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German Pages 338 [336] Year 2018
Stephan Ehrig Der dialektische Kleist
Lettre
Für Elisa. Have cara anima.
Stephan Ehrig (PhD), geb. 1986, lehrt deutsche Literatur, Theater und Film an der Universität Durham, Großbritannien. Er promovierte an der Universität Bristol und war Fellow der Universität London. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Literatur und Theater des 19. und 20. Jahrhunderts, Architekturästhetik sowie die DEFA.
Stephan Ehrig
Der dialektische Kleist Zur Rezeption Heinrich von Kleists in Literatur und Theater der DDR
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein und der Association for German Studies in the United Kingdom and Ireland (AGS).
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Kleist als „humanistischer Realist“ auf dem Theater 1950-68 | 49 Politisierung und Proletarisierung: Dora Wentscher 1956 | 68 Kleist als Nationalkultur: Deutsche Festspiele Thale 1957-63 | 74 Kleists tragische Größe – Kleist-Ehrung 1961 | 87 $ !"#% %$'"%
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Exkurs I: Eröffnung Gedenkstätte Frankfurt (O) 1969 | 115 Subjektive Korrekturen | 117 Die causa K.: Das Kleist-Modell Günter Kunerts 1975-77 | 132 Seismograph eines preußischen Traumas: Klaus Schlesinger ab 1974 | 144 Kleist und die „Kunst des Scheiterns“: Christa Wolf 1979 | 154 "%$"
Exkurs II: „Der ganze Kleist“ – Kleist-Ehrung 1977 | 173 Der preußische Weg zum Sozialismus: Kleist-Projekt DT 1975-77 | 181 Die Zähmung des Außenseiters: Heiner Müller 1970-1979 | 202 Das Dilemma der Revolutionen: Stefan Schütz 1976 | 218 Frauentragödie im Sozialismus: Penthesilea in Meiningen 1978 | 223
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Kohlhaas und die entfremdete Gesellschaft: Christoph Hein 1980 | 240 Pamphlet für G.: Peter Hacks 1983 | 245 Kleists weibliche Mythoskorrektur: Christa Wolf 1983 | 249 Kleist im Kalten Krieg: Penthesilea 1986 & Hermannsschlacht 1988 | 262 Das Erdbeben der Utopien: Stefan Heym 1984 | 278 Deutschland.Ortlos: Heiner Müller 1985-90 | 284 293 303 ! !"303
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„Wie kann ein Dichter ohne das Vorbild Heinrich v. Kleists dies schmutzige Meer der menschlichen Gesellschaft durchwaten?“ GEORG KAYSER (1927, ANLÄSSLICH KLEISTS 150. TODESTAGES)
Über die vielen Jahre hinweg, die dieses Buch entstanden ist, hat sich eine erstaunliche Liste an erstaunlicheren Menschen gebildet, ohne deren professionelle, freundschaftliche und finanzielle Unterstützung und Zuarbeiten dieses Buch niemals das Licht der Welt erblickt hätte und denen ich dementsprechend hiermit einzeln danken möchte: Zunächst gilt mein Dank Dr. Barbara Gribnitz und Manuela Kalk vom KleistMuseum in Frankfurt/Oder. Ohne die Museumssammlung und die Erlaubnis, sie für meine Promotion zu nutzen, hätte es mein Projekt niemals gegeben. An der Universität Leipzig möchte ich Prof. Dr. Dirk Oschmann und Prof. Dr. Dieter Burdorf danken, die nicht nur meine mannigfaltigen Bewerbungen unterstützt haben, sondern ohne die ich auch nicht zeitnah meine Kleist-Lektüre begonnen hätte. Der meiste Dank gilt aber Prof. Dr. Dirk Werle (nunmehr in Heidelberg), dessen Unterstützung auf allen Ebenen und dessen stets stimulierende Lehrveranstaltungen in mir erst den Gedanken keimen ließen, dass ich dies auch zu meinem Beruf machen könnte. An der Universität Bristol hatte ich dann schließlich das große Vergnügen, mit Dr. Debbie Pinfold und Dr. Steffan Davies als meinen „Doktoreltern“ zusammenzuarbeiten. Ihre vollste Unterstützung von der ersten zaghaften Email an, ihre perfektionierte Art der empathischen wie konstruktiven Kritik sowie auch ihr Vertrauen darin, dass ich dieses Projekt würde schultern können, waren für mich in diesen Jahren unersetzlich und ich kann ihnen nicht genug dafür danken. Mit Leibniz gesprochen: Wenn wir in der Tat in der besten aller möglichen Welten leben, so seid ihr für mich die besten aller möglichen Betreuer gewesen! Weiterhin möchte ich Prof. Robert Vilain danken, der mir lehrreiche Forschungs- und Lektoratsaufgaben zutraute und auf dessen Unterstützung ich mich stets verlassen konnte, wie auch Dr. Christophe Fricker, dessen Tür immer offenstand, wenn ich seines fachlichen oder freundschaftlichen Rates bedurfte.
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Darüber hinaus ist das ganze germanistische Institut zu einem zweiten Zuhause geworden und ich werde es wohl nie ganz hinter mir lassen. Nicht zuletzt möchte ich der Bristol University Alumni Foundation für das ungemein großzügige Stipendium danken, ohne das ich vermutlich niemals das wunderbar-eklektische Bristol kennengelernt hätte. Für ihre Unterstützung bei den Recherchen möchte ich zuallererst Daisy Schlesinger danken, dass sie mir erlaubt hat, die unveröffentlichte Novelle ihres Mannes zu in dieses Buch aufzunehmen. Ebenso gilt mein Dank Alexander Weigel für seine hilfreichen persönlichen Einblicke. Prof. Dr. Peter Marx (Köln) empfahl etliche der grundlegenden Theaterwerke und unterstützte meinen Ansatz, mich den Archiven zu nähern. Prof. Laura Bradley (Edinburgh) verwies mich auf Barbara Honigmann, Prof. Dr. Petra Stuber (HMT Leipzig) erhellte mich mit ihren persönlichen Erinnerungen an Stefan Schütz’ KohlhaasAufführung. Prof. Norbert Otto Eke (Paderborn) hat als Gutachter der Arbeit zu wesentlichen Nachbesserungen bei der Erstellung des Buches beigetragen. Weiterhin möchte ich Dr. Andy Machals (Bristol) für sein kritisches Gemüt und sein endloses Wissen über Performance danken, und Francesca Roe (Bristol) für ihre tägliche moralische Unterstützung und ihr Durchhaltevermögen beim Korrigieren meiner Misshandlungen ihrer Muttersprache. Dr. Benjamin Schaper (Durham) und Therese Suckow waren eine große Hilfe beim Korrekturlesen der letzten Fassungen. Karl-Frieder Große hätte keinen besseren Zeitpunkt finden können, um mir Heyms Roman zu schenken, der sonst dieser Arbeit verlorengegangen wäre. Der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften und der Association for German Studies in the UK and Ireland (AGS) möchte ich zudem für die großzügige Unterstützung dieser Publikation danken. Schließlich gilt der meiste Dank meiner Familie, allen voran meiner Mutter, die mich in allen Lebenslagen unterstützt haben und die stets meine Entscheidungen mittrugen, noch einen weiteren Universitätsabschluss zu erwerben. Schlussendlich möchte ich noch Tobias Baganz danken, der mit mir geduldig durch alle Phasen dieses Projekts durchgemacht hat. Ich wäre ohne ihn nicht so weit gekommen.
Bristol/Durham 2017 Stephan Ehrig
Im Jahre 1975, während der bereits auf Hochtouren laufenden Vorbereitungen zur nationalen Heinrich-von-Kleist-Ehrung anlässlich dessen 200. Geburtstages 1977, leistete auch das Deutsche Theater in Ost-Berlin seinen Beitrag zu den 1 Feierlichkeiten und brachte, erstmalig seit Kriegsende, Kleist auf die eigene Bühne. Das Inszenierungskollektiv um Regisseur Adolf Dresen und die Drama2 turgen Alexander Weigel und Barbara Honigmann beschloss ein „KleistProjekt“, das einen musikalischen Abend mit Textlesungen im Theaterfoyer, eine Bühnenadaption von Kleists Erzählung Michael Kohlhaas und eine Doppelinszenierung von Kleists Stücken Der zerbrochne Krug und Prinz Friedrich von Homburg vorsah, in der beide Stücke direkt hintereinander mit denselben Schauspielern gespielt wurden. Das Kleist-Projekt korrelierte mit verschiedensten kulturpolitischen Umbrüchen der 1970er Jahre. Nachdem Erich Honecker kurz nach seiner Machtübernahme am 17. Dezember 1971 auf der 4. Tagung des Zentralkomitees der SED den vielzitierten Satz aussprach: „Wenn man von der festen Position des Sozialismus ausgeht, kann es meines Erachtens auf dem Gebiet von Kunst und Litera3 tur keine Tabus geben”, hatte sich die Realität innerhalb weniger Jahre in ihr 1
Wenn auch nicht die erste Inszenierung im Gebäude des Theaters, da Brechts Berliner Ensemble bis 1954 auch am Haus weilte, bis sie das Theater am Schiffbauerdamm beziehen konnten. Therese Giehse inszenierte dort den Zerbrochnen Krug im Jahre 1952, s. Kapitel 2.
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Die Nutzung des generischen Maskulinums in diesem Buch hat rein lesepraktische Gründe und ist nicht Ausdruck einer inhaltlichen Bevorzugung der männlichen Form. Es wird ausdrücklich betont, dass in der männlichen Funktionsbezeichnung in diesem Buch stets Männer, Frauen und alle anderen Geschlechtsidentitäten mitgemeint sind.
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Jäger, Kultur und Politik in der DDR (1995), S. 140.
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blankes Gegenteil verkehrt. Es gipfelte in der Ausbürgerung Wolf Biermanns im November 1976, die gleichsam die verschärfte Überwachung von Kunstschaffenden in der DDR allgemein bedeutete und viele dazu veranlasste, einen Ausreiseantrag zu stellen. Für Dresen und sein Inszenierungskollektiv fielen diese beiden zeitgeschichtlichen Pole, Kleist und die DDR, in diesen Jahren zusammen und veranlassten sie, über die Rolle der Kunstschaffenden im von Honecker erklärten präsentisch-eschatologischen „real-existierenden“ Sozialismus und über ihren gesellschaftlichen Beitrag neu zu reflektieren. Im Zuge der Doppelinszenierung Homburg-Krug im Jahre 1975 wollte man nicht nur versuchen, den Krug durch Homburg neu zu interpretieren, sondern vor allem über das problematische Verhältnis von Individuum und Gesellschaft und zudem darüber reflektieren, wie es überhaupt individuelle Freiheit im gegenwärtigen sozialistischen Staat geben könne. Dresen wollte für beide Stücke ein emblematisches Sinnbild den Inszenierungen voranstellen. Während ihm der zerbrochne Krug bereits symbolhaft 4 genug erschien, leitete er aus Homburg das Bild des gefesselten Lorbeers ab. In Dresens Lesart des Homburg geht es dabei nicht um das „Hohelied der Subordi5 nation“ des Prinzen, wie Franz Mehring es behauptet hatte, oder um Bertolt 6 Brechts „Rückgrat, zerbrochen mit dem Lorbeerstock!“, sondern für Dresen blieb der Konflikt des Stückes ungelöst, da beide Seiten – der Kurfürst als Repräsentant des Rechts und der Prinz als Repräsentant des freiheitsstrebenden Individuums – aus ihrer Perspektive jeweils völlig im Recht sind und das Stück somit den Graben repräsentiert, den Staat und Individuum überwinden müssen, um miteinander im Einklang zu leben. Gleichzeitig ist dieser Grundkonflikt, den der Preuße Kleist in der brandenburgischen Vorzeit ansiedelte, ein symptomatisches Geschichtstrauma, das Dresen in den politischen Strukturen der DDR immer noch als aktuell empfand, 7 denen er einen „preußischen Weg zum Sozialismus“ bescheinigte. Beide Aspekte sind für Dresen im Bild des gefesselten Lorbeers enthalten: Darin ist nicht nur das menschliche Streben nach Ruhm, Anerkennung und Selbstverwirklichung, ergo die humanistische Utopie vom Zu-sich-selber-Kommen des Menschen verschlüsselt, sondern auch die rechtlichen wie gesellschaftlichen Schranken und Pflichten, die ebenjene bis hin zu staatlicher Willkür mehr oder minder beschränken. Der gefesselte Lorbeer symbolisiert das Spannungsfeld zwischen
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AdK ID 732.
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Zitiert nach: Sembdner, Kleists Nachruhm (1996), S. 315.
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AdK ID 732.
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Ebd.
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diesen Polen und gleichfalls das Oszillieren des Menschen darin als Selbstfindung des Individuums in freier Entfaltung, ohne gesellschaftliche Entgrenzung. Dies war die Dialektik des humanistischen Versprechens des Kommunismus und 1975 musste mit Kleist darauf hingewiesen werden, dass der Sozialismus eben noch nicht „real-existierend“ und dass etwas faul im Staate DDR war. Dresens Symbol des gefesselten Lorbeers sollte somit darauf aufmerksam machen, dass jenes Ziel nur erreicht werden könne, wenn man die breite Kluft, die in den 70er Jahren zwischen Individuum/Kunst und der Staatsführung herrschte, überwinden würde. Dresens Kulturkritik ist ein signifikantes Beispiel dafür, wie über Kleist und Kleists Werke versucht wurde, die eigene Krisenerfahrung als Kulturschaffender in einem zunehmend repressiven System zu verarbeiten, sie aber gleichzeitig als konstruktive Kritik öffentlich anzubringen, um das utopische Projekt des Kommunismus langfristig in die Wirklichkeit umsetzen zu können. Dresens KleistProjekt ist aber auch ein zentrales Beispiel dafür, wie man die Kulturszene der DDR von innen heraus verstehen kann, ohne dabei das noch immer vorherrschende Verdikt von ‚Kultur im Totalitarismus’ bemühen zu müssen. Dafür ist das Vorhandensein der überaus ausführlichen Aktenlage der DDRStaatssicherheit etwas, was Petra Stuber als die „große Crux der DDR8 Geschichtsschreibung“ bezeichnete: der hauptsächliche Quellenbestand operiert im Kontext repressiver Kontrollmechanismen, sodass die Geschichtsschreibung oft zwangsweise den Maßregelungen der Politik folgen müsse, ohne die unzähligen Beispiele ernstzunehmender kultureller wie gesellschaftlicher Errungenschaften der DDR zu erwägen, die sich dieser Logik entziehen und die eine notwendige Ergänzung zu einem umfassenderen Verständnis der DDR beitragen. Wie sich im sogenannten deutsch-deutschen Literaturstreit Anfang der 1990er 9 Jahre zeigte, wurde die DDR-Kultur plötzlich von der „anderen“ zur „unseren“ und, wie man an der Wortwahl bereits erkennt, durchweg aus westdeutscher Erfahrung und Logik beurteilt, obwohl sie, wie Hans Peter Herrmann formulierte, „von westdeutschen Erfahrungen, Maßstäben und Problemen (zumindest vor10 erst) deutlich getrennt“ blieb. Von dieser grundlegenden Situation weitgehend altbundesrepublikanischer Deutungshoheit ausgehend hat bis zum heutigen Tage
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Stuber, Spielräume und Grenzen (2000), S. 181.
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S. Anz, „Es geht nicht um Christa Wolf“ (1991).
10 Hermann, Der Platz auf der Seite des Siegers (1998), S. 32.
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kein nennenswertes Umdenken stattgefunden, und die DDR ist immer noch primär das „Stasiland“ aus Anna Funders12 Untersuchungen. Dieses Buch will somit auch einen Beitrag zu einer Kulturgeschichte der DDR en miniature leisten, ausgehend von der Annahme, dass Literatur und Theater Spiegelfläche und Experimentierfeld kultureller Codierungen sind: Literatur und Theater reflektieren politische und kulturelle Aushandlungsprozesse, in ihnen werden die Verwerfungen und Bruchstellen symbolischer Machtkämpfe gleichsam gegenwärtig. Sie schaffen damit simultan eine Beobachtungsdistanz in der Nähe und haben zugleich Anteil an den von hier ausgehenden Transformationen. Auf dieser Annahme aufbauend, will die vorliegende Studie die Literatur- und Theaterproduktion (soweit nachvollziehbar) der DDR aus der ihr inneliegenden Logik betrachten und entwickeln und damit neue Erkenntnisse über die Kultur in der DDR und ein vertieftes Verständnis über die DDR im Allgemeinen gewinnen.
Kleist ist als Analysekategorie geradezu prädestiniert, um sich DDR-Kultur zu nähern. Als historische Persönlichkeit, die einen großen Teil ihres Lebens auf dem späteren Territorium der DDR verbrachte, wurde sich mit Kleist als lokaler Größe bis 1989 auseinandergesetzt und über ihn gestritten. Die Kleist-Rezeption tangiert dabei fast alle DDR-Kulturbereiche und kann somit als ein repräsentativer Querschnitt gelesen werden, da einerseits verschiedenste Kulturphänomene und Eigenheiten der DDR an ihrem Umgang von „oben“ wie von „unten“ dargestellt werden können als auch die verschiedenen Einzelstudien ein oft einseitiges und binäres Verständnis von DDR-Kultur unterminieren können, welches, wie Stephen Brockmann13 feststellt, nicht nur auf das Machtverhältnis von Staat vs. Gesellschaft und Regime vs. Massen hinausläuft, genauso wie kulturpolitische Entscheidungen nicht zwanghaft direkten Einfluss auf die Kulturproduktion hatten, auch wenn sich die SED-Führung das sicherlich gewünscht hätte und dieses Bild auch eifrig nach außen vermittelte.14
11 Trotz verschiedener Versuche, die „Kolonialisierung“ der DDR und deren Repräsentation kritisch zu bearbeiten, wie zu sehen bei Cooke, Representing East Germany since Unification (2005) oder Dümcke/Vilmar, Kolonialisierung der DDR (1996). 12 Funder, Stasiland (2016). 13 Brockmann, The Writer’s State (2015), S. 5. 14 Vgl. Arnold-de Simine/Radstone, The GDR and the Memory Debate (2013), S. 28.
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Der Kultur, vor allem Literatur, Theater und Film, kam dabei eine zentrale Bedeutung zu: wenn man dabei versuchte, das Telos des sozialistischteleologischen Kulturverständnisses auf einen Begriff zu bringen, so wäre dieser vermutlich das „Zu-sich-selber-Kommen des Menschen“. Dieser auf hegelianisch-marxistischem Geschichts- und Kulturdeterminismus aufbauende Idealzustand, der die Entfremdung des Individuums von sich selbst durch die arbeitsteilige kapitalistische Industriegesellschaft in einer neuen, kommunistischen Gesellschaft wieder- bzw. überhaupt erst wirklich herstellt, ist das zentrale humanistische Anliegen des Sozialismus auf dem Weg zum Kommunismus. Es umschließt dabei die revolutionären Ziele Gerechtigkeit, Gleichheit, Brüderlichkeit 15 und Frieden und wendet sich wieder dem „ganzen Menschen“ zu. Um dies herbeizuführen, brauchte es nicht nur ein anderes Gesellschaftssystem, sondern auch eine veränderte ästhetische Erziehung des Menschen. In diesem Zusammenhang wurden der Bildung, aber auch in großem Maße der Kultur in der DDR eine besondere Rolle beigemessen, um durch kritisch-dialektische Aneignung 16 und Betrachtung der Vergangenheit auf eine bessere Zukunft hinzuwirken. Für dieses Ziel wurden am Anfang der 50er Jahre, aufbauend auf verschiedenen theoretischen Puzzleteilen aus der Geschichte der Arbeiterbewegung, des Marxismus, Leninismus und durch Wissenschaftler und Kulturschaffende vor allem aus 17 dem Moskauer Exil wie Alfred Kurella oder Johannes R. Becher, verabsolutie-
15 Für die Begriffsgenese prägend haben sich in der Debatte der 30er und 40er Jahre unzählige Köpfe erwiesen, die aufbauend auf dem erstmaligen Erscheinen verschiedener Frühschriften Karl Marx’ 1932 ihren Anfang nahm und für welche vor allem Alfred Kurellas zwischen 1936-39 verfasste Konzeption zum „sozialistischen Humanismus“, Alexander Abuschs Der Irrweg einer Nation (1946), Johannes R. Bechers Aufzeichnungen Vom Aufstand im Menschen (1969 veröffentlicht) hervorzuheben sind. S. Groschopp, Der ganze Mensch (2013), S. 223ff. 16 Johannes R. Becher schreibt hierbei, woraus Christa Wolf (Kapitel 2) später die berühmte Frage „Was ist das: dieses Zu-sich-selber-Kommen des Menschen?“ (Bd. 12, S. 224) in Nachdenken über Christa T. (1968) zitieren wird: „Darum kommt gerade der Kunst eine so außerordentliche Bedeutung zu, weil sie den Aufstand im Menschen am tiefsten und allumfassendsten vorbereitet und den Menschen unmerklich, auf die verschiedenartigste und auch auf die geheimnisvollste Weise, als eine Art erhöhten Lebens selbst, zu einer neuen, höheren Existenzform des Menschlichen hinführt.“ Becher, Gesammelte Werke (1969). 17 Alfred Kurella, einer der maßgeblichen Architekten des Erbes, beschreibt es 1961 wie folgt: „Der Fortschritt der Menschheit beruht darauf, dass die kulturellen Errungenschaften (im weitesten Sinne) jeweils von den nachkommenden Geschlechtern über-
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rende Leitsätze für Kultur politisch formuliert, die die SED-Führung politisch handlungsfähig für den Aufbau einer distinkten DDR-Kultur machen sollten. Diese Leitsätze sind wichtig, weil in den ersten Jahren nach dem Krieg die gesamte Kulturpolitik durch offizielle Verlautbarungen der Partei, Regierung oder des Kulturbundes zentral gelenkt wurde und sie somit eine kulturpolitische Dominante darstellen, auf welche in jedweder Handlung und Begründung bezuggenommen werden musste. Die Konflikte um diese Leitsätze nahmen mit den Jahren vermehrt zu, da sie nie an die neuen gesellschaftlichen Anforderungen angepasst wurden. Wie Theo Honnef zusammenfasst: „War diese Hierarchie im Kampf gegen die ideologischen Überreste der zwölfjährigen Herrschaft des Nationalsozialismus und für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft aus der Not der Zeit geboren, so änderte sich daran auch dann nichts entscheidend, als eine Konsolidierung der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse eine 18 größere Dezentralisierung erlaubt hätte.“ In diese Debatte fiel auch die Diskussion um die Einordnung Kleists. Da sein widersprüchliches Oeuvre sich kaum einseitig kulturpolitisch instrumentalisieren ließ, wurde er stets erneut intensiv verhandelt, was seine Rezeption so produktiv macht. Dahingegen gibt es freilich auch im Werk Goethes und Schillers viele Widersprüche, die es zu debattieren lohnte, aber deren Rezeptions- und Wirkungsgeschichte keinen Anlass dazu. Mit der Analyse der Kleist-Rezeption kann dabei – und das ist eine zentrale Grundlage zum Verständnis der DDR-Kulturszene – zuvorderst der Kulturkampf zweier vorherrschender ästhetischer Auffassungen nachvollzogen werden, die zwei moderne Ansätze eines marxistischen Kultur- und Kunstverständnisses vertreten und die die kulturelle Debatte in der DDR durchgängig dominierte. Welche kulturpolitischen Enden bei Kleist aufeinandertrafen, wurde in diesem Zitat des Politikers Rudolf Herrnstadt auf der II. Parteikonferenz der SED am 11. Juli 1952 bereits deutlich:
nommen und weitergebildet werden können. Die Besitzergreifung und Aneignung des kulturellen Erbes der bürgerlichen Gesellschaft erfolgt weiterhin kritisch, d.h. mit Auswahl. Dabei verwandelt die sozialistische Gesellschaft das überkommene Kulturgut, indem sie es ihren historisch neuen höheren Kulturbedürfnissen anpasst und es dadurch weiterbildet. Die Kriterien für die kritische Auswahl aus dem bürgerlichen Kulturerbe sind nicht starr und nicht ein für allemal gegeben. Sie wandeln sich in der Praxis, im Zusammenhang mit den konkreten Kampf- und den Aufbauzielen, die der Sozialismus sich in den verschiedenen Etappen seiner Entwicklung stellt.“, aus: Alfred Kurella: „Der Sozialismus und die bürgerliche Kultur“, Einheit Heft I und IV 1961, KMFO Programmheft Käthchen von Heilbronn. 18 Honnef, Kleist in der DDR (1988), S. 2.
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Auf dem Strausberger Platz wurde vor 400 Jahren Michael Kohlhaas hingerichtet. Wir werden ihm kein Denkmal setzen. Denn so sehr wir mit jedem sympathisieren, der für das Recht mit dem Kopf durch die Wand geht, - ein Rosshändler, der wegen zweier Gäule, um die er betrogen wurde, einen Partisanenkrieg entfesselt, ist für uns nicht die geeignete Figur für ein Denkmal. Aber wäre es nicht richtig, demjenigen ein Denkmal zu setzen, ohne den wir von Michael Kohlhaas nichts wüssten, dem großen realistischen Dichter und Sprachschöpfer Heinrich von Kleist, der als deutscher Patriot von der herrschenden Klasse isoliert und zugrunde gerichtet wurde und dessen Bild von der Geschichtsschreibung bisher verfälscht wird?19
Wenn Herrnstadt hier Kleist als realistischen Dichter und deutschen Patrioten anführte, so versuchte er, Kleist in den Kanon des Kulturerbes aufzunehmen, den die DDR sich in ihren Anfangsjahren gab – und die Kleist-Kritiker davon zu überzeugen, indem er Kleist mit ihren eigenen Schlagworten (Realismus, Patriotismus) attribuierte. Allerdings sollte es genau andersherum kommen: Ein Kleist-Denkmal, wie sich Inge von Wangenheim über 20 Jahre später noch erinnern sollte, wurde auf der Konferenz zwar beschlossen, aber nie gebaut, Kohlhaas im Kontext der Bauernkriege zum frührevolutionären Helden des kleinen Mannes verklärt. Dabei sind im Wesentlichen zwei politische wie auch ästhetische marxistische Positionen im Widerstreit um die Frage, wie jener Humanismus nun kulturpolitisch umzusetzen sei. In Anlehnung an Tadeusz Namowicz’ exzellente Unterscheidung der kulturpolitischen Strategien im Umgang mit 20 Kleist in den 50er Jahren in eine ideologische und eine pragmatische spreche ich im Rahmen dieser Untersuchung von einer ideologischen und einer dialekti-
19 KMFO, Programm Lesung Michael Kohlhaas, Kulturbund der DDR, 1985. 20 Für Namowicz sind die 50er Jahre von der Parallelität zweier Interpretationsmuster geprägt, die spätestens 1952 anlässlich der 2. Parteikonferenz deutlich zutage traten: „Die eine verbinden wir mit den Namen von Mehring und Lukács, da die Namen der hierfür in Frage kommenden DDR-Politiker sich nicht ausfindig machen lassen, sie sei hier die ideologische Option genannt, die andere mit dem Namen des Kulturpolitikers Herrnstadt, nennen wir sie die pragmatische Option.“ Herrnstadt beabsichtigte in seiner Rede auf der zweiten Parteikonferenz, wie eingangs zitiert, vor allem Kleist und Kleists Werke für aktuelle politische Zielsetzungen zu verwenden und generell in inklusiveres Erbe-Verständnis zu etablieren. Die pragmatische Option bemühte sich demnach, Kleist für die Belange der DDR zu vereinnahmen und die Rezeption seines Werkes zu instrumentalisieren und konstituierte sich in einer „verdeckten, doch offenbar gezielten Polemik gegen den Standpunkt von Lukács, gegen die ideologische Option.“ Namowicz, Kleist in der DDR (1995), S. 156.
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schen marxistischen Ästhetik, Ästhetik der Moderne sind.
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die gleichsam zwei Facetten einer marxistischen
Die ideologische Option und die damit verbundene Ästhetik, die unter anderen von Wissenschaftlern und Autoren wie Franz Mehring, Georg Lukács, Johannes R. Becher und Alfred Kurella vertreten wurde, inszenierte sich zwar als Antimoderne, vertrat aber in selbsternannter und national-konservativer Nachfolge der Weimarer Klassik und des bürgerlichen Realismus des 19. Jahrhunderts jene Moderne, die vorbildliche Helden und große Erzählkorpora mit globalem ästhetischen wie gesellschaftlichem Anspruch favorisierte, wie sie sich auch der Faschismus zu eigen machte und die von Stalins Sowjetunion unterstützt wurde. Für Kleist, wie Namowicz ausführt, stellte sie sich wie folgt dar: Die ideologische Option orientierte sich an den Tendenzen in der materialistischmarxistischen Auslegung aus der Zeit vor 1945, die vor allem von Mehring und Lukács, bedingt auch von Brecht, vertreten waren. Sie gipfelten im negativen Urteil über Kleist, der nicht nur als Verfechter einer politisch extrem-reaktionären Position apostrophiert wurde, sondern auch als psychisch kranker Mensch (Mehring) und darüber hinaus als Dichter eines radikalen Nihilismus, in dessen Werk lediglich ein punktueller Sieg in ‚Michael Kohlhaas‘ und ‚Der zerbrochne Krug‘ erfolgte, und zwar gegen die Absicht des Autors.22
Wie kam es somit nun dazu, dass die ideologische Option sich durchsetzte? Zunächst darf bei dieser Hinwendung zum klassischen deutschen Erbe, wie Brockmann betont, nicht unterschätzt werden, dass es sich um eine Nachkriegsaufbauphase und eine „post-faschistische“ Gesellschaft handelt: GDR culture was ‚post-fascist‘ both in the obvious sense that it came after the Nazi period, but also in the sense that it responded, in a variety of ways, to the Nazi period. This
21 Durch die Kursivschreibweise von pragmatisch, ideologisch und dialektisch wird in dieser Arbeit stets wieder auf diese Prinzipien rekurriert, im Unterschied zu ihrer geläufigen Wortbedeutung. 22 Namowicz, Kleist in der DDR (1995), S. 156.
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should never be forgotten, because it is an aspect of East German culture that continues until the very end, in 1989-90, long after the historical end that I am considering.23
Es handelte sich um eine Aufbauphase, in der bestimmte Direktiven dringend gebraucht wurden und wo man sich an vorhandenem Material bediente, das politisch verwertbar schien. Dafür eignete sich die ideologische Option besser als die pragmatische. Wie Bernhard Spies betont, waren z.B. Lukács’ Theorien in den 30er Jahren als politisch-kulturelles Bekenntnis und Kampfmittel für den Sozialismus und gegen den Faschismus konzipiert und somit ideal für den Aufbau einer distinkten DDR-Kultur, in Kooperation mit der Sowjetunion und in Abgrenzung gegen die Bundesrepublik und die USA. Als das nicht mehr gefragt war, wurden sie allerdings zum Medium der neuen Abgrenzung und zum Durch24 setzungsmittel einer politischen Wende im sozialistischen Überbau. Diese Entwicklung ist für die DDR-Kulturpolitik und auch für die Kleist-Rezeption prägnant, denn die trotz gesellschaftlich-kultureller Veränderungen stagnierenden Kulturprämissen der 50er Jahre erzeugten eine stetige Reibung zwischen Kultur und Politik, die vielfach produktiv künstlerisch verwertet wurde. Gleichzeitig war es eine Aufbauphase, und dies bedeutet, dass kontinuierlich experimentiert wurde. Man bediente sich, aus Mangel an Alternativen, zunächst an zentralen Referenztexten, und etablierte Marxisten wie Mehring wie Lukács waren naheliegend. Alles weitere, so die politische Logik, würde sich durch die Aneignung und die Praxis in einem sozialistischen Staate von selbst ergeben. Freilich ging diese ideologische Kanonbildung nicht ohne Konflikte vonstatten. Zum ersten Bruch zwischen politischer und kultureller Sphäre kam es bereits in der SBZ, denn der Konsens zwischen der Mehrzahl der antifaschistischen Künstler und dem offiziellen durch die politische Elite eingesetzten Antifaschismus wurde schon vor der Gründung der DDR von der Formalismusdebatte der späten 40er Jahre überschattet. Vor allem bildende Künstler wurden damit konfrontiert, dass es sich bei ihrer abstrakten Kunst, in sowjetischer Nomenklatur, um Formalismus handle und dieser repräsentativ für westliche Werte, Dekadenz, Faschismus und Imperialismus sei und nur dazu diene, die gesunden Seelen der Men25 schen zu zerstören. Als „gesund“ in diesem Sinne wurde nur die realistische Kunst angesehen, die den Menschen Vorbilder und idealisierte Formen von sich selbst vorsetzte. Viele Künstler verließen daraufhin die SBZ noch vor der
23 Brockmann, The Writer’s State (2015), S. 14. 24 Spies, Georg Lukács und der Sozialistische Realismus in der DDR (1991), S. 42. 25 Vgl. Zimmering, Mythen in der Politik der DDR (2000), 143.
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Staatsgründung, vor den Kopf gestoßen, obwohl sie einen Beitrag zum Aufbau 26 des demokratischen Sozialismus leisten wollten. Jene an die „Entartung“ im Nationalsozialismus erinnernde Einteilung in „Gesundes“ und „Krankes“ zog sich durchweg durch die Aufbaudebatte, nämlich welche Ästhetik für den Aufbau der sozialistischen Gesellschaft und Persönlichkeit förderlich sei. Jenes „Gesunde“ sollte an jene progressiven, humanistischen Traditionen anknüpfen, die man weiträumig im Begriff der Klassik zusammenfasste, welche man sich nun aneignen und weiterentwickeln würde. Hierbei traf es sich, dass Goethe selbst, laut Johann Peter Eckermann, in späten Jahren seine Ästhetik in Gesundes und Krankes einteilte: „Mir ist ein neuer Ausdruck eingefallen,“ sagte Goethe, „der das Verhältnis nicht übel bezeichnet. Das Klassische nenne ich das Gesunde, und das Romantische das Kranke. Und da sind die Nibelungen klassisch wie der Homer, denn beide sind gesund und tüchtig. Das meiste Neuere ist nicht romantisch, weil es neu, sondern weil es schwach, kränklich und krank ist, und das Alte ist nicht klassisch, weil es alt, sondern weil es stark, frisch, froh und gesund ist. Wenn wir nach solchen Qualitäten Klassisches und Romantisches unterscheiden, so werden wir bald im reinen sein.“27
Diese Aussage wurde von Kurella, Lukács und Becher kulturpolitisch maßgeblich als Schablone benutzt – wenn auch nicht immer mit Erfolg, wie sich im Falle Kleists zeigen wird. Stuber weist darauf hin, dass in der Expressionismusdebatte 1937/38, die Lukács gegen die eher pragmatischen Kritiker Ernst Bloch, 28 Hanns Eisler und Bertolt Brecht führte, „[a]ngesichts von Faschismus und drohendem Krieg in Europa einerseits und angesichts der sowjetischen Säuberungen andererseits [...] es vor allem den Kommunisten um die Unterordnung der Kunst unter die Aufgaben des gemeinsamen politischen Kampfes [ging]. Dies schien ihnen am ehesten dann möglich, wenn die neue Kunst vor allem ihre 29 Kontinuität in Hinblick auf die klassischen Traditionen betonte.“ Auf dies wurde dann, wiederum mit Lukács’ Beteiligung zurückgegriffen, auch, weil es nicht im Widerspruch zu Sowjetvorgaben stand. Anfang der 50er Jahre wurde,
26 Ebd. 27 Aus dem Gespräch vom 2. April 1829, in: Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens (1835), S. 348. 28 Bertolt Brecht ist im Kontext dieser Arbeit eine Ausnahme, da er zwar eine dialektische Ästhetik verfolgte, kulturpolitisch aber eher ideologisch auftritt. 29 Stuber, Spielräume und Grenzen (2000), S. 71. Siehe auch: Böhm, Vorwärts zu Goethe? (2015).
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frei nach Bechers Losung in seiner Rede zum Goethe-Geburtstag 1949 – „vor30 wärts zu Goethe und mit Goethe vorwärts“ – jedwede Kultur, wo möglich, nach Goethes Urteil in Gesundes und Krankes eingeteilt, als heilsbringende Kategorie, als Gütesiegel. Dies bedeutete eine positive Gewichtung der Aufklärung, der Weimarer Klassik, des Vormärzes und des bürgerlichen Realismus sowie der deutschen und sowjetischen sozialistischen Literatur, die als humanistisch eingestuft worden war, und eine heftige Abwertung vor allem der Romantik und des Expressionismus, die als Vorläufer und Wegbereiter des Faschismus galten. Die besondere Wertschätzung der Klassik findet sich auch bei Walter Ulbricht, wo sie sich „nicht nur daraus [erklärt], dass ihr ‚Ideengehalt’ von breiten Schichten akzeptiert wurde. Die kommunistische Funktionärselite hatte selbst 31 diese Kulturwerte verinnerlicht.“ Allerdings hatte Ulbricht eine sehr eigene Auslegung des Begriffes: Er stellte einen Traditionsbezug her, welcher den DDR-Werktätigen „faustisches Handeln“ bescheinigte, was in seiner Rede am 23. März 1949 auf der 11. Tagung des Nationalrates der Nationalen Front des Demokratischen Deutschland in Berlin gipfelte, in der er proklamierte, dass die vom Kapitalismus befreite Arbeiterklasse als Teil eines freien Volkes auf freiem Grund damit „begonnen [habe], diesen dritten Teil des ‚Faust’ mit ihrer Arbeit ... 32 zu schreiben“. Dass Humanismus mehr oder weniger synonym für die Klassik und gleichsam als Antimoderne genutzt wurde, ist nicht nur für die unscharfe Begriffsverwendung in der DDR wichtig, sondern auch für die Lesarten von Kleist in diesem Kontext. Vor allem der Humanismus der Weimarer Klassik wurde – mit einem ersten Höhepunkt im Goethejahr 1949, das mit der Konstituierung der DDR zusam33 menfiel – zum Teil der Begründungslegitimation des ostdeutschen Staates. Diese Gedenkjahre, die Anlass für einen großen Teil der Literatur- und Theaterproduktion der DDR gaben, waren der wichtigste kulturelle Niederschlag des Erbes und haben stets auch wichtige Auskunft über das jeweilige kulturelle Selbstverständnis der DDR gegeben. Sie sind Institutionen, die ein Wissen um Vergangenes sowohl feiern als auch generieren können, und stehen somit im direkten Zusammenhang mit den zahlreichen Denkmälern und Gedenkstätten, die in den 40er und 50er Jahren vor allem dem Gründungsmythos des Antifaschismus monolithisieren sollten. Für ein Verständnis der DDR ist damit das Goethejahr 1949 genauso relevant wie die Kleist-Ehrung 1977.
30 Stuber, Klassik als Symptom (2001), S. 138. 31 Groschopp, Der ganze Mensch (2013), S. 15f. 32 Ebd. 33 Ebd.
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Dabei ist die entscheidende Frage, wie solche Gründungsnarrative innerhalb einer Gesellschaft verankert sind, verankert werden können und wie sie sich entwickeln. Im Unterschied zu den steingewordenen Monumenten kulturellen 34 Gedächtnisses in Form von Gedenkstätten und Denkmälern haben die Ehrungen allerdings eine deutlich partizipatorischere Funktion, die sich im Sinne einer „nationalkulturelle[n] Selbstzuschreibung in öffentlich inszenierter Erinnerungs35 kultur“ auch auf das kommunikative Gedächtnis der DDR-Gesellschaft auswirken konnte und sollte. Das liegt nicht nur daran, dass diese sich im Laufe der Zeit deutlich flexibler an das Zeitgeschehen anpassen können, sondern auch an deren performativen Charakter in Form von Festveranstaltungen, Theateraufführungen, Konzerten, Ausstellungen, Filmen etc., die in viel direkteren Kontakt mit den Rezipienten treten und von ihnen eine größere konstruktive und kreative Eigenleistung erfordern. Insofern, wie Alison Lewis betont, „bieten Gedenk[jahre] nicht nur zeitgegebene Anlässe, die Gegenwärtigkeit eines literarischen Klassikers erneut zu behaupten, sondern sie können [...] zuweilen auch Wendepunkte herbeiführen, bei denen sich die aktuellen Bedürfnisse der jewei36 ligen Gesellschaft in besonderer Schärfe herauskristallisieren.“ Die KleistEhrung im Jahre 1977 ist dafür ein Musterbeispiel. Sie beinhalten somit die entscheidende Qualität, Katalysatoren politischer Entwicklung und Selbstverfügung zu sein. Das liegt nach Jan Assmann auch in deren Anspruch, „eine Wahrheit
34 Gemeint ist Jan und Aleida Assmanns Theorie von Erinnern und Gedächtnis. Aus gesellschaftlicher Perspektive, in der diese Narrative ihren Ausdruck finden, sprechen sie in diesem Falle von einem Verankern im kollektiven Gedächtnis, respektive unterscheiden weiter zwischen kommunikativem, also Alltagsgedächtnis, und kulturellem, dem vermittelten Gedächtnis. Während Alltagsgedächtnis direkt von Person zu Person, unstrukturiert und ohne große Hierarchie stattfindet, ist das kulturelle Gedächtnis medial und institutionell vermittelt und interpretiert. (Vgl. Zimmering, Mythen in der Politik der DDR, 2000, S. 25f.) Beide Erinnerungsformen sind stets ineinander verschränkt, jedoch lassen sich für hierarchische Gesellschaften bestimmte Eigenschaften des kulturellen Gedächtnisses feststellen, die Jan Assmann Selegieren, Kanonisieren und Monumentalisieren nennt, welche nach dem Prinzip agieren, „dass nichts geändert werden darf. Nichts darf weggenommen, nichts hinzugefügt werden. Dies nennt er hierarchische Stillstellung und diese ist mit Blick auf die Erbe-Politik in der DDR eindeutig zu beobachten. Assmann, Stein und Zeit (1988), S. 94. 35 Bruch, Jubilare und Jubiläen in Kunst und Wissenschaft des 19. und frühen 20. Jahrhunderts (2005), S. 174. 36 Lewis, Häretische Kleist-Bilder und ihre Bedeutung im literarischen Feld um das Kleist-Gedenkjahr 1977 (2012), S. 303.
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höherer Ordnung [zu beinhalten], die nicht einfach nur stimmt, sondern darüber 37 hinaus auch noch normative Ansprüche stellt und formative Kraft besitzt.“ Geschichte wird somit in Geschichten umgewandelt, die an bestimmte tatsächliche oder erfundene historische Ereignisse oder Personen erinnern, um Sinn und Wert 38 in der Gegenwart zu bestimmen. Auf das Erbe und die Ehrungen übertragen, soll die selektive kulturelle Vergangenheit den gesellschaftlichen und nationalen Entwicklungs- und Identifikationsprozess begünstigen, was ganz im Sinne von Namowicz’ ideologischer Option steht. Wenn durch diese Ehrungen ein WirGefühl in der Bevölkerung vermittelt werden kann, dann ist damit per se bewiesen, dass es so etwas wie eine DDR-Kultur gibt. Zu den größten Feierlichkeiten gehörten das Goethe-Jahr 1949, das Bach-Jahr 1950, 1952 Beethoven, 1955 39 Schiller sowie das umstrittene Luther-Jubiläum 1983. Wie überaus prägnant die Verschränkung jener Ehrungen mit dem nationalen Selbstverständnis der DDR war, zeigten die Feierlichkeiten zu Goethes 200. Geburtstag am 28. August 1949 in Weimar, die gleichsam zum Grundmodell aller Ehrungen avanciert sind: Diese sorgfältig positionierte Überkreuzung markierte innen- wie außenpolitisch das ideologische Erbe-Verständnis und die Grundpositionen der SED-Kulturpolitik anhand einer modifizierten Klassik, um das klassisch-humanistische Erbe für die Arbeiter- und Bauernnation neu zu interpretie40 ren. Damit sollte untermauert werden, dass man sich im besseren Deutschland 41 befände. Dieses Modell muss somit mitgedacht werden, wenn man die verschiedenen Kleist-Ehrungen in den 60er und 70er Jahren betrachtet.
37 Assmann, Das kulturelle Gedächtnis (1997), S. 76. 38 S. hierzu auch Münkler, Der Antifaschismus als Gründungsmythos der DDR (2004). 39 Emmerich, Kleine Literaturgeschichte (2007), S. 85. 40 Vgl. Stuber, Spielräume und Grenzen (2000), S. 42. 41 Petra Stuber führt dazu aus: „Dieser Anspruch war es zuallererst, der sich in den Grundsatzreden der beiden späteren Kulturminister Johannes R. Becher und Alexander Abusch zu den Goethe-Festtagen manifestierte: In Weimar und in der (noch) sowjetisch besetzten Zone erwerbe man nun den richtigen, wahren und von allen Fehlurteilen gereinigten Goethe [...] – es war, als habe die Gründung der DDR an Goethes 200. Geburtstag stattgefunden. (Stuber, Spielräume und Grenzen (2000), S. 42.) In Petra Webers Worten setzte die SED somit „[d]em im Grundgesetz verankerten politischen Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik Deutschland [...] einen kulturellen Alleinvertretungsanspruch entgegen, mit dem sie ihr Legitimationsdefizit [...] zu kompensieren versuchte.“ S. Weber, Umstrittenes kulturelles Erbe und deutsche Kulturnation (2008), S. 38.
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Dieser Anspruch blieb nicht ohne Folgen, vor allem für das Theater: Heftige 42 Kritik erntete das Deutsche Theater, wo Heinar Kipphardts Stück Shakespeare dringend gesucht, das zudem kurz nach dem 17. Juni 1953 uraufgeführt wurde, den Druck auf die Kulturschaffenden, positive, klassische Helden zu kreieren, 43 persiflierte. Harald Gerlach, der als Dramatiker und Dramaturg in den 1970er Jahren am Theater Erfurt wirkte, teilte seine persönlichen Erfahrungen mit dem Klassik-Konzept auf dem Theater der DDR zwischen 1972 und 1989, die von 44 ähnlichen Problemen gekennzeichnet waren. Für Gerlach stellte die KlassikRezeption der DDR eine Legitimation dar, eine plebejische und reibungslose Schnittmenge zwischen Arbeiter-Ästhetik und den Leitfiguren der Weimarer 45 Klassik zu formen. Gleichzeitig stellt er aber auch fest, dass es fast nirgendwo auf den DDR-Bühnen praktisch wirkmächtig wurde. Man schrieb es in die Inszenierungskonzeptionen hinein, um sich abzusichern, machte dann aber auf der Bühne, was man wollte. Zudem löste die Goethe-Übermacht auch sukzessive eine Gegenbewegung aus, in dem Sinne, dass Gerlach selbst und viele seiner Kollegen sich in den 70er Jahren vom überstilisierten Goethe abwandten und Autoren der Romantik und des Vormärzes zuwandten, auch weil jene ein gewisses 46 Antiestablishment repräsentierten.
42 Fortfolgend DT. 43 Brockmann, The Writer’s State (2015), S. 184. 44 Gerlach, Erfahrungen mit dem Klassik-Konzept (2001). 45 Ebd., S. 158. 46 Dies gab auch Anlass zum Spott, wie in einem Beispiel von Gerlach selbst: In seinem Stück Die Straße (1977) sieht man den schlesischen Dichter Johann Christian Günther auf der Bühne stehen und – nach der Ausweisung Wolf Biermanns – sich fragend, was einen Dichter dazu veranlassen könnte, das eigene Land zu verlassen. In der Folgeszene, genannt DIE FACHWELT, wird Günther dafür von Gottsched, Scharff und Scheibel heftig kritisiert, als auf einmal Goethe die Bühne betritt: „GOTTSCHED: Tatsächlich, er ist es. Goethe tritt auf. SCHARFF: Gestatten Herr Hofrat die Bemerkung, aber Sie sind noch nicht geboren. GOETHE: Na und? Die deutsche Literatur benötigt mein Urteil, und also erscheine ich.“ Nachdem Goethe sein Urteil verkündigt hat, beginnen im Hintergrund riesige Drucker zu arbeiten, um seine Fachmeinung vervielfältigen zu können. Jene Kritik kam nicht gut an. Die Premiere wurde aufgrund von „technischen Problemen“ zunächst abgesagt, das Stück aber wegen Protesten aus der Bevölkerung schließlich doch aufgeführt. Der Stasi-Bericht von IM „Karl“ hält fest: „Keine Perspektive, kein Ziel. Die Welt der Macht besteht aus dummen Staatsfunktionären […], die nichts von Kunst verstehen, […] aus Vertretern der Intelligenz, die sich anpassen, um Geheimrat zu werden. […] Ziele zeigt ‚Die Straße‘ nicht. Sie
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Wenn Kleists Werke performativ durch eine Überaffirmation klassischer Stilmittel an der Zerstörung der Ästhetik der Weimarer Klassik arbeiten, weil sie mit den Mitteln der Klassik zeigen, dass die erhabene, in sich ruhende klassische 47 Person unmöglich ist, so ist der dialektische Kleist der DDR ein ästhetisches Mittel gegen die Ulbricht-Klassik der Aufbaujahre. Die dialektische Ästhetik, die zunächst von Autoren wie Bertolt Brecht, Anna Seghers, dem Germanisten Hans Mayer und als Kulturbegriff vom Philosophen Ernst Bloch vertreten wurde, kann als Gegenentwurf zu den Großformen der ideologischen Ästhetik verstanden werden. Als eine Art Negativ-Ästhetik fokussiert sie sich auf das Krisenhafte, Problemhafte und Selbstreferenzielle als Analysemedium für eine konstruktive Gegenwartskritik, die ebenso dem gesellschaftlichen Fortschritt dienen sollte. Ein Beispiel für letztere bringt Dietmar Voss anhand von Bertolt Brechts Lied von der Unzulänglichkeit: „Der Mensch ist gar nicht gut / Drum hau ihm auf den Hut. / Hast du ihn auf den Hut gehaut / Dann wird er vielleicht gut.“ Brecht verpackt mit dem grotesk-frivolen, bänkelsängerischen Ton ein durchaus ernstes geschichtsphilosophisches Programm: den Menschen – in schlechter, kapitalistischer Gegenwart – besser zu machen: Dazu reichen aber guter Wille, gute Absichten und Pläne keineswegs aus: [...] Damit der Mensch die Gesellschaft und sich selbst besser machen kann, muss er zunächst einmal vorübergehend härter, skrupelloser, „böser“ werden. Erst wenn er zunächst einmal klüger und „böser“ wird, ist er befähigt, an einer besseren Zukunft zu arbeiten. Das ist dialektische Revolutions- bzw. Geschichtsphilosophie [...].48
Diesen Streit gab es bereits zwischen den verschiedenen Exilanten, und er wurde von ihnen auch in den Anfangsjahren der DDR geführt, namhaft vor allem die 49 Auseinandersetzungen zwischen Anna Seghers und Brecht, mit dem Ideologen
führt an ‚keinen Ort, nirgends.‘“ Man sieht, dass Christa Wolfs Titel im Jahr der Erscheinung bereits in aller Munde, vor allem aber, wie vorherrschend das DDRKlassik-Konzept auch in den 70er Jahren noch war, als die Kulturszene sich schon weit von den 50er Jahren entfernt hatte. S. ebd., S. 161f. 47 Vgl. Gratzke, Bertolt Brecht und Heiner Müller lesen Kleists Prinz Friedrich von Homburg (2011), S. 457. 48 Voss, Von deutscher Faszination des Bösen und des Schmerzes (2016), S. 372. 49 Anna Seghers‘ Erzählungen Das Licht auf dem Galgen und Die Hochzeit von Haiti haben beide Kleists Die Verlobung von St. Domingo zum Vorbild. Entgegen Brechts
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Lukács. Konfliktpunkt bei diesem Streit moderner Kunstvorstellungen ist hierbei vor allem Lukács’ Verschmelzung von „klassischer“ Ästhetik mit der realistischen Schreibweise des späten 19. Jahrhunderts, seiner beiden bevorzugten Epochen, zu einem normativen Ästhetikbegriff für DDR, die Hans Mayer später wie folgt zuspitzte: „Man trug Klassizismus und nannte ihn sozialistischen Realis50 mus.“ Zudem ist Lukács’ Argumentation, trotz teils brillanter Analysen, voller 51 Lücken und stark nach subjektiven Vorlieben gefärbt. Von Seghers erntete er dafür heftige Kritik: Der Briefwechsel mit Lukács, der im Exil entstand, gibt Auskunft über Seghers’ Verständnis eines ihrer Zeit und ihrer Erfahrung angemessenen „Realismus“: als „Richtung auf die der jeweiligen Zeit erreichbare höchstmögliche Realität.“ Seghers erteilte somit der normativen, an literaturtheoretischen Konstrukten wie Wiederspiegelung, Totalität, positiver Held, am Vorbildcharakter der realistischen Literatur des 19. Jahrhunderts orientierten Realismus-Definition Lukács’ eine Absage. Außer Frage stand für sie, in und mit der Kunst Partei zu ergreifen: in dem Sinn, dass eine „starke, vielfältige antifaschistische Kunst, an der alle teilhaben, die als Antifaschisten und Schriftsteller dazu qualifiziert sind“, nicht eingeschränkt oder be52 hindert werden dürfe durch einen Streit über die literarische Methode. In der Auseinandersetzung Seghers-Lukács in einem Briefwechsel 1939 ging es auch um Kleist, denn Kleist wurde als einer der Autoren angeführt, die für Seghers eine wichtige Schnittstelle bedeuteten, weil sie in ihm eine „dialektisch notwendige Durchgangsstufe“ zum Realismus und zur Moderne erkannte, die beispielhaft für den Aufbau eines sozialistischen Realismus sein könnte, während 53 Lukács in ihm und den Romantikern nur Dekadenz und Verfall sah. Für Seghers ließ sich aus diesen Autoren des Übergangs mehr ableiten für einen Aufbau als aus den klassizistischen Pan-Ästheten wie Goethe und Schiller, da sich zeigte, dass die Wirklichkeit in gewissen Krisenzeiten eine „Art von Schockwir-
Schmäh-Sonett Prinz von Homburg hielt Heiner Müller Kleists Stück für einen wesentlichen Einfluss auf Brechts Dramen, s. 3.6. 50 Groschopp, Der ganze Mensch (2013), S. 30. 51 So wird in Probleme des Realismus/Der historische Roman (1937/1953), spitz formuliert, alles verteufelt, was nicht von Balzac, Dostojewski und Walter Scott geschrieben wurden – obwohl er selbst einräumt, dass ihm die Romane von letzterem gar nicht gefielen, sie jedoch das große Vorbild realistischer Schreibweise wären – und historisierende Texte wie etwa Fontanes Schach von Wuthenow ignoriert, weil sie ihm nicht in die Argumentation passten. 52 Hilziger, Nachwort Das Siebte Kreuz (2013, S. 414.) 53 Nusche, Das Lesen der Andren (2015), S. 95.
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kung“ auf den Künstler ausüben könnte, was auch bereits aus ihrer Rede auf dem 1. Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur 1935 in Paris deutlich wurde: Bedenkt man die erstaunliche Reihe der jungen, nach wenigen übermäßigen Anstrengungen ausgeschiedenen deutschen Schriftsteller. Keine Außenseiter und keine schwächlichen Klügler gehören in diese Reihe, sondern die Besten: Hölderlin, gestorben im Wahnsinn, Georg Büchner, gestorben durch Gehirnkrankheit im Exil, Karoline Günderode, gestorben durch Selbstmord, Kleist durch Selbstmord, Lenz und Bürger im Wahnsinn.55
Für Seghers sind solche Krisenzeiten gekennzeichnet „durch jähe Stilbrüche, durch Experimente, durch sonderbare Mischformen“, die nicht als „Leerläufe“, sondern als „Anfang zu etwas Neuem“ zu werten seien, was sie somit deutlich lehrreicher für eine Anfangsphase mache, in der sich die DDR ja gerade befände, und zudem eine deutliche heterogenere Definition von realistischem Schreiben zuließe, die auch auf die Widersprüche der Zeit reagieren könne, ohne die 56 Tatsachen nur zu spiegeln. Dies wird Christa Wolf in den 70er Jahren aufgreifen, wenn sie selbst eine solche ‚Übergangskrise’ empfindet. Wie Brockmann ausführt, waren in der Realismus-Diskussion viele Intellektuelle, trotz ihres sozialistischen Bekenntnisses, skeptisch gegenüber der Anwendbarkeit des von Lukács et al. adaptierten Schdanow’schen Realismus auf die Nachkriegssituation der deutschen Kultur und Literatur: They had particular problems with the Soviet emphasis on positivity and heroism rather than negativity and human imperfection, they disliked Soviet prudishness, and they wanted more liberal, tolerant attitude toward literary production in general, one that would make room for different approaches […].57
Was bei Seghers bereits anklingt ist somit primär ein Problem sowjetischen Kulturoktrois, der für die deutsche Kultur als unpassend empfunden wurde. Die kritische Aneignung wird also auch eine Bewegung weg von Sowjet-Ästhetik, und auch hier schien es nur eine Frage der Zeit, bis eine neue Generation von Autoren die Realismus-Doktrin hinterfragen würde.
54 „Der Briefwechsel Anna Seghers – Georg Lukács“, in: Lukács, Werke, Bd. 4 (1971), S. 348, zitiert nach: Honnef, Kleist in der DDR (1988), S. 41. 55 Nusche, Das Lesen der Andren (2015), S. 95. 56 Zitate aus: Honnef, Kleist in der DDR (1988), S. 41. 57 Brockmann, The Writer’s State (2015), S. 58.
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Seghers wurde auch eine zentrale Figur, die sich gegen den Formalismus und für mehr formalen Spielraum und auch das Recht auf künstlerisches Scheitern einsetzte, ohne gleich staatlich verurteilt zu werden. Ohne solche Freiheiten 58 würden Schriftsteller einfach verstocken und nichts mehr leisten können. In den 50er Jahren war dies aber politisch nicht mehrheitsfähig und die Differenzierung hätte als Uneinheitlichkeit interpretiert werden können, was es zu verhindern galt. So wurde im Gegenteil, wie Stuber es formuliert, „[f]rühere Utopie [...] als verwirklichbar [erklärt], aufklärerische Ideen und klassische Ästhetik 59 wurden wie eine Gestaltungsanleitung für die Realität gelesen.“ Dieser Streit um Kleist ist für die zwei marxistisch-ästhetischen Betrachtungsweisen exemplarisch. Er wird kulturpolitisch dabei zunächst zum Opfer der ideologischen Option, die im Sinne von Goethes Gesundem und Krankem ihn zum reaktionären und psychisch kranken preußischem Junker macht. Im Rahmen der Emanzipationsbewegung von Kulturschaffenden ab den 60er Jahren wird man sich mehr und mehr mit der anderen, als authentisch dialektisch empfundenen sozialistischen Schule identifizieren – dies auch durchaus als gelebter Generationskonflikt. Kleist, inklusive seiner ideologischen Darstellung, wurde damit auch zu einer wichtigen Kampf- und beinahe pathologischen Leitfigur einer Gegenästhetik. Dies war zuvorderst auch dadurch möglich, dass die ideologische KleistRezeption einerseits völlig unschlüssig argumentiert war, andererseits aber auch, weil es stets auch ein Gegenbild dazu gab. Namowicz stellt sich an dieser Stelle 60 gegen die einfache Linie von Dirk Grathoff und Theo Honnef (1988), die das offizielle Kleist-Bild aus Lukács’ Thesen ableiten, und betont für die 50er Jahre 61 ein „disparate[s] Kleist-Bild“, in dem die ideologische und die pragmatisch/dialektische Seite sich in stetiger Konfrontation befinden. Der Haken allerdings sowohl bei Mehring als auch bei Lukács war von Beginn an, dass zwei etablierte marxistische Literaturwissenschaftler rhetorisch anschaulich, aber argumentativ äußerst fragwürdig und stark subjektiv gefärbt sich gegen Kleist ausgesprochen hatten. Franz Mehring, Autor der epochemachenden Lessing-
58 Ebd., S. 123. 59 Stuber, Das Klassik-Syndrom (2001), S. 139. 60 Dirk Grathoff: Materialistische Kleist-Interpretation. Ihre Vorgeschichte und ihre Entwicklungen bis 1945, in: Kanzog: Quellen und Aufsätze zur Rezeptionsgeschichte der Werke Heinrich von Kleist (1979), S. 119. 61 Namowicz, Kleist in der DDR (1995), S. 156.
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Legende, kann Kleist nur pathologische Klassen-Züge unterstellen, was Inge von Wangenheim später als „Wurmfortsatz der Lessing-Legende“ verspotten wird. Georg Lukács, auf Mehring aufbauend, schreibt in Die Tragödie Kleists in Internationale Literatur (Moskau 1937), dass „[d]ie objektive Macht dieser Wirklichkeit (Niederlage Jena-Auerstedt, SE) [...] nicht eindeutig und stark genug [war], um die reaktionäre Borniertheit, um den dekadenten Individualismus Kleists in eine objektive Gesamtgestaltung der Wirklichkeit umzuwandeln. Sei63 ne Meisterwerke sind deshalb auch in seinem Lebenswerk nur Einzelfälle.“ Wie bereits angesprochen, kann man diese Ausführungen als politischästhetische Kampfschriften gegen das Nazi-Regime, das Kleist für eigene völkisch-nationalistische Zwecke instrumentalisiert hatte, und für eine klar formulierte Kulturperspektive aus ihrer Zeit heraus verstehen. Als politische Direktiven sind sie jedoch nicht nachhaltig und bergen zudem mit ihren Urteilen bereits ein langfristiges Dilemma für die DDR-Kultur: Beide verdammen den Autor Kleist, und loben gleichzeitig ausgewählte Werke als die größten überhaupt, mit der fadenscheinigen und beinahe poststrukturalistischen Begründung, dass Kleist nicht wusste, was er tat. Diese Diskrepanz blieb Jahrzehnte bestehen und bereitete gleichzeitig den fruchtbaren Boden für die verschiedenen Argumentationslager. Dass Lukács sich zudem auf Goethes negative Äußerungen zu Penthesilea und Kleists pathologischer Veranlagung berief, wurde langfristig auch eher als
62 In Die Neue Zeit schreibt er am 17. Nov. 1911, in klarer Ablehnung der Verehrung durch die Autoren der Moderne zum 100. Todestag: „Und während in den Kreisen dieser Reformer der Gedanke zu rumoren begann, den unfähigen König zu entthronen, sang Kleist in seinem ‚Prinzen von Homburg‘ das hohe Lied der Subordination unter den königlichen Willen. Kleist hat in seinem Drama das halb Unmögliche möglich gemacht, er hat das Altpreußentum in seiner Mischung von Brutalität und Stupidität in die Sphäre der Kunst zu heben gewusst, und bis auf die nachtwandlerischen Neigungen des Helden, der doch nicht so leicht, wie Hebbel meinte, aus dem Organismus des Dramas zu lösen ist, ist der ‚Prinz von Homburg‘ reich an künstlerischen Qualitäten; [...] Ihm war auf Erden nicht zu helfen, weil der geniale Dichter, der die höchsten Flüge wagen durfte, sich niemals dauernd über die niederen Regionen des altpreußischen Junkertums zu erheben vermochte.“ Sembdner, Kleists Nachruhm (1996), S. 315. 63 Für Lukács ist Kleist „[s]einer ‚Klassenpsychologie‘ nach ein bornierter preußischer Junker. Seinen dichterischen Absichten nach ein gewaltiger Vorläufer der meisten dekadenten Strömungen der späteren bürgerlichen Literatur. In den wenigen Fällen, wo die Wirklichkeit gegen seine Absichten einen ‚Sieg des Realismus‘ herbeigeführt hat, einer der bedeutendsten Realisten der ganzen deutschen Literatur. Ebd., S. 434.
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Provokation gesehen, als dass es argumentativ haltbar gewesen wäre. Kurt Weigand kommentierte 1980: Lukács hat bei seinen Darstellungen von Balzac und Dostojewski [...] betont, es käme bei einem Dichter nicht auf die Antworten an, die er gibt, sondern auf die Fragen, d[ie] er aufwirft. So konnte sein Lieblings-Realist Balzac ein katholischer Royalist sein, Tolstoi und Dostojewski konnten sich, unbeschadet ihrer ‚Bedeutung‘, in religiöse Visionen verlieren. Doch bei dem Dichter des Michael Kohlhaas setzt er seine Methode beiseite. Er traktiert ihn [...] wie einen noch leibhaften Expressionisten. [...] Das Lukács Syndrom Dekadenz, Romantik, Formalismus ist hergestellt. [...] Warum sich ausgerechnet im Werk des Aristokraten Kleist der Durchbruch der Subversion vollzieht, darauf ist bis dato die marxistische Ästhetik die Antwort schuldig geblieben.64
Jener „Durchbruch der Subversion“, also der dialektischen Ästhetik, baute aber teils gerade auf den Leerstellen von Mehring/Lukács auf und würde bis zum Ende der DDR an Gültigkeit nie ganz verlieren, nämlich, dass die Opposition gegen das Kleist-Bild von Mehring und Lukács, die Herrnstadts pragmatischer Standpunkt auslöste, Freiräume schuf, in denen in der Folgezeit eine weniger dogmatische Beschäftigung mit der Person Kleists möglich wurde. Diese Freiräume suchten Kritiker, Theaterleute usw. zu nutzen, sie mussten dabei jedoch immer äußerst behutsam vorgehen. Nach außen hin wurde die Ideologie immer noch großgeschrieben [...].65
Dies ist auch gemeint, wenn Emmerich, von einer Emanzipationsbewegung der Literatur über vier Jahrzehnte spricht, „ die [...] sich auch der angestammten Haltung des Verdrängens und Verschweigens wie aus dem didaktischen Gestus der ersten fünfzehn Jahre [...] löst und [...] Haltungen des erkennenden Experimentierens, zum ästhetischen Text als Differenz zur Wirklichkeit, nicht als deren 66 planes Abbild [...] findet.“ Anders formuliert, ist die Kulturszene der DDR von 1949 an geprägt vom Spannungsfeld der „manchmal offenen und häufiger verdeckten Auseinandersetzung zwischen einem [...] utopisch-schöpferischen Konzept von Sozialismus“, der dialektischen Option, „und einer mehr oder minder rigiden Parteilinie, der ein durch und durch instrumentelles Sozialismusver67 ständnis zugrunde lag“, der ideologischen Option. Während letztere Auffas-
64 Weigand, Kleist oder die falsche Basis (1980), S. 95/103. 65 Ebd., S. 158. 66 Emmerich, Kleine Literaturgeschichte (2007), S. 21. 67 Ebd., S. 115.
