzuordnen war, der stärker motorisiert war als die Konkurrenzmodelle von Fiat und vor allem auch durch seine Trittbretter und ausgeprägten Kotflügel eine deutlich größere Bodenfläche aufwies als die kompakten Fiat-Modelle. So wurde der Fiat 500 mit einer Steuer von umgerechnet 180 DM belastet; auf den VW 1200 wurde dagegen eine Steuer von 510 DM erhoben. Gegen die .übertriebene Motorisierung' ausländischer Fahrzeuge (tatsächlich konnte das damals angebotene VW-Modell gerade einmal mit 34 PS aufwarten) richtete sich auch eine erhöhte Abgabenbelastung von Benzin, die zu einer Verteuerung von 70 auf 77 Pfennig je Liter führte. Gefordert werden sollte dadurch der Absatz von kleineren, also vornehmlich italienischen Fahrzeugen mit einem Hubraum von bis zu einem Liter. Auch wurde in der italienischen Presse heftig gegen den Volkswagen agitiert, so etwa, wenn die gestiegenen VW-Exporte nach Italien als ,Nazi-Invasion' bezeichnet wurden (o. V. 1964a; o. V. 1964b; o. V. 1964c; Volkswagen 1965, S. 6; o. V. 1966).5 5
Es bedarf kaum des Hinweises, dass auch der gesamte Pkw-Bedarf von Regierung, Polizei, Post und anderen Behörden und Staatsunternehmen ausschließlich bei Fiat oder den anderen italienischen Herstellern gedeckt wurde, das Importangebot hier also zunächst völlig chancenlos war. Erst in den letzen Jahren ist es vor allem BWM, Audi und DaimlerChrysler gelungen, mit geringen Stückzahlen ins Geschäft zu kommen.
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Wie erfolgreich - zumindest auf kurze Sicht - die Bemühungen waren, die VW-Importe zurückzudrängen, belegt deren Rückgang auf nur noch 28.873 Einheiten im Jahre 1964 - das waren 43 % weniger als noch im Voijahr (bei allerdings deutlich besserer Konjunktur) hatten abgesetzt werden können (Abbildung 4). Um seine bedrohte Monopolstellung auf dem italienischen Markt zu bewahren, plädierte Giovanni II. Agnelli, der 1967 die Führung des Unternehmens übernommen hatte, schon früh für ein staatlich reguliertes Kartell der europäischen Hersteller. So hieß es im Geschäftsbericht 1964: „Die europäischen Automobilhersteller finden sich heute alle zwei Gefahren gegenüber: dem Herannahen von Jahren der Überproduktion [...] und der sich weiter verschärfenden Konkurrenz, die durch den fortschreitenden Abbau der Zölle immer härter werden wird. Die Auffassung von Fiat über eine wirksame kollektive Abwehr ist gut bekannt [...]: Man muss die Automobilproduktion über eine europäische Formation in Regeln fassen, ähnlich wie es die Montanunion für den Stahl getan hat" (Jürgensen und Berg 1968, S. 17 f.). Als sich zeigte, dass derartige Absichten nicht realisierbar sein würden, unternahm Fiat den Versuch, strategische Eintrittsbarrieren aufzubauen. So wurde 1969 die hochverschuldete Lanica S.p.A. mit der Begründung übernommen, es gelte zu verhindern, dass hier ein interessierter US-Hersteller zum Zuge komme. Mitte der 1980er Jahre war das staatliche Unternehmen Alfa Romeo in eine tiefe Krise geraten. In dieser Situation bot die Ford Motor Co., Detroit, an, die Mehrheit des Aktienanteils zu erwerben, Alfa Romeo zu sanieren und den US-Markt für die Produkte dieses Unternehmens zu erschließen. Obwohl bereits eine Einigung über dieses Engagement erzielt worden war und die Verträge zur Unterschrift bereit lagen, kam zur Überraschung der Öffentlichkeit tatsächlich Fiat zum Zuge. Eine Recherche der Europäischen Kommission ergab später, dass Fiat lediglich 400 Mrd. Lire gezahlt hatte, weit weniger als Ford zu zahlen bereit gewesen war. Auch hier drängt sich die Vermutung auf, dass Fiat vor allem verhindern wollte, dass ein ausländischer Anbieter durch den Erwerb einer renommierten italienischen Marke und in Italien bereits bestehender Produktionsstätten sowie einem etablierten Händlernetz rasch eine starke Marktposition hätte erlangen können. Da Alfa Romeo sich damals in Staatsbesitz befand, lässt sich folglich geltend machen, dass die italienische Regierung Fiat beim Errichten strategischer Markteintrittsbarrieren behilflich war, obwohl das Interesse an einem funktionsfähigem Wettbewerb eine gänzlich andere Lösung gefordert hätte (Avantario 2002, S. 175 ff.). Marktöffnung, das wird damit deutlich, ist somit mehr als der Abbau von Zöllen und anderen zollähnlichen Handelshemmnissen, es muss vielmehr auch gegen privatwirtschaftliche Protektion vorgegangen werden, die auf das Fortbestehen einer wechselseitigen Abschottung der Märkte der Integrationspartner abzielen; ferner ist es erforderlich, staatliche Regulierung zu beseitigen und Beihilfen zu untersagen, die die heimischen Anbieter derart begünstigen, dass für mögliche ausländische Konkurrenten daraus eine Erschwernis des Marktzugangs resultiert. Schließlich gab und gibt es eine Fülle von nationalen Normen und Gesetzen, Verordnungen und Vorschriften, die gewollt oder de facto eine Segmentierung der Märkte der Integrationspartner bewirken. Dabei spricht es für die Weisheit der , Gründerväter' der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, dass sie die Existenz und Problematik aller dieser wettbewerbsbeschränkenden Gegebenheiten und Möglichkeiten erkannten und versuchten, durch entsprechende Vorschriften des Vertrags Abhilfe zu schaffen und Vorsorge zu treffen (siehe Abbildung 5).
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Hartmut Berg und Stefan
Schmitt
Abbildung 5: Formen der Marktöffnung
Quelle: Eigene Darstellung. Aus heutiger Sicht wird deutlich, dass die Öffnung des italienischen Pkw-Marktes durch die genannten Maßnahmen zwar verzögert, aber im Zeichen eines fortschreitenden Integrationsprozesses natürlich nicht dauerhaft verhindert werden konnte und dass der zunächst gewährte Schutz vermutlich auch eher geschadet als genützt hat. Nachdem Fiat bereits Mitte der 1980er Jahre eine schwere Krise durchzustehen hatte, mussten ab Ende der 1990er Jahre erneut hohe Verluste im Autogeschäft hingenommen werden. Vor allem Versäumnisse in der Modellpolitik führten dazu, dass der Marktanteil von Fiat in Italien auf weniger als ein Drittel schrumpfte. Im Jahre 2002 betrug er nur noch 30,2 %, deutlich weniger als jemals zuvor. Die Verschuldung des Unternehmens ist dramatisch angestiegen. Massenentlassungen und die Schließung ganzer Werke sind unvermeidbar geworden. Den Verantwortlichen hätte schon frühzeitig klar sein müssen, dass ausländische Anbieter nicht dauerhaft vom italienischen Markt fernzuhalten sein würden und dass nach einer Öffnung des Marktes ein erheblicher Rückgang des Marktanteils nicht zu verhindern sein werde. Erforderlich wäre somit eine Strategie gewesen, die auf Ersatz durch verstärktes Partizipieren an den Wachstumspotentialen wichtiger Auslandsmärkte hätte abzielen müssen. Wenn Fiat auch zu klein war, um weltweit als Global Player auftreten zu können, so hätte es doch möglich sein müssen, sich im Gemeinsamen Markt eine starke Wettbewerbsposition zu verschaffen. Eben dies ist jedoch nicht gelungen. Die Fixierung auf die unteren Preisklassen führte dazu, dass man sich dem Druck der japanischen Konkurrenz massiver ausgesetzt sah als die meisten anderen europäischen Hersteller. In der mittleren Preisklasse gelang es nie, Lancia zu nennenswerter Marktbedeutung zu führen; auch das Potential, das sich mit der prestigeträchtigen Marke Alfa Romeo verband, blieb Jahrzehnte hindurch weitgehend ungenutzt. Schließlich war die Modellpolitik zu stark auf die Spezifika des italienischen Marktes ausgerichtet, um sich anderswo nicht immer wieder mit Akzeptanzproblemen konfrontiert zu sehen. Die von Fiat bis in die 1980er Jahre betriebene Abschirmung des italienischen PkwMarktes gegenüber ausländischer Konkurrenz hatte somit nicht nur jene suboptimale
Marktöffnung und Wettbewerb bei regionaler
Integration
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Marktversorgung zur Folge, die sich wohl überall einstellt, wo ein marktbeherrschendes Unternehmen weiß, dass es für sein Angebot beim Käufer keine Alternativen gibt, es zeigt dieses Lehrstück für erfolgreiches Rent Seeking vielmehr auch, dass der erlangte Schutz langfristig sehr wohl auch dem Begünstigten zum Nachteil gereichen kann. So hatte etwa die französische Régie Renault nach der Öffnung des französischen PkwMarktes zwar zunächst erhebliche Absatzeinbußen hinnehmen müssen; doch dann gelang es, in der Attraktivität des Sortiments, in der Produktivität der Fertigung und der Qualität der Verarbeitung den zunächst bestehenden Rückstand aufzuholen und teilweise selbst einen führenden Part zu übernehmen. Der Erfolg dieser Bemühungen zeigt sich daran, dass auf den Märkten der Integrationspartner mittlerweile ein Mehrfaches dessen an Absatz realisiert wird, was auf dem Inlandsmarkt an ausländische Anbieter verloren geht. Fiat ist eine derartige Kompensation nicht gelungen, und dies vermutlich vor allem auch deswegen, weil man zu lange auf das Fortbestehen der Monopolsituation auf dem italienischen Markt vertraut haben dürfte und weil auf das Entstehen eines Gemeinsamen Marktes zu lange primär defensiv reagiert wurde - mit Abschottungsversuchen und Kartellierungsbestrebungen dort, wo der offensive Eintritt in sich neu eröffnende Exportmärkte geboten (und in der damals gegebenen Konstellation auch möglich) gewesen wäre (Jürgensen und Berg 1968; Berg 2002). 3. Marktöffnung durch Deregulierung: Das Beispiel des europäischen Luftverkehrs Das Flugzeug ist den mit ihm konkurrierenden Verkehrsträgern vor allem dort überlegen, wo lange Distanzen zu überbrücken sind. In den einzelnen Mitgliedern der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft bestanden umfassende nationale Regulierungssysteme, die einen wettbewerblich organisierten europäischen Luftverkehrsmarkt ausschlössen.6 Wesentliche Wachstumspotenziale konnten dadurch zunächst nicht genutzt werden. Obwohl auf diese Problematik in der einschlägigen Literatur bereits früh aufmerksam gemacht wurde, zielt der Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (vermutlich aus politischer Rücksichtnahme auf wichtige nationale Interessen) nicht auf die Bildung eines Gemeinsamen Marktes auch für den Luftverkehr. Art. 3 lit. c und e EWGV nennen neben dem freien Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr als Ziel auch eine gemeinsame Verkehrspolitik. Die dafür einschlägigen Art. 74 bis 84 bezogen sich explizit aber nur auf den Straßen- und Schienenverkehr. Einzig Art. 84 Abs. 2 EWGV7 eröffnete dem Rat die Möglichkeit, Vorschriften für die Seeschifffahrt und den Luftverkehr zu erlassen. Die Liberalisierung und Deregulierung des europäischen Luftverkehrs vollzog sich als ein abgestufter Prozess (vgl. Abbildung 6).
6
Analysiert wird im Folgenden der Markt für zivile Passagierlinienflüge.
7
Dort heißt es: „Der Rat kann mit qualifizierter Mehrheit darüber entscheiden, ob, inwieweit und nach welchen Verfahren geeignete Vorschriften für die Seeschiffahrt und Luftfahrt zu erlassen sind."
Hartmut Berg und Stefan Schmitt
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Abbildung 6: Deregulierung des europäischen Luftverkehrs 1 9 5 7 - EWG-Vertrag: Untergeordnete Rolle des Luftverkehrs
Dominanz nationaler { Regulierung
1 9 7 0 - Erster Kommissionsvorschlag zu Regelungen für den gemeinschaftsweiten Luftverkehr 1975 - Spinelli-Bericht, vom Rat abgelehnt ^ 1979 - Erstes Memorandum: Ziel gemeinsame Luftverkehrspolitik
1. Schritt
1983 - Richtlinie des Rates zum interregionalen Luftverkehr : 1984— Zweites Memorandum aufBasis des Compas-Reports 1985 — EuGH-Urteil zur Anwendung des EGV auf den Luftverkehr 2. Schritt : 1987— 1. Liberalisierungspaket 1989 - EuGH-Urteil zu „Weichwährungstickets" 1990 — 2. Liberalisierungspaket 3. Schritt - 1992 — 3. Liberalisierungspaket: Aufheben der verbleibenden Beschränkungen bis zum 1. April 1997 1997
Quelle: Eigene Darstellung. Die ersten beiden Initiativen zur Deregulierung des europäischen Luftverkehrs (erstes und zweites Luftverkehrsmemorandum) erbrachten keine wesentlichen Fortschritte in der praktischen Realisierung eines Gemeinsamen Marktes für Luftverkehrsleistungen. Die weiteren Maßnahmen bis zur Liberalisierung des europäischen Luftverkehrs wurden in drei Teilschritten vollzogen, die im Allgemeinen als ,Pakete' zur Liberalisierung des Luftverkehr bezeichnet werden: Das erste Liberalisierungspaket setzt sich aus vier Entscheidungen des Rates von Ende 1987 zusammen: Tarife waren (nur noch) drei Wochen vor In-Kraft-Treten bei den nationalen Behörden einzureichen und konnten etwa für bestimmte Abflugzeiten flexibler gestaltet werden als zuvor. Die Kapazitätsaufteilung, sprich Absprachen darüber, welcher Carrier welchen Passagieranteil zwischen zwei Staaten transportieren darf, konnte auf Wunsch der Fluggesellschaften sukzessive verändert werden. Den Mitgliedstaaten wurde femer das Recht zur Multiple Designation 8 eingeräumt. Möglich war es somit, mehr als einer Fluggesellschaft das Recht auf Bedienung eines Städtepaares zu gewähren. Zudem wurde u. a. erlaubt, im europäischen Ausland Anschlussflüge anzubieten.9 Beschlossen wurden auch Regeln zur Anwendung der Wettbewerbsvorschriften des EGV10 und Ausnahmeregelungen, insbesondere Gruppenfreistellungsverordnungen, die - so die Behauptung - zur Gewährleistung der friktionslosen Versorgung der Be8
9 10
Damit ist es möglich, mehr als einer Airline das Recht auf Flüge in ein bestimmtes Drittland zu gewähren. Vgl. Richtlinie 87/602/EWG, 14.12.1987, veröffentlicht in: ABl. EG L 374/19-26,31.12.1987. Vgl. Verordnung 3975/87, 14.12.1987, veröffentlicht in: ABl. EG L 374/1-8, 31.12.1987.
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völkerung mit dem Gut Flug notwendig seien." Auf der Grundlage dieser Verordnung wurden im Juli 1988 drei Ausnahmebereiche mit befristeter Gültigkeit bestimmt. 12 Im Hinblick auf das Ziel, möglichst unbeschränkte Märkte zu schaffen, ist das .erste Liberalisierungspaket' grundsätzlich positiv zu bewerten. In der Praxis zeigte es jedoch nur geringe Auswirkungen. Zurückführen kann man dies auf die Komplexität der Vorschriften und die restriktiven Bedingungen für die Gewährung der fünften Freiheit 13 und die Genehmigung neuer Tarife. Größere ökonomische Bedeutung kam den zwischenzeitlich geschlossenen bilateralen Abkommen zu, so etwa dem Vertrag zwischen Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland (1984) und dem zwischen Frankreich und Großbritannien (1985), Morell (1998, S. 45). Das ,zweite Liberalisierungspaket' enthielt grundsätzlich die gleichen Elemente wie das erste, ging indes im Liberalisierungsgrad weiter. Anstoß der Entwicklung war erneut ein Urteil des EuGH, der feststellte, dass Tarifvereinbarungen zwischen Luftverkehrsgesellschaften über innergemeinschaftliche Flüge gegen die Bestimmung des Art. 85 Abs. 1 lit. a EGV verstießen und somit nichtig waren, sobald eine nationale Behörde nach Art. 88 bzw. die Kommission gemäß Art. 89 EGV den Verstoß festgestellt hatte.14 Beschlossen wurde daraufhin eine weitere Freigabe der Tarifgestaltung für Economy-Tarife und der Kapazitätsaufteilung zwischen Fluggesellschaften. Wenig wettbewerbsförderlich war die Verlängerung von drei Gruppenfreistellungsverordnungen, so etwa für die Versorgungsleistung auf Flughäfen. 15 Die Beschlüsse wiesen weiterhin eine hohe Komplexität auf. Dennoch kann die ebenfalls beschlossene Gewährung der dritten und vierten Freiheit 16 sowie der Ausbau der fünften Freiheit als Erfolg einer auf freien Wettbewerb ausgerichteten Politik gewertet werden. Vor allem die grundsätzliche Verringerung institutioneller Marktzu-
11
Möglich waren etwa die Kapazitätskoordination, Einbeziehung der Fluggesellschaften in die Slotvergabe (Vergabe von Start- und Landerechten) und die Freistellung der Bodendienste. Vgl. Verordnung 3976/87, 14.12.1987, veröffentlicht in: ABl. EG L 374/9-11, 31.12.1987.
12
Dies waren bestimmte Kooperationsmöglichkeiten zwischen Luftverkehrsgesellschaften (Verordnung 2671/88), Computerreservierungssysteme (Verordnung 2672/88) und Versorgungsleistungen auf Flughäfen (Verordnung 2673/88), veröffentlicht in: ABl. EG L 239/912,239/13-16 bzw. 239/17-18, 30.08.1988.
13
Umfasst das Recht, Personen, Fracht und Post auf einem Zwischenstopp in einem Drittland abzusetzen bzw. aufzunehmen. Vgl. Urteil des EuGH vom 11.04.1989 in der Rechtssache 66/86, veröffentlicht in: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (Hrsg.): Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofes, Luxemburg 1986. Im Einzelnen wurde die Verordnung 2671/88 über bestimmte Kooperationsmöglichkeiten zwischen Luftverkehrsgesellschaften durch die Verordnung 82/91, die Verordnung 2672/88 über Computerreservierungssysteme durch Verordnung 83/91 und die Verordnung 2673/88 über Versorgungsleistungen auf Flughäfen durch Verordnung 84/91 ersetzt, veröffentlicht in: ABl. EG L 10/7-8, 10/9-13 bzw. 10/14-18, 15.01.1991 und Verordnung 2344/90, 24.07.1990, veröffentlicht in: ABl. EG L 217/15-16, 11.08.1990. Umfassen das Recht, Personen, Fracht und Post in einem Drittland abzusetzen, respektive aus einem Drittland in das Heimatland zu fliegen.
14
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16
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trittsbarrieren17 ist hervorzuheben. Die darin enthaltenen reziproken Elemente verhinderten jedoch eine zügige Ausnutzung der neu gewährten Freiheiten. Neue Strecken durften nur aufgenommen werden, wenn auch den Luftverkehrsgesellschaften des jeweils anderen Landes diese Option offen stand. Scheitern konnte dies vor allem, wenn Flughäfen, die an ihre Kapazitätsgrenzen stoßen, Abflugs- oder Ankunftsort sind. Das .dritte Maßnahmenpaket' (1992) sah grundsätzlich die vollständige Liberalisierung des europäischen Luftverkehrs im Sinne der Gewährung der Dienstleistungsfreiheit vor. Eine umfassende Deregulierung, vergleichbar der in den USA, strebte der Rat nicht an. Nach seiner Auffassung handelt es sich beim Luftverkehr um einen Ausnahmebereich der Wirtschaft, auf dem einzelstaatliche oder europäische Eingriffe weiterhin möglich sein müssen. Dennoch kam es zu umfangreichen Veränderungen. Die Tarife wurden weitestgehend freigegeben, die Flexibilitätszonen abgeschafft. Luftverkehrsgesellschaften können nunmehr ihre Preise frei gestalten, sind jedoch gehalten, die Tarife mindestens einen Arbeitstag vor In-Kraft-Treten zu hinterlegen (Art. 5).'8 Erneuert wurden die Bestimmungen zum Erwerb von Betriebsgenehmigungen und Streckenzulassungen. Einzige Umstellung im Wettbewerbsrecht der Europäischen Gemeinschaft war eine Änderung der Verordnung 3975 von 1987. Gestrichen wurde das Wort „international", die Wettbewerbsregeln waren damit jetzt auch unmittelbar auf den innergemeinschaftlichen Verkehr anwendbar." Im Gegensatz zu den USA, wo die Mehrzahl der Wettbewerbsregulierungen im unmittelbaren Anschluss an die formale Deregulierung im Jahre 1978 aufgehoben wurde, erstreckte sich allein der dritte formale Schritt der europäischen Deregulierung über zehn Jahre. Der Umfang der Regulierungen wurde dabei eher linear denn geometrisch reduziert. Die Deregulierung des europäischen Luftverkehrs ist, wie die des US-amerikanischen Luftraums, keineswegs als Abschaffen eines Ordnungsrahmens zu verstehen. Auch nach der Deregulierung existieren noch Regeln, die auf die Verwirklichung des Binnenmarktes zielen, Maßstäbe für erlaubte Beihilfen festlegen, die Sicherheit des Flugverkehrs gewährleisten, die Rechte der Passagiere sichern und einen Beitrag zum Umweltschutz leisten sollen. Erst in jüngster Zeit bemüht sich die Kommission Daten zu erheben, die transparente Informationen über Service und Qualität der europäischen Gesellschaften bieten. Die meisten bereits jetzt verfügbaren Daten geben Auskunft über die Pünktlichkeit der Flüge. Verschiedene Unternehmensverbände und die britischen sowie mit Einschränkungen französische und niederländische Behörden erfassen Verspätungswerte {Janic 1997). Beschwerden der Passagiere über verloren gegangenes Gepäck und Überbuchungen werden indes derzeit nicht systematisch erhoben. Die Kommission hält hierzu lediglich fest, dass „the creation of a competitive market has certainly contributed to an increase of the quality of services" (Europäische Kommission 2000, S. 3). Sie räumt
17
Vgl. speziell Art. 5 und Art. 10 m der Verordnung 2343/90, 24.07.1990, veröffentlicht in: ABl. EG L 217/8-14, 11.08.1990.
" Vgl. Verordnung 2409/92, 23.07.1992, veröffentlicht in: ABl. EG L 240/15-17, 24.08.1992. " Vgl. Verordnung 2410/92, 23.07.1992, veröffentlicht in: ABl. EG L 240/18, 24.08.1992.
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aber zugleich ein, dass es in jüngster Vergangenheit zu einem unerwünschten Rückgang der Servicequalität gekommen sei (Europäische Kommission 2000). Als Indikator für die Wettbewerbswirkung der Deregulierung nutzt die Kommission primär die absolute Anzahl der Wettbewerber und die Anzahl der Monopol-, Duopolund Oligopolstrecken: Zwischen 1993 und 1998 stieg die Zahl der Linienfluggesellschaften in der Europäischen Gemeinschaft jährlich um etwa 4,4 %, jedoch mit abnehmender Tendenz {Europäische Kommission 1999a, S. 25). Ein Jahr später nahmen neun Gesellschaften den Betrieb auf, ebenso viele traten aus dem Markt aus (Association of European Airlines 2000, S. 1-6). Ziel der Kommission war es, mit der Deregulierung des europäischen Luftraums die Anzahl der Duopol- und Oligopolrouten zu Lasten der Monopolstrecken zu erhöhen. So soll ausreichend Wettbewerbsdruck erzeugt werden, der die Fluggesellschaften veranlasst, ihre Tarife zu senken (vgl. Tabelle 1). Tabelle 1: Preisstruktur in Abhängigkeit von der Marktform (Preis pro Kilometer in Euro, Januar 1997)
Monopol Duopol Oligopola
Business Euro Prozent
Economy Euro Prozent
Sondertarif Euro Prozent
0,44 0,42 0,40
0,42 0,39 0,35
0,21 0,17 0,16
100 95 90
100 93 83
100 83 76
* Alle Städtepaare mit drei Wettbewerbern. Ausgewertet wurden nur Knotenpunktflughäfen und Hauptstädte; Preise gerundet. Quelle: Europäische Kommission (1999a, S. 26); eigene Berechnungen. In jüngster Vergangenheit lassen sich hier erste Erfolge konstatieren: Der Anteil der Monopolstrecken ging von knapp 80 % auf etwa 70 % zurück.20 Auf etwa 20 % der europäischen Strecken haben im Jahre 2000 zwei Unternehmen ihre Dienste angeboten, etwa 8 % sind Märkte mit drei Anbietern. Die verbleibenden 2 bis 3 % sind Routen mit mehr als drei Carriern (ähnlich Ehmer u. a. 2000, S. 16). Abbildung 7a zeigt die Sitzplatzkapazität pro Airline und den Anteil der Routen in Abhängigkeit von der Marktform. Offenbar sind es in erster Linie nachfragestarke Märkte, auf denen mehrere Wettbewerber anbieten. Zwei der wenigen systematischen Auswertungen zur preisverändernden Wirkung der Deregulierung sind in Untersuchungen der Europäischen Kommission zur Wirkung des dritten Luftverkehrsmemorandums enthalten (Europäische Kommission 1996, 1999a). Darüber hinaus wird regelmäßig im Auftrag der Generaldirektion Energie und Verkehr erhoben, wie sich die Preise für Flüge ab Europa entwickelt haben (BAE Systems 2001). Abbildung 7b verdeutlicht, dass von 1992 bis 2000 die Preise in der Business-Class real
20
Je nach Erfassungsmethode und -Zeitpunkt schwanken die Angaben zum Anteil der Monopolstrecken im Jahre 2000 zwischen 67,4% und 73 %. Für die Phase von 1989 bis 1993 ist von weitgehender Konstanz der Konzentration auf den Städtepaarmärkten auszugehen; Janic (1997).
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Abbildung 7a: Zahl der Wettbewerber (Januar 2000) und Preisentwicklung in Europa (1992-2000) b) Nominale und reale Preisentwicklung
a) Wettbewerber und Kapazität 350 300 250
Sitzplätze je Fluggesellschaft' [Tsd.]
1,5%
O
2,5%
400-1 Durchschnittlicher Ticketpreis* 350[Euro]
Business .
300-
O
250-
200
200
150
Economy
150100
100-
50
50 Anzahl der Wettbewerber 5 und mehr
a b
1992
1993
1994
1995
1996
1997
1998
1999
2000
Blasengröße entspricht dem Anteil der jeweiligen Marktform. Obere Linie entspricht der nominalen Preisentwicklung seit 1992, die untere der realen.
Quelle: a) Europäische Kommission (2000, S. 6 b); BAE Systems (2001); EcoWin (2002); eigene Berechnungen, eigene Darstellung. jährlich um 2,2 % gestiegen sind; bei den vollflexiblen Economy-Tickets gab es einen leichten jährlichen Rückgang von 0,8 %. Am stärksten fielen mit 4,5 % p. a. die Sondertarife. Die tatsächliche, durchschnittliche Entlastung der Passagiere ist jedoch größer, da immer mehr Tickets zu Sondertarifen erworben werden. 21 Die Preiseffekte in Europa sind in ihrem Umfang noch nicht mit denen in den USA vergleichbar. Zum einen ist der Zeitraum vergleichsweise kurz, in dem die Wettbewerber die Chancen der Deregulierung nutzen konnten, zum anderen ist es auch in Europa auf einzelnen Routen bereits zu deutlichen Preisreaktionen gekommen. Analog zur Entwicklung in den USA lassen sich sehr deutliche Preisreduktionen auf all den Strecken feststellen, auf denen Airlines anbieten, die versuchen, das erfolgreiche No-frillsKonzept {Berg und Schmitt 2002) des amerikanischen Anbieters Southwest auf den europäischen Markt zu übertragen. Mit dem Wachstum dieses Segments wird auch in Europa ein deutlicher Druck auf die etablierten Anbieter ausgeübt, verstärkt den Preis als Wettbewerbsparameter einzusetzen. Grundsätzlich hatte die Deregulierung in den USA und in Europa somit die gewünschte marktöffnende Wirkung: Erhöhter Wettbewerbsdruck hat auf vielen Strecken zu einem Rückgang der Tarife geführt, ohne dass der Dienst auf anderen Strecken dafür eingestellt worden wäre; auch sind weder die Qualität noch die Sicherheit des Angebots zurückgegangen. Noch immer existieren jedoch Beschränkungen v. a. für externes internationales Wachstum und auch nach der Deregulierung verhindern strukturelle, strategische und institutionelle Markteintrittsbarrieren - wie etwa die Verfahren zur Slotvergabe - , dass die Wettbewerbsintensität auf allen Märkten gleichermaßen ansteigt. Fraglich bleibt, ob schon die bestehenden Wettbewerbsfreiheiten ausreichen, um die
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Im Jahre 1985 waren etwa 40 % aller Passagiere Vollzahler, 1995 nur noch knapp 29 %; Europäische Kommission (1996, S. lb).
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Airlines zu effizienter Bereitstellung ihrer Produkte anzuhalten oder ob noch immer ein Großteil der Anbieter ineffizient arbeitet. Von Interesse ist demnach, ob die Deregulierung dieses Marktes neben ihrer reinen Preiswirkung die Anbieter durch den erhöhten Wettbewerbsdruck auch zwingt, ihre Effizienz kontinuierlich zu steigern, wollen sie nicht langfristig aus dem Wettbewerb ausscheiden müssen. Grundsätzlich kann die positive Beziehung zwischen einer Erhöhung des Wettbewerbdrucks und dem Steigern der Effizienz als theoretisch und empirisch belegt angesehen werden (etwa Caves und Barton 1990 sowie Button und Weyman-Jones 1992). Unklar ist zunächst jedoch, welche Effizienzfortschritte auf die Deregulierung zurückzufuhren sind und welche auf (technische) Veränderungen zurückgehen, die weitgehend unabhängig von der Deregulierung in den Unternehmen genutzt wurden. Für den Luftverkehr kann man davon ausgehen, dass es auf den deregulierten USamerikanischen und europäischen Märkten keine grundlegenden technologischen Veränderungen mehr gab. Der letzte wesentliche technische Fortschritt im Luftverkehr war die Umstellung im Langstreckenbereich von Propeller-Flugzeugen auf Jets, die jedoch weit vor der Deregulierung abgeschlossen wurde. So bedient beispielsweise die Lufthansa bereits seit 1963 alle außereuropäischen Ziele ausschließlich mit Jets. Auch empirisch gibt es Hinweise darauf, dass im Luftverkehr ab den 1970er Jahren die Grenze des technisch Umsetzbaren nicht mehr verschoben wurde, sondern eher eine Bewegung auf diese Grenze hin einsetzte. Gestiegene Wettbewerbsintensität hat offenbar dazu geführt, dass Effizienzfortschritte eines Carriers schneller von anderen adaptiert werden und dass deshalb die Effizienz der Anbieter konvergiert (Kumbhakar 1992; Baltagi, Griffin und Rieh 1995; Alam und Sicktes 2000 sowie Ahn, Good und Sicktes 2000). Analysiert man den Effizienzabstand zwischen europäischen Carriern 22 und USAnbietern, 23 so bestätigt sich die Vermutung, dass rechtzeitige und konsequente Deregulierung Effizienzfortschritte fördert. So lag die Effizienz der US-Anbieter bis Anfang der 1980er Jahre um mehr als 10 % über der der Europäer. Zwischen 1983 und 1994 ging der Unterschied auf maximal 5 % zurück um dann für den Zeitraum von 1995 bis 1998 auf knapp 1 0 % anzusteigen. Die Effizienzwerte der europäischen Carrier schwanken dabei deutlich stärker als die der US-Wettbewerber. Offenbar ist die Situation in Europa deutlich heterogener - der Luftverkehrsmarkt folglich weniger integriert - als in den USA. Einzelnen Gesellschaften, allen voran Finnair und auf den folgenden Plätzen SAS, Iberia, Lufthansa und British Airways gelingt es vergleichsweise gut, zumindest ähnlich effizient zu produzieren wie die US-Carrier. Im Mittel zwischen 14 und 19 % hinter den effizienten Anbietern liegen die Swissair, Air France und Austrian Airlines (ausfuhrlich Schmitt 2003).
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Die Analyse berücksichtig Air France, Austrian Airlines, British Airways, Finnair, Iberia, Lufthansa, SAS und Swissair. Untersucht wurden American Airlines, Delta Airlines, Continental Airlines, Northwest, TWA, United Airlines und US Airways.
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4. Beschränkungen des Dienstleistungsverkehrs: Die deutsche Handwerksordnung Die Regulierung des deutschen Handwerks hat eine lange Tradition. Im August 1897 trat mit einem Gesetz zur Änderung der Gewerbeordnung eine erste deutsche Handwerksordnung in Kraft. 1935 wurde der Meisterbrief als so genannter großer Befähigungsnachweis zur Voraussetzung jeder selbständig ausgeübten handwerklichen Tätigkeit. Eineinhalb Jahre nach Ende des zweiten Weltkriegs wurde Ende 1946 das Handwerksrecht von 1935 in der britischen Besatzungszone wiederhergestellt; 1953 trat in der gesamten Bundesrepublik die weitgehend unveränderte deutsche Handwerksordnung in Kraft. Die Handwerksordnung nennt in Anlage A alle Berufe, für die grundsätzlich eine Meisterprüfung Voraussetzung ist. Anlage B enthält einen Enumerativkatalog aller handwerksähnlichen Tätigkeiten. Für das Erbringen der hier genannten Leistungen muss kein gesonderter Befähigungsnachweis erbracht werden. Voraussetzung ist aber die Anzeige des Betriebs bei der zuständigen Handwerkskammer und damit die Pflichtmitgliedschaft bei eben dieser (§§ 18-20 HwO). So ist etwa Mauern ein Handwerk, Betonbohren handwerksähnlich; der Fahrzeugbau stellt eine handwerkliche Tätigkeit dar, nicht jedoch die Fahrzeugverwertung. Der Herrenschneider übt ein Handwerk aus, das Nähen von Theaterkostümen hingegen ist wiederum lediglich eine dem Handwerk ähnliche Beschäftigung (Anlage A Nr. 1, 18, 47 und Anlage B Nr. 8, 14, 30). Die Ende 1993 beschlossene Novelle der Handwerksordnung sollte es Meistern ermöglichen, mehrere Leistungen anzubieten. Dafür wurde ihnen erlaubt, Arbeiten auszuführen, die eine hinreichende Ähnlichkeit mit ihrer eigenen - weiterhin erlaubnisgebundenen - Tätigkeit aufweisen. Zudem wurde der Marktzugang grundsätzlich erleichtert. Nach § 7 II HwO bedarf es seit dieser Novelle keiner Verordnung mehr, um andere Qualifikationsnachweise als die Meisterprüfung anzuerkennen. Jedoch wird über entsprechende Anträge von der jeweils zuständigen Handwerkskammer, ggf. in Zusammenarbeit mit der zugehörigen Berufsvereinigung entschieden. Bei beiden Institutionen kann man nur von einem sehr geringem Interesse ausgehen, institutionelle Markteintrittsschranken zu senken, denn letztlich bedeutet jeder zugelassene Bewerber verminderte Einnahmen für die Mitglieder dieser Verbände (Monopolkommission 2001, S. 5). Auch durch eine weitere Novelle im Jahre 1998 ergaben sich keine wesentlichen Änderungen im Hinblick auf die Voraussetzungen zur Ausübung einer selbständigen handwerklichen Tätigkeit. Durch das Zusammenlegen ehemals getrennter Leistungen wurde die Zahl der Handwerksberufe um 33 auf 94 reduziert. Lediglich sechs unbedeutende Spezialisierungen wurden der Anlage B zugeordnet und damit auch Personen ohne Meisterbrief zugänglich. So wird auch heute grundsätzlich nur deijenige zur Meisterprüfung zugelassen, der erfolgreich eine Gesellenprüfung bestanden hat und zudem bereits mehrere Jahre (in der Regel werden drei erwartet) in dem Beruf, in dem er die Handwerksprüfung ablegen möchte, tätig war. Anerkannt wird jedoch auch Berufserfahrung, die in einem .verwandten' Handwerk oder ähnlichen Berufen erworben wurde. Der angehende Meister muss zudem geeignet sein, Lehrlinge auszubilden. Darüber hinaus wird regelmäßig der Besuch
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einer mindestens einjährigen Fachschule erwartet. In der vierteiligen Meisterprüfung selbst werden neben der Prüfungsarbeit und Arbeitsprobe die fachtheoretischen Kenntnisse, das erworbene betriebswirtschaftliche, kaufmännische und juristische Wissen sowie die Beherrschung berufs- und arbeitspädagogischer Themenfelder überprüft. Insgesamt dauert damit der Erwerb eines Meisterbriefs in Deutschland etwa sieben Jahre. Die direkten Prüfungskosten stellen dabei mit etwa 600 Euro keine nennenswerte Markteintrittsbarriere dar. Die kalkulatorischen Gesamtkosten bis zur Erlangung des Meisterbriefes dürften jedoch im fünfstelligen Eurobereich liegen (Dietz 2000, S. 173). Diese Markteintrittsbarriere ist damit hier deutlich höher als bei anderen gewerblichen Leistungen. Die Vorteilhaftigkeit des etablierten Verfahrens wird zumeist damit begründet, dass der einzelne „[...] Nachfrager sich auf das Urteil und die fachliche Kompetenz des Anbieters in der Regel besser verlassen kann als im Falle fehlender Qualifikationsprüfung" (Klemmer und Schrumpf 1999, S. 87). Eine derartige Rechtfertigung der umfangreichen Regulierung des deutschen Handwerks kann sich normativ auf das Vorliegen von Informationsassymetrien stützen. Die Regulierung wäre demnach grundsätzlich dann gerechtfertigt, wenn der Markt für Handwerkerleistung ohne dieses staatliche Eingreifen versagen würde. Durch den Zusatz ,Meisterbetrieb' kann der Konsument grundsätzlich davon ausgehen, dass zumindest der Leiter des Unternehmens über eine im Allgemeinen als ausreichend beurteilte Kenntnis verfügt - genauer: zum Zeitpunkt der Meisterprüfung verfügte - , wie die entsprechenden Leistungen und Gewerke fachgerecht zu erbringen bzw. zu erstellen sind. Dies bewirkt zweierlei: Zum einen sinken die Transaktionskosten für die Nachfrager. In der Regel dürften die Informationskosten und die kalkulatorischen und tatsächlichen Risiko(abgeltungs)kosten geringer sein, wenn mit dem Meisterbrief eine Qualitätsinformation gegeben wird, die dem Nachfrager signalisiert, dass er auf eine fachgerechte und für ihn risikoarme Ausführung der beauftragten Arbeiten vertrauen kann. Zum zweiten wird durch das Qualitätsmerkmal .Meisterbetrieb' grundsätzlich vermieden, dass der Markt für Handwerksleistungen zum ,Market of Lemons' wird; verhindert wird, dass ungleiche Informationsstände der Transaktionspartner eine Spirale aus Erwartung unterdurchschnittlicher Qualität und sinkender Zahlungsbereitschaft in Gang setzt, die dann tatsächlich zum Angebot immer geringwertigerer Leistungen führt. Auch wenn diese Begründung auf den ersten Blick eingängig erscheinen mag, so ist im Hinblick auf die Informationskosten dennoch kein grundsätzlich Unterschied zwischen geringer regulierten gewerblichen und den handwerklichen Leistungen zu sehen. In vielen gewerblichen Bereichen ist der Kunde ebenfalls häufig nur unzureichend über die Zuverlässigkeit des Anbieters, die Beschaffenheit der Produkte und die Qualifikation des Servicepersonals informiert. Ebenso verhält es sich mit den Risikokosten, die bei den meisten Handwerksleistungen - zumindest bei relativer Betrachtung - erheblich geringer sein dürften als vielfach von den Befürwortern der umfangreichen Handwerksregulierung unterstellt wird. So ist etwa nicht einzusehen, worin das besondere Risiko des Flieseniegens, Lackierens oder des Schneiderns liegen sollte, ein Risiko das zudem auch so groß sein müsste, dass die Transaktionspartner es nicht interaalisieren. Für die meisten Handwerke sollte daher zunehmend darauf vertraut werden, dass der Marktme-
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chanismus als ständige Abfolge von Versuch und Irrtum ohne Regulierung die Anbieter selektiert, welche die nachgefragten Produkte in der gewünschten Qualität und Quantität bereitstellen. Wünschenswert wäre eine Aufwertung durch Einschränkung: Die Regulierung durch die Handwerksordnung sollte zum einen auf wenige Bereiche beschränkt werden, nämlich auf die, die tatsächlich mit Risiken verbunden sind, die als externer Effekt auch andere als die Transaktionspartner berühren, namentlich vor allem Elektro- und Gasinstallationen. Zum zweiten sollten diese Bereiche deutlicher weniger reguliert werden als bisher. So werden die genannten Arbeiten derzeit, obwohl sie von einem qualifizierten Handwerksbetrieb durchgeführt werden, immer auch noch vom Betreiber des jeweiligen Versorgungsnetzes abgenommen, bevor sie in Betrieb gesetzt werden dürfen. Eine Doppelregulierung, die überflüssig wäre, wenn der große Befähigungsnachweis tatsächlich die unterstellten qualitätssichernde Wirkung hätte. Eine Regulierung dieser Leistung würde sich ebenfalls dann sehr bald als obsolet erweisen, wenn funktionsfähige Versicherungsmärkte für die (vermuteten) Risiken entstehen, die mit der Beauftragung von Nicht-Meisterbetrieben verbunden sind. Eine Novellierung des deutschen Handwerksrechtes, die diesen Vorschlägen folgt, ist jedoch nicht zu erwarten. Bislang fehlte schon der politische Wille, die juristischen Voraussetzungen zur Anerkennung alternativer Qualifikationen grundlegend zu reformieren. Auch im aktuellen Koalitionsvertrag heißt es lediglich, dass man „im Handwerksbereich den durch die Leipziger Beschlüsse eingeleiteten Liberalisierungsprozess fortführen [...] und daraufhinwirken [will], dass das Handwerksrecht einen wirksameren Beitrag zur Bekämpfung der Schwarzarbeit erbringen wird" (Schröder u. a. 2002, S. 14). Die so genannten .Leipziger Beschlüsse', die der Bund-Länder-Ausschuss Handwerksrecht im November 2000 veröffentlichte,24 legen den Ländern und Gemeinden lediglich nahe, Ausnahmegenehmigungen zur Ausübung eines Handwerks (§ 8 HwO) eher großzügig zu vergeben. Die Leipziger Beschlüsse sind im Zusammenhang mit mehreren Urteilen des Bundesverfassungsgerichts zur Handwerksordnung zu sehen. Am 17. Juli 1961 erklärte dieses Gericht in einer Grundsatzentscheidung den großen Befähigungsnachweis für vereinbar mit der durch Art. 12 GG gesicherten Berufsfreiheit. Grundsätzlich ist demnach die Entscheidung, ein in Anlage A aufgeführtes Gewerbe selbstständig ausführen zu wollen, ein Akt der Berufswahl im Sinne des Art. 12 Abs. 1 GG, der nur dann beschränkt werden darf, wenn dadurch der Schutz .überragend wichtiger' Gemeinschaftsgüter sicherzustellen ist. In mehreren Folgeentscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht diese Auffassung bestätigt, zugleich aber immer wieder Entscheidungen getroffen, die die zuständigen Handwerkskammern u. a. zu einer großzügigen Vergabe von Ausnahmegenehmigungen anhielten. Mit den Leipzigern Beschlüssen soll nicht, wie von Kritikern vielfach befürchtet, unqualifizierten oder ungeeigneten Bewerbern der Zugang zum Handwerk eröffnet werden, sondern die besondere Lebensumstände, etwa auch die familiäre Situation und eventuell Unterhaltspflichten bei der Entscheidungen nach § 8 HwO Berücksichtigung finden (Webers 2001, S. 261 ff.). 24
Zur verfassungsmäßigen Bedenklichkeit eines derartigen Vorgehens Stober (2001).
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Im Einzelnen nennen die Leipziger Beschlüsse zwölf Tatbestände, in denen grundsätzlich eine Ausnahmegenehmigung zur Ausübung eines Handwerks erteilt werden soll. Zu den wichtigsten zählen {Heck 2001, S. 281 ff.): — Andere abgelegte Prüfung-, namentlich eine bundeseinheitliche Industriemeisterprüfung, Prüfungsabschlüsse auf Grundlage von Kammerregelungen, Ingenieurabschlüsse bei Nachholung fehlender praktischer Prüfungen und ein Abschluss als staatlich geprüfter Techniker. — Outsourcing: Umfasst die Möglichkeit einer Ausnahme, wenn bei einem größeren Unternehmen etwa der Kunden- und Reparaturdienst ausgelagert wurde und der Bewerber über lange Jahre in diesem Betrieb gearbeitet hat. — Wartezeiten: Kann einem Bewerber auch von benachbarten Kammern länger als zwei Jahre kein Vorbereitungskurs und damit auch keine Meisterprüfung angeboten werden, soll ihm - gegebenenfalls unter der Auflage bei nächster Gelegenheit die entsprechende Prüfung abzulegen - eine Ausnahmegenehmigung zur Ausübung seines Handwerks erteilt werden. — Geschäftsübernahme: Im Falle einer ,unvorhersehbaren' Option einen Betrieb fortzufuhren, soll diese Option dem Bewerber offen stehen, bis er seine Meisterprüfimg abgelegt hat. — Spezialisierung: Eine Ausnahmebewilligung soll ferner dann erteilt werden, wenn der Bewerber seine Tätigkeit auf einen begrenzten, wohl definierten und in sich abgeschlossenen Bereich beschränkt (etwa Blitzschutzbau oder das Auswechseln von Autoscheiben). Damit ein Bewerber tatsächliche eine Ausnahmebewilligung erhält, reicht es jedoch nicht aus, dass eine der genannten Voraussetzungen erfüllt ist. Vielmehr obliegt es unabhängig davon jedem Bewerber gegenüber der Handwerkskammer nachzuweisen, dass er die erforderlichen handwerklichen Fähigkeiten und Kenntnisse erworben hat. Das Interesse der Handwerkskammern an einer vereinfachten Zulassungsregelung ist verständlicherweise begrenzt, da dies letztlich eine deutliche Reduktion ihres Einflusses, wenn nicht gar ihre langfristige Abschaffung bedeuten dürfte. Sie bemühen sich daher, die deutschen Vorschriften auch in anderen Ländern der Europäischen Union zu etablieren. So lässt sich zumindest eine Initiative der Handwerkskammer zu Köln deuten, die einen kombinierten Ausbildungsgang anbietet, der mit dem französischen und deutschen Meistertitel abgeschlossen wird (o. V. 1995). Jedoch sind in keinem anderen europäischen Land die institutionellen Markteintrittsbarrieren im Handwerk so hoch wie in der Bundesrepublik Deutschland (Dietz 2000, S. 173). Lediglich in Österreich und Luxemburg kennt man vergleichbare Regelungen {Albach 1992, S. 24). Letztlich verbleiben somit nur - im Sinne der Regulierungstheorie - positive Erklärungsansätze für das derzeitige Regulierungsniveau, zumal auch von Seiten der Europäischen Union Reformbedarf gegeben ist: Die Richtlinie 64/427/EWG (für das Handwerk inhaltsgleich ersetzt durch 99/42/EG) führte zu § 9 HwO. Demnach kann der Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit mit Zustimmung des Bundesrates Verord-
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nungen erlassen, die die Anforderungen bestimmen, nach denen Gewerbetreibende aus anderen EU-Staaten in die deutsche Handwerksrolle einzutragen sind. Nachzuweisen ist in erster Linie eine mindestens sechsjährige Tätigkeit in einem hinreichend ähnlichen Gewerbe.25 Der Europäische Gerichtshof hatte im Oktober 2000 (Rechtssache C-58/98) darüber zu entscheiden, ob diese Bestimmungen der deutschen Handwerksordnung mit dem Recht der Europäischen Union vereinbar sind. Außerhalb des Zuständigkeitsbereichs des EuGH lag die Frage, ob die Pflicht zur Eintragung in die deutsche Handwerksrolle rechtmäßig oder für ungültig zu erklären ist (etwa Rn. 24). Festgestellt wurde jedoch, dass all die Vorschriften mit dem Gemeinschaftsrecht nicht vereinbar sind, die ein Verfahren vorsehen, „[...] das geeignet ist, die Ausübung des Rechts auf freien Dienstleistungsverkehr zu verzögern oder zu erschweren, nachdem die Voraussetzungen für die Aufnahme der betreffenden Tätigkeit bereits geprüft worden sind [...]" (Rn. 49). Zudem darf ein solches Verfahren zu keinen zusätzlichen Kosten oder der Beitragspflicht in einer Handwerkskammer fuhren. Der EuGH weist darauf hin, dass sonst insbesondere die gelegentliche Leistungserbringung im europäischen Ausland unverhältnismäßig behindert würde (Rn. 46). In der Praxis heißt dies, dass die Gebühren für die Ausnahmebewilligung und das Ausstellen der Handwerkskarte ebenso abzuschaffen sind wie die Beiträge zur Handwerkskammer. In Frage gestellt wird damit in einem ersten Schritt die Pflichtmitgliedschaft für ausländische Anbieter. Sowohl bei Aufhebung der Pflichtmitgliedschaft für Ausländer als auch lediglich bei einer Beitragsfreistellung werden jedoch Inländer diskriminiert. In letzter Konsequenz stellt das Urteil des EuGH damit die Pflichtmitgliedschaft an sich in Frage (Monopolkommission 2001, S. 16 f.). Im Juli 2002 hat die Kommission beschlossen, Klage gegen sieben Mitgliedstaaten zu erheben, darunter die Bundesrepublik Deutschland, da bis Ende Juli 2001 keine Maßnahmen mitgeteilt wurden, wie man die Richtlinie 99/42/EG umzusetzen gedenkt {Europäische Kommission 2002b). Abzuwarten bleibt, wie die deutsche Regierung hieraufreagiert. Dass es auch nach einer grundlegenden Reform - wie etwa der .Aufwertung durch Einschränkung' - möglich ist, qualitativ hochwertige handwerkliche Leistungen zu erbringen zeigt das Beispiel der Schweiz. Hier ist der Erwerb eines Meisterbriefes freiwillig (Albach 1992, S. 24), ohne, dass dadurch die Versorgung der Konsumenten mit Handwerksleistungen unmöglich, unverhältnismäßig teuer oder mit besonderen Gefahren verbunden wäre. Der Reformdruck, wie er sich durch die regionale Integration in Europa ergibt, bietet demnach die Chance einer grundsätzlichen Neufassung des deutschen Handwerksrechts, das - vor allem angesichts der Osterweiterung der EU - dem deutschen Handwerk die Chance gibt, international wettbewerbsfähige Leistung anzubieten.
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Die tatsächlich nachzuweisende Dauer richtet sich danach, welche Zeiträume selbstständig, in leitender Funk oder unselbstständig der gewerblichen Tätigkeit nachgegangen wurde.
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Die von uns aufgeführten Beispiele einer verzögerten Marktöffhung sollten deutlich machen, dass Schutz vor Wettbewerb nicht nur gesamtwirtschaftlich zu Wohlfahrtsverlusten fuhrt, sondern auch den begünstigten Branchen langfristig eher zum Schaden gereicht. So ließ sich für die Fiat S.p.A. nach Ansicht der Verfasser plausibel vermuten, dass die unzureichenden Erfolge auf den Märkten der Integrationspartner und die gegenwärtige Absatzkrise auf dem italienischen Markt unter anderem damit erklärt werden kann, dass dieses Unternehmen zu lange auf den Fortbestand einer durch Protektionismus abgesicherten Monopolposition vertrauen zu können glaubte. Die europäischen Fluggesellschaften haben durch den eher zögernd betriebenen Deregulierungsprozess in Europa gegenüber ihren US-amerikanischen Konkurrenten Effizienznachteile hinnehmen müssen, die sie erst jetzt allmählich zu beseitigen begonnen haben. Ähnliche Vermutungen lassen sich auch für das deutsche Handwerk anstellen. Regulierung hat auch hier höhere Kosten der Leistungserstellung und eingeschränkte Anpassungsflexibilität zur Folge. Dadurch steigt sowohl auf der Angebots- als auch auf der Nachfrageseite der Anreiz, in die Schattenwirtschaft auszuweichen. In Deutschland hat dieser Sektor im Durchschnitt der Jahre 2001/2002 einen Umfang angenommen, der 16,3% des Bruttoinlandsproduktes entspricht (Schneider 2002). Von 1989/1990 bis 2001/2002 hat dieser Bereich eine Zunahme von 38,1 % erfahren. Die Regulierung des deutschen Handwerks ist dabei sicherlich nicht die einzige Ursache dieser Entwicklung, sie kann aber als erklärendes Moment von erheblichem Gewicht gewiss nicht ausgeschlossen werden, so dass auch hier wieder die bereits für Fiat und für den europäischen Luftverkehr getroffene Feststellung gelten würde, die Feststellung nämlich, dass sich Schutz vor neuen Wettbewerbern für die vermeintlich Begünstigten langfristig zumeist als Danaer-Geschenk erweisen dürfte.
5. Fazit: Marktöffnung als Prozess und Aufgabe Die funktionelle Methode wirtschaftlicher Integration setzt beim Verfolgen der angestrebten Ziele auf einen Wettbewerb gesteigerter Intensität in einem Gemeinsamen Markt der Integrationspartner, der durch die Beseitigung aller Hemmnisse für einen freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Personen und Kapital geschaffen werden soll. Integration zielt im Rahmen dieser Strategie folglich vor allem auf Marktöffhung. So simpel diese Absicht erscheint, so schwierig ist es erfahrungsgemäß sie mit dem gewünschten Erfolg auszuführen. Die Geschichte der Europäischen Gemeinschaft belegt diese Erfahrung. Ist es doch auch nach mehr als 45 Jahren noch nicht gelungen, den hier angestrebten Binnenmarkt tatsächlich zu vollenden. Zum einen ist die Aufgabe außerordentlich komplex und schwierig, weil nicht nur Zölle sondern auch nicht-tarifäre Handelshemmnisse zu beseitigen sind und darüber hinaus auch eine Wettbewerbspolitik zu betreiben ist, die privatwirtschaftlich organisierte Markteintrittsbarrieren zu vereiteln hat. Zum anderen wurde das Problem dadurch perpetuiert, dass die Europäische Union immer wieder um neue Mitglieder erweitert wurde, die sich zwar zur Übernahme des Acquis communautaire verpflichten mussten, aber weder de jure alle ihre heimischen Märkte sofort und uneingeschränkt zu öffnen brauchten, noch gegebenenfalls de facto dazu auch bereit und in der Lage gewesen wären.
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Im Übrigen wäre es naiv anzunehmen, es gelte ,nur' alle zu einem bestimmten Zeitpunkt bekannten Markteintrittshemmnisse zu beseitigen, um dann den Binnenmarkt ein für allemal ohne Einschränkungen geschaffen zu haben; denn solange in der Europäischen Union Staaten bestehen, wird es Regierungen geben, die sich den Rent-seekingAktivitäten einflussreicher organisierter Interessen nicht stets entziehen zu können glauben. Dadurch werden immer wieder aufs Neue Markteintrittshemmnisse oder Wettbewerbsverfälschungen geschaffen. So war es denn zwar propagandistisch geschickt, aber als Versprechen zugleich auch unseriös, dass die EU-Kommission in ihrem Programm .Binnenmarkt 92' ankündigte, dieses Vorhaben werde am 31.12.1992 abgeschlossen und der angestrebte einheitliche Markt damit ohne Abstriche Realität geworden sein. Tatsächlich wird nämlich stets zumindest ein Rest an Protektionismus auch in einem EU-Binnenmarkt bestehen bleiben. Ein funktionsfähiger Wettbewerb wird durch derartige Unvollkommenheiten erfahrungsgemäß nicht unmöglich gemacht. Schützen doch Markteintrittsbarrieren kaum jemals dauerhaft vor dem Aufkommen neuer Konkurrenz. Unternehmen, die Protektion durchsetzen konnten oder denen das Organisieren wettbewerbsbeschränkender Abwehrstrategien nicht untersagt wurde, vertrauen zu sehr auf den dadurch erlangten Schutz. Sie zeigen früher oder später Leistungsschwächen, die anderen dann die Chance verschaffen, erfolgreich in den ihnen zuvor versperrten Markt einzutreten. Diese Feststellung will nicht besagen, dass wirtschaftspolitisches Handeln hier nicht immer wieder geboten ist. Sie soll nur deutlich machen, dass es kein Widerspruch ist, wenn konstatiert wird, dass der EUBinnenmarkt noch zahlreiche Marktsegmentierungen aufweist, das Konzept der funktionellen Integration indes gleichwohl eindrucksvoll erfolgreich gewesen ist.
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Virtuelle Integration: Zur Rolle der Internet- und Medienwirtschaft im Integrationsprozess Ralf Geruschkai und Dirk Wentzel* Inhalt 1. Wirtschaftliche Integration durch virtuelle Medien? 2. Kategorien der virtuellen Integration
158 159
2.1. Präzisierung des Untersuchungsgegenstandes
159
2.2. Was wird integriert: Gütereigenschaften und Ordnungsbedingungen
161
2.3. Wer integriert: Regierungen, Unternehmen, N G O ' s
164
2.4. Wie wird integriert: Spontane versus gestaltete Prozesse
166
3. Bedingungen der virtuellen Integration 3.1. Kommunikation und Standards
167 168
3.1.1. Sprache
168
3.1.2. Technik
169
3.2. Vertrauen
170
3.2.1. Vertrauen in Technik
170
3.2.2. Vertrauen in Handelspartner
171
3.2.3. Vertrauen in Produkte
171
3.3. Temporäre gemeinsame Interessen 3.3.1. Interessenschutz durch supranationales Recht 3.3.2. Interessenschutz durch spontanes Recht: Lex Mercatoria und Selbstregulierung 4. Handelsströme und virtuelle Integration
172 172 173 176
4.1. Handelsschaffende Effekte
176
4.2. Handelsumlenkende Effekte
178
4.3. Handelsvernichtende Effekte
179
5. Virtuelle Integration und institutioneller Wandel
180
6. Ordnungsökonomische Schlussfolgerungen
182
Literatur
183
* Wir bedanken uns bei Paul Alpar, Gerrit Fey, Hannelore Hamel, Helmut Leipold, Alfred Schüller, Paul Weifens und Tini Wentzel für hilfreiche Kommentare. Ein besonderer Dank gilt auch dem Koreferenten Jaroslaw K. Ponder für konstruktive Anmerkungen.
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Ralf Geruschkat und Dirk Wentzel
„After years of stable obscurity and predictability, international telecommunications are growing increasingly complex, volatile, and unpredictable. Just 20 years ago, a rather thin book could set out uniform rules of the road and be embraced and enforced by a small, clubby group of government-owned or franchised monopolies. More has changed in the last 20 years than in the preceding century." Robert Frieden (2001, S. 1). 1. Wirtschaftliche Integration durch virtuelle Medien? Das Internet erlebte in den 1990er Jahren seinen Durchbruch vom spezialisierten Kommunikationsmittel für Universitäten, Forschungseinrichtungen und militärische Einrichtungen hin zur breiten Massenanwendung. Die schnelle Ausweitung des Internet seit 1993 und seiner attraktiven Anwendungsmöglichkeiten, etwa dem World Wide Web (WWW) und elektronischer Kommunikation (e-mail, chat), hat dabei vielfältige Effekte hervorgerufen, und zwar sowohl auf den Güter- und Faktormärkten als auch in der Internet- und Medienwirtschaft. Ohne Zweifel haben die .virtuellen Medien' zu einem Abbau von Handelsbeschränkungen zwischen Menschen, Unternehmen und Ländern und damit zu einer verstärkten wirtschaftlichen Integration bestimmter Regionen1 und auch der Weltwirtschaft beigetragen. Die Erwartungen über die mit dem Internet verbundenen Gewinnmöglichkeiten und die Hoffnungen auf ein „digitales Wirtschaftswunder" (Weifens und Jungmittag 2002) kannten dabei kaum Grenzen, beinahe analog dem von Bill Gates Anfang der 1990er Jahre ausgegebenen Motto: „The sky is the limit". Die Kursnotierungen an den ,Neuen Märkten' stiegen schnell in beachtliche Höhen, wobei allerdings auch wenig seriöse Unternehmen in der allgemeinen Euphorie mitgetragen wurden. So erreichte etwa das deutsche Medienunternehmen EM-TV, ein mittelständisches Unternehmen mit 300 Mitarbeitern im Segment Filmhandel, nur drei Jahre nach seinem Börsengang 1997 eine Börsenkapitalisierung von 14 Mrd Euro - deutlich mehr als traditionelle Anlagewerte wie etwa die Lufthansa. Andere Werte wie der elektronische Buchhändler Amazon erreichten ebenfalls Spitzenwerte, obwohl das Unternehmen fast ein Jahrzehnt lang Verluste einfuhr, bis es endlich auf eine solide ökonomische Basis und in die Gewinnzone gelangte. Der Euphorie folgte die Ernüchterung, und die Spekulationsblase platzte: Allein der Nemax-Index in Deutschland verlor seit dem Jahre 2000 ca. 90 % seines Wertes. Zu Beginn des Jahres 2003 ist der ,Neue Markt' als eigenständiges Börsensegment so nicht mehr vorzufinden. Gleichwohl ist kaum zu bestreiten, dass vom elektronischen Handel insgesamt beachtliche Wachstumspotenziale ausgehen (siehe Sander 2002).
1
Beispiele für Wirtschaftsregionen, die durch elektronischen Handel und Kommunikation besonders gefördert wurden, sind die Europäische Union oder auch die asiatisch-pazifische Wirtschaftskooperation der APEC. In einer aktuellen Presseerklärung vom 6. Mai 2003 lobt das APEC-Sektretariat beispielsweise ausdrücklich die Rolle der elektronischen Kommunikation bei der Einschränkung der infektiösen Lungenkrankheit SARS und damit bei der Begrenzung der wirtschaftlichen Schädigung, die durch diese Epidemie verursacht wurde.
Virtuelle Integration
159
Der ,Aufstieg und Fall' des Neuen Marktes und die Entwicklung digitaler Medienmärkte führen zu grundsätzlichen Fragestellungen: War die .virtuelle Ökonomie' nur ein zeitweiliges Spekulationsobjekt übertriebener Kursphantasien oder aber tatsächlich der Beginn eines lang anhaltenden Konjunkturzyklus, des fünften Kondratieff also? Welche Güter werden in der virtuellen Ökonomie gehandelt und was sind die besonderen Gutseigenschaften, die mit .traditioneller Wirtschaftstheorie' noch nicht hinreichend berücksichtigt werden? Welche langfristigen Wachstums- und Integrationseffekte sind zu erwarten? Wer sind die Gewinner und Verlierer in der virtuellen Wirtschaft? Welche Integrationswirkungen für bestehende Märkte gehen von den virtuellen Medien aus? Welche Ordnungsbedingungen sind zweckmäßig, um eine freie Marktentwicklung zu unterstützen und Innovationen zu fördern? Im vorliegenden Beitrag werden diese Fragestellungen in folgender Weise diskutiert. Im 2. Kapitel werden die Kategorien der virtuellen Integration aufgezeigt. Das 3. Kapitel behandelt die Bedingungen der virtuellen Integration. Danach werden im 4. Kapitel die Konsequenzen virtueller Integration fiir die Handelsströme, nämlich handelsschaffende, handelsumlenkende und handelsvernichtende Effekte untersucht. Die Auswirkungen der virtuellen Integration auf den institutionellen Wandel sind Gegenstand vom 5. Kapitel. Zum Abschluss werden ordnungspolitische Handlungsempfehlungen abgeleitet (6. Kapitel). 2. Kategorien der virtuellen Integration 2.1. Präzisierung des Untersuchungsgegenstandes Eine ordnungsökonomische Analyse virtueller Integration erfordert zunächst eine Präzisierung des Untersuchungsgegenstandes. Beim Aspekt der ökonomischen Integration geht es grundsätzlich um den Abbau von (zwischenstaatlichen) Beschränkungen des Güter-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs (siehe auch Cassel und Weifens in diesem Band). Die Integration eines Wirtschaftsraumes vollzieht sich in der Regel in der zeitlichen Abfolge erstens über die Schaffung einer Freihandelszone, zweitens einer Zollunion, drittens eines gemeinsamen Marktes und viertens einer Wirtschafts- und Währungsunion (hierzu Wentzel 1993). Die grundsätzliche theoretische Fragestellung, welche Integrationsschritte an welche ordnungspolitischen Voraussetzungen geknüpft sind, ist dabei keineswegs neu (siehe schon Balassa 1961). Offen ist nach wie vor, inwieweit durch eine regionale Integration handelsschaffende oder handelsumlenkende Effekte ausgelöst werden und wie der Netto-Effekt einzuschätzen ist. Um hier zu einer fundierten Aussage zu gelangen, ist in der Regel eine Einzelfallanalyse zweckmäßig. Ein höchst aktueller Gesichtspunkt dieser Fragestellung ergibt sich derzeit im Rahmen der europäischen Integration: Hier ist bislang noch nicht hinreichend geklärt, ob eine Erweiterung auf einer bescheideneren Integrationsstufe oder aber eine Vertiefung auf einer höheren Integrationsstufe vollzogen werden soll. Schwieriger ist es, den ordnungsökonomischen Gehalt von Virtualität zu erfassen. In der Literatur ist eine Vielfalt von Virtualitätsbegriffen vorzufinden (siehe Littmann und Jansen 2000, S. 32 ff.). Rein sprachlich bedeutet virtuell eigentlich: Der Möglichkeit nach vorhanden, nur gedacht oder scheinbar. Aber ist die ,virtuelle Ökonomie' nur scheinbar vorhanden? Immerhin sind eindeutige Auswirkungen auf die traditionellen Güter-, Faktor- und auch Arbeitsmärkte festzustellen (siehe OECD 2002). Die Formu-
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Ralf Geruschkat und Dirk Wentzel
lierung von der virtuellen Wirtschaft ist letztlich eine Art von Widerspruch in sich.2 Allgemein kann festgestellt werden, dass es sich um einen unscharfen Begriff für eine ebenso unscharfe Erscheinung handelt. Beim Versuch einer ordnungsökonomischen Einordnung erscheint es zweckmäßig, unter Virtualisierung solche Prozesse, Interaktionen und Tauschbeziehungen zu verstehen, die unter Zuhilfenahme von Informations- und Kommunikationstechnologien (IuK) durchgeführt werden. Virtualität bezieht sich also auf die Methode der Interaktion, des Güteraustauschs und der Kommunikation. Es geht um elektronischen Datenaustausch mit Hilfe des Computers und anderer Zugangsgeräte, beispielsweise aus dem Bereich der Mobiltelefonie. Von der weltweiten Vernetzung dieser Rechner werden große Wachstumspotenziale und teilweise auch eine Neuordnung von Wirtschaftsräumen erwartet. Für diese Vorstellung steht das Bild von der ,cottage-based-economy', also von Arbeitsplätzen im PC-gestützten Hochtechnologiebereich, die aber prinzipiell auch in einer Schweizer Almhütte, in einer cottage also, entstehen könnten. Informations- und Kommunikationstechnologie und die hieraus entstehenden neuen ordnungsökonomischen Fragestellungen sind aber keineswegs als lineare Fortschreibung vormals bestehender Post- und Fernmeldemonopole misszudeuten. Frieden (2001, S. 12 ff.) diskutiert in diesem Zusammenhang das Bild vom „clash of the phoneheads and the netheads". Gemeint ist hiermit, dass die Regulierungsphilosophie im Telefonzeitalter noch von natürlichen Monopolen ausging, die es durch staatliche Regulierung und Preisvorgaben zu etablieren und zu schützen galt. Das Netzzeitalter wirft jedoch wesentlich komplexere Zusammenhänge auf. Das Netz ist grundsätzlich nicht-hierarchisch, nicht-linear und einer direkten staatlichen Einflussnahme kaum noch zugänglich. Auch die Unternehmertypen unterscheiden sich von denen im monopolistischen Postzeitalter. Netheads sind kreativ, unkonventionell, nicht-autoritär und dem Grundsatz nach sehr kritisch gegenüber staatlicher Einflussnahme. Die technische Dimension des Übergangs von den Phoneheads zu den Netheads wird häufig mit Hilfe der Gesetze von Metcalfe und Moore analysiert. Metcalfes Gesetz besagt: Der Wert eines Netzwerkes steigt im Quadrat mit der Summe seiner Teilnehmer. Je mehr Menschen ein Netzwerk benutzen, um so wertvoller wird es: Es liegen so genannte „Netzwerk-Externalitäten" vor (siehe Shapiro und Varian 1999). Moores Gesetz besagt, dass sich die Kapazitäten der Informationstechnologie innerhalb von 18 Monaten verdoppeln, während sich gleichzeitig die Produktionskosten halbieren. Nimmt man diese beiden Kennziffern als Indikatoren der technologischen Potenziale, so wird deutlich, warum die Informations- und Kommunikationstechnologie sowie das Internet häufig mit dem Beginn der industriellen Revolution verglichen werden. Das „IntemetMantra" (Frieden 2001) besteht demnach aus fünf Attributen: schneller, besser, billiger, klüger und bequemer. Diese technischen Innovationen erhöhen auch die Geschwindigkeit des institutionellen Wandels. 2
Auch bei der Erscheinung der so genannten .virtuellen Realität' (virtual reality) liegt ein solcher Widerspruch in sich vor. Bei der virtuellen Realität geht es darum, bestimmte künstliche Welten durch Computersimulationen zu erschaffen. Sowohl die naturwissenschaftliche Forschung als auch die Unterhaltungselektronik bedient sich dieser Methode, auf die im vorliegenden Beitrag aber nicht intensiver eingegangen wird.
Virtuelle Integration
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Für die zugrunde liegende Fragestellung erscheint es zweckmäßig, virtuelle Integration nach dem Gegenstandsbereich sowie nach den beteiligten Interaktionspartnem zu differenzieren. Grundsätzlich sind zu unterscheiden nach dem Gegenstandsbereich der elektronische Handel (e-commerce), elektronische Beschaffung (e-procurement), elektronisches Lernen (e-learning), die virtuelle Unternehmung (e-enterprise) und die virtuelle Regierung (e-government oder auch .Internetbasierter Behördenverkehr'). Es zeigt sich, dass die verschiedenen Bereiche virtuellen Handelns bisher unterschiedlich stark verbreitet sind. Während der elektronische Handel in den letzten Jahren über systematische Zuwachsraten verfügt (siehe EITO 2003) und auch die virtuelle Beschaffung im Inner- und Intra-Untemehmens-Handel Bedeutung gewinnt, ist der Bereich des virtuellen Lernens beispielsweise in Deutschland und in Europa noch vergleichsweise unterentwickelt (siehe Wentzel und Oelmann 2002), obwohl mit der EU-Richtlinie zum elektronischen Geschäftsverkehr vom 8. Juni 2000 (RL 2000/31/EG) durchaus schon eine gesetzliche Grundlage geschaffen wurde. Auch die virtuelle Regierung, also die Nutzung des Internets und virtueller Medien zur Verbesserung demokratischer und administrativer Handlungen, ist bisher noch hinter den optimistischen Entwicklungen der Gründungsphase zurückgeblieben. Bei der Unterscheidung der Interaktionspartner kann differenziert werden in Business-to-Business (B2B, etwa Rohstoffhandel über das Internet), Business-to-Consumer (B2C, etwa ein Buchkauf bei Amazon oder eine Direktbuchung eines Flugtickets), Consumer-to-Consumer (C2C, etwa Online Auktionen), Citizen-to-Administration (C2A, beispielsweise Erledigung von Visa-Formalitäten), Business-to-Administration (B2A, etwa die Lizenzerteilung für ein Gewerbe) oder auch Business-to-Employee (B2E, beispielsweise die Bekanntmachung untemehmensintemer Informationen). Im B2B-Bereich finden ca. 80 % der bisherigen Transaktionen der virtuellen Wirtschaft statt. Es zeigt sich - sicherlich nicht sehr überraschend - , dass die privaten Unternehmen in verstärkter Weise auf die neuen Handlungspotenziale der virtuellen Wirtschaft zurückgreifen. Der private Intemet-basierte Konsum, wenngleich insgesamt auch steigend, wächst jedoch deutlich langsamer. In einigen Ländern liegt dabei auch die Vermutung nahe, dass unangemessene staatliche Regulierung sich hier als Entwicklungsbremse herausstellt. Eine relative Erfolgsgeschichte sind Interaktionsmöglichkeiten zwischen Konsumenten (C2C) - hier vor allem in Form von Auktionen, wie beispielsweise Ebay. Neben der tatsächlichen Möglichkeit der Menschen, sich aktiv ins Marktgeschehen einzuklinken und günstige Kaufgelegenheiten zu finden, dürften auch spielerische Momente eine gewisse Rolle spielen. 2.2. Was wird integriert: Gütereigenschafteii und Ordnungsbedingungen Bei der Untersuchung virtueller Integration stellt sich zunächst die Frage: Was wird integriert. Hier geht es einerseits um die Produkte und deren spezifische Eigenschaften, andererseits um die Ordnungsbedingungen für den Tausch materieller und immaterieller Güter. Bei virtuellen Produkten bzw. beim virtuellen Handel sind zu unterscheiden: 1. Informationsgüter (Geschäftsinformationen, verwertbare Informationen als Produktionsfaktoren, Unterhaltung als Konsumgüter, Dienstleistungen).
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Ralf Geruschkat und Dirk Wentzel
2. Elektronischer Handel mit materiellen Gütern (Aspekt der Homogenität bzw. Heterogenität von Gütern). 3. Prozess-Veränderungen (Effizienz, Geschwindigkeit, Kostensenkung, Bequemlichkeit). Informationsgüter und der elektronische Handel mit materiellen Gütern beziehen sich auf direkte Güter und Dienstleistungen, während Prozessveränderungen quasi indirekten, prozesspolitischen Charakter haben, weil sie sich auf die Veränderung (Optimierung) von Wertschöpfungsketten beziehen. Informationsgüter haben bekanntlich eine Vielzahl besonderer Eigenschaften, die auch für die Marktentwicklung sowie für wirtschaftspolitische Handlungsempfehlungen von Interesse sind. An erster Stelle ist zu erwähnen, dass Informationsgüter Grenzkosten der Vervielfältigung und der weltweiten Verbreitung von beinahe null aufweisen. Es entsteht ein hoher Fixkostenanteil bei der Produktion von Informationen bei gleichzeitigen minimalen Grenzkosten; diese wiederum führen zu dauerhaft und systematisch fallenden Durchschnittskosten. Unter diesen Bedingungen kann aber bekanntlich kein Marktgleichgewicht entstehen (siehe Tietzel 1994). Aus dieser Kostenstruktur ergibt sich ein wichtiger Aspekt für den Wettbewerbsprozess. Ein innovativer Unternehmer hat einen besonderen monopolartigen Wettbewerbsvorsprung (first-mover-advantage). Informationsgütermärkte sind häufig typische Siegermärkte: „The winner takes it all" (siehe Wentzel 2002a). Der Preis einer Information richtet sich ausschließlich nach dem Wert derselben, nicht aber nach den Produktionskosten. Informationen sind dabei typische Erfahrungsgüter. Niemand kann wissen, dass die Wirtschaftszeitung tatsächlich 2 Euro wert ist, bevor man sie überhaupt gelesen hat. Dies führt dazu, dass die Anbieter von Informationsgütern beim Markteintritt ihr Produkt mehr oder minder verschenken bzw. großzügige unentgeltliche Testexemplare anbieten müssen, um überhaupt Kunden zu gewinnen. Informationsgüter erfordern deshalb in besonderer Weise die Bildung und die Pflege von Markennamen und Gütesiegeln (seals), um Reputation aufzubauen und Kunden längerfristig zu binden. Informationsgüter sind zudem ,distanzneutraP, weil es sich um ,intangible' Güter handelt. Es ist letztlich entscheidungsirrelevant, wo eine Information ins Netz gestellt wird, da sie im Normalfall von jedem Ort der Welt in der gleichen Zeit abgerufen werden kann.3 Die Bedeutung von .Raum' und ,Zeit' im ökonomischen Austausch (siehe Giersch 1990) reduziert sich unter den Bedingungen virtueller Integration. Der Wert einer Information hängt immer auch von der ,Quantität' anderer verfugbarer Informationen ab, unabhängig von deren tatsächlicher Qualität: „A wealth of Information creates a poverty of attention" (Shapiro und Varian 1999, S. 6). Wenn eine Suchmaschine im Internet auf eine Anfrage mehr als eine Million verschiedener Treffer liefert, so ist dies zur Klärung des ursächlichen Informationsbedarfs wenig hilfreich. Es stellt sich in diesem Einzelfall wie auch generell die Frage der Mediennutzungs- und ,Selektionskompetenz', um überreichlich vorhandene Informationen in verwertbares Wissen zu transformieren und wirtschaftlich nutzbar zu machen. 3
Juristisch ist es selbstverständlich höchst relevant, wo eine Information ins Netz gestellt wurde, da sich hieraus Gewährleistungs- und Haftungsfragen ableiten, wie sie in den jeweils gültigen Landesgesetzen kodifiziert sind (siehe Art. 3 RL 2000/31/EG).
Virtuelle Integration
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Der Handel mit materiellen Gütern wird durch virtuelle Integration und Informationstechnologie ebenfalls beeinflusst, obwohl das eigentlich zugrunde liegende Geschäft unverändert bleibt, wenn eine Person A beispielsweise bei einer anderen Person B ein bestimmtes Gut erwirbt. Eine Rohstoffauktion ist und bleibt eine Rohstoffauktion, unabhängig davon, ob sie an einer Warenbörse oder im Internet stattfindet. Allerdings wird die .Handelsintensität' insgesamt deutlich erhöht, weil alle am Tauschgeschäft Beteiligten über größere Markttransparenz verfügen, Preise besser vergleichen und schneller auf neuere Anforderungen reagieren können. Hier zeigt sich das ,Internet-Mantra' in direkter Form: Zwar ist das Handelsgeschäft an sich nicht neu, aber dafür wird es schneller, besser, billiger, klüger und bequemer abgewickelt: Die Informations- und Kommunikationskosten reduzieren sich deutlich. Es kann die These vertreten werden, dass sich die .Produktlebenszyklen' und ,Marktphasen' insgesamt deutlich verkürzen. Die Auswirkungen virtueller Integration lassen sich besonders an der Veränderung der innerbetrieblichen .Wertschöpfungsketten' aufzeigen. Auch hier gilt, dass der Bereich der Produktentwicklung an sich nicht neu ist, lediglich unter veränderten technologischen und institutionellen Rahmenbedingungen abläuft. Virtuelle Produktentwicklung und Produktion erlauben die gleichzeitige Arbeit in internationalen Teams über Ländergrenzen und Zeitzonen hinweg. Gerade im Bereich der Software-Entwicklung ist es in multinationalen Unternehmen durchaus üblich, dass mit Forschergruppen in Europa, den USA und im asiatisch-pazifischen Raum gleichzeitig an Projekten .rund um die Uhr' gearbeitet wird. Insofern ist hier auch eine tragende Säule des wirtschaftlichen Integrationsprozesses angesprochen: Mehr als 30 % des OECD-Handels ist Intra-Firmen-Handel. Aus diesem Grunde lässt sich die Hypothese vertreten, dass die innerbetriebliche Koordination des Produktionsprozesses innerhalb der multinationalen Unternehmen durch die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien entscheidend verbessert wird. Es geht dabei aber vielmehr um innerbetriebliche Integration multinationaler Unternehmen, weniger um die Integration spezifischer Wirtschaftsräume. Das Internet bietet vielfaltige ökonomische Anwendungsmöglichkeiten. Freilich ist zu betonen, dass Information und Kommunikation im Vordergrund stehen (siehe Abbildung 1). E-mails, Nachrichten, Informationen (auch über Produkte), Reiseinformationen und Bildungs- bzw. Weiterbildungsangebote stehen eindeutig an der Spitze der Nutzungsintensität. Auch Konsumgüterkäufe werden häufig über das Internet angebahnt, dann aber in einem realen und traditionellen Rechtsgeschäft durchgeführt. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn eine Marktvergrößerung und eine verbesserte Markttransparenz für den Kunden hilfreich sind, um einen besseren Überblick über die angebotenen Produktqualitäten zu gewinnen - etwa beim Automobil- oder Immobilienkauf. Auch hochgradig bürokratisch reglementierte Bereiche können durch die verbesserte Markttransparenz des Internet verbessert, eventuell sogar institutionelle Reformen angestoßen werden. Die studierwilligen Abituijahrgänge in Deutschland beispielsweise informieren sich sehr genau über die Hochschulen, an denen sie studieren wollen. Obwohl der freie Hochschulzugang durch die Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen (ZVS) immer noch stark beschränkt wird, gelangt ein immer stärkeres wettbewerbliches Element in den staatlichen Hochschulsektor, weil durch das Internet die nachfrageseitige Selektionskompetenz gestärkt wird. Außerdem werden durch das Internet vielfältige internationale Bildungsangebote verfügbar. Ein deutscher Studierender kann schon
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heute internationale Kurse im , World Campus' belegen, etwa in Australien oder in den USA, und dort crédits und sogar einen Abschluss erwerben (siehe Wentzel und Oelmann 2002). Der Markt für akademische Weiterbildung (continuing higher éducation) basiert fast vollständig auf dem Internet. Möglicherweise entsteht durch diese Optionen ein hilfreicher Reformdruck, um das staatliche deutsche Universitätssystem grundlegend umzugestalten und für den Wettbewerb zu öffnen. Abbildung 1: Internet-Aktivitäten in verschiedenen Anwendungsgebieten Europa/Deutschland: Top Internet-Aktivitäten in Prozent der Internet-Nutzer, November 2001 E-Maiien
"173.6 ••77.4 3 72,9
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News/Informationen
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Reiseinfos
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SF *
Fort- und Weitertiüdung
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Gesundheitsinfos
Steilenanzeigen
Online-Banking
Ticketresen/ierung
Diskussionsforen
Andere private Zwecke
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Quelle: Eigene Darstellung nach NFO Infratest, Information und Dokumentation, Monitoring Informationswirtschaft (September 2002, S. 28). 2.3. Wer integriert: Regierungen, Unternehmen, NGO's Bei der Frage, wer die ,'Träger' der virtuellen Integration sind, geht es sowohl um Regierungen, um einzelne Unternehmen und Individuen, aber auch um nationale und internationale Verbände und Non-Govemmental-Organizations (NGO). Je nach politischer Zielsetzung können sich einzelne Regierungen um eine regionale Integration bemühen, um die Vorteile dezentralisierten Güteraustausches verstärkt zu nutzen und die Handelsintensität zu verbessern. Aktuelles Beispiel wäre etwa die North American Free Trade Association (NAFTA), die Mexiko, die USA und Kanada verbindet oder aber die APEC, die im asiatisch-pazifischen Raum 21 Staaten mit einer Bevölkerung von ca. 2,5 Milliarden Menschen zusammenführt (vgl. Pascha in diesem Band). Bei diesen Integrationsbemühungen geht es um eine Angleichung der Ordnungsbedin-
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gungen, um Spannungen beim grenzüberschreitenden Handel zu vermeiden. Die .virtuelle Vernetzung' verschiedener Handelräume ist dabei ausgesprochen förderlich (siehe Cassel und Weifens in diesem Band): Unter Zuhilfenahme des Internets kann sich jeder Investor in relativ kurzer Zeit über Standortbedingungen genau informieren. Der Wettbewerb der Jurisdiktionen und Systeme wird hierdurch maßgeblich gefördert. Ob die Regierungen Handelnde oder Getriebene dieses Prozesses sind, ist nicht immer eindeutig zu klären. Im Prozess der europäischen Integration und der Schaffung des .Gemeinsamen Marktes' etwa haben die Regierungen durch den bewusst geplanten Abbau von Kapitalverkehrsbeschränkungen einen wichtigen Integrationsschritt selbst vollzogen. Im Bereich der europäischen Medienordnung hingegen sind die Regierungen zumindest teilweise durch die spontanen Marktkräfte entgegen ihrem eigentlichen Willen zur Aufgabe nationaler Rundfunkmonopole gezwungen worden (vgl. Wentzel 2002a). Ein optimaler Medienraum4 endet schon rein technisch nicht unbedingt an der luxemburgischen Grenze. Es kann die These vertreten werden, dass der europäische Integrationsschub Mitte der 1990er Jahre unter anderem auch durch technische Innovationen und die virtuelle Vernetzung befördert wurde. Mit der Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr (RL 2000/31/EG) hat sich die EU bemüht, einen allgemeinen Ordnungsrahmen für elektronischen Handel und Dienstleistungen bereitzustellen. Die liberalen Grundsätze der Freizügigkeit wurden dabei ausdrücklich betont ebenso wie Anforderungen an die Marktteilnehmer, durch Selbstregulierungen eigenständig bei der Weiterentwicklung der Rahmenbedingungen aktiv mitzuwirken (siehe etwa Art. 16 und 17 RL 2000/31/EG). Jedoch sind in der EURichtlinie und in der voranstehenden Begründung (Punkte 1-65) aber auch genügend Ausweichstrategien angelegt, wenn es etwa um den Schutz des .kulturellen Erbes Europas' geht. Solche Formulierungen sind bekanntlich besonders beliebt, um Ausnahmen von den GATT-Prinzipien oder der Meistbegünstigung zu bewirken. Ob die EU-Richtlinie also insgesamt die virtuelle Marktentwicklung und die regionale Wirtschaftsintegration befördert, wird also in der Zukunft noch zu prüfen sein. Aber auch für die positiven und integrationsbeschleunigenden Wirkungen virtueller Medien gilt der wichtige Grundsatz, dass zwischen den Handelnden ein .konstitutionelles Minimum' an gemeinsamem Recht und gemeinsamen Überzeugungen vorhanden sein muss. Unabhängig davon, ob ein Rechtsgeschäft auf elektronischem oder auf traditionellem Weg vollzogen wird, muss ein gewisses Maß an Vertrauen in die wechselseitige Vertragserfüllung und Sicherheit existieren. Hier gibt es viele interessante Beispiele auf Länderebene: Trotz der politischen und wirtschaftlichen Differenzen etwa zwischen den APEC-Mitgliedem USA und China ist zwischen diesen Ländern ein beachtliches Maß an Vertrauen und - daraus abgeleitet - Handelsintensität festzustellen. Die Begründung und Festigung von Vertrauen zeigen sich aber auch an den Bemühungen multinationaler Unternehmen, grenzüberschreitende Handelsbeziehungen zu organisieren (siehe Picot, Reichwald und Wigand 2001, S. 387 ff., und Kapitel 3. in diesem Beitrag). Zweifelsohne entsteht durch die elektronische Vernetzung eine starke Tendenz zu mehr Dezentralisierung im Verhältnis von Zulieferern, Unternehmen und Kunden. Die 4
Ansätze zu einer Theorie des optimalen Medienraums finden sich bei Wentzel (2003b).
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Intensität der Tauschbeziehungen hängt aber letztlich nicht allein von den Kommunikationsbedingungen ab, sondern von der Qualität der darunter liegenden Institutionen: Das Beispiel MERCOSUR verdeutlicht den Fall einer vergleichsweise weniger erfolgreichen regionalen Integration, die in erster Linie auf politische Unsicherheiten in einigen Teilnehmerländern zurückzuführen ist. Sicherlich könnten die technische Infrastruktur und die virtuelle Vernetzung in diesen Ländern intensiviert und möglicherweise handelsschaffende Effekte ausgelöst werden. Gleichwohl bleibt fraglich, ob die institutionellen Fehlentwicklungen in Latein-Amerika hierdurch grundlegend beseitigt werden könnten (siehe de Soto 2000). Elektronischer Datenaustausch kann Transaktionskosten senken, gleichwohl nur wenig direkt zur Schließung der Vertrauenslücke (trust gap) und zur Überwindung von Rechtsunsicherheit (legal gap) beitragen. Neben Regierungen und Unternehmen bedienen sich auch Verbände in zunehmendem Maße der virtuellen Vernetzung, um ihre Ziele besser und schneller zu erreichen. In der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur werden Verbände zumeist unter dem Blickwinkel positiver und negativer Externalitäten diskutiert. Zimmermann (1999) diskutiert beispielsweise die positiven Effekte, die durch die freiwillige Bereitstellung öffentlicher Güter durch caritative Einrichtungen hervorgebracht werden. Die Bedeutung dieses tertiären Sektors wird häufig unterschätzt. Sen (1999) verweist auf die Wirkung virtueller internationaler Netzwerke für die Verbreitung von Menschenrechten und die Stärkung individueller Freiheit: Auch hierdurch werden positive externe Effekte erzeugt. Virtuelle Vernetzung kann aber insgesamt auch negative Externalitäten verursachen, wenn es Verbänden und einflussreichen Interessengruppen gelingt, ihre nationale Monopolmacht durch kartellähnliche Absprachen auf die internationale Ebene zu übertragen. Auch Protestgruppen und Globalisierungsgegner nutzen elektronische Netzwerke, um eigene Aktionen vorzubereiten. Ebenso hat es direkte .elektronische Angriffe' - etwa auf Websites internationaler Organisationen wie dem Weltwirtschaftsforum - schon gegeben. Die Kosten der Abwehr- bzw. Reparaturmaßnahmen gegen solche elektronischen Attacken sind beachtlich. 2.4. Wie wird integriert: Spontane versus gestaltete Prozesse Das Internet ist ein sehr gutes Beispiel einer spontanen und evolutorischen Entstehung von Ordnung. Gleichwohl spielten zumindest in der Gründungsphase auch gesetzte (staatliche) Ordnungselemente eine beachtliche Rolle. So war das ARPANET (1968), der technologische Vorläufer des Internet in den USA, ganz eindeutig von militärischen Überlegungen beeinflusst. 1976 wurde das USENET ins Leben gerufen mit dem Ziel, eine dauerhafte Kommunikationsplattform zwischen der Duke University und der University of North Carolina zu etablieren. Ab den 1990er Jahren entstand dann das World Wide Web (WWW), das letztlich auf der Nutzung von ,hyperlinks' beruht. Diese links ermöglichen es den Nutzern, gleichsam ,von link zu link' zu klicken und somit durch das Internet zu wandern. Mit den hyperlinks und der zunehmend kostengünstigen Verbreitung von Personal Computern (PC's) war jene technische Innovation entstanden, die aus dem Internet ein ,Massenmedium' werden ließ. Mit zunehmender Verbreitung auf nicht-staatliche Stellen und Träger erhielt das Internet seine charakteristische Ausprägung als dezentrale, nicht-hierarchische und teilweise chaotische Ordnung.
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Viele Ordnungselemente im Internet sind größtenteils spontan entstanden. Diskussionsforen, Kommunikationsstandards, Übertragungsprotokolle und Umgangsformen wurden in sehr kurzer Zeit entwickelt und weltweit verbreitet. Zwar haben internationale Organisationen wie die International Telecommunications Union (ITU) unterstützend gewirkt (hierzu Frieden 2001); die entscheidenden Anstöße sind jedoch auf private Initiativen zurückzuführen. Viele technische Standards wurden in so genannte .offenen Foren' weiterentwickelt. Der transnationale Charakter des Internets erfordert Lösungen, die sich vom (eng ausgelegten) Recht der jeweiligen Nationalstaaten abheben. Selbstregulierung ist dabei eine tragende Säule der gesamten länderübergreifenden Ordnungspolitik im Internet (siehe Wentzel 2003b). Zwar ist nationale (staatliche) Ordnungspolitik nicht vollkommen bedeutungslos geworden. Allerdings besteht in verstärktem Maße die Gefahr, dass staatliche Interventionen nur noch als Störgrößen wahrgenommen werden. Manche Regierungen haben noch nicht erkannt, dass der Übergang von den ,phoneheads' zu den ,netheads' auch einen Wandel der Regulierungsphilosophie erfordert. Ein medienpolitisches Leitbild ist notwendig, dass eine möglichst freie Marktentfaltung fordert: So ist beispielsweise der deutsche Medienmarkt weltweit deijenige mit der höchsten Regulierungsdichte. Diese Form der ,nacheilenden Ordnungspolitik' erweist sich für Deutschland zunehmend als Standortnachteil. 3.