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sung bis 1970 die Oberhand innehat, eroberten sich die Kulturschaffenden in Wogen die erstere Stück für Stück zurück.
Kleist war eine zentrale Kommunikations- und Identifikationsfigur für Autoren und Theaterschaffende der dialektisch-modernen Ästhetik und wurde somit immer wieder zum Streitpunkt, da er mit Ausnahme weniger Werke von der ideologischen Seite zwar als „dekadenter und reaktionärer Junker“ abgelehnt wurde, teils aber für Zwecke nationalistischer Propaganda in den 50er Jahren versucht wurde, aus ihm einen „realistischen Klassiker“ zu machen. Gleichzeitig zeigen viele der Beispiele, wie die Theater Kleists Stücke beinahe werkimmanent sogar innerhalb des DDR-Realismus fruchtbar machen konnten, weil man sich mit dem Stück selbst und nicht nur mit seiner Rezeptionsgeschichte auseinandergesetzt hatte. (Kapitel 1) Zur Identifikationsfigur entwickelte er sich dabei ab den 70er Jahren vorrangig bei Autoren und Theaterschaffenden der sogenannten Zwischengeneration, um 1930 Geborene, die Wolfgang Emmerich Reformsozialisten und Dennis Tate 68 Aufbau-Generation nennt und die in Nachfolge ihrer Lehrmeister Seghers, Brecht, Mayer und Bloch namhafte Vertreter wie Heiner Müller, Christa Wolf, Günter Kunert, Fritz Bennewitz und Adolf Dresen sowie die etwas jüngeren Karl-Georg Kayser, Klaus Schlesinger, Christoph Hein und den etwas älteren Stefan Heym versammelte. Diese Kulturschaffenden vollzogen ab den 60er Jahren eine Emanzipationsbewegung gegen die ideologische Ästhetik und Kulturpolitik und würden ab den 70er Jahren die dialektische Ästhetik nach und nach durchsetzen. Kleist spielte dabei stets eine zentrale Rolle. Denn, vorbereitet durch verschiedene Literaturwissenschaftler, die ihn im Rahmen der Feierlichkeiten zum 150. Todestag 1961 sukzessive als Rousseau-Schüler (Streller 1962), als verspäteten Jakobiner (Mayer 1962) und als Dichter zwischen den Zeiten (Fischer 1961) ins klassische Erbe rehabilitiert hatten, konnte in den 1970er Jahren eine vorrangig ästhetische und geistige Beschäftigung verstärkt einsetzen. Wie am Beispiel von Dresens gefesseltem Lorbeer eingangs gezeigt, wurde Kleist für diese Kulturschaffenden zum einen zum emblematischen Autor der Krise und des Utopieverlusts, an dem sie ihre erschütterte Selbstverortung als engagierte sozialistische Künstler durchspielen und verarbeiten konnten. Kleist – und dabei vor allem der Kleist, der den Dichtern der Moderne nahestand – repräsentierte
68 Tate, Shifting Perspectives (2013), S. 95.
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für sie einen romantisch-modern leidenden Künstlertypus und stand für „Ord69 nungen, die zweifelhaft werden“, und darin fanden viele ihre eigene Situation in der DDR wieder. In diesem Kontext diente Kleist auch als Vorbild für einen Autor, der Stoffe aus der antiken Mythologie bearbeitet hatte. Dass Kleist damit in gewisser Weise wieder aus dem Kanon herausgenommen wurde, indem ihn Autoren nun wieder zum Außenseiter und Unangepassten machen und seine prekäre Biographie in ihrem Vorbildcharakter für das Scheitern des Künstlers an den Widerständen der Zeit aufgreifen, ist dabei das Überraschende an dieser Entwicklung. Anhand des gefesselten Lorbeers konnte man aber auch sehen, dass diese Künstlerkrise produktiv externalisiert und instrumentalisiert wurde, um in Form einer dialektischen Gesellschaftskritik auf die Missstände der DDR-Kulturpolitik und die damit einhergehende Gefährdung des sozialistischen Projekts hinzuweisen. Dabei bot es sich an, dass bei Kleist für die DDR verschiedene Reizthemen in Form von Preußen, Feudalismus, Nationalismus, Faschismus und Militarismus mitschwingen und Kleist kulturell auch als Mittel fungierte, um diese Themen aufgreifen zu wollen, was sie wiederum in die Tradition einer geschichts70 philosophisch inspirierten Literatur der Moderne stellt. Kleist ist zudem auch repräsentativ für eine seit den 60er Jahren stattfindende thematische Verschiebung von sozialistischen Vorbildcharakteren in Richtung subjektiver Perspektiven und Figurenkonflikte. Letzteres wird erneut beim gefesselten Lorbeer deutlich: statt der Überbetonung des Patrioten und Freiheitskämpfers Kleist in der Aufbauphase der Nationalkultur, war in den 70er Jahren wichtig, wie die inneren Konflikte der Figuren sich auf ihre Handlungen auswirken und wie die beiden ausufernden Welten des Individuums und des Staats/der Gesellschaft überhaupt verein- und verhandelbar sind. (Kapitel 2) Ab Mitte der 80er Jahre wurde sowohl im Zuge des zugespitzten Kalten Krieges als auch mit den Hoffnungen, die in die Perestroika-Politik Michail Gorbatschows gesetzt wurden, schließlich das utopische Potential Kleists aus der Utopiekrise der 70er Jahre weiterentwickelt, wobei Kleist als Autor des Bloch’schen Prinzips Hoffnung fungierte. (Kapitel 3) Dass Kleist in all diesen Kontexten funktionierte und herangezogen wurde, macht ihn zur idealen Analysekategorie, um zentrale Bewegungen innerhalb der Kultur der DDR zu verstehen. Schlussendlich können mit Kleist aber auch sowohl kanonische als auch weniger bekannte Texte und Autoren gegengelesen und im Kontext der Kleist-Rezeption ihnen neue Lesarten abgewonnen werden.
69 Janz, Auf den Spuren Kleists (2013), S. 159. 70 Voss, Von deutscher Faszination des Bösen und des Schmerzes (2016).
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Diese Studie will zugleich aber auch darüber nachdenken, was die Rezeption Kleists in der DDR über Kleist als empirischen Autor und über die Bedeutung von Rezeptions- und Wirkungsgeschichte eines Autors und dessen Werks als Paratext für kontextgebundene Lesarten aussagt. In einem kulturpolitischen Gutachten, dass Rudolf Dau für das Zentralkomitee in Vorbereitung der Ehrung 1977 anfertigte, stellte er fest, dass Kleists „konfliktreiche Wirkungsgeschichte [...] keineswegs zufällig [ist], sie ergibt sich aus den ungelösten Widersprüchen und unbewältigten Krisenmomenten in Kleists Werk, was besonders eindrück71 lich die epochale Umbruchsperiode spiegelt“. Kleist wird auch von den meisten in dieser Arbeit behandelten Autoren und Theaterschaffenden als ein Autor 72 der „Sattelzeit“ im Sinne Reinhart Kosellecks , als „Kippfigur“, als Ausdruck einer Zwischenzeit, in der weder Tragödie noch Komödie funktionierte, in der Kleist auch gattungstechnisch zwischen den Stühlen stand und beides verband. In dieser Eigenschaft galt Kleist sowohl als Vorbild für Aufbau als auch für die Entfremdung des Künstlers im Frühkapitalismus und als „offene Wunde“ Symbol für ein fragmentiertes Künstlerleben in der fragmentiert empfundenen Gegenwart. (Kapitel 2) Die „konfliktreiche Wirkungsgeschichte“ ist aber auch in der vielzitierten Offenheit von Biographie und Werk Kleists zu suchen. Das Skandalon seines kurzen Lebens, das im Selbstmord endete, und wenig und oft widersprüchliches biographisches Material schuf stets eine Ausgangslage, die viel Raum für Interpretationsspiele ließ. Peter Goldammer thematisierte dies in der Einleitung zu seiner 1976 veröffentlichten Anthologie Schriftsteller über Kleist wie folgt: Denn im Unterschied zur Wirkungsgeschichte Goethes und Schillers, ja selbst Heines, die von der Literaturgeschichtsschreibung mehr oder weniger vorgeprägt ist oder mit ihr parallel verläuft, gibt es für die Kleist-Rezeption, lässt man die reaktionäre Variante einmal beiseite, so gut wie keine Normen und Verbindlichkeiten. Das macht die Wirkungsgeschichte zwar außerordentlich diffus und widerspruchsvoll, in ihrem Facettenreichtum aber gleichzeitig auch so ungemein interessant und produktiv.73
Dieser Facettenreichtum ist einerseits ein Grund, warum sich die Staatsführung derart schwer mit Kleist tat, da man ihn nicht ohne Weiteres ideologisch instrumentalisieren konnte und gleichzeitig ein Grund, der bei den Kulturschaffenden
71 BArch DR1/23808, pag. 192-207. 72 Koselleck, Das 18. Jahrhundert als Beginn der Neuzeit (1987). 73 Goldammer, Schriftsteller über Kleist (1976), S. 14.
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die Fantasie anregte und Kleist zu einer universellen Chiffre dialektischer Ästhetik werden ließ, da sie in ihm einen Archetyp für die marxistische Kunst sahen, den sie der ideologischen Kulturauffassung vorhielten. Aber auch die ideologische Literaturwissenschaft kam bei Kleist stets wieder an ihre Grenzen, wofür Kurt Weigand 1980 Gründe suchte: Weshalb hat sich die marxistische Literaturwissenschaft immer wieder in einen Streit um Kleist verwickelt, so dass jeder Darstellung immer wieder eine Gegendarstellung alsbald folgt? [...] 1) Es kann an Kleist selbst liegen, der schon stilgeschichtlich ein literarischer Bastard zwischen Aufklärung und Romantik zu sein scheint. Er wirkt in unserer Klassik sozusagen wie ein Geisterfahrer, der mit dem Omnibus Goethe frontal zusammenstößt. 2) Das Phänomen Kleist kann die bisher befolgte marxistische Literaturtheorie an ihrer Grenze zeigen. Sie vermag von ihren Voraussetzungen aus entweder einen Widerspruch nicht fassen oder weigert sich, ihn herauszuarbeiten.74
Damit hat Weigand den wichtigen Punkt angesprochen, dass die ideologische Kulturfraktion in Politik und Wissenschaft zwar stets behauptete, dialektisch vorzugehen, es aber selten tat, womit sie in Konflikt mit der dialektischen Kulturfraktion kam, die diesen Anspruch umzusetzen versuchte und dagegen aufbegehrte, dass ihnen etwas untersagt wurde, was eigentlich ihr kulturell75 gesellschaftlicher Auftrag im Sozialismus war. Schließlich waren aber auch die Figuren- und Gesellschaftskonflikte innerhalb Kleists Werken für die Rezeption in der DDR äußerst attraktiv, vor allem in Bezug auf die künstlerische Produktion: Kleists meist binäre Gesellschaftskonstellationen, in denen die Protagonist aus dem Rahmen fallen, und ein normativ empfundenes, repressives Gesellschaftssystem, das individuelle und künstlerische Freiheit unterdrückt, gleichzeitig aber Raum für Utopien lässt, ist ein Ausgangspunkt, in dem viele DDR-Autoren und Theaterschaffende sich wiedererkennen. (Kapitel 2) In den 1980er Jahren wird im Kontext des Kalten Krieges sinnfällig, dass Kleist oft Kriegsszenarien, -anordnungen, -realitäten thematisierte, in denen es nur Pro und Kontra gibt, wo Differenzierung unmöglich ist und die Feindbilder keine Grauzonen zulassen. (Kapitel 3) Für beide Aspekte gilt, dass sie eine normative Weltsicht etablieren, die Bernhard Greiner als "schlüssige[...], sich selbst immunisierende[...] teleologi-
74 Weigand, Kleist oder die falsche Basis (1980), S. 89f. 75 Vgl. hierzu Emmerich, Kleine Literaturgeschichte (2007), S. 41ff. und Stuber, Spielräume und Grenzen (2000), S. 12.
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sche[...] Interpretationssysteme[...]" bezeichnet und welche als Souverän Gewalt ausüben, wenn sich Individuen diesen Systemen widersetzen. Innerhalb dieser normativen Systeme inszeniert Kleist aber immer wieder Momente einer Gesellschaftsutopie, die beim Überwinden dieser starren Normen Realität werden könnte. Dies ist innerhalb der DDR ein zentraler Aspekt, in dem viele Kulturschaffende ihre eigene Situation gespiegelt sehen. Den Marxismus, dem die meisten ihr Wirken verschrieben haben, empfinden sie in seiner politischideologischen Erscheinung als, wie Wolfgang Emmerich über den Gründungsmythos des Antifaschismus schreibt, „ein geschlossenes, damit per Definition ausgrenzendes Interpretations- und Bewertungssystem, das über 45 Jahre rituell 77 wiederholt wurde [...]" und das somit eine ähnliche öffentlich-normative Sphäre generierte wie Kleist sie in seinen Werken immer wieder schuf.
Als Beitrag zur Rezeptionsgeschichte Kleists ist es das Anliegen dieser Arbeit, sowohl die Beziehung zwischen Kleist und seinen diversen Rezipienten zu erforschen als auch über diese Beziehung Teile der Kulturszene der DDR besser zu verstehen. Für dieses Anliegen wurde sich für eine genauere Analyse der Rezeption Kleists in der Literatur (produktiv) und auf dem Theater (reproduzierend) entschieden, da dies zwei der wichtigen Säulen der DDR-Kultur waren und Kleist in beiden Kulturformen über die Jahrzehnte durchgängig rezipiert worden ist. Film und Fernsehen sollen nicht spezifisch thematisiert und nur tangiert werden, da die zwei Werkverfilmungen und die eine Dokumentation keinen eigenen Analysestrang rechtfertigen und zudem inhaltlich keine andersartigen 78 Erkenntnisse beitragen können. Für diese Analysen konnte auf eine Reihe von bereits vorhandener Literatur zurückgegriffen werden: Neben Wolfgang Emmerichs noch immer unersetzbarem, wenn auch methodisch überholten, Fundus seiner Kleinen Literaturge-
76 Greiner, Kleists Dramen und Erzählungen (2000), S. 69. 77 Emmerich, Kleine Literaturgeschichte (2007), S. 38. 78 Im Mai 1977 wurde die Dokumentation „Ein unbescheidenes Herz“ (Regie: Gerhardt Gröschke) ausgestrahlt, als „szenische Dokumentation auf das Jahr 1802 orientiert [...] geeignet für Schulen, Klubs, Betriebe“ (Barthel, Kleist - DDR 2015, S. 286), im Oktober 1977 der Fernsehfilm „Heinrich von Kleist“ unter der Regie von Fritz Gebhardt (Ebd., S. 287). Im März 1989 lief die Fernsehinszenierung des DT von Regisseur Fritz Bornemann im Fernsehen der DDR (Ebd., S. 470).
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schichte der DDR (2009) waren vor allem Stephen Brockmanns The Writer’s State (2015) und Petra Stubers Spielräume und Grenzen. Studien zum DDRTheater (2000) wichtige Grundlagenwerke für die literatur- und theatergeschichtliche Herangehensweise an die DDR. Die Beschäftigung mit Kleist in der DDR wiederum ist größtenteils so alt wie die Wiedervereinigung: Konkret zu Kleist in der DDR hatte Theo Honnef (1988) eine Monographie verfasst, die sich als Beobachtung zur Gegenwartsliteratur darstellte und eine Auswahl an literarischen und germanistischen Werken diskutierte, diese jedoch nur sehr knapp, werkimmanent und stets ohne zeitgeschichtlichen Kontext. Zudem macht er wie Dirk Grathoff den Fehler, die Kleist-Rezeption nur als einseitige Gegenbewegung gegen die in seiner Einschätzung zu wirkmächtige Lukács-Doktrin darzustellen. Kleinere Überblicksdarstellungen und konkrete Fallstudien fanden sich bei Dirk Grathoff (1977), Bernd Leistner (1988), Bernhard Greiner (1981), Heinrich Küntzel (1980), Hans-Christian Stillmark (1991) und Norbert Otto Eke (2009), die bis auf Letzteren als Zeitgenossen die Literatur der DDR noch als die „andere“ darstellen. Wolfgang Barthels umfangreiches Kleist – DDR. Der kleinere deutsche Beitrag zur Kleist-Rezeption. Ein Verzeichnis 1949-1990 (2015) erwies sich als von unschätzbarem Wert für die Materialbeschaffung. Größten Einfluss auf die argumentative Struktur hatte Tadeusz Namowicz’ exzellenter Aufsatz Heinrich von Kleist in der DDR. Ein preußischer Dichter und die sozialistische Literaturgesellschaft (1995), der nicht nur die kulturpolitischen Strategien Kleist betreffend in der Aufbauphase der DDR analysierte, sondern damit auch die Ausgangsbasis für das dieser Arbeit zugrundeliegende Verständnis von ideologischer und dialektischer Ästhetik schuf, das bisher für die DDRKulturszene nur angerissen und in seiner Bedeutung deutlich unterschätzt wurde. Für die Theaterstudien sind vor allem die Einzelbeiträge von Laura Bradley (2010), Harald Gerlach (2001), Kurt Weigand (1980) und William C. Reeve (1993) von großer Bedeutung gewesen. Vorrangig sollten aber die Werke und Theaterproduktionen aus der ihnen immanenten Logik entwickelt werden und aus ihnen heraus sich eine übergeordnete Struktur ergeben. Neben den Studien zu literarischen Werken, die alle sich intensiv mit Kleist, Kleist Werken oder Kleists Ästhetik auseinandersetzenden, 79 teils in Form von über reine Intertextualität hinausgehende Transkriptionen 80 erscheinenden Texte umfasst, ist vor allem die Aufarbeitung von DDR-
79 S. hierzu auch Fleig/Moser/Schneider, Schreiben nach Kleist (2014), S. 10. 80 Die Entscheidung, die wenigen kurzen Texte, die in der Arbeit nicht besprochen werden, nur zu erwähnen liegt darin begründet, dass sie meist diskutierten Aspekten nichts Neues hinzuzufügen hatten.
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Theatergeschichte ein wichtiges Anliegen dieser Studie, wobei sich größtenteils auf bisher unbearbeitetes Material aus den Beständen des Kleist-Museums in Frankfurt/Oder (KMFO), dem Archiv der Akademie der Künste Berlin (AdK) und dem Bundesarchiv (BArch) gestützt wurde. Die Auswahl aus den 128 archivarisch belegbaren Inszenierungen und Bühnenadaptionen von Kleists Werken (s. Übersicht im Anhang) soll dabei ein breites Spektrum der kulturpolitischen und ästhetischen Debatte abbilden. Zugleich geht sie produktive Synergieeffekte mit der literarischen Rezeption Kleists ein, die ein umfassenderes Verständnis von Kleist in der DDR ermöglichen und viele bisher verborgene Parallelen offenlegen, was ein Hauptanliegen dieser Studie ist. Allerdings muss hier mit Blick auf die heterogene Archivlage direkt eingeräumt werden, dass von den meisten Inszenierungen oft nur die Programmhefte und die Konzeptionen erhalten sind, was die Aussagekraft vielerorts auf eine Studie der Inszenierungsintentionen reduziert. Nichtsdestotrotz ermöglichen diese Bearbeitungen allein bereits die Analyse eines beachtlichen produktiven Rezeptionsspektrums von Kleists Werk und Biographie, welches die ästhetischen und politischen Debatten der jeweiligen Kontexte exemplarisch darzustellen vermag. Wo vorhanden, werden auch Bühnenbilder, Kostüme, Besprechungen in der Presse oder, wie im Falle von Wolfgang Engels Penthesilea (1986), Videoaufzeichnungen analysiert. Durch die zentrale Bedeutung verschiedenster Germanisten, allen voran Hans Mayer, nebst ihren Schülern für die DDR-Kleist-Rezeption ist diese Arbeit auch ein kleiner Beitrag zur Germanistikgeschichte.
Da diese Arbeit sich nicht nur mit Texten aus verschiedenen Gattungen, sondern auch mit verschiedenen textbasierten Kulturmedien auseinandersetzt, soll auch darüber reflektiert werden, in welchem Verhältnis die Texte zu verschiedenen Rezeptionskontexten stehen, und inwiefern eine konkrete Textgattung eine bestimmte gesellschaftliche Rezeption evoziert, weil in der Textanlage bereits eine soziale Struktur der Rezeption mitgegeben wird. Haben Gattungen soziale Orte? Dabei soll grundsätzlich der Logik von Werner Michlers Kulturen der Gattung (2015) gefolgt werden, wo er versucht, eine „Geschichte des Zusammenhangs sowie der Relationen zwischen [den] Einzelgattungen sowie des Zusammenspiels der in Anspruch genommenen Gattungen mit kulturellen Instanzen von
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poetologischer Relevanz“ darzustellen. In der Geschichte der DDR-KleistRezeption ist auffällig, dass – mit Ausnahme von Dora Wentschers Drama und Anspielungen in den Werken Heiner Müllers – erst in den 1970er Jahren Autoren Kleist und seine Werke als stoffliche Grundlage für ihr eigenes Schreiben produktiv verwerteten. In den ersten zwei Jahrzehnten der DDR dominiert hingegen das Theater und in Teilen das Drama. Dafür sind zum einen Gründe darin zu suchen, dass erst einmal eine in der DDR herangewachsene Generation kommen musste, um „DDR-Literatur“ zu verfassen. Die Rezeption und Aneignung auf den Bühnen der DDR hatte auch den praktischen Grund, dass Kleists Stücke bereits verfügbar waren. Hierbei stellte sich eher das Problem, dass es noch keine fertige sozialistische Theaterpraxis gab und verschiedene Konzepte, wie jene auszusehen habe, in Konkurrenz kursierten. Bei jener zweiten Generation schließlich, die eine problemorientierte (dialektische) marxistische Ästhetik verfolgten, nahm Kleist einen enormen Stellenwert ein. Für dieses Rückerkämpfen einer breiteren und spontaneren Poetik, die keinen normativen Gesetzen folgt, kann Kleist wiederum als Lehrmeister der „experimentellen Zwischenzeit“ gewonnen werden, wie Anna Seghers bereits in den 30er Jahren forderte. Die textpragmatische Frage, die man nun hier stellen muss, lautet: Welchen Einfluss hat es auf die Kleist-Rezeption, dass Autoren und Regisseure zu bestimmten Zeiten entscheiden, Kleist in einer konkreten Gattung zu verhandeln? Um dies terminologisch zu fokussieren, nutze ich in Anlehnung an Hermann Gunkels religionsgeschichtlich-textpragmatische Bibelexegese den Begriff Sitz im Leben, welcher den „lebensweltlichen Entstehungszusammenhang [bezeichnet], aus dem heraus eine G[attung] entstanden ist und innerhalb dessen sie funk82 tioniert.“ Gunkel machte deutlich, dass es bei Bibeltexten relevant ist, deren 83 Entstehungssituation und soziale Funktion mit zu betrachten, um zu erklären, warum sie es in den biblischen Kanon geschafft haben. Dies, auf die KleistRezeption in der DDR übertragen, soll klären helfen, warum bestimmte Aspekte von Kleists Biographie oder bestimmte Werke Kleists in bestimmten Kontexten relevant wurden. Bei Kleists Theaterstücken auf der Bühne scheint dies zunächst relativ klar, denn es gab die Stücke nebst einer stark unterschiedlichen Inszenierungsgeschichte bereits. Bei den Inszenierungen ist somit eher relevant, wann und warum sich Inszenierungskollektive für eine Inszenierung entscheiden, was der Sitz
81 Michler, Kulturen der Gattung (2015), S. 12. 82 Wagner, Gattung(en) (I. Alttestamentlich) (2009), S. 189. 83 Z.B. sie eigneten sich besonders gut für einen Gottesdienst.
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im Leben des Stoffes ist. Da in dieser Arbeit meist nur Inszenierungskonzepte, aber nicht deren eigentliche Aufführung nachvollzogen und bewertet werden können, muss also analysiert werden, wie sich das Verhältnis von Stoff, William Worthen spricht von archive, und antizipierten Inszenierungspraktiken, Worthen 84 spricht von repertoire, darstellt. Gattung kommt hierbei vor allem ins Spiel, wenn, wie im Falle von z.B. Michael Kohlhaas beschlossen wurde, die Novelle für die Bühne zu adaptieren. Das Drama bei seiner Aufführung ist stets nur in seinem konkreten Kontext völlig zu verstehen und dessen Sinnhaftigkeit wird von allen im Theater Partizipierenden kollektiv kreiert, weswegen das Theater mit repräsentativen Figurenkonflikten stets auch eine gesellschaftlich-politische Gegenwartsbestandsaufnahme und -kritik befördern kann. Dies erklärt, warum man dem Theater in der DDR eine solche Rolle im nationalen Identitätsaufbau beimaß. Aber auch die verschiedenen literarischen Gattungen haben einen sozialen Ort. Wenn der Neutestamentler Rudolf Bultmann in Bezug auf Gunkel meinte, dass „die literarische Gattung [... ein] soziologischer Begriff, nicht ein ästheti85 scher“ sei, und der Literatur in der DDR ein gewisser sozialpädagogischästhetischer Auftrag beigemessen wurde, so ist die Frage, inwiefern Gattung hierbei eine Rolle spielt. Die Prosa vollzieht ebenso mehr und mehr einen Wandel hin zu einem Realismusbegriff, wie ihn Anna Seghers gefordert hatte und wie ihn ihre „Schülerin“ Christa Wolf 1968 in ihrem berühmten Aufsatz Lesen und Schreiben als subjektive Authentizität formulierte. Schließlich ist für die verschiedenen Phasen der DDR noch zu überlegen, was über das Medium der Gattung kommuniziert werden sollte. Während in der Aufbauphase die sozialistische Kultur primär anhand von Leitpoetiken und Erbe-Referenztexten, im Falle Kleists dann durch die Inszenierung seiner Stücke, erprobt und entwickelt wurde, so ist die Flut subjektiv erzählter Prosatexte in den 70er Jahren die adäquatere Gattung, um die Krise der sozialistischen Kultur und die der eigenen Autorschaft anhand von Referenzobjekten wie Kleist zu thematisieren. Gattung ist also hier entscheidend für eine rückbezogene Ästhetik, welche die Gattungen der „Sattelzeit“ um 1800 und der literarischen Moderne
84 Er führt aus: “[I]t is the technologies of the repertoire that intervene, that enact the process of transmission, embodied practices such as editing, reading, memorisation, movement, gesture, acting that produce both a sense of what the text is, and what we might be capable of saying with and through it in/as performance, what we want to make it signify.” Worthen, Drama (2010), S. 68. 85 Rudolf Bultmann: Die Geschichte der synoptischen Tradition, Göttingen 1931, S. 4, zitiert nach: Michler, Kulturen der Gattung (2015), S. 21.
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imitiert, weil jene auch, wie Michler ausführt, „Perioden einer spezifischen Unsicherheit im Sozialen wie im Literarischen [sind], die wieder mit Umbrüchen in 86 Status und Organisation der Intellektuellen einhergehen.“ Es ist somit im DDR-Kontext relevant, textpragmatisch zu überlegen, warum in bestimmten Phasen der DDR bestimmte Gattungen, Kulturpraktiken und Stoffe einen Sitz im Leben haben – und im Falle Kleists, warum sich Kulturschaffende in bestimmten Situationen für einen konkreten Stoff und für eine bestimmte textuell-performative Ausgestaltung entscheiden. Dies wird in den einzelnen Fallstudien jeweils individuell berücksichtigt werden.
Aus all diesen Überlegungen heraus ist die vorliegende Studie vorrangig thematisch geordnet, wobei die Chronologie der DDR dennoch strukturgebendes Element ist. Die einzelnen Kapitel versammeln Fallstudien zu Literatur, Theater und staatlichen Veranstaltungen, die zueinander in Bezug stehen und werden jeweils einzeln und ausführlich ob ihrer historischen und kulturellen Spezifizität eingeleitet. Daraus ergibt sich der folgende Aufbau: Kapitel 1, Kanon und Korrekturen: Kleist als schwieriges Erbe, setzt sich damit auseinander, wie die Bestrebungen der Aufbauphase sich auf die Lesarten von Kleist ausgewirkten. Da die Staatsführung zunächst versuchte, die ideologische Option und Ästhetik politisch zu implementieren, wurde Kleist vielfach als „humanistischer Realist“ inszeniert. Anhand verschiedener Theaterproduktionen und Dora Wentschers Drama wird jedoch deutlich, dass dies mehr schlecht als recht funktionierte und Kleist sich nicht so einfach der Ideologie beugen ließ. Kleist wurde, wie bei den Deutschen Festspielen in Thale, für nationalistische Propaganda genutzt, gleichzeitig kann aber an verschiedenen Beispielen gezeigt werden, dass die Aneignung ernstgenommen wurde und man sich tatsächlich die Stücke kritisch erarbeitete. Im Zuge der Kleist-Ehrung 1961 wird Hans Mayers Festrede eine besondere Bedeutung spielen, da sie großen Einfluss auf die Theaterproduktionen hatte. Zugleich war Mayer aber auch einer der prominentesten Fürstreiter Kleists in der DDR, der verschiedene Versuche unternommen hatte, Kleist für den Sozialismus attraktiv zu machen, was sich in den Werken seiner Studierenden Christa Wolf, Alexander Weigel, Fritz Bennewitz und Adolf Dresen deutlich widerspiegelt.
86 Michler, Kulturen der Gattung (2015), S. 13.
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Kapitel 2, Utopiekrisen und Subjektwerdung: Kleist als Staats-, Kultur- und Zivilisationskritik, bildet das Zentrum der Arbeit. Es umschließt den Höhepunkt der DDR-Kleist-Rezeption im Verlauf der 1970er Jahre und teilt sich ob des Umfangs in zwei Teile, in denen zunächst die literarische und anschließend die dramatische und Theaterrezeption verhandelt wird. Im Spannungsfeld von Biermann-Krise 1976 und Jubiläum 1977 wird Kleist für Autoren wie Wolf, Kunert, Müller, Schütz und Schlesinger, aber auch Theaterschaffende wie Dresen und Freese zum wesentlichen Autor der Krise, zum Archetyp des modernen Künstlers und der Unterdrückung von Kunst durch staatliche Autorität und zum Mittel einer umfassenden Kultur-, Gesellschafts- und Zivilisationskritik. Kleist als paradigmatischer Autor der dialektischen Ästhetik und auch pragmatischen Kulturpolitik verdrängte zunehmend ideologische Aspekte: Seghers/Brecht/Mayer setzten sich somit langfristig und über ihre Schüler „von unten“ gegen das kulturpolitische Establishment Becher/Kurella/Lukács durch. Kapitel 3, Ernüchterung und Utopieerneuerung: Kleist und das Prinzip Hoffnung, beschäftigt sich schließlich mit der Kulturszene der 80er Jahre. Bis auf wenige Ausnahmen setzten jene Reformsozialisten aus Kapitel 2, die das Land noch nicht verlassen hatten, ihre Kleist-Arbeit fort und nutzten ihn als Chiffre, um die Ursachen für das Scheitern des sozialistischen Projekts im 20. Jahrhundert zu untersuchen. Im Rahmen der Perestroika-Politik der Sowjetunion wurde Kleist am Ende der 80er Jahre zudem als utopischer Autor, als Verkörperung von Blochs „Prinzip Hoffnung“ wiederentdeckt. Der Epilog, Nachbeben, soll einen kurzen Abriss darüber geben, wie sich die Kleist-Rezeption während der politischen Wende und danach gestaltete. Die verschiedenen Nachbeben und Kontinuitäten zeigen dabei auf, dass man im Nachgang von einem spezifischem DDR-Kleist sprechen kann, der einen wichtigen Teil der Literatur und des Theaters der DDR mitgeprägt hat. Insofern wurde Kleist auch zu einer Art DDR-Autor, der helfen kann, die DDR selbst differenzierter zu betrachten.
„Jetzt ist für das deutsche Volk und insbesondere für seine führende Klasse, die deutsche Arbeiterklasse, die Stunde gekommen, auch das Werk Heinrich von Kleists mit allen seinen Widersprüchen auf der Grundlage jener Erkenntnisse über die nationale Frage, die Lenin und Stalin geschaffen haben, einer objektiven kritischen Würdigung zu unterziehen.“1
In den ersten zwei Jahrzehnten der DDR war jene ‚objektive kritische Würdigung’ Kleists vor allem ein Widerstreit zwischen der dialektischen und der ideologischen Option, wobei letztere zwar deutlich den Ton angab, aber die eigenen Vorgaben meist sehr pragmatisch auslegte. Alle Inszenierungen und literarischen Werke wurden Versuchsobjekte, um aus Kleist einen sozialistischen Klassiker und einen Beitrag zum Aufbau einer sozialistischen Nationalkultur zu machen. Beim Versuch, die Vorgaben des Erbes zu implementieren, zeigten sich aber vor allem bei Kleist recht schnell die Grenzen eines zu einseitigen Kulturbegriffs. Vor allem die Fülle der sich mehrdimensional widersprechenden Traditionsbezüge können als Indiz angeführt werden, dass die Kulturnation DDR, so sehr sie sich nach außen hin geschlossen und stark präsentierte, nach innen hin im höchsten Maße eine unkoordinierte Baustelle war. Der einseitige Kulturbegriff wird langfristig bewirken, dass die dialektische Ästhetik und der pragmatische Ansatz sich allgemein aber vor allem für Kleist als der angemessenere und auch flexiblere herausstellten. So wird kulturschaf1
Neues Deutschland, 18.10. 1952, aus Anlass des 175. Geburtstages Kleists. Zitiert nach: Theatersammlung des Kleist-Museums Frankfurt (O) (fortfolgend KMFO), Deutsche Festspiele 1957, S. 10.
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fend wie -politisch sich das durchsetzen, was Günter Kunert (Kapitel 2) in den 1970er Jahren sinngemäß formulieren sollte: Kleist zwingt zur Dialektik. In diesem Kapitel soll anhand verschiedener Studien gezeigt werden, wie auf höchst unterschiedliche Weise versucht wurde, Kleist als humanistischen Realisten zu interpretieren: mit Inszenierungen von Kleists Stücken, die in Form etwa jener im Rahmen der Deutschen Festspiele im Harzer Bergtheater Thale teils propagandistische Züge annahmen, mit Dora Wentschers Theaterstück als Versuch einer kritischen Aneignung und mit der Kleist-Ehrung 1961, die im national-institutionellen Rahmen neben nationaler Selbstinszenierung in vielen Teilen zu einer kritischen und differenzierteren Umwertung Kleists führte. Für die 50er Jahre in der DDR gilt somit, dass die sozialistische Kultur erst einmal erprobt und entwickelt werden musste. Neben dem Wiederaufbau der Städte sind auch alle Formen kultureller Produktion durchgängig Baustellen. Kleist ist hierfür ein äußerst repräsentatives Beispiel: Obwohl er zwar zunächst nicht vollständig in die Klassiker-Reihen aufgenommen wurde, so wurde er als regionale und international beachtete Figur der deutschen Geistesgeschichte dennoch ernstgenommen und in den zu erarbeitenden Kulturkanon integriert. Im Sinne der Theorie der kritischen Aneignung bedeutet das praktisch, ausgedehnte Kontextstudien zu betreiben und – im Lenin’schen Sinne – alle progressiven und für den Aufbau des Sozialismus verwertbaren Elemente zu betonen, ohne dabei Widersprüche zu verschleiern. Da die Kampfbegriffe dieser Aufbauzeit Humanismus, Realismus und Patriotismus hießen, sind dies auch die Aspekte, in denen Kleists Werk und Leben zunächst auch auffällig stark verortet wurden. Dabei ist zu beobachten, dass einerseits Kleists oft angerufene Widersprüchlichkeit sich nur schwerfällig in das Spektrum des progressiven Erbes einordnen ließ, andererseits die Kulturschaffenden vor allem mit den von Lukács und Mehring verhängten Stigmata in Konflikt gerieten und weniger mit den Kleist’schen Stoffen selbst. Für die Aufbauphase ist zudem kennzeichnend, dass erst einmal eine Grundlage für die Aneignung in Gestalt von kommentierten Werk- und Leseausgaben geschaffen wurde und jene Erkenntnisse dann auf der Bühne getestet wurden, während sich mit der Ausnahme von Dora Wentscher keine Autoren an Kleist versuchten. Im Kontext der Schlagworte handelt es sich dabei in den meisten Fällen um den Zerbrochnen Krug, Homburg und Amphitryon, da in diesen Stücken Aspekte von Humanismus, aber vor allem Patriotismus hervorgehoben werden konnten. Dennoch kann die Tatsache nicht ignoriert werden, dass trotz vieler authentischer Bemühungen seitens der Literaturwissenschaft und der Kulturschaffenden jene Erbe-Perspektivierung stets sehr künstlich oktroyiert wirkt und nicht so recht zum Kleist’schen Oeuvre passen will. Dies ist wohl
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auch ein Grund dafür, dass kaum produktiv mit Kleist und seinen Werken verfahren wurde, einfach, weil die Rahmenbedingungen nicht gegeben waren. Beispielhaft für einen besonders idealistisch-marxistisch intendierten Anspruch, der an alle diese Werke und Ausgaben angelegt und im jeweiligen Kontext ihrer Zeit und der Individuen, die es verfasst und veranstaltet haben, verhandelt wurde, ist der Abdruck Einige Punkte aus unserer Regiekonzeption der Städtischen Bühnen Quedlinburg im Programmheft von Curt Treptes Inszenierung des Zerbrochnen Krugs im Jahre 1960, der „Über die kritische Aneignung des klassischen Erbes in der Dramatik“ informiert und sich als Manifest inszeniert: 1. Wir verwerfen als Marxisten die reine historizistische Darstellung (als dekorative, echte historische Oberflächenschau). 2. Wir nehmen als marxistische Künstler keine „rote Gleichstellung“ vor (Versuch den Klassikern marxistische Gedankengänge zu unterschieben und in sie Erkenntnisse hineinzutragen, die geschichtlich in jener Zeit noch nicht vorhanden waren). 3. Wir lehnen die „versöhnlerische Methode“ ab, wodurch die revolutionären Elemente eines Werkes besonders unterstrichen und herausgehoben, die reaktionären hingegen besonders fallen gelassen und liquidiert werden. Diese Methode bedeutet faktisch die Aufhebung der historischen Widersprüche in diesem Werk. 4. Unsere marxistische Darstellung beruht auf der plastischen Herausarbeitung der gesellschaftlichen Widersprüche jener Zeit, wie sie sich in der Wirklichkeit des Dichtwerkes und in den Charakteren seiner Gestalten zeigen. Sie beruht auf der politischen und künstlerischen Analyse des Dichters und seines Werkes und in der Bedeutung und Kennzeichnung seines gesellschaftlichen Wertes für unseren sozialistischen Zuschauer.2
Bei realistischer Betrachtung muss allerdings festgehalten werden, dass die meisten Inszenierungen – mit Lenin’scher Legitimation – sehr deutlich auf die „versöhnlerische Methode“ und gelegentlich auch auf die „rote Gleichstellung“ zurückgreifen, und die Tatsache, dass Trepte und sein Quedlinburger Kollektiv dies so betonen müssen, zeigt neben dem pädagogischen Impetus, das Neue zu erklären, vermutlich auch die darin inhärente Kritik an bestehenden Praxen. Dies hängt nun damit zusammen, dass es sich hierbei um äußerst effektive Mittel handelt, wenn man vor die Aufgabe gestellt wird, zu ermitteln, was sozialistische Kultur überhaupt sei und wie sie sich gestalten könnte. Die bewusste Unschärfe von Begriffen wie Realismus, Humanismus und Formalismus zeigt sich
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Theatersammlung Kleist-Museum Frankfurt (Oder) (ff. KMFO), Programmheft Der Zerbrochne Krug, Städtische Bühnen Quedlinburg, 1960.
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in deren teils starker semantischer Ausreizung, die gleichsam ein Spiegel des Spannungsfelds der verschiedenen starken (politischen) Einflusssphären war, in der sich die junge DDR-Kulturszene befand. Die oft widersprüchliche Vermittlung der verschiedenen Positionen von ästhetischem und pädagogischem Anspruch von Kultur und deren praktische Umsetzung beförderte zudem eine politische Rhetorik, die eine freie Artikulation verhinderte, und die zudem bereits hochbürokratische politisch-ideologische Lenkung des Kulturbetriebs bremste an vielen Stellen dialektische Bemühungen marxistischer Kulturproduktion aus, wie sich an den folgenden Beispielen zeigen wird.
Die erste in der DDR erschienene – und im Gegensatz zu Heinrich Deiters’ 1955 veröffentlichten 4-bändigen Ausgabe stark rezipierte – Werkausgabe ist Walther Victors Kleist. Ein Lesebuch für unsere Zeit. Sie erschien in der von ihm herausgegeben gleichnamigen Reihe zuerst 1953 beim Volksverlag Weimar, bevor dieser 1964 in den Aufbau Verlag integriert wurde, wie auch die späteren, stark veränderten Auflagen. Das Lesebuch ist rhetorisch fest im Duktus der 50er Jahre verhaftet. Im Aufbau, der stark an Dora Wentschers Drama Heinrich von Kleist erinnert, weisen die Überschriften Stürme der Jugend, Meisterwerke des Realismus, Sprachschöpfer und Erzähler und Leidenschaftlicher Patriot auf jene für die Gründungsphase der DDR wichtigen Schlüsselbegriffe hin, die man bei der Darstellung des Erbes benutzte, um Kleist als Klassiker darzustellen. Die Einleitung Heinrich von Kleist als Realist und Patriot lässt keinen Zweifel daran, dass es sich hierbei um eine DDR-Ausgabe handelt: „für die bürgerliche Geschichts3 schreibung war Heinrich von Kleist das Genie an der Grenze des Wahnsinns.“ Dabei fälle die bürgerliche Geschichtsschreibung auch jene einseitigen Fehlurteile, die sich entweder am romantischen Selbstmord oder am Geniekult aufhängen. Dies sind wichtige Punkte der modernen Rezeption, die sich in den 70ern wiederholen werden (Kapitel 2). Victor hingegen setzt dieser eine historischkritische, marxistische Analyse entgegen, die auch das Quedlinburger Autorenkollektiv forderte: „Leben, Werk und Bedeutung Kleists sind nur aus der Wirk4 lichkeit seiner Zeit und Umwelt zu begreifen.“ Hierbei zeigt sich bereits eine typische Auffassung der DDR-Literaturwissenschaft dieser Zeit: Man versucht, Kleist dadurch zu rehabilitieren, indem man vor allem seine Biographie und Selbstzeugnisse historisch-kritisch einzuordnen versucht, sich aber selten umfas-
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Victor, Ein Lesebuch (1959), S. 5.
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send mit den Werken selbst auseinandersetzt. Dies wird meist unter dem vage bleibenden dialektischen Schlagwort der „Widersprüchlichkeit“ verhandelt. Es wird kaum gefragt, wie die Werke sich ästhetisch aus sich selbst erklären, die Wirkungsgeschichte ist an dieser Stelle noch zu wirkmächtig. In diesem biographistischen Selbstverständnis hebt Victor vor allem den Realisten und Patrioten Kleist hervor und betont zudem die Stellen, wo man ihn als Humanisten be5 zeichnen kann. Im dritten Teil seiner Einführung, bezeichnenderweise Der Romantiker als Realist überschrieben, erklärt er seine qualitative Hervorhebung mit deren Erfolgsgeschichte: Seit Menschengedenken ist kaum der Versuch gelungen, die Penthesilea oder das vor Jahrzehnten viel, später immer seltener gespielte Käthchen zur Wirkung zu bringen. Die Sieghaftigkeit eines realistischen Kunstschaffens kann an Kleists Gesamtwerk sehr gut studiert werden: man braucht nur zu untersuchen, welche Stücke sich auf der Bühne unserer Tage durchgesetzt haben und welche nicht.6
Auch wenn die Gründe zweifelsohne komplexer sind als Victor vorschlägt, so wird sich darüber hinaus zeigen, dass er nicht recht behalten und vor allem Penthesilea 1978 und 1986 auch in der DDR ihren Sitz im Leben finden würde. Victors Einleitung kulminiert im Abschnitt Wir ergreifen die Zukunft exakt in der Frage, die für die Erbe-Diskussion entscheidend ist: Was ist es, das die Partei der Arbeiterklasse, die die Führung unseres Volkes im Entscheidungskampf um seine nationale Existenz übernommen hat, [...] veranlasst, die Entfaltung des Kulturlebens durch Pflege des klassischen Erbes zu betonen, zu verlangen, dass den Werktätigen die bedeutenden Werke der Literatur nahegebracht werden?7
Im Falle Kleists lautet die Antwort, dass, trotz aller Verwirrungen, Kleist dennoch ein gutes Beispiel dafür abliefere, wie man standhaft und vor allem gegen alle Reaktion eine gute Zukunft für sein Vaterland gestalten will, und genau dieses Vorbild werde die DDR nun erfolgreich umsetzen. Die Überbetonung von Kleists vorbildlichem Patriotismus ist dabei aber nicht nur wichtig für den Aufbau, sondern Kleist wird auch von der DDR damit besetzt. Damit ist eine zweite, für die 50er Jahre wichtige Motivation einer affirmativen Kleist-Rezeption ge-
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Honnef, Kleist in der DDR (1988), S. 43.
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Victor, Ein Lesebuch (1959), S. 21.
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Ebd.
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nannt: Auch, wenn Kleist teils ‚problematisch’ ist, so ist er doch besser in unseren Händen als in denen der Bundesrepublik. Bei aller Gründungsrhetorik überrascht dann allerdings in Teilen die Textauswahl, wenn man die Erbe-Diskussion mitdenkt: Denn neben verschiedenen Anekdoten, der Marquise und dem Erdbeben als klassische Beispiele für die Erzählungen und dem Zerbrochnen Krug und dem Kohlhaas als Meisterwerke des Realismus, finden sich auch die Hermannsschlacht und der Prinz von Homburg in der Auswahl unter den patriotischen Stücken. Allerdings, vermutlich um Streitigkeiten vorzubeugen, wurde die Hermannsschlacht mit einer historischen Einschätzung der Varusschlacht von Friedrich Engels versehen, während vom Homburg nur wenige Szenen abgedruckt wurden, nämlich der dritte und der fünfte Akt, letzterer ohne die Schlussszene. Jene wird allerdings in einem Vorwort so kommentiert, dass In Staub mit allen Feinden Brandenburgs! „nicht, wie immer wieder von der junkerlichen und bürgerlichen Literaturgeschichtsschreibung betont wurde, ‚eine dichterische Huldigung für den brandenburgischpreußischen Geist überhaupt’, sondern ein flammender Aufruf zur Befreiung der Heimat von Napoleon, aus dem Geist des Patriotismus, der in diesem Drama in seiner siegenden Kraft gezeigt wird.“ Dass diese Sichtweise in den 50er Jahren auch gerne gegen die Bundesrepublik und die USA benutzt wurde, wird sich u.a. noch bei den Thalenser Deutschen Festspielen zeigen.9 Anhand dieser Ausgabe wird der Widerspruch des Aufbaus der sozialistischen Nationalkultur ersichtlich: beide Stücke wurden ideologisch als reaktionär und junkerlich verworfen, aber ihre nationalistische Komponente konnte man gleichsam pragmatisch für den Aufbau verwenden, weshalb man sie ideologisch verpackt (Engels-Aufsatz) dann doch wieder nutzte.10
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Ebd., S. 465. Im Falle der Hermannsschlacht, so Siegfried Lokatis, war die Publikation 1953 hier zudem ohne weiteres möglich, weil man somit, wie in Thale geschehen, „Adenauer mit Varus [...] gleichsetzen, den Aufbau der NVA propagieren und die Befreiungskriege im preußisch-russischen Bündnis von Tauroggen feiern“ konnte. Lokatis, Der zensierte Kleist (2010), S. 15.
10 Dies machten sich auch oft die Verleger zu eigen. Wie sich bei den verschiedenen Werkausgaben zeigte, nutzten die Autoren und Herausgeber oft die Taktik einer rein ideologisch-politischen Argumentation, die oftmals ihrer eigentlichen Auffassung und sogar der inhärenten Struktur der Ausgaben selbst widersprach, aber die Publikation letztendlich ermöglichte.
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# $ Da für den Aufbau einer sozialistischen Kulturlandschaft eine theoretische Grundlage benötigt wurde, war der Einfluss von wissenschaftlichen Neuerscheinungen vor allem für das Theater enorm. Was Deiters und Victor mit ihren Ausgaben wissenschaftlich versuchten, schlug sich unmittelbar in den Inszenierungen wider. Darin wird deutlich, wie ernst die Kulturschaffenden die kritische Aneignung nahmen, gleichzeitig waren diese von marxistischen Literaturwissenschaftlern besorgten Ausgaben äußerst wichtige Referenzpunkte für die Inszenierungskonzeptionen, die für die Genehmigung einer Aufführung angefertigt werden mussten. Die Strategie aller Beteiligten dabei war, Kleist im Sinne des Erbes – jedoch nicht kritiklos – positiv zu kodieren. Victors Lesebuch und Deiters Erbe-Seminar haben großen Einfluss dabei, Kleist von den Verdikten Lukács’ und Mehrings stetig zu lösen. Siegfried Streller, ein Schüler Deiters’, wird in dessen Fußstapfen treten. In diesem Prozess ist schließlich auch eine stückweite Verschiebung von der „roten Gleichstellung“ und „versöhnlerischen Methode“ hin zu einer zunehmend kritischen Einschätzung der Werke selbst und deren Qualitäten im Kontext von Humanismus und Realismus, weg vom Durchsieben der Literaturgeschichte nach diesen Kriterien. Die Weitervermittlung dieses Prozesses an die Bevölkerung erfolgt im Theater dann stets in Form des Programmhefts, das sowohl die didaktische Funktion der Aneignung kommuniziert als auch als apologetische Schrift zum Verständnis der Inszenierung intendiert ist. "! Besonders prägnant lassen sich die Interessenkonflikte zwischen Aufbau einer distinkten Nationalkultur und zwanghafter, wettbewerbsgetriebener Abgrenzung zur Bundesrepublik am Beispiel der im Nationalsozialismus ideologisch verwendeten Stücke aufzeigen, nämlich Die Hermannsschlacht und Prinz Friedrich von Homburg. Während die Hermannsschlacht sich stets deutlich für eindimensionale nationalistische Propaganda anzubieten schien, so stellte Homburg mit seiner wenig heldenhaften Titelfigur die Kritiker und Theaterschaffenden vor deutlich größere Herausforderungen. Dennoch ist es überraschend, dass ausgerechnet Homburg, im Gegensatz zur Hermannsschlacht (3 belegte Inszenierungen), mit mindestens 25 Inszenierungen in den 40 Jahren DDR das zweitmeistgespielte Stück Kleists nach dem Krug war. Das hat verschiedene Gründe: Zum einen, wie sich im Folgenden zeigen wird, kann Homburg relativ schnell im
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Kontext der Befreiungskriege für den nationalen Aufbau im Kampf gegen den Westen genutzt und damit politisch entproblematisiert werden. Es ist also ein Beispiel dafür, wie am Ende doch, bei Aufrechterhaltung der ideologischen Fassade, pragmatisch gehandelt wurde. Das geht einher mit einer Überbetonung der realistischen und humanistischen Elemente der Werke Kleists, also mit einer zumindest rhetorischen Einbettung in den Erbe-Kontext. Gleichzeitig ist die Konfliktlandschaft und Rezeptionsgeschichte des Stückes derart komplex, dass es immer wieder eine große Herausforderung darstellt, dieses Stück überhaupt erfolgreich zu interpretieren und zu adaptieren, und die marxistische Literaturwissenschaft selbst wird auch eine Zeitlang benötigen, um unter Dialektik nicht nur Kontext- und Biographiestudien zu verstehen. Dadurch aber, dass man das Stück für den politisch-gesellschaftlichen Kontext der 50er Jahre nutzen konnte, was wiederum zu einer ausführlichen Beschäftigung mit dem Stück führte, wurde allerdings auch bald die ästhetischen Qualitäten des Stückes mehr betont. Es kam somit langfristig wieder zu einer umfassenderen Wertschätzung des Homburg, die aus einer nationalistischen Instrumentalisierung hervorging. Für die 50er Jahre ist zunächst vor allem der nationale Aufbau von großer Bedeutung. Ein repräsentatives Beispiel hierfür ist Bruno Brandls Beitrag „Kleist und das Schauspiel Prinz von Homburg“ im Frankfurter Kulturspiegel11 vom April 1955. Brandl, der sich mit der Frankfurter Archivarin Elfriede Schirrmacher zu dieser Zeit bereits für einen „Kleistpreis für Kunst und Literatur“ starkmachte, wurde in den 50er Jahren der maßgebliche Lektor der NDPDVerlags der Nation in Berlin und sah einen solchen Preis als Beitrag für eine deutsche Wiedervereinigung an.12 In seinem Beitrag im Kulturspiegel berichtet er von einer Tagung des Theaterwissenschaftlichen Instituts Leipzig Ende September 1954, die für die Klärung unseres nationalen Kulturbesitzes von allgemeiner Bedeutung ist. Grundlegende Referate des bekannten Pädagogen Prof. Deiters [...] bemühten sich um eine gründliche Untersuchung der humanistischen Position Heinrich von Kleists, dargestellt an einem einzigen Beispiel seinem Schauspiel Prinz von Homburg, also um ein Stück, das uns nach Ansicht vieler Forscher und Freunde des Dichters in der heutigen Entwicklung der nationalen Frage in Deutschland wesentliches zu sagen hat. Diesmal ging es nicht um
11 KMFO, Frankfurter Kulturspiegel 1955, S. 3f. 12 S. http://www.kleist.org/index.php/die-kleist-preise/91-heinrich-von-kleist-kunstpreisdes-rates-des-bezirkes-frankfurt-oder/206-heinrich-von-kleist-kunstpreis-des-ratesdes-bezirkes-frankfurt-oder, aufgerufen am 02.06.16.
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allgemeine theoretische Erörterungen, denen in der Vergangenheit oftmals der praktische 13
Erfolg versagt blieb, weil sie allzu allgemein und allzu theoretisch gehalten waren.
Hierbei zeigt sich die kritische Aneignung des Erbes in voller Praxis, und auch schon nach der ersten Evaluierungsstufe, denn rein wissenschaftliches Arbeiten schien offenbar keinen sonderlichen gesellschaftlichen Effekt erzielt zu haben. Mit Deiters war diese Tagung mit jemandem besetzt, der sehr eifrig daran arbeitete, Kleist in Gänze und umfassend für den Sozialismus als progressiven Humanisten fruchtbar zu machen, als Vorbild, als Negativ-Vorbild und als kritischer Zeitgenosse, der auch im Sozialismus noch zu den Menschen sprechen könne. Damit stieß er beim Frankfurter Brandl auf offene Ohren, der dieses Anliegen sogleich in seine Heimatstadt trug: Vor uns steht die Aufgabe, in exakten Einzeluntersuchungen auch bisher summarisch behandelte Zeitperioden und vernachlässigte dichterische Leistungen zu überprüfen, um unserem schaffenden Menschen zu einem neuen Verhältnis zu seinem kulturellen Erbe insgesamt zu verhelfen. Dass die Stadt Frankfurt (Oder) bereits vor Jahren das Kleistproblem auf die Tagesordnung setzte und die einzige heute bestehende deutsche Kleistgedenkstätte errichtete, kann uns mit einigem Stolz erfüllen.14
Dennoch ist sich Brandl der schwierigen Aufgabe deutlich bewusst und gibt schließlich eine Einschätzung, die beinahe alle Aspekte, die diesem Stück und seinen Interpretationen in den 50er Jahre anhaften, beispielhaft zusammenbringt: Es ist kein Zufall, dass es um dieses Werk in Deutschland so still geworden ist. Ist schon seine Grundkonzeption nicht frei von jener Zwiespältigkeit, die übrigens auch das ganze Zeitalter der Entstehung der bürgerlichen Nationen auszeichnet, so sorgte eine jahrzehntelange Entstellung durch militaristische Kreise dafür, dass starkes Misstrauen gegen ein Werk entstand, dessen künstlerische Bedeutung unbestreitbar ist, das sich aber so leicht verfälschen ließ, oder zumindest doch zu Missdeutungen Anlass gab. Auch heute noch gibt es viele, die befürchten, dass die preußischen Fanfaren das hohe Lied der Menschlichkeit in diesem Werke übertönen könnten. Nun, das hängt davon ab, wer es aufführt und wie man es aufführt. [Hervorhebung im Original, SE]“15
13 KMFO, Frankfurter Kulturspiegel 1955, S. 3f. 14 Ebd. 15 Ebd.
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Am Beispiel einer Dresdner Inszenierung aus dem Jahre 1955 und mit den Inszenierungen in Halberstadt und Dessau 1961 sollen diese verschiedenen Aspekte im Kontext der Versuche ihrer praktischen Umsetzung näher betrachtet werden, wobei in allen Fällen die sich durchziehende Ambivalenz zwischen kritischer Aneignung und politisch-ideologischem Aufbauwillen deutlich wird.
16 Im Programmheft der Dresdner Inszenierung von Fritz Wendel werden verschiedene Aspekte betont, die zeigen, wie man Kleist und den Homburg als humanistisch-realistisches Stück für die auszubauende Nationalkultur in der Logik des Erbes gewinnen wollte. Dabei fällt auf, dass die Dresdner Dramaturgen offenbar auch an Deiters’ Leipziger Seminar teilgenommen hatten, denn dieser wird eingangs zugleich mit einem Beitrag zitiert, in dem er ausführt, dass das „Drama [...] einen Konflikt um Notwendigkeit und Grenzen der militärischen 17 Gehorsamspflicht zwischen Herrscher und seinen Offizieren [verhandelt].“ Dieser Konflikt spiegele die politischen Fronten der Reformer gegen Friedrich Wilhelm III. Versöhnung beider Fronten im Sinne der Vereinigung aller Deutschen gegen Napoleon sei ein primäres Ziel des Stücks, wie auch der Hermannsschlacht. Somit seien Kleist und Homburg heißblütige Patrioten, die sich für ein einiges Vaterland und für ein Zusammenstehen gegen den Feind einsetzten. Dies sind einerseits wichtige Gründe, die Teile beider Stücke intrinsisch motiviert haben, aber sie stießen in den 50er Jahren auch in der DDR auf fruchtbaren Boden. Dies führt Regisseur Wendel in seinem Beitrag „Prinz Friedrich von Homburg“ 18 heute im Kontext des Verhältnisses Individuum-Kollektiv in der sozialistischen Gesellschaft aus. Hier wird der Prinz sogar in der Dialektik der „antagonistischen Gegensätze zwischen dem Ich und dem Staat“ versöhnt im Sinne des Zu-Sich-Selber-Kommens: „Wir werden an der empfindlichsten Stelle unseres Wesens gepackt durch die Frage: Wie verhält sich das Ich zum Wir? Der humanistische Mensch beginnt ja erst mit seinen wahren Beziehungen zum Menschen“ und dieser Aspekt sei nun zentral für die heutige Zeit und das Stück somit ein bedeutender Beitrag, denn „es geht für unsere Gegenwart nicht um die damaligen Versuche der preußischen Reformer, [...] sondern um die Vertiefung
16 KMFO, Programmheft „Prinz Friedrich von Homburg“, Staatsschauspiel Dresden, 1955. 17 Ebd., S. 4. 18 Ebd., S. 7f.
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der wahren Liebe zu einem demokratischen Deutschland.“ re also, den Staat-Individuums-Graben zu überwinden
19
Das Stück motivie-
und im gemeinsamen Kampf die Welt zu verändern. In der sozialistischen Gesellschaft ist der Mensch zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte wahrhaft frei. Die Freiheit der Persönlichkeit gipfelt im Ja zur Gesellschaft, zum gesellschaftlichen Zusammenwirken, zur patriotischen Tat.20
Der proklamierte didaktische Rahmen der Dresdner Inszenierung ist somit eindeutig. Die Ziele nationaler Identität und Aufbau einer sozialistischen Kultur stehen im Vordergrund, und durch den adäquaten und förderlichen Kontext kann das Stück somit schnell „historisch-kritisch“ rehabilitiert werden, unter wissenschaftlicher Hinzunahme, für die sich Deiters als einflussreicher Mittler erwies. Gleichsam reiht sich diese Art von Rehabilitierung in einen problembehafteten Kontext ein, den man schwerlich ignorieren kann: Nicht nur, dass ein Stück, das für nationalistische Zwecke in der NS-Zeit missbraucht wurde, nun für nationalistische Zwecke rehabilitiert wurde, sondern auch parallel im konstanten Aufbau der Jugendorganisation FDJ und der bevorstehenden Gründung der NVA lassen sich ähnliche Motive und Strukturen finden, die als Begründung für die Homburg-Inszenierung Wendels angegeben wurden. Wie Weigand festhält, wird 21 Kleists Disharmonie unter der SED-Führung zu künstlicher Harmonie verklärt. Wendel gibt sich hierbei recht gemäßigt und größtenteils im Einklang mit dem Stück und Deiters’ Deutung, obwohl beide mit einer deutlich affirmierenden Lesart und Heldenstilisierung des Prinzen arbeiten. An dieser Stelle zeigt sich der spezifische DDR-Kontext, da das Individuum nur im Kollektiv funktioniert und Homburg wird dafür genutzt, um dieses Gesellschaftsmodell zu untermauern und kulturell zu vermarkten. Um exakt denselben Graben wird es Adolf Dresens Inszenierung 20 Jahre später auch gehen, mit dem Fazit, dass dieses Ziel deutlich verfehlt wurde (Kapitel 2). Das Programmheft ist somit ein Paradebeispiel für die „wissenschaftsgeleitete Aneignung des nationalen Kulturerbes der DDR“ auf den Theaterbühnen der 50er Jahre. Sechs Jahre später, im Kontext des Jubiläums 1961, zeigte sich bei zwei Homburg-Inszenierungen am Volkstheater Halberstadt und am Anhaltischen Theater
19 Ebd., S. 7. 20 Ebd., S. 8. 21 Weigand, Kleist oder die falsche Basis (1980), S. 86f.
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Dessau, dass das Stück doch nicht allzu leichtfertig ideologisch umzusetzen war. Beide Inszenierungen nutzten ebenfalls Deiters Begründung des Humanisten und Patrioten Kleist und Homburg als Beispiel für das Individuum im Kollektiv, stießen dabei aber inszenierungspraktisch auf Probleme. Beide Inszenierungskonzepte funktionieren innerhalb der Erbe- und Realismusdoktrin und können somit kulturpolitisch instrumentalisiert werden, sind dabei aber deutlich subtiler und kohärenter als die Thalenser Inszenierungen oder jene in Dresden 1955. Im Programmheft der Inszenierung des Halberstädter Volkstheaters, die man zur Festwoche nach Frankfurt einlud, sind vorrangig die Erklärungen, die zur Inszenierung geboten werden, prägnant für das Selbstverständnis der intendierten Stückinterpretation. Die Inszenierung unter der Regie von Gerd Naumann lobt 22 das Stück als „das reifste seiner Dramen“ und spielt es vor dem Hintergrund der Befreiungskriege sowohl als pazifistisches Stück, in dem Homburg „die Freiheit der persönlichen Entscheidung vertritt“, als auch als Warnung vor dem schicksalhaften „preußische[n] Kadavergehorsam“, der durch des Prinzen „Akzeptierung des zutiefst antihumanen Richtspruchs“ in den Mittelpunkt gestellt wird. Deutlich wird dies in der Rechtfertigung des Theaters, Warum und wie spielen wir den „Prinz von Homburg“ heute? Mit Recht fordert die Wissenschaft, dass der objektive Ideengehalt eines Werkes durch die Bühnenaufführung dem Zuschauer vermittelt werde. Der objektive Ideengehalt des Prinzen von Homburg ist zweifellos, dass der einzelne Patriot sich seinem Staat, insofern dieser von wahrhaft patriotischen Kräften getragen wird, einzuordnen hat. [...] Unter diesen Umständen ist es nach meiner persönlichen Ansicht im gegenwärtigen Zeitpunkt keinem Theater möglich, den objektiven Ideengehalt des „Prinzen von Homburg“, so wie ihn die Literaturwissenschaft herausgearbeitet hat, auf der Bühne sichtbar werden zu lassen, ohne bei weiten Teilen unserer Zuschauer ideologische Verwirrung in der Frage zu stiften, wie man den preußisch-deutschen Militarismus einschätzen muss.23
Diese pädagogisch-prägnante Besorgnis im pragmatischen Jargon stellt zwar einerseits eine kritische Einschätzung des Werks und des Autors dar, gleichzeitig entlarvt sie aber vor allem das problematisch-starre Selbstverständnis, das der Bedeutung der marxistischen Literaturwissenschaft und den Aufgaben einer Theaterproduktion beigemessen wurde. Kulturerbe, Wissenschaft und darstellende Kunst werden als Institutionen der Wahrheit repräsentiert, deren politisch
22 KMFO, Programmheft „Prinz Friedrich von Homburg“, Volkstheater Halberstadt, 1961. 23 Ebd.
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motivierte Denkweise ein praktisches Grundproblem der Erbe-Aneignung verkörpert, das vor allem die Kleist-Rezeption immer wieder zu Problemen führen wird, obwohl sie in der eigentlichen theoretischen Konzeption der kritischen Aneignung natürlich nicht vertreten ist. 1961 stellte dies aber zumeist noch keinen Widerspruch dar. Beachtlich ist nun die Fortsetzung: „Also: Das Stück nicht spielen? Jeder parteilich wertende Künstler unseres Theaters, der das Stück las, als wir seine Aufnahme in den Spielplan erwogen, war von dem Inhalt des Werkes begeistert und musste sich erst hinterher mit kühlem Verstand auf die ideo24 logischen Schwierigkeiten aufmerksam machen.“ Freilich könnte man nun wiederum argumentieren, dass das Stück in diesem Sinne stets falsch interpretiert worden ist und der ideologischliteraturwissenschaftliche Rahmen das Problem darstellt. Aber zu diesem Schluss kommen die Regisseure und Dramaturgen nicht, sondern sie drehen die Argumentation nur innerhalb der bestehenden Logik des „objektiven Ideengehalts“ um: „der echte Patriot darf sich seinem Staat, insofern dieser nicht von 25 patriotischen Kräften getragen wird, nicht einordnen.“ Wenn man also das Stück als Aufruf zum patriotischen Kampf des Individuums und Kritik am preußischen Staat versteht, dann könne man das Stück, wenn es ausreichend vorbereitet werde, bedenkenlos spielen. Und dies wurde dann wohl auch getan. Bezeichnend ist dabei zudem, dass keinem Beteiligten beim Lesen das Stück problematisch erschien und man sich danach zurück in den rezeptionsgeschichtlichen Problemrahmen begeben musste. Das kommt natürlich bei einer Erstlektüre vor, ist konkret beim Homburg aber ein wichtiger Indikator, dass man 1961 sich bereits in einem anderen Kontext befindet, der nicht mehr rein post-faschistisch ist, sondern sich der Ankunft im Alltag im Sinne Brigitte Reimanns epochemachenden Romantitels annähert. Von der Homburg-Inszenierung in Dessau ist auch das Inszenierungskon26 zept erhalten geblieben, welches einen vertieften Einblick in das Vorhaben er27 laubt. Unter der Regie von Arno Wolf stand auch in Dessau eine Lesart im Kontext der Befreiungskriege und des Patrioten Kleists im Vordergrund. Als Grundlage für die Konzeption wurden bereits teils noch unveröffentlichte Teile der Neuauflage von Victors Kleist-Lesebuch und ein Artikel von Helmut Rabe
24 Ebd. 25 Ebd. 26 KMFO, Konzeption „Prinz Friedrich von Homburg“, Anhaltisches Landestheater Dessau, 1961. 27 http://www.kleist.org/db/heinrich_von_kleist_auf_dem_theater.php?page=69, aufgerufen am 19.5.16.