Bedingungen der virtuellen Integration
Um zu einer virtuellen Integration wirtschaftlicher Räume zu gelangen, sind verschiedene Faktoren zu berücksichtigen. Im Kern geht es dabei um Elemente einer .Theorie des optimalen Medienraums'. Bekanntlich bestehen im Sektor der elektronischen Medien gewisse Konzentrationsneigungen, die u. a. durch die .versunkenen Kosten' bei der Investition in Medieninfrastruktur, durch die spezifischen Eigenschaften von Informationsgütem mit Reproduktionskosten von annähernd null und durch die so genannte Werbeeinnahmen-Reichweiten-Spirale begünstigt werden.5 Diese Effekte werden noch intensiviert, wenn Standardisierungs- und Netzwerkeffekte hinzukommen. So ist es für die Anwender von Kommunikationssoftware in der Regel sinnvoll und komfortabel, wenn nur ein technischer Standard existiert, der die Austauschbarkeit von Daten mit jedem beliebigen Partner garantiert. In diesem (,Windows'-)Fall ist ein monopolistisches Angebot die Konsequenz mit Neigungen zum Marktabschluss und zur Übertragung der Monopolmacht in angrenzende Bereiche. Dies ist aber nicht a priori schädlich, denn es bringt dem Verbraucher auch durchaus greifbaren Nutzen. 6 Den technologisch bedingten Ausweitungstendenzen elektronischer Medien stehen aber auch limitierende Faktoren eines optimalen Medienraums entgegen, etwa in Form der Sprache, bei der Bildung und Ausbildung der Nachfrager sowie durch kulturelle Prägungen, Traditionen und Normen.
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Zu den Konzentrationsneigungen in den elektronischen Medien siehe Wentzel (2002a). Dieses Kriterium ist wegweisend für die amerikanischen Anti-Trust-Behörden, die in ihrer Rechtsprechung vergleichsweise geringen Wert auf abstrakte Kriterien und Kennziffern legen, sondern die Frage „Does it serve the consumer or not" in den Mittelpunkt der Abwägungsentscheidung stellen.
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3.1. Kommunikation und Standards Kommunikation kann als Austausch von Informationsinhalten beschrieben werden. Damit ist sie eine notwendige Voraussetzung für Integrationsprozesse, die eine Interaktion zwischen Individuen, Unternehmen oder auch Staaten erfordern. Verschiedene Merkmale .virtueller' Integrationsprozesse stellen besondere Anforderungen an die Kommunikation: Hervorzuheben ist hier die .Transnationalität' und die Verwendung .elektronischer Medien' im Rahmen virtueller Integrationsprozesse. Daher liegt eine Betrachtung der Charakteristika einer transaktionskostenminimalen Kommunikation auf Ebene der Sprache und der Technik nahe. Zuvor soll jedoch die Bedeutung von Standards für Kommunikationsprozesse dargestellt werden. Informationsinhalte werden in kodierter Form übertragen, ob durch Sprache in einem direkten Gespräch oder durch Zeichen, wie beispielsweise Texte oder Bilder im Internet. Erfolgt die Kodierung der Informationsinhalte auf Seiten des Senders, die Übermittlung und die Dekodierung auf Seiten des Empfängers nach einem einheitlichen Regelsystem, so kann von der Benutzung eines Kommunikationsstandards gesprochen werden. Die Benutzung eines Standards, ob in Sprache oder Technik, senkt die Kommunikationskosten wesentlich und erhöht somit bei einem gegebenen Budget die Verfügbarkeit von Informationen und potenziellen Kommunikations- bzw. Integrationspartnern. Werden hingegen Informationsinhalte nicht nach einem einheitlichen Regelsystem übermittelt, fallen zusätzliche Kosten an, beispielsweise für einen Dolmetscher oder für die Konvertierung von Daten bei der Benutzung unterschiedlicher Softwareanwendungen. Standards sind durch positive Netzwerkexternalitäten gekennzeichnet (Tietzel 1994, S. 340 f.). Die Benutzer eines Kommunikationsstandards bilden ein Netz, dessen Wert mit jedem zusätzlichen Nutzer steigt. Mit diesen Gütern können zum einen positive Rückkopplungseffekte verbunden sein. Das Ausmaß dieser positiven Rückkopplung hängt vor allem von den .Erwartungen' der Nutzer ab, inwieweit sich ein Standard etablieren kann. Ist diese Erwartung hoch, so kann es bei der Einführung eines neuen Standards ab einer kritischen Masse zu einer explosionsartigen Ausbreitung des Standards kommen. Zum anderen können Lock-in-Situationen dann auftreten, wenn der Nutzen eines Standardwechsels kleiner als die Wechselkosten ist. Diese Effekte können zu natürlichen Monopolen und Pfadabhängigkeiten führen (siehe Shapiro und Varian 1999). 3.1.1. Sprache Die Benutzer einer Sprache bilden ein Netzwerk, innerhalb dessen die Kodierung und Dekodierung von Informationsinhalten mit relativ geringen Kosten verbunden ist. Halten sich alle Benutzer an die allgemeingültigen Grammatikregeln einer Sprache, kann das Risiko eines Missverständnisses minimiert werden (Blankart und Knieps 1994, S. 494 f.). Aus institutionentheoretischer Perspektive kann eine Sprache als .selbstbindende Institution' charakterisiert werden, die innerhalb eines Landes eine monopolartige Stellung einnimmt. Bei internationalen Kommunikationsprozessen treten erhöhte Kosten auf, da bei diesen häufig zwei Sprachnetzwerke aufeinander treffen. Dies können beispielsweise Kosten für die Übersetzung der Informationsinhalte von einer Spra-
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che in die andere oder ein erhöhtes Risiko für Missverständnisse und daraus resultierenden Kosten sein. Die Kosten der Sprachendienste der EU und die zusätzlichen Kosten durch die beschlossene Osterweiterung illustrieren die Bedeutung der Kommunikationskosten bei der Integration unterschiedlicher Sprachräume. Es wird angenommen, dass die EU über den weltweit größten Übersetzungs- und Dolmetscherdienst verfügt. Im Jahre 1999 wurden zwar nur unter 1 % des EU-Gesamtbudgets für die Sprachendienste verausgabt, jedoch waren dies immerhin ca. 15 % des administrativen Budgets (de Cillia 2002). Mehr als 23 % der Beschäftigten der EU waren 2001 in den Sprachendiensten tätig. Es wird vermutet, dass die Kosten für die Sprachendienste von zur Zeit ca. 800 Mio. Euro pro Jahr auf ca. 1,4 Milliarden Euro pro Jahr bis 2006 steigen werden ( S c h e f f e r 2002). 3.1.2. Technik Der Einsatz modernster Informations- und Kommunikationstechniken ist Kennzeichen virtueller Integrationsprozesse. Im Mittelpunkt steht dabei das .Transmission Control Protocol/Intemet Protocol' (TCP/IP), welches den Grundstein für die beispiellos schnelle Verbreitung des Internets bildet. Unter einem Protokoll kann man einen Satz von Vereinbarungen verstehen, der die Übertragung von Daten zwischen Netzwerken regelt. Das 1974 entwickelte TCP/IP wurde nach und nach von den Vorläufern des Internets übernommen und entwickelte sich zum grundlegenden und bekanntesten Kommunikationsstandard für Internet-Anwendungen. Es wurde unter drei Prämissen entwickelt, die auch zugleich den Erfolg dieses Protokolls begründen. Erstens sollte Unabhängigkeit vom Übertragungsmedium gewährleistet sein, zweitens sollten Netzwerke unterschiedlicher Hardwaretechnologien verbunden werden, und drittens sollte die Kommunikation robust gegen Störungen sein (Alpar 1998, S. 15 ff., S. 25 f.). Die Realisierung dieser drei Prämissen im Rahmen des Internets ermöglichte eine interaktive Kommunikation über Kupfer-, Glasfaser- oder auch Satellitennetze mit Hilfe von Handys, Computer oder Femseher, die sekundenschnell über den ganzen Globus unter hoher Verbindungssicherheit erfolgt. Insofern liegt der Gedanke nahe, von einem ,Meta-Standard' zu sprechen, der verschiedenste Kommunikationsnetze und Zugangstechnologien zusammenführt. Besonders hervorzuheben sind die Entwicklungen im Bereich der Zugangstechnologien. Deren Entwicklungen lassen sich durch eine zunehmende Simplifizierung, Miniaturisierung (Verkleinerung) und Mobilität beschreiben (Wirtz 2002, S. 115 ff.). Die Simplifizierung drückt sich durch eine verstärkte Vernetzung der Technologien aus. So können auf dem einzelnen Gerät nur einige grundlegende Funktionen installiert werden, wodurch die Benutzung vereinfacht wird, und bei zusätzlichem Bedarf können weitere Funktionen aus dem Netzwerk geladen werden. Die Miniaturisierung kann am Beispiel immer kleinerer und leistungsfähigerer Mobilfunktelefone veranschaulicht werden; deren Gewicht lag Mitte der 1980er Jahre noch im Kilogramm-Bereich, wohingegen ein Gerät der heutigen Generation mit einer vielfachen Leistung ca. 100 Gramm wiegt. Hinsichtlich der Mobilität erlauben drahtlose Funksysteme nahezu unbegrenzte Mobilität bei dem Zugang zum Internet oder der Kommunikation unterschiedlicher Endgeräte untereinander. Somit wird eine weltweite multimediale Vernetzung in Verbindung mit
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minimalen Kommunikationskosten erreicht. Diese Kennzeichen des Internets und der Zugangstechnologien bieten ein erhebliches Integrationspotenzial sowohl auf virtueller als auch auf realwirtschaftlicher Ebene. 3.2. Vertrauen Da bei virtuellen Integrationsprozessen unterschiedliche Rechts-, Wirtschafts- und Kulturräume berührt werden, stellt sich die Frage nach geeigneten Institutionen, die die Erwartungen der Akteure stabilisieren und Transaktionskosten senken. Ripperger (1999, S. 259 ff.) vermutet bei internationalen Transaktionen eine abnehmende Effizienz expliziter Verträge, da verschiedene Rechtsordnungen und Gewaltenmonopole konfligieren können und die Vertragsdurchsetzung regelmäßig mit höheren Kosten verbunden ist als bei binnenwirtschaftlichen Transaktionen. Neben anderen Institutionen, wie z. B. dem Schiedsgerichtswesen, gewinnt daher Vertrauen bei virtuellen Integrationsprozessen eine zunehmende Bedeutung. Unter der Voraussetzung begrenzter Rationalität und opportunistischen Verhaltens mancher Akteure können das Problem der riskanten Vorleistung des Vertrauensgebers7 und die Erwartung, dass der Handelspartner diese nicht opportunistisch ausnutzt, als Vertrauensproblem verstanden werden (Grabner-Kräuter 2002, S. 123). Es ist jedoch auch der technischen Dimension virtueller Integrationsprozesse zuzuschreiben, dass Vertrauen als Organisationsprinzip eine größere Bedeutung gewinnt. Die fortdauernde Entwicklung im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien lassen es für den Nutzer unmöglich erscheinen, sämtliche Informationen zur Beurteilung der Stärken und Schwächen einer Technologie zu erlangen. Unsicherheiten und die zunehmende Handlungskomplexität im Rahmen der virtuellen Integration können nicht mehr in erster Linie durch den Abbau von Informationsasymmetrien rational bewältigt werden, sondern durch Mechanismen wie Vertrauen, die eine Komplexitätsreduzierung ermöglichen (Grabner-Kräuter 2002, S. 126 f.). Daher soll im Folgenden kurz auf drei, für .virtuelle Integrationsprozesse' relevante Vertrauensobjekte eingegangen werden: die technischen Infrastrukturen und Prozesse, die Handelspartner und die gehandelten Güter und Dienstleistungen. 3.2.1. Vertrauen in Technik
Die dezentrale und offene Struktur des Internets kann als sein größter Vorteil und zugleich als sein größter Nachteil aufgefasst werden. Als Vorteile können die gesunken Kommunikationskosten, der Schutz vor technisch bedingten Kommunikationsstörungen durch paketorientierte Vermittlung und die umfassende multimediale Vernetzung von Akteuren und Objekten genannt werden. Es ist jedoch genau diese Offenheit und die umfassende 7
Im Zusammenhang mit Vertrauensproblemen ist selbstverständlich das zusätzliche Problem von Kriminalität im Internet zu betonen. Rein strafrechtlich sind einige ,neue' Straftatbestände entstanden, etwa die vorsätzliche Zerstörung von Datensystemen durch ,Viren'. Andere .traditionelle' Straftatbestände, etwa Betrug und Hochstapelei, haben neue elektronische Erscheinungsformen erhalten. Ein Überblick zu dieser speziellen Problematik des elektronischen Geschäftsverkehrs findet sich bei Lathoud (2002).
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Vernetzung, die Risiken in sich bergen. Die Offenheit ermöglicht neue Angriffspunkte für kriminelle Handlungen, und die umfassende Vernetzung führt zu einem Kontrollverlust über Kommunikationsbeziehungen, da kaum noch abzuschätzen ist, bei welchen Alltagsgeschäften unbemerkte Datenübertragungen stattfinden. So werden auch vormals geschlossene Netze, wie das Telefon- oder Energienetz, für eine effizientere Wartbarkeit mit dem Internet verbunden und werden Teil eines universellen Netzes (Fuhrmann 2001, S. 22). Es ist kaum zu erwarten, dass dessen komplexe Struktur von den Nutzem durchdrungen und beurteilt werden kann, so dass Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit erst mit Hilfe von Systemvertrauen in die Infrastruktur hergestellt werden könne. Für den Handelspartner ergeben sich bei einer Entscheidung für die Intemetnutzung und auch bei der Transaktion verschiedene vertrauensrelevante Bereiche. So wird bei Umfragen, die Kritikpunkte des Internets untersuchen, häufig mangelndes Vertrauen im Bereich des Datenschutzes, der Intemetzahlungssysteme und der sicheren Kommunikation angegeben (NFO Infratest 2002, S. 359 f.). 3.2.2. Vertrauen in Handelspartner Neben Vertrauen in die Technik spielt auch das persönliche Vertrauen in die Handelspartner eine wichtige Rolle bei virtuellen Integrationsprozessen. Dabei ist ein .Vertrauensdilemma' zu konstatieren. Der steigenden Bedeutung persönlichen Vertrauens stehen größere Schwierigkeiten beim Vertrauensaufbau entgegen. Vorraussetzung zum Aufbau persönlichen Vertauens ist Kommunikation. Diese vollzieht sich im Internet aber körperlos, so dass Gesten und Mimik nicht als körperliche Signale zum Vertrauensaufbau eingesetzt werden können. Diese Form non-verbaler Kommunikation kann sich aber als grundlegend in sozialen und ökonomischen Beziehungen erweisen (grundlegend Frank 1992). Des Weiteren gestaltet sich die eindeutige Identifikation des Handelspartners und seines Aufenthaltsortes im Internet schwierig, da diese relativ leicht aufgrund der dezentralen Struktur des Internets verschleiert werden können (Fuhrmann 2001, S. 41). Für rechtskräftige Verträge ist die Lokalisierung und Identifizierung allerdings grundlegende Voraussetzung (siehe RL 2000/31/EG). Hinzu kommt, dass die Transaktionspartner aus mehr oder weniger unterschiedlichen Kulturkreisen stammen können. Die Kultur, verstanden als die Summe aller informalen Institutionen, beeinflusst jedoch maßgeblich das persönliche Verhalten. So können Missverständnisse aufgrund verschiedener kultureller Hintergründe entstehen und den Aufbau persönlichen Vertrauens erschweren. Zudem kann bei einem gemeinsamen kulturellen Hintergrund bereits ein grundlegendes Vertrauen und umgekehrt bei fremden Kulturkreisen ein gewisses Misstrauen vermutet werden (Ripperger 1999, S. 268). Auch hier gilt im Sinne des ,Intemet-Mantra': Virtuelle Integration kann die Transaktionskosten senken, nicht aber tiefer liegende Bindungen und institutionelle kulturelle Prägungen einfach auslöschen oder substituieren. 3.2.3. Vertrauen in Produkte Aus der Informationsökonomie ist die Unterscheidung von Such-, Erfahrungs- und Vertrauenseigenschaften bei der Beurteilung eines Produktes bekannt. Sucheigenschaf-
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ten können vom Käufer mit relativ geringem Aufwand durch Inspektion des Leistungsangebotes vor dem Kauf in Erfahrung gebracht werden, wohingegen Erfahrungseigenschaften sich erst nach dem Kauf beurteilen lassen, wie z. B. der Wert einer Information. Vertrauenseigenschaften eines Gutes können weder vor noch nach dem Kauf vollständig beurteilt werden, entweder weil die Kosten der Beurteilung als subjektiv zu hoch eingestuft werden oder das notwendige Wissen zur Beurteilung nicht vorliegt. Die Wirksamkeit eine Anti-Faltencreme oder die Umweltverträglichkeit eines Produktes sind Beispiele für Vertrauenseigenschaften von Gütern. Je mehr Erfahrungs- und Vertrauenseigenschaften ein Gut aufweist, desto größer ist die Bedeutung von Vertrauen beim Handel mit diesen Gütern. Dient das Internet als Handelsplattform, kann jedoch folgende Verschiebung vermutet werden: Sucheigenschaften, die allein durch die Inspektion des Gutes erfahrbar sind, werden beim Internet-Handel zu , Quasi'-Erfahrungseigenschaften, da das Gut erst gekauft werden muss, um inspiziert werden zu können. 8 Somit kann eine insgesamt steigende Bedeutung von Vertrauen beim Internet-Handel im Vergleich zum traditionellen Handel unterstellt werden, da aus Sicht des Käufers Such- zu Erfahrungseigenschaften werden (Grabner-Kräuter 2002, S. 133 f.). 3.3. Temporäre gemeinsame Interessen 3.3.1. Interessenschutz durch supranationales Recht Der Prozess der Integration der Weltwirtschaft seit dem Zweiten Weltkrieg - etwa auf der Ebene des GATT - ist durch institutionelle Arrangements gefördert worden, die als Elemente gesetzter Ordnung anzusehen sind (vgl. Schüller und Thieme 2002). Hier ist auf Rechtsgrundlagen hinzuweisen, die durch die internationale Staatengemeinschaft geschaffen wurden. Diese haben die Sicherheit des Welthandels erhöht und damit ein konstitutionelles Minimum an Gemeinsamkeit bereitgestellt, das zur Durchführung wirtschaftlicher Transaktionen notwendig ist. Als besonders hilfreich für die wirtschaftliche Integration hat sich das Weltkartellrecht des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (GATT) erwiesen. Das 1948 in Kraft getretene GATT verankerte die Prinzipien der „Gleichstellung inländischer und ausländischer Anbieter" (.Inländerprinzip') und der unbedingten Meistbegünstigung als tragende Elemente des Welthandelssystems. Mengenmäßige Beschränkungen und nicht-tarifäre Handelshemmnisse wurden untersagt. Diese ,Inseln des Rechts' haben sich auch für die .virtuelle Integration' als ausgesprochen forderlich erwiesen: Die Intensität des Internet-Handels ist zwischen den Mitgliedstaaten der Welthandelsorganisation (WTO) eindeutig am höchsten (siehe OECD 2002; Sander 2002). Dies bestätigt die weiter oben geäußerte Vermutung, dass die virtuelle Integration nicht völlig ohne ein Minimum an rechtlichen und kulturellen Gemeinsamkeiten auskommen kann.
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Diesem Umstand hat der deutsche Gesetzgeber durch den § 312d BGB Rechnung getragen. Für Fernabsatzverträge, wie sie im elektronischen Geschäftsverkehr verwendet werden, wird dort ein zweiwöchiges Widerrufs- oder Rückgaberecht gem. den §§ 355-359 BGB vorgeschrieben.
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Seit 1995 ist das GATT in der WTO aufgegangen. Diese beruht auf einem völkerrechtlichen Vertrag, den mehr als 120 Teilnehmerstaaten unterzeichnet haben. Die WTO steht auf drei institutionellen Pfeilern. Zuerst ist das GATT in seiner letzten Fassung von 1994 zu nennen mit der Betonung der unbedingten Meistbegünstigung. Die technischen Innovationen im Informations- und Kommunikationsbereich sowie der Wandel der international handelbaren Güter und Dienstleistungen erforderten zudem zwei ergänzende Vertragswerke. Hervorzuheben ist das Abkommen zum Schutz des geistigen Eigentums (Trade-related Aspects of Intellectual Property Rights, TRIPS) sowie das Abkommen über den internationalen Dienstleistungsverkehr (General Agreement on Trade in Services, GATS). 9 Diese beiden Vertragswerke sind unmittelbar für den elektronischen Handel einschlägig, weil in ihnen zentrale Ordnungsbedingungen virtueller Märkte und Spielregeln festgehalten werden. Der Internet-Boom der 1990er Jahre ist zu einem großen Teil auch auf diese neuen und insgesamt sehr wettbewerbsfreundlichen Regeln zurückzufuhren.' 0 Der eigentliche Fortschritt der WTO gegenüber dem ursprünglichen GATT liegt in der Härtung und Präzisierung der Regeln. Zudem wurde ein Streitschlichtungsverfahren (,dispute settlement body') geschaffen, um internationale Handelskonflikte zu begrenzen und regeluntreuen Ländern Verschleppungsstrategien zu entziehen. Auch dies hat das Vertrauen in den internationalen Waren- und Dienstleistungsverkehr gestärkt und damit auch die virtuelle Integration gefördert. 3.3.2. Interessenschutz durch spontanes Recht: Lex Mercatoria und Selbstregulierung Multinationale Unternehmen sind ein weiteres Beispiel spontaner Selbstorganisation und „globalen Rechts ohne einen (National-)Staat" (siehe Teubner 1997). Professionelle Selbstorganisation ist vor allen Dingen im grenzüberscheitenden Daten- und Informationsaustausch weit verbreitet. Mehr als ein Drittel des Welthandels wird - wie bereits erwähnt - durch und in multinationalen Unternehmen durchgeführt. Dabei muss betont werden, dass die Addition und Kombination verschiedener nationaler Rechtssysteme nicht notwendigerweise ein in sich konsistentes Rechtssystem ergeben (siehe Wentzel 2003b). .Internationales' Recht kann in sich widersprüchlich sein, weil es auf unterschiedlichen Traditionen, Normen und Werten beruht. Diese Inkonsistenzen können Handel im Extremfall sogar völlig ausschalten. Die meisten internationalen Unternehmen, aber auch NGOs, haben weltweit Niederlassungen und kombinieren somit verschiedene nationale Rechtsnormen innerhalb einer multinationalen Organisation. Diese Regeln werden in Abhängigkeit von der Unternehmensstruktur und der Marktlage interpretiert und angepasst. Die Beteiligten entwickeln
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Eine einschlägige Diskussion der Bedeutung des GATS für den elektronischen Geschäftsverkehr inklusive empirischer Daten findet sich bei Sander (2002, S. 10 ff.) und auch bei Barfield (2001). Für eine ausführliche Diskussion der für den elektronischen Handel relevanten WTO-Abkommen und der hiermit verbundenen Vor- und Nachteile siehe Hauser und Wunsch-Vincent (2001, S. 93 ff.).
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Standards, wie sie mit Partnern und Kunden kommunizieren und sich an neue Umweltbedingungen anpassen können, ohne mit den nationalen Rechtskörpern in Konflikt zu geraten. Diese so genannte ,Neue Lex Mercatoria' ist Ausdruck einer Selbstorganisation, in der ein einzelner Nationalstaat zwar einwirken, die Ergebnisse des Interaktionsprozesses jedoch nicht mehr einseitig beeinflussen kann (hierzu Streit und Mangels 1996). Meistens werden staatliche Interventionen nur noch als Störgrößen wahrgenommen. Der entscheidende Gesichtspunkt für den Tatbestand virtueller Integration liegt in dem Umstand, dass die Lex Mercatoria eine Form von ,weichem Recht' (soft law) ist. Lex Mercatoria ist gleichsam der ideale Ordnungsrahmen für die ,netheads'. Viele Institutionen existieren als ungeschriebene Regeln, die sich gleichwohl als stabil und belastbar erweisen: Das Internet ist hierfür ein markantes Beispiel. Zwar bezweifeln manche (Rechts-)Wissenschaftler, ob Lex Mercatoria überhaupt ,Recht' im eigentlichen Sinne ist, weil es in den traditionellen Instanzenzügen nicht justiziabel ist. Teubner (1997, S. 21) unterstreicht jedoch, dass ein offizieller Rechtskörper gar nicht notwendig ist, um transnationale Tauschbeziehungen zu fordern: „Instead scholars should look for a communicative process that moves the symbol of validity according to the binary legal code". Lex Mercatoria ist keine juristische Theorie, sondern rechtliche Praxis und offenbartes Verhalten in realen Verhandlungssituationen. Es geht hier um jenen feinen Unterschied, den von Hayek (1976) zwischen Rechtsordnung und Handelnsordnung gemacht hat. Es ist schlicht unmöglich und wäre auch nicht zweckmäßig, globales Wirtschaftsrecht formal zu kodifizieren, weil gerade die Flexibilität und Anpassungsfähigkeit der Kern der Selbstorganisation ist. Die ,Weichheit' der Lex Mercartoria ist kein zeitweiliges Phänomen, sondern eine grundlegende und dauerhafte positive Eigenschaft, die den Mangel an globaler Durchsetzbarkeit deutlich aufwiegt. Globale Geschäftspraktiken und virtuelle Integration basieren regelmäßig auf .reziprokem Verhalten', weil die meisten Unternehmen in langfristige Geschäftsbeziehungen eingebunden sind. Kurzfristige Gewinnmaximierung und Hit-and-run-Strategien sind wenig Erfolg versprechend. Langfristige Glaubwürdigkeit ist dabei ein zentrales Aktivum der Marktteilnehmer. Andere Bestrafungsmöglichkeiten als öffentliche Bekanntmachung, Ächtung und Imageschädigung existieren nicht. Die Mehrheit aller Konflikte innerhalb der Lex Mercatoria werden durch Schlichtungsverfahren und neutrale Schiedsrichter gelöst, beispielsweise von der „International Chamber of Commerce (ICC)". Die Vorherrschaft ungeschriebener Gesetze macht es sehr schwierig für eine nationale Regierung, einzelnen Unternehmen mit rechtlichen Schritten zu drohen. Gleichwohl ist Lex Mercatoria insgesamt stabil und angemessen, um die Bedürfnisse der internationalen Marktteilnehmer zu erfüllen. Und wenn zudem bedacht wird, wie lange nationale Regierungen benötigen, um internationale Verträge auszuhandeln und zu ratifizieren - etwa im Rahmen der WTO oder der Vereinten Nationen - , so erscheint Lex Mercatoria als eine ausgesprochen effiziente Form der Selbstorganisation, die schnell und vergleichsweise sicher zu institutionellen Lösungen führt. ,Selbstregulierung' ist das zweite wichtige Element spontanen Rechts und eng mit Lex Mercatoria verbunden (vgl. Wentzel 2002b). Ordnungsökonomisch betrachtet ist Selbstregulierung der Versuch aller Marktteilnehmer auf der Mikroebene, durch geeignete Absprachen und Bindungen zu Regeln zu gelangen, die gemeinsame Handlungen
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vereinfachen oder überhaupt erst .ermöglichen'. Es geht bei Selbstorganisation in diesem Verständnis einerseits um den Ausschluss verschiedener Handlungsoptionen im Sinne eines ,Negativkatalogs' unerwünschter Handlungen, andererseits aber auch um die ,bewusste Förderung' bestimmter positiver Aktionen. Selbstregulierung ist also nicht nur als Handlungsbeschränkung, als Restriktion, sondern auch als neue .Handlungsmöglichkeit' zu verstehen. Das entscheidende .ordnungsökonomische Attribut' von Selbstregulierungen ist, dass solche Vereinbarungen jedenfalls dem Grundsatz nach ohne eine staatliche Autorität entwickelt werden und wirken sollen. Das .Spiel' muss also ohne einen neutralen Schiedsrichter aus sich heraus geregelt werden - entweder weil die Spielteilnehmer aus eigenem Antrieb auf eine dritte Partei verzichten wollen (Unabhängigkeitsargument), oder aber weil eine effektive Aufgabenerfullung für einen Schiedsrichter aus verschiedenen objektiven Gründen nicht möglich erscheint (Kompetenzargument). Selbstregulierungen haben beachtliche Vorteile gegenüber staatlicher Regelsetzung, weil diese häufig mit dem strukturellen Problem staatlicher Selbstüberschätzung und Wissensanmaßung verknüpft ist. Selbstregulierung kann regelmäßig größere Wissensmengen als alternative Koordinationsmechanismen nutzen, ist kostengünstiger und schneller und bewirkt regelmäßig eine größere Regelbefolgung. Mögliche Nachteile der Selbstregulierung - etwa Kartellverhalten - können zumeist durch die Gewährleistung von Transparenz verhindert werden. Das ,Unabhängigkeitsargument' ist besonders wichtig in der Ordnung der elektronischen Medien, bei der staatlicher Regulierung wegen der Möglichkeit der gleichzeitigen Einflussnahme auf die .Inhalte' besonders misstraut wird. Die staatliche Einflussnahme auf die Ordnungsbedingungen der Medien birgt immer auch die Gefahr, dass bestimmte Inhalte nach politischen Vorgaben gestaltet werden - die Geschichte des öffentlichrechtlichen Rundfunks in Deutschland ist hierfür ein markantes Beispiel (aktuell siehe Bardt 2002). Gegenwärtig sind in Deutschland staatliche Bemühungen festzustellen, im Internet einen starken Einfluss der öffentlich-rechtlichen Anstalten zu sichern, obwohl dies der traditionellen Begründung für öffentlich-rechtlichen Rundfunk diametral entgegensteht. Von Marktversagen im Internet kann nämlich sicherlich kaum die Rede sein, wenngleich es spektakuläre Einzelfälle für Fehlentwicklungen gibt. Mit Hilfe von Selbstregulierung ist es jedoch im Mediensektor vergleichsweise häufig gelungen, Fehlentwicklungen durch gelungene institutionelle Arrangements aufzuheben (siehe Campbell 1999; Turow 1999). Das .Kompetenzargument' findet dort vor allem seine Anwendung, wo die Marktteilnehmer einen systematischen und dauerhaften Wissensvorsprung vor staatlichen Behörden haben. Gerade im Bereich der elektronischen Medien wird der Selbstregulierung ein großes Maß an Bedeutung zugesprochen (siehe Wentzel 2002b). Die elektronischen Medien und das Internet sind ein Bereich mit außerordentlicher Innovationskraft. Jede neue Idee für eine Fernsehsendung ist ebenso wie eine neue kommerzielle Website ein Versuch, Nachfrager zu finden. Staatliche Einflussnahme, die versucht ist, für jedes Marktergebnis eine konkrete rechtliche Regelung zu entwickeln, steht in der Gefahr, zu einer Form von bedeutungsloser und nachlaufender Wirtschaftspolitik zu verkommen. Die Clinton-Administration hat 1998 in einer bemerkenswert klaren Sprache auf diesen
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Umstand hingewiesen und die Branche der elektronischen Medien aufgefordert, durch Selbstregulierung für einen angemessenen Ordnungsrahmen zu sorgen. Die staatliche Eingriffsmöglichkeit durch die Federal Communications Commission sei nur für den Fall gravierender Rechtsverstöße vorgesehen. Die EU-Richtlinie zum elektronischen Geschäftsverkehr hat allerdings ebenfalls - wie bereits erwähnt - den Gedanken der Selbstregulierung zumindest ansatzweise in seine ordnungspolitische Orientierung aufgenommen. 4. Handelsströme und virtuelle Integration Empirische Studien zur elektronischen Wirtschaft belegen eindeutig die positiven Impulse und Anregungen, die durch die Internet- und Medienwirtschaft ausgelöst wurden (ausführlich EITO 2003; Weifens 2002; Sander 2002). Das Internet ist sowohl qualitativ als auch quantitativ ein bedeutsamer Wachstumsfaktor. Die bekannte e-commerce-Publikation .Business 2.0' betont dabei zehn Antriebskräfte" für eine durch das Internet beschleunigte Wirtschaft (ausführlich hierzu Frieden 2001, S. 381 ff.). Neue Vertriebskanäle oder Geschäftsideen enthalten aber immer auch Elemente schöpferischer Zerstörung im Schumpeterschen Sinne, wenngleich es in der Mediengeschichte keine Beispiele dafür gibt, dass alte Medien vollständig durch neue verdrängt wurden.12 Aus diesem Grunde erscheint es zweckmäßig, auch für die Internet- und Medienwirtschaft handelsschaffende, handelsumlenkende und handelsvernichtende Effekte zu unterscheiden. 4.1. Handelsschaffende Effekte Das Internet ermöglicht die Übertragung und Verarbeitung intangibler Werte, wie beispielsweise Nachrichten, Informationen und geistige Eigentumsrechte. Wie aus Abbildung 1 ersichtlich wird, steht die elektronische Post (e-mail) an der Spitze der Internet-Anwendungen. Sämtliche Produkte und Dienstleistungen, die im weitesten Sinne die elektronische Kommunikation ermöglichen und unterstützen, sind ein gutes Beispiel für einen handelsschaffenden Effekt. Die von Kulturkritikern geäußerte Vermutung, e-mail würde zu einer Verflachung zwischenmenschlicher Kommunikation fuhren, ist bislang eindeutig widerlegt. Stattdessen ermöglicht e-mail auch in besonderer Weise einen interkulturellen Austausch, der durch traditionelle Brieffreundschaften oder Ahnliches in dieser Intensität so nicht herzustellen war. Mobilkommunikation sowie das Internet und Online-Dienste sind trotz der gegenwärtigen Wirtschaftskrise immer noch Wachstumsmärkte, während der Bereich der Fernsehanwendungen (Kabel-TV, Satelliten-TV, interaktives Fernsehen) ins1
' Diese zehn Antriebskräfte sind: matter, space, time, people, growth, value, efficiency, markets, transactions, impulse. 12 Die Verdrängungsthese der .cultural critics' ist scheinbar eine sozialwissenschaftliche These, die vollkommen immun gegen offenkundige Falsifizierungen ist. Schon bei der Erfindung des Telefons vermuteten Kulturkritiker, dass nunmehr das Briefeschreiben aufgegeben würde. Die Erfindung der Zeitung löste Ängste vor dem Ende des Buches aus. Die Erfindung des Videos verursachte Protestschreie der Kinoliebhaber (und vor allem der Kinobesitzer), der Vormarsch des Internets schürte Ängste der Zeitungsverleger. Alle diese Prognosen sind falsifiziert - dennoch lebt die Verdrängungsthese in immer neuen Varianten fort.
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gesamt stark stagniert - zumindest in Deutschland. Hierfür dürften vor allem die Strategie der Kanalverstopfung öffentlich-rechtlicher Anstalten und garantierte Einnahmen aus Fernsehgebühren von ca. sieben Mrd. EURO verantwortlich sein. Auch beim Online-Kauf sind handelsschaffende Effekte feststellbar. Der Anteil der Online-Käufer nimmt kontinuierlich zu (vgl. EITO 2003). Mittlerweile haben bereits 30 % der Bevölkerung zwischen 14 und 64 Jahren in Deutschland Erfahrungen mit Online-Käufen und -Buchungen, unter den Online-Nutzem sind es etwa zwei Drittel. Ca. 21 % der dauerhaften Online-Nutzer kaufen regelmäßig Produkte oder Dienstleistungen im Internet. Die Haltung der Bevölkerung zu e-commerce wird zunehmend positiver. Befürworter des e-commerce schätzen die Möglichkeit des Preisvergleichs und der schnellen Information über Vorratshaltung und Verfügbarkeiten. Das Internet verbessert eindeutig die Markttransparenz und erhöht damit die Markteffizienz. Auch die Tragweite der virtuellen Wirtschaft als Vertriebsweg für traditionelle Produkte wächst. So steigt beispielsweise der Anteil der Reisen, die über das Internet gebucht werden, kontinuierlich an. Maßgeschneiderte Produkte im Bekleidungssektor, die Anbieter wie ,landsend.com' verkaufen, sind ebenfalls ein interessanter neuer Markt. Auch ServiceLeistungen, etwa das Bestellen von Filmen in der Videothek oder der lokale SpeisenService, zeugen von handelsschaffenden Effekten. Ein weiterer handelsschaffender Effekt sind verschiedene Formen von Auktionen - etwa ,Ebay' 13 oder andere digitale Auktionshäuser (vgl. Picot, Reichwald und Wigand 2001). Der Weg in ein Auktionshaus war für viele Menschen unvorstellbar, weil die Regeln intransparent und die finanziellen Risiken unkalkulierbar schienen. Außerdem haftete dem Handel mit gebrauchten Waren oftmals ein unseriöses ,Pfandhaus-Image' an, so dass dieser Markt niemals eine echte Massenkaufkraft anziehen konnte. Die traditionellen Kleinanzeigen in den lokalen Wochenzeitungen hingegen erfreuten sich schon immer großer Beliebtheit und sind eine wichtige Finanzierungsquelle für die Lokalblätter. Auf den ersten Blick erscheinen diese beiden Beobachtungen widersprüchlich. Die neuen elektronischen Auktionen haben in ihrer Entstehungsphase genau jenen Widerspruch aufgelöst und die Kleinanzeige mit einem elektronischen Bietungsverfahren kombiniert, wobei zahlreiche Regeln entwickelt wurden, um die Sicherheit des Güteraustauschs und der Vertragserfüllung zu sichern. Inzwischen sind in allen nationalen Rechtsordnungen - wie bereits angesprochen - entsprechende Rechtsanpassungen vorgenommen worden. Aufgrund gesunkener Such- und Informationskosten im Rahmen elektronischer Auktionen sind zusätzliche Tauschgeschäfte zwischen Konsumenten zu erwarten. So konnte der Anbieter ,onsale.com' einen Markt für gebrauchte Kameras etablieren und Käufer zusammenführen, die sich vorher aufgrund zu hoher Such- und Transaktionskosten nur schwer finden konnten (siehe Bakos 1998, S. 39).
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Im Weihnachtsgeschäft 2002 hat ,Ebay' in Deutschland Güter im Wert von einer Milliarde Dollar gehandelt. Dies entspricht einer Steigerung von 177 % gegenüber dem Voijahr. Die Erlöse basieren auf Transaktions- und Überweisungsgebühren, Lizenzen sowie auf Werbeeinnahmen. Der letzte Quartalsgewinn lag bei etwa 87 Mrd. Dollar. Quelle: www.emar.de, aktuelle Meldung vom 20.01.03.
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Ein besonders interessanter ,neuer Markt' ist der so genannte ,World Campus', also das weltweite Angebot von e-leaming und continuing higher education (ausführlich Wentzel und Oelmann 2002). Für Berufstätige und Führungskräfte war es oftmals nur unter extremen beruflichen und privaten Belastungen möglich, Weiterbildungsmaßnahmen durchzuführen. Diese werden aber immer wichtiger in einer offenen Welt, in der sich die Halbwertzeit von Wissen weiter verkürzt. Auf dem digitalen Weiterbildungsmarkt werden vielfältige Kurse angeboten, die sich vor allem durch ein hohes Maß an zeitlicher Flexibilität auszeichnen und im Prinzip sogar vom PC am eigenen Arbeitsplatz mit Unterstützung des Arbeitgebers durchgeführt werden können. Viele amerikanische Universitäten nutzen diese Angebote auch, um Ehemalige (Alumnis) an sich zu binden und deren zunehmende Zahlungsbereitschaft und Zahlungsfähigkeit langfristig auszunutzen. Auch deutsche Führungskräfte nutzen verstärkt die Angebote amerikanischer Universitäten, um ,nebenbei' weiterfuhrende Abschlüsse oder spezifische marktnahe Zusatzkenntnisse zu erwerben. Der elektronische Markt für Weiterbildung dürfte insgesamt als einer der zukunftsreichsten Wachstumsmärkte überhaupt gelten. 4.2. Handelsumlenkende Effekte Das Internet hat in manchen Bereichen auch handelsumlenkende Effekte verursacht. Im letztjährigen Weihnachtsgeschäft etwa war der Internet-Handel einer der wenigen Gewinner in dem von der Wirtschaftskrise stark betroffenen Einzelhandel (vgl. Süddeutsche Zeitung 2002) und hat auch zu Substitutionseffekten im Wettbewerb mit den traditionellen Einzelhändlern geführt. Allerdings kann und wird das Internet sicherlich den traditionellen Einkaufsbummel zu Weihnachten nicht verdrängen, weil neben dem eigentlichen Güterkauf hier auch noch viele .Stimmungseffekte' angesprochen sind. Güterkäufe sind eben nicht nur rationale, sondern meist auch emotionale Entscheidungen. Ebenso wenig wird eine Online-Zeitung die klassische Tageszeitung ersetzen oder die digitale Enzyklopädie den Brockhaus mit Goldschnitt. Emotionale und künstlerische Dinge spielen bei der Informationsaufnahme eine nicht zu unterschätzende - und nicht zu verdrängende - Rolle. Einige Branchen werden sich gleichwohl stärker auf die digitalen Märkte einstellen müssen als andere. So ist der Buchhandel beispielsweise ein Markt, in dem das nächtliche Stöbern im Internet eine besonders attraktive und bequeme Form des Einkaufens darstellt - ganz im Sinne des Internet-Mantras. Auch Reisebuchungen und der Kauf von Flug-Tickets werden immer häufiger direkt über den eigenen PC vorgenommen. Hier erweist es sich als Vorteil, dass die Sicherheit des Zahlungsverkehrs bislang außerordentlich hoch ist.' 4 Der Versicherungsmarkt und der Erwerb von Software sind ebenfalls durch das Internet stark beeinflusst. Viele Software-Pakete sind bekanntlich als freeware unentgeltlich aus dem Internet herunterzuladen - eine bereits erläuterte Besonderheit von Informationsgütem. 14
Im Vertrauen auf die Sicherheit des elektronischen Zahlungsverkehrs gibt es beachtliche kulturelle Unterschiede. Während in den angelsächsischen Ländern großes Vertrauen in die Sicherheit von Kreditkartentransaktionen herrscht, sind Deutsche nach wie vor noch sehr misstrauisch, ihre Kreditkartennummern im Internet anzugeben. Die tatsächliche Zahl der Betrugsdelikte ist insgesamt jedoch verschwindend gering.
Virtuelle Integration
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Aus handelsumlenkenden Effekten auf den Niedergang ganzer Branchen schließen zu wollen, wäre freilich vorschnell. Reisebüros etwa sind häufig froh, die sehr beratungsintensive Buchung von Flugreisen an das Internet abgetreten zu haben. Die Provisionsmargen für die Reisebüros waren ohnehin im wettbewerbsintensiven Luftverkehrsmarkt sehr gering. Die individuelle Zusammenstellung von Reisen mit spezifischem Insider-Wissen hingegen ist immer noch eine Domäne der Reisebüros, die auch durch das Internet wenig begrenzt werden wird. Gleichwohl bleibt allgemein festzuhalten, dass handelsumlenkende Effekte in jedem Fall eine Neu-Positionierung der Wettbewerber erfordern. Immobile Unternehmer dürften mittelfristig aus dem Markt ausscheiden. Auch hier kommt es zu einer Verkürzung von Produktlebenszyklen. 4.3. Handelsvernichtende Effekte Handelsvernichtende Effekte, die nachweisbar zu einer Zerstörung von Werten fuhren, sind schwer zu finden. Es mag bezweifelt werden, ob das durch preiswerte CD-Roms und Intemetdatenbanken verursachte allmähliche Verschwinden des traditionellen Telefonbuches wirklich eine Form von Handelsvernichtung ist, die zu bedauern wäre. Der ,Schutz geistigen Eigentums' hingegen ist, wie auch schon in den WTO-Verhandlungen und beim TRIPS-Protokoll deutlich wurde, ein schwieriges Gebiet, in dem auch Handlungsbedarf für internationale Ordnungspolitik besteht (vgl. Sander 2002). Die Musikbranche beklagt, dass das Kopieren von Musikstücken aus dem Internet zunehme und es insgesamt auf dem europäischen Markt für Compact-Dics zu massiven Umsatzeinbrüchen komme. Etwa 30 % der europäischen Internet-Nutzer lade Musik zumindest für den eigenen Gebrauch aus dem Internet (Frankfurter Allgemeine Zeitung 2003) und verzichte dementsprechend auf den Kauf dieser Musik im Fachhandel. Zudem besteht der dringende Verdacht, dass von besonders attraktiven Musikstücken verstärkt Raubkopien15 angefertigt und an schwarzen Märkten angeboten werden. Vor allem für Jugendliche mit kleinem Budget ist dies eine reizvolle Alternative, da das Risiko der Strafverfolgung bis zum heutigen Zeitpunkt noch relativ gering ist. Die Musikfirmen versuchen zwar, zumindest bei den handelsüblichen CDs durch (teilweise fragwürdige) Kopierschutztechniken die Vervielfältigung zu erschweren, jedoch befinden sie sich in einem nicht zu gewinnenden Wettlauf mit Kopierschutz-Hackern und privaten Musiktauschbörsen im Internet. In diesem Zusammenhang sind die besonderen Eigenschaften von Informationsgütern zu beachten: Deren Reproduktionskosten von annähernd Null stellen grundsätzlich einen Anreiz zu illegalem Umgang mit geistigem Eigentum dar. Insgesamt resultiert daraus eine Verkürzung des Produktlebenszyklus für Informationsgüter. Wenn es nicht gelingt, zumindest eine minimale ,Exklusiv-Verwertung' für den Erfinder geistigen Eigentums zu sichern, könnte der Verfall eines Marktes - in unserem Beispiel des CDMarktes - resultieren. Dies wäre ein typischer Fall, in dem Ordnungspolitik durch zweckmäßige Rahmenbedingungen - hier konkret die Gewährleistung von geistigen 15
Die amerikanisch-chinesischen Handelsbeziehungen gerieten Ende der 1990er Jahre unter großen Druck, weil in China massenhaft Raubkopien von CDs, Musik und Computer-Software hergestellt wurden - teilweise unter offener staatlicher Duldung.
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Eigentumsrechten - und mögliche Strafandrohung zu einer Stabilisierung von Märkten beitragen könnte. Gleichwohl ist auch im derzeit intensiv diskutieren Fall des CD-Marktes eine gewisse Gelassenheit angeraten. Das .Kopier-Problem' ist an sich nicht neu: Fachliteratur wird von den Studierenden fast immer nur kopiert, weil der Erwerb der Bücher zu teuer ist. Viele Fachzeitschriften bieten ihre Beiträge sogar schon kostenfrei im Internet zum ,download' an. Auch der Markt für Videos und Musikkassetten hat überlebt, trotz der einfachen Kopiermöglichkeiten. Entscheidend wird sein, dass die Anbieter und Produzenten von Informationsgütern immer in der Lage sind, bestimmte ,Zusatznutzen' anzubieten (etwa Service-Leistungen, Verlosungen, Garantien usw.), um Kunden zu binden und zugleich zum Kauf zu motivieren (vgl. Shapiro und Varian 1999). Auch Microsoft hat sich vergleichsweise gut am Markt behauptet, obwohl Millionen seiner Programme weltweit schwarz kopiert wurden. Aber spätestens bei der Gründung der eigenen Firma geht kein Weg mehr vorbei am legalen Erwerb von Software. 5.
Virtuelle Integration und institutioneller Wandel
Institutioneller Wandel basiert auf dem Zusammenspiel von formalen und informalen Institutionen. Ökonomische Vorteilserwägungen sind dabei ebenso zu berücksichtigen wie tradierte Verhaltensweisen, Kultur, Religion, Normen und Gebräuche. Das Internet und die virtuellen Medien unterstützen den multinationalen Wissensaustausch und fördern hierdurch den institutionellen Wandel. Ebenso wie sich Produktlebenszyklen verkürzen und Wertschöpfungsketten verändern, so kann auch institutioneller Wandel durch das Internet beschleunigt werden. Eine Theorie .zivilisatorischer Entwicklung' (Lübbe 1996) ist in diesem Verständnis immer auch eine Medienwirkungstheorie. Grundsätzlich ist festzuhalten, dass Diktaturen nach dem historischen Abbild des vergangenen Jahrhunderts immer unwahrscheinlicher werden. Das Informations- und Nachrichtenmonopol einer Einheitspartei ist unter den Bedingungen virtueller Medienintegration kaum noch zu erhalten.' 6 Zwar ist nicht davon auszugehen, dass sprachliche oder kulturelle Barrieren durch das Internet einfach übersprungen werden: Eine Verankerung in der eigenen Kultur bleibt auch unter den Bedingungen moderner Medien existent.17 Gleichwohl besteht zumindest für Meinungseliten die Möglichkeit, sich international zu informieren und diese Informationen über die landesüblichen Kanäle dann weiterzuleiten. Es ist aus diesem Grunde nicht überraschend, dass die britische BBC und die amerikanische CNN in China beispielsweise abgeschaltet sind, weil die Kom16
17
Kapitel 10 des Weltentwicklungsberichts widmet sich ausfuhrlich der besonderen positiven Rolle der Medien für den Aufholprozess der Entwicklungsländer. Die Freiheit und Qualität der Medien und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines Landes sind erstaunlich eng miteinander korreliert; vgl. Weltbank (2002). Sowohl die privaten Fernsehsender als auch die öffentlich-rechtlichen Anstalten in Deutschland haben beispielsweise festgestellt, dass im Publikum eine große und stabile Nachfrage nach deutschen Serien oder Fernsehspielen besteht. Das Publikum hat in der Regel ein größeres Interesse, wenn es im Fernsehen die eigenen Lebensumstände wiedererkennen kann. Diese empirische Beobachtung widerspricht eindeutig der These von der unausweichlichen ,Amerikanisierung des europäischen Fernsehprogramms'.
Virtuelle Integration
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munistische Partei in China eine politische Infiltrierung und damit eine Schwächung der eigenen Position fürchtet. Der ,Kampf der Kulturen' ist heute vor allem eine Auseinandersetzung in den internationalen Medien. In der arabischen Welt versucht man beispielsweise, der weiten Verbreitung von CNN dadurch zu begegnen, dass ein arabisches Nachrichten-Netzwerk ins Leben gerufen wurde, nämlich AI Dschasira. Im Anschluss an den 11. September 2001 wurde dieser Nachrichtensender weltweit bekannt, weil bestimmte Video-Botschaften islamischer Extremisten dort ,eingespielt' wurden. Letztlich ist die Glaubwürdigkeit von Medien aber nicht kurzfristig durch Regierungen zu erzwingen; dies wird sich auch bei AI Dschasira zeigen. CNN und die BBC haben als private bzw. als öffentlich-rechtliche Medienunternehmen weltweit und über längere Zeiträume große Reputation erworben durch die parteiliche Unabhängigkeit der Berichterstattung. Beide Sender orientieren sich an der Faimess-Doktrin sowie an dem Grundsatz gleicher Zeit in der Berichterstattung (ausführlich Wentzel 2002a). Dies ist offenkundig eine Strategie, die in der langen Frist Glaubwürdigkeit sichert und ein hohes Maß an Zuschauerakzeptanz bewirkt. Insgesamt könnte durch virtuelle Medien eine Tendenz ausgelöst werden, die öffentliche Meinung stärkeren Stimmungsschwankungen zu unterwerfen.18 Es kann die These vertreten werden, dass das Internet allein schon über die Geschwindigkeit der Informationsverbreitung .trendverstärkend' bei politischen Stimmungen wirkt. Damit ist eine Entwicklung angesprochen, wie (wirtschafts-)politische Inhalte unter den Bedingungen der Informationstechnologie vermittelt werden (siehe Wentzel 1998). ,Spin-doctoring', also die massenmedial wirksame Aufbereitung politischer Inhalte," gewinnt im modernen Medienzeitalter weiter an Bedeutung (siehe Baran und Davis 2000). Keine politische Partei, Interessengruppe, Kirche und kein Verband kann es sich leisten, auf einen Internet-Auftritt zu verzichten. Offenkundig bestehen hier Nachzug-Effekte. Wenn aber alle Interessengruppen in gleichem Maße präsent sind, so ist tendenziell mit einem Ausgleich der Effekte zu rechnen. Als letzter Gesichtspunkt soll kurz auf die These eingegangen werden, das Internet sei ein .westliches' oder amerikanisches Medium. Es würde letztlich, so behaupten manche Kulturkritiker, zu einem westlichen ,Werte-Export' und zu einer kulturellen Nivellierung kommen. Sicherlich ist richtig, dass das Internet zumindest anfänglich sehr stark im amerikanisch-europäischen Kulturraum verankert war. Unternehmen aus diesem Gebiet hatten hier einen klaren ,first-mover-advantage', allein schon durch die allgemeine Internet-Sprache Englisch. Ebenfalls ist zuzustimmen, dass die .digitale Kluft' ein empirisches Phänomen ist, durch das der physische Rückstand der Entwicklungsländer weiter vergrößert werden könnte. Das Internet war zumindest anfänglich ein ,Vehikel' von Spitzenforschungseinrichtungen; es setzte somit ein beachtliches Humanvermögen voraus,
18
Eine aktuelle Public-Choice-Analyse, unter welchen Bedingungen eine Nachrichtenorganisation (Network) die öffentliche Meinung beeinflussen kann, findet sich bei Bovitz, Druckman und Lupia (2002). " Das spin-doctoring in den deutschen Medien im Vergleich zu britischen Medien wird analysiert bei Esser, Reinemann und Fan (2000).
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das so übrigens auch in den breiten Bevölkerungsschichten Europas und Amerikas nicht vorhanden war. Erst vereinfachende Technologien' wie die hyperlinks haben das Internet auch im Westen zu einer Massenanwendung werden lassen. Eine .unendliche Ausbreitung' des .westlichen' Internet und eine allgemeine kulturelle Nivellierung sind jedoch kaum zu befürchten. Ein .optimaler Medienraum' gestaltet sich nach verschiedenen Kriterien, etwa Sprache, Kultur, Einkommen, Entwicklungsstand, technischen Möglichkeiten und politischem Umfeld. Zwar gibt es bestimmte Serien, die sich im Fernsehen weltweit großer Beliebtheit erfreuen - etwa , Ally McBeal' oder .Baywatch'. Aber diese international handelbaren Unterhaltungssendungen sind eher die Ausnahme als die Regel. Dies gilt auch für Inhalte im Internet. In diesem Zusammenhang vertritt Aldisadottir (2000) beispielsweise die kontroverse These, dass das Internet primär .ein lokales Medium' sei. Die empirische Evidenz zeige deutlich, dass Menschen zwar das Netz nutzen, um sich ,in der Welt umzuschauen'. Die tatsächlich handlungsrelevanten Informationen bezögen sich jedoch größtenteils auf das unmittelbare lokale Umfeld der Menschen. 6. Ordnungsökonomische Schlussfolgerungen Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass von der Internet- und Medienwirtschaft beachtliche Integrationswirkungen ausgehen. Allerdings wirken diese Effekte keineswegs nur in eine Richtung. Die Komplexität der wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhänge wird insgesamt ebenso erhöht wie die Geschwindigkeit des institutionellen Wandels und die Menge verfügbarer Informationen. Ob dieser .Rohstoff Information tatsächlich aber in verwertbares Wissen transformiert und wertschöpfend eingesetzt werden kann, hängt von den jeweiligen Ordnungsbedingungen in den einzelnen Ländern ab. Fehlerhafte ordnungspolitische Rahmenbedingungen auf nationalen Güter- und Faktormärkten können nicht durch elektronische Kommunikation .aufgehoben' werden. Aus ordnungsökonomischem Blickwinkel erscheint es angeraten, der Internet- und Medienwirtschaft möglichst großen Entfaltungsspielraum zu gewähren und bürokratische Gängelung zu vermeiden. Mit der Forderung nach Selbstregulierung einher geht die Notwendigkeit zu weitgehender staatlicher Bescheidenheit bei möglichen Marktinterventionen. Die EU-Richtlinie zum elektronischen Geschäftsverkehr hat diese Anregung zumindest dem Wortlaut nach bereits aufgenommen. Es erscheint zweckmäßig, den Marktzutritt im Internet insgesamt zu vereinfachen und - soweit möglich - eine Harmonisierung der Zutrittsbedingungen zu gewährleisten. Eine möglichst innovationsfreudige Medienordnung ist dann zu erwarten, wenn ein klarer .Negativkatalog' unerlaubter Maßnahmen formuliert wird mit einer zugleich glaubwürdigen Bestrafungsinstanz. Diese kann durchaus auch von selbstregulativen Institutionen bereitgestellt werden. Es kann aber auch eine Absprache unter den Teilnehmerländern des Internet nötig sein. Für die Wettbewerbspolitik ist es notwendig, die Marktstrukturen weiter im Auge zu behalten und Marktabschließungstendenzen wirksam entgegenzutreten. Dabei darf aber der Nutzen von gemeinsamen Standards nicht vernachlässigt werden, unabhängig davon, ob sie von Unternehmen, Regierungen oder NGOs gesetzt werden: Hier sind die positiven Effekte von Netzwerkexternalitäten angesprochen. Ordnungspolitik muss zu-
Virtuelle Integration
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dem ,vertrauensschaffende' Maßnahmen unterstützen, die gerade im Bereich der virtuellen Wirtschaft handelsschaffend wirken. Öffentliche Stellen können hierbei durchaus eine positive Signalfunktion ausüben - etwa im aktuellen Beispiel der so genannten .digitalen Signatur'. Dringend notwendig ist jedoch eine Abkehr von Protektionismus und technologischer Industriepolitik, die im Internet-Zeitalter in neuen, aber nicht minder schädlichen Erscheinungsformen auftritt. Frankreich und die Europäische Union haben beispielsweise allein im Mediensektor 33 Ausnahmen von der Meistbegünstigungsklausel erwirkt, um sich vor einer vermeintlichen ,Amerikanisierung Europas' zu schützen. Die Begründungen hierfür sind aus ordnungsökonomischem Blickwinkel wenig überzeugend und wirken vorgeschoben: Es ist letztlich alter Merkantilismus in neuen Gewändern. Wenn die Internet- und Medienwirtschaft von protektionistischen Handelsschranken begrenzt wird, so sind eindeutig negative Konsequenzen für die Wachstumspotenziale zu vermuten. Von einer offenen Medienordnung hingegen sind positive Wachstumseffekte und vertiefte wirtschaftliche Integration einzelner Regionen zu erwarten.
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Finanzmarktintegration, Krisenprävention und Krisenmanagement
Albrecht F. Michler und H. Jörg Thieme
Inhalt 1. Finanzmarktintegration und Finanzmarktkrisen
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1.1. Finanzmarktintegration
188
1.2. Erscheinungsformen von Finanzmarktkrisen
191
1.3. Ursachen von Währungskrisen
193
1.3.1. Modelleder 1. Generation
193
1.3.2. Modelle der 2. Generation
195
1.3.3. Modelle der 3. Generation
196
1.4. Finanzmarktintegration und Contagion-Eftekte 2. Vor- und Nachteile unterschiedlicher Wechselkursregime
197 202
2.1. Argumente gegen ein Flexkurssystem
203
2.2. Argumente für ein System flexibler Wechselkurse
204
3. Krisenprävention und Krisenmanagement bei integrierten Finanzmärkten 3.1. Krisenprävention
206 206
3.1.1. Wirtschaftspolitik der Länder und Institutionen
206
3.1.2. Wirtschaftspolitische Maßnahmen des IMF
210
3.1.3. Verhalten der Akteure auf den Finanzmärkten 3.2. Krisenmanagement
211 211
4. Fazit
214
Literatur
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Albrecht F. Michler und H. Jörg Thieme
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1. Finanzmarktintegration und Finanzmarktkrisen 1.1. Finanzmarktintegration Internationale Integration von Märkten beschreibt den Zustand (statische Sichtweise) bzw. den Prozess (dynamische Sichtweise) des Zusammenwachsens nationaler Volkswirtschaften zu einem größeren Wirtschaftsraum (Balassa 1961). Demzufolge ist unter Finanzmarktintegration die zunehmende Verflechtung zuvor separierter Geld- und Kreditmärkte hin zu integrierten Finanzmärkten zu verstehen (Thieme und Vollmer 1990).' Zur Messung von Finanzmarktintegration werden unterschiedliche Konzepte berücksichtigt: Einerseits können die Preise von Vermögensaktiva mit gleichen Ausstattungsmerkmalen aber unterschiedlicher Währungsdenominierung direkt miteinander verglichen werden (preisbasierte Ansätze; Zinsparitätentheorien) und andererseits mengenbasierte Messkonzepte wie das Feldstein-Horioka-Kiitenum herangezogen werden. Die üblichen preis- und mengenbasierten Verfahren werden im Folgenden kurz erläutert. Gedeckte Zinsparität und Kapitalmobilität Zunächst ist prüfbar, ob und inwieweit internationale Investoren ihr Vermögen zwischen nationalen Finanzmärkten bzw. Offshore-Märkten transferieren können bzw. inwieweit Kapitalverkehrsbeschränkungen eine internationale Portfoliodiversifikation behindern. Sofern keine Barrieren existieren, werden wechselkursgesicherte Renditen vergleichbarer Vermögensaktiva auf unterschiedlichen Finanzmärkten durch Arbitrageprozesse in Einklang gebracht (Gesetz des einheitlichen Preises). Lediglich in Höhe bestehender Transaktionskosten - abstrahiert man von wertpapierspezifischen Präferenzen der Akteure - ergeben sich Zinsdivergenzen, die von den Marktteilnehmern aber nicht als risikoloser Arbitragegewinne genutzt werden können. Bei vollständiger Kapitalmobilität wird deshalb von der Gültigkeit der gedeckten Zinsparität (CIP) ausgegangen (Frankel, Phillips und Chinn 1993): (1)
i - i F = e f - es bzw. er = (i - iF) - (ef - es).
Systematische Abweichungen er (Überrenditen, excess returns) zwischen aus- und inländischen Zinssätzen (i - iF) und der Terminprämie (ef - es) sind demzufolge ausgeschlossen.2 Weichen die Überrenditen hingegen signifikant und systematisch von null ab (er f 0), deutet dies auf eine unvollständige Ausnutzung von Arbitragemöglichkeiten bzw. auf die Existenz spezifischer Risikoprämien hin. Sie sind das Ergebnis von Kapitalverkehrsbeschränkungen, Wechselkurskontrollen, unterschiedlichen steuerlichen Behandlungen, Investitionsbeschränkungen, potenziellen Ausfallrisiken und politischen
2
Häufig werden auch die Auswirkungen auf Aktienmärkte - mithin also Realkapitalmärkte im Zusammenhang mit der Finanzmarktintegration beschrieben. Das Superskript F (foreign) charakterisiert ausländische Variablen, s (spot) beschreibt den Kassakurs und f (forward) den Terminwechselkurs. Alle Variablen mit Ausnahme der Nominalzinssätze werden in Form natürlicher Logarithmen angegeben.
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Finanzmarktintegration, Krisenprävention und Krisenmanagement
Risiken. Bestehende Überrenditen charakterisieren demzufolge länderspezifische Prämien (country premium), die bei genauen Rendite/Risikobetrachtungen (risikoadjustierte Renditen) vollständig verschwinden können. Ungedeckte Zinsparität und Vermögenssubstitution Aber auch völlige Kapitalmobilität impliziert keine vollständige Angleichung der wechselkursbereinigten Nominalzinssätze. Die Akteure müssen bereit sein, ihr Vermögen ohne Absicherungsgeschäfte zwischen Finanztiteln - die in verschiedenen Währungen denominiert sind - zu transferieren. Betrachten die Marktteilnehmer Anlageformen als perfekte Substitute, werden die wechselkursbereinigten Renditen übereinstimmen. In diesem Falle sind keine spezifischen Risikoprämien erforderlich, damit Investoren ihr Vermögen zwischen den Assetklassen unterschiedlicher Währungen transferieren. Die Frage des Substitutionsgrades lässt sich anhand der ungedeckten Zinsparität (UIP) überprüfen: (2)
i - iF = es* - e s = A es*.
Auftretende Zinsunterschiede (i - iF) reflektieren lediglich die im Markt vorhandenen Wechselkursänderungserwartungen A e s . Der Zusammenhang zwischen der ungedeckten und gedeckten Zinsparität wird deutlich, wenn man die Relation (2) um den Swapsatz (e f - e s ) erweitert (Frankel, Phillips und Chinn 1993): (3)
i - iF = [(i - i F ) - (ef - es)] länderspezifische Prämie
+
[(e f - e s ) - (es* - es)] Wechselkursrisikoprämie ^
(es* - e s )
+
Wechselkursänderungserwartung
Währungsprämie.
Die ungedeckte Zinsparität negiert nicht nur länderspezifische Risikoprämien, sondern auch die Existenz wechselkursspezifischer Risikoprämien [(e f - e s ) - (es* - es)]. Gerade in einem Regime flexibler Wechselkurse mit hohen historischen Wechselkursfluktuationen kann die Notwendigkeit einer derartigen Risikokompensation bestehen. Allerdings begründet eine empirische Ablehnung der ungedeckten Zinsparität nicht zwangsläufig die Existenz wechselkursspezifischer Risikoprämien; vielmehr können fehlerhafte Erwartungsbildung bzw. mangelnde Erwartungsantizipation hierfür verantwortlich sein. Aus der Beziehung (3) ist auch ersichtlich, dass weder die gedeckte noch die ungedeckte Zinsparität einen gemeinsamen Expansionspfad zwischen in- und ausländischen Assetklassen begründen. Das häufig - insbesondere von Praktikern - bemühte Argument, dass die zunehmende .Globalisierung' der Finanzmärkte zwangsläufig einen langfristigen Renditegleichlauf erzwingt, lässt sich nicht aufrechterhalten und kann bei einem sorgfältigen Testdesign in empirischen Analysen auch nicht bestätigt werden (Fase und Vlaar 1997; Michler 2001; Schröder 2002). Allerdings begünstigen ein hoher Mobilitäts- und Substitutionsgrad zwischen den Finanzaktiva den Gleichlauf von Renditen in der kurzen und mittleren Frist.
190
Albrecht F. Michler und H. Jörg Thieme
Reale Zinsparität Spar- und Investitionsentscheidungen der Marktteilnehmer und damit auch internationale Kapitalbewegungen basieren auf Erwartungen über die künftige realwirtschaftliche Entwicklung einer Volkswirtschaft und demzufolge auf den Unterschieden in den Ex-ante-Realzinssätzen. Bei einer weitgehenden Finanzmarktintegration müssen reale Renditeunterschiede zwischen vergleichbaren Vermögenstiteln im In- und Ausland verschwinden, d. h. die reale Zinsparität (RIP) ist erfüllt. Unter Berücksichtigung der nominalen Zinsparitäten und der Ex-ante-Kaufkraftparitäten lässt sich der Unterschied (rea - r^6") in den Ex-ante-Realzinssätzen von Inland (rea) und Ausland in einzelne Komponenten zerlegen:3 r ra - r F e a = [(i - i F )-(e f - e s )]
(4)
länderspezifische Prämie
+
[(e f -e s )-(e s *-e s )] Wechselkursrisikoprämie
+
[(es V ) - (TC* V ) ] reale Wechselkursänderungserwartung.
Bei Annahme der gedeckten und ungedeckten Zinsparität entfallen die ersten beiden Ausdrücke auf der rechten Seite. Bei Gültigkeit der Ex-ante-Kaufkraftparität verschwindet auch der dritte Ausdruck und die reale Zinsparität ist erfüllt. Die reale Zinsparitätentheorie charakterisiert damit eine strengere Form der Kapitalmarktintegration, da sie zusätzlich zumindest die langfristige Gültigkeit der Kaufkraftparitätentheorie voraussetzt.4 Das
Feldstein-Horioka-Kriterium
Eine breitere Abgrenzung von Kapitalmobilität basiert auf den Überlegungen des Mundell-Fleming-Modeüs. Eine vollständige Integration der nationalen Finanzmärkte im Sinne des Feldstein-Horioka-Kritenxim (Feldstein und Horioka 1980) liegt vor, wenn die Korrelation zwischen der nationalen Spar- und Investitionsquote verschwindet. Ein Anstieg (eine Reduktion) der Investitionsnachfrage und der damit verbundenen Nachfrage nach Krediten wird automatisch durch einen Kapitalimport (Kapitalexport) kompensiert. Das inländische Realzinsniveau und die Sparquote - bestehend aus privaten und staatlichen Ersparnissen - bleiben unverändert. Demzufolge lässt sich eine empirisch überprüfbare Relation (5)
3
4
(I t /Y t ) =
ao + a, • (S,/Y t )
Dabei beschreibt (n - t?') die erwartete Inflationsdifferenz zwischen In- und Ausland während des Anlagezeitraums. Bei einer genaueren Betrachtung wird man allerdings feststellen, dass die Kaufkraftparitäten auch in der kurzen Frist gelten müssen. Beim Vergleich werden die Marktteilnehmer die Inflationsbereinigung nicht mit zwei unterschiedlichen Inflationsraten durchfuhren, sondern sowohl das in- als auch das ausländische Nominalzinsniveau um die inländischen Inflationserwartungen korrigieren. Die reale Zinsparität setzt dann voraus, dass der erwartete Wechselkurs und die erwartete Inflationsrate im Inland in Sinne der Kaufkraftparität verknüpft sind. Mit anderen Worten, die Arbitrageprozesse auf den Finanzmärkten reichen nicht aus, um die reale Zinsparität sicherzustellen, vielmehr bedarf es einer korrespondierenden Güterarbitrage.
Finanzmarktintegration, Krisenprävention und Krisenmanagement
191
formulieren. Alternativ kann auch der Zusammenhang zwischen dem Leistungsbilanzsaldo (CAS) bzw. dem Kapitalbilanzsaldo einerseits und den inländischen Investitionen andererseits gemessen werden (6)
(CAS./Y0 =
ß 0 + ßi • (I./Y,)-
Falls die nationalen Finanzmärkte nicht integriert sind, müssen die Leistungsbilanzen der betrachteten Länder ausgeglichen sein, da eine Kompensation über Kapitaltransfers (unausgeglichene Kapitalbilanz) nicht möglich ist. Bei vollständiger Integration der nationalen Finanzmärkte darf also die Nullhypothese (Ho: ai= 0) in (5) bzw. die Nullhypothese (Ho: ß i= 1) in (6) nicht verworfen werden. Bei genauer Betrachtung setzt das Feldstein-Horioka-Kriterium nicht nur die Gültigkeit der gedeckten und ungedeckten Zinsparität sowie der Ex-ante-Kaufkraftparität voraus, sondern unterstellt auch spezifische Kovarianzrelationen zwischen den Realzinssätzen und der Sparquote (Eiiffinger und Lemmen 1995a).5 Mithin wird die Messlatte für die Finanzmarktintegration weiter erhöht. Da bereits die Messung der Kapitalmobilität bzw. Vermögenssubstitution zwischen Vermögensaktiva von Industrieländern auf eine Vielzahl von Operationalisierungsproblemen stößt (Michler 2001), gestaltet sich diese Aufgabe für Schwellenländer angesichts der hohen Bedeutung zeitvariabler Risikoprämien noch erheblich schwieriger. Festzuhalten bleibt allerdings, dass viele Schwellenländer in den letzten Dekaden ihre Kapitalverkehrsbeschränkungen deutlich reduziert haben und somit die Kapitalmobilität signifikant angestiegen ist. Aus Sicht internationale Investoren bietet sich die Beimischung von Vermögensaktiva aus Schwellenländem in international ausgerichteten Portefeuilles aus zwei Gründen an: Jenseits aller Risiken versprechen Schwellenländer mit einer hohen Wachstumsrate der Volkswirtschaft eine höhere Realverzinsung. Überlagert das Wirtschaftswachstum in den Schwellenländern zudem vorhandene Konjunkturprozesse, können Renditekorrelationen zwischen den Wertpapieren von Industrieund Schwellenländem vergleichsweise gering ausfallen. Eine entsprechende Portfoliodiversifikation verspricht eine verbesserte Rendite/Risiko-Struktur. Der Anreiz für eine derartige Diversifikation steigt umso mehr, je stärker die Konjunktur zwischen den Industrieländern - aufgrund einer zunehmenden Politikkoordination - synchronisiert wird. Die Bedeutung der privaten Nettokapitalströme für die Schwellenländer im Zeitraum 1992-2000 verdeutlicht Tabelle 1. Dabei sind insbesondere die starken Abflüsse bei den Bankkrediten in den Jahren 1997/98 während der Asienkrise bemerkenswert. 1.2. Erscheinungsformen von Finanzmarktkrisen Finanzkrisen lassen sich in drei Kategorien unterteilen: Währungskrisen, Bankenkrisen und internationale Verschuldungskrisen (Eichengreen und Rose 1998). Währungskrisen liegen vor, wenn spekulative Attacken gegen den Wechselkurs einer Währung entweder zu einer drastischen Abwertung fuhren oder aber die erfolgreiche Verteidi-
5
Zur Interpretation und kritischen Würdigung des FH-Kriteriums vgl. beispielsweise Tesar (1991) sowie die kompakte Darstellung bei Eiiffinger und Lemmen (1995b).
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Albrecht F. Michler und H. Jörg Thieme
Tabelle 1: Private Nettokapitalströme in die Schwellenländer, 1992-2000 in Mrd. USD 1992
1993
1994
1995
1996
1997
1998
1999
2000
private Nettokapitalzuflüsse Bankkredite und andere Netto-Portfolioinvestitionen
116,9 28,5 53,0
124,3 -14,0 81,6
141,3 -49,5 109,9
189,0 49,5
224,2
126,2
45,2
71,5
32,2
56,7
80,9
-127,2 23,8 148,7
-135,6 53,7 153,4
-172,1 58,3
35,5
42,6 96,9
-62,1 43,3
Netto-Direktinvestitionen
18,7 85,0 120,4
15,0
41,5 -9,5
67,1
74,4
113,9
18,9
-55,4
-12,7
6,3
31,2
-48,4
-119,1
2,0 -88,4
12,9 14,7
18,0 33,0
3,4 18,9 44,7
19,7 48,5
27,1
6,5 57,2
36,6
55,5
7,1 60,2
-97,8 45,9
53,8
49,3
27,2
83,1 43,7
92,6 79,4
123,7
109,1
68,8
7,7
48,2
61,7
23,8
60,6 63,7
90,1 79,7
47,1
-73,7
-108,2
-71,9
-12,1
-2,8
-98,0 -36,5
-98,6
3,1
-71,7 25,7
-55,5 114,2
42,7 111,7
Sctawellenlfinder
144,9
146,0
Asien private Nettokapitalzuflüsse Bankkredite und andere Netto-Portfolioinvestitionen Netto-Direktinvestitionen
Änderung Reservevermögen Schwellenländer Asien Leistungsbilanzsaldo Schwellenländer Asien
-39,8
-2,6
83,8
121,8 87,5
Quelle: IMF (2001, S. 43). gung des Außenwertes nur durch den Abbau von Devisenreserven bzw. durch massive Zinserhöhungen garantiert werden kann. Bankenkrisen charakterisieren Situationen, in denen eine Vielzahl von Banken die interne Konvertibilität ihrer Verpflichtungen nicht mehr gewährleisten kann bzw. die öffentliche Hand durch weitreichende Hilfestellungen den Ausfall von Banken oder einen Banken-Run verhindert. Im Falle von internationalen Verschuldungskrisen ist ein Land nicht mehr in der Lage, seine öffentlichen bzw. privaten Auslandsverpflichtungen vollständig zu erfüllen. Die drei Krisenarten können sowohl einzeln (Währungskrise im Wechselkursmechanismus des EWS; Bankenkrise in Japan) als auch simultan (Mexiko-Krise 1994/95; Asienkrise 1997/98) oder in einer bestimmten zeitlichen Abfolge (Türkei, Venezuela: Bankenkrise im Vorfeld einer Währungskrise; Argentinien, Chile: Bankenkrise im Vorfeld einer Verschuldungskrise; Kolumbien, Peru: Verschuldungskrise im Vorfeld einer Bankenkrise; Indonesien: Währungskrise im Vorfeld einer Banken- und Verschuldungskrise) auftreten. Auch wenn keine eindeutigen Kausalstrukturen zwischen den Krisenphänomenen identifizierbar sind, führen Währungskrisen bei einem anfälligen Finanzsektor, respektive Bankensektor häufig zu Banken- bzw. Verschuldungskrisen. Auch wenn sich die weiteren Betrachtungen auf die Analyse von Währungskrisen konzentrieren, lassen sich damit zumindest indirekt auch die beiden anderen Krisenphänomene berücksichtigen. Sowohl die Identifikation als auch die zeitliche Bestimmung von Währungskrisen ist mit erheblichen Operationalisierungsproblemen verknüpft. Berücksichtigt man aus-
Finanzmarktintegration, Krisenprävention und Krisenmanagement
193
schließlich gravierende Abwertungen der Währung als Indikator spekulativer Attacken, vernachlässigt man die Möglichkeit trendmäßiger Abwertungen aufgrund sehr hoher Inflationsraten (Frankel und Rose 1996). Auch die erfolgreiche Abwehr spekulativer Attacken durch den Verkauf von Devisenreserven oder drastische Zinserhöhungen auf den nationalen Kreditmärkten werden vernachlässigt. Deshalb bietet sich die Verwendung von Indizes an, die den spekulativen Druck anhand der Wechselkurse, der Währungsreserven und der inländischen Zinssätze messen (Eichengreen, Rose und Wyplosz 1996). Allerdings bleibt die Frage nach den Schwellenwerten einzelner Variablen und Indizes unbeantwortet; üblicherweise werden die Werte ad hoc fixiert. Akzeptiert man sowohl die beschriebenen Kriterien zur Identifikation von Währungskrisen als auch die festgelegten Schwellenwerte, waren die letzten drei Dekaden durch eine Vielzahl von Krisen geprägt. Aziz, Caramazza und Saigado (2000) identifizieren allein im Zeitraum von 1975-1997 50 Währungskrisen (20 in den Industrieländern und 30 in den Entwicklungs- bzw. Schwellenländern). 1.3. Ursachen von Währungskrisen Betrachtet man die Währungskrisen der letzten Dekade, ist auffällig, dass sie bis auf wenige Ausnahmen immer mit einem System fixierter Wechselkurse verknüpft sind. Im Folgenden werden deshalb die drei Generationen der Währungskrisenmodelle bzw. der Modelle spekulativer Attacken in Fixkurssystemen dargestellt. 1.3.1. Modelle der 1. Generation Die frühen Modelle zur Erklärung spekulativer Attacken (Krugman 1979; Flood und Garber 1984) kombinieren Elemente der monetären Zahlungsbilanztheorie mit der monetären Wechselkurstheorie bei flexiblen Preisen. Sofern das inländische Geld- bzw. Kreditvolumen schneller steigt als die Nachfrage nach Inlandswährung, kommt es zu einer Reduktion der Währungsreserven, was den Zusammenbruch eines Fixkurssystems verursacht. Mit Hilfe der monetären Wechselkurstheorie kann ein Schattenwechselkurs e shad auf Basis der aktuellen und erwarteten Fundamentalwerte ermittelt werden, der Informationen über die laufende Über- bzw. Unterbewertung der Inlandswährung und den erforderlichen Anpassungsbedarf im Fixkurssystem liefert. Femer begründet die monetäre Wechselkurstheorie auch das Auftreten spekulativer Attacken vor dem vollständigen Abbau der Währungsreserven, da die Marktteilnehmer bei der Bestimmung des gegenwärtigen (Schatten-)Wechselkurses nicht nur die aktuellen Fundamentalwerte, sondern auch die (diskontierten Werte) künftiger Geldmengenüberhänge berücksichtigen.6 Die vorzeitige Abwertung des Schattenwechselkurses vergrößert die Kluft zwischen diesem .theoretisch gerechtfertigten' und dem fixierten Wechselkurs. Die Marktteilnehmer werden den Abwertungsbedarf der Währung antizipieren, in dem sie ihre 6
Würden die Investoren hingegen die künftigen Einflussfaktoren vernachlässigen, stimmen Schattenwechselkurs und Fixkurs auch dann noch überein, wenn die Währungsreserven völlig aufgelöst sind. Der Schattenwechselkurs würde in diesem Falle ausschließlich über die Kaufkraftparitäten bestimmt und bei vollständiger Güterarbitrage hätte sich das inländische Preisniveau noch nicht verändert.
194
Albrecht F. Michler und H. Jörg Thieme
Positionen bereits vorzeitig zugunsten der Fremdwährungen umschichten, um künftig zu erwartende Abwertungsverluste zu vermeiden. Die Suspendierung des festen Wechselkursregimes erfolgt umso schneller, je geringer die internationalen Währungsreserven (je größer die inländische Entstehungskomponente der Geldmenge) zu Beginn des Fixkurssystems sind, je höher die Zinselastizität der Geldnachfrage ausfällt und je schneller die inländische Entstehungskomponente der Geldmenge wächst.7 Das Wachstum der inländischen Entstehungskomponente hängt seinerseits davon ab, ob und inwieweit die Politikträger bereit sind, makroökonomische (Fehl-)Entwicklungen im Inland mit Hilfe geldpolitischer Maßnahmen zu korrigieren bzw. zu flankieren (geldmengenfinanzierte Fiskalpolitik, monetäre Flankierung von Leistungsbilanzdefiziten, Bail-Out-Maßnahmen für Unternehmen und Banken bei risikoreichen bzw. unrentablen Investitionsprojekten; Übernahme der lender of last resortFunktion bei Verspannungen auf den nationalen Finanzmärkten usw.). In all diesen Fällen existiert eine deutliche Diskrepanz zwischen den angekündigten Zielsetzungen im Sinne des Fixkurssystems und der aktuellen bzw. künftig erwarteten Ausrichtung der Geldpolitik (Inkompatibilität der Wirtschafts- respektive Geldpolitik). Im Ergebnis wird die Glaubwürdigkeit der monetären Autoritäten nachhaltig unterminiert und kann bereits in einem frühen Stadium - trotz vorhandener Währungsreserven - spekulative Attacken auslösen (Bleyer 1998). Auch für den Fall, dass die monetären Autoritäten auftretende Geldangebotseffekte beim Abbau der internationalen Devisenreserven sterilisieren, lässt sich zeigen, dass ein Fixkurssystem dauerhaft nicht überleben kann, wenn die Marktteilnehmer die geld- und währungspolitische Strategie durchschauen. Die grundlegenden Erwartungen der Akteure werden sich durch die kurz- bzw. mittelfristigen Neutralisierungsbemühungen nicht nachhaltig verändern. Flood und Marion (1998) zeigen zudem anhand einer stochastischen Variante des Modells spekulativer Attacken (Integration zeitvariabler Risikoprämien in einer modifizierten Version des ungedeckten Zinsparitätenmodells), dass Währungskrisen nicht nur durch eine inkonsistente Wirtschaftspolitik, sondern auch durch sich selbst erfüllende Prophezeiungen in Bezug auf das Devisenmarktrisiko ausgelöst werden können. Erwarten beispielsweise einige Marktteilnehmer in der Zukunft eine erhöhte Volatilität auf den Devisenmärkten, kann dies das aktuelle inländische Zinsniveau und somit die inländische Geldnachfrage bzw. den aktuellen Geldmengenüberhang beeinflussen. Beim Zusammenbruch des Fixkurssystems ist darüber hinaus mit einer höheren Wechselkursvolatilität zu rechnen. Mit anderen Worten, die Verschiebungen in den Erwartungen der Marktteilnehmer verändern auch den Expansionspfad der Schattenwechselkurse und damit den Zeitpunkt spekulativer Attacken. Aufgrund der vorhandenen Nicht-Linearitäten sind drastische Übergänge zwischen den Gleichgewichten ohne und mit spekulativer Attacke möglich.
7
Die Elastizität ist bedeutsam, weil im Falle einer Abwertung mit einem Anstieg der Inflationserwartungen zu rechnen ist, die sich im Sinne der .F/sAer-Relation in steigenden Nominalzinssätzen widerspiegelt, so dass im Ergebnis die Geldnachfrage rückläufig ist und der aktuelle Geldangebotsüberhang ausgeweitet wird.
Finanzmarktintegration, Krisenprävention und Krisenmanagement
195
1.3.2. Modelle der 2. Generation Neben dem nichtlinearen Verhalten der privaten Akteure lassen sich in den Modellen spekulativer Attacken auch Nichtlinearitäten im Verhalten der wirtschaftspolitischen Entscheidungsträger berücksichtigen (Obstfeld 1986). Diese Erweiterung beschreibt den Übergang zu den Währungskrisenmodellen der 2. Generation. Solche Nichtlinearitäten treten beispielsweise auf, wenn die Zentralbank im Falle einer spekulativen Attacke die Wachstumsrate der Geldmenge signifikant verändert.8 Während in den Modellen der 1. Generation eine inkonsistente Wirtschaftspolitik die Volkswirtschaft in eine Währungskrise hineindrückt, können erwartete und antizipierte Politikanpassungen für den Fall einer spekulativen Attacke - trotz einer insgesamt konsistenten Wirtschaftspolitik - die Volkswirtschaft in eine Krise hineinziehen (,push-pull distinction'; Flood und Marion 1998). Diese Modelle konzentrieren sich mithin stärker auf die Erwartungen der Marktteilnehmer bzw. auf jene Faktoren, die einen Gleichlauf der Erwartungen (Erwartungskohärenz) auslösen. Die Entwicklung der makroökonomischen Fundamentalvariablen spielt hingegen eine untergeordnete Rolle. Vor diesem Hintergrund sind spekulative Attacken auch dann realistisch, wenn die Wirtschaftspolitik insgesamt konsistent mit dem System fester Wechselkurse ist. Gemäß den Modellen der 2. Generation können Währungskrisen durch (a) kohärente sich selbsterfiillende Erwartungen, (b) ein rationales Herdenverhalten und (c) Ansteckungsprozesse ausgelöst werden (Bleyer 1998). Sofem die Devisenmärkte durch eine atomistische Struktur geprägt sind, werden sich pessimistische und optimistische Erwartungen der Marktteilnehmer zunächst ausgleichen. Das spekulative Verhalten der Akteure dürfte im Sinne von Friedman zu einer Stabilisierung der Wechselkurse beitragen. Beim Auftritt neuer Informationen (,triggers'; z. B. politische Skandale, negative Wirtschaftsdaten, Äußerungen von Politikern usw.) kann sich allerdings die Zahl der pessimistischen Marktteilnehmer erhöhen und der Markt wird durch diese Akteure eindeutig dominiert. Die zunehmende Übereinstimmung der Erwartungen löst die spekulative Attacke aus und fuhrt zu einer sich selbsterfüllenden Prognose. Herdenmodelle basieren auf den Kosten der Informationsbeschaffung und -Verarbeitung für kleine (kreditbeschränkte) Investoren. Diese Akteure werden ihre Anlageentscheidungen am allgemeinen Markttrend bzw. am Verhalten von Big Playern ausrichten, die sie für gut informiert halten und die sich in der Vergangenheit eine gute Reputation aufgebaut haben. Spekulieren die großen Spieler (.Soras-Typ') gegen eine Währung, werden sich die kleinen Marktteilnehmer anschließen und die spekulative Attacke initiieren bzw. verstärken. Angesichts der engen wirtschaftlichen Verknüpfungen zwischen den Ländern einer Region bzw. aufgrund des Anlageverhaltens institutioneller Investoren (Umstrukturierung der Portefeuilles) besteht eine potenzielle Ansteckungsgefahr. Vor diesem Hinter8
Das Verhalten der Notenbank lässt sich mit einer nichtlinearen Verlustfunktion bei der Festlegung der geldpolitischen Ziele erklären. Aufgrund der befürchteten realwirtschaftlichen Konsequenzen verändert die Notenbank beim Auftritt spekulativer Attacken ihre geldpolitische Ausrichtung.
196
Albrecht F. Michler und H. Jörg Thieme
grund werden die Marktteilnehmer ihre spekulativen Attacken möglicherweise auch auf jene Länder ausdehnen, die zwar bislang eine konsistente Wirtschaftspolitik betrieben haben, bei denen aber auch eine nichtlineare Anpassung im Falle von spekulativen Attacken erwartet wird. Die Modelle der zweiten Generation liefern zwar eine adäquate Beschreibung für die Anpassungsprozesse im unmittelbaren Vorfeld einer Währungskrise. Andererseits überschätzen sie aber auch die Bedeutung der Erwartungen und die Rolle der Auslöser für kohärente Erwartungsbildungen. Adäquate Währungskrisenmodelle erfordern mithin eine Kombination beider Modellgenerationen. Die makroökonomischen Fundamentalfaktoren reflektieren jeweils die aktuelle Wirtschaftspolitik, die wirtschaftspolitischen Ziele und die Methoden zu ihrer Erreichung. Das Wechselkursregime wird üblicherweise öffentlich bekannt gegeben und für längere Zeit legalisiert. Je stärker die aktuelle Politik von der optimalen Politik zur Wechselkursstabilisierung abweicht, umso größer ist die Gefahr spekulativer Attacken. Sofern der Markt kein hinreichendes Vertrauen in die Stabilitätspolitik der Regierung hat, wird der Druck auf den internationalen Devisenmärkten sukzessive zunehmen und die Abwertung erzwingen. Geringfügige Abweichungen von der optimalen Wechselkurspolitik führen vermutlich nur deshalb nicht zu Wechselkurskrisen, weil eine Vielzahl makroökonomischer Friktionen zu beachten bleibt: Bestehende Transaktionskosten, Probleme beim Aufbau von Kreditlinien für spekulative Attacken und die Tatsache, dass viele Indikatoren der aktuellen Wirtschaftspolitik erst mit zeitlicher Verzögerung zur Verfügung stehen, eröffnen der Wirtschaftspolitik kleine bzw. temporäre Spielräume. Eine zunehmende Integration der Finanzmärkte, die Existenz neuer - durch geringe Transaktionskosten geprägter - Finanzinstrumente und die steigende Markttransparenz verengen diese Spielräume allerdings weiter. Vor diesem Hintergrund dürften spekulative Attacken gegen Fixkurssysteme zukünftig sehr viel schneller und häufiger auftreten als bisher. 1.3.3. Modelle der 3. Generation Die jüngste Modellgeneration zur Erklärung von Währungskrisen wurde infolge der Asienkrise 1997/98 entwickelt (Krugman 1998) und erklärt insbesondere den Zusammenhang zwischen Währungskrisen und den allgemeinen Strukturproblemen im Finanzsektor, respektive im Bankensektor von Schwellenländern (zur mikroökonomischen Fundierung vgl. beispielsweise Demirguc-Kunt und Detragiache 1998). Krugman beschreibt das Entstehen und Platzen einer Investitionsblase und damit verbunden den Aufstieg bzw. Zusammenbruch der Wertpapiermärkte. Die Regierung garantiert (implizit oder explizit) Bankinvestitionen in überbewertete Unternehmensaktien oder die verbriefte bzw. unverbriefte Kreditvergabe für risikoreiche und unrentable Investitionen im Inland. Die Banken sind dabei entweder Zweigstellen ausländischer Kreditinstitute bzw. inländische Institute, die sich an den internationalen Finanzmärkten refinanzieren, um das Kreditvolumen im Inland auszuweiten. Die Garantien der Regierung dienen im Wesentlichen dazu, ausländische Banken bzw. Investitionsmittel ins Land zu holen, damit das eigene Finanzsystem gestärkt wird und sich die Kluft zwischen der inländischen Investitions- und Sparquote zur Absicherung des Wirtschaftswachstums (der Industriepolitik) schließt.