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aus Theater der Zeit (6/61) sowie Victors 1813 – Ein Lesebuch für unsere Zeit 28 verwendet. Deren Aktualisierungs- und Rehabilitierungsversuche finden sich auch konkret in den Dessauer Ausführungen: So gilt auch hier Mehrings Verurteilung als „durch die marxistische Literaturwissenschaft widerlegt“ und man kontert direkt, dass realistische Klassiker wie der „Krug und Kohlhaas [...] niemand schaffen [konnte], der in seinem Herzen preußischer Junker geblieben 29 sei.“ Ebenso gehöre „Kleist [...] zur Generation der Romantiker, hatte aber als 30 Mensch und Dichter wenig mit ihnen gemein“ und es wird mehrfach betont, dass er seine Werke in den Dienst des Vaterlandes stellte. Schließlich vollzieht sich im Konzept jedoch ein Wandel hin zur politisch-sozialen Komponente der Inszenierung, die auch weiterhin marxistisch gedacht ist, aber in weiten Teilen ein schlüssiges Ganzes ergibt. Hat man sich nämlich erstmal der Romantik und dem vermeintlich Krankhaften entledigt, so kann man für die erste Szene pragmatisch konstatieren, dass mit dem träumenden Prinzen die Exposition erst effektiv möglich wird, ohne die Figuren ins Alberne zu ziehen. „Sie dient lediglich einer schnellen Aufdeckung der verborgenen Gedanken und Gefühle des Prin31 zen, nicht zur Romantisierung der Handlung.“ In der nunmehr rein politischen Lesart, vom Konflikt des Prinzen ausgehend und nicht umgekehrt, kann der Fokus völlig auf Kleists gesellschaftliche Verzweiflung und seinen Traum, sein Schicksal für den Freiheitskampf als Dichter, gelegt werden. Damit stellt sich schlussendlich auch das Ende nicht mehr als problematisch dar, sondern kann vollkommen sinnfällig erhalten bleiben: Der Konflikt ist gelöst. Individuum und Gemeinschaft, Gefühl und Gesetz stehen sich nicht mehr feindlich gegenüber, sondern ergänzen sich. Sie haben sich gefunden unter der gemeinsamen Aufgabe: der patriotischen Pflicht gegenüber dem Vaterland. Das neue Gesetz ist kein Gesetz von oben, sondern wird getragen von dem Bewusstsein der Verantwortung des einzelnen gegenüber der Gemeinschaft, gegenüber dem Vaterland, das diese Gemeinschaft verkörpert.32
Mit diesem Konzept ist es dem Dessauer Autorenkollektiv um Wolf gelungen, den zuvor krankhaft-militaristischen Homburg quasi zum Idealstück für die so-
28 Konzeption „Prinz Friedrich von Homburg“, Anhaltisches Landestheater Dessau, 1961, S. 15. 29 Ebd., S. 1. 30 Ebd. 31 Ebd., S.6. 32 Ebd., S. 12.
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zialistisch-realistische DDR-Bühne der 60er Jahre zu interpretieren. Gleichzeitig ist es aber auch ein weiteres Beispiel, wie ein Theater einen problematischen Stoff beinahe werkimmanent sogar innerhalb des DDR-Realismus fruchtbar machen kann, ohne es völlig zu verfälschen, weil man sich mit dem Stück selbst und nicht nur mit seiner Rezeptionsgeschichte auseinandergesetzt hat. Insofern sieht man hier einen deutlichen Erfolg in der wissenschaftlichen ErbeAneignung, die im Inszenierungskonzept direkten Anklang findet. Wenn auch der Prinz letztendlich in der schriftlichen Fassung des Konzepts als Figur selbst zum idealen sozialistischen Helden stilisiert wird, so ist dies dennoch eine für die Zeit und für den spezifischen Kontext durchaus legitime marxistische Lesart des Stückes, die in der Tat eine beachtliche Emanzipation des Stoffes aus dem Stoff heraus bewirkt: Nicht mehr der träumende, sondern der wache Prinz, nicht mehr der nach persönlichem Ruhm jagende, sondern der aus eigener Verantwortung dem Gesetz des Befreiungskampfes sich unterordnende Prinz steht vor uns. Und dieser Prinz wird nicht vom Traum in die Wirklichkeit zurückgestoßen, sondern er wird in der Wirklichkeit für sein Hinfinden zur Gemeinschaft belohnt.33
Die ganzheitlich-schlüssigere Lesart befähigt das Kollektiv dann auch zu einer Lösung für die Publikumsvermittlung: Zur Vorbereitung des Zuschauers auf die Aufführung werden vor Öffnung des Vorhangs „die Verhältnisse zur Zeit Kleists – Napoleon/Deutschland durch eine kurze, gestraffte Mitteilung an den Zuschauer (zwei Sprecher über Tonband) dargestellt (Trommelwirbel)“ und anschließend, nach Öffnen des Vorhangs, wird „der Handlung zu grundeliegende [sic] Stoff – Krieg Brandenburgs mit Schweden – in der gleichen Form erläutert, unter Beachtung der Kleist’schen Auffassung und unter Betonung, dass dieses Kapitel aus der Geschichte nur der Ausgangspunkt der Handlung ist. (anderer 34 Trommelwirbel).“ Unterstützt wurde dies zudem durch Wolf Hochheims Bühnenbild und durch die „klassisch-klare Darstellung“, die auf versbetonte Sprechweise verzichtete und zudem alle „Soldatenuniformen auf die historische 35 Silhouette reduziert“ präsentierte.
33 Ebd., S. 13. 34 Ebd., S. 14. 35 Ebd., S. 15.
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Der Krug freilich erfuhr in der DDR eine völlig andere Rezeption, kann getrost als Volkstheater-Klassiker der DDR-Bühnen gelten und als wurde als Prototyp eines humanistisch-realistischen Stückes gehandelt. Da es sowohl von Lukács als auch Mehring geschätzt und als einziges Werk Kleists vorbehaltlos in den Erbe-Kanon aufgenommen wurde, konnte es in der DDR zu respektablen 65 archivarisch belegten Inszenierungen nebst den Aufführungen von Fritz Geißlers 1968/69 entstandener Oper kommen. Bis 1969 gab es kein Jahr, in dem nicht mindestens eine Neuinszenierung auf dem nationalen Spielplan stand; statistisch gab es 1,6 Inszenierungen pro Jahr. Interessant ist hierbei nun zu vergleichen, wie sich die Inszenierungen im Vergleich zu den umstritteneren Werken Kleists verhalten, und ob sie in der Tat als Beispiele einer sozialistisch-realistischen Theaterpraxis dienen können. Eine der ersten Bühnenadaptionen des Zerbrochnen Krugs in der DDR entstand 36 1952 am Berliner Ensemble unter der Regie von Therese Giehse, die zudem die Rolle der Marthe Rull verkörperte, mit Theater und späterem DEFA-Star Erwin Geschonnek als Adam. Repräsentativ für die Betrachtung des Krugs, in 37 der dialektischen Tradition des epischen Theaters, die Lukács und Erpenbeck 38 widersprach, sind hierbei die Ausführungen im Herzstück des Programmhefts,
36 Fortfolgend BE. 37 Brechts Konzept des Epischen Theaters, das durch seinen Verfremdungs-Effekt nie einen Zweifel daran lässt, dass auf der Bühne Theater und nicht die Realität stattfindet, steht im völligen Widerspruch dazu, und der Theaterskandal um Mutter Courage 1949 am Deutschen Theater trieb einen deutlichen Keil in die Idee des Nationaltheaters: Denn die Inszenierung, wie auch das Stück selbst, zeigte exakt das Gegenteil einer vorbildlichen Lösung von Konflikten „und die Art, in der hier Theater gespielt wurde, forderte mehr Kritik und Widerspruch heraus, als dass sie Identifikation mit der Titelfigur ermöglicht hätte. Die Courage, damals gespielt von Helene Weigel, war eine von Grund auf widersprüchliche und damit äußerst lebendige Figur. Sie entwickelte sich nicht, sie lernte nichts aus ihren Fehlern, und sie vertrat keinerlei Ideale. Stattdessen versuchte sie nur, ihre Existenz zu sichern.“ S. Stuber, Spielräume und Grenzen (2000), S. 141. 38 Fritz Erpenbecks einflussreicher Aufsatz Illusionstheater – heute noch? legte 1949 als Antwort zum Skandal um Brechts Mutter Courage-Inszenierung dar, dass seine Vorstellung von realistischem Theater als sozialistischem Nationaltheater sich als idealis-
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“Der Zerbrochne Krug” vom sozialistisch-humanistischen Standpunkt aus betrachtet, das eine beispielhafte klassisch-marxistische Deutung eines Stückes vornimmt, das vom Kanon als gesetzt gilt und an dem man sich somit auch inszenatorische Freiheiten erlauben kann. So heißt es einerseits historisch-kritisch, „Heinrich von Kleists Lustspiel zeigt, wie die feudal patriarchalische Gesellschaft vor dem unlösbaren Problem steht, in ihrer Rechtspflege sich selbst als die 39 Quelle der Unsittlichkeit entlarven zu müssen“, andererseits kann dialektisch aber auch die Gegenseite kritisiert werden: „Als Gegenhandlung zeigt das Lustspiel, wie die Hebamme Marthe Rull, in ihrer bäuerlich kleinbürgerlichen Besitzgier, um zu ihrem Recht zu kommen, bereit ist, Ruf und Glück zweier junger Leute bedenkenlos niederzutrampeln [...].“ Dass auch die Arbeiterperspektive kritisch hinterfragt wird, ist in der DDR ein Novum, fügt sich aber gleichsam in den Prozess der progressiv-kritischen Aneignung und in die Brecht/Giehse’sche
tisches Theater in der Nachfolge Stanislawskis und in der Tradition von Hegels Vorlesungen zur Ästhetik verstand, das er gleichsam als ‚realistisches’ qualifizierte. Dies stand in deutlichem Kontrapunkt zu Brechts Epischem Theater. Dabei orientierte er sich „deutlich an Lukács’ Positionen zum Realismus, und gewiss war es auch Lukács’ Erbeauffassung, die für Erpenbeck die Brücke zur klassischen deutschen Philosophie und Ästhetik schlug.“ Das Theater in dieser Form war diesen Auffassungen nach der geeignete Ort, an dem sowohl „die Auseinandersetzungen mit dem Westen als auch die Bildung und Erziehung zur Identifikation mit dem neuen Staat stattfinden konnte.“ Die SED favorisierte nach 1949 die Vorstellung von einem Theater, auf dem die unüberbrückbare Differenz von Ideal und Wirklichkeit, von Kunst und Realität verwischt wurde. Das Theater sollte ein Illusionstheater sein, das die Wirklichkeit „richtig abbildete“. Ihm wurde die Aufgabe zugeteilt, wie Erpenbeck ausführt, „durch lebendige Menschen auf der Bühne verdichtete Abbilder konkreter Menschen vorzuführen und damit die Illusion, den Schein zu erzeugen, es handle sich um reale Bewegungen dieser Menschen gegeneinander und miteinander, kurz, um ein wahrhaftes Abbild des gesellschaftlichen Lebens einer bestimmten Zeit mit ihren Hintergründen und treibenden Hauptkräften.“ Die Stanislawski-Methode sollte als allgemeingültige Schauspielkunst durchgesetzt werden, jedoch wird der Begriff meist eher schwammig verwendet und nach der Formalismusdebatte 1950/51 für die SED zum politischen Schlagwort für gutes Theater. Das brachte allerdings sogleich etliche Probleme mit sich, die das einseitige Kulturverständnis bzw. das Kontrollbedürfnis der SED entlarven. S. Stuber, Spielräume und Grenzen (2000), S. 76ff., 139, 164. 39 KMFO, Programmheft „Der Zerbrochne Krug“, BE 1952. Alle Zitate stammen aus dem ausfaltbaren Mittelteil.
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Theaterpraxis ein. Mit einem Seitenhieb gegen Erpenbecks Illusionstheater führten sie aus: „Für gewöhnlich präsentieren unsre Theater von den sieben Personen des Stücks fünf als ehrliche, grundanständige Menschen [...]. Zwei sind Schurken. [...] Bei näherer Betrachtung hält diese Bewertung der Charaktere in keiner Weise stand.“ Vor allem die Figur der Klägerin Marthe Rull wird deutlich negativer dargestellt, und als Gallionsfigur des Kleinbürgertums stilisiert: „die Brutalität gegenüber ihrer Tochter, das voreilige Auf-dem-Recht-Bestehen, kurz, die Dummheit ihrer Schläue wird mehr hervortreten müssen.“ Ein ähnliches Urteil trifft Walter: „Gerichtsrat Walter sollte man nicht in der üblichen Art einfach als den Vertreter des Rechts an sich hinstellen; seine Rechtsauffassung hat recht deutliche Grenzen. Von Anfang an ist ihm weit mehr um das ‚Ansehn’ des Gerichts als um die Gerechtigkeit des Gerichts zu tun.“ Jene Hinterfragung und Weiterentwicklung eines gesetzten humanistisch-realistischen Klassikers entspricht exakt der kritischen Aneignung, die dem Theater auferlegt wurde und die auch bei einem kanonischen Stück stets wieder angebracht ist – eines Stückes, das eben nicht nur Komödie ist, sondern ebenfalls hier die zerbrechliche Einrichtung der Welt erörtert. Dennoch müssen auch hier Vorbehalte ausgehebelt werden und der Einfluss der Erbe-Debatte schlägt sich deutlich nieder, mit all den Problemen, die eine biographieorientierte Literaturdeutung mit sich bringt. An dieser Stelle ist es vor allem die Problematik, die sich noch oft wiederholen wird und ein generelles Problem auch der Kleist-Forschung darstellt, nämlich die erhebliche Widersprüchlichkeit von Kleists Briefen und persönlichen Schriften und seinen deutlich ausdifferenzierteren fiktionalen und ästhetischen Werken: Interessanterweise kann die Umwertung der Personen, ihre realistische Darstellung, vor sich gehen ohne Änderungen des Kleistschen Textes, was kein geringes Lob desselben darstellt. Seine junkerlichen Vorurteile haben Kleist nicht die Gestaltung echter Menschen verdorben. Unsere Theater haben nur mit der Tradition der bürgerlichen Theater zu brechen, die das Werk fleißig im junkerlichen Geist aufführen, und wir haben das hervorragende realistische Bild des damaligen ländlichen Preußens im holländischen Kostüm, das Georg Lukács preist.41
Es ist somit unter Brecht/Weigel/Giehse wichtig zu betonen – und hier wird auch Brechts genereller Zugang zu Dramenstoffen deutlich –, dass nicht zwangsweise der Stoff oder der Text problematisch sind, sondern die überkom-
40 Stuber, Spielräume und Grenzen (2000), S. 52ff. 41 KMFO, Programmheft Krug, BE 1952, ebd.
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mene Theaterpraxis, die in Erpenbecks Illusionstheater fortgeführt werde. Im Kontext des epischen Theaters und einer kritisch-dialektischen Stoffaneignung könne man auch vor den gesetzten Klassikern nicht Halt machen, so wie es Brecht und auch Adolf Dresen und Heiner Müller nach ihm in vielfacher Weise demonstriert haben. Giehses Krug-Inszenierung ist somit einer der richtungsweisenden Versuche, ein sozialistisches Theater zu entwickeln und zu etablieren, mit größerer stofflicher Freiheit, aber dennoch ein Beispiel der Aufbauphase des Theaters der DDR. Fünfzehn Jahre später bemerkt man bereits deutliche Veränderungen. In der Krug-Inszenierung von Fritz Bennewitz, der 1960 von Meiningen nach Weimar gewechselt war und Anfang der 50er Jahre mit Christa Wolf und Adolf Dresen bei Deiters und Mayer in Leipzig studiert hatte, kommen 1967 auf bemerkenswerte Weise verschiedene Aspekte zusammen und werden deutlich weiterentwickelt. Im Kontrast beider Jahrzehnte wird hierbei deutlich, dass auch der Krug sich erst einmal vom Erbe emanzipieren musste und dass sich nun langsam unter Einfluss der Reformsozialisten eine dialektische Ästhetik durchzusetzen begann. Im Konzeptionspapier des Stückes, das am 13. Juni 1967 im Stadttheater Jena Premiere feierte und dann am 23. September 1967 nach Weimar übernommen wurde, lässt einen tieferen Einblick in die inhaltliche Diskussion der Theaterschaffenden zu. Zur wissenschaftlichen Vorbereitung wurden, ohne Titelangabe, Deiters, Goldammer, Lukács, Mayer (Der geschichtliche Augenblick), Mehring und Streller konsultiert, was dem gesamten verfügbaren und zitierfähigen Spekt42 rum der Zeit entsprach. Das Autorenkollektiv folgte aber vor allem Mayer und Streller, die Kleist als nicht-romantischen, bürgerlichen darstellten und gleich43 sam Lukács’ „verwirrten Junker“ falsifizierten. Dies zeigt sich auch sogleich in der Kontextualisierung des Stücks: „Der ‚Zerbrochne Krug’ wurde nicht als ‚Sonderfall’, sondern in Mayers Argumentation als selbstverständlich organischer Bestandteil des Gesamtwerkes Kleists behandelt, als ein Werk, das – in der dem Genre entsprechenden Modifikation – prinzipiell die gleichen Fragen und Probleme aufwirft, wie die anderen Schöp44 fungen Kleists auch.“ Mit Mehring und Lukács konnte man in Weimar bereits 1967 nichts mehr anfangen und man versuchte nun, Kleist als Ganzen zu fassen.
42 KMFO, Konzeption „Der Zerbrochne Krug“, Deutsches Nationaltheater Weimar, 1967, S. 13. 43 Ebd. 44 Ebd., S. 3.
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Hierbei zeigt sich schon deutlich der Einfluss neuerer wissenschaftlicher Publikationen, allen voran Mayers, die sich nach 1956 geschlossen gegen das „Verdikt von Lukács“ stellen. Auch in Weimar findet sich eine der BE-Inszenierung ähnliche Figurenkonzeption: Adam wird bewusst lauernd intelligent und nicht rein komödienhaft durch Slapstick, und Marthe Rull als Ausdruck neuen bürgerlichen Stolzes und Selbstverständnisses gezeichnet, die um das Ehrgefühl fürchtet und dafür eintritt, während die Bauern alle gute Beobachter sind, die nur von 45 Adam als ‚blödsinnig Volk’ abgestempelt werden. Die Figur Walters ist weniger über den Amtsmissbrauch erzürnt als über den Schaden am Ansehen der Jus46 tiz, an dem er gerade selbst beteiligt ist. Und auch das Ende wird von Bennewitz nicht als Befreiungsschlag konzipiert, sondern ist in dialektischer Ästhetik der Reformsozialisten eine ewige Wiederkehr des Gleichen. Zwar emanzipiert sich das Volk am Ende und kann Adam seines Postens entheben, aber im „Wechsel im Amt des Dorfrichters hat sich am Prinzip der Gerichtsbarkeit nichts geändert. [...] So wird deutlich, dass mehr als ein Krug in Scherben ging. Es ist die Brüchigkeit einer Gesellschaftsordnung, die von Kleist in Form eines Lustspiels mit allem Ernst und allen möglichen bitteren Konsequenzen dramatisch 47 gestaltet wird.“ Dies wird auch durch das Bühnenbild Helmut Wagners unterstützt, welches „die Aufgabe haben [soll], die zerrütteten Zustände (abgehandelt am Beispiele der Justiz) schon in der Verkommenheit des Gerichtsortes deutlich zu machen [eine umgenutzte Scheune], die Verlorenheit der Rechtsuchenden zu unterstützen, die an diesem, die Staatsmacht repräsentierenden Ort Gerechtigkeit 48 suchen.“ Bei dieser Darstellung fällt deutlich der Unterschied zur ideologischen Aufbauphase der 50er Jahre auf, da keine positiven Helden und Vorbilder mehr zwangsweise benötigt wurden. Ende der 60er Jahre ist jene Ankunft im Alltag bereits vollzogen und es bedarf keiner Erbe-Rechtfertigung und Vorbildwirkung mehr, sondern der dialektische Mayer-Schüler, Reformsozialist und Brecht-Rehabilitierer Bennewitz zeigt sozialistisches Theater als Zivilisationskritik, in Weimar.
45 Ebd., S. 15. 46 Ebd., S. 16. 47 Ebd., S. 18. 48 KMFO, „Notate zum Zerbrochenen Krug“, Deutsches Nationaltheater Weimar, 1967, S. 1f.
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" Eine vergleichbare widerspruchsvolle Aneignung findet sich in der Aufführungsgeschichte von Kleists Amphitryon – ein Stück, das, es mag verwundern, nach dem Krug und Homburg mit mindestens 20 Inszenierungen das drittmeistgespielte Kleiststück in der DDR war. Da sowohl antike Literatur als auch der 49 französische Klassizismus als progressiv galten und Komödien generell gern gespielt wurden kann man damit die vermeintlich unpolitische Qualität des Stückes für seinen Bühnenerfolg verantwortlich machen. Allerdings, wenn man das verfügbare Material vor allem der 50er Jahre besieht, zeigt sich auch hier deutlich, wie viele Probleme sich auftaten, wenn man das Stück wissenschaftlich wie kulturpolitisch rechtfertigen musste, da es sich bei genauem Lesen für die meisten Theaterschaffenden eben nicht um ein reines Lustspiel handelte. ! Noch völlige Verwirrung, wie man mit dem Stück umzugehen habe, herrscht im Programmheft der Frankfurter Inszenierung von Heinz Isterteil aus dem Jahre 1952, das von der Archivarin Elisabeth Schirrmacher zusammengestellt wurde, 50 die von 1953-63 die städtische Kleist-Gedenkstätte leitete. Das gesamte Heft vermittelt den Eindruck, dass man nicht wusste, wie man das Lustspiel einordnen sollte und es wird auch nicht deutlich, warum sie es eigentlich aufführen, außer dass Kleist nun einmal eine lokale „realistische“ Größe ist: „bei der Pflege des nationalen Kulturerbes gilt es hier im Bezirk Frankfurt-Oder, sich ganz besonders mit zwei großen Vertretern des deutschen Realismus zu beschäftigen, 51 mit Heinrich von Kleist und Gerhart Hauptmann.“ Die bis heute anhaltende lokale Überbetonung Kleists, die sich positiv auf das Image der Stadt auswirken soll, wird in diesem Text zelebriert, die vielen inhaltlichen Fehler machen Schirrmachers Ausführungen aber nicht überzeugender: Unzweifelhaft ist Kleist der größte Dichter der deutschen Romantik und dort, wo er der Forderung, dass die Literatur die Widerspiegelung der objektiven Realität sein muss, am nächsten kommt, wie in seiner Novelle Michael Kohlhaas und seinem Lustspiel Der zerbrochene [sic] Krug, dort wird er zum Realisten. In der Novelle Michael Kohlhaas gestaltet Kleist mit rücksichtsloser Offenheit die verbrecherische Rohheit, die barbarischschlaue
49 Das Stück hat den Untertitel „Lustspiel nach Molière“. 50 S. http://www.stadtarchiv-ffo.de/gesch/schirr/schirr.htm, aufgerufen 24.5.16. 51 KMFO, Programmheft „Amphitryon“, Kleist-Theater FFO, 1952, S. 42.
64 Gaunerei der Junker und gibt hierbei eine ausgezeichnete und historisch richtige Darstellung Deutschlands im 16. Jahrhundert.52
Argumentativ ist es ähnlich ihrer Ausführungen zum Krug drei Jahre später, allerdings bringt sie in diesem Text verschiedene Schlagworte zusammen und durcheinander, die bereits verschiedene gängige Irritationen mit Kleist dieser Zeit entlarven und die mit der Lektüre der Erbe-Autoren Lukács und Mehring und dem Fehlen zeitgenössischer Literatur in Zusammenhang steht, welche Schirrmacher als Quelle angibt. Deutlich werden dabei die Probleme und Grenzen, die einem einseitigen ideologischen Erbe-Verständnis folgen: Nicht nur, dass bei Michael Kohlhaas die beinahe magische Zigeunerrinnen-Episode im letzten Drittel der Novelle – das Lukács deshalb ausklammern wollte – stets unbeachtet gelassen wird, auch ihre Nebeneinanderstellung von Romantik, Realismus und Objektivität will sich nicht so recht erschließen. Ähnlich inkonsistent ist ein Beitrag eines W. Lensky, als Vorabdruck aus der SED-Bezirkszeitung Neuer Tag dem Programmheft beigefügt. Seine Darstellung Kleists und der Antikenrezeption des Amphitryon übernimmt vor allem die Argumente Mehrings, bezieht sie aber nicht auf den Inszenierungsanlass: In manch anderen seiner genial gestalteten Werke tritt die Ästhetik und Ethik der bürgerlichen Dekadenz [...] hervor. In seinen Dramen Amphitryon und Penthesilea entnimmt Kleist die Thematik der Antike, aber er modernisiert sie, enthumanisiert sie und trägt in sie die Todesangst und Todessehnsucht einer neuen Barb[a]rei hinein, deren letzte Konsequenz sein eigener Freitod ist. Das machte die Dichtung Kleists in der kapitalistischen Dichtung so außerordentlich modern.53
So erschließt es sich dem Leser auch nicht völlig, warum das Stück gespielt wurde, selbst wenn Lensky schließlich anführt, dass „[t]rotz all seiner Fehler [...] Kleist ein Teil der fortschrittlichen Literatur von Lessing bis Heine [ist], die die ideologische Vorbereitung der demokratischen Revolution in Deutschland 54 war.“ Doch dies ist nur die Überleitung zu Lenskys Schlussargument, dass die politisch motivierte Inszenierung einer lokalen Größe wie Kleist andeutet und vor allem ausführt, welchen Effekt das Theater offenbar ausüben soll:
52 Ebd. 53 Ebd., S. 43. 54 Ebd.
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Es wird daher die Aufgabe unserer Literaturhistoriker sein, in ihrer Kleistforschung nicht wie in der Vergangenheit die Elemente der Dekadenz, als vielmehr die durchaus vorhandenen positiven Elemente des ‚von Natur schön intentionierten Körpers, der von einer unheilbaren Krankheit ergriffen ist’, wie Goethe einmal über Kleist sagte, herauszustellen, damit das geniale Werk Kleists, diese Kleist’sche Tragödie, befreit von bürgerlicher Beweihräucherung den breiten Massen des deutschen Volkes nahegebracht werden kann.55
Dieses Argument, eingerahmt von verherrlichenden Zitaten Arnold Zweigs und Thomas Manns, offenbart ideologisch-kulturpolitisches Programm wie auch den pragmatischen Ansatz. In der Unklarheit der Aufbauphase ist man sich des Negativen bewusst, setzt aber auf die Akzentverlagerung auf die Aspekte Kleists, die man als progressiv und humanistisch verkaufen kann, sodass vor allem die Bezirksstadt Frankfurt einen berühmten Sohn der Stadt für sich reklamieren kann. Gleichzeitig fehlt aber noch die argumentative wie auch praktische Grundlage dafür, wie aus den unbeholfenen Ausführungen hervorgeht, also setzt man einfach darauf, dass durch die reine Aufführung des vermeintlich dekadenten und enthumanisierten Stückes in einem sozialistischen Theaterkontext eo ipso ein sozialistisches Theater langfristig entstehen muss. Darüber würde sich dann auch Kleists Genialität erschließen, zumindest scheinen Schirrmacher und Lensky sich das zu erhoffen. Die Lektüre Lukács’ und Mehrings brachte ihnen jedenfalls für eine kritische Aneignung des Stückes keine produktiven Impulse – allerdings wollten jene auch, dass man es nicht spielt. 1952 stand noch keine andere Literatur zur Verfügung, wie sich deutlich zeigt. Dieser Mangel hatte sich 1956 in Meiningen bereits geändert und Victors Lesebuch und Deiters’ Seminar hatten bereits ihren Einfluss verfestigt. So zeigt sich auch wiederum unter der Regie von Fritz Bennewitz, der auch die bereits genannte Weimarer Krug-Aufführung verantwortete, bereits eine völlig andere Herangehensweise, die man nicht nur seinem dialektisch-ästhetischen Ansatz, sondern vermutlich auch dem in puncto Kleist-Inszenierungen traditionsreichen Meininger Haus zuschreiben kann. Exakt wie im Frankfurter Programmheft werden Zweig und Manns Amphitryon – Eine Wiedereroberung nebst einer Übersicht über antike Götter und Namen gedruckt, damit der (nichtaltphilologisch gebildete) Zuschauer nachlesen kann. Die Kleist-Einschätzung des Intendanten Ottomar Lang bedient sich zunächst ähnlicher Argumente wie Schirrmacher und Lensky, kommt aber deutlich akzentuierter zu dem Schluss,
55 Ebd.
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dass die bürgerliche Literaturgeschichtsschreibung ein verzerrtes Kleist-Bild hervorgebracht habe, das in keiner Weise dem Dichter des nationalen Widerstandes gerecht wurde. Hier ergibt sich für die marxistische Literaturforschung eine große Aufgabe, die einer mutigen Inangriffnahme bedarf, wenn man nicht, wie es leider nicht immer die meisten Theater tun, einen solch wesentlichen Komplex unseres nationalen Kulturerbes als angeblich ‚heißes Eisen’ weiter dahinglimmen lassen will.56
In Langs Darstellung wird nun ebenfalls die Rhetorik des patriotischen Kämpfers aufgegriffen, allerdings Amphitryon in diese integriert und nicht mit Penthesilea in der Rubrik „Antike Stoffe“ belassen: All seine Widersprüchlichkeit, all seine persönliche Tragik überwand er darin, dass er uns zwei der herrlichsten Komödien schenkte, die wir besitzen: Der zerbrochene [sic] Krug und Amphitryon, dass er uns das nationale Bekenntnis Hermannsschlacht schrieb, im Prinzen Friedrich von Homburg die Hohlheit des preußischen Ehrbegriffes offenbarte und im Käthchen von Heilbronn eine der lichtklarsten Frauengestalten der deutschen Romantik schuf. [...] Neben diesen Werken kann man getrost die Entgleisung der in nihilistischverrannter Gefühlsanarchie verhafteten Penthesilea vergessen.57
Dabei wird das Stück gar nicht mal unbedingt als reine Komödie inszeniert. Bennewitz hat – in Brecht’scher dialektischer Problematisierungspraxis – vor, das ‚Lustspiel’ als Genre nicht wortwörtlich zu nehmen, sondern argumentiert in seinem Beitrag, dass „Lust [...] ein so weites Feld menschlicher Empfindungen [sei], dass sie nicht auch aus erhabenen Verwirrungen zu beziehen sei, wenn sie nur im Aller-Menschlichen aufgelöst werden, unkompliziert und erlösend wie in dem menschlich hohen, allzumenschlichen ‚Ach’ Alkmenens an Amphitryons 58 Brust?“ Ähnlich wie in seiner späteren Krug-Inszenierung und ähnlich seiner Mayer-Kommilitonen Dresen, Weigel und Wolf, unterzieht er das Stück in seiner Inszenierung einer humanistischen Realkritik, die wiederum einen Reflexionsprozess über die sozialistische Gesellschaft auslösen soll. Mit dieser Neubewertung des Stückes scheint Amphitryon für Lang und Bennewitz auch eine theaterpraktische Hintertür zu sein, Kleist kulturpolitisch wieder hoffähig zu machen. Es ist eine publikumstaugliche Komödie, kann als Humanismus „verkauft“
56 KMFO, Programmheft „Amphitryon“, Meininger Theater, 1956, S. 93. 57 Ebd., S. 94. 58 Ebd., S. 96.
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bzw. in diesem Sinne gelesen werden, hat keine so starke Negativrezeption erfahren wie manch anderes Stück und birgt in der Tat gesellschaftskritisches Potenzial, das für das sozialistische Theater von großer Relevanz ist. Zudem ist mit Bennewitz ein Brecht- und Mayer-Schüler und Kleist-Freund am Werk, dem viel daran gelegen ist, jenen für die Suche nach einem nationalen DDR-Theater zu rehabilitieren, der aber auch um dessen dialektisches Potential weiß. Die Verortung des Stücks im Kontext der Befreiungskriege und als Gesellschaftskritik griff auch die Cottbuser Inszenierung von Wolfram Lindner auf – jene, die auch zur Festwoche nach Frankfurt geladen wurde. Das Programmheft zitiert nun auch Victor und Deiters, und setzt in Ein Bekenntnis zu Größe und Wert menschlicher Liebe eines „G.H.“ die gesellschaftskritische Anlage des Stücks in direkten Zusammenhang mit seiner Entstehungsnähe zum Krug: „An Molière anknüpfend, schrieb Kleist, erfüllt von realistischem Komödiantentum, das Lustspiel Amphitryon; die ersten lebensvollen Novellen entstanden, darunter der unsterbliche Michael Kohlhaas. Hier gewann auch Der zerbrochene Krug 59 dramatische Gestalt.“ G.H. verweist wiederum auf die wechselhafte bürgerliche Rezeptionsgeschichte und den bescheidenen Erfolg des Stückes, das dafür viel Zuspruch z.B. von Thomas Mann erhalten habe. Es gebe somit etliche Gründe, das Stück zu reanimieren, denn statt nur um ‚Verwirrung der Gefühle’ und aktualisierender Antikenrezeption, die Goethe kritisierte, ginge es im Stück um „ein Bekenntnis zu Größe und Wert menschlicher Liebe“, die in Alkmene 60 konzentriert sei. Die zeitnahe Entstehung zum Krug sei zudem wichtig, da beide Stücke den Machtmissbrauch von Obrigkeit verhandeln: Zweifellos: Molière hat dem griechischen Sagenstoff in genialer Formung jene Aussagekraft verliehen, die es ihm erlaubte, eine aggressive Kritik an den Moralgebräuchen Ludwigs XIV. zu üben. Kleist hat unter Beibehaltung der wichtigsten Handlungslinien eine solche Vertiefung erreicht, dass, geht man nicht auf die „Verwirrung der Gefühle“ aus, das Stück zu den humanistischen Werken der Weltliteratur gezählt werden muss.61
In allen drei Ausführungen kann man bereits eine sich stetig verfestigende Argumentationslinie erkennen, die sich stetig mehr dem eigentlichen Text zuwendet und aus ihm heraus Thesen für den Humanismus abzuleiten bemüht ist, was
59 KMFO, Programmheft „Amphitryon“, Theater der Stadt Cottbus, 1961, S. 7. 60 Ebd., S. 9. 61 Ebd.
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argumentativ deutlich schlüssiger gelingt als Humanismus und Realismus zu präsupponieren und nach diesen Kriterien die Werke von Autoren zurechtzustutzen. Der Einfluss neuerer wissenschaftlicher Publikationen macht sich zudem bemerkbar, sodass man hierbei nun in der Tat vom fortschreitenden Prozess der kritischen Aneignung, aber auch von der voranschreitenden marxistischästhetischen Umwälzung von ideologischer zu dialektischer sprechen kann, für die sich die zweite Generation der Reformsozialisten (Kapitel 2) verantwortlich zeigte.
Die erste literarische Annäherung an Kleist fand ihren Sitz im Leben im theaternahen Drama und wurde 1956 in Form von Dora Wentschers Heinrich von 62 Kleist veröffentlicht, welches 1961 zum 150. Todestag Kleists sogar in einer leinengebundenen Prachtausgabe neuaufgelegt wurde. Der dramenartige Text, der keine Gattungsbezeichnung aufweist, aber im Onlinearchiv des Thüringer 63 Literaturrats treffend als „Biographische Dichtung in Dialogen und Szenen“ kategorisiert wird, hatte es somit bereits in den 50er Jahren in die Form einer gedruckten Klassikerausgabe geschafft. Das liegt darin begründet, dass es sich hierbei um ein Musterbeispiel einer betont ideologischen Annäherung an Kleist handelte, das vor allem über die Biographie Kleists Werke zu verstehen suchte und sich alle Mühe gab, ein Werk des sozialistischen Realismus zu fabrizieren. Die 1883 in Berlin geborene Schauspielerin, Bildhauerin, Malerin und Schriftstellerin Wentscher war seit 1929 Mitglied der KPD und floh 1933 über Prag nach Moskau. Ob sie dort auf den seit 1930 ebenfalls in Moskau ansässigen Lukács traf, bleibt Spekulation. Wie das Literaturarchiv der Akademie der Künste Berlin angibt, stammen aus dieser Zeit allerdings etliche „publizistische und 64 literarische Texte über Heinrich von Kleist“, die zwar nie veröffentlicht wurden, aber sicherlich in die spätere Arbeit an ihrem Stück eingeflossen sind. 1946 kehrte sie nach Weimar zurück und lebte dort mit ihrem Ehemann Johannes
62 Wentscher, Heinrich von Kleist (1961). 63 http://www.thueringer-literaturrat.de/index.php?pageid=14&unitid=2635, aufgerufen am 13.08.15. 64 http://www.adk.de/de/archiv/archivbestand/literatur/index.htm, 13.08.15.
aufgerufen
am
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65
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Nohl bis zu ihrem Lebensende im Jahre 1964. Seitdem scheint sie dem Vergessen anheimgefallen zu sein, und ihr Werk findet weder in Buchläden oder auf Bühnen Erwähnung und wird auch in der Sekundärliteratur kaum thematisiert. Das mag teils auch am Stück selbst liegen. Das mit 250 Seiten sehr umfangreiche und monologlastige Werk ist in sich kaum für eine Inszenierung konzipiert und der streng biographisch-chronologische Aufbau, der mit unzähligen Zitaten aus Kleists Werken und Briefen angereichert ist, fällt oft in hölzerne Lehrhaftigkeit zurück, in dem Kulturreferenzen schaukastenartig präsentiert wer67 den, und ist in vielen Szenen geradezu plattitüdenhaft eindimensional: etwa wenn Kleists Leiden an der Ungerechtigkeit der Welt und sein Selbstmord bereits in der 1. Szene des Stückes – überschrieben „Es gibt keine Wahrheit“ – dem kindlichen Kleist und einem namenlosen Vetter in den Mund gelegt werden: VETTER: Aber er lobt mich mehr als Dich, trotzdem Du immer kannst und ich nie. Ich will sterben, Heinrich. HEINRICH: Sterben wollen ist Sünde! Weine nicht. VETTER: Ich will aber doch sterben. HEINRICH: Ich nicht. Ich will General werden wie Onkel Franz oder Feldmarschall wie Onkel Eduard. VETTER: Das wirst du auch. Ich sage es doch, Heinrich, weil es wahr ist! Ich gebe mir viel mehr Mühe als Du und kann doch nichts. Der liebe Gott ist ungerecht. HEINRICH: Ich habe nachgedacht. Was du sagst, ist richtig. Es ist fürchterlich. VETTER: (hat vor Schluchzen nichts verstanden): Was sagst Du? HEINRICH: Ich will auch sterben. (9) 68
Wie Wentscher selbst in ihrem NDL-Beitrag Mein Kleistbild 1954 betonte, geht das Werk auf drei wesentliche Entstehungsphasen zurück: Die erste fällt auf die 20er Jahre, im Moskauer Exil folgte eine größere Umarbeitung, und nach ih69 rer Rückkehr nach Deutschland entstand die endgültige Fassung. Das bis auf wenige biographische Fehler und künstlerische Freiheiten überaus biographietreue Werk ist allerdings in mehrfacher Hinsicht für seine Entstehungszeit und
65 Johannes Nohl (1882-1963), Bruder des Erziehungswissenschaftlers Herman Nohl, langjähriger Angehöriger des George-Kreises, zeitweise Lebenspartner des Anarchisten Erich Mühsam und zeitweiliger Analytiker Hermann Hesses. 66 S. Dudek, Leben im Schatten (2004), S. 11. 67 „Unverschämter Junge! Versündige dich nicht an dem großen Wort Jean Jaques‘ ‚Zurück zur Natur!‘“, S. 20. 68 Die Zeitschrift Neue Deutsche Literatur (NDL) war ab 1952 neben Sinn und Form eine der wichtigsten Literaturzeitschriften der DDR. 69 Wentscher, Mein Kleistbild (1954), S. 66.
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Würdigung sowohl sehr repräsentativ als auch durchaus bemerkenswert, was man an drei Aspekten der Darstellung besonders hervorheben kann.
Die allgemeine Darstellung der Figur Kleist rückt vor allem – wie auch die Inszenierungen der Zeit – das politische Engagement des empirischen Autors stark in den Vordergrund. Die drei Teile des Stückes sind Der Kampf um den Kranz, Der Kampf ums Vaterland und Vom letzten Uferrand betitelt und gliedern im sozialistischen Jargon einen politischen Kämpfer vor, der in den jeweiligen Szenen ausgestaltet wird. Vor allem wird er als analytischer Demokrat dargestellt, der Napoleon durchschaut und vor der Bedrohung seines Vaterlandes und der Freiheit warnt: „KLEIST: (ausbrechend) Ihr begreift ja nicht, über kurz oder lang haben wir die Franzosen im Land!“ (87), oder: „Die deutschen Fürsten – was für erbärmliche Menschen! Napoleon hörig – alle!“ (92) Wentscher selbst bezeichnete in Mein Kleistbild die „bürgerlich-revolutionäre Menschheitssucht“ 70 des Dichters als wesentlichen Inhalt ihres Werkes. Wie Honnef betont, tritt gegenüber dem politisch engagierten Kleist dabei der Dichter deutlich in den Hin71 tergrund. Signifikant ist dabei, dass Wentscher alle seine Werke als politisch engagiert darstellt, wobei bemerkt werden muss, dass sie bis auf Michael Kohlhaas alle Erzählungen auslässt: „KLEIST: […] Der Verwüster Europas, das Ungeheuer Bonaparte, auch er ist Penthesilea. Er nicht darum, weil er nicht geliebt 72 wird; weil er verflucht ist, dass er nicht lieben kann.“ (102). Es wird deutlich, dass auch Wentscher den Freiheitskämpfer Kleist stark akzentuiert. Dass sie dabei die Erzählungen auslässt, könnte man grundsätzlich aus dem Kanon des Erbes heraus begründen, andererseits, wie man in den Zitaten sieht, nimmt sie Stücke wie Penthesilea und Die Hermannsschlacht mit auf und deutet sie im Rahmen des Freiheitskampfes gegen Napoleon, was vor allem Penthesilea stark seines Inhalts beraubt. Der Grundkonflikt der Figur Kleist ist, dass er zwar leidenschaftlich (und etwas größenwahnsinnig – die oft genannte Ruhmsucht) sich für eine gute Sache einsetzt, aber die Zeitumstände die Umsetzung verhindern und
70 Wentscher, Mein Kleistbild (1954), S. 66. 71 Vgl. Honnef, Kleist in der DDR (1988), S. 87. 72 Ein weiteres Beispiel: „KLEIST: Könnte ich diese Geschichte des Rosshändlers schreiben! Im Volk sind Menschen. Wille zum Guten, Rechtlichkeit, Hartnäckigkeit, Starrsinn. […] Dieser Kohlhaas, als man ihm sein Recht verweigerte, was tat er? […] Und wir heute? Mucksen nicht einmal. Warum fordert das Volk keine Verfassung? Ruft nicht Sturm? Nichts.“ (90).
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er am „Kadavergehorsam“ (211) der Preußen zerbricht. Kleist als politischen Idealisten zu zeichnen, dessen Kampf ehrenvoll an undemokratischen Autoritäten scheitert, ist erneut eine klare Umgewichtung Kleists hin zu einer politischen Leitfigur, die auch als Vorbild für den Sozialismus gelten kann. Das geht einher mit einer pointiert arbeiterfreundlichen Gesinnung der Figur Kleist. Einerseits wird er eindeutig als Antifeudalist charakterisiert, wie in einer Szene in der Redaktion der Abendblätter deutlich wird: MÜLLER: Deutschland braucht eine echte Ständeverfassung. Ihre Basis bleibt ewig der Feudalismus. […] Glauben Sie auch nicht mehr an Gott? KLEIST: Dass der Feudalismus von Gott ist, nein, das glaube ich nicht. MÜLLER: Dass nur nicht das Tischtuch zwischen uns entzwei reißt! Mir ist also befohlen, das Maul zu halten. KLEIST: Das wieder ist mir gar nicht recht, Adam. Aber die Luxussteuer sollen die tragen, die es können. Ich kenne den Eigennutz unseres grundbesitzenden Adelspacks. (189/190)
Diese Rede, die wie eine zeitlose sozialistische Argumentation anmutet, ist aber nicht der einzige Kunstgriff, den Wentscher verwendet, um Kleist DDRkompatibler zu machen. In verschiedenen Szenen lässt sie ihn sowohl selbst als Arbeiter, als auch als arbeiterfreundlich auftreten. Zum einen ist es die Tätigkeit Kleists als Tischler in der Schweiz, der eine stark persönlichkeitsbildende Rolle zugesprochen wird, da er somit endlich eine Verbindung zur körperlichen, arbeitenden Welt herstellen konnte, was den Bitterfelder Weg von 1959 bereits anklingen lässt. Weiterhin wird Kleist im Stück wiederholt mit der arbeitenden Bevölkerung konfrontiert, mit deren Lebenswelt er sich stets gut auskennt, und sogar mit einem Friseur über Dichtkunst sprechen kann: KLEIST: Sie interessieren sich für Dichtkunst? [...] Was ist Ihr Beruf? Wenn es erlaubt ist zu fragen? DER JUNGE FRISEUR: Ich habe Friseur gelernt. KLEIST: Friseur? Ein unterrichtender Beruf. Sie lernen die Menschen kennen! DER JUNGE FRISEUR: O ja. KLEIST: Wenn Sie so einen bei der Nase haben, so einen feinen Monsieur, haben Sie schon mal Lust verspürt, manchmal, ein bisschen auszurutschen unter seinem Kinn – mit dem Messer? […] DER JUNGE FRISEUR: Bei Gott, nein. So etwas kommt unsereinem nicht in den Sinn. KLEIST: Ehrerbietung gewohnt, na ja. Aber Verse macht er? (204/205)
Die Szene zeigt Kleist nicht nur als Antifeudalist und Arbeiterfreund (nebst dem literaturinteressierten Arbeiter), sondern Kleist offenbart sogar blutige Klassen-
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kampffantasien. Im Unterschied zu ihrer einseitigen Gewichtung der politischen Biographie Kleists, werden an dieser Stelle eindeutig Aspekte hinzuerfunden, die wiederum Kleist besser als Leitfigur des sozialistischen Erbes begreifen lassen. Während Wentschers genannte gestalterische Maßnahmen natürlich auch eine Form der Rehabilitierung Kleists darstellen, so lassen diese sich vor allem aber mit dem Kanon und den Forderungen des sozialistischen Realismus kontextualisieren, ohne dass Wentscher Kleist allzu sehr dafür zurechtbiegt. Sie nimmt aber auch einige Punkte auf, die für das Jahr 1956 durchaus bemerkenswert sind und die, wie sich zeigen wird, teils noch über 20 Jahre später diskutiert werden sollten. Besonders zentral hierbei ist ihre Thematisierung des für die KleistRezeption so schicksalshaften Verhältnisses zu Goethe, gegen den sie Kleist selbstbewusst auftreten lässt: Einerseits zitiert sie Wielands überschwängliches Lob für seinen Entwurf zum Guiskard als das neue, was Goethe und Schiller noch nicht vermochten (58). Jene Verortung Kleists als Ergänzung zur Klassik stellt eine herausstechende Neubewertung dar, wie auch eine Forderung, Kleist fest zu kanonisieren. Somit kann andererseits Kleist an späterer Stelle auch selbstbewusst sein eigenes ästhetisches Programm in Abgrenzung zur Klassik behaupten: „KLEIST: Was wahr ist, kann nicht unschön sein. ARNIM: Da haben Sie Weimar gegen sich. KLEIST: Das wage ich – nicht weniger als Sie, wenn auch anders.“ (176). Dieses Zitat macht auch deutlich, dass Wentscher ihn zudem von der Romantik abgrenzt, in welche Kleist ja lange Zeit subsumiert wurde und teils auch noch wird. Damit widerspricht sie allerdings auch an dieser Stelle dem Kanon und vor allem dem Urteil Goethes wie Lukács‘. Kleist steht für Wentscher gesondert: MÜLLER: Ja, das Käthchen! Sie erkennen keine Schule an. Das ist Ihre größte Sünde. Sie hören nicht auf die Offenbarungen der Romantiker, ganz unverzeihlich! Shakespearsche Szenenfolge, dazu romantisch-teutsche Szenerie – nicht nach der Vorschrift, mein Teurer! (191/192)
Wentscher geht also nicht so weit, auch die Romantiker rehabilitieren zu wollen, sondern wertet Kleist gesondert in einer Kategorie Weimarer Niveaus. Auch einem weiteren, signifikanten Punkt der negativen Kleist-Rezeption gibt Wentscher eine positive Wendung: dem Vorwurf der Geisteskrankheit, der sich von Goethe über Mehring und Lukács in den DDR-Kanon zog, zieht sie einen deutli-
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chen Schlussstrich: „KLEIST: Wir sind nicht rasend und auch nicht mystisch berauscht, Frau Henriette Vogel. Das Erhabene ist, dass wir wissen, was wir tun.“ (238). Dass sie den Selbstmord als einen Akt eines politischen Idealisten zeichnet, der sich weigerte, sich in Schubladen stecken zu lassen und schließlich an den politischen und gesellschaftlichen Umständen zugrunde gehen musste, lässt Kleist nicht nur als ein politisches wie künstlerisches Vorbild für den Sozialismus erscheinen, sondern es erlaubt Wentscher auch, mit einem weiteren Tabu zu brechen: Der Doppelselbstmord von Kleist und Vogel findet auf der Bühne statt. Wenn schließlich in der Schlussszene Generalfeldmarschall Gneisenau und seine Frau resümieren, dass Kleist „an der guten Sache verzweifelt“ (243) sei, dann hat Wentscher Kleist auf ganzer Linie als kanonischen Dichter für die DDR rehabilitiert, in einem Maße, das alle wirklich problematischen Punkte an Kleist sorgsam ausgespart hat. Ihre genaue Quellenkenntnis, die Einsprüche gegen etablierte Literaturwissenschaftler und die teils durchaus differenzierten Charakterzeichnungen zeigen zwar, dass sie ein persönliches Interesse damit verband, Kleist einen positiven Platz im literarischen Erbe der DDR zu geben. Gleichsam ist es aber auch ein Werk, das die Vorgaben der sozialistischen Lite73 ratur penibel befolgt. Im Unterschied zu Honnef, der wegen der langen Entstehungszeit das Stück für wenig repräsentativ für das Kleist-Verständnis der frühen DDR hält, ist es eher deutlich der Fall, dass ebenjene Exilsgeneration diese Phase maßgeblich geprägt hat und das Stück, in Ekes Worten, „der beginnenden Umcodierung Kleists vom Parteigänger der Reaktion zum Vordenker einer demokratischen Gesellschaft und der sie begleitenden ‚Ehrenrettung‘ des ‚Patrio74 ten‘ Kleist gegenüber dem reaktionären ‚Nationalisten‘“ ein erstes literarisches Monument setzt. Der gewählte moderate Mittelweg Wentschers hat vermutlich auch dazu geführt, dass das Stück in dieser Form 1961 als Klassikerausgabe er75 scheinen konnte. Der Schlussmonolog Gneisenaus könnte zumindest kaum repräsentativer für den Aufbruch der ersten Generation stehen:
73 Vgl. Honnef, Kleist in der DDR (1988), S. 90f. 74 Eke, Kleist-Rezeption DDR (2009), S. 427. 75 Wie Peter Dudek in seiner Biographie Johannes Nohls aber berichtet, verlief die Ersveröffentlichung 1956 nicht nach Wunsch der Autorin. Louis Fürnberg, Begründer der Zeitschrift Weimarer Beiträge. Zeitschrift für Literaturgeschichte, Ästhetik und Kulturwissenschaften, und Weimarer Bekannter Wentschers, hatte sich bei verschiedenen Verlagen für die Veröffentlichung des Dramas eingesetzt, was allerdings vom Aufbau-Verlag und dem Dietz-Verlag abgelehnt wurde, sodass das Werk letztendlich in Wentschers Stammhaus, dem Weimarer Volksverlag, erschien, worüber die Autorin nicht begeistert war, wie aus einem Brief Fürnbergs aus dem Jahre 1955 hervor-
74 GNEISENAU: […] Glaube mir, die Helden der Zukunft werden weder Eroberer noch Tyrannen sein. Allen Napoleonen zum Trotz: Völker, die sich selbst befreien, das ist die Menschheitszukunft. Heitere dich auf, liebste Freundin. Unser Kampf braucht fröhliche Menschen.(245)
Eine weitere Ebene nationaler Aneignung und Beschlagnahmung Kleists fügen die Inszenierungen hinzu, die im Rahmen der Deutschen Festspiele unter der Leitung Curt Treptes im Harzer Bergtheater Thale zwischen 1957 und 1963 stattfanden. Jene Festspiele sind ein Spiegel dessen – ähnlich der Autorenehrungen und Denkmalsanlagen – wie die DDR bereits vorhandene Kulturinstitutionen nutzt und weiterentwickelt, ohne sie allzu kritisch zu hinterfragen. Die drei Inszenierungen spiegeln zudem verschiedene Facetten von Produktionen wider, deren sozialistisch-gesellschaftlicher und nationaler Bildungsauftrag bedeutender waren als die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Stoff, obwohl alle drei Inszenierungen in ihrem Bestreben, eine Nationalkultur zu entwickeln, in jeweils unterschiedliche Richtungen tendieren: Bei Die Hermannsschlacht kann 1957 von einer extremen ideologischen Variante der ‚Aneignung’ gesprochen werden, die an militante Propaganda grenzt. Gleichsam ist im Falle des Käthchens im Rahmen der Kleist-Ehrung 1961 ein konsequent pragmatischer und konfliktloser Wille zur Aktualisierung des Stoffes vorhanden, während 1963 bei Die Fehde des Michael Kohlhaas versucht wird, ein National-Epos im Sinne des revolutionären Erbes zu schaffen. Das Harzer Bergtheater, 1903 als Grüne Bühne durch den völkischantisemitischen Schriftsteller Ernst Wachtler gegründet, sollte zuvorderst eine
geht: „Es ist einfach gar nicht einzusehen, wie eine solche tiefe Dichtung und Deutung, die künstlerisch überzeugend ist, bisher nicht beachtet werden konnte. Ich verstehe auch, warum du zögerst, den Volksverlag mit der Herausgabe zu betreuen. Ein solches Werk kann nur von einem Verlag gebracht werden, der einen größeren Aktionsradius hat, und der Volksverlag ist zu sehr auf die Volkslesebücher und nunmehr die Volksklassiker konzentriert.“ Die 1961er Ausgabe dürfte Wentscher in diesem Aspekt befriedigt haben. Ob es zu einem späten Einsehen der Verlagsobrigkeit gekommen war oder ob ihr Werk schlichtweg das einzige war, was man zum Jubiläum guten sozialistischen Gewissens veröffentlichen konnte, kann nur gemutmaßt werden. S. Dudek, Leben im Schatten (2004), S. 146.
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Weihebühne „germanischer Heimatkultur“ vor allem für Wagner-Opern sein, die durch ihre Einbettung in das landschaftliche tremendum et fascinosum des Bodetals ein Natur- und Heimatgefühl erzeugen, und durch seine Harzfestspiele, wie er es in seiner Deutschen Volksbühne thematisierte, hoffte er, die völkische Be76 wegung performativ unterstützen zu können. Dies alles scheint im selbsterklärten antifaschistischen Staat kaum Reibungen zu erzeugen, denn nur acht Jahre nach dessen Gründung kann man im Quedlinburger Kulturboten lesen: 1954 griff das Harzer Bergtheater unter der Leitung von Curt Trepte auf die Tradition des Begründers Dr. Ernst Wachtler zurück, ‚Deutsche Festspiele’ durchzuführen. Dieser verpflichtenden Tradition folgend, wurden die alljährlichen ‚Deutschen Festspiele’ im Kampf um die Einheit unseres Vaterlandes und um die Unteilbarkeit deutscher Theaterkultur zu einem nationalen Erlebnis und Bekenntnis, das seine Anziehungskraft nicht nur auf Hunderttausende in der DDR, sondern auch auf eine große Zahl westdeutscher und ausländischer Besucher ausübte.77
Dass jene Strukturen praktisch unverändert übernommen wurden, zeigt noch sehr deutlich, wie wenig die DDR-Kulturszene in der Anfangsphase den Aufbau einer spezifisch sozialistischen Nationalkultur eigenständig formulieren und von Vorgängerstrukturen abstrahieren konnte und wie man in der Handlungsnot erst einmal auf bewährte nationalistische Identifikationsmuster zurückgriff und sie 78 schlichtweg mit sozialistischem Vokabular ausstattete. Zwar wird im Jubiläumsband 1963 Wachtlers Theaterpraxis als nicht mehr zeitgemäß kritisiert, er im Vorwort aber dennoch vom Präsidenten des Kulturbunds, Max Burghardt, als „echte[r] deutsche[r] Humanist“ gefeiert, der aus „dem lebendigen Geiste des 79 antiken Griechenland“ schöpfte. Diese Festspiele wurden als Beitrag zur deutschen Einheit und zum Aufbau einer sozialistischen Nationalkultur inszeniert,
76 Vgl. Puschner, Die Völkische Bewegung (2001), S. 228f. 77 KMFO, „Kulturbote für den Kreis Quedlinburg“, Juni 1963, S. 85. 78 Selbst das Programm der Festspiele, von einigen zeitgenössischen Stücken Friedrich Wolfs oder Hedda Zimmers abgesehen, hätte ohne Weiteres in den 30er Jahren laufen können: 1954 wurden Der Freischütz, Schillers Die Räuber und Schwarzwaldmädel, 1955 Wilhelm Tell, 1956 Hebbels Die Nibelungen, 1957 Die Hermannsschlacht und 1958 Hans Sachs gegeben, wobei die Rollen Franz Moors, Tells, Siegfrieds und Hermanns allesamt von Hermann Stövesand verkörpert wurden, einem Schauspieler, der in jeder Hinsicht dem Stereotyp eines Teutonen entsprach. S. Abb. 1, KMFO, „Kulturbote für den Kreis Quedlinburg“, Juni 1963, S. 85. 79 Trepte, Harzer Bergtheater (1963), S. 7.
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unter der Regie von Curt Trepte, der die Position von 1954-63 innehatte und dessen Weggang – nachdem die Festspiele nach dem Mauerbau an Bedeutung und Aufmerksamkeit verloren – auch deren Ende bedeutete. Trepte, der ab 1930 mit Erwin Piscator in Berlin und 1931 mit Hans Otto, Fritz Erpenbeck und Gus80 tav und Inge von Wangenheim arbeitete, schaffte es nicht, wie auch Walther Pollatschek in seinem Beitrag zum Sozialistischen Freilichttheater, sich von der völkischen Ästhetik und Naturwirkung des Theaters zu distanzieren, außer durch das Argument, dass das Theater nun von Kommunisten geleitet würde, was 81 selbstredend einen fulminanten Unterschied bedeutete. Abb. 1: Hermann Stövesand als Hermann
Quelle: © Stadt Quedlinburg, Fotograf: Heinz Kittel
80 Ebd., S. 74f. 81 Ebd., S. 50f.
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In diesen Kontext konnte nun kongenial integriert werden, dass Kleist in seinem Brief an Collin vom 20. April 1809 schrieb: „ich wünschte, ich hätte eine Stim82 me von Erz, und könnte sie, vom Harz herab, den Deutschen absingen.“ Dies will nun Trepte mit seiner Inszenierung performativ-kollektivistisch umsetzen. Doch allzu reibungslos ging es nicht vonstatten, denn die Entscheidung, das offiziell verteufelte und vom Erbe ausgeschlossene Stück auf den Plan zu setzen, löste landesweit Proteste aus, da es nicht offensichtlich schien, wie man in der DDR das Stück zu ähnlichen Zwecken wie unter nationalsozialistischer Diktatur inszenieren konnte. Reeve arbeitet hierzu heraus: The mere decision to produce the play created such a stir in East German theatrical circles that the management felt obliged to seek support from leading artists and intellectuals […], and to justify its choice by the inclusion of a thirty-six page program outlining the pros and cons.83
Die in der Tat zwei Programmhefte, die wegen der Diskussionen besonders ausführlich begründet werden mussten, sind in ihrem Umfang ideales Analysematerial, welches ein breites Spektrum der Debatte schildert. In den Gedanken zur Aufführung des Schauspiels „Die Hermannsschlacht“ und im großen Programmheft wird, unter Hinzunahme von Äußerungen verschiedener kultureller Autoritäten, einerseits die übliche rhetorisch-dialektische Aneignung des „gewaltige[n] Schauspiel[s]“ unternommen, wie man sie in den anderen Produktionen auch schon erkennen konnte, und gleichsam eine wenig subtile AgitpropArgumentationslinie aufgebaut, die in dieser Form bemerkenswert ist. Das ganze Stück wurde unter dem Motto inszeniert: Adenauer, der imperialistische Aggressor und Verräter der deutschen Einheit. Die fast 950 Jahre zurückliegende Schlacht im Teutoburger Wald in Kleist’scher Ausgestaltung ist dabei Fundament eines sich wiederholenden Unterdrückungszirkels des deutschen Volkes. So wird aus Victors Lesebuch ein Beitrag von Fritz Lange aus dem Jahre 1952 über Gneisenau zitiert, „Über die Notwendigkeit, aus der eigenen Geschichte zu lernen“:
82 KMFO, Deutsche Festspiele 1957, S. 10, und auch Semdner, Kleist Sämtliche Werke (2008/Bd.2), S. 824. 83 Reeve, Kleist on Stage (1993), S. 150.
78 Lange stellt in einigen Sätzen fest, in welche Lage sich Deutschland nach der verbrecherischen Unterzeichnung des Generalkriegsvertrages durch die Regierung Adenauer befinde, um dann sogleich zu zeigen, dass nach dem totalen Zusammenbruch des preußischen Staates von 1806 die damals herrschende Junkerklasse sich bereits in ähnlicher Weise ‚in die Gefolgschaft des siegreichen Räubers’ begeben habe, um die eigene Herrschaft über das Volk zu sichern.84
Kleist wird in diesem Kontext als jemand dargestellt, der aus „dem Instinkt des jugendlichen Humanisten“ handelte und von Lenin den wenigen Männern zugeordnet wurde, „die zum Widerstand aufriefen, als das deutsche Volk vom Mili85 tärstiefel Napoleons getreten wurde, ‚die besten Männer Preußens’.“ Lukács’ Unterscheidung Kleists in reaktionären Romantiker und bedeutenden Realisten wird daraufhin bestätigt, allerdings auch zugleich pragmatisch relativiert: In unseren Tagen der nationalen Bedrängnis jedoch, angesichts der Bedrohung unseres Vaterlandes durch das Bündnis der imperialistischen Volksverräter des Westens mit den räuberischen, amerikanischen Aggressoren, heute, wo es um Einheit und Frieden geht und wo alle wahren Patrioten aufgerufen sind, sich zum Schutz der Lebensrechte des deutschen Volks zu wappnen, - in dieser unserer deutschen Gegenwart bringt sein leidenschaftliches Aufbegehren gegen nationale Unterdrückung und Versklavung Heinrich von Kleist besonders nahe.86
Um diesen Ansatz nun auch für die konkrete Aufführung zu legitimieren, wird das Ganze zudem in lokal-nationalen Farben gemalt: „Es gehört zum Wesen der Deutschen Festspiele, eine ‚von nationaler Eigenart durchtränkte Dramatik’ zu pflegen, so wie sie Quedlinburgs größter Sohn, Friedrich Gottlieb Klopstock, für ein Theater unter freiem Himmel gefordert hat. In einem solchen Theater auf den Höhen des Harzes wollte er seine Dramen aufgeführt sehen; übrigens Dramen 87 um Hermann, den Cheruskerfürsten.“ Auch hierbei wird die völkische Tradition des Theaters völlig ausgelassen, jedoch nicht ohne dabei trotzdem völkisch zu argumentieren. Sogleich wird Kleist selbst Klopstock anheimgestellt, dessen nationale Rhetorik sich erneut treffend auf den Harzer Kontext übertragen lässt: „Die herrlichste Landschaft der Zukunft breitet sich vor unseren Blicken [...]: die
84 KMFO, Gedanken zur Aufführung des Schauspiels „Die Hermannsschlacht“, Thale 1957, S. 2. 85 Ebd., S. 3. 86 Ebd., S. 4. 87 KMFO, Programmheft Deutsche Festspiele, Thale 1957, S. 7.