Finanzmarktintegration,
Krisenprävention und Krisenmanagement
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Zusätzlich wird der Kapitalimport durch die Etablierung eines Systems fester Wechselkurse - aufgrund der fehlenden Wechselkursänderungsrisiken - begünstigt. Die inländischen Banken können sich aufgrund der Wechselkursfixierung an den internationalen Finanzmärkten günstig refinanzieren. Dabei ergibt sich eine deutliche Präferenz für kurzfristige Refinanzierungsmittel, da die inländischen Banken an den kurzfristigen Kreditmärkten vergleichsweise geringe Risikoprämien (nichtlineare Entwicklung von Ausfallprämien in Abhängigkeit von der Restlaufzeit; Interbankenkredite gelten an den internationalen Finanzmärkten häufig als implizit staatlich garantiert; Verzicht auf einen Wechselkursabsicherung, die trotz Fixkurssystem bei langen Laufzeiten beispielsweise durch Swap-Konstruktionen erforderlich ist) entrichten müssen und sich zugleich die Option zur Ausnutzung der Zinsstrukturkurve (,riding the yield curve') erhalten. Gleichzeitig steigen aber sowohl die Mismatch- (Fristentransformationsproblem) als auch die Prolongationsrisiken (Risiko der Anschlussfinanzierung) und werden mit einem erhöhten Kreditausfallrisiko (aufgrund der expliziten und impliziten Garantien) und einer vergleichsweise geringen Eigenkapitalbasis der Banken verknüpft. Demzufolge entstehen sowohl auf der Aktiv- als auch der Passivseite der inländischen Banken gravierende Risikopotenziale, weil die Ausweitung des nationalen Finanzsystems nicht durch eine hinreichende Stärkung der institutionellen Rahmenbedingungen flankiert wurde. Sowohl auf der Schuldner- als auch der Gläubigerebene treten zwangsläufig gravierende Moral-Hazard-Probleme auf (Corsetti, Pesenti und Roubini 1998a). Die Modelle der 3. Generation basieren mithin auf einem instabilen Finanzsektor, so dass Währungskrisen in aller Regel mit einer Bankenkrise (,twin crises') verknüpft sind (Kaminsky und Reinhart
1999).
Angesichts dieser Ausgangslage lösen Veränderungen der makroökonomischen Rahmenbedingungen sehr rasch eine Währungs- und Bankenkrise aus. Die fünf asiatischen, von der Währungskrise 1997/1998 betroffenen Länder waren explizit oder implizit gegenüber dem USD in den frühen 1990er Jahren fixiert. Das Fixkurssystem funktionierte zunächst vergleichsweise gut, weil der USD gegenüber den anderen wichtigen Handelswährungen (JPY, DEM usw.) abwertete und die Exportwirtschaft der asiatischen Länder begünstigte. Die Situation veränderte sich, als der USD ab 1995 gegenüber den anderen Währungen und insbesondere gegenüber dem JPY aufwertete. Aufgrund des Pegs werteten die asiatischen Länder parallel mit auf, was zu einer nachhaltigen Verschlechterung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit dieser Länder führte (lto 2000). Zugleich verschärfte sich der Wettbewerb im südost-asiatischen Raum durch die schlechte Konjunkturentwicklung in Japan und den steigenden Konkurrenzdruck durch die Volksrepublik China (Corsetti, Pesenti und Roubini 1998a). 1.4. Finanzmarktintegration und Contagion-Effekte Neben den originären Ursachen von Währungskrisen interessiert die Frage, warum zunächst unbeteiligte Entwicklungs- bzw. Schwellenländer in Finanzkrisen anderer Länder hineingezogen werden. Diese Ansteckungsprozesse (Co/iiagion-Effekte) sind insbesondere dann überraschend, wenn die Länder Unterschiede in den makroökonomische Rahmenbedingungen aufweisen oder geographisch getrennt sind. Hierzu bedarf es zunächst einer problemgerechten Definition von Ansteckung. In der Literatur zu diesem
198
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Thema gibt es keine allgemein akzeptierte Größe. Zum einen kann man die Ansteckungsprozesse an einem erhöhten Gleichlauf von Finanzindikatoren festmachen, andererseits können Ansteckungseffekte einen allgemein höheren Gleichlauf der Länder während der Krisenphase auslösen (Kaminsky und Reinhart 2000; Rigobön 1999). In Abhängigkeit von der gewählten Definition und den identifizierten Übertragungskanäle zwischen den Ländern ergeben sich unterschiedliche Konsequenzen für die Wirtschaftspolitik der betroffenen Länder. Für die Übertragung von Krisen lassen sich drei Transmissionskanäle identifizieren: Erstens die Handelsbeziehungen zwischen den Ländern bzw. der Wettbewerb zwischen ihnen auf Drittmärkten, zweitens ähnliche - insbesondere makroökonomische - Ausgangsbedingungen und drittens finanzielle Interdependenzen zwischen den Ländern.9 Die Ansteckungsgefahr über die Handelsbeziehungen lässt sich mit den erheblichen positiven Wettbewerbseffekten im Falle drastischer Abwertungen des Krisenlandes begründen. Andere Schwellenländer versuchen ihre Währungen ebenfalls abzuwerten, möglicherweise sogar in einen Abwertungswettlauf einzutreten, um die Wettbewerbsposition ihrer Volkswirtschaft sicherzustellen. Internationale Investoren werden die Neuorientierung der Wechselkurspolitik antizipieren und bereits im Vorfeld ihre Fremdwährungspositionen reduzieren. Die Portfolioumschichtungen lösen die Abwertungsprozesse im Sinne einer sich selbsterfüllenden Prophezeiung aus (Gerlach und Smets 1995). Bei vergleichbaren Ausgangsbedingungen (schlechten Fundamentaldaten) induzieren adverse Schocks auf den internationalen Finanz- und Gütermärkten ähnliche Anpassungsprozesse in den betroffenen Schwellenländern. Des Weiteren können unvollständige Informationen dazu fuhren, dass auftretende Krisenphänomene in einem Land mehr oder minder ungeprüft auch für andere Länder mit ähnlichen Ausgangsbedingungen befurchtet werden. Angesichts der zu erwartenden Verluste werden sich die internationalen Investoren auch aus diesen Ländern zurückziehen und damit eine sich selbst erfüllende Prophezeiung auslösen. Die Ansteckungsgefahr über die Finanzmärkte lässt sich an vier Transmissionskanälen festmachen (Hernändez und Valdes 2001): - direkte Finanzbeziehungen, - das Verhalten institutioneller Marktteilnehmer, - Liquiditätsprobleme ausländischer Investoren und - asymmetrische Informationen bzw. Herdenverhalten der Investoren. Die Zusammenhänge zwischen den Finanzmärkten bzw. ihren Marktteilnehmern sollen im Weiteren etwas ausfuhrlicher dargestellt werden. Direkte Übertragungskanäle zwischen Assetklassen bzw. Vermögensaktiva unterschiedlicher Währungsdenominierung lassen sich - unabhängig vom vorherrschenden Wechselkursregime - begründen. Die potenziellen Übertragungskanäle werden anhand 9
Sowohl die ökonomischen Rahmenbedingungen als auch die finanziellen Interdependenzen basieren letztlich auf asymmetrischen bzw. unvollständigen Informationen. Im ersten Fall werden die makroökonomischen Aspekte, im zweiten Fall die mikroökonomischen Strukturen stärker berücksichtigt.
Finanzmarktintegration, Krisenprävention und Krisenmanagement
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langfristiger Nominalrenditen erörtert, können aber entsprechend auf andere Vermögensaktivaformen übertragen werden. Eine plausible makroökonomische Begründung für den Zusammenhang der langfristigen Zinssätze auf den internationalen Kapitalmärkten lässt sich aus der Zinsparitätentheorie in Kombination mit der Fz's/ier-Relation ableiten, wonach die nominalen Zinssätze der Summe aus dem langfristigen Realzinssatz und den korrespondierenden Inflationserwartungen entsprechen. Der Nominalzinssatz i c eines beliebigen Landes C lässt sich demzufolge in folgende Komponenten zerlegen: (7)
i c = r Wra + ^ w * + A e c * + er c .
Er setzt sich aus dem ex ante erwarteten realen Weltzinsniveau r Wea [dem realen Zinsniveau des dominanten Landes], der erwarteten Weltinflationsrate 7tw* [der erwarteten Inflationsrate des dominanten Landes], der erwarteten Abwertungsrate Aec* und einer länderspezifischen Risikoprämie er c zusammen. Das Ex-ante-Realzinsniveau des Landes r Cea ergibt sich aus dem weltweiten Realzinsniveau zuzüglich der erwarteten realen Wechselkursänderung A e1*"* (8)
r Cca = r Wea + A e ' c ' + er c .
In einem System flexibler Wechselkurse ist zu erwarten, dass die inländischen Zinssätze und Inflationsraten durch die Entwicklung nationaler Fundamentalfaktoren dominiert werden und die Wechselkurse auftretende Impulse des Auslands absorbieren. Ein Gleichlauf der Nominalzinssätze setzt somit voraus, dass eine hohe Korrelation zwischen den Realzinssätzen sowie den antizipierten Inflationserwartungen in den beteiligten Ländern existiert. Gleichgerichtete Bewegungen zwischen den (erwarteten) Inflationsraten sind insbesondere dann zu erwarten, wenn die Konjunkturzyklen eine weitgehende - wirtschafts- respektive geldpolitisch induzierte - Synchronisation aufweisen bzw. exogene Schocks das Preissystem der betrachteten Volkswirtschaften in ähnlicher Weise tangieren. Neben der ungedeckten Zinsparitätentheorie, die eine fundamentale Erklärung für den Zinszusammenhang in unterschiedlichen Währungen auf integrierten Märkten liefert, können weitere Übertragungskanäle zwischen den Finanzmärkten existieren, die - zum Teil unabhängig von den Fundamentalfaktoren - spezifische, vor allem temporäre Interdependenzen begründen Reale Zinssätze sind nicht allein abhängig von nationalen Makrovariablen, sondern werden auch von internationalen Faktoren beeinflusst, die - durch Veränderungen des Angebots und der Nachfrage nach weltweiten Ersparnissen - das reale Weltzinsniveau determinieren. Im Sinne der Relation (8) ist das reale Weltzinsniveau - zumindest partiell - eine Funktion von aggregierten (weltweiten) Variablen. Die weltweite Realzinsentwicklung könnte beispielsweise durch die längerfristige Entwicklung auf den Aktienmärkten, durch die synchronisierte Konjunkturentwicklung in den G7-Ländern oder durch die weltweit zunehmende Verschuldung erklärt werden. Dies wiederum begründet - bei vergleichsweise niedrigen Inflationsraten - beispielsweise eine sukzessive Annäherung der realen Zinssätze. Sofern die Realzinssätze der Schwellenländer zumindest partiell durch die internationalen Faktoren bestimmt werden, führt jedwede Verän-
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derung in der Nachfrage oder im Angebot weltweiter Ersparnisse ceteris paribus über das .globale' Realzinsniveau auch zu Anpassungen auf der nationalen Ebene. Diese Interdependenzen gelten unabhängig davon, ob die betrachteten Volkswirtschaften an einem System fester oder flexibler Wechselkurse teilnehmen und ob die Nachfrage nach länderspezifischen Ersparnissen variiert. Die gängigen Theorien zur Risikobewertung gehen davon aus, dass individuelle Wertpapierrisiken in international diversifizierten Portefeuilles nicht allein durch länderspezifische Faktoren determiniert sind, sondern auf integrierten Finanzmärkten auch gemeinsame Faktoren eine Rolle spielen. Diese Hypothese kann wie folgt formuliert werden: (9)
erc=
wck • rfk.
Dabei charakterisiert rfk die vorhandenen k Weltrisikofaktoren, die sich beispielsweise aus einem Anstieg der Weltinflationsniveaus, Schwankungen in realwirtschaftlichen Größen oder aber gravierenden Änderungen in den politischen Rahmenbedingungen ergeben können. Die Variablen w c k beschreiben die Sensitivität - analog zu den Beta-Faktoren im CAPM - der länderspezifischen Risikoprämie in Bezug auf die Änderungen der Risikofaktoren. Die Risikofaktoren können hierbei als Risikoentgelt betrachtet werden, die auf den internationalen Märkten für spezifische Risikokategorien berücksichtigt werden. Eine Verschiebung in den Risikofaktoren rf k führt zu einer relativen Reduktion bzw. Erhöhung von Risikoprämien jener Finanzaktiva, die besonders sensibel im Sinne des spezifischen Gewichtungsfaktors w c k reagieren. Die Berücksichtigung einer .globalen' Risikobewertung differiert gravierend von der Risikomessung auf isolierten nationalen Vermögensmärkten. Im letzteren Falle sind die Risikoprämien ausschließlich das Ergebnis länderspezifischer Risikofaktoren, d. h. resultieren aus Fluktuationen im Marktportefeuille eines spezifischen Marktes und können - im Gegensatz zu den weltweiten Faktoren - diversifiziert werden. Sind die internationalen Investoren beispielsweise der Auffassung, dass die wahrgenommene weltweite Inflationsentwicklung zukünftig ein höheres Risiko beinhaltet, fuhrt dies zu einem Anstieg der entsprechenden Risikoprämie. In diesem Falle steigen die Nominalzinssätze in jenen Ländern, deren Sensitivitätsfaktoren - möglicherweise aufgrund der historischen Erfahrungen - relativ groß sind. Sofern die Schwellenländer eine vergleichsweise schlechte Inflationsperformance aufweisen, werden ihre Kursverluste deutlich höher ausfallen als in den Industrieländern. Die Kursanpassungen vollziehen sich dabei unabhängig von den länderspezifischen Inflationserwartungen bzw. deren Revision. Andererseits können auch nur die Industrieländer von solchen weltweiten Bestimmungsfaktoren beeinflusst werden. Angesichts einer zunehmenden Synchronisation der Konjunkturentwicklung in den Industrieländern können Schwankungen der Realzinssätze auftreten, die auf diese Länder beschränkt bleiben. Im Falle sinkender Realzinssätze vergrößert sich der Realzins-Spread gegenüber den Schwellenländern, so dass Portfolioinvestitionen in diesen Ländern angesichts der relativ verbesserten Rendite/Risiko-Struktur sinnvoll sind. Zieht die Konjunktur und damit auch das Realzinsniveau in den Industrieländern wieder an, kommt es unabhängig von der Performance der Schwellenländer zu einem zügigen Kapitalabfluss. Aufgrund der geringen Marktbreite und -tiefe ist mit erheblichen Kursschwankungen sowohl beim Zu- als auch beim Abfluss der Mittel zu rechnen. Der Abfluss aus den Schwellenländern wird möglicher-
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weise noch dadurch verstärkt, dass die Investoren nicht nur eine geographische Neuausrichtung anstreben, sondern auch die Laufzeitstruktur verändern. Sofern beispielsweise durch aktuelle Zinserhöhungen in den Industrieländern die Kursänderungsrisiken deutlich abgesenkt werden, steigt die Nachfrage nach Anleihen mit langfristigen Restlaufzeiten, während die Schuldner aus Schwellenländern - aufgrund der niedrigeren Risikoprämien und der Möglichkeit zur Ausnutzung der Zinsstrukturkurve - eher die Emission von Kurzläufern präferieren. Neben den Prolongationsrisiken ist mit einem deutlichen Anstieg der Refinanzierungskosten zu rechnen. Ein Gleichlauf der Renditen lässt sich aber auch mit einem spezifischen Anpassungsverhalten von Market Makern und institutionellen Anlegern auf den Finanzmärkten erklären. Die durch Kursänderungen ausgelösten Vermögenseffekte in bestehenden Wertpapierportefeuilles fuhren bei Market Makem zu systematischen Veränderungen in ihrer Risikobereitschaft und beeinflussen zugleich die verfugbaren Mittel zur Durchfuhrung weiterer Geschäfte. Im Falle sinkender Anleihenkurse werden Akteure mit einer unzureichenden Kapitalausstattung den normalen Umfang ihrer Aktivitäten beschränken und ihre Risikobereitschaft reduzieren. Mit anderen Worten, bei einem abwärtsgerichteten Trend auf den Rentenmärkten sinkt sowohl die Bereitschaft als auch die Fähigkeit der Market Maker, die erforderliche Liquidität an den Märkten bereitzustellen. Die Anpassungsprozesse konzentrieren sich hierbei nicht allein auf den originär betroffenen Rentenmarkt, sondern erstrecken sich auf eine Vielzahl anderer Finanzmärkte. Die auftretenden Anpassungsprozesse werden verstärkt, wenn institutionelle Investoren ihre Gesamtengagements an den Wertpapiermärkten - zur Ausnutzung von Leverage-Effekten - durch (kurzfristige) Kredite finanziert haben und sich daraus - aufgrund unterschiedlicher Fristigkeiten - Mismatch-Risiken ergeben. Während mit steigenden Zinssätzen der Wert bestehender Wertpapierportefeuilles sinkt, bleiben die Zinsbelastungen der kurzfristigen Refinanzierung erhalten, so dass sich im Ergebnis die Eigenkapitalpositionen der Marktteilnehmer reduzieren. Versuchen die Akteure, das drohende Verlustpotenzial bei auftretenden Kurseinbrüchen zu begrenzen und ihre Liquidität sicherzustellen, verkaufen sie ihre Wertpapierpositionen möglicherweise in einen .fallenden' Markt hinein und verstärken die Reaktionen der Market Maker. Die Anpassungslasten bleiben nicht auf den originären Finanzmarkt beschränkt, vielmehr werden die Marktteilnehmer ihre Positionen auch auf anderen Finanzmärkten korrigieren, so dass - unabhängig vom Wechselkurssystem - zumindest temporäre Gleichläufe der Renditen entstehen können. Ein derartiges Verhalten wird insbesondere HegdeFunds vorgeworfen, die bei einer vergleichsweise geringen Eigenkapitalausstattung hohe Wertpapier-Portefeuilles vorhalten und deshalb besonders anfällig gegenüber Veränderungen in den Refinanzierungskosten sind. Femer können - zumindest in der kurzen Frist - Spillover-Effekte zwischen den Finanzmärkten auftreten, die nicht allein mit Hilfe fundamentaler Faktoren erklärt werden können: -
Verfolgen institutionelle Marktteilnehmer spezifische Anlage- bzw. Handelsstrategien zur Portfolio-Optimierung, fuhren Kursänderungen auf einem nationalen Finanzmarkt zu automatischen Portfolioumstrukturierungen und damit auch zu einem veränderten Nachfrage- bzw. Angebotsverhalten auf anderen Märkten. Fonds-Mana-
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ger legen beispielsweise für eine bestimmte Laufzeit die Struktur ihres Schwellenländer-Fonds fest, die auch durch neue makroökonomische Faktoren kurz- und mittelfristig nicht wesentlich verändert wird. Kommt es zu einem Kursverfall auf einem Markt, ist die .optimale' Portfoliostruktur nur dann weiterhin gewährleistet, wenn die Positionen auf anderen Märkten im entsprechenden Verhältnis abgesenkt werden. Der Rückzug aus allen Ländern des Emerging Market-Fonds führt zu einem länderübergreifenden Preisverfall an den Finanzmärkten. Dieser Effekt verstärkt sich, wenn private Investoren ihre Fondsanteile - angesichts der Kursentwicklung - verkaufen und der Fonds seine liquiden Mittel erhöhen muss. - Entsprechende Effekte ergeben sich auch, wenn die Vermögensaktiva von Schwellenländer als eigenständige Assetklasse in einem breit gestreuten internationalen Portefeuille betrachtet werden. In diesem Falle werden auch Kursverschiebungen an den Finanzmärkten der Industrieländer auf die Märkte der Schwellenländer übertragen. - Letztlich kann unterstellt werden, dass eine Vielzahl von Marktteilnehmern nicht alle in der kurzen Frist verfügbaren, relevanten Anlageinformationen auswerten, sondern ihre Entscheidungen von wenigen Indikatoren abhängig machen. Eigene Markterwartungen basieren dabei häufig ausschließlich auf historischen Kursbewegungen des entsprechenden Marktsegmentes und haben damit einen starken extrapolativen Charakter. Orientiert sich eine große Zahl der Marktteilnehmer an diesen Erwartungen, führt ihre Antizipation zu sich selbsterfüllenden Prophezeiungen, die temporär unabhängig von den aktuellen Angebots- und Nachfragebedingungen im Sinne der Fundamentaldaten sind. Ein derartiges Noise-Trader-Verhalten auf den Märkten kann letztlich immer damit begründet werden, dass die tatsächlichen Gleichgewichtspreise unbekannt sind, so dass aktuelle Kursänderungen aus Sicht der Akteure eine bessere Informationsquelle für veränderte Marktbedingungen darstellen als fundamentale Faktoren. Noise Trader tendieren deshalb dazu, Kursveränderungen auf den wichtigsten Finanzmärkten (insbesondere dem US-amerikanischen Bondmarkt) als wesentliche Informationsquelle für eigene Handelsaktivitäten heranzuziehen. Im Ergebnis liefert die irrationale Erwartungsbildung und -antizipation temporäre Abweichungen von den postulierten Gleichgewichtsrelationen im Sinne der Zinsparitätentheorien. Zwischen benachbarten Schwellenländern können darüber hinaus direkte Interdependenzen einen Gleichlauf der Finanzmärkte bewirken. Kaufen beispielsweise brasilianische Unternehmen argentinische Aktien oder Anleihen, wird der Kursverfall an den argentinischen Märkten zugleich den Wert des brasilianischen Unternehmens reduzieren. Die zunehmende Integration der Finanzmärkte wird die vorhandenen Transmissionskanäle verstärken, so dass kurz- und mittelfristige Gleichläufe - unabhängig vom Wechselkurssystem - der Finanzmärkte zunehmen können. Inwiefern die zunehmende Finanzmarktintegration allerdings die Contagion-Gefahr von Währungskrisen generell erhöht, kann damit nicht beantwortet werden. 2. Vor- und Nachteile unterschiedlicher Wechselkursregime Sofern Währungskrisen und daraus resultierende Contagion-Effekte im Wesentlichen durch die Existenz fester Wechselkurssysteme verursacht werden, stellt sich die Frage nach den Vorteilen von Fixkurssystemen bzw. nach den Nachteilen von Flexkurssystemen.
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2.1. Argumente gegen ein Flexkurssystem Die Folgen einer zunehmenden Finanzmarktintegration wurden im Zusammenhang mit der Contagion-Problematik dargelegt; sie spiegeln sich nicht nur in Aktien- und Rentenkursen wider, sondern die ausgelösten - aus Sicht der internationalen Finanzmärkte vergleichsweise geringen - Portfolioumschichtungen bewirken auch signifikante Wechselkursveränderungen auf vergleichsweise engen Devisenmärkten. Die Verwendung flexibler Wechselkurse kann hierbei aus vier Gründen in Frage gestellt werden: -
Flexible Wechselkurse können dauerhaft von ihren fundamental-gerechtfertigten Gleichgewichtsrelationen im Sinne der Kaufkraftparitätentheorie abweichen (Gefahr eines Misalignments) und somit gravierende Auf- bzw. Abwertungen der realen Wechselkurse hervorrufen. Im Falle einer starken realen Wechselkursaufwertung verschlechtert sich die internationale Wettbewerbsposition des betroffenen Landes nachhaltig. Sofern die kurz- und mittelfristige Wechselkursentwicklung durch die aktuellen bzw. erwarteten Preiskonditionen auf den Finanzmärkten determiniert wird, erhöht sich die Gefahr der Misalignments durch eine zunehmende Integration der Finanzmärkte. Die Diskussion über gravierende Fehlbewertungen der Wechselkurse wurde insbesondere zu Beginn der 1980er Jahre am Beispiel des USD geführt, der gegenüber anderen Ländern eine deutliche fundamental nicht gerechtfertigte nominale und reale Aufwertung erfuhr. Misalignments werden auch für die JPY-Aufwertung Mitte der 1990er Jahre und die dadurch anhaltende Wachstumsschwäche der japanischen Wirtschaft verantwortlich gemacht. Die unerwünschten Auswirkungen anhaltender Misalignments lassen sich aus Sicht der Unternehmen möglicherweise nur durch Direktinvestitionen in den Partnerländern umgehen. Die negativen Beschäftigungs- und Wachstumseffekte im Inland werden dadurch allerdings nicht beseitigt.
-
Die zunehmende Integration der Finanzmärkte bewirkt steigende Umsätze auf den internationalen Devisenmärkten, die zum überwiegenden Teil nicht mit realwirtschaftlichen Transaktionen unterlegt sind. Die zunehmende Zahl spekulativer Marktteilnehmer kann im Ergebnis zu einem erhöhten Schwankungspotenzial auf den Märkten beitragen und schränkt letztlich die Kalkulationssicherheit der Unternehmen und damit den internationalen Handel ein.
- Nach dem Zusammenbruch von Fixkurssystemen und dem Übergang zu einem Flexkurssystem treten häufig heftige, fundamental nicht-gerechtfertigte Overshooting-Effekte auf. -
Schließlich werden die Abschirmungseigenschaften flexibler Wechselkurse insbesondere für kleine offene Volkswirtschaften in Frage gestellt (Cooper 1999). Das Preisniveau wird zumindest in der kurzen und mittleren Frist nicht allein durch die inländische Geldpolitik, sondern im starken Maße durch die Wechselkursentwicklung bestimmt, die weder kurzfristig (durch feste Wechselkurse) noch langfristig nominal verankert ist. Lösen beispielsweise große Marktteilnehmer (, Soras'-Typ) eine Abwertung der Inlandswährung und in Folge einen Preisniveauanstieg aus, sieht sich die Notenbank - aus konjunktur- und beschäftigungspolitischen Gründen möglicherweise gezwungen, diese Entwicklung nachträglich zu flankieren und liefert mithin eine Ex-post-Rechtfertigung für die Abwertung (Obstfeld 1986). Damit wird
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die wirtschaftspolitische Kompatibilität von flexiblen Wechselkursen, unabhängiger Geldpolitik und vollständiger Kapitalmobilität in Frage gestellt. In diesem Falle reduziert sich das Handlungsmenü der Politikträger: Sie können zwischen einem Flexkurssystem mit Kapitalverkehrsbeschränkungen sowie einer gewissen geldpolitischen Autonomie und einem Fixkurssystem mit vollständiger Kapitalmobilität und Verlust der geldpolitischen Autonomie wählen. Nach einer relativen Missbilligung in den 1970er und zu Beginn der 1980er Jahre kam es zu einem Comeback der Festkurssysteme sowohl in akademischen Kreisen als auch in der praktischen Wirtschaftspolitik. Angesichts der Gefahr dynamischer Iiikonsistenzen und politisch motivierter Konjunktur- bzw. Inflationszyklen stellen feste Wechselkurse ein effektives Instrument zur Durchfuhrung von Stabilitätsprogrammen dar, in dem man die Geldpolitik des Auslandes und damit auch die Reputation der ausländischen Notenbank übernimmt. Gerade für Schwellenländem mit hohen Inflationsraten versprach man sich eine rasche Annäherung an das internationale Inflationsniveau. Diese Sichtweise war insbesondere in den lateinamerikanischen Ländern populär. 2.2. Argumente fttr ein System flexibler Wechselkurse Neben den üblichen Argumenten für ein System flexibler Wechselkurse (Sicherung eines langfristigen Zahlungsbilanzgleichgewichtes, Sicherung der monetären Unabhängigkeit und Abschirmung des Inlandes gegenüber externen Schocks) lassen sich auch die zuvor dargestellten Kritikpunkte gegenüber Flexkurssysteme relativieren. Misalignments Das Ausmaß vorhandener Misalignments bei flexiblen Wechselkursen setzt ein allgemein akzeptiertes Gleichgewichtsmodell als Benchmark voraus. Inwieweit die einfache Kaufkraftparitätentheorie hierbei als Messlatte dienen kann, ist angesichts der heftigen Diskussionen über ihre Gültigkeit in der langen Frist mehr als fraglich. Auch einfache Modifikationen des originären Modells - z. B. im Sinne des Balassa-SamuelsonTheorems - liefern keine zufriedenstellenden Ergebnisse. Aus diesem Grunde wird das gleichgewichtige reale Wechselkursniveau mit Hilfe von Variablen bestimmt, die einen Einfluss auf den realen Wechselkurs ausüben können (real exchange rate fundamentáis; Hinkle und Montiel 1999). Dazu gehören die terms of trade, der Offenheitsgrad der Volkswirtschaft, Produktivitätsunterschiede, die Staatsausgaben, Direktinvestitionen und internationale (Real-)zinssätze (Edwards 2000). Auch wenn ein adäquat berechnetes Gleichgewichtsniveau der realen Wechselkurse weiterhin ein Misalignment signalisiert, ist dies noch keine hinreichende Rechtfertigung für die Vorteilhaftigkeit fester Wechselkurse.10 Wechselkurse sind Vermögenspreise und bestimmen sich deshalb auch längerfristig nicht allein anhand der aktuellen realwirtschaftlichen Gegebenheiten. Wie auf Aktien- oder Rentenmärkten wird der aktuelle Wert des Vermögensaktivums auch durch die Erwartungen über den weiteren Expansi10
Die Unterschiede bei der Bewertung realer Wechselkurse verdeutlicht Edwards (2000, S. 49, Table 1) anhand der Bewertung von drei Großbanken fiir die lateinamerikanischen Länder.
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onspfad der Wechselkurse determiniert. Dieser wiederum wird nachhaltig vom erwarteten Kurs der inländischen Wirtschaftspolitik und ihrer Glaubwürdigkeit bestimmt. Die Aufwertung des USD zu Beginn der 1980er Jahre war möglicherweise nicht nur durch die aktuellen makroökonomischen Konstellationen bestimmt, sondern auch durch die erwarteten Wachstumsimpulse aufgrund der verstärkt angebotsorientierten Politik der Reagan-Administration. Fundamental nicht gerechtfertigte spekulative Attacken gegen eine Währung werden hingegen über kurz oder lang zusammenbrechen, da genügend Marktteilnehmer eine entgegengesetzte Entwicklung erwarten. So scheiterte der Versuch im EWS, den niederländischen Gulden gegenüber der DEM Anfang der 1990er Jahre unter Druck zu setzen. Die Gefahr von Misalignments bzw. einer Überbewertung der realen Wechselkurse ist auch in einem System fester Wechselkurse nicht ausgeschlossen. Wenn mit der Etablierung des Fixkurssystems die Umsetzung eines Disinflationsprogrammes verfolgt wird, ist nicht sichergestellt, dass das inländische Inflationsniveau auch tatsächlich zügig absinkt. Bei einer unzureichenden Glaubwürdigkeit des Stabilitätsprogramms bzw. des Wechselkursregimes wird das inländische Inflationsniveau - trotz einer mangelnden monetären Flankierung - nur zeitverzögert nachgeben. Die Anpassungsprozesse können aber auch durch die institutionellen Rahmenbedingungen, beispielsweise durch eine rückwärtsgerichtete Nominallohnindexierung, erschwert werden (Edwards 2000). Im Ergebnis wertet der reale Wechselkurs auf und die Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaft wird nachhaltig unterminiert. Zusätzliche Komplikationen bei einer Überbewertung der realen Wechselkurse ergeben sich durch das Auftreten adverser Schocks (z. B. Verschlechterung der terms of trade; Rückgang der Kapitalimporte). Die erforderliche Straffung der Geld- und Fiskalpolitik zur Absicherung des Fixkurssystems führt zwangsläufig zu einem Konjunkturrückgang. Aufgrund der (wechselkursbedingten) mangelnden Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaft lassen sich solche Stabilisierungsmaßnahmen kaum noch politisch vermitteln. Die wirtschaftspolitischen Entscheidungsträger werden im Zweifelsfall ihre Politik der strikten Wechselkurssicherung aufgeben und die Konjunktur - auf Kosten einer sinkenden Glaubwürdigkeit des Fixkurssystems - flankieren. Für eine Vielzahl von Ländern mit festen Wechselkursen lässt sich tatsächlich im Vorfeld von Währungskrisen eine mehr oder minder starke Überbewertung der realen Wechselkurse konstatieren.11 Wechselkursvolatilität Die steigenden Umsätze an den internationalen Devisenmärkten müssen nicht zwangsläufig aus einer erhöhten Spekulationsaktivität resultieren, die dann ein steigendes Volatilitätspotenzial verursacht. Die Mikrostrukturtheorie der Finanzmärkte begründet eindrucksvoll die hohen Umsatzzahlen mit reinen Hedge-Aktivitäten institutioneller Marktteilnehmer (Lyons 1995, 2001). Vor diesem Hintergrund sind auch Vorschläge zur Einführung einer Devisenumsatzsteuer (Tobin-Tax) eher kontraproduktiv (Frenkel 2002). Ferner können Spekulationen einen stabilisierenden Einfluss auf die
11
Vgl. dazu insbesondere die Ausführungen bei Edwards (2000, S. 6 ff.).
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Wechselkursentwicklung ausüben (Friedman-Position), da die erhöhte Anzahl an Marktteilnehmern letztlich die Informationseffizienz des Marktes verbessert. Das vorhandene Volatilitätsrisiko lässt sich zudem mit Hilfe derivativer Instrumente weitgehend beseitigen, so dass eine gesellschaftliche Absicherung individueller Risiken nicht zwingend erforderlich ist, es sei denn, die Summe der individuellen Absicherungsaufwendungen übersteigt die gesamtwirtschaftlichen Sicherungskosten. Overshooting-Ejfekte Die Ablehnung eines Systems flexibler Kurse mit dem Argument, dass es zu einer Fehlentwicklung der Wechselkurse nach dem Zusammenbruch eines Fixkurssystems kommt, erscheint wie ein Treppenwitz. Letztlich kann man das Flexkurssystem nicht für die Versäumnisse des festen Wechselkursregimes und die heftigen Korrekturprozesse im Nachgang verantwortlich machen. 3. Krisenprävention und Krisenmanagement bei integrierten Finanzmärkten Aus Gründen einer besseren Strukturierung der wirtschaftspolitischen Strategien wäre es wünschenswert, zwischen Krisenprävention und Krisenmanagement zu unterscheiden. Dies ist jedoch kaum möglich: Effiziente wirtschaftspolitische Maßnahmen, die geeignet sind, aktuelle Finanzkrisen zu überwinden, sind sicherlich die beste Prävention zur Vermeidimg zukünftiger Finanzmarktprobleme. Andererseits verhindert eine gute Präventionspolitik zukünftige Finanzmarktkrisen. 3.1. Krisenprävention Sinnvoll ist es, die Krisenprävention nach den beteiligten Akteuren bzw. Sektoren zu differenzieren {Fischer 2002), also -
Wirtschaftspolitik der Länder und deren Institutionen, Wirtschaftspolitische Maßnahmen des Internationalen Währungsfonds (/MF), Verhalten der Akteure auf den Finanzmärkten und Wirtschaftspolitik der Länder und Institutionen.
3.1.1. Wirtschaftspolitik der Länder und Institutionen
Wechselkurssystem Wie die bisherigen Finanzkrisen eindrucksvoll belegen, ist es unmöglich, ein schwaches Fixkurssystem bei uneingeschränktem internationalen Kapitalverkehr aufrechtzuerhalten: Eine Wechselkursfixierung ist inkompatibel mit einer unabhängigen Geldpolitik und vollständiger Kapitalmobilität. Bei einer harten Wechselkursfixierung (z. B. Currency Board) ist die Geldpolitik zwangsläufig und vollständig wechselkursorientiert. Dies reicht jedoch - wie Argentinien gezeigt hat - nicht aus, Währungskrisen zu vermeiden (Dietrich und Lindner 2002). Wenn die Währung unterbewertet ist, kann ein Land einen begrenzten Zeitraum mit die-
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ser Situation existieren. Sobald jedoch die Währung als überbewertet angesehen wird, werden bei freiem Kapitalverkehr spekulative Attacken die Währungsreserven des Landes schnell reduzieren und Währungskrisen auslösen. Eine weiche Wechselkursfixierung (z. B. Managed Floating) kann dann hilfreich sein, wenn die fallweisen Interventionen der Zentralbank als Strategie der Wechselkursglättung begriffen werden und nicht versucht wird, ein bestimmtes (falsches) Wechselkursniveau dauerhaft zu verteidigen.12 Wird ein System flexibler Wechselkurse präferiert, ist für die nationale Geldpolitik ein nominaler Anker zu wählen. Bei geringer Inflation können Geldmengen- oder Inflationsziele fixiert werden, was in Schwellenländern wie Brasilien, Südafrika oder Südkorea recht erfolgreich war. Viele Länder präferieren jedoch - besonders nach Währungskrisen - Mischstrategien, weil sie starke Overshootings befürchten: Sie beobachten nominale und reale Wechselkurse und intervenieren nach Bedarf. Häufig wird - nicht nur in Schwellenländern auch die Geldpolitik zur Wechselkursstabilisierung herangezogen (z. B. monetary condition index (MCI) in Kanada, der Zins- und Wechselkursentwicklung berücksichtigt). Die Schwierigkeiten in den Schwellenländern, Wechselkursbänder einzuhalten, hat verschiedene neue Vorschläge zur Ausgestaltung von Wechselkurssystemen initiiert. Williamson (2000), plädiert für Zielzonensysteme mit temporären Escape-Klauseln; Goldstein (2002) empfiehlt „managed floating plus", wobei das plus für ein Inflation Targeting steht (vgl. dazu auch den Überblicksartikel von Bailliu und Murray (2002/03). In der Praxis dominieren zwei Pole (,two comers approach'; bipolare Lösung): Systeme flexibler Wechselkurse mit gelegentlichen Interventionen zur Wechselkursstabilisierung einerseits und harte Wechselkursfixierung (Dollarization; Eurozation) andererseits, für die alle Vor- und Nachteile von Währungsunionen gelten (Michler und Thieme 1998). Bei weitgehend flexiblen Wechselkursen können gleichwohl externe Finanzierungskrisen entstehen, wenn ausländische Gläubiger nicht mehr von der Zahlungsfähigkeit des Schwellenlandes (z. B. Brasilien) überzeugt sind. Fiskalpolitik Besonders der IMF verweist deshalb immer wieder auf die Bedeutung einer adäquaten Fiskalpolitik im makroökonomischen policy mix zur Krisenprävention, wobei meist restriktive, aber auch - wie z. B. nach der Asienkrise 1997/98 - expansive Maßnahmen empfohlen wurden. Fraglich ist, was unter einer .adäquaten' Fiskalpolitik verstanden werden kann: In vielen Stabilisierungsprogrammen für Krisenländer wird das Verhältnis zwischen (öffentlichem) Schuldenstand und Bruttoinlandsprodukt als Maßstab herangezogen. Dieses Verhältnis soll nachhaltig gesenkt werden. Die Relation für die Schuldendynamik lautet: (10) 12
d, = - x + ( i - g Y ) • d t .,,
Auf die Notwendigkeit einer Wechselkursglättungsstrategie hat auch die Deutsche Bundesbank bei ihren geldpolitischen Entscheidungen immer wieder hingewiesen. Sie begründet die Devisenmarkteingriffe mit den Inflationsgefahren, die sich aufgrund rascher Wechselkursveränderungen ergeben könnten.
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wobei dt den aktuellen Verschuldungsgrad, x den primären Haushaltsüberschuss, i das Zinsniveau und gy die Änderungsrate des BIP beschreibt. Hat ein Land Schwierigkeiten bei der internationalen Finanzierung, weil die ausländischen Investoren nicht mehr von der Schuldendienstfähigkeit überzeugt sind, muss die Fiskalpolitik die in- und ausländischen Anleger davon überzeugen, dass die Schuldenquote nachhaltig abgebaut werden kann. In einer Krise wird das Realzinsniveau wegen erhöhter Risikoprämien ansteigen und gleichzeitig das realwirtschaftliche Wachstum sinken. Die daraus resultierende Schuldendynamik würde nicht mehr akzeptiert; es sei denn es gelingt, eine glaubwürdige Konsolidierungspolitik einzuleiten, also die Staatsausgaben zu senken und einen Haushaltsüberschuss zu realisieren. Hierdurch stiege die Wahrscheinlichkeit, auf einen stabilen Verschuldungspfad zurückzukehren (Favero und Giavazzi 2002). Bislang haben theoretische Analysen keine überzeugenden Argumente und Kriterien für die Bestimmung optimaler bzw. kritischer Schuldenquoten geliefert. Dies gilt auch für das Maastricht-Kriterium einer Schuldenquote von 60 % für die Länder des EuroRaums. Sicherlich hängt die akzeptable Schuldenquote von der Höhe der privaten Sparquote ab, aber auch von den Kreditkonditionen, vom Wirtschaftswachstum sowie den davon abhängigen Steuereinnahmen. In den Schwellenländern sind Höhe und Volatilität der Zinszahlungen deutlich höher als in den Industrieländern. Ihre Budgets reagieren deshalb anfälliger auf Zinsschocks und die Verschuldungsquote kann auch kurzfristig dramatisch ansteigen, wenn die laufenden Budgetdefizite groß und das Wirtschaftswachstum gering sind (siehe z. B. Argentinien und Russland). Nimmt man das - wie auch immer begründete - Maastricht-Kriterium als Benchmark, dürfte die Verschuldungsquote von Schwellenländem aus diesen Gründen 3040 % nicht übersteigen. Kapitalverkehrskontrollen Entgegen der Tendenz massiver Deregulierungen der Kapitalmärkte in den 1980er Jahren werden Kapital Verkehrskontrollen nach den jüngsten Finanzkrisen erneut intensiv diskutiert, weil sie nach Auffassung vieler Ökonomen (und des IMF!) eine hinreichende Steuerung von Kapitalexport und -import bei fixierten Wechselkursen und bei einer unabhängigen Geldpolitik zulassen. Aus keynesianischer Sicht wird insbesondere der kurzfristige Kapitalverkehr als destabilisierend angesehen; als empirischer Beleg hierfür können jene Länder gelten, die aufgrund von Kapitalverkehrskontrollen die Asienkrise relativ gut überstanden (China, Indien) bzw. überwunden (Malaysia) haben. Andererseits sind Kapitalverkehrskontrollen nicht geeignet, die gerade von den Schwellenländem angestrebte Integration in eine marktorientierte Weltwirtschaft zu beschleunigen und die ökonomischen Vorteile daraus zu nutzen. Besonders Kapitalexportkontrollen verzerren die Kapitalallokation, sind wenig effizient und haben langfristig eher den Zugriff auf internationales Kapital behindert. Dies gilt auch für die Beschränkungen der inländischen Finanzinstitute, Fremdwährungspositionen aufzubauen oder die eigene Währung auf Offshore-Märkten zu nutzen. Günstiger sind die Wirkungsprognosen für steuerliche Belastungen kurzfristiger Kapitalimporte, wodurch die Struktur der Kapitalimporte nachhaltig beeinflusst wird. Die Erfahrungen in Chile bele-
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gen, dass solche Maßnahmen geeignet sind, eine relativ autonome Geldpolitik zur Stabilisierung monetärer Prozesse zu ermöglichen. Sofern die inlandsorientierte Stabilitätspolitik konsistent ist, können Kapitalexportkontrollen kurzfristig Wechselkurse stabilisieren und Importkontrollen die Kapitalimportstruktur beeinflussen; längerfristig ist ihre Effizienz allerdings eher zweifelhaft (zur Effizienz von Kapitalverkehrskontrollen vgl. Frenkel 2002). Übernahme von Codes und Standards Besonders nach der Mexiko-Krise im Jahre 1994 wurden die vielfältigen Informationsdefizite über die ökonomische und finanzielle Situation von Krisenländern kritisiert. Bereits 1996 wurde der Special Data Dissemination Standard (SDDS) eingeführt, in dem erforderliche Datensets sowie Prozeduren zu ihrer Erhebung und Veröffentlichung verankert sind. Gegenwärtig nehmen bereits 50 insbesondere Schwellenländer daran teil. Das General Data Dissemination System (GDDS) enthält abgeschwächte Anforderungen für Länder, die mit Unterstützung des IMF ihre Datenlage systematisch verbessern wollen. Die Länder müssen im SDDS monatlich über die Höhe der Währungsreserven, über Verpflichtungen auf den Terminmärkten sowie die Auslandsverschuldung berichten. Thailand und Korea hätten bei solchen zeitnahen Informationen rechtzeitig die Devisentermingeschäfte aufgeben und wegen des Abbaus der Währungsreserven zu flexiblen Wechselkursen übergehen müssen. Dadurch wäre das Krisenausmaß deutlich reduziert worden.13 Verbesserte Informationen und Transparenz über die Performance der Länder werden die politischen Entscheidungsträger in den betroffenen Ländern zu zügigen Handlungen zwingen (zunehmender Disziplinierungszwang). Die von IMF, Weltbank und den nationalen Aufsichtsbehörden gemeinsam entwickelten Standards betreffen eine effektive Bankenaufsicht, Standards für die Wertpapierregulierung, Standards der Unternehmensführung, der Rechnungslegung, der Wirtschaftsprüfung sowie des Insolvenzund Gläubigerrechts zusammenfassen. Ob und inwieweit hierdurch die Krisenprävention nachhaltig verbessert wird, hängt allerdings davon ab, welche Anreize und Hindernisse bei der Einführung der Standards gesetzt werden, von wem sie wie veröffentlicht werden und wie sie von den internationalen Investoren berücksichtigt werden.14
13
14
Im Sinne der dargestellten Währungskrisenmodelle würden die spekulativen Attacken gegen Fixkurssysteme - aufgrund sinkender Transaktions- respektive Informationskosten - sehr viel zeitnäher einsetzen und damit die negativen Auswirkungen von Währungsturbulenzen reduzieren. Angesichts der mangelnden Effizienz von Rechnungslegungsvorschriften wie US GAAP bei der Bewertung US-amerikanischer Unternehmen in der jüngsten Vergangenheit, ist eine gesunde Portion Skepsis durchaus angebracht. Dies gilt sicherlich auch für die Wirksamkeit von Eigenkapitalunterlegungsvorschriften im Sinne von Basel ü, die ab Mitte der laufenden Dekade gelten werden.
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3.1.2. Wirtschaftspolitische Maßnahmen des IMF Verbesserung der
Überwachungsmaßnahmen
Die Finanzkrise 1994 in Mexiko hat den IMF vollständig unvorbereitet überrascht. Deshalb wurde in der Folge eine Überwachung der Markt- und Wirtschaftsentwicklung in Echtzeit (,real time systems') installiert und die Konsultationen innerhalb des IMF bzw. zwischen IMF und Länderinstitutionen mit der Hoffnung verbessert, die Häufigkeit von Finanzkrisen nachhaltig zu reduzieren. Ahnlich wie private Rating-Agenturen hat der IMF Anfälligkeitsindikatoren (,early warning models') für Länder konstruiert, deren Prognoseeigenschaften allerdings - aus den bekannten Gründen - sehr dürftig sind, wie gerade auch die vergangenen zehn Jahre Krisengeschehen belegen (vgl. dazu beispielsweise Schardax 2002 und die dort angegebene Literatur).15 Damit ist die Kernfrage der Funktion des IMF angesprochen: Soll er öffentlich Warnungen aussprechen, wenn seine Anfälligkeitsindikatoren ein Land vor einer Krise sehen? Dagegen spricht, dass erstens nicht vorhergesagte Krisen eintreten, zweitens prognostizierte Krisen nicht eintreten oder drittens Krisenwarnungen sich selbst erfüllen. Negative Erfahrungen der privaten Rating-Agenturen, aber auch eigene lassen viele Mitglieder des IMF-Executive-Boards eher skeptisch sein: Immerhin waren nur drei der sechs Krisen zwischen 1994 und 1999 im Blickfeld des IMF (Thailand, Russland, Brasilien), während die anderen (Mexiko, Indonesien, Korea) nicht gesehen wurden (Fischer 2002). Auch wurden im IMF intern Krisen vorausgesagt, die nicht eintrafen. Öffentliche Warnungen können Finanzkrisen massiv verschärfen, wenn Länder, die bereits im IMF-Programm sind, nicht in geforderter Weise reagieren und deshalb die Kreditvergabe eingestellt wird. Insofern sind - wenn überhaupt - nicht-öffentliche Warnungen der betroffenen Länder zu präferieren, wobei auch deren Erfolg wegen fehlender Anreizsysteme völlig unsicher ist. Transparenz Bis zur Mexiko-Krise 1994 hat der IMF relativ wenig über seine Programme, über deren theoretischen Fundamente und die faktischen Kontrollaktivitäten publiziert. Viele Mitgliedsländer des IMF sind mittlerweile mit der Veröffentlichung umfangreicher Informationen einverstanden, weil sie Politiker disziplinieren und die Kontrolle der IMFAktivitäten sowie die Dialogmöglichkeiten mit Outsidern (z. B. Wissenschaft, private Institutionen) verbessern. Vorqualifikation für Kredite Auf Vorschlag der Meitzer-Kommission soll das Kreditvergabesystem des IMF innerhalb von 5 Jahren radikal verändert werden. Kredite werden nicht mehr quasi automatisch nach Eintritt von Finanzkrisen an alle Länder vergeben, sondern die Kreditge15
So haben alle großen Rating-Agenturen (Standard & Poors, Moody's und Fitch IBCA) im Vorfeld der Asienkrise beispielsweise keine Herunterstufung der Länder-Ratings vorgenommen.
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Währung des IMF beschränkt sich auf jene Länder, die sich nach harten (Banken-)Standards vorqualifiziert haben. Nichtqualifizierte Länder erhalten keine Kredite (Ausnahme: bei Gefahr eines Systemrisikos). Qualifizierte, aber durch mögliche Ansteckung gefährdete Länder erhalten Kreditlinien beim IMF, wodurch sie ihre Währungsreserven kostengünstig aufstocken und dadurch spekulative Attacken (bereits im Vorfeld) abwehren können. Die Ansteckungsgefahr reduziert sich für dieses Land auch deshalb, weil ausländische Investoren und Kreditgeber keinen Abwanderungszwängen ausgesetzt sind. Die entsprechenden Kreditlinien wurden bislang nicht genutzt, weil sie den Verdacht einer potenziellen Gefahrdung verstärken; insofern scheint das System wenig praktikabel. Auch sind Moral-Hazard-Probleme nicht zu übersehen: Qualifizierte Länder können wegen der Kreditzusagen eine laxere Stabilisierungspolitik in der Folgezeit betreiben; ausländische Kreditgeber können - wegen erhöhter Rückzahlungsgarantie durch gewährte IMF-Kreditlinien - Kreditwürdigkeitsprüfungen aufweichen, wodurch die internationale Kapitalallokation ineffizient wird. 3.1.3. Verhalten der Akteure auf den Finanzmärkten In vielen asiatischen Ländern (auch in Japan) wird die These vertreten, dass die Finanzkrisen wesentlich durch das Verhalten von Kreditanbietem (z. B. durch HedgeFunds) auf den internationalen Kapitalmärkten verursacht wurden. Nicht nur die Spielregeln in den Schwellenländem (implizite oder explizite Rückzahlungsgarantien), sondern auch in den Industrieländern sind zu ändern: Erhöhte Verantwortlichkeit von nationalen Überwachungsbehörden für alle Finanzintermediäre, verschärfte Rahmenbedingungen für Einlagensicherungen, Veröffentlichungsregeln für große Portfolio-Investoren mit dem Ziel, starke Portfolioschwankungen zu verhindern und damit die hohe Volatilität der internationalen Kapitalströme und deren Wechselkurseinflüsse zu reduzieren. Das Verhalten der privaten (und öffentlichen!) Akteure auf den internationalen Finanzmärkten wird allerdings am ehesten stabilisiert, wenn Kreditrisiken voll privatisiert sind und damit die Gefahr von moral hazard nachhaltig beschränkt ist. Festkurssysteme, staatliche Kreditgarantien für ausländische Investoren und eine verfehlte Stabilitätspolitik in den krisenanfälligen Ländern sind schlechte Bedingungen für eine Vermeidung von Finanzkrisen. Graduelle oder Big-bang-Strategien der Marktdezentralisierung und -liberalisierung könnten hingegen erfolgreich sein. 3.2.
Krisenmanagement
Wenngleich es aus den bereits genannten Gründen schwierig ist, zwischen Krisenprävention und -management zu differenzieren, bezieht sich Krisenmanagement auf die Reaktionen der betroffenen Länder und internationalen Institutionen in akuten Währungs- bzw. Finanzmarktkrisen. Die Diskussion konzentriert sich dabei auf die Frage, ob und wie der private Sektor (also private Nichtbanken, Geschäftsbanken und andere Finanzintermediäre) bei der Lösung von Finanzproblemen der Schwellenländer zu integrieren ist. Gutes Krisenmanagement muss wegen der hohen Volumina der Kapitalbewegungen sicherstellen, dass der private Sektor den Kapitalabfluss nicht beschleu-
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nigt, weil der öffentliche Sektor nicht in der Lage ist, die dadurch induzierte Instabilität zu korrigieren. Wären die Kapitalmärkte effizient, würden die ausländischen Investoren die Risiken der Schwellenländer hinreichend in ihren Entscheidungen berücksichtigen. Moral Hazard bedeutet jedoch, dass Investoren ihre Entscheidungen immer vor dem Hintergrund erwarteter Rettungsaktionen des IMF im Falle von Krisensituationen treffen. Die Mittel des IMF sind letztlich aber zu gering, um Krisen ohne den privaten Sektor erfolgreich bewältigen zu können. Eine zwangsweise Beteiligung des privaten Sektors an IMF-Programmen, wie sie teilweise gefordert wird, wäre allerdings kontraproduktiv, weil Gläubiger ihre Mittel bereits im Vorfeld einer sich abzeichnenden Krise abziehen würden und sie dadurch verschärfen könnten. Der IMF scheint deshalb auf marktorientierte, freiwillige Lösungen zu setzen, wobei zwischen vier Kategorien für länderspezifische Maßnahmen differenziert werden kann {Fischer 2002): - Die wirtschaftspolitischen Anpassungsmaßnahmen des Schwellenlandes und ihre Finanzierung sind erfolgreich und sichern eine zügige Rückkehr des Landes auf die internationalen Finanzmärkte (traditioneller Beschleunigungsansatz). - Die Finanzierung der Politikmaßnahmen durch öffentliche Mittel muss mit der freiwilligen Bereitschaft der privaten Gläubiger kombiniert werden (Beispiel: Brasilien, Türkei). -
Eine rasche, nachhaltige Rückkehr zum vollen Marktzutritt ist unrealistisch und massive Maßnahmen im privaten Sektor (z. B. Schuldenumstrukturierungen) sind notwendig, wobei das IMF-Programm zu finanzieren und eine adäquate Zahlungsbilanzentwicklung sicherzustellen ist (Beispiel: Argentinien).
- Das Mitgliedsland stellt im extremen Fall seine Zahlungen kurzfristig ein und die Gläubiger halten still; arbeitet das Land mit dem IMF zusammen, kann der Fonds die Kreditrückstände an die Gläubiger auszahlen (Beispiel: Ecuador). Die Kategorien I und II sind reine Liquiditätsfalle; IV ist ein Solvenzproblem und Kategorie i n bewegt sich in einer Grauzone. Eine Differenzierung nach diesen Kriterien ist sicherlich hilfreich, trifft allerdings nicht die vorhandene Problematik staatlicher Schuldner. Die Solvabilität des Landes hängt letztlich von der nachhaltigen Bereitschaft der Politikträger ab, die inländischen Nachfragekomponenten zur Sicherung des Schuldendienstes zu begrenzen. Die vorgenommene Klassifizierung der Finanzierungsprobleme bzw. die vorgeschlagenen Lösungswege werden zudem durch praktischer Probleme behindert. Akzeptieren die privaten Gläubiger beispielsweise veränderte Zahlungsmodalitäten oder prolongieren freiwillig die Kreditlinien im Falle von Liquiditätsproblemen, dürfen in der Folgezeit keine zusätzlichen Probleme - wie beispielsweise im Falle der Türkei - auftreten. Sofern das Vertrauen in das Konsolidierungsprogramm verschwindet, hat der IMF kaum noch Möglichkeiten, auf die privaten Marktteilnehmer einzuwirken und muss letztlich die Finanzierung der Stabilisierungsprogramme selber übernehmen. Inwieweit freiwillige Agreements zwischen dem IMF, den Schwellenländem und privaten Investoren tatsächlich zustande kommen, ist zunehmend fraglich. In den 1980er
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Jahren reichte der .leichte' Druck von Regierungen in den Industrieländer aus, um die Banken zu einem .freiwilligen' Umschuldungsprogramm für die lateinamerikanischen Schwellenländer zu bewegen. Angesichts der verschärften Wettbewerbssituation im Bankensektor sind die finanziellen Polster vieler Institute deutlich abgeschmolzen. Vor diesem Hintergrund sind weder die Banken noch ihre Regulierungsbehörden an Umstrukturierungsprogrammen interessiert, obwohl sie für alle Beteiligten die bestmögliche Lösung darstellen könnten. Vielmehr ist mit einem zügigen Alleingang einzelner Institute zu rechnen, um sich eine vergleichsweise hohe Rückzahlungsquote zu sichern. Die größten Probleme dürften allerdings auftreten, wenn einzelne Länder den Schuldendienst kurzfristig einstellen bzw. die Gläubiger auf die Zahlungen vorübergehend verzichten. Bislang gibt es keine allgemein akzeptierten rechtlichen Rahmenbedingungen für eine derartige Lage; mithin ist die Situation durch gravierende Unsicherheiten für alle Beteiligten geprägt. Im Prinzip kann das Moratorium als Vorspiel für ein Umstrukturierungsprogramm interpretiert werden. Andererseits versuchen die meisten Länder eine derartige Lösung zu vermeiden. Sie befürchten, dass die Schuldenumstrukturierung letztlich auch zu einer vollständigen Restrukturierung des inländischen Finanzsystems führt, indem Finanzinstitutionen einen Teil ihres Vermögens in Form von Staatsanleihen halten. Die Auswirkungen auf das gesamte Zahlungssystem und das Handelskreditgeschäft sind bei den erforderlichen Abschreibungsmaßnahmen nicht mehr überschaubar. Außerdem können die Politikträger nicht abschätzen, wie lange die nationalen bzw. internationalen Investoren das Land durch hohe Risikoprämien bzw. durch den Verzicht einer erneuten Kreditvergabe abstrafen. Der Wunsch vieler Schwellenländer, den Ausfall mit aller Macht zu verhindern, bringt den IMF und andere internationale Organisationen in eine Zwickmühle. Einerseits sollten diese Institutionen die Einhaltung privater Kreditverträge durch die krisengeschüttelten Länder begrüßen, andererseits sollte aber verhindert werden, dass Länder mit einer sehr geringen Konsolidierungswahrscheinlichkeit dauerhaft in der Verschuldungskrise stecken bleiben. Vor diesem Hintergrund ist der Aufbau gesetzlicher Strukturen und Ablaufmuster für den Fall eines Staatsbankrotts zwingend erforderlich. Diese gesetzlichen Regelungen sollen festlegen, wann die Zahlungseinstellung erfolgt und inwieweit eine Schuldenumstrukturierung bzw. Abschreibungen vorgenommen werden sollen (Aufbau eines Sovereign Debt Restructuring Mechanism (SDRM); Vorschlag von Anne Krueger). Die Auswahl geeigneter Kriterien für den Zeitpunkt der Zahlungseinstellungen ist wiederum für den Kreditvergabemechanismus an den Finanzmärkten bedeutsam. Falls die Marktgegenseite davon ausgeht, dass die öffentlichen Schuldner zu leicht und zu schnell legale Regelungen zur Umstrukturierung in Anspruch nehmen, werden sie ihre Risikoprämien entsprechend erhöhen und den Kapitalzufluss in die Schwellenländer reduzieren. Aus diesem Grunde lehnen viele Regierungen aus Schwellenländern einen Sovereign Debt Restructuring-Mechanismus ab. Des Weiteren kann davon ausgegangen werden, dass internationale Investoren Wege finden, die gesetzlich fixierten Umstrukturierungsmaßnahmen wirksam zu umgehen bzw. die Konsequenzen aus dem Regelwerk zu minimieren.
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Andererseits sind die Kosten von .verschleppten' Verschuldungskrisen letztlich zu hoch, um zukünftig auf ein derartiges Regelwerk zu verzichten. Darüber hinaus könnten die Regelungen dazu beitragen, den Kapitalfluss in Länder mit einem guten Standing zu erleichtern. Auch die relativen Spreads gegenüber den Benchmark-Anleihen werden deutlich auseinanderdriften, so dass zusätzliche Anreize zur Verbesserung der makroökonomischen Rahmenbedingungen gesetzt werden. Da ein derartiges Regelwerk nicht über Nacht eingeführt werden kann, schlagen beispielsweise die GlO-Länder die Einführung von CAC's (collective action clauses) vor. Es werden bereits bei der Emission von Anleihen exakte Regelungen für den Krisenfall (Überschuldung, Zahlungsunfähigkeit) festgelegt ( I M F 2002). Diese Vorgehensweise wird insbesondere von internationalen Investoren begrüßt, während viele Schwellenländer eher skeptisch sind, weil sie eine Ausweitung ihrer Zinsspreads befürchten. 16 Einzelne Schwellenländer überlegen gegenwärtig dennoch, ob sie CAC's in künftige Anleihenkontrakte integrieren. Damit wären bereits viele Zielsetzungen eines vollständigen SDRM erfüllt; ferner können die CAC's sehr viel schneller an veränderte Rahmenbedingungen angepasst werden. Die Gefahr eines moral hazard dürfte eher gering sein, da aus Sicht der Schuldner kein Interesse an einem teilweise oder vollständigen Ausfall besteht.
4. Fazit Deregulierungen der nationalen Finanz- (und Realkapital-)märkte, innovative Informations- und Kommunikationstechniken sowie neue, kostengünstige Handelssysteme haben die weltweite Finanzmarktintegration vorangetrieben. Sie zu messen, ist allerdings für Industrieländer wie für Schwellenländer sehr schwierig. Finanzkrisen treten - in recht unterschiedlichen Kombinationen - als internationale Verschuldungskrisen, als Bankenkrisen und als Währungskrisen auf. Aus der Sicht der Finanzmarktintegration sind Währungskrisen besonders bedeutsam, die mit verschiedenen Kriterien (spekulativer Druck auf Wechselkurse, Währungsreserven, Zinssätze) identifiziert werden können. Die zunehmende Finanzmarktintegration verstärkt die Transmissionseffekte unabhängig vom verwirklichten Wechselkurssystem, wodurch insbesondere die Ansteckungsgefahr für Finanzmärkte der Schwellenländer wachsen kann. Die zahlreichen Währungskrisen im vergangenen Jahrzehnt waren nahezu vollständig verknüpft mit einem System fixierter Wechselkurse, die den spekulativen Attacken nicht standhielten. Während in der ersten und zweiten Modellgeneration besonders spekulative Attacken zur Erklärung von Währungskrisen herangezogen werden, wird in der dritten Generation der Zusammenhang zwischen Währungskrisen und Strukturproblemen im Finanzsektor betont. Da Währungskrisen und Festkurssysteme häufig gemeinsam auftreten, könnten Flexkurssysteme gute Präventivinstrumente zur Krisenvermeidung sein. Deshalb werden die Vorzüge und vermeintlichen Nachteile flexibler Wechselkurse emeut intensiv diskutiert. 16
Diese Befürchtungen lassen sich gegenwärtig allerdings empirisch nicht belegen. Vgl. dazu beispielsweise Gugiatti und Richards (2003) und die dort angegebene Literatur.
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Ob und inwieweit Krisenprävention gelingt, hängt wesentlich ab von der Wirtschaftspolitik der beteiligten Länder und deren Institutionen (Wechselkurssystem, Fiskalpolitik, Kapitalverkehrskontrollen, Informationspolitik), den Maßnahmen des Internationalen Währungsfonds (Überwachungsmaßnahmen, Transparenz, Kreditqualifikation) sowie vom Verhalten der Akteure auf den Finanzmärkten. Krisenmanagement in akuten Währungs- und Finanzmarktkrisen - insbesondere in Schwellenländern - gelingt nur dann, wenn auch der private Sektor bei der Lösung von Finanzproblemen beteiligt werden kann, moral hazard also weitgehend vermieden wird.
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Internationaler Korporatismus: Erscheinungsformen, Funktionsbedingungen und die Rolle im Integrationsprozess
Torsten Sundmacher
Inhalt 1. Internationaler Korporatismus - Fluch oder Segen?
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2. Korporatismen aus koordinationstheoretischer Sicht
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3. Funktionsbedingungen nationalstaatlicher Korporatismen
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4. Entwicklungsstand internationaler Korporatismen
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4.1.1. Geschichte und Bedeutung von NGOs auf internationaler Ebene 4.1.2. Beispiele korporatistischer Elemente 4.1.2.1. IMF: geringer Einfluss mit Transparenzgewinnen 4.1.2.2. WTO: beginnende Öffnung für technische Einflussnahme 4.1.2.3. Weltbank: Auslagerung von Politikgestaltung in unterschiedlichen Bereichen 4.1.2.4. ECOSOC: formalisierte Beteiligung ohne Einfluss 4.1.3. Kennzeichen internationaler Korporatismen und ihre Folgen
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5. Ausgestaltungsvorschläge internationaler Korporatismen
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Literatur
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Torsten Sundmacher
1. Internationaler Korporatismus - Fluch oder Segen? Korporatismen sind eine in unterschiedlichem Gewand bekannte Form der Kooperation. Ihr Ruf ist nicht der Beste - schwerwiegende Probleme in Bereichen, in denen nationalstaatliche Korporatismen eine große Rolle gespielt haben, lassen sich deutlich erkennen. Zu solchen Bereichen zählen z. B. in Deutschland sowohl der Arbeitsmarkt als auch weite Teile des Gesundheitssektors. Starke, unüberwindlich scheinende Verkrustungen sind eine Gemeinsamkeit beider Bereiche; ebenso haben auch korporatistische Elemente gerade hier eine lange Tradition. Die theoretische Korporatismus-Analyse neueren Datums warnt überwiegend vor den negativen Folgen dieses Verfahrens - die Beschäftigung mit positiven Wirkungen nationaler Korporatismen konzentriert sich überwiegend auf einige Spezialaspekte.1 Der gute Klang von ,Korporatismus' - insbesondere als wieder entdeckter Neokorporatismus der 1970er Jahre - in seiner Bedeutung als Retter vor der Unregierbarkeit (Lehmbruch 1988, S. 11 f.) sowie als Partizipationsmittel (Schmitter 1979) scheint dahin. Einen Tiefsstand erreichte sowohl die Praxis als auch die theoretische Diskussion nationalstaatlicher Korporatismen Mitte bis Ende der 1980er Jahre. Als positiv besetzter Begriff verbraucht, erleben Korporatismen ihre Wiedergeburt als ,(Sozial-)Partnerschaft', ,Pakt' oder .Policy-Netzwerk'. Im nationalstaatlichen Kontext ist dieses Wiederentstehen oder Neubeleben korporatistischer Verfahren allerdings häufig begleitet von einer Tendenz hin zu seiner Selbstentmachtung: ,Flexibilisierungs-Korporatismus' oder .kooperativer Korporatismus' sind hierfür verwendete Begriffe, die eine Situation nationaler Korporatismen beschreiben, in der alte Verteilungskoalitionen im zunehmenden Systemwettbewerb nicht mehr aufrecht erhalten werden können und korporatistische Verfahren zur Überwindung von (zum Teil durch Korporatismen verursachten) Verkrustungen beitragen (sollen). Manifeste Probleme in korporatistisch organisierten Bereichen von Nationalstaaten und ein aus den Folgen zunehmender internationaler Integration resultierender Bedeutungsverlust (oder zumindest: ein erheblicher Bedeutungswandel) solcher nationaler Korporatismen kennzeichnen eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite ist ein beständiges Anwachsen korporatistischer Elemente in internationalen Zusammenhängen zu erkennen. Dies trifft sowohl auf die EU als auch (in anderer Form) auf .echte' internationale Organisationen zu. Korporatismen auf internationaler Ebene sind sicher eine Folge von Integration, so wie sie in den vergangenen 50 Jahren stattgefunden hat.2 Mit der Implementierung Internationaler Organisationen (IGOs, International Governmental Organisation), die mit staatsähnlichen Kompetenzen auf einer Nationalstaaten übergeordneten Ebene ausgestattet wurden mit der Intention, Integration voranzutreiben (ohne
'
2
Zu nennen sind insbesondere Wirkungen von Korporatismen zur Überwindung von spezifischen Lohnrigiditäten, Siebert (2001), die Gültigkeit von Effizienzlohnargumenten auch in korporatistischen Lohnverhandlungen, Fuess und Millea (2001), oder die Überwindung von Informationsasymmetrien durch Korporatismen, die pareto-verbessernde Lösungen bei Lohnverhandlungen verhindern. Am Beispiel der Niederlande siehe Teulings und Hartog (1998). Zu einigen Integrationsbegriffen und ihrer Bedeutung vgl. Langhammer (2002).
Internationaler Korporatismus
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dass Integration notwendig auf solche Kompetenzen angewiesen wäre), ist auch die Basis geschaffen worden für korporatistische Verfahren auf dieser Ebene. Zeigen nun internationale Korporatismen ein anderes Gesicht als nationale Korporatismen? Sind internationale Korporatismen möglicherweise ein Koordinationsverfahren, das anstelle fehlender anderer Verfahren (besonders fehlender Macht von IGOs) eingesetzt werden kann, um über eine verstärkte, nationalstaatenübergreifende Integration zu Weltwohlfahrtsverbesserungen zu führen? Ist vielleicht Korporatismus sogar das einzige wirksame Koordinationsverfahren zur Heilung internationalen Marktversagens bei Fehlen von staatlicher Macht (als ein alternatives Koordinationsverfahren)? Eine solche euphorische Begrüßung eines Koordinationsverfahrens auf internationaler Ebene, welches im nationalen Kontext zumindest zu vielfältigen negativen Folgen führen kann, ist sicher übereilt. Dies betrifft sowohl die Positivität der Nettowirkung internationaler Korporatismen jenseits der konkreten Ergebnisse für die Beteiligten als auch die Effektivität dieses Verfahrens (wie - nebenbei bemerkt - auch einiger Internationaler Organisationen überhaupt). Im Folgenden wird daher genauer zu untersuchen sein, welche Formen beobachtbarer internationaler Korporatismen zu welchen (Integrations-)Wirkungen führen. 2. Korporatismen aus koordinationstheoretischer Sicht Korporatismus im allgemeinsten Sinne bezeichnet ein spezifisches Allokations- (oder allgemeiner: Koordinations-)Verfahren. Gemeinsames Kennzeichen der meisten Korporatismusbegriffe ist ihr Hinweis auf die große Bedeutung von Verhandlungen und mithin Kooperationslösungen. Wird für die in korporatistischen Verhandlungssystemen handelnden Akteuren ein Menschenbild des Typs Homo Oeconomicus angenommen, dann ist das wesentliche Kennzeichnen solcher Systeme die Notwendigkeit, eine pareto-verbessemde Lösung für alle Verhandlungspartner zu finden. Handelt es sich nicht (nur) um eine Verhandlungslösung, sondern besteht z. B. zwischen Teilnehmern ein hierarchisches Verhältnis, in dem der eine Akteur auf den anderen Macht ausüben kann, gilt diese Voraussetzung allerdings nicht (oder nur eingeschränkt) - in diesem Falle ist aber die Verhandlung (eher) eine Farce und das Koordinationsverfahren Macht. In institutionalisierten und oftmals wiederholten Verhandlungsspielen, wie sie viele Korporatismen darstellen, ist es naturgemäß nicht notwendig, dass eine Pareto- Verbesserung flir jeden Akteur in jeder Spielrunde erreicht wird. Auch fehlendes Wissen über die Auswirkungen von Verhandlungsergebnissen kann dazu führen, dass kurzfristig Verschlechterungen der eigenen Position hingenommen werden. Bei der Bestimmung von Pareto-Verbesserungen ist weiterhin auf die Referenzsituation zu achten: Verhandlungspartner können glaubhaft mit einer Verschlechterung der Situation drohen, so dass eine Verringerung der Verschlechterung bei hoher Wahrscheinlichkeit der angedrohten Verschlechterung ohne Verhandlung als pareto-verbessernd anzusehen ist. Eine erkennbare, systematische Nichtbesserstellung wird - rationales Verhalten vorausgesetzt - jedoch nicht hingenommen.3
3
Gelegentlich wird unterstellt, dass Akteure in korporatistischen Verhandlungssituationen gemeinwohlorientiert handeln wollen; Krupp (1995, S. 63 ff.). Zwar ist vorstellbar, dass dies
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Torsten Sundmacher
Reine Verhandlungen, d. h. Verhandlungen ohne Macht, beruhen auf der Kooperation der Verhandelnden - insofern stellt Korporatismus eine spezielle Form der Kooperation dar. Letztere lässt sich allgemein als eine freiwillige Ex-ante-Koordination von Plänen der Handelnden verstehen. Die Bestimmung von Kooperation als „... common actions against third parties ..." (Langhammer 2002, S. 22) weist dabei auf ein besonderes Problem von Kooperationsbeziehungen hin, das praktisch bedeutsam, jedoch nicht verfahrenskonstitutiv ist: Kooperationen bergen die Gefahr, dass die für eine Kooperation notwendigen Kooperationsanreize in Form von Kooperationsgewinnen für alle Kooperationsbeteiligten zu Lasten Dritter generiert werden. Grundsätzlich ist allerdings anzumerken, dass Kooperation zunächst einen neutralen Begriff darstellt, dessen je spezifische Wohlfahrtswirkung zu diskutieren ist. Positive Wohlfahrtswirkungen sind z. B. von Kooperationen zu erwarten, die eine Kombination von Assets hervorbringen, welche erst so Innovationen generieren können. Weiterhin können Kooperationen zur Überwindung langfristig ineffizienter technologischer lock-ins beitragen, indem sie eine kritische Masse auf Angebots- oder Nachfrageseite zusammenstellen. Genauso können Kooperationen - wie häufig im Gesundheitswesen zu beobachten (Jasper und Sundmacher 2003) - jedoch zur Wahrung eines Status quo dienen oder zur Verstärkung asymmetrischer Informationen beitragen. 4 Internationaler Korporatismus ist bisher als Forschungsbegriff nicht in Erscheinung getreten. Aus der Diskussion unterschiedlicher Korporatismusbegriffe 5 zeigt sich die nicht unerhebliche Spannweite dessen, was als Korporatismus im nationalstaatlichen Kontext angesehen werden kann, sehr deutlich. Als eine wesentliche Konstante zieht sich jedoch die Auffassung durch die Bestimmungsversuche, dass bei Korporatismen immer eine Interaktion zwischen Staat und nichtstaatlichen Organisationen vorhanden in Einzelfällen eine handlungsbeeinflussende Größe ist - auch wenn es schwer sein dürfte, dies in komplexen Situationen, wie sie kennzeichnend für Korporatismen sind, von (missglücktem) egoistisch-strategischen Verhalten zu unterscheiden. Zur Beurteilung einer Institution bzw. eines Verfahrens an sich wird aber die Unterstellung rationalen Verhaltens als eine Form des ,worst case' angemessen sein; Brennan und Buchanan (1985, S. 62 ff.). Selbst wenn der Wunsch nach gemeinwohlorientiertem Verhalten unterstellt würde, dürfte dieser Wunsch durch Framing einen interessenbezogenen Bias haben; Tversky und Kahnemann (1981), und sich damit rationalem Verhalten annähern. 4
5
Hierauf weist z. B. die Sentenz des damaligen Umweltministers Töpfer hin, der angesichts geringer Fortschritte des technischen Umweltschutzes und der damit zusammenhängenden Stagnation von Grenzwerten vom „Schweigekartell der Oberingenieure" sprach; zur Bedeutung siehe Häder (1997, S. 205 f.). Zu älteren Korporatismusbegriffen mit einer starken Stellung des Koordinationsverfahrens Macht vgl. Spann (1932), Jähr (1937), Tenfelde (1987). Zu neueren Formen des Neokorporatismus mit einer hohen Bedeutung des Koordinationsverfahrens Verhandlung vgl. Kriberger (1978), Schmitter (1979), Lehmbruch (1979, 1982), von Alemann (1981), von Beyme (1981), Usher (1983), Parri (1987), Grimm (1988), Czada (1991). Zu tripartistischen Neokorporatismen speziell Crouch (1985), Lange, Wallerstein und Golden (1995, 1997, 1999), Traxler, Blaschke und Kittel (2001), Baccaro (2002). Zu Meso- oder Mikrokorporatismus Wassenberg (1982, S. 86 ff.), Cawson (1985), Keeler (1987, S. 10). Zu neusten Korporatismen, die Korporatismen der Selbstentmachtung sind (.kooperativer Korporatismus') und auf internationaler Ebene angesiedelt sind (global corporatism) vgl. Royo (2002), Schölten (1987), Visser und Hemerijck (1997) sowie Korten (1995).
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ist. Hier soll unter internationalem Korporatismen eine Form der dauerhaften und offenen Einflussnahme von NGOs auf internationale Organisationen mit Staatsfunktionen verstanden werden, die über den reinen Kampf am Meinungs- bzw. Informationsmarkt hinausgeht. Solche Einflussnahmen können das Agenda-Setting (als mildeste Form), die Politikausgestaltung oder die Politikdurchsetzung (mit deutlichen Freiheitsräumen, die nicht aus Schwächen der Principal-Agent-Beziehung resultieren) betreffen.6 Die Interaktion der Akteure erfolgt freiwillig und entsprechend spielen Verhandlungen eine große Rolle bei der Erzielung eines Korporatismus-Ergebnisses. Aus dieser Definition ergibt sich erstens eine Abgrenzung zur Korruption, die eine mehr oder weniger verdeckte Form der Kooperation mit bewusster Verletzung der Interessen eines Prinzipals darstellt, zweitens eine Unterscheidung zum Lobbying, das eine beschränktere Einflussnahme beinhaltet, und drittens eine Differenz zu Ad-hoc-Koalitionen, die einmalig oder kurzfristig Kooperationsgewinne realisieren. 3. Funktionsbedingungen nationalstaatlicher Korporatismen Studien über nationale Korporatismen existieren wie ihre Objekte in großer Zahl.7 Ausgehend von solchen Arbeiten erfolgt der Versuch, Länder entsprechend ihres Korporatismusgrades (allerdings nicht immer mit einheitlicher Verwendung des Begriffs Korporatismus) zu klassifizieren - die folgende Tabelle zeigt hierfür einige Beispiele. Deutlich zu erkennen sind große Unterschiede zwischen den untersuchten Ländern: Österreich und die meisten skandinavischen Ländern belegen in der Regel Spitzenplätze, in angelsächsischen Ländern, aber auch in Italien und Frankreich spielen Korporatismen eine geringere Rolle. Eine begründete Beziehung zwischen (insbesondere an makroökonomischen Größen orientierten) Zielerreichungsgraden und Korporatismusgrad lässt sich allerdings generell nicht finden, auch wenn z. B. Schneider und Wagner (2000, S. 29) in ökonometrischen Untersuchungen einen positiven, „... robusten und signifikanten Zusammenhang zwischen Korporatismus und langfristigem Wirtschaftswachstum" feststellen. Vor dem Hintergrund einer erheblichen Unsicherheit über Funktionsbedingungen und (konkrete) Wirkungen von Korporatismen, die insgesamt in hohem Maße von den spezifischen Situationen der Anwendung dieses Verfahrens abhängig zu sein scheinen, bietet es sich an, wesentliche diesbezügliche Determinanten aus den konkreten länderund verhandlungsbereichsbezogenen Erfahrungen abzuleiten. Hierbei spielt insbeson-
6
7
Vgl. Wiarda (1997, S. 8), Ottaway (2001, S. 2). Und zu einer Systematisierung solcher Mitwirkungsbereiche Kirberg (1978, S. 117 ff.). Zu deutschen Korporatismen vgl. zur Konzertierten Aktion im Gesundheitswesen z. B. Henke (1988), Meuthen (1990). Zur Konzertierten Aktion Cassel (1972), Walrin (1988), Engelhard, Fehl und Geue (1999). Zum ,Musterland' des Korporatismus' Österreich vgl. Traxler (1994), Schneider und Wagner (1999). Zu der niederländischen Form des kooperativen Korporatismus vgl. Schölten (1987), Visser und Hemerijk (1997). Zur spanischen (und portugiesischen) Variante dieser Form des Korporatismus Royo (2002), und zu einer Übersicht über nationale Korporatismen in Europa Streeck und Schmitter (1994), Schneider und Wagner (2000), Baccaro (2002).
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dere die Umweltanalyse, die Funktionsbedingungen von Korporatismen untersucht, für den Abgleich mit internationalen Korporatismen eine wichtige Rolle. Tabelle 1: Korporatismusgrad ausgewählter Länder in unterschiedlichen Studien (1 = höchster Korporatismusgrad, sortiert nach dem Durchschnitt der Studienergebnisse) Blylh 1979 Osterreich Norwegen Schweden Dänemark Niederlande Finnland Deutschland Belgien Schweiz Japan Australien Irland Frankreich Neuseeland GB Italien Kanada USA
Bruno und Calmfors und Sachs 1986 Drifüll 1988
Cameron 1984
Lehmbrvch 1984
Schmitter 1974
Taranteln 1986
Wilensky 1976
1 4 3 5 2 7 6
1 2 4 4 6 4 8 7 9
1 5 5 5 8 8 2 10
7 3 4 9 2 6 10 1 11
-
3 8
-
-
14 5
11 7
1 4 5 7 3 8 2 9 6 10 14
1 2 3 4 7 5 6 8 14 13 9
1 3 2 5 8 5 7 6 9 14 11
-
-
-
-
12 6 13 14 16 15
12
10
16
1 2 3 4 10 5 8 9 -
-
-
-
11 13 15 16
11 12 16 15
10 15 12 13
-
9 10 16 8 11 17 12 13 15 14
-
11 13 -
14 15 11 11
-
13 12 14 15 10 10
-
.
12 8 13 15
Durchschnitt 1.8 3,1 3.6 5,4 5,8 6,0 6,1 7,1 9,7 10,2 10,8 11,0 11,5 11.7 12,1 13,1 13,5 13,6
Quelle: Bearbeitet nach Schneider und Wagner (2000, S. 16). Bedeutsam ist eine gleichzeitige Stärke und Schwäche des Staates. Ein ,zu' schwacher Staat wird in der Regel nicht in der Lage sein, durch Drohung oder Zugeständnisse Akteure zu Verhandlungen zu bewegen. Ein wesentlicher Grund hierfür ist darin zu sehen, dass in solch einem Zustand des Staates den Akteuren andere (effektivere und effizientere) Wege offen stehen, ihre Interessen zu verfolgen (zu denken ist hier z. B. an unterschiedliche Formen der Korruption). In einem ,zu' starken Staat hingegen dürften die Opportunitätskosten des Verfahrens Korporatismus gegenüber einer direkten staatlichen Intervention vergleichsweise hoch sein. Ein starker Staat, der etwa durch große Freiheitsgrade in der Principal-Agent-Beziehung zwischen Politiker und Wähler gekennzeichnet sein kann, wird (wenn nicht aus anderen Gründen eine enge Beziehung zwischen Verbänden und Politikern besteht) eher auf Korporatismen verzichten und für einen Ordnungsrahmen sorgen, der intendierte staatliche Eingriffe sowohl möglich als auch wirkungsvoll macht. Als eine weitere wesentliche Funktionsbedingung von Korporatismen wird die Durchsetzungsfähigkeit von Beschlüssen innerhalb der verhandelnden Organisationen angesehen (Neumann 2000, S. 539). Obwohl dies grundsätzlich auch für den Staat zutrifft, tritt das Problem mangelnder Durchsetzung jedoch vor allem in den Verbänden zu Tage. Zur Exekutierung von Verhandlungsergebnissen sind zunächst unterschiedliche Verfahren vorstellbar. Neben Macht und Verhandlung sind auch marktliche Verfahren möglich, 8 allerdings wenig verbreitet. Als besonders forderlich wird eine hierarchische Struktur der Verbände angesehen. Eine solche Struktur kann sowohl die Kosten einer 8
Z. B. Auktionen von Verschmutzungsrechten als Umsetzung einer vom Verband verhandelten verringerten Umweltverschmutzung.
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Festlegung der Verhandlungsposition als auch die der Durchsetzung von Verhandlungsergebnissen gegenüber anderen innerorganisationalen Verfahren verringern. Gleichzeitig steigt aber die Wahrscheinlichkeit, dass der Nutzen der Verbandsmitglieder aus Abwanderung - oder wenn dies noch möglich ist: durch Widerspruch (Hirschmann 1974) größer wird als die Kosten dieser Verhaltensweisen und hierdurch die Verhandlungsposition des Verbands geschwächt wird.9 Eine weitere insbesondere für neokorporatistische Verhandlungen bedeutsame förderliche Bedingung betrifft die Monopolstellung von Verbänden. Erstens können Verhandlungen mit mehreren (insbesondere konkurrierenden) Verbänden zu einem starken Anstieg von Transaktionskosten fuhren. Zweitens wird aus Sicht der Politik auch das durch den Korporatismus erreichbare Wählerpotenzial mit dem Monopolisierungsgrad der anderen Verhandlungsteilnehmer größer: dies zum einen direkt (über die in den Verbänden Organisierten) und zum anderen indirekt (durch Erreichen von Begünstigten nach der Maßnahmendurchftihrung). Übergeordnete (gemeinsame) Interessen werden weiterhin gelegentlich als förderlich für das Entstehen von Korporatismen angesehen. Solche gemeinsamen Interessen können z. B. aus einer Bedrohungssituation - sei es aufgrund innerer Problemlagen sei es durch eine (als solche empfundene) äußere Bedrohung - resultieren. Empirisch scheint insbesondere letzteres eine größere Rolle zu spielen; zumindest zeigen kleine, offene Volkswirtschaften einen signifikant höheren Korporatismusgrad und die praktizierten Korporatismen in diesen Ländern dienen häufig der Bewältigung exogener Schocks, die auf die weltwirtschaftliche Verflechtung dieser Länder zurückgeführt werden (Traxler 1994). Wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass Krisensituationen, deren Relevanz sowohl von den Wählern als auch den Verbandsmitgliedern gesehen wird, Verhandlungsergebnisse ermöglichen, die Investitionscharakter haben. In dieser Situation ist es möglich, kurzfristige Schlechterstellungen (z. B. sozialpolitische Einschnitte) als positives Verhandlungsergebnis auszuweisen mit der Aussicht auf größere zukünftige Gewinne als ohne diese kurzfristige Schlechterstellung. Insofern verringert eine Krisensituation den Abdiskontierungssatz zukünftiger Gewinne und macht die Kompensation gegenwärtiger Verluste möglich. .Übergeordnete gemeinsame Interessen' erweisen sich somit in (rationalen) Korporatismen als eine Form der veränderten intertemporalen Allokation. 4. Entwicklungsstand internationaler Korporatismen Zunächst lässt sich vermuten, dass Korporatismen auf unterschiedlichen Ebenen recht ähnlich funktionieren und von daher bei einem Ebenenwechsel erstens eine ähnliche ,Korporatismusdichte', zweitens vergleichbare Korporatismusformen sowie drittens identische Muster von Korporatismusergebnissen erwartet werden können. Dies scheint grundsätzlich auch keine gänzlich falsche Vorstellung zu sein: Auf der Ebene der Bundesländer z. B. findet man (teilweise einschließlich von Bündnissen für Arbeit) große 9
Hinzuweisen ist an dieser Stelle darauf, dass mit der innerverbandlichen Durchsetzung von Verhandlungsergebnissen in praxi in der Regel eine partielle Verdrängung bisher vorhandener Koordinationsverfahren einhergeht: Häufig wird hierbei Markt durch Macht und Verhandlung ersetzt.
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Ähnlichkeiten der korporatistischen Systeme mit denen der nationalen Ebene. Insofern ist das Verfahren Korporatismus nicht systematisch ebenenabhängig. Weitet man jedoch die Betrachtung von der nationalen Ebene in die andere Richtung aus, so stellt man im internationalen Zusammenhang teilweise deutliche Unterschiede fest. Der wesentlichste Grund hierfür ist in dem auf dieser Ebene unterschiedlichen Zuschnitt dessen zu sehen, was im nationalen Kontext Staat ist. Kompetenzen, Organe und Entscheidungsstrukturen unterscheiden sich im Vergleich zu einem beliebigen westeuropäischen Nationalstaat sehr viel weitgehender als diese sich untereinander unterscheiden. Entsprechend sind auch internationale Korporatismen - sofern sie denn aufgrund fehlender staatsähnlicher IGOs überhaupt existieren - deutlich unterschiedlich zu den nationalstaatlichen Formen. Neben Korporatismen auf der Ebene regionaler Integrationsräume, die zumindest in der EU besonders bei technischen Fragestellungen eine erkennbare Rolle spielen, hier jedoch nicht behandelt werden sollen,10 ist zu fragen, ob sich Ahnliches auch auf .echter' internationaler Ebene finden lässt. Auffällig ist zunächst der sehr unterschiedliche Einfluss von NGOs auf verschiedene IGOs. Innerhalb der UN-Familie, die im Folgenden intensiver betrachtet werden soll, finden sich zum einen Organisationen wie der IMF mit geringer (erkennbarer) Beteiligung von NGOs, zum anderen aber auch, wie am Beispiel von ECOSOC erläutert werden soll, vielfältige Interaktionen mit teilweise sehr stark bürokratisierten Strukturen. Die erkennbare Einflussnahme ist allerdings jeweils nur in stark begrenztem Umfang als Korporatismus zu bezeichnen, auch wenn Korporatismen sowohl von internationalen Organisationen als auch von NGOs als Mittel erster Wahl propagiert werden (Ottaway 2001, S. 15). 4.1.1. Geschichte und Bedeutung von NGOs auf internationaler Ebene Die Einbindung von NGOs in Aktivitäten der IGOs erfolgte zunächst vor allem im Rahmen konkreter Leistungen und resultierte stark aus der auch organisatorisch-technischen Schwäche einiger dieser IGOs (Otto 1996; Paul 1999). Bedeutsam waren Leistungen im Bereich technische Infrastruktur und einige spezialisierte Dienstleistungen (Informationsbeschaffung, Kontaktanbahnung und Projektentwicklung) sowie der Bereich der technischen Entwicklungshilfe, in dem insbesondere der Kontakt zu Unternehmen und ihren Vereinigungen eine große Rolle spielte. Außerhalb dieses direkten Leistungsbezugs, der teilweise korporatistische Züge aufwies, zumindest aber als Kooperation zu fassen ist, dominierten zunächst menschenrechtsorientierte und humanitäre Gruppen, ab Anfang der 1970er Jahre ergänzt um NGOs mit einem entwicklungspolitischen Fokus. Während des quantitativen Entwicklungsschubs der 1990er Jahre (insbesondere im Zeitraum der Konferenz von Rio 1992) wurden diese Themenbereiche ausgeweitet um NGOs mit dem Schwerpunktthema Umwelt. Gemeinsames Kennzeichen der meisten (und insbesondere der einflussreichsten) NGOs zu diesem Zeitpunkt ist ihre Herkunft aus der ersten Welt.
10
Als Übersicht zu EU-Korporatismen vgl. Gorges (1996), Mazey und Richardson (1996, 2001), Streeck und Schmitter (1994).