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Wälder gesunder Eichen im lachenden Grün: die Millionen der Völker der Friedensfront, das neue Bewusstsein, gestählt am eroberten, besten Erbe unserer 88 großen Meister: sie trotzen sieghaft jedem Sturm.“ Man kann nun nicht abstreiten, dass Kleists teils ebenfalls sehr eindimensionale nationalistische Metaphorik dasselbe Anliegen verfolgte wie Trepte mit seiner Inszenierung. Prägnant daran ist aber, dass dies exakt die Gründe sind, wofür man Kleist und dieses Stück aus dem Erbe ausgeschlossen hatte, während Trepte, wiederum ähnlich wie Kleist mit dem Stück, die Strategie bemüht, dass in Zeiten nationaler Not jedwede Differenzierung überflüssig scheint. Trepte geht sogar noch einen Schritt weiter, indem er fast schon aggressivdemagogisch die politische Lage historisch-analog als Das gleiche Prinzip im Wandel der Zeiten vermittelt: So wird zunächst „Divide et impera! – Teile und herrsche! (Wahlspruch des römischen Imperiums bei der Unterdrückung fremder Völker, wurde auch zum Prinzip des englischen Imperiums)“ genannt, es dann um „Ich hatte es leicht, die Deutschen zu beherrschen, ich brauchte sie nur zu entzweien. Napoleon I.“ und um den II. Weltkrieg ergänzt: „Wenn wir sehen, dass Deutschland gewinnt, so sollten wir Russland helfen, und wenn Russland gewinnt, so sollten wir Deutschland helfen; sollen sich nur auf diese Weise möglichst viele totschlagen. Harry S. Truman am 22.6. 1941, am Tage des faschisti89 schen Überfalls auf die UdSSR.“ Die letzten beiden Zitate holen den Kontext der Inszenierung hinzu. So wird erst Aristan, der sich im Stück als freier Fürst Varus und nicht Hermann anschließen will, zitiert und Konrad Adenauer gegenübergestellt: „Vergessen Sie bitte nicht, dass ich der einzige deutsche Kanzler 90 bin, der die Einheit Europas der Einheit seines eigenen Vaterlandes vorzieht.“ In der Logik der revolutionären Traditionen wird hier Adenauer in den Kontext des imperialistisch-faschistischen Feindbilds eingeordnet, und wie gegen die römischen, französischen und amerikanischen Okkupanten soll nun die Bevölkerung der DDR, aber auch der Bundesrepublik, im Sinne Kleists gegen den Westen mobilisiert werden: „Sein Anliegen ist auch das unsere und wir wollen mit unserer Aufführung alle die Bemühungen unterstützen, deren Ziel es ist, allen 91 Deutschen ihre nationale Pflicht vor Augen zu stellen.“ Entsprechend kämpferisch ist auch das Geleitwort des Kollektivs, das aus heutiger Perspektive, aber auch im damaligen Kontext des NVA-Aufbaus und
88 Ebd., S. 12. 89 Ebd., S. 3. 90 Ebd. 91 Ebd., S. 2.
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einer Inszenierung, die ähnlich im Dritten Reich hätte stattfinden können, fast ironisch gelesen werden muss: Wir, das Ensemble der Deutschen Festspiele 1957, wollen teilnehmen an dem Ringen, das die besten Deutschen in West und Ost vereint. Wir fordern die friedliche, demokratische Wiedervereinigung Deutschlands! [...] Im Interesse der Erhaltung der deutschen Einheit, der deutschen Kultur, im Interesse des Lebens unserer Nation erklären wir entschieden, gegen alle Bestrebungen angehen zu wollen, die die Spaltung Deutschlands durch die Stationierung atomarer Waffen, die Remilitarisierung und Refaschistisierung, die der Tod der geistigen und künstlerischen Freiheit ist, verewigen möchten.92
Abb. 2: Walter Ulbricht bei der Premierenfeier in Thale 1957
Quelle: © Stadt Quedlinburg, Fotograf: Heinz Kittel
Die Festspiele sind selbstverständlich auch ein Zweck offizieller politischer Selbstinszenierung, sodass Walter Ulbricht nicht nur bei der Premiere in der 1. Reihe saß (Abb. 2), sondern auch mit einer Rede im Programmheft abgedruckt wurde, in der er Engels auf der II. Parteikonferenz der SED zitierte: Die Germanen schlugen die Römer, „weil die Germanen freie Menschen waren, deren persönliche Tüchtigkeit und Tapferkeit den römischen Truppen weit überlegen wa-
92 Ebd.
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ren. Sie kämpften um die Befreiung ihres Landes.“ Es handelt sich demnach um klare Fronten der moralischen und deswegen siegreichen Unterdrückten gegen den dekadenten Imperialismus. Zu diesem Zweck könne man Kleist die Schwächen des Stückes verzeihen, sie seien nur ein Ausdruck seiner inneren Glut und seines Hasses gegen die Aggressoren. Was Trepte hier versucht, ist nicht weniger als ein kämpferisches Nationalepos im Gründungsrausch zu schaffen, ohne dabei aber die völkische Vergangenheit der Bühne zu reflektieren. Wie Honnef betont, wurde sogar, um die Figur Hermanns von jedwedem Makel zu befreien, ein neuer Schluss hinzugefügt, 94 bei dem nicht Hermann, sondern der Schmied Teuthold den Varus ersticht. Zitiert wird zudem auch eine Szene aus Dora Wentschers Stück Heinrich von Kleist, ihr für die vorbereitende Mitarbeit und Beratung bei der Inszenierung gedankt und unter ihrem Namen abgedruckt, dass sie „aus einer genauen Werkanalyse folgende Schlussfolgerungen ziehe: Die Hauptthemen sind: Der Bruderkrieg ist das größte Verbrechen gegen die Nation und ihr sicherer Verderb. Voraussetzung des Sieges über die fremden Eroberer ist die deutsche Einigkeit. [...] Die schwierigste Aufgabe ist: Wie macht man, ohne das Kleistsche Kunstwerk zu beschädigen, im Zuschauer folgende Gedankengänge lebendig: 1. Rom: Das ist uns Amerika. 2. Die Entzweiten und von Rom gegeneinander geheizten, zum Bruderkrieg gestachelten deutschen Völker: Das ist der deutsche Westen und der deutsche Osten; und vor allem: die deutschen Arbeiter in West und Ost. 3. Aristan: Das ist uns Adenauer & Co. 4. Das Verzeihen und Vergessen zwischen den betrogenen und in die Irre geführten deutschen Brüdern und Hermann – so wollen auch wir es halten, wenn erst die deutsche Einheit erkämpft ist.95
Diese drastischen Analogien in ihrem Namen wollte Wentscher so offenbar nicht stehen lassen, und an das Programm angehängt findet sich eine Richtigstellung des Intendanten Rolf Thieme.96 Es kann nicht mehr rekonstruiert werden,
93 Ebd., S. 20. 94 Honnef, Kleist in der DDR (1988), S. 46. 95 KMFO, Programmheft Deutsche Festspiele, Thale 1957, S. 16 96 „[…] Durch den übereilten Abdruck einer Äußerung aus einem ihrer Briefe, der für den internen Regiegebrauch bestimmt war und den wir wegen der Kürze der uns zur
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was genau Dora Wentscher in ihren Briefen empfohlen hat, dass es zu dieser propagandistischen Inszenierung beigetragen hat. Allenfalls war es ihr unangenehm, damit assoziiert zu werden. Neben ausführlichen Hintergrundinformationen gibt es noch eine lange Sektion des „Widerstreits der Meinungen“, in der verschiedene Persönlichkeiten um Stellungnahmen gebeten worden sind, die ein repräsentatives Spektrum repräsentieren, die auch zeigen, welche Kontroverse es gibt und wie man sich darum 97 bemüht, die Debatte zu führen. Dabei ist bei allen Darstellungen beachtlich,
Verfügung stehenden Druckzeit ihr nicht mehr vor der Fertigstellung unseres Heftes zusenden konnten, ergab sich ein Missverständnis, das wir umso lieber berichtigen, als dass uns die Briefe Dora Wentschers mit ihren vielen Anregungen bei der Vorbereitung unserer Aufführung nicht unwesentlich geholfen haben. [...] Zu Punkt 1 aus ihrem Zitat stellt Frau Wentscher fest, dass das „amerikanische Volk“ durchaus „nicht gegen uns“ sei, und zu Punkt 2, dass „die westdeutschen Arbeiter täglich mehr auf unserer Seite“, dass „wir ihre besten Freunde“ seien. S. ebd. 97 So finden sich dort z.B. Ausführungen von Prof. H.T. Betteridge der Universität Glasgow, „ein Klopstockforscher und Freund Quedlinburgs“. Betteridge führt aus, dass die Hermannsschlacht zwar ein herausragendes Zeitzeugnis sei, aber Kleist selbst ein „Hauptvertreter eines borniert religiösen Patriotismus, und man kann voller Berechtigung von ihm als einem „verirrten Junker sprechen“ könne. („Bei einer heutigen Aufführung dieses Stückes fragt man sich, ob das deutsche Publikum nur durch das Großartige, das Dämonische an Kleists Gestalten mitgerissen wird. [...] Der Zuschauer, der vor der vorbehaltlosen Verherrlichung des Gefühls nicht zurückschreckt, hat nichts gelernt und bleibt ebenso blind wie Hermann, oder wie Kleist selbst. Ich hoffe, die Aufnahme des Stückes im Harzer Bergtheater zu Thale wird das Gegenteil beweisen.“) Eine weitere Stimme ist die des Dresdner Dramatikers Karl Zuchardt, der eindeutig festhält: „Soll man Kleist spielen? Man soll nicht nur, man muss ihn spielen!“ Was Betteridge als Gefahr betont hatte, wird bei Zuchardt zur dialektischen Qualität Kleists: „Was er nicht lassen konnte, war: die dämonischen Kräfte der menschlichen Seele darstellen. Eine große Aufgabe! Und eine Qual zugleich!“ Und, für die Inszenierung von besonderer Bedeutung, weswegen es im Programmheft unterstrichen ist, „Was die Auffassung von der Volksverteidigung betrifft, von überraschender Aktualität“ und eine „Großartige Apologie des ‚gerechten’ Krieges“. Der Leipziger Dramatiker Walter Gilbricht wird gar mit einer Äußerung zitiert, die auch vor völkischem Vokabular nicht zurückschreckt: „Wieviel gilt das für unsere Tage, da Unteilbares geteilt und der natürliche Blutkreislauf unserer Nation, in zwei Blutkreisläufe abgeschnürt, zur Stagnation verdammt ist.“ KMFO, Programmheft Deutsche Festspiele, Thale 1957, S. 16.
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dass die scheinbare marxistische Dialektik offenbar nichts gegen forcierten Nationalismus ausrichten kann, so sehr man sie auch teils rhetorisch verschleiert. Die Deutschen Festspiele sind hier noch deutlich in faschistischen Denkmustern verhaftet. Unter hohem nationalen Selbstbehauptungsdruck in den 50er Jahren war der DDR jedwedes Mittel recht, um sich als Kulturnation behaupten zu können, ohne jedoch bereits eine konkrete Vorstellung davon zu besitzen, wie die spezifisch eigene Kultur auszusehen hat. Es zeigt sich zudem erneut, wie leicht sich Kleists antinapoleonische Werke für nationalistische Zwecke nutzen lassen. Die nächste Thalenser Inszenierung eines Kleist-Werkes zeigt einen latenten Umbruch im post-faschistischen Denkmuster Treptes, was aber am Anliegen der Festspiele nichts änderte. Die Deutschen Festspiele beteiligten sich 1961 ebenfalls an der Kleist-Ehrung, um anlässlich des Todestages des „genialen deutschen Dichters“ „die friedlichen Völker der Erde aufzufordern, den großen deutschen Dichter und Dramatiker als auch den leidenschaftlichen Patrioten zu würdigen.“ In seinem Einführungstext weist Intendant Trepte darauf hin, dass, in der Tradition der Spielstätte, es das „[k]ünstlerische Anliegen der Inszenierung ist [...], den romantischen Inhalt dieses großartigen Werkes mit der natürlichen Romantik des Bergtheaters in einen harmonischen Einklang zu bringen“ und somit den „feinsinnigen romantischen Dichter des holden Käthchen, der rührendsten Mädchengestalt der deutschen Dramatik neben Goethes Gretchen und Klärchen“ hervorzuheben, an dem die „deutsche Nation [...] vieles gut zu ma98 chen“ hat. Diese Ausführungen sind besonders bemerkenswert im Vergleich zu dem Stück bei den Frankfurter Feierlichkeiten, wo es mit ähnlicher Argumentation abgesetzt wurde. Gleichzeitig scheint der Stoff aber keiner weiteren Rechtfertigung zu bedürfen, denn außer der Wiedergutmachung findet sich keine weitere Erklärung der Stückwahl, und auch der kommentarlose Umgang mit der Romantik wird nicht weiter thematisiert, sondern Käthchen einfach durch den Goethe-Vergleich klassifiziert. In dieser entproblematisierenden Herangehensweise zeigt sich auch das Programmheft, in dem eingangs wiederum Victors Lesebuch zitiert wird, das auf die „Unsicherheiten in der Beurteilung Kleists [verweist], der vielfach einseitig unter die ‚reaktionären Romantiker‘ eingereiht, für ‚einen der aktivsten Ideologen des preußischen Nationalismus‘ und einen ‚militanten preußischen Junker‘ ge-
98 KMFO, Kleist-Ehrung 1961, Harzer Bergtheater Thale.
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halten wurde, der lediglich ‚krankhafte Exzesse und pathologische Erlebnisse‘ 99 dargestellt habe.“ Mit dieser Auflistung aller wesentlichen Kritikpunkte an Kleist wird auch gleich angedeutet, dass man sich an ihnen abzuarbeiten gedachte. Dies sogar mit marxistischen Traditionsbezügen, die man gegen Lukács et al. ausspielen kann, nämlich mit einem Beitrag des Autors Kurt Kersten, der als Kleist 1936 in der Moskauer literarischen Monatsschrift Das Wort unter Redaktion von Bertolt Brecht, Willi Bredel und Lion Feuchtwanger erschien. Darin vergleicht Kersten Kleist mit Lord Byron und Puschkin, die auf ähnliche Weise an ihren Ländern verzweifelten, sich aber, da sie später lebten, „in einer reiferen Zeit und [...] ihm in der Erkenntnis ihrer Positionen und Aufgaben voraus [waren], fanden vor allem gesellschaftliche Kräfte vor, mit denen sie sich verbinden 100 konnten.“ Dies vorausgesetzt, kann Kleist mit Beiträgen Manns, Feuchtwangers und Arnold Zweigs positiv gewürdigt werden, was durch einen zweiseitigen Beitrag Strellers über das Käthchen abgerundet wird. Zudem gibt es einen zweiseitigen Beitrag von Treptes Assistentin Karin Rahn, die das Käthchen ebenfalls durchweg positiv historisch einzuschätzen sucht. So lasse Kleist „in einem Zeitalter bürgerlicher Vorurteile, beschränkter, ungesunder Moralanschauungen, die natürliche Liebe als Urelement des Daseins, als wunderbares, seelen-, nicht aber ständeverbindendes Phänomen, den Sieg davontragen“, wobei die „bunte Welt des Mittelalters mit seinem Kaiser, seinen Rittern [...] nicht mehr als romantischer Hintergrund für eine märchenhafte Handlung, die tiefer, allgemeingültiger 101 Wahrheit nicht entbehrt.“ Mit einer ähnlichen, allerdings völlig entpolitisierten Strategie wird das Käthchen als Stück über die universelle Liebe inszeniert und dabei ist bedeutsam, dass diese ausnahmslos harmonisierende und affirmierende Darstellung unter Zunahme von marxistischer Literaturwissenschaft ein Stück im Rahmen der Ehrung aufführen kann, während es in Frankfurt durch die Kritik abgelehnt wurde. Man kann hieran recht gut erkennen, wieviel Freiraum man auch innerhalb der kulturpolitischen Szene noch hatte, bestimmte Stücke erfolgreich durchzubringen, je nachdem, wen man zitierte und wie gut man argumentierte, und wie anerkannt und rhetorisch überzeugend die Person war, die diese Produktion nach außen hin vertrat. Da 1961 die Vorstellungen noch unter Teilnahme von Darstellern und Besuchern aus der Bundesrepublik stattfanden, war dies auch eine Botschaft, die man gern nach außen tragen wollte: Universelle Liebe und Versöhnung im gesamt-
99 KMFO, Programmheft Das Käthchen von Heilbronn, Harzer Bergtheater Thale 1961. 100 Ebd. 101 Ebd.
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deutschen Geiste, die durch die stimmige Einbettung in die Harzlandschaft eine innige Heimatliebe erzeugen sollte (Abb. 3). Durch die konsequente Verortung als Klassiker und dessen anderweitig politisch wenig anstößige Rezeptionsgeschichte kann Trepte hier voll und ganz sein Anliegen verteidigen, Kleist als Autor für die DDR zu rehabilitieren. Untermauert wird dies noch durch einen Beitrag Treptes über Kleist und den Schauspieler Hans Otto, welcher ebenfalls 1936 im Moskauer Das Wort erschienen war. Otto, der im Dritten Reich den Homburg verkörpert hatte und in der DDR als antifaschistischer Märtyrer verehrt wurde, wird von Trepte in seiner Zerrissenheit geschildert, da er sich gegen eine faschistische Instrumentalisierung des Stückes wehren wollte, weil es mit Kleist selbst nichts zu tun habe. Der Kernsatz lautet schließlich: „der Kommunist Hans Otto liebte den Dichter Kleist“ – mehr brauchte Trepte als Begründung für seine 102 Inszenierungen offenbar nicht. Abb. 3: Käthchen von Heilbronn im Harzer Bergtheater, 1963
Quelle: © Stadt Quedlinburg, Fotograf: Heinz Kittel
102 KMFO, Programmheft Das Käthchen von Heilbronn, Harzer Bergtheater Thale 1961.
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Ein dritter Versuch, Kleist als Nationalkultur zu etablieren, nutzte wiederum eine völlig andere Strategie, mit einem im Erbe-Kanon gesetztem Stoff. Trepte bewegte sich, kurz vor seinem Weggang, auf kulturpolitisch sicherem Terrain. In Jahre 1963 wurde, aus Anlass des 60. Geburtstages des Bergtheaters – neben Wagners Tannhäuser – ein hervorragendes Programm für die Jubiläumsspielzeit zusammengestellt. Vom 8. Juni an erleben wir die Uraufführung des Schauspiels „Die Fehde des Michael Kohlhaas“, gestaltet nach einer Novelle von Heinrich Kleist. Das Ministerium für Kultur hat Horst Ulrich Wendler und Ursula Wendler den Auftrag gegeben, mit diesem Schauspiel ein neues Werk der deutschen Nationalkultur zu schaffen.103
Ein staatliches Auftragswerk, das Kleist nicht nur seines Adelstitels beraubt, sondern der Novelle auch all diese Aspekte nimmt, die den Erbe-Ideologen negativ aufgefallen waren. Im Programmheft wurde vorab ein Beitrag von Ernst Fischer aus Sinn und Form 1961, 5./6. Heft abgedruckt, welcher vom „abtrünnigen Junker Heinrich von Kleist“ berichtet, der die „Fragwürdigkeit gesellschaft104 licher Zustände bloßgelegt“ hat. Die Autoren Ursula und Horst Wendler haben es vor allem durch das Drängen Treptes geschrieben: Absicht und Ziel unserer Dramatisierung der Kleist’schen Novelle war, ein Werk der Weltliteratur auf die Bühne zu bringen und zu deuten, zum anderen, eine große bedeutende Zeit aus der Geschichte unseres Volkes, die gerade jetzt wieder von nationaler Bedeutung ist, zu gestalten.105
Nationale Bedeutung heißt in diesem Falle offenbar auch kritische Rekonstruktion, denn von Kleists Fiktion ist offenbar nur das Gerüst geblieben und des bereits von Lukács abgelehnten mystischen letzten Drittels hat man sich auch entledigt und stattdessen eher ein Historienspektakel entworfen: „Wir haben also dem Klassenkampf, der ja ohnehin die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts in gewaltigen Ereignissen beherrschte, zum entscheidenden Motiv der Vorgänge auf 106 Die „unrealistischen Schwächen“ der Novelle werden der Bühne gemacht.“
103 KMFO, „Kulturbote für den Kreis Quedlinburg“, Juni 1963, S. 85. 104 KMFO, Programmheft Die Fehde des Michael Kohlhaas, Thale 1963. 105 Ebd. 106 Ebd.
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also gekürzt und das revolutionäre Erbe hervorgehoben. Somit nimmt ihr Versuch eines sozialistischen Nationalepos dabei auch exakt die Maßnahmen vor, die 1960 von Treptes Kollektiv im Kontext des Kruges noch als „rote Gleichstellung“ und „versöhnlerische Methode“ kritisiert wurden. Das restliche Programmheft widmet sich somit auch konsequent der Einordnung des KohlhaasStoffes in den Rahmen der revolutionären Traditionen, in deren Erbfolge die DDR sich selbst versteht. So werden 3 Seiten aus Friedrich Engels Der Deutsche Bauernkrieg neben einem Zitat aus dem Lob der Torheit von Erasmus von Rotterdam abgedruckt, die die Wichtigkeit von Einheit bei Revolutionen und Kritik an ruchloser Obrigkeit betonen. & $ In die Gegenwart wird dieses Geschichtsverständnis durch eine triumphale Episode geholt, in der Trepte unter dem Titel Vom „Herrensitz“ zur LPG von einem Ausflug des Inszenierungskollektivs nach Bad Düben zur Kohlhaas’schen Burg berichtet und feststellt, dass die Burg der Junker von Zaschwitz mittlerweile „[v]on der demokratischen Bodenreform, die auch hier den feudalen Großgrundbesitz aufhob“, umgenutzt worden ist: „Das in Sandstein gehauene Adelswappen war nur noch undeutlich zu erkennen. Dafür zeigte uns ein frisch gemal107 Eine schönere tes Holzschild an, dass wir vor der LPG ‚Neuland’ standen.“ Metapher hätte sich kaum ergeben können: das Neuland der sozialistischen Ordnung, das Erbe des Kohlhaas, auf einem frischen, die junge DDR verkörpernden bescheidenen Holzschild, das sich stolz gegenüber den verblassenden steinernen Privilegien der Vergangenheit behauptet. Dieses Gründungsnarrativ als Nationalkultur will also dem Zuschauer vermitteln: Michael Kohlhaas hat sein Ziel erreicht und die DDR ist in seiner Nachfolge auf dem progressiven Pfad der Weltgeschichte unterwegs in eine bessere Zukunft.
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Im Jahre 1961, dem schicksalshaften Jahr des Mauerbaus, kulminierten nun bei der Kleist-Ehrung, die vom Ministerium für Kultur (MfK), dem Bezirk Frankfurt/Oder und dem Friedensrat der DDR veranstaltet wurde, alle offiziell kulturpolitischen Elemente, die zwischen ideologisch und pragmatisch oszillierten, mit der dialektischen Auslegung Hans Mayers, die ab den 70er Jahren für einen 107 Ebd.
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Umbruch in der Kleist-Rezeption sorgen würde – nicht zuletzt durch seine vielen Studenten, deren Kultur- und Kunstverständnis er maßgeblich beeinflusst hatte. Die Feierlichkeiten nehmen idem eine Scharnierfunktion der Kleist-Rezeption ein, an der Schwelle zu den Krisen der 70er Jahre. Denn einerseits verkörperte die Ehrung, jenes, in Aleida Assmanns Worten, „Denkmal der Zeit“ das noch empfindliche und im Aufbau begriffene ideologisch-nationale Selbstverständnis der DDR, das auf stark inszenierte Repräsentation, auf eine „WirInszenierung“108 angewiesen war, andererseits setzten Mayers Festrede und nicht zuletzt auch die bereits besprochenen im Rahmen der Ehrung stattfinden Inszenierungen fast alle Erbe-Doktrinen über Kleist außer Kraft und antizipierten damit die künftige Rezeption. Die Planungen verliefen nicht reibungslos: Ursprünglich war der Festakt auch mit Gästen aus der Bundesrepublik veranschlagt, diese tauchen aber nach der Grenzschließung im September 1961 in den Planungen des MfK nicht mehr auf.109 Zudem gab es einen Eklat um die Stückauswahl. Nachdem die Entscheidung für Krug und Homburg erwartungsgemäß keinen Anstoß erregte, gab es eine Kontroverse um die Pläne des Kleist-Theaters Frankfurt, das Käthchen von Heilbronn aufzuführen, welche, wie Emig ausführt hat, die Debatte um die ‚problematischen’ Kleist-Stücke widergibt: Auf der einen Seite ist es für den Theater- und Literaturwissenschaftler Ernst Schumacher „unbegreiflich“, dass Kleists Geburtsstadt ausgerechnet durch die Aufführung des Käthchens den Dichter ehren wolle: „Es gibt nämlich kein Stück, in dem Kleist mehr jener preußische Junker und Offizier gewesen wäre, den er nach den Worten Franz Mehrings Zeit seines kurzen Lebens nicht losgeworden ist.“ Auf der anderen Seite kritisierte der Leiter der Abteilung Theater im MfK und Chefredakteur von Theater der Zeit, Hans-Rainer John, eine „Einengung“ des Spielplans, die verhindere, dass „wissenschaftlich-theoretisch und künstlerisch-praktisch [untersucht werden könne] – welche seiner Werke unverlierbarer Bestandteil unserer Nationalliteratur sind.“ Das Stück wurde jedenfalls dann prompt abgesetzt,110 ähnlich wie 1956, als Fritz Erpenbeck unter Berufung auf Lukács wünschte, man solle von weiteren
108 Assmann, Jahrestage (2005), S. 311. 109 Emig, Dokument zu den Kleist-Feiern in der DDR 1961 (2010), S. 22. 110 Auf wessen Veranlassung hin, geben die Akten nicht her, nur ein Kommentar des Gorki-Theater-Regisseurs Hans-Dieter Mäde gibt in dieser Hinsicht erhellende Aus-
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Aufführungen des Homburg absehen.111 Die erste Programmidee112 sah zudem als musikalischen Beitrag die Ouvertüre von Rheintalers Käthchen-Oper vor, diese wurde dann aber durch ein Stück aus Wagner-Régenys Ballett-Suite Der Zerbrochne Krug ersetzt.113 Vermeintlich romantische Einflüsse waren 1961 somit noch zu gewagt für eine staatliche Ehrung. Die im Bundesarchiv gelagerten Aktenbestände des MfK geben weiterhin Auskunft, wie die Planungen zur Frankfurter Festwoche letztendlich zustande gekommen sind und welche Nachwirkungen diese hatte: In den verschiedenen Briefwechseln erfährt man, dass der Deutsche Friedensrat am 12. Januar 1961 beim MfK darum bat, „doch vielleicht darauf hinzuwirken, dass in diesem Jahre noch einige Publikationen von bzw. über Kleist herauskommen“,114 da die alte Aufbau-Gesamtausgabe und Victors Lesebuch beide fast vergriffen wären. Dies führte zur Publikation von Goldammers Lesebuch Weiterhin ist ein Brief von Joachim Müller, Leiter des Germanistischen Instituts der Universität Jena, zusammen mit seinem Kollegen Helmut Brandt vom 27. Oktober 1961 aktenkundig, mit der Bitte, das Frankfurter Kleist-Museum „in eine nationale Gedenkstätte“ umzuwandeln, da die Feierlichkeiten doch der beste Anlass und schließlich Eile geboten sei, „als der Wert einer solchen Bibliothek davon abhängt, dass sie ihre Be115 stände fortlaufend ergänzt.“ Die öffentliche Zugänglichkeit und die finanzielle Ausstattung war im rechtlichen Rahmen der DDR demnach am besten in der Form einer Gedenkstätte gegeben, was das Museum nicht nur in die Gesellschaft der KZ-Gedenkstätten, sondern auch in die Reihen der Klassiker rückte, die seit 1953 in den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deut-
kunft und legt eventuell seine Teilhabe nahe: „Die Antwort ist rasch gegeben: Weil ich nicht davon überzeugt war, dass die Inszenierung des Spektakulums wirklich von Nutzen sein könnte. Tatsächlich scheinen mir Gedenkdaten allein keine ausreichende Rechtfertigung für die Anstrengungen und Kosten einer Theateraufführung zu sein.“ Ebd., S. 23f. 111 Theater der Zeit, Heft 1, 1956. 112 BArch DR1/1338, pag. 302. 113 BArch DR1/1338, pag. 266. 114 BArch DR1/1338, pag. 248. 115 BArch DR1/1338, pag. 252.
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schen Literatur in Weimar (NFG) organisiert waren. Die Verwendung des Begriffs Gedenkstätte zeigt, welche zentrale Funktion das kulturelle Erbe neben den wichtigen Mahnmalen gegen den Faschismus einnahm. Dass Kleist dann schließlich 1969 – zum 20. Jahrestag der Staatsgründung – auch eine Gedenkstätte bekam, kann als Sieg der pragmatischen Kulturpolitik betrachtet werden (Exkurs I). Bei allen Maßnahmen scheint durch, dass die Beteiligten die institutionellen Rahmen zu nutzen wussten, um nationalen Fortschritt nach außen hin zu demonstrieren und nach innen hin ihre eigenen Projekte fortzuführen. Für den 6. Oktober 1961 war zudem eine Referentenkonferenz in Leipzig angesetzt, die von Peter Goldammer organisiert wurde und für die auch Streller gewonnen wurde. Diese war eine Art wissenschaftliche Propagandaveranstaltung, mit dem Ziel ein einheitliches Bild über Kleist in allen Kulturinstitutionen und für die Presse erarbeitet werden sollte. Während man 1977 eine wissenschaftliche Konferenz abhielt, um Kleist und die Romantik zu diskutieren, wird hier noch konkret anhand von zwei Meinungen (obwohl man stets nur Gedrucktes von Goldammer zu lesen bekommt) die generell nicht abzustreitende Wissenschaftlichkeit schlicht der Öffentlichkeit oktroyiert. Das zeigt schon Goldammers Konzeption: Aufgabe der Konferenz ist es, sowohl die Größe und Bedeutung Heinrich von Kleists wie auch die Widersprüche in seinem Denken und Dichten sichtbar zu machen und so den Referenten ein von alten und neuen Legenden und reaktionären Einstellungen befreites Kleist-Bild zu vermitteln, das sie befähigt, bei der kritischen Aneignung seines Gesamtwerkes zu helfen.116
Dass die Widersprüche stets betont werden müssen, ist zwar bekannte marxistische Rhetorik, tritt aber bei Kleist doch gehäuft auf und ist eines der zentralen Instrumente der argumentativen Rehabilitierung. Dahingegen gibt es auch im Werk Goethes und Schillers viele Widersprüche, die es zu debattieren lohnte, aber deren Rezeptions- und Wirkungsgeschichte keinen Anlass dazu und niemand wäre 1961 auf die Idee gekommen, dies im Rahmen einer Festveranstaltung zu tun. Goldammers endgültiges Referentenmaterial ist nun ein Beispiel dafür, wie behutsam am Kleist-Bild Korrekturen vorgenommen wurden, die gleichsam das
116 BArch DR1/1338, pag. 306.
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gesetzte Erbe noch respektierten, aber an verschiedenen Stellen bereits recht radikale Änderungen vornahmen. Dies verpackt er rhetorisch in Form des kulturellen Interpretationsalleinanspruchs der DDR, der zur Ehrung fest dazugehört, aber auch die Rezeptionsgeschichte zutreffend, wenn auch DDR-freundlich kritisiert: Von der eigenen Junkerklasse verschmäht, ist unter den Händen „ihrer faschistischen Nachfolger [...] das Werk Heinrich von Kleists verfälscht und im Sinne preußisch-deutscher imperialistischer Machtgelüste umgedeutet worden.“ Am Ende lässt Goldammer den typischen patriotischen Paragraphen folgen, der bezweifeln lässt, wieviel kritische Aneignung den Lesern noch zugestanden wird: Erst in der Deutschen Demokratischen Republik, wo die Klasse der Junker entmachtet, wo die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beseitigt und eine Ordnung des Rechts und der Gerechtigkeit errichtet wurde, die Kleist sein Leben lang heiß ersehnte, ist das Werk dieses bedeutendsten Dichters in die Hände der richtigen Erben, in die Hände der Arbeiter-und-Bauern [sic] gelegt worden.117
Dieses Material ist zusätzlich interessant, wenn man es mit Goldammers späteren Ausführungen – vor allem Der Mythos um Heinrich von Kleist (Kapitel 2) – vergleicht. Auch wenn noch deutliche Qualitätsunterschiede zwischen 1961 und 1973 erkennbar sind, so wird deutlich, dass Goldammer auch hier schon eine völlige Rehabilitierung Kleists anstrebt, aber mit viel politischem Gespür und rhetorischem Kalkül abschätzen konnte, zu welchem Zeitpunkt er welche Änderungen vornehmen kann. Dieses Talent hat ihm zudem über die DDR hinaus zu einer der Autoritäten für Kleist-Ausgaben gemacht. Die Festwoche selbst vom 21.-25. November sah nun ein kulturelles Programm vor, das mit einer Kranzniederlegung am Kleinen Wannsee in West-Berlin durch Vertreter des Ministers für Kultur, Hans Bentzien, und der Enthüllung einer Gedenktafel in der Großen Oderstraße in Frankfurt, wo sich Kleists Geburtshaus befand, eingeleitet wurde. Nach dem Festakt sah man den Krug als Gastspiel des Hans-Otto-Theaters Potsdam. Weitere Gastspiele waren Amphitryon des Volkstheaters Cottbus, der Homburg aus dem Volkstheater Halberstadt und das Frank-
117 BArch DR1/1338, pag. 329f.
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furter Käthchen.118 Die ganze Woche, wie der Friedensrat und das MfK vorab verkündet hatten, stand im Geiste Mehrings und Clara Zetkins und anderen Vertretern der „vorwärtsstürmenden Arbeiterklasse“, die schon um die Jahrhundertwende in Angriff genommen hatten, „Persönlichkeit und Werk Heinrich von Kleists den Werktätigen zu erschließen.“119 Das Presse-Kommuniqué hielt zuvor bereits nicht mit großen Worten zurück, die ihn sogleich zum Nationalhelden verklärten: Am 21. November gedenkt das deutsche Volk Heinrich von Kleists, einen seiner sprachgewaltigsten und formbegabtesten Dramatiker und Erzähler. Sein dichterisches Werk gehört zu den größten Leistungen der deutschen Nationalliteratur; es ist unverlierbares Gut unseres kulturellen Erbes, das in der Deutschen Demokratischen Republik liebevoll gepflegt und gegenüber allen reaktionären und modernistischen Verfälschungen verteidigt und im besten Sinne bewahrt wird.120
Im Gegensatz zur allgemeinen politischen Festrhetorik, fand der Festakt selbst im Kleist-Theater deutlich ausgewogenere Worte. Neben Musik und Brieflesungen war vor allem Hans Mayers Festrede Die tragische Größe Heinrich von Kleists der Höhepunkt dieser Veranstaltung. Die Wahl Mayers hatte mit großer Wahrscheinlichkeit auch Gründe der Außenwirkung, denn er war zweifelsohne einer der ‚Wissenschaftsstars’ der DDR, dem auch in der Bundesrepublik große Anerkennung entgegengebracht wurde. Allerdings war er politisch schwierig zu kontrollieren und nach unzähligen Querelen sollte er 1963 schließlich nicht mehr von einem Verlagsbesuch in Tübingen zurückkehren. Zugleich war Mayer aber auch einer der prominentesten Fürstreiter Kleists in der DDR, der verschiedene Versuche unternommen hatte, Kleist für den Sozialismus attraktiv zu machen, was sich in den Werken seiner Studierenden Christa Wolf, Alexander Weigel, Fritz Bennewitz und Adolf Dresen deutlich widerspiegelt. 1962 würde er in Leipzig mit seinem Schüler Streller eine Tagung „Zu Fragen der Romantikforschung“ veranstalten, in welcher auch Kleist diskutiert wurde und die beitragen sollte, die dogmatisch eng gesteckten Grenzen des bürgerlich-progressiven Literaturerbes beseitigen und neu zu definieren, was als „realistisch“ gelten konnte.121
118 BArch DR/1/1338, pag. 296. 119 BArch DR/1/1338, pag. 300. 120 BArch DR/1/1338, pag. 297. 121 Vgl. Küntzel, Der andere Kleist (1980), S: 116.
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1961 war „Kleist im Sozialismus“ auch der offiziell vereinbarte Inhalt seiner Rede.122 Der Schluss der Rede wurde am 28. November 1961 in der Zeitung Der Morgen abgedruckt. In diesen Ausschnitten verortet Mayer Kleists Tragik im „geschichtlichen Augenblick des Jahres 1811“ als Ausdruck der „Krise bürgerlichen Bewusstseins im Kontrast zwischen Aufklärungsidealen und bourgeoiser Lebensform.“123 Bezeichnend ist dabei, dass Mayer dies als „Themenstellung der utopischen Sozialisten“ verortet, die um 1800 bereits so aktuell war wie 1830 und für die Kleist ebenso repräsentativ sei wie auch „[g]ewisse Züge der Kulturkritik wie auch der Utopie [...] bereits von Kleist zu Heine hinüber[weisen].“124 Es ist sicherlich keine zufällige Parallele, dass alle genannten Schüler Mayers nicht nur ebenfalls jenen kulturkritischen Utopisten Kleist identifizierten, sondern sich allesamt selbst als kulturkritisch-utopistische Sozialisten verstanden, was dann vor allem in den 1970er Jahren deutlich hervortritt (Kapitel 2). Wichtiger noch als die Rede war Mayers Abhandlung Heinrich von Kleist – Der geschichtliche Augenblick, die die ausformulierte Variante dieser Rede ist und die Mayer 1962 beim westdeutschen Verlag Neske veröffentlichte, aus Mangel an einer Zeitschrift für Weltliteratur, wie er dem Genossen Thews mitteilte.125 Da Der geschichtliche Augenblick große Relevanz für die KleistRezeption ab Mitte der 60er Jahre hat und – im Unterschied zu Ernst Fischers exklusiv akademisch rezipierten Aufsatz126 in Sinn und Form im selben Jahr – fast augenblicklich von allen Theatern und auch Autoren herangezogen wurde,
122 In einer Aktennotiz des MfK Fachgebietsleiters Thews berichtet jener über ein Treffen mit Mayer in dessen Leipziger Wohnung, wo sie dessen Rede vorab besprechen wollten. Thews berichtet anschließend dem MfK, dass Mayers Rede „zum Teil gänzlich neue Gedanken zur Kleist-Forschung entwickel[t]. Vor allem soll die Frage beantwortet werden, warum das Erbe Kleists zum Besten unserer Nationalliteratur gehört.“ Die vereinbarten Hauptpunkte seiner Rede lauteten dementsprechend „Kleists Werk [...] zum progressiven, realistischen Fundus unserer Nationalliteratur [zu erklären] (daher Auseinandersetzung mit Auffassungen von Franz Mehring und Georg Lukács)“ und das Werk „gegen alle reaktionären und modernistischen Interpretationen zu verteidigen (daher Polemik gegen eine Reihe westlicher Wissenschaftler).“ BArch DR/1/1338, pag. 287. 123 Der Morgen Nr. 278, 28.11.1961, S. 124 Ebd. 125 BArch DR/1/1338, pag. 287. 126 Fischer, Heinrich von Kleist (1961). S. dazu auch Riedl, Heiner Müllers Kleist (2014), S. 207.
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soll dessen Inhalt kurz resümiert werden: Mayer wendet sich, die letzten 30 Jahre Kleist-Forschung zusammenfassend, gegen alle Vorbehalte, die Kleist im Zuge seiner Rezeptionsgeschichte widerfahren waren und die in der DDR noch akut verhandelt wurden. So kann er nicht nur vorwegnehmen, dass sich hinter den meisten herabwürdigenden Urteilen über Kleist „vor allem eine Selbstaussage derer [verbirgt], die über Modernität dekretieren, es ist aber noch keine Aussage über den Dichter Heinrich von Kleist“,127 sondern verwirft Goethes angebliches Fehlurteil als „Literaturlegende“, verurteilt die vielen Aufsätze über Kleists angebliche Krankheit, die seine Texte psychoanalytisch-biographisch lesen und damit auf die mentale Verfassung des Autors schließen.128 Vielmehr sei Kleist, und so habe es auch Goethe erkannt, „eine repräsentative, gleichsam typenmäßige Gegenkomposition“ zur Weimarer Klassik und auch keiner „der romantischen Gruppen“ zugehörig.129 Mehring bliebe mit seiner Junker-These immer noch einen Beweis schuldig und die überwiegenden biographischen Lesarten seiner Werke seien schlichtweg falsch. Er kommt zu dem Schluss, dass sich in Kleist die „Krisen der bürgerlichen Weltanschauung“ und „seiner Kunstideale“ manifestieren, und seine „tragische Krise dagegen eben [...] eine Krise eben dieser bürgerlichen Aufklärung [war].“130 Nachdem Mayer mit diesen Punkten bereits jedweder Grundsatzkritik an Kleist den Wind aus den Segeln genommen hatte, konnte er nun noch ausholen und Kleists eigentümlichen Nationalismus nachvollziehen und Homburg als „Aufhebung der Grundtendenzen deutscher Klassik wie deutscher Romantik“, als eine „geschichtliche Vorwegnahme, eine Möglichkeit“131 sowie als „kein ‚preußisches Drama’“132 behaupten. Schließlich verortet er ihn dann in der Nähe Büchners und Grabbes133 und vertritt die wiederum für Wolf, Kunert und Schlesinger wichtige These, Kleists Grundthema sei stets „die Einsamkeit des Künstlers in der Bürgerwelt“ geblieben und somit seien, wie die Figuren Thomas Manns, „Jupiter, Hermann, Homburg [...] Künstlergestalten.“134 Damit hat Mayer theoretisch-wissenschaftlich damit alle Punkte, die sich in der DDRRezeption Kleists immer wieder als Konfliktherde erweisen sollten, sämtlich
127 Mayer, Der geschichtliche Augenblick (1962), S. 8. 128 Ebd. S. 10ff. 129 Ebd., S. 13. 130 Ebd., S. 16. 131 Ebd., S. 50f. 132 Ebd., S. 68. 133 Ebd., S. 57. 134 Ebd., S. 71f.
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entkräftet. Gleichzeitig vollzieht er eine Autorenwürdigung, die ohne KlassikerStilisierung auskommt und ihn trotzdem mit positiven Figuren des DDR-Kanons wie Büchner, Mann und den Realisten auf eine Stufe stellt und somit eine adäquate marxistisch-dialektische Aneignung des Erbes par excellence vollzieht. Wie MfK und Friedensrat bekanntgaben, sollte diese Ehrung aber erst der Anfang der weiteren Aneignung des Kleist-Erbes sein: „Trotzdem bleibt noch viel zu tun.“ Alle Universitäten, literarischen Institutionen und Fachverbände sollen nun das Jubiläum als Anlass nehmen, Kleist weiter aufzuarbeiten, vor allem politisch: Es gilt, die politische Haltung Heinrich von Kleists, sein revolutionäres Aufbegehren gegen eine ungerechte Ordnung und den Niederschlag, den die Verhältnisse des Übergangs von der feudalen zur bürgerlichen Ära Preußens in seinem Werk gefunden haben, in ihnen die positiven Perspektiven aufzudecken – ohne Schwächen und Schwieriges zu verschweigen.135
Dies klingt bereits schon nicht mehr nach dem beschworenen Nationalhelden und zeigt deutlich, welche Formulierung für welche Zielgruppe genutzt wurde. Doch auch dieser Anlass hat politische Ziele: „Kleist hat stets eine große Wirkung auf die Jugend ausgeübt; die humanistischen Züge seiner nationalen Begeisterung sollten für unsere Zeit herauskristallisiert und genutzt werden.“136 Der Impetus ist somit klar. Wenn Kleist bei der Jugend funktioniert, dann lohnt es sich für den Staat, in Kleist zu investieren, denn um die Jugend als zukünftige Trägerschicht der DDR war die politische Führung stets bemüht, und hatte selten ein glückliches Händchen für die inhaltliche Ausgestaltung. Aus den Dokumenten ist nicht ablesbar, wie man zu dieser Einschätzung kam, denn aus den nationalen Curricula wurde Kleist ab den 50er Jahren mehr und mehr verdrängt als bestärkt. Auch sollte diese Bildungspolitik wirkungslos bleiben beziehungsweise zu spät kommen, denn die hauptsächliche Rezeptionsgeneration der Reformsozialisten war zu diesem Zeitpunkt schon über 30 und es würde ihr in der DDR keine mehr nachfolgen (Kapitel 3). Knapp 10 Jahre nach Erbe- und Formalismus-Debatte konnte im Rahmen der Kleist-Ehrung bereits deutlich differenzierter über Kleist diskutiert werden,
135 BArch DR/1/1338, pag. 301. 136 Ebd.
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selbst wenn die Debatte noch in deren Schatten steht. Zudem war die Ehrung eine PR-Veranstaltung, bei der sich die DDR in Abgrenzung zur Bundesrepublik als das bessere Deutschland präsentieren wollte und dementsprechend muss vor allem der Bezug zur nationalen Einheit und zum Frieden (die nur die DDR wollte) hergestellt werden und zur Förderung einer sozialistischen Nationalkultur aufgefordert werden. Es mutet dabei einerseits seltsam künstlich an, dass ausgerechnet Kleist in diesem Licht inszeniert wurde, das können auch die lobenden Beiträge, mit Ausnahme Mayers, nicht ablegen. Andererseits wurde betont, dass die marxistisch-leninistische Aneignung ein andauernder Prozess sei und man kann nicht abstreiten, dass durch die Forschung, die größere Akzeptanz der Wissenschaft und geschickter Rhetorik der Wissenschaftler eine Versachlichung der Debatte kleinschrittig zu verzeichnen war. Dennoch zeigt sich offen die Kluft zwischen tatsächlichem Bemühen, eine sozialistische Kultur und Gesellschaft aufzubauen und reinem politischen Pragmatismus und Opportunismus, dem alles recht war, solange die Außenwirkung stimmte. Die starre ideologische Struktur und Definition von Kulturerbe und dessen Aneignung behinderte weiterhin eine freie Auseinandersetzung. Andererseits muss festgehalten werden, dass die Theater im Rahmen der Möglichkeiten und unter Überbetonung der Freiheitskriege eine verhältnismäßig progressive Aufwertung der Stücke und auch Kleists selbst erbrachten. Damit waren die Festtage neben aller politischer Propaganda durch die verschiedensten Publikationen und Veranstaltungen auch praktisch ein wichtiger Beitrag zur Aneignung des Kleist’schen Erbes, der sie offiziell sein sollten. Mit Mayers Rede ist aber gleichsam auch die prägnante Schwelle überschritten, die die große Welle der von ihm mitgeprägten dialektischen reproduzierenden wie produktiven Rezeption Kleists vor allem in den 70er Jahren auszeichnen wird. Auch hierbei würde die Kleist-Ehrung 1977 zum wichtigen Katalysator werden, der eher politisch ungewollte künstlerische Resultate hervorbracht.
Zu FINDLING gibt es einen Kommentar von Ernst Jünger, in den „Adnoten zum Arbeiter“. [...] Er schreibt da sinngemäß: Das Banausentum der Revolutionäre in Kunstfragen ist jakobinischer Instinkt. Die Kraft für die notwendigen Säuberungen reicht höchstens bis in die zweite Generation. Schon die dritte Generation fängt an, musische Neigungen zu entwickeln. Von da ab wird ein neuer Tanz gefährlicher als eine Armee. Der Riss zwischen den Generationen in der Führungsschicht war die Initialzündung für die Implosion des Systems. Heiner Müller1
In der Tat entwickeln ab Mitte der 60er, aber vor allem ab den 70er Jahren Autoren und Theaterschaffende der sogenannten Zwischengeneration, um 1930 Geborene, die Emmerich Reformsozialisten und Dennis Tate Aufbau-Generation2 nennt und die Namen wie Christa Wolf, Heiner Müller, Günter Kunert (alle Jahrgang 1929), Klaus Schlesinger, Stefan Schütz und Adolf Dresen umfasste, musische Neigungen jener Ausprägung, die den Status Quo und das Quo vadis der DDR-Kultur hinterfragten und einer Evaluation unterziehen wollten. Dies vollzog sich jedoch im Rahmen ihres marxistischen Selbstverständnisses und nutzte das Rahmenwerk der kritischen Aneignung. Damit schließen sie direkt an den dialektisch-pragmatischen Kulturbegriff an, die Seghers, z.T. Brecht, Mayer
1
Heiner Müller Werke (fortfolgend HMW) 9, S. 276.
2
Tate, Shifting Perspectives (2007), S. 95.
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und Bloch seit der Staatsgründung vertreten hatten und die zunehmend die ideologische Kulturoption verdrängen sollte. Die ideologisch-konservative sozialistische Moderne wird zunehmend durch die dialektisch-marxistische ersetzt. Kleist ist ein zentraler Mediationspunkt in dieser Auseinandersetzung. Das Kapitel wird sich in zwei Teilen mit den 70er Jahren auseinandersetzen, die zugleich die Hochphase der Kleist-Rezeption der DDR darstellten. Im ersten Teil wird die institutionelle Rezeption von oben in Form der Eröffnung der Kleist-Gedenkstätte 1969 (Exkurs I) mit der literarisch-produktiven Rezeption von unten in Bezug zueinander gesetzt, während im zweiten Teil analog die produktive Rezeption im Drama und die reproduzierende Rezeption auf dem Theater mit den Feierlichkeiten im Rahmen der Kleist-Ehrung 1977 (Exkurs II) kontrastiert und korreliert werden. Am 17. Dezember 1971 auf der 4. Tagung des Zentralkomitees der SED verkündete Erich Honecker den berühmten Satz: „Wenn man von der festen Position des Sozialismus ausgeht, kann es meines Erachtens auf dem Gebiet von Kunst und Literatur keine Tabus geben.”3 Die Aufbaujahre waren somit vorbei, Brigitte Reimanns epochenprägender Romantitel Ankunft im Alltag (1961) war Realität geworden und jene Realität musste sich nun mit den Versprechen der Anfangsjahre messen lassen. Dass primär die zweite Generation, die als Kriegskinder als erste im entstehenden Staate DDR mit all seinen Verheißungen aufgewachsen waren, eine gewisse Ernüchterung erfuhr, ist somit kein Zufall. Wie Emmerich in Anlehnung an Karl Mannheims Das Problem der Generationen (1928) ausführt, waren die vier Generationen, die in der DDR lebten, von ihrem „natürlichen Blick auf die Welt“ geprägt. Dabei sind es vor allem die „frühen Eindrücke“ und „Erfahrungen der Jugend“ that are critical in shaping individuals to the extent that they also pre-form all subsequent experiences and how they are processed (even if in the form of negation). For Mannheim, it is of considerable importance for the formation and relevance of every single experience, whether it is undergone by an individual as a decisive childhood experience, or later in life, superimposed upon other basic and early impressions.4
Jene Jugenderfahrungen prägen somit die Erwartungshaltung für alle späteren Erfahrungen, die aus diesem Musterkatalog heraus gedeutet werden. Auf diese Weise reagierten Angehörige der verschiedenen DDR-Generationen äußerst unterschiedlich auf zentrale historische Ereignisse wie die Staatsgründung 1949,
3
Jäger, Kultur und Politik in der DDR (1995), S. 140.
4
Emmerich, The GDR and its Literature (2016), S. 21.
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den Aufstand 1953, das Ableben Stalins und den Ungarnaufstand 1956, den Mauerbau 1961 und letztlich die Biermann-Ausbürgerung 1976, weil sie alle auf einen unterschiedlichen Erfahrungshintergrund zurückgriffen.5 Auffällig ist in jedem Falle, dass viele Angehörige dieser zweiten Generation äußerst ähnlich auf diese Ereignisse reagierten und mit einem ausgeprägten Selbstverständnis ihrer gesellschaftlichen Funktion in das Geschehen einzugreifen suchten – und damit auch einen zweiten literarischen Mainstream bildeten. So gab es „jetzt gleichzeitig zwei [moderne, SE] Normative Zentren“:6 das der ästhetischen Vormoderne im Bannkreis des ideologischen, modifizierten „sozialistischen Realismus“ um Autoren Neutsch, Noll, Thürk etc., und jene eine dialektische Ästhetik verfolgenden und vor allem modern und innovativ schreibenden Autoren (Fühmann, Müller, Kunert, Wolf, Hein, S. Schütz, Braun, Morgner). Diese Autoren handhabten in voller Souveränität die Schreibmöglichkeiten der (dialektischen) modernen Literatur, „in denen sich die Krise des Geschichtssinns, der gesellschaftlichen Entwürfe, des Subjekts und damit auch traditioneller Literaturauffassungen manifestierten: Autoreflexivität, Perspektivenvielfalt, Polyphonie, Intertextualität, Verfahren der Montage und Collage, Sprachdestruktion und fragmentierung, Schreiben ‚aus dem Traum’ usw.“7 Dass exakt jene jüngere Generation, die sich an Formen und Themen der klassischen Moderne orientierte, jene ist, die sich in diesem Jahrzehnt in besonderem Maße mit Kleist identifizieren sollte, ist somit von sinnfälliger Prägnanz. Denn wie Goldammer in seiner Einleitung zu Schriftsteller über Kleist (1976) festhalten sollte, war es vor allem die vom ersten Weltkrieg geschädigte Jugend der Moderne, die in den 20er Jahren Kleist für sich vereinnahmte, und bei den Planungen für die Ehrung 1977 wurde mehrfach betont, dass vor allem die Jugend auf Kleist besonders reagiere und man ihn deswegen fördern sollte (Exkurs II). Fast alle Rezipienten gaben an, dass die Kleist-Lektüre sie in der Jugend oder beim Studium ästhetisch geschult habe und Kleist somit auch ein stetiger Begleiter starker persönlicher Prägung ist, und bei fast allen literarischen Texten muss beinahe, wie Fleig/Moser/Schneider es treffend entwickelten, von Transkriptionen gesprochen werden, die „auf die dynamische Produktivität und Transformation [zielen] und über bloße Rezeptionsakte“ hinausgehen, da sie häufig, wie z.B. im Falle Heiner Müllers, als Verfremdung oder Radikalisierung erscheinen und damit Kleists eigene radikale Poetik fortsetzen.8
5
Ebd.
6
Emmerich, Kleine Literaturgeschichte (2009), S. 522.
7
Ebd.
8
Fleig/Moser/Schneider, Schreiben nach Kleist (2014), S. 10.
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Da sich seit 1949 das DDR-Kulturspektrum deutlich verändert hatte und Kleist primär stark vereinfachend im Rahmen der DDR-Romantikrezeption besprochen wurde,9 was den Gegenstand nur zum Teil erhellt, muss an dieser Stelle zunächst ausführlicher das enge thematische Geflecht aufgelöst werden, in dem Kleist verschiedene Funktionen erfüllte. Das umschließt den zeitgeschichtlichen Kontext der 70er Jahre, den Einfluss der Rezeption Kleists in der klassischen Moderne, die generelle Erbe-Kritik, die Beschäftigung mit der Romantik, die Thematisierung einer Autorschaftskrise und schlussendlich die Wiederbelebung des Utopiebegriffs in Verbindung mit der ästhetischen Wende hin zu einem zentralen Subjektivitätsbegriff.
Kulturpolitisch kulminierten um das Jahr 1977 zwei Ereignisse, deren Verschränkung äußerst produktive Folgen für die Kleist-Rezeption haben würden: Die Ausbürgerung Wolf Biermanns nach einem Konzert in Köln im November 1976 und die große Ehrung zu Kleists 200. Geburtstag im Jahre 1977. Während letztere eine langfristig vorbereitete, breite kulturelle und öffentliche Auseinandersetzung mit Kleist initiierte, sorgte erstere in den Reihen jener Reformsozialisten für eine fundamentale Erschütterung ihres Selbstverständnisses als sozialistische Autoren. Die Biermann-Affäre war allerdings das letzte prägende Ereignis, das eine ganze Reihe von Enttäuschungen und Krisen im Aufbauprozess des Sozialismus krönte, zu denen die niedergeschlagenen Aufstände von 1953 und 1956 wie die politischen Wetterumbrüche von Eiszeit und Tauwetter-Politik nach 1956 gehörten, bis zum Kahlschlag nach dem 11. Plenum des ZK der SED im Dezember 1965. Wie Müller und Wolf angaben, waren vor allem die Ereignisse des Prager Frühlings 1968 ein Wendepunkt, bei dem der Glaube an eine lebenszeitliche Umsetzung des Kommunismus verschwand,10 was sie aber auch in vielerlei Hinsicht veranlasste, aktiver in das Geschehen einzugreifen, um ihre Kindheitsmuster nicht wiederholt zu sehen. In diesem Kontext kann die Petition verstanden werden, die am 17. November 1976 Autoren wie Kunert, Wolf, Braun, Hermlin, Heym und Müller als Erstunterzeichner führte und letztlich bewirkte, dass fast alle Unterzeichnenden verwarnt oder aus der Partei ausge-
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Vor allem Gaskill, Neue Ansichten (1990), Greiner, „Sentimentaler Stoff und phantastische Form“ (1981), Herminghouse, Zur Wiederentdeckung der Romantik (1981) und Hohendahl, Theorie und Praxis des Erbens (1983).
10 Von Henning, Theatremachine (1995), S. xi.
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schlossen wurden, worauf es zu einer Massenausreise von Intellektuellen kam.11 Diese Niederlage wird von fast allen Autoren in dieser Zeit deutlich thematisiert. Barbara Honigmann schrieb später darüber: „Jeden Tag gab es neue Abschiede und neue Trennungen und Tränen, jeder Tag riss neue Wunden. Damals kam der Spruch auf, der letzte macht das Licht aus.“12 Ein weiterer Rückschlag waren zudem die zunehmenden Fälle von Zensur bei Druck- und Aufführungsgenehmigungen, die sich ab Mitte der 70er Jahre häuften,13 wie auch die immer stärker werdende Überwachung durch die Staatssicherheit, die ab 1976 rapide anstieg.14
Durch verschiedene persönliche Vorlieben und durch die Ehrung 1977 avancierte Kleist für diese kritische Auseinandersetzung zu einem zentralen Vehikel. Vor dem Hintergrund des starren Kulturbegriffs der 50er und 60er Jahre und der sich stückweise verengenden künstlerischen Schaffensmöglichkeiten, kann eine Identifizierung in Größenordnungen, wie sie in den 70ern auftritt, in vielen Fällen als pathologisch angesehen werden. Kleist bediente das Stereotyp einer tragischen Künstlerfigur, mit dessen Situation man mitfühlte, und er war gleichzeitig ein überkritischer Zeitgeist, durch dessen Lektüre man normative, differenzierungsfeindliche Strukturen entlarvt. Zum Zeitpunkt einer kulturell, politisch und ökonomisch ausdifferenzierten DDR, identifizierte sich eine Gruppe modern schreibender und inszenierender Kulturschaffender, die fast alle Germanisten waren und bei Hans Mayer studiert hatten,15 mit einem Kleist, der ganz stark dem
11 Emmerich, Kleine Literaturgeschichte (2009), S. 254ff. 12 Honigmann, Bilder von A. (2011), S. 80. 13 Ebd., S. 58. 14 Bradley, Cooperation and Conflict (2010), S. 118. 15 Mit nachhaltigem Effekt: Christa Wolf schrieb am 13. März 2000 einen Brief an Mayer: „Gerade habe ich Sie in einem Interview für die Frankfurter Rundschau als einen derjenigen erwähnt, die etwas Weltluft in die muffige deutsche Germanistik gebracht haben, und ich will Ihnen noch einmal sagen, wie wichtig das für mich damals in Leipzig war und wie wichtig mir jede spätere Begegnung mit Ihnen geblieben ist.“ Wolf, Man steht sehr bequem zwischen den Fronten (2016), S. 835. Alexander Weigel antwortete auf eine Emailanfrage von mir am 07. November 2016 folgendes: „’... mich nun frage, ob der Umstand, dass jene alle auch bei ihm studiert haben, signifikant für mein wissenschaftliches Argument sind.‘ [Meine Frage an ihn, SE] Na, ich denke schon, bei Dresen und mir weiß ich es sicher. Mayer war für mich als Student
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Kleist entsprach, mit dem sich die Autoren der klassischen Moderne als Ausdruck ihrer Krise identifizierten. Somit kann man in diesen Jahren von einem kulturellen Rückschlag der dialektischen Moderne in der DDR nach dem totalen Diktat des ideologischen Realismus sprechen, wo ähnlich wie bei Kleist und den Romantikern das aufbricht, was die – im Sinne der Frankfurter Schule16 – totalitäre Aufklärung an Leerstellen hinterlassen hat. Ein Aufbrechen der dialektischen Moderne war also früher oder später unausweichlich, zumal bis dato unterschlagen wurde, dass die Moderne als „spätaufklärerisches Projekt“ in ihrem Totalitätsanspruch sowohl den Faschismus als auch den Kommunismus stark geprägt hatte und dass auch die DDR ein durch und durch „moderner“ Staat war.17 In den 70er Jahren jedoch, als sogar in den Vorbereitungen zur Publikation der Parteiwerks Die SED und das kulturelle Erbe zugegeben wurde, dass man in der Aufbauphase einen „schwierigen Umgang“18 mit einem „eigenwilligen Moderne-Begriff“19 gepflegt hatte, kam es in allen Kulturbereichen zu einer Wiederentdeckung der Moderne. Wie Jens Giersdorf20 für den Tanz und Petra Stuber für das Theater ausgeführt haben, veränderten sich die Szenen in diesen Jahren radikal: vorherige kulturpolitische Reglementierungen verschwanden, Inszenierungen wurden spielerischer und artifizieller und avantgardistische Konzepte, die zuvor als Formalismus galten, wurden vielfach angewandt.21 Dass vor allem Kleist, im Gegensatz zu den 50er und 60er Jahren, nun in jenen krisenge-
eine höchst inspirierende Persönlichkeit, unvergesslich wie auch Ernst Bloch, von ebensolchem Einfluss auf meine Freunde Michael Hamburger und Ottofritz Hayner und andere Theaterleute. Der Leipziger Studentenbühne, die uns zwischen 1954 bis 1958 für das Theater geprägt hat (neben Brecht und dem Berliner Ensemble), war Mayer ein kluger Mentor, der uns beriet und gelegentlich vor politischen Problemen bewahrte.“ Adolf Dresen sollte sich zudem in seiner Festrede zu Mayers 85. Geburtstag daran erinnern, dass er seine mündliche Examensprüfung bei jenem zum Prinzen von Homburg ablegte, was in einen intellektuellen Schlagabtausch mündete, der inhaltlich sich in seinen Aufzeichnungen zum Kleist-Projekt gespiegelt findet. S. Hamburger, Wieviel Freiheit braucht die Kunst (2000), S. 18f. 16 Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung (1968), S. 6. 17 Dies zeigt sich vor allem auch in der Architektur und im Städtebau der DDR, der maßgeblich von der Moderne beeinflusst ist, zu jener Zeit aber offiziell die Sowjetmoderne kopierte, die in den 50er Jahren nicht unter Stalins Formalismus-Verdikt fiel. 18 Haase, Die SED und das kulturelle Erbe (1988), S. 189f. 19 Ebd., S. 199. 20 Giersdorf, Volkseigene Körper (2014). 21 Stuber, Spielräume und Grenzen (2000), S. 9.
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prägten, kulturell heterogenen und die klassische Moderne rezipierenden 70er Jahren seinen prominenten Sitz im Leben fand, hing allerdings nicht nur mit dem Jubiläum zusammen, sondern primär mit der Tatsache, dass seine Rezeptionsgeschichte und sein Werk sich in fast allen Aspekten dieser Moderne-Rezeption im weitesten Sinne wiederfinden, welche im Folgenden einzeln aufgeschlüsselt werden sollen.
Ein zentraler Punkt der Kultur- und Wissenschaftsszene, der Kleist direkt betrifft, ist die Aktualisierung des Erbes, das, wie Hohendahl beschreibt, in den 70ern bereits eine „geschichtliche Dimension“ besaß.22 In den Weimarer Beiträgen und Sinn und Form wurde viel über das Erbe diskutiert und nach Ulbrichts Abtritt wurde es möglich, gegen ein in der Meinung vieler verkrustetes ideologisches Erbe-Konzept zu rebellieren. Nachdem Lukács nach 1956 in Ungnade gefallen war, da er der ungarischen Regierung nach dem Aufstand angehörte, konnten sukzessive die Realismus- und Klassikdoktrin erweitert werden,23 und auch Die SED und das kulturelle Erbe bestätigt, dass man generell mehr eine Fixierung auf weltanschauliche Fragen der Klassiker statt deren politisches Verhalten fördern wollte.24 Damit hatte sich der Wechsel hin zu einem pragmatischen Erbe-Verständnis schon nach wenigen Jahren fast vollständig vollzogen. Zudem hatten einflussreiche Wissenschaftler wie Mayer sich schon seit Jahren dafür eingesetzt, Goethe von seinem klassizistischen Thron zu holen, auch als Voraussetzung für die bessere Aufarbeitung anderer Autoren, wie z.B. Kleist.25 Auch der Marxismus wurde nicht mehr nur aufklärerisch gesehen, sondern vor allem romantische Aspekte standen seit den 60er Jahren im Fokus. So wurde v.a. der marxistische Entfremdungsbegriff, der in der arbeitsteiligen Industriegesellschaft der DDR tagespolitische Relevanz hatte, stärker thematisiert und auf sozialistische Literatur übertragen.26 Aber auch institutionell vollzog sich ein Wandel: Nach dem Weggang wissenschaftlicher Autoritäten wie eben Mayer zeigte sich deutlich, dass die Füh-
22 Hohendahl, Theorie und Praxis des Erbens (1983), S. 13. 23 Emmerich, Kleine Literaturgeschichte (2009), S. 211. 24 Haase, Die SED und das kulturelle Erbe (1988), S. 341. 25 Emmerich, Kleine Literaturgeschichte (2009), S. 336. 26 Hohendahl, Theorie und Praxis des Erbens (1983), S. 15.
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rungsrolle der wissenschaftlichen Intelligenz bei Lenkung und Leitung des Erbes in den 70er Jahren27 mehr und mehr durch die Schriftsteller, und nicht wenige davon Mayers Schüler, ersetzt wurde, was in Teilen die Explosion an Erbeproblematisierenden Texten, aber auch deren literaturwissenschaftliches Selbstverständnis erklärt. Inhärent vollzog sich dabei gleichsam eine deutliche Schwerpunktverlagerung in Richtung der „problematischen Traditionen“, die vor allem den Autoren selbst zeitgemäßer erschienen und in denen sie sich wiederfanden. Jene Erbe-Aktualisierung in der stets unübersichtlicher werdenden Kulturszene wurde auch im Theater vollzogen, jedoch vor allem über die Klassiker selbst. Dresen und auch Müller beschäftigten sich ab den 60er Jahren intensiv mit Shakespeare, der ebenfalls als Klassiker galt, und nutzten ihn als Camouflage, um das starre Erbe von innen her zu zersetzen. Ab den 70er Jahren wurde von vielen Theatermachern zunehmend die Klassik hinterfragt und auch hier untersucht, was diese in ihrer Übermacht verdrängt hatte.28 Wie Stuber herausarbeitet, wurde auch das Theater deutlich differenzierter, selbstreflexiver und reagierte immer weniger auf kulturpolitische Fragen als auf theaterästhetische Auseinandersetzungen – ergo avantgardistischer.29 Neben den Klassikern und Shakespeare wurden auch zunehmend mythologische Stoffe aufgegriffen, was sich ebenfalls in die Parallelen zur Moderne einreiht, die den Mythos als Ausdruck eines gewissen Antirealismus begriff. Ästhetisch bedienen sie sich nicht nur formal moderner Techniken, sondern ähnlich zu Autoren wie Woolf, Joyce, Benjamin, und Musil entwickelten sie, wie Karl Heinz Bohrer für die Moderne festhält, „eine paradox-utopische Perspektive auf die transreale Sphäre der Fantasie, die imaginäres Neuland im Realen entdeckt.“30 Müllers unzählige Bearbeitungen griechischer Dramen nebst den Antikenprojekten von Stefan Schütz, Volker Braun, schließlich auch Christa Wolf und eben auch Kleists Amphitryon und Penthesilea fallen in diesen Kontext hinein. Der Mythos wurde als eine metaleptische Chiffre für eine Sinnkonstruktion der Gegenwart verwendet.31 Doch zunehmend vollzog sich bei den Antikenbear-
27 Ebd., S. 22, und Herminghouse, Zur Wiederentdeckung der Romantik (81), S: 218. 28 Stuber, Spielräume und Grenzen (2000), S.230. 29 Ebd., S. 221ff. 30 Bohrer, Das Erscheinen des Dionysos (2015), S. 29. 31 Heinz-Peter Preußer, Mythos als Sinnkonstruktion (2000), hat sich in einer umfangreichen Studie bemüht nachzuweisen, dass Müllers, Wolfs, Schütz’ und Brauns Antikenprojekte allesamt mit den antiken Stoffen ahistorisch umgehen und eigentlich nur über die DDR reden.
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beitungen in den 70er Jahren auch ein Paradigmenwechsel hin zu einer Benjamin’schen Geschichtsphilosophie, in der Mythen als rückbezogenes Sinnbild für die Wiederkehr des Gleichen einstehen.32 Mit Blumenberg gesprochen, vollziehen viele Kulturschaffende somit eine Arbeit am Mythos im doppelten Sinne: Sie prüfen die Aktualität antiker Stoffe und deren Potential für eine kritische Aneignung, gleichzeitig unterminieren sie aber auch kritisch den Mythos des kulturellen Erbes und der Staatsmythen, auf denen die DDR ihr Fundament gründete. Die vielen Jubiläen jener Grundpfeiler der DDR gaben dazu auch reichlich Anlass: 1977 war auch das 60. Jubiläum der Oktoberrevolution. Kaum war es vorbei, wurde der 30. DDR-Geburtstag angekündigt, und es gab parteiintern Proteste, dass zu viel Geld für diese Selbstinszenierungen ausgegeben wurde.33 Mit solchen Jubiläen wollte die Parteiführung in diesen Jahren verstärkt wiederum die jüngere Generation ansprechen, die sich mit den Gründungsmythen nicht mehr persönlich identifizierte. Gleichzeitig konnten diese Mythen aber auch nicht ad acta gelegt werden. Deswegen wurde einerseits immer weiter mit Jubiläen der revolutionären Traditionen und des Antifaschismus und der aktualisierten Fassung des Antiimperialismus gearbeitet – die meist nach dem Vorbild des „staatsbegründenden“ Goethegeburtstags 1949 funktionierten – und schließlich „Additionsmythen“34 selben Musters erfunden, die vor allem eine regionale Identifizierung ermöglichen sollten, wie die Wiederbelebung des preußischen Erbes um 1980 und das Lutherjubiläum 1983. Zielführend war keine dieser Aktionen mehr, weil die Kulturpolitik „von oben“ der 50er Jahre nicht mehr zeitgemäß war und die Staatsführung nicht bereit war, einen offenen gesellschaftlichen Dialog zur Zukunft des Landes zu wagen. Es wirkte nur wie ein wandelnder Anachronismus, oder, wie Heiner Müller es ausdrückte: „der verordnete Antifaschismus war ein Totenkult“.35
Wenn nun in Literatur und Theater in den 70er Jahren nach dem 8. Parteitag der SED 1971 das klassische Erbe hinterfragt wurde und es interessierte, was es verdrängt hatte, dann ist die Kleist-Ehrung 1977 für die 70er Jahre ebenso repräsen-
32 Emmerich, Kleine Literaturgeschichte (2009), S. 342. 33 Allinson, 1977 (2013), S. 265ff. 34 S. hierzu Zimmering, Mythen in der Politik der DDR (2000) und Münkler, Der Antifaschismus als Gründungsmythos der DDR (2004). 35 HMW 9, S. 285.
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tativ wie der Goethe-Geburtstag 1949, vor allem in ihrer produktiven Breitenwirkung. Die Ehrung brachte unzählige Neuinszenierungen, Bucherscheinungen und auch eine Fernsehdokumentation mit sich, und es ist äußerst wahrscheinlich, dass diese von den Autoren rezipiert wurden und zur intensiven Beschäftigung beitrugen. Kleist traf in jedem Falle einen empfindlichen Nerv: Wie Patricia Herminghouse36 und vor allem Alison Lewis argumentieren, war die KleistIdentifizierung, die Autoren an den Tag legen, vor allem eine Wiederkehr des alten Mythos vom krankhaften, romantischen Kleist, was das Establishment um Goldammer als Gefahr für die „progressive Linie der Kleist-Rezeption“ ansah.37 Die verschiedenen Quellen zeigen aber eher, dass die Kulturpolitik deutlich weiter war als Goldammers Aufsatz als endgültig zu betrachten. Auch war die Reaktion der Autoren eigentlich keine Reaktion auf Goldammer et al., sondern es wurde die eigene Erfahrung in ein altes Kleist-Bild projiziert, in einer Art subjektiven kritischen Aneignung. Diese ist allgemeiner Ausdruck einer ästhetischen Wende hin zu Subjektivität. Aus der realistischen Grundkonzeption des DDR-Romans mit ‚totalem’ Wirklichkeitsanspruch wird die Polarität von Individuum und Gesellschaft entnommen und subjektiv abstrahiert, wodurch eine neue Polarität der marxistischen Maxime von Selbstverwirklichung und Entfremdung entstand, mit dem Ziel der Ausbildung des ‚Ich’ – somit eine dialektische Weiterentwicklung des paradigmatischen Zu-sich-selber-Kommens des Menschen.38 Nachdem in den 60er Jahren viele Autoren um die sächsische Dichterschule dieser Subjektivität vor allem in Form von Lyrik Ausdruck verliehen, so wurde diese in den 70er Jahren auch auf die Prosa übertragen, denn laut Johannes Bobrowski kann nur „Prosa allein [...] die gesellschaftlichen und individuellen Beweggründe aufhellen“39 oder, wie Christa Wolf bereits 1968 in Lesen und Schreiben, in dem sie ihr Konzept der subjektiven Authentizität erläuterte, behauptete: „Prosa schafft Menschen“.40 Entsprechend erfuhr die Rezeption Kleists erfuhr in den 70er Jahren gattungstechnisch einen Wandel, da er neben den Inszenierungen seiner Stücke nun zunehmend und primär Gegenstand von Prosaliteratur wurde. Dies geschah auch als Misstrauensbeweis gegen das staatliche Kulturmonopol und nicht nur als inhaltliche Kritik, denn eigentlich waren beide Seiten generell einer Meinung. Durch die starke Identifizierung schien es den
36 Herminghouse, Zur Wiederentdeckung der Romantik (1981). 37 Lewis, Günter Kunert und das andere Wissen um Kleist (2012), S. 309. 38 Greiner, „Sentimentaler Stoff und phantastische Form“ (1981), S. 259. 39 Emmerich, Kleine Literaturgeschichte (2009), S. 192. 40 Wolf, LUS, S. 209.
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Autoren nur, als würden sie selbst regungslos in Stein gemeißelt werden. Dies wiederum ähnelt deutlich der Kleist-Rezeption der Moderne, die sich, nach der Epoche des psychologischen, realistischen Gesellschaftsromans, subjektiv mit ihm identifizierte.
Im direktem Zusammenhang mit der Subjektivitätstendenz fällt die Beschäftigung mit Kleist in eine Phase der Rückbesinnung auf frühere Literaturepochen und Künstlerkrisen. In diesem Kontext wurden dann „Kleist, aber auch Hölderlin, […] die Romantik, Sturm und Drang, Vormärz, die Phasen historischer Krisen und Umbrüche – [...] zu einem wichtigen ästhetischen und geistigen Bezugspunkt, von dem aus eine sensibilisierte Literatur einem Zeitgefühl der Stagnation, der Leere der Geschichte und der Tragik Ausdruck verlieh.“42 Günter de Bruyn antwortete in diesen Jahren auf die Frage, warum er sich nicht lieber mit Goethe oder seinem eigenen Werk näherstehenden Autoren wie Fontane auseinandersetze, Folgendes: “Ich mag zwar Fontane sehr, aber die Zeit reizt mich nicht. Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts, das war eine Zeit des Umbruchs, des Aufbruchs, auch der Enttäuschungen. Das steht meiner Generation näher als das festgelegte spätere 19. Jahrhundert.“43 Damit wurde argumentativ wiederholt, was Anna Seghers bereits in den 40er Jahren für den Aufbau einer sozialistischen Kultur gefordert hatte (Vorbemerkungen). Für Bernd Leistner ist die Beziehung dieser beider Literaturepochen symptomatisch für den ästhetischen Umbruch in der DDR, denn mit der Krisen- und Ernüchterungserfahrung, die die Ankunft im Alltag nach dem euphorischen ersten Jahrzehnt mit sich brachte, sahen viele ihre Hoffnungen auf historische Veränderungen erlöschen und wurden dadurch veranlasst, nach historischen Parallelen zu suchen, und fanden sie um die beiden Jahrhundertwenden 1800 und 1900. Ebenfalls in einer Zeit, als man die Romantik literaturwissenschaftlich aufzuarbeiten begann und die SED Kritik an ihrem eigenen Umgang mit der Romantik in den 50er Jahren übte und später gar zugeben konnte, dass die Romantik wich-
41 Richard Löwenthal spricht bei den westdeutschen Studentenprotesten, die ebenfalls den leidenden Künstler Kleist entdeckten, von einem romantischen Rückfall. S. Bisky, Kleist (2007), S. 384. 42 Eke, Rezeption Kleist DDR (2009), S. 428. 43 Leistner, Goethe, Hoffmann, Kleist et cetera (2001), S. 131/132.
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tig war für das Verstehen der Gegenwart der 70er Jahre,44 vollzog sich im Rahmen dieser öffentlichen Debatte und einer Subjekt-Fixierung eine krisenbedingte Identifikation mit jenen Figuren, die das Erbe zunächst verdrängt hatte, so wie man sich selbst verdrängt fühlte. Wie Lewis betont, nahm „Kleist [bei der mittleren Generation] eine besondere Bedeutung ein, die weniger mit dem Werk als mit dem Leben des Dichters zu tun hatte. Vor allem geht es hier im engeren Sinne um die ‚Leidensfähigkeit des Künstlers’ als Bedingung für die Entstehung von Kunst.“45 Für Herminghouse ist Kleist wie ein „Paradigma für das Leiden des Künstlers an seiner Zeit, der die Widersprüche nicht aufzulösen vermag.“46 Beide Deutungen beziehen sich auf Kleist als eine Art klassischen Künstlertypus, der wiederum vor allem auf das Kleist-Bild der klassischen Moderne Bezug nimmt. Kleist wird zwar vielerorts der Romantikrezeption der DDR zugerechnet, jedoch re-rezipieren die Autoren eigentlich dessen moderne Rezeption. Romantik im weiteren Sinne also wurde von nun an als Kritik an der sich etablierenden Gesellschaftsordnung verstanden, als Kritik der Tendenzen, die sich erst nachfolgend im 19. Jahrhundert durchgesetzt hatten. Die Beschäftigung verfolgte dabei das Ziel, das „zutiefst Vergessene“ in Natur und Geschichte zu suchen, wobei die Beschäftigung mit Antiken Mythen, wie bereits erwähnt, gleichsam von Interesse war.47 Für Daniela Colombo dienen beide historische Bezugnahmen dazu, die Herkunft und Folgen von Ausschluss und Unterdrückung aufzuzeigen, da gegenwärtige Not nach Begegnung mit Vergangenheit verlangte.48 Hierbei wird auch Kleist als Preuße ein wichtiger Faktor, da man in der Geistfeindlichkeit und sich autoritär gebärdenden DDR-Staatsführung Parallelen zum Preußen um 1800 sah, das den militaristischen Nationalismus des Deutschen Reiches und den Faschismus antizipiert haben sollte und in der postfaschistischen DDR, auf ehemals preußischem Boden, in den 70er Jahren in der Erfahrung der Kulturschaffenden als „preußisches Trauma“ wieder zutage trat. Die Überwachung von kritischen Individuen, die Zensur von Kunst und Medien, Obrigkeitshörigkeit und Missbrauch staatlicher Gewalt waren Erfahrungen, die Künstler in diesen Jahren machten. Preußen stellte dafür eine historische wie regionale Parallele dar, aus der sich eine zentrale Chiffre entwickelte, ein „Preußen
44 Haase, Die SED und das kulturelle Erbe (1988), S. 187 bzw. 372. 45 Lewis, Günter Kunert und das andere Wissen um Kleist (2012), S. 306 46 Herminghouse, Zur Wiederentdeckung der Romantik (1981), S. 246. 47 Greiner, „Sentimentaler Stoff und phantastische Form“ (1981), S. 253. 48 Colombo, Das Drama der Geschichte bei Heiner Müller und Christa Wolf (2009), S. 163.
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als Weltzustand“, das das Europa der 70er Jahre als Geist heimsuchte. Da Kleist ein Opfer dieses Preußens in vielerlei Hinsicht darstellt, war er auch für diesen Aspekt ein prädestiniertes Vor- und Sinnbild. Doch was hatten alle diese Aspekte mit Kleist und der Moderne zu tun? Nicht nur fand Kleist generell erst in der klassischen Moderne, zwischen 1880 und 1930, überhaupt die umfassende Anerkennung,49 was die Moderne zu einer prägenden Phase für das Kleist-Bild allgemein macht und dementsprechend die meisten Autoren sich darauf zurückbeziehen. Dass die klassische Moderne generell aber auch stilistisch eine prägende Epoche für jene Kulturschaffende darstellte, die in jener Zeit zudem Kleist und die Romantiker rezipierten, ist somit ein Faktor, der den anderen gleichsam bedingt. Denn wie Maximilian Nutz vor einem allzu schnellen Kurzschluss zwischen Kleist und der Moderne warnte, indem er darauf hinwies, dass „[a]uch die Entdeckung der ‚Modernität’ Kleists [...] das Ergebnis projektiver Lektüren [ist], in denen in das ‚Greuelrätsel’ des Textes, den man aus seinen historischen Kontexten herauslöste, sehr zeitbedingte Deutungen hineingelesen wurden“,50 so wird in der DDR in den 70er Jahren, in der sich die Künstler in einer ähnlichen Situation wie die modernen KleistAnhänger empfanden, ebenjene in Kleist hineingelesen. Kleist ist an dieser Stelle der universell einsetzbare Autor der Krise, der eine offene Wunde in der Literaturgeschichte hinterließ. So wie Penthesilea erst in der Moderne völlig entdeckt und mannigfaltigen Mode-Interpretationen unterzogen wurde, wie Ricarda Schmidt gezeigt hat,51 so ist es nun eine entscheidende Parallele, dass dieses Stück in den 70er Jahren der DDR seine erste Inszenierung findet. Wenn Klaus Müller-Seidel einen Paradigmenwechsel im Übergang von klassischer zu moderner Ästhetik konstatiert, weil die Moderne erstmalig Kleists eigene Krankheiten sowie die Darstellung des Kranken in Kleists Werk nicht mehr negativ bewerte, sondern darin soziale Symptome sehe,52 dann ist dies exakt der Punkt, den die Autoren der 70er Jahre in ihrer zeitgeschichtlichen Situation aufgreifen: So werden z.B. mehrfach die Obduktionsprotokolle Kleists literarisch bearbeitet (G.Wolf, Schlesinger, DT), um den Wissenschafts- und Rationalitätswahnsinn zu kritisieren, der in seinem „Aufklärungswahn“ nicht einmal die geschundenen Körper verschonte. Dabei zeigt sich deutlich, wie sehr die 50er Jahre noch das faschistische Denken weitertrugen, wo primär Krankheit und Wahnsinn dem
49 Schmidt, Die Penthesilea-Rezeption in der Moderne (2011), S. 145. 50 Nutz, Rezeptionsgeschichte von Kleists Penthesilea (2001), S. 200, und auch Blamberger, „Nur was nicht aufhört“ (2011), S. 27. 51 Schmidt, Die Penthesilea-Rezeption in der Moderne (2011). 52 Müller-Seidel, Klaus: Kleists ‚Hypochondrie’ (1989).
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‚gesunden’ Fortschritt entgegenstanden, während man nun, in Zeiten der Ankunft, Ausdifferenzierung, aber auch der Krise, sich daranmachte, die gesellschaftlichen Symptome des täglichen Wahnsinns nachzuvollziehen, sodass man Penthesileas vermeintlich pathologischen Wahnsinn nun auch als Folge des sie umgebenden gesellschaftlichen Wahnsinns lesen konnte. Hierbei handelt es sich also nicht um eine nachgeholte Moderne, wie Emmerich konstatiert,53 sondern um einen ästhetischen Paradigmenwechsel innerhalb der marxistischen Moderne, nämlich von der postklassizistisch-ideologischen zur dialektischen.
Diese Rückbesinnung auf historisch-verwandte Künstlerkrisen, für die Kleist eine zentrale Rolle spielte, bot den Autoren einerseits die Möglichkeit der Selbstreflexion in Form einer Chiffre, andererseits war sie aber auch ein marxistischdialektischer und primär produktiver Versuch, jene Krise der Gegenwart zu bewältigen und zu überwinden. Indem man die Probleme rückwärtsblickend externalisierte und die Vergangenheit einer historisch-kritischen Analyse unterzog, suchte man herauszufinden, was dort schiefgelaufen war und sich negativ auf die Gegenwart auswirkte. Somit vollzogen sie exakt das, was ironischerweise Lukács in Der historische Roman als eine der Krise[n] des Realismus beschreibt, in der die Autoren, wie z.B. Fontane, sich in der Zeit zurück an den Anfang ihres Jahrhunderts wenden, um die Krise der Gegenwart zu verarbeiten.54 In der DDR entstand das Spannungsfeld jener Autorschaftskrise nun daraus, dass es eine immer deutlicher werdende Diskrepanz zwischen der konkret festgelegten Rolle des sozialistischen Autors, die man auszufüllen suchte, und der kulturpolitischen Realität der Ausübung und Anerkennung dieser Rolle gab. Dies führte seit den späten 60er Jahren vermehrt dazu, dass Autorschaft selbstreferenziell textuell thematisiert und problematisiert wurde, als „Folge des gefühlten Herausfallens, aber auch Frage nach künstlerischer Rechenschaft und Selbstverständigung“.55 Ein biologisch-hormonelles Bild bemühend, könnte man in den 70er Jahren von einer Pubertät der DDR-Kulturszene sprechen: die alten nationalen Narrative haben ihre Geltung verloren und der seitens der Autoren vorgeschlagene Reformprozess wurde ignoriert. Die verschiedenen literaturge-
53 Emmerich, Gleichzeitigkeit (1994). 54 Lukács, Probleme des Realismus (1965), vgl. auch Ziolkowski, Berlin. Aufstieg einer Kulturmetropole um 1810 (2002), S. 254f. 55 Emmerich, Kleine Literaturgeschichte (2009), S. 210.
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schichtlichen Identifikationsversuche sind auch ein Austesten potentieller neuer Autorschaftsrollen, die dem ausgerufenen real-existierenden Sozialismus besser entsprechen. Der Germanist Claus Träger behauptete 1976 auf einer Carl Maria von Weber-Tagung: „Enttäuschung, Trauer über das wirklich Geschehene, bei zeitgleich uneingeschränkter Zuneigung gegenüber der Umwälzung zugrundeliegenden Ideen, kurz: der Wunsch nach einer Revolution ohne Revolution, nach Veränderung ohne praktische Gewalt… Paradigmatisch dafür ist die Künstlerproblematik.“56 Diese Beschreibung der Romantiker ist gleichsam exakt die Beschreibung der Selbstidentifizierung der meisten DDR-Autoren mit den Romantiker. Träger formuliert hier theoretisch, was die Autoren praktisch vollziehen. Wie Herminghouse thematisiert, fand in 1970ern zudem ein literaturwissenschaftlicher Umbruch von Leitmedium zu Kommunikationsmedium statt, das zur Ausweitung des Wertes eines Werkes führte und auch die Rezeption durch den Leser mit einbezog. Das Mitdenken des Lesers veranlasste dadurch implizit auch die Autoren zur Selbstreflexion ihres Autorschaftskonzeptes, sodass – neben dem generellen Hinterfragen der Autorschaft innerhalb des politischgesellschaftlichen Kontextes – die vielen Autorenportraits auch Prozesse einer Selbstverständigung, nicht aber zwangsweise der Selbstrepräsentation sind.57 Je häufiger es zudem zu Repressalien gegen Autoren und Regisseure kam, desto mehr wurde das Modell „Schriftsteller als Außenseiter“58 brisant und teils auch existenziell, und Kleist avancierte dabei zu einem subjektiv aufgeladenen Gegenmodell gegen die DDR-Literaturprogramme, denn, wie Wolf in Lesen und Schreiben verfasste: „Im Sozialismus muss der Autor kein Außenseiter sein.“59 In dieser modernen Autorschaftskrise kann somit beobachtet werden, dass, trotz literaturwissenschaftlich bereits ausführlich debattierter Rehabilitierung Kleists durch Mayer, Goldammer, Streller und Deiters, die sämtlichen Autoren vertraut waren, die moderne Krise Kleists auf die Kulturpolitik der DDR der 50er Jahre zurückgesetzt wurde, um deren Grundsätze die Autoren der 70er Jahre sich betrogen sahen. Die persönlich empfundene Verunglimpfung wurde mit der Verunglimpfung von Autoren wie Kleist, Hölderlin und den Romantikern assoziiert, weil sie dort die kulturellen Probleme identifizierten, von denen sie nun selbst heimgesucht wurden. Identisch wurde mit aufkommenden Kulturthemen wie Preußen, Mythologie, Reformation und Utopie verhandelt, und Kleist lässt sich in all diesen wiederfinden, was seine hohe Aktualität begünstigte.
56 Herminghouse, Zur Wiederentdeckung der Romantik (1981), S. 230. 57 Ebd., S. 232f. 58 Jordan, Kunert und Kleist (2004), S. 15. 59 Wolf LUS, S. 42f.
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Schlussendlich wird Kleist noch zu einer Chiffre für einen weiteren geschichtsphilosophischen Paradigmenwechsel, bei dem zum Zeitpunkt der präsentischeschatologischen Verkündigung des real-existierenden Sozialismus eben jene Hoffnung auf diesen wieder in die Zukunft verschoben und dessen utopisches Potential aktualisiert wurde. Wiederum in der zweiten Generation der Kulturschaffenden fanden sich immer mehr „Melancholiker“,60 die am Konzept des Sozialismus/Kommunismus festhielten, aber ihn als immer ferner rückendes Ziel betrachteten. Sie „verstanden sich als Sozialisten; sie akzeptierten einen moralischen, sozialoperativen Auftrag der Literatur; sie hielten an der gesellschaftlichen Utopie als einer zentralen Kategorie zumindest bis zur Mitte der 70er Jahre fest.“61 Gleichsam wird sukzessive das „vom Marxismus in seiner orthodoxen Version vermittelte Fortschrittsdenken [...] von den kritischen Künstlern verworfen, der Glaube an ein gesetzmäßig gesichertes Ankommen im Sozialismus und endlich Kommunismus geht verloren.“ In der Kette traumatischer Erfahrungen wurde von jenen dialektischen Autoren auch Kritik an jenem „Selbstzerstörungsprozess der Aufklärung“ geübt: Autoren wie Wolf geht es dabei um das Aufzeigen von gesellschaftlichen Leerstellen, um das „Noch-nicht-Gewordene in der Gesellschaft, die Dimension der offenen Zukunft – ‚Geist der Utopie’ und ‚Prinzip Hoffnung’ im Sinne des ehedem Leipziger Philosophen Ernst Bloch.“62 Bloch, bei dem Wolf, Dresen, und Weigel in Leipzig Vorlesungen besuchten, ist neben Mayer eine weitere prägende Figur für die dialektischen Kleist-Adepten.63 Wolf lässt in Kein Ort. Nirgends Kleist Bloch zitieren,64 als kritischen Kommentar zum Status Quo des Zu-sich-selber-Kommens des Menschen im Sozialismus. Spätestens 1979 machte der Germanist und Literaturkritiker Dieter Schlenstedt den Begriff ‚Utopie’ wieder salonfähig, als Ausdruck einer konstruktiven Kritik des Status Quo.65 Diese Kritik wirkte sich zu einer umfassenden Zivilisationskritik aus, deren Gründe die Autoren in der Vergangenheit suchen. 1980 bringt Wolf ihre Ernüchterung in ihrer Büchner-Preisrede deutlich zum Ausdruck:
60 Emmerich, Status Melancholicus (1994), S. 240. 61 Emmerich, Kleine Literaturgeschichte (2009), S. 404. 62 Ebd., S. 210. 63 Eine gute Darstellung dazu findet sich, vor allem für Heiner Müller, bei Pabst, PostOst-Moderne (2016), S. 43ff. 64 „Wenn wir zu hoffen aufhören, kommt, was wir befürchten, bestimmt.“ KON 103. 65 Lehmann, Vom 'gesunden Volksempfinden' zur Utopie (1991), S. 125.
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„Wir, ernüchtert bis auf die Knochen, stehn entgeistert vor den vergegenständlichten Träumen jenes instrumentalen Denkens, das sich immer noch Vernunft nennt, aber dem aufklärerischen Ansatz auf Emanzipation, auf Mündigkeit hin, längst entglitt und als blanker Nützlichkeitswahn in das Industriezeitalter eingetreten ist.“66 Die Autoren hielten, desillusioniert vom sozialistischen Staat, an der Utopie des Sozialismus fest, beziehungsweise verschieben den Sozialismus ins Utopische, ins Private und in die Kunst. Dabei ging es, im Anschluss an Benjamin darum, primitivem marxistischen Fortschrittsoptimismus ein Geschichtsdenken entgegenzusetzen, in dem das utopische Moment als mögliche Korrektur des historischen Verlaufs denkbar wird.67 Diese literarische Zivilisationskritik der Autoren versucht den Legitimationsdiskurs für den Traum des Sozialismus vor dem Bankrott des real existierenden zu retten, als Ersatzideologie für den Staat DDR, dessen Ideologie nicht mehr funktionierte.68 Auch dabei begleitet sie der Engel der Geschichte, denn es handelt sich hierbei auch um ein Zurückkehren zu den utopischen Anfängen des Sozialismus in der Moderne. Dass Müller, Kunert, Schütz, Wolf und Schlesinger dabei Negativbeispiele der Geschichte thematisierten, entsprach nicht nur ihrem marxistischen Selbstanspruch, sondern passt ästhetisch zu Kleist, weil sich in seinem Werk auch keine Idealfiguren tummeln, sondern Unangepasste im Schrecken der Realität, die dieser entfliehen wollen und dabei scheitern. Kleist findet zudem als Autor Interesse, da auch er seine Stoffe in den Mythos oder die Geschichte verlegte, weil er sich darin sicherer bewegen konnte. Mehrere Autoren in diesem Kapitel werden ihn dafür als Vorbild heranziehen. Viele von ihnen werden aber ihre Utopien in der DDR begraben und das Land verlassen.
66 Emmerich, Kleine Literaturgeschichte (2009), S. 272. 67 Pabst, Post-Ost-Moderne (2016), S. 62. 68 Ebd., S. 281.
Als Nachspiel der Ehrung 1961, aber auch die Ehrung 1977 vorbereitend, wurde am 7. Oktober 1969 – am 20. Jahrestag des Bestehens der DDR, somit wiederum in Kongruenz zum Goethe-Geburtstag 1949 – schließlich die Kleist-Forschungsund Gedenkstätte in der alten Garnisonsschule in Frankfurt, die in Kleists Geburtsjahr errichtet wurde, feierlich eingeweiht. Wie eine Vorlage des Rats der Stadt berichtet, sollte die Gedenkstätte der „Wahrung und Pflege des bedeutenden Dichters der klassischen deutschen Literaturperiode“ dienen und in „wissenschaftlich-vergleichender Methode“ das dramatische Werk im Zusammenhang klassischer Werke von Lessing, Schiller, Goethe verorten.1 Damit wurde ein weiterer Erbe-ideologischer Schritt unternommen, Kleist als Klassiker zu institutionalisieren und monolithisieren. Weiterhin sollte die Forschungsstätte dafür sorgen, Kleist nicht nur zum Klassiker, sondern zum sozialistischen Klassiker zu machen, insofern sollte auch die „innere Kongenialität Kleists mit dem sozialistischen Menschen- und Gesellschaftsbild“ analysiert und vermittelt werden und sein tragisches Scheitern mit der Schwäche des Bürgertums seiner Zeit in Zusammenhang gebracht werden.2 Zudem muss auch die alleingültige Deutungshoheit untermauert werden, deswegen sollte sich die Forschung auch mit „westdeutschen Entstellungen der Werke und der Persönlichkeit Kleist, die im Interesse der Politik und Ideologie des Imperialismus liegen, auseinander[setzen]“ und auch die Kontrolle der Universitätsforschung indirekt gewährleisten durch die „Koordination von Forschungsvorhaben“ und den „Vorschlag von Diplomarbeitsthesen in Absprache mit Ministerium“.3 1
BArch DR1/23808, pag. 284f.
2
BArch
3
BArch DR1/23808, pag. 291.
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Nach dem Vorschlag aus Frankfurt sollte die Eröffnung kurz vor dem 20. Jahrestag erfolgen, um die „weit reichenden [sic] Bemühungen und Verdienste unseres Staates um das kulturell-humanistische Erbe und seine progressive kritische Aneignung und Pflege als Bestandteil der sozialistischen Nationalkultur nachdrücklich zu manifestieren.“4 So wurde es auch weitergeleitet, wie aus einem Brief Bruno Haids, dem stellv. Minister für Kultur, an den Minister Klaus Gysi hervorgeht, dass auf „ausdrücklichen Wunsch von Genossen Erich Mückenberger, Mitglied des Politbüros des ZK der SED und Erster Sekretär der Bezirksleitung Frankfurt/Oder, [...] die Eröffnung in die Zeit um den 20. Jahrestag der DDR gelegt [wurde].“ Vor allem die interne Begründung offenbart eine gewisse Komik: „Man muss das Bemühen [...] in diesem östlichsten, an progressiven Traditionen nicht gerade reichen DDR-Bezirkes besonders werten und anerkennen.“5 Es handelte sich also vor allem um eine Provinz-Inszenierung, die die Staatsführung zum Zwecke reiner Selbstvermarktung für sich nutzte, um nach innen wie außen zu demonstrieren, dass der Staat sich um Kultur bemühe, und zwar besser als die Bundesrepublik. Neu war, dass die Forschungsstätte auch permanent die Wissenschaft und den Wissenschaftsnachwuchs in Form von Kooperationen kontrollieren sollte. Allerdings trugen die wissenschaftlichen Kolloquien, die meist von Wolfgang Barthel, dem wissenschaftlichen Mitarbeiter der Gedenkstätte, organisiert wurden,6 in der Tat eher dazu bei, ein differenzierteres und wissenschaftliches Bild Kleists landesweit zu kommunizieren. Insofern ist dies ein weiteres Beispiel für die gelebte Diskrepanz zwischen Repräsentation und Pragmatismus. Man zeigte jetzt Kleist politisch mehr Wertschätzung und nutzte den klassifizierten Kleist exakt 20 Jahre nach den Goethe-Feierlichkeiten in Weimar den Anlass, um dieses Gründungsdatum nachzuinszenieren. Der Festempfang wurde dementsprechend auch groß begangen, und zu den 120 geladenen Gästen zählten neben Vertretern der Stadt und des Bezirks Frankfurt der Minister Klaus Gysi, und bekannte Namen wie Wolfgang Barthel, Prof. Siegfried Streller, zu diesem Zeitpunkt bereits Direktor des Germanistischen Instituts der HU, Walther Victor, Helmut Brandt, Curt Trepte, der Intendant der Deutschen Festspiele in Thale und
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BArch DR1/23808, pag. 293.
5
BArch DR1/23808, pag. 304.
6
Wie zum Beispiel ein Kolloquium über Inszenierungen des Homburg in der DDR im März 1970 (Barthel, Kleist DDR, 2015, S. 189) oder die einflussreiche RomantikKonferenz im Rahmen der Ehrung 1977.
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Karl Kayser, der Intendant des Leipziger Theaters, der 1969 dort den Homburg und 1988 die Hermannsschlacht (Kapitel 3) inszenieren sollte.7
Bevor Kleist zum emblematischen Krisenautor der 70er Jahre emporsteigen sollte, entstanden zunächst im Rahmen der subjektiven Wende, der zunehmend von Autoren vorgenommenen Erbe-Korrektur und in Vorbereitung des Jubiläums ab Ende der 60er Jahre eine Fülle von Lyrik und Kurzprosa, die Kleist zum Thema hat und die die Anfänge der Identifizierung mit dem Autor Kleist verkörpern. Von diesen Texten soll eine repräsentative Auswahl hier besprochen werden, welche die verschiedenen Aspekte der Kleist-Rezeption darstellen.8
$ "# #" ! Eine erste subjektive Kleist-Apologie erschien 1971, zehn Jahre nach dem Kleist-Jubiläum, mit Helmut T. Heinrichs Erstlingswerk, dem Erzählungsband Hölderlin auf dem Wege nach Bordeaux, in welchem sich neben der Titelerzählung noch die beiden kurzen Texte Der letzte Tag des E.T.A. Hoffmann und An Marie von Kleist befinden.9 Heinrich, Jahrgang 1933, wie im kurzen Vorstellungstext von Wolfgang Trampe dargestellt, Übersetzer und Schriftsteller, zu dessen nachhaltigen Leseerlebnissen der Jugend Hölderlin, Hesse, Thomas Mann und Dostojewski gehören, ist spezialisiert auf das Genre der Nachdichtung.10 In der Tradition der Nachdichtung können auch die drei Erzählungen gesehen werden, die jeweils aus der Ich-Perspektive geschildert werden. An Marie
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BArch DR1/23808, pag. 297f. Der Vollständigkeit halber sei aber zumindest auf die diversen Texte und Gedichte von Jürgen Rennert (Märkische Depeschen, 1976), Hartmut Lange (Die Gräfin von Rathenow, 1969), Bodo Uhse, Elke Erb, Wulf Kirsten, Heinz Czechowski, Armin Stolper, Heinz Knobloch, Uwe Berger, Erich Arendt, Wolfgang Buschmann, Jutta Hecker, Gerhard Wolf und Roland Müller verwiesen, die im Rahmen von Schriftsteller über Kleist (1976) entstanden.
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Heinrich, Hölderlin auf dem Wege von Bordeaux (1971), S. 57-74.
10 Vor allem dichtete er die Werke der linken amerikanischen Autoren Carl Sandberg und Walter Lowenfels nach (75). Heinrichs Nachdichtung von Sandbergs Gedicht The People, Yes (1969) beinhaltet das oft zitierte „Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin“, das fälschlicherweise meist Bertolt Brecht zugeschrieben wird.
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von Kleist ist ein fingierter Abschiedsbrief Kleists, der mit seinem berühmten Vorbild nur basale Überschneidungen hat. In ihm versucht sich Heinrich in Kleist hineinzufühlen und der Brief zeigt einen insgesamt deutlich sentimentalen und romantisierten Kleist, der aber das vertrauensvolle Verhältnis zu Marie von Kleist nutzt, um ihr die Entscheidung seines Freitodes zu erklären. Heinrich unternimmt hierbei einen weiteren Versuch, das Skandalon von Kleists Selbstmord zu rehabilitieren und den verschiedenen Negativurteilen kontra zu geben. Gleich auf der ersten Seite begründet er Marie als seine Adressatin, weil „Sie mich kennen und deshalb nicht für einen Schwärmer halten, schreibe ich diese Worte. Vor der Welt, die mich missverstehen könnte, verberge ich sie.“ (57). Der Vorwurf des Schwärmers, der sowohl die Nähe zur Romantik als auch seine vermeintliche geistige Umnachtung evoziert, wird damit sofort als eine fehlerhafte Außenwirkung abgetan, der die notwendige Innensicht fehlt, die Heinrich in fingierter Form somit nachliefert. In der Tat wird auch sogleich darauf eingegangen, dass es keine einfach zu erklärenden Gründe für seine Entscheidung gibt: Und dann fällt die Schuld bald auf diesen oder jenen Menschen, bald auf diesen oder jenen Umstand. Und darum weigere ich mich: weil die Schuld auf einen einzelnen Menschen oder Umstand fallen könnte, wo doch nur von einer Summe, einer Gesamtheit von Dingen und Verhältnissen, die sich oft unserer Macht entziehen, die Rede sein kann. (58)
Heinrich arbeitet sich in dem Brief an fast allen Vorwürfen ab, die Kleist in seiner Rezeptionsgeschichte gemacht wurden, und lässt den fiktionalen Dichter nachträglich selbst darauf antworten. So ist Kleist ein „Mann, der immer versucht hat, das Beste zu tun, und an diesem Wunsch gescheitert ist“, bedingt durch das „Unglück, in eine schwache, willenlose Zeit hineingeboren zu sein“ (59), und „ein Mensch, der an dem Unmaß seiner Fähigkeiten scheitert wie ein anderer am gänzlichen Fehlen derselben […], der täglich eine Bürde von Tatendrang mit sich herumschleppt und schließlich unter ihr, da er sie nicht in Tat verwandeln kann, erstickt“ (70). Kleist erträgt also die Last seiner eigenen Fähigkeiten nicht mehr und scheitert für Heinrich nicht, wie oft thematisiert, an seiner Ruhmsucht, sondern daran, dass er „es nicht dahin habe bringen können, den Menschen nützlich zu sein.“ (67) Zudem möchte er, in Anspielung an Adorno, trotz seines Lebensdurstes „aufhören, jenes erbärmliche Geschäft zu betreiben, das sich Leben nennt und keins ist“ (72). Auch nimmt der fiktionale Kleist bereits seine eigene negative Rezeption der Nachwelt vorweg: Und so bewahrheitet es sich in meinem Tode, was man mir im Leben stets nachgesagt hat: dass ich ein Sonderling sei. Ich schwöre es bei der Unschuld meiner Seele, ich war es
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nicht. Ich habe mich nie auf dieser Welt als Fremdling gefühlt und gehe auch in diesem Bewusstsein hinüber. (73)
Noch deutlicher wird der Kommentar über die Rezeptionsgeschichte, wenn Heinrich seinen Kleist ausrufen lässt: „In wieviel Formen wollten sie mich pressen!“ (63). Heinrich inszeniert einen fiktionalen Nachruf Kleists auf sich selbst und seine Rezeptionsgeschichte, der konkret alle Bedenken, die auch gegen Kleist als kanonischen Autor für die DDR gehegt wurden, aus Kleists eigener, wenn auch fingierter Logik aushebelt und die komplexen Gründe der Zeit und das permanente Scheitern eines überdurchschnittlich talentierten Dichters verantwortlich macht. Bemerkenswert ist hierbei bereits der fundamentale Unterschied zu den ähnlichen Bemühungen Dora Wentschers (Kapitel 1), die sich noch im formalen Rahmen des sozialistischen Realismus erstreckten. Mit Heinrich vollzieht sich eine Wende zu stark subjektiven und subjektorientierten Stoffen und Erzählformen und, wie auch Honnef betont, ist es hervorzuheben, „wie hier ein DDR-Autor bewusst von der üblichen Form der Biographie abweicht.“11 Heinrich ist damit innerhalb der DDR auch das erste Beispiel für eine Identifizierung mit dem Krisenautor Kleist, der die Umstände der Zeit für sein Scheitern verantwortlich macht, und es ist auch der erste Fall, wo ein DDR-Autor Kleist zum Sprachrohr der eigenen Enttäuschung über die Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft macht.12 Man erkennt einen Unmut über die negative Kategorisierung der „Jugendhelden“ Kleist, Hoffmann und Hölderlin, denen Heinrich in seinem Debüt eine Stimme verleiht, um sich selbst dagegen auszusprechen. Alle drei Autoren befinden sich in ihren Texten kurz vor ihrem Ableben bzw. am Ende ihres Schaffens: Hölderlin an der Schwelle zur geistigen Zerrüttung und Hoffmann kurz vorm Sterben, alle beide von den Erinnerungen ihres Lebens überwältigt, für die sie Rechenschaft geben. Heinrich macht hier durch die gewählte Innenperspektive deutlich, wie sehr die Rezeptionsgeschichte, und vor allem die der Erbe-Diskussion, diesen drei Autoren Unrecht getan hat, und will sie damit rehabilitieren. Dies kann durch Trampe im Klappentext bereits im Sprachgebrauch des Kanons formuliert werden: So seien alle drei Autoren „Weltliteratur“ und Heinrich skizziere deren „Schicksale, gezeichnet von den reaktionären Gesellschaftsverhältnissen der Zeit“, und an den Fortschritt und die Zukunft der sozialistischen Gesellschaft ist auch gedacht, denn nicht „die Klage ist Mittelpunkt der Erzählungen, sondern das Aufbegehren gegen die Pressionen der korrupten Gesell-
11 Honnef, Kleist in der DDR (1988), S. 102. 12 Ebd.
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schaft.“ (76) Auch diese Kategorisierung hat mutmaßlich bei der Veröffentlichung und Verbreitung geholfen und wird sich durch die meisten Kleist-Werke der 70er Jahre ziehen. Eine deutlich verspieltere Kleist-Referenz findet sich bei der Autorin Helga Schütz (geb. 1937). Neben einem vielseitigen Werk13 gehörte auch sie 1976 zu den Unterzeichnern der Biermann-Petition und gehört auch zur Liste der reformsozialistischen Autoren. Die Titelgeschichte ihres 1972 erschienenen, weitgehend unbekannten Erzählungsbandes Das Erdbeben bei Sangerhausen14 ist ein weiteres frühes Beispiel für einen Prosatext, der auf Kleist anspielt und bei dem Kleists Prosa als Schreibvorbild für eine junge Autorin gilt. Verschiedene Motive und Themen aus Kleists 1807 erstmalig publizierter Erzählung Das Erdbeben in Chili nutzt Schütz zur Darstellung der Folgen, die ein singuläres Ereignis in einer willkürlichen Gruppe von Menschen auslösen kann: Das plötzliche Verschwinden eines Traktorfahrers samt Traktor auf einem Acker bei Sangerhausen, der infolge eines Einsturzbebens sprichwörtlich vom Erdboden verschluckt wurde, bringt verschiedene Menschen zusammen, die von der Straßensperrung betroffen sind oder zum Kollegen- und Bekanntenkreis des Traktoristen gehören. Wie in einem kollektiven Bewusstseinsstrom fließt Schütz‘ personale Erzählperspektive in die kollageartig verschränkten Perspektiven der Menschen. So zunächst eine Fahrgemeinschaft um eine französische Journalistin der sozialistischen Zeitung L’Humanité, die durch die DDR reist, um eine Dokumentation mit dem vielsagenden Arbeitstitel „Vorspiegelung falscher Tatsachen, oder: Vom Ausschöpfen des Wassers, das in die Boote regnet“ (129) zu produzieren, da man in Frankreich zu wenig über die DDR erführe, und „noch viel weniger interessante Reportagen, und von der DDR-Literatur kennte man fast gar nichts. Besonders von den Jüngeren wisse man nichts.“ (129). Diese Exposition wird jäh unterbrochen,
13 Ihre Werke reichen thematisch von Vergangenheitsbewältigung der Nazizeit (ihr Erstling Vorgeschichten oder Schöne Gegend Probstein, 1970), Jugendliteratur (Jette in Dresden, 1977 und Julia oder Die Erziehung zum Chorgesang, 1981), einem Drehbuch für einen nie produzierten DEFA-Kinofilm über Martin Luther zum Reformationsjubiläum 1983 bis hin zu den sogenannten „Frauenbüchern“ (In Annas Namen, 1987). 14 Schütz, Das Erdbeben von Sangerhausen (1974), S. 129-138.
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da man von einem Polizisten an einer Straßenabsperrung angehalten wird. Auf die Frage, was denn vor sich gehe, lautet die Antwort, die vom Polizisten wie auch vom sich in Kleist’scher Manier einschaltenden Erzähler stammen könnte: „Ein erdgeschichtliches Ereignis. Das jüngste. Und zwar nicht in Chile, sondern hier, am Ort, vor Sangerhausen, etwa zweihundert Meter von der Straße entfernt. Wird noch nach Jahrmillionen ansichtig sein.“ (131) In Chili-Analogie löst jenes geologische Ereignis in der DDR-Provinz dann auch sofort bei den meisten Betroffenen eine Theodizee-Debatte aus, die die menschliche Unfähigkeit spiegelt, einen solchen „Zufall“ einfach zu akzeptieren: Werden die Leute der Umgebung noch tagelang nicht vergessen. Wird einer bestimmten Familie jahrelang nicht aus dem Kopf wollen, werden ihr Leben lang darüber rechnen und rechten. Wie ging das zu. Wem gehört hier Schuld und Verantwortung. Bleibt keiner, ausser einem Allmächtigen. Der wird sehr scharf und häufig befragt. Wie konntest du? Und warum, wenn schon, gerade wir, warum unser Sohn mein Mann unser Vater. (131)
Die Kontingenzerfahrung, die die Beteiligten angesichts dieser kleineren Naturkatastrophe heimsucht, führt nicht nur zur Befragung Gottes, sondern auch zur Befragung von allerlei Zeugen, deren Aussagen der Text wiedergibt, und die in ihrer Fassungs- und Machtlosigkeit gegenüber der Natur geint sind, und das „in unserer Zeit, wo wir doch schon zum Mond sind und so weiter“ (131). Es wird an allen Stellen nach Schuldzuweisungsmöglichkeiten und Verantwortlichen gesucht, der Pfarrer zitiert klagend aus Jeremia und die Mutter des Verstorbenen geht gar, wie Kleists Hermann, „zur Frau Kalkuhl, weil die, von der Mutter geerbt, die Alraune im Haus hat. Die wird wissen, die wird sagen können.“ (135) Was Schütz hier überzeugend auf wenigen Seiten zeigt, ist, dass seit dem Erdbeben von Lissabon und Kleists Reflexionen zur Unzulänglichkeit menschlicher Erkenntnisfähigkeit sich die condition humaine kaum verändert hat, auch nicht in der sozialistischen, technologischen und vermeintlich aufgeklärt-vernünftigen DDR. Mit einem literaturgeschichtlichen Seitenhieb resümiert sie: „Selbst die Geologen räumen Zufälle ein, sagen einen Satz, den zu wiederholen Jean Paul jedem Schreiber abrät, es gäbe Dinge zwischen Himmel und Erde, von denen sich unsere Schulweisheit nichts träumen lässt.“ (137) Der kleine Zwischenfall auf dem Acker lässt also auch die DDR-Provinzler der 70er Jahre aus ihrem Alltag heraus in metaphysische Mutmaßungen verfallen, die jedwedem offiziellen Staatsportrait missfallen würden. Genau jenes, was die französische Journalistin vermutlich zum Unmut aller schließlich schreiben wird für ihre DDR-Reportage: „L’homme perdu. Le tremblement de terre de Sangerhausen.“ (138)
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Obwohl im Text natürlich verschiedene zynische wie staatskritische Anmerkungen mehr oder minder offensichtlich angelegt sind, so ist doch hervorzuheben, mit welcher Selbstverständlichkeit hier Jean Paul und vor allem Kleist spielerisch eingesetzt werden, um eine humorvolle kleine Gesellschaftssatire zu schreiben, die charakteristisch ist für etliche Autoren der frühen 70er TauwetterJahre, die eine „neugewonnene Lockerheit“ besitzen, die sich „überflüssig gewordener informativer und didaktischer Komponenten entledigt“ habe.15 Ebenfalls gelingt Schütz hierbei ein Texthybrid, der in der Prosa der 70er Jahre häufig anzutreffen ist: Zwar bewegt sie sich mit ihrer unerhörten Begebenheit im Agrarkontext der DDR auf sicherem Terrain, verwendet dabei mit ihrer personalen Erzählkollage allerdings eine sehr prominente Erzähltechnik der im Erbe der 50er Jahre noch verteufelten Moderne, für die sich Autoren der DDR immer häufiger entscheiden würden.
Frankfurt am Kleist Kommst du angereist, siehst du zumeist KLEIST: Kleisttheater, Kleistgedenker, -forscher und -berater, Kleistparkpfleger und gelegentlich mal später – Kleistpreisträger. Doch geh ma und such von vorn bis zurück: Im Handel kaum ein Buch, im Theater kaum ein Stück. Doch keine Bange: Bald wird er 200 Jahre alt, dann rauscht’s im Frankfurter Blätterwald, dann schwört ein jeder auf seinen Kleist, aus echtem Wannseeschrot und -geist.16
15 Emmerich, Kleine Literaturgeschichte (2009), S.. 285. 16 Roland Müller, Frankfurt am Kleist, in: Temperamente. Blätter für junge Literatur 2 (1977), H.2, S. 159; zitiert nach Honnef, Kleist in der DDR (1988), S. 189.
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Das Gedicht Roland Müllers, im Jahr des Kleist-Jubiläums 1977 verfasst, könnte kaum besser die Diskrepanz zwischen den Bekenntnissen staatlicher Stellen und dem wirklichen Effekt auf die Bevölkerung erfassen. Ebenso wie der satirische Blick Müllers die Monumentalisierung des Kanons kritisiert, von dem die Bevölkerung schlichtweg gar nichts mitnimmt, und teils auch gar nicht die Möglichkeit dazu hat. Im Rahmen der Feierlichkeiten zu Kleists 200. Geburtstag 1977 wurde ab 1974 unter der Leitung von Peter Goldammer, der seit 1956 Leiter des Lektorats Deutsches Erbe im Aufbau-Verlag und stellvertretender Generaldirektor der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten in Weimar war, die umfangreiche Dokumentation Schriftsteller über Kleist17 in Angriff genommen. Wie im Nachwort erklärt, versteht sich der Band „als eine Dokumentation zur Wirkungsgeschichte des Dichters in Essays, Aufsätzen und Gedichten, in Würdigungen, Kritiken und Polemiken wie auch in privaten Meinungsäußerungen“ (673) aus der Sicht von Autoren, und stellt somit einen anderen und erweiterten Ansatz dar als Helmut Sembdners 1967 erstmals erschienenes Heinrich von Kleists Nachruhm.18 Unter den Beiträgen befinden sich auch 16 Originalbeiträge von DDR-Autoren, von denen etliche auf Anfrage Goldammers hin für diesen Band angefertigt wurden, sowie drei Gedichte Johannes R. Bechers, mit dem Verweis, dass dessen allererste Veröffentlichung 1911 – zum Jubiläum des 100. Todestages, bei dem die modernen Dichter Kleist als einen der ihren entdeckten – eine Kleist-Hymne war. Auf Vollständigkeit wurde dabei kein Wert gelegt und auf Beispiele nationalsozialistischer Aneignung verzichtet; der Fokus lag also, dem Erbe entsprechend, auf progressiven Traditionen. Die Einleitung Goldammers, Der Mythos um Heinrich von Kleist, gehört zu den wichtigsten Texten, die über Kleist und dessen Wirkungsgeschichte in der DDR verfasst worden sind und zwischen ideologischer und dialektischer Betrachtungsweise vermitteln wollen. Goldammer nimmt nicht nur alle Mythen und Fehleinschätzungen über Kleist und sein Werk in diesen Text auf, sondern auch kritisch auseinander und distanziert sich von ihnen. Gleichsam kann dieses Vorwort als Meilenstein gelten, das die Debatte aus zwanzig Jahren DDR zusammenfasst, ohne sie aber als Schlussstein zu setzen. So kann er festhalten, dass Goethes Kritik an Kleist vermutlich aus einer „vielleicht unbewussten, gewiss aber uneingestandenen – Affinität zu Kleists Art der ästhetischen Wirklichkeits-
17 Goldammer, Schriftsteller über Kleist (1976). 18 Sembdner, Kleists Nachruhm (1997).
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aneignung und -darstellung“ (17) resultiere. Der Fehler, Kleist psychologischmoralisch zu deuten, habe auch in vielerlei Hinsicht das Urteil einflussreicher Kritiker getrübt, sodass Mehring den Homburg als „Verherrlichung des brandenburgisch-preußischen Staates und seiner Ideologie missverstanden“ (23) habe und „vielleicht Lukács das Opfer seiner starren und einseitigen RealismusAuffassung geworden ist“ (25). In puncto Lukács geht Goldammer sogar noch ein Stück weiter und kritisiert dessen Verteufelung der Expressionisten, was für eine Rehabilitierung moderner Literaturformen in den 70er Jahren von hoher Bedeutung ist, versucht sie aber auch im Kontext zu verstehen: Wir freilich sind der Meinung, dass die von Lukács verketzerte Linie der KleistRezeption, bei aller Subjektivität der Urteile und trotz mancher Fragwürdigkeiten, nahezu die einzige Gegenposition zu dem systematisch betriebenen und offiziell geförderten Missbrauch dieses Werkes für die Zwecke einer imperialistischen, präfaschistischen und faschistischen Propaganda war. (25)
Goldammer lässt daraufhin Kleist nicht nur das notwendige Alleinstellungsmerkmal zukommen, indem er feststellt, dass sein Werk „so gänzlich außerhalb aller literarischen Traditionen und Konventionen, klassischer wie romantischer“ (7) stehe, sondern kann damit ihn auch aus dem Urteil der aufklärungsfeindlichen Romantiker entlassen, indem er differenzierend festhält, „dass Kleists durch die sogenannte Kant-Krise ausgelöste und auf Rousseau’schen Ideen beruhende Anschauung vom Primat des Gefühls vor dem Verstand nicht identisch ist mit vernunftfeindlichem, vernunftverachtendem Irrationalismus.“ (19) Das Kernproblem der Wirkungsgeschichte Kleists, von Goethe angefangen, und die Wurzel des von ihm benannten Kleist-Mythos sei aber „[i]nsbesondere für den nachgeborenen Schriftsteller, dem es nicht oder wenigstens nicht vorrangig um allgemeinverbindliche Interpretation des Werkes zu tun ist, bedeutet – infolge jener Gleichsetzung von Werk und Leben […] – die Auseinandersetzung mit dem Dichter immer auch ein Stück Selbstdarstellung, Selbstverständigung und Selbstkritik.“ (14) Damit hat Goldammer einen wesentlichen Kern nicht nur der bis dato problematischen Wirkungsgeschichte erkannt, sondern auch das Phänomen beschrieben, das die Herangehensweise verschiedenster DDRAutoren nach Erscheinen dieses Bandes beschreibt. Dies geht fest einher mit zwei weiteren für die Kleist-Rezeption allgemein und für die der DDR der 70er Jahre signifikanten Beobachtungen, die hier gesondert hervorgehoben werden sollen. Zum einen stellt Goldammer fest, dass die verschiedenen Aspekte von Offenheit des Werkes und der Biographie Kleists sich auch auf die Rezeption auswirken:
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Denn im Unterschied zur Wirkungsgeschichte Goethes und Schillers, ja selbst Heines, die von der Literaturgeschichtsschreibung mehr oder weniger vorgeprägt ist oder mit ihr parallel verläuft, gibt es für die Kleist-Rezeption, lässt man die reaktionäre Variante einmal beiseite, so gut wie keine Normen und Verbindlichkeiten. Das macht die Wirkungsgeschichte zwar außerordentlich diffus und widerspruchsvoll, in ihrem Facettenreichtum aber gleichzeitig auch so ungemein interessant und produktiv. (14)
Damit ruft Goldammer nicht nur auf, endlich Verbindlichkeiten zu schaffen und sich als Voraussetzung dazu endlich unideologisch vor allem mit Kleists Werk auseinanderzusetzen, sondern er analysiert auch gleichsam genau den Grund, den er bei der Rezeption verschiedener Autoren kritisiert: nämlich dass dieses Ungefestigte, vom Mainstream ausgeschlossene, Unangepasste an Kleist den Reiz ausmacht, von dem sich vor allem Autoren angezogen fühlen, die sich – zumindest ihrer Selbsteinschätzung nach – in einer ähnlichen Außenseiterposition befinden. Dies hängt eng zusammen mit dem zweiten Aspekt, der aus Goldammers Vorwort gesondert hervorgehoben werden soll, nämlich seiner Erwähnung der Kleist-Rezeption der Moderne, maßgeblich nach den Feierlichkeiten 1911 und in der Weimarer Republik. Dabei zitiert er Hermann Bahr, den „Wortführer jeder neuen und neuesten Kunstrichtung der ‚Moderne‘“ (11), der seine Erklärung für das Interesse an Kleist wiefolgt beschreibt: Erst im Weltkrieg, gar aber nach dem Kriege, begann die Nation sich auf ihn zu besinnen, ungefähr um dieselbe Zeit, als sich die ersten Zeichen einer Goethedämmerung meldeten. Der neuen Jugend, die den Krieg erlebt hatte, war Goethe zu kalt, zu steif: er hatte nicht genug Chaos in sich. Diese Jugend fühlte sich durch ein ihr unfassliches Erlebnis verstört, und nach Entwirrung einer ungerechten Not verlangend, fand sie Trost an Kleist, der ja stets auf Entwirrung seines verwirrenden Schicksals drängt. … Er lebt nicht bloß als Dichter fort, sondern seine Dichtung geht heute leibhaftig mitten unter uns um. Er ist ein Mythos geworden…“ (11f.)
Damit hat Goldammer selbst erkannt, dass das Kleist-Bild der Moderne, jener Mythos, primär ausschlaggebend für die Werke der Autoren der 70er Jahre sein wird. Goldammer fordert in seinem Vorwort einen völligen Neuanfang der Bewertung Kleists, und vor allem eine längst überfällige Fokussierung auf das Werk, womit er auch die Beiträge seiner Zeitgenossen kritisiert. Es zeigt auch, dass, wie auch bei Hans Mayers Bestrebungen, die Literaturwissenschaft in der DDR in 20 Jahren Debatte die kritische Aneignung sehr ernst genommen hat. So kann
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Goldammer, für die 70er Jahre in Ost wie West bemerkenswerterweise feststellen: Hat man erst einmal die durch das gängige Klischee verfestigte Zwangsvorstellung überwunden, nach der Kleist sein – mehr oder minder als pathologisch vorgestelltes – Gefühlsleben in den Hauptfiguren seiner Dramen und Erzählungen widerspiegelt, dann wird man gewahr, wie, zum Exempel, in der vielgeschmähten „Penthesilea“ ein Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft mit exorbitanter Härte und Konsequenz ausgetragen wird. (22)
Es bleibt zu fragen, wie es bei solcher Aufgeklärtheit dazu kommen konnte, dass Günter Kunert überhaupt auf die Idee kam, seine vielfach umgesetzten Vorwürfe gegen Goldammer zu erheben, wenn sich aus diesem Text zumindest keinerlei Ursachen herleiten lassen – es sei denn man nimmt an, dass dieses Vorwort bereits als revidierte Reaktion auf den Eklat mit Kunert geschrieben worden ist. Honnef hob hervor, dass diese Ausgabe ein Zeuge „von dem größeren Spielraum, den die DDR-Literatur in der Mitte der siebziger Jahre, in der Periode zwischen dem VIII. Parteitag und der Ausbürgerung Wolf Biermanns, zur Verfügung hatte. Es ist schwer vorzustellen, dass einige dieser Arbeiten außerhalb 19 dieser ‚liberalen‘ Periode der DDR-Kulturpolitik hätten erscheinen können.“ Das ist einerseits sicher richtig, aber für Goldammers Ausführung ist auch festzuhalten, dass sie eine logische Weiterentwicklung von 20 Jahren literaturwissenschaftlicher Erbe-Auseinandersetzung darstellt. Die 16 DDR-Beiträge des Bandes nun unterscheiden sich sehr stark in Form und auch in Qualität, wobei letzteres in der Tat, wie Honnef vermutet, mit der Tatsache begründet werden kann, dass „wohl viele dieser Texte ihr Zustandekommen der Aufforderung Goldammers zur Mitarbeit [verdanken], und es darf bezweifelt werden, dass es in allen Fällen wirklich eine tiefe Beziehung der Autoren zu Kleist gibt.“20 Eine Gemeinsamkeit kann man allerdings feststellen: Sie beschäftigen sich fast alle mit dem empirischen Autor Kleist und kaum mit seinem Werk. Verschiedene Interpreten21 haben darauf hingewiesen, dass Goldammer in seinem Vorwort sich auch von diesen Beiträgen kritisch distanziert. Das kann so
19 Honnef, Kleist in der DDR (1988), S. 115. 20 Ebd., S. 114. 21 Z.B. Honnef, Kleist in der DDR (1988), S. 108, Lewis, Günter Kunert und das andere Wissen um Kleist (2012), S. 309.