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Ab Mitte der 1990er Jahre setzt dann eine deutliche Pluralisierung des Bildes ein: Unterschiedlichste Partialinteressen (z. B. Landminen, Tierschutz, Entschuldung), unterschiedliche Herkunft (besonders die Entwicklung von Süd-NGOs, die allerdings häufig in unterschiedlichen Formen von Nord-NGOs unterstützt werden und um ihre Eigenständigkeit kämpfen) und unterschiedliche Strukturen (streng hierarchisch bis basisdemokratisch) fuhren zu einer abnehmenden Überschaubarkeit dessen, was NGOs ausmacht. Gründe für die quantitative Dynamik der NGOs in dieser Zeit liegen zum einen in Demokratisierungstendenzen vieler Länder mit der neu eröffneten Möglichkeit, NGOs zu gründen (Peterson 1992), andererseits aber auch in dem (als solchen erlebten) Bedeutungsverlust von Nationalstaaten (Rucht 1999). Ergänzend - und eine Folge dieser beiden Gründe - gewinnt die internationale Bühne an Qualität zur Beeinflussung nationaler Politik. Eine solche Bumerang-Politik nutzt internationale Auftritte, um (insbesondere in repressiven Ländern) national für Reformen zu sorgen (Keck und Sikkink 1998). Dies kann die ansteigende Bedeutung nationaler NGOs (d. h. NGOs, die nur in einem Land agieren) im Konzert der IGOs seit Mitte der 1990er Jahre erklären. Die ,Neue Unübersichtlichkeit' wird begleitet durch eine verstärkte Interaktion zwischen den NGOs. Besonders auffallig ist hierbei die relativ unabhängig von Herkunftsländergrenzen erfolgende transnationale Netzwerkbildung (Keck und Sikkink 1998), die häufig anlass- (z. B. Konferenz von Rio) oder themenbezogen (z. B. Staudammprojekt in China) erfolgt und die nach dem Wegbrechen solcher Organisationsgründe auch aus dem Grund eines dann mangelnden Organisationsziels wenig stabil ist. Gründe für solche Netzwerkbildungen, die Ausgangspunkte für Korporatismen bieten könnten, sind vielfältiger Natur. Zu nennen sind erstens die Bedeutungszunahme transnationaler Probleme (Anfang der 1990er Jahre vor allem im Bereich Umwelt, ab Mitte der 1990er Jahre bedingt durch Folgen der Globalisierung), zweitens eine auch globalisierungsbedingte Ausweitung des Anspruchs eines moralischen Universalismusses (etwa im Bereich von Frauenrechten), drittens die größere Nachfrage von IGOs nach NGO-Aggregation (z. B. im Rahmen der Vielzahl internationaler Konferenzen der UNO in den 1990er Jahren, die für Einzelorganisationen schwer zu bewältigen waren, Risse-Kappen 1995), viertens als Beschleunigungsfaktor die Imitation erfolgreicher NGO-Netzwerke (besonders der International Campaign to Ban Landmines, Rutherford 2000) und fünftens als eine wichtige Voraussetzung die Verbesserung, Kostensenkung und größere Verbreitung von Informationstechnologien (Rutherford 2000). Diese Entwicklung in Richtung Netzwerkbildung schafft die Möglichkeit, Kooperationsgewinne zum einen durch Erhöhung der Effizienz zu erreichen (z. B. durch Senkung der Transaktionskosten bei der Interaktion mit IGOs). Zum anderen (und wesentlich bedeutsamer) gelingt so ein Anstieg der Effektivität der Arbeit etwa dadurch, dass erst durch bei Netzwerkbildung steigender Flexibilität und Arbeitsteilung die Kampagnenfähigkeit einer Organisation erreicht werden kann (Priddat 2001, S. 279). Als bedeutsame neuere Entwicklung insbesondere seit Seattle ist das Entstehen vor allem via Medienpräsenz einflussreicher NGOs bzw. NGO-Netzwerke zu beobachten, die mit ihrer Fundamentalkritik insbesondere an den 5rer/on- Woods-Institutionen und der WTO den bisherigen Pfad der Einflussnahme verlassen. Mit diesem Muster der Konfrontation (das zu Reputationsverlusten der IGOs, aber auch der NGOs, die die Strategie der Einflussnahme über die IGO gewählt haben, führt) ergeben sich zunächst
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erkennbar wenig Ansatzpunkte für Korporatismen. Allenfalls dann, wenn dieses Verhaltensmuster zu einer dominierenden Strategie wird und IGOs für ihre Arbeit in fundamentalem Sinne auf Kooperation mit NGOs angewiesen sein sollten, sind Verhandlungslösungen mit Vertretern solcher NGOs mit Konfrontationsstrategie (wie z. B. attac) vorstellbar. Augenblicklich sind aber Kooperationsstrategien sehr unwahrscheinlich, da sie bei grundlegender Interessendivergenz für beide Seiten zu Nachteilen führen. 4.1.2. Beispiele korporatistischer Elemente 4.1.2.1. IMF: geringer Einfluss mit Transparenzgewinnen Im Vergleich zu anderen IGOs ist beim IMF ein nur sehr bescheidener Einfluss von NGOs erkennbar; allerdings ist eine gewisse Entwicklung hinsichtlich der Informationsbereitstellung und mithin der Transparenz der Organisation und ihrer Entscheidungen festzustellen - ein Umstand, der sich unter Umständen dem Einfluss von NGOs zuschreiben lässt. Ebenfalls im Unterschied zu vielen IGOs aus der UN-Familie besteht im IMF auch keine formale Einbindung von Interessengruppen. Eine Ausnahme hinsichtlich der NGO-Beteiligung bilden allerdings die IMF-Aktivitäten im Bereich PRGF (Poverty Reduction and Growth Facility), dem Nachfolger des Kreditvergabeprogramms ESAF (Enhanced Structural Adjustment Facility). Die mittelbis langfristige Kreditvergabe aus diesem Programm, das stark an die Weltbank angebunden ist (und zukünftig vermutlich noch stärker an diese Organisation gebunden sein wird, World Bank 2002a), zeigt eine ähnliche, höhere Beteiligung von NGOs insbesondere in der Vor-Ort-Arbeit. In den anderen Arbeitsbereichen des IMF ist insbesondere die Ausgestaltung von Konditionalitäten sowohl häufiger Ansatzpunkt von Kritik (Boockmann und Dreher 2002) als auch ein Bereich, in dem NGOs Einfluss zu gewinnen wünschen. Zwar sind hierzu durchaus Überlegungen beim IMF vorhanden (Larsen 2000, S. 280); bisher ist dieser Einfluss aber stark beschränkt und hat im Regelfall auch keinen .echten' internationalen Charakter von Seiten der NGOs. Vielmehr können hierbei vor allem wichtige nationale Interessengruppen eine (stark begrenzte) Rolle spielen - diese wurden häufig allerdings wenig systematisch vor der Festlegung von Konditionalitäten insbesondere im Rahmen des SAP (Structural Adjustment Programs) gehört (IMF 2001). Auch wenn zu den Kritikpunkten am IMF von Seiten der NGOs insbesondere der Bereich der problematischen Legitimation dieser IGO zählt (mit den Anschlussproblemen einer Dominanz amerikanischer Interessen, einer Unterrepräsentanz von Entwicklungsländern sowie der fehlenden Zurechenbarkeit von Entscheidungen zur Organisation), finden sich dennoch in den Reformvorschläge wichtiger NGO-Netzwerke für das IMF-System keine Forderungen nach einem Einbezug von NGOs (ICL und Praxis for Peace 2000; Wood 2001; Kebede 2002). Zusammenfassend ist somit festzuhalten, dass der NGO-Einfluss auf den IMF bisher sehr begrenzt ist, im Bereich der Konditionalitäten kaum damit gerechnet werden kann, dass er für internationale NGOs größer wird, und auch vom Selbstverständnis wesentlicher NGOs kein Impuls für eine größere Einflussnahme auszugehen scheint.
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4.1.2.2. WTO: beginnende Öffnung für technische Einflussnahme
Die Beziehungen zwischen WTO und NGOs wurden schon relativ früh Gegenstand einer expliziten, wenn auch sehr offenen Regelung (Benedek 1999). In Artikel V, Satz 2 des Agreement Establishing the World Trade Organization (Marrakesh Agreement) wurde festgelegt: "The General Council may make appropriate arrangements for consultation and cooperation with non-governmental organizations concerned with matters related to those of the WTO" (WTO 1994). Bescheiden konkretisiert wurde diese Übereinkunft in den Guidelines for Arrangements on Relations with Non-Governmental Organizations (WTO 1996): Hier findet sich neben der allgemeinen Bekundung eines Grundinteresses an einer verstärkten Zusammenarbeit mit NGOs die Nennung einiger Maßnahmenbereiche, die das Generalsekretariat vorantreiben kann (WTO 1996, Nr. 4). Ansonsten tragen diese Guidelines eine eher defensive Handschrift: Interaktionen zwischen NGOs und WTO-Akteuren (insbesondere Ausschussmitgliedern) werden als Privatangelegenheiten deklariert (WTO 1996, Nr. 5) und es wird konstatiert, dass der Einbezug von NGOs schon weitgehend über die nationale Ebene realisiert sei (WTO 1996, Nr. 6). Maßnahmen des Generalsekretariats zur Umsetzung dieser Regelungen beschränken sich vorrangig auf eine verbesserte Informationspolitik (z. B. NGO-spezifische briefings und Web-Seiten). Darüber hinaus erfolgt eine Beteiligung von NGOs an Ministerkonferenzen in der Form, dass diese bei einigen Plenarsitzungen anwesend sein können und ihnen Equipment und teilweise Arbeitsräume zur Verfügung gestellt werden. Diese Möglichkeiten eröffnen sich dann, wenn die NGOs als Konferenzteilnehmer registriert und in Teilnehmerlisten eingetragen wurden. Diese Teilnehmerlisten werden von der WTO veröffentlicht und haben für die NGOs eine gewisse Bedeutung als Aktivitätsausweis." Weiterhin besteht die Institution von „Small-scale NGO lunchtime dialogues", zu denen NGOs durch Mitglieder (nach deren Ermessen) eingeladen werden können (WTO 2003), sowie die von Symposien zu Themen wie Umweltschutz und Entwicklung, bei denen die NGOs allerdings überwiegend unter sich sind (WTO 2002; Benedek 1999, S. 239 ff.). Geplant ist neben einer weiteren Verbesserung der Informationslage12 auch eine Beteiligung ausgewählter NGOs an technischen Seminaren (wie etwa dem derzeitigen Seminar zu Touristikdienstleistungen, WTO 2001, WTO 2003). In eine ähnliche Richtung entwickelt sich auch die Diskussion um die Beteiligung von Privatpersonen im Rahmen des Streitschlichtungsverfahrens. Die Reformen dieses Instruments haben zwar zu einer Wirksamkeitssteigerung im Vergleich zu seinem GATT-Vorgänger geführt (Letzel 1999) und dadurch zu einem deutlichen Ansteigen der vorgebrachten Fälle beigetragen (Hauser 2001), dennoch bestehen aber weiterhin Probleme mit dem bisher etablierten Verfahren (Fudali 2002), wobei insbesondere auf die Intransparenz der Entscheidungsfindung hingewiesen wird. Eine Möglichkeit der Öffnung, die neben einer " Die Anzahl der eingetragenen NGOs stieg dabei zunächst deutlich: In Singapur 1996 waren 108 NGOs registriert, in Genf 1998 128 und in Seattle 1999 736. Dohar (2001) sah dann einen Rückgang auf 365 Teilnehmer, wobei hier wie in Singapur und Genf im Gegensatz zur Ministerkonferenz in Seattle Wirtschaftsverbände dominierten (Teilnehmerliste in WTO 2001a). 12 Z. B. durch die Ermöglichung der Stellungnahme von NGOs auf der WTO-Webseite und durch eine Beschleunigung der Veröffentlichung von Dokumenten, die die Wartezeit von 9 auf 3 Monate verkürzt.
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Transparenzverbesserung auch die Chance zur Berücksichtigung weiterer Informationen und Standpunkte böte, besteht in der Beteiligung von Privatpersonen (Butler 2002). Diese kann beispielsweise durch die Zulassung von Eingaben interessierter gesellschaftlicher Gruppen, den amicus curiae (wie im amerikanischen Rechtssystem vorgesehen), erfolgen (Schomerus 2001, S. 18). Allerdings ist bisher zunächst die Zulassung von Rechtsanwälten betroffener Parteien geplant, die ergänzt werden soll um die Möglichkeit, wissenschaftliche Beratung durch Experten weiter auszubauen (Pauwelyn 2002). Eine solche Öffnung wird vor allem von den Entwicklungsländern abgelehnt und von den USA befürwortet (WTO 2003a) - Positionen, die aufgrund unterschiedlicher Fähigkeiten, solche amicus curiae wirkungsvoll zu bestellen, durchaus rational sind. Aufgrund der engen Beschränkung von Gruppen mit Eingabemöglichkeit (die zum Teil jetzt schon auf Betreiben einzelner Panels gehört werden) ist insgesamt kaum zu erwarten, dass sich die Möglichkeit zur Einflussnahme auf das Streitschlichtungsverfahren durch NGOs deutlich ausweiten wird. Eine andere Form der Einflussnahme von NGOs auf die WTO bzw. auf ihre Mitglieder ist am Fall der Verhandlungen über MAI (Multilateral Agreement on Investment) und der Ministerkonferenz von Seattle zu erkennen. Diese Form der Einflussnahme richtet sich direkt an die Medien sowie über diese vermittelt an die Öffentlichkeit und damit nur indirekt an die Organisation WTO selbst. Hierbei kann sowohl die Strategie der Konfrontation als auch die der Kooperation (bzw. genauer: eine des Kooperationsangebots) angewendet werden. Das Scheitern der Verhandlungen über MAI (Qureshi 1999) könnte insbesondere im Zusammenhang mit den Vorkommnissen bei der Konferenz von Seattle als erfolgreiche Interessenvertretung von NGOs entlang dieser Form der Einflussnahme gewertet werden (Benedek 1999, S. 233) - allerdings aufgrund der starken Bedeutung der Konfrontationsstrategie sicher nicht als internationaler Korporatismus. Anzumerken ist jedoch, dass diese Form der NGO-Einflussnahme keineswegs den alleinigen Grund für den Abbruch der MAI-Verhandlungen darstellt. Insbesondere in der Strategie der Verhandlungsführung der amerikanischen Regierung sind weitere Gründe zu erkennen, die zu Verhandlungsproblemen geführt haben. Insofern spricht einiges dafür, zumindest von einer Koinzidenz einer größeren Anzahl von Problemen zu sprechen, die letztlich zum Scheitern der Verhandlungen geführt haben (Capdevielle 2001, S. 149 ff.). Bei einer Analyse dieser Problemlage zeigt sich etwa, dass nationalen Interessenvertretungen nach wie vor ein erhebliches (und gegenüber internationalen NGOs erheblich größeres) Gewicht zukommt: Im Falle der amerikanischen Verhandlungsposition war diese beispielsweise besonders geprägt durch die NAM (National Association of Manufactures) als Interessenvertretung der Großindustrie sowie einigen multinationalen Unternehmen, die stark auf die Übernahme amerikanischer bilateraler Regelungen sowie auf die Aufnahme von Verhandlungen im OECD-Kontext hingewirkt haben. Zusammenfassend ist somit der direkte Einfluss von NGOs auf die Politik der WTO als eher gering einzuschätzen - im Vergleich zum Einfluss von nationalen Interessengruppen auf internationale Verhandlungen und besonders verglichen mit der Einflussnahme auf nationale Politik sind die Möglichkeiten von internationalen NGOs deutlich geringer. Die Öffnung von technischen Seminaren zusammen mit einer erweiterten Möglichkeit für amicus curiae im Streitschlichtungsverfahren verbessern sicherlich die Bedingungen für das Entstehen von Korporatismen, die dann unter Umständen ein ähn-
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liches Gesicht zeigen könnten, wie auf EU-Ebene in Form technischer Korporatismen zu beobachten ist. 4.1.2.3. Weltbank: Auslagerung von Politikgestaltung in unterschiedlichen Bereichen Innerhalb der Weltbank sind der Einfluss von NGOs und der Formalisierungsgrad ihrer Beteiligung weitaus höher als im IMF. Erste formalisiertere Formen der Zusammenarbeit mit NGOs beginnen in den frühen 1970er Jahren besonders bei umweltrelevanten Projekten. Anfang der 1980er Jahre wird ein NGO-Weltbank-Komitee etabliert, in dessen Rahmen einmal jährlich eine Konferenz mit Themen insbesondere aus den Bereichen Armutsbekämpfung und Partizipation(sausbau) ausgerichtet wird. Seit 1995 ist die Organisation teilweise bis hin zu nationalen NGO-Weltbank-Komitees regionalisiert und dient häufig der Vorbereitung konkreterer, projektbezogener Beteiligungen von NGOs an Weltbank-Aktivitäten. Ab Anfang der 1990er Jahre sollten innerorganisationelle Reformen die Zusammenarbeit mit NGOs verbessern helfen (World Bank 2002, S. 2) - hierzu wurde eine Zentralabteilung etabliert, die die Mitwirkung von NGOs koordinieren sollte. In diesem Rahmen wird seit 1990 jährlich ein NGO Progress Report veröffentlicht (der auch Kooperationsprojekte dokumentiert); weiterhin werden GoodPractice-Handbücher der Zusammenarbeit erstellt (aktuell: World Bank 2000) und zur Anwendung empfohlen. Jenseits dieser praktisch weniger bedeutsamen Schritte in Richtung einer stärker formalisierten Beziehung zwischen Weltbank und NGOs (die hier CSOs - Civil Society Organization - heißen) ist zu konstatieren, dass nach wie vor sowohl der Beteiligungsgrad von NGOs an Projekten als auch ihre Auswahl wenig formal geregelt zu sein scheint. Dies führt zu abteilungs- und projektbezogen sehr unterschiedlichen Ergebnissen, die sich auch im jeweils divergierenden Beteiligungsumfang wieder finden. Besondere Bedeutung besitzt die Zusammenarbeit zwischen NGOs und der Weltbank in Projekten des SDV (Social Development Department) - einer Abteilung der Weltbank mit rund 150 Beschäftigten. Hier stieg der Anteil von Projekten mit Beteiligung von NGOs von rund 20 % im Jahre 1990 auf etwa 70 % in den Jahren 2000 und 2001 ( World Bank 2002, S. 4). Dabei liegt die Beteiligungsquote für die Jahre 2000/2001 für den Bereich der Projektentwicklung bei 89 %, bei der Projektdurchfuhrung bei 84 % und selbst bei der Projektevaluation wird noch eine Beteiligungsquote von NGOs von 47 % erreicht (World Bank 2002, S. 5). In vielen dieser Fälle sind NGOs hier allerdings eher als (pekuniär entlohnter) Dienstleister für die Weltbank zu klassifizieren (World Bank 2003), so dass Lobbying oder korporatistische Beziehungen eine geringere Rolle spielen als dies die oben genannten Zahlen nahe zu legen scheinen. Hinsichtlich der über das Dienstleistungsverhältnis hinausgehenden Aktivitäten von NGOs wird innerhalb der Weltbank weiterhin angenommen, dass diese „... disjointed, lukewarm and fickle - or altogether non-existent" (zit. nach Ottaway 2001, S. 2) seien - zumindest aber sind sie nur zum Teil aus der quantitativen Bedeutung von NGOs bei der Projektarbeit ableitbar. Eine andere Form des Einflusses von NGOs auf Weltbankaktivitäten lässt sich am Beispiel der Entstehung und der Arbeit der World Commission on Dams (WCD) zeigen. Gegründet 1998 aus Anlass zunehmender Kontroversen um den Bau großer Staudämme, hatte sie die Aufgabe, Anforderungen an Projekte zu erarbeiten, die aus Sicht
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der Weltbank sicherstellen sollten, dass lokale, nationale und internationale NGOs den Staudammbau nicht im bisherigen Umfang verzögern oder durch Verzögerungen gänzlich verhindern. Zwar war die Weltbank bis dato nicht eine der wesentlichen Akteure in diesem Betätigungsfeld (ihr Finanzierungsbeitrag lag unter 4 %, Ottaway 2001, S. 16), aber dennoch war sie aufgrund ihrer internationalen Sichtbarkeit als Symbol der Globalisierung ein besonders beliebtes Angriffsopfer (Baur 2001). Das Eingeständnis der eigenen Schwierigkeiten mit der in den 1980er Jahren verfolgten Politik, die beginnende Neuausrichtung ihrer Projekte sowie der oben geschilderte Versuch einer Verbesserung der Beziehungen zu NGOs führten als ergänzende Gründe zu einer Suche nach Partnerschaften mit diesen. Ausgehend von der Finanzierung einiger Studien zur Wirkung von Staudammprojekten wurde bei einem Treffen im April 1997 in Gland (Schweiz) zwischen der Weltbank und Mitgliedern der World Conservation Union (IUCN, dem größten internationalen Netzwerk von Umweltgruppen) die Gründung einer Institution beschlossen, die die Wirkung von Staudammprojekten unabhängig begutachten sollte (WCD 2002a). Als Aufgabe der Organisation wurde von den 19 in Gland Verhandelnden bestimmt, dass diese ein .Mandat' (WCD 2002b) hat, bis Ende 2000 einen Report zur Wirkung von Staudammprojekten der Weltbank, der IUCN, der .Referenzgruppe' aus Gland sowie der internationalen Öffentlichkeit' vorzulegen. Die 12 Kommissionsmitglieder der WCD (unter ihnen z. B. der damalige ABB-Chef Göran Lindahl und die indische Umweltaktivistin Medha Patkar) legten den Report vor, aber die vereinbarte Auflösung der Kommission fand nicht wie vorgesehen statt. Eine erste Verlängerung (zur Verbreitung der Kommissionsergebnisse) lief bis März 2001 und eine zweite bis Oktober 2001. Dann wurde die Kommission tatsächlich aufgelöst, doch unter der Schirmherrschaft des United Nations Environment Programme (UNEP) soll in den nächsten zwei Jahren eine Dams and Development Unit (DDU) die Arbeiten mit stärkerem regionalen Bezug fortsetzen. Finanziert wurde die Arbeit der Kommission zunächst durch die Weltbank, später durch über 50 Finanziers aus dem Umfeld von Pround Contra-Interessen am Staudammbau. 13 Durch die Kommission wurden 10 realisierte Fallbeispiele intensiv sowie 150 weitere Staudammprojekte grob untersucht und mit Hilfe der Untersuchungsergebnisse ein mehrdimensionales Bewertungssystem (ähnlich der Umweltverträglichkeitsprüfung) entwickelt, Kriterien mit Mindeststandards und Entscheidungsunterstützungsinstrumente vorgeschlagen. Dieser Report der Kommission mit ihren Empfehlungen wird als weitgehend nicht veränderliche Grundlage beim Bau neuer Staudämme verwendet, um das gesetzte Ziel der Vermeidung von Projektverzögerungen nicht zu gefährden - eine solche Übernahme des Reports erfolgte z. B. durch die GTZ und die International Commission on Large Dams (ICOLD, die Interessenvertretung der Staudammbefürworter, Baur 2001). Auch wenn die Weltbank selbst den Report bisher als reine Empfehlung behandelt und sich Veränderungen vorbehält, ist kaum anzunehmen, dass die faktische Legitimität, die der 13
Dies waren z. B. Energieerzeuger wie Hydro Quebec oder EdF, Anlagenbauer wie Atlas Copco oder ABB, Naturschutzorganisationen wie der World Wildlife Fund und (staatliche) Entwicklungshilfeeinrichtungen wie die schweizerische SDC (Swiss Agency for Development and Cooperation) oder die GTZ, wobei 9 % des Finanzierungsbeitrags von privaten Unternehmen, 16% durch Naturschutzorganisationen und der Rest durch (halb-)staatliche Organisationen aufgebracht wurden, WCD (2002c).
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Kommission zugesprochen wurde, durch die IGO Weltbank ,übertroffen' werden kann. Insofern ist hier eine staatsähnliche Institution vermutlich in einer zu schwachen Position, um in das Verhandlungsergebnis der 12 Kommissionsmitglieder eingreifen und so einen echten Korporatismus etablieren zu können. Bei den vorgestellten Interaktionen zwischen Weltbank und NGOs wird deutlich, dass diese aus Sicht der Weltbank häufig der Erweiterung der eigenen Politikfahigkeiten dienen. Dies trifft sowohl auf die Projektarbeit insbesondere in der SDV zu als auch für die Auslagerung der Aufgabe an die ,ad hoc-NGO' WCD, einen weltweiten Ordnungsrahmen für den Bereich des Staudammbaus zu etablieren. Während im ersten Fall insbesondere fehlende personelle Ressourcen (und hiermit verbundene Informationsdefizite über lokale Bedingungen einer Projektarbeit) den Politikspielraum limitieren, ist es im zweiten Fall die (vermutlich richtige) Ginschätzung einer zu geringen Bindungswirkung (qua fehlender Legitimität) eigener Politik, die die Verlagerung sinnvoll erscheinen lässt. Im letzten Fall ist die Position der Weltbank zu schwach für korporatistische Verhandlungen und allenfalls im Vorfeld (und unter Umständen begleitend) besteht ein bedeutsamer Einfluss auf den Prozess. Allerdings befand sich die Weltbank hierbei schon eher in der Position einer Lobbygruppe, die versuchte, ihre Interessen bei den Trägem der faktischen Macht über Verzögerungen beim Staudammbau durchzusetzen. Im Falle der Einbindung von NGOs in die Projektarbeit lässt sich gut von einem .aushelfenden' (Mikro-)Korporatismus sprechen - die Interaktion ist offen, auf Dauer angelegt, beruht auf Verhandlungslösungen (wenn nicht nur ein reines Dienstleistungsverhältnis vorliegt) und greift in die Politikausgestaltung und -durchsetzung eines IGOs ein. 4.1.2.4. ECOSOC: formalisierte Beteiligung ohne Einfluss Der ECOSOC (Economic and Social Council) hat satzungsgemäß einen weiten Aufgabenbereich, der Politikbereiche wie Gesundheits- und Arbeitsschutz, Sozialpolitik, Bildungspolitik oder weltwirtschaftliche Integration umfasst. Mit der Bedeutungszunahme der Bretton-Woods-Orgamsaxiontn hat sein Einfluss jedoch deutlich abgenommen (Hiifirer und Martens 2000). Auch wenn rund 70 % der finanziellen und personellen Ressourcen des UN-Systems im Rahmen dieser IGO zu verbuchen sind, bezieht sich dennoch ein Großteil der primären Aufgabe auf die Koordination der einzelnen UNAgenturen und Programme (wie UNEP, UNCTAD oder UNDP), die dem ECOSOC unterstellt sind (ECOSOC 2002). Seit Gründung des ECOSOC besteht eine in der Resolution 1296 (XLIV) institutionalisierte Möglichkeit der Einflussnahme von NGOs: Diese können einen so genannten „consultative status" beantragen, der ihnen privilegierte Zugänge verschafft. Anfangs nutzten diesen nur wenige Dutzend Organisationen (Ghebali 1972) mit Schwerpunkten zum einen bei Menschenrechtsfragen, 14 zum anderen aber auch beim Aufbau der UNOrganisation. Diese NGOs stammten überwiegend aus westlichen Ländern, wiesen in der Regel eine straffe hierarchische Organisation auf und traten mit dem Anspruch auf Hilfe
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Hier lieferten NGOs Informationen über zum Teil wenig bekannte Zustände in .unzugänglichen' Staaten, die diese selbst nicht liefern konnten oder wollten.
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zu liefern und weniger mit der Intention, Mitgliedern oder verbundenen gesellschaftlichen Gruppen Gehör zu verschaffen (Smith, Pagnucco und Chatfield 1997, S. 74). Seit Anfang der 1990er Jahre ist ein starkes Ansteigen von NGOs mit consultative status zu beobachten - gleichzeitig entstanden Probleme mit der zunehmenden Heterogenität von NGOs und dem ressourcenintensiven administrativen Umgang mit diesen auf Seiten der UNO-Bürokratie. Als stark bürokratisches Maßnahmenpaket wurde in der ECOSOC-Resolution 1996/31 vor allem eine Veränderung des Akkreditierungsverfahrens beschlossen, die den bisherigen zwei Statusgruppen eine dritte hinzufügte. Seitdem gibt es NGOs mit „general consultative status", denen das direkte Einreichen von schriftlichen Erklärungen gestattet ist, die einen unmittelbaren Zugang zu wichtigen Komitees haben und die auf einigen ECOSOC-Meetings ein Recht auf Agenda-Setting haben. Die zweite Gruppe bilden NGOs mit „special consultative status"; diese sind hinsichtlich Agenda-Setting und Erklärungsmöglichkeit auf ausgewählte Themenfelder beschränkt und ihre Mitwirkung in Komitees kann nur in eigens für sie gebildeten erfolgen. Als dritte, neu hinzu gekommene Gruppe besteht noch die mit einem „roster consultative status"; dieser kennzeichnet NGOs im ,Zugangswartestand', denen zwar eine besondere Bedeutung zugesprochen wird, aber die obigen Vergünstigungen nicht gewährt werden. Qualitätskriterien für die Einteilung in diese Statusgruppen sind nicht öffentlich, Kriterien für die generelle Aufnahme als akkreditierte NGO sind hingegen bekannt und sehr allgemeiner Natur: Neben der Relevanz einer NGO für die ECOSOCArbeit wird lediglich eine demokratische Organisation und das mindestens zweijähriger Bestehen der NGO gefordert (ECOSOC 2002). Als Anforderung an den Verbleib auf der Akkreditierungsliste bei NGOs mit general oder special consultative status wird verlangt, dass alle 4 Jahre ein Tätigkeitsbericht vorgelegt wird. Diese sicher nicht als einschneidend zu klassifizierenden Maßnahmen bremsten das Wachstum von NGOs mit einem Platz auf der Akkreditierungsliste kaum (1993 waren dort etwa 1600 NGOs verzeichnet, heute sind es rund 2100). Auch der seit 1997 verstärkte Druck der USA auf die Finanzsituation der UNO, die zur Einstellung der internationalen Konferenzen als herausragendes Beteiligungsfeld für NGOs und einer Begrenzung der finanziellen Ressourcen für NGOs (wie z. B. die Übernahme von Druckkosten und die Bereitstellung von Räumlichkeiten) führte, milderte die Probleme mit der Einbindung von NGOs nur wenig. Die durch NGOs ausgelöste Behinderung von Prozessen etwa durch Eingabefluten und eine hohe Anzahl von Teilnehmern führt zum Teil zu der absurden Situation, dass Sitzungen im Rahmen der ECOSOC ohne Beteiligung von Regierungsvertretern stattfinden und NGOs hier ausschließlich zu sich selbst sprechen (CONGO 2000). Neben dem quantitativen Moment lassen sich noch weitere Entwicklungen beobachten, die alle eher zu einer Verminderung des Einflusses von NGOs auf die Entscheidungen von ECOSOC beitragen dürften: -
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Erstens steigt die Heterogenität der NGOs und dies führt teilweise dazu, dass zunächst unentdeckte schwarze Schafe das gesamte NGO-Image in Mitleidenschaft ziehen,'5
China meldete z. B. eine Vielzahl von ,NGOs', die überwiegend den Parteiorganisationen entstammten, zum Menschenrechtsgipfel in Wien an {Clark, Friedman und Hochstetler 1998, S. 23).
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zweitens ist eine Extremisierung von Positionen zu beobachten, die ähnlich wirkt wie der erste angesprochene Punkt, 16
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drittens kehrt sich der bisher vorherrschende Informationsfluss zusehends um - NGOs stellen Ansprüche, über UNO-Aktivitäten informiert zu werden, ohne selbst entscheidungsrelevante Informationen liefern zu können,
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viertens wirkt die Bedeutungszunahme ausschließlich national operierender NGOs (dies sind rund 40 % der Neuaufnahmen) in eine ähnliche, ,konsumorientierte' Richtung, da diese NGOs in der Regel nicht an einer Mitarbeit im ECOSOC interessiert sind, sondern diesen als Bühne nationaler Politikbeeinflussung nutzen, und
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fünftens führen interne Auseinandersetzungen zwischen NGOs tendenziell zu einer Schwächung ihrer Position - diese Auseinandersetzungen werden geführt insbesondere zwischen Insidern wie vor allem von CONGO 17 und Outsidern, die die bisher sehr gute Positionierung von CONGO und seinen Mitgliedern (die fast alle NGOs mit general consultative status sind) angreifen wollen.
Zusammenfassend ist von einem insgesamt zurückgehenden Einfluss von NGOs auf die Entscheidungsfindung im Rahmen von ECOSOC auszugehen bei gleichzeitigem Rückgang der Bedeutung dieser IGO: Unübersichtlichkeit, ein .Verfall der Sitten' und gegenseitige Blockaden führen partiell zur Autodiskreditierung bestehender Interaktionen. Beziehungen, die korporatistische Züge aufwiesen, spielten in der Anfangszeit eine größere Rolle, sind aber einerseits durch UNO-Organisationsveränderungen (betreffend ihres Ausbaus und ihres ,Ausreifens') und andererseits durch die NGO-Entwicklung insbesondere der letzten 15 Jahre stark zurückgedrängt worden. 4.1.3. Kennzeichen internationaler Korporatismen und ihre Folgen Als gemeinsame Kennzeichen der IGO-NGO-Beziehungen auf der internationalen Ebene, die gleichzeitig wesentliche Unterschiede in den Funktionsbedingungen gegenüber der Situation nationaler Korporatismen darstellen, lassen sich die folgenden anführen: -
Erstens ist ein hoher Dezentralisierungsgrad der Interessenvertretung zu erkennen, der insbesondere durch die ansteigende Bedeutung rein nationaler NGOs ansteigen wird,
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zweitens sind NGOs an sich sowie auch NGO-Netzwerke als eine Antwort auf das Dezentralisierungs- und Parzellierungsproblem häufig wenig stabil,
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drittens zeigen sich sehr unterschiedliche NGO-interne Strukturen, die allerdings in der Regel weniger hierarchisch sind und zu starken Problemen in der innerorganisationalen Umsetzung von Vereinbarungen zwischen NGO-Verhandlungsführung und IGO führen können, und
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So benutzen z. B. kubanische Anti-Casfro-Aktivisten oder der Führer der sudanesischen Befreiungsarmee John Garang ebenso ,Pseudo-NGOs' zur Erzielung von Aufmerksamkeit wie die Moon-Sekte oder die Zeugen Jehovas, die ebenfalls als NGOs registriert waren (letztere haben sich allerdings 2002 von der Akkreditierungsliste streichen lassen, Ottaway 2001, S. 12). Conference of NGOs in Consultative Status with the UN, ein relativ festes Netzwerk mit 470 NGOs als Mitglieder.
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viertens ist eine Konzentration auf stark spezialisierte Interessenvertretung festzustellen, ohne dass im Bereich internationaler NGOs eine politikfeldbezogene Interessenaggregation ähnlich der von Gewerkschaften und Arbeitnehmervertretungen im nationalen Kontext zu erkennen ist.
Hinsichtlich der von NGOs vertretenen Themenbereiche sind sicher einige zu erkennen, in denen bisher ein internationales Marktversagen konstatiert werden kann: Dies betrifft z. B. die Umweltpolitik, wenn internationale negative externe Effekte vorliegen oder von einer zu korrigierenden Minderschätzung zukünftiger Bedürfnisse (mit der Folge eines zu starken Umweltressourcenverbrauchs zu Lasten zukünftiger Generationen) ausgegangen werden kann. Aufgrund schwacher IGOs besteht in diesen Bereichen in der Regel auch ein Staatsversagen, das bisher nicht durch internationale Verhandlungen zwischen Nationalstaaten ausgeglichen worden ist. Insofern ist hier für NGOs ein Arbeitsfeld erkennbar, in dem sie zu einer Wohlfahrtssteigerung beitragen können - eine Wohlfahrtssteigerung allerdings, die nicht unbedingt zu einer internationalen Integrationsintensivierung verstanden als Steigerung des Welthandelsvolumens führen muss. Wie gesehen, spielen bisher korporatistische Arrangements im Vergleich zu nationalstaatlichen Kontexten eine geringere Rolle. Auf der Ebene von IGOs finden sich -
erstens (und von größter Bedeutung) Wirkungen nationalstaatlicher Korporatismen, die die Position nationaler Regierungen bei internationalen Verhandlungen beeinflussen (dies ist insbesondere im WTO-Kontext sichtbar),
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zweitens .aushelfende Korporatismen', die Politik für IGOs in Feldern ermöglichen, in denen ihnen die finanziellen Ressourcen oder die Möglichkeit zur Politikdurchsetzung fehlen (eine solche Form prägt besonders die Arbeit der Weltbank),
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drittens Anfange eines technischen Korporatismus, der insbesondere in der detaillierten Politikausgestaltung eine Rolle spielt (Entwicklungen in der WTO deuten in diese Richtung), und
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viertens .Korporatismen der Bedeutungslosen', bei denen alle Seiten der Verhandlungsparteien in nur geringem Maße zur realitätsverändernden Politikgestaltung fähig sind (insbesondere im Rahmen des ECOSOC deutet vieles auf eine solche Form des Korporatismus hin).
Bei allen diesen Punkten spielt die geringe (direkte) Macht von IGOs eine bedeutsame Rolle - internationale Verhandlungen, die Verhandlungen zwischen nationalen Regierungen sind, bestimmen im Wesentlichen die Politiksetzungsfahigkeit internationaler Organisationen. Durch diese Position des (potenziellen) staatsähnlichen Verhandlungspartners, die weitgehend spiegelbildlich ist zu der relativen Schwäche von NGOs, wird bisher der Einfluss von Korporatismen insgesamt beschränkt und inhaltlich auf die oben genannten Bereiche begrenzt. Anders als die Initiierung von Korporatismen scheint für einige NGOs in letzter Zeit ein medienvermittelter Konfrontationskurs gegenüber vielen IGOs eine erfolgversprechende Strategie zu sein - dies insbesondere dann, wenn die Mitglieder von NGOs ihren Nutzen der Mitgliedschaft aus der öffentlichen Aufmerksamkeit und nicht aus der Erreichung mehr oder weniger konkreter Forderungen generieren, was im Rahmen der IGOs aufgrund ihrer teilweise geringen Machtfülle ohnehin nicht zu erwarten ist.
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Vor dem Hintergrund geringer Macht auf allen Seiten von Korporatismusteilnehmern und den zu beobachteten Ausprägungen von internationalen Korporatismen ist zu fragen, wie diese denn zu beurteilen sind. Auf der Vorteilsseite ist Folgendes zu vermerken: - Erstens stellen Korporatismen ein Gegengewicht zu bereits bestehenden Einftussnahmen dar, die insbesondere in vielen UN-Programmen geprägt sind durch LobbyingTätigkeiten von Unternehmen und Unternehmensverbänden; insofern mag hier das countervailing power-Argument (Galbraith 1952) greifen, - zweitens ermöglichen sie eine Berücksichtigung weiterer Interessen, die bisher nur zum Teil und nur über lange Principal-Agent-Beziehungen demokratisch gebunden waren; hier ließe sich von einer ,Ersatzvornahme' anstelle einer Demokratisierung sprechen, die Präferenzen eine größere Geltung verschafft als dies bisher der Fall war (allerdings besteht hier das grundlegende olsonsche Problem der unterschiedlichen Organisierbarkeit von Interessen), - drittens geht mit Korporatismen gegenüber weniger sichtbaren Formen der Interessenvertretung (zu denken ist insbesondere an Korruption) eine verbesserte Transparenz einher; eine solche Verbesserung ergibt sich auch für die Arbeit von IGOs gegenüber einem Zustand des Ausschlusses von NGOs, - viertens können Korporatismen internationale Staatsfunktionen (die zur Bereitstellung internationaler öffentlicher Güter führen) schaffen, die bisher von IGOs nicht übernommen werden konnten, und -
fünftens können Korporatismen zur Zähmung radikaler Positionen durch Einbindung fuhren; dies kann z. B. die Verzögerung von Projekten verringern (Beispiel Staudammbau) oder die Gefahr der Erschütterung internationaler Handlungsfähigkeit durch Hinweis auf fehlende Legitimation eindämmen (Beispiel WTO-Ministerkonferenz in Seattle).
Als Nachteile internationaler Korporatismen lassen sich folgende Punkte anfuhren: -
Erstens besteht die Gefahr einer zu großen Abhängigkeit (bis hin zu einer .Übernahme' durch Partialinteressen) von IGOs, die aus ihrer schwachen Stellung resultiert. Wenn allerdings die Stellung von NGOs ähnlich schwach ist und die Zusammenarbeit mit diesen durch eine Interaktion mit anderen NGOs substituiert werden kann, ist diese Gefahr gering - im Beispiel der Projektarbeit von NGOs im Rahmen von Weltbankaktivitäten scheint dies jedoch nicht gegeben, sondern die Abhängigkeit der SDV recht groß zu sein.
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Zweitens ist die (demokratische und juristische) Kontrolle von IGOs innerhalb ihres zugestandenen Handlungsspielraums sehr gering. Insofern besteht die Gefahr einer weitgehend unkontrollierten Ausdehnung von internationaler Bürokratie durch die Eröffnung neuer Handlungsfelder mit Hilfe von internationalen Korporatismen. Dieses Kontrollargument gilt auch generell für die Einflussnahmen von NGOs.
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Drittens weisen internationale Korporatismen wie ihre Träger auf Seiten der NGOs eine geringe Stabilität auf. Dies kann einerseits ein Vorteil sein, da dann keine Persistenzen zu befürchten sind. Andererseits entsteht hier aber auch keine Spielsituation mit (angenommener) unendlicher Anzahl von Spielen, so dass von einer star-
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ken Kurzfristorientierung des Arrangements bei gegenseitigem Ausbeutungsversuch auszugehen ist. Weiterhin entstehen hohe Transaktionskosten bei ständig wechselnden Teilnehmern. — Viertens besteht als vermutlich größtes (praktisches) Problem eine weithin unzureichende Kenntnis sowohl über die potenziellen NGO-Kooperationspartner (ein Allokationsproblem, das z. B. durch Qualitätskriterien gelöst werden könnte) als auch über die Positionen tatsächlicher Korporatismusteilnehmer. Hohe Transaktionskosten auch aufgrund der Anzahl von internationalen NGOs zusammen mit einer teilweise manifesten Beeinflussung von NGO-Auswahlentscheidungen durch nationale Regierungen (die je nach Interessenlage Querulanten oder zahnlose Tiger empfehlen) führen zu einer wenig repräsentativen Auswahl von Kooperationspartnern. Zufallstreffer, Traditionalismen oder tribalistische Arrangements fuhren teilweise zu einem wenig erfreulichen Bild.
5. Ausgestaltungsvorschläge internationaler Korporatismen Korporatismus ist zunächst ein neutrales Verfahren, dessen Auswirkungen auf Integration oder Wohlfahrt einzelfallbezogen untersucht werden muss - so finden sich auf nationaler und internationaler Ebene jeweils Beispiele für ge- und missglückte Korporatismen. Korporatismen auf internationaler Ebene unterscheiden sich zum Teil sehr weitgehend von den bekannten Formen insbesondere tripartistischer Neokorporatismen, die die Wahrnehmung des Bildes von Korporatismen auf nationaler Ebene prägen. Grundsätzlich entstehen weitaus engere Formen des Korporatismus, denen jedoch insofern eine besondere Bedeutung zukommt, als dass sie teilweise nicht als Alternative einer direkten staatlichen Tätigkeit auftreten (und sich somit die Frage nach dem effizienteren Verfahren stellt), sondern eine deutliche Ausweitung der Effektivität internationalen .staatlichen' Handelns ermöglichen. Aber selbst eine solche Effektivitätssteigerung muss weder zu Integrationsfortschritten, noch zu positiven Wohlfahrtseffekten fuhren. Aufgrund der Folgen der diskutierten internationalen Korporatismen verbunden mit den Erfahrungen mit korporatistischen Arrangements auf nationaler Ebene lassen sich allerdings einige Anforderungen formulieren, die zumindest zu einer Verbesserung des Outcomes von Korporatismen beitragen können. Die im Rahmen nationaler Korporatismen diskutierten Maßnahmen wie Befristungen anhand festgelegter Kriterien oder einer maximalen Zeitdauer (ähnlich Gäfgen 1988, S. 74), einer Begründungsnotwenigkeit der Etablierung von Korporatismen z. B. anhand der Klassifikation der Anwendungssituation als .außerordentliche Krise' oder die generelle thematische Beschränkung von Korporatismen können sicher auch im Falle internationaler Korporatismen hilfreich sein. In Teilen werden diese Maßnahmen, die als Beschränkungen eines korporatistischen Arrangements zu werten sind, auch bereits angewandt (zu denken ist etwa an die inhaltliche und zeitliche Beschränkung der Tätigkeit der WCD). Problematisch ist hierbei allerdings, dass die Überprüfung auf Einhaltung der Bedingungen Strukturen voraussetzt, die auf internationaler Ebene nur selten bestehen (so ist ebenfalls am Beispiel der WCD zu sehen, dass nachträglich die Befris-
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tungskriterien verändert und die Aufgabenbereiche erweitert wurden). Auch ist zu bedenken, dass diese Maßnahmen zur gleichzeitigen Verschärfung des Problems instabiler korporatistischer Beziehungen beitragen können. Eine andere Möglichkeit besteht in einer stärkeren Selbstbindung der an einem Korporatismus Beteiligten in Form einer Intemalisierung möglicherweise auftretender externer Effekte. Ähnlich dem Genter System, in dem Gewerkschaften einen Teil der Arbeitslosenversicherung tragen (Risch 1981), ist vorstellbar, dass NGOs, die beispielsweise an Weltbankprogrammen korporatistisch beteiligt sind, für Teile der Projektergebnisse Verantwortung übernehmen. Aufgrund der für solche Beteiligungsformen unzureichenden finanziellen Ausstattung von NGOs setzt dieser Vorschlag allerdings weitere Überlegungen voraus, wie eine solche Form der Partizipation auszugestalten ist. Eine über Beschränkung und Auswirkungsintemalisierung hinausgehende Option könnte in einer stärkeren Wettbewerbsorientierung des ,Korporatismusmarktes' liegen. Anders als bei nationalen Korporatismen mit Monopolvertretern sind auf internationaler Ebene nahezu immer alternative Kooperationspartner vorhanden, die zumindest ähnliche Kooperationsgewinne versprechen wie die zunächst ausgewählten. Ein funktionierender Markt für Korporatismus-Partner auf der Mikro- und Mesoebene hätte neben den allgemeinen positiven Folgen marktlicher Koordination vor allem auch den Vorteil, dass dieser möglicherweise nicht nur auf den internationalen Bereich beschränkt bleiben würde, sondern zu einem (zunächst wahrscheinlich eher geringen) Wettbewerbsdruck auf nationalstaatliche Korporatismen führen könnte (zu denken ist hier z. B. an den deutschen Gesundheitskorporatismus, der etwa in grenznahen Bereichen inländische gegen ausländische Korporatismuspartner austauschen könnte). Da sich allerdings bisher nur ansatzweise ein solcher Markt gebildet hat und international wirksame Restriktionen gegen einen solchen nicht zu vermuten sind, ist anzunehmen, dass Markt(konstituierungs)versagenstatbestände einer solchen Entwicklung entgegenstehen und sich stattdessen die NGO-Landschaft als wenig durchdrungene Szene umfassender Intransparenz ausbreitet. Ein wesentlicher Aspekt hierbei könnte darin bestehen, dass sich für IGOs (zumindest für weite Teile der Bürokratie) bei Kooperationen mit NGOs nicht das Wiederwahlproblem stellt (und wenn, ist diese Wiederwahl zumindest in keinster Weise von den Mitgliedern der NGOs abhängig). In der Zielfunktion internationaler Bürokratien werden daher eine Vielzahl von Subzielen enthalten sein, bei deren Verfolgung Interesse an einem Zustand intransparenter Auswahl von NGOs (z. B. aus Gründen eines praktizierten Tribalismus) oder einer grundsätzlichen Wirkungslosigkeit der NGOBeteiligung (z. B. aus Gründen der ungestörten eigenen Zielverfolgung) besteht. Mangelnde Kontrolle internationaler Bürokratien (die die Verfolgung solcher Subziele ermöglicht) und letztlich fehlende demokratische Kontrolle der IGOs kann also ein Grund für ein mangelndes Funktionieren des NGO-Marktes sein. Auch wenn es möglich sein könnte, dass eine verstärkte Einbindung von NGOs in IGOs dieses Kontrolldefizit abmildert, ist seine Beseitigung aus dieser Richtung kaum zu erwarten. Ähnlich verhält es sich mit Sicherheit auch mit einer funktionsfähigen demokratischen Kontrolle - auch diese ist wenig wahrscheinlich. Da ein solches Marktmodell, das zur Bewertung der Leistungsfähigkeit von NGO als Partner für IGOs fuhren könnte, wenig realistisch ist, ist zumindest als .Ersatzvornahme' zu überprüfen, wie durch die Setzung von Qualitätskriterien für die Auswahl zu
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beteiligender NGOs sowohl Leistungswettbewerb induziert als auch Transparenz gesteigert werden könnte. Wie gesehen sind solche Qualitätskriterien bisher nicht existent, nicht transparent oder alles andere als qualitativ anspruchsvoll. Vorstellbar sind hier einerseits Mindeststandards: Diese könnten Kriteriengruppen wie finanzielle staatliche Unabhängigkeit, innerorganisationelle Demokratie, Tätigkeitstransparenz (inklusive einer externen Überprüfung) und Bewährung enthalten. Ergänzend hierzu bieten sich allerdings Ranking-Systeme an, wie sie in anderen .weichen' Bereichen (wie etwa der Hochschulbildung) angewendet werden - vorausgesetzt, ihre Berücksichtigung (die allerdings auch keine allzu starre sein sollte) bei der Auswahl von NGOs kann garantiert werden. Ist dies nicht (immer) der Fall, so könnte solch eine Maßnahme zumindest zur Transparenzverbesserung beitragen und unter Umständen andere NGOs dazu veranlassen, die Auswahlentscheidungen von IGOs öffentlich auf ihre Kompatibilität mit dem Ranking-System hin zu überprüfen. Sollen aber internationale öffentliche Güter effizient von IGOs bereitgestellt werden, dann ist ein solcher eingeschränkter Wettbewerb, in dem Qualität nur begrenzt ein Wettbewerbsparameter ist, nicht ausreichend: Ohne eine Stärkung von Kompetenz, Kontrolle und demokratischer Legitimation von IGOs ist erstens die politische Notwendigkeit für (nahezu jeden) Korporatismus groß, zweitens die Gefahr von Absprachen zu Lasten Dritter (die auch die IGOs selber sein können) manifest und drittens die Berücksichtigung internationaler Präferenzen nicht zu erwarten. Allerdings ist auch eine solche Stärkungs-Lösung nicht zu erwarten. Insofern behalten Second- und Third-best-Lösungen auch auf absehbare Zeit ihre Bedeutung - und zu diesen können auch (einige, geregelte) internationale Korporatismen zählen. Literatur Andersson, F.C.A. (2000), Corporatism and Economic Performance, Working Paper, Department of Economics, No. 21, Lund University. Baccaro, L. (2002), What is Dead and what is Alive in the Theory of Corporatism, International Institute for Labour Studies (ILO), Discussion Paper, No. DP/143/2002, Geneva. Baur, J. (2001), Mehr Nutzen aus Staudamm-Großprojekten? Zum Bericht der World Commission on Dams, in: Das Parlament, Nr. 48/49, S. 23-29. Benedek, W. (1999), Developing the Constitutional Order of the WTO. The Role of NGOs, in: Development and Developing International and European Law, No. 3, S. 228-250. Boockmann, B. und A. Dreher (2002), The Contribution of the IMF and the World Bank to Economic Freedom, Mannheim. Brennan, G. und J.M. Buchanan (1985), Die Begründung von Regeln, Tübingen. Butler, J.K. (2002), Die Beteiligung von Privatpersonen am WTO-Streitbeilegungsverfahren. Bestandsaufnahme und Entwicklungsperspektiven, Frankfurt am Main u. a. Capdevielle, J. (2001), Modernie du Corporatisme, Paris. Cassel, D. (1972), Die Konzertierte Aktion. Instrument einer rationalen Stabilisierungspolitik?, in: D. Cassel, G. Gutmann und HJ. Thieme (Hg.), 25 Jahre Marktwirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart, S. 251-273. Cawson, A. (1985) (Hg.), Organized Interests and the State. Studies in Meso-Corporatism, London u. a.
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III. Integrationskonzepte und außenwirtschaftspolitische Strategien
Dieter Cassel und PaulJJ. Weifens (Hg.) Regionale Integration und Osterweiterung der Europäischen Union Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft • Band 72 • Stuttgart • 2003
Alternative Integrationskonzepte: Theoretische Begründung, empirische Befunde und pragmatische Implikationen
Rolf J. Langhammer*
Inhalt 1. Problemstellung
250
2. Theoretische Begründungen und Implementierungsfragen
252
2.1. Begründungen 2.2. Implementierungsfragen 2.2.1. Mit wem sollen Abkommen über regionale Integration geschlossen werden? 2.2.2. Welche Tiefe soll der Integrationsprozess haben? 2.2.3. Wie breit sollte der Integrationsprozess angelegt sein? 2.2.4. Welche Integrationsform soll verwirklicht werden? 2.2.5. In welche Politiksequenz soll die regionale Integration eingebettet sein? 2.2.6. In welcher Dosierung sollte Integration erfolgen? 2.2.7. Selbstevaluierung oder ,peer review'? 3. Empirische Befunde und Ursachen 3.1. Befunde 3.2. Ursachen
252 253 253 254 254 255 255 256 257 258 258 260
4. Pragmatische Implikationen
261
5. Schlussfolgerungen
264
Literatur
265
* Der Autor dankt H. Jörg Thieme und den Teilnehmern des Forschungsseminars für wertvolle Hinweise zum Manuskript.
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Rolf J. Langhammer
1. Problemstellung Dieser Beitrag knüpft an die Ergebnisse des Beitrages von Langhammer und Wößmann zur Radein-Konferenz 2002 {Langhammer und Wößmann 2002) an. In diesem Beitrag wurde ausgeführt, dass - regionale Integrationsgemeinschaften nach einer Blütezeit in den 1960er Jahren, einer Durststrecke in den 1970er und 1980er Jahren und letztlich wieder einer Expansionsphase in den 1990er Jahren zu einem wichtigen Bestandteil der internationalen Handelsordnung geworden sind; - sich Triebkräfte des Regionalismus der 1960er Jahre grundlegend von denen des Regionalismus der 1990er Jahre dahingehend unterscheiden, dass früher regionale Integration exogen als Ziel vorgegeben wurde, um den Handel zwischen bevorzugten Partnern zu Lasten Dritter auszudehnen, heute hingegen Integration als Konsequenz einer erfolgreichen, auf multilateraler Liberalisierung beruhenden Integration in den Weltmarkt verstanden wird. Diese Liberalisierung lässt die Distanzkostenvorteile des Handels zwischen benachbarten Ländern deutlich in den Vordergrund treten und fördert damit regionale Integration, die ihrerseits wiederum das Liberalisierungstempo über das hinaus erhöht, was mit multilateraler Liberalisierung allein möglich wäre (Ethier 1998, S. 1154); - Abkommen zwischen Industriestaaten bzw. integrationsbereiten Schwellenländern und Industriestaaten deutlich größere Erfolge im Sinne der Nachhaltigkeit und der Effektivität zu verzeichnen haben als Integrationsgemeinschaften zwischen Entwicklungsländern, da viele Integrationsgemeinschaften letzteren Typs sowohl ordnungspolitische Defizite als auch schlechtere ökonomische Voraussetzungen aufweisen; - die Frage, ob diese Gemeinschaften Wegbereiter oder Hemmnisse für eine multilaterale Handelsordnung sind, nicht eindeutig beantwortet werden kann; - sich nach der Vollendung der Europäischen Währungsunion und dem Glaubwürdigkeitsproblem der meisten lediglich auf der Liberalisierung des intraregionalen Güterhandels basierenden Gemeinschaften während der jüngsten Finanz- und Währungskrisen neue Fragen hinsichtlich der Sequenz zwischen monetärer und realwirtschaftlicher Integration stellen. In diesem Beitrag wird versucht, die in Langhammer und Wößmann (2002) identifizierten Erscheinungsformen regionaler Integration verschiedenen Konzepten zuzuordnen, deren Unterschiedlichkeit hauptsächlich durch Unterschiede in den politischen Zielsetzungen, dem institutionellen Reifegrad der einzelnen Länder sowie den ökonomischen Voraussetzungen bestimmt worden sind. Im Wesentlichen soll zwischen drei Konzepten unterschieden werden: dem so genannten ,top-down'-konstruktivistischen Stufenansatz, wie er von der EU verfolgt worden ist (Langhammer 2002), dann als Gegenpol einem minimalistischen ,Bottom-up'-Weg, der mit dem Stichwort offener Regionalismus umschrieben worden ist und in der Ostasiatischen Wirtschaftlichen Kooperation (APEC) zum Einsatz gekommen ist. Zwischen diesen beiden Extrempositionen wird schließlich ein Zwischenkonzept diskutiert, das im Folgenden als Menü-Ansatz verstanden wird. Dabei werden Elemente eines so genannten flachen Regionalismus (shallow regionalism), typischerweise verkörpert durch die Freihandelszone, verbunden
A Iternative Integrationskonzepte
251
mit Elementen der Harmonisierung von Politiken und der Faktorfreizügigkeit. Dieses Modell, das ein hohes Maß an Flexibilität hat, aber auch ordnungspolitische Beliebigkeit aufweist, ist das zur Zeit eindeutig präferierte Modell, da es in der Lage ist, Länder unterschiedlichen institutionellen Reifegrades (Nord-Süd-Integration) zu einer gemeinsamen handelspolitischen Selbstbindung zu veranlassen. Dieses Modell kann sowohl in den minimalistischen Ansatz zurückfallen als auch zum konstruktivistischen Ansatz aufsteigen.' Diese drei Konzeptionen sind nicht etwa statisch zu sehen, sondern beinhalten Prozesse und Stufen der Stagnation, des Rückschlags aber auch des Systemwandels. Es kommt daher entscheidend auf Implementierungsfragen an, die im 2. Teil nach einer kurzen Diskussion der allen Konzepten zugrunde liegenden politischen Zielsetzungen im Einzelnen diskutiert werden. 2 Alle Integrationskonzepte sind zudem bestimmten politisch gesetzten Nebenbedingungen unterworfen wie beispielsweise, dass ein Steuerwettbewerb nicht zu einem ,race to the bottom' fuhren darf, Zolleinnahmenverluste in Grenzen gehalten oder zwischenstaatlich kompensiert werden, und dass nationale vitale Interessen unangetastet bzw. die Kosten nationaler Industrialisierungsstrategien auf mehrere Schultern verteilt werden. Im 3. Teil werden die empirischen Befunde dieser drei Integrationskonzepte ebenso vorgestellt wie deren empirisch untermauerten Ursachen. Es wird ausgeführt, dass -
die Integration zwischen Industrieländern dann ein Erfolgsmodell 3 war, wenn Zielsetzungen über den ökonomischen Rahmen hinaus klar verfolgt wurden;
-
die Süd-Süd-Integration ein Misserfolgsmodell wegen schwacher Wirkungen, hoher Verteilungskonfliktanfälligkeit, institutioneller Labilität und schlechter natürlicher Voraussetzungen gewesen ist;
-
die Süd-Nord-Integration sich im labilen Gleichgewicht befindet, weil sie letztlich entweder in eine hochinstitutionalisierte Integration einmündet (EU-Mitgliedschaft der Reformstaaten) oder letztlich nur einen regionalen Deckmantel für eine grundsätzlich meistbegünstigende Handelspolitik darstellt.
2
3
Mit den Begriffen abfallen und aufsteigen sind keine Wertungen verbunden, sondern lediglich Aussagen über die Richtung der institutionellen Bindung. Die Implementierungsfragen lauten konkret: mit wem (optimale Größe von Gemeinschaften, Minimierung von Durchsetzungskosten), wie tief (welcher nationale Souveränitätsverlust rechtfertigt welches Ergebnis), wie breit (welche Politikbereiche über die Handelspolitik hinaus sollen erfasst werden), welche Integrationsform (Freihandelszone, Zollunion, Gemeinsamer Markt, Wirtschafts- und Währungsunion), welche Sequenz (einseitige oder multilaterale Liberalisierung zuerst, monetäre Integration vor realwirtschaftlicher Integration), welche Dosierung (Stufenansatz oder Schockansatz) und schließlich welches Monitoring (Selbstbindung oder peer review). Der Erfolg oder Misserfolg von Gemeinschaften lässt sich weder an engen Handelsindikatoren wie dem Anteil des intraregionalen Handels am Gesamthandel festmachen, da damit auch geschlossene, auf Handelsumlenkung basierende Modelle als Erfolg verbucht würden, noch am wirtschaftlichen Wachstum einzelner Mitglieder, da diesem Wachstum andere Ursachen zugrunde liegen könnten als Integration. Vielmehr wird der Erfolg darin dokumentiert, dass regionale Gemeinschaften über lange Zeit operativ blieben, Verteilungskonflikte bewältigten und attraktiv für Neumitglieder waren. Die institutionelle Stagnation bis hin zum Zerfall der Gemeinschaften steht daher für Misserfolg und lässt sich empirisch für jede Gemeinschaft belegen.
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Rolf J. Langhammer
Im 4. Teil sollen einige pragmatische Implikationen vorgestellt werden, die letztlich zu einer Flurbereinigung regionaler Integration führen. An dessen Ende dürfte ein bipolares Netz regionaler Gemeinschaften stehen, das von Europa bzw. von Nordamerika aus bestimmt wird. Es wird erwartet, dass sich diese Bipolarität auch in den Bereichen der Währungsintegration durchsetzen wird. 2. Theoretische Begründungen und Implementierungsfragen 2.1. Begründungen Als Hauptthese wird im Folgenden vertreten, dass alle Integrationsgemeinschaften letztlich politische Ziele zum Hintergrund haben (siehe auch World Bank 2000, S. 12 ff.). Wirtschaftliche Integration dient damit als Vehikel für politische Ziele, die sich im Folgenden auf drei Ebenen konzentrieren. 4 1. Gemeinsame Liberalisierung und die stärkere ökonomische Verflechtung von benachbarten Staaten sind Substitute für eine gemeinsame Sicherheitspolitik. Sichere Grenzen allein national zu garantieren, erfordert hohe ,sunk costs', da es technische Unteilbarkeit gibt. Dies bedeutet, dass die Kosten der Produktion von Sicherheit für das einzelne Land zu groß sind und dass damit Sicherheit, in größerem regionalen Kontext verstanden, ein internationales öffentliches Gut ist (siehe auch Fratianni und Pattison 1982, 2001). Durch regionale Vereinbarung kann man es zu einem Clubgut machen. Hier liegt allerdings die Problematik, dass ein Clubgut eine relativ geringe Anzahl und hohe Homogenität der Partner verlangt, um Trittbrettfahrer ausschließen zu können und die Durchsetzungskosten einer Vereinbarung in Grenzen zu halten. Mit zunehmender Reife und Durchsetzungskraft von Gemeinschaften und damit wachsender Attraktivität gegenüber potenziellen neuen Mitgliedern wandelt sich das Clubgut zu einem Netzwerkgut. Der Wert regionaler Abkommen steigt also mit steigender Mitgliedszahl, vorausgesetzt, dass die Gemeinschaft die Clubgutphase erfolgreich überstanden hat. Aber es gibt auch ein Endogenitätsproblem. Der Abschluss regionaler Integrationsabkommen oder die Einbeziehung neuer Mitglieder in eine bestehende Gemeinschaft kann neue Verteilungskonflikte generieren und zu neuen Konflikten führen. Der militärische Konflikt (so genannter ,Fußballkrieg') zwischen Honduras und El Salvador innerhalb des Zentralamerikanischen Gemeinsamen Marktes 1969 war ein Beispiel für einen derartigen Verteilungskonflikt, der ohne den vorherigen Effekt des Abkommens im Sinne handelumlenkender Effekte und größerer Disparitäten zwischen industrialisierten und weniger industrialisierten Mitgliedern nicht zu erklären gewesen wäre.5
4
Wirtschaftliche Einzelziele lassen sich für einzelne Staaten identifizieren, so der verbesserte Zugang zu den Märkten der Nachbarstaaten oder der Schutz vor Drittländerkonkurrenz. Die Gemeinschaften in toto aber haben ihre Ziele zumeist gegenüber Dritten in allgemeiner politischer Form verfolgt und sind somit über enge wirtschaftliche Ziele hinausgegangen.
5
Ahnliches lässt sich für den Konflikt zwischen Kenia und Tansania in der ostafrikanischen Gemeinschaft in den 1970er Jahren sagen. Siehe hierzu Langhammer und Hiemenz (1990, S. 29 ff. und S. 44 ff.).
Alternative Integrationskonzepte
253
2. Regionale Integration erhöht die Verhandlungsmacht gegenüber Dritten. Dies ist ein sehr altes Argument, das bereits in der Hochzeit der regionalen Integration in den 1960er Jahren vor allem in Lateinamerika diskutiert wurde (Kahnert u. a. 1969; Willmore 1974; Wilford 1970). Ökonomisch lässt sich dieses Argument auf die Frage konzentrieren, wie negative Terms-of-trade-Effekte für Partner großer Handelsblöcke verhindert werden können, die dadurch auftreten, dass Handelsblöcke mit ihrer Handelspolitik Partner dazu zwingen, ihre Exportpreise zu senken. 6 3. Ein politisches Ziel nationaler Entscheidungsträger kann es sein, dass die nationale Politik durch regionale Bindung diszipliniert wird (der so genannte ,Tying-hands'Effekt oder ,Lock-in'-Effekt). Dies kann im Übrigen auch das Ziel der Partner sein, wenn dominierende Handelspartner für diese Bindung gewonnen werden können. Alle drei politischen Ziele sind prinzipiell auch auf multilateraler Ebene möglich. Allerdings lässt sich das Reziprozitätserfordernis leichter auf der regionalen Ebene mit weniger und homogeneren Partnern durchsetzen. Im Gegensatz dazu leiden multilaterale Abkommen stärker unter Verwässerung und Kompromissbildung als regionale Abkommen. Insgesamt führen diese drei Ziele zu einem Imitations- bzw. Dominoeffekt: Erfolgreiche Integration trägt zur Bildung weiterer Gemeinschaften bei {Baldwin 1997). Die Politik der Bush-jr.-Administration, der EU in Sachen bilateraler Freihandelsabkommen nachzueifern, stützt diese These. 2.2.
Implementierungsfragen
Ausgehend von diesen politischen Zielen stellen sich konkrete Implementierungsfragen für die regionale Integration. 2.2.1. Mit wem sollen Abkommen über regionale Integration geschlossen werden? Wie erwähnt steigen die Durchsetzungskosten von Abmachungen mit zunehmender Mitgliedszahl. Die Gefahr, dass größere Partner Widerstand dagegen leisten, dass sie von einer Vielzahl kleinerer Partner dominiert und finanziell exzessiv in Anspruch genommen werden, ist ebenfalls virulent. In der Logik von Gravitätsmodellen, die unter anderem von Distanz-Variablen bestimmt werden, werden zunächst benachbarte Länder Abkommen schließen. Ausgehend von einem Kern von Ländern gruppieren sich um diesen Kern Länder mit abnehmender Austauschintensität und zunehmenden Distanz6
Bagwell und Staiger (2000) nennen bei der regionalen Integration den so genannten Marktmachteffekt als zweiten Effekt neben dem Handelsumlenkungseffekt, der bekannterweise die Richtung des Handels zu Lasten von Nichtmitgliedstaaten verschiebt. Streng genommen verlangt der Marktmachteffekt nach einer Zollunion, d. h. nach einer gemeinsamen Handelspolitik. Sollte sich allerdings in einer Freihandelszone ein Hegemon befinden, der diese Marktmacht innerhalb einer Gemeinschaft auch ohne eine gemeinsame Handelspolitik durchzusetzen vermag, da er die Partner kompensieren kann, so ist die Durchsetzung von Marktmacht nicht notwendigerweise an die Integrationsform der Zollunion gebunden. Auch hier gilt wieder, dass die Marktmacht zwar mit zunehmender Mitgliedszahl steigt, die Kosten der Disziplinierung von Außenseitern und damit der Durchsetzung aber ebenfalls, so dass zwischen Durchsetzungskosten und Marktmacht eine Optimierungslösung zu finden ist.
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Rolf J. Langhammer
kosten. An den Rändern einer derartigen Region stellt sich für die Grenzländer die Frage, ob sie nicht ökonomisch zu einer anderen Region gehören und innerhalb dieser mit den Partnern in einen institutionalisierten Austausch treten wollen. Wo die Ränder liegen, an denen zwei Regionen aufeinander treffen, lässt sich vor allem dann empirisch bestimmen, wenn politikinduzierte Barrieren vorher durch multilaterale Integration abgebaut worden sind und somit die reinen Distanzkosten als Barrieren sichtbar werden (.Ethier 1998). Dies ist im Wesentlichen das Argument des neuen Regionalismus, der die Sequenz ,multilaterale Liberalisierung zuerst', und .regionale Integration später' auch deswegen befürwortet, weil dann letztere nur das verstärken würde, was vorher schon durch die Marktkräfte aus der erstgenannten Strategie an regionalen Strukturen gebildet wurde. 7 2.2.2. Welche Tiefe soll der Integrationsprozess haben? Die Skala der Optionen bei der Tiefe der Integration reicht von bloßer Koordinierung über Harmonisierung bis hin zur totalen Vergemeinschaftung und der Übertragung der Kompetenzen an eine supranationale Institution. In der Regel wird diese Skala stufenweise durchschritten und von der Zeitpräferenz der Entscheidungsträger bzw. von der Zeitkonsistenz der Maßnahmen (d. h. der Glaubwürdigkeit von Ankündigungen und Regelbindung) abhängig gemacht. Je höher die Zeitpräferenz ist, und j e geringer die Regelbindung der Politik ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Integrationsprozess flach bleibt und dass ein Stufenansatz wie in der Europäischen Union nicht durchgehalten wird. Im Kembereich der Handelspolitik können auch auf einer Stufe unterschiedliche Integrationstiefen erreicht werden. So behält beispielsweise die Türkei auch nach Bildung der Zollunion mit der Europäischen Union die Verantwortlichkeit für ihre Handelspolitik im Rahmen der WTO, während die Zollunion der EU eine vollständige Vergemeinschaftung und Übertragung der Verhandlungsrechte an die Kommission bedeutet. Aus dieser Diskussion lässt sich bereits unschwer erkennen, dass die Tiefe des Integrationsprozesses bei der Süd-Süd-Integration deutlich niedriger ist als bei der NordNord-Integration, ohne dass dies notwendigerweise eine Aussage über den tatsächlichen Integrationsgrad der Volkswirtschaften beinhaltet. So ist beispielsweise der Stand der Integration im frankophonen Westafrika wegen de facto offener Grenzen, einer Währungsunion und hoher Faktormobilität auch beim Faktor Arbeit deutlich höher als der de jure Integrationsstand, der durch schwache und zeitlich inkonsistente Politiken und ihre Träger und damit einhergehend hohe Zeitpräferenzraten beeinflusst wird. 2.2.3. Wie breit sollte der Integrationsprozess angelegt sein? Eine Antwort auf diese Frage ist ganz entscheidend von der Reife nationaler Institutionen und ihrer Reputation bzw. Durchsetzbarkeit abhängig. Die Zollunion kann bei7
In der Empirie hat sich hier die hierarchische Clusteranalyse als Instrument zur ökonomischen Bestimmung von Regionen bewährt, die ausgehend von Länderpaaren sehr intensiver Handelsbeziehungen um diese Kernpaare herum, mit abnehmender Intensität, weitere Paare von Handelsbeziehungen gruppiert (so genannte Dendogramme für funktionale Regionen). Siehe hierzu auch Amelung (1992) am Beispiel Ostasiens und Piazolo (2000, S. 45 ff.) am Beispiel der Beziehungen zwischen Mittel- und Osteuropa und der EU.
Alternative Integrationskonzepte
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spielsweise nicht einfach vom Güterbereich auf den Dienstleistungsbereich ausgeweitet werden, weil die Barrieren beim Dienstleistungsangebot gegenüber Nichtmitgliedem entscheidend von internen nationalen Politiken und nicht von Grenzbarrieren bestimmt werden. Zudem ist für die Erbringung bestimmter Dienstleistungen die Niederlassungsfreiheit von Unternehmen innerhalb eines Integrationsraums erforderlich, so dass ohne Kapitalfreizügigkeit und Niederlassungsfreiheit bestimmte Dienstleistungen gar nicht frei innerhalb eines Integrationsraums gehandelt werden können. Bei der über die Zollunion hinausgehenden Frage der Freizügigkeit von Produktionsfaktoren bzw. der Harmonisierung nationaler Maßnahmen stellt sich die Frage der Reife des nationalen Institutionenrahmens in besonderer Dringlichkeit. Tiefe und Breite des Integrationsprozesses reflektieren letztlich die institutionelle Reife der einzelnen Mitglieder. Je fortgeschrittener der Integrationsprozess, desto mehr dürfte das ,Grenz'mitglied mit der niedrigsten institutionellen Reife das Tempo der vertieften Integration bestimmen beziehungsweise verlangsamen. Nur in rudimentären Gemeinschaften mit geringem Bindungsgrad von gemeinschaftlichen Entscheidungen spielt die institutionelle Reife von Mitgliedern eine geringe Rolle. 2.2.4. Welche Integrationsform soll verwirklicht werden? Ausgangspunkt dieser Frage ist der Stufenansatz der Europäischen Union, über die Freihandelszone und die Zollunion, den Gemeinsamen Markt zur Wirtschafts- und Währungsunion zu kommen. Gemeinschaften mit hoher Heterogenität der nationalen Außenwirtschaftspolitiken und geringem intraregionalen Handel können diesen Prozess ganz bewusst auf die flache Integrationsstufe der Freihandelszone beschränken und gleichzeitig Elemente des Gemeinsamen Marktes, d. h. der Faktorfreizügigkeit hinzufügen. Der entscheidende Schritt zur vertieften Integration wird mit der Zollunion beschritten, der in der Realität aufgrund der Anforderungen an Homogenität und Institutionenreife auf nationaler Ebene zahlenmäßig weit hinter der Integrationsstufe der Freihandelszone zurückgeblieben ist (Langhammer und Wößmann 2002). Die Integrationsform dürfte von der Entscheidung über Breite und Tiefe des Integrationsprozesses her bestimmt sein und ist daher ein abgeleiteter und keine autonomer Implementierungsfaktor. 2.2.5. In welche Politiksequenz soll die regionale Integration eingebettet sein? Über mehrere Jahrzehnte dominierte der Ansatz der exogenen regionalen Integration, der unabhängig und daher parallel zur multilateralen Integration verlief. Auch dominierte die Liberalisierung der Leistungsbilanztransaktionen eindeutig vor der monetären Integration. Wie bereits oben ausgeführt, sieht der so genannte neue Regionalismus eine erfolgversprechende regionale Integration nur bei vorheriger multilateraler Liberalisierung, um einerseits die bekannt negativen Syndrome regionaler Importsubstitutionspolitik wie in Lateinamerika in den 1960er Jahren zu vermeiden und andererseits das Potenzial eines regionalen Handels ohne Diskriminierung von Drittländern voll ausschöpfen zu können. Dabei ist diese in der Literatur sehr scharf gezeichnete Zäsur zwischen dem alten und dem neuen Regionalismus meines Erachtens überzogen, da auch die Gemeinschaften, die aus den 1960er Jahren stammen, nur dadurch Nachhaltigkeit in die 1990er Jahre hinüberretten konnten, dass sie parallel zum regionalen Integrationspfad
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auch multilateral liberalisierten. Anderenfalls hätten nennenswerte Handelsumlenkungseffekte nicht nur Wohlfahrtseinbußen mit sich gebracht und Verteilungskonflikte vor dem Hintergrund einer schwachen Wachstumsdynamik ausgelöst, sondern auch zu emsthaften Handelskonflikten mit anderen Industriestaaten gefuhrt. Nach 1997 hat die Asienkrise den wahren Nennwert einer vorher vielfach gerühmten Integrationsgemeinschaft wie A S E A N deutlich gemacht. Spekulative Attacken auf die Währung eines Mitglieds wurden nicht etwa dadurch erschwert, dass es durchsetzbare Beistandsverpflichtungen beziehungsweise glaubhafte Beistandszusagen der anderen Mitglieder gab. Angesichts der Größenordnungen der Attacken und der Schwäche der Nachbarstaaten hätten derartige Verklammerungen auch nie die Qualität der impliziten Unterstützung gehabt, die Frankreichs Zentralbank Anfang der 1990er Jahre durch die Bundesbank erhielt, als vorübergehend der Druck auf die enge Wechselkursbindung des französischen Franc an die D M zunahm. Diese ernüchternde Erkenntnis hat in Ostasien Anlass zu der Frage gegeben, ob realwirtschaftliche Integration, d. h. die Liberalisierung der Leistungsbilanztransaktionen, Schutz vor finanz- und währungspolitischen Krisen bzw. Ansteckungen bieten kann oder ob unter Umständen eine monetäre Integration auf regionaler Ebene auch dann Erfolg haben kann, wenn die realwirtschaftliche Integration über Freihandelszonen und Zollunion nicht fortgeschritten ist (Bird und Rajan 2002). Bei einer Antwort auf diese Frage ist zu berücksichtigen, ob die traditionellen Ansteckungseffekte über die Leistungsbilanz (Preis- und Einkommenseffekte) regional Bedeutung haben oder ob es andere Übertragungsmechanismen von nationalen Finanz- und Währungskrisen beispielsweise über Vermögenswertanpassungen und gleichgerichteten Bewegungen von Portfolioinvestitionen gibt. Ohne ein Mindestmaß an realwirtschaftlicher Verflechtung (sei sie nun über Integration institutionell abgesichert oder lediglich marktwirtschaftlich durch das intraregionale Handelsvolumen bestimmt), dürfte monetäre Integration kaum erfolgversprechend sein. Die Opportunitätskosten der Bindung der nationalen Zentralbanken an gemeinsame Interventionsregeln oder gemeinsame Währungskörbe dürften bei geringer realwirtschaftlicher Verflechtung hoch sein und damit als ein unangemessen hoher Eingriff in die nationale Souveränität erscheinen. Zudem deutet eine geringe Handelsverflechtung eher auf die Gefahr asymmetrischer exogener Schocks hin als eine hohe Handelsverflechtung. Bei der Finanzierung von Stand-by-Kreditlinien wiederum tritt dann das Problem der fairen Lastenverteilung auf, wenn die realwirtschaftlichen Bindungen untereinander gering sind und somit die Kosten der Nichteinhaltung von Abmachungen niedrig sind. Es ist dann möglich, dass das Land, das Beistand leisten muss, diese Rollenverteilung als dauerhaft ansieht und sich daher von ihr befreien möchte.
2.2.6. In welcher Dosierung sollte Integration erfolgen? Hier stellt sich die Frage nach der Übertragbarkeit entweder des europäischen Stufenansatzes, der eine hohe Glaubwürdigkeit und Regelkonstanz der nationalen Politiken voraussetzt, oder eines Schockansatzes, der diese mangelnde Glaubwürdigkeit als Datum akzeptiert und daher erst gar nicht ex ante einen Zeitrahmen für bestimmte Stufen der Integration setzt. Angesichts der Schwierigkeiten, die viele Integrationsgemeinschaften (auch die Europäische Union in Teilen ihrer Geschichte) mit einem Stufenan-
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satz hatten, spricht einiges für die Bündelung verschiedener Politikmaßnahmen am Anfang des Integrationsprozesses, um die Kosten eines Bruchs von Vereinbarungen hoch zu halten. Dazu gehören Maßnahmen, die Faktorfreizügigkeit mit Handelsliberalisierung koppeln. Ein derartiger Schockansatz ist aber dann unglaubwürdig, wenn er bereits bei der Umsetzung nationaler Politiken gescheitert ist. Was auf nationaler Ebene nicht durchgesetzt werden konnte, erscheint auf der mit höheren Kompromiss- und Durchsetzungskosten belasteten regionalen Ebene noch viel weniger aussichtsreich. 2.2.7. Selbstevaluierung oder ,peer review'? Nur wenige Integrationsgemeinschaften haben sich bislang einem externen Evaluierungsprozess ausgesetzt. Hierin liegt eine große Schwäche der WTO, weil sie bislang zu keinem abschließenden Urteil bei der Prüfung von Integrationsgemeinschaften auf ihre Vereinbarkeit mit multilateral gesetzten Regeln gekommen ist. In der Zeit des GATT kamen Arbeitsgruppen, die zur Prüfung von Integrationsgemeinschaften auf Art. XXIVVerträglichkeit eingesetzt wurden, zu keinen abschließenden Ergebnissen. Dies galt auch für die Europäische Gemeinschaft. Eine Selbstprüfung, wie sie später in der Europäischen Union durch die so genannten Fortschrittsberichte vollzogen wurde, läuft aber Gefahr, die Integrationsvertiefung als Ziel per se anzugehen und die Effekte für Drittländer zu vernachlässigen. Deshalb bleibt die externe Überprüfung regionaler Integrationsgemeinschaften durch die WTO ein Desideratum. Eine von asiatischer Seite innerhalb der APEC angeregte ,peer review' setzt ausschließlich auf die disziplinierende Wirkung von Vorbildern innerhalb der Region und hat sich bei der APEC im Laufe der 1990er Jahre als stumpfe Waffe erwiesen (Langhammer 1999). Nicht umsonst entzieht sich daher auch die APEC einer externen Überprüfung. Dies ist leicht möglich, da sie bei der WTO als regionale Institution in Anlehnung an Artikel XXIV GATT gar nicht notifiziert ist. Alle regionalen Implementierungsfragen stehen bei den Süd-Süd-Integrationsgemeinschaften unter dem Vorbehalt der Sicherung der nationalen Besteuerungsbasis. Bei hoher Zeitpräferenz oder rigiden Produktionsstrukturen ist es möglich, dass die dynamischen Wachstumseffekte eines größeren Marktes auf sich warten lassen und stattdessen die statischen Handelseffekte dominieren. Dann stellt sich beispielsweise bei vertiefter Integration die Frage, ob das Ursprungslandprinzip bei der Vereinheitlichung von Verbrauchssteuern angewandt werden soll. Dieses Ursprungsprinzip basiert auf einem Wettbewerb zwischen nationalen Steuersätzen und könnte theoretisch zu einem ,race to the bottom' fuhren, wenn die Zahlungsbereitschaft für öffentliche Güter nicht ermittelt werden kann. Mitglieder mit hohen Verbrauchssteuersätzen furchten diesen Wettbewerb. Bei flacher Integration hingegen geht es speziell in Gemeinschaften zwischen Entwicklungsländern um das Ingrenzenhalten von Zolleinnahmenverlusten aus der Handelsumlenkung bzw. um die Kompensationsansprüche an die von der Handelsumlenkung profitierenden Mitgliedsländer. Treten hier Probleme auf wie in der Vergangenheit zwischen afrikanischen Ländern bzw. in Lateinamerika, sind Verteilungskonflikte nicht auszuschließen, die dann schnell zu Desintegrationsmaßnahmen führen können. Eine weitere Nebenbedingung sehen viele Integrationsverträge in der Sperrminorität einzelner Länder bei Projekten oder Sektoren von nationalem Interesse vor. Davon
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ist auch die Europäische Gemeinschaft, wie die Diskussion um die gemeinsame Agrarmarktpolitik zeigt, nicht auszunehmen. Noch viel stärker haben diese nationalen Interessen Integrationsgemeinschaften zwischen Entwicklungsländern beschäftigt. Theoretisch sind sie im so genannten Johnson-Cooper-Massell-Modell anzusiedeln, das die Senkung der Kosten nationaler Industrialisierung als Motiv für die Bildung von Integrationsgemeinschaften ansieht {Bhagwati, Greenaway und Panagariya 1998). 3. Empirische Befunde und Ursachen 3.1. Befunde a. Als Erfolgsmodell gilt nach 30 Jahren Erfahrung mit regionaler Integration die vertiefte Integration zwischen den fortgeschrittenen europäischen Industriestaaten mit reifen institutionellen Strukturen, relativ hoher Homogenität, ähnlicher Außenwirtschaftspolitik und dem Vorhandensein politischer Ziele. Auf dieser Basis konnte ein ,Top-down'-Ansatz institutionalisierter Integration mit Selbstkontrolle und Ex-anteBindung an verschiedene Stufenziele durchgesetzt werden. Dafür gibt es in der jüngeren Wirtschaftsgeschichte aber nur den europäischen Integrationsprozess als Beispiel. Dieser Prozess verlangt, um nachhaltig zu sein, die treibende Kraft wirtschaftlicher Hegemone, die bereit sind, Mitglieder zu kompensieren, wenn weitere Integrationsstufen kurzfristige Verluste beinhalten. Er verlangt aber auch, dass fortgeschrittene wirtschaftliche Integration und rudimentäre politische Integration nicht zu weit auseinander driften. Nur das Ziel der allmählichen politischen Integration kann letztlich in den fortgeschrittenen Integrationsstufen des Gemeinsamen Marktes den Prozess zu gemeinschaftlichen Politiken weitertragen. Dieses Modell kann aber auch Opfer seines eigenen Erfolges werden, wenn neue heterogenere Partner aufgenommen werden und die Kosten der Bildung und Durchsetzung von Kompromissen a) Ressourcen absorbieren und b) die Innovationskraft und damit die Allokationseffizienz der Gemeinschaft behindern. Eine Integrationsgemeinschaft, deren Gemeinschaftspolitiken letztlich nur noch verteilungspolitischen Zielen dienen und die diese Ziele auch zu Lasten Dritter verwirklicht, fällt im Wachstumsprozess zurück. Sie kann zudem, wenn sie Verteilungskonflikte auf dem Rücken von Dritten austrägt, mit den Regeln der multilateralen Handelsordnung kollidieren und Vergeltungsmaßnahmen auslösen. b. Verglichen mit der Nord-Nord-Integration bleibt die Süd-Süd-Integration zwischen Entwicklungsländern ein Misserfolgsmodell. Sie leidet unter Geringfügigkeit der Wirkungen, immanenten Verteilungskonflikten, institutionaler Labilität und schlechten infrastrukturellen Voraussetzungen. Sie beeindruckt niemanden, verfehlt also sowohl das Ziel verbesserter Verhandlungsmacht als auch das Ziel, die Akteure auf Finanzmärkten von Attacken gegen einzelne Mitglieder abzuhalten. Das Problem der Süd-Süd-Integration liegt nicht allein in der ungeeigneten Imitation des europäischen Integrationsansatzes. Vielmehr würden viele Integrationsgemeinschaften zwischen Entwicklungsländern auch an einem weniger anspruchsvollen Ansatz scheitern, weil die Kosten der Verletzung von Regeln wegen der schwachen wirtschaftlichen Vernetzung zu gering sind. Es sollte auch nicht übersehen werden, dass der ,Top-down'-Ansatz der Europäischen Union in einer Prinzipal-Agent-Sicht eine
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Eigendynamik der Bürokratisierung in sich trägt, die im Interesse des Agenten liegt und aus dem Informationsnachteil des Prinzipals heraus begründet werden kann. Die Vertreter der Nationalstaaten als Prinzipal wiederum können die Gemeinschaften für ihre eigenen Ziele instrumentalisieren, indem sie Politiken, mit denen sie vom Wähler nicht in Verbindung gebracht werden wollen, weil dies ihre Wiederwahl gefährden könnte, auf die supranationale Ebene delegieren. So erscheint dann beispielsweise .Brüssel' als Synonym für Bürgerferne, Anonymität und ,kalter' Paragraphenpolitik, die nationale Ebene hingegen als Hort sozialen Verständnisses und Bürgernähe. In vielen Integrationsgemeinschaften in Entwicklungsländern, vor allem in den mit Europa eng verbundenen afrikanischen Ländern, hat sich diese Bürokratisierung sogar auf niedrigen Einkommensebenen durchgesetzt, ohne dass nachhaltige Liberalisierungserfolge erzielt werden konnten. Es hat sogar den Anschein, dass Gemeinschaften eine Bürokratie pflegten, um von außen Reputation und Ressourcen zu attrahieren und nach innen den Liberalisierungsprozess durch zahlreiche Sonderregeln lahm zu legen. c. Diesen beiden Extremfällen steht die flexible Nord-Süd 8 -Integration gegenüber, die keine Anstrengungen macht, im Handelsbereich über die Freihandelszone hinweg zu gehen und in der Frage der Freizügigkeit es bei der Freiheit des Kapitalverkehrs und der Niederlassungsfreiheit belässt. Es ist allerdings aus längerer Sicht fraglich, ob das ,Andocken' ärmerer Länder an einen bewährten Institutionenrahmen, sei er national oder bereits regional bestimmt, nachhaltig ist oder ob nicht damit ein Maß an Heterogenität erreicht wird, das den Integrationsprozess insgesamt behindert. So stehen die beiden Beispiele für Nord-Süd-Integration, die NAFTA und die Osterweiterung der EU, unter dem Zwang, entweder die vertiefte Integration anzustreben und umzusetzen oder letztlich das erreichte Integrationsniveau zu fixieren und sich ansonsten auf die multilaterale Ebene zu konzentrieren. Konkret wird auf dieses Integrationskonzept der Anspruch zukommen, die Faktorfreizügigkeit auch auf Personen auszudehnen, um a) die Gleichbehandlung mit der Kapitalfreizügigkeit herzustellen und b) personenbezogene Dienstleistungen liberalisieren zu können. In dem Maße, wie Migrationskosten als Folge des realwirtschaftlichen Integrationsprozesses oder der Freizügigkeit des Kapitalverkehrs abnehmen, wird der Druck auf die Staaten größer, den Gemeinsamen Markt für alle Produktionsfaktoren zu vollenden. Die Zollunion als Vorstufe erscheint dafür nicht unbedingt erforderlich. d. Unabhängig von der nach dem Einkommensniveau bzw. Niveauunterschieden gewählten Unterscheidung von Integrationsformen nach Nord-Nord, Süd-Süd und Nord-Süd lässt sich der ,Top-down'-Ansatz vertiefter Integration mit der minimalistischen Variante kontrastieren, die auch keine Faktorfreizügigkeit anstrebt, sondern sich auf die Güterhandelsliberalisierung beschränkt. In ihrer alten Ausprägung (EFTA) blieb sie wirkungslos und damit auch konfliktfrei, weil der Handel nur in den Bereichen liberalisiert wurde, in denen homogene nationale Politiken bestanden (Industriegüter aber nicht Landwirtschaft), und das gemeinsame Intrahandelsvolumen der EFTA immer hinter dem des Handels mit der Europäischen Gemeinschaft 8
Unter dem Begriff .Süden' werden hier auch Transformationsländer verstanden.
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zurück blieb. Die asiatische Variante des Minimalismus, nämlich die APEC, hat diesen Härtetest der EFTA, nämlich den Handel in einem bestimmten Bereich intraregional zu liberalisieren, noch gar nicht bestanden. Somit kann kein Urteil über das gefällt werden, was man als konzertierte regionale Form der Meistbegünstigung bezeichnen könnte. Die politikökonomisch begründete Schwäche der Süd-Süd-Integration kann durch eine außenhandelstheoretische Analyse aus der Heckscher-Ohlin-Samuelson-'Well ergänzt werden. Danach tendiert eine Süd-Süd-Integration zur Einkommensdivergenz zwischen den Mitgliedern, weil sich das ärmste Land mit seinem nach der Faktorausstattung begründeten komparativen Vorteil, Produkte mit hoher Intensität ungelernter Arbeit zu erstellen, am äußersten Ende der Skala von Faktorausstattungen befindet. Innerhalb der Süd-Süd-Integration kann es zwar zum (nach der Faktorausstattung) nächst höherrangigen Partner exportieren. Aber nur für diesen Partner ist dies ein Gewinn, weil er von dem im Weltmaßstab kostengünstigsten Partner importiert, während das ärmste Land Güter von diesem Partner importiert, die es ohne Integration sonst kostengünstiger vom Weltmarkt bezogen hätte (Handelsumlenkung). Das am untersten Ende der Skala liegende Land , leidet' also unter Handelsumlenkung, das nächst höherrangig gelegene Land .profitiert' von Handelsschaffung, weil es zwischen ganz reich und ganz arm liegt. Am obersten Ende der Ausstattungsskala zeigt sich das genau umgekehrte Bild. Das Land mit der relativ fortgeschrittensten Faktorausstattung (hochqualifizierte Arbeit relativ zu ungelernter Arbeit) wird von Handelsumlenkung betroffen, während das nächst niederrangige Land von Handelsschaffung profitiert. Bei der Nord-Nord-Integration gibt es daher Einkommenskonvergenz. Nord-SüdIntegration, das ein Land aus der oberen Einkommenshälfte und ein Land aus der unteren Einkommenshälfte vereint, lässt folgerichtig beide Partner gewinnen und erscheint daher besonders gut wohlfahrtstheoretisch begründet {Venables 2000). 3.2. Ursachen Wichtig für ein Urteil über die Gründe für Volatilität und Labilität vieler Integrationsgemeinschaften sind die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, denen die einzelnen Mitglieder unterliegen. a. Bei gleicher Integrationsform in Tiefe und Breite ist die Zeitpräferenz der politischen Entwicklungsträger bei der Süd-Süd-Integration deutlich höher als bei der Nord-Nord-Integration. Konkret heißt dies, dass in der Süd-Süd-Integration nicht darauf gewartet wird, bis sich Märkte allmählich an neue Rahmenbedingungen anpassen, sondern stattdessen rasch ein Marktversagen behauptet wird, auf das mit Politikintervention reagiert werden sollte.9 Dies fordert politikbedingte Volatilitäten und Rückschritte bei der Integration zwischen Entwicklungsländern, wenn ge9
Arndt (1988, S. 227 f.) sieht in der Ungeduld des Wartens auf eine rasche Marktanpassung einen Ausgangspunkt für die Wahrscheinlichkeit von Marktversagen in „The likelihood of market failure therefore is a function of the degree of urgency - or impatience - attached to a particular change. The prima facie-case for government action to promote development in underdeveloped countries largely rests on the belief that what is needed is rapid development...".
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wünschte Ergebnisse sich nicht rasch einstellen. Dadurch wird auch die Zeitkonsistenz der regionalen Politiken gefährdet. Volatilität ist in diesem Zusammenhang so zu verstehen, dass getroffene Vereinbarungen zurückgenommen werden. Im besten Falle werden Liberalisierungsfahrpläne .geschoben' oder eingefroren, im schlimmsten Falle werden Binnenzollsurrogate eingeführt. Alle regionalen Integrationsgemeinschaften, die entweder de jure gescheitert oder de facto stagnierten, haben es versäumt, entweder vorher oder parallel zur regionalen Integration multilateral zu liberalisieren. Von daher hat der neue Regionalismus ein starkes Argument zugunsten der oben diskutierten Sequenz vorgebracht. Integration ist aber nicht dahingehend endogen, dass sie für sich genommen aus einer Summe inkonsistenter nationaler Politiken eine konsistente Gemeinschaftspolitik bilden kann. Vielmehr gibt es wahrscheinlich eine Art Endogenität beim Menüansatz dergestalt, dass regionale Integration es den Staaten an der Peripherie erlaubt, größere Liberalisierungsanstrengungen auf multilateraler Ebene zu unternehmen, und dies wiederum die regionale Integration fördert. In diesem Sinne ist eine funktionierende regionale Integration bestenfalls als Versicherung gegen globalisierungsbedingte Risiken im Handel zu verstehen, nicht jedoch im kurzfristigen Kapitalverkehr. b. Inkompatible nationale Makropolitiken (Wechselkursregime) gefährden regionale Integration, weil sie die Transaktionskosten des Handels (trading costs) erhöhen. Das Musterbeispiel dafür ist der Rückschritt im MERCOSUR (Baer u. a. 2002; Giordano 2002). Diese Frage könnte auch im Nord-Nord-Kontext virulent werden, wenn beispielsweise das Vereinigte Königreich zu rasch der Europäischen Währungsunion beitreten sollte. Je vertiefter die Integration, desto wichtiger dürfte dieser Zusammenhang zwischen Handels- und Makropolitik sein. Der Clubgut-Charakter regionaler Integration wird mit am stärksten durch inkompatible Makropolitiken gefährdet. c. Süd-Süd-Integration leidet abgesehen von rudimentären und krisenanfälligen institutionellen Strukturen vor allem unter ungünstigen natürlichen Voraussetzungen wie Marktferne (Binnenländer), sowie dualistischen Produktionsstrukturen. Wie nachteilig Marktferne für den Süd-Süd-Handel ist, zeigen Limao und Venables (2000) sowie Coulibaly (2002) mit gravitätsanalytischen Ansätzen. Die aus dem Heckscher-OhlinSamuelson-ModeW abgeleiteten Überlegungen von Venables (2000) weisen zudem darauf hin, dass Süd-Süd-Integration Einkommensdivergenzen begünstigt und somit inhärent anfällig gegenüber Verteilungskonflikten ist. Hinzu kommen regionale Disparitäten als Folge von Agglomerationserscheinungen in der Süd-Süd-Integration. 4. Pragmatische Implikationen Sowohl aus den theoretischen Überlegungen wie aus den empirischen Befunden heraus lassen sich einige Thesen formulieren, die die Veränderungen betreffen, denen regionale Integrationsgemeinschaften in Zukunft gegenüber stehen können. 1. Die Zahl der operativen und damit relevanten Integrationsgemeinschaften wird in den nächsten Jahren zurückgehen. Diese These speist sich aus mehreren Überlegungen. Erstens gehen kleinere Gemeinschaften in größeren auf. Dieser Prozess ist am stärksten in Lateinamerika sichtbar, wo eine gesamtamerikanische Freihandelszone sowohl MERCOSUR als auch den
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Andenpakt oder die zentralamerikanischen bzw. karibischen Gemeinschaften ersetzen würde. Überlappende Mitgliedschaften gibt es auch in Afrika südlich der Sahara. Hier könnte eine panafrikanische Freihandelszone mit Europa als Nachfolgemodell der lome-Konventionen die vielen oft nur auf dem Papier existierenden Gemeinschaften obsolet machen. Sowohl in Lateinamerika wie auch in Afrika würden also Nord-Süd-Integrationen unter der Führung der USA beziehungsweise der EU die Süd-Süd-Integrationen verdrängen. Ein ähnlicher Prozess der Flurbereinigung ist für Europa zu erwarten, wo die Zentraleuropäische Freihandelszone, die aus Beitrittskandidaten besteht, nach dem Beitritt der mittel- und osteuropäischen Länder mit der EU verschmolzen werden wird. Zweitens sind für die Weiterentwicklung von Gemeinschaften Hegemone notwendig, die Mitglieder für vorübergehende Einbußen kompensieren, da sie aus den Gemeinschaften einen größeren Nutzen ziehen als andere Mitglieder. Diese Hegemone sind in den vielen kleinen Gemeinschaften nicht (mehr) vorhanden, unter anderem auch deshalb, weil sich für die relativ führenden Staaten innerhalb von Integrationsgemeinschaften nach erfolgter Strukturanpassung die Vorteile der Integration in Weltmärkte lohnender erwiesen als die Intensivierung regionaler Handelsbeziehungen. Drittens erweist sich das ,Collective-bargainingpower'-Argument für kleine Gemeinschaften angesichts der beiden dominierenden Gemeinschaften NAFTA und EU als hinfällig.10 2. Regionale Integration wird angesichts sinkender Meistbegünstigungszölle ihre Impulse nicht mehr aus dem Ziel der Begünstigung von Vertragspartnern und damit aus dem Handelsumlenkungsziel ziehen können, sondern aus der Faktorfreizügigkeit, der Regelharmonisierung und der mit beiden zusammenhängenden Liberalisierung des Dienstleistungshandels. Diese These gewinnt ihr Gewicht aus der bereits abzusehenden Entwicklung. Kapitalfreizügigkeit und Regelharmonisierung sind heute bereits wichtigere Elemente von Freihandelszonen als die Beseitigung der tarifären Hemmnisse im Intra-Handel. Letztere sind mit Ausnahme der ärmsten Länder bereits durch einseitige Maßnahmen auf ein derartiges Niveau gesunken, dass die trading costs viel stärker durch unterschiedliche nationale Standards oder Wechselkursänderungen bestimmt werden als durch die Zölle. Unterschiedliche nationale Standards aber lassen sich durch Regelharmonisierung beseitigen, sei es durch die Ex-ante-Harmonisierung oder die Expost-Angleichung nationaler Standards durch gegenseitige Anerkennung. 3. Erfolg oder Misserfolg regionaler Integration wird zukünftig durch die Frage der Kompatibilität der nationalen monetären Stabilisierungspolitiken bestimmt werden. Sind nationale Wechselkursregime beispielsweise so divergent, dass sie über Preisund Einkommenseffekte negative Ansteckungseffekte auf die Nachbarmärkte ausstrahlen, ist die Gefahr gegeben, dass Binnenzollsurrogate eingeführt werden und die handelspolitische Integration zurückwerfen. Das Beispiel des MERCOSUR ist von Baer u. a. (2002) ausfuhrlich gewürdigt worden. Dies bedeutet, dass zukünftig auch von potenziellen Partnern geprüft werden wird, ob die traditionelle Sequenz realwirt10
Das ,Collective-bargaining-power'-Argument hat sich in wenigen empirischen Überprüfungen bereits in der Vergangenheit als wenig tragfähig erwiesen. Siehe beispielsweise Langhammer (1985).
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schaftliche Integration zuerst und monetäre Integration später noch uneingeschränkt übernommen werden kann. In den asiatischen Ländern, die kaum Erfahrungen bislang mit regionaler Integration hatten, wird die monetäre Integration nach der AsienKrise mehr Aufmerksamkeit erlangen. 4. Der Unterschied zwischen regionaler Kooperation und regionaler Integration, der viele Jahre lang unbeachtet blieb, wird mit fortschreitender multilateraler Liberalisierung bedeutsam werden. Diese These sagt aus, dass sich die Nachfrage nach gemeinsamen regionalen Strategien durchaus von der .negativen' Kooperation, der Abschaffung von Hemmnissen, auf die ,positive' Ebene gemeinsamer Projekte und Politiken gegenüber Dritten verschieben kann. Derartige so genannte punktuelle Kooperation erscheint weniger bindend und flexibler als der Weg über die vier Integrationsstufen. Dies dürfte vor allem in Nordostasien (Japan, China, die beiden Koreas) wichtig sein, wo hohe Länderheterogenität und politische Rivalitäten den leichten Weg zu Freihandelszonen versperren (Langhammer 2001). Zu derartigen Kooperationsprojekten dürften vor allem diejenigen gehören, die negative grenzüberschreitende Effekte verhindern und positive Skalenerträge besitzen. Derartige Projekte können durchaus auch Elemente regionaler Integration (beispielsweise Harmonisierung von Außenhandelsregeln) beinhalten und dennoch weit unterhalb des formalen Kriteriums einer Freihandelszone bleiben. APEC dürfte hierfür Beispiele bieten. 5. Regionale Integration wird zukünftig Gegenstand von Streitschlichtungen im wesentlichen zwischen den USA und der Europäischen Union innerhalb der WTO werden. Die Begründung für diese These leitet sich aus der eindeutigen Kehrtwende der amerikanischen Handelspolitik Ende der 1990er Jahre weg vom multilateralen und hin zum regionalen bzw. bilateralen Weg ab. Wird die gesamtamerikanische Freihandelszone verwirklicht, ist es sehr wahrscheinlich, dass die EU ihre relativen Zugangsbedingungen zu dieser Zone daraufhin überprüfen wird, ob die Zone konform mit den Vorschriften des Art. XXIV GATT ist, d. h Nichtmitglieder nicht schlechter stellt als zuvor. Bei der Prüfung dieser Frage werden aber auch die Vorteile nicht unberücksichtigt bleiben, die die EU aus einem größeren Markt mit einer erhofften stärkeren Wachstumsdynamik zu ziehen hofft." Sollte die WTO unabhängig von der Verwirklichung der gesamtamerikanischen Freihandelszone die Regeldisziplin über regionale Integration verschärfen können, werden sowohl die USA und die EU als die fast immer direkt oder indirekt Beteiligten ihre permissive Haltung gegenüber Art. XXIV GATT revidieren müssen. 6. Regionale Integration kann da Vorbildcharakter für multilaterale Integration haben, wo die Ungleichbehandlung von heimischen und ausländischen Anbietern nicht durch Grenzabgaben, sondern durch heimische Regelwerke konstituiert wird, die indirekt ausländische Anbieter diskriminieren. Hier ist in erster Linie an den Dienstleistungshandel zu denken, den das GATS anders (und weitaus weniger eindeutig) zu liberalisieren anstrebt als das GATT bei Gütern. Sowohl die EU als auch NAFTA scheinen hier einfachere und wirkungsvol" Siehe zu diesem möglichen Konflikt zwischen der EU und den USA auf dem lateinamerikanischen Markt auch Schott und Oegg (2001).
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lere Instrumente zur Marktöffnung zu besitzen als die WTO. Dies mag daran liegen, dass die höhere Homogenität der regionalen Partner eher eine gegenseitige Anerkennung nationaler Regelwerke oder eine Einigung auf einheitliche Standards erlaubt, als es bei der WTO und ihrem extrem heterogenen Mitgliederkreis möglich ist. Eine durch Hegemone geprägte Nord-Nord- oder Nord-Süd-Integration kann erst dann auf die WTO-Ebene projeziert werden, wenn sich die USA und die EU zu einer Freihandelszone zusammenschließen würden. Regionale Integration würde dann schlagartig einer Mini-WTO nahe kommen und die Nord-Süd-Integration von den asiatischen Ländern her in Richtung Anschluss an diese Zone beschleunigen.' 2
5. Schlussfolgerungen Die Erscheinungsbilder regionaler Integration werden zukünftig vom Anschluss von Mitteleinkommensländern an bestehende Gemeinschaften von Industrieländern bestimmt werden. Diese Nord-Süd-Integration ist unter wohlfahrtstheoretischen Gesichtspunkten nicht nur positiver zu beurteilen als die Süd-Süd-Integration. Sie wird auch zu einer Flurbereinigung dahingehend führen, dass kleinere Gemeinschaften in größeren aufgehen, die sich ihrerseits an den Vorstellungen der EU und der USA orientieren. Dort liegt das ökonomische Kraftfeld, und von daher kommen sowohl die institutionellen Menüs für die Verträge als auch die wirtschaftlichen Vorgaben, die zu erfüllen sind, bevor man sich an die Regelwerke der beiden großen Partner anschließen darf. Zu diesen Vorgaben gehören marktwirtschaftliche Reformen, fiskalische Disziplin und multilaterale Liberalisierung, ohne die die Neumitglieder Gefahr laufen, im Zuge des regionalen wie globalen Wettbewerbs zu unerwünschten .Kostgängern' der fortgeschrittenen Partner innerhalb der regionalen Integration zu werden. Dieses Kostgängertum würde auch direkte wie indirekte Stützungsmaßnahmen im monetären Bereich umfassen und daher eine Last für die fortgeschrittenen Partner darstellen. Als Protomenu wird sich die Freihandelszone ergänzt um die Kapitalfreizügigkeit und Niederlassungsfreiheit durchsetzen. Sie vermeidet die Kosten interner Kompromissbildung bei der Formulierung einer gegenüber Dritten einheitlichen Handelspolitik, wie sie bei der Bildung einer Zollunion aufträten, und sie vermeidet zudem Regressansprüche, die Dritte stellen könnten, wenn sich diese nach der Einigung auf eine gemeinsame Handelspolitik beim Zugang zu einem Teilmarkt der Zollunion schlechter gestellt sähen als vor der Einigung. Ordnungspolitisch ist zwar die Zollunion höherrangig einzustufen, weil sie dem nahe kommt, was das GATT bei der Formulierung der Ausnahme von der Meistbegünstigung nach Art. XXIV GATT ursprünglich im Auge hatte: den Kern einer gemeinsamen Wirtschaftspolitik. Der Nachteil einer teilweisen Schlechterstellung von Drittländern bei einer Zollunion ist aber dann zu heilen, wenn das Protektionsniveau multilateral weiter sinkt und die Neumitglieder einer bestehenden Gemeinschaft vor dem Beitritt ihre Protektionsniveaus denen der Gemeinschaft anpassen, d. h. senken. Nur wenn dies geschieht, werden sich die Wohlfahrtseinbußen gegenüber der multilateralen Liberalisierung in Grenzen halten und wird regionale Integration eine die internationale Handelsordnung nicht schädigende Strategie auch außerhalb Europas bleiben.
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Siehe hierzu auch Langhammer u. a. (2002).
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Europäische Integration: EU als ,Vertiefte Integration'
Theresia Theurl
Inhalt 1. Einleitung
268
2. Vertiefung der EU-Integration als Prozess der Institutionalisierung
270
2.1. Funktionen der Institutionalisierung
271
2.2. Konstitutioneller Status der Vertieften Integration der EU
272
2.3. Dynamik der Unionsordnung als inhärenter Vertiefungsprozess
273
3. Institutionenstärke und Kompetenzzuordnung
275
3.1. Zunahme der Institutionenstärke im EU-Vertiefungsprozess
275
3.2. Verschiebung der Kompetenzallokation im EU-Vertiefungsprozess
276
4. Einschränkung der integrationspolitischen Strategieoptionen
277
4.1. Übernationale Institutionalisierung der Integration
278
4.2. Supranationalismus
278
4.3. Flexible Integration
278
4.4. Integration durch Konstruktion
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5. Unterstützung durch integrationspolitische Meta-Regeln
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6. Fazit und Perspektive
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Literatur
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Theresia Theurl
1. Einleitung Derzeit werden in der Wissenschaft und in der Politik der Integration drei Aspekte der Europäischen Integration besonders intensiv diskutiert. Die Erweitung der Europäischen Union am 1. Mai 2004 um zehn Mitgliedstaaten und mit der Perspektive weiterer Beitritte wird ihre Gestalt und ihre Inhalte deutlich verändern. Daneben wird eine Modifikation der Vereinbarungen des Stabilitäts- und Wachstumspakts immer wahrscheinlicher, nachdem er die Wirkungen hervorgerufen hat, derentwegen er seinerzeit verabschiedet wurde. Schließlich hat sich herausgestellt, dass die Vorbereitung einer Verfassung der Europäischen Union durch den Europäischen Konvent mit vielfältigen personellen und inhaltlichen Friktionen verbunden ist. Diese drei aktuellen integrationspolitischen Themen haben mit dem Status der EU als Vertiefter Integration zu tun, wenn auch nicht alle unmittelbar und auf den ersten Blick. Die erreichte Integrationstiefe bedeutet für die neu beitretenden Mitglieder hohe Anforderungen an die Ausgestaltung ihrer politischen und wirtschaftlichen Ordnungen. Die Erweiterung ihrerseits erfordert hinsichtlich der Entscheidungsverfahren und der gemeinsamen Politiken institutionelle Veränderungen in der Europäischen Union und wird darüber hinausgehend die in Zukunft verfügbaren Integrationsstrategien beeinflussen. Auch die Diskussion um den Stabilitäts- und Wachstumspakt setzt an der erreichten Tiefe des Integrationsstandes der Union an. Mit dem Vertiefungsschritt der gemeinsamen Währung galt es, sachliche Interdependenzen zu berücksichtigen, was dazu führte, dass die Kompetenzen der Mitgliedstaaten in finanzpolitischer Hinsicht eingeschränkt wurden. Dieser Vertiefungsschritt erwies sich jedoch als unzulänglich abgesichert und soll - nachdem er sich tatsächlich als Restriktion herausstellte - zumindest partiell zurück genommen werden,' indem Formulierungen oder Interpretationen verändert werden. Die Arbeiten des Europäischen Konvents betreffen die Vertiefung direkt, indem es um die Aufteilung von politischen und ökonomischen Kompetenzen zwischen EU und Mitgliedsländern, um Entscheidungsfindungsverfahren und ähnliche grundsätzliche Fragen geht. Damit treten auch die politischen Dimensionen der EU-Integration wieder stärker in den Vordergrund. Ob ursprünglich so gewünscht oder nicht, ob gezielt oder zufallig: Die Europäische Union hat heute den Stand einer vertieften Integration erreicht, der mit diesen Ausführungen allerdings noch nicht hinreichend beschrieben ist. Zu klären ist zumindest, wie dieser Vertiefungsprozess vonstatten gegangen ist und welche Perspektiven für die Europäische Union damit verbunden sind, wenn davon ausgegangen wird, dass dieses Integrationskonzept eine inhärente Entwicklungslogik aufweist. Wenn weit in die Geschichte zurückreichende Vorstellungen und Konzepte einer Vereinheitlichung Europas (Lipgens 1977) vernachlässigt werden, beginnt die Integration Europas nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Schumann-Monnet-?\as\. Er kann als Vorschlag einer politischen Einbindung und Kontrolle Deutschlands gesehen werden. Neben der Schaffung von wirtschaftlichem Wohlstand war dies von Anfang an ein dominantes Ziel. Erstes Ergebnis war 1951 die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl durch Frankreich, Deutschland, Italien, die Niederlande, '
Vgl. zuletzt European Economic Advisory Group (2003).
EU als Vertiefte Integration
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Belgien und Luxemburg. Mit diesem Schritt entstand bereits die Perspektive einer politischen Integration mit dem Instrument einer wirtschaftlichen Vergemeinschaftung (Methode Monnet). Sie zog sich ebenso durch die folgenden Integrationsakte wie die divergierenden Präferenzen der Mitglieder für supranationale Lösungen. Der Plan einer Europäischen Union mit den Elementen der EGKS und einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft scheiterte 1954 am Widerstand der französischen Nationalversammlung gegen die Gründung einer Verteidigungsgemeinschaft. Möglich waren jedoch 1957 die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Europäischen Atomgemeinschaft (EAG). Mit dem EWG-Vertrag wurden die Zuständigkeiten der Integrationsorgane auf Bereiche der Handelspolitik, der Agrar-, Verkehrsund Wettbewerbspolitik ausgedehnt. In Ansätzen kam es auch zu Kompetenzverlagerungen in der Sozialpolitik (Schaffung eines Sozialfonds) und der Strukturpolitik (Gründung der Europäischen Investitionsbank). Während die Entwicklung in Richtung der Verwirklichung einer Zollunion zügig fortschritt, scheiterten Integrationsbestrebungen in den nicht-ökonomischen Bereichen. 2 Mehrere Pläne zur Gründung einer Europäischen Union bzw. zur Weiterentwicklung der bestehenden Gemeinschaften konnten nicht verwirklicht werden. Von einigen Mitgliedstaaten wurde 1979 mit dem Europäischen Währungssystem (EWS) eine währungspolitische Kooperation eingeleitet. Nach der Süderweiterung erfolgte 1987 mit der Einheitlichen Europäischen Akte die erste große Revision der Gründungsverträge. Mit ihr wurde der Komplex von Gemeinschaftspolitiken und von außergemeinschaftlichen Politikbereichen zusammengefügt. Die Verankerung des beschleunigten Binnenmarktkonzeptes und die Einführung der dafür erforderlichen Verfahren erwiesen sich als tief greifende integrationspolitische Weichenstellungen zur Vollendung der realwirtschaftlichen Integration. Die Festschreibung der gegenseitigen Anerkennung nationaler Standards, die Mindestharmonisierung und die Anwendung des Mehrheitsprinzips auf Angelegenheiten des Binnenmarktprogramms beschleunigten den Integrationsprozess. 1992 wurde der Binnenmarkt formell vollendet. Es folgten die Erarbeitung des Konzeptes, die Regierungskonferenz und die Vereinbarung zu einer gemeinsamen Währung. Der Maastrichter Vertrag bedeutete eine Vertragsrevision. Neben dem Konsens zur Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion - einer Vertiefung der Integration - brachte der Vertrag von Maastricht eine Adaption der institutionellen Struktur mit sich, die das Verhältnis zwischen supranationalen Elementen und intergovemmentalen Angelegenheiten betraf. Im Vertrag von Maastricht wurde mit der Europäischen Union eine neue Organisation geschaffen, die im EU-Vertrag eine Art rechtliches Dach' bildet. Neben die ,Wirtschaftssäule', die sich im EG-Vertrag findet, wurden im EU-Vertrag die zwei Säulen der Zusammenarbeit in der Außen- und Sicherheitspolitik und in der Innen- und Rechtspolitik gesetzt. Die Politikbereiche der GASP und PJZ sind im Gegensatz zu den im EGV geregelten Bereichen der Wirtschaftsintegration rein intergovernmental und nicht supranational. Mit dem Vertrag von Maastricht wurden die Gemeinschaftskompetenzen nicht nur um die Geld- und Währungspolitik erweitert, sondern es kamen Zuständigkeiten in den Be2
EGKS, EWG und EAG wurden als supranationale Organisationen mit eigener Rechtspersönlichkeit gegründet.
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reichen Umwelt, Verbraucherschutz, Gesundheitsschutz, Forschimg und Technologie, Regionalentwicklung, Struktur- und Industriepolitik sowie Kulturpolitik hinzu. 1995 trat die Erweiterungsrunde um EFTA-Staaten in Kraft. Bereits 1993 hatten die ehemaligen Zentralverwaltungswirtschaften eine Beitritts-Perspektive erhalten. Die Verträge von Amsterdam und der mit dem 1. Februar 2003 in Kraft getretene Vertrag von Nizza folgten als die beiden letzten Revisionen der institutionellen Grundlagen der Europäischen Union. Die gemeinsame Währung ist Realität. Mit dem Vertrag von Amsterdam erweiterte sich der EU-Kompetenzkatalog noch um eine beschäftigungspolitische Komponente. Der Europäische Konvent, der im Vertrag von Nizza festgeschrieben wurde, arbeitet nun an einer Verfassung für die Europäische Union. Ein Vorentwurf des Verfassungsvertrages sowie ein Entwurf von einzelnen Artikeln wurden bislang vorgelegt, fanden jedoch in dieser Form auch innerhalb des Konvents noch keine Zustimmung. Der Entwurf eines Verfassungsvertrages wird die verbindliche Entscheidungsgrundlage fiir die Staats- und Regierungschefs im Rahmen der nächsten Regierungskonferenz 2003/2004 sein. Erst nach der Erweiterungsrunde von 2004 könnte im Falle einer Einigung eine Verfassung der Europäischen Union unterzeichnet werden. In Kurzform 3 wurde damit der Prozess der Vertiefung der Europäischen Union skizziert. Die Konkretisierung des Konzepts der Vertieften Integration wird im 2. Abschnitt erfolgen, in dem auch geklärt wird, welche Konsequenzen mit der Entscheidung für eine solche Vorgangsweise hinsichtlich Initiierung und Veränderung von Integrationsschritten verbunden sind. Im 3. Abschnitt wird herausgearbeitet, welche Entwicklungen hinsichtlich Kompetenzallokation und Institutionenstärke folgen. Der 4. Abschnitt legt offen, welche Einschränkungen möglicher Integrationsstrategien mit der Wahl einer Vertieften Integration erfolgt sind. Der 5. Abschnitt zeigt am Beispiel des EU-Integrationsprozesses auf, welche ,integrationspolitischen Meta-Regeln' die Vertiefimg ermöglichten. Ein kurzes Fazit und das Aufzeigen von Perspektiven schließen im 6. Abschnitt den Beitrag ab.
2. Vertiefung der EU-Integration als Prozess der Institutionalisierung Vertiefung ist zwar eine häufig verwendete Vokabel, aber dennoch kein eindeutig definiertes Konzept der Integrationstheorie. So wird der Bergriffsinhalt oft mit der Abgabe von Kompetenzen der Mitgliedstaaten an die Europäische Union oder mit der Entscheidung für deren gemeinsame Wahrnehmung assoziiert. Er wird auch damit in Verbindung gebracht, dass zusätzliche Bereiche einer Ökonomie in den Integrationsprozess einbezogen werden. Es wird davon ausgegangen, dass im Vertiefungsprozess eine Sequenz von Integrationsformen .durchwandert' wird: Von der Freihandelszone, über die Zollunion, den Binnenmarkt, die Wirtschaftsunion, die Währungsunion bis hin zu einer Politischen Union. Es wird auch darauf abgestellt, dass nach dem realwirtschaftlichen, der monetäre, der wirtschaftspolitische und schließlich der politische Bereich einbezogen werden. Vertiefung wird schließlich damit in Zusammenhang gebracht, dass der Abbau von Hemmnissen für grenzüberschreitende Transaktionen vor dem Aufbau gemeinsamer Institutionen stattfindet. In der Tat hat jeder der angeführten Aspekte mit 3
Vgl. Für eine detaillierte Darstellung Theurl und Meyer (2001) sowie Nienhaus (1998).
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Vertiefung zu tun. Doch was ist eine Vertiefte Integration und der sie hervorrufende Prozess der Vertiefung wirklich, was treibt Letzteren an und welche Konsequenzen sind mit ihm verbunden? Diesen Fragen hat nachgegangen zu werden. Im Weiteren wird davon ausgegangen, dass die Vertiefte Integration, die die Europäische Union auszeichnet, ihr institutioneller Zustand - ihre Unionsordnung - ist. Der Vertiefiingsprozess wird daher als Prozess der Institutionalisierung oder Konstitutionalisierung der Integration verstanden. Dies ist weiter zu konkretisieren, denn es existiert eine konkurrierende Methode der Vertiefung: die Ausweitung der Freiheiten in den grenzüberschreitenden Transaktionen der Wirtschaftssubjekte (Güterhandel, Dienstleistungs-, Kapital- und Personenverkehr), bei der auf den Aufbau von Institutionen weitgehend verzichtet wird. Voraussetzungen dafür sind die gegenseitige Anerkennung unterschiedlicher Nonnen und Standards sowie die freie Wahl des Aktivitätsstandortes der Wirtschaftssubjekte. Die Schweipunkte und die Weichenstellungen des EU-Integrationsprozesses korrespondieren allerdings mit dem Modell der eingangs skizzierten Institutionalisierung. 2.1. Funktionell der Institutionalisierung Das Institutionensystem der Europäischen Union besteht erstens aus ihren Gremien und Organen, zweitens aus den Spielregeln für die Interaktion der Mitglieder in diesen Gremien sowie drittens aus den Regeln des Zusammenwirkens der Organe untereinander und viertens mit solchen auf der Ebene der Mitgliedstaaten. Das so entstehende komplexe Institutionengefuge kann als Unionsordnung oder als Govemance-System der Europäischen Union bezeichnet werden. Mit der Institutionalisierung werden sowohl die privaten Wirtschaftssubjekte des Integrationsraumes als auch die politischen Akteure der Mitgliedstaaten und die supranationalen Akteure restringiert. Über die Abgrenzung von Handlungsspielräumen wirken mehrere sich überlagernde Mechanismen: die formelle Kompetenzallokation zwischen Mitglieder- und Unionsebene, das Procedere für formelle Integrationsschritte der Vertiefung und Erweiterung, die Anreizstrukturen für das einzelwirtschaftliche Verhalten. Mit der Institutionalisierung des Integrationsprozesses als Vertiefung werden daher Spielregeln für die Interaktionen des privaten Wirtschaftens und für die Wirtschaftspolitik geschaffen. Es ist möglich, die Unsicherheit zu verringern, in die wirtschaftliche Entscheidungen eingebettet sind. Durch die Einschränkung von einzelwirtschaftlichen Handlungsoptionen können für die Integrationsgemeinschaft zusätzliche Optionen und damit positive Wohlfahrtseffekte erreicht werden. Während die allokativen Effekte der Integration (Verbesserung der Ressourcenallokation, Senkung von Informations- und Transaktionskosten, Verwirklichung von Spezialisierungsvorteilen und Skalenerträgen) generell gewünscht werden, besteht über die Verteilung der Integrationsgewinne unter den Mitgliedstaaten - die distributiven Effekte - meist kein Konsens. Diese Konstellation kann dazu fuhren, dass eine Allokationsverbesserung blockiert wird. Vor diesem Hintergrund gewinnen Institutionen eine große Bedeutung. Der Verzicht auf Handlungsoptionen der Mitgliedstaaten ist rational, weil es mit fortschreitender Integration nicht mehr möglich ist, alle Kontingenzen steigender wirtschaftlicher Transaktionen vertraglich zu erfassen. Die Mitglieder sind dazu bereit, supranationale
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Organisationen einzurichten, deren Aufgabe darin besteht, einen Regelungsrahmen zu vereinbaren und zu implementieren. Die Konstruktion und Weiterentwicklung des EUInstitutionengefiiges korrespondiert mit den sich widersprechenden allokativen und distributiven Integrationswirkungen. So sind Kommission, Parlament und der Europäische Gerichtshof als supranationale Organe damit betraut, ein institutionelles Umfeld sicherzustellen, das die Erzielung der allokativen Effekte ermöglicht. Der Rat mit den Vertretern der Mitgliedstaaten repräsentiert hingegen eher den Effekt der Verteilung der Integrationsgewinne. Es ist das Verteilungsproblem, das Integrationsfortschritte blockiert und inhaltlich unbestimmt macht (Theurl und Meyer 2002). Die resultierenden Wohlfahrtswirkungen durch die Institutionalisierung sind Teil der umfassenden Integrationseffekte, können als solche jedoch kaum isoliert werden. 4 Meist reduziert sich der Analyserahmen auf den makroökonomischen Kontext, wodurch wesentliche Wirkungszusammenhänge und Anreizkonstellationen ausgeblendet werden. Die wirtschaftliche Integration erhöht die Abhängigkeit ihrer Mitglieder voneinander und von den supranationalen Organen bei der Existenz asymmetrischer Informationen über Merkmale, Verhaltensweisen und Absichten. Die institutionelle Absicherung kann in dieser Konstellation als eine Möglichkeit der Selbstbindung verstanden werden. Dies fordert die Vereinbarung weiterer Integrationsschritte und strukturiert die Interaktion der einzelwirtschaftlichen Akteure sowie der Mitglieder der Union. Zusammenfassend soll festgehalten werden, dass durch die Institutionalisierung -
ceteris paribus eigenständige (positive) Wohlfahrtseffekte hervorgerufen werden können,
-
Integrationsfortschritte durch die Existenz vereinbarter Spielregeln gefördert werden,
- beim Vorliegen heterogener Interessen ein Konsens für die konkrete Ausgestaltung zu finden ist, -
insgesamt also der Verlauf und die Perspektiven des Integrationsprozesses beeinflusst werden.
Anders formuliert soll die These vertreten werden, dass die Institutionalisierung des Integrationsprozesses die Initiierung weiterer Integrationsschritte zwar fördert, die Unsicherheit über ihr Zustandekommen und ihre konkrete Ausgestaltung jedoch erhöht. 2.2. Konstitutioneller Status der Vertieften Integration der EU Die institutionelle Basis der Europäischen Union, wie sie sich heute darstellt, ist ein Set von mehrfach adaptierten unvollständigen Verträgen und der rechtlichen Regelfortbildung durch den EuGH. Am Beginn der Union standen nicht eine Verfassung gebende Versammlung und die Annahme einer Verfassung, der rational handelnde Individuen hätten zustimmen können (Berg und Schmidt 1996). Dieser Gründungsvorgang wurde vielmehr durch die Unterzeichnung eines Integrationsgründungsvertrages durch die Vertreter der Mitgliedstaaten ersetzt. Es ist unwahrscheinlich, dass mit der Verfassung, die derzeit 4
Die Wohlfahrtseffekte der vereinbarten Spielregeln der Integration haben gegenüber jenen abgewogen zu werden, die ein konkurrierendes Regime funktionierender offener Märkte ohne weitergehende gemeinsame Spielregeln hervorrufen würde.
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durch den Europäischen Konvent erarbeitet wird, ein solcher Akt nachgeholt werden kann. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass das vorhandene institutionelle Integrationsregime die Inhalte prägen wird und dass Kompetenzverlagerungen an die Mitgliedstaaten kaum stattfinden werden. Darüber hinausgehend sind Betroffene an der Regelsetzung beteiligt, die die spätere Wirkung auf ihre eigenen Aktivitäten abschätzen können. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass einer Verfassung gemeinsame Werte, eine proaktive Regelsteuerung und Kollektiventscheidungen zugrunde liegen, einem Integrationsvertrag jedoch gemeinsame Interessen, eine Verständigung auf implizite Spielregeln und deren Auslegung sowie Verhandlungen für Folgeverträge (Pies 1996). Er kann also mit der sukzessiven Zunahme von Spielregeln, Kriterien und Verfahrensprinzipien als eine Übergangsform zwischen einem vollständigen Vertrag und einer Verfassung interpretiert werden. In der Europäischen Union korrespondiert er mit einem Mix aus intergovemmentalen und supranationalen Elementen. Bezüglich der Berücksichtigung der Präferenzen der Bevölkerung stellt sich der Status quo der Vertieften Integration der EU als ein Gemisch von Elementen einer originären Legitimation, überwiegend aber von solchen einer nationalstaatlichen Mediation über die Politiker der Mitgliedstaaten dar. Es ist die gewünschte Finalität der europäischen Integration, die die Referenz für die Beurteilung dieses Zustandes zu bilden hat. Ein bundesstaatliches Modell als Perspektive legt Entwicklungen in Richtung Staatsverfassung und originärer Legitimation nahe. Ein einheitliches Staatsgebiet, eine einheitliche Staatsgewalt und die Existenz eines Staatsvolkes sind dann aber vorauszusetzen. Wird die Zukunft der Europäischen Union aber als Gebilde sui generis eingeschätzt, stellt sich die Frage der Verfassungsinhalte und der Verfassungsdefinition anders. In einer immer engeren Union der Völker Europas (Art. 1 Abs. 2 EUV) geht es um die eindeutige Allokation und Festschreibung von Kompetenzen auf unterschiedlichen Ebenen und entsprechenden Koordinations- und Entscheidungsfindungsmechanismen. Daraus leiten sich auch unterschiedliche Formen der Berücksichtigung der Interessen der Bevölkerung für die einzelnen Sachbereiche ab. Ob das so entstehende Vertragsund Regelwerk dann als Verfassung bezeichnet wird, ist sekundär (Decker 2003). Im Rahmen einer häufig anzutreffenden Integrationspragmatik wird das primäre Gemeinschaftsrecht, das an oberster Stelle der Normenhierarchie angesiedelt ist, auch als Verfassung der Union bezeichnet. Das sekundäre Gemeinschaftsrecht enthält das von den europäischen Organen auf der Basis des primären Gemeinschaftsrechts geschaffene Recht. Es handelt sich um Verordnungen, Richtlinien, Entscheidungen und Empfehlungen/Stellungnahmen. Primäres und sekundäres Gemeinschaftsrecht verkörpern den aktuellen konstitutionellen Status der Europäischen Union. 2.3. Dynamik der Unionsordnung als inhärenter Vertiefungsprozess Die heute existierende Institutionalisierung der Europäischen Union ist also nicht Verfassung, aber auch nicht unbeabsichtigtes Ergebnis einzelwirtschaftlicher Entscheidungen und spontaner Anpassungen, sondern Resultat aufeinander folgender konstruktivistischer Akte oder eines koordinierten Handelns (Vanberg 1983). Die Konsequenzen, die mit Akten kollektiver Entscheidungsfindung verbunden sind, sind in der Europäischen Union allgegenwärtig. Hervorzuheben ist, dass Veränderungen der Unions-
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Ordnung im politischen Prozess vereinbart werden, wodurch die Ausgestaltung der politischen Märkte auf nationaler Ebene zu einem wichtigen Einflussfaktor wird. Die Festlegung der Verhandlungsstrategien und die Zustimmungserfordernisse wirken neben den strukturellen Merkmalen einer asymmetrischen Informationsverteilung und den Aktivitäten Renten suchender Interessengruppen auf nationaler und auf europäischer Ebene. Die Notwendigkeit zur einstimmigen Zustimmung der Mitgliedstaaten für Vertragsänderungen hat für deren Inhalte weitreichende Konsequenzen: -
Vertragsänderungen werden konsensfähig, weil die resultierenden Verträge relationalen Charakter haben. Als Elemente einer umfassenden Dauerbeziehung bleiben Lücken und Interpretationsspielräume und werden nicht alle zukünftigen Kontingenzen berücksichtigt. Durch ihre Einbettung in gewachsene Integrationsstrukturen greifen im Anlassfall Konfliktlösungs- und Problembewältigungsmechanismen unter Berücksichtigung des Geist des Vertrages. Vom Finden weiterer Kompromisse in der Zukunft wird ausgegangen.
-
Kompensationslösungen (Zugeständnisse finanzieller oder inhaltlicher Natur) und Junktimierungen (die Bündelung mehrerer kontroverser Angelegenheiten) kennzeichnen den Konstitutionalisierungsprozess. Die koordinierte Vereinbarung der Währungsunion und des Kohäsionsfonds sowie die Flankierung des Wettbewerbsdrucks durch die Vollendung des Binnenmarktes mit einer Neuorganisation und Aufstockung der Mittel der Strukturfonds sind Beispiele für diesen Zusammenhang. Lange Übergangsfristen, punktuelle Sonderregelungen, komplizierte Verfahrensvorgaben fallen ebenfalls in diese Kategorie.
-
Angelegenheiten, für die trotzdem ein Konsens nicht gefunden werden kann, werden ausgeklammert und einer folgenden Regierungskonferenz überantwortet. Dadurch gelingt es, (kleine) Vertiefungsschritte zu erreichen und zu demonstrieren. Ein Musterbeispiel für diese Vorgehensweise ist die Institutionenreform zur Vorbereitung der Europäischen Union auf die Osterweiterung, die trotz der Verträge von Maastricht, Amsterdam und Nizza völlig unzureichend erledigt wurde.
Diese Faktoren können als die integrationstechnischen Treiber verstanden werden, die durch inhaltliche Kräfte ergänzt werden. Letztere legten immer wieder Anpassungen nahe und führten in ihrem Zusammenwirken zu einem Entwicklungsprozess, der dem Konzept der Vertieften Integration inhärent ist. Sie können als eine spezielle Vertiefungslogik verstanden werden und stehen hinter dem institutionellen Status der Europäischen Union, der formell durch Verträge und deren Revisionen entstanden ist. Vier inhaltliche Anpassungskräfte können deduziert und rückblickend auch für die EU identifiziert werden. Erstens drängten neue Optionen oder Restriktionen (Wettbewerbsfähigkeit gegenüber anderen Integrationsblöcken, neue Informations- und Kommunikationstechnologien, globale Integration) auf der Handelnsebene zu Adaptionen auf der Regelebene. So wurden die Bestrebungen einer Vertiefung durch eine gemeinsame Währung durch solche Faktoren zumindest mit bedingt. Ein zweiter Impuls entstand aus einem einmal vereinbarten Integrationsziel, das weitere Integrationsschritte unter Berücksichtigung ihres zeitlichen Implementierungsbedarfs vorgab. Die Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte kann unter diesem Gesichtspunkt gesehen werden.
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Drittens folgte aus sachlichen Inkonsistenzen, die die mangelhafte Berücksichtigung ökonomischer Interdependenzen spiegelt, institutioneller Anpassungsbedarf. Inkonsistenzen führten über die Einschränkung der Glaubwürdigkeit oder über den wirtschaftspolitischen Interaktionsprozess zu Fehlentwicklungen und signalisierten Reformbedarf. Viertens entfaltete institutionelle Inkonsistenz - das Auseinanderklaffen zwischen Unionsvertrag und Unionswirklichkeit oder Divergenzen zwischen formellen und informellen Institutionen oder Divergenzen zwischen nationalen und supranationalen Kompetenzen - Anpassungsdruck. Interpretationsspielräume der formellen Governance-Strukturen wurden von den privaten Akteuren, von den politischen Akteuren der Mitgliedstaaten sowie von den Akteuren auf EU-Ebene genutzt. Diese Wirklichkeit, die auf der Tatsache unvollständiger Verträge beruht, führte zu Konkretisierungen, zu Korrekturen oder einem vertraglichen Nachvollzug der faktischen Praktiken. Vertiefte Integration in dem hier zugrunde gelegten Verständnis wird sich durch ihre eigenen Gesetze immer weiter entwickeln. Hintergrund dafür ist der Versuch, die allokativen Gewinne einer Vertiefung mit den distributiven Ansprüchen in Einklang zu bringen. Die resultierenden Adaptionen des institutionellen Integrationssettings verändern gleichzeitig die strategischen Optionen der Akteure. 3. Institutionenstärke und Kompetenzzuordnung Im Zuge des EU-Integrationsprozesses entwickelte sich die Institutionenstärke in Richtung einer stärkeren Durchsetzbarkeit und Beharrung. Daneben fanden Kompetenzverlagerungen in vertikaler und in horizontaler Richtung statt. Vertikal wanderten Kompetenzen vorwiegend ,nach Brüssel', daneben fanden in diesem Zeitraum auch zwischen den europäischen Organisationen Kompetenz- und Machtverschiebungen statt. 3.1. Zunahme der Institutionenstärke im EU-Vertiefungsprozess Institutionen schränken individuelle Handlungsoptionen ein. Dahinter stehen - wie ausgeführt - allokative und distributive Wirkungsmechanismen. Dabei ergibt sich die allokative Wirkung über den Einfluss auf relative Preise, Auszahlungen oder Kosten. Aus der Veränderung der Einkommenssituation der Individuen, die einem bestimmten institutionellen Regime unterliegen, entstehen distributive Wirkungen. Art und Ausmaß der Wirkungen von Institutionen auf die individuellen Handlungen hängen zusätzlich von der Durchsetzbarkeit der Handlungsbeschränkungen ab. Nur eine Regel, die durchgesetzt werden kann, lenkt das Verhalten von Akteuren. Durchsetzbarkeit korrespondiert mit Durchgriffsstärke. Soziale Kontrolle, die Gefahr der einmaligen oder intertemporalen Selbstschädigung sowie formelle Sanktionen sorgen für die Durchsetzung und beeinflussen damit gleichzeitig die Glaubwürdigkeit von Institutionen. Durchsetzbarkeit, also die Stärke der Verhaltensrestriktion und die Dauerhaftigkeit von Institutionen hängen miteinander zusammen. Institutionen von geringer Beharrungskraft, die einfach und schnell geändert werden können, werden auch nur eine geringe Durchsetzbarkeit entfalten können. Tendenziell werden Organisationen ein stärkeres Beharrungsvermögen entwickeln als einfache formelle Regeln, da sie aus sich heraus ihre Tätigkeit weiterentwickeln können und ihnen Beharrungsanreize inhärent sind.
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Die Permanenz einer Regel hängt davon ab, inwiefern Akteure ihr Verhalten bereits an ihr ausgerichtet haben und welche Kosten ihnen durch ein alternatives Regime entstehen würden. Institutionen lassen sich grob nach ihrer Stärke ordnen: gemeinsame Prinzipien, gemeinsame Regeln, Institutionen der Handlungskoordination, Institutionen der Handlungskooperation, Supranationale Organisationen (Meyer 2001). Im Zuge der Vertiefung des Integrationsprozesses - seiner Institutionalisierung - nimmt die Institutionenstärke zu. Es wird mehr Gewicht auf die Durchsetzbarkeit der gemeinsamen Institutionen gelegt. Die Handlungsspielräume der einzelwirtschaftlichen und der nationalen wirtschaftspolitischen Akteure nehmen ab. Dabei handelt es sich um einen Prozess, der im Rahmen des EU-Vertiefungsprozesses ausgezeichnet nachvollzogen werden kann. 3.2. Verschiebung der Kompetenzallokation im EU-Vertiefungsprozess Im Zuge des EU-Vertiefungsprozesses wurden in vertikaler Hinsicht Kompetenzen vergemeinschaftet. Ob dies die richtigen/falschen waren oder ob es sich um ein Zuviel/Zuwenig handelte, kann dabei aus der ökonomischen Theorie des Föderalismus abgeleitet werden. Eine Aktivität ist dort anzusiedeln, wo sie am besten erfüllt werden kann. Dabei ist der trade-off zwischen der Orientierung an den individuellen Präferenzen und der Nutzung von Größenvorteilen zu berücksichtigen. Eine Kompetenzverlagerung von einer untergeordneten auf eine übergeordnete Ebene ist bei heterogenen Präferenzen stets mit der Vernachlässigung individueller Präferenzen verbunden (Stehn 1997; Laaser und Stehn 1996). Sie ist nur dann zu rechtfertigen, wenn die resultierenden Effizienzgewinne die Wohlfahrtsverluste der Zentralisierung überkompensieren können. Darüber hinausgehend ist zu berücksichtigen, dass dieses ökonomische Kalkül überhaupt nur dann seine Berechtigung hat, wenn privatwirtschaftliche Lösungen wegen der Existenz nicht intemalisierbarer externer Effekte ineffizient wären. Zusätzlich hat die Finanzierung der öffentlichen Leistungen berücksichtigt zu werden. Im EU-Vertiefungsprozess hat eine sukzessive Verlagerung ökonomischer - vor allem wirtschaftspolitischer - Kompetenzen von der nationalstaatlichen auf die supranationale Ebene stattgefunden, ohne dass entsprechende Kalküle der Abwägung nachvollziehbar stattgefunden hätten (Stehn 2002). Dabei hat eine Vereinheitlichung des Politikangebotes stattgefunden. Die Direktiven der EU-Kommission gelten undifferenziert für alle Mitgliedstaaten. Dies gilt für die Handels-, die Wettbewerbs-, die Regional-, die Agrar-, die Forschungs- und die Umweltpolitik, aber auch für die Geld- und Währungspolitik {Alesina u. a. 2001). Vor allem die Ausweitung direkter Marktinterventionen verletzt in vielen Anwendungsbereichen die zu berücksichtigenden ökonomischen Kriterien. Werden zusätzlich polit-ökonomische Kriterien herangezogen, kann die der EUVertiefung inhärente Zentralisierungstendenz erklärt werden (Vaubel 1995). Doch auch die horizontale Kompetenzverteilung zwischen den einzelnen Organen der Europäischen Union hat sich im Zuge des Vertiefungsprozesses verändert. So war die Europäische Kommission als supranationales Organ von Anfang an mit vielen Kompetenzen - gekrönt von der des Agendasettings - ausgestattet und hat diese weiter ausgedehnt. Die Kommission als Hüterin der Verträge hat ein Interesse an der Vertiefung der Integration, die sie durch ihr Initiativmonopol auch vorantreiben kann. Im Rechtssetzungsprozess muss sie dazu die Mehrheitsverhältnisse im Rat antizipieren und
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dieses Kalkül in einen Regelungsentwurf einfließen lassen. Die Kommission hat Freiheitsgrade in der Wahl der Rechtsgrundlage und der Regelungsintensität. Darüber hinausgehend hat sie Möglichkeiten, Streitpunkte in einem Rechtsakt zu umgehen. Sie kann kontroverse Punkte auf die Handlungsebene (Ebene der Durchführung) verlagern, auf der andere Entscheidungsmechanismen existieren. Es zeichnen sich allerdings Bestrebungen ab, die Tätigkeit der Kommission einer stärkeren Kontrolle zu unterwerfen (Europäisches Parlament, Präsident der Staats- und Regierungschefs). Mit der Zunahme supranationaler Kompetenzen korrespondieren abnehmende Einflussmöglichkeiten und Kompetenzverluste des Ministerrates. Im Zuge der EU-Vertiefung hat das Europäische Parlament zusätzliche Kompetenzen an sich gezogen und weitere werden folgen. Das Parlament ist bestrebt, seine Position durch informelle Abkommen mit anderen Organen zu stärken. Der Europäische Gerichtshof spielt eine wichtige Rolle bei der Vertiefung der Integration, die er selbst immer wieder durch seine Rechtsprechung vorangetrieben hat. Dies gelang, obwohl ihm keine Instrumente zur Durchsetzung seiner Urteile zur Verfugung stehen. Über zwei Mechanismen kann er seine Ziele umsetzen. Erstens kann er die Durchsetzung seiner Urteile in den Mitgliedstaaten sichern, wenn er die das europäische Recht anwendenden nationalen Gerichte quasi als Trojanische Pferde nutzt. Die Gerichte in den Mitgliedstaaten verfugen über Möglichkeiten der Rechtdurchsetzung. Zusätzlich liefern sie dem EuGH im Vorabentscheidungsverfahren strittige Fälle, die er für seine Rechtsfortbildung nutzen kann. Zweitens kann er Anreize zur freiwilligen Einhaltung und Anwendung seiner Urteile setzen. Dies setzt jedoch voraus, dass seine Rechtsprechung akzeptabel ist, was nur dann der Fall sein wird, wenn er die Kosten seiner Urteile für die Mitgliedstaaten akzeptiert. Diese Form der taktischen Rechtsprechung wird vertiefend wirken, wenn die Urteile transparent und schlüssig aus dem Gemeinschaftsrecht hergeleitet sind und wenn die kurzfristig in den Mitgliedstaaten anfallenden Kosten gering bleiben. Sie gehen in das Politikerkalkül ein, während langfristig wirkende Konsequenzen - auch wenn sie einschneidend sind - vernachlässigt werden. Insgesamt hat im Zuge des Vertiefungsprozesses eine Machtverschiebung von den intergovernmentalen zu den supranationalen Organen stattgefunden. Dies gilt vor allem für die Integration im wirtschaftlichen Bereich, während die Außen- und Sicherheitspolitik sowie die Innen- und Justizpolitik intergovernmental organisiert sind. 4. Einschränkung der integrationspolitischen Strategieoptionen Die Entscheidung für ein bestimmtes Integrationsmodell lässt grundsätzlich Freiheitsgrade in der Wahl der Integrationsstrategien, mit denen die Integration vorangetrieben werden soll. Die Strategien unterscheiden sich hinsichtlich der angestrebten Integrationsfinalität und des bevorzugten Integrationsprozesses. Mit dem praktizierten EU-Vertiefiingsprozess erfolgte implizit die Wahl für bestimmte Strategien und der Verzicht auf Optionen. Es kam zu einer übernationalen Institutionalisierung der Integration, zu einer Zunahme des Supranationalismus, zur Perspektive einer flexiblen Integration und zur Dominanz der Integration durch Konstruktion. Abgewählt wurden hingegen Integrationsstrategien der isolierten Beseitigung nationaler Regulierungen, der intergovernmentalen Kooperation, der Vollintegration sowie der Integration durch einen Systemwettbewerb.
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4.1. Übernationale Institutionalisierung der Integration Wirtschaftliche Integration kann durch den einseitigen oder den vereinbarten Abbau aller Integrationsbarrieren erreicht werden oder durch einen darauf folgenden Aufbau einer Unionsordnung institutionalisiert werden. Nationale Regulierungen werden im zweiten Modell durch gemeinsame Regulierungen ersetzt. Zusätzlich werden gemeinsame Spielregeln und Organe vereinbart. Der Integrationsprozess der Europäischen Union folgte diesem zweiten Muster. Er kann daher auch als ein Top-down-Ansatz interpretiert werden. Er startete bereits mit einem hohen Institutionalisierungsgrad, der weiter erhöht wurde. Die sukzessive Integration der Güter- und Faktormärkte wurde von Anfang an nicht nur von flankierenden Politiken (z. B. Wettbewerbspolitik) begleitet, sondern von gemeinsam gestalteten sektoralen Politiken wie der gemeinsamen Agrarpolitik und kompensierenden Maßnahmen. Dazu kamen später Elemente der makropolitischen Integration über die Wirtschafts- und Währungsunion. 4.2.
Supranationalismus
Die Europäische Union ist heute eine hybride Ordnung, die einen Mix aus intergovernmentalen und supranationalen Elementen darstellt. Ihre Entwicklung erfolgte in diesem Spannungsfeld der Interessen der Mitgliedstaaten und jenen der Gemeinschaftsorgane. Ist der Integrationsprozess nicht von vorneherein supranational angelegt, ist ein Strategiewechsel in der Form zu erwarten, dass er in einzelnen Sachgebieten mit intergovemmentalen Elemente begonnen und später mit einer Verstärkung der supranationalen Anteile fortgesetzt wird. Das Kriterium für die Differenzierung dieser beiden Strategien ist die Allokation der Regelungskompetenz im Zusammenwirken mit anderen Staaten (Theurl 1992). Sie bleibt im intergovemmentalen setting vollständig bei den einzelnen Mitgliedstaaten, während im supranationalen Modell ein formeller Souveränitätstransfer stattfindet. Sie wird dann vollständig an Gemeinschaftsorgane abgetreten oder kann nur gemeinsam mit anderen Mitgliedstaaten ausgeübt werden. Intergovemmentale Kooperation umfasst die national gestalt-, Steuer- und beendbare Zusammenarbeit in Bereichen übereinstimmender Interessen. Trotz Kooperationsabkommen bleibt dem Mitglied die Freiheit, in jedem konkreten Fall neu darüber zu entscheiden, ob die Kooperation angebracht ist. Supranationale Integration erzwingt hingegen die Akzeptanz von Entscheidungen und Entwicklungen, die gegebenenfalls gegen die nationalen Präferenzen verstoßen. In der Europäischen Union spiegelt sich der supranationale Modus in den gemeinsamen Organen, in den gemeinsamen Politiken und in der Bedeutung der Rechtsprechung des EuGH. Die intergovemmentale Praxis kommt in der Koordination der nationalen Wirtschafts-, Außen- und Innenpolitik zum Tragen. Der EU- Vertiefungsprozess spiegelt heute eine Zunahme der supranationalen Elemente, die mit der Einheitlichen Europäischen Akte begann und sich weiter fortsetzte. 4.3. Flexible Integration Die Strategie der Vollintegration stand am Beginn des EU-Integrationsprozesses, ein einheitlicher formeller Integrationsstand für alle Mitglieder, konkretisiert durch den
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Acquis communautaire. Damit verbunden waren gemeinsam beschlossene und vollzogene Vertiefungsschritte und die Übernahme des aktuellen institutionellen Bestandes durch neue Mitglieder. Die Akzeptanz von Elementen einer flexiblen Integration ist Reaktion auf langwierige Entscheidungsfindungsprozesse mit Minimalkompromissen, auf die Perspektive einer deutlichen Vergrößerung der Mitgliederzahl und deren damit verbundene Heterogenität, auf den Einbezug von sensiblen Integrationsbereichen und auf unterschiedliche Vorstellungen über die Finalität, die Strategien und die Geschwindigkeit des Integrationsprozesses im Rahmen des Konzeptes der Vollintegration. Dabei soll flexible Integration hier für alle Modelle stehen, die die Vorgabe eines einheitlichen formellen Integrationsstandes für alle Mitglieder aufheben. Angesprochen sind einerseits Sonderlösungen für einzelne Mitglieder bzw. die Berücksichtigung spezifischer Merkmale und Präferenzen, andererseits unterschiedliche Integrationsgeschwindigkeiten. Immer geht es um die Strukturierung der Mitgliedergruppe durch eine Separierung von homogenen Teilgruppen, also von Clubs im Club (Deubner 2003). Im EU-Vertiefungsprozess waren Elemente der so beschriebenen Flexibilität zuerst ungern tolerierte Ausnahmen von der als Norm angesehenen Vollintegration oder temporäre Abweichungen, um eine Verzögerung des gesamten Vertiefüngsprozesses zu verhindern: Lange Anpassungs- und Übergangsfristen bei Beitritten und Vertiefungsschritten, Opt-out-Klauseln und Arrangements neben den eigentlichen Integrationsverträgen. Es handelte sich um Ausnahmeregeln, die auf der Basis des primären Gemeinschaftsrechts vereinbart wurden. Mit dem Vertrag von Amsterdam fand die Verstärkte Zusammenarbeit Eingang in jene Teile der Unionsordnung, die den EGV sowie die PJZ beinhalten. Damit wurde die Setzung von Sekundärrecht durch eine Teilmenge von Mitgliedstaaten möglich, wobei jedem Mitglied der Europäischen Union faktisch aus wichtigen Gründen der nationalen Politik ein Vetorecht gegen die verstärkte Zusammenarbeit bleibt, auch wenn es sich selbst nicht beteiligen will. Diese Form der Flexibilität wurde bisher nicht in Anspruch genommen. Dennoch ist der Status einer Vertieften Integration der Europäischen Union faktisch mit einer Zunahme der flexiblen Integration verbunden, auch wenn dies - auf den ersten Blick - als Widerspruch erscheinen mag. 4.4. Integration durch Konstruktion Diese beiden Strategien unterscheiden sich dadurch, ob nationale Wirtschaftsordnungen indirekt miteinander in Wettbewerb treten oder ob einheitliche Standards vereinbart werden. Im Rahmen der ersten Strategie sind die gemeinsamen Spielregeln so ausgestaltet, dass Wirtschaftssubjekte bei ihren Dispositionen zwischen den Systemen wählen können, was integrationsfordemd wirkt. Im zweiten Falle werden einheitliche Rahmenbedingungen durch Harmonisierung oder Vergemeinschaftung hergestellt, also Wahlmöglichkeiten abgebaut. Im Zuge des EU-Vertiefungsprozesses wurden beide Strategien nebeneinander angewendet (Müller 1999; Mussler 1998). Die vier Grundfreiheiten sowie das gemeinsame Wettbewerbsrecht entsprechen der ersten Strategie. Sie sind Element des supranationalen Teils der Unionsverfassung und durch die Rechtsprechung des EuGH abgesichert, haben also „die Qualität subjektiver Rechte auf staatlichen Regelungsverzicht" {Mussler und Streit 1996, S. 278).
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Die gemeinsamen sektoralen Politiken entsprechen hingegen ebenso einer Integrationsstrategie durch Konstruktion wie die Währungsunion und wie die Ansätze einer Koordination und Disziplinierung der nationalen MakroWirtschaftspolitik. Während diese Strategien am Beginn des EU-Integrationsprozesses parallel angewendet wurden und der Schaffung und Sicherung eines marktwirtschaftlich organisierten europäischen Wirtschaftsraumes dienen sollten, verstärkten sich die Elemente der Konstruktion bereits in der Einheitlichen Europäischen Akte. Sie dominierten die folgenden formellen Integrationsschritte. Im Zuge des EU-Vertiefungsprozesses fand eine Hinwendung zu einer Integration durch Konstruktion statt. 5. Unterstützung durch integrationspolitische Meta-Regeln Abschließend ist zu fragen, ob im Zuge der EU-Vertiefimg die so skizzierte Strategiewahl zusätzlich unterstützt wurde bzw. wie sie abgesichert wurde. Es ist nahe liegend, nach Meta-Regeln zu suchen, die in der Lage sind, den Integrationsprozess zu steuern. Dabei ist festzuhalten, dass manche dieser übergeordneten Regeln den Vertiefungsprozess fördern, manche ihn hemmen und manche ihn überhaupt nicht beeinflussen. Sie weisen also unterschiedliche Bezüge zur EU-Vertiefung auf: Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts bedeutet, dass im Falle eines Widerspruchs zwischen nationalem Recht und Gemeinschaftsrecht letzteres dominiert. Diese Auffassung ist keine Vertragsbestimmung und hat sich seit den 1960er Jahren herausgebildet. Ihr wurde vor allem durch den EuGH und darauf folgend durch die Anerkennung in der nationalen Rechtsprechung und durch die Organe der Mitgliedstaaten zur allgemeinen Anerkennung verholfen. Stehen Bestimmungen des nationalen Rechts gegen das EURecht, gilt für Erstere, dass sie ohne weiteres unanwendbar sind. Diese Praxis wirkt vertiefend. Sie hat zur Folge, dass in späteren Akten der Rechtsetzung und -auslegung nicht mehr hinter die bereits bestehende Inanspruchnahme von Kompetenzen durch europäische Gremien zurückgegangen wird. Das Prinzip der Gemeinschaftstreue (Kooperationsprinzip) besagt, dass eine gegenseitige Treuepflicht die Mitglieder anhält, alle Maßnahmen zu ergreifen, die sich aus dem Primär- und Sekundärrecht ergeben. Insbesondere sind Handlungen zu unterlassen, die der Verwirklichung der Vertragsziele entgegenstehen. Auch dieses Prinzip wirkt vertiefend. Es wird dann relevant, wenn eine Rechtsfortbildung oder Interpretation durch den Gerichtshof nötig wird oder wenn ein Mitglied überstimmt wird und dennoch eine gemeinschaftsweite Implementierung vorgesehen ist. Das Prinzip der Einzelermächtigung beinhaltet, dass der Europäischen Union Kompetenzen explizit von den Mitgliedstaaten übertragen werden. In Bezug auf das sekundäre Gemeinschaftsrecht besagt es, dass jeder verbindliche Rechtsakt eines Organs der EU eine Rechtsgrundlage im Primärrecht aufzuweisen hat. Dieses Prinzip wirkt per se vertiefungshemmend, seine Relativierung jedoch vertiefungsfördernd. Die Relativierung besteht in einer Generalklausel zur Setzung von sekundärem Recht zur Verwirklichung von Zielen des Binnenmarktes, wenn „die hierfür erforderlichen Befugnisse nicht vorgesehen sind" (Art. 308 EGV). In diese Richtung wirken auch die Praxis der implied powers und die Praxis der effet utile (Oppermann 1999). Diese Instrumente sollen trotz des Einzelermächtigungsprinzips Vertiefung sicherstellen. Die erste Praxis soll eine
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vertragsimmanente Fortentwicklung des Gemeinschaftsrechts ohne formelle Vertragsänderung ermöglichen (Handlungsspielräume bei gegebenen Institutionen). Vor der Vereinbarung des Vertrags von Maastricht wurde dieses Instrument großzügig angewendet, wenn es zur Zielverwirklichung der Union erforderlich schien und entsprechende Befugnisse auf Europaebene nicht vorhanden waren. Mit den formellen Kompetenzerweiterungen durch die Verträge von Maastricht und Amsterdam trat es in den Hintergrund. Implied powers geht von der Berücksichtigung existierender Sachzusammenhänge aus, effet utile will die Erzielung nützlicher Wirksamkeit und stellt auf die volle Ausschöpfung von Gemeinschaftsbefugnissen ab. Mit dem Einstimmigkeitsvorbehalt im konstitutionellen Bereich und in sensiblen Politikfeldern sollen spezifische nationale Interessen geschützt und Mitglieder nicht zu einer ungewollten Vertiefung gezwungen werden. Es ist zur Kenntnis zu nehmen, dass eine Tendenz zur Reduzierung der Bereiche mit Einstimmigkeit besteht. Das Subsidiaritätsprinzip (Art. 5 EGV) wurde mit dem Vertrag von Maastricht eingebracht und mit dem Vertrag von Amsterdam konkretisiert. Liegt die Zuständigkeit nicht ausschließlich auf Europa-Ebene, ist zu überprüfen, ob die Ziele der vorgesehenen Maßnahme alternativ auf der Ebene der Mitgliedstaaten ausreichend erreicht werden können. Adressaten sind die Organe der Europäischen Union, denen auch die Prüfung der komparativen Eignung der Aufgabenerfüllung obliegt. Faktische Bedeutung kann das Prinzip nur für die Bereiche haben, die in den supranationalen Teil der Gemeinschaft fallen. Die konkrete Wirksamkeit des Subsidiaritätsprinzips als Bremse der Vertiefung stößt an die Grenzen der Operationalisierbarkeit und an den konkreten Nachweis einer nicht ausreichenden Erfüllbarkeit auf Mitglieder- und einer besseren Aufgabenerfüllung auf Europaebene. „Diese Unbestimmtheiten tragen entscheidend zu der verbreiteten und wohl berechtigten Skepsis gegenüber dem Subsidiaritätsprinzip als justitiabler Kompetenzausübungsschranke bei" (Pechstein und König 1998, S. 88). Vorerst ist davon auszugehen, dass der Vertiefungsprozess dadurch nicht gehemmt wird. Die letztlich ungeklärte politische Finalität des europäischen Integrationsprozesses hat die konkrete Institutionalisierung der Europäischen Union bisher kaum restringiert, also auch nicht zur Vertiefung beigetragen. Dies könnte sich mit der Vereinbarung einer Verfassung der Europäischen Union ändern. Die allgemeinen Grundsätze der Union zur politischen Ordnung und zur Wirtschaftsordnung wirken vor allem als Beitrittsbedingung, haben aber keinen direkten Bezug zur EU-Vertiefung entfaltet. Zwar bringt der Acquis communautaire den Stand der Vertiefung zum Ausdruck. Er wirkt jedoch über die Verpflichtung zur Übernahme durch neue Mitglieder nur dann indirekt auf den weiteren Vertiefungsprozess, wenn solche Mitglieder aufgenommen werden, für die er das gerade noch akzeptable Niveau aufweist. 6. Fazit und Perspektive Der Integrationsstatus der Europäischen Union wird häufig als Vertiefte Integration bezeichnet. Grundsätzlich kann ein solcher Status zwei Interpretationen erfahren. Einmal kann ein Wirtschaftsraum entstanden sein, in dem politische Grenzen in ökonomische Kalküle nicht mehr eingehen: eine vollständige Marktintegration. Dieser Interpretation wurde hier nicht gefolgt. Die Vertiefte Integration der Europäischen Union wurde
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vielmehr als das konkrete Institutionengefuge der Integration verstanden und der Prozess der Vertiefung korrespondierend als Institutionalisierung oder Konstitutionalisierung der Integration bezeichnet. In diesem Sinne ist Vertiefte Integration institutionalisierte Integration. Es wurde aufgezeigt, weshalb eine Institutionalisierung nahe liegen kann und welche Konsequenzen - einmal begonnen - für den Prozess der Vertiefung folgen. Die Pfadabhängigkeit des EU-Integrationsprozesses ist evident. Differenziert wurden die Entwicklung der Institutionenstärke, der Kompetenzverteilung und die Wahl der Integrationsstrategie. Die Vertiefung der EU korrespondierte mit dem Verzicht auf den Abbau von Regulierungen, mit einer Zunahme des Supranationalismus, mit der Konstruktion von Integration und mit der Perspektive einer flexiblen Integration. Manche Meta-Regeln des europäischen Integrationsprozesses fördern diesen Modus der Vertiefung, andere sind nicht in der Lage, ihn zu hemmen und einige haben keinen Einfluss darauf. Auf diesem Stand ist zu erwarten, dass eine weitere Vertiefung auf dem eingeschlagenen Pfad erfolgen wird. Sachliche und institutionelle Zusammenhänge wirken in diese Richtung. Allerdings ist davon auszugehen, dass die bevorstehende Erweiterungsrunde den Vertiefungsprozess vorerst stoppen oder zumindest verlangsamen könnte. Derzeit kann kaum abgeschätzt werden, welche Effekte eine Verfassung der Europäischen Union auf den Vertiefungsprozess auslösen und ob eine solche tatsächlich vereinbart wird.
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Amerikanische Integration: NAFTA und FTAA als ,neuer Regionalismus'
Heinz G. Preuße
Inhalt 1. Einleitung
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2. Der ,neue Regionalismus'
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2.1. Politische Ansätze zur Erklärung des .neuen Regionalismus' 2.2. Ökonomische Ansätze zur Erklärung des .neuen Regionalismus' 2.3. Konsequenzen für das Konzept des .neuen Regionalismus' 3. NAFTA 3.1. Entstehung 3.2. Wichtige Charakteristika des NAFTA-Vertrages 3.3. Auswirkungen der NAFTA
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4. FTAA - Freihandel von Alaska bis Feuerland?
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Literatur
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1. Einleitung Unter ,neuem Regionalismus' versteht man oft die Entstehung einer Vielzahl neuer (und die Wiedergeburt einiger alter) regionaler Handelsabkommen seit den frühen 1990er Jahren. Eine besondere Bedeutung kommt für diesen neuen Regionalismus den USA zu, die sich bis zur Gründung der kanadisch-US-amerikanischen Freihandelszone (CUSTA) im Jahre 1989 weitgehend aus regionalen Verbindungen heraus gehalten hatten und nunmehr zu einem Hauptakteur geworden sind." Mit der Gründung der NAFTA hat die Regionalisierung der Weltwirtschaft eine neue Dimension erreicht. Dies gilt im rein quantitativen Sinne, da mit der NAFTA ein neuer regionaler Großraum neben der Europäischen Union (EU) entstanden ist, und diese Entwicklung einer Reihe weiterer regionaler Aktivitäten (zumindest) Vorschub geleistet hat. So sind seither allein in ,den Amerikas' über 30 regionale und bilaterale Präferenzabkommen (meist Freihandelsabkommen genannt) entstanden. Mit der APEC, den Freihandelszonen zwischen Mexiko und Chile und der EU, sowie der USA mit Jordanien und Israel haben sich darüber hinaus Kontinente überspannende Freihandelszonen etabliert. 2 Schließlich soll mit der Free Trade Area of the Americas (FTAA) bis zum Jahre 2005 eine ganz Amerika umfassende Freihandelszone geschaffen werden. Die Beurteilung des ,neuen Regionalismus' darf sich allerdings nicht auf die quantitativen Aspekte beschränken. Das wird deutlich, wenn man berücksichtigt, dass regionale Wirtschaftsabkommen immer auch eine politische Dimension aufweisen. Sie entstehen in einem sich laufend verändernden ökonomischen und politischen Umfeld und werden durch dieses geformt. 3 Da sich dieses Umfeld seit dem Ende der 1980er Jahre substanziell verändert hat (Globalisierung, Ende des Kalten Krieges), wird die ,neue Regionalisierung' von vielen Autoren (insbesondere politischen Wissenschaftlern) auch als ein qualitativ neues Phänomen bezeichnet. Um NAFTA (FTAA) als ,neuen Regionalismus' analysieren zu können, ist es mithin erforderlich, etwas genauer heraus zu arbeiten, was in dieser Arbeit unter dem Begriff .neuer Regionalismus' verstanden werden soll. Im 1. Kapitel soll deshalb eine kursorische Diskussion des neuen Regionalismus unter Berücksichtigung politischer Erklärungsansätze erfolgen. Im 2. Kapitel wird die NAFTA vorgestellt und diskutiert. Anschließend wird im 3. Kapitel der ,neue Regiona-
1
Wirtschaftshistoriker weisen allerdings daraufhin, dass die USA schon seit dem 19. Jahrhundert deutliche regionalpolitische Ambitionen artikuliert haben, die jedoch nicht zu konkreten Abkommen führten. Auch unterhalten die USA bereits seit 1965 ein bilaterales Freihandelsabkommen für den Automobilsektor mit Kanada und seit 1985 eine Freihandelszone mit Israel. Die explizite Einbeziehung der regionalen Option in die strategische Ausrichtung der US-Außenhandelspolitik erfolgte 1984 mit der Erweiterung des ,dual track approach' (Multilateralismus + Unilateralismus) zum ,multi track approach'. Ausfuhrliche Diskussionen der historischen Zusammenhänge finden sich u. a. in Fawcett (1995), Krueger (1999) und Mace (1999, S. 20 ff.).
2
Vgl. Inter-American Development Bank (2002), Beyond Borders, The New Regionalism in Latin America, 2002 Report, Washington, D.C., S. 26 (IADB 2002). Ökonomische Ziele gehen dabei oftmals lediglich als Mittel zum Zweck ein. D. h., sie sind, wie bei der europäischen Vereinigung, instrumenteil für die Verwirklichung eines übergeordneten Ziels (z. B. Frieden).
3
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lismus' in Amerika mit Blick auf die geplante gesamt-amerikanische Freihandelszone in einigen wichtigen Punkten dargestellt. 2. Der ,neue Regionalismus' 2.1. Politische Ansätze zur Erklärung des ,neuen Regionalismus' Der Begriff ,new regionalism' wird derzeit in der politischen Literatur relativ zwanglos gebraucht. Dabei können einige Autoren der Versuchung nicht widerstehen, möglichst alle gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Veränderungen dieser Welt seit den 1980er Jahren als Belege dafür heranzuziehen, dass der neue Regionalismus sich vom alten inhaltlich unterscheidet.4 Die meisten dieser Veränderungen erklären allerdings eher das Wiederaufleben des traditionellen Regionalismus als spezifische qualitative Veränderungen des Phänomens, die das Prädikat ,new regionalism' rechtfertigen würden. So ist argumentiert worden, dass das Ende des Kalten Krieges zu bedeutenden politischen Kräfteverschiebungen und neuen Bündniskonstellationen geführt habe. Diese Entwicklung habe auch die Entstehung neuer regionaler Freihandels- bzw. Integrationszonen begünstigt. Die neuen regionalen Abkommen in Osteuropa, aber auch die Osterweiterung der EU können als Beispiele genannt werden. Aber auch die politischen Konstellationen in vielen Entwicklungsländern sind durch die Auflösung der West-Ost-Konfrontation verändert worden. Viele dieser Staaten hatten die Bündnissysteme des Kalten Krieges zu ihrem Vorteil ausgenutzt, indem sie sich ideologische Gefolgschaft für ökonomische Unterstützung abkaufen ließen. Nachdem diese stets bereitwillig sprudelnden Quellen für Subventionen versiegt waren, mussten sie sich allein neu orientieren. Neue regionale Bündnisse zur Stärkung der politischen und ökonomischen Positionen im internationalen Raum waren die Folge.5 Eine neue Qualität des Regionalismus lässt sich daraus jedoch auch nicht zwingend ableiten. Mit Blick auf den amerikanischen Regionalismus ist insbesondere die These der abnehmenden Hegemonialmacht der USA (Keohane 1984) als Erklärungsparameter des neuen Regionalismus herangezogen worden. Nach dieser Vorstellung nötigt eine abnehmende Hegemonialstellung den Hegemon Koalitionen einzugehen, um seine Stellung im internationalen Raum abzusichern. Für die USA standen hierfür mehrere Optionen offen. Neben der Idee, den multilateralen Freihandel zusammen mit so genannten ,like minded countries' (Europa, Japan) in einem ,GATT plus' voranzutreiben, stellte die Suche nach regionalen Partnern eine Möglichkeit der Absicherung hegemonialer Ansprüche dar. Die Gründung der NAFTA nach dem Scheitern der ,GATT plus' Idee und den stagnierenden GATT-Verhandlungen im Rahmen der Uruguay-Runde passt ebenso in dieses Bild, wie die derzeit anstehende Bildung der gesamtamerikanischen Freihandelszone. Auch dieser Ansatz kann allerdings für sich genommen keine qualitative Neuorientierung regionaler Bündnisse erklären.
4 5
Ein Beispiel hierfür ist die umfangreiche Auflistung bei Hettne (1999, S. 6 ff.). Auch die neue Aufgeschlossenheit in Lateinamerika gegenüber dem hemisphärischen Freihandelsprojekt kann auf diese Weise erklärt werden; siehe dazu Kapitel 3.
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Um eine veränderte inhaltliche Ausrichtung regionaler Integrationsprojekte seit den 1990er Jahren zu begründen, erscheint ein anderer Entwicklungsprozess eher geeignet zu sein. Er dient zudem auch als Bindeglied zur ökonomischen Sicht der Regionalisierung. Es ist dies die Globalisierung der Weltwirtschaft. Unter Globalisierung im ökonomischen Sinne können drei übergeordnete Entwicklungen subsumiert werden: erstens die Intensivierung der internationalen Handelsbeziehungen bei gleichzeitiger Erweiterung des Sektors handelbarer Güter (und Dienstleistungen), zweitens die Internationalisierung der Produktion (mit der Folge, dass multinationale Unternehmen (MNUs) in zunehmendem Maße grenzübergreifend bzw. transnational agieren) und drittens die zunehmende internationale Kapitalmobilität. Aus ökonomischer Sicht haben durch die Globalisierung die Interdependenzen zwischen den Staaten und den Volkswirtschaften erheblich zugenommen (mutual dependency), so dass Veränderungen der Handlungsbedingungen in einzelnen Staaten und Regionen sehr viel schneller in den anderen beteiligten Ländern wahrgenommen werden und zu Reaktionen herausfordern. Mit diesen ökonomischen Entwicklungen einhergehend sind die Distanzen zwischen den Staaten (politischen Systemen, Kulturen) geschrumpft, so dass persönliche, sachliche und ideologische Verbindungen (Perraton u. a. 1997) erweitert und vertieft und unmittelbar miteinander konfrontiert werden. Jameson (1989) spricht in diesem Zusammenhang von einer dritten großen Expansionsphase des Kapitalismus (nach der Entwicklung des nationalen Markts und der imperialen Phase). Zentral für diese neue Entwicklung ist „the reconfiguration of space-time experiences" (Gamble 2002, S. 33), die zur „spacial and temporal implosion of the globe" (Ruggie 1993, zitiert nach Gamble) geführt habe. Die Herausforderungen der Globalisierung sind daher nicht auf ökonomische Sachverhalte begrenzt. Durch die höhere Intensität des Austauschs von Waren, Leistungen und Informationen erweitert und vertieft sich auch das Spektrum menschlicher Begegnungen und Erfahrungen. Unterschiede und Inkompatibilitäten zwischen einzelnen nationalstaatlichen Konzepten (Kulturen) treten hierdurch deutlicher hervor. Die zunehmende Konfrontation mit fremden Lebensweisen und fremdem Gedankengut fordert Anpassung und Entwicklung heraus - aber auch Abneigung und Widerstand.6 Ein zunehmendes Spannungsverhältnis als Folge der Globalisierung wird auch zwischen Ökonomie und Politik diagnostiziert. Während MNUs als Entscheidungsraum in zunehmendem Maße die Weltwirtschaft nutzen, verharrt die Politik in nationalstaatlichen Konzepten. Aus dieser Erkenntnis leitet sich ab „the contradictory character of the world system as a (relatively) unified economy and a (relatively) fragmented polity" (Gamble 2002, S. 22). Manche Autoren diagnostizieren aus dieser Entwicklung eine Bedrohung des Nationalstaates bis hin zu seiner Auflösung (medievialism).7 Zwar scheint diese These im Angesicht der Tatsache überspitzt, dass die Nationalstaaten durch die Globalisierung keineswegs entmachtet, sondern allenfalls geschwächt worden sind (Anderson und Goodman 1995), jedoch mahnen die ökonomischen und gesell6 7
Huntington (1996) hat diesen zweiten Aspekt zur These vom ,clash of civilizations' verdichtet. Originäre Beiträge zu diesem Thema finden sich in Bull (1977); Cox (1996) und Ruggie (1993, 1998).
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schaftlichen Herausforderungen der zunehmenden Internationalisierung der Weltwirtschaft ein geeignetes (innovatives) Management grenzüberschreitender Themengebiete an (functional integration). Die Regionalisierung wird als ein solches Konzept verstanden: „one of the driving forces of the current regionalism is an attempt to protect different models of economic and cultural Organization" (Gamble 2002, S. 29). Auch Padoan argumentiert in diesem Sinne, wenn er ein institutionelles Ungleichgewicht des globalen Systems feststellt und im „cooperative regionalism" (als Gegenposition zum „conflict oriented regionalism") ein Bindeglied zwischen „national and international politics" sieht (Padoan 2002, S. 40 f.). Ohne dass in diesem Rahmen vertieft auf die politisch geprägten Überlegungen eingegangen werden kann, lassen sich zwei für die weitere Betrachtung wichtige Erkenntnisse ableiten. Erstens, es wird deutlich, dass Regionalisierung im Zeitalter der Globalisierung weit mehr meint als die simple Formierung von Freihandelszonen und Zollunionen, wie sie in der ökonomischen Theorie traditionell behandelt wird. Regionalisierung als der Versuch, nationale Souveränität durch „shared sovereignty" auf regionaler Ebene zu ergänzen, um ihrer Erosion Einhalt zu gebieten, ist ein eminent politischer Ansatz (Schirm 1999, S. 17 ff.) und erfordert tiefer greifende Integrationskonzepte als die bloße Liberalisierung der Güter- und Faktormärkte. Diese Erkenntnis hat zumindest im Ansatz auch in die moderne ökonomische Integrationstheorie Eingang gefunden. Darauf wird gleich zurückzukommen sein. Zweitens, der politische Ansatz begreift den neuen Regionalismus grundsätzlich nicht als ein transitorisches Phänomen (Mistry 1999). Damit steht er in einem fundamentalen Widerspruch zu der GATT/WTO-kompatiblen ökonomischen Interpretation präferenzieller Regionalabkommen als „building blocks" (Bhagwati und Panagariya 1999, S. 36) auf dem Wege zu einer höherwertigen multilateralen Ordnung. Die Frage nach der Kompatibilität eines so verstandenen ,new regionalism' mit dem multilateralen Ansatz muss vor diesem Hintergrund neu untersucht werden. Dabei muss vor allem die Bedeutung der multilateralen Ordnung als ordnungspolitischer Rahmen der Weltwirtschaft angemessen berücksichtigt werden. In den meisten politischen Arbeiten wird dieser Aspekt vernachlässigt, wenn nicht gar negiert,8 so dass das Konzept des multilateralen Freihandels als ein beliebiges unter vielen anderen diskutiert wird. Eine Hinwendung zur ökonomischen Sicht des Regionalismus kann diesem Manko abhelfen. 2.2. Ökonomische Ansätze zur Erklärung des ,neuen Regionalismus' Die traditionelle ökonomische Theorie der Integration basiert auf Viners Konzept der Handelsschaffung und -umlenkung (Viner 1950), das in den 1960er und 1970er Jahren zahlreiche Erweiterungen erfahren hat (Meade 1955; Cooper-Massell 1965; Corden 1972). Erst im Zuge der wissenschaftlichen Diskussion des konkreten Integrationsfalls .Europäische Gemeinschaft' bzw. ,Europäische Union' wurden auch dynamische Konzepte verstärkt in die ökonomische Analyse einbezogen. Diese neuen ökonomischen 8
Notable Ausnahmen sind z. B. Keohane (1984); Nau (1995) und die in dieser Tradition stehenden Arbeiten.
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Konzepte stellen insofern auch eine Annäherung an die politischen dar, als sie sich mit der Frage tiefer, über die bloße Handelsliberalisierung hinaus gehender Integration beschäftigen. Im Konzept der ,Deeper integration' (Lawrence 1996) wird Handelsliberalisierung ergänzt durch freien Faktorverkehr und weitere Elemente funktional begründeter Zusammenarbeit. Institutionell wird sie durch regionale politische Kooperation (bis hin zur Einrichtung supra-nationaler Institutionen) abgesichert. Das Ziel ist der gemeinsame Markt oder gar die politische Union. 9 Politische und ökonomische Ansätze scheinen auf diese Weise ineinander überzugehen. Der gemeinsame Markt (die politische Union) erscheint als ein System politischer und ökonomischer Regelungen zur Bildung einer neuen regionalen Einheit. Dennoch weist die ökonomische Sichtweise (zumindest aus einer marktliberalen Sicht) eine wichtige Besonderheit auf, indem sie die Schaffung einer Wachstumsgemeinschaft als primäres Ziel der regionalen Integration begreift. Es wird argumentiert, dass tiefe Integration die Chance bietet, einen größeren und dynamisch wachsenden Wirtschaftsraum zu etablieren. Wichtige Voraussetzungen hierfür sind die Durchsetzung institutioneller Neuerungen (Abbau wachstumshemmender nationaler Regelungen) und Offenheit gegenüber Drittstaaten. 10 Das Konzept der tieferen Integration ist mithin auch ein Konzept der .offenen Regionalisierung' (Bergsten 1997). Offenheit bedeutet dabei immer zugleich Offenheit der Außengrenzen und Offenheit gegenüber neuen Mitgliedern. Dies beinhaltet prinzipiell auch die Option, über die regionale Integration zum multilateralen Freihandel voranzuschreiten. Damit wird auch ein wesentlicher Unterschied der ökonomischen zu den zuvor dargestellten politischen Ansätzen deutlich. Letztere tendieren dazu, regionale Integration als eine defensive Antwort auf die im Zuge der Globalisierung anwachsenden internationalen Dependenzen zu interpretieren. Das Ziel ist letztlich die Stabilisierung nationaler Machtpositionen in einer ökonomischen und politischen Umwelt, die die Ausübung nationaler Souveränitätsrechte zunehmend begrenzt, ohne dass ein geeigneter globaler Ordnungsrahmen entstehen würde. Regionalisierung füllt das hierdurch entstehende politische Vakuum und ist daher im Prinzip auf Dauer angelegt. Positive ökonomische Effekte der Regionalisierung gehen in dieses Kalkül nur insoweit ein, als sie dem Ziel der Machterhaltung dienen. Der ökonomische Ansatz stellt hingegen den wirtschaftlichen Erfolg der Regionalisierung in den Mittelpunkt der Analyse. Dieser Erfolg leitet sich aus der Schaffung großer (und effizienter) regionaler Märkte ab, die ihre Dynamik aus der Offenheit gegenüber Drittstaaten gewinnen. Damit bleibt multilateraler Freihandel auch das übergeordnete Ziel. Regionalisierung ist ein Instrument zur Realisierung dieses übergeordneten Ziels. Sie wird damit zu einem transitorischen Phänomen, das sich im Erfolgsfall selbst überlebt.
9
10
Das Konzept der .tiefen Integration' ist in dieser Form mehrdeutig, da darunter recht unterschiedliche Varianten der Regionalisierung subsumiert werden können. Die Begründung der Wachstumseffekte tiefer Integration leitet sich aus den statischen und dynamischen Gewinnen des internationalen Handels, ergänzt um freien Kapitalverkehr, ab. Zur näheren Begründung siehe Preuße (2004), in Vorbereitung.
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2.3. Konsequenzen für das Konzept des ,neuen Regionalismus' Vor dem Hintergrund der skizzierten politischen und ökonomischen Aspekte des .neuen Regionalismus' im Zeitalter der Globalisierung springen zwei kritische Punkte ins Auge. 1. Der neue Regionalismus hat sich von dem Ziel der Bildung traditioneller Freihandelszonen und Zollunionen gelöst. Er umfasst - in sehr unterschiedlicher Intensität Elemente der tieferen Integration und umschließt auch nicht ökonomische Ziele (politische Macht, Demokratie, Umwelt usw.). Das gilt (wie im Falle der NAFTA) auch für regionale Abkommen, die sich offiziell als Freihandelszonen bezeichnen. Tiefere Integration ist zu einem erheblichen Teil eine Antwort auf die Herausforderrungen der Globalisierung.11 Das gilt zum einen aus funktionalen Gründen (Zunahme grenzüberschreitender Probleme, zunehmende Verzahnung nationaler und internationaler Fragen der Wirtschaftspolitik), zum anderen aufgrund des tatsächlichen (oder auch nur so empfundenen) institutionellen Ungleichgewichts zwischen national begrenzten Souveränitätsrechten und global agierenden ökonomischen Akteuren. 2. Der neue Regionalismus ist der Idee nach ein ,offener Regionalismus'. Offenheit gegenüber Drittstaaten ist aus der ökonomischen Sichtweise (aber auch für viele politische Beobachter) eine unbedingte Voraussetzung für den dauerhaften Integrationserfolg. Allerdings wird Offenheit oft unterschiedlich interpretiert. Eine GATT/ WTO-konforme Offenheit impliziert neben der Offenheit der Märkte gegenüber Drittstaaten auch die Offenheit gegenüber zutrittswilligen Nichtmitgliedern. Dem steht die Auffassung entgegen, dass regionale Integrationsabkommen dauerhaft zwischen der Ebene der Nationalstaatlichkeit und der Ebene des multilateralen Systems angesiedelt sind (Club-Ansatz). Das Augenmerk bei der Beurteilung der NAFTA und des FTAA hat sich auf die konkrete Lösung der Themenbereiche zu richten, die in diesen beiden Punkten angesprochen worden sind. Da .sovereignty sharing' im Rahmen supra-nationaler Kooperation weder seitens der USA noch seitens der Partnerstaaten erwogen wird, entfällt ein wichtiges Kennzeichen ,tieferer' Integration sowohl bei der NAFTA als auch bei FTAA und es verbleiben die Bereiche - länderübergreifende Kooperation in nicht direkt dem internationalen Handel zuordnenbaren Fragen, - Offenheit gegenüber neuen Mitgliedern, - Offenheit der Märkte.