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aus dem Text allerdings nicht herausgelesen werden, zumal er auch konkret dazu aufgerufen hatte, wie in seinem Schreiben an Klaus Schlesinger ersichtlich wird, wo er freistellt, ob man „Gedanken über die Gesamtpersönlichkeit, über eine bestimmte Situation aus dem Leben des Dichters oder über ein einzelnes Werk“ schreiben möchte. „Je persönlicher der Beitrag gehalten ist, umso besser.“22 Nach solch einem Aufruf kann Goldammer wohl kaum kritisieren, dass er persönliche Beiträge erhält, zumal dies ja auch das Konzept seines Bandes darstellt. Dass jene Autoren sich mehr an der Person Kleists abarbeiten, hat vorrangig mit zwei wesentlichen Tendenzen zu tun, die man auch grob als Einteilung der Beiträge in zwei Gruppen nutzen kann. Die eine Tendenz ist eine Unzufriedenheit mit der Neukategorisierung Kleists als Klassiker als primär kulturpolitische Instrumentalisierung, die im Rahmen der Feierlichkeiten 1977 befürchtet wurde. Deswegen versuchen die Beiträge, eine subjektive Korrektur des Erbes vorzunehmen und damit gleichzeitig aufzuzeigen, welche Art von Rehabilitierung des Autors nötig ist, im Gegensatz zum wiederum oberflächlichen Klassikerstatus. Die andere Tendenz nimmt den Umgang mit Kleist als exemplarisches Beispiel für eine Kritik an festgefahrenen, teils über den Literaturbetrieb hinausgehenden Strukturen in der DDR. Um dies genauer verdeutlichen zu können, soll eine Auswahl der Texte für beide Tendenzen betrachtet werden. Inge von Wangenheims in den Vorbemerkungen bereits erwähnter Beitrag Stigma der Unsterblichkeit kritisiert den ideologischen Erbe-Ansatz der 50er Jahre. Sie referiert zunächst ihre autobiographischen Begegnungen mit Kleist, geht dann auf „Mehrings Irrtum“ ein und beleidigt dessen „Kleist-Legende“ als den „Wurmfortsatz der Lessing-Legende“ (344). Auch geht sie auf die Expressionismus-Debatte in der Moskauer Exilszeitschrift Das Wort ein, in der sich Lukács und ihr Mann, der Schauspieler und Regisseur Gustav von Wangenheim, „nicht nur über den Expressionismus, sondern auch über Kleist und gerade seinen ‚Homburg‘ [stritten]. Der Künstler verteidigt Werk und Autor, der Gelehrte spielt Pabst, und so ist die Sache im Grunde bis heute nicht aufgeräumt, nur beiseitegelegt.“ (345) In beiden Argumenten spiegelt sich die persönliche Ebene, die Wangenheim als Kleist-Begeisterte hier zum Spott am zentralen Architekten des Kanons anregt. Doch sie setzt im zweiten Teil ihres Beitrags dann noch einmal an, um zu argumentieren, weswegen Kleist auch im sozialistischen Sinne eine zentrale Funktion im Kanon zugemessen werden sollte:
22 Zitiert nach Kostka, Klaus Schlesinger 1960 bis 1980 (2015), S. 433.
128 Wahrlich: niemand sonst als Kleist hat sich so ausdrücklich, so engagiert und tief betroffen mit der Funktion des Staates, mit der Staatsräson, mit dem Recht auf Recht, mit dem Bruch des Rechts, mit den gesellschaftlichen Ursachen dieses Bruchs, überhaupt mit der Grundbeziehung Staat-Bürger – Bürger-Staat beschäftigt, und vielleicht konnte das in dieser bis zum Exzess beschworenen Zuspitzung wirklich nur ein Preuße, der unter Preußen gelitten hat wie keiner vor und nach und neben ihm. (346)
Sie schließt mit der These: „Es gibt überall auf der Welt noch viel Preußen, Freunde, glaubt mir das!“ und leitet daraus die ebenfalls in den Vorbemerkungen erwähnte Forderung Rudolf Herrnstadts erneut ab: „Die 2. Parteikonferenz der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands im Juli 1952 beschloss nicht nur, den Sozialismus aufzubauen. Sie beschloss auch, in Berlin ein Kleist-Denkmal aufzustellen. Ich war dabei und habe mit abgestimmt. Wir sollten den Beschluss einlösen.“ (347) Wangenheim argumentiert also schlussendlich, dass das progressive Erbe in den Anfängen von ideologischen „Gelehrten“ zu einseitig konzipiert und umgesetzt wurde, obwohl der Denkmalsbeschluss ja ein breiteres Spektrum bezeugt, und dass auch dialektische Autoren, die die negativen Seiten der menschlichen Existenz ausloten, zum literarischen Grundbestand der sozialistischen Gesellschaft gehören – egal, in welcher Kategorie: „Es ist mir auch völlig gleichgültig, ob Kleist ein Klassiker oder ein Romantiker oder beides war.“ (347). Rolf Schneider beschreibt in Fünf Anmerkungen zu Heinrich von Kleist einen Pilgerausflug der Gruppe 47 zum Kleistgrab während der Tagung 1965, weil es „wenige Orte auf der Welt [gibt], die eine ähnliche oder ähnlich düstere Magie ausüben auf unsereinen.“ (365) Dies setzt er in Verbindung mit der schwierigen Wirkungsgeschichte von Autoren, deren Werk durch persönliche Krisen und einen frühen Tod etwas Fragmentarisches besitzt und deren Einordnung dementsprechend unsteter verläuft, wie sich auch bei deren (Nicht-) Einordnung in den DDR-Kanon zeigte: Heinrich von Kleist gehörte zu jenen drei Schriftstellern unserer Literaturgeschichte, deren Einfluss auf die schreibende Nachwelt immer größer wurde, von einem Jahrzehnt aufs folgende, von einem Halbjahrhundert auf das nächste. Die beiden anderen Namen lauten Hölderlin und Büchner. Keiner dieser drei ist in einem strengen Sinne das, was man einen Klassiker nennen will. (365)
Weiterhin nennt er Kleists Werke als Vorbilder für andere große Literatur, die prägnanterweise ebenfalls von Lukács aus dem Erbe ausgeschlossen waren: So
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sei Kafkas Proceß „nichts als eine verschlüsselte Adaption von Kleists ‚Michael Kohlhaas‘“ (366) und Penthesilea „wiegt soviel wie der ganze deutsche Expressionismus, denn es enthält ihn bereits zur Gänze.“ (367) Zudem sei Homburg der „wunderbarste […] und zugleich ungeheuerlichste […] aller Texte unserer Theaterliteratur“ (366). In beiden Fällen ist es bezeichnend, dass Kleist, neben Büchner, Hölderlin und den Dichtern der Moderne eine so starke Identifikationsfigur ist, und diese Texte beide so formuliert worden sind, als würde es den Kanon und den sozialistischen Realismus überhaupt nicht geben. Schneider zeigt, was Schreibende zu jener Zeit wirklich interessierte und zum Schreiben brachte, ohne dass diese Texte politisch überformt werden mussten. Weitere Beiträge nutzen ihre Versuche einer Rehabilitierung Kleists zudem zu einer Kritik am zeitgenössischen Umgang mit dem Dichter, aber auch mit Literatur allgemein. Martin Stade berichtet in seinem Beitrag Sonderbare Wirkungen einer Kleist’schen Anekdote von drei autobiographischen Lesarten von Kleists Anekdote aus dem letzten preußischen Kriege, die nicht nur verschiedene Lebensphasen, sondern auch politische Systeme widerspiegeln: Mit zwölf Jahren, 1943, liest er die Anekdote zum ersten Mal und war begeistert vom Mut und der Abenteuerlichkeit der Preußen, mit politischem Effekt: „wie wurde da meine Hoffnung und wie wurde da mein Glaube an den ‚Endsieg‘ gestärkt!“ (369) Mit 30 las er sie wieder und sie wurde ihm als literarisches Kunstwerk bewusst, mit künstlerisch-produktivem Effekt: „Mir wurde bewusst, dass ich zweieinhalb Seiten las, in denen alles enthalten war, was ein Schreibender beachten muss, zumal, wenn er sich mit kurzer Prosa herumschlug. Und so hatte die Kleist’sche Anekdote wesentlichen Anteil an meinen ersten Kurzgeschichten.“ (372) Mit 40 las er die Anekdote erneut mit politisch-historischem Hintergrundwissen und hält den Text nun politisch für problematisch, da sie eine „Durchhalteanekdote“ (373) für einen kriegerischen Kontext sei, was ihm den Text nun verübelt habe. Er schließt mit der Feststellung: „Es hat den Anschein, dass Literatur unmittelbare politische Bezüge nicht immer gut verträgt.“ (373) Stades Text zeigt hier mehreres: Einerseits entlarvt er die Macht eines zeitgeschichtlichen Kontextes für die Rezeptionshaltung eines Lesers, andererseits sagt er aber auch, dass Politik und politische Korrektheit generell keine adäquaten Mittel zur Literaturrezeption und -analyse sind, ja die Texte sogar zerstören. Kleist wird aber auch als Meister seines Faches gezeigt, der auch in Stades Fall einen jungen Autor gebildet hat. Für den Kontext der 70er Jahre zeigt dieser Beitrag, dass das generelle an solche Texte angelegte Literaturverständnis problematisch ist und im schlimmsten Falle zum politischen Missbrauch führen kann.
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Schlussendlich geht Günther Rücker mit seinen Drei Fragen und anderthalb Vorschläge, Heinrich von Kleist und den Lehrplan betreffend auf die ästhetische Erziehung in der Schule ein. Er wirft der Gegenwartssprache vor, zu einer reinen Bürokratensprache verkommen zu sein und macht dafür die Schulen verantwortlich und deren Bemühungen, einen Gedanken in eigener Sprache und eine Rede in eigenem Rhythmus vorzutragen, mit Misstrauen oder stummer Zurückhaltung [zu] betrachten in der Furcht, dass solcherart leicht ein lästerlicher Versuch durchschlüpfen könnte, Vorgeprägtes, in Formeln Geronnenes, also leicht Nachprüfbares, mit heimlichen Zusatz oder versteckter Minderung zu versehen. (397f.)
Die Angst vor kritisch, und damit aus Obrigkeitssicht automatisch staatskritisch denkenden Bürgern habe zu einer Verrohung der Sprache geführt, die auch langfristig zur Verrohung des Menschen führen werde, was nicht im Interesse des sozialistischen Staates sein könne, der sich ja exakt das Gegenteil vorgenommen habe. Rücker argumentiert, dass für eine sozialistische Jugend kritisches Denken essentiell sei und deswegen „sollten wir, der sinnlichen Kraft der Sprache vertrauend, den heranwachsenden, bewusst lernenden jungen Menschen ungewöhnliche sprachliche Erlebnisse.“ (399) bereiten. Und das ist für ihn vor allem Kleist, und Schüler sollten ihn mehr lesen, da es nicht nur den kritischen Verstand schule, sondern auch zeige, wie knapp und kunstvoll man seinen Inhalt mit wenigen Wörtern ausdrücken kann, da „es heutzutage ganz besonders schwer zu sein scheint, einen Vorgang ohne Abschweifung und Kommentar zu beschreiben.“ (400) Für Rückers Beitrag ist weniger herauszustellen, dass er Kleist zum Herausbilden einer kritischen Kulturaneignung empfiehlt, sondern vielmehr, dass er offen die Paranoia der DDR-Bildungspolitik anspricht, die aus Angst, durch kritisches Denken sich selbst zu dekonstruieren, die nachwachsenden Generationen zu willenlosen Robotern erziehen will. Wenn man diese Auswahl der Texte betrachtet, so lassen sich zusammenfassend folgende Punkte herausstellen: Bei allen Beiträgen zeigt sich, dass das Bedürfnis und die Forderung nach einer kritischen Würdigung Kleists besteht, die generell und offenbar auch durch das Kleist-Jubiläum noch nicht gegeben ist, und man ihn weder als Ausgeschlossenen noch als Klassiker haben will. Gleichzeitig ist Kleist ein Autor, der kritisches Denken schult und festgefahrene Strukturen entlarvt, und dessen Behandlung von offizieller Seite her Problembereiche der DDR-Kulturpolitik offenlegt, die man darüber kritisieren kann. Vor diesem Hintergrund ist es interessant, dass zwei Autoren nicht aufgenommen wurden, nämlich Günter Kunerts Pamphlet für K., das im nächsten Ka-
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pitel gesondert behandelt wird, und Rainer Kirschs Implikationen aus ‚Prinz von Homburg‘ und Kleists Selbstmord.23 Während Kirsch in letzterem eine bessere Aneignung der Werke der „extremen, widersprüchlichen und bestürzenden Dichter“ für eine ästhetische Erziehung fordert, die die im Aufbau befindliche Gesellschaft sonst nicht lernen könne, thematisiert er in ersterem anhand des Homburg den größten Nachteil der Staaten von der Art Preußens oder Spartas, nämlich, dass nach dem Tode des strategisch-taktischen Genies an der Spitze der Staatsapparat sich verselbstständige und das Land mit Terror regiert werde. Dies sei im Homburg deutlich zu erkennen und, als Seitenhieb gegen Honecker, als eine Warnung auch für die heutige Zeit zu verstehen, da das Problem dieser Staaten meist in der Uneinsichtigkeit der Herrschenden zu finden sei: „Denn Herrschende in sich perfekt gebenden Staaten reagieren nicht nur höchst empfindlich auf unerbetene Vorschläge zur Lösung ihrer Probleme, sondern schon auf deren bloße auf Öffentlichkeit zielende Formulierung.“24 Auch wenn sich Kleists Selbstmord generell unauffällig in die Gruppe der anderen Beiträge eingereiht hätte, so war dieser Text offenbar zu direkt, und in Goldammers Meinung war Kirschs einzige Intention dabei, „auf den sozialistischen Staat zu zielen.“25 Wie sich zeigen würde, ist dieser Ausschluss dennoch literaturgeschichtlich ein endgültiges Vorzeichen für den politisch erzwungenen Bruch jener Autorengeneration mit der Realität der DDR.
23 Kirsch, Kunst und Verantwortung (1979). 24 Zitiert nach Honnef, Kleist in der DDR (1988), S. 183f. 25 Kostka, Klaus Schlesinger 1960 bis 1980 (2015), S. 436.
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Einer von diesen Autoren ist der 1929 geborene Berliner Günter Kunert, der zu den umtriebigsten Dichtern der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehört.26 In den 50er Jahren als junger Lyriker von Brecht und Becher gefördert und von Letzterem später sogar als „der neue Goethe“ gefeiert,27 gehörte er bis zu seiner Ausreise aus der DDR 1979 zu den lauten, kritischen Stimmen und hatte durch seinen zunehmenden Pessimismus die Staatssicherheitsüberwachung unter dem OV-Decknamen „Zyniker“ erhalten.28 Kunerts Werk ist durchgängig von einem literarischen Selbstverständnis geprägt, mit seinen Texten, unabhängig von den politisch-historischen Zeitumständen, für sich selbst und seine Leser „Freiräume der Information, des Denkens, des Zu-sich-selbst-Findens“29 anzubieten. Damit ist Kunert ein Vertreter der dialektischen Ästhetik: bereits in den 50er Jahren hielt er fest, dass für seine Generation das Gemeinsame eher in einem Negativen bestünde: „Die Tragik der jungen Schriftsteller oder Dichter ist es, dass sie zuviel geglaubt und zuwenig gewusst, zuviel gefühlt und zuwenig gedacht haben“.30 Jene Ernüchterung trug dazu bei, dass Kunert, wie viele seiner Kollegen, vom Ideal der an positiven Beispielen ausgerichteten sozialistischen Literatur mehr und mehr abwich und seine eigene engagierte Schreibweise entwickelte, um authentisch zu bleiben. Emmerich zitiert hierzu einen Brief Kunerts aus dem Jahre 1965: Lehrgedichte heute müssten schwarze Lehrgedichte sein, die mit schlechtem Beispiel vorangehen, das Negative als Ziel zeigen – auf eine Art aber, die aus dieser ‚Lehre‘ eine Gegenlehre ziehen lässt. Kurzer Sinn dieser Umständlichkeit: Alles direkte Vermitteln ist unmöglich geworden. Das klassische Lehrgedicht, wie es noch Brecht gemacht hat, immerhin schon mit einem Augenzwinkern, ist heute unmöglich.31
26 Sein bisher weit über 100 Veröffentlichungen umfassendes Werk enthält vor allem Lyrikbände, aber auch unzählige Romane, Erzählungen, Hörspiele, Essays und Filmdrehbücher. 27 Fritz J. Raddatz, „Von Becher zu Benn“, in: DIE ZEIT 10, 4. März 1999. 28 Emmerich, Kleine Literaturgeschichte (2009), S. 67. 29 Ebd., S. 16. 30 Ebd., S. 162. 31 Ebd., S. 173.
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Jener dialektische Schreibstil ex negativo, der durch die Fokussierung auf Missstände ein positives Leitbild erzeugen soll, findet sich in den 60er Jahren in ähnlicher Art auch bei seinen Zeitgenossen Heiner Müller (vor allem ab Die Umsiedlerin 1961) oder Christa Wolf (Nachdenken über Christa T. 1967). In seinem 1973 erschienenen Erzählungsband Die geheime Bibliothek versucht sich Kunert sogar an seiner eigenen Poetologie eines Realismus, in einer Weise, die an vielen Stellen an Christa Wolfs programmatischen Aufsatz Lesen und Schreiben (1968) erinnert und deren Titel bereits selbst Programm ist: Paradoxie als Prinzip. Anhand einer Analyse zweier seiner eigenen Gedichte macht Kunert dort deutlich, dass vor allem Gedichte nach einem widersprüchlichen, paradoxen Prinzip funktionieren, was in keinem Widerspruch zu einer realistischen Schreibweise stünde, womit er direkt Bezug auf die Realismus-Doktrin der DDR nimmt: Realismus in der Gegenwart, der erstrebenswert ist, mir zumindest, erscheint als Haltung, die die großen politischen ökonomischen gesellschaftlichen Zusammenhänge nicht als unwürdige unreine unpoetische Plattheiten ansieht, sondern begriffen hat, wie sehr das Individuum an ihnen teilnimmt: mehr: dass eigentlich sie, die Umstände, im wahrhaftigsten Sinn des Wortes den Menschen ausmachen. Diesem Realismus nützlich ist solche Paradoxie, die dialektische Momente sichtbar werden lässt. Paradoxie erzeugt nicht von selber Realismus: die Extreme, die sich da berühren, unvereinbare Pole, die nebeneinanderrücken, müssen schon in der wirklichen Wirklichkeit aufeinander bezogen sein. […] Denn kein literarisches Produkt kann eigentlich realistisch genannt werden, wenn es sich nicht von der Realität emanzipiert, von der es lebt, um gültig für andere Realitäten zu werden.32
Kunert ist nicht der einzige, der feststellen muss, dass der politisch verordnete Realismus ästhetisch und auch pragmatisch nicht erfolgreich umzusetzen ist. So macht er sich daran, innerhalb des vorgegebenen Rahmens den Begriff in seinem Sinne weiterzuentwickeln. Die angesprochenen sich berührenden Extreme und unvereinbaren Pole lassen bereits seine Beschäftigung mit Kleists Marionettentheater stark durchblicken, und erklären auch, warum Kleists Texte ihn ansprechen, sind sie doch meist genau von jener Bipolarität geprägt. Doch vor allem sind für Kunert Paradoxien generell von Bedeutung, und auch damit ist er nicht allein in der DDR. Sie sind Ausdruck eines „Gefühl[s], in einem endlosen unaufhörlichen Übergang zu leben“, mit den bereits erlebten Katastrophen des 20. Jahrhunderts im Hinterkopf, welches „die Ansicht bestärkt, wie improvisiert und provisorisch unser Dasein ist.“ (BIB 271)
32 Kunert, Die geheime Bibliothek (1977), S. 270f., fortlaufend BIB.
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Zu diesem skeptischen Gesellschaftsblick passt es dann auch, dass Kunert 1968 als erster Autor den Tabubruch begeht, einen Selbstmord darzustellen, in seiner Erzählung Die Bremse muss nachgestellt werden. Das immer häufiger auftretende Selbstmordmotiv33 zeigt laut Emmerich an, wie stark die Skepsis geworden ist, dass die realsozialistische Gesellschaft dem Individuum zu seinem Glück verhelfen könne.34 Letztendlich ist der Selbstmord Kleists auch ein solches Skandalon, das dessen Rezeptionsgeschichte – nicht nur in der DDR – stets negativ beeinflusste. Exakt gegen jedwede vereinfachende oder manipulative Darstellung von Kleists Werk und vor allem Leben wird sich Kunert immer wieder öffentlich aussprechen, und damit sowohl verhärtete Strukturen und Politika der DDRKulturpolitik an den Pranger stellen, als auch gleichzeitig immer wieder unverhohlen demonstrieren, wie sehr es ihm in der Personalie Kleist zumeist eigentlich um sich selbst geht. Die teils völlige Selbstidentifizierung Kunerts mit Kleist schlug mehrfach öffentlich emotionale Wellen und ging weit über das von ihm behauptete kritische Maß hinaus, vor allem im Streit um Peter Goldammers Jubiläumsanthologie Schriftsteller über Kleist. Die Ausreise aus der DDR 1979 stellte für Kunert keinen Bruch mit Kleist dar. Die gescheiterten, an der Welt leidenden Autoren, die Selbstmörder hatten es Kunert offenbar angetan und Kleist reiht sich in diese Gesellschaft der Vorbilder Kunerts ein. Irene Heidelberger-Leonard hat in ihrer Analyse von Kunerts 1983 erschienenem Mein Lesebuch, in welchem er seine Lieblingsautoren in kurzen Essays analysiert, herausgearbeitet, wie sehr die Rezeption eines Autors für Kunert im Vordergrund steht, sogar, dass „[e]mpathisches Lesen […] das Höchstmaß an produktivem Umgang mit Literatur“35 sei. Allerdings geht es ihm dabei nicht um die Vermittlung einer allgemeinen Leseerfahrung, sondern unverhohlen um die Stimmen, „die derart identisch mit meiner klingen, dass ich nicht weiß, ob sie sich meiner Stimme bedienen, um für mich vernehmbar und nahe zu sein, oder ob ich tatsächlich aus dem Duktus der zum Druckbild abstrahierten Sprache den fremden Klang mir aneigne.“36 In jenem imitatio et identifi-
33 Z.B. bei Thomas Brasch, Klaus Schlesinger, Einar Schleef und Jurek Becker, alle in den späten 70er Jahren. 34 Emmerich, Kleine Literaturgeschichte (2009), S. 294. 35 Heidelberger, Der Leser Günter Kunert zwischen Montaigne und Kleist (1991), S. 70. 36 Ebd., S. 70.
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catio kommen also jene Autoren vor, die ihm quasi die eigene Biographie „ersetzen“ beziehungsweise seine biographische Situation besser verstehen als er selbst. Kunert erklärt somit die Aneignung anderer Autoren wie Kleist zu einer der Hauptaufgaben eines Autors, um die eigene Autorschaft in eine gewisse Tradition zu stellen und diese dann zu nutzen, um die Gegenwart bewältigen zu können. Jene Nachdenklichkeiten über die Bedingtheit der menschlichen Existenz thematisieren Zweifel und Kritik an der Zivilisation, ohne Lösungen zu finden, und ähnlich Christa Wolfs subjektiver Authentizität forscht Kunert am eigenen Ich nach, stellvertretend für die ganze Spezies.37 Kleist ist in diesem Zusammenhang Vorbild für verschiedene Aspekte von Kunerts Selbstpreisgabe. In seinem 1987 veröffentlichten Gedicht Kleist zufolge neidet er Kleist, dass er früh genug gestorben ist, um die Ernüchterung seiner Utopien nicht mehr erleben zu müssen, „[w]eil Weiterleben solchen Traum verdirbt“.38 Doch Kunert räumt ein, dass dies in der Gegenwart nicht mehr möglich ist, und so bleibt ihm nur das Festhalten am Vorbild, das zu solchen Träumen noch fähig war und durch seine Rezeption weiterlebt, und wünscht sich pessimistisch in seine Nachfolge: „doch / wer kann sich heute schon an Träume halten? / Fazit: Wir leben beide weiter. Noch.“ (SO 103) Im 2012 erstmals erschienen Wiederum Kleist, das sich wie ein Altersgedicht darstellt, nimmt er wieder Bezug auf Kleists Marionettentheater-Aufsatz: So sei sein Leben ein Marionettentheater gewesen, seine eigene künstlerische Leistung ein meist unbewusster Vorgang, und sollte er je eine gewisse Grazie erreicht haben, dann durch einen fremden Puppenspieler. Sein Text sei demnach, wenn dann, klüger als er. Für die Zukunft schimmert sogar ein wenig Hoffnung durch: So also bewegte ich mich zeitlebens vor einem gnädigen Publikum, das alsbald die Vorstellung verließ, während ich hier und da bleiben musste. In bänglicher Erwartung des Vorhangs.“39
37 Ebd., S. 73. 38 Kunert, So und nicht anders (2002), S. 103, fortlaufend SO. 39 Kunert, Wiederum Kleist (2012), S. 9.
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Kunert schließt also letztendlich doch nicht mehr aus, dass die aus dem Paradies vertriebenen Menschen am Ende noch ihren Urzustand wieder erreichen, wenn die Enden der Welt sich wieder treffen, wie Kleist sich seinen ästhetischen Idealzustand ausmalt. In seinem 1983 veröffentlichtem Gedicht Bruder Kleist zeigt nicht nur der Titel schon, dass die Identifikation noch deutlich stärker ist als bei den späteren Gedichten, auch die Streitigkeiten seiner letzten Jahre in der DDR sind noch deutlich herauszulesen: Legendenlast: du trägst sie schwer. Du ahnst zuviel. Und wagst nichts mehr. Die Welt verläuft. Du bist allein. Und bist zugleich der Widerschein von einem längst verwehten Geist von dem du nur den Namen weißt. Ein deutsches Schicksal: Was da tönt ist stets ein Schuss. Bleib unversöhnt. (SO 85)
Das ambivalente „Du“ des kurzen Gedichts, welches sowohl Kleist und die Rezipienten anspricht als auch das lyrische Ich miteinschließt, welches sich in geschwisterlicher Nähe zu ihm sieht, versucht sich deutlich in Kleist einzufühlen. Gleichzeitig kommentiert es aus der eigenen Zeit heraus die Unverhältnismäßigkeit des Umgangs mit Kleist, jene „Legendenlast“, die ihm nicht angemessen zu sein scheint. Zudem wird auch die Unmöglichkeit einer adäquaten Erfassung eines solchen Klassikers thematisiert („Widerschein“ und „verwehten Geist“, „nur den Namen“), der mehr Ausdruck der Gegenwart als eine historische Betrachtung ist. Und so ist auch die Projektion des lyrischen Ichs auf den Bruder Kleist eine Selbstverortung: die letzten beiden Zeilen sprechen sowohl von der resignierten Einsicht des deutschen Künstlers, dass man eigentlich nur scheitern kann, spätestens an der eigenen politischen Instrumentalisierung, und dass der eigene Einfluss äußerst gering ist. Der letzte Satz mit seinem Imperativ wiederum kann als Aufruf verstanden werden, sich niemals von geglätteten, vereinfachten Wahrheiten verleiten zu lassen. Das „deutsche“ Schicksal Kleists zeige, wie ambivalent und unversöhnlich die Welt sei. Alle drei Gedichte zeigen recht deutlich, wie umfassend Kunert seine eigene Situation durch verschiedene andere Dichterschicksale, und durch Kleist ganz besonders, reflektiert, externalisiert und letztendlich auch instrumentalisiert. Lothar Jordan fasst in der Einleitung zu seinem vom Kleist-Museum herausgegeben Kunert-Porträt zusammen, dass Kleist für Kunert einen Künstlertypen
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darstellte, der in Spannung mit der gesellschaftlichen Ordnung und ihren Kontrollsystemen stand und kompromisslos sich nur seinem Werk verpflichtete.40 Eine Beschreibung, die Kunert auch für sich selbst wählen würde. Besonders intensiv jedoch war die Identifizierung mit Kleist in den 70er Jahren. Wie Marieluise de Waijer-Wilke herausgearbeitet hat, kommt Kleist auch in Kunerts Werk zuerst im Kontext seiner Beschäftigung mit der preußischen Vergangenheit vor, da für ihn seit Friedrich II. „die Weichen für die weiteren Entwicklungen in Deutschland gestellt“41 seien und man am Beispiel Preußens auch die Fehlentwicklungen der DDR analysieren könne – ein Gedanke, den man auch bei Müller, Dresen oder Inge von Wangenheim findet.42 Zum Politikum wird diese Haltung für Kunert aber erst im Rahmen der bereits genannten Anthologie Schriftsteller über Kleist. Nun hat es sicherlich verschiedenste Gründe, warum Kunerts Pamphlet für K. von Goldammer abgelehnt wurde. Bei genauer Beschäftigung mit dem Pamphlet lassen sich vor allem formale Gründe finden, die die Ablehnung nachvollziehbar machen. Kunert versucht in seinem polemischen Text, wie andere Beiträge auch, auf zweifache Weise Kleist zu rehabilitieren: Einerseits sieht er den Krankheits-Vorwurf für immer noch gegeben und für die DDR symptomatisch. Andererseits will er Kleist aber auch von ebenjenem Klassiker-Denken emanzipieren, das er bei Goldammer konkret identifiziert und das er für pauschal und verfälschend hält, exemplifiziert an der an Goethes Epilog zu Schillers Glocke entlehnten Phrase: „Er ist, selbstverständlich wie immer: unser“.43 Beides ist als Kritik des ideologischen Erbe-Ansatzes zu werten, denn nur die Proklamation eines gesunden, klassischen Erbes vollzieht erst die Idee, dass solche vermeintlich kranken Dichter wie Kleist auszumerzen seien, und Kunert hält nicht damit zurück, Goethes Kleisturteil und alle folgenden als protofaschis-
40 Jordan, Kunert und Kleist (2004), S. 7. 41 Waijer-Wilke, Günter Kunerts Roman Im Namen der Hüte (1981), S. 397. 42 In seinem ersten Roman Im Namen der Hüte (1967) findet sich eine kurze Anspielung an Kleists Homburg, die den zentralen Berliner Park nach den Kriegsrodungen veranschaulicht: „[…] auf den schwarzen im einstmals grünen Tiergarten, in Zentrum brandenburgischen Staubes, in welchen nicht zu sinken die Feinde die Stirn hatten.“42 Das Zitat verdeutlicht weniger eine Qualität des Kleist‘schen Texts als dass es die Gegenwart der Vergangenheit betont, die man so leicht nicht ausblenden kann. Zitiert nach: Ebd. 43 Kunert, Pamphlet für K.(1975), S. 1093, fortlaufend PAM.
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tisch zu bezeichnen, „denn an seinem Fall exemplifiziert sich ein scheinwissenschaftliches Vorurteil, welches, um es verkürzt zu sagen, zur Vernichtung von Intellektuellen, von Künstlern führte und dessen Fortwirken bis heute nicht aufgehört hat und das weiterhin die gleichen Argumente für seine ‚Endlösungen‘ benutzt wie die gegen K. angeführten.“ (PAM 1092) Das Kürzel K. hebt die causa Kleist auf eine weitere Ebene, denn Kunert folgt nicht nur Kafkas Beispiel und inkludiert jenen, der ein ähnliches Schicksal wie Kleist in der DDR hatte, sondern er meint natürlich auch sich selbst und damit einen exemplarischen Autor in der DDR. Dabei wendet er das Urteil gegen die Richter, und behauptet, nicht die Schriftsteller seien krank, sondern die Gesellschaft, die jene dazu erkläre, also die DDR selbst. Man könnte debattieren, ob ein solcher Text heute ohne Weiteres in eine Klassikerausgabe aufgenommen würde. Im Kontext der DDR allerdings hätte die Veröffentlichung einer derartigen Kritik aber auch für Goldammer politische Konsequenzen haben können, was in der Tat und wenig überraschend zu seinem Urteil beigetrug, worauf Corinna Kaiser hingewiesen hat.44 Das Pamphlet wurde schließlich 1975 in der Akademiezeitschrift Sinn und Form veröffentlicht und Kunert ließ es sich nicht nehmen, ein Notwendiges Nachwort anzuhängen, das dem eigentlichen Text in nichts nachsteht: Er greift nun Goldammer direkt als Vertreter jener normativen Erbe-Vertreter an: „Herrn Goldammers Klassiker‚Rezeption‘ (und er ist einer der Präzeptoren dieser ‚Rezeptionsweise‘) sei absolut bürgerlich, nämlich affirmativ“. Jene sei in der DDR konkret dadurch gekennzeichnet, dass „[a]lles, was das eigene nationale oder soziale Selbstverständnis bedroht hätte, […] übersehen oder weginterpretiert [wurde]“ und „der Klassiker […] als eine Ersatz-Gottheit [fungiert], deren Name nicht ‚gelästert‘ werden darf“. Die drastische Kritik kulminiert in jenem Paragraphen: Das ist der bekannte bürgerliche Geniekult, welcher, abgestritten und zugleich „sozialistisch“ modifiziert, nicht enden will und immer zum Personenkult tendiert, der sich in unseren Tagen nicht immer auf tote „Größen aus Kultur, Wissenschaft und Politik“ beschränkt. Das Indiz der Irrationalität: die Darstellung unterdrücke gefälligst jene Widersprüche im Dargestellten, welche aktuelle Widersprüche der Gesellschaft und der Epoche sein könnten, oder zeige doch nur solche Widersprüche, deren Überlebtheit anerkannt ist und die dem Kult selber dienlich erscheinen. (PAM 1095)
Kunerts Vorwurf, er wäre Opfer der Zensur geworden, mag teilweise zutreffen, doch seine inhaltlich teilweise völlig unsachliche Argumentation entlarvt, dass er
44 Kaiser, Der eine und ein anderer K. (1997), S. 158f.
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vor allem beleidigt ist, und natürlich bedeutet eine Ablehnung seines Textes nicht automatisch eine Bestätigung seiner Thesen – zumal man in dem Band selbst überhaupt keinen Anlass für diese Kritik finden kann. Friedrich Dieckmann nannte Kunerts Beitrag damals eine „begrüßenswerte Attacke, wenn auch völlig überzogen.“45 Die Rückführung faschistischer Tendenzen der Gegenwart bis auf Goethe ist ein Gedanke, den man – deutlich differenzierter – auch bei den zeitgenössischen Projekten von Wolf und Müller findet, doch Honnef betont treffend an dieser Stelle, dass Goethe als Faschist natürlich völlig unhaltbar sei und gleichsam denunziatorisch wie das angeprangerte Urteil über Kleist.46 Dennoch trifft seine Erbe-Kritik den sprichwörtlichen Nagel auf den Kopf. Denn jene Klassiker-Rezeption verhinderte in Kunerts Sicht auch, dass sein Beitrag dort aufgenommen werden konnte, und er trieb seinen Fall überspitzt zum Äußersten. Jener Geniekult entlarvte auch eine DDR, die sich kritikresistent auf das Erbe und ihre Gründungsmythen stützt. Die Kritik Kunerts trifft hier zwar in das Herz der DDR-Kulturpolitik, aber an Goldammer vorbei, und fordert eigentlich nur dazu auf, in marxistischer Tradition historisch-kritisch zu sein und einen Autor wie Kleist differenziert zu betrachten, auch wenn das in Kunerts Fall freilich heißt, ihn wie Kunert zu betrachten. Kunert geht es eigentlich nur darum, dass seine Sichtweise anerkannt wird und um eine generelle Verteidigung von kritisch denkenden Künstlern in der DDR. Allerdings sind die Literaturwissenschaftler inklusive Goldammer eigentlich die Vorreiter der Aufklärung. Kunerts Kritik zielte somit in die völlig falsche Richtung. Dass dies zu einem Politikum werden konnte, entblößt allerdings den zunehmenden kulturellen Normativismus der DDR, die Angst hat, durch Differenzierung zerstört zu werden, anstatt bereichert, und somit keine demokratische Debatte zulässt. Emmerich betont, dass Kunert zu diesem Zeitpunkt jedwede Utopien und Hoffnungen auf einen demokratischen Sozialismus in Form der DDR bereits begraben hatte, was sich in anderen Werken wie Unterwegs nach Utopia (1977), und nach der Ausreise in Abtötungsverfahren (1980) niederschlug, in denen die DDR „allenfalls noch als Beispielfall einer insgesamt katastrophischen Welt [fungiert], die das böse Ende nicht mehr vor sich hat, sondern es schon permanent exekutiert.“47 Oder, in Kunerts eigenen Worten, in seinem Gedicht Klassiker II, an Karl Marx gerichtet: „wir stolpern / von deinem Wort geleitet / von einer in die andere Finsternis.“48
45 Dieckmann, Kleist, Goethe, Kunert (1990), S. 281. 46 Honnef, Kleist in der DDR (1988), S. 136. 47 Emmerich, Kleine Literaturgeschichte (2009), S. 277. 48 Zitiert nach Honnef, Kleist in der DDR (1988), S. 138.
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Doch zunächst zieht Kunert aus dieser Debatte konstruktive wie produktive Schlüsse und entwickelt das Modell Heinrich von Kleist, das die kritische Selbstbehauptung des Individuums vor den Versuchungen der Welt fördern soll, und das er literarisch 1976 in seinem Hörspiel Ein anderer K. und theoretisch 1977 in seiner Rede vor der West-Berliner Akademie der Künste, Heinrich von Kleist – Ein Modell, elaborierte, die im Zusammenhang gedacht werden müssen. Beide Texte haben als Ausgangspunkt die Frage, die Kunert eingangs in der Rede aufwirft, nämlich wie man „die Schwierigkeiten im Umgang mit verstorbener Prominenz“49 handhabt, was gleichzeitig bedeutet: in der DDR läuft dies falsch ab. So rollt er im Hörspiel das wirkungsgeschichtlich überrepräsentierte Skandalon von Kleists Selbstmord wieder auf und lässt verschiedene Perspektiven zu Wort kommen. Rahmenhandlung ist dabei, dass die preußische Zensurbehörde, repräsentiert durch von Hardenberg und Polizeipräsident Gruner, und der König sich darüber echauffieren, dass ein positiver Nachruf auf Kleist erschienen ist, worauf der durch einen Betrugsversuch erpressbar gewordene Grollhammer eingesetzt wird, sich als Freund Kleists auszugeben und die Gründe für den Selbstmord zu erforschen, bzw. die vorformulierte These seiner geistigen Umnachtung zu bestätigen und damit ein unangenehmes Politikum zu vertuschen, denn, wie Hardenberg sagt, „[e]ine Tatsache, die nicht in unser Konzept passt, ist schlimmer als gar keine Tatsache.“50 Nicht nur der Name Grollhammer als Persiflage auf Goldammer, sondern die Gesamthandlung ist unverkennbar ein satirischer Kommentar auf die Geschehnisse um das Pamphlet. Kunert webt hierbei Kleist selbst, die Kritik an Goldammer, Zensur und die offizielle Kleist-Rezeption der DDR mit seiner eigenen Biographie zusammen und macht damit seinen eigenen Fall zum spöttischen Politikum historischen Ausmaßes. Wie Jacques Lajarrige hervorhebt, ist dabei die Weiterentwicklung der Debatte in dem Punkt erkennbar, dass Kunert das Uneins über die Rezeption Kleists thematisiert und die politischen wie persönlichen Motivationen für die Verunglimpfung Kleists betont.51 Doch so sehr Grollhammer bei seinen Befragungen der Potsdamer Gastwirte, des Ehemanns Henriette Vogels, Marie und Ulrike von Kleists, Friedrich de la Motte Fouqués und dem Nachrufschreiber Peguilhen sich anstrengt, den Wahnsinnigen Kleist aus deren Darstellungen herauszuhören, so sehr stellt sich ihm
49 Kunert, Heinrich von Kleist – Ein Modell (1978), S. 3, fortlaufend MOD. 50 Kunert, Ein anderer K. (1977), S. 12, fortlaufend AND. 51 Lajarrige, Wahnsinn mit Gänsefüßchen (1991), S. 147.
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und damit repräsentativ allen die vielperspektivische Darstellung Kleists in den Weg, die sich in einem eindimensionalen Bild von ihm einrichten wollen.52 Mit eklatanten Folgen: Grollhammer beginnt nicht nur, an seinem Auftrag und seinem Kleist-Bild zu zweifeln, sondern gerät zusehends in Zweifel über seine eigene Existenz: „nun bin ich auf einmal unsicher, ob ich wirklich das bin, wofür ich mich halte. Amadeus Grollhammer, der immer mit sich zufrieden war, sieht von einer anderen Perspektive her auch ganz anders aus, entsetzlich klein, winzig, kaum zu erkennen.“ Der Erzähler kommentiert nur: „Das ist ein schlechtes Zeichen. Es signalisiert den Verlust der Selbstkontrolle, schlimmer gar: von Selbstverständnis. Das hat er dem toten Kleist zuzuschreiben, dessen ‚Freund‘ er sich nicht länger zu nennen wagt“ (AND 28). Grollhammer wird am Ende in ungenannter Weise zu Tode kommen und Hardenberg und Gruner ziehen die Schlüsse, dass es notwendigerweise zu mehr Zensur kommen müsse, um solche Fälle in Zukunft besser verhindern zu können. Die Figuren bleiben polemisch grob, aber Kunert liefert hiermit ein treffendes Portrait der politischen DDRKlassikerrezeption. Wie Grollhammer geben sich Goldammers Beitragende als Freunde Kleists aus, arbeiten aber eigentlich für die Macht und versuchen nur, Gefahr vom Staat abzuwenden.53 Gleichzeitig ist der Fall Kleist modellhaft dafür, zu zeigen, welche Gefahr er für einen autoritären Staat wie Preußen darstellen kann, und somit auch, wie Heidelberger-Leonard ausführt, ein Modell für das, was Kunert noch vor Wolf Biermanns Ausbürgerung passiert, nämlich dass er sich von keiner Autorität vereinnahmen lassen und authentisch bleiben will.54 Die causa K. betrifft somit wiederum Kleist und Kunert, und für Kunert muss der Aufruf zum Ungehorsam beim Homburg von der Obrigkeit genauso gestoppt werden wie Kunert selbst unter Honecker. Es ist somit das Bild vom an der Gesellschaft leidenden Kleist wichtig, aber es geht ihm darüber hinaus auch um die Verteidigung eines Künstlertypus, den er für Kleist, Kafka und sich selbst beansprucht und die er alle drei auch 1975 noch diffamiert sieht ob ihrer Andersartigkeit.55 Wie Lajarrige betont, ist dies natürlich auch Ausdruck einer Selbstverortung Kunerts, um sich in seiner Funktion als Dichter Klarheit zu verschaffen, um
52 Bernhard Greiner, Kleist in der „Dunkel-Kammer“ (1991, S. 61f.), verweist hierbei auf ein typisches Muster für Kunerts Texte, die man von Kunerts Modell der Camera Obscura ableiten kann, einer Inszenierung der Entfremdungstheorie, in der das geschaffene Werk sich verselbständigt und dem Schaffenden selbstmächtig und verstörend entgegentritt. 53 Honnef, Kleist in der DDR (1988), S. 129f. 54 Heidelberger, Der Leser Günter Kunert zwischen Montaigne und Kleist (1991), S. 75. 55 Honnef, Kleist in der DDR (1988), S. 123.
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damit von einer gefestigten Position das ideologische Literaturbewusstsein der DDR kritisieren zu können.56 Der Schlussmonolog des Hörspiels spiegelt wiederum die Hoffnung, diesen Zustand zu überwinden, und Kunert lässt Kleist selbst aus dem Marionettentheater zitieren, in ähnlicher Weise, wie er es Jahre später für sich selbst in Wiederum Kleist formuliert: Er nimmt keinen Bezug auf die teils radikalen Implikationen seines Werks, sondern stellt ihn als ein Medium des von Kunert aufgegriffenen zu-sich-selber-Kommens dar, wofür er das Marionettentheater als Metapher benutzt. Kunert selbst bleibt allerdings Kleists abgeklärter, zynischer, pessimistischer und melancholischer Erbe, der ihm die Treue hält und ihm Gefolgschaft leistet.57 In der folgejährlichen Rede wird eine solche Hoffnung bereits nicht mehr ausformuliert. Was an Grollhammer literarisch vollzogen wird, ist exakt jenes Modell Kleist, das Kunert in seiner Rede 1977 ausführt: Durch die unvoreingenommene und differenzierte Betrachtung, die er für Kleist einfordert, „befähigt uns ferner das Modell Kleist, das umfassendere Modell einer allgemeineren und länger bestehenden Struktur zwischenmenschlicher Beziehungen und Abhängigkeiten zu erkennen, in deren Folge wir von Blindheit und Hass befallen wurden, welche, so oder so, vernichtend wirken.“ (MOD 11) Kleist zwingt die Rezipienten somit zur Dialektik. Dabei zieht er Kleist auch als Negativbeispiel von verblendetem Nationalismus in seinen Germania-Gedichte heran, um den Schwund kritischer Wirklichkeitssicht als Suche nach geistigem Halt zu demonstrieren, was sich auch wie eine Kritik an den ideologieverblendeten Schriftstellerkollegen lesen lässt. (MOD 16) Auch dagegen hilft laut Kunert das Kleist-Modell, da man sich in jenem Kleist wiedererkenne, der es zeitlebens nicht geschafft habe, seinen Wünschen und seiner Bestimmung als Mensch entsprechend zu leben. Und so beantwortet Kunert am Ende der Rede auch seine Frage, wie man überhaupt mit verstorbenen Dichtern umgehen kann: „Warum die ganze Mühe? Unseretwegen natürlich.“ (MOD 35). Man beschäftigt sich mit toten Dichtern wie Kleist für sich selbst, weil man individuelle Anknüpfungspunkte für sein eigenes Leben finden kann, die einem zugleich vor normativen und vereinfachenden Wahrheiten schützen. Daran hielt Kunert auch fest, denn wie er 1999 in einer Rede für die Kleist-Festtage in Frankfurt/Oder sagte: „Das Beispiel Kleist beweist, was man um der Wahrheit willen aufgeben müsse, wenn man seiner Kunst und damit sich selber treu bleiben wolle.“58 Damit hat er sich zwar politisch in der DDR
56 Lajarrige, Wahnsinn mit Gänsefüßchen (1991), S. 157. 57 Greiner, Kleist in der „Dunkel-Kammer“ (1991), S. 68. 58 Jordan, Kunert und Kleist (2004), S. 20.
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deutlich geschadet, aber eigentlich auch wieder nur konsequent die Rolle ausgefüllt, die er als Autor in der DDR repräsentieren sollte. Doch auch die Außenseiterposition hat für Kunert eine sympathische Tradition – wobei er Wolfs Argumentation zur Außenseiterposition des Autors in der bürgerlichen Gesellschaft aus dem Günderrode-Essay sehr nahe ist – wie er Fouqué im Hörspiel sagen lässt: „Das ist der Preis. Entweder glücklicher Durchschnitt oder unglücklicher Klassiker!“ (AND 40) Kunert stellte letztlich 1979 den Ausreiseantrag. In einem Interview gab er an, er hätte sich gezwungen gesehen, „die DDR für einige Zeit zu verlassen. […] Hätte ich die Kraft gehabt, weiter zu schreiben, wäre ich sicher in der DDR – trotz allem, was sich dort abspielt – geblieben.“ Kunert pointiert im selben Interview noch treffend, was das Dilemma der meisten zwischen 1976 und 1981 übergesiedelten Autoren ausmachte: „[I]ch [bin] weder ein Antikommunist […] noch [schädige] ich die DDR-Literatur mit meinen Büchern [...]. Vielmehr: DDR-Literatur bin ich. Ich habe ja in der DDR 23 Bücher veröffentlicht, von 1950 an. Was ist denn DDR-Literatur, wenn nicht ich auch?“59 Kunert repräsentiert selbstbewusst die Spanne von Aufbau, Brecht- und Becher-Liebling, zum wohlmeinenden Kritiker und schließlich dem verstoßenen Exilanten. Sein KleistModell hat ihn letztlich die DDR nicht mehr ertragen lassen.
59 Emmerich, Kleine Literaturgeschichte (2009), S. 422.
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Ein sehr ähnliches Projekt wie Kunerts Ein anderer K. findet sich bei Klaus Schlesinger, der ab 1974 an den verschiedenen, nur in abgewandelter Form veröffentlichten Varianten seines Felgentreu-Projektes arbeitete. Schlesinger, Jahrgang 1937, der bis 1961 noch literarisch davon zehrte, dass er die Welten der beiden Nachkriegs-Berlins erkunden konnte, sah sich auch in zunehmendem Maße genötigt, die DDR einer konstruktiven Kritik zu unterziehen, weil er sie von ihren eigenen Ansprüchen abweichen sah. Der umtriebige Chronist Berliner Lebensgeschichten und Zögling Franz Fühmanns, in dem sich für Kirsten Thietz „der intellektuelle Habitus einer Autorengeneration, die den Wert der sozialistischen Gesellschaft an den Freiräumen maß, die sie dem Individuum einräumte, sich selbst zu finden, zu bilden und auszusprechen“60 – ähnlich des Zu-sichselber-Kommens des Menschen – beschäftigte sich literarisch zeitlebens intensiv mit den Außenseitern der Gesellschaft und reiht sich damit in eine Reihe von Autoren ein, die ab Anfang der 70er Jahre mit ihren Werken auf der literarischen Bühne der DDR auftauchen und sich für eine kritische, öffentliche Auseinandersetzung mit den Widersprüchen des realsozialistischen Alltags engagieren.61 Doch für Schlesinger bedeutete dies die Erziehung des Lesers zu einem kritischen Menschen – was seiner Meinung nach der sozialistische Realismus nicht vermochte. Schlesinger wählt dafür auch eine subjektive Darstellung seiner literarischen Welten, da für ihn, wie auch Christa Wolfs Konzept der Subjektiven Authentizität, die Notwendigkeit, sich selbst zu finden und darüber die besondere Verantwortung des Einzelnen in der Gesellschaft zu begreifen, der erste Schritt für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft war. Der Zensurfall um Christa Wolfs Nachdenken über Christa T. hatte wenige Jahre zuvor drastisch gezeigt, wie provozierend dieser Ansatz für den offiziellen Literaturbetrieb der DDR noch war .62 Für Schlesinger bestärkte sich dieser Ansatz fortwährend, je mehr er die problematischen Ereignisse seines Landes in „einer Serie von Wechselbädern
60 Zitiert nach Köhler, Klaus Schlesinger (2011), S. 11. 61 Als im Dezember 1972 in Leipzig erstmalig die Tage der jungen Literatur stattfanden, herrschte großer Andrang bei den Buchpräsentationen: Schlesingers Michael, Ulrich Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W., Helga Schütz‘ Vorgeschichten oder Schöne Gegend Probstein oder Martin Stades Der Meister von Sanssouci wurden als neue Generation präsentiert – drei davon werden sich später mit Kleist auseinandersetzen. S. Köhler, Klaus Schlesinger (2011), S. 165. 62 Vgl. ebd., S. 133.
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aus Hoffnung und Desillusionierung“63 beobachtete. Wie für viele Autoren kann der Ungarn-Aufstand nach Stalins Tod als erstes Ereignis dieser Reihe gesehen werden: „Einen Frühling und einen Sommer hatten wir so etwas wie Hoffnung, dass sich diese Form des Sozialismus, die wir mit gemischten Gefühlen erlebten, demokratisieren könnte; im Herbst wurde sie das erste Mal enttäuscht; in Budapest.“64 Trotz Zensurfällen, dem Kahlschlag des 11. Plenums des ZK 1965 und des Prager Frühlings hatte auch Schlesinger Anfang der 70er Jahre die Hoffnung, „dass dieses land [sic] hier so langsam bewohnbar wird“.65 Doch die Biermann-Affäre sollte auch bei ihm ein Umdenken bringen, da es nicht nur seinen Glauben an den Staat erschütterte, sondern ihn auch ins Kreuzfeuer der Stasi-Überwachung katapultierte.66 Das ewige Mäandern zwischen Hoffnung und Enttäuschung führte im Falle Schlesingers nicht nur dazu, dass er „[v]on der Utopie […] nur noch im Imperfekt“67 redete, sondern resultierte in der literarischen Ausgestaltung seiner Figuren auch darin, dass sie von ihrem Leben mit „Alternativen, vor die ein Mensch nicht gestellt werden sollte“,68 überfordert sind. Es überrascht dann kaum, dass diese Ausgangslage Schlesinger auch zu Kleists gesellschaftlich-extremen Versuchsanordnungen führte. Leistner betont zum einen die starken Bezugnahmen auf Kleist und Kafka – wieder ähnlich wie bei Kunert – im 1977 erschienenen Die Spaltung des Erwin Racholl, „eine[r] alptraumarig erlebte[n] Gerichtsverhandlung, in deren Verlauf jener Racholl, ein höherer Behördenangestellter, von allem, was er bisher verdrängt hat, unerbitt-
63 Ebd., S. 69. 64 Ebd., S. 68f. 65 Ebd., S. 163. 66 Die Schilderungen Schlesingers, der zu den Erstunterzeichnern der Petition gehörte, zeichnen die Ereignisse lebendig nach: „Ich erfuhr davon auf einer Fete. Es war ein Schock, und ich betrank mich fürchterlich. Aber mir war klar, es musste etwas gemacht werden. Gleich am nächsten Morgen […] ging ich, verkatert und voller Wut, zu Sarah Kirsch […]. Sie sagte, ich sollte noch warten, sie sei zu Hermlin bestellt. Der wolle was machen, und sie würde dann gleich Bescheid sagen. Am Nachmittag brachte sie den Text der Petition, ich rief Ulli Plenzdorf an, er kam mit seiner Frau gegen fünf […] Einerseits passte mir der Ton der Petition nicht so ganz. Zu viel Bitte, zu wenig Protest. Außerdem störte mich das Elitäre an dem auserwählten Kreis. […] Andererseits war da die Achtung, der Respekt vor den Personen dieser Runde. Hermlin und Heym waren für mich ganz wichtige Männer. Oder Christa Wolf. Oder Franz Fühmann.“ S. Köhler, Klaus Schlesinger (2011), S. 207. 67 Ebd., S. 301. 68 Ebd., S. 204.
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lich heimgesucht und als moralisches Subjekt sukzessive demontiert wird.“69 Wesentlich deutlicher sind Schlesingers Bezüge auf Kleist aber in einem anderen Projekt zu finden. In genau jene Zeit, ab 1974, fiel nämlich auch der Beginn von Schlesingers einziger Beschäftigung mit einem historischen Stoff, sein Felgentreu-Projekt, das ihn über 30 Jahre lang beschäftigen sollte. Der Einladung Goldammers zu Schriftsteller über Kleist folgte er nach anfänglichem Interesse nicht und lehnte das Angebot mit der Begründung ab, er wisse sich noch nicht zu artikulieren.70 In der Tat wird dies auch ein dauerhaftes Problem sein, da Schlesinger nie eine Form finden würde, in der er das Projekt fertigstellen konnte. Er testete es allerdings in verschiedenen Medien, als Roman, als Hörspiel, als Filmdrehbuch und als Novelle. Die Idee dazu kam ihm bereits in den 60er Jahren, wie er sich an ein Gespräch mit Kurt Batt erinnert: Achtundsechzig war ich APO-begeistert, hatte auch Verbindungen zur Westberliner APO. Wissen Sie, sagte ich einmal zu ihm, ich hab da so’ne Idee: Kleist, wahrscheinlich wäre er bei der APO… Und indem ich so erzählte, sagte er, damals siezten wir uns noch: Ach, lassen Sie mal die Hände davon, so weit sind Sie noch nicht.71
1974 nahm Schlesinger die Beschäftigung mit Kleist wieder auf, und Jan Kostka zeigt, warum Schlesinger seinen eigenen Ansatz der „Klassiker-Ausgabe“ Goldammers vorzog: Durch seine verschiedenen Kontakte nach West-Berlin bekam Schlesinger die an der Studentenbewegung orientierte Inszenierungspraxis von Kleists Dramen sowie Helma Sanders-Brahms Film Heinrich (1977) mit, die am „Paradigmenwechsel vom rechten zum linken Mythos“ der westdeutschen Kleist-Rezeption mitwirkten. Kleist wurde in diesem Zusammenhang als „Seismograph eines preußischen Traumas“ neuinterpretiert, in einer Epoche, „die stets aus der Perspektive einer möglichen, aber in Deutschland niemals gelungenen Revolution gesehen wurde“ und für welche sein Selbstmord als zentrales Sinnbild angesehen wurde.72 Es ging dabei zudem weniger um eine historischkorrekte Erfassung Kleists als mehr um einfühlende Darstellungen, „dem starken
69 Leistner, Kleist in der neueren DDR-Literatur (1988), S. 337. 70 Kostka, Klaus Schlesinger 1960 bis 1980 (2015), S. 436. 71 Köhler, Klaus Schlesinger (2011), S. 196f. 72 Ebd.
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Bedürfnis nach traumatisierten Leitfiguren“ folgend, „wie man sie damals auch in Lenz und Hölderlin fand“.73 Es ist also nicht nur festzuhalten, dass die Entwicklungen der Kleist-Rezeption der 70er Jahre in der DDR auch in der alten Bundesrepublik ähnlich geprägt waren und beide sich beeinflussten, sondern dass sie beide in Schlesingers Projekt zusammenflossen. Vor diesem Hintergrund scheint nachvollziehbar, dass Schlesinger die politischen Prozesse der DDR im Jahre 1976 wie folgt wahrnimmt: Einmal, ich arbeitete an einem Drehbuch, fand im hinteren Teil des Zentralkomitees […] die Parteiversammlung des Schriftstellerverbandes statt, genau gegenüber meinem Arbeitszimmer. Ich schrieb gerade an einer Szene über die Vernichtung Kleists durch die preußische Staatsmacht, lief zwischendurch immer wieder ans Fenster, starrte durch mein Fernglas in den Saal gegenüber, es brannte schon Licht, hinter den Stores sah ich Hermlin neben Volker Braun sitzen, sah Köpfe sich wenden, wenn jemand im hinteren Teil des Saales sprach, sah Hände sich heben zur Abstimmung […], und später sah ich Jurek Becker im Laternenlicht zu seinem Auto gehen, Hände in den Taschen, hängende Schultern, den Kopf gesenkt. Ich nahm das wahr mit einer Art verbissener Spannung; so tief spürte ich nie wieder das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Geist und Macht unter den Bedingungen einer feudalistischen Struktur, so klar sah ich nie wieder die Parallelen zwischen den Jahren 1811 und 1976.74
Bei jener Versammlung handelte es sich, wie Astrid Köhler betont, um einen der zahlreichen Versuche der Partei- und Staatsführung der DDR, die nach der Ausbürgerung Biermanns aufwogenden Proteste unter den Künstlern des Landes nachhaltig zu unterdrücken, sodass für Schlesinger spätestens mit der BiermannAffäre das Gefühl wuchs, „einer absolutistischen Staatsmacht ausgesetzt zu sein.“75 Für Felgentreu kreierte er einen Kleist, der die Diskussion um das Verhältnis zwischen Staatsmacht und Geist aufgreift, wie man sie zu der Zeit z.B. auch in den Stücken Müllers und in Dresens Inszenierungen findet: Kleists Leben – das sind vierunddreißig Jahre des Aufbruchs und der Enttäuschung, der Sehnsucht nach Integration und des Gefühls unendlicher Einsamkeit, das sind eine Häu-
73 Aus: Klaus Kanzog, Vom rechten zum linken Mythos (1988), zitiert aus Kostka, Klaus Schlesinger 1960 bis 1980 (2015), S. 436. 74 Köhler, Klaus Schlesingers Kleist-Felgentreu-Projekt (2012), S. 95. 75 Ebd., S. 97.
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Köhler fasst diesbezüglich zusammen, dass Kleists widersprüchliche und innige wie hasserfüllte Bindung an Preußen für Schlesinger selbst zur historischen Folie für seine eigene widersprüchliche Bindung an seinen Staat werden.77 Schlesingers konkrete Ausgestaltung des Stoffs weist frappierende Ähnlichkeit mit Kunerts Ein anderer K. auf. Auch hier wird der Doppelselbstmord Kleists und Vogels als Anlass für eine kriminalistische Untersuchung, für die Schlesinger, im Unterschied zu Kunert, die historische Figur des Hoffiskals und Richters Christian Felgentreu aufgriff und fiktionalisierte, der die tatsächliche Untersuchung 1811 leitete. Felgentreu wird sich von Anfang an einer Untersuchung verweigern, die auf vorgefassten Meinungen beruht, und über Kleist „an die Grenzen seiner Existenz“78 stoßen und sich schließlich auch das Leben nehmen, allerdings als „befreiende Tat, als Tat eines souveränen Subjekts“79, was erneut an Kunerts Kleist-Modell erinnert. Inwieweit diese Parallelen zwischen den beiden Projekten auf Austausch zwischen Kunert und Schlesinger beruhen, kann nur vermutet werden. Schlesinger verfolgt in jedem Falle andere Absichten als Kunert. Er nimmt zwar die Rezeptionsdebatte, die Kunert anprangerte, wahr, und kritisiert diese im Fragment der DDR-Hörspielfassung: […] wer den Vorgang, den man hierzulande unter dem Begriff „Kleist-Rezeption“ fasst, über die Jahrzehnte hinweg verfolgt, dem wird auffallen, wie schwer sich Literaturwissenschaft und Ästhetik, gleich welcher Couleur, mit diesem Kleist getan haben. Keiner, der in der Lage gewesen wäre, Kleists Werk in seiner Geschlossenheit aufzunehmen, immer trennte die deutsche Germanistik in ihrer Schubladengelehrsamkeit zwischen „Gelungenem“ und „Missratenem“ […]80
Doch sein Kleist sollte ein Zerrissener durch die Verhältnisse werden, ein kompromissloser, leidenschaftlicher Intellektueller, der, und dafür zitiert auch er Hans Mayer, „die Krise des bürgerlichen Bewusstseins im Kontrast zwischen Aufklärungsidealen und bürgerlicher Lebensform“ repräsentiert.81 Dass er nie
76 Ebd., S. 98. 77 Ebd. 78 AdK Schlesinger 35, Novellenenturf Felgentreu, Vorrede. 79 AdK Schlesinger 35, Entwurf Hörspiel Felgentreu, S. 168. 80 AdK Schlesinger 35, Entwurf Hörspiel Felgentreu, S. 168f. 81 AdK Schlesinger 35, Entwurf Hörspiel Felgentreu, S. 170.
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eine Form für den Stoff fand, die ihm angemessen erschien, lag zum einen sicherlich daran, dass er stets auch an zeitgeschichtlichen Themen arbeitete und sich in diesen sicherer bewegte. Teils hatte es, wie Kostka herausgearbeitet hat, aber auch institutionelle Gründe: Das von Schlesinger im Juni 1976 bei der DEFA eingereichte Filmexposé Kleist wurde am 24. März 1977 – im Jubiläumsjahr – von Werner Beck, dem amtierenden Chefdramaturgen, offiziell bestätigt, und der Themenplan der Gruppe Babelsberg vom Januar 1976 führte bereits einen Film Heinrich von Kleist, wo er auch bis 1978 blieb, dann aber verschwand. Schlesinger wurde zunächst mitgeteilt, dass die Produktionsaussicht nicht günstig sei und dass das Gutachten von Klaus Wischnewski, dem Chefdramaturgen des Deutschen Theaters, umfangreiche Änderungen forderte. Aus den Akten um die Ehrung 1977 geht zudem hervor, dass die DEFA bereits schon zu viele Biographien drehte (Exkurs II). Schlesinger erklärte sich dazu bereit, auch wenn die Änderungsvorschläge an die Grundlagen seines Figurenaufbaus gingen, wenn ihm ein sicherer Termin für die Realisierung des Szenarios zugesichert würde. Diese schlug Dieter Wolf, der Chefdramaturg der Gruppe Babelsberg, ihm aber am 28. Januar 1980 ab, als Schlesinger schon in West-Berlin wohnte, auch weil er „alle Westwanderer für Abtrünnige“ hielt, und schickte Schlesinger die Filmrechte zurück, womit das Filmprojekt endgültig beendet war.82 Die abgeschlossenste Variante des Projekts ist die 1976 entstandene, unveröffentlichte Novelle, die 61 Schreibmaschinenseiten umfasst.83 Felgentreu, dessen Geschichte als existenzielle Grenzerfahrung disponiert wird, ist eigentlich ein kurzer Bildungsroman, ebenfalls ein Zu-sich-selber-Kommen eines kritischen Staatsbürgers. Bei der Untersuchung des Tatorts fallen ihm verschiedene, verdächtige Indizien auf, die ihn nicht an einen Selbstmord glauben lassen: die gefundenen Pistolen entsprechen nicht den Kugeln, mysteriöse Männer, die auftauchen und Erkundigungen über Kleist einholten. Alles deutet auf eine Verschwörung hin, in der Kleist als Napoleon-Gegner das brüchige staatliche Gleichgewicht Preußens in Gefahr gebracht hätte und deswegen aus dem Wege geräumt werden musste, als Selbstmord eines verrückten Schwärmers getarnt. Die Anspielungen an die Staatssicherheit im Text sind offenkundig: Als Felgentreu an verschiedenen Orten, wo Kleist sich aufgehalten hatte, Erkundigungen einholt,
82 Vgl. Kostka, Klaus Schlesinger 1960 bis 1980 (2015), S. 451f. 83 Alle nachfolgenden Textstellen beziehen sich auf die Signatur der Akademie der Künste Berlin: AdK Schlesinger 35.
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wird ihm nicht nur berichtet, „dass den Herrschaften und allen Leuten, die zu ihnen gekommen seien, durch die Herren von den geheimen Behörden mehr als genug Aufmerksamkeit geschenkt worden sei, wäre allen bekannt gewesen“ (31) und beim Friseur wird ihm berichtet, es „seien des öfteren Erkundigungen eingezogen worden über den Herrn von K., meist von Gelegenheitskundschaft, denen man an der Nasenspitze angesehen habe, in wes Diensten sie stünden.“ (32) Achim von Arnim wird an späterer Stelle bemerken, „man könne gewärtig sein, aufgehängt zu werden aus Treue zu seinem König, und zwar auf des Königs Befehl – soweit sei es gekommen mit diesem Land.“ (33) Mit Felgentreus Zweifeln am Selbstmord Kleists spielt Schlesinger nicht nur mit einer rezeptionsgeschichtlichen Generalkorrektur, er reflektiert auch sein eigenes und in diesem Falle von vielen Autoren geteiltes Empfinden, dass sie alle, ihre Rolle als Kritiker und Mahner für die Sache des Sozialismus ausfüllend, in zunehmendem Maße als Staatsfeinde diffamiert würden und den meisten kein anderer Ausweg bliebe als der Selbstmord, der auch die Form eines Ausreiseantrags annehmen kann. Felgentreu deckt mit seinen kritischen Fragen einen korrupten und paranoiden Überwachungsstaat auf, in dessen Diensten er steht, und wird dadurch zu Kleists Geistesverwandten, deren Lebensumstände sich zunehmend verschränken. Eines nachts träumt Felgentreu, der Magenkrebs hat und regelmäßig Schmerzen leidet, dass er Unter den Linden Kleist mit Marie – mit der Felgentreu ein Liebesverhältnis hat und die den finalen Hinweis zur Unschuld Kleists liefern wird – begegnet und jene der Untreue beschuldigen will: Aber der Leutnant stellt sich schützend vor Marie, reißt sein Hemd auf und Felgentreu sieht ein schwärzliches kurzflügliges Tier, eine Art Eule, grinsend und mit kurzem Schnabel in das Fleisch hackend. [...] Und der Leutnant sagt, sie seien Verlorene, sie beide, sie hätten dieses Tier in sich, das sie auffräße, von innen her und ob Felgentreu verstünde. (44/45)
Felgentreu überträgt seine eigene, tödliche Krankheit als Metapher für einen Zweifel an der Welt auf Kleist und damit ist beider Schicksal fest verknüpft. Obwohl der Fall vom König für beendet erklärt wird mit der Order „Widersprüche seien nicht weiterzuverfolgen, weil es keine gäbe.“ (50), entbindet Felgentreu sich innerlich seiner Pflichten und verfolgt den Fall selbst weiter, verschont seinen (dichtenden!) Assistenten Korff, der einem jungen Kleist ähnelt, als er herausfindet, dass jener für einen Geheimbund spioniert. In der Schlussszene werden beide Figuren in utopischer Freiheit völlig verschränkt. Als Felgentreu im Dorfkrug nochmals die Zeugen verhört, wird die Eingangsszene, die Kleist
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und Henriette Vogel kurz vor dem Selbstmord schilderte, die eigentliche Tat aber ausließ, weitergeführt: Er ließ die Pistole sinken und sah seine Cousine und seine Schwester und seine Braut und sah sich, wie er auf einem Berg stand, sah eine Quelle aus einer Felsspalte sprudeln, deren Wasser schnell zu einem Bächlein schwoll, in immer rasenderer Fahrt in die Tiefe schoss, sich vereinigte mit anderen Wassern, reißend wurde, gischig gegen Felsen schlug, mit ohrenbetäubendem Lärm über den Rand der Schlucht stürzte, weiß und schaumig und voll berstender Kraft, bis das Wasser ein breiter Fluss wurde, auf dem die Schaumkrone des Sturzes langsamer nun, aber immer noch kraftvoll dahinfloss, und Schiffe trug das Wasser und Menschen auf Flößen, ein breiter kraftvoller Strom, der irgendwo hinten ins Meer floss, in die unübersehbare Weite eines trägen Meeres. (59)
Schlesinger gibt seinem Kleist im Augenblick seines Todes einen utopischen Moment, der klarstellt, dass dieser Freitod auch eine Zeichenhandlung ist, die in Zukunft viele Akte von individueller Freiheit nach sich ziehen und langfristig das staatliche Joch unterwandern wird. Als Felgentreu in diesem Moment versteht, dass Kleist nicht Opfer eines Komplotts geworden ist, sondern freiwillig seinem Leben ein Ende setzte, ist der letzte Schritt seiner Erkenntnisfindung vollzogen, der wiederum an Kunerts „Umstände“ in Paradoxie als Prinzip erinnert: Felgentreus Gesicht ist grau und verfallen. Die Umstände, sagt Felgentreu wie zu sich selbst. Du brauchst gar keine Waffe gegen einen zu richten. Die Umstände führen sie. […] Ich habe die Umstände vergessen, sagt Felgentreu, und sieht die Pistole. (60)
In diesem Moment wird wieder zu Kleist geblendet, dem bewusst wird, „dass es vielleicht immer nur Momente waren, in denen man sich frei fühlen konnte, so wie jetzt […] und er dachte, dass er diesen Moment der Freiheit endlich festhalten müsste, dass es die einzige Chance für ihn war, frei zu sein auf ewig“ (60). Mit dem Schuss fällt auch Felgentreu zu Boden, der sich mit Kleists Pistole ebenfalls erschossen hat. Das Zu-sich-selber-Kommen mündet in den Selbstmord als Akt der souveränen Individualität, die als Freiheit und als Moment der Erkenntnis kodiert wird, in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Schlesinger hat seine Parallelen zwischen 1811 und 1976 damit deutlich herausgearbeitet und thematisiert, wie er seine eigene Rolle als Autor in einem von ihm leidenschaftlich unterstützten System empfindet, das ihm zum Verdächtigen erklärt hat. Es ist unklar, ob dieser Text jemals in dem Format veröffentlicht worden wäre: Neben den bereits erwähnten Seitenhieben auf die Stasi-Überwachung hat-
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te Schlesinger selbst Zweifel, ob eine zu deutliche Parallelisierung dem eigentlichen Stoff schaden könnte, der bei ihm Vorrang hatte: Die Schwierigkeit liegt darin, dass ich es mir widerstrebt, eine historische Geschichte, die so viel Eigenkraft haben sollte, in Gegenwärtiges zu beleuchten, mit Gegenwärtigem belegen, besetzen {kommentieren} muss, nein. […] Die Gefahr der Überfrachtung ist zu groß. Die Gegenwartsebene ist eine biographische, jedenfalls in erster Linie, und ich frage mich, ob sie so viel historisches Gewicht hat, dass ich sie mit jenem Ereignis 1811 verbinden kann.84
Im Gegensatz zu Kunerts satirischer Ausgestaltung des Stoffes hat Schlesinger hier eine melancholische und vielschichtige Erzählung geschrieben, die die komplexen Zusammenhänge einer Künstleridentität auslotet und dabei das Recht auf Selbstbestimmung kompromisslos behauptet, selbst wenn diese die Folge von Resignation an der eigenen Existenz ist. Kleist stirbt nicht im reaktionären Wahn, sondern, wie Kostka betont, stehen „in ihren unterschiedlichen Lebenswelten […] Kleist und Felgentreu vor den gleichen Problemen und geraten in einen Konflikt mit der Obrigkeit, weil beide nicht in ihre Zeit hineinpassen. Kleist kann aufgrund der anachronistischen Weise poetischen Schaffens nicht den Anforderungen der arbeitsteiligen Gesellschaft genügen.“85 Dieser Aspekt rückt Schlesingers Herangehensweise deutlich in die Nähe von Christa Wolfs Beschäftigung mit Kleist, die etwa zeitgleich einsetzt. Mit Kunert hat Felgentreu gemein, dass Schlesinger eine Differenzierung der Lebensumstände Kleists vornimmt und sich an einer einfühlsamen Darstellung eines deutschen Künstlerschicksals versucht, das „ansteckend“ ist und dem eine starke Identifizierung Schlesingers mit Kleist vorangeht. Mit Kunert hat Schlesinger auch gemeinsam, dass es ihn aus der DDR trieb. 1979 wurde er mit vielen anderen Autoren als Folge der Biermann-Proteste aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen und siedelte 1980 mit einem dreijährigen Reisevisum nach West-Berlin über, wo er schlussendlich blieb und Teil der Hausbesetzerszene in der Potsdamer Straße wurde. Doch mit Kleist war für ihn auch dann noch nicht Schluss, auch wenn „dessen Bearbeitung ihm doch immens DDR-getränkt geraten war“, vermutlich, „weil er die DDR gewissermaßen
84 Zitiert nach Kostka, Klaus Schlesinger 1960 bis 1980 (2015), S. 454. 85 Ebd., S. 449.
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nie ganz verlassen hat.“86 1985 wird ein Hörspiel-Manuskript mit dem Titel Felgentreu unter der Regie von Robert Mateijka produziert und im November 1986 aus Anlass der 750-Jahr-Feiern Berlins vom damaligen Sender Freies Berlin ausgestrahlt, welches aber, in Köhlers Einschätzung, „weder die Qualität noch die Intensität von Schlesingers Arbeiten am Kleist-Material erkennen“ lässt.87 Er wird auch 1989 im August mit Ulrich Plenzdorf, Martin Stade, Uwe Kolbe und Christa Schmidt in Alt-Rosenthal zusammenkommen, um über die Zukunft der DDR und „die Möglichkeit der Utopie“ zu sprechen, die Wiedervereinigung als „Wahl zwischen Pest und Cholera“ beschreiben und sich konsequent gegen die Versuche der „moralischen Demontage unserer Kollegin Wolf und unserer Kollegen Heym und Müller“ im deutsch-deutschen Literaturstreit der Nachwendezeit stark machen.88 Ab den 90er Jahren bis zu seinem Tode 2001 wird sich Schlesinger Literatur über Kleist ausleihen und verschiedene Ideen sammeln, wie er ihn weiter umsetzen könnte, was sich aber nie materialisiert. So ist Kleist für Schlesinger ein Autor, an dem er sich schulte und übte, ein Projekt, das immer da war, aber nie fertig wurde, jedoch stets andere Arbeiten begleitete und als „Medium der Auseinandersetzung mit der jeweiligen politischen und sozialen Umwelt des Autors und zur Verarbeitung der Wechsel zwischen diesen verschiedenen Welten [fungierte]. Insofern brachte ihn das Projekt zwar nicht an die Grenze seiner Existenz, wurde aber von ihm immer dann aufgegriffen, wenn er sich an einer solchen Grenze glaubte.“89 Somit ist sein Felgentreu auch eine Metapher für die rezipierte Offenheit und Fragmentiertheit des Kleistschen Werkes, und Schlesinger ein Autor, dem diese moderne Form zeitgemäß erscheint: Der Bruch bestimmt mein Lebensgefühl, ich muss aufbrechen, die Form zerbrechen. Felgentreu als Montage. Die aufgebrochene Form als Ausdruck dieser Gesellschaft.90
86 Köhler, Klaus Schlesinger (2011), S. 105. 87 Ebd., S. 96. 88 Köhler, Klaus Schlesingers Kleist-Felgentreu-Projekt (2012), S. 292, 306 & 304. 89 Köhler, Klaus Schlesinger (2011), S. 107. 90 Ebd., S. 105.
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„Ein Zufall kann es nicht sein, dass wir begonnen haben, den Abgeschriebenen nachzufragen, das Urteil, was über sie verhängt wurde, anzufechten, es zu bestreiten und aufzuheben – fasziniert durch Verwandtschaft und Nähe, wenn auch der Zeiten und Ereignisse eingedenk, die zwischen uns und denen liegen.“92
In Christa Wolfs Kein Ort. Nirgends (KON) kulminieren 1979 fast alle dialektischen Elemente der zeitgenössischen Kleist-Rezeption, weswegen Peter Teupe es als „Paradigma der DDR-Literatur der 70er Jahre“ bezeichnete.93 Die Ausbürgerung Wolf Biermanns löste nicht nur eine Bürgerrechtsdebatte aus, sondern bedeutete für sie vor allem eine weitreichende Autorschafts- sowie persönliche Krise, die ihr literarisches und gesellschaftliches Schaffen prägten und fortan deutlich verändern sollten und in KON 1979 einen literarischen Niederschlag erfuhr. Dabei ist Kleist für sie ebenfalls ein Autor der Krise und des Scheiterns, der sich durch Entfremdung und eine unbestimmte Geschlechtsidentität auszeichnete. Jene „Identitätsverunsicherung“,94 die sie in diesen Tagen als Autorin erfuhr, hatte auch körperliche Konsequenzen: Sie erlitt einen Herzanfall und musste die Verhandlungen gegen sie wegen der Unterzeichnung der Biermann-Petition vor-
91 In einem Brief an Adolf Dresen vom 10.5.2000 schreibt Wolf: „Dein Buch hat mich aufgeregt. Warum? Wenn ich es kurz zusammenfassen soll: Es ist ja, alles in allem, eine Dokumentation über die ‚Kunst des Scheiterns’, es ist ein Nachdenken darüber, und darum geht es mich so an. Deinen Lebenslauf könnte man ja einen paradigmatischen Lebenslauf eines DDR-Künstlers nennen, aber nur wenige (wer überhaupt?), die ähnliche Stationen ihrer Biografie vorzuweisen haben, haben sich in der Weise damit auseinandergesetzt wie Du.“ S. Wolf, Man steht sehr bequem zwischen allen Fronten (2016), S. 836. 92 Wolf, Schatten (1989), S.6, fortlaufend GÜN. 93 Teupe, Kein Ort. Nirgends als Paradigma der DDR-Literatur der siebziger Jahre (1992). 94 Emmerich, Kleine Literaturgeschichte (2009), S. 272.
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zeitig abbrechen.95 Ein weiteres eindrückliches Beispiel findet sich in der stark umstrittenen, 1989 publizierten, jedoch im Juni/Juli 1979 verfassten Erzählung Was bleibt, in der sie den Überwachungsalltag in Ost-Berlin in den Jahren nach Biermann beschreibt, jener Stadt, die „[a]us einem Ort […] zu einem NichtOrt“96 für sie geworden war. Die Erzählerin läuft in einer Szene über die Weidendammer Brücke nahe Wolfs damaliger Wohnung in der Friedrichstraße und erblickt „am Scheitelpunkt der Brücke […] de[n] gußeisernen Preußenadler, der mir spöttisch entgegensah und den ich im Vorbeigehen leicht berührte.“ (WAS 28) Nun war es eben jener Adler, vor dem Wolf Biermann auf dem Titelbild seines Gedichtbandes Preußischer Ikarus (1978 in der Bundesrepublik veröffentlicht) posierte, beide nicht wissend, dass es sich um den deutschen Reichsadler handelte, dessen Kaiserkrone erst in den 80er Jahren wieder rekonstruiert wurde. Im Moment der Berührung wird sich die Erzählerin ihrer Krise wieder bewusst: Wie immer, wenn ich über diese Brücke lief, kamen die endlosen Gänge mir wieder in den Sinn, die mich damals, vor mehr als zwei Jahren, durch diese Straße getrieben hatten, und ich erinnerte mich, […] dass ich, wenn im Fernsehen ein Film gezeigt wurde, in dem eine Hoffnung eingefangen war, der ich auch einst angehangen hatte, ohne weiteres in Tränen ausbrechen konnte […]. Der rasende, blanke Schmerz hatte von mir Besitz ergriffen, sich in mir eingenistet und ein anderes Wesen aus mir gemacht. […] Ich war in der Fremde. (WAS 29)
Das Gefühl, durch Dauerüberwachung im eigenen Land zur Fremden geworden zu sein, ist ein zentraler Aspekt von Wolfs literarischem Schaffen in diesen Jahren und wird zum Vehikel ihres eigenen Umdenkens.97 Die kulturpolitische Krise führte bei vielen Autoren zu dieser Zeit zu einer generellen Infragestellung der Funktion des Autors in der sozialistischen Gesellschaft, die oft einherging mit einer Hinterfragung des Erbe-Kanons. Wie aus dem Eingangszitat hervorgeht, fällt das Interesse dabei vor allem auf solche Autoren, die vom Erbe ausgeschlossen wurden, und somit den DDR-Autoren in ihrer gegenwärtigen Situation deutlich status-ähnlicher schienen. In Wolfs Fall handelt es sich dabei konkret um die Dichter der Romantik, vor allem Karoline von Günderrode, an deren Wiederentdeckung sie maßgeblich beteiligt war, und um Kleist. Wie Teupe her-
95 Teupe, Kein Ort. Nirgends als Paradigma der DDR-Literatur der siebziger Jahre (1992), S. 106. 96 Wolf, Was bleibt (2007), S. 31, fortlaufend WAS. 97 Das Überqueren der Weidendammer Brücke taucht auch in ihrer Erzählung Leibhaftig (2002) wieder auf, deren Handlung im Jahre 1988 angesiedelt ist.
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vorgehoben hat, ist der Ausgangspunkt für Wolfs Beschäftigung mit den beiden Autoren des frühen 19. Jahrhunderts aus den Streitigkeiten im Briefwechsel zwischen Lukács und Seghers über die Realismusdebatte der 30er Jahre hervorgegangen, wie sie in der sich an eine Lesung ihres Günderrode-Essays Ende 1979 in der Berliner Stadtbibliothek anschließende Diskussion angab.98 Wolf äußerte die Ansicht, dass jene Debatte noch nicht beendet und aus jenem Grund ein Gespräch über die Günderrode auch ein Gespräch über „uns selbst“ sei. Der Hintergrund beim Schreiben von KON sei die Auseinandersetzung unter und mit Schriftstellern in den späten 70er Jahren gewesen und die Verständigung darüber, welche Rolle Literatur in unserer Gesellschaft spielen solle. Sich darüber klar zu werden, habe ihr der [sic] Beschäftigung mit einem historischen Stoff geholfen. […] Sie halte dafür, dass ein Schriftsteller Historisches aus seiner Zeit erklären müsse, […] die Grenze sei, wenn man zum Beispiel die Romantik verzerre, vergewaltige.99
Angefangen mit KON und den begleitenden Essays bildet sich für Wolf ein Projekt einer umfassenderen literarischen Zivilisationskritik heraus, zu der auch ihre späteren Werke Kassandra (1983), Störfall (1987) und Sommerstück (1989) zählen und auf die zurückzukommen sein wird. In KON widmet sie sich zunächst ihrer eigenen Krisensituation und Kleist wie Günderrode sind Paten für ein Projekt, das sich einem sehr „unsozialistischen“, für die 70er Jahre aber überaus repräsentativen Thema zuwendet: dem Scheitern und dem Zusammenbrechen alternativer Lebens- und Literaturkonzepte.100 In ähnlicher Weise wie in der genannten Lesung formuliert Wolf in einem vielzitierten Interview mit Frauke Meyer-Gosau 1982 ihre Veranlassung, sich Kleist und Günderrode zuzuwenden: „Kein Ort. Nirgends“ habe ich 1977 geschrieben. Das war in einer Zeit, da ich mich selbst veranlasst sah, die Voraussetzungen von Scheitern zu untersuchen, den Zusammenhang von gesellschaftlicher Verzweiflung und Scheitern in der Literatur. […] Ich musste über eine gewisse Zeit hinwegkommen, in der es absolut keine Wirkungsmöglichkeit mehr zu geben schien.101
98
Teupe, Kein Ort. Nirgends als Paradigma der DDR-Literatur der siebziger Jahre (1992), S. 75.
99
Ebd.
100 Vgl. Emmerich, Kleine Literaturgeschichte (2009), S. 338. 101 Wolf, Projektionsraum Romantik (2008), S. 435, fortlaufend PRO.
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Sie betont die Ausbürgerung Biermanns als Einschnitt in der kulturpolitischen Entwicklung, die eine Gruppe von Autoren mit ebenjener Erkenntnis zurückgelassen hat, dass sie gesellschaftlich keine Wirkungs- und Mitarbeitsmöglichkeit mehr hatten, die ihnen zuvor als feste Rolle in der sozialistischen Gesellschaft zugesichert worden war. Diese Krise bedeutete für Wolf, die ihr gesamtes bisheriges Leben diesem Projekt gewidmet hatte, eine Infragestellung ihres Daseins schlechthin: Das reine Zurückgeworfensein auf die Literatur brachte den einzelnen in eine Krise; eine Krise, die existenziell war. Daraus ist bei mir unter anderem die Beschäftigung mit dem Material solcher Lebensläufe wie denen von Günderrode und Kleist entstanden. […] Ich habe diese beiden Figuren genommen, um ihre Problematik für mich durchzuspielen. (PRO 435f.)
Die ausgeschlossenen, unter das Rad des Realismus-Verdikts gekommenen Autoren der Sattelzeit des meist frühen 19. Jahrhunderts werden für Wolf – wie den Dichtern der Moderne – zum sprichwörtlichen Strohhalm, nach dem sie in dieser Situation der Krise greift. Das nicht nur zur „Rückgewinnung des verweigerten Erbes“,102 sondern als Identifikationsangebot und persönliche Krisenbewältigung: „Es war eine Selbstverständigung, es war auch eine Art von Selbstrettung, als mir der Boden unter den Füßen weggezogen war; das genau war die Situation.“ (PRO 436) Was nun zeichnete für Wolf jene Generation von Schriftstellern aus, dass sie ihr als Identifikationsangebot dienen? Da Wolf als sozialistische Autorin stets auch die sozialpädagogische Funktion von Literatur mitdachte, schrieb sie zudem meist auch noch literaturtheoretische Texte, literaturwissenschaftliche Essays und gab zahlreiche Interviews wie die bereits zitierten, die ein möglichst umfassendes Bild ihres Schaffens für die Öffentlichkeit nachvollziehbar machen sollten. Im Fall von KON gibt es noch zwei Essays: Zum einen Der Schatten eines Traumes (1979), den sie zusammen mit der ersten Gedichtsammlung überhaupt von Karoline von Günderrode herausgab, und Nun ja! Das nächste Leben geht aber heute an. Ein Brief über die Bettine (1984) über Bettina von Arnim, beides zugleich Protagonistinnen von KON. Vor allem ersterer gibt Auskunft: An Günderrode reizt sie die „Dissonanz ihrer Seele“ als Zeichen der „Unstimmigkeit der Zeit“,103 sie spricht von den Romantikern als einer „Generation der Zwischenzeit“ (GÜN 6) und von „Idealisten, die straucheln“. (GÜN 17) Im ge-
102 Emmerich, Kleine Literaturgeschichte (2009), S. 339. 103 Wolf, Schatten (1989), S. 5, fortlaufend GÜN.
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nannten Interview mit Meyer-Gosau wirft sie die Frage auf, die an Seghers (Vorbemerkungen) erinnert: „Wie kommt es, dass nach der Generation der Klassiker eine solche Menge von jungen Autoren auftaucht, die mit ihrer Zeit, mit ihrem Talent, mit der Literatur, mit ihrem persönlichen Leben offensichtlich nicht ‚fertigwerden‘.“ (PRO 438) Dieses Scheitern, welches auch Lukács kritisierte, ist für sie nunmehr aktuelle Realität geworden. All diese Aspekte, die Wolf über die Romantik hervorhebt, sind Schlagworte, die ihre eigene, gefühlte Situation beschreiben. Jene „Generation, die als erste den Riss bemerkte“ (PRO 446) empfand Wolf als Weggefährten ihrer eigenen Verfassung, und auch Vorbilder, da jene diese Krise bereits durchlaufen hatten und mit ihrem Scheitern als Vorbild dienen konnten, wie man in der DDR der späten 70er Jahre eine solche Krise übersteht. Ricarda Schmidt greift Wolfs Beschäftigung mit Kleist und Günderrode in KON auf und weist nach, dass es sich bei dieser Vorbildnahme um eine Art von identity narrative handelt.104 Ausgelöst durch die schmerzhafte Erfahrung, ohne Wirkungsmöglichkeit zu sein und nicht gebraucht zu werden, thematisiert Wolf in KON (und auch in Sommerstück) das Gefühl von Fremdheit in der eigenen Gesellschaft105 am Beispiel von Günderrode und Kleist, mit dem Ziel, ihre eigene Selbstverortung wiederzufinden, und aber auch eine Korrektur des Bildes jener Autoren vorzunehmen, die vom nationalen Erbe ausgeschlossen waren, weil bei ihnen jenes „Irrationale und Wilde“ wieder hervorbricht, was die Klassik zuvor ignoriert und stattdessen „sterile Vernunft und Humanität erklärt“ hatte.106 Somit sind Nichtzuortbarkeit des Künstlers, Unbestimmtheit, Außenseitertum und Fremdheit zentrale – moderne – Punkte in Wolfs Text, die die MayerStudentin unterstreichen und weiterführend dieses Kapitel untergliedern sollen. „Dichter sind, das ist eine Klage, zu Opfern und Selbstopfern prädestiniert.“ (GÜN 52) So lautet der Schlusssatz von Wolfs Günderrode-Essay, der wie eine Einleitung fungiert für das Sich-Hineinsenken der Erzählerin, beim Berühren einer hölzernen Sessellehne im Merten’schen Haus in Winkel am Rhein, in das Jahr 1804, in die „erwünschte Legende“,107 die Kleist und Günderrode hier zu-
104 Schmidt, Heinrich von Kleist in Christa Wolfs Kein Ort. Nirgends (2012), S. 89. 105 Vgl. Colombo, Das Drama der Geschichte bei Heiner Müller und Christa Wolf (2009), S. 189. 106 Vgl. Honnef, Kleist in der DDR (1988), S. 166. 107 Wolf, Kein Ort. Nirgends (2004), S. 11, fortlaufend KON.
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sammenbringt. Wie eine Epigonin, die durch ihre biographische Situation den beiden Helden nahe ist, „immer noch gierig nach dem Aschegeschmack der Worte“, denkt sich hinein in ihre traurigen „Vorgänger […], Blut im Schuh“ (KON 11). Das „Echo“ des „Jahrhundertealte[n] Gelächter[s]“ hallt noch nach, und die Erzählerin beschleicht der „Verdacht, nichts kommt mehr als dieser Widerhall. Aber nur Größe rechtfertigt die Verfehlungen gegen das Gesetz und versöhnt den Schuldigen mit sich selbst.“ (KON 11) Ob damit nun bereits auf den Selbstmord beider Protagonisten angespielt wird, oder die Setzung realistischer Ästhetik – Wolf gibt in jedem Falle eine Rechtfertigung ihrer Auseinandersetzung mit diesen „körperlosen Gestalten“ (KON 11), denn alle jene Möglichkeiten gehörten zum Argumentionsrepertoire, warum die Romantik oder Dichter wie Kleist als dekadent, prä-faschistisch oder allgemein krank betitelt wurden. Mit der Berührung des Möbelstücks, das eine ähnliche narrative Funktion hat wie das mykenische Löwentor in Kassandra, wird die handlungsarme Erzählung in Gang gesetzt, aus der die Erzählerin sich fortan weitgehend heraushält und sich nur durch ein repetiertes „Wer spricht?“ immer wieder selbstreflexiv einschaltet. Der Text ist weitgehend geprägt von den inneren Monologen Günderrodes und Kleists, die kunstvoll und oft kaum merklich ineinandergreifen und ebenjene Frage nach der Stimme teils schwer zu beantworten machen. Sie treffen zusammen zu einer Teerunde, deren Personal so manche bekannte Persönlichkeit der Zeit bereitstellt: Der von einem Zusammenbruch halbwegs genesene Kleist wird durch seinen Mainzer Betreuer Hofrat Wedekind eingeführt, Günderrode kommt aus Frankfurt mit den Zwillingen Paula und Charlotte Servière, aus Offenbach hat Clemens Brentano seine Schwester Bettine und seine Frau, die Dichterin Sophie Mereau mitgebracht, ferner ist das Ehepaar Nees von Esenbeck zugegen, und verspätet trifft noch das frisch vermählte Ehepaar Savigny/Brentano ein. Wie Günter Hartung hervorhebt, ist damit nicht nur eine repräsentative Gruppe der damaligen Intelligenz vertreten, sondern sie vertreten auch signifikante Haltungen zu Literatur und Leben, die im Kontext von Ideologien, die für das anbrechende kapitalistische Zeitalter typisch sind, sichtbar werden: der liberale, noch aufgeklärt tönende Geist merkantiler Ordnung (Merten), medizinischer Rationalismus (Wedekind), rücksichtsloser Optimismus der Naturwissenschaftler (Nees von Esenbeck) und Savigny als Rechtfertigung des Bestehenden.108 In diese Runde selbstbewusster, erfolgreicher Vertreter bürgerli-
108 Hartung, Christa Wolf: „Kein Ort. Nirgends“ (2007), S. 409.
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cher Gesellschaft setzt Wolf nun ihre beiden krisengeschüttelten Autoren. Günderrode als die mittellose Dichterin, die unter der unerwiderten Liebe zu Savigny leidet und als Autorin nicht ernst genommen wird, und Kleist, der, von seinem Zusammenbruch gezeichnet, den einzigen Neuzugang zur Runde darstellt und dadurch in mehrfacher Hinsicht isoliert ist. Wolf charakterisiert ihn zunächst als kränklichen, unsicheren Menschen, der von inneren Stimmen geplagt wird, die er zu unterdrücken versucht, mit der angeborenen „Unart, immer an Orten zu sein, wo ich nicht lebe, oder in einer Zeit, die vergangen oder noch nicht gekommen ist.“ (KON 19) In einen Traum Kleists – ähnlich des nagenden Vogels in Schlesingers Felgentreu – wird durch einen Eber eine Wildheit, die in ihm tobt, abgebildet, die er aber abtöten muss, gleichzeitig plagt ihn das Bedürfnis, seine innersten Geheimnisse preisgeben zu wollen. (KON 30) Diese Zerrissenheit ist ihm bewusst, und somit weiß er, dass er nur scheitern kann: Es kann doch nur heißen [d.h. der Traum mit dem Eber, SE], dass er immer wieder vor dem gleichen Zwiespalt steht, der ihn ängstigt: Er hat die Wahl – falls das eine Wahl zu nennen ist –, das verzehrende Ungenügen, sein bestes Teil, planvoll in sich abzutöten oder ihm freien Lauf zu lassen und am irdischen Elend zugrunde zu gehn. (KON 31)
Kleist zieht das gesellschaftliche Scheitern vor, obwohl er zur Zeit der Erzählung selbst noch an seinem Scheitern an seinem Drama Robert Guiskard leidet. In dieser Alternativlosigkeit, weder in die Gesellschaft noch in die Kunst zu passen, wird Kleist zu einem radikalen Idealisten, sowohl ästhetisch als auch politisch. In dieser Funktion sind Günderrode und Kleist frühe Verkörperungen eines Künstlertypus, der in der kapitalistischen Ordnung keinen Platz mehr findet. Wolf, als Marxistin, sieht in dieser Zeit die historisch-materialistischen Anfänge der Exklusion der Kunst aus der Gesellschaft, für die sie zwei Faktoren benennt: „Das ‚weibliche Element‘ ist in den Industriegesellschaften sowenig vorhanden wie das ‚geistige Element‘: auf die lebenswichtigen Prozesse haben weder Frauen noch Intellektuelle Einfluss.“ (PRO 437) Jene beiden Elemente, durch Kleist und Günderrode repräsentiert, fallen nach Wolfs Ansicht in dieser Zeit zum ersten Mal aus der Zeit heraus und fungieren somit als Prototypen jenes Problems, das Wolf für sich selbst als Autorin in der DDR beansprucht. „Die Utopie ist vollständig aufgezehrt“ (GÜN 9), heißt es an anderer Stelle. Der ökonomische Fortschritt und die Arbeitsteilung machen Schreibende gesellschaftlich wirkungslos und stehen einem ganzheitlichen Lebensentwurf entgegen. Wolf füllt die inneren Monologe und Dialoge der Teegesellschaft mit authentischen Zitaten ihrer Protagonisten und führt damit vor, dass sie sich damit eigentlich nur den historischen Figuren nähert. Dennoch, abgesehen vom unhistorischen Rahmen,
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ist nicht nur die Auswahl ihrer Zitate oft bezeichnend, sondern geht es oftmals über die Selbstzeugnisse deutlich hinaus. Schmidt weist darauf hin, dass der Wolf’sche Kleist in KON an mehreren Stellen zu einem Sprachrohr einer Staatskritik und zum Träger einer moralischen Sicherheit wird, die dem historischen Kleist und seinem Werk oft fehlen.109 Kleist, den Wolf als ruhmsüchtig und ehrgeizig bezeichnet, formuliert im Streitgespräch Thesen, die stark an Wolfs Kategorisierung erinnern: Die Wege von Wissenschaft und Kunst haben sich getrennt, so redet er, lahm genug. Der Gang unserer heutigen Kultur geht dahin, das Gebiet des Verstandes mehr und mehr zu erweitern, das Gebiet der Einbildung mehr und mehr zu verengen. Fast kann man das Ende der Künste errechnen. (KON 68)
Damit wird der Riss zwischen Künstler und Gesellschaft, den Wolf zur Zeit der Biermann-Ausbürgerung empfindet und den Dresen am DT bereits thematisiert hatte, im historischen Kleist identifiziert und elaboriert, und die Künste werden moralisch über den utilitaristischen und repressiven Staat gestellt:110 Ein Staat kennt keinen andern Vorteil, als den er nach Prozenten errechnen kann. Die Wahrheit will er nur insoweit kennen, als er sie gebrauchen kann. Er will sie anwenden. Und worauf? Auf Künste und Gewerbe. Aber die Künste lassen sich nicht wie die militärischen Handgriffe erzwingen. Künste und Wissenschaften, wenn sie sich nicht selbst helfen, so hilft ihnen kein König. […] Solche Meinungen Kleist! Brentano, bestürzt. Wem wollen Sie die in Ihrem Berlin denn vertrauen! Niemandem, sagt Kleist. […] Da ich mich auf List und Verschmitztheit schlecht verstehe, habe ich schweigen gelernt. Eine schwere, doch lohnende Kunst. (KON 61)
Kleists Resignation, die ihm die Erkenntnis seiner Wirkungslosigkeit und Unfähigkeit zur völligen gesellschaftlichen Integration einbringt, macht ihn einerseits zum Radikalen, andererseits befreit es ihn aber auch von der Bindung an die Realität und bringt ihn hin zum titelgebenden Utopischen, als letzter Zuflucht. Kleists vor-kantischer Bildungsbegriff, wie Schmidt es formuliert, „wird hier reaktualisiert für ein Insistieren auf einer Gesellschaftsutopie, die als Kritik am real existierenden Sozialismus fungiert. Diese Kritik aber speist sich aus den glei-
109 Vgl. Schmidt, Heinrich von Kleist in Christa Wolfs Kein Ort. Nirgends (2012), S. 92. 110 Ebd., S. 92.
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chen Quellen wie der implizit kritisierte Marxismus und hält, wie der Marxismus, am Konzept der teleologischen Entwicklung fest.“111 Somit reflektiert Wolf zwar ihre eigene Kritik und ihre eigene Zerrissenheit in ihrer Kleistfigur und verklammert ihre eigene Befindlichkeit als Außenseiterin in der DDR des späten 20. Jahrhunderts, deren humanistische Einwände von einer repressiven Gesellschaft nicht gehört werden, mit der supponierten Ambivalenz Kleists gegenüber der preußischen Gesellschaft Anfang des 19. Jahrhunderts.112 Andererseits ist Wolfs Anliegen kein reines Leiden an der Situation, sondern die persönliche Parallelität der Geschichte, die sie in KON herstellt, soll einen produktiven Prozess darstellen, um ihre Krise und damit eine repräsentative Künstlerkrise in der DDR, zu überwinden, und ein Angebot für andere zu machen. Deswegen ist dies nicht nur identity narrative, sondern auch eine dialektische subjektiv-authentische Grundlagenstudie zu den Problemen der Gegenwart, deren Anfänge Wolf in der Umbruchszeit von feudaler zu bürgerlichkapitalistischer Gesellschaft sieht. Diese bedeutet gleichzeitig auch den Beginn von Wolfs Projekt der weiblichen Mythenkorrektur, die sie vor allem in ihren Werken Kassandra und Medea.Stimmen ausformuliert hat, nämlich durch das Rekonstruieren der verloren gegangenen weiblichen Stimme in der Geschichte zu ergründen, warum Männer und Frauen in Industriegesellschaften nicht mehr zusammenleben können. Wie Teupe hervorhebt, sind für Wolf zwei Aspekte von Romantik wichtig: Die Nichterfüllung politischen Potentials für eine menschenwürdigere Gesellschaft, was durch die Kleist-Figur angesprochen wird, und die Rolle der Frau, für die Günderrode einsteht.113 Denn mit ihrer Autorschaftskrise vertieft sich Wolf auch in ihre Suche nach Lösungsansätzen, um das „weibliche Element“ in die Industriegesellschaft zurückzuführen. In der Krisensituation nach 1976 wird dieses Problem akut, da Wolf in den gesellschaftlichen Problemen, von denen sie selbst betroffen war, inhumane Hemmnisse für die Selbstbestimmung und -verwirklichung identifizierte und sich fragte, ob dies nicht Relikte patriarchalischer Verhältnisse und Verhaltensweisen seien, die von den ökonomischen Zwängen, unter denen der reale Sozialismus stand, ungewollt aktiviert wurden. Wolfs humanes Ideal, wie Hartung
111 Ebd., S. 94. 112 Vgl. ebd., S. 95. 113 Teupe, Kein Ort. Nirgends als Paradigma der DDR-Literatur der siebziger Jahre (1992), S. 225.
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formuliert, würde aber eine „Selbstverwirklichung einschließen, da das Ideal des Menschen nicht der Mann, sondern Mann und Frau ist, dass auch die Männer sich vom Patriarchat emanzipieren müssen und dass ihnen dabei keiner so helfen kann wie die Frau […]“,114 die parallel dazu ihre Stimme findet. Dieses Argument wird in beiden Penthesilea-Inszenierungen 1978 und 1986 (Kapitel 3) auftauchen. Wolf selbst arbeitete allerdings nicht mit einer so klaren Dichotomie. In den 70er Jahren gehen die Wurzeln der Probleme des ungleichen Verhältnisses von Mann und Frau in Wolfs marxistischem Geschichtsverständnis auf die Anfänge der bürgerlichen Gesellschaft zurück, was sie vier Jahre später dann in Kassandra bis in die Antike zurückverfolgen wird.115 Bereits im GünderrodeEssay formulierte sie eine ihrer Kernaussagen: „Drei Männer haben in ihrem Leben eine Rolle gespielt […] – drei Varianten der gleichen Erfahrung: Was sie begehrt, ist unmöglich. Dreimal erfährt sie das Unleidlichste: Sie wird zum Objekt gemacht.“ (GÜN 19) Das Objektmachen von Frauen durch Männer wird anhand von Günderrode zentral als Problem für die „unlebbare“ Situation von Frauen thematisiert und in verschiedenen Werken wird Wolf fortan sich der Subjektwerdung widmen (Kapitel 3). Was sie an Frauen wie von Arnim oder Günderrode fasziniert, ist die Pionierarbeit, die sie geleistet haben: Frauen, in diesen wenigen Jahren, einer Lücke zwischen zwei Zeitaltern, plötzlich aus ihren Schablonen herausgefallen – auch aus den Schablonen, ihr Geschlecht betreffend – schließen eine Art Bündnis, sie gesund zu machen. Die Zeichen, die sie geben, können erst jetzt wieder bemerkt, aufgenommen und gedeutet werden. […] ich weigere mich, es einen Zufall zu nennen, dass gerade unter Frauen die Übel der Zeit derart kompromisslos zur Sprache gebracht werden. […] Merkwürdige Verdrehung: In totaler Abhängigkeit wächst ein vollkommen freies, utopisches Denken, eine „Schwebereligion“. (GÜN 29)
Wolf sieht sich also auch hier in einer historisch vergleichbaren Situation und will die historische Problematik nutzen, um Lösungen für ihre Gegenwart zu finden. Wie auch im politischen Diskurs der Künstlerrolle ist dies eine konstruktive, dialektische Kritik am Sozialismus. Denn wie Teupe bemerkt, war Wolf der Ansicht, dass die sozialistische Gesellschaft das Potential hat, die Sehnsüchte von Frau und Mann nach einem Zusammenleben ohne Entfremdung zu ermöglichen, bisher aber versagt hatte, es zu verwirklichen.116 Hier kommt auch das utopische Denken, das sie den Romantikerinnen nahelegt, ins Spiel, denn ganz im
114 Ebd. 115 Ebd., S. 225. 116 Vgl. ebd., S. 5.
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Sinne Ernst Blochs, der in KON auch zitiert wird, sieht Wolf die Utopie als eine Kritik an der Gegenwart, da sie auf die realen Möglichkeiten einer zukünftigen Gesellschaft hinweist. Damit wiederspricht sie der offiziellen DDR-Ablehnung des Utopie-Konzepts, die im Sozialismus und damit in sich selbst den ersten Schritt zum Kommunismus bereits verwirklicht sah und die Utopie somit für anachronistisch hielt. Herausgefallene aus Rollenschablonen sind Kleist und Günderrode in KON somit beide, was sich vor allem in der beiden Figuren anhaftenden Uneindeutigkeit niederschlägt. Als hassliebender Kommentar zu Goethe, der stets auf „Ausgleich bedacht sei“ (KON 72), erkennt Kleist plötzlich, was ihn von Goethe unterscheidet, was ihn ausmacht: Ich kann in gut und böse die Welt nicht teilen; nicht in zwei Zweige der Vernunft, nicht in gesund und krank. Wenn ich die Welt teilen wollte, müsst ich die Axt an mich selber legen, mein innerstes spalten, dem angeekelten Publikum die beiden Hälften hinhalten, dass es Grund hat, die Nase zu rümpfen: Wo bleibt die Reinlichkeit. Ja, unrein ist, was ich vorzuweisen habe. Nicht zum Reinbeißen und Runterschlucken. Zum Weglaufen, Günderrode. (KON 72)
In diesem Zitat spiegelt sich nicht nur Kleists Zerrissenheit wider, sondern es ist auch erneut ein Plädoyer für eine differenzierte Annäherung an den viel geschmähten Autor, und ein direkter Angriff gegen die Ideologen Mehring und Lukács, wobei sie ganz im Geiste ihrer dialektischen Lehrer Seghers und Mayer argumentiert. Diese Verunglimpfung – obwohl kulturpolitisch eigentlich überwunden – scheinen die Autoren dieser Zeit von Kleist auf sich selbst übertragen zu haben. Die Zerrissenheit und Uneindeutigkeit liegt aber in der Konstruktion der Geschlechterrollen, die Wolf Kleist und Günderrode zuschreibt. Wie auch Hilda Brown hervorhebt, sind beide Protagonisten in KON als Androgyne dargestellt.117 Wolf bescheinigt nicht nur Günderrode, dass sie „sich in mehrere Personen [spaltet], darunter einen Mann.“ (GÜN 51), sondern auch Kleist fällt es zunächst schwer, ein treffendes Attribut für sie zu finden: „Dame. Mädchen. Weib. Frau. Alle Benennungen gleiten von ihr ab. Jungfrau, lächerlich, beleidigend sogar […]. Jünglingin. Kurioser Einfall, weg damit. Kleist unterdrückt das Wort, das ihm zu passen scheint. Dem Widerwillen gegen Zwitterhaftes geht er nicht auf den Grund.“ (KON 23) Der kuriose Einfall liegt eventuell darin begründet, dass Kleist seine Schwester Ulrike, für die sich Günderrode sehr interessiert, ei-
117 Brown, Christa Wolfs Kleistbild (1995), S. 175f.
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nem ähnlichen Urteil unterzieht. Brown sieht darin die sexuelle Repression Kleists: Ein Ödipus-Komplex mit Ulrike, die ihm die Mutter ersetzt, und das inzestuöse sexuelle Verlangen Ulrikes nach ihm.118 In Kleists innerem Monolog wird dies auf beide bezogen: „Er nicht ganz Mann, sie nicht ganz Frau… Was heißt denn das. Geschwisterliebe, über die das Menschenwesen die Hände hält. Duldet, indem es nicht wahrnimmt, was in abgrundtiefer Stummheit das Blut da treibt.“ (KON 80) Bei diesen Ausführungen stützt Wolf sich fast vollständig auf Kleists Briefe. Dennoch ist die Auswahl der Zitate der prägnante Aspekt von Wolfs Darstellung.119 Denn Wolf lässt sämtliche Stellen aus, an denen er, oft im Zusammenhang mit seiner Verlobten Wilhelmine von Zenge, ein äußerst problematisches Frauenbild an den Tag legt, das in exakt jene patriarchalische Kategorie fällt, die Wolf überwinden möchte. Stattdessen projiziert Wolf diese Widersprüchlichkeit Kleists psychoanalytisch modern auf seine eigenen gender troubles, die sich darin manifestieren.120 In der Tat finden sich in KON zahlreiche Anspielungen, die aber stets ungelöst bleiben: Jetzt schweigt der Mann. Soll eine Frau so sprechen? Was zwingt ihn denn, mit dieser hier, die er ein einziges Mal in seinem Leben sieht, über die Bestimmung ihres und seines Geschlechts zu reden? Über seinen verborgensten Selbstzweifel, sein peinlichstes Versagen? Der Punkt, der unaussprechlich bleibt? (KON 80)
An einer späteren Stelle zitiert sie Kleists „fortdauernd kränklichen Zustand seines Unterleibs, der sein Gemüt angreife und ihn bei allen Geschäften […] auf die sonderbarste Art ängstige.“ (KON 92f.) Ob Wolf damit auf physische Leiden, eine mögliche Homosexualität, ein inzestuöses Verhältnis zu seiner Schwester oder allgemein vermutet, dass Kleist nie eine sexuelle Beziehung hatte – seine uneindeutige, zwitterhafte, von der Norm abweichende sexuelle Identität spielt in Wolfs Kleistfigur eine wichtige Rolle, da dieses Abweichen auch ein Abweichen von patriarchaler Struktur ist, die ein ebenso normatives Männlichkeitsbild vorgibt. Das Herausfallen aus Geschlechtskonventionen ist ein Punkt, in dem Günderrode und Kleist sich treffen, ein Konflikt, den sie teilen. So kann Günderrode, die im Text stets analytischer die Situation durchschaut als der verunsicherte Kleist und deren Verhältnis zur Jugendfreundin Lisette von Wolf mit stark homophilen Anklängen geschildert wird (KON 62f.), für beide zusammenfassen:
118 Ebd., S. 177. 119 Ebd., S. 173f. 120 Vgl. Schmidt, Heinrich von Kleist in Christa Wolfs Kein Ort. Nirgends (2012), 99f.
166 Manchmal, sagt Kleist – irgend etwas an dieser Frau entzieht ihm wie ein Magnet die angreifbarsten Geständnisse –, manchmal ist es mir unerträglich, dass die Natur den Menschen in Mann und Frau aufgespalten hat. Das meinen Sie nicht, Kleist. Sie meinen, dass in Ihnen selbst Mann und Frau einander feindlich gegenüberstehn. Wie auch in mir. (KON 88)
Vermutlich bezeichnet Kunert Kleist und Günderrode deswegen als „Zweige vom selben Stamm“, auch wenn sie trotz seelischer und geistiger Nähe die „konventionsbedingte Barriere zwischen sich“ nicht überwinden können.121 Beide scheitern an der Realität, aber haben die Anlagen, die Wolf interessieren, und als jene Vertreter der Zwischenzeit, in der sie sich in der sich herausbildenden sozialistischen Gesellschaft auch sieht, sind „Vorläufer in der Dichtung […] fast immer auch die Vorempfinder einer Angst, die später über viele kommt.“122 Wichtig bei der Untersuchung, wie Wolf ihre beiden Vorgänger darstellt, ist auch die Frage, wie sie sich selbst als Autorin und Erzählerin innerhalb des Textes in Bezug zu Kleist und Günderrode setzt. Denn Wolf stellt durch verschiedenste stilistische Mittel auch in einem historisierenden Text wie KON sicher, dass ihr Konzept der subjektiven Authentizität als Gegenwartsautorin zum Tragen kommt, und dass die Schlüsselthemen von Fremdheit, Unbestimmtheit, Nichtzuortbarkeit und Selbstverortung des Künstlers nicht nur auf ihre Protagonisten zutreffen, sondern auch auf sie selbst als deren Schöpferin. Für Teupe ist KON bewusst als „offener Diskurs“ angelegt.123 Dabei setzt Wolf nicht nur zahlreiche Erzähltechniken der Moderne ein, die im sozialistischen Realismus verpönt waren, wie Montagetechnik, Monologe und unzuverlässige Erzählweise, sondern die Diskussion um Rezeptionstheorie, die in den 70ern auch in der DDR stattfindet, schlägt sich ebenfalls in KON nieder. Teupe argumentiert, dass die durch das permanente Verschmelzen der Erzählperspektiven erzeugte Mehrdeutigkeit und Offenheit der Gedanken im Text einen Diskurs einleiten sollen, der die Rezipienten zum Mitdenken anregen soll, welche am Ende des Textes in der „Wir“-Perspektive auch mitgedacht seien.124
121 Drescher, Christa Wolf. Ein Arbeitsbuch (1989), S. 157. 122 Wolf, Büchner-Preisrede, zitiert nach Teupe, Kein Ort. Nirgends als Paradigma der DDR-Literatur der siebziger Jahre (1992), S.177. 123 Ebd., S. 111. 124 Ebd.
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Die Montagetechnik und die inneren Monologe nutzt Wolf einerseits, um die authentischen Zeugnisse ihrer beiden Protagonisten in ihren eigenen Text einzubauen und deren Aussagen damit nicht zu verfälschen, andererseits wurde bereits auch darauf eingegangen, dass Wolf die Zitate so auswählt, wie sie sie aus ihrer historischen Perspektive interpretiert. Diese dialektische Moderne, die in diesen Werken in der DDR nachgeholt wird, zeigt im Fall Wolfs eine deutliche Distanzierung vom Realismus und von Lukács‘ Widerspiegelungstheorie, da es keine klare Erzählperspektive gibt und die handlungsarme Erzählung auch keine oberflächliche Figurenentwicklung zulässt.125 Dass deren Zeitkritik an manchen Stellen aber auch bewusst und konkret eine doppelbödige Aussage zur gesellschaftlichen Realität der DDR darstellen soll, daran lässt Wolf keinen Zweifel, indem sie prägnante Stellen mit der Frage entschlüsselt: „Wer spricht?“ Die Frage, die mehrfach über den Text verteilt ist, und oft durchaus süffisant und berechtigt ist, da man als Leser_in oft nicht genau weiß, wessen Rede man gerade liest, fungiert an Schlüsselstellen als eindeutige Markierung, dass sich hier Wolf als Erzählerin einschaltet.126 In diesem Falle erlangen Stellen wie die nachfolgende, die Kleist zugeordnet ist, eine besondere Prägnanz: Die Ideen, die folgenlos bleiben. So wirken auch wir mit an der Aufteilung der Menschheit in Tätige und Denkende. Merken wir nicht, wie die Taten derer, die das Handeln an sich reißen, immer unbedenklicher werden? Wie die Poesie der Tatenlosen den Zwecken der Handelnden immer mehr entspricht? Müssen wir, die wir uns in keine praktische Tätigkeit schicken können, nicht fürchten, zum weibischen Geschlecht der Lamentierenden zu werden, unfähig zu dem kleinsten Zugeständnis, das die alltäglichen Geschäfte einem jeden abverlangen, und verrannt in einen Anspruch, den auf Erden keiner erfüllen kann: Tätig zu werden und dabei wir selber zu bleiben? Wer spricht? (KON 94)
Durch diese Frage macht Wolf immer wieder klar, dass dies keine singulären Probleme einer vergangenen Zeit sind, sondern Fragen, die sich die Autorin im Jahre 1977 auch selbst stellt, und die sie an ihre Leserschaft zum Nachdenken weiterleitet.127 Die Subjektivität ihrer Erzählweise und ihrer Protagonisten, wie
125 Ebd., S. 116. 126 Ich spreche von Wolf als Erzählerin, da sie selbst mehrfach betont hat, dass die Erzählstimme ihre eigene sei. Vgl. Brown, Christa Wolfs Kleistbild (1995), S. 170. 127 Einen ironischen Seitenhieb, obwohl es keine Zeugnisse gibt, dass Wolf sich darauf bezieht, stellt die Frage „Wer spricht?“ auf die literaturwissenschaftliche Debatte hin dar, die Roland Barthes mit seinem Buch Der Tod des Autors (1967) ausgelöst hatte.
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Teupe argumentiert, ist dabei das „Bindeglied, da es das Thema der Stellung der Kunst und des Künstlertums in einem unflexiblen gesellschaftlichen System aus einer Perspektive behandelt, die für die marxistische Literaturwissenschaft immer suspekt ist.“ Eine Integration von Leben und Schreiben ist nicht möglich, da sich die Schriftsteller und Vertreter der bürgerlichen Gesellschaft mit Unverständnis gegenüberstehen. Gleichzeitig leiden die Künstler aber an dieser Situation, da sie nun einmal nicht isoliert von dieser Gesellschaft sind, ob sie es wollen oder nicht.128 Die Gespräche in KON drehen sich um die Diskrepanz zwischen anzustrebendem Ideal und bestehender Realität, und sind damit auch ein Ausdruck Wolfs eigener Desillusionierung über die Entwicklung der DDR, die sie selbst überwinden möchte. Günderrodes ganzheitlicher Lebensansatz als Frau, der im Widerspruch zur Arbeitsteilung und naturwissenschaftlichem Nischenwissen steht, und Kleists Zwiespalt, völlig Künstler und gleichzeitig Bürger sein zu wollen, sind Probleme, die Wolf der sozialistischen Gesellschaft bewusstmachen will. Wie Schmidt betont, ist ihr Kleist einerseits politisches Sprachrohr, andererseits aber auch die Reflexionsfläche der innerpsychischen Konflikte im Künstler: soziales Außenseitertum, innere Zerrissenheit, Einsamkeit und Empfindsamkeit verbinden Wolf und Kleist im Topos der mangelnden sozialen Wirkung ihres künstlerischen Anspruchs.129 Dies fasst Wolf in den Komplexen „unlebbare Existenz“ und „Zusammenbruch der Alternativen“ zusammen: Meine Erfahrung ist, dass die Alternativen, in denen wir leben, eine nach der anderen zusammenbrechen und dass immer weniger wirkliche Lebensalternativen übrigbleiben. […] Um Missverständnisse auszuschließen: Es ist meine grundlegende Lebensform, in Widersprüchen zu leben – das wäre nichts, was ich negativ finde oder je gefunden habe. […] Jetzt scheint mir, dass es immer weniger produktive Widersprüche gibt und dass die Zahl der unproduktiven Widersprüche und der unlebbaren Alternativen zunimmt. (PRO 441)
Dort stellt er gleich zu Beginn in einer Textanalyse die Frage „Wer spricht hier?“, um letztendlich zu dem Ergebnis zu kommen, dass der Autor für den Text keinerlei Bedeutung hat. Michel Foucault greift die Frage in Was ist ein Autor? (1969) auf und schreibt sie Nietzsche zu. Mittlerweile hat die Frage beinahe den Status eines Schlachtrufes für Dekonstruktivisten. Sollte Wolf darauf anspielen, so macht sie sehr deutlich, dass sie als Autorin sehr wohl präsent und lebendig in ihrem Text ist. 128 Teupe, Kein Ort. Nirgends als Paradigma der DDR-Literatur der siebziger Jahre (1992), S. 220. 129 Vgl. Schmidt, Heinrich von Kleist in Christa Wolfs Kein Ort. Nirgends (2012), S. 95.
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Wolf will mit KON somit auf einen Missstand aufmerksam machen, den sie in der DDR feststellt und der unter dem Eindruck ihrer Krise verstärkt wurde. Wenn sie in ihrem Bettine-Brief ausführt, dass „ein gut durchorganisierter Staats- und Sicherheitsapparat jede freiere Regelung der Gesellschaft [erstickt]“, dann stellt sie das als historisches Problem fest und fordert die DDR Gesellschaft auf, dies besser zu machen, und die Literatur fängt an: „Wie immer, wenn die öffentliche politische Diskussion unterdrückt wird, reiben sich die verschiedenen Meinungen und Parteien ersatzweise an der Literatur.“ (PRO 378) Kleist und Günderrode als historische Personen bleiben in ihrer unlösbaren Situation gefangen, ihre Ideale bleiben Utopie. Diesen Zustand will Wolf überwinden. Denn Wolf glaubt an den Sozialismus, und trotz allem, was sie in der DDR erlebt und was sie vor allem in den 70er Jahren erfahren musste, hält sie an dieser Gesellschaftsform fest. Dabei ist sie geprägt vom Denken des marxistischen Philosophen Ernst Bloch, dessen Vorlesungen sie besuchte, und seinem Werk Das Prinzip Hoffnung (1959), aus dem Wolf auch ein Zitat in KON Kleist in den Mund legt.130 Bloch schreibt darin auch über die Utopie, deren Anlass stets das Erlebnis eines reduzierten Lebensgefühls sei und Anlass zur Kritik an der Gegenwart gebe, die auf eine mögliche, bessere Zukunft verweist. Obwohl die Utopie in der DDR offiziell als anachronistisch galt, da, wie Teupe aus dem Wörterbuch des Marxismus-Leninismus zitiert, „der wissenschaftliche Sozialismus das Ende der Utopie bedeutet und diese daher im Sozialismus ihre eigentliche Dimension verloren hat“131, hält Wolf an den Utopien fest, auch wenn Bloch mittlerweile in der DDR in Ungnade gefallen war. Bereits in einem Interview zu Nachdenken über Christa T. sagt sie: Eines meiner Hauptprobleme […] ist die Bewahrung – oder Erneuerung – des utopischen Elements in der Literatur. Es freut mich, dass Ihre Methode dazu führt, eben diesen Elementen nachzugehen, „Scheitern“ nicht als „Scheitern“ zu interpretieren, wie die meisten Rezensenten, sondern die Hoffnung aufzugreifen, die in einem solchen Ende liegt.132
130 „Wenn wir zu hoffen aufhören, kommt, was wir befürchten, bestimmt.“ KON 103. 131 Teupe, Kein Ort. Nirgends als Paradigma der DDR-Literatur der siebziger Jahre (1992), S. 256. 132 Ebd., S. 254.
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Diese Aussage kann auch für KON, wo Utopie ja sogar den Titel stellt, fast wörtlich gelten. Wolf schreibt über das Scheitern, um darüber wieder produktiv zu werden, und so gibt es auch in KON utopische Momente, die als Lösungsansätze für die Gegenwart gelten können. Denn im Freien,133 außerhalb der Teegesellschaft, bei einem Spaziergang am Rhein, kommen sich Kleist und Günderrode endlich näher und die psychische Zerrissenheit, die bei beiden Protagonisten in Selbstmord kulminierte, wird für einen kurzen Augenblick in eine „utopische Seelenverschmelzung zwischen Kleist und Günderrode [,] in Harmonie überführt.“134 Auch in ihrer Anrede vollzieht sich dieser Prozess, wenn aus er und sie plötzlich du und am Ende sogar wir wird, vollzieht sich ein polyphones Zusammenlaufen der verschieden Themen. Sie werden sich beide ihrer ausweglosen Situationen bewusst. Kleist fühlt „Erleichterung, als er die Hoffnung auf eine irdische Existenz, die ihm entsprechen würde, aufgab.“ (KON 90) und sie konstatieren für sich, sie seien „[b]is auf den Grund verschieden. Vom Grund her einander ähnlich. Frau. Mann. Unbrauchbare Wörter. Wir, jeder gefangen in seinem Geschlecht.“ (KON 91) In dem Moment, wo Kleist sich seiner Zerrissenheit als Folge seiner Ruhmsucht, Misserfolge und Selbstüberschätzung bewusstwird und auf Günderrode trifft, die an der Unmöglichkeit leidet, sich handelnd hervorzutun, können sie sich treffen und eine Zukunft schaffen. Aber das bleibt Hypothese und beide können nur noch lachen:135 Ohne Anlass beginnt sie auf einmal zu lachen, erst leise, dann laut und aus vollem Hals. Kleist wird angesteckt. Sie müssen sich an einander halten, um vor Lachen nicht umzusinken. Näher sind sie sich nie als in dieser Minute. (KON 98)
Hartung betont, dass beide sich zum Schluss ihres gemeinsam-unterschiedlichen Dichterberufs bewusstwerden und ihr Schicksal ohne Hass auf sich nehmen können. Deshalb können sie lachen, auch wenn sie diese Freiheit nur noch nutzen können, um in den Tod zu gehen.136 Dies erinnert thematisch auch an Schlesingers Vogel und Kleist in Felgentreu. Schmidt interpretiert es gemeinsam mit dem „jahrhundertealten Gelächter“, das die Erzählerin zu Beginn vernimmt, als
133 Ich greife hierbei Roland Reuß‘ Titel (2010) auf, da die utopischen Momente, in denen die Gesellschaft ausgeblendet werden kann, bei Kleist sich oft in der Natur abspielen, eben im Freien. 134 Schmidt, Heinrich von Kleist in Christa Wolfs Kein Ort. Nirgends (2012), S. 102. 135 Vgl. Honnef, Kleist in der DDR (1988), S. 170. 136 Vgl. Hartung, Christa Wolf: „Kein Ort. Nirgends“ (2007), S. 412.
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„Manifestation der subjektiv empfundenen Wirkungslosigkeit des Künstlers“.137 Doch dieses Gelächter ist auch ein Zeichen der Hoffnung. Nicht nur gibt Wolf ihren beiden Protagonisten eine Aussöhnung mit dem geplagten Selbst, sondern sie zeigt auch eine potentielle Lösung für die Probleme in ihrer Zeit durch die erfolgreiche Annäherung von Kleist und Günderrode, auch wenn sie nur kurz anhält. Denn beide verfügen über die Anlagen, den Riss zwischen Frau und Mann, zwischen Künstler und Gesellschaft zu überwinden. Wie Honnef ausführt, liegt für Wolf die Heilung des Risses in der Gesellschaft in der Annäherung der Geschlechter, um gemeinsam lebbare Umstände hervorzubringen.138 Es ist dadurch kein feministisches Projekt, sondern ein humanes, durch das Hinzufügen der weiblichen Stimme, die verloren gegangen ist. Weil Günderrode und Kleist beide sich durch Unbestimmbarkeit auszeichnen und aus den patriarchalen Strukturen herausfallen, qualifizieren sie sich für dieses Projekt und können sich als Mann und Frau einander annähern, und dies ist die Chance, die Wolf für das Zusammenleben in modernen Industriegesellschaften sieht, und gleichsam die Antwort, die sie auf die Frage Johannes R. Bechers, „Was ist das, dieses Zusich-selber-Kommen des Menschen?“, als Lösungsansatz gibt. Kleist und Günderrode bleibt der Weg des Sich-frei-Schreibens, während Wolf, schreibend, aus diesem Fall lernen will. Ihre Protagonisten drücken die Zweifel der Autorin an ihrer Zeit aus, doch der Text stellt sich als offener Diskurs dar, der zur Überwindung dieses Zustands einladen soll.139 Insofern ist KON nicht nur eine „Selbstrettung“ (PRO 43) für Wolf, sondern eine Gesellschaftskritik, die sich dafür einsetzt, „in fließenden Übergängen zu denken“ und eine „Abwehrhaltung gegen schwarz-weiß-Denken in der DDR“ einnimmt. (PRO 450) Wolf reflektiert ihre persönliche Krise und nimmt ihr Schreiben als einen Selbstprozess wahr, den sie überwinden muss, und stellt diese Erfahrung der Gesellschaft zur Verfügung, um das Projekt des Sozialismus voranzubringen, als Ausdruck ihres Selbstverständnisses als Autorin im Sozialismus. Dabei nutzt sie Kleist und Günderrode und verklammert an diesen beiden Persönlichkeiten ihre eigene Befindlichkeit einer Außenseiterin in der DDR mit der supponierten Ambivalenz Kleists gegenüber der preußischen Gesellschaft und Günderrode Handlungsohnmacht in der männlich dominierten Welt.140 Sie sieht dies als konstruktive Kritik an der DDR und als Neuverortung für sich selbst als Autorin in
137 Schmidt, Heinrich von Kleist in Christa Wolfs Kein Ort. Nirgends (2012), S. 95. 138 Vgl. Honnef, Kleist in der DDR (1988), S. 170. 139 Vgl. Teupe, Kein Ort. Nirgends als Paradigma der DDR-Literatur der siebziger Jahre (1992), S.186f. 140 Vgl. Schmidt, Heinrich von Kleist in Christa Wolfs Kein Ort. Nirgends (2012), S. 95.
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der DDR, ohne jedoch, wie Schmidt betont, „die utopisch-teleologische Basis des sozialistisch-geschichtsphilosophischen Denkens aufzugeben.“141 Denn, wie sie 1968 in Lesen und Schreiben festhielt: „Der Autor […] lässt sich nicht in eine Außenseiterposition drängen. Der Autor nämlich ist ein wichtiger Mensch.“ (LUS 496) Gleichsam ist es eine literaturtheoretische Neupositionierung gegen einen einseitigen und normativen Literaturbegriff. Kleist und Günderrode gehen schließlich auseinander, die Welt hüllt sich in Schweigen und der Tag neigt sich dem Ende zu. Beide werden ihren Platz nicht mehr finden, beide gehen freiwillig in den Tod. Doch für Wolf bleibt die Hoffnung, dass sich die Gesellschaft noch zum Besseren entwickeln kann. „Wir wissen, was kommt.“ (KON 99) Wolf, wie auch Kunert und Schlesinger, nutzt Kleist als einen Krisenautor, um die persönliche Autorschaftskrise und die gesellschaftliche Krise zu externalisieren, einer dialektischen Autopsie zu unterziehen und, in Textform, der Leserschaft als Spiegel vorzuhalten. Dabei ist Wolfs Text der subjektivste und intimste. Gleichzeitig sind dies die zentralen Kulturbedenken bezüglich des utopischen Zu-sich-selber-Kommens des Menschen, die auch im Drama und Theater thematisiert werden. Kleist als pathologischer Autor der 70er Jahre ist somit gattungs- und medienübergreifend, wie in Teil II ausgeführt wird.
141 Ebd., S. 104.
$ " ! Die Feierlichkeiten im Rahmen des 200. Geburtstages im Jahre 1977 stellten den großen staatlich-offiziellen kulturpolitischen Pol der Kleist-Rezeption der 70er Jahre dar, der Kleist ins Zentrum vieler Debatten rücken sollte. Wenn man die Feierlichkeiten rein oberflächlich betrachtet, so stellt sich der Eindruck ein, als wäre seit 1961 eigentlich in der öffentlichen Wahrnehmung Kleists kaum etwas passiert. Im Großen und Ganzen sind die Planungen für die Ehrungen identisch, nur, dass 1977 mehr Geld zur Verfügung stand, um auch verschiedene Punkte, die 1961 nicht umgesetzt wurden, zu realisieren.1 Vor allem drei wesentliche Unterschiede sind zu beobachten: Einerseits die wachsende Bedeutung des Fernsehens, das die Theaterbesuche drastisch einbrechen ließ und ein Umdenken von den drei ursprünglichen Kultursäulen Literatur, Theater und Film bedeutete. 1977 gibt es in der Tat auch Fernsehbeiträge über Kleist. Der zweite Punkt ist die stärkere internationale Ausrichtung der DDR. Seit beide deutsche Staaten 1973 den UN beitraten, versuchte sich die DDR auch auf internationaler Ebene zu präsentieren, auch dies würde die Kleist-Ehrung tangieren. Der dritte Punkt stellt den wesentlichen Unterschied zu 1961 dar, nämlich die Forderung von verschiedenen Seiten, nach der ideologischen Perspektiveinschränkung der Anfangsjahre sich nun dem „ganzen“ Kleist zu stellen und die kritische Aneignung voranzutreiben, wie es Goldammer bereits in seinem Vorwort zu Schriftsteller über Kleist vorbereitet hatte. Auch hier zeigt sich, dass sich die pragmatische gegen die ideologische Kulturpolitik durchgesetzt hatte, auch wenn inhaltlich die Diskrepanz zwischen ideologischer und dialektischer Ästhetik weiterhin bestand. 1
Dazu gehört eine Ausstellung, die von der HU zusammen mit der Kleist-Gedenkstätte konzipiert und durchgeführt wurde.
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So ist es dann auch kein Zufall, dass bereits 1973 die Planungen für die Feierlichkeiten beginnen. Federführend in der Organisation war von Anfang an Marianne Richter, die Hauptreferentin im MfK, Abteilung Belletristik, Kunst und Musikliteratur / Sachbereich Ehrungen. Richter informierte im April 1974 in einer Hausmitteilung darüber, dass eine Ministerehrung für Kleist angedacht sei.2 Verschiedene Vorplanungen waren 1973 offenbar schon im Umlauf, denn in einem Brief an Minister Klaus Höpcke spricht sich ein Genosse Beer für eine schnelle Vorbereitung der Ehrung, aber gegen den Vorschlag eines nationalen Kleist-Preises für Literatur aus, weil die Auswahlkriterien dafür schwierig würden und vor allem andere Erbe-Autoren dafür doch deutlich geeigneter seien. Vor allem aber den Vorschlag eines Kleist-Jahres lehne er ab: Bei aller Hochschätzung und bei aller Notwendigkeit, BRD-Initiativen gewappnet zu sein, geht ein Kleist-Jahr der DDR mir gegen mein politisches Erbeempfinden. Thomas Mann (und da werden wir’s wohl auch nicht machen) war noch ein exemplarischer Weg, Kleist teilte seine Sorgen mit vielen, und er löste sie auch nicht herausragend besser.3
Auch wenn man Kleist offiziell als großen Vertreter des DDR-Erbes feiern würde, intern bereitete der Gedanke so manchem Ideologen 1973 offenbar noch Bauchschmerzen. Grundlage war das im Juli 1974 dem Ministerium vorgelegte Konzept des Rats der Stadt Frankfurt.4 Wenn man diese Vorschläge betrachtet, so muss man davon ausgehen, dass größere Streichungen bereits eingeplant waren und der Bezirk hier ein wenig sein Glück versuchte. Ansonsten ist das gigantische Programm, mit dem der Bezirk sich wiederum selbst inszenieren wollte und dafür kein rhetorisches Mittel scheute, kaum zu erklären: So wird Kleist als „folgenreiche, progressive Traditionsfigur“ inszeniert, die von „Becher, Brecht, Arnold Zweig, Wolf und Seghers geschätzt“ wird und einen „repräsentativen Höhepunkt der Erbe-Aneignung“ darstellt. Zudem, das ist als UN-Mitglied wichtig, sei er ein Autor von „internationalem Rang“ und, auch das hatte sich nicht geändert, eine „Analyse der BRD lässt erkennen, dass imperiale Ideologien Kleist benutzen, um eine ‚einheitliche deutsche Kulturnation’ aufzuzeigen“, und diesen Anspruch konnte schließlich nur die DDR haben. Offensichtlich wird in diesem Anschreiben an allen verfügbaren ideologischen Schrauben gedreht, um
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Alle Zitate aus: BArch DR1/23808, pag. 241-251.