" Es ist allerdings zu beachten, dass bei der Entwicklung der EU ein übergeordnetes politisches Ziel (Friede in Europa) eine herausragende Bedeutung hatte und noch immer hat. Davon unbenommen ist der Einfluss der Globalisierung auf die Ausgestaltung des politischen und ökonomischen Rahmens der Gemeinschaft.
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3.1.
Entstehung
Die NAFTA wurde zum 1.1.1994 ins Leben gerufen. 2001 lebten in der neuen Freihandelsregion 414 Millionen Menschen mit einem aggregierten Bruttosozialprodukt von ca. 11 Billionen US$ ( N A F T A at Eight 2002). Die NAFTA ist das erste Abkommen dieser Art, in dem sich hoch entwickelte Industrienationen mit einem Entwicklungsbzw. Schwellenland verbunden haben. Schlaglichtartig lässt sich die ökonomische Brisanz eines solchen Zusammenschlusses mit Hilfe der Tatsache verdeutlichen, dass das Pro-Kopf-Einkommen Mexikos im Jahre 1994 etwa ein Zehntel des US-amerikanischen betrug. 12 Bei solchen Einkommens- und Entwicklungsunterschieden verspricht Freihandel hohe Erträge, fordert aber auch erhebliche Anpassungsleistungen heraus. Aufgrund der quantitativen Bedeutung der neuen Freihandelszone (NAFTA tritt als neue große Integrationszone neben die EU) verändert sich zugleich das weltweite Kräftediagramm. Schließlich dürfte auch die Weiterentwicklung der multilateralen Handelsordnung durch die NAFTA (und das sich ankündigende FTAA) nicht unbeeinflusst bleiben. Die NAFTA war zunächst ein originäres Projekt der USA und Mexikos. Kanada, das schon seit 1989 durch ein bilaterales Freihandelsabkommen mit den USA verbunden war (CUSTA) stand anfangs abseits, wurde aber aufgrund seiner engen Verflechtungen mit den USA fast zwangsläufig in die Verhandlungen mit hinein gezogen. Im Prinzip ging es Kanada dabei vornehmlich um Schadensbegrenzung. Man war der (irrigen) Auffassung, dass die Öffnung der USA gegenüber Mexiko vor allem zur Handelsumlenkung zu Lasten Kanada führen müsse. 13 Allein die Vorstellung, durch einen separaten Vertrag der USA mit Mexiko in eine ,spokes'-Position gedrängt zu werden, veranlasste Kanada schließlich zur aktiven Beteiligung an dem Projekt. Auch viele Mexikaner standen der NAFTA aufgrund der historischen Ressentiments gegenüber den USA und der traditionell sehr starken Betonung nationaler Eigenständigkeit anfangs skeptisch gegenüber. Allerdings wurde in einem zunehmend als unsicher wahrgenommenen weltwirtschaftlichen Umfeld die Bedeutung der Sicherung des Marktzugangs in die USA für das sich gerade aus der Importsubstitution lösende Mexiko als immer dringlicher empfunden. 14 Gleichzeitig stellte die stärkere Anbindung an die USA ein Instrument zur Absicherung des Reformprozesses im Inneren dar. Da der US-Markt für Mexiko von überragender Bedeutung ist, gingen diese politischen Ziele Hand in Hand mit den ökonomischen, d. h. der Nutzung großer, hoch entwickelter Märkte zur Forcierung des eigenen Entwicklungsprozesses. Mexiko versprach sich insbesondere einen verstärkten Tech12
13
14
Gemessen nach Kaufkraftparitäten halbiert sich dieser Unterschied in etwa (Weltbank, Weltentwicklungsbericht 2000, Table 1). Das Argument unterstellt, dass die komparativen Vorteile Mexikos und Kanadas gegenüber den USA identisch, aber im Falle Mexiko stärker ausgeprägt sind. Darüber hinaus wird die starke Ausprägung des intraindustriellen Handels zwischen den USA und Kanada außer Acht gelassen. Der damalige Präsident Salinas propagierte die neue Freihandelszone mit den USA unmittelbar nach einer Europareise, bei der er den Eindruck gewonnen hatte, dass sich in Europa protektionistische Tendenzen (verbunden mit einer verstärkten Hinwendung nach Osteuropa) durchzusetzen begonnen hatten.
Amerikanische Integration
293
nologietransfer und die Nutzung von Economies of Scale und seiner komparativen Vorteile auf dem nordamerikanischen Markt. Für die USA ist der mexikanische Markt von eher geringer Bedeutung.15 Die Hauptgründe für die Forcierung der NAFTA lagen folglich auf politischen Gebieten. Erstens teilten die USA das Interesse der mexikanischen Regierung an der Stabilisierung des marktwirtschaftlichen Reformprozesses in Mexiko. Neben der außenpolitisch wünschenswerten ökonomischen Stabilisierung des Nachbarlandes spielten dabei vor allem energiepolitische Interessen und das zunehmend als besorgniserregend empfundene Migrationsproblem eine Rolle. Insbesondere die kurz- bis mittelfristig kaum haltbare Behauptung, dass durch NAFTA das Migrationsproblem entschärft werden könne, spielte bei der politischen Vermarktung der NAFTA in den USA eine nicht unbedeutende Rolle.16 Zweitens versuchten die USA mit der Ausübung der regionalen Option Druck auf die Verhandlungen zur Uruguay-Runde auszuüben. Diese Tatsache stützt die These der Hegemonialtheorie, dass der Hegemon versucht, seine schwindende internationale Durchsetzungskraft durch die Suche nach regionalen Partnern zu stabilisieren. 3.2. Wichtige Charakteristika des NAFTA-Vertrages Eine wichtige Säule17 des NAFTA-Vertrages ist der rasche und (nahezu) bedingungslose Abbau der tarifären Handelshemmnisse. Bereits zum 1.1.1994 wurden 53,8 % des mexikanischen und 31 % des US-amerikanischen Exports vollständig von Zöllen befreit. Zum 1.1.2004 sollen beiderseits über 9 9 % der Zölle abgebaut sein.' 8 Spätestens Ende 2008 sollen auch die Zölle in den besonders sensiblen Bereichen Mais und Bohnen (Mexiko) und Gemüse, Obst, Glaskeramik und Schuhe (USA) fallen. Die Vereinbarungen der USA mit Kanada im Rahmen der CUSTA blieben von diesen Planungen weitgehend unberührt, so dass zwischen diesen beiden Staaten Freihandel bereits Ende 1998 weitestgehend realisiert war.19 15
Die ökonomischen Chancen einer Freihandelszone mit Mexiko liegen für die USA vornehmlich in der Nutzung der komparativen Vorteile (der eigenen und der Mexikos beim Faktor Arbeit durch verstärkte Direktinvestitionen). Allerdings sind diese Vorteile nicht unumstritten, da ihre Nutzung erhebliche Handelsumlenkungseffekte aus Ländern mit weit günstigeren Produktionsbedingungen (Asien) in Gang setzen könnte. 16 Zwischen 1991-1998 sind etwa 1,93 Mio. Mexikaner offiziell in die USA eingewandert. Dies waren dreimal so viele Migranten wie in den 1970er Jahren und etwa 25 % aller Einwanderer. Weitaus höher wird die Zahl der undokumentierten Einwanderer aus Mexiko eingeschätzt. 1996 waren über 50 % (2,7 Mio.) der 5 Mio. „undocumented immigrants" Mexikaner. Diese Zahl bedeutet einen Zuwachs gegenüber 1992 von etwa 104 % (siehe Solimano 2001, Tabellen 1 und 2). 17 Eine ausführliche Darstellung und Interpretation des NAFTA-Vertrages finden sich in Senti (1996). 18 Tatsächlich ist dieses Ziel durch mehrere vorgezogene Liberalisierungsrunden schon jetzt (2002) übertroffen worden. " Verbleibende Ausnahmen betreffen vor allem landwirtschaftliche Produkte (Dairy). Eine ausfuhrliche Analyse findet sich in Miller (2002).
294
Heinz G. Preuße
Unter weltwirtschaftlichen Gesichtspunkten sind die handelspolitischen Regelungen der NAFTA gegenüber Drittstaaten von Bedeutung. Die Integrationspartner betonen, dass diese Regeln streng in Übereinstimmung mit Artikel 24 GATT festgelegt worden sind und sich die Außenzollniveaus somit NAFTA-bedingt nicht ändern werden. Insofern darf Charles Ries, einem der Chefunterhändler des Abkommens zugestimmt werden, wenn er behauptet, dass „NAFTA is a good example of how multilateral and regional trade agreements can be complementary (Ries 1995, S. 131). Allerdings kann diese Feststellung unumschränkt nur für die Zollpolitik gelten. Weniger eindeutig ist hingegen die Einschätzung der vielfältigen NTHs. Deren Abbau ist nicht nur schwer zu überprüfen, vielmehr hat NAFTA selbst neue Hemmnisse geschaffen. Ein gängiges Beispiel für derartige neue Hemmnisse ist die Handhabung von Ursprungsregeln. Der Nachweis des Ursprungs von Vorleistungen und Zwischenprodukten wird in Freihandelszonen (mit differierenden Zollstrukturen) erforderlich, wenn das Eindringen von Importen aus Drittländern über das Mitgliedsland mit dem jeweils niedrigsten Außenzoll verhindert werden soll. Es wird dann festgelegt, dass ein Mindestanteil der Wertschöpfung eines Produkts innerhalb der Freihandelszone erbracht worden sein muss, damit sich das Produkt als regionales Produkt (in unserem Falle also als NAFTA-Produkt) qualifiziert. Die Festlegung des ,local content' lässt sich relativ leicht zur Verfolgung protektionistischer Ziele missbrauchen, indem der nationale Wertschöpfungsanteil so hoch angesetzt wird, dass die im NAFTA-Raum konkurrierenden Produzenten genötigt werden, günstiger produzierende externe Vorleister durch hochpreisige Grenzanbieter aus der Region zu ersetzen. Als konkrete Beispiele dieser Art Protektionismus der NAFTA gelten der ,local content' von 62,5 % für Automobile und die so genannte ,yarn forward rule', nach der Garne vollständig aus heimischen (innerhalb der NAFTA produzierten) Rohstoffen hergestellt sein müssen. Die Tatsache, dass Leinen- und Seidenprodukte, für die es keine heimischen Inputs (zu schützen) gibt, von der Regelung ausgenommen sind, macht das Problem besonders deutlich. In einer spezifischen Untersuchung der NAFTA-Politik zu den Ursprungsregeln hat Estevadeordal (1999) zeigen können, dass protektionistische Intentionen die Gestaltung der NAFTA-Regelungen in der Tat signifikant mit bestimmen. Die internationalen Vorbehalte gegenüber NAFTA gründen auch auf der Befürchtung, dass die USA ihre überragende Position gegenüber den beiden kleinen Partnerstaaten ausnutzen könnten. D. h. konkret, dass die USA versuchen könnten, in der NAFTA Regeln durchzusetzen, die sich im multilateralen Umfeld nicht als konsensfähig erwiesen haben, die also den NAFTA-Partnern Bedingungen auferlegen, denen sie bei multilateralen Verhandlungen nicht hätten zustimmen müssen. Als ein Beispiel hierfür kann die Einführung variabler Abschöpfungen in der Übergangsphase beim Export von Obst und Gemüse aus Mexiko angeführt werden, die offiziell mit der Notwendigkeit der Glättung saisonaler Preisschwankungen gerechtfertigt wird. Da die Saisonzeiten im Süden der USA mit denen in weiten Teilen Mexikos identisch sind, bedeutet diese Regelung faktisch, dass mexikanische Produkte immer dann mit besonders hohen Zöllen belegt werden, wenn die mexikanischen Bauern liefern können, und die Zölle sinken, wenn kein Angebot bereit steht. Auch die Seitenabkommen zu den Arbeits- und Umweltstandards gehören zu den kritischen Bereichen der NAFTA.
Amerikanische Integration
295
Schließlich muss die aktuelle positive handelspolitische Bilanz der NAFTA auch aus einem wichtigen anderen Grund vorsichtig beurteilt werden. Aus der Sicht der politischen Ökonomie des Regionalismus wird nämlich argumentiert, dass regionale Integrationsabkommen langfristig zur Marktschließung tendieren, so dass kurzfristig erzielte Erfolge der Handelsliberalisierung wieder zunichte gemacht werden (Bhagwati und Panagariya 1999). Ob sich diese Befürchtung für die NAFTA bewahrheiten wird, ist derzeit allerdings nur schwer abzuschätzen. 20 Eine zentrale Bedeutung wird in den neueren Integrationstheorien dem freien internationalen Kapitalverkehr und insbesondere den ausländischen Direktinvestitionen (FDI) zugemessen. Große Gemeinschaftsmärkte erhöhen ceteris paribus die Attraktivität des Standortes für multinationale Unternehmen (MNUs), 21 und sie verändern die Bedingungen für die optimale räumliche und sektorale Allokation der Ressourcen. Regionalisierung zieht daher neue internationale Unternehmen an und zwingt die bestehenden, sich an die veränderten Handlungsbedingungen anzupassen. ,Regionalized FDI is a Strategie responce ... to changes in relative competitiveness' (Bende-Nabende 1999, S. 50). Diese Aktionen wiederum fordern eine höhere nationale Investitionstätigkeit heraus, so dass sich insgesamt eine Neuorganisation der ökonomischen Aktivitäten im Gemeinschaftsraum vollzieht, in deren Rahmen auch das gesamtwirtschaftliche Produktivitätsniveau angehoben wird. Unter bestimmten (plausiblen) Bedingungen könnten sich sogar permanent höhere Wachstumsraten einstellen (Baldwin 1992). Durch die Einbeziehung des Kapitalverkehrs (und insbesondere der FDI) in die regionalen Integrationsabkommen lassen sich mithin die aus den Handelseffekten erwarteten Wohlfahrtseffekte (deutlich) verstärken. Das gilt insbesondere beim Zusammenschluss zwischen Ländern mit ungleichen Entwicklungsniveaus. Freier Kapitalverkehr und NichtDiskriminierung von Direktinvestitionen finden sich daher inzwischen häufig auch in Integrationsprogrammen, die ,tiefe' Integration auf der Basis supra-nationaler institutioneller Regelungen ansonsten explizit ausschließen. Die NAFTA ist für diese Variante der regionalen Integration ein wichtiges Beispiel. Sie verbindet eine einfache Freihandelszone mit explizit formulierten Regelungen für freien Kapitalverkehr und nicht-diskriminierenden Zugang der Gemeinschaftsunternehmen auf den gesamten NAFTAMarkt. Konkret wurde im NAFTA-Vertrag das .Inländer'-Prinzip vereinbart, die Repatriierung von Gewinnen unterliegt keinen Beschränkungen mehr, und Exportquotenanforderungen für MNUs wurden abgeschafft. 22
20 21
22
Siehe dazu Preuße (2000a). Die höhere Attraktivität des größeren Gemeinschaftsmarktes ergibt sich aus einer ganzen Reihe von Gründen, die sich aus den Theorien der MNUs (Transaktionskostenansatz) ableiten. Vgl. Caves (1996); Bende-Nabende (1999) und Preuße (1991). Eine wichtige Ausnahme stellt der Erdölsektor dar, da die Unveräußerlichkeit der natürlichen Ressourcen an Ausländer seit der Revolution in der mexikanischen Verfassung verankert ist. Vgl. Senti (1996, S. 54). Seither sind die diesbezüglichen Bestimmungen zwar gelockert worden (insbesondere die Beteiligung ausländischer Unternehmen in der Weiterverarbeitung von Primärgütem ist nicht mehr prinzipiell ausgeschlossen), die konstitutionelle .Sicherung' ist aber noch immer wirksam.
296
Heinz G. Preuße
Diese Regelungen für FDI stellen sowohl politisch als auch ökonomisch ein herausragendes Kennzeichen des ,neuen Regionalismus' in Nordamerika dar. Aus politischer Sicht ist dies der Fall, weil MNUs (speziell: US-amerikanischer Provenienz) in Mexiko seit Jahrzehnten als Inbegriff für .imperialistische Ausbeutung' gebrandmarkt, diskriminiert und nur sehr zurückhaltend überhaupt akzeptiert worden waren. Auf keinem anderen Gebiet der mexikanischen Reformpolitiken kommt deshalb die Abkehr von den überkommenen Denkmustern der Dependencia-Theorie klarer zum Ausdruck. Eine wichtige weitere Konsequenz dieser Entwicklung in Mexiko ist, dass sich die drei Staaten offenbar auch auf vielen anderen Gebieten politisch (aber auch menschlich) näher kommen, so dass die Lösung grenzübergreifender Probleme auch in nicht direkt mit dem Freihandelsabkommen in Verbindung stehenden Fragen mit größerem Nachdruck voran gebracht wird als zuvor (Drogenhandel, Migration, Infrastrukturprojekte usw.). Viele Vertreter der funktionalen Integrationstheorie sehen gerade in diesen komplementären Bereichen ein wichtiges, noch weitgehend unausgeschöpftes Potenzial für die Weiterentwicklung der NAFTA zu einer Region, die dem Terminus ,new regionalism' im oben entwickelten Sinne mehr Inhalt verleihen würde (Pastor 2001). Es ist interessant anzumerken, dass die erste ernstere Initiative in dieser Richtung vom neuen mexikanischen Präsidenten Vicente Vox ausging und von Präsident George W. Bush im so genannten ,Guanajato Proposal' vom 16.2.2001 mit getragen wurde. In dieser bislang weitreichendsten Verlautbarung heißt es: "Among our highest priorities is unfettering the economic potential of every Citizen, so each may contribute fully to narrowing the economic gaps between and within our societies ... we will strive to consolidate a North American economic Community whose benefits reach the lesser-developed areas of the region and extend to the most vulnerable social groups in our countries." 23 Dennoch dürfte eine Vertiefung der NAFTA im Sinne der Entwicklung hin zu einem gemeinsamen Markt (zumal mit dem Anspruch der politisch gesteuerten Einkommensangleichung wie im Falle der EU) derzeit politisch kaum durchsetzbar sein. Im Gegenteil muss nach den Ereignissen des 11. September befürchtet werden, dass bereits existierende Ansätze grenzüberschreitender Kooperation wieder zurückgefahren werden. 24 Ökonomisch leitet sich die Bedeutung der die Investitionsfreiheit betreffenden Teile des Vertrages aus den oben skizzierten theoretischen Überlegungen ab, und sie ist in einer Vielzahl rechenbarer allgemeiner Gleichgewichtsmodelle dokumentiert worden (stellvertretend Burfisher, Robinson und Thierfelder 2001). Diese Modelle zeigen unisono, dass der wichtigste Wohlfahrts-(Wachstums-)Effekt der NAFTA aus der Initiierung von FDI erwartet wird, wobei Mexiko den größten Nutzen aus dem verstärkten Technologietransfer ziehen dürfte. 25
23 24
25
The Guanajato Proposal (2001). Eine erste Einschätzung der Auswirkungen des 11. September auf die NAFTA findet sich bei Huflauer und Vega-Canövas (2003). Die Handelsliberalisierungseffekte der NAFTA fallen dagegen für Mexiko schon deshalb eher bescheiden aus, weil der US-Durchschnittszoll für mexikanische Güter bereits vor dem Abkommen mit 4 % relativ gering war.
Amerikanische Integration
297
Das NAFTA-Abkommen geht noch in einigen weiteren Bereichen über die üblichen Freihandelsverträge hinaus. Dabei handelt es sich im Wesentlichen um vertragliche Vereinbarungen zu grenzüberschreitenden Dienstleistungen, im Energiesektor, zum Schutz geistiger Eigentumsrechte und zur Regelung des öffentlichen Beschaffungswesens (vgl. Senti 1996). Diese Abschnitte weichen jedoch im Kern nicht von den entsprechenden WTO-Obligationen ab und stellen insofern mit Blick auf den .neuen Regionalismus' (deeper integration) keine eigenständige Sachverhalte dar, so dass sie an dieser Stelle nicht weiter beachtet werden müssen. Der gesonderten Erwähnung bedürfen dagegen die so genannten ,side agreements' zum Umweltschutz und den Arbeitsstandards. Ohne auf diese Abkommen detailliert einzugehen26 kann festgestellt werden, dass sie im Wesentlichen Ziele festlegen, die in dieser oder ähnlicher Form bereits Bestandteil anderer internationaler Verträge bzw. Konventionen sind (internationale Umweltabkommen; Konventionen der internationalen Arbeitsorganisation (ILO) über so genannte ,core labor Standards'). Insbesondere ist bei der Beurteilung dieser Abkommen festzuhalten, dass sie keine NAFTA-weiten Standards eingeführt haben. Die nationalen Gesetze bleiben vielmehr weitgehend erhalten. Sie sollen aber transparenter gemacht und international (regional) kontrolliert und gegebenenfalls harmonisiert werden. Handelssanktionen gegen Rechtsverletzungen sind ebenfalls nicht vorgesehen. Insofern liegt es nahe festzustellen, dass die ,side agreements' eine relativ moderate umweit- bzw. arbeitsmarktpolitische (Zusatz-)Komponente des handelspolitischen Abkommens darstellen. Gleichwohl verbirgt sich hinter diesem Abkommen ein immenser handelspolitischer Zündstoff. Das wird deutlich, wenn man sich bewusst macht, dass auch diese moderate Einbeziehung von Arbeits- und Umweltstandards einen handelspolitischen Tabubruch darstellt, der den Einstieg in die Diskussion dieser Themenbereiche im Rahmen der WTO vorbereiten könnte (und zumindest unter der Administration Clinton auch sollte). Die ,side agreements' sind insofern ein Beleg für die These, dass große Staaten ihre Macht im Rahmen regionaler (und bilateraler) Abkommen besonders wirksam zur Geltung bringen können. Tatsächlich hat die Verabschiedung der ,side agreements' den amerikanischen Kongress tief gespalten und eine gewisse handelspolitische Agonie der USA in der zweiten Hälfte der 90er Jahre mit verursacht (Preuße 2000a).
3.3. Auswirkungen der NAFTA Zum Ende des Jahres 2002 war das NAFTA-Abkommen neun Jahre in Kraft, so dass eine erste mittelfristige Beurteilung möglich wird. Für eine endgültige Auswertung des Projekts dürfte es gleichwohl noch zu früh sein, da sich wirklich tief greifende wirtschaftliche Richtungsänderungen im Sinne der .Zeitpfadanalyse' Bhagwatis erst längerfristig durchsetzen werden. Dies gilt im Falle der NAFTA im besonderen Maße, da deren Weiterentwicklung aufgrund der aktuellen Pläne zur Einführung einer gesamtamerikanischen Freihandelszone derzeit nicht absehbar ist. In diesem Kapitel wird die NAFTA deshalb aus dem Blickwinkel der bisherigen Entwicklung betrachtet. Die eher
26
Siehe dazu Senti (1996, Kapitel 4); Hußauer u. a. (2000).
Heinz G. Preuße
298
spekulativen Überlegungen zur künftigen Entwicklung des neuen Regionalismus in Amerika bleiben dem dritten Kapitel vorbehalten. In den offiziellen Informationen zu NAFTA finden sich derzeit geradezu euphorische Aussagen über die Wachstums-, Beschäftigungs- und Handelseffekte der Freihandelszone (NAFTA at eight 2002). Tatsächlich lagen die Wachstumsraten des Bruttoinlandprodukts in den Jahren vor Gründung der NAFTA (1980-1993) deutlich unter denen der NAFTA-Jahre (Tabelle 1). Bei genauerer Betrachtung ist es allerdings keineswegs klar, welches der Anteil der NAFTA an der Gesamtentwicklung der drei Volkswirtschaften ist, da die Region aus der Rezession der frühen 1990er Jahre heraus einen außerordentlich lang anhaltenden und starken Wachstumspfad durchlaufen hat. In Mexiko war diese Entwicklung 1994-95 durch die so genannte ,Tequila-Krise' unterbrochen worden. Danach lag die Wachstumsrate des mexikanischen Sozialprodukts in den Jahren 19962000 sogar deutlich über der der Partnerstaaten. Tabelle 1 zeigt deutlich die geradezu dynamische Entwicklung der mexikanischen Wachstumsrate des BIP zwischen 1996 und 2000 (nachdem die Tequila-Krise 1995 eine Schrumpfung des BIP um 6,2 % bewirkt hatte). Die Daten der Jahre 2001 und 2002 lassen allerdings vermuten, dass die Anfälligkeit des Landes gegenüber externen Einflüssen, hier insbesondere die Rezession in den USA, nach wie vor sehr groß ist. Während die Rezession in den großen nordamerikanischen Staaten lediglich zu einer Wachstumsdelle führte, musste Mexiko emeut eine (wenngleich geringe) Schrumpfung des BIP hinnehmen. Tabelle 1: Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts Kanada, Mexiko, USA 1980-1993
1994-2000
1996-2000
Kanada
2,6
3,2
Mexiko
1,6
3,6
USA
2,7
3,8
2001
2002
3,3
1,5
3,3
5,5
-0,3
3,9
0,3
1,5 2,3
Quelle: US Department of Commerce, Banco de Mexico, Bank of Canada. Es unterliegt allerdings keinem Zweifel, dass das robuste Wachstum der US-amerikanischen Volkswirtschaft die Handels- und Beschäftigungsentwicklung dominant beeinflusst hat (und nicht etwa umgekehrt). Außerdem ist zu berücksichtigen, dass der Handel zwischen den USA und Mexiko bereits vor Einrichtung der NAFTA kräftig expandiert hatte, eine Entwicklung, die auf die allgemeine Umorientierung der Wirtschaftspolitik seit 1986 zurückzuführen ist. Hinzu kommen weitere Einflussfaktoren wie die Veränderung der realen Wechselkurse, relative Produktivitätsänderungen usw., auf die in diesem Rahmen nicht differenziert eingegangen werden kann. Es ist daher „extremely difficult to separate the signal of NAFTA effects from the noise of other economic factors influencing ... the economies in the post NAFTA period" (Ferrantino 2001, S. 2). Wenn unter diesen Bedingungen gezeigt werden soll, dass NAFTA die Entwicklung in der Region positiv beeinflusst hat, dann müssen zwei Entwicklungsmuster aufzuzeigen sein: Erstens: die Handels- und Investitionsströme zwischen den NAFTAStaaten (speziell zwischen den USA und Mexiko) sollten deutlich stärker zugenommen haben als mit dem Rest der Welt. Zweitens: die Produktionsstrukturen im NAFTARaum und insbesondere in Mexiko sollten auf die neue Anreizsituation reagiert haben.
Amerikanische Integration
299
Insoweit derartige Entwicklungen aufgezeigt werden können, kann geschlossen werden, dass NAFTA zur Realisierung von Tausch- und Spezialisierungsgewinnen angeregt und dadurch auch den Wachstumsprozess positiv beeinflusst hat. Eine tiefer greifende Analyse dieser Fragen würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Jedoch können bereits einige einfache Daten einen gewissen Einblick in die Geschehnisse vermitteln. Tabelle 2 zeigt die Handelsentwicklung der USA mit den Partnerstaaten zwischen 1993 und 2001. Es wird aus diesen Zahlen deutlich, dass sich der Handel mit den NAFTAPartnern in dieser Zeitspanne sehr viel rascher ausgeweitet hat als mit dem ,Rest der Welt'. Auffallig ist die besonders dynamische Handelsentwicklung mit Mexiko, und hier die besonders rasche Zunahme des mexikanischen Imports. Zieht man mexikanische Daten in die Betrachtung ein (Tabelle 3) zeigt sich beim Export in die USA ein ähnliches Bild. Mexikos Export-Expansion findet vornehmlich im Handel mit den USA statt, der Handel mit Kanada hingegen hat sich nur relativ langsam ausgeweitet. Die Zuwachsrate liegt noch weit unter dem Wert für den ,Rest der Welt'. Etwas überraschend ist, dass der mexikanische Import aus dem ,Rest der Welt' mehr als doppelt so schnell gewachsen ist wie der Import aus der NAFTA-Region. Innerhalb der NAFTA fiel der Zuwachs im Handel mit Kanada deutlich höher aus als mit den USA (allerdings sollte bei der Beurteilung dieser Zahlen der Basiseffekt berücksichtigt werden). Lässt man die Importentwicklung Mexikos aus dem ,Rest der Welt' außer Acht, dann zeigen die Daten, dass der Handel in der Region unter dem NAFTA-Regime rasch und schneller als der exteme Handel zugenommen hat. Hillberry und McDaniel haben zudem gezeigt, dass dieser Expansionsprozess einher ging mit einer zunehmenden Handelsdiversifizierung {Hillberry und McDaniel 2002). Die Frage nach den Handelsstrukturveränderungen lässt sich sinnvoll nur im Rahmen detaillierter Sektoranalysen beantworten. Der wesentliche Grund hierfür ist, dass die üblichen Handelsindikatoren, wie sie auf der Basis der internationalen Klassifizierungssysteme (SITC) ermittelt werden, im Falle der NAFTA nur wenig aufschlussreiche Informationen liefern.27 Zieht man derartige Analysen heran (Preuße 2004), dann zeigt sich, dass sich innerhalb des NAFTA-Gebietes seit Anfang der 1990er Jahre erhebliche strukturelle Veränderungen vollzogen haben. Dies gilt für die Textil- und Bekleidungsindustrie und die Expansion der Maquiladora-Produktion ebenso wie für den Automobilsektor. Neuere Entwicklungen zeigen auch eine zunehmende Einbeziehung der Dienstleistungen (Banken und Transportwesen) in den Regionalisierungsprozess. Schwieriger als die Entwicklung der Handelsdaten ist die der FDI zu beurteilen. Tabelle 4 zeigt die der NAFTA zufließenden FDI der Jahre 1988 bis 2000 und die damit verbundenen Weltmarktanteile. Gemessen an der Basisperiode (1988-1993) zeigen diese Werte eine nahezu unveränderte Attraktivität der Region für ausländische Investoren. Diese ist allerdings allein der offensichtlichen Anziehungskraft Kanadas zuzuschreiben. Die Entwicklung der USA zeigt zumindest keinen Aufwärtstrend, während Mexiko nach dem raschen Zuwachs an FDI bis 1997 seit 1998 wieder deutlich abfällt. 27
Diese Indikatoren weisen einen erheblichen Teil des NAFTA-Handels als intra-industriellen Handel aus, obwohl Faktorausstattungsunterschiede die treibenden Kräfte der Spezialisierung darstellen. Dieses Problem ist besonders deutlich im Bereich der so genannten ,Maquiladora-Produktion'.
Heinz G. Preuße
300
Tabelle 2: Außenhandel (Merchandise Trade) der USA mit den Partnerstaaten 1993-2001 in Mrd. US$ 1993
1995
1997
1999
2000
2001
Prozentuale Veränderung 1993-2001
NAFTA
142,0
172,3
221,5
Export 253,5
290,2
266,3
87,8
Kanada Mexiko Rest der Welt
100,4 41,6 323,1
126,0 46,3 410,7
150,1 71,4 466,1
178,2 111,3 482,0
164,7 101,6 462,0
64,3 144,2 43,0
NAFTA Kanada Mexiko Rest der Welt
151,1 111,2 39,9 429,6
206,8 145,1 61,7 536,7
366,7 230,8 135,9 857,7
351,8 219,9 131,9 808,8
133,1 98,2 230,0 88,1
166,6 86,9 431,1 Import 253,9 308,7 168,0 199,0 85,9 109,7 616,3 721,3
Quelle: Banco de Mexico; eigene Berechnungen.
Tabelle 3: Mexikanischer Außenhandel (Merchandise Trade) mit den NAFTA-Partnerstaaten 1993-2001 in Mrd. US $ 1993
1995
1997
NAFTA Kanada USA Rest der Welt
44,4 1,6 42,9 1,0
68,3 2,0 66,3 1,3
96,3 2,2 94,2 2,0
NAFTA Kanada USA Rest der Welt
46,5 1,2 45,3 1,7
55,2 1,4 53,8 1,9
1999
Export 122,8 2,4 120,4 2,1 Import 84,0 108,2 2,0 2,9 82,0 105,3 3,5 4,5
2000
2001
Prozentuale Veränderung 1993-2001
151,0 3,4 147,7 2,7
143,4 3,1 140,3 2,7
223,0 93,8 227,0 170,0
131,6 4,0 127,6 6,3
118,0 4,2 113,8 7,6
153,8 250,0 151,2 347,0
Quelle: Banco de Mexico; eigene Berechnungen.
Tabelle 4: Ausländische Direktinvestitionen (FDI) in der NAFTA 1988-2000 in Mrd. US $ NAFTA Kanada Mexiko USA Welt % NAFTAWt\l Kanada/Welt Mexiko/Welt USA/Welt
1988-93 53,8 5,3 3,7 44,8 190,6 28,2 2,8 1,9 23,5
1994 64,8 8,2 11,0 45,1 256,0 25,3 3,2 4,2 17,6
1995 77,6 9,3 9,5 58,8 331,1 23,4 2,8 2,9 17,8
1996 104,0 9,6 9,9 84,5 384,9 27,0 2,5 2,6 21,9
1997 128,7 11,5 13,8 103,4 477,9 26,9 2,4 2,9 21,6
1998 208,6 22,6 11,6 174,4 692,5 30,1 3,3 1,7 25,2
1999 342,1 25,2 11,9 295,0 1075,0 31,8 2,3 1,1 27,4
Quelle: UNCTAD, World Investment Reports (2000, 2001), N.Y. und Geneva; eigene Berechnungen.
2000 357,6 63,3 13,2 281,1 1270,8 28,1 5,0 1,0 22,1
301
Amerikanische Integration
Letzteres ist eine überraschende Entdeckung angesichts der Tatsache, dass von FDI das entscheidende Wachstum-Momentum für Mexiko erwartet worden war, und die ersten Erfahrungen dies zu bestätigen schienen. Insbesondere war vermutet worden, dass sich US-amerikanische Investoren intensiv in Mexiko engagieren würden. Tabelle 5 gibt darüber Auskunft, ob diese Vermutung eingetreten ist. Die Veränderungsrate für FDI (1994-2000) zeigt zunächst, dass der NAFTA-Raum für US-Investoren (gemessen an der Welt) kaum besonders attraktiv gewesen ist. Innerhalb der NAFTA hat vor allem Kanada US-amerikanische FDI angezogen ( + 2 1 7 %). Die Zuwachsrate Mexikos bleibt dem gegenüber mit 18 % weit zurück. In Anteilswerten heißt das, dass sich der Anteil Mexikos an den US-amerikanischen FDI zwischen 1994 und 2000 fast halbiert hat. 28 Somit muss befürchtet werden, dass ein für Mexiko zentraler Aspekt der NAFTA, die forcierte Zufuhr ausländischen Kapitals, nach der aktuellen Datenlage in Frage steht. Insbesondere zeichnet sich derzeit die Gefahr ab, dass nur wenige Teilbereiche des mexikanischen Produktionsapparats (Automobilindustrie) hinreichend in den Modernisierungsprozess einbezogen sind, viele andere dagegen weiter zurück fallen. Dazu zählen offenbar viele jener Industrien, in denen der mexikanische Mittelstand dominiert. Dieser wichtige Bereich der mexikanischen Industrie scheint bislang von internationalem Kapital (und Rnow how) weitgehend ausgeschlossen und den Defiziten des mexikanischen Finanzmarkts ausgesetzt ist zu sein. Tabelle 5: Ausländische Direktinvestitionen der USA in Kanada, Mexiko und der Welt, 1994-2000 1994
1995
1996
1997
1998
1999
2000
Prozentuale Veränderung 1994-2000
Kanada Mexiko
10,5 6,0 4,5
11,6 8,6 3,0
9,6 7,2 2,4
13,2 7,6 5,6
12,4 7,8 4,6
24,1 18,1 6,0
24,3 19,0 5,3
131 217 18
Welt %
73,3
92,1
131,0
174,6
165,0
126
Kanada/Welt Mexiko/Welt
12,6 9,3 3,3
84,4 11,4
95,8
14,3 8,2 6,1
13,8 7,9 5,8
9,5 6,0 3,5
13,8 10,4 3,4
14,7 11,5 3,2
NAFTA
NAFTAfWeh
8,5 2,8
Quelle: US Department of Commerce. Damit für Mexiko ein laufender (laufend ansteigender) Zufluss von Risikokapital in der Zukunft gesichert werden kann, muss der aktuelle Reformprozess offenbar noch konsequenter voran getrieben werden als dies bislang geschehen ist. Demgegenüber bildet sich zwischen den USA und Kanada eine immer engere Verflechtung heraus, so dass der hohe Integrationsgrad der Automobilindustrie auch in anderen Sektoren bald erreicht sein dürfte. Das Bestreben, den amerikanischen .neuen Regionalismus' funktional stärker abzusichern, dürfte hierdurch weitere Unterstützung finden. Gegenüber Mexiko dürften hingegen die spezifischen Probleme des Schwellenlandes noch längere Zeit die Aufmerksamkeit beanspruchen. Pastor zieht aus dieser Erkenntnis die Schlussfolgerung, dass sich die beiden Industriestaaten verstärkt entwick28
Dussel Peters (2000, S. 115 ff.) und Nunnenkamp (2002) vergleichen die Entwicklung der FDI-Position Mexikos mit anderen Schwellenländern und kommen dabei zu ähnlichen Schlussfolgerungen.
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lungspolitisch in Mexiko engagieren sollten und fuhrt die EU-Regionalpolitik als Vorbild an. Ob derartige Vertiefiingsgedanken realistisch sind, muss indes abgewartet werden. Alle Vorstellungen, die in diese Richtung gehen, müssen letztlich vor dem Hintergrund der Souveränitätsfrage diskutiert werden. Derzeit scheinen weder die USA noch Kanada oder Mexiko bereit zu sein, Souveränitätsrechte auch nur partiell an ein überregionales Gremium abzutreten. Insoweit ,tiefere Integration' eine supra-nationale institutionelle Absicherung erfordert, dürften sich rasche Fortschritte kaum erzielen lassen. Ein weiteres wichtiges Themengebiet betrifft mögliche Handelsumlenkungseffekte der NAFTA. Ohne dieses Thema in diesem Rahmen vertiefen zu können, ist anzumerken, dass derartige Effekte in der Tat existieren und offenbar nicht unbedeutend sind (Romalis 2001; Preuße 2000a). 4. FTAA - Freihandel von Alaska bis Feuerland? Im Schlusskapitel des NAFTA-Vertrages bekennen sich die Mitglieder zu den Prinzipien eines offenen Klubs. In Artikel 2204 heißt es:,,Any country or group of countries may accede to this agreement subject to such terms and conditions as may be agreed between such country or countries and the commission ...." In der Praxis ist diese Möglichkeit allerdings bislang nicht in Anspruch genommen worden. Der Hauptgrund hierfür lag in der Zurückhaltung der USA, die bereits Mitte der 1990er Jahre ein Beitrittsgesuch Chiles blockierten. Auch andere denkbare Optionen der Erweiterung sind durch die Verweigerung des „Fast-track"-Mandats für Präsident Clinton bereits im Ansatz erstickt worden. Hinter dieser Entwicklung in den USA verbergen sich tief greifende Meinungsverschiedenheiten im Kongress und im Senat über die künftige außenhandelspolitische Strategie des Landes.29 Dabei spielt die Auseinandersetzung um die NAFTA bzw. die Weiterführung des .regional track' eine wichtige Rolle.30 Eng verbunden damit ist auch die Frage der Einbeziehung von Arbeits- und Umweltstandards in internationale Handelsvereinbarungen. Derartige Standards waren im Rahmen der NAFTA side agreements erstmals in ein internationales Handelsabkommen einbezogen worden. Die Verfolgung einer neuen Freihandelsinitiative für Gesamtamerika,31 wie sie zum Miami-Summit der Organisation amerikanischer Staaten (OAS) im Dezember 1994 proklamiert worden war, ist vor diesem Hintergrund nur von wenigen Beteiligten als eine ernsthafte neue regionale Initiative angesehen worden. Und daran änderte auch die Bekräftigung des Vorhabens anlässlich des zweiten Gipfeltreffens im April 1998 in Santiago de Chile nicht viel. Anlässlich dieses Treffens hatten sich die 34 Staaten auf die Erarbeitung eines ,Single untertaking' festgelegt - vornehmlich um zu unterbinden, dass die USA die Phalanx der LAC-Staaten durch Einzelverhandlungen aufbrechen und selektiv zu ihren Gunsten beeinflussen. 29 30
31
Vgl. Preuße (2000b). Belanger (1999, S. 108) stellt die ambivalente politische Haltung der USA deutlich heraus, indem er dem möglichen Vorteil der regionalen Option die Kosten in Form vermehrter politischer Bindung entgegenhält. Er zieht den Schluss, dass ,the main obstacle to creating a FTAA is probably the absence of clear political motivation on part of the U.S.'. Eine ausführliche Darstellung findet sich in Salazar-Xirinachs (2001, S. 279 ff.).
Amerikanische Integration
303
Die tatsächliche Entwicklung schien diese Einschätzung zu bestätigen. Während die technischen Verhandlungen zur FTAA in den folgenden Jahren politisch relativ unbeachtet blieben, ist in Amerika ein ganzes Netz bilateraler und plurilateraler Freihandelsabkommen entstanden. Seit 1990 waren dies zwanzig intra-regionale Freihandelsabkommen und Zollunionen und sieben Nord-Süd-Abkommen, darunter auch zwei mit der EU (Mexiko, Chile). Achtzehn weitere werden derzeit verhandelt (IADB 2002, S. 26). Es ist daher festzustellen, dass die handelspolitische Realität in Amerika dem von Bhagwati bereits 1993 beschworenen Spaghetti-bowl-Problem derzeit in geradezu bedrückender Weise entspricht. Auch die NAFTA-Staaten Mexiko und Kanada sind an dieser Entwicklung aktiv beteiligt. Beide Staaten haben die Zögerlichkeit der USA bei der Weiterentwicklung der NAFTA dazu genutzt, ein System bilateraler Verträge mit amerikanischen, aber auch außer-amerikanischen Partnern zu etablieren. Die Problematik dieser Entwicklung erschließt sich vollständig erst bei einer genaueren Analyse. Ausgangspunkt - und entscheidendes Problem - ist die Beobachtung, dass die regionalen (bilateralen) Freihandelsabkommen in Amerika Freihandel regelmäßig nicht im Sinne der GATT-Vorgabe des ,substantially all trade' verstehen, sondern jeweils kritische Bereiche ausklammern. Die Folge ist, dass die Spaghetti bowl aus einer heterogenen Ansammlung von Handelsabkommen besteht, in der die Liberalisierungsvereinbarungen differieren und unterschiedliche Ursprungsregeln und Schlichtungsprozeduren angewendet werden. Auch produziert das System immer häufiger Präferenzüberschneidungen für Unternehmen, die in mehr als einem Land produzieren. Die unternehmerische Standortentscheidung wird damit oft an den Präferenzen (und Subventionen), nicht aber an ökonomischen Kriterien ausgerichtet. ,To hell with efiiciency is what this preferential mismatch often signifies' (Weintraub 2003). Offenbar muss konstatiert werden, dass es dem amerikanischen .offenen' Regionalismus bereits in einem knappen Jahrzehnt gelungen ist, die Prinzipien des multilateralen Freihandels nachhaltig auszuhöhlen und das Prinzip der Nicht-Diskriminierung ad absurdum zu fuhren. Während NAFTA als offener und mit dem multilateralen System noch immer eng verbundener Raum auftritt, hat sich darum herum (und unter Mitwirkung Kanadas und Mexikos) ein höchst brisantes Gewirr von Bilateralismen entwickelt, in dem ein kaum verhüllter Merkantilismus gepflegt wird. Insbesondere die außenhandelspolitischen Reformbestrebungen der ehemaligen lateinamerikanischen Importsubstitutionsstaaten sind dadurch bereits deutlich in Mitleidenschaft gezogen worden. Eine besondere Gefahr für die Zukunft liegt darin begründet, dass Misserfolg bei der selektiven' Marktöffnung das Misstrauen gegenüber den Reformen generell schüren und den Rückfall in alte Zeiten einleiten könnte.32 Vor diesem Hintergrund ist es von großem Interesse, dass sich die Aussichten für die Realisierung der FTAA in den letzten Monaten verbessert zu haben scheinen. Nachdem die OAS-Staaten zum dritten Gipfeltreffen in Quebec politisch in die Offensive gegangen sind und der interessierten Öffentlichkeit einen Entwurf des FTAA (bracketed draft) vorgestellt haben, hat der US-Kongress zum Ende des Jahres einen neuen ,trade promo32
Eine ausfuhrlichere Behandlung dieser Frage im Zusammenhang mit der Entwicklung des MERCOSUR findet sich in Preuße (2003).
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tion act' (früher: ,fast track authority') gebilligt, der dem Präsidenten wieder außenhandelspolitische Handlungsfähigkeit verleiht. Seit im November 2002 die USA und Brasilien gemeinsam den Vorsitz der Verhandlungskommission (co-presidency) übernommen haben, ist die letzte und entscheidende Verhandlungsphase eingeleitet worden, die im Dezember 2004 beendet sein soll. Im Dezember 2005 soll dann das Abkommen in Kraft treten. Das FTAA-Projekt ist ebenso wie die NAFTA als Freihandelsabkommen konzipiert, zielt aber auf ein ganzes Bündel darüber hinaus gehender gemeinsamer Aktivitäten, deren tatsächliche Einbeziehung es dem ,new regionalism' im hier gebrauchten Sinne zugehörig werden ließe. Weintraub (2003) nennt insgesamt acht Zielsetzungen, die über die Handelsvereinbarungen hinaus führen sollen: die Wahrung und Stützung demokratischer Regime, die Bekämpfung von Korruption und Drogenhandel, die Förderung des Umweltschutzes und der Arbeiterrechte, der Erziehung und des Gesundheitswesens, der politischen Partizipation der Zivilgesellschaft und der Frauenrechte. Nur einige der Ziele aus dieser .laundry list' betreffen internationale Aufgaben. Viele thematisieren hingegen originär nationale Angelegenheiten und werden daher über die politischen Willensbekundungen während der Gipfeltreffen hinaus kaum Bestand haben. Gleichwohl wird in der Beschäftigung mit diesen Fragen deutlich, dass hinter der FTA-Fassade ein sehr viel weiter gefasster politischer Annäherungsprozess der amerikanischen Staaten in Gang zu kommen scheint als dies auf den ersten Blick erkennbar wird: „in a sense, so Weintraub, „all the items deal with the overriding theme: how to foster national development in a democratic environment." Es ist offensichtlich, dass die Antwort auf diese Frage eine deutliche nordamerikanische Handschrift tragen wird. Das wird schon mit Blick auf die Tatsache deutlich, dass die FTAA-Thematik für die USA überhaupt erst mit der Hinwendung Lateinamerikas zu offenen Entwicklungsstrategien und demokratischen Regierungsformen diskutabel wurde. Erst unter diesen günstigen neuen Bedingungen33 eröffnete sich aus Sicht der USA (wieder) eine Perspektive für eine engere politische Zusammenarbeit in Amerika. Mace verweist in diesem Zusammenhang auf die lange Geschichte des US-amerikanischen Regionalismus, der unter diesen aktuellen günstigen Bedingungen mit der NAFTA und dem FTAA-Projekt wieder aufgelebt sei (Mace 1999, S. 22 ff.) und direkt an die alte Idee einer ,Western Hemisphere' anknüpfe. Die ,Western Hemisphere Idea' (Molineu 1986, S. 13 ff.) beinhaltet aus der US-amerikanischen Sicht drei grundlegende Elemente: „1) the political primacy of the USA in the inter-American system, 2) an exclusively American institutional framework for the settlement of disputes and 3) a free trade area of the Americas" (Mace 1999, S. 22). Der dritte Punkt erst stellt den ökonomischen Akt der Regionalisierung heraus, der im FTAA-Projekt die Schlüsselrolle spielt, und dessen Erfolg wohl auch über die Chancen einer weiteren politischen Annäherung entscheiden wird. Die ökonomische Problematik des FTAA rückt daher auch aus der breiteren politischen Perspektive in eine Schlüsselposition. 33
Dazu gehört auch das Ende des Kalten Krieges. In vielen Staaten Lateinamerikas wurde Anfang der 1990er Jahre deshalb die Gefahr der Marginalisierung (Afrikanisierung) des Subkontinents beschworen. Die Hinwendung zum und die Sicherung des nordamerikanischen Marktes wurden deshalb als immer dringlicher angesehen.
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Es sollen deshalb abschließend einige der zentralen Problembereiche der Verhandlungen kurz skizziert werden. Dazu ist zunächst festzustellen, dass die anvisierten Handelsvereinbarungen derzeit in neun Arbeitsgruppen vorangetrieben werden: Marktzugang, Investitionen, Dienstleistungen, öffentliche Beschaffung, Streitschlichtung, Landwirtschaft, geistige Eigentumsrechte, Subventionen (Dumping) und Wettbewerbspolitik. Für die LAC-Staaten ist der zentrale Verhandlungsgegenstand der Zugang zum nordamerikanischen Markt, wobei Subventionen und NTHs in der Landwirtschaft und die protektionistische Handhabung der Anti-Dumping-Vorschriften in den USA, insbesondere in den Bereichen Textilien und Bekleidung, Schuhe und Stahl, im Vordergrund stehen. In allen diesen Fällen reklamieren die LAC-Staaten komparative Vorteile und in allen diesen Fällen ist der Widerstand protektionistischer Interessengruppen in den USA (und Kanada) besonders ausgeprägt. Umgekehrt bestehen die USA auf substanziellen Fortschritten im Handel mit Dienstleistungen, auf nicht-diskriminierenden Investitionsbedingungen, der Liberalisierung des öffentlichen Beschaffungswesens und dem Schutz geistiger Eigentumsrechte. Eine weitere Besonderheit der Verhandlungen leitet sich aus der Existenz eines noch immer relativ hohen Zollniveaus der LAC-Staaten ab. Die NAFTA-Staaten sehen hier einen dringenden Nachholbedarf bei den südlichen Nachbarn. Die Handelsströme des Südens unterliegen dem gegenüber den recht subtilen Protektionsmechanismen der NTHs und sind wesentlich schwieriger zu verhandeln (und auch politisch zu verkaufen). Die LAC-Staaten furchten daher, dass die Verhandlungen seitens der USA auf das Zollthema begrenzt werden sollen, und ihre Belange keine ausreichende Berücksichtigung finden. Gegenüber NAFTA ergibt sich im FTAA-Programm ein sehr viel komplexeres Verhandlungsfeld, da die 34 Staaten nahezu das gesamte Spektrum wirtschaftlicher Entwicklung abdecken. Es steht deshalb die Abwägung vielfältiger Forderungen nach Sonderbehandlung an. So werden permanente oder zumindest sehr langfristig angelegte Ausnahmeregelungen für die Ärmsten, die Kleinsten (Karibik!), für die so genannten ,land locked' Volkswirtschaften und für Staaten, die von diversen anderen besonderen Umständen geplagt werden, reklamiert. Wird solchen Forderungen zu generös entsprochen, könnte dies den Charakter des Projekts als Freihandelsabkommen substanziell verändern. Eine weitere große Unbekannte ist das Verhalten Brasiliens bei den entscheidenden Verhandlungen. Brasilien stand dem FTAA-Projekt bislang immer reserviert gegenüber, da es weniger als die kleinen Staaten von seiner Notwendigkeit überzeugt ist und eine südamerikanische Lösung' unter eigener Führung jedenfalls vorziehen würde (Soares de Lima 1999, S. 133 ff.). Brasilien sieht sich insofern durch das FTAA seinem eigenen Bestreben, seine Führungsrolle in Südamerika zu sichern und selbst zu einem ,global player' aufzusteigen, beeinträchtigt. Zur negativen Haltung Brasiliens trägt schließlich auch bei, dass „... the present structure of US import protectionism ... heavily prejudices Brazil's export sector" (Weintraub 1993). Solange daher die USA Brasilien nicht glaubhaft machen, dass sie auf den entsprechenden Gebieten ernsthaft verhandeln wollen (Landwirtschaft, Anti-Dumping), wird Brasilien kaum bereit sein, eine konstruktive Rolle während der Kopräsidentschaft einzunehmen. In der Entwicklung des Verhältnisses zwischen den USA und Brasilien ist daher ein Schlüssel zu den FTAA-Verhandlun-
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gen zu sehen. Mit der Wahl des neuen Präsidenten in Brasilien ist diese Entwicklung unsicherer denn je geworden.34 In der Gegenüberstellung dieser zentralen Positionen zeigt sich, dass die wesentlichen strittigen Punkte in den FTAA-Verhandlungen noch geklärt werden müssen, und dass diese Punkte substanzielle Handelsinteressen der USA und anderer wichtiger Partnerstaaten betreffen, "...the most aggressive targets of many countries' FTAA trade agendas are often the most politically sensitive defensive sectors of others, and viceversa" (Blanco und Zabludovsky 2002). Ob die Lösung dieses Gordischen Knotens unter Berufung auf die erhofften gemeinsamen Vorteile des kontinentalen Freihandels und die möglichen politischen und gesellschaftlichen Folgeeffekte gelingt, ist derzeit völlig offen. 35 Die größte Gefahr, nicht nur für Amerika, dürfte allerdings von einer politischen Lösung ausgehen, die die Zerschlagung des Knotens zu umgehen versucht, indem allfällige Grundsatzentscheidungen verschoben und wichtige Probleme hinter intransparenten Kompromissformeln verschleiert werden. Die Gefahr zeichnet sich dann ab, dass das FTAA die bereits vorhandenen Probleme des amerikanischen Spaghetti-Regionalismus verschärft, indem es die Kosten schwerfalliger administrativer Regelungen erhöht und die erhofften Nutzen offener Märkte in weite Ferne rücken lässt. Diesem pessimistischen Szenario kann ein optimistisches entgegen gesetzt werden. Es lebt von der Hoffnung, dass es gelingen wird, ein funktionsfähiges Abkommen zu erarbeiten, das die Märkte in Amerika öffnet, indem es den Spaghetti-Regionalismus durch ein einheitliches, transparentes und wenig diskriminierendes Konzept ersetzt. In diesem Falle, der freilich auch eine Kompromissfähigkeit der nordamerikanischen Staaten und insbesondere den Verzicht der USA auf eine selektive ,Hub-and-spokes'Strategie impliziert,36 könnte das FTAA durchaus die positiven Wirkungen entfalten, die seine Protagonisten erwarten: Wachstum und Prosperität in der Region, eine Stabilisierung der lateinamerikanischen Gesellschaften und ihrer demokratischen politischen Systeme und eine dauerhafte Offenheit gegenüber Nicht-Mitgliedern. Es wird sich daher an dem FTAA-Projekt zeigen, ob es den USA gelingt, wenigstens in der Region zur Rolle des .weisen Hegemon' zurückzufinden, dem die westliche Welt nach dem Zweiten Weltkrieg so viel zu verdanken hatte.
34 35
36
Eine erste Einschätzung der neuen Situation findet sich in Williamson (2003, S. 111 ff.). Es ist zudem zu erwarten, dass sich die FTAA-Verhandlungen in wichtigen Bereichen nur parallel zu den Verhandlungen zur Do/ia-Runde entwickeln können. Dies gilt insbesondere für die Haltung der USA zu den Agrarsubventionen und der Anti-Dumping-Politik. Die Tatsache, dass substanzielle agrarpolitische Entscheidungen der EU nach den jüngsten deutsch-französischen Absprachen kaum vor 2006 zu erwarten sind, könnte daher auch den Zeitplan der FTAA-Verhandlungen mit bestimmen. Siehe zu dieser Problematik IADB (2002, S. 12 ff.).
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Asiatisch-pazifische Integration: APEC als ,Offener Regionalismus'
Werner Pascha*
Inhalt 1. Ausgangsüberlegungen
312
2. Zwischenspiel: Die organisatorischen Mechanismen der APEC
315
3. D e r , o f f e n e Regionalismus': ein funktionsfähiges Prinzip?
316
3.1. Handelsliberalisierung
316
3.2. Handelserleichterungen
326
3.3. Liberalisierung und Erleichterung von Direktinvestitionen
327
4. Weitere Bedeutungsebenen eines .offenen Regionalismus'
328
5. Wirtschaftliche Kooperation - ein zweiter wichtiger Aufgabenbereich der APEC 6. Die APEC als politisches Dialogforum
330 331
7. Freiwilligkeit und Konsensualität: Zukunftsfähige Elemente des APEC-Prozesses?
332
8. Regionale Alternativen zur APEC
334
9. Fazit
335
Literatur
336
* Der Verfasser bedankt sich bei den Seminarteilnehmern für vielfältige Hinweise. Insbesondere gilt der Dank dem Kommentator Rolf J. Langhammer (IfW Kiel); auch wenn der Autor dessen Kritik an der APEC nicht in jedem Punkt teilt, waren die kritisch-pointierten Bemerkungen doch weit über das von Korreferaten zu erhoffende Maß hinaus anregend.
Werner Pascha
312
1.
Ausgangsüberlegungen
Es gibt wohl wenige Politikfelder, bei denen eine sarkastische Kommentierung schon so häufig an der Bezeichnung ansetzen kann wie bei der APEC. So hat man sich bei diesem Zusammenschluss, der mittlerweile einundzwanzig Länder und etwa den halben Globus umspannt,1 nicht einmal auf ein kennzeichnendes Substantiv (z. B. ,Organisation') einigen können (,adjectives in search of a noun'). Manche Beobachter versuchen sich deshalb in ontologischen Grundübungen, um den Kerngedanken der APEC zu erfassen und zu beurteilen: „If it talks like a duck, and it walks like a duck, it must be a duck" {Emmerson 2002, S. 1). Es ist offenbar leicht, die APEC zu kritisieren. Das gilt insbesondere dann, wenn man sie als Ökonom im Sinne der konventionellen Stufen regionaler Integration zu verstehen sucht. Nimmt man die 5ogor-Deklaration von 1994 ernst, sollen bis 2010 die Zölle im Binnenraum abgeschafft werden - mit einem Übergangszeitraum bis 2020 für die Entwicklungsländer der Gruppe. Eine Besonderheit dieser gigantischen Freihandelszone läge darin, die Vorteile des Freihandels im Rahmen der Meistbegünstigung auch den Nicht-Mitgliedern und damit WTO-kompatibel einzuräumen, wodurch der regionale Integrationsraum in diesem Sinne also als .offen' zu bezeichnen wäre. Es gehört wenig Mut dazu, dieses Ziel als überzogen abzutun, zumal wenn man die extremen Einkommensunterschiede innerhalb der Gruppierung berücksichtigt. Viel Gerede also, wenig Substanz? Oder um es noch einmal mit dem .fröhlichen Wissenschaftler' Donald Emmerson auszudrücken: „All quack + no walk = no duck" (2002, S. 1). Im Sinne einer ersten Annäherung sollen drei kennzeichnende Merkmale festgehalten werden: erstens der Charakter der /nte/regionalität der APEC, zweitens die Bedeutung der Aforfaintegration für die zunehmende Verflechtung in der Region und drittens die große Bedeutung von privaten Akteuren bei einer institutionellen Integration, die über eine funktionelle, auf den Abbau von Beschränkungen gerichtete Integration hinausgeht.2 Erstens: Interregionalität weist darauf hin, dass es sich um ein Zusammenwirken mehrerer Großregionen handelt, insbesondere der ostasiatischen und der (nord-)amerikanischen.3 Nachdem es bereits in den 1960er Jahren frühe Gedankenspiele dazu insbesondere von japanischer und australischer Seite gegeben hat, nahm der Interregionalismus insbesondere nach dem Ende des Kalten Krieges zu, als die großen drei Weltwirtschaftsregionen Nordamerika, Westeuropa und Ostasien den Wert einer Abstimmung '
2
3
Vom kanadischen Neufundland auf etwa 50 Grad westlicher Länge bis zur Wüste Takla Makan (50 Grad Ost), dem Ural (60 Grad Ost) oder gar der Westgrenze Russlands (ca. 25 Grad Ost). Zur APEC gehören die zwölf Gründungsmitglieder Australien, Brunei Daressalam, Kanada, Indonesien, Japan, Republik Korea, Malaysia, Neuseeland, Philippinen, Singapur, Thailand und USA. Weiterhin gehören ihr seit 1991 die Volksrepublik China, Hong Kong und Taiwan an, gefolgt von (1993) Mexiko und Papua Neu Guinea sowie (1994) Chile und (1998) Peru, Russland sowie Vietnam. Wir bedienen uns hierbei der hilfreichen Unterscheidung von Sannwald und Stohler (1961), S. 75. Dabei sei dahingestellt, inwieweit sinnvoll von einer .Region' wie Ostasien gesprochen werden kann.
Asiatisch-pazifische Integration
313
sahen: „from communist-capitalist bipolarity to intercapitalist tripolarity" (Dent 2003, S. 2). Insoweit gehört ASEM in die gleiche Kategorie von Aktivitäten wie die New Transatlantic Agenda (NTA) zwischen den USA und der EU bzw. das Asia-Europe Meeting (ASEM). Zweitens: der Aufstieg der Region zu einem weltwirtschaftlichen Wachstumspol, die hohen Zuwachsraten im transpazifischen Außenhandel und die zunehmende wirtschaftliche Verflechtung (Tabelle 1) können nicht ursächlich mit der APEC in Zusammenhang gebracht werden. Diese Phänomene sind Ergebnis marktlicher Prozesse, insbesondere unter dem Eindruck von markanten Liberalisierungsschritten seit den 1970er Jahren, und nicht Resultat einer institutionellen Integration ä la EU. 4 Tabelle 1: Handelsverflechtung ausgewählter Länder des APEC-Raums, 2001 gegenüber 1991 (Richtung des Handels in %; Werte für 1991 jeweils in Klammern) Von - Nach
APECAmerika
USA VR China Japan Südkorea Thailand Australien APEC-Tota\
38 (29) 27 (10) 33 (33) 24 (30) 22 (23) 12(12) 37(31)
APECAsien ohne Japan und China 14(14) 30 (56) 32 (30) 21 (22) 28 (20) 29 (28) 18(20)
Japan
VR China
APECTotal (*)
EU
8(11) 15(15)
3(1)
65 (58) 75 (82) 75 (68) 71 (70) 72(64) 74 (77) 73 (64)
26 (26) 19(10) 16(20) 12(15) 19 (23) 11(12) 17 (20)
-(-)
11(17) 15(18) 20 (28) 9(11)
-(-)
8(3) 12(1) 4(1) 6(3) 7(4)
Quelle: APEC (2002, S. 13 f.), modifiziert und gekürzt; auf der Basis der Direction of Trade Statistics des IWF. Anmerkung (*): Umfasst auch den ozeanischen Teil der APEC und die Russische Föderation. Drittens schließlich zeigt die Genealogie der APEC, dass ihr Hintergrund nur zum Teil unter (nationalen) politischen Akteuren gesucht werden kann (Kraus und Lütkenhorst 1984). Frühe Gedanken an eine pazifische Freihandelszone - von japanischer Regierungsseite maßgeblich unterstützt - führten zu einer von Ökonomen getragenen Pacific Trade and Development Conference (PAFTAD, ab 1968). 1967 hatten Geschäftsleute bereits ein Pacific Basin Economic Council (PBEC) gegründet. 1980 schließlich kam eine Pacific Economic Cooperation Conference (PECC) hinzu, von Geschäftsleuten, Beamten und Wissenschaftlern getragen. Der Gründungseifer ist zum Teil damit zu erklären, dass die Politik vor weitergehenden Schritten durchaus zurückschreckte, sich deshalb auf symbolische Akte beschränkte. Die Dynamik geht von daher häufig von der Geschäftswelt aus, die stärkere funktionale und institutionelle Integrationsschritte zur Unterstützung der Marktfunktion einforderten. Auch heute nimmt die APEC für sich in Anspruch, letztlich (nur) den freien Markt sinnvoll zu ergänzen. Die dem APEC Busi4
Tatsächlich gibt es sogar Belege dafür, dass der Grad der Handelsverflechtung im transpazifischen Kontext eher abgenommen hat, wenn man ihn anhand der Zuwachsraten des Außenhandels der beteiligten Länder und des Welthandels relativiert (1995).
314
Werner Pascha
ness Advisory Council (ABAC) zugeschriebene Rolle macht das deutlich: es tagt vor den eigentlichen APEC-Treffen, formuliert Forderungen und ist damit ein wichtiger Agenda-Setzer. Der gerne von APEC-Vertretem gebrauchte Satz „APEC is all about business" ist allerdings zweischneidig. Zunächst ist er deklamatorisch zu verstehen und soll die APEC legitimieren. Dass die Geschäftswelt zum Teil frustriert ist von den langsamen Fortschritten in APEC, und sich manche Manager gerne der Kritik an dem ,talking shop' anschließen, darf nicht übersehen werden (Ravenhill 2001, S. 172 f.). Umgekehrt fühlen sich Nicht-Regierungsorganisationen regelmäßig ausgeschlossen von den Entscheidungsprozessen. Die Bedeutung zivilgesellschaftlicher Strukturen und Prozesse für eine funktionstüchtige internationale Integration, der sich die WTO, der IWF oder die Weltbank zunehmend offensiv stellen, läuft an der APEC fast völlig vorbei. Will man APEC als internationales Ordnungsschema emst nehmen, darf man es jedenfalls nicht nur als Idee einer konventionellen handelspolitischen Integration deuten. Von daher versucht sich die APEC mit folgenden Ordnungselementen von anderen Formen zu unterscheiden: -
Der ,offene Regionalismus', d. h. die Weitergabe intern vereinbarter Erleichterungen an Dritte. Die Freiwilligkeit und Konsensualität jenseits vertraglich fixierter, allgemeingültiger Regeln.
-
Die Offenheit der Agenda, d. h. die Ad-hoc-Aufhahme neuer Themen.
-
Handels- und Investitionserleichterung (facilitation) als zweites Standbein neben der Liberalisierungsagenda.
Bei der APEC handelt es sich damit um einen ,soft regionalism' im Sinne von Scalapino (1987). Ökonomen haben üblicherweise erhebliche Vorbehalte gegenüber solchen Gebilden. Der Hauptgrund liegt meines Erachtens darin, dass internationale Organisationen zumeist als Mechanismen zur Produktion internationaler Güter auf zwischen- bzw. überstaatlicher Ebene gesehen werden. Eine solche Produktion bietet sich dann an, wenn sie nicht dem Markt überlassen werden kann und gleichzeitig eine Bereitstellung auf nationaler staatlicher Ebene ungeeignet erscheint. Das ist dann der Fall (vgl. etwa Vaubel 1986), wenn diese Güter öffentliche Gutseigenschaften auf internationaler Ebene besitzen (Nichtrivalität im Konsum, Nicht-Ausschließbarkeit), wenn internationale externe Effekte vorliegen, internationale Skalenökonomien zu realisieren sind oder ein Kooperationsversagen etwa in Form einer Gefangenendilemma-Situation droht. Geht man von eigennutzorientiertem, opportunistischem Verhalten der beteiligten Akteure aus, stellt sich in solchen Fällen typischerweise die Gefahr der Defektion oder des Betrugs. Das Welthandelssystem besitzt z. B. in erheblichem Maße öffentliche Gutseigenschaften. Während jedes teilnehmende Land dabei von der Vertragstreue seiner Partner (Meistbegünstigung, niedriges Protektionsniveau etc.) profitiert, hat es doch Anreize, die vereinbarten Regeln selber zu unterlaufen und unlautere Vorteile qua Protektion wahrzunehmen. Um ein solches Verhalten zu unterbinden, empfehlen Ökonomen in der Regel die .harte' Ausgestaltung von Verträgen mit klaren, transparenten Regeln und glaubwürdig angedrohten Sanktionen. Vor diesem Hintergrund ist es
Asiatisch-pazifische Integration
315
schwer, ,softe' Formen der Regionalintegration oder -kooperation als längerfristig tragfähigen Gestaltungsmodus ernst zu nehmen. Gleichzeitig ist zu konstatieren, dass der ,soft regionalism' nicht zuletzt in Asien erstaunlich persistent auftritt. Wie ist das zu erklären? Eine Möglichkeit besteht darin, das Phänomen in der Tradition der Theorie der Politik bzw. der Theorie der Bürokratie als pathologisch abzutun: APEC als .talking shop' oder als ,photo session' sind die passenden Schlagwörter. Analytisch interessanter ist es, APEC zunächst einmal ernst zu nehmen. Als Interpretationsrahmen bietet sich dann die Schule des Realismus (bzw. Neo-Realismus) in den internationalen Beziehungen an (grundlegend: Morgenthau 1948). Dieser Ansatz geht wie der ökonomische Standardansatz vom Eigennutz der individuellen und mittelbar der staatlichen Akteure aus. Daraus wird eine grundsätzliche Skepsis gegenüber inflexiblen zwischenstaatlichen Bindungen hergeleitet, da sie immer die Gefahr des Hintergangenwerdens beinhalten.5 Bevorzugt werden demnach informelle, nicht-bindende bzw. Ad-hoc-Regelungen. Problematisch aus Sicht von .realistischen' Akteuren ist auch die Verbindung unterschiedlicher - z. B. politischer und ökonomischer - Inhalte in einer organisatorischen Struktur; sie sehen nicht so sehr die Chance positiver spillovers wie etwa nach dem funktionalistischen Integrationsansatz von Haas (1971), sondern sie furchten die Übervorteilung durch mächtigere Partner. Schließlich sind sie nicht nur an einer Pareio-Besserstellung durch zwischenstaatliche Abkommen interessiert, sondern sie werden auch die relative Verschiebung der Nutzen zu ihren derzeitigen Partnern, aber potenziellen Rivalen, im Auge behalten. Im Folgenden wird überprüft, ob diese Überlegungen zum Verständnis einschlägiger Ordnungsfragen im APEC-Raum beitragen können, und ob in einem solchen Fall .realistisch' angelegte Mechanismen wie die APEC tatsächlich positive Beiträge für die Region und die Weltwirtschaft leisten können.
2. Zwischenspiel: Die organisatorischen Mechanismen der APEC6 Zunächst soll die APEC in ihren wichtigsten Strukturen kurz vorgestellt werden. Wichtigstes Organ der APEC sind die jährlich stattfindenden Treffen der Außen- und Wirtschaftsminister (,Ministerial Meetings', seit 1989). Auf den Ministertreffen werden alle Beschlüsse verfasst (,Ministers' Statements') und die Leitlinien der APEC-Arbeit festgelegt. Die seit 1993 stattfindenden Gipfeltreffen (,Leaders' Meetings') dienen dagegen lediglich dem informellen Austausch der Staats- und Regierungschefs. Den Ministertreffen vorgeschaltet sind Zusammenkünfte hoher Regierungsbeamter (,Senior Officials' Meetings'), die Themenvorschläge für die Ministertreffen ausarbeiten und die Arbeit der nachgeordneten Ausschüsse koordinieren. Nachgeordnet sind fünf Komitees, die sich mit Schwerpunkten des APEC-Prozesses beschäftigen, sowie 10 Arbeitsgruppen zu sektoralen Fragen. Letztlich erarbeiten diese Ausschüsse Vorschläge für die so 5 6
Vgl. auch zu den folgenden Thesen Chan (2001). Der folgende Abschnitt lehnt sich bis auf Aktualisierungen weitestgehend an Pascha und Goydke (2000) an.
Werner Pascha
316
genannten kollektiven Aktionspläne, die durch die ,Senior Officials' den Ministern zur Entscheidung vorgelegt werden. Oft übernehmen einzelne Länder in den Gruppierungen die Initiative. Seit 1995 berät das ,APEC Business Advisory Council' (ABAC) - ein Gremium von j e drei Wirtschaftspraktikern aus allen Mitgliedsländern - die Minister und Regierungschefs in Fragen der Umsetzung der Aktionspläne und verwandter Aufgabenstellungen. Das ABAC ist Nachfolgeinstitution der so genannten .Eminent Persons' Group', einer inzwischen aufgelösten Gruppe namhafter Wissenschaftler, die Visionen und Leitlinien für die zukünftige Entwicklung der APEC entwerfen sollte, und des ,Pacific Business Forum', einem Beratungsgremium der privaten Wirtschaft, dessen Mandat 1996 ausgelaufen ist. Seit 1998 werden im EcoTech-Subkomitee die verschiedenen Mechanismen und Foren der wirtschaftlichen und technischen Kooperation zusammengefasst. Daneben gibt es eine Reihe sektoraler Ministertreffen, die zum Teil in unregelmäßigen Abständen (z. B. Telekommunikation, Verkehr) oder auch jährlich stattfinden (z. B. Finanzen, Handel). Das bescheidene APEC-Sekretariat (http://www. APECsec.org.sg) dient zur Koordination und als Stabsstelle, ist aber zu schwach, um eigene Initiativen zu entfalten; es gibt den überwiegenden Teil der APEC-Veröffentlichungen und Pressemitteilungen heraus (vgl. Abbildung 1). Abbildung 1 : Schematische Darstellung des APEC-Prozesses Sektorspezifische Ministertreffen Öffentlich-
•"I Gipfeltreffen
Koor-
Beratung
Wirtschaftsbeirat (Business Advisory Council)
Ministertreffen
Ständiges Sekretariat »
Treffen hoher Beamter
ECOTECH-Subkomitee
8J
Ii Expertengruppe für agro-technische Kooperation
Ad-hoc Gruppe zurKMUPolitik
Budget- & Managementkomitee
Komitee für Handel & Investition
Wirtschaftskomitee
Arbeitsgruppen (10)
S< g.Ë
11
Auszug aus Pascha und Goydke (2000, S. 617 f.); ergänzt vom Verfasser. Quelle: APEC (1997), modifiziert und ergänzt; eigene Übersetzung.
3. Der ,offene Regionalismus': ein funktionsfähiges Prinzip? 3.1. Handelsliberalisierung Im Folgenden soll untersucht werden, inwieweit APEC im Rahmen der konventionellen regionalen Integrationstheorie zu verstehen ist. Die Ausgangsidee eines offenen Regionalismus ist bestechend einfach und beruht auf robusten Grundüberlegungen der Außenwirtschaftstheorie: Die positiven Effekte einer Freihandelszone auf Wachstum und Handel können noch weiter gesteigert werden, wenn die Vorteile auch den Nichtmitgliedern eingeräumt werden. Um sich dies zu vergegenwärtigen, wollen wir A und B als Teilnehmerländer, C als Nicht-Mitglied betrachten. Die Freihandelszone erzeugt zwischen den Teilnehmerländern A und B zunächst einmal handelsschaffende Effekte.
Asiatisch-pazifische
Integration
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Ein Gut x, das in B billiger erzeugt werden kann als in A und vor der Schaffung der Freihandelszone wegen eines hohen Zolls nicht aus B importiert, sondern zu hohen Kosten in A hergestellt wurde, kann mit dem Wegfall der Binnenzölle nun preiswert aus B eingeführt werden, was offenbar positiv zu bewerten ist. Das Problem sind im Rahmen der üblichen Analyse die möglichen handelsablenkenden Effekte. Sie drohen dann, wenn ein Gut y zwar billiger in B als in A, aber noch billiger in C hergestellt werden kann. Vor der Einrichtung einer Freihandelszone wurde y bei einem einheitlichen Außenzoll von A aus C importiert. Nach dem Wegfall der Binnenzölle wird aber nun für den Abnehmer in A der Bezug aus B günstiger. Aus Sicht der Weltwohlfahrt wurde eine preiswertere Produktion (in C) durch eine teurere (in B) ersetzt. Mit der Weitergabe der Handelsliberalisierung an das Nichtmitglied C kann dieser handelsablenkende Effekt bezüglich y vermieden werden: C kann sich als der billigere Exporteur durchsetzen. Diese Maßnahme ist für A und B selbst dann positiv zu bewerten, wenn C die Vorteile nicht reziprok gewährt, also weiterhin Importschranken gegenüber A und B beibehält. Dies entspricht dem konventionellen Lehrsatz der Außenwirtschaftstheorie, dass selbst eine unilaterale Zollsenkung Vorteile für beide Seiten bietet nicht nur demjenigen, der als Exporteur (C) von den niedrigeren Importzöllen des anderen ganz direkt profitiert. Für die Länder der APEC bietet ein betont offener Regionalismus also zwei Vorteile. Erstens eine noch bessere Ausnutzung der komparativen Vorteilsstrukturen als bei einer nach außen diskriminierenden Freizonenbildung und zweitens die nicht zu unterschätzende Vereinbarkeit des Ansatzes mit den eingegangenen WTO-Verpflichtungen. Die erwarteten Effekte treten in Szenariorechnungen deutlich hervor. Eine Schätzung aus dem Wirtschaftskomitee der APEC von 1997 vergleicht beispielsweise das Handelsniveau7 in einem Referenzzustand ohne handelspolitische Aktivitäten mit zwei alternativen Zuständen. Einmal mit einer ,Festung', bei der die verabredete Handelsliberalisierung nur den anderen Teilnehmern der APEC gewährt wird, und zum anderen mit einem .offenen Regionalismus', bei dem diese Vorteile auch dem Rest der Welt eingeräumt werden, ohne dass dieser allerdings einige handelspolitische Zugeständnisse macht. Die Ergebnisse weisen zunächst die erwartet positiven Resultate der Liberalisierung aus (vgl. Tabelle 2): Schon im Festungsszenario würden Exporte und Importe in der APEC um jeweils ca. 20 % Prozent zunehmen. Importe aus dem Rest der Welt würden um gut 2 % Prozent sinken; hierin kommt ein handelsablenkender Effekt zum Ausdruck. Mittelbar würden mit dem Nachfrageausfall im Nicht-APEC-Raum auch die APEC-Exporte dorthin abnehmen, allerdings mit einem Prozent nur leicht. Es ist von daher nachvollziehbar, dass die Nichtmitglieder eine solche diskriminierende Zonenbildung vor der WTO monieren würden. Selbst wenn APEC versuchen würde, eine Ausnahmegenehmigung von der Meistbegünstigung entsprechend Art. XXIV GATT für
7
Wie vielfach üblich, wird die Höhe der Handelsströme bzw. ihre Veränderung als Anhaltspunkt für die eintretenden Wohlfahrtseffekte verwendet: Aus einer Zunahme des Handels wird also auf einen Wohlfahrtsgewinn geschlossen. Diese Annahme gilt natürlich nicht unbedingt, soll aber hier nicht weiter problematisiert werden.
Werner
318
Pascha
sich in Anspruch zu nehmen, 8 wäre mit erheblichem Widerstand der Ausgeschlossenen und Belastungen der weltwirtschaftlichen Ordnung zu rechnen (es sei am Rande vermerkt, dass APEC derzeit nicht als Freihandelszone nach Art. XXIV notifiziert ist und von daher keine institutionalisierte Integration im strengen Sinne darstellt). Einen Ausweg weist die Modellrechnung für den .offenen Regionalismus'. Auch die Nicht-Mitglieder können nun profitieren. Ihr Handel mit dem APEC-Raum nimmt um immerhin ein bis eineinhalb Prozent zu. Diese Handelsausweitung geht nicht zu Lasten der APEC, denn auch dort wächst der Intra-Handel um weitere ein bis zwei Prozentpunkte. Nicht nur ist diese Variante offenkundig WTO- bzw. GATT-kompatibel, sondern auch der Welthandel nimmt - als Indikator für den Wohlfahrtseffekt - gegenüber dem Festungsszenario um weitere 100 Milliarden Dollar zu. Beide Seiten profitieren von diesem Anstieg, allerdings zu ungleichen Teilen (30:1 bei den Exporten zugunsten der liberalisierenden APEC, 14:1 bei den Importen). Tabelle 2: Zunahme des Handels für APEC und die Welt unter alternativen Szenarien Szenario Stillstand (1) Festung (2)
Offener Regionalismus (3)
Total (in Mrd. $) in % Total (in Mrd. $) (2)-(l) in % Total (in Mrd. $) (3H1) in %
APEC 2.631 0,0 3.148 517 19,7 3.202 571 21,7
Export Rest 2.455 0,0 2.430 25 1,0 2.474 19 0,8
Welt 5.086 0,0 5.578 492 9,5 5.676 590 11,6
APEC 2.631 0,0 3.158 STI 20,0 3.173 542 20,6
Import Rest 2.430 0,0 2.390 60 2,5 2.470 40 1,6
Welt 5.061 0,0 5.557 496 9,5 5.643 582 11,5
Quelle: Arai (1999, S. 11), modifiziert; auf der Basis einer Studie des APEC Economic Committee von 1997. Anmerkungen: (1) keine Änderung gegenüber Ist-Zustand; (2) Liberalisierung nur innerhalb der APEC-Region; (3) Liberalisierung auch gegenüber dem Rest der Welt (Meistbegünstigung). Mit diesen Eigenschaften scheint der .offene Regionalismus', wie er von der APEC betrieben wird, die fast ideale Lösung für eine Welthandelsordnung zu sein, in der weitere Forschritte auf multilateraler Ebene schwer zu erringen und konventionelle Ansätze der regionalen institutionellen Integration mit erheblichen Gefahren belastet sind (vgl. Kaiser 2003, und die dort angegebene Literatur). Aus realistischer Sicht ist eine interregionale Vereinbarung wie APEC eine angemessene Option für Länder, die nicht „all eggs in one basket" legen wollen: Potenziell ist einiges zu gewinnen, aber wenig zu verlieren.
8
Danach können Freihandelszonen und Zollunionen, welche andere GATT-Mitglieder diskriminieren und eigentlich nicht mit der Meistbegünstigungsklausel des GATT kompatibel sind, dann vereinbart werden, wenn sie praktisch alle Güter umfassen und wenn der Außenschutz der Zone nicht höher ist als deijenige der einzelnen Teilnehmerländer vor dem Zusammenschluss. Die Anwendbarkeit dieser Ausnahmeregelung auf einen so großen Integrationsraum wie APEC ist allerdings umstritten; auf jeden Fall hatten die Gründerväter des GATT so große Zusammenschlüsse bei der Formulierung des Artikels XXIV gewiss nicht vor Augen.
Asiatisch-pazifische Integration
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Die Umsetzung eines offenen Regionalismus stößt allerdings auf erhebliche Probleme, die sich insbesondere aus den Anreizstrukturen für die potenziellen Teilnehmer bzw. Akteure ergeben. Um dies zu zeigen, können zunächst zwei Aspekte des offenen Regionalismus á la APEC unterschieden werden, nämlich zum einen (a) die Schaffung eines großen freizügigen handelspolitischen Raums nach innen und zum anderen (b) die gleichsam unilaterale Öffnung dieses Raums nach außen. Zu (a): Bezüglich der Schaffung eines großen, transpazifischen Raums freizügigen Handels ist zu fragen, ob dieser tatsächlich leichter zu erreichen sein sollte als eine entsprechende Regelung auf multilateraler bzw. WTO-Ebene. Sofern in der APEC-Zone Liberalisierungsschritte eher möglich sind als auf der Weltebene, kann die APEC damit Vorreiter einer späteren Übernahme der Regelungen auf dieser höheren Ebene sein (,building block'). Eine solche Vermutung könnte sich insbesondere auf eine verhältnismäßig hohe Homogenität bzw. Verhandelbarkeit unterschiedlicher Interessen im APEC-Raum stützen. Mit der inzwischen erreichten Größe ist die APEC aber so heterogen, dass wesentliche Stärken gegenüber der WTO-Ebene kaum noch erkenntlich sind. Die APEC umfasst große Handelsmächte mit ihren jeweils bilateralen Problemen (USA, Japan, China), sie umschließt Länder mit extrem unterschiedlichem Pro-Kopf-Einkommen, Außenöffnungsgrad und Spezialisierung bzw. Anfälligkeit gegenüber asymmetrischen Schocks. Die Länder haben verschiedene Regierungsformen und wirtschaftspolitische Konzeptionen; einige weisen typische Probleme von Transformationsökonomien auf, andere sind seit langem marktwirtschaftlich orientiert. Umgekehrt könnte gerade diese Heterogenität zur ,Vorabklärung' bestimmter Probleme führen, die dann mittelbar auch im WTO-Prozess zum Tragen kommen könnten. Die Aufnahme Chinas (und Taiwans) in die WTO hat die Problemkomplexität des WTO-Raums mit der des APEC-Raums jedoch weitgehend angenähert, so dass sich von daher kaum noch ein Vorteil einer Vorabklärung im APEC-Prozess erkennen lässt. All dies könnte an Bedeutung zurücktreten, wenn ein klares ,Außen' ersichtlich wäre, gegenüber dem man Fortschritte erzielen wollte oder müsste. Als wichtiger alternativer Handelsblock ist das höchstens die EU. Tatsächlich ist der Anspruch der APEC, eine gemeinsame Handelszone zu schaffen, in historischer Perspektive mit der Entwicklung der EU in dieser Zeit verbunden. In den Gründungsvereinbarungen der APEC von 1989 war noch relativ wolkig vom Ziel nicht-diskriminierender Handelsvereinbarungen in Übereinstimmung mit den GATT-Bestimmungen die Rede gewesen.9 Erst mit den festgefahrenen Verhandlungen der Uruguay-Runde wurde insbesondere auf Initiative der USA die APEC aufgewertet. Es ging nun nicht mehr nur um freundschaftliche Gespräche informeller Natur, sondern um klare Vorgaben zur Handelsliberalisierung zumindest auf der Ebene von Ankündigungen - , um die EU unter Druck zu setzen und mit der impliziten Drohung eines eigenen Handelsblocks zu weiteren Zugeständnissen in der Uruguay-Runde zu bewegen.
9
Weitere Grundlinien waren die Schaffung von nachhaltigem Wachstum in der Region sowie ein Beitrag zum weltweiten Wirtschaftswachstum; vgl. APEC (1989).
320
Werner Pascha
Dieses Ziel wurde bekanntlich erreicht,10 so dass die ,Bogor Declaration of Common Resolve' - Freihandelszone bis 2010 bzw. 2020 - damit eigentlich schon ihre taktische Bestimmung erfüllt hatte. Entsprechend schwerfallig war der spätere Versuch einer wirklichen Umsetzung der Bogor-Deklaration (vgl. die wichtigsten Aspekte der APECTreffen in Tabelle 3). Mit der Osaka Action Agenda, beschlossen auf dem Gipfeltreffen des Folgejahres 1995, verpflichteten sich die Teilnehmerländer zur Aufstellung individueller Aktionspläne (IAP), über deren Fortschritte sie jährlich berichten, die jedoch keinen bindenden Charakter haben. In kollektiven Aktionsplänen (CAP) werden weitere sektorale Liberalisierungsmaßnahmen entwickelt, für die eine gemeinschaftliche Verständigung vorliegt. Der erst entsprechende Aktionsplan von 1996 enthielt jedoch im Wesentlichen nur allgemeine Visionen. 1997 wurden bezüglich fünfzehn Sektoren so genannte .frühzeitige sektorale Liberalisierungen' (EVSL) verabschiedet, die entsprechend ihrer Bezeichnung gerade wieder keine Selbstbindung entstehen ließen. Ein ernster Rückschlag war von daher auch schon 1998 zu verzeichnen, als Japan eine Umsetzung der EVSL im kritischen Bereich der Agrarwirtschaft ablehnte. In der Folge wurde das Bogor-Ziel zwar nicht aufgegeben, es rückte aber gegenüber anderen handelspolitischen Arenen zunehmend in den Hintergrund. Auf multilateraler Ebene markierte das Scheitern der Seattle-Konferenz von 1999, mit der eigentlich eine neue WTO-Runde eröffnet werden sollte, zunächst zwar einen Tiefpunkt dieses alternativen Mechanismus zur Realisierung weiterer Liberalisierungsschritte. Gerade dieses Fiasko aber schuf die Voraussetzungen dafür, dass der nächste Anlauf - die Doha-Konferenz 2001 - unbedingt zu einem Erfolg werden sollte. Handfeste Resultate bleiben abzuwarten, aber mit jedem positiven Signal aus dem Doha-Prozess verliert Bogor an Gewicht und Realisierungspotenzial. Umgekehrt sprechen die gegenwärtigen - aus Sicht des Frühjahrs 2003 - Schwierigkeiten in den WTO-Verhandlungen jedoch nicht für eine größere Rolle der APEC: Dies wäre nur dann so, wenn mit dem Ausschalten der EU als Verhandlungspartner eine schnellere Einigung möglich wäre. Die Probleme sind aber so gelagert, dass auch ohne die EU eine multilaterale Verhandlung auf erhebliche Probleme stößt. Ein weiterer handelspolitischer Schauplatz, der an Gewicht gewinnt, sind bilaterale Vereinbarungen. Neben dem Aspekt der handelspolitischen Verunsicherung nach Seattle wird deren Dynamik innerhalb des APEC-Raums insbesondere von der rasant zunehmenden Bedeutung Chinas als Handelsnation geprägt, wodurch andere Länder unter Zugzwang geraten (Taube 2003). Beispielhaft sei auf eine Schätzung des chinesischen Anteils an der Weltwirtschaft für das Jahr 2005 verwiesen, die bereits den WTO-Beitritt zu berücksichtigen sucht. Basis ist ein allgemeines Gleichgewichtsmo-dell, das in seinen Annahmen (vollkommener Wettbewerb auf allen Märkten, konstante Grenzerträge,
10
Man mag darüber streiten, ob bezüglich des eigentlichen Durchbruchs für die UruguayRunde nicht eher auf den so genannten Blair House Accord zum Agrarhandel zu verweisen ist, der im November 1992 zwischen der EU und den USA geschlossen wurde. Auch wenn man diese Verhandlungen als entscheidend ansieht, bleibt immer noch die Frage, warum die EU eine Linie gewählt hat, die eine Einigung ermöglichte; dafür ist der Verweis auf die latente Drohung mit der APEC dann doch wieder hilfreich.
Asiatisch-pazifische Integration
321
Tabelle 3: Der APEC-Prozess in jährlichen Schritten Jahr
Ort
Abschlusserklärung
Themenschwerpunkte / Ergebnisse
1989
Canberra
Joint Statement
1990
Singapur
Joint Statement
1991
Seoul
Seoul Declaration
1992
Bangkok
Joint Statement
1993
Seattle (Blake Island)
Economic Vision Statement
1994
Jakarta (Bogor)
1995
Osaka
Bogor Declaration of Common Resolve Osaka Action Agenda
Gründung der APEC durch Brunei, Indonesien, Malaysia, Philippinen, Singapur und Thailand, USA, Japan, Kanada, Australien und Neuseeland, Südkorea Förderung des Wirtschaftswachstums; Abbau von Handelsund Investitionshemmnissen; Benennung von Arbeitsbereichen Abbau von Handelshemmnissen im Sinne des GATT; Nutzung positiver Integrationseffekte, Aufnahme der VR China, Taiwans, Hongkongs Gründung der Eminent Persons' Group und des APECSekretariats in Singapur Vision einer Gemeinschaft der Pazifikanrainer: Abbau von Investitions- und Handelshemmnissen; Umweltschutz; Bildung; Wirtschaftswachstum; erstes Treffen der APECRegierungschefs; Aufnahme Mexikos u. Papua-Neuguineas Schaffung einer Freihandelszone zwischen den Industrieländern bis 2010 und für APEC insgesamt bis 2020; Aufnahme Chiles
1996
Manila
Manila Action Plan
1997
Vancouver
1998
Kuala Lumpur
1999
Auckland
2000
Brunei
2001
Shanghai
2002
Los Cabos (Mexiko)
Early Voluntary Sectoral Liberalization (EVSL) Kuala Lumpur Verbesserung von Bildung und Ausbildung verbunden mit Action Program einem tragfähigen Wachstum und gerechterer Verteilung; stärkere Partizipation des Privatsektors durch publicbusiness ,smart partnership; Aufnahme Russlands, Perus, Vietnams Joint Statement Verabschiedung neuer APEC-Prinzipien zur Verbesserung des Wettbewerbs und für Regulierungsreformen; Bestätigung des Äogor-Ziels zur Schaffung einer Freihandelszone bis 2010 bzw. 2020 Bestätigung der Bogor-Ziele; Disparitäten bei Wohlstand Leaders' und Wissen angehen Declaration Leaders' Erklärung zur Terrorismus-Abwehr; Reduzierung der Declaration Transaktionskosten im Intra-Handel um 5 % innerhalb von fünf Jahren; Trade and Investment Liberalization and Facilitation (TILF) Projekt Leaders' "Expanding the Benefits of Economic Cooperation for Growth Declaration and Development"; Terrorismus-Abwehr und Wachstum
Einführung des Prinzips des .konzertierten Unilateralismus': ,Individual Action Plans' (LAP) und .Collective Action Plans' (CAP), Gründung des APEC Business Advisory Council (ABAC) Erstmalige Einreichung der IAPs und Statusberichte aller Mitgliedsstaaten; Benennung von sechs Schwerpunktthemen: u. a. Verbesserung des Marktzugangs, der Infrastruktur, des Investitionsklimas usw. Bestätigung der Praxis der IAPs; Billigung der EVSL in 15 Sektoren; Annahme eines Rahmenwerks zur Verbesserung der Zusammenarbeit von Staat und Privatsektor bei der Infrastrukturentwicklung
Quelle: Pascha und Goydke (2000, S. 617), auf der Basis der Annual and Sectoral Ministerial Joint Statements der APEC, diverse Jahrgänge; Yamazawa (1996, S. 114 ff.); aktualisiert vom Verfasser.
Werner Pascha
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kein internationaler Transfer sowie Vollbeschäftigung aller Produktionsfaktoren) gewiss sehr restriktiv ist, jedoch eine Vorstellung von den relevanten Größenordnungen vermittelt." Insgesamt steigt danach Chinas Anteil an der Weltproduktion zwischen 1995 und 2005 um zwei Drittel und beim Welthandel sogar überproportional. In einzelnen prominenten Feldern der verarbeitenden Industrie sind eklatante Verschiebungen zu erwarten. So weist die Modellschätzung für die Bekleidungsbranche einen chinesischen Anteil an den Weltexporten von 47 % im Jahre 2005 aus, nach knapp 20 % für 1995. Umgekehrt eröffnet das wachsende Importpotenzial Chinas auch bemerkenswerte Chancen. Im Bereich der Textilindustrie könnte Chinas Weltexportanteil zwar von gut 8 auf fast 11 % zunehmen, doch noch markanter würde die Anteilsverschiebung beim Anteil an den Weltimporten ausfallen: von 13 auf 25 %. Tabelle 4: Chinas Rolle in der Weltwirtschaft in ausgewählten Branchen, 1995 und 2005
Nahrungsmittel Textilien Bekleidung Automobile Elektronik Baugewerbe TOTAL
Chinas Output in % der Welt 2005 1995 19,4 14,3 14,2 10,8 7,0 20,1 1,9 1,1 2,6 4,8 6,1 3,3 3,4 5,1
Chinas Export in % der Welt 2005 1995 0,1 0,3 8,4 10,6 19,6 47,1 0,1 2,2 5,0 9,8 0,0 0,0 3,7 6,8
Chinas Import in % der Welt 1995 2005 6,5 16,0 13,4 25,5 1,0 3,7 2,0 4,8 3,6 5,7 1,8 2,7 3,4 6,6
Quelle: Bhattasali und Kawai (2002, S. 80); vgl. auch Fußnote 5.
Für die asiatischen Nachbarländer kommt es offenbar darauf an, ob ihre Wirtschaften ähnliche Vorteilsstrukturen aufweisen wie die chinesische oder ob die Unterschiede dominieren - und damit Komplementaritäten ermöglichen. Je ähnlicher die Volkswirtschaften sind, desto mehr wird Ost- und Südostasien von dem Aufstieg Chinas bedroht, sowohl auf den heimischen Märkten wie auch insbesondere auf den wichtigen Abnehmermärkten in Nordamerika und Europa. Der Grad der Konkurrenz (bzw. Ähnlichkeit) wird unterschiedlich beurteilt. Teilweise wird aus politischen Kreisen Südostasiens beschwichtigend darauf hingewiesen, dass das Wachstum Chinas auch für die eigene Region große Vorteile biete. Gerade solche Äußerungen bestätigen aber eigentlich nur, wie groß die Sorgen tatsächlich sind. Ein Beispiel für eine eher zu solcher Besorgnis Anlass gebende Untersuchung ist beispielsweise Kwan (2002), der die wirtschaftliche Spezialisierung verschiedener Länder der Region mit China vergleicht. Spezialisierungsindizes 12 werden für vier große Produktgruppen gebildet. Dies erlaubt es, für jedes Land einen Korrelationskoeffizienten " Vgl. Bhattasali und Kawai, insbesonsere auch Fußnote 5 auf S. 100, auf der Basis von Ianchovichina u. a. (2000), Comparative Study of Trade Liberalization Regimes: The Case of China's Accession to the WTO, paper presented at the Third Annual Conference on Global Economic Analysis, Monash University, Melbourne. 12
Definiert als Differenz von Exporten und Importen, dividiert durch die Summe von Exporten und Importen.
Asiatisch-pazifische Integration
323
der Außenhandelsspezialisierung gegenüber China zu berechnen. Im Ergebnis (vgl. Abbildung 2) zeigt sich, 13 dass insbesondere die Länder Südostasiens mit einem vergleichsweise niedrigen Pro-Kopf-Einkommen eine sehr hohe Korrelation von etwa 0,9 gegenüber China aufweisen, von seinem Wachstum und seiner Exportstärke also besonders betroffen sein dürften. Abbildung 2: Wettbewerb versus Komplementarität zwischen China und anderen Ländern der Region Correlation coefficient
1.0
Hong Kong
0.8 « o. E
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10000
100000
Per capita GDP in 1999, in US$
Quelle: Kwan (2002, S. 19). Anmerkung: Zur Berechnung vgl. Text. Zwischenzeitlich hat China den ASEAN-Staaten eine Freihandelszone in Aussicht gestellt. Wie (wenig) realistisch eine solche Vorstellung auch sein mag, scheint sie für die südostasiatischen Länder doch die Chance auf ein praktisch unbeschränktes Exportventil zu eröffnen, um Nachteile durch die große Exportstärke Chinas ausgleichen zu können. Damit tritt die Volksrepublik in eine direkte Konkurrenz mit Japan um die Einbindung der asiatisch-pazifischen Randstaaten (Hatakeyama 2003a). Für Japan ist diese Situation umso besorgniserregender, da es als einzige unter den großen Volkswirtschaften der Weltwirtschaft in keine formale Regionalintegration eingebunden ist; gleichzeitig betreibt es schon jetzt 60 % seines Handels mit Teilnehmerländern an solchen Regionalintegrationen, und ohne solche Verbünde könnte sein Handelsvolumen um ca. 11 % höher ausfallen (Wall 2002, S. 34). Japan ist nun seinerseits mit Korea und 13
Wie bei jedem quantitativen Ansatz lassen sich auch bei diesem Schwächen bzw. Grenzen ausmachen. So erscheint die Unterscheidung von lediglich vier Industriegruppen der verarbeitenden Industrie reichlich grob.
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Singapur in sehr konkrete Verhandlungen um eine Freihandelszone eingetreten, daneben u. a. auch mit Chile und Mexiko (Kevenhörster und Nabers 2003, S. 68 ff.), wobei allerdings zahlreiche sektorspezifische Regelungen insgesamt keinen starken Handelseffekt erwarten lassen. Damit steht zu fragen, wie eine regionale Integration in Verbindung mit sub-regionalen oder bilateralen Verknüpfungen in Form von Präferenzzonen, Freihandelszonen oder Zollunionen zu bewerten ist. Offenbar sind die Auswirkungen auf Handelsschaffung und -ablenkung äußerst komplex und schwer abzuwägen. Mehr ins Gewicht fällt deshalb der grundlegende ordnungspolitische Gedanke, dass solche komplexen Verschachtelungen die Intransparenz erhöhen, damit die Transaktionskosten des Welthandels steigern, zum Missbrauch einladen und letztlich eine freizügige Weltwirtschaft spürbar behindern. In der Summe bestätigen die neueren Entwicklungen jedenfalls eher eine skeptische Haltung, nach der eine Liberalisierung innerhalb der heterogenen APEC nicht unbedingt schneller vorankommt als auf der multilateralen Ebene, sondern neue Probleme entstehen lässt (,stumbling block'). Dabei verliert die APEC als interregionales Forum zwischen bilateraler und multilateraler Ebene sowie angesichts anderer regionaler Gruppierungen an Relevanz. Aus realistischer Sicht macht es für die nationalen Politiker wenig Sinn, APEC vollständig abzuschreiben; selbst aus dieser Perspektive ist das interessantere Aktivitätsfeld aber gegenwärtig darin zu sehen, bilaterale Verhandlungen und Vereinbarungen gegeneinander und miteinander auszuspielen. Zu (b): Der zweite Fragenkreis ist die Öffnung des APEC-Raums entsprechend dem Meistbegünstigungsprinzip. Ein solcher konzertierter Unilateralismus wurde zwar mit der Osaka Action Agenda von 1995 tatsächlich zum Prinzip der APEC erhoben, doch ist nicht klar, dass und warum die APEC diesen Ansatz entgegen der üblichen Skepsis erfolgreich umsetzen sollte. Selbst wenn die unilaterale Öffnung einen positiven Effekt auf die Gesamtwohlfahrt der APEC hervorbringt (vgl. die der Tabelle 2 zugrunde liegende Argumentation), werden doch nicht alle Branchen innerhalb der APEC davon profitieren. Insbesondere sind diejenigen Produzenten in der APEC betroffen, die ohne unilaterale Öffnung in der APEC-Freihandelszone von einer Handelsablenkung profitieren würden. Sind das viele bzw. mächtige Interessengruppen? Einerseits kann erwartet werden, dass die Handelsablenkung bei einer .geschlossenen' APEC deshalb relativ gering sein dürfte, weil die APEC aufgrund ihrer Heterogenität bereits viele unterschiedliche Faktorausstattungen und Produktionsfunktionen in ihren Teilnehmerökonomien aufweist. Von daher dürfte es weniger häufig als in kleineren Freihandelszonen vorkommen, dass noch deutlich günstigere Produzenten ausgeschlossen sind. Andererseits wäre der Anpassungsdrack für alle Produzenten in der heterogenen APEC-Freihandelszone aber bereits so groß, dass mit erbittertem Widerstand gegen eine noch weitergehende Liberalisierung gerechnet werden müsste. Ein anderer Punkt dürfte jedoch entscheidender sein. Bei Verzicht auf Reziprozität in der Liberalisierung können Probleme entstehen, wenn die Außenseiter ihrerseits nicht liberalisieren. Im einfachsten Falle könnte das daran liegen, dass den Nicht-Mitgliedem eine solche Liberalisierung nicht gelingt, obwohl sie in der Summe davon profitieren könnten. Die Nichtmitglieder würden also als Trittbrettfahrer an den Liberalisierungsmaßnahmen im APEC-Raum teilhaben. Bereits in einer solchen Situation wären politi-
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sehe Legitimationsprobleme im APEC-Raum zu erwarten. Eine ,große', offene APEC stellt praktisch eine WTO mit asymmetrischer Liberalisierung dar. Die EU als wichtigster Profiteur dieser Asymmetrie würde praktisch so behandelt und bevorzugt wie eine Entwicklungsregion im Rahmen des Art. XVIII GATT.14 Die APEC-Regierungen werden sich auf eine unilaterale Liberalisierung ohne eine realistische Hoffnung auf reziproke Maßnahmen von daher kaum einlassen. Es hat seinen Grund, dass bereits im GATT-Vertrag von 1947/48 die Reziprozität als ein Leitprinzip verankert wurde, obwohl entsprechend der konventionellen Außenhandelstheorie Volkswirtschaften auch von einer unilateralen Öffnung durchaus profitieren. Auch die USA haben unter Clinton zeitweilig massiv auf Reziprozität gepocht, da sich die Regierung angesichts der hohen Leistungsbilanzdefizite einem erheblichen politischen Druck ausgesetzt sah. Für den APEC-Prozess hat das tatsächlich zu entsprechenden Forderungen etwa des Amerikaners Fred Bergsten geführt, der einige Jahre die ,Eminent Persons' Group' innerhalb der APEC geleitet hat (1997). Welchen wirtschaftlichen Effekt hätte es für den APEC-Raum, wenn die Nicht-Mitglieder ihrerseits nicht liberalisieren? Wang und Coyle (2002, S. 581) kommen mit einem allgemeinen Gleichgewichtsmodell für den Zeitraum 2001 bis 2020 zu dem Ergebnis, dass der Wachstumseffekt gegenüber einer geschlossenen APEC-Handelszone für viele Teilnehmer, u. a. die USA und Japan, wahrnehmbar niedriger ausfallen würde, so dass politische Vorbehalte nur zu verständlich wären. Dies war aber noch der einfachere Fall. Problematischer ist die Lage, wenn die Nicht-Mitglieder eine nicht vorhandene Reziprozität erfolgreich dazu nutzen können, unter dem verbliebenen Schutzmantel ihrer eigenen Handelspolitik strategische Industrieforderung zu betreiben und damit Renten in den Nicht-APEC-Raum umzuleiten. In dem Fall würden die APEC-Bürger einen Nachteil oder eine Unfairness nicht nur - zum Teil - zu Unrecht .empfinden', sondern dieser Verlust wäre unter Wohlfahrtsgesichtspunkten dann eine Realität. Eine andere Frage ist, ob die Nicht-APEC-Welt tatsächlich eine Freerider-Position einnehmen würde. Wang und Coyle (2002, S. 585 f.) ermitteln mit ihrem Modell, dass die Nicht-Mitglieder, unter ihnen gerade auch Westeuropa, unter dem Vorzeichen einer offenen APEC-Liberalisierung zwar ein Handelswachstum mit der APEC verzeichnen, untereinander aber aufgrund einer Umlenkung des Handels in Richtung APEC spürbar negative Effekte auf Exporte und Importe hinzunehmen hätten. Daraus ergäbe sich ein starker Anreiz, die eigenen Handelsschranken abzubauen, womit die vorausgehende APEC-Liberalisierung zu einem klaren ,building block' einer alle großen Handelsnationen umfassenden Liberalisierungswelle würde. Es ist allerdings zu fragen, ob auf der Basis solcher Modellrechnungen tatsächlich robuste Voraussagen über das Verhalten der verschiedenen Akteure möglich sind. Zunächst werden die Effekte ja in Relation zu einem Basisszenario ohne weitere Handelsliberalisierungen (Ergebnis Uruguay) ermittelt. Diese Differenz ist aber niemals beobachtbar, kann im polit-ökonomischen Prozess damit auch kaum handelnsleitend werden. Konkreter: Wenn es tatsächlich zu einer Reduktion des Handels in der Nicht-APEC14
Rolf J. Langhammer ist für diese plastische Zuspitzung des Argumentes zu danken.
Werner Pascha
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Welt bei offener Liberalisierung der APEC kommt, könnte dieses Faktum in einer globalisierten, schwer überschaubaren Welt nicht zweifelsfrei mit der APEC in Zusammenhang gebracht werden. Im politischen Prozess wäre es sogar nicht unplausibel, dass aufgrund einer solchen, für manche Branchen besonders spürbaren Verschlechterung eine völlig unerwünschte Konsequenz gezogen würde: nämlich nicht nur nicht weiter zu liberalisieren, sondern die eigenen Handelsschranken zu stärken, gleichzeitig aber natürlich von der APEC-Liberalisierung zu profitieren. Vordergründig bedeutet ein offener Regionalismus der APEC aus Sicht Europas ja schlicht, dass die EU die Vorteile eines völlig freien Marktzugangs in den anderen beiden großen Weltzentren nutzen kann und noch zusätzlich über einen liberalisierten Binnenmarkt verfugt. Es ist schwer vorstellbar, dass die EU in ihren Entscheidungsgremien unter solchen Umständen eine weitere, freiwillige Liberalisierung gegen ihre importsubstituierenden Interessengruppen durchsetzen kann oder will. з.2.
Handelserleichterungen
Bisher wurde nur die Handelsliberalisierung angesprochen. Seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre rücken in der APEC aber zunehmend andere Fragen in den Vordergrund, die neuerdings unter dem Akronym TILF (Trade and Investment Liberalization and Facilitation) zusammengefasst werden. Zunächst soll es im Folgenden um die Handelserleichterung (Trade facilitation) gehen, die auf eine Senkung von Handelsbarrieren abzielt: „Trade facilitation generally refers to the simplifization, harmonization, use of new technologies and other measures to address procedural and administrative impediments to trade" (APEC Principles on Trade Facilitation 2002). Mit dem Shanghai Ministerial vom Oktober 2001 ist dieser Bereich explizit in den Zielkatalog der APEC aufgenommen worden, wobei insbesondere eine Senkung der Transportkosten um 5 % angestrebt wird. Für eine weitergehende Würdigung darf jedoch nicht nur auf das inhaltlich einigermaßen unbestimmte Konzept von Transport- (oder Transaktions-)Kosten abgehoben werden. Im Auftrag des APEC Committee on Trade and Investment hat ein von der Weltbank geleitetes Team dazu sieben Kategorien einer Bemühung um Handelserleichterung unterschieden: Port-Logistik, Zollformalitäten, regulative Umwelt, Harmonisierung von Standards, geschäftliche bzw. Arbeitskräfte-Mobilität, E-Business-Aktivitäten sowie Transparenz und Professionalität der staatlichen Verwaltung (vgl. Wilson и. a. 2002). Die Autoren operationalisieren diese Kategorien und fuhren im Rahmen eines Gravity-Modells 15 eine Regression auf die bilateralen Handelsströme innerhalb der APEC durch. Im Ergebnis werden insbesondere positive Zusammenhänge des Handels zu den Variablen der Logistik, Standards, E-Business und Verwaltung identifiziert. 15
Bei Gravity-Modellen werden die Handelsströme durch die .Schwerkraft' (Einkommen), welche die Volkswirtschaften über eine gegebene Distanz hinweg ausüben, erklärt. Ergänzend können weitere Variablen herangezogen werden. Diesem Gedanken wird zumeist eine nicht zu übersehende Theorieschwäche bescheinigt, doch hat er sich vielfach als robuster quantitativer Ansatz bewährt.
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Verbesserungen in diesen Bereichen würden, prozentual zum bereits vorhandenen Handelsvolumen betrachtet, insbesondere den Entwicklungsländern der Region nützen. Reduzierte man in den unter dem Durchschnitt liegenden Ländern den Abstand zum APEC-Schnitt um die Hälfte, entstünde damit ein Handelsvolumen von ca. 280 Milliarden Dollar oder 10 % des gegenwärtigen APEC-Intra-Handels (vgl. ebenda, S. 6). Umzusetzen ist das Ziel der Handelserleichterung über die einschlägigen Instrumente der APEC, d. h. insbesondere die kollektiven und individuellen Aktionspläne (CAP, IAP) und die später noch anzusprechende EcoTech. Ähnlich wie bei der Handelsliberalisierung stellt sich die Frage, warum die Handelserleichterung nicht besser über die WTO zu verfolgen sein sollte. Tatsächlich werden solche Fragen durchaus in der aktuellen .DoAa-Runde thematisiert. Anders als bei der Liberalisierung stellt sich bei der Trade facilitation die Problematik der Gewährung oder Nicht-Gewährung der Meistbegünstigung kaum, da die Erleichterungen, z. B. in Form einer besseren logistischen Infrastruktur, fast automatisch allen Wirtschaftspartnern zugute kommen und Nicht-Mitglieder der APEC nicht bzw. nur unter spürbaren Zusatzkosten von der Nutzung ausgeschlossen werden könnten. Handelserleichterung in diesem Sinne hat wesentliche Eigenschaften eines öffentlichen Gutes, zumal der ,Konsum' der Erleichterung oftmals nicht-konkurrierend ist. Möglicherweise kann das öffentliche Gut Trade facilitation innerhalb der APEC aufgrund der geringeren Teilnehmerzahl und einer relativ zum Weltdurchschnitt relativ hohen Verflechtung leichter produziert werden als in WTOVerhandlungen. Aufgrund der hohen Heterogenität von APEC als ,Mini-WTO', unter Einschluss von China und Russland, hatten wir dieses Argument allerdings bereits relativiert. Ob eine höhere Affinität von Pazifik-Anrainern zu .modernen' Konzepten wie dem E-Business oder einer E-Verwaltung vermutet werden kann, mag dahingestellt bleiben. Aus politischer Sicht dürfte die Begünstigung von nicht in reziproker Weise kooperierenden Nicht-Mitgliedern jedenfalls weniger problematisch empfunden werden als bei einer Liberalisierung. Konkret: dass ein deutsches Schiff beispielsweise moderne Hafenanlagen im Pazifik als Freerider mitnutzt, ohne dass ein eigenes Programm zum Ausbau der deutschen Häfen aufgelegt wird, dürfte gemeinhin als weniger anstößig empfunden werden als wenn eine Zollsenkung nicht erwidert wird. In der Summe gibt es also einige Hinweise, dass eine Handelserleichterung auf der regionalen Ebene der APEC vorankommen kann und damit andere Länder, unter Umständen im Rahmen der Doha-Verhandlungen, motiviert werden nachzuziehen. Diese Einschätzung wiegt umso positiver, als die Effekte einer Trade facilitation im APECRaum verschiedentlich höher eingeschätzt worden sind als die einer weiteren Trade liberalisation {APEC 2001, Chapter 1, S. 1). Aufgrund der empirischen Schätzproblematik sind solche Aussagen allerdings mit Vorsicht zu beurteilen. 3.3. Liberalisierung und Erleichterung von Direktinvestitionen Die anvisierten Maßnahmen beziehen sich freilich nicht nur auf den Handel. Zusätzlich sind insbesondere die Liberalisierung und Erleichterung der .Direktinvestitionen' mit dem .Flagship'-Projekt TILF (Trade and Investment Liberalisation and Facilitation) des Economic Committee der APEC seit 2001 explizit angesprochen. Ein japanisches Team hat fiir die APEC kürzlich versucht, den möglichen Wachstumsbeitrag einer Investiti-
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onsliberalisierung zu quantifizieren. Danach ist ein Effekt auf das Inlandsprodukt zu erwarten, der zwischen 3,1 % (für Indonesien) und ca. null (für Japan) liegt (vgl. Tabelle 5). Insbesondere für die Entwicklungsländer der Region wird ein hoher Wachstumseffekt erwartet. Die Aussagen sind jedoch abhängig von der Einschätzung der Höhe der Investitionsbarrieren und der bereits erreichten Investitionsbestände im In- und Ausland. Diese Informationen sind aus einzelnen individuellen Aktionsplänen (IAP) entnommen worden, wobei die Autoren selber auf die Datenmängel aufmerksam machen. Tabelle 5: Makroökonomischer Effekt einer Liberalisierung von Direktinvestitionen in der APEC (Veränderung des Bruttoinlandsproduktes in Prozent) China Indonesien Japan Korea Mexiko USA Europa APEC Total Welt
Reales BIP 1,0 3,1 0,0 0,1 1,9 0,1 0,0 0,3 0,1
Exporte 0,9 3,8 0,1 0,2 1,7 0,2 0,0 0,5 0,2
Importe 0,8 3,1 0,2 0,2 1,6 0,2 0,0 0,5 0,2
Quelle: APEC (2001, S. 95). Dass in diesem Bereich nur relativ diffuse und noch wenig umfassende IAPs vorliegen, dürfte als symptomatisch für die Sensibilität der Investitionsproblematik anzusehen sein. Mit der Zulassung ausländischer Investitionen oder der .Entlassung' eigener Unternehmen in ein internationales, kaum noch staatlich zu kontrollierendes Betätigungsfeld sind gewichtige Fragen der nationalen Souveränität angesprochen, die vielen Regierungen der Region Probleme bereiten. Für eine Thematisierung im Rahmen der APEC spricht, dass sich andere Foren auf multilateraler Ebene kaum Erfolg versprechend damit befassen können, insoweit also die APEC als ,Default Modus' interpretiert werden könnte. Allerdings wird die APEC nicht wenig von den zwei großen Mitgliederländem USA und Japan geprägt, gegenüber deren Unternehmen die Entwicklungsländer der Region gerade eine vorsichtige Haltung einnehmen. Auch das wachsende Gewicht Chinas als dominantes neues Investitionsziel in der Region lässt kaum erwarten, dass im transpazifischen Kontext mit all seinen Problemen besonders rasche Fortschritte zu erwarten sind. 4. Weitere Bedeutungsebenen eines ,offenen Regionalismus' .Offener Regionalismus' als grundlegendes Gestaltungsprinzip der APEC wird jedoch nicht nur mit dem TILF-Komplex gleichgesetzt. Vielmehr werden in einer weiter gefassten Deutung von .offenem Regionalismus' bis zu vier zusätzliche Elemente identifiziert (vgl. Yamazawa 1996, S. 129 f.; Garnaut 1996, S. 7, S. 41): -
Offenheit gegenüber neuen Mitgliedern;
-
Wirtschaftliche Kooperation zur Reduzierung von Transaktionskosten und Koordinationsversagen;
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-
Das Prinzip der Freiwilligkeit; es besteht kein Zwang, nationale Souveränität an eine supranationale Ebene abzugeben;
-
Informelle, nicht-institutionalisierte regionale Kooperation.
Eine Offenheit gegenüber neuen Mitgliedern besteht seit Ende der 1990er Jahre durch ein Moratorium de facto nicht mehr, nachdem insbesondere mit dem Beitritt der Russischen Föderation (neben Peru und Vietnam) der Gedanke an eine pazifische Gemeinschaft offenbar an seine Grenzen gestoßen war. Das Konzept eines regional unabhängigen Liberalisierungs-Clubs ist für die APEC niemals ernsthaft in Erwägung gezogen worden. Bei einer Club-Lösung würden die Vorteile des Freihandelsraumes genau denjenigen Ländern - unabhängig von ihrer geographischen Lage - gewährt, die sich zur reziproken Übernahme der Vereinbarungen bereitfinden. Ein solcher Ansatz würde ein zentrales Problem einer APEC-Liberalisierung lösen - wenn man von der hier offen gelassenen Frage einer Vereinbarkeit mit der WTO absieht. Insbesondere würde sich nicht mehr das Trittbrettfahrer-Problem gegenüber Nicht-Mitgliedern stellen, denn diese müssten zur Wahrung der Vorteile selber liberalisieren. Umgekehrt gibt es für diese dann gute Gründe so zu handeln, da der einfache Weg des Trittbrettfahrens wegfällt. Im Zweifel könnte ein solcher Club bis zum WTO-Raum wachsen, wenn immer mehr Handel innerhalb der Freihandelszone abgewickelt wird und die Opportunitätskosten eines Nicht-Beitritts damit größer werden. Mit zunehmender Größe würden aber weitere Schritte ähnlich schwierig wie bei dem ,Club WTO' selbst. Legt man in einem plurilateral angelegten Club keinen Wert auf regionale Nähe bzw. damit indirekt auf wirtschaftliche Verflechtungen, so dürften solche Fortschritte unter einer heterogenen Mitgliedschaft schwerer zu erzielen sein. Bei der APEC könnte dieses Stadium jetzt schon erreicht sein. Es gibt aber ein noch wichtigeres Argument gegen eine Clublösung. Mit der APEC werden nämlich nicht nur handelspolitische Aufgaben verknüpft, die möglicherweise in einem Club besser aufgehoben wären, sondern auch weiterreichende wirtschaftliche und politische Funktionen, die einen regionalen bzw. interregionalen Bezug aufweisen. Um sich dies zu gegenwärtigen, ist ein kurzer Blick auf die Hauptinteressen angezeigt, welche wichtige Teilnehmerländer mit der APEC vor und seit ihrer Gründung verbunden haben und die den klar regional-politischen Charakter der APEC aufzeigen: Für Australien, das nach außen den größten Anteil an der APEC-Gründung besaß, liegt der Reiz von APEC darin, seine Rolle als Außenseiter in einem asiatisch geprägten Wachstumsraum Nordwest-Pazifik zu überwinden. Die USA mussten daran interessiert sein, einen Alleingang der Region Pazifisch-Asien zu verhindern. Für Japan bot sich die Gelegenheit, historisch bedingte Zurückhaltung der regionalen Nachbarn zu überwinden und sein starkes investives Engagement institutionell abzusichern. 16 Die ASEAN-Staaten konnten von der Einbindung mächtiger Partner unter der Voraussetzung profitieren, dass die Stimme der ASEAN nicht durch eine zu mächtige APEC untergraben wird. Für China schließlich bot die APEC die Chance, seiner Stimme in der Nachbarregion auch institutionell ein größeres Gewicht zu verschaffen; dabei akzeptierte die Volksrepublik sogar die Aufnahme Taiwans unter der Voraussetzung, dass die APEC rein wirtschaft16
Ich habe dies ausfuhrlich behandelt in Pascha (2002).
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lieh agiert und keine politischen Themen aufnimmt - obwohl gerade dies paradoxerweise auf eine auch politische Rolle der APEC als Forum der Begegnung im keineswegs krisenfreien Raum Asien-Pazifik hinweist. Die Beteiligten versprachen sich also bestimmte, auf die regionalen bzw. interregionalen Zusammenhänge bezogene - Vorteile, die aber insgesamt das Interesse an einer internationalen Einbindung keineswegs ausschöpften. APEC war nie als alleiniger Mechanismus einer solchen Integration in die Weltwirtschaft gedacht. Auch dieses Ergebnis ist kompatibel mit der realistischen Betrachtung internationaler Beziehungen, wie sie oben als eine Leitfrage dieses Aufsatzes angesprochen wurde. 5. Wirtschaftliche Kooperation - ein zweiter wichtiger Aufgabenbereich der APEC Es wurde mehrfach angesprochen, dass mit der APEC bereits seit ihrer Gründung nicht nur handelspolitische Aufgaben verbunden wurden, sondern weitergehende Interessen einer wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Kooperation. Dahinter steht zum einen der Gedanke, dass sich die wirtschaftliche Integration im Asien-PazifikRaum bisher vornehmlich als marktliche Verflechtung darstellt (vgl. Abschnitt oder etwa Hilpert 1998), zu ihrer weiteren Entwicklung aber auch ordnende Vorgaben und möglicherweise sogar ablaufspolitische Maßnahmen in Bezug auf die zunehmend integrierten Märkte notwendig seien, um das volle Potenzial der Integration zu realisieren. Besonders weit geht die Überlegung, innerhalb des Raums Asien-Pazifik zu einer abgestimmten Industriepolitik vorzustoßen. Dabei würden sich die fortgeschrittensten Länder auf die Hochtechnologie und andere hochwertige unternehmerischen Aufgaben (Design, Finanzstrategie, Lenkung regionaler Supply chains) konzentrieren. Diese Positionierung wäre geschickt mit anderen Ländern zu koordinieren, welche ihrerseits optimale industriepolitische Voraussetzungen für weniger herausgehobene Aufgaben (arbeits- oder umweltintensive Produktion, Agro-Business usw.) schaffen. In plakativer Form werden solche Vorstellungen in dem so genannten ,Flying geese pattern' zum Ausdruck gebracht, nach dem sich die Länder der Region wie eine V-förmige Wildgans-Formation in immer höherwertige Industrien bewegen und dabei die Vorteile einer vertikalen Arbeitsteilung durch die Abstimmung ihrer Entwicklungspfade optimal ausnutzen. Als wirtschaftswissenschaftliche ,Theorie' ist dieser Ansatz aufgrund verschiedener Schwächen in zunehmende Bedrängnis geraten.17 Auch wehren sich gerade viele Stimmen in den Entwicklungsländern der Region gegen die Vorstellung, einem Land wie Japan nur zu folgen und damit unter Umständen keine eigene Stärke (,leapfrogging') entwickeln zu können. Umgekehrt entspricht der Ansatz offenbar nur zu gut den Interessen der ,Leitgänse' in der Region. So vertritt Hatch (2002) die fast schon konspirationstheoretisch angelegte These, dass das japanische Industrieministerium METI (bzw. früher MITI) seit vielen Jahren die Strategie verfolge, über die industriepolitische Koordinierung in der Region seinen eigenen Bedeutungsrückgang daheim auszugleichen. Die APEC wäre in diesem Zusammenhang eines der Vehikel, um dies zu ver17
Vgl. zu dieser Debatte neuerdings Schröppel und Nakajima (2002) sowie die dort angegebene Literatur.
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wirklichen. Tatsächlich lässt sich vielfältige Evidenz dafür beibringen, dass es tatsächlich solche Versuche gibt und gegeben hat; fraglich ist aber, ob sie erfolgreich umgesetzt werden konnten {Pascha 2002). In der Realität der APEC jedenfalls spielt gegenwärtig ein anderer Ansatz eine größere Rolle, der für alle Teilnehmerländer unproblematischer sein sollte: die wirtschaftliche und technische Kooperation (seit 1998 unter dem Akronym EcoTech) in Form einer schier unüberschaubaren Zahl von Arbeitsgruppen und Foren zur Nutzung des Meeres, Standardisierung von Normen, abgestimmten IT-Nutzung usw. Die APEC hat auf ihrer Homepage ein so genanntes .Clearing House' eingerichtet, um über solche Aktivitäten zu berichten. In der Regel sind sie als Sub-Clubs der APEC konstruiert. TrittbrettfahrerProbleme sind nicht auszuschließen, wobei sich die Mitglieder dann aber die Möglichkeit nehmen würden, in den sie interessierenden bzw. betreffenden Bereichen gestalterischen Einfluss auszuüben. Der Gesamteffekt der EcoTech-Maßnahmen ist außerordentlich schwer zu bestimmen. Japanische Vertreter haben die Bedeutung der wirtschaftlichen und technischen Kooperation häufig als ähnlich wichtig eingestuft wie den der Handelsliberalisierung, die in den gängigen Analysen zur APEC meistens im Mittelpunkt stehen. Angesichts der manchmal ermüdenden Berichte über Sitzungen, geforderte Tagungen oder umständliche Empfehlungen entsteht mitunter der Eindruck, dass es sich letztlich doch um einen nicht überzubewertenden Flickenteppich handelt. Für eine solche nüchterne Betrachtung spricht auch, dass es praktisch keine ernsthafte Bemühung um eine kritische Evaluierung dieses unübersichtlichen Tätigkeitsfeldes gegeben hat. Potenziell ist dieser Zweig der APEC allerdings für Nicht-Mitglieder nicht ungefährlich. Mit der Frage einer Standardisierung in Netzwerkindustrien wie dem Mobilfunk oder der Satellitenübertragung sind finanziell außerordentlich lukrative Fragen angesprochen. Angesichts möglicher Renten bzw. einer Umlenkung von Renten laden sie fast zum Missbrauch ein und könnten damit zu einer empfindlichen Störung der weltwirtschaftlichen Wettbewerbsordnung führen. So könnte man sich eine Kollusion der Pazifikanrainer zu Lasten europäischer Anbieter von IT-Produkten vorstellen (Wahl eines anderen Standards, Behinderung des Zugangs zu der Technologie oder Verweigerung der rechtzeitigen Information). Bisher sind entsprechende Klagen von Außenseitern meines Wissens aber noch nicht vehement vorgetragen worden. Möglicherweise sind die Interessen in der APEC zu heterogen, um entsprechende Interessenkartelle gegen Outsider zu errichten und zu stabilisieren. Solche Probleme tauchen eher bzw. folgenträchtiger auf bilateraler Ebene auf, etwa bezüglich des Marktzugangs für den amerikanischen Mobilfunkstandard CDMA in Ostasien (für Korea siehe Frank 2003).
6. Die APEC als politisches Dialogforum Eine abschließende inhaltliche Frage geht dahin, inwieweit die APEC über ihren engen wirtschaftlichen Bereich auf politische Fragen hinausgreift. Bei der gleichzeitigen Aufnahme der Volksrepublik China, Taiwans und Hongkongs wurde explizit festgehalten, dass es ein solches Mandat nicht gebe. Die APEC wäre aber nicht die APEC, wenn sich die Lage nicht in Wirklichkeit weniger eindeutig darstellte. So heißt es in der wichtigen Erklärung von Seattle, welche 1993 eine zumindest zeitweise Bedeutungszu-
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nähme der APEC einleitete, dass eine starke Gemeinschaft geschaffen werden solle, „based on a shared vision of achieving stability, security and prosperity for our peoples" (meine Hervorhebung). Man mag darin eine vorweggenommene Autorisierung des Schwerpunktthemas ,Counterterrorism' der Gipfeltreffen von 2001 und 2002 sehen (McKay 2002). Pikanter- aber doch wohl zufälligerweise haben alle großen Terroranschläge der Jahre 2001 und 2002 (mit Ausnahme des Dauerthemas Palästina) auf dem Territorium der APEC stattgefunden (Twin Towers New York, Entfuhrung von Touristen im philippinischen Archipel, Geiselnahme in Moskau, Sprengstoffanschlag auf Bali). Substanzielle, nach vorne gerichtete Aussagen der Leaders' Statements zur Terrorbekämpfung sind eher dürftig. Die wichtigsten Gegenmaßnahmen sind offensichtlich entweder auf Länderebene oder im multilateralen Kontext anzulegen. Immerhin bringt die Aufnahme des Themas zum Ausdruck, dass wirtschaftliche oder - noch enger Handelsfragen nicht isoliert betrachtet werden können. Die Vorzüge eines freizügigen Welthandels setzen eine ,human security' voraus, welche jenseits einer traditionell .harten' Sicherheitspolitik anzusiedeln ist (McKay 2002). Während letztere sicher nicht Gegenstand der APEC ist und angesichts der Teilnahme der .beiden Chinas' auch nicht sein kann, ist es zumindest diskussionswürdig, ob die APEC Sachwalter eines solch erweiterten Sicherheitskonzeptes sein kann. Gegen eine solche Berücksichtigung spricht der Gedanke, dass eine Organisation eine klare Zielausrichtung im Auge haben sollte, um eine Verzettelung im Zuge vielschichtiger Zielkonflikte zu vermeiden. Umgekehrt ist diese ,Daumenregel' wenig geeignet, wenn die Interdependenzen zu groß sind. Wichtiger ist der Aspekt, dass der APEC eine ,Bar-Funktion'18 zukommt, innerhalb derer anliegende Fragen ad hoc aufgenommen werden, weil es an einer entsprechenden Kooperationsdichte in der APEC-Region immer noch mangelt. So sollen sich viele Staatsoberhäupter und Regierungschefs anlässlich des ersten Gipfeltreffens auf Blake Island 1993 zum ersten Mal persönlich begegnet sein. Insoweit ist es relevant, dass sich die APECTreffen ähnlich wie die Gl bzw. G8 oder Veranstaltungen im Rahmen von EU und OECD zunehmend zu einem raum-zeitlichen Kristallisationspunkt entwickeln, an dem unterschiedlichste Fragen in verschiedener Zusammensetzung aufgenommen werden. 7. Freiwilligkeit und Konsensualität: Zukunftsfähige Elemente des APEC-Prozesses? Freiwilligkeit und Konsensualität sind zentrale Prinzipien des APEC-Prozesses, die entsprechend dem propagierten Selbstverständnis zu besseren Lösungen führen sollen als vertraglich bindende Absprachen und qualifizierte Mehrheitsregeln - besser bzw. schneller jedenfalls als auf multilateraler Ebene. Die üblichen Vorbehalte gegen den APEC-Ansatz ergeben sich daraus, dass Regeln, deren Nichtbefolgung TrittbrettfahrerVorteile verspricht und deren Befolgung einzelne Interessengruppen schädigen würde, wenig Chancen haben, zustande zu kommen oder eingehalten zu werden. Zudem räumt 18
Damit soll angedeutet werden, dass es letztlich nur darauf ankomme, einen Ort des Miteinanders zu haben, wo man andere treffen kann.
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ein Konsensverfahren jedem einzelnen Mitglied de facto eine Vetomacht ein, was substanzielle Abschlüsse ebenfalls massiv behindern sollte. Gegenargumente könnten einmal an der geringen Teilnehmerzahl ansetzen, welche eine Einigung erleichtem könnte. Dies mag in der Anfangsphase der APEC gegolten haben, nicht aber heute mit 21 sehr heterogenen Teilnehmerländern. Ebenfalls ist immer wieder auf den , Asian way' verwiesen worden, also eine besondere kulturelle Prägung, welche zum Konsens neige. Mit Teilnehmern wie Russland und den USA erscheint das Argument aber ebenfalls überstrapaziert, selbst wenn es tatsächlich für die asiatischpazifischen Länder gelten sollte. Eine besondere Verständigungsbereitschaft könnte femer auf eine besonders enge wirtschaftliche Verflechtung zurückzuführen sein. Auch in dieser Hinsicht hat die APEC aber inzwischen eine Ausdehnung angenommen, für welche die Varianz des Verflechtungsgrades nicht wesentlich niedriger ist als für die Weltwirtschaft insgesamt. Ein Erfolg der APEC könnte sich schließlich über wechselseitige Lern- und Nachahmereffekte ergeben, wobei eine ,Peer pressure' von nicht geringer Bedeutung wäre. Der Verweis auf mangelnden Zwang erlaubt es den Regierungen danach zunächst einmal, sich gegen den Widerstand eigener Interessengruppen vorsichtig in die APEC einzubringen, wobei der Druck zur Anpassung später immer stärker würde. Die Regierungen würden also eine Art Selbstbindung eingehen und besser abschätzen können als die Interessengruppen, dass ein solcher Druck entsteht (asymmetrische Information). Alternativ könnte vermutet werden, dass Kräfte innerhalb benachteiligter Interessengruppen zwar eine solche, für sie nachteilige Entwicklung ebenso wie die Regierung voraussehen, aber angesichts der zunächst scheinbar ,harmlosen' Schritte nicht in der Lage sind, sich ausreichend schlagkräftig zu organisieren (Problem kollektiven Handelns). Solche Argumente müssten offenbar auf komplexe Spielsituationen abheben, und es ist wenig wahrscheinlich, dass sie hinreichend robust eine Überwindung des öffentlichen Guts- bzw. Trittbrettfahrerproblems erwarten lassen könnten. Aus der Diskussion um internationale Ordnungsfragen ist femer das Argument bekannt, dass das Vorhandensein eines Hegemons die Produktion von öffentlichen Gütern auch jenseits formaler Entscheidungsregeln sicherstellen könnte (Kindleberger 1981). Im Falle der APEC ist jedoch kein dominanter Hegemon erkennbar. Die USA und Japan waren längere Zeit die dominanten Mitglieder - mit zum Teil unterschiedlichen Interessen; inzwischen muss auch China zu dem Kreis regionaler Führungsmächte gezählt werden. Es ist allerdings auch argumentiert worden, dass gerade der Mangel eines Hegemons bzw. der Bedeutungsrückgang der USA zu den Regionalisierungstendenzen und zur Firmierung der APEC beigetragen habe. Lange Zeit hatten die USA in der asiatisch-pazifischen Region einen bilateralistischen Ansatz verfolgt (,hubs-and-spoke'), konnten und wollten sich aber angesichts der Gefahren des Ost-West-Gegensatzes und aufgrund der eigenen wirtschaftlichen Stärke als .altruistischer Hegemon' verhalten. Angesichts der wirtschaftlichen Schwäche der 1980er und frühen 1990er Jahre und dem Ende des Kalten Krieges wurde Amerika jedoch zunehmend zum .selfish hegemon' (Bhagwati 1994). Die APEC wäre damit als Versuch der schwächeren Mitglieder zu verstehen, sich gegen einen zunehmend eigennützigen Bilateralismus bzw. Unilateralismus zu schützen. Das Konsensualprinzip wurde dabei festgeschrieben, um sich vor
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einer Übervorteilung zu schützen und die Option eines kostengünstigen Exit nicht zu verlieren (Chan 2001, insbesondere S. 10).19 Damit nehmen die Mitglieder in Kauf, dass sie das nachgerade klassische Problem bei der Produktion von Kollektivgütern, die Verhinderung von Betrug und Unterlaufen, nicht lösen können. Dies wird insbesondere in Zeiten nach der asiatischen Finanzkrise deutlich, in denen die Anreize zur Defektion für finanzschwache, angeschlagene Mitglieder besonders hoch sind. Es ist von daher kein Zufall, dass die kritischen Stimmen zur APEC in den letzten Jahren deutlich zugenommen haben (vgl. etwa Langhammer 1999 mit einem Vergleich zur EU). 8. Regionale Alternativen zur APEC Ein Ergebnis dieser Kritik, die mit der mangelnden Sichtbarkeit der APEC in der Asienkrise in Zusammenhang gebracht werden kann, ist die Entstehung bzw. Bedeutungszunahme anderer, neuer Foren wie insbesondere der so genannte ASEAN+3, d. h. die ASEANLänder plus ihre Dialogpartner in Nordostasien, nämlich Japan, China und Südkorea. Den Hintergrund bilden schon länger bestehende Überlegungen, die Länder der Region Ost- und Südostasien stärker institutionell zu integrieren. Solche Vorschläge werden insbesondere mit dem Vorschlag einer East Asian Economic Group bzw. Caucus (EAEG, EAEC) in Zusammenhang gebracht, wie er auf den amerika-kritischen, malaysischen Premier Mahathir zurückgeht. Mit der Kritik am Vorgehen multilateraler Einrichtungen wie des IWF während der Asienkrise, mit der brüsken Zurückweisung der Idee eines .Asiatischen Währungsfonds' (AMF) durch den Westen und der Irrelevanz von Einrichtungen wie der APEC wurden diese Gedankenspiele neu belebt. Ende 1997 fand ein erster East Asian Summit statt, und seither wurden jährliche Gipfeltreffen, Ministertreffen und (vorbereitende) Sitzungen hoher Ministerialbeamter institutionalisiert. Bisher wichtigster Schritt ist die so genannte Chiang Mai-Initiative als Ergebnis eines Finanzministertreffens im Jahre 2000, mit der gegenseitige Unterstützungsmaßnahmen im Finanzsystem beschlossen wurden. ASEAN+3 hat sich damit zu einer veritablen regionalen Alternative zur interregionalen APEC entwickelt. Nach dem Fiasko des AMF-Vorschlages hat sich auch Japan diesem Mechanismus nicht versagt {Kevenhörster und Nabers 2003, S. 61 ff.). ASEAN+3 ist zwar nicht schwerpunktmäßig im Bereich des Handels aktiv, sondern in den internationalen Finanzbeziehungen; trotzdem relativiert sie damit die Bedeutung der APEC weiter. So erwuchs die Idee bilateraler Freihandelszonen von Entwicklungsländern der Region mit Japan, China oder Korea, wie sie heute im Mittelpunkt handelspolitischer Initiativen in der Region steht, aus Diskussionen der Wirtschaftsminister im ASEAN- bzw. ASEAN +3-Zusammenhang {Hatakeyama 2003a). APEC ist aufgrund seiner immanenten Beschränkungen - heterogene, interregionale Struktur und Konsensualprinzip - nur (noch) ein Mechanismus einer stärkeren institutionellen Integration unter mehreren - und gegenwärtig nicht einmal der aktivste.
19
Vgl. eine ähnliche, den Bedeutungsrückgang der amerikanischen Hegemonialposition allerdings relativierende Darstellung bei Ravenhill (2001, S. 58 ff.).
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9.
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Fazit
Der ,offene Regionalismus' der APEC in seiner einfachsten Form meint die Einrichtung einer Freihandelszone, verbunden mit der Gewährung der Meistbegünstigung gegenüber allen Nicht-Mitgliedern, unabhängig von einer reziproken Öffnung des Rests der Welt. Ein solches Ziel erscheint utopisch, wie schon vielfach festgestellt wurde; auch der Autor dieses Papiers kann diese Skepsis nur teilen. In einem etwas weiteren Sinne greift der Gedanke des offenen Regionalismus alle Aspekte einer vertieften Integration durch Liberalisierung und Erleichterung von Handel und Investitionen (TILF) auf und kann von daher auch im Kontext der Debatte um den so genannten ,neuen Regionalismus' (Ethier 1998) gesehen werden. Bezüglich der Handelserleichterung (facilitation) sind die Realisierungschancen positiver zu beurteilen, weil das Trittbrettfahrerproblem etwas in den Hintergrund tritt. Liberalisierung und Erleichterung bei Direktinvestitionen wiederum sind (auch) in der APEC nicht leicht. Wesentliche Vorteile gegenüber einer multilateralen Lösung sind schwer erkennbar. Es darf allerdings nochmals Erwähnung finden, dass die amerikanische Hinwendung zur APEC, die im Gipfeltreffen von Seattle 1993 ihren sichtbaren Ausdruck fand, zum erfolgreichen Abschluss derUruguay-Runde beigetragen haben dürfte (vgl. differenzierter Ravenhill 2001, S. 217 f.). Von daher kann es nicht von der Hand gewiesen werden, dass die potenzielle Drohung eines amerikanisch-asiatischen Zusammengehens auch heute den Gedanken an eine Schließung des weltgrößten Handelsblocks, der Europäischen Union, gar nicht erst aufkommen Iässt. Die APEC hat jedoch noch andere Potenziale. Sie schafft ein Forum der Begegnung. Eine organisierte Informalität kann dazu führen, dass diese ,Bar-Funktion' besonders gut erfüllt werden kann. Auf der Ebene von Sub-Clubs können Fragen der Kooperation fruchtbar angegangen werden (EcoTech), wobei sich aber auch andere Gelegenheiten zur Zusammenarbeit von Pazifikanrainern hätten einstellen können. Die APEC mag hier ein nützlicher Inkubator sein, der Transaktionskosten bei der Bildung von Sub-Clubs senkt, verursacht aber auch einige Kosten aufgrund wenig effizienter Projekte und Treffen. Der Wert der APEC ergibt sich insbesondere aus dem noch niedrigen institutionellen Verflechtungsgrad der Region - weshalb die Grenzerträge selbst bei nicht-optimal strukturierter Teilnehmergruppe und organisatorischem Slack hoch sein können. Konsensualität und Freiwilligkeit als gestalterische Prinzipien wären ein entscheidendes Manko, wenn es tatsächlich um eine Liberalisierung im konventionellen Sinne ginge. Auch die APEC kann das Problem nicht negieren, dass eine Handelsordnung als öffentliches Gut durch bindende Absprachen eingeführt und erhalten werden muss. Es wurde aber die These verfolgt, dass es den Mitgliedern als Akteuren im Sinne der realistischen Schule internationaler Beziehungen darum letztlich gar nicht geht. Angesichts schwacher institutioneller Strukturen in einer vielfältig verwobenen, aber auch gefährdeten und durch konkurrierende Mächte umworbenen Region helfen lockere Mechanismen, aufkeimende Fragen aufzunehmen. Ist die APEC also nun eine Ente (duck) oder nicht? Nein, so müsste die Antwort lauten, aber nicht weil sie sich trotz ihres Quakens nicht bewegte, sondern weil die Frage in eine falsche Richtung zielt. Wir dürfen nicht nach Enten oder anderen Tieren suchen, also den bekannten Formen der Regionalintegration von der Freihandelszone
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bis zum einheitlichen Wirtschafts- und Währungsraum, sondern wir haben eine andere Qualität von unorthodoxer Organisation vor uns, die es geschafft hat, grobe Fehler zu vermeiden und einiges Positive zu schaffen. Unter den gegenwärtigen Umständen ist sie ein - Kosten verursachender - .Mechanismus im Wartestand', während bilaterale Vereinbarungen und kleinräumigere regionale Verständigungen an Bedeutung gewinnen.
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Integration und Desintegration im postsowjetischen Wirtschaftsraum
Ruslan
Grinberg
Inhalt 1. Einleitung
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2. Auf dem Weg in die Dritte Welt?
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3. Fehler oder Geschenk der Geschichte?
341
4. Positive und negative Integration
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5. Dominanz der Desintegrationskräfte
344
6. Konsolidierung der GUS in Sicht?
345
7. Russisches Paradoxon
347
Literatur
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Ruslan Grinberg
1. Einleitung Mehr als ein Jahrzehnt Koexistenz der neuen unabhängigen Staaten auf dem Territorium der ehemaligen UdSSR ist ein hinreichend langer Zeitabschnitt, um eine Reihe von Gesetzmäßigkeiten in ihren gegenseitigen Beziehungen aufzeigen zu können. Im Rahmen meines Themas habe ich vor, die Sachlage im postsowjetischen Raum sowie verschiedene Vorstellungen dazu darzulegen, und auch einige Anmerkungen zu möglichen Entwicklungstrends in absehbarer Zeit zu machen. Nach zehn Jahren autonomer Existenz der ehemaligen Sowjetrepubliken sind die Ziele ihrer Eliten, die sie im Zusammenhang mit der Staatsunabhängigkeit angestrebt haben, kaum noch umstritten. Damals war die Rede von einem neuen Modernisierungsversuch nach westeuropäischem Vorbild. Es gab in diesem Zusammenhang keinen Unterschied zwischen den .frischgebackenen' postsowjetischen Staaten und den Mittelund Osteuropäischen Ländern (MOEL). Sowohl die ersteren als auch die letzteren haben dasselbe angestrebt - eine pluralistische Demokratie, Zivilgesellschaft, Soziale Marktwirtschaft und letztendlich eine offene Volkswirtschaft mit gleichberechtigter Teilnahme an den internationalen Wirtschaftsbeziehungen zum Zwecke der Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der nationalen Wirtschaft und des Anstiegs des Anteils von Hightech-Erzeugnissen an der Produktion und am Export. Der Unterschied bestand eigentlich nur darin, dass anstelle der ehemaligen UdSSR eine prinzipiell neue Ländergemeinschaft, die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) gegründet wurde, um diese Ziele zu erreichen. Dagegen haben die MOE-Länder sofort den klaren Wunsch ausgedrückt, Mitglied der Europäischen Union zu werden. Dabei ist zu betonen, dass die Mitglieder der neuen Gemeinschaft zur Zeit deren Gründung an die Mitgliedschaft in der EU, geschweige denn in der NATO, gar nicht dachten. 2. Auf dem Weg in die Dritte Welt? Nach der Befreiung vom sozialistischen Totalitarismus hat die frühere ,Zweite Welt' sozial und wirtschaftlich den Westen nicht nur nicht erreicht, sondern sie hat sich von den westlichen Standards sogar noch weiter entfernt. Während der gesamten Periode der Marktreformen haben nur fünf postsozialistische Länder (Polen, Ungarn, Slowenien, Tschechische Republik und Slowakei) das Vorreformniveau des BIP erreicht; bei den anderen Ländern ist dieses Ziel noch nicht in Sicht. Besonders schlimm ist die Lage der neuen unabhängigen Staaten im postsowjetischen Raum, in denen der drastische Niedergang der durchschnittlichen Realeinkommen der Bevölkerung mit steigender Ungleichheit der Verteilung einherging. Nach Angaben einer UNO-Studie haben an der Jahrhundertwende mehr als 140 Mio. Menschen dieser Region ein Einkommen von weniger als 4 US-Dollar pro Tag gehabt. Ende der 1980er Jahre war dies noch eine wesentlich geringere Zahl (Milanovic 1998). Man kann ohne Übertreibung behaupten, dass sich die ehemaligen Sowjetrepubliken (außer die Baltischen Staaten) während der zehnjährigen Periode der unabhängigen Existenz den Realitäten der .Dritten Welt' angenähert haben. Aber das Problem besteht nicht nur darin. Im Grunde genommen ist in jedem GUS-Staat eine mehr oder weniger ausgeprägte Tendenz der Demodernisierung, teilweise sogar der Archaisierung des gesellschaftli-
Integration und Desintegration im postsowjetischen Wirtschaftsraum
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chen Lebens festzustellen: In einigen Republiken findet in der Tat eine „tragische Rückkehr zum Mittelalter" statt (Coen 2001, S. 57). Erstens haben sich in den meisten neuen unabhängigen Staaten anstatt der pluralistischen Demokratien autoritäre politische Systeme etabliert, in den anderen existieren schwache Demokratien. Zweitens ist überall keine integrierte Zivilgesellschaft, sondern eine Atomisierung der Gesellschaft zu beobachten: Die Menschen verlieren das Interesse an Selbstorganisierung, und es kommt zum Wiederaufblühen der paternalistischen Tradition, die alle Hoffnungen auf die .weise' Obrigkeit setzt. Drittens dominiert anstatt der Sozialen Marktwirtschaft praktisch in allen neuen Staaten eine wirtschaftliche Ordnung, die einem ,Clankapitalismus' ähnelt und mit einer Primitivisierung der Produktion und Deintellektualisierung der Arbeit verbunden ist. Und viertens ist auf dem Territorium der ehemaligen UdSSR anstatt der erwünschten neuen Integrationsräume ein fragmentierter, desintegrierter Raum entstanden. 3.
Fehler oder Geschenk der Geschichte?
Alle Forscher, die sich in Russland mit der Problematik des postsowjetischen Raumes beschäftigen, sind sich darin einig, dass die zentrifugalen Tendenzen dort dominant bleiben werden. Aber die Wertung dieser Tendenzen sowie die Erwartungen bezüglich der Zukunft der GUS unterscheiden sich sehr stark. Die erste Sicht lässt sich als eine nostalgische , Wiederaufbausicht' definieren. Dabei wird davon ausgegangen, dass der Zerfall der UdSSR ein .Fehler der Geschichte' sei, welcher in erster Linie durch Machtgier der ethnischen Eliten in den Unionsrepubliken und der Je/zm-Regierung in Russland verursacht wurde. Jetzt hätten die Völker der untergegangenen UdSSR die negativen Folgen des Zerfalls eingesehen. Das heißt, dass bei einem genügenden politischen Willen so etwas wie die UdSSR wieder hergestellt werden könnte. Dies ist jedoch bloßes Wunschdenken. Eine andere Sicht kann als eine liberale .Verwestlichungssicht' bezeichnet werden. Hier dominiert ein entgegengesetzter Ansatz, in dem der Zerfall der UdSSR für ein .Geschenk der Geschichte' gehalten wird, welches objektiv aus der früheren historischen Entwicklung resultiert. Der Kern dieses Ansatzes besteht in der Überzeugung, dass Russland schneller und mit geringeren Kosten in die zivilisierte (also euroatlantische) Welt eintreten würde, wenn es sich von den weniger entwickelten Satelliten befreien könnte. Anders gesagt, wenn Russland in der westlichen Welt wettbewerbsfähig werden will, muss es sich von den Republiken der ehemaligen UdSSR sobald wie möglich lösen. Die Reintegration werde nur die Rückständigkeit der russischen Industrie konservieren. In diesem Falle entstünde „eine Art Schonrevier der anspruchlosen Nachfrage" (,Schishkov 1996, S. 36). Ähnliche Gedanken bezüglich der Organisation des postsowjetischen Raumes werden von einem Großteil der westlichen politischen Elite geteilt, aber aus anderen Gründen, auf die ich später eingehen werde. Was die GUS anbelangt, wird diese nur als .Liquidationskommission' betrachtet, die die Scheidung der ehemaligen Sowjetrepubliken mehr oder weniger schmerzlos organisieren muss. Dabei ist eine einflussreiche Gruppe der russischen Anhänger der liberalen Verwestlichungssicht von der Idee der lebensunfähigen Staaten (failing states) ausgegangen: Im Kreml war man sicher, dass
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Ruslan Grinberg
die neuen unabhängigen Staaten autonom nicht überleben können; und deswegen werden sie früher oder später darum bitten, sich Russland wieder anzuschließen. Aber auch diese Vorstellungen sind fern von der Realität: Einerseits zeigt Russland als der ,Ex-Sowjetunionmeister' bei der Reorientierung seiner außenwirtschaftlichen Beziehungen keineswegs eine durchgreifende Modernisierung seiner Wirtschaft, andererseits wollen die neuen unabhängigen Staaten trotz ihrer schlechten wirtschaftlichen Lage unter keinen Umständen Russland wieder beitreten. Die dritte Gruppe der Vorstellungen darüber, wie die GUS ausgestaltet werden kann, lässt sich als eine ,offiziell-frohe Sicht' bezeichnen. Die herrschende Schicht in Russland zu Jefei/is-Zeiten versuchte, dem Modell der Integration nach dem Vorbild der Europäischen Union zu folgen. In vielerlei Hinsicht war sie dabei erfolgreich - zumindest eine .Papierintegration' ist zustande gekommen. Man war davon überzeugt, es müsse in der GUS nach dem selben Muster wie in der EU vorgegangen werden. In der EU hat es jedoch 40-50 Jahre gedauert, bis die heutige Integratiosstufe erreicht wurde. Die GUS habe so viel Zeit nicht. Deswegen müsse schneller gehandelt werden. Was folgt daraus? Es wurde eine Vielzahl der multilateralen Abkommen unterzeichnet; die meisten aber blieben wirkungslos. Viele vermuten, dass die nach dem EU-Muster abgefassten GUSFreihandelszone-, Zollunion-, Zahlungsunion-, Währungsunionabkommen nicht greifen, weil keine adäquate Mechanismen zu deren Realisierung existieren. Das stimmt aber nicht. Die schlechteste Art des Betrugs ist der Selbstbetrug: Gäbe es ein gemeinsames Interesse an der Integration, würden sich die Mechanismen automatisch herausbilden. Solch ein Interesse gibt es aber nicht. Die vierte Vorstellung, wie die wirtschaftliche Kooperation im postsowjetischen Raum organisiert werden müsste, lässt sich als ,privat-oligarchisch' bezeichnen. Es kann sogar von Versuchen der ,privat-oligarchischen Reintegration' der postsowjetischen Republiken gesprochen werden. Diese Versuche resultieren aus den Besonderheiten der Konsolidierung von Großkapital in der GUS und insbesondere in Russland. Gerade in Russland wird ein neues universales Heilmittel gegen alle sozialen und wirtschaftlichen Krankheiten propagiert: die Großunternehmen und ihre soziale Verantwortung. Es lässt sich auf eine einfache Formel bringen: „Alles, was für General Motors gut ist, ist auch für die USA gut". Dass der Staat bei der Systemtransformation schwach ist, sei eine objektive Gesetzmäßigkeit; denn in der Transformationsperiode sei er immer schwach, korrupt und bürokratisch. Und da dem so sei, müssten seine Aktivitäten maximal begrenzt werden. Die Wirtschaft sollte von allen Reglementierungen befreit werden. Insbesondere sollten im postsowjetischen Raum alle Hindernisse für den Güter-, Dienstleistungs- und Produktionsfaktoraustausch abgeschafft werden. Alles andere würden die Unternehmen selber schaffen, da sie besser als die anderen Akteure wüssten, wie man die wirtschaftliche Kooperation gestalten könne. Doch wie kann die Realisierbarkeit der ,oligarchischen' Reintegrationsvariante bewertet werden? Es ist kaum anzunehmen, dass eine .spontane' Integration Aussichten auf Erfolg hat. Die Theorie und internationale Erfahrungen zeigen, dass jede Integrationsgemeinschaft nur dann effizient ist, wenn neben der spontanen Integration eine starke supranationale Wirtschaftspolitik adäquate Rahmenbedingungen herstellt.
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4. Positive und negative Integration Aus theoretischer Sicht ist es zweckmäßig, die Qualität der Integration des postsowjetischen Wirtschaftsraumes aufgrund einer zuverlässigen konzeptionellen Grundlage einzuschätzen und zwar mit Hilfe der Begriffe ,negative' und .positive' Integration (Finder 1969, S. 145). Die negative Integration besteht in der Beseitigung der Diskriminierung in den Beziehungen zwischen den wirtschaftlichen Subjekten eines Integrationsblocks. Es werden einfach die Schranken für den Güter-, Dienstleistungs- und Produktionsfaktorverkehr beseitigt. Unter der .positiven' Integration wird dagegen die Implementierung einer gemeinsamen Wirtschaftspolitik verstanden, die die wichtigsten wirtschaftlichen Ziele und den Wohlstand der Mitgliedstaaten zu erreichen hat. Erfahrungen der Europäischen Union zeigen, dass die gewünschten Integrationseffekte erst dann zustande kommen, wenn die beiden Integrationskräfte zusammenwirken. Marktmechanismen allein können das effiziente Funktionieren eines potenziellen Integrationsraumes ohne systematische Abstimmung der nationalen Wirtschaftspolitiken und die Herausbildung gemeinsamer institutioneller und rechtlicher Rahmenbedingungen nicht ermöglichen. Man kann nun versuchen, die ,Integrationsreife' der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten anhand dieser Unterscheidung zu bewerten. Die .positive Integration' in der GUS trägt trotz der bilateralen Vereinbarungen in vielerlei Hinsicht einen formalen Charakter und beeinflusst kaum reale wirtschaftliche Prozesse. So hat die GUS vor kurzem ihr zehnjähriges Jubiläum begangen, aber die multilaterale Koordination von Wirtschaftspolitiken ihrer Mitglieder bleibt nach wie vor auf dem Papier. Das liegt in erster Linie daran, dass sich die herrschenden Eliten der neuen unabhängigen Staaten trotz regelmäßiger ritueller Beschwörung des Integrationsnutzens an einer voneinander unabhängigen wirtschaftlichen Entwicklung orientieren. Es scheint so zu sein, dass die Staatschefs der postsowjetischen Republiken unter Integration lediglich einen profitablen wirtschaftlichen Austausch zwischen ihren Ländern ohne funktionsfähige supranationale Strukturen, die ihrer Natur nach die nationalen Souveränitäten begrenzen, verstehen. Dagegen funktioniert im GUS-Raum die negative Integration. Die Durchlässigkeit der neuen Staatsgrenzen ermöglicht einen bedeutenden, teilweise statistisch nicht erfassten wirtschaftlichen Verkehr zwischen den juristischen und natürlichen Personen des einst einheitlichen Staates. In den meisten Fällen handelt es sich um eine spontane direkte Koordination der wirtschaftlichen Subjekte, die erstens durch Pfadabhängigkeit bedingt ist und zweitens das bloße Überleben unter den Bedingungen eines rasch sinkenden Versorgungsniveaus sichert. Die wirtschaftlichen Transaktionen werden durch verschiedene spontan gewählte Verrechnungsarten vermittelt, zum Großteil in Form des Naturaltausches (barter), aber auch durch konvertible Währungen (US-Dollar, Euro usw.). Ich habe bereits in früheren Veröffentlichungen betont, dass dies einerseits zumindest ein gewisses realwirtschaftliches Zusammenwirken der GUS-Staaten ermöglicht; andererseits entsteht eine Gefahr für dieses Zusammenwirken durch die vorzeitige Währungsliberalisierung, wobei „die Stärkeren noch stärker und die Schwächeren noch schwächer werden" (Grinberg 1996, S. 261). Der heutige Zustand der Währungs- und Finanzordnung der GUS trägt jedenfalls nichts dazu bei, dass hier ein optimaler Währungsraum nach der Theorie von Robert Mundell entsteht.
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Es stellt sich also heraus, dass in der GUS eine .positive' Integration praktisch nicht existiert, die .negative' Integration aber tatsächlich funktioniert. Doch kann sie das Fehlen der ersteren auf keinen Fall kompensieren. Und da es kein Zusammenspiel von positiver und negativer Integration gibt, bleiben die zentripetalen Kräfte - gleich, ob sie durch die Aktivität der Kleinhändler oder der Großunternehmen (,01igarchen') entstehen - wirkungslos. Es lässt sich somit feststellen, dass es in der GUS keine funktionsfähige Integration gibt. Entgegen der Behauptungen der Vertreter der liberalen Verwestlichungssicht, die gegen die Integration gerichtet sind, bin ich allerdings davon überzeugt, dass diese Lage der wirtschaftlichen Entwicklung Russlands eher schadet als nützt. Ich bin sicher, dass der Zerfall der UdSSR nicht vorprogrammiert war. Geschichte hat sicherlich keinen Konjunktiv, aber es gibt immer Alternativen. Nicht alles, was existiert, ist vernünftig und effizient. Die Möglichkeit, anstelle der UdSSR einen einheitlichen demokratischen marktwirtschaftlichen Staat aus 12 postsowjetischen Republiken zu schaffen, existierte tatsächlich. Sie wurde aber aus verschiedenen Gründen nicht realisiert. Und die weitere Entwicklung verlief dann, wie der moderne Institutionalismus behauptet: ,pfadabhängig' {North 1992). 5. Dominanz der Desintegrationskräfte Wie auch immer, nach den Belowesch-Ahkommm wäre es falsch, den Misserfolg des Reintegrationsprojektes auf dem Territorium der ehemaligen UdSSR in erster Linie auf das Fehlen des politischen Willens der Regierungen der neuen unabhängigen Staaten zurückzufuhren. Wegen der Belowesch-Logik scheint mir vielmehr das tatsächliche Verhalten der Mitgliedstaaten zu der GUS und anderen Gruppierungen rational zu sein. Vereinfacht könnte seine Maxime wie folgt formuliert werden: „Ein „Maximum an wirtschaftlichen Vorteilen in den bilateralen Beziehungen und ein Minimum an gegenseitigen politischen Verpflichtungen auf multilateraler Ebene". Worin bestehen aber die Gründe der offensichtlichen Dominanz der zentrifugalen Tendenzen gegenüber den zentripetalen? In einer Arbeit, die ich gemeinsam mit L. Vardomskij verfasst habe, werden die aus meiner Sicht am häufigsten benutzten Erklärungsansatz für den Misserfolg der Integrationsversuche im postsowjetischen Raum betrachtet (Grinberg und Vardomskij 2001, S. 55 ff.). Hier möchte ich nur die wichtigsten objektiven Faktoren aufzeigen, die nach dem Belowesch-Design die Integration angesichts der beliebigen Interessenkonstellation der potenziellen Teilnehmerstaaten so überaus schwierig machen. Erstens hat jeder Staat von der UdSSR eine Wirtschaftsstruktur geerbt, die sich jahrzehntelang ohne Berücksichtigung der Marktkriterien entwickelte. Deshalb musste die Veränderung der Arbeitsteilung zwischen den Republiken (der Übergang von der Zentralverwaltungs- zur Marktwirtschaft) jene gegenseitigen wirtschaftlichen Beziehungen beenden, die früher nach den in Moskau ausgearbeiteten Prioritäten funktionierten. Dieser Effekt ist objektiv durch die Systemtransformation entstanden und ist kein Ergebnis bewusster Desintegrationsbestrebungen der Republiken, die auf einmal souverän wurden. Deshalb erscheint die nicht selten zu hörende Behauptung, die GUS-Länder
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hätten die Euphorie der ersten Unabhängigkeitsjahre überwunden und den Schaden begriffen, der durch die Aufgabe der gegenseitigen Beziehungen entstanden sei, und versuchten jetzt, die Beziehungen neu aufzubauen, ziemlich naiv zu sein. Zweitens spielt Russland eine besondere Rolle im postsowjetischen Raum: Es ist für eine gleichberechtigte multilaterale Integration einfach zu groß. Wenn ein Land mehr als 2/3 des gesamten wirtschaftlichen Potenzials einer Gruppe aus 12 Ländern umfasst, erwächst daraus ein objektives Problem der Interessenabstimmung und der Integrationsentscheidungen. Selbst wenn es ein Interesse aller Mitgliedstaaten an einer vertieften Integration gäbe, müsste die Integrationsgemeinschaft wegen der besonderen Stellung Russlands eine Aufgabe lösen, die mit der Quadratur des Kreises vergleichbar wäre: Die organisatorische Dominanz Russlands ist einerseits unakzeptabel für die anderen GUSMitglieder, andererseits würde eine gleichberechtigte Koordination den Interessen Russlands in der GUS widersprechen. In diesem Zusammenhang ist daraufhinzuweisen, dass die Grundlage der erfolgreichen europäischen Integration eine relative Gleichheit der wirtschaftlichen und politischen Machtstellung von Frankreich, Deutschland, Italien und Großbritannien ist. Drittens stellt die außerordentliche Attraktion der EU als bereits erfolgreichem Integrationsblock einen starken zentrifugalen Faktor dar. Unabhängig davon, wie die Perspektiven des EU-Beitritts für einzelne europäische GUS-Länder aussehen, wollen sie doch alle der EU beitreten - und das ist ihnen das Wichtigste. Allerdings macht dieser Faktor die Möglichkeit, das Konzept des ,Eurasismus' als eine konsolidierende Kraft zu instrumentalisieren, für die Reintegration der postsowjetischen Republiken illusorisch. Viertens schließlich muss man mit einer ständigen Anti-GUS-Ausrichtung der westlichen Politik rechnen, da ein bedeutender Teil der westlichen Elite kritisch, wenn nicht ablehnend auf beliebige Versuche der politischen und wirtschaftlichen Konsolidierung der GUS reagiert. Dahinter steckt vermutlich die übertriebene Angst vor dem Wiederaufbau des mächtigen sowjetischen Reiches, die zu dem Rat an die neuen unabhängigen Staaten führt, der .Versuchung der Integration' zu widerstehen. Die Integration der GUS ist jedoch keine Versuchung, sondern eine zwingende Notwendigkeit. Niemand kritisiert die axiomatische Feststellung bezüglich der eindeutigen Vorteile eines integrierten Wirtschafts- und Währungsraumes gegenüber fragmentierten Staaten. Selbst im heutigen, stark integrierten Zustand sind die EU-Länder immer noch schwächer als die USA, die einen völlig homogenen wirtschaftlichen Raum bilden. Da muss es keine Doppelstandards geben. Wie dem auch sei, das Streben des heutigen Russland, das wirtschaftliche Zusammenwirken zwischen den ehemaligen UdSSR-Republiken vernünftig zu organisieren, hat mit imperialen Ambitionen nichts zu tun. 6. Konsolidierung der GUS in Sicht? Wie wird sich also das Schicksal der GUS in absehbarer Zukunft entwickeln? Wie man sagt, sind Prognosen immer schwierig, insbesondere wenn sie in die Zukunft gerichtet sind. Falls man das Problem ernster betrachten will, muss eine andere berühmte Aussage herangezogen werden: „Gott gebe mir den Mut, mich damit zufrieden zu geben, was ich nicht ändern kann, gebe mir die Kraft, das zu ändern, was ich ändern kann,
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Ruslan Grinberg
und gebe mir die Weisheit, das erste von dem zweiten zu unterscheiden". Im GUS-Fall stehen nämlich oft der extreme Pessimismus („weitere Desintegration ist unvermeintlich") und der extreme Optimismus („überall wächst das Streben nach regionaler Integration") dicht beieinander. Diesbezüglich möchte ich auf einige neuere Entwicklungen hinweisen, die verschiedene Varianten der Strukturierung des GUS-Raumes beeinflussen könnten. Diejenigen, die aus meiner Sicht integrationsfördemd sind, werden als Vorteile bezeichnet, diejenigen, die dagegen wirken, als Nachteile. -
Es ist absehbar, dass die Periode der ,Viel-Vektoren-Orientierung' der Außenpolitik der neuen unabhängigen Staaten in der nächsten Zukunft zu Ende geht. Dies ist aus der Sicht der Konsolidierung der GUS eher ein Nachteil als ein Vorteil. Die wachsende Terrorismusgefahr ist ein Nachteil, der zum Vorteil werden kann, falls der russische Faktor im Sicherheitssystem bedeutender wird.
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Das Erlöschen der gebliebenen Elemente des früher einheitlichen sowjetischen Systems, also das Verschwinden des ,Sowjetseins' in verschiedenen Lebensbereichen (Sprache, Mentalität, Sitten und Bräuche) ist eindeutig ein Nachteil. Aber die allgemeine Belebung der Volkswirtschaften von großen GUS-Ländern als ein Faktor, welcher wirtschaftliche Kooperation zwischen den Akteuren fordert, ist ein Vorteil.
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Die wachsende Entschlossenheit einiger GUS-Länder, zu Mitgliedern der EU zu werden, verbunden mit dem Willen, der Welthandelsorganisation beizutreten, ist ein Nachteil, welcher aber auch zum Vorteil werden kann, weil dies einen starken Zwangsmechanismus zur Ausübung der gegenseitigen Verpflichtungen in der GUS schafft.
Daraus folgt, dass sich die GUS in der ersten Phase der Integration mit einer Freihandelszone begnügen müsste. Mehr sollte man nicht erwarten. Natürlich bleibt dabei die Gefahr des umgelenkten Imports (handelsumlenkende Effekte). Doch bilden die steigende Interessiertheit der GUS-Länder an der Einhaltung der gegenseitigen Verpflichtungen und die Steigerung der Kosten von unilateralen protektionistischen Aktionen, die durch die WTO-Mitgliedschaft der GUS-Länder entstünden, die Vorteile eines durch die Freihandelszone entstehenden einheitlichen Wirtschaftsraumes, ohne die nationalen Souveränitätsrechte merklich zu begrenzen. Möglich und sehr wichtig wird unter diesen Umständen die Suche nach den so genannten ,Zonen der faktischen Solidarität'. Unter diesen Zonen werden verschiedene gemeinsame Initiativen der interessierten Länder zur Regelung einzelner Märkte für Güter, Dienstleistungen und Produktionsfaktoren verstanden. Dieser Begriff wurde von einem der Gründer des europäischen Integrationsraumes, Robert Schuman, 1954 bei der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) eingeführt. Hinsichtlich der ,Integrationsreife' und im Vergleich zur EU-Dynamik befinden sich die GUSStaaten in etwa in den 1950er Jahren des vergangenen Jahrhunderts; sie sind aber im Stande, gemeinsame sektorale Märkte, Handelsräume in Grenzgebieten, Abstimmung der Lieferungen und Preise für dritte Länder und regionale Arbeitsmärkte kooperativ zu gestalten. Die Suche nach solchen ,Zonen der faktischen Solidarität' ist der realistischste Weg zur Reintegration der GUS.
Integration und Desintegration im postsowjetischen Wirtschaftsraum
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7. Russisches Paradoxon Besonders wichtig ist aus dieser Sicht das Verhalten Russlands. Das Schicksal der GUS hängt entscheidend davon ab, ob es sich rational verhält oder nicht. Im idealen Fall muss die russische Politik gegenüber der GUS und einzelnen Ländern pareto-optimal sein, d. h. so durchgeführt werden, dass die Verbesserung der Position von Russland zu keiner Verschlechterung der Position von anderen Staaten führt. Dieser Ansatz setzt in erster Linie ein im Vergleich zu den Partnerstaaten starkes wirtschaftliches Wachstum voraus sowie die Nicht-Diskriminierung der Partner, inklusive dem Verbot der einseitigen protektionistischen Eingriffe. Außerdem muss Russland laufende Zugeständnisse praktizieren, die gegen längerfristige Vorteile ,umgetauscht' werden, inklusive einer vernünftigen Unterstützung der schwächeren Länder. Außerdem muss es letztendlich die Vorrangigkeit der wirtschaftlichen Kooperation zwischen den GUS-Ländern auf der Mikro-Ebene sichern, wobei maximale Unterstützung für das einheimische Unternehmertum in den Bereichen Information und Finanzen zu sichern ist. Die realen Voraussetzungen für die Entwicklung der heutigen formlosen GUS zu einem lebensfähigen Integrationsblock werden nur dann entstehen, wenn die Integrationsräume durch konkrete Aufgaben, die aus einem konkreten gemeinsamen Interesse entstehen, ersetzt werden. Falls Russland ein Programm des strukturellen Umbaus der postsowjetischen Wirtschaft aufgrund sorgfältig ausgewählter Prioritäten und einer Verbreitung der modernen Technologien initiieren kann, wird ein solches Interesse ohne Zwang entstehen. Dieses Interesse besteht im gemeinsamen Wunsch, innerhalb der GUS eigene wettbewerbsfähige multinationale Unternehmen zu schaffen und zu entwickeln, die sich an der Globalisierung der Weltwirtschaft als Subjekte und nicht als Objekte beteiligen können. Als Fazit ist es angebracht, noch einmal auf das Paradoxon hinzuweisen, das aus der beachtlichen Macht Russlands im postsowjetischen Raum resultiert: Russland ist zu groß, um auf dem Territorium der ehemaligen UdSSR eine Integration nach dem EU-Vorbild zu ermöglichen, aber es ist gerade so groß, dass unter der Voraussetzung seiner prosperierenden wirtschaftlichen Entwicklung jede GUS-Integration immer nur .russlandzentriert' sein kann. Literatur Coen, S. (2001), Failed Crusade-America and the Tragedy of Postcommunist Russia, Moscow. Grinberg, R. (1996), Die Integration auf dem postsowjetischen Raum: romantische Illusionen und pragmatische Absichten, Moskau. Grinberg, R. und L. Vardomskij (2001), Zehn Jahre der Evolution und Perspektive der Strukturierung der Integrationsversuche im postsowjetischen Raum, in: Rossijskij Ekonomitscheskij Zschumal, H. 8. Milanovic, B. (1998), Income, Inequality and Poverty Düring the Transition from Planned to Market Economy, in: World Bank Regional and Sectoral Study, Vol. 2. North, D.C. (1992), Institutionen, institutioneller Wandel und Wirtschaftsleistungen, Tübingen. Pinder, D. (1969), Economic Integration in Europe, London. Schishkov, J. (1996), Ein mühsamer Weg Russlands in die Weltwirtschaft, in: Rossijskij Ekonomitscheskij Zschumal, H. 1.
Dieter Cassel und Paul J.J. Weifens (Hg.) Regionale Integration und Osterweiterung der Europäischen Union Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft • Band 72 • Stuttgart • 2003
Regionale Integration in historischer Perspektive: Integrationsinitiativen in Mitteleuropa vom 19.- bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts
Dietrich von Delhaes-Guenther und Peter Hertner
Inhalt 1. Längerfristige Entwicklungstrends ökonomischer Integrationsprozesse
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2. Ziele, Arten und Wirkungen internationaler Integrationsbündnisse
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3. Ökonomische Integrationsprozesse auf dem Weg zum Nationalstaat
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4. Der Versuch einer ,hegemonialen Integration' durch Napoleoni.
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5. Föderalistische Integration unter preußischer Führung: Der Deutsche Zollverein, 1834-1866
356
6. Der Deutsche Zollverein als,.Modell des hegemonialen Bundesstaates", 1866-1871
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7. „Mitteleuropa" als Integrationsprojekt von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1918
364
8. Die Zwischenkriegs- und Nachkriegszeit: Ein kurzer Ausblick
367
Literatur
369
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1. Längerfristige Entwicklungstrends ökonomischer Integrationsprozesse Ein Rückblick auf die wirtschaftsgeschichtliche Entwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts lässt erkennen, dass sich verschiedene Phasen ausgeprägter einzel- und zwischenstaatlicher wirtschaftlicher Integration mit solchen ökonomischer Desintegration oder autarkistischer nationaler Abgrenzung im Zeitablauf abgewechselt haben. So unterteilt etwa Haberler zur historischen Orientierung drei längerfristige Entwicklungstrends unterschiedlicher ökonomischer Integrationsintensität („waves of integration"). Dabei abstrahiert er bewusst von kurzfristig um den jeweiligen Trend schwankenden Sonderbewegungen (Haberler 1964, S. 2). Die erste Integrationswelle vollzog sich bereits im Verlauf des 18. Jahrhunderts in Großbritannien und in Frankreich unmittelbar nach der Französischen Revolution. Sie führte in beiden Ländern bei Straffung der zentralen politischen Institutionen über die Beseitigung interner Zölle und Handelsbeschränkungen sowie von Mobilitätshemmnissen zur Schaffung nationaler Märkte. „The economy of Great Britain was the first to be unified and integrated, the French and American followed, later came other Continental European and overseas countries" (Haberler 1964, S. 2 f.). Im Anschluss an die napoleonischen Kriege bis ca. 1880 setzten sich zwei zum Teil parallel verlaufende und einander ergänzende Integrationstendenzen durch. Einerseits vollzog sich der ökonomische Integrationsprozess innerhalb bestehender oder sich herausbildender bestimmter Staatsgebiete, andererseits zwischen einzelnen Staaten, insbesondere auch aufgrund der von Großbritannien auf andere Kontinente übergreifenden Freihandelsbewegung. Die folgende Periode seit dem auslaufenden 19. Jahrhundert bis 1945 ist vor allem aufgrund der Auswirkungen zweier Weltkriege und der Weltwirtschaftskrise durch eine nachhaltige Zerrüttung der internationalen Interessenharmonie gekennzeichnet, durch fortschreitende Desintegrationsschübe, nationalen Protektionismus und handelspolitische Restriktionen. Sie mündet erst wieder mit der internationalen Neuordnung nach dem Zweiten Weltkrieg in eine Periode bis zur Gegenwart weltweit zunehmender ökonomischer Integration (Haberler 1964, S. 3 ff.). Im Vordergrund der folgenden Ausfuhrungen stehen einzelne regionale Integrationsinitiativen in Mitteleuropa während des 19. und bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Zur Einordnung eines solchen Untersuchungsobjekts erscheint es allerdings sinnvoll, einige generalisierende Anmerkungen über das Phänomen der regionalen Integration und seine besonderen Bedingungen im 19. Jahrhundert vorauszuschicken. Anschließend soll dann auf einzelne realisierte und angestrebte regionale Integrationsinitiativen in Zentraleuropa seit dem durch Napoleon begründeten „Grand Empire" bis zur politischterritorialen Neuordnung nach dem Zweiten Weltkrieg eingegangen werden.
2. Ziele, Arten und Wirkungen internationaler Integrationsbündnisse Regionale Integrationsinitiativen setzen zunächst einen bestimmten politischen Grundkonsens unter den Beteiligten voraus, d. h. die ökonomische Kooperationsbereitschaft resultiert letztlich aus vorgelagerten gemeinsamen politischen Zielsetzungen. So kann ein höherer Verflechtungsgrad zwischen einzelnen Wirtschaftsräumen, beispielsweise aus sicherheitspolitischen Gründen, von den jeweiligen Partnern angestrebt werden, aus
Regionale Integrationsinitiativen in historischer Perspektive
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machtpolitischen Motiven gegenüber Drittländern (collective bargaining power) oder zur bewussten Einbindung bzw. Disziplinierung nationaler Politiken in übergeordnete politische Zielvorstellungen. 1 Weiterhin hängt der Integrationserfolg insbesondere davon ab, ob die Kooperationspartner ein integrationsfördemdes Maß an Homogenität hinsichtlich ihrer politischen und ökonomischen Strukturen aufweisen. Femer dürfte auch ein dominanter Partner oder Hegemon die Funktionseffizienz regionaler Integrationsabkommen sehr wesentlich beeinflussen. Im Einzelnen geht es bei ökonomischen Integrationsbündnissen darum, den Handel zu liberalisieren, indem vordergründig zwischenstaatliche Zölle, aber auch nichttarifäre Handelshürden, abgebaut werden. Die dadurch begünstigte Faktormobilität transformiert sich dann in neue Allokationsmuster der Ressourcen. Ab einer bestimmten Integrationsintensität steigt schließlich der Bedarf an allgemeingültigen ordnungspolitischen und institutionell-organisatorischen Regelungen für das gesamte Wirtschaftsgebiet. Entsprechend gilt es, die auf den Integrationsraum oder darüber hinaus gerichteten wirtschaftspolitischen Maßnahmen der kooperierenden Partner aufeinander abzustimmen. Wenn auch alle regionalen Integrationsbündnisse das gemeinsame Ziel verfolgen, in irgendeiner Form die Vorteile der Handelsliberalisierung zu nutzen, so unterscheiden sie sich doch erheblich in ihren konkreten Ausformungen. Das betrifft die Zahl der Integrationsakteure ebenso wie die geografische Ausdehnung des Integrationsraumes, die Anzahl der zu liberalisierenden Handelsgüter, den administrativen Organisationsgrad und die externen Wirkungen des Bündnisses gegenüber Drittländern. Je nach dem angestrebten Ausmaß und der Integrationsbreite und -tiefe können verschiedene Integrationsstufen oder -formen gewählt werden (Butterwege 1993, S. 27 ff.; Siebert 1997, S. 199 f.; Dönges 1998, S. 3 f.; Diekheuer 2001, S. 194 ff.; Kaiser 2002, S. 106 f.). Die Spannweite regionaler Initiativen reicht vom Abbau einzelner eng begrenzter Handelshemmnisse über Freihandelszonen ohne und Zollunionen mit gemeinsamer Außenzollpolitik bis hin zur Bildung umfassend liberalisierter Wirtschaftsräume mit hoher räumlicher Verflechtungsintensität. Gegenwärtig lassen sich je nach Entwicklungsreife der Mitgliedstaaten und den spezifischen politökonomischen Rahmenbedingungen regionale Gemeinschaften mit relativ stabilem oder eher labilem Integrationspotenzial unterscheiden. Höhere integrative Chancen sind bei Industrieländern mit konvergierenden ökonomischen und institutionellen Strukturen sowie politischen Zielsetzungen zu erwarten (Nord-Nord-Integration). Weit ungünstigere Integrationsvoraussetzungen bieten dagegen regionale Bindungen zwischen Entwicklungsländern, die deutlich heterogene Wirtschaftsstrukturen, unterschiedliche Faktorausstattung, Einkommensverhältnisse, institutionelle Reifegrade und außenwirtschaftliche Verflechtungen sowie politische Instabilitäten aufweisen (Süd-Süd-Integration). Dazwischen gibt es eine Reihe intermediärer Handelsbündnisse, die zwar durch ein gewisses Maß an Mitgliederheterogenität hinsichtlich des jeweiligen Entwicklungsstandes und der politischen Ziele gekennzeichnet sind, den Zusammenhalt jedoch dadurch fördern, dass sie sich zunächst auf die flexible Form der Freihandelszone bei geringer Integrationstiefe beschränken (Nord-Süd-Integration). 2 1 2
Vergleiche hierzu die Ausführungen von Rolf J. Langhammer in diesem Band. Vgl. dazu ebenfalls den Beitrag von Rolf J. Langhammer in diesem Band.
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Eine genauere Analyse der Integrationswirkungen wird erst dann möglich, wenn statt der komparativ-statischen Betrachtungsweise einzelner Integrationszustände die regionale Blockbildung als dynamischer Integrationsprozess interpretiert wird (Walz 1999, S. 2 ff.). Dadurch kann der wechselseitige Wirkungszusammenhang von Aktionen und Reaktionen der Integrationsbeteiligten verdeutlicht werden, auch im Falle der Erweiterung von Integrationsgemeinschaften. So lösen einzelne Integrationsakteure ein bestimmtes Maß an konfliktfördernder oder -mindernder Integrationsdynamik aus. Darauf reagieren die beteiligten Wirtschaftssubjekte und Institutionen mit veränderten Verhaltensweisen, die ihrerseits wieder auf den Integrationsverlauf zurückwirken. Bei hohem Integrationsniveau und gesamträumlich ausgerichteter Interessendominanz müssen die einzelnen Integrationspartner in steigendem Maße ihre noch in eigener Regie verbliebenen politischen und ökonomischen Gestaltungskompetenzen einschränken. Begleitet wird dieser Autonomieverlust bzw. die Delegation grundlegender Bereiche der politischen Administration und der Wirtschaftspolitik auf eine übergeordnete Ebene durch die Ausgestaltung supranationaler Institutionen. Insbesondere rechnen zu den dynamischen Wirkungen bei erfolgreicher vertiefter Integration der zunehmende intraindustrielle Handel, die steigende Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen, die Nutzung von Größen- und Diversifizierungsvorteilen sowie die durch erhöhte Faktormobilität induzierten Wachstumseffekte (Siebert 1997, S. 203).
3. Ökonomische Integrationsprozesse auf dem Weg zum Nationalstaat Im historischen Rückblick müssen wir uns allerdings fragen, inwieweit Integrationsprozesse im 18. und 19. Jahrhundert mit den gegenwärtigen Formen der internationalen ökonomischen Integration vergleichbar sind. Hier gibt es Ähnlichkeiten, aber auch Differenzen. Der politische Grundkonsens manifestierte sich insbesondere seit der Großen Französischen Revolution im Nationalstaatsprinzip, das heißt im Streben nach nationaler Einheit und politischer Autonomie. Zunächst breitete sich der französische Nationalismus durch die Revolutionsheere, dann durch die napoleonischen Eroberungszüge in Kontinentaleuropa aus. Die französische Besatzungsmacht sorgte für die Modernisierung feudaler Verwaltungsstrukturen und Institutionen in den annektierten Gebieten, für territoriale Neuordnungen und binnenwirtschaftliche Liberalisierungen in ihrem weiteren Einflussbereich. Gleichzeitig formierten sich, nicht zuletzt aufgrund dieser Reformen, vor allem aber als Reaktion auf die hegemonialen Machtansprüche Frankreichs, nationale Unabhängigkeitsbestrebungen in den besetzten oder indirekt kontrollierten Gebieten. Dies galt insbesondere für die territorial zuvor stark zersplitterten deutschen und italienischen Regionen, die sich ethnisch, sprachlich und kulturell und aufgrund historischer Traditionen als nationale Gemeinschaften zu verstehen begannen, von einem einheitlichen Nationalstaat jedoch noch weit entfernt zu sein schienen. Europaweit fermentierten jeweils die Antriebskräfte eines neuen Nationalbewusstseins, das zur Entstehung nationaler Einheitsstaaten drängte und begann, als wichtige Vorbedingung auf dem Weg zur nationalen Einheit die wirtschaftsräumliche Integration voranzutreiben. Die Nation, so argumentierte Friedrich List, ist mehr als nur eine Addition einzelner Individuen. Sie ist „mit ihrer Sprache, Abstammung und Geschichte,
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mit ihren besonderen Sitten und Gewohnheiten, Gesetzen und Institutionen, mit ihren Ansprüchen auf Existenz und Selbstständigkeit ... und mit ihrem abgesonderten Territorium, durch tausend Bande des Geistes und der Interessen zu einem für sich bestehenden Ganzen vereinigt" {List 1841, S. 268). Einzelne Nationen miissten sich daher aus eigener Kraft und Selbsterhaltungstrieb gegenüber anderen durchsetzen. Ein starker Nationalstaat sollte das Fundament für die politische Unabhängigkeit und für die Bündelung machtpolitischer Ambitionen liefern. Er sollte darüber hinaus dazu dienen, einzelne zwar national homogene, jedoch in ihren politischen und ökonomischen Strukturen durchaus inhomogen entwickelte Teilgebiete zu einer stabilen Gemeinschaft zusammenzufügen. Das kollektive Sicherheitsargument, machtpolitische Beweggründe und daher letztlich die Disziplinierung einzelstaatlicher Politiker zugunsten des gesamtstaatlichen Gefüges bildeten somit auch unter den damaligen Konstellationen die ausschlaggebenden Integrationskomponenten. Zumindest ähnlich gelagert waren die Probleme der ökonomischen Liberalisierung. Überall in Kontinentaleuropa blockierten an der Wende zum 19. Jahrhundert Zollschranken auf kurze Distanzen zu Wasser und zu Land, unterschiedliche Münz-, Währungs-, Maß- und Gewichtssysteme sowie mangelnde Verkehrsverbindungen die großflächige wirtschaftliche Durchblutung, so dass die Vorteile der Faktormobilität, einer vereinheitlichenden Wirtschaftspolitik und regional übergreifender Institutionen nicht genutzt werden konnten. So gesehen zeigen sich gewisse Parallelen zwischen den jetzigen und den damaligen ökonomischen Integrationsbestrebungen. Die vielfältigen Handelshemmnisse, die man später durch Regionalgemeinschaften im multinationalen und großräumigen Bereich abzubauen versuchte, existierten früher in ähnlichen Formen auf engster räumlicher provinzieller oder kleinststaatlicher Ebene und behinderten den ökonomischen Vereinigungsprozess. Deshalb kommentierte auch Salin (1960, S. 33) mit Blick auf die Europäische Gemeinschaft: „Grundsätzlich vollzieht sich heute gar nichts anderes und grundsätzlich liegen daher auch keine anderen Probleme vor als im 19. Jahrhundert, als in kleinerem Raum sich aus Einzelstaaten und Staatenbünden Bundesstaaten entwickelten." Im Wesentlichen gilt das für die auf Wohlfahrtssteigerung ausgerichteten Zielsetzungen, für die Abstimmungsprobleme der Integrationsakteure und ihre gemeinsame Außenpolitik. Dennoch ergaben sich de facto Unterschiede dadurch, dass im 19. Jahrhundert der Nationalismus die dominierende Integrationskraft bildete. Auch können die inhomogenen Integrationsvoraussetzungen, die zwischen den Mitgliedern der damaligen und späteren mitteleuropäischen Integrationsbündnisse bestanden, nicht ohne weiteres nach Art und Ausmaß verglichen werden. Zudem differierten die politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen erheblich. Verkehrs- und Bevölkerungsdichte, interregionale Faktormobilität und Handelsverflechtungen wiesen zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein vergleichsweise geringes Volumen auf, wie auch der Staatsanteil am Sozialprodukt und das Niveau öffentlicher Subventionen. Die politische Willensbildung lag vor allem bei der Ministerialbürokratie und erfolgte nicht über die Mechanismen eines demokratisch-pluralistischen Parlamentarismus und den damit verbundenen direkten Einfluss der Parteien und Interessenverbände. Im Übrigen gab es keine Einbindung in supranationale Institutionen (Internationaler Währungsfonds, Weltbank, GATT, Ver-
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einte Nationen), wie dies dann für die Staaten der Europäischen Gemeinschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts galt. Ungeachtet solcher Unterschiede ging es grundsätzlich in beiden kriegsbedingten historischen Umbruchphasen der Neuordnung Kerneuropas um die sukzessive Öffnung zuvor getrennter Teilmärkte und die damit verbundenen Wachstumsimpulse. Anfang des 19. Jahrhunderts mussten zunächst die Fesseln, die dem Wachstum auferlegt waren, durch territoriale Flurbereinigungen und durch administrative sowie institutionelle Reformen gelockert werden. Erste Anstöße eines solchen Wandels gingen vom französischen Beamtentum in den annektierten Teilen Mittel- und Südeuropas aus. Größere Wachstumschancen ermöglichte jedoch erst die Herausbildung gefestigter Nationalstaaten mit höherem Integrationsniveau. „National economic unification was an indispensable prerequisite not only for the economic development of the various countries concerned, but also for the growth of the world economy" (Haberler 1964, S. 4). Als Kehrseite der fortschreitenden nationalen Integration erwies sich allerdings ein zunehmender Protektionismus. Zwar hatten sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts die wichtigsten europäischen Handelspartner zum wirtschaftlichen Liberalismus und damit zum Freihandel bekannt, also zum Versuch, „... in der internationalen Wirtschaft den gleichen Effekt zu erzielen wie innerhalb eines Landes durch Senkung der inneren Zollschranken" (Supple 1985, S. 220). Doch bereits seit dem letzten Quartal des 19. Jahrhunderts und bis zur Neuordnung nach dem Zweiten Weltkrieg überwogen wieder die desintegrativen Kräfte. Demzufolge stand die Außenhandelspolitik nun wieder im Zeichen internationaler Wirtschaftsrivalitäten und dem Streben nach nationaler Machtentfaltung. Vor dem Hintergrund der hier skizzierten Zusammenhänge sollen im Folgenden die historischen Konstellationen näher gekennzeichnet werden, die seit der Wende zum 19. Jahrhundert bestimmten Vorstellungen und konkreten Ausprägungen regionaler Integration in Mitteleuropa zugrunde lagen. 4. Der Versuch einer „hegemonialen Integration" Europas durch Napoleon I. Als Erbe der Französischen Revolution von 1789 hat Napoleon versucht, ab 1801 ein Herrschaftssystem zu schaffen, das das kontinentale Westeuropa und große Teile Mittel- und Südeuropas unter der hegemonialen Macht des französischen Kaiserreiches vereinigen sollte. Dieses Hegemonialstreben war nicht nur politisch geprägt, sondern hatte auch eine wirtschaftliche Komponente, denn die ökonomischen Interessen Frankreichs sollten in jedem Falle über diejenigen der verbündeten Staaten dominieren. „In den Augen Napoleons war der europäische Kontinent ein Gebiet, dessen Bodenschätze und Lebensmittelreserven Frankreich ausbeuten und in das es seine Industrieprodukte absetzen konnte. Auf dem Kontinent sollte der Handel dem Kaiserreich in monopolistischer Weise vorbehalten bleiben" (Dufraisse 1984, S. 35). Dieses so genannte .Kontin e n t a l s t e m ' wurde mit dem Berliner Dekret vom 21. November 1806 flankiert durch die noch bekannter gewordene ,Kontinentalsperre', mit der der gesamte europäische Kontinent gezwungen werden sollte, britische Waren von der Einfuhr auszuschließen. Da ein militärischer Sieg Napoleons über England inzwischen in weite Ferne gerückt war, sollte dieser Gegner zumindest handelspolitisch in die Knie gezwungen werden.
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Spanien, Österreich und Preußen wurden sukzessive nach 1806 - schließlich auch Schweden im Jahre 1810 - gezwungen, sich dem ,blocus Continental' gegen Großbritannien anzuschließen; nur Russland trat den antibritischen Maßnahmen freiwillig, allerdings nur für kurze Zeit, bei. Die Durchsetzung der Kontinentalsperre, die ja zumindest an den Außengrenzen ein hohes Maß an Koordination erfordert hätte, „[...] führte nicht zur Schaffung von beratenden oder ausführenden politischen Institutionen. Alle Entscheidungen und ihre Ausführung hingen allein vom französischen Kaiser ab. Seinen Anordnungen mussten sich alle Staaten unterwerfen, soweit es um den Kampf gegen den englischen Handel oder die Ausfuhr französischer Güter ging. Im Übrigen konnte jeder Staat seinen Außenhandel frei gestalten. Die Staaten des europäischen Kontinents bildeten somit keine Zollunion" (Dufraisse 1984, S. 38 f.). Um den florierenden Schmuggel in den Griff zu bekommen, versuchte das napoleonische Regime, mit dem Dekret von Trianon vom 5. August 1810 die befreundeten europäischen Staaten zur Übernahme hoher Einfuhrzölle auf Baumwolle und so genannte Kolonialwaren, wie zum Beispiel Rohrzucker, zu zwingen. Faktisch wurde damit der britische Zwischenhandel, den man durch die Sperre hatte ausschalten wollen, wieder in seine Funktionen eingesetzt, auch wenn offiziell der Handel mit England strikt verboten blieb. Der Durchsetzung der Kontinentalsperre fielen 1810 auch Holland und große Teil Nordwestdeutschlands bis hinauf nach Lübeck zum Opfer: sie wurden einfach vom französischen Kaiserreich annektiert. Damit ließ sich die Kontrolle der Küste durch französische Zöllner, die zuvor schon häufig in den alliierten Staaten aktiv geworden waren, ohne weitere Umstände ermöglichen. Zugleich wurden die Handelsbeziehungen der Rheinbundstaaten untereinander und mit Frankreich und dem französisch besetzten und zum Teil auch annektierten Italien zugunsten Frankreichs vertraglich manipuliert, so dass Roger Dufraisse zu der Schlussfolgerung kommt: „Es bestand also keine Wirtschaftsunion: weder zwischen Frankreich auf der einen und den übrigen Staaten auf der anderen Seite noch zwischen den von Frankreich abhängigen oder den neutralen Staaten untereinander. Statt von einer Wirtschaftsintegration im heutigen Sinne kann man eher von einer organisierten Unteijochung der Wirtschaft Europas unter Frankreich im Interesse der französischen Wirtschaft sprechen" (Dufraisse 1984, S. 43). Immerhin war innerhalb des napoleonischen .Empire' - dem Beispiel des revolutionären Frankreich folgend - ein einheitliches Wirtschaftsgebiet entstanden, das neben Teilen Oberitaliens und der Schweiz das gesamte linksrheinische Deutschland, die gesamten Niederlande und, ab 1810, wie wir gesehen haben, einen Großteil Nordwestdeutschlands umfasste. So war der bis dahin größte, nach außen durch hohe Zollmauern und die Kontinentalsperre abgeschirmte europäische Binnenmarkt entstanden, der allerdings den Zusammenbruch der napoleonischen Herrschaft in den Jahren 1814/15 nicht überdauern sollte. Auf diese Weise waren neben die aggressiven Ziele der napoleonischen Wirtschaftspolitik - nachhaltige Schädigung der britischen Konkurrenz und unangefochtene französische Vorherrschaft auf dem europäischen Kontinent - auch positive Aspekte getreten, denn das napoleonische System „... offered an alternative system of markets on a much greater scale than any attempted before" (Ellis 1981, S. 266). So entstanden - vorübergehend vor der übermächtigen britischen Konkurrenz geschützt moderne Baumwollspinnereien und Fabriken für Textilmaschinen im Pariser Becken, um Lüttich und Verviers im späteren Belgien, in Mülhausen im Elsass, im Umland von
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Zürich, im Bergischen Land und im sächsischen Chemnitz. Ein Teil dieser neuen Industrien überlebte dann auch den harschen Wind des internationalen Wettbewerbs, der nach dem plötzlichen Ende der ,Treibhausatmosphäre', mit der man den Protektionismus der napoleonischen Ära gekennzeichnet hat, einsetzte (Crouzet 1985, S. 291). 5. Föderalistische Integration unter preußischer Führung: Der Deutsche Zollverein, 1834-1866 Der Wiener Kongress von 1814/15 schuf eine neue gesamteuropäische Ordnung, die jahrzehntelang, in vieler Hinsicht sogar bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges, Bestand hatte. Instrument dieser neuen Ordnung wurde der Deutsche Bund, einerseits „ein Faktor der Stabilität", der auf Jahrzehnte hinaus den Frieden in Mitteleuropa garantierte, zum anderen aber „eine Barriere gegen die liberal-nationale Bewegung der Zukunft, [...] ein Sieg der partikularstaatlichen Restauration". Als Organisation war der Deutsche Bund „eine relativ schwache und wenig handlungsfähige Föderation, ein Staatenbund mit einigen bundesstaatlichen Elementen, ohne Exekutive, Justiz und Verfassungsschutz, mit geringen Kompetenzen" {Nipperdey 1983, S. 97). Die so genannte Bundesakte, die einer Verfassung des Deutschen Bundes gleichkam, hatte auf wirtschaftspolitischem Gebiet keine klaren Festlegungen getroffen, solche wollte man später zu schließenden Abkommen überlassen. In der Tat sind die praktischen Ergebnisse in der knapp fünfzigjährigen Geschichte des Deutschen Bundes, soweit sie die Wirtschaftsordnung betrafen, eher bescheiden geblieben. Zu erwähnen wären lediglich eine Vereinbarung zum Schutz des literarischen und musikalischen Eigentums (1835/41), eine gesamtdeutsche Wechselordnung von 1847 und - als bedeutendstes Resultat - die 1856 begonnene Diskussion über die Schaffung eines Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuches, das 1861 verabschiedet wurde und in Deutschland bis 1897, in Österreich bis 1918 Geltung hatte {Rumpier 1990, S. 215 ff.). Die im Vormärz von Preußen, Sachsen und Österreich „... vor die Bundesversammlung gebrachten Fragen einer einheitlichen Planung des Eisenbahnnetzes, eines gemeinsamen Postvereins und der Vereinheitlichung des Geldwesens" hatten dagegen nicht zu konkreten Beschlüssen geführt {Rumpier 1990, S. 218). Das dürfte nicht zuletzt an der Hürde der Zweidrittelmehrheit gelegen haben, die für das Zustandekommen von .Plenarbeschlüssen' erforderlich war; zu diesen gehörten unter anderem auch alle Angelegenheiten, „... die die allgemeine Wohlfahrt fördern sollten", und damit waren beispielsweise die erwähnten Fragen der Wirtschaftsverfassung angesprochen {Huber 1990, Bd. 1, S. 592 f.). Nach Art. 19 der Bundesakte konnte jeder Einzelstaat des Deutschen Bundes aufgrund der ihm zugestandenen .Handelssouveränität' eine eigene .Außenhandelspolitik' betreiben. Preußen ging hier mit seinem Zollgesetz vom 26. Mai 1818 voran. Dieses Gesetz „hob die preußischen Binnenzölle auf, verlegte die Zollgrenzen an die Staatsgrenzen, proklamierte die Freiheit der Ein-, Aus- und Durchfuhr und führte einen einfachen Zolltarif mit mäßigen Gewichtszöllen (anstelle der sonst üblichen Wertzölle) ein" {Huber 1990, Bd. 1, S. 796). Preußen konnte dabei in Deutschland keineswegs eine Vorreiterfunktion beanspruchen, denn die ,Mittelstaaten' Bayern, Württemberg und Baden waren bei der Abschaffung der Binnenzölle und der Durchsetzung eines einheitlichen Außenzolls jeweils 1807, 1810 beziehungsweise 1811 vorangegangen und hatten so
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zumindest auf regionaler Basis integrierte Märkte geschaffen (Wehler 1987, Bd. 2, S. 126). Dafür, dass die preußischen Zollsätze insgesamt moderat ausfielen, war vor allem auch die „gemäßigt-reformerische Haltung" der leitenden Staatsbeamten verantwortlich, die herkömmliche kameralistische Ansätze mit dem liberalen Gedankengut keines Geringeren als Adam Smith, mit dem sie sich beim Studium in Göttingen oder Königsberg vertraut gemacht hatten, zu verbinden suchten (Winkel 1986, S. 109). Preußen hatte mit dem Wiener Kongress beträchtlichen Gebietszuwachs im Westen, nämlich Rheinland und Westfalen, erfahren, doch hatten die neuen Territorien keine direkte Landverbindung mit den östlichen Stammlanden. Ab 1821 wurden dann die Außenzölle für die westliche und die östliche Hälfte des Königreichs vereinheitlicht (Henderson 1959, S. 40). Die relativ ,freihändlerische' Tendenz des preußischen Zolltarifs von 1818 kam dem ostelbischen Großgrundbesitz und dessen Interesse am Getreideexport nach Großbritannien entgegen, da sich so kein Anlass zu britischen Retorsionsmaßnahmen bot. Zugleich kam die Aufhebung der lästigen Binnenzölle und -abgaben dem sich allmählich entwickelnden Absatz industriell gefertigter Produkte entgegen. Darüber hinaus gewährte der Tarif auch eine gewisse Schutzwirkung gegenüber den vor allem aus England hereinströmenden Fertigwaren. Dabei brachte „der Gewichts-, Maßoder Stückzoll [...] es mit sich, dass sich der Zollschutz bei Fertigwaren infolge sinkender Preise und leichterer Produkte in den nächsten Jahren sogar noch spürbar erhöhte" 0Hahn 1984a, S. 23). Die Integrationswirkung wurde für Preußen durch die Enklaven verschiedener Kleinstaaten beeinträchtigt, zumal deren Einwohner zum Teil prächtig am Schmuggel verdienten. In einer Reihe von Verträgen mit den anhaltischen Herzogtümern und einer Reihe thüringischer Kleinstaaten, die auf unverhohlenen preußischen Druck hin zwischen 1819 und 1828 abgeschlossen wurden, kam es zum Anschluss dieser Duodezfürstentümer an das preußische Zollgebiet. An den gemeinsamen Zolleinnahmen wurden die Kleinstaaten im Verhältnis zur Zahl ihrer Einwohner beteiligt, was sich für sie in der Regel als vorteilhaft erwies (Huber 1990, Bd. 1, S. 801, S. 813 f.). Für den späteren Deutschen Zollverein hatten diese vorausgegangenen Regelungen zweifellos Vorbildcharakter. Die preußische Zollpolitik war nicht ohne Wirkung auf die Mittelstaaten geblieben. Sie standen ihr kritisch gegenüber, vermochten ihr aber keine dauerhaften Alternativlösungen entgegenzusetzen. So riefen die beiden süddeutschen Königreiche Bayern und Württemberg 1828 den so genannten Süddeutschen Zollverein ins Leben. Doch war offenbar das gemeinsame Territorium immer noch zu klein und die Wirtschaftsstruktur der beiden Länder nicht komplementär genug, um dieses Projekt zu einem dauerhaften Erfolg zu machen {Huber 1990, Bd. 1, S. 815; Hahn 1984a, S. 41). Preußen war für die Integration seiner östlichen Gebiete mit seinen zum größten Teil neu erworbenen Landesteilen im Westen auf die Zusammenarbeit mit dem dazwischen liegenden Kurfürstentum Hessen oder mit dem Königreich Hannover angewiesen. Beide verweigerten sich zunächst. Dafür wurde aber 1828 „Hessen-Darmstadt [...] die erste handelspolitische Bastion, die Preußen in Süddeutschland einzunehmen vermochte" (Huber 1990, Bd. 1, S. 815). Dabei kam Preußen zugute, dass im Falle des finanzschwachen Großherzogtums Hessen mit seinem getrennten Staatsgebiet in Oberhessen und südlich des Mains bzw. in Rheinhessen die Zolleinnahmen nur knapp über den Kosten der Erhebung zu
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liegen kamen. Der zolltechnische Zusammenschluss mit Preußen bescherte dem Großherzogtum erhebliche Vorteile in Gestalt von etwa 5 % zusätzlicher jährlicher Mehreinnahmen zum Staatshaushalt, ohne dass seine Souveränität formal angetastet worden wäre {Hahn 1984a, S. 47). 1828 war auch das Jahr der Gründung des so genannten Mitteldeutschen Handelsvereins, der von Sachsen, Kurhessen, Braunschweig, Hannover, Nassau, verschiedenen thüringischen Staaten und der Hansestadt Bremen ins Leben gerufen wurde. Innere Gegensätze - die antipreußische Grundeinstellung der Gründer reichte als Kitt für den Zusammenhalt der Allianz offenbar nicht aus - und eine unzureichende Organisation verhinderten einen dauerhaften Erfolg dieses Bündnisses (Henderson 1959, S. 68). Preußens Gegenzug ließ nicht lange auf sich warten: Bereits im Folgejahr schloss es einen Vertrag mit Bayern und Württemberg, der die gegenseitige Zollfreiheit für alle Waren aus dem Inland garantierte und „eine schrittweise Anpassung des süddeutschen Zollsystems an das preußisch-hessische" vorsah (Huber 1990, Bd. 1, S. 819). Zwei Monate später einigte sich Preußen mit zwei thüringischen Staaten - beide waren Mitglieder des konkurrierenden Handelsvereins - auf den von Preußen finanzierten Bau von zwei neuen zollbefreiten Handelsstraßen durch deren Territorien. Auf diese Weise ließen sich Preußen und Bayern direkt miteinander verbinden. Der eigentliche Daseinszweck des Mitteldeutschen Handelsvereins - nämlich als Sperrriegel gegen die befürchtete Expansion des preußischen Handels nach Süd- und Westdeutschland zu fungieren - wurde hinfällig. Anfang 1832 trat dann auch Kurhessen, das im Gefolge der durch die Julirevolution von 1830 entstandenen Unruhen zum konstitutionellen System übergegangen und in schwieriges finanzielles Fahrwasser geraten war, dem preußisch-hessischen Zollverein bei (Hahn 1982, S. 97 ff.). Damit war der Mitteldeutsche Handelsverein, zu dessen Gründern Kurhessen gezählt hatte, endgültig aus dem Spiel. Erstmals bot sich eine Gesamtlösung an unter Mitwirkung einer beträchtlichen Zahl von Mitgliedstaaten des Deutschen Bundes unter preußischer Führung. Österreich, die andere Führungsmacht im Deutschen Bund, verhielt sich zunächst ablehnend - dies weniger aus innenpolitischen Gründen als vielmehr infolge der enormen Gegensätze, die seine wirtschaftliche Binnenstruktur kennzeichneten. Österreich war femer ein ausgesprochenes Hochzollgebiet, dessen angespannte Staatsfinanzen ein rasches Absenken der Tarife nach Meinung der Zeitgenossen kaum verkraftet hätte (Hahn 1990, S. 190). Am 22. März 1833 kam es zu einem Vertrag, mit dem sich das preußisch-hessische Zollsystem, dem sich zuvor auch noch Kurhessen angeschlossen hatte, mit dem süddeutschen Verbund aus Bayern und Württemberg zum .Deutschen Zollverein' verband. Dieser sollte zu Beginn des Jahres 1834 in Kraft treten. Zuvor waren ihm noch Sachsen, das politisch nach Wien, ökonomisch nach Berlin orientiert war, und die thüringischen Kleinstaaten beigetreten. Baden kam im Mai 1835 und das Herzogtum Nassau am Ende desselben Jahres hinzu. Eine Reihe norddeutscher Staaten (Oldenburg, Braunschweig und Schaumburg-Lippe), stärker freihandelsorientiert und unter Führung Hannovers auch eher antipreußisch gesinnt, kam zwischen 1834 und 1836 zu einem Zollbündnis unter der Bezeichnung ,Steuerverein' zusammen. Nachdem 1842 auch noch Lippe-Detmold, Braunschweig und Luxemburg dem Deutschen Zollverein beigetreten waren, gehörten diesem von insgesamt 39 Mitgliedstaaten des Deutschen Bundes immerhin 28 an. Hier ein kurzer Blick auf die Struktur des Zoll-
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bündnisses: Dessen Hauptorgan war die Generalkonferenz, ein alljährlich im Juni zusammentretender Kongress von Gesandten der Mitgliedstaaten. Die „Beratung und Beschlussfassung über Änderungen der gemeinsamen Zollgesetzgebung" fiel in die Kompetenz dieser Generalkonferenz, nicht aber die Änderung und Verlängerung der Zollvereinsverträge, für die die Außenminister der Mitgliedstaaten zuständig waren. Die Beschlüsse der Generalkonferenz mussten, sollten sie wirksam werden, einstimmig gefasst werden. „Sie bedurften, um in Kraft zu treten, nicht mehr der Ratifikation, sondern nur noch der Ausfertigung und Verkündigung durch die einzelstaatlichen Regierungen. Die Generalkonferenz war daher ein echtes gesetzgebendes Organ des Zollvereins [...]". Ernst Rudolf Huber zufolge waren „die Zollvereinsgesetze [...] keine übereinstimmenden Landesgesetze der Mitgliedstaaten, sondern Recht einer supraterritorialen Staatenverbindung. Sie waren nicht bloß interterritoriales, sondern sie waren supraterritoriales Recht. Sie standen im Rang über den Landesgesetzen. Zollvereinsrecht brach Landesrecht. Der Beitritt zum Zollverein schloss daher für jeden Mitgliedstaat eine Begrenzung seiner eigenen innerstaatlichen Gesetzgebungsgewalt in sich" (Huber 1988, Bd. 2, S. 294 f.; kursiv im Originaltext). Handelsverträge mit Drittstaaten konnte jedes Mitglied des Zollvereins selbst abschließen, doch waren die dabei vereinbarten Vergünstigungen auch allen übrigen Vereinsmitgliedem zu gewähren. Die .einzelstaatliche Kontrahierungsmacht' wurde dadurch von vornherein eingeschränkt, und dies dürfte einer der Hauptgründe dafür gewesen sein, dass Drittstaaten Handelsverträge nur mit Preußen abschlössen, das dabei „im Namen der Gesamtheit der Zollvereinsstaaten" handelte. Damit wurde aber auch der Gesamtheit der Vereinsstaaten „die völkerrechtliche Vertragsfähigkeit" zuerkannt (Huber 1988, Bd. 2, S. 296 f.). Die Zollverwaltung wurde von den einzelnen Mitgliedstaaten nach einheitlichen, am preußischen Vorbild ausgerichteten Kriterien bei gegenseitiger Kontrolle durch Austausch von Aufsichtsbeamten durchgeführt. Abgesehen von einem in Berlin eingerichteten Zentralrechnungsbüro, „... das lediglich technische Hilfen bei der Verrechnung der Einnahmen leistete, besaß der Zollverein keine gemeinsame Verwaltungsbehörde und nicht einmal eine gemeinsame Kasse. Es gab auch keine eigenen Vereinsbeamten. Die gesamte Zoll-Exekutive blieb im einzelstaatlichen Bereich, und die gleichmäßige Verteilung der Zolleinnahmen wurde allein durch Ausgleichszahlungen zwischen den einzelstaatlichen Kassen erreicht" (Hahn 1984a, S. 81). Die neuere Forschung zur Geschichte des Deutschen Zollvereins hat einen älteren Argumentationsstrang wieder aufgegriffen und betont vor allem die fiskalischen Motive, die den Beitritt in den Anfangsjahren für die kleineren und mittelgroßen deutschen Staaten so attraktiv machten: „Im wirtschaftlichen und vor allem im finanziellen Bereich nahm die Abhängigkeit der preußischen Partnerstaaten rasch Ausmaße an, die schon nach kurzer Zeit kein Zurück mehr erlaubten. Weit mehr als 10 % der einzelstaatlichen Budgets wurden mit Zolleinnahmen bestritten, die ohne die Gemeinschaft mit Preußen nicht zu erzielen waren", betont Hans-Werner Hahn (1984b, S. 56). Die unerwartet hohen Gewinne trugen zur innenpolitischen Stabilisierung der kleinen und mittleren Vereinsstaaten bei, dadurch „... wurde die Stellung der Regierungen gegenüber den Kammern gestärkt und die Repressionspolitik des Deutschen Bundes wirksam ergänzt". Die Hoffnungen, die die liberalen Kräfte in die politische Dynamik des Zollvereins gesetzt hatten, wurden daher zumindest im ersten Jahrzehnt seines Bestehens
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kaum erfüllt {Hahn 1996, S. 105). Parallel zu den Ergebnissen Hahns hat Rolf H. Dumke seit Mitte der 1970er Jahre unter Verwendung wirtschaftstheoretischer Überlegungen zum Problembereich Außenhandel und Zollunionen quantitative, teilweise auch modelltheoretische Forschungen zur Geschichte des Deutschen Zollvereins in seinen Anfangsjahren vorgenommen (Dumke 1979, 1981, 1984). Dabei kommt er unter anderem zu dem Ergebnis, „... dass die voraussichtlichen ökonomischen Vorteile durch den Zollverein bis Ende der ersten Versuchsphase (1834-1842) keinen ausreichenden und kaum einen notwendigen Grund zur Formierung eines Vereins in seiner tatsächlichen Größe - einschließlich Süddeutschlands - gegeben haben ...", dass femer „... die fiskalischen Gewinne zweifellos eine notwendige und herausragende Rolle bei der Gründung des Vereins gespielt haben" (Dumke 1984, S. 95). Gründung und Erweiterung des Vereins hätten „die volkswirtschaftlich negativen externen Kosten der zolltariflichen Zersplitterung Deutschlands [...] abgebaut", wobei Dumke in diesem Falle unter den externen Kosten „das durch binnendeutsche Zollveränderungen erhöhte generelle Investitionsrisiko", aber auch „die Handelshemmnisse entlang den binnen-deutschen Zollgrenzen" versteht. Die Zollvereinsgründung sei deshalb „... am besten als eine politische Entscheidung für eine neue Staatseinnahme zu interpretieren", die damit zur „politischen Stabilisierung der kleinen deutschen Staaten in den 1830er Jahren" entscheidend beigetragen habe (Dumke 1984, S. 92 f., S. 98). Einigkeit herrscht in der Forschung auch darüber, dass Preußen als Führungsmacht nicht nur für die .technische' Funktionsfähigkeit des Zollvereins garantierte, sondern dass auch die außenhandels-politische Aktivität des Vereins nur Erfolg haben konnte, weil eine europäische Großmacht wie Preußen dahinter stand. Auch die Abstimmungsmechanismen innerhalb der Generalkonferenz, die, wie oben erwähnt, Einstimmigkeit erforderten, konnten nur zu Ergebnissen führen, weil die Führungsmacht gegebenenfalls den notwendigen Druck ausüben konnte. „Die Integrationserfolge des Zollvereins" hingen also „... eng mit seinen hegemonialen Strukturen zusammen[...]" (Hahn 1984a, S. 193). Freilich hat sich der Zollverein in den fast vier Jahrzehnten, bis er - mit der Ausnahme Luxemburgs - in den kleindeutschen Nationalstaat integriert wurde, auch weiter verändert. So reagierte die preußische Vormacht auf die Forderungen der süddeutschen Industrie nach höherem Zollschutz und stimmte Mitte der 1840er Jahre mäßigen Tariferhöhungen zu: 1844 wurde dies bei Roheisen, verarbeitetem Eisen und Schienen, 1846 bei verschiedenen Textilien in die Tat umgesetzt (Henderson 1959, S. 179 ff.). Bei den Eiseneinfuhren hatten die beginnende Industrialisierung und insbesondere der Eisenbahnbau im Zollverein bewirkt, dass der Importanteil, der zwischen 1834 und 1839 noch zwischen 12 und 24 % der Gesamtnachfrage geschwankt hatte, 1843 bei nicht weniger als 55 % lag, so dass der Ruf nach einem Zollschutz immer lauter geworden war (Henderson 1959, S. 184). Für Württemberg konnte nachgewiesen werden, dass dessen Baumwollindustrie, nachdem die politisch bedingte Absatzkrise der Jahre 1848/49 überwunden war, nach 1850 von dem neuen Zollschutz profitierte und deshalb ihre Investitionen ausweitete; gleichzeitig wurden neue Betriebe gegründet. Hinzu kamen Neugründungen in Württemberg durch Schweizer baumwollverarbeitende Unternehmen, die durch diese Direktinvestitionen im Vereinsgebiet dessen Zollschutz unterlaufen konnten (Kollmer-v. Oheimb-Loup 1996, S. 162 f.). 1851 entschloss sich mit dem Königreich Hannover der letzte bedeutende norddeutsche Staat zum Vereinsbeitritt zum
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1. Januar 1854. Schaumburg-Lippe und Oldenburg folgten zum gleichen Termin. Fast gleichzeitig geriet der Zollverein aber auch in eine seiner schwersten Krisen, als Österreich, das inzwischen gemerkt hatte, dass sein Abseitsstehen auch seine politische Stellung im Deutschen Bund beeinträchtigte, die Bildung eines ,großdeutschen Zollvereins' vorschlug. Die Mittelstaaten versprachen sich davon eine Kontrolle der preußischen Führungsmacht und stimmten dem zu, Preußen war aus eben diesen Gründen strikt dagegen. Die Regierung in Berlin benutzte ganz offen die Drohung, die zum Jahresende 1853 auslaufenden Zollvereinsverträge kündigen zu können, um auf die Regierungen der Mittelstaaten - nicht zuletzt auch mit Hilfe der öffentlichen Meinung - Druck auszuüben (Böhme 1966, S. 38 ff.). Anscheinend gab dann Preußen nach, als es im Namen des Zollvereins im Februar 1853 einen Handelsvertrag mit Österreich schloss, der den Zollverein und das Wiener Kaiserreich als ein einziges Zollgebiet behandelte, das aber vorläufig noch durch eine Zwischenzolllinie getrennt bleiben sollte. Ferner wurden die gegenseitige Meistbegünstigung, „eine Fülle von Präferenzzöllen", Aufhebung von gegenseitigen Importzöllen bei zahlreichen Rohstoffen und insgesamt eine durchschnittliche Senkung der Einfuhrzölle um etwa 25 % vereinbart (Hahn 1984a, S. 149 f.). Auch unter den Bedingungen der dualistischen Konkurrenz mit der anderen deutschen Großmacht hatte Preußen zwei essenzielle Ziele durchgesetzt: „Es war ihm gelungen, die sofortige Zollunion aufzuschieben, und seine handelspolitische Entscheidungsfreiheit blieb, im Rahmen der Absprachen, unangetastet" (Böhme 1966, S. 49). Zwei Monate nach der Lösung dieses Problems kam es zur Verlängerung der Vereinsverträge. Zu Beginn der 1860er Jahre ereignete sich eine weitere schwere Krise im Verein, als Preußen sich dem internationalen Trend anschloss und offen in das Lager des Freihandels umschwenkte. Zeichen dafür war, dass es im März 1862, „ohne große Rücksprache mit den Zollvereinspartnern", einen Handelsvertrag mit Frankreich abschloss, das sich seinerseits bereits 1860 mit dem britisch-französischen Cobden-Chevalier-\ertrag in das entstehende westeuropäische Freihandelssystem eingereiht hatte. Österreich mit seiner sich immer noch stark schutzbedürftig fühlenden Wirtschaft wollte und konnte da wohl auch nicht mithalten, so dass das „Ende der Wiener Zollunionshoffhungen" gekommen schien (Hahn 1984b, S. 65). Die Mittelstaaten schwankten zwischen ihren politischen Sympathien für das Habsburgerreich und der wirtschaftlichen Vernunft, die sie auf Berlin verwies. Im Endeffekt gaben sie, wie es das Beispiel Sachsens zeigt (Bazillion 1990, S. 207 ff; Flöter 2001, S. 368 ff), dem Druck der organisierten Wirtschaftsinteressen und gleichzeitig der preußischen Drohung, die Ende 1865 erneut auslaufenden Zollvereinsverträge nicht zu verlängern, nach (Böhme 1966, S. 120 ff; Henderson 1959, S. 286 ff). Mit Österreich kam es 1865, wie schon zwölf Jahre zuvor, erneut zu einem Handelsvertrag, der jedoch endgültig die preußische Führungsstellung im kleindeutschen Wirtschaftsraum absicherte. Allerdings war es Preußen bei der Verlängerung der Vereinsverträge nicht gelungen, das Einstimmigkeitsprinzip für die Generalkonferenzen abschaffen zu lassen.
6. Der Deutsche Zollverein als „Modell des hegemonialen Bundesstaates", 1866-1871 1866 brachte bekanntlich den Sieg Preußens über Österreich und damit das Ende des dualistischen Wettstreits der beiden Großmächte im Rahmen des Deutschen Bundes.
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Die Mehrzahl der Mitgliedstaaten des Zollvereins fand sich zusammen mit Österreich auf der Verliererseite und musste die Gründung des Norddeutschen Bundes unter preußischem Präsidium am 1.7.1867 hinnehmen. Zum Zollverein, der auch unter den geänderten Konditionen weiterbestand und dem 1867 die Hansestadt Lübeck und im darauf folgenden Jahr auch die beiden mecklenburgischen Großherzogtümer beitraten, gehörte von nun an der Norddeutsche Bund als Ganzes an. Weitere Mitglieder waren Luxemburg und die süddeutschen Staaten Bayern, Württemberg und Baden. Hamburg und Bremen blieben bis 1888 außerhalb. Die im Juni 1867 in Berlin versammelte Zollvereinskonferenz entschied sich - energisch gedrängt von Bismarck - zu zwei durchgreifenden Neuregelungen: Zum einen wurde das Einstimmigkeitsprinzip abgeschafft, andererseits beschloss man die Bildung eines Zollparlaments, „eine durch den Hinzutritt süddeutscher Abgeordneter erweiterte Versammlung", sowie eines Zollbundesrates, der eine Erweiterung des norddeutschen Bundesrates um Vertreter der süddeutschen Regierungen darstellte. Für den preußischen König, den Präsidenten des Norddeutschen Bundes, war auch das Zollpräsidium vorgesehen. Dieses „... sollte insbesondere das Recht erhalten, Handelsverträge vorzubereiten, die Ausfuhrung der Zoll- und Handelsgesetze zu überwachen und gegenüber den Beschlüssen des Zollbundesrats das Vetorecht auszuüben" (Huber 1988, Bd. 3, S. 632 f.). Ernst Rudolf Huber, der den Zollverein bis 1866 als „Zoll-Staatenbund" betrachtet, sieht in ihm nach den Veränderungen des Jahres 1867 das „Modell des hegemonialen Bundesstaats". In Süddeutschland traf der preußische Hegemonialanspruch auf Widerstand. Im bayerischen und im württembergischen Parlament dauerte die Ratifizierung entsprechend lange, so dass der neue Zollvereinsvertrag erst zum Anfang des Jahres 1868 in Kraft treten konnte {Huber 1988, Bd. 3, S. 634 f.). In seiner neuen Form hatte der Zollverein, der formal über die Reichseinigung von 1871 hinweg bis zum Ende des Kaiserreiches Bestand hatte, durch die Tatsache, dass er nun parlamentarisch abgesichert war, ein deutlich höheres Maß an Integration erreicht. Zugleich nahm Preußen, territorial gestärkt durch die Annexion von Hannover, Kurhessen, Nassau und Frankfurt, nun eine wirklich hegemoniale Stellung ein: Es konnte den neu geschaffenen Zollbundesrat und das Zollparlament einberufen und vertagen, darüber hinaus verfugte es über nahezu ein Drittel der Stimmen im Zollbundesrat und damit über eine faktische Vetoposition. Es konnte in keinem Fall überstimmt werden, aber umgekehrt behielt es durch den Wegfall des zuvor bestehenden Einstimmigkeitsprinzips die Kontrolle über alle Entscheidungen. In vieler Hinsicht, wenn auch auf Fragen der Handelspolitik beschränkt, nahmen die Machtverhältnisse im ,neuen Zollverein' von 1867 die Zustände im Zweiten Deutschen Kaiserreich von 1871 vorweg (Henderson 1959, S. 315 ff.). Zwar hatte sich der Zollverein in den vorangegangenen Jahrzehnten nicht nur mit Fragen der Handelspolitik beschäftigt, sondern in zwei Anläufen - 1838 und 1857, im zweiten Fall auch zusammen mit Österreich - versucht, die zersplitterten Münzverhältnisse in Mitteleuropa zu ordnen (Henderson 1959, S. 139 f., S. 249 ff.; Hahn 1984a, S. 104, S. 157), der Deutsche Bund als Organ war dazu offensichtlich nicht imstande gewesen. Doch auch der ,neue Zollverein' musste ordnungspolitische Weichenstellungen, wie sie mit der 1869 verabschiedeten Gewerbeordnung erfolgten, dem Reichstag des Norddeutschen Bundes, Vorläufer des späteren gesamtdeutschen Parlaments, überlassen. Gleiches gilt ftir die 1868 vollzogene Verein-
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heitlichung der Maße und Gewichte durch Einfuhrung des metrischen Systems und für die Schaffung einer einheitlichen Postverwaltung (Henderson 1959, S. 327). In den dreieinhalb Jahrzehnten seiner Existenz vor der Reichsgründung hatte der Zollverein, das wird man nach dem hier bereits Gesagten feststellen dürfen, den Warenverkehr auf seinem Territorium entscheidend vorangebracht. Für die Faktormobilität galt dies nur in eingeschränkterem Maße: So hatte es Jahrzehnte gedauert, bis in allen Teilstaaten das Zunftrecht und damit die Niederlassungsfreiheit für Handwerker aufgehoben wurde, und selbst die schließlich mit der Gewerbeordnung von 1869 eingeführte allgemeine Gewerbefreiheit galt zunächst nur für das Territorium des Norddeutschen Bundes. Auch beim Gesellschaftsrecht bestanden bis zur preußischen Aktienrechtsreform von 1870 keineswegs einheitliche Bedingungen, ja es fand sogar beispielsweise bei der Zulassung von Aktienbanken - und da wiederum insbesondere bei der Konzessionierung von Notenbanken - ein regelrechter Wettbewerb statt. Als Beispiele seien die Gründung einer der ersten bedeutenden Universalbanken, der Bank für Handel und Industrie, 1853 im großherzoglich hessischen Darmstadt und nicht im Bankenzentrum Frankfurt am Main genannt. Dasselbe gilt für die Gründungen von Notenbanken in wirtschaftlich ganz unbedeutenden Plätzen wie Weimar, Bad Homburg, Sondershausen, Meiningen, Gotha oder Bückeburg in den Jahren 1853-56, die alle in Duodezfürstentümem lagen, während solche Initiativen in Preußen auch nach Aufgabe der restriktiven Haltung der Berliner Regierung im September 1848 nur in viel geringerem Ausmaße stattfanden (Pohl 1982, S. 67 ff., S. 37 f.). Im Gegensatz zur heutigen wirtschaftlichen Integration spielten Dienstleistungen bei den Unionsbestrebungen nur eine ganz untergeordnete Rolle. Eine Ausnahme bildeten die meist zusammen mit den Handelsverträgen, gelegentlich aber auch gesondert von Preußen im Namen des Zollvereins abgeschlossenen Schifffahrtsverträge. Sicher lief kein direkter Weg von der Zollunion, wie sie erstmals 1834 die Bühne der europäischen Politik betrat, zur kleindeutschen Einheit als Folge der Kriege von 1866 und 1870/71, das dürfte die Geschichtsschreibung inzwischen nachgewiesen haben (Hertner 1994, S. 342 f f ) . Vieles spricht aber für die Aussage von Wolfgang Zorn: „Der eingewurzelte Zollverein verhinderte vor und nach der kriegerischen Entscheidung von 1866 mindestens jeden föderalistischen Schritt zurück. Die in seinem Rahmen erwachsene wirtschaftliche Verflechtung ganz Kleindeutschlands ließ es für die schwächeren Vereinsstaaten als lebensbedrohlich erscheinen, von Preußen etwa kurzfristig aus der bestehenden Wirtschaftsgemeinschaft wieder ausgeschlossen zu werden" (Zorn 1972, S. 298). Bei einem Rückblick auf die Entwicklung des Zollvereins wird man William O. Henderson zustimmen müssen, wenn er feststellt: „... the history of the Zollverein gives little support to the argument that an approximate equality of economic development and similarity of economic interests in the various regions forming a customs union are essential if such a union is to be a success. It would be difficult to find an area of the same size with greater economic diversity than Germany in the early nineteenth century. [...] These differences were neither insuperable difficulties to the founding of the Zollverein nor did they prevent its expansion" (Henderson 1959, S. 344). Blickt man aus der Sicht der 1860er Jahre auf die in den vorangegangenen Jahrzehnten erreichten Integrationserfolge, so wird man feststellen müssen, dass die gegenseitigen Abhängigkeiten zwischen den Zollvereinsstaaten sich seit den 1840er Jahren außer-
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ordentlich verstärkt hatten, messbar an den, zugegebenermaßen meist qualitativ und quantitativ unzureichenden Indikatoren der Verkehrsleistungen und der Austauschbeziehungen.3 Freilich vollzieht sich der gesamte Integrationsprozess vor dem Hintergrund eines spätestens mit den 1840er Jahren einsetzenden Industrialisierungsschubes, der, so darf man vermuten, durch die Zolleinigung gestützt wurde. In ihren Anfängen hat die Industrialisierung beispielsweise in Sachsen und im Rheinland freilich schon geraume Zeit vor den Erfolgen der Integrationspolitik eingesetzt. Mit Richard Tilly lässt sich annehmen, dass der Zollverein eher langfristig positiv gewirkt hat: auf ordnungspolitischem Gebiet beispielsweise durch die oben schon erwähnten Abstimmungen im monetären Bereich, bei der Infrastruktur durch die schon von Friedrich List postulierte Harmonisierung bei den zunächst im wesentlichen einzelstaatlich konzipierten Eisenbahnprojekten {Tilly 1990, S. 47 ff.). 7. „Mitteleuropa" als Integrationsprojekt von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1918 Auch wenn er über das Projektstadium nie hinauskam, so war der Mitteleuropagedanke doch bis in die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen hinein in der politischen und wirtschaftlichen Diskussion Deutschlands und Österreichs präsent. „In historischer Perspektive bezeichnet der Mitteleuropagedanke eine föderative Verbindung vor allem des Deutschen Reiches und der Habsburger Monarchie mit einem Ausgriff auf weitere Donau- und Balkanländer unter deutscher Führung. Verschiedene Varianten nahmen darüber hinaus auch Belgien und die Niederlande, Skandinavien, eventuell Frankreich und Italien sowie (bei einem möglichen Zerfall des Russischen Reiches) Polen und das Baltikum in den Blick" (Brandt 1996, S. 315). Die späte Ausformung eines deutschen Nationalstaates, die Tatsache, dass es zu einer kleindeutschen Lösung kam und die deutschsprachigen Österreicher sich dabei ausgeschlossen vorkamen, die ethnische Gemengelage in Ostmitteleuropa, die gleichzeitig von deutschen Führungsansprüchen begleitet wurde, die Vorstellung, dass man zum britischen Weltreich, zum französischen Kolonialreich und zum zaristischen Riesenreich eine Gegenposition aufbauen müsse - alles dies waren Motive, die der Propagierung eines .mitteleuropäischen' Großraums in die Hände arbeiteten. Hier sollen nur einige Grundlinien dieser Entwicklung herausgearbeitet werden: Aufbauend auf den Ideen von Friedrich List, die schon oben kurz vorgestellt worden sind,4 vertrat der österreichische Handelsminister Freiherr von Bruck in den 1850er Jahren den Gedanken eines „wirtschaftlichen Siebzigmillionenreiches" zwischen Nordsee und Adria. Dabei sollten im Rahmen des Deutschen Bundes der Deutsche Zollverein und Österreich wirtschaftlich zusammengeschlossen werden. Nach außen hin 3
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So stellt z. B. Megerle (1984, S. 105) fest: „Präzise Quantifizierungen der Integrationszwänge der einzelnen Staaten oder der Integrationsprozesse sind [...] schwierig, mangels Daten sogar meist unmöglich. So gibt es z. B. keine Statistiken über den zwischenstaatlichen Warenverkehr oder umfassende Angaben über die Kapitalströme. Hier müssen deshalb Hilfsgrößen herangezogen werden...". Droz (1960, S. 54) behauptet sogar, es sei im Werk von Friedrich List „ ... que l'on rencontre pour la première fois la notion de Mitteleuropa dans son sens actuel".
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wäre dieser Großraum durch einen mäßigen Schutzzoll abgeschirmt worden. Bruck scheiterte am deutschen Dualismus, konkret formuliert: am Widerstand Preußens, das seine Führungsrolle im Zollverein gefährdet sah, und an der Gegnerschaft der österreichischen Industriellen, denen der beabsichtigte Zollschutz unzureichend vorkam (Brandt 1996, S. 320 ff.; vgl. auch Droz 1960, S. 92 ff.; Böhme 1966, S. 19 ff.). Nach 1871 ging das kleindeutsche wilhelminische Deutschland zunächst einen anderen Weg. Zwar schloss man mit Österreich-Ungarn 1879 den Zweibundvertrag, aber eine stärkere wirtschaftliche Integration mit dem Habsburgerreich war zunächst nicht vorgesehen. Anfang der 1890er Jahre wurde unter dem Nachfolger Bismarcks, Caprivi, der Versuch gemacht, den europäischen Protektionismus des vorangegangenen Jahrzehnts durch ein System von Handelsverträgen mit den deutschen Nachbarstaaten abzumildern. Dabei kam auch die ,Mitteleuropa'-Idee wieder in die Diskussion, ohne dass es dann gelungen wäre, die beiden im Prinzip nicht zu vereinbarenden Projekte - Freihandel und Wirtschaftsgroßraum - zusammen oder getrennt einer Realisierung zuzuführen (Weitowitz 1978; Theiner 1984, S. 130 ff.). Die .Mitteleuropa'-Diskussion kam allerdings nach der Jahrhundertwende wieder in Fahrt. Einer der Gründe war das allmähliche Zurückfallen Österreich-Ungarns im wirtschaftlichen Konkurrenzkampf mit den anderen europäischen Großmächten, dies verbunden mit den immer heftiger werdenden Nationalitätenkämpfen im Inneren der Habsburgermonarchie. Hinzu kam in Deutschland die Vorstellung, die von Reichskanzler Biilow propagierte „Weltpolitik" habe versagt, Deutschland habe seinen erhofften „Platz an der Sonne" nicht finden können und werde zunehmend aus Handel und Direktinvestitionen im britischen Weltreich, in den U.S.A. und im Zarenreich verdrängt. Fachleute wie der liberale Nationalökonom Heinrich Dietzel widersprachen vehement dieser These, konnten sie aber nicht um ihre öffentliche Wirkung bringen, zumal sie von radikalnationalistischen Gruppen wie dem „Alldeutschen Verband" dankbar aufgegriffen wurde (Theiner 1984, S. 132 ff.). Weitaus pragmatischer agierten der 1904 gegründete .Mitteleuropäische Wirtschaftsverein' und nach ihm ab 1913 der ,Deutsch-Österreichisch-Ungarische Wirtschaftsverband', in dem vor allem Vertreter der verarbeitenden Industrie und der Banken saßen; letzterer strebte offiziell eine Zollunion zwischen Deutschland und dem Habsburgerreich an.5 Auch Walther Rathenau, Sohn des Gründers der AEG und späterer Reichsaußenminister, vertrat im letzten Jahr vor Kriegsausbruch eine gemäßigte Linie. Er hielt „die Erstrebung eines mitteleuropäischen Zollvereins, dem sich wohl oder übel, über lang oder kurz, die westlichen Staaten anschließen würden", für „eine letzte Möglichkeit" deutscher Politik, nachdem die Welt bereits verteilt sei und Deutschland „die Zeit der großen Erwerbungen" versäumt habe (Fischer 1969, S. 336). In seinem Band ,Zur Kritik der Zeit', der bereits 1912 erschienen war, hatte Rathenau zuvor schon festgestellt: „... Die Entfesselung aus den Banden des Nationalismus aber wird nicht sowohl durch Kongresse und Schiedsverträge geschehen, als durch wirtschaftliche Verständigungen. Vielleicht werden die ersten Schritte zu Zollvereinigungen führen, und es wäre 5
Vgl. dazu aus der Sicht der DDR-Geschichtsschreibung den Übersichtsbeitrag von Gottwald (1977).
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mehr gewonnen, als durch Bündnisse sich erreichen läßt, wenn nach mehreren Seiten hin die deutschen Zollgrenzen verschwänden" (Rathenau 1977, S. 86). Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges hat die Mitteleuropa'-Diskussion nochmals einem neuen Höhepunkt zugeführt, wo sie zwischen radikale Annexionsforderungen auf der Seite des Militärs, der Schwerindustrie und des etablierten Nationalismus und dem Plädoyer für ,Frieden ohne Annexionen' der Sozialdemokratie in eine Art Mittellage geriet. Das berüchtigte .Septemberprogramm', das Reichskanzler v. Bethmann Hollweg am 9. September 1914 als eine Art Katalog verschiedener Annexionsforderungen aufstellte, war den .Mitteleuropa'-Ideen genau entgegengesetzt, denn in seinem Mittelpunkt stand umfangreicher Landgewinn in Ostfrankreich, Belgien und im russischen Teil Polens. Hier wurde also auf eine Politik der rücksichtslosen Stärke, damit aber auch auf zukünftige Konfrontation gesetzt, Wirtschaftspolitik im Wesentlichen auf die Abtretung von Erzlagerstätten in Lothringen reduziert. Die „Sicherung des Deutschen Reiches nach West und Ost auf erdenkliche Zeit" war das Ziel, von dem unter Historikern nur umstritten bleibt, ob es ein Programm für den Augenblick war oder seine Gültigkeit für die gesamte Kriegsdauer beibehielt (Theiner 1984, S. 136 f.; Fischer 1971, S. 116, S. 119). Zwei Tage zuvor hatte Walther Rathenau, der in den vorausgegangenen Wochen das Kriegsrohstoffprogramm aufgebaut hatte, wieder auf seine Gedanken zu Mitteleuropa' zurückgegriffen und nach einer französischen Niederlage, die als Folge der zu diesem Zeitpunkt gerade tobenden Marneschlachten unmittelbar bevorzustehen schien, einen deutsch-französischen Handelsvertrag bei „Verzicht auf französischen Landerwerb und [...] Ermäßigung der Kontribution" im Rahmen einer mitteleuropäischen Zollunion gefordert. „Das Endziel wäre der Zustand, der allein ein künftiges Gleichgewicht Europas bringen kann: Mitteleuropa geeinigt unter deutscher Führung, gegen England und Amerika einerseits, gegen Rußland andererseits politisch und wirtschaftlich gefestigt" (Rathenau 1929, S. 12). In zwei vorangegangen Denkschriften Rathenaus an Reichskanzler Bethmann Hollweg waren diese Vorstellungen bereits vorbereitet worden (Mader 1977, S. 197 ff.; Theiner 1984, S. 137; Hecker 1983, S. 171 ff.; den neuesten Stand, u. a. dank des in Moskau wiedergefundenen Rathenau-Aichivs, referiert Michalka [1993]). Damit waren die Positionen abgesteckt, an weiteren Plänen hat es während der folgenden vier Kriegsjahre nicht gemangelt. Trotz der Gegnerschaft der Berliner Ministerialbürokratie, die das Mitteleuropa-Projekt als unrealistisch betrachtete und sich handelspolitisch für die Nachkriegszeit nicht festlegen wollte (Soutou 1989, S. 34 ff.), kam Mitteleuropa' immer wieder zur Sprache, zum Teil sicher wegen des Kriegsbündnisses mit Österreich-Ungarn, teilweise aber wahrscheinlich auch unter dem Eindruck der britischen Femblockade, die Deutschland sozusagen wieder auf den europäischen Kontinent zurückwarf. Bemerkenswert und deshalb noch kurz erwähnt sei das im Oktober 1915 von dem Theologen und liberalen Politiker Friedrich Naumann verfasste Buch mit dem schlichten Titel „Mitteleuropa", das einen ungewöhnlichen Publikumserfolg zu verzeichnen hatte (Naumann 1916). Naumann vertrat die Idee eines mitteleuropäischen politischen und wirtschaftlichen Bündnisses, ohne Annexionen aber mit eindeutiger Führung durch Deutschland. In vieler Hinsicht war dies eine Rückkehr zu den Vorstellungen des Freiherrn von Bruck, vielleicht war ihm auch deshalb bei den zuständigen politischen und militärischen Spitzen in Wien und Berlin kein dauerhafter Erfolg be-
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schieden (Droz i960, S. 207 ff.; Villain 1977, S. 209 ff.; Brandt 1996, S. 342 ff). Interessanterweise zitierte Naumann das historische Beispiel des Deutschen Zollvereins, indem er vor der vereinfachenden Sicht warnte, dass dieser „... den Weg zur mitteleuropäischen Einheit zeige". „Das Unrichtige [liegt] in einer Überschätzung der politischen Wirkungen von bloßen Zollverbänden überhaupt. Man soll doch nicht vergessen, dass der Zollverband Preußens mit Hannover, Bayern und Württemberg diese Staaten nicht gehindert hat, sich im Jahre 1866 militärisch gegenüberzustehen. Der Zollverband ging zwar weiter und überdauerte den Krieg, aber er war für sich allein nicht stark genug, ihn unmöglich zu machen" (Naumann 1916, S. 190 f.). Naumann plädierte aus diesem Grund für eine weitergehende „Zoll- und Wirtschaftsgemeinschaft", bei der sowohl im Deutschen Reich als auch in Österreich-Ungarn die einzelnen Branchen je nach Leistungsfähigkeit zumindest für eine Übergangszeit mit „Zwischenzöllen" zu schützen seien, ein Verfahren, das in mancher Hinsicht an die spätere EU-Agrarpolitik erinnert. Im Übrigen - und da zeigt sich eben, wie sehr Naumann ein Kind seiner Zeit war - votiert er für gemeinsame Syndikate', also Kartelle in ihrer ,höchsten' Ausformung, in Branchen wie beispielsweise der Eisen- und Stahlindustrie (Naumann 1916, S. 207 ff.). Die Niederlage der .Mittelmächte' hat allen derartigen Ideen den Boden entzogen. Was vom .Mitteleuropa'-Gedanken übrig blieb, wurde in der Zwischenkriegszeit in erster Linie auf die Idee des .Anschlusses' - durch den Versailler Friedensvertrag und den Vertrag von Saint Germain den Kriegsverlierem Deutschland und Österreich ausdrücklich untersagt - übertragen und bis zu seiner rücksichtlosen Ausnutzung durch Hitler auch im demokratischen Lager gepflegt. 6 Vor 1933 und nach 1919/20 hat nur die Regierung Brüning in den Jahren 1930/31 mit dem Projekt einer deutsch-österreichischen Zollunion alte Anschlussängste in der Tschechoslowakei und in Frankreich geweckt. Als im Mai/Juni 1931 die Krise der Creditanstalt in Wien und dann die der Berliner Danatbank ausbrach, stellte Paris „... der österreichischen Regierung ein auf drei Stunden befristetes Ultimatum, von dessen Annahme sie die Gewährung von Krediten abhängig machte. Die entscheidende Bedingung dieses Ultimatums [•••] lautete: Österreich verzichtet auf die geplante Zollunion. Genauso kam es. Die wirtschaftliche Zwangslage, in die Österreich geraten war, ließ keinen anderen Ausweg zu" (Steininger 1996, S. 477). Für die gegenseitige Bedingtheit von Machtpolitik und Integrationspolitik scheint dieses Einzelbeispiel, das in jeder Darstellung der Weltwirtschaftskrise in Mitteleuropa auftaucht, besonders geeignet zu sein.
8. Die Zwischenkriegs- und Nachkriegszeit: Ein kurzer Ausblick Man wird letztlich sagen müssen, dass bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges die Idee einer wirtschaftlichen Integration im Zentrum Europas nach dem faktischen Ende des Zollvereins, der das Problem auf einer nationalen, kleindeutschen Ebene durchaus erfolgreich gelöst hatte, scheitern musste, weil sie stets mit expansiven, machtpolitischen Ansprüchen kombiniert war - Ansprüchen, die das restliche Europa in West und Ost Deutschland gegenüber nicht tolerieren konnte oder wollte. Die Stresemannsche 6
Zur diesbezüglichen Haltung der deutschen Großunternehmen und der Industrieverbände vgl. Stegmann (1978).
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Außenpolitik hat zwischen 1925 und 1929 versucht, aus früheren Erfahrungen zu lernen und langfristig, nach einer Vorbereitungszeit, die dem Abbau von Handelsschranken dienen sollte, auf eine europäische Zollunion hinzuarbeiten. Der Einbruch der Weltwirtschaftskrise und die Verschärfung der innenpolitischen Situation in Deutschland hat dieses Projekt nach wenigen Jahren abbrechen lassen (Frommelt 1977; Krüger 1984). Das nationalsozialistische Deutschland hat bekanntermaßen ab 1934 versucht, Südosteuropa als Rohstofflieferanten und Absatzmarkt in sein Autarkiekonzept zu integrieren, auch wenn die Ergebnisse, wie das gesamte Autarkieprojekt, widersprüchlich blieben und letzten Endes ökonomisch nicht überzeugen konnten (Kube 1984). Unter dem Eindruck der großen militärischen Erfolge des Jahres 1940 wurden vorhandene ,Großwirtschaftsraum'-Projekte, an deren Konzipierung renommierte Ökonomen, nicht zuletzt des Weltwirtschaftsinstituts in Kiel, wie Andreas Predöhl, Walther G. Hoffmann und August Lösch mitgearbeitet hatten (Dieckmann 1992), auf das besetzte Europa ausgedehnt und eine .Europäische Wirtschaftsgemeinschaft', natürlich dominiert von einem siegreichen NS-Deutschland, propagiert (Kohrs 1992). Die totale Niederlage Deutschlands hat dem restlichen Europa diesen Typ einer extrem hegemonialen Integration bekanntlich erspart. Erst die Zeit nach 1945, als Deutschland als Machtfaktor auf absehbare Zeit ausgeschaltet zu sein schien und in der die Sowjetunion als ganz konkrete neue Hegemonialmacht Ostmitteleuropa kontrollierte und eine entsprechende globale Drohkulisse aufbaute, machte wirtschaftliche Kooperation und Unionspläne im westlichen Teil des europäischen Kontinents - und mit Einbeziehung des westdeutschen Teilstaates - nicht nur attraktiv, sondern auch durchaus realisierbar. Hier seien nur stichwortartig einige der Hauptpunkte der Anfänge des europäischen Integrationsprozesses nach 1945 bis zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) herausgearbeitet: Zum einen muss die extreme wirtschaftliche Schwäche West- und Mitteleuropas nach Kriegsende Erwähnung finden. Dies galt nicht nur für das besetzte Deutschland und für Italien, sondern auch für das gesamte von /Merdeutschland besetzt gewesene Europa und sogar für die siegreiche Großmacht Großbritannien. Die für den Wiederaufbau dringend benötigten Investitionsgüter konnten, da das besiegte Deutschland zumindest vorübergehend ausgefallen war, kurzfristig nur die Vereinigten Staaten liefern, aber für deren Kauf fehlten den westeuropäischen Staaten, wie sich mit der 1947 entstandenen ,Dollar-Lücke' zeigte, die Devisen. Das 1947 vom damaligen US-Außenminister George C. Marshall propagierte und am 3. April 1948 vom amerikanischen Kongress verabschiedete Europäische Wiederaufbauprogramm, das später als Marshall-Plan in die Geschichtsbücher einging, sollte helfen, dieses Problem zu lösen, indem es den europäischen Staaten konkrete Devisenhilfe anbot mit dem Ziel, die nationalen Volkswirtschaften zu stabilisieren und sie wieder in die von den USA dominierte Weltwirtschaft zu integrieren (Hardach 1994). Begleitet wurde die Umsetzung des MarshallPlans von zwei Europäischen Zahlungsabkommen, die 1948 und im folgenden Jahr abgeschlossen wurden. Es gelang allerdings nicht, damit eine „tragfähige Basis für eine dauerhafte Expansion des innereuropäischen Handels" zu schaffen (Hardach 1994, S. 162). Dies schaffte erst die durch den Koreakrieg angekurbelte Konjunktur der Jahre 1950/51. Die Vereinigten Staaten waren sowohl am westeuropäischen wirtschaftlichen Wiederaufbau und an einer, noch nicht näher definierten europäischen Integration in-
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teressiert, um angesichts der sowjetischen Dominanz im östlichen Teil des Kontinents das westeuropäische Machtvakuum zu beenden. Zugleich sollten aber aus amerikanischer Sicht auch die drei westlichen Besatzungszonen in Deutschland in den westeuropäischen Wiederaufbau integriert werden, denn nur so ließ sich diese .European recovery' längerfristig absichern. Diesem zweiten Ziel schien zunächst das französische Sicherheitsbedürfnis entgegengesetzt zu sein. Alan Milward hat dies folgendermaßen ausgedrückt: „Until mid-summer 1948, at the very earliest, France's aims in European reconstruction were concentrated on a partition and permanent weakening of Germany and on acquiring a guaranteed access to German coal and coke resources" (Milward 1984, S. 467). Der Schuman-Plan des Jahres 1950 und die im Folgejahr ins Leben gerufene Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die so genannte Montanunion, trugen diesen französischen Sicherheitsbedenken Rechnung und respektierten gleichzeitig die Interessen des neu gegründeten westdeutschen Teilstaates (Kipping 1996). Dass es dann 1957 zu den so genannten Römischen Verträgen kam, mit denen die EWG gegründet wurde, kann hier auch nicht in Umrissen dargestellt werden. Feststeht, dass diese Wirtschaftsgemeinschaft, die trotz aller Rückschläge langfristig so erfolgreich werden sollte und aus der dann die Europäische Union hervorging, aus einer ganz spezifischen außen- und sicherheitspolitischen Gemengelage heraus entstand, die mit dem Scheitern der Verträge zur Gründung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, der zunehmenden außenpolitischen Schwäche Frankreichs durch das SuezAbenteuer und die Niederlage in Indochina und schließlich mit der erfolgreichen Einbindung Westdeutschlands in den Nordatlantikpakt aufs engste verbunden war. Es war also keineswegs nur ökonomische Vernunft, die hier wirtschaftliche Integration begünstigte - und dass auch bei den eigentlichen wirtschaftlichen Fragen der Integration ökonomische Vernunft zum Teil nur eine geringe Rolle spielte, zeigt deutlich genug die in den Folgejahren entwickelte Gemeinsame Agrarpolitik. Fragen wirtschaftlicher Integration müssen natürlich vom ökonomischen Standpunkt aus bewertet werden. Sie sind in der Regel aber auch politische Machtfragen, und ohne deren Berücksichtigung kommen derartige Zusammenschlüsse meist nicht zustande oder haben keinen Bestand - das zumindest könnte man aus den hier vorgestellten Beispielen gelungener oder misslungener Integrationsprozesse schlussfolgern. Literatur Bazillion, R.J. (1990), Economic Integration and Political Sovereignty: Saxony and the Zollverein, 1834-1877, in: Canadian Journal of History/Revue Canadienne d'Histoire, Bd. 25, S. 189-213. Böhme, H. (1966), Deutschlands Weg zur Großmacht. Studien zum Verhältnis von Wirtschaft und Staat während der Reichsgründungszeit 1848-1881, Köln und Berlin. Brandt, H.-H. (1996), Von Bruck zu Naumann. Mitteleuropa in der Zeit der Paulskirche und des Eisten Weltkrieges, in: M. Gehlen, R.F. Schmidt, H.-H. Brandt und R. Steininger (Hg.), Ungleiche Partner? Österreich und Deutschland in ihrer gegenseitigen Wahrnehmung. Historische Analysen und Vergleiche aus dem 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart, S. 315-352. Butterwege, St. (1993), Wirtschaftsprozesse aus evolutionärer Sicht: eine modell-theoretische Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung von Schwankungen im Integrationsverlauf, Bergisch-Gladbach und Köln.
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IV. Osterweiterung als Gestaltungsproblem der Europäischen Union
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Strukturwandel und Integration: Theoretische und empirische Aspekte der EU-Osterweiterung
Roland Döhrn und Ullrich Heilemann
Inhalt 1. Einleitung
376
2. Theoretische und methodische Grundlagen
377
3. Überprüfung früherer Schätzergebnisse und Projektionen
381
4. Neuschätzung der CAewe^-Hypothese
386
5. Strukturwandel und Osterweiterung der EU
389
6. Zusammenfassung und Bewertung
389
Literatur
390
376
Roland Döhrn und Ullrich Heilemann
1. Einleitung Der Zusammenbruch der Planwirtschaften Osteuropas Ende der 1980er Jahre konfrontierte die Politik aber auch die ökonomische Analyse mit einer Fülle bis dahin wenig beachteter Fragen. Als eine der schwierigsten und erstaunlicherweise wenig diskutierten - bemerkenswerte Ausnahmen sind Kornai (1990, S. 184 ff.), Hughes und Hare (1991), Klodt (1991) und Inotai (1992) - erwies sich die nach dem künftigen Tempo der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und dem damit zu erwartenden .Strukturwandel'. Mit Letzterem war nicht nur die Beziehung zwischen öffentlicher und privater wirtschaftlicher Aktivität angesprochen, sondern vor allem auch die Frage nach dem sektoralen und regionalen Wandel. Die damals weitverbreitete Vermutung, Privatisierung, Liberalisierung und Deregulierung würden in kurzer Zeit für eine wachstumsoptimale Reallokation der Ressourcen führen, erwies sich bald als wenig realistisch. Relativ rasch wurde freilich auch deutlich, wie schwer die Fragen nach Richtung, Intensität und Tempo des Strukturwandels zu beantworten sind. Dies hatte mehrere Gründe, die von der Vielzahl der ihn prägenden Faktoren - Stichworte sind Nachfrage/Angebot und Präferenzen/ technischer Fortschritt - und deren engen Wechselbeziehungen im Wachstumsprozess, ordnungspolitischen Lösungen bis hin zu den spezifischen Bedingungen, insbesondere dem Erbe der neuen Marktwirtschaften in Osteuropa reichen. Fest stand, dass die zurückliegenden Erfahrungen dieser Länder, namentlich die der jüngsten planwirtschaftlichen Vergangenheit, wenig Anhaltspunkte für zu erwartende Entwicklungen und Strukturen liefern konnten. Diese analytischen und prognostischen Schwierigkeiten wurden dadurch gleichermaßen vergrößert und vermindert, dass die neuen Marktwirtschaften rasch und umfassend in die internationalen Faktor- und Gütermärkte integriert wurden. Naturgemäß blieb dies nicht ohne Rückwirkung auf Wirtschaftswachstum und Zusammensetzung der Produktion. Das analytische und prognostische Interesse in diesem Zusammenhang konzentrierte sich zu Beginn der 1990er Jahre einerseits auf die historische Einbindung Osteuropas in die internationale Arbeitsteilung und die Lehren, die daraus für die Zukunft zu ziehen sind (Collins und Rodrik 1991), andererseits auf international komparative Ansätze: Zur Abschätzung der künftigen Handels- und Direktinvestitionsverflechtung wurde häufig auf Gravitationsmodelle zurückgegriffen (Havrylyshyn und Pritschen 1991; Döhrn und Milton 1992; Hamilton und Winters 1992 bzw. Döhrn 1996); bezüglich des zu erwartenden Strukturwandels, fanden plausible und ,bewährte' Hypothesen Anwendung, nach denen es typische und im Zeitverlauf stabile Beziehungen zwischen dem Einkommensniveau einer Volkswirtschaft und ihrer Wirtschaftsstruktur gibt, wie sie z. B. in der Drei-Sektoren-Hypothese zum Ausdruck kommen; erste Hinweise in dieser Richtung finden sich bei Winiecki (1988). Die Autoren des vorliegenden Beitrages stützten sich in ihren Analysen des Strukturwandels in Osteuropa auf eine andere .Stufentheorie', die so genannte Normalstrukturhypothese Chenery's (Döhrn und Heilemann 1992, 1993a, 1993b, 1996).1 Die Che«e/y-Hypothese spielte eine wichtige Rolle, insbesondere in der entwicklungspolitiAufgegriffen wurde dieser Ansatz auch von der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung; EBWE (1997, S. 62 ff.).
Strukturwandel und Integration
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sehen Diskussion der 1960er Jahre (Chenery 1960; Chenery und Taylor 1968; Taylor 1966). Durch Vergleich von Ländern unterschiedlicher Einkommensniveaus suchte sie nach Regelmäßigkeiten in der sektoralen Gliederung der Wirtschaft und machten diese zur Grundlage entwicklungs- und industriepolitischer Empfehlungen. Über die reine Beschreibung von Produktionsstrukturen hinaus wurden die aus dem Vergleich abgeleiteten Wirtschaftsstrukturen häufig im Sinne einer .richtigen', allokativen optimalen Struktur interpretiert. Aus der Normal- wurde die ,Normstrukturhypothese', wobei sich allerdings auch die Kausalität umkehrte: Die Wirtschaftsstruktur ist Voraussetzung dafür, dass ein bestimmtes Einkommensniveau erreicht wird. Diese Interpretation stieß aber rasch auf Widerspruch, und auch hier wird sie nicht geteilt. Die abgeleiteten Sektorenstrukturen dienen lediglich als Vergleichsmaßstab für die Ende der 1980er Jahre vorgefundenen Wirtschaftsstrukturen der Reformländer, um so Hinweise auf ihren möglichen sektoralen Redimensionierungsbedarf zu gewinnen. Die angesprochenen früheren Arbeiten der Autoren diagnostizierten einerseits einen beträchtlichen Anpassungsbedarf; insbesondere stellten sie einen weit überdimensionierten Industrie- und einen im Vergleich zu etablierten Marktwirtschaften unterentwickelten Dienstleistungssektor fest. Dies ließ erwarten, dass der Transformationsprozess selbst mit einem beträchtlichen Strukturwandel einhergeht. Andererseits zeigten sie, dass sogar nach Abschluss der Transformation bei einer kräftigen Einkommensexpansion der sektorale Strukturwandel - auf der mirasektoralen Ebene dürften die Dinge anders liegen - nicht allzu ausgeprägt sein würde. Ausgehend von mehreren, vor nunmehr zehn Jahren abgegebenen Einschätzungen, verfolgt der vorliegende Beitrag drei Zielsetzungen. Erstens will er überprüfen, wie weit der beobachtete Strukturwandel in den Reformländem den seinerzeitigen Erwartungen entsprochen hat (Abschnitt 3.). Zweitens soll überprüft werden, wie tragfähig die Che«ery-Hypothese auch heute noch für die Analyse und Prognose struktureller Wandlungsprozesse ist (Abschnitt 4.). Drittens sollen die Implikationen des bisherigen und künftigen Strukturwandels in den Reformländem als Referenzmodell für die Osterweiterung der EU analysiert werden (Abschnitt 5.). Abgeschlossen wird die Arbeit durch eine zusammenfassende Bewertung der Ergebnisse (Abschnitt 6.). Voran gestellt wird dem allen aber eine kurze Darstellung des verwendeten Untersuchungsansatzes (Abschnitt 2.). 2. Theoretische und methodische Grundlagen Die Normalstrukturhypothese Chenery's geht von der Überlegung aus, dass der Strukturwandel in einer Volkswirtschaft von zwei Gruppen von Faktoren hervorgerufen wird: den so genannten Universalfaktoren, d. h. solchen Bestimmungsgründen, die sich universell - etwa in einem internationalen Querschnittsvergleich - feststellen lassen und so genannten Spezialfaktoren, also nationalen Besonderheiten wie geographischen Lage, Rohstoffausstattung, Wirtschaftspolitik, relative Preise, Wechselkurse oder auch kulturelle und rechtliche Rahmenbedingungen des Wirtschaftens (Chenery und Taylor 1968, S. 391 ff.). Ziel der Untersuchungen zur Normalstrukturhypothese ist es, die Bedeutung der Universalfaktoren zu quantifizieren. Dazu werden, wie von Chenery vorgeschlagen, üblicherweise so genannte sektorale Wachstumsfunktionen geschätzt. Sie lassen sich als reduzierte Form eines vergleichsweise einfachen Modells interpretieren, in dem - bei elastischem Faktorangebot - die
Roland Dohm und Ullrich Heilemann
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inländische Produktion eines Sektors langfristig von inländischer Endnachfrage, Zwischennachfrage und Exporten abhängt. Die auf einen Sektor entfallende Inlandsnachfrage ist im Wesentlichen von zwei Faktoren abhängig: Dem (exogenen) Pro-Kopf-Einkommen als Indikator des Entwicklungsstandes der Volkswirtschaft und ihrer dadurch geprägten Präferenzen sowie der Bevölkerungszahl als Ausdruck ihrer Möglichkeit, Größendegressionen zu realisieren. Hinzu kommt die sektorspezifische Ausstattung mit natürlichen Ressourcen, eine Variable, die Chenery selbst allerdings nur qualitativ in die Analyse einbezog. Formal lässt sich dieser Ansatz wie folgt ausdrücken: (1)
Vy = Vy (Yj,Nj,R|j)
mit
Vy:
Wertschöpfung in Sektor i in Land j;
Yj:
Pro-Kopf-Einkommen in Land j;
Nj:
Bevölkerung in Land j;
Rjj:
Ressourcen für Sektor i in Land j.
Dabei handelt es sich freilich um einen Gleichgewichtsansatz; über die Fristen, innerhalb deren sich die dem jeweiligen Einkommensniveau entsprechenden Wirtschaftsstrukturen herausbilden, sagt er nichts aus. Die Spezifikation von (1) ist üblicherweise wie folgt {Fels u.a. 1971; Görgens 1975): Es wird von konstanten Elastizitäten ausgegangen (doppelt-logarithmischer Ansatz). Anstelle der sektoralen Wertschöpfung wird der Anteil eines Sektors i am realen Bruttoinlandsprodukt (BIP) betrachtet (Vy/Vj), so dass das Problem der adäquaten Umrechung der in nationaler Währung vorliegenden sektoralen Daten in eine einheitliche Währung entfällt.2 Für die Bestimmung des Einflusses des BIP wird ein Ansatz mit variabler Elastizität verwendet, das Pro-Kopf-Einkommen geht zu diesem Zweck logarithmisch und linear in die Schätzung ein.3 Die Ausstattung mit natürlichen Ressourcen der jeweiligen Länder wird zum einen anhand der pro Kopf zur Verfügung stehenden Ackerfläche (AF), zum anderen in Gestalt der Pro-Kopf-Exporte bergbaulicher Erzeugnisse (RB) in die Rechnimg eingebracht. Femer wird die Investitionsquote (IQ) (definiert als Anteil der Bruttoanlageinvestitionen am BIP) als zusätzliche Variable verwendet, um den Einfluss der Kapitalbildung auf die Wirtschaftsstruktur zu überprüfen. Damit hat der zu überprüfende Schätzansatz folgende Form: (2)
logtVy/Vj) = log Oi0 + a n * log Yj + a i2 * Yj + a i3 * log Nj + a i4 * AFj + a,5 * RBj + a i 6 * IQj + uy.
Dieser Ansatz wird hier rein deskriptiv interpretiert. Allerdings werden in der Literatur gegen seinen empirischen Gehalt durchaus Vorbehalte angemeldet (Steiner 1981). Sie betreffen die Auswahl der sektoralen Disaggregationsebene sowie die analysierten Länder. Chenery (1960) wie auch Fels u.a. (1971) und Görgens (1975) betrachten jeweils eine vergleichsweise große Zahl von Ländern und Branchen und erhal2 3
Zu den ökonometrischen Problemen solcher Anteilsregressionen vgl. z. B. Ronning (1992). In einem logarithmisch-linearen Ansatz der Form y = a.\ * log x + a2 * x ergibt sich die Elastizität von y in Bezug auf x als a, + ai * x.
Strukturwandel und Integration
379
ten im statistischen Sinne befriedigende Ergebnisse. Allerdings hängt die Erklärungsgüte solcher Schätzungen wesentlich von den Unterschieden im Entwicklungsstand der jeweils betrachteten Volkswirtschaften ab, da nur eine hohe Variabilität der Daten eine gute statistische Erklärung sicherstellt (Meißner und Fassing 1989, S. 106). Fragt man hingegen in einzelnen Einkommenskategorien nach der Beziehung zwischen Produktionsstruktur und Entwicklungsstand, dann zeigen sich - so zumindest die Erfahrungen von Görgens (1975, S. 264 ff.) - zu große Unterschiede zwischen diesen, um noch von einer Normalstruktur sprechen zu können. Zudem erweisen sich die Ergebnisse als umso stabiler, je höher das Aggregationsniveau auf sektoraler Ebene ist (Meißner und Fassing 1989, S. 107). Von zentraler Bedeutung für die Bewertung des Strukturwandels in den Transformationsländern ist die Auswahl der Referenzstrukturen. Da es sich bei den mittelosteuropäischen Staaten - nach der Klassifikation des Weltentwicklungsberichts der Weltbank - um Länder mit „mittlerem Einkommen der oberen Einkommenskategorie" handelt, werden hier als Referenzgruppe solche Länder ausgewählt, die ein zumindest ähnlich hohes Einkommensniveau aufweisen oder deren Pro-Kopf-Einkommen darüber liegen. Die in diese Kategorie fallenden hoch industrialisierten Klein- oder Stadtstaaten (z. B. Luxemburg, Singapur, Hongkong) wurden allerdings aus der Analyse ausgeschlossen, ebenso die fast ausschließlich vom Export von Rohstoffen abhängigen Länder (z. B. die OPEC-Länder). Zusätzlich einbezogen wurden, wegen der mit Osteuropa vergleichbaren geographischen Lage in Relation zu Mitteleuropa bzw. den USA, einige Mittelmeerländer sowie Mexiko. Insgesamt werden 30 Volkswirtschaften als Referenzgruppe betrachtet (vgl. Tabelle 1). Bezüglich Mittelosteueropas beschränkt sich das Interesse auf die in der Transformation am weitesten fortgeschrittenen Länder Polen, Ungarn, die Tschechische und Slowakische Republik. In sektoraler Hinsicht werden sechs Branchen unterschieden: Landwirtschaft, Bergbau und Energie, Verarbeitendes Gewerbe, Baugewerbe, Marktbestimmte Dienstleistungen und staatliche Dienstleistungen. Auf eine tiefer gehende Disaggregation wurde angesichts der genannten methodischen Vorbehalte und wegen statistischer Probleme verzichtet; die in den Statistiken der einzelnen Länder ausgewiesenen Sektorengliederungen unterscheiden sich beträchtlich. Frühere Analysen auf einer tieferen Disaggregationsebene zeigten für das Verarbeitende Gewerbe eine zum Teil recht gute statistische Anpassung, während sie für den Dienstleistungssektors wenig überzeugende Ergebnisse brachten (Dohm und Heilemann 1996, S. 415).4 Die Parameter der sektoralen Wachstumsfunktion (2) lassen sich sowohl auf der Grundlage von Querschnittsdaten als auch einer Kombination von Zeitreihen- und Querschnittsdaten schätzen. Da die Varianz der Daten zwischen den Ländern deutlich höher ist als die für das einzelne Land im Zeitverlauf, bietet sich eine reine Querschnittsanalyse an. Die folgenden Parameter-Schätzungen basieren auf Durchschnitts-
4
Die verwendeten Daten stehen auf Anfrage zur Verfugung.
Roland Döhrn und Ullrich Heilemann
380
Tabelle 1: Pro-Kopf-Einkommen, Bevölkerungszahlen und Wirtschaftsstruktur der analysierten Länder, Durchschnittswerte 1988-2000 Anteile am Bruttoinlandsprodukt Privater VerarbeiDiensttendes Bau leistungsGewerbe sektor
Bergbau und Energie
Staatlicher Dienst
Pro-Kopf Einkommen inS'
Bevölkerung in 1000
Landwirtschaft
Indonesien
850
189 862
18.5
11.8
22.7
6.3
31.1
9.5
Philippinen
1 090
67 706
20.8
3.6
23.6
5.6
32.2
14.1
Thailand
2440
58 280
13.9
4.1
26.3
6.7
38.0
11.0
Malaysia
3 800
19 870
13.6
10.3
26.8
5.1
36.5
10.3
Korea
7 530
44 429
6.6
2.9
29.8
10.4
36.5
14.1
Taiwan
14 050
21 813
3.0
2.4
27.8
4.8
51.3
10.2
Neuseeland
15 930
3 574
7.4
4.1
18.0
3.8
46.6
16.6
Japan
39 080
125 123
2.2
3.0
26.1
10.1
36.9
26.2
Ägypten
1 010
55 961
17.7
8.1
18.0
5.3
32.4
18.4
Marokko
1 350
25 763
16.8
9.8
17.6
4.8
25.6
19.6
Tunesien
1 990
8 699
13.7
7.3
18.0
4.5
25.8
21.8
Türkei
2 100
59 940
16.0
3.9
22.0
6.6
39.6
12.0
Mexiko
2 760
88 240
6.0
2.9
19.1
4.0
46.2
15.2
Griechenland
10470
10 346
7.7
2.5
10.9
6.2
46.0
18.1
Portugal
15 680
9 925
4.6
6.0
21.1
5.7
43.1
16.5
Spanien
17 600
39 222
3.9
7.2
16.7
8.1
48.4
14.5
Italien
18 370
57 111
3.1
2.5
20.8
5.1
45.3
17.7
17.1
Asiatisch-pazifische Länder
Mittelmeerländer, Mexiko
Mittel- und Nordeuropa, Nordamerika Irland
17 660
3 594
6.1
2.2
26.0
5.0
33.2
Großbritannien
18 570
58 306
1.3
6.3
18.6
5.3
47.9
15.7
Kanada
19 970
28 806
2.4
6.8
16.0
5.3
37.4
20.9
Belgien
23 710
10 080
1.6
7.0
16.6
5.2
52.1
13.0
Frankreich
25 970
58 918
2.9
2.3
17.2
4.8
44.1
21.3 20.0
Finnland
26 060
5 066
4.4
2.4
20.9
5.0
36.4
Niederlande
26 330
15 298
3.4
6.2
15.8
5.1
48.8
15.2
Vereinigte Staaten
27 700
259 119
1.7
4.1
15.9
4.1
45.1
21.4
Österreich
29 060
7918
2.6
3.1
19.4
7.2
42.3
19.6
Schweden
29 130
8 709
2.2
4.3
18.9
5.8
40.0
24.4 19.9
Deutschland
29 140
80 755
1.2
2.5
22.0
5.7
42.3
Norwegen
32 770
4 324
2.4
15.3
11.3
3.6
42.8
16.1
Dänemark
33 880
5 207
3.2
2.9
15.1
4.3
40.2
23.4
Slowakei
3 150
5 347
4.6
6.3
22.1
6.2
39.4
13.4
Polen
3 180
38 422
5.2
6.4
20.7
7.0
33.2
16.2
Tschechei
5 330
10 325
4.6
6.9
25.2
7.4
36.3
13.0
Ungarn
5 680
10 262
5.0
3.5
20.7
4.0
37.5
17.2
Mittel- und Osteuropäische Transformationsländer
' Eigene Berechnungen - in Preisen und Wechselkursen von 1995.
Strukturwandel und Integration
381
werten der Variablen im Untersuchungszeitraum.5 Dieser umfasst hier die Jahre 1988 bis 2000. Die Daten wurden einschlägigen Statistiken der UNO, der OECD und von EUROSTAT entnommen, teilweise ergänzt durch nationale Statistiken. Die für einige Länder bestehenden Datenlücken wurden durch eigene Schätzungen geschlossen, in wenigen Fällen beginnt der Beobachtungszeitraum später als 1988 oder endet früher als 2000. 3. Überprüfung früherer Schätzergebnisse und Projektionen Die statistischen Ergebnisse der vor zehn Jahren durchgeführten Schätzungen waren im Allgemeinen überzeugend. Das korrigierte Bestimmtheitsmaß der Gleichungen zur Erklärung des Anteils der einzelnen Sektoren an der gesamtwirtschaftlichen Bruttowertschöpfung lag zumeist bei etwa 0,6, schlechter war es bei Marktorientierten Dienstleistungen und beim Bausektor (Tabelle 2). Der Einfluss des Pro-Kopf-Einkommens war in vier Sektoren positiv. Der bei steigendem Einkommen rückläufige Anteil der Landwirtschaft und die Tatsache, dass der Anteil des Verarbeitenden Gewerbes zunächst mit dem Einkommen steigt, dann aber wieder zurückgeht, ist mit Verweis auf die DreiSektoren-Hypothese nicht unerwartet; sein Maximum erreicht letzterer bei 7.100 US-$ Pro-Kopf-Einkommen (in Preisen und Wechselkursen von 1987). Bezüglich der Bevölkerungszahl wurde bei der Landwirtschaft und den Staatlichen Diensten ein negativer Zusammenhang (Elastizität) festgestellt, was für economies of scale in diesem Bereich spricht, im Falle des Verarbeitenden Gewerbes und der Marktorientierten Dienstleistungen war er positiv. Ein Einfluss der Kapitalbildung zeigte sich nur für den Bausektor, also bei einem wichtigen Lieferanten von Investitionsgütern. Hinweise auf angebotsseitige Effekte in anderen Sektoren ergaben sich nicht, was mit dem Verzicht auf eine dynamische Spezifikation zusammenhängen dürfte. Die Ausstattung mit abbaufähigen mineralischen Ressourcen schließlich beeinflusste erwartungsgemäß den Anteil von Bergbau und Energie positiv und verringerte den der Industrie, was die in rohstoffreichen Ländern offenbar weit verbreitete ,dutch desease' widerspiegelt. Die große Bedeutung des absoluten Gliedes insbesondere im Dienstleistungssektor deutet darauf hin, dass dieser in der Frühphase der Industrialisierung - entgegen einer verbreiteten Interpretation der Drei-Sektoren Hypothese - in der Regel von erheblicher Bedeutung ist (Gershuny 1978). Ausgehend von diesen Ergebnissen wurde in einem ersten Schritt versucht, den Redimensionierungsbedarf der Transformationsländer zu bestimmen. Dazu wurde die 1988 beobachtete Wirtschaftsstruktur mit einer hypothetischen, aus den Schätzgleichungen abgeleiteten verglichen. Dabei zeigte sich zum einen eine erhebliche Überdimensionierung des Verarbeitenden Gewerbes - Hinweise auf mögliche Gründe finden sich in Lipton und Sachs (1990) - und der Bauwirtschaft, andererseits ein Unterangebot
5
Betrachtet wird hier der so genannte .Between Groups'-Schätzer. Bei einer Schätzung mit kombinierten Längs- und Querschnittsdaten in einem Random-effects-Modell lässt sich der Schätzer als arithmetisches Mittel des ,between' und des ,within'-Schätzers darstellen, wobei die Gewichtung von den Varianzen im Querschnitt und denen im Zeitablauf abhängt. Vgl. Hsiao (1986, S. 36). Da letztere im vorliegenden Fall gering sind, kommt der hier verwendete Schätzer dem eines Random-effects-Modell nahe.
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