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diese wichtige Veranstaltung für den Bezirk so opulent wie möglich beantragt zu bekommen. Im rhetorischen Überschwang schlug der Rat nun folgendes vor: Eine Gesamtedition, eine Biographie, eingeführte Werkausgaben, eine Spielfilmadaption eines Werks und eine biographische Dokumentation, Schallplatten mit Werkvertonungen, die Anregung bildender Künstler und Komponisten, für die Ehrung Beiträge zu erarbeiten, den bereits erwähnten Nationalen Kleistpreis und die Ausrufung eines Kleist-Jahres, eine Ausstellung, eine Gedenkbriefmarke und münze, sowie die Einbeziehung verschiedenster Vereine und Gewerkschaften in die Gesamtkonzeption. Insgesamt also nicht mehr und nicht minder als ein einjähriges, alle Gesellschaftsbereiche durchdringendes Großereignis. Die Vorlage wurde offenbar im November 1974 im Ministerbüro diskutiert und in den vorbereitenden Aufzeichnungen Richters dafür findet sich einerseits Adolf Dresens Kleist-Projekt im DT bereits angekündigt, andererseits schließt Richter die offenbar gemachten Vorschläge zur Inszenierung der Hermannsschlacht als zu problematisch aus, die Ideen der Volksbühne zu Penthesilea wurden fallengelassen, da die Inszenierung Fritz Marquardts zu Heiner Müllers Bühnenfassung in Rotterdam nur „wenig ermutigend“ gewesen sei. Auch für ein neues Stück über Kleist gebe es „große Realisierungsprobleme“, die nicht weiter ausgeführt werden. Eine Kohlhaas-Dramatisierung von Werner Heinitz sagte ihr allerdings zu.5 In weiteren Briefwechseln ist notiert, dass die Abteilung Musik Gedichte Kleists für mögliche Schallplatten-Vertonungen sichte,6 und im Dezember 1974 fragt Höpcke bei Hans Starke von der Hauptverwaltung Film an, ob man einen KleistFilm realisieren könne.7 Im November wurde dann auch ein kulturpolitisches Gutachten von Dr. Rudolf Dau vom Institut für Gesellschaftswesen beim ZK der SED als wissenschaftlich-konzeptionelle Grundlage für die Kleist-Ehrung zirkuliert, welches er nach einer Diskussion mit der Fachrichtung ‚Kulturelles Erbe’ verfasst hat und dessen verschiedene Fassungen mit Kommentaren von Marianne Richter erhalten sind.8 Das Dokument hat viele aussagekräftige Aspekte und ist vorrangig auffällig dialektisch verfasst. Bemerkenswert sind aber vor allem Daus Feststellungen bezüglich der Rezeptionsgeschichte von Kleist, denn dessen „konfliktreiche Wirkungsgeschichte ist keineswegs zufällig, sie ergibt sich aus dem ungelösten Widersprüchen und unbewältigten Krisenmomenten in Kleists Werk, was
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besonders eindrücklich die epochale Umbruchsperiode spiegelt“. Und dies gelte auch für die Rezeption in der DDR: Wenn wir heute in einem sozialistischen Staat Kleist ehren, dann geschieht das nicht zufällig. Die Deutsche Demokratische Republik ist selbst ein Ergebnis der widerspruchsvollen deutschen Geschichte, lebendige Verkörperung der Überwindung ihrer inneren Gegensätzlichkeit, von der das Werk Heinrich von Kleists auf poetisch unverwechselbare und unwiederholbare Weise Zeugnis ablegt.
Weiterhin räumt Dau Kleist eine Sonderstellung von der Romantik ein und betont, dass alle Werke ausreichend komplex seien, um darin „für die Gegenwart produktive künstlerische Entdeckungen zu machen“. Eine Aneignung des „ganzen Kleist“ mindere somit seine Größe nicht, sondern stärke sein unverwechselbares Profil. Auch wenn Dau es selbstverständlich nicht so meint, so sind seine Ausführungen doch insofern bemerkenswert und analytisch, dass er bereits durchschaut, dass es viel mehr über die DDR aussagt, wie sie Kleist darstellen, als dass es jemals wirklich nur um Kleist selbst ginge. Insgesamt ist Richter dieses Dokument aber noch zu detailliert, pessimistisch und kritisch, sie notiert, dass es positiver gemacht werden solle. So kürzt sie alle Aufklärungsbezüge (vor allem Rousseau) aus dem Text, genau wie die doch sehr wahre Bemerkung, dass man Kleist in der DDR nicht „nur deshalb [ehre], weil zufällig ein ‚rundes’ Jubiläum auf uns zukommt und die Geburtsstadt des Dichters auf dem Territorium unserer Republik liegt.“ Am 6. Dezember trafen sich Klaus Höpcke und ein Genosse Glöckner aus dem Frankfurter Stadtrat, „um ihre gegensätzlichen Standpunkte zur Ehrung zu klären“.9 Richter berichtete vom Frankfurter Konzept als „zu groß und zu unangemessen“. Vor allem für folgende Punkte, an denen der Staat die Schirmherrschaft übernehmen sollte, äußerte man Bedenken, dass sich Kleist für eine nationale Ehrung gar nicht recht eignen will, wobei deutlich wird, dass ideologische Staatsinszenierung und der dialektische Kleist kaum vereinbar seien: Kleists Werk sei „weder folgenreich noch klassisch“, dementsprechend werde es eine Kleist-Ehrung des Bezirks und keine nationale Veranstaltung im eigentlichen Sinne geben, zudem werde es kein Kleist-Jahr, auch kein modernes KleistDrama, da die Versuche, namhafte Autoren zu finden, scheiterten, wie auch keinen Kleist-Preis: „Mit dem Namen Kleist kann keine hervorragende Leistung auf dem Gebiet der Pflege des klassischen Literaturerbes geehrt werden. Das hat mit Kleist nichts zu tun.“ Als Höhepunkte der Feierlichkeiten wurden das Kleist-
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Projekt im DT und Benno Bessons Inszenierung des Käthchens an der Volkbühne genannt, zudem würde eine Dramatisierung von Michael Kohlhaas gegenwärtig von Werner Heinitz gerade fertiggestellt.10 Alles in allem machen diese Korrekturen einen deutlich verhaltenen Eindruck. Daus dialektische Ausführungen scheinen demnach politisch auf keinen fruchtbaren Boden gefallen zu sein. Dem beigefügt ist auch ein ausführlicher Bericht über die Westberliner Kleist-Gesellschaft, die 1960 gegründet wurde, der ideologisch gefärbt und mit vorgefertigter Meinung, die keine Analyse zulässt, darüber informiert, wie die Konkurrenz Kleistfeiern angeht, damit es nicht zu unerwünschten Doppelungen komme. Insgesamt hat der Bericht eine Tendenz, die westliche KleistGesellschaft als chaotisch zu präsentieren, wenn er mehrfach erwähnt, dass es „[k]ein einheitliches Kleistbild“ und „[u]nterschiedliche Konzeptionen mit z.T. erheblicher Verzerrung des Kleistschen Gehaltes“ gebe und, für die DDR immer ein Zeichen der Warnung, „Allgemein: Versuche, Kleists Erbe als Beweis der Existenz eines ‚gesamtdeutschen Bewusstseins’ anzuziehen“. Man begründet den „Kleist-Boom“ vor allem im Theater damit, dass „Kleist [...] als Modeartikel für den kapitalistischen Markt entdeckt [wurde].“11 Im März 1975 meldete sich allerdings Hans Starke, Leiter der HV Film, bei Klaus Höpcke, mit „wenig Erfreuliche[m]“: Für einen Dokumentarfilm sei die Materiallage zu dürftig, und darüber hinaus „arbeitet der Autor Klaus Schlesinger zur Zeit an Materialstudien und an einem Exposé über Heinrich von Kleist.“ Dies sei aber schwer zu realisieren, da schon so viele Biographien in Produktion seien, „[a]llein in diesem und im letzten Jahr: Kepler, Thälmann, Weinert, Marx, Büchner.“12 Dies dürfte der Grund sein, warum Schlesingers Felgentreu-Film nie realisiert wurde, obwohl er im Oktober 1975 noch erwogen wird.13 Die Fernsehdokumentation Heinrich von Kleist (Regie: Fritz Gebhardt, Fachberatung: Siegfried Streller und Rudolf Loch) wurde schließlich am 18. Oktober 1977 im 1. Programm des DDR-Fernsehens ausgestrahlt.14 Im November 1975 stand das Konzept. Vorgesehen waren, ähnlich wie 1961, eine Festwoche in Frankfurt mit Kranzniederlegung am Kleinen Wannsee. Zudem wird von der HU eine Konferenz in Frankfurt organisiert, die sich mit neuen Perspektiven auf Kleist im Verhältnis zur Romantik, und Perspektiven auf die Romantik selbst, vor allem dem Werk E.T.A. Hoffmanns widmen sollte. In
10 BArch DR1/23808, pag. 267-69. 11 BArch DR1/23808, pag. 258-62. 12 BArch DR1/23808, pag. 219f. 13 BArch DR1/23808, pag. 182. 14 Barthel (2015), S. 287.
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Frankfurt sollte zudem ein Denkmal enthüllt und der Kleist-Preis würde als Kunstpreis der Stadt Frankfurt verliehen werden. Des Weiteren wurden eine Bildbiographie, mehrere Neuauflagen und eine Schallplatte mit Vertonungen beschlossen. Die Gesamtkosten, die sich immerhin auf 300 000 Mark belaufen sollten, teilten sich MfK, der Bezirk und die Stadt Frankfurt.15 Im Januar 1976 wurde schließlich veranlasst, an die UNESCO in Paris ein Schreiben zu richten, in dem man um die Aufnahme Kleists in den Kalender der Jubiläen und Gedenktage bittet.16 Auch hier wird wieder die internationale Komponente der 70er Jahre deutlich, und man nutzt hierbei Kleist als Beitrag der „DDR-Kultur“ auf internationaler Ebene. Repräsentation und interne inhaltliche Debatte werden somit auch hier mit zweierlei Maß gemessen. Das finale Programm wurde schlussendlich in einer konstituierenden Sitzung der Arbeitsgruppe am 29. März 1976 beschlossen.17 ! (Kultur-)Politisches Zentrum der Festwoche, die auch in der Bundesrepublik besprochen wurde,18 war zweifelsohne die Festveranstaltung am 18. Oktober in
15 BArch DR1/23808, pag. 139ff. 16 BArch DR1/23808, pag. 60. 17 BArch DR1/23808, pag. 58. 18 Am 26. August 1977 titelt DIE ZEIT (Nr. 36) in einer kurzen Ankündigung Kleist im Sozialismus und informiert über die Tagung, den Festakt und die verschiedenen Veröffentlichungen, darunter auch Wolfgang Barthels Heinrich von Kleist – Leben, Werk, Wirkungsaspekte, das als Festschrift des Rates der Stadt Frankfurt erschien, und Rudolf Lochs bebilderte Kleist-Biographie. Die Frankfurter Rundschau (Nr. 177) berichtete im Feuilleton am 3. August 1977 bereits von einem Kleist-Boom in der DDR: „Neunzehn Inszenierungen der Hauptwerke Heinrich von Kleists werden in der kommenden Saison auf den Bühnen der DDR zu sehen sein. [...] Ferner wird die Erzählung ‚Michael Kohlhaas’ als Oper in Kleists Geburtsstadt Frankfurt (Oder) aufgeführt.“ Die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtet mehrfach über sämtliche Aktivitäten in beiden Staaten, dabei u.a. über Helma Sanders-Brahms’ Verfilmung Heinrich und zu Ausstellungen in Marbach und West-Berlin, aber es wird auch am 1. Februar 1977 über die angekündigte Festwoche und die Bucherscheinungen berichtet, nicht ohne den Vermerk, dass Lochs Reclam-Biographie sich „um ein marxistisches Bild des widerspruchsvollen Dichters bemüht und seinen humanistischen Positionen gerecht zu werden versucht.“ Am 24. Oktober wird über die Tagung und die Sanierung
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Frankfurt, die um die Festrede Klaus Höpckes, des stellvertretenden Ministers für Kultur, herum geplant war. Höpcke, der „Bücherminister“ und somit auch oberster Zensor, ist eine widersprüchliche Person der DDR-Kulturpolitik, der sich für verschiedenste Verbotsfälle verantwortlich zeigte, auch wenn neuere Forschung, allen voran Robert Darntons, nahelegt, dass er intern mehr kritische Werke zur Publikation gebracht hat als öffentlich bekannt geworden ist und von vielen Autoren äußerst geschätzt wurde.19 Die Rede selbst steht im Geiste Daus und bezeugt ein politisch entspanntes Verhältnis zum Erbe, vor allem im Vergleich zur Rhetorik des Festakts 1961, was angesichts der akuten Abwanderung von Kulturschaffenden dieser Zeit doch überrascht. Gleichzeitig hält diesmal ein Minister die Rede, und Höpckes pragmatischer wie auch dialektischer Ansatz ist für einen Politiker 1977 bemerkenswert, wenn er über das „Erbe in seinem Verhältnis zur Gegenwart“ spricht und deutliche „Fortschritte“ konstatiert: Wir nehmen es immer mehr ganz: in seinem Reichtum, in seiner Kompliziertheit, in den Widersprüchen, in denen es sich herausbildete. Das betrifft nicht nur die Aufnahme von Autoren, Werken und Strömungen, die früher nicht oder weniger berücksichtigt wurden, sondern auch unter anderen Bedingungen anders Vertrautgewordenes. Unser Blick für Verlust und Gewinn bei der künstlerischen Aneignung der Wirklichkeit schärft sich. Diskussionen wie die um Klassik und Romantik tragen dazu bei. [...] Diese lebendige Entwicklung, scheint mir, eröffnet dem Werk Kleists neue Wirkungsmöglichkeiten.20
Wie die Buchausgaben und die Inszenierungen zeigen, stimmt dies zum Teil, und auch wieder überhaupt nicht. Einerseits scheint es in der Öffentlichkeit weiterhin großen Bedarf zu geben, Kleist zu rehabilitieren, andererseits werden etliche Buchprojekte und Inszenierungen stark zensiert. Davon findet sich natürlich nichts in der Festrede: In der nun möglichen Betrachtung der Ganzheit kann Höpcke nun sogar Herbert Iherings Vermutung aus dem Jahre 1925 bestätigen, dass der „Prinz von Homburg erst dann in den letzten Geheimnissen seiner Form geahnt werden (wird), wenn er im politischen Tagesstreit nicht einmal zu Missverständnissen mehr Anlass geben kann“, und vorschlagen, dass man „Penthesilea mehr Verständnis entgegenbringen könne [...] als früher“. Kleist besser zu
des Kleist-Museums berichtet, am 27. Oktober über die Uraufführung der Vertonung von Kleists Hymne an die Sonne durch den Dresdner Komponisten Udo Zimmermann im Rahmen der Kleist-Ehrung. 19 Darnton, Censors at Work (2014), S. 158ff. 20 Alle Zitate BArch DR1/23808, pag. 21-26.
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verstehen, diene schlussendlich auch dem Sozialismus, denn, wenn man etwas aus Kleists Werken lernen könne, dann doch wohl „vor allem, uns mit Leidenschaft in die Waage unserer Zeit zu werfen: für die weitere Entfaltung unserer sozialistischen Gesellschaft, die dem Individuum das Eingreifen in den Ganz des Ganzen ermöglicht und abfordert.“ Diese Formulierung ist natürlich politische Rhetorik, aber es fällt doch auf, dass, wenn man nun unbedingt Kleist einen gesellschaftlichen Nutzen abverlangen will, Höpckes Forderung deutlich zutreffender erscheint als das reine Klassikermachen des Festakts 1961. Zugleich kennt er aber auch die DDR-Kulturszene sehr gut und weiß, wie er diese Rede verorten muss: „Unsere Würdigung fällt in eine Zeit, in der stärker als zuvor die gegenwärtige Kultur und Literatur mit dem Erbe in seiner Vielfalt in eine fruchtbare Wechselbeziehung tritt.“ Gleichzeitig mahnt er an, dass weder bürgerlicher Goethe-Kult noch „ein sich antibürgerlich gebender Geniekult um den ‚unangepassten Außenseiter’ aus Frankfurt an der Oder [...] unseren Verhältnissen zum Erbe gemäß“21 seien. Damit spielt er sicherlich auf die starke Identifizierung westdeutscher Studentenkreise mit Kleist an, aber es dürfte auch ein Kommentar auf die zunehmende oppositionelle Identifizierung mit Kleist in der DDR sein. Es bleibt zu fragen, ob diese Rede bereits ein Besänftigungsangebot für die vielen Kulturschaffenden darstellen soll, die das Land noch verlassen könnten.
21 Ebd.
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Im Theater wird diese Gesamtentwicklung deutlich anders gewichtet. Die krisengeschüttelte Gegenwart der 70er Jahre und vor allem die stückweise kulturpolitische Verengung, die auf die liberalen Anfangsjahre der HoneckerRegierung folgte und die mit einer zunehmenden Überwachung des Kulturbetriebs einherging, wirkte sich auch stark auf die Theaterlandschaft aus. Obwohl die SED zwar bereits 1969 beschlossen hatte, die Stasiüberwachung kultureller Einrichtungen zu verstärken, war, wie Laura Bradley betont, erst ab 1975 die Überwachungsrate deutlich angestiegen, von 8 Operativen Vorgängen (OV) im Jahre 1974 auf 31 in den Jahren 1976/77.22 Einer dieser überwachten Kulturschaffenden war Adolf Dresen, der seit 1976 als OV ‚Schnittpunkt’ beobachtet wurde, weil die Stasi oppositionelle marxistische Strömungen am Deutschen Theater fürchtete.23 Dresen, Jahrgang 1935, studierte ab 1953 kurz nach Christa Wolf und zusammen mit Uwe Johnson und Alexander Weigel in Leipzig bei Mayer und Streller Germanistik, besuchte auch Vorlesungen Blochs und ist ebenfalls ein prominenter Vertreter der dialektischen Ästhetik und Verfechter eines marxistischen Utopiebegriffs.24 Nach verschiedenen Engagements25 inszenierte er seit 1965 am DT und arbeitete ab 1975 an den größten zusammenhängenden Kleist-Inszenierungen, die in der DDR stattfanden und im Rahmen der Kleist-Ehrung 1977 möglich wurden. Angefangen 1968 mit einer höchst umstrittenen Inszenierung von Goethes Faust I, die zu einem der prominentesten Zensurfälle der DDR-Theatergeschichte avancierte,26 hatte er es sich zum Anliegen gemacht, das Erbe für das Theater zu entstauben und, in Brecht’scher Tradition, in die Gegenwart zu holen.27 Dies ist Teil eines generellen Trends der DDR-
22 Bradley, Cooperation and Conflict (2010), S. 118. 23 Ebd., aber auch Weigel, Notwendigkeit und/oder Freiheit (2009), S. 67. 24 Hamburger, Leere zwischen den Sternen (2010), S. 2, und auch Hamburger, Wieviel Freiheit braucht die Kunst (2000), S. 75-102. 25 Seine ersten Theaterengagements hatte er ab 1959 in Magdeburg und Greifswald, wo er „1964 nach einer umstrittenen Hamlet-Inszenierung entlassen [wurde].“ Übergangsweise arbeitete er als Hilfsarbeiter auf einem Bohrturm im Erdölkombinat Grimmen (Mecklenburg). S. Hamburger, Leere zwischen den Sternen (2010), S. 2. 26 Bradley, Politics of Cultural Impact (2010), S. 245. 27 In seiner Rede beim III. Kongress der Theaterschaffenden 1975 kritisiert er den Widerspruch der Erbe-Politik wiefolgt: „Erbe ist ein Teil von Geschichte, Geschichte selbst ein Erbe. Beide wollen gleichermaßen angeeignet sein, sonst werden sie eine
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Theater in den 70er Jahren, 20 Jahre nach dem Goethe-Gründungsjubiläum die Erbe-Klassiker radikal umzuwerten und für die Gegenwart zu aktualisieren.28 In diesem Kontext, parallel zum „Klassik-Projekt“ an der Volksbühne,29 konzipierte Dresen sein Kleist-Projekt, das zu einer allgemeinen und öffentlichen Reflexion über das Verhältnis von Staat und Individuum anregen sollte. Niemand schien dafür so sehr geeignet wie Kleist. Für das Projekt wurden der kanonische Krug und der quasi-kanonische Homburg ausgewählt und später um eine Inszenierung der Novelle Michael Kohlhaas erweitert. Das Projekt ist dabei nicht nur das umfangreichste, sondern auch ein besonderes Beispiel sowohl dafür, wie zeitaktuelle Vorkommnisse – im Falle der Biermann-Affäre und der Kohlhaas-Inszenierung – auf dem Theater augenblicklich reflektiert werden können, sondern auch ein Beispiel für eine berühmte Berliner Bühne, die von Medien in Ost- wie Westdeutschland wahrgenommen wurde und dementsprechende Stasi-Überwachung genoss. Gleichzeitig, wie Bradley betont, bewirkten Zensur-Skandale im Theater in den 70er Jahren in der DDR oft einen Publikumsanstieg: Nach den DT-Skandalen um Peter Hacks’ Die Sorgen um die Macht (1962) und Faust I (1968) witterte auch das Publikum bei Regisseuren wie Dresen bereits einen neuen Skandal und kam in Scharen, was die Überwachung gleichsam befeuerte.30
Wie wichtig Kleist zu dieser Zeit für die Theaterschaffenden des DT war, sollte die damalige Dramaturgin Barbara Honigmann 2011 – zum 200. Todestag – rückblickend in ihrem Roman Bilder von A. reflektieren, in dem sie über ihre Beziehung zu „A.“ Dresen im Rahmen des Kleist-Projekts berichtet. Der Roman kann freilich nicht als Zeitzeugnis gelten und ist als fiktionale Erzählung nur bedingt zuverlässig, jedoch gibt er wesentliche Einblicke in die persönlichen Hintergründe der Inszenierungen und untermalt die Stimmung in der Kulturszene, die sich auch bei anderen Autoren dieser Zeit finden lässt.
schwere Last. Den ‚sozialistischen Zeitgenossen’ hat man in eine Arbeitsgruppe verwiesen – diese Trennung hat etwas Symptomatisches: eine Gegenwart, die sich geschichtslos präsentiert, eine Geschichte, die in keine Gegenwart mündet.“ Hamburger, Wieviel Freiheit braucht die Kunst (2000), S. 125. 28 Stuber, Spielräume und Grenzen (2000), S. 229. 29 Dort wurden Shakespeare, Racine und Gozzi gegeben. S. THEATER DER ZEIT, 08 1975, S. 46f. 30 Ebd., S. 255.
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Die Kleist-Preisträgerin Honigmann schildert im Roman sowohl das Projekt als auch Kleist als feste Herzensangelegenheit und zitiert vor allem aus seinen Briefen, wie auch generell wiederum Aspekte von Kleists Biographie deutlich zu einer Identifizierung anregen, die dann in den Werken hervorgehoben werden. Im Roman wird es dargestellt, als sei Kleist eine große Leidenschaft für beide gewesen, die sie miteinander verband: „Sie sprachen ja immer nur über Kleist und lasen sich gegenseitig vor.“31 Gleichzeitig wird die Erzählerin nicht müde zu betonen, welche zeitgeschichtliche Relevanz Kleist hatte: Denn wir identifizierten uns über alle Maßen mit Kleist und vereinnahmten sein Unglück, seine Wut und Verzweiflung über seine Ohnmacht, die wir aus seinen Werken und Briefen herauslasen, für unsere eigene Wut und Verzweiflung: Dies Land ein Grabeshügel aus der See. Kleist sprach von Preußen, aber wir meinten die DDR. (15)
Dramaturg Alexander Weigel, Studienfreund Dresens aus Leipzig, wird ebenfalls rückblickend festhalten, dass sie in Kleist und „vor allem in dem widersprüchlichen Verhältnis zu seiner Heimat, Preußen, [...] Ähnliches entdeckten.“32 Gleichzeitig reflektiert die Erzählerin aber auch, wie DDR-spezifisch diese Situation war und wie Kleist in diesem konkreten Kontext für ihre Theaterarbeit einen besonderen motus animi continuus darstellt: „Damals konnten wir unser tägliches Unglück und die immerwährende Unzufriedenheit noch auf die politischen Verhältnisse in der DDR schieben, und erst später merkten wir, dass wir damit zwar nicht unrecht, aber auch nicht recht hatten [...].“ (15) Das Gefühl von gesellschaftlicher Ohnmacht und Verzweiflung, Handlungsunfähigkeit und Unterdrückung durch die Obrigkeit, aber gleichsam Kleists Energie, dies schriftstellerisch zu verarbeiten und zu thematisieren, wird zu einem Vorbild für die (auto-)biographisch angelegte Erzählerin und A., die sich in Kleist und seinen Figuren wiedererkennen: Wir sprachen lange darüber und fanden, sie [Amphitryon und Penthesilea] entsprächen den Spaltungen, denen wir uns damals selbst ausgesetzt sahen, der Unmöglichkeit, mit uns selbst und der Welt, in der wir lebten, eins zu sein. Weil uns dieser Schmerz in Kleists Stücken gewissermaßen entgegensprang, sahen wir ihn stets als einen von uns, als unseren Genossen an. (21)
31 Honigmann, Bilder von A. (2013), S. 11. 32 Weigel, Notwendigkeit und/oder Freiheit (2009), S. 56.
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Im Roman sind dies die Hintergründe, die die Figuren das Kleist-Projekt angehen lassen, aus der sie ihre Inspiration und Motivation beziehen. Über das Projekt selbst lernt man im Roman Folgendes: Es sollte eine Mehrfachgeburt werden: A. inszenierte auf der großen Bühne des Berliner Theaters in parallelen Besetzungen Der Prinz von Homburg und Der zerbrochene Krug, was schon ungewöhnlich genug war, und dazu holten wir im Spiegelfoyer des Theaters zu einer weiteren Kleist-Inszenierung aus, einer Textmontage aus Schriften und Briefen Kleists und seiner Zeitgenossen unter dem Titel Dichter in Preußen, mit der wir nicht weniger als ein Bild der Kleist-Zeit und unserer eigenen Zeit malen wollten. Mit Dichter meinten wir uns selbst und mit Preußen die DDR, also den unerträglichen Widerspruch zwischen Poesie, Sehnsucht, Spontaneität und einer starren, sturen, beschränkenden und bedrückenden Gesellschaft, der im Falle Kleists schließlich in dem peinlich korrekten Obduktionsbefund der Leiche des Dichters gipfelte, dem auf Erden nicht zu helfen war. (42)
Diese Beschreibung kommt dem Kleist-Abend, der am 5. Mai 1975 im Foyer des Theaters unter dem Titel den prologhaften Auftakt des Projektes bildete, offenbar sehr nahe. Unter der Regie von Dresen, Honigmann und Alexander Weigel, ebenfalls Mayer- und Bloch-Schüler, wurde eine komplexe Kleist-Kollage geboten, die ein Rezensent der Berliner Neuen Zeit am 10. Mai 1975 wie folgt zusammenfasste: Das Dichterische und das Preußische: ein provokanter Gegensatz, eine Unvereinbarkeit. So ist das auch aufgefasst in dem Konzert für Schauspieler, das da angeboten wird, als eine Textmontage aus Werken und Briefen Kleists, zeitgenössischen Dokumenten und Philosophien, aus dem preußischen Exerzierreglement und Rousseaus „Contrat social“, Erinnerungen an die Schlacht von Jena und lobhudelnder Beschreibung Friedrich Wilhelms III., als eine Montage von Kontrasten, endend im Obduktionsbefund von Kleists Leichnam, als eine Montage, die viel Wissen, Kenntnis und Bildung beim Zuhörer voraussetzt, um in ihrem ganzen Beziehungsreichtum verständlich zu werden. Ein anspruchsvoller Text also, mehr Anregung als Erklärung, Historisches und Individuelles kombinierend, durchsetzt von einer bitteren Ironie und untermalt von einer sparsam und doch ausdrucksvoll akzentuierenden Musik Reiner Bredemeyers für Flöte, Klarinette, Gitarre und Pauken, von den beteiligten Ensemblemitgliedern mit gebändigter Eindringlichkeit gesprochen.33
In dieser Beschreibung wird deutlich, dass dieser Abend verschiedenste Aspekte der Kleist-Rezeption aufgriff, die in den 70er Jahren bei fast allen in dieser Ar-
33 AdK IM 122.
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beit behandelten Kulturschaffenden im Umlauf waren: Zunächst wird eine Analogie zwischen der DDR und einem als militaristisch, normativ und geistfeindlich dargestellten Preußen hergestellt, um zum Ausdruck zu bringen, dass die DDR sich in vielen Bereichen nicht deutlich abhebte von einem VorgängerDeutschland, das stets öffentlich als Negativbeispiel inszeniert wurde und dass Künstler in der DDR der 70er Jahre sich genauso wenig entfalten konnten wie im Preußen um 1800. Weiterhin wird das schon vielfach angebrachte und auf Goethe zurückführende Bild des ‚geisteskranken’ Kleist in Form des Obduktionsberichtes bemüht, wobei Klaus Schlesingers Felgentreu und Gerhard Wolfs Obduktion (in Schriftsteller über Kleist) anklingen. Damit wird nicht nur eine implizite Erbe-Kritik evoziert, sondern vor allem verdeutlicht, dass eben keine pathologischen, sondern den Zeitumständen geschuldete Gründe Kleist zum Selbstmord getrieben haben, und dies wiederum als Sinnbild für die Lage künstlerischen Schaffens in der DDR genutzt. Allerdings muss wieder hervorgehoben werden, dass sich dies als eine sozialistisch-marxistische Kulturkritik verstand, die zwar durchaus provozieren wollte, aber nicht zwanghaft systemfeindlich agierte, was die Zitat-Auswahl und Kombination aus Texten von Friedrich Engels, Schelling, Hegel, Hölderlin und Kleists Penthesilea unterstreicht.34 Zugleich muss aber auch die formale Gestaltung des Abends betrachtet werden, wofür wiederum die Kritik der Neuen Zeit herangezogen wird: Diesem „Konzert“ gehen voran einige Szenen, in denen Kinder aus einer Berliner Schule vorspielen, wie sie sich Kleists Leben vorstellen, und das hat die naive Spontaneität der Improvisation nicht mehr im Spiel, wohl aber im naiven Einbringen eigener Lebenserfahrung in diese Vorstellungen, und außerdem noch eine Lesung des berühmten Aufsatzes Kleists über das Marionettentheater durch den Dramaturgen Alexander Weigel. Alles in allem trägt dieser Abend einen experimentellen Charakter. Von einer Nutzbarkeit als Einführung in des Dichters Leben und Werk sieht er ganz ab, als ein eigenwilliger Kommentar dazu ist er dafür um so interessanter. Und wie darin ein gewisses Schema sogenannter literarisch-musikalischer Programme durchbrochen und durch originellere Formen ersetzt wird, ist allemal theatergerechter, als solche Programme es zumeist sind.35
Die experimentelle Performance, die als Montage verschiedenster Texte und Darstellungsformen (Lesung, Musik, Improvisationstheater) und Akteure gegeben wird, verweist auch hier auf Darstellungspraxen der klassischen Moderne, und in ihrer Betonung von Brüchen und Kontrasten klingen deutlich Brecht’sche
34 Ebd. 35 Ebd.
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Formen des epischen Theaters an. Dies hat gar nichts mehr mit dem sozialistischen Realismus zu tun, den das Erbe vorsah. Genauso wenig hatte diese äußerst bildungsbürgerliche Veranstaltung noch mit der Vermittlung des Erbes an die Arbeiterklasse gemein, da weder Einführungen noch Erklärungen geboten wurden und man diesem Abend, wie dem gesamten Kleist-Projekt, eigentlich nur folgen konnte, wenn man bereits Kleist-Connoisseur war. Doch genau jenes inszenatorisch umgesetzte Bruchhafte, Widersprüchliche, fragmentarisch Offene reiht sich ein in die künstlerischen Formen, mit denen viele Kulturschaffende in den 70er Jahren ihre eigene Situation beschreiben wollten, in einer DDRNormalität, die man auf ihre Gründungsversprechen hin befragte. Jedoch nicht ohne Folgen: Was in den frühen 50er Jahren in jedem Falle als Dekadenz und Formalismus verboten worden wäre, kann kulturpolitisch auch 1975 noch nicht frei abgehalten werden, und hier macht sich die schlecht kontrollierbare öffentliche Unmittelbarkeit des Theaters im Vergleich zur Literatur bemerkbar. Das Gefühl des Zurückgeworfenseins auf sich selbst wurde dadurch bei Honigmann noch verstärkt, wie Bradley betont: Honigmann reports that she and her other colleagues felt intoxicated by Kleist’s works, almost as if they were staging texts by a banned author. This feeling was borne out when the theater manager Gerhard Wolfram cancelled „Dichter in Preußen“ after only one performance, out of concern for the implied comparisons between the status of poets in Prussia and the GDR. The production’s marginal position in the theater repertoire meant that its cancellation was unlikely to attract public attention.36
Aus Angst vor kulturpolitischen Konsequenzen wurde dieser Teil des KleistProjekts somit nach einmaliger Inszenierung intern abgesetzt. Es blieb auch der intimste und persönlichste Teil der Trilogie, wenn man Honigmann glauben darf, und damit auch einer der aussagekräftigsten. Honigmann, die noch an beiden Inszenierungen mitwirkte, reiste 1984 in die Bundesrepublik aus. Adolf Dresens Konzept für die Doppelinszenierung von Homburg und Krug im Frühjahr 1975 ist textsortenspezifisch freilich deutlich sachlicher und differenzierter gehalten. Vor allem aber ist an dieser Produktion wichtig hervorzuheben, dass es seit den 60er Jahren eine thematische Verschiebung von sozialistischen
36 Bradley, Politics of Cultural Impact (2010), S. 245.
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Vorbildcharakteren in Richtung dialektischer Figurenkonflikte gab. Dies wird primär beim Homburg deutlich: statt der Überbetonung des Patrioten und Freiheitskämpfers Kleist in der Aufbauphase der Nationalkultur war in den 70er Jahren wichtig, wie die inneren Konflikte der Figuren sich auf ihre Handlungen auswirken und wie die beiden ausufernden Welten des Individuums und des Staats/der Gesellschaft überhaupt verein- und verhandelbar sind. Wenn der Autor Kleist hinzugenommen wird, dann ist es wiederum das modern rezipierte Stereotyp des Künstlers, der an der Gesellschaft verzweifelt. Gleichsam verfolgte das Kollektiv aber auch den Impetus, das utopische Potential Kleists für die DDR fruchtbar zu machen und, wie Weigel festhielt, „wie Kleist, nicht bei der Wirklichkeit stehen zu bleiben, sondern auch die in ihr, wie wir damals noch hofften, verborgene Möglichkeit zu zeigen. (Nicht umsonst hatten wir während unseres Studiums in Leipzig fasziniert die Vorlesungen von Ernst Bloch gehört)“.37 Beim Studium in Leipzig hatte Dresen auch seine mündliche Examensprüfung bei Hans Mayer zum Homburg, wie er sich in seiner Rede zu Mayers 85. Geburtstag erinnerte,38 wo er Mayer mit allen Vorurteilen Lukács’ und Brechts konfrontierte und sie sich in einem Streitgespräch schlussendlich darauf einigten, dass „Freiheit [...] zwar in gewisser Weise Einsicht in die Notwendigkeit [sei], aber nur, sofern die Notwendigkeit ein Einsehen in die Freiheit habe.“39 Somit reiht sich Dresens Inszenierung auch ein in die Reihe der Kulturproduktionen, die einerseits bereits in einer stark ausdifferenzierten Kultur- und Gesellschaftslandschaft entstehen, und zugleich die Krise des Künstlers als Sinnbild für die Krise der Gesamtgesellschaft inszenieren wollen, weil etwas faul im Staate DDR ist, im Geiste des Prinzips Hoffnung, dies zu überwinden. Der Schwerpunkt in beiden Stücken lag somit auf dem Grundkonflikt StaatIndividuum und wie individuelle Freiheit sich innerhalb der staatlichen Gesetzeshoheit verwirklichen ließ. In den Konzepten spricht Dresen meist nur über Homburg und es wird auch deutlich, dass die Doppelinszenierung von Homburg her gedacht ist, und der Krug durch die Brille des Homburg gesehen werden soll, was auch die Reihenfolge der beiden Stücke bestimmt. In einem ersten Konzept vom 5. Juni 1973 gibt Dresen seine beiden Referenzpunkte für das Stück an, nämlich Brechts Schmähgedicht über Homburg und Peter Steins einflussreiche Inszenierung 1972 an der Westberliner Schaubühne, für die Dresens Inszenierung als Ost-Pendant angesetzt war, was sich allerdings verzögerte: „Es geht
37 Weigel, Notwendigkeit und/oder Freiheit (2009), S. 61. 38 Hamburger, Wieviel Freiheit braucht die Kunst (2000), S. 18f. 39 Ebd., S. 19.
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nicht darum, das Brecht-Konzept ‚…Rückgrat, zerbrochen mit dem Lorbeerstock’ zu realisieren. Das scheint im Prinzip Standort der aktuellen westlichen Aufführungen (Stein) gewesen zu sein: die Kastration.“40 Ein Jahr später hält er fest: Brechts Konzept: „Rückgrat zerbrochen mit dem Lorbeerstock“ vernichtet das Stück. Steins Konzept, alles als Traum zu geben, ebenfalls. Es geht gerade um die Dialektik von Traum und Realität, Elan und Raison, Subordination Insurrection, Disziplin, Spontaneität, Gesetz und Freiheit, Leben und Überleben, Produktion und bloße Reproduktion.41
Dresen will also nicht wie Brecht (in Anspielung an dessen HofmeisterInszenierung 1949/50 am BE) und wie in Steins biographischer Lesart die Unterwerfung des Individuums Homburg/Kleist in den Mittelpunkt stellen, sondern den Konflikt, den Individuum und Staat miteinander austragen: „Zwischen Traum und Realität gibt es im Stück eine Kluft, doch wird nicht (von Kleist) zugunsten des Traums gegen eine miserable Realität votiert. Der Konflikt hat durchaus tragische Dimensionen – das heißt, beide Kontrahenten haben Recht und Unrecht zugleich.“42 Das Problem beider Seiten besteht eher darin, dass sie jeweils ihren Anspruch als absolut betrachten, wie Dresen weiter ausführt: Kleists Bild vom Traum meint wohl, dass diese Extreme sich im Unendlichen berühren. Das heißt, der Kurfürst hat Unrecht mit seiner Verabsolutierung der Disziplin, die ihm das Unterpfand weiterer Siege ist [...]; der Prinz hat Unrecht mit der Verabsolutierung des Subjektiven [...]. – Und diese Spaltung von Geist und Macht ist für Preußens Geschichte typisch geworden.43
Das Stück Homburg, das, selbst ein Stück preußische Geschichte, eine andere Episode preußischer Geschichte behandelt, drückt somit ein Kontinuum aus, das auch in der Gegenwart noch ein Problem darstellt: die Trennung von Kultur (Geist) und Staat, die oft zu einer Geistfeindlichkeit von letzterem führt, sobald es zu Machtkonflikten kommt. Homburg ist somit auch ein, in Mayers Worten, geschichtlicher Augenblick, der seinen Sitz im Leben in den 70er Jahren wiedergefunden hat:
40 AdK ID 732. 41 Ebd. 42 Ebd. 43 Ebd.
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Der Konflikt ist bei uns keineswegs gelöst. Wir haben das Preußische nicht überwunden. Es gibt eine Art „preußischen Weg“ zum Sozialismus. In der Bestimmung der Rolle der Kunst bei uns gibt es kurfürstliche Züge. Das Stück ermuntert zu einer Auseinandersetzung mit diesen Fragen. Es regt zugleich zur Auseinandersetzung mit der nationalen Geschichte an und verweist auf einen neuralgischen Punkt deutscher Geschichte. Neben der nationalen Spaltung besteht in jedem Teil auf andere Weise die Kluft von Tat und Traum weiter. Diesen Widerspruch zum Motor unserer Entwicklung zu machen statt zu ihrer Entstellung, wäre Anliegen der Inszenierung.44
Die Inszenierung will somit der Gegenwart der DDR vorhalten, dass die geistigen und politischen Sphären immer noch durch eine Kluft getrennt sind, und dieser Graben überwunden werden muss, so, wie es die DDR seit ihrer Gründung versprochen hat. Und ein Weg der Überwindung war für Dresen kritische Kunst, wie er es im Jahre 1993 formulierte: „Im ‚Prinzen von Homburg’ erringt ein junger Heerführer einen Sieg durch Bruch des Befehls – das rührte an die Grundfesten der DDR-Staatsraison: Muss nicht jeder Geniale die geltende Disziplin verletzen, und ist das nicht die Bedingung allen Fortschritts?“45 Das erträumte Ziel Dresens war dabei die Synthese der Oppositionen, und dies hielt er parallel zum Kleist-Projekt 1975-75 auch in seiner kritischen Studie zur Marx’schen Ökonomie, Der Einzelne und das Ganze, fest.46 So sei es in allen sozialistischen Staaten verblüffend, „wie wenig bisher die Koexistenz der Oberen zu einer Annäherung ihrer Oppositionen geführt hat; sie reproduzieren nur umgekehrt das Gegenüber der Systeme, ja überbieten es.“47 Dabei sei gerade die Emanzipation des Einzelnen im Ganzen der entscheidende Schritt, und die Mauer Symbol der staatlichen Begrenzung des Individuums: „Beton ist nicht Zeichen von Wirklichkeit, Individuum nicht Synonym von Ohnmacht. Freiheit ist Unschärfe der Einheit, sie ist die Geburt des Einzelnen.“48 Kleists Marionettentheater wiederum gibt für Dresens Lesart des Homburg dabei das entscheidende Sinnbild vor, dass die gemeinsame Gesellschaftsutopie, die Politik wie Kultur antreibt, bei Kleist dann das Paradies, in Unendlichkeit nur erreicht werden kann – die Extreme sich wieder berühren –, wenn diese beiden Sphären vereint werden. Die Stagnation die-
44 Ebd. 45 Hamburger, Wieviel Freiheit braucht die Kunst (2000), S. 168 46 Friedrich Dieckmann sieht zudem starke Parallelen in Dresens Darstellung zu Ernst Blochs Hegel-Buch Subjekt-Objekt (1951), was er auf dessen intensive Lektüre von zurückführt. Dieckmann, Der Einzelne und das Ganze (2012), S. 9. 47 Ebd., S. 31. 48 Ebd.
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ses Prozesses, die nach der Aufbauphase die Gegenwart der 70er Jahre kennzeichnet, muss überwunden werden, sonst kann kein Zu-sich-selber-Kommen des Menschen im Kommunismus gelingen. Dieses Problem der Gesellschaft auf der Theaterbühne vorzuhalten, dafür scheinen Homburg und Krug für Dresen prädestiniert, und zudem vollzieht er damit konsequent weiter die kritische Aneignung des Erbes für die Honecker-Ära: „Was Kleist historisch vorwegnimmt, ist das Verschwinden äußerer Herrschaft in der Selbstbeherrschung. Das war, für Preußen, eine Utopie.“49 Neben diesen aufklärerischen Bestrebungen offenbart sich im Selbstverständnis der Produktion Dresen dann auch weiterhin als Schüler von Brechts dialektisch-epischen Theater, wenn er konstatiert „Im Stück wird die Einheit davon spielerisch vorweggenommen. Es bleibt selbst damit „TRAUM“, wie das Theater Theater bleibt. Dies der wirklichen Welt entgegenzustellen, nicht um sie zu spiegeln, bleibt unsere Aufgabe.“50 In Zeiten zunehmender Bürgerüberwachung attestiert Dresen also der DDR, dass sowohl Staat als auch individuelle/r Bürger_in sich zwar rituell und kontinuierlich als Einheit inszenieren, de facto aber getrennt sind und in fast schon gewaltvollem Kontrast einander gegenübergestellt sind. In einer zweiten Konzeptfassung vom 6. Juni 1974 sieht er diese Gegenüberstellung im titelgebenden zerbrochenen Krug symbolisiert, während er aus Homburg das Symbol des gefesselten Lorbeers ableitet und um diese beiden Bilder die Inszenierungen plant (Abb. 4 ): HOMBURG und KRUG haben beide mit Gesetz zu tun. In beiden wird der Verbrecher selbst zum Richter bestellt. Im HOMBURG nimmt er das Gesetz an und stirbt. Im KRUG entzieht er sich und lebt. HOMBURG spielt in der gesellschaftlichen Ebene, KRUG in der niederen. HOMBURG ist unter freiem Himmel, KRUG reines Interieur. HOMBURG im Sommer, KRUG im Winter. Symbol des einen der gefesselte Lorbeer, des andern der zerbrochene Krug. Tempo des H bis zur Rasanz gesteigert, der K gemächlich. Die Tragödie und die Komödie zum gleichen Thema. [...] HOMBURG erinnert an einen Initiationsritus. Sein Fatales liegt darin, dass die Mannwerdung der Entmannung hier so verzweifelt ähnlich sieht, die Emanzipation der Kastration, besonders nach den Erfahrungen preußischer Geschichte.51
49 AdK ID 732. 50 Ebd. 51 Ebd.
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Abb. 4: Alexander Lang als Homburg
Quelle: ©DTM, Archiv Willy Saeger
Dresen öffnet Brechts Bild vom Lorbeerstock als Prügelinstrument zum Symbol eines ewigen menschlichen Dilemmas: „Es scheint, als ob das ganze Stück in einem knappen Symbol zusammengefasst ist: der Lorbeerkranz, von der Kette gefesselt, von der Frau überreicht.“52 Darin sind nicht nur das menschliche Streben nach Ruhm (Eitelkeit), Anerkennung (Liebe) und Selbstverwirklichung, ergo die humanistische Utopie vom Zu-sich-selber-Kommen des Menschen verschlüsselt, sondern auch die rechtlichen wie gesellschaftlichen Schranken und Pflichten, die ebenjene bis hin zu staatlicher Willkür mehr oder minder beschränken. Der gefesselte Lorbeer symbolisiert das Spannungsfeld zwischen diesen Polen, und gleichfalls das Oszillieren des Menschen darin als Selbstfindung des Individuums in freier Entfaltung, ohne gesellschaftliche Entgrenzung. Dies ist die Dialektik des humanistischen Versprechens des Kommunismus, und 1977 musste
52 Ebd.
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mit Kleist darauf hingewiesen werden, dass der Sozialismus eben noch nicht „real-existierend“ war. Jener Initiationsritus erinnert zudem stark an die Jugendszene Friedrich II. in Heiner Müllers Leben Gundlings..., und auch generell scheinen Dresen und Müller ähnlich zyklische Auffassungen von preußischen geschichtlichen Augenblicken zu haben, wenn die eigene Geschichte immer wieder abgearbeitet werden muss, um die Gegenwart voran zu bringen: Die Relevanz beider Stücke, H und K, für steht außer Frage. Der Staat ist jung und in Verlegenheit, dem Gesetz Gültigkeit zu verschaffen. Wir haben unsern eigenen kategorischen Imperativ: von allein kann nichts Gutes kommen, Spontaneität ist an sich verwerflich. Daher neigen wir dazu, die Menschen auf die Nummer zu bringen, sie zu normieren, das Leben zu mechanisieren. Wir stellen Staat über Gesellschaft, status quo über Lebendigkeit, die das Risiko einschließt. An unseren Reproduktionszwängen droht Produktivität zu ersticken. Einsicht, Verinnerlichung des Gesetzes ist seit Stalin problematisch, die Integrität des Individuums steht auf der Tagesordnung, sein Recht.53
Jene zyklische Wiederkehr von historischen Abläufen, zusammen mit Kleists Bild von den sich in Unendlichkeit treffenden Extremen, verarbeitet Dresen in der Konzeption des Bühnenbilds für den Homburg, welches somit auch den Auftakt für das Zusammenbringen der ‚Extreme’ der beiden Stücke bildet, die jeweils mit dem Lorbeer-Symbol gekennzeichnet sind: Die Bühne (Hans Brosch) muss zeigen den preußischen Dreck unter unendlichem Himmel, grobstoffliche Nähe und unerreichbaren Horizont. Das Stück spielt von Nacht zu Nacht, und der Himmel soll einen vollständigen Tagesablauf machen. Das legt auch Einsatz der Scheibe nahe: eine volle Umdrehung, am Ende dasselbe Bild wie zu Anfang. Doch gerade in dem geschlossenen Zirkel zeigt sich das Schlimme des Stückes, deshlab [sic] sollte man ihn zwar erwarten lassen, ihn aber sprengen. Es ist nicht am Anfang Traum, was am Ende wirklich wird; im Gegenteil ist am Anfang wirklich, was am Ende Traum ist – „ein Traum, was sonst?“ Die anfänglich nur subjektive Realität des Traums von Homburg wird am Schluss Bühnenrealität, Märchenrealität, der Kurfürst kann dazu direkt aus dem Himmel steigen, die Kluft, so überwindend. Der Himmel, der in den Nächten nah ist, öffnet sich, zugleich Symbol für den jubelnden Tod Kleists – Tod, der ein Bruder des Schlafs ist.54
53 Ebd. 54 Ebd.
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Abb. 5: Schlachtszene
Quelle: ©DTM, Archiv Willy Saeger
Die Bühne ist ein ewiger Zirkel des Gleichen, der zwei Traumkonzepte verbindet, und auch das utopische Treffen der zwei Extreme im Unendlichen des Marionettentheaters. Das Bild des gefesselten Lorbeers steht an Anfang und Ende, die Bühne dreht sich während der Aufführung exakt einmal 360° um sich selbst, und von der Nacht zu Beginn, der Schlacht mit den Silhouetten der Soldaten vor einem blendend weißen Hintergrund (Abb. 5), kommt es wieder bei der Nacht am Ende an, genau ein Tag. Diese Struktur der ewigen Wiederkehr, das Abarbeiten von historischen Parallelen ist nicht nur den Motiven äußerst ähnlich, die von Heiner Müller und Stefan Schütz parallel auch angesprochen werden, sondern demonstriert auch ein Steckenbleiben im Fortschrittsglauben des marxistischen Geschichtsdeterminismus. Das Konzept wurde nach der Pause dann insofern weitergeführt, dass dieselben Schauspieler aus dem Homburg die Schlüsselrollen im Krug besetzten und somit die Figurenkonflikte umgedreht wurden: Der Kurfürst spielt den Adam, Homburg den Ruprecht, Natalie die Eve, die Kurfürstin Marthe Rull, Hohenzollern den Schreiber Licht und Dörfling den Gerichtsrat Walter (Abb. 6). Mit dieser Provokation sollte dem Publikum ein Verfahren nahegelegt werden, den ent-
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fesselten Lorbeer zu finden. Im Schlussbild wird die zyklische Struktur des Bühnenbilds wiederholt und durchbrochen. Damit wird die utopische Hoffnung Blochs angedeutet, aber auch durch die Flucht des Rechtsbrechers Adam deutlich gemacht, dass der Ist-Zustand ein anderer ist: Dagegen hob sich der ganz nichtnaturalistisch gestaltete „Innenraum“ des Zerbrochenen Krugs erst am Ende, mit Adams Flucht aus dem „Paradies“ in die Höhe, „explodierte“, und gab den winterweißen Rundhorizont frei, vor dem man Adam in die Welt humpeln sah.55
Abb. 6: Szene aus ‚Der zerbrochne Krug’
Quelle: ©DTM, Archiv Willy Saeger
55 Weigel, Notwendigkeit und/oder Freiheit (2009), S. 62f.
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Die Inszenierung lief bis 1977 vierzig Mal56 und wurde in den Rahmen der Kleist-Ehrung integriert. Zudem wurde das Projekt ab 1976 um eine Bühnenadaption der Novelle Michael Kohlhaas erweitert, ein weiterer Erbe-Text, mit welchem ebenfalls das Verhältnis Staat-Individuum erörtert werden sollte. In einem Konzeptpapier ohne Verfasserangabe wird dies ausgeführt und zudem der regionale und zeitkritische Aspekt Preußens über den Anlass der Festlichkeiten gestellt: In gewisser Weise könnte man es einen Zufall nennen, dass in dem Jahr, da in unserer Republik Heinrich von Kleist anlässlich seines 200. Geburtstages geehrt wird, das Deutsche Theater seinem Publikum drei Werke des Dichters vorstellen kann. Denn nicht die Notwendigkeit seiner Ehrung, sondern die Notwendigkeit Kleists für unser Theater und unsere Gesellschaft war es, die uns 1975 veranlasste, „PFvH“ und „DzK“ an einem Abend vorzustellen und diese Bemühungen 1977 durch die szenische Aufführung von „M Kohlhaas“ zu ergänzen. Es ist der Boden, auf dem wir selbst gewachsen sind, der auch Kleists Heimat war: wir haben eine gemeinsame Geschichte. Überzeugt davon, dass Gegenwart zu verstehen und Zukunft zu machen sind nur durch ein wahrhaftiges und vollständiges Bild unserer eigenen komplizierten und widersprüchlichen Geschichte, ist uns Kleist mit seinen poetischen Bemühungen um diese gleich Sache wert einer Ehrung, nämlich einer, mit der wir uns nützen.57
Für alle drei Texte ist für die Aufführung dabei entscheidend, dass sie überkommene Rechtsvorstellungen hinterfragen und Anlass geben, die eigene Gegenwartskultur dialektisch zu überdenken: „Es ging uns um die Aktualität von Kleists geschichtlichem Problem: ‚Stellen wir unser historisches Erbe auf den Prüfstand, aber stellen wir zugleich auch uns diesem Erbe und seinem Anspruch’ [...]. Keine ein für allemal zu erledigende Frage: jede neue Gegenwart stellt sie neu.“58 Vor allem stellt sich diese Frage ein Künstler, der seine eigene Rolle in der Gesellschaft der DDR stets neu finden muss, die zwar eigentlich äußerst klar definiert ist, aber ständig von staatlicher Autorität bei ihrer Durchführung unterminiert wird. Kleists Texte sind somit ein Medium der Sinnsuche in einer von starken Widersprüchen geprägten Gegenwart, bei der die Ideologie und die Rea-
56 Ebd., S. 63. 57 AdK ID 732. 58 Ebd.
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lität immer weiter offen auseinanderklaffen. Kleist bietet zwar keine Lösungen, aber andere Perspektiven: Kleist wendet festgefügte Normen auf befremdliche und dadurch erhellende Weise. Im „Homburg“ wird der „Verbrecher“ fähig, sein eigener Richter zu sein; im „Krug“ ist der Richter am Ende der Verbrecher; Kohlhaasens Rechtsbrüche geschehen gerade aus dem unbedingtem Willen, dem Recht zum Sieg zu verhelfen: Der Zweifel an festgefügten Ordnungen und Autoritäten sind das Produktive Ergebnis solch dialektischer Weltsicht.59
In diesen Kontext hinein kam allerdings eine politische Komponente, die sich während der Proben im Herbst 1976 ereignete, nämlich die Ausbürgerung Wolf Biermanns und die einhergehende Überwachung von Kulturschaffenden. Das Ensemble des DT wurde durch die Ausbürgerung und die sich anschließenden Proteste gespalten. Während Dresen, Matthias Langhoff, die Schauspieler Eberhart Esche und Horst Hiemer und der Bühnenbildner Horst Sagert das Protestschreiben unverzüglich unterzeichneten, gab es auch ausgesprochene Unterstützer der Ausbürgerung und es kam zu offenen Anfeindungen innerhalb des Theaters.60 Wie Dresen aber später in seinen Memoiren festhielt, veränderte es aber auch die Herangehensweise an den Kohlhaas-Stoff.61 So kam es, dass die Figur des Michael Kohlhaas, den Bloch einen „Paradigmenreiter aus Rechtsgefühl“ und wie Mayer einen „paradox verfrühten Jakobiner“ nannte,62 im Kontext Wolf Biermanns zum paradigmatischen Bürgerrechtler werden konnte, um zu hinterfragen, wie eigentlich der rechtliche Status Quo der DDR eine solche Aktion zulassen konnte – und man somit das eigene Erbe nutzen konnte, um dessen Anspruch an die politische Gegenwart zu richten. Dresen schrieb später: „In diesen Tagen schien es, als ob sich fast jeder Kleist-Satz gegen die DDR richtete.“63 Hinzu kam, dass die Proben von der Stasi überwacht wurden, da man sich des Potentials des Textes offenbar bewusst war und jedweden Skandal vermeiden wollte. Der Informant „Maxim“ wurde auf die Proben angesetzt, im Dezember 1976 wurde das Skript erlangt und von den Informanten „Saint Just“ und „Verlag“ analysiert und für tagespolitisch relevant gehalten, und Berlins erster Parteisekretär wurde vor der Premiere am 17. Dezember gewarnt und die Überwa-
59 Ebd. 60 Bradley, Cooperation and Conflict (2010), S. 123. 61 Bradley, Politics of Cultural Impact (2010), S. 246. 62 Zitiert nach: Bisky, Kleist (2007), S. 441. 63 Hamburger, Wieviel Freiheit braucht die Kunst (2000), S. 171.
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chung der Publikumsreaktionen in den ersten drei Aufführungen angeordnet, wonach man über eine Beibehaltung der Produktion entscheiden könne.64 Die Inszenierung selbst legte schlussendlich zwei Schwerpunkte: Das Kulturerbe Kohlhaas wurde einerseits auf seine Tauglichkeit für die 70er Jahre geprüft, weswegen man auf alle nicht unbedingt notwendigen Kulissen und Requisiten verzichtete. Das Bühnenbild stellte sich als mit schwarzen Samtvorhängen ausgekleideter Raum dar, in dem die Schauspieler in Kostümen aus verschiedenen Epochen die Szenen darstellten und die notwendigen Hilfsmittel selbst mit auf die Bühne brachten (Abb. 7 & 8). Dies gab der Inszenierung einen gewissen historischen Schwebezustand und eine Leerstelle, die von den Zuschauern selbst gefüllt werden musste und gleichsam den Fokus auf das gesprochene Wort verstärkten. Um sich allerdings gegen riskante subversive Lesarten abzusichern, wurde der kanonische Text kaum verändert, wie im Programmheft festgehalten: Die von uns gespielte Fassung des ‚Michael Kohlhaas’ versucht die Erzählung von Kleist zu verlebendigen, so wurden die Dialoge zum größten Teil direkt übernommen. Unsere Aufführung will die Erzählung „vorstellen“; ihre ganze künstlerische Methode dient diesem Anliegen, wie der kollektive Vortrag des Geschehens und des großen Figurenensembles durch nur achtzehn Schauspieler.65
Der zweite wichtige Punkt ist die Wichtigkeit von Vergangenheitsbewältigung für das Verständnis der Gegenwart. Im Kohlhaas-Programmheft ist ein Foto des Hauses des historischen Hans Kohlhase abgedruckt, das sich in der Fischerstraße in der damaligen Stadt Cölln, heute der Fischerinsel in Berlin befand, und welches 1971 im Zuge der Umgestaltung der Leipziger Straße Wohnhochhäusern weichen musste, welche auf einem Vergleichsfoto abgebildet sind.66 Diese ansonsten unkommentierte Gegenüberstellung kritisiert dennoch die geschichtsvergessene, radikale Stadtplanung, die mit dem Wohnungsbauprogramm Honeckers überall in der DDR eingesetzt hatte, untermauerte aber auch das Anliegen, dass die politische Gegenwart der DDR nichts aus der Vergangenheit gelernt hätte.67
64 Bradley, Politics of Cultural Impact (2010), S. 248. 65 KMFO, Programmheft „Kleist-Projekt im Deutschen Theater“, DT 1976. 66 KMFO, Programmheft „Michael Kohlhaas“, DT 1976. 67 In einem Text an den Darsteller Kurt Böwe aus dem Jahre 1993 schreibt Dresen zudem, dass der von ihm unterstützte Protest gegen den Abriss der Fischerinselhäuser die erste Anregung für eine Kohlhaasinszenierung darstellte. In: Hamburger, Wieviel Freiheit braucht die Kunst (2000), S. 169.
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Abb. 7: Szene aus ‚Michael Kohlhaas’
Quelle: Theaterarchiv Deutsches Theater, Fotografin: Gisela Brandt (?)
Abb. 8: Kurt Böwe als Kohlhaas
Quelle: Theaterarchiv Deutsches Theater, Fotografin: Gisela Brandt (?)
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Auf diese Weise wird auch das Narrativ der Inszenierung eröffnet: Im noch leeren schwarzen Bühnenraum öffnet sich eine Bodenluke, aus der stückweise Kohlhaas, dargestellt von Kurt Böwe, sich monologisierend nach oben vorarbeitet: Ich muss nach oben. Die Maulwürfe wollen hoch. Die Gespenster drängen ans Licht. Was nicht erledigt ist, meldet sich in der Nacht. [...] Ich wurde hingerichtet. Seither geschieht mir immer wieder, wie mir geschah, immer wieder muss ich tun, wie ich getan habe, ich muss umgehn wie die, die unbefriedigt geblieben sind.68
Kohlhaas kehrt also, nicht zum ersten Mal, in Hamlet’scher Manier als Geist wieder, um seine Geschichte zu erzählen, weil die gebrechliche Einrichtung der Welt noch immer Rechtsgläubige wie ihn verfolgt. Das Konzept der Gespenster, die die Gegenwart heimsuchen, ist erneut eine Idee, die bei Müller immer wieder zu finden ist, im Sinne einer Geschichtsphilosophie, die eine zyklische Wiederkehr des Schreckens der Geschichte ist. Anstatt des humanistischen Kämpfers für das Recht haben wir hier einen Geist, der als Opfer staatlicher Willkür um seine Bürgerrechte kämpft. Diese inhaltliche Verwandtschaft verweist auch hier wieder auf Kontinuitäten der Berliner Bühnen zu der Zeit, wo Müller an der Volksbühne und am BE arbeitet und inszeniert, aber auch, dass beide, Müller wie Dresen, sich in der Nachfolge von Brechts didaktisch/dialektischem Theater verorten und dieses weiterentwickeln. Die zentrale Szene, in der Kohlhaas sich als Fürstreiter auch für Verfolgte Biermann’schen Kalibers einsetzt, ist das Gespräch mit Martin Luther, das im Zeitkontext kaum anders verstanden werden konnte: Luther: Wer hätte dich aus der Gemeinschaft des Staats, in welchem du lebtest, verstoßen? Ja, wo ist, solange Staaten bestehen, ein Fall, dass jemand, wer er auch sei, daraus verstoßen wäre? Kohlhaas: Verstoßen nenne ich den, dem der Schutz der Gesetze versagt ist! [...] und wer ihn mir versagt, der stößt mich zu den Wilden der Einöde hinaus; er gibt mir, wie wollt Ihr das leugnen, die Keule, die mich selbst schützt, in die Hand.69
Der Clou hierbei ist freilich, dass das subversive Potential vor allem dadurch entsteht, dass Dresen den Kleist’schen Text nicht verändert hat und es sich um einen Text handelt, der im Erbe repräsentativ für den humanistischen und patrio-
68 KMFO, Skript „Michael Kohlhaas“, DT 1976, S. 2. 69 Ebd., S.33.
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tischen Realismus steht, man also der Staatsführung mit Kohlhaas die eigene Argumentation vorhalten kann. Allerdings scheint dies bei der Premiere nicht im Geringsten vermittelt worden zu sein, zumindest zeigen sich die Kritiken in Ost und West von der Aufführung irritiert: In den Zeitungen der DDR sind sich zwar alle einig, dass Kurt Böwe und die anderen Darsteller überzeugten und das Bühnenbild gelungen und phantasieanregend war, der zweite Teil sich aber deutlich in die Länge zog und verirrte, weil die Schauspieler keine festen Rollen mehr spielten. Helmut Ulrich hinterfragt in Neue Zeit wiederum die Notwendigkeit, einen Erbe-Stoff auf die Bühne zu bringen: Muss das sein? [...] weil es einige Stücke von diesem großen, überwältigend leidenschaftlichen und theatergerechten Dramatiker gibt, die der Erschließung für uns noch harren, das „Käthchen von Heilbronn“ wie die „Penthesilea“. [...] Der ‚Kohlhaas’ als Bühnenwerk: Wo es aufging, war’s eindrucksvoll, doch es ging nicht ganz auf.70
Die Berliner Zeitung kritisiert die Aufführung IN DER ART DES EPISCHEN THEATERS: Die grade für die Novelle kennzeichnenden langen Perioden und Schachtelsätze erweisen sich, auf der Bühne gesprochen, als sperrig oder müssen überhaupt aufgelöst werden. Dieser Nachteil wurde noch dadurch gesteigert, dass über Strecken bewusst auf ‚Einebnung’ der Expression hingesprochen zu werden schien und dabei so schlecht, so geschliffen artikuliert wurde, dass schon im ersten Drittel des Parketts nichts zu verstehen war.71
Neben den Problemen der dreistündigen Textadaption kann Peter Iden in der ZEIT mit Aus einem Trauerhaus mit der schlichten Inszenierung kaum etwas anfangen, findet sie gelangweilt und uninspiriert, ist aber vor allem enttäuscht, dass aus der politischen Brisanz des Stückes nichts herausgeholt wird: „Der Protest gegen die Verhältnisse, für den sich aus Kleists Novelle ja nun wirklich manch stützender Gedanke herauslesen lässt, wäre dann darin enthalten, dass er auf übertreibende Weise, gleichsam mit zusammengepressten Lippen, nicht artikuliert wird.” 72 Die mehrfach erwähnte undeutliche sprachliche Artikulation, vor allem der brisanten Stellen des Stücks, liest Bradley nach Auswertung der Stasi-Akten als
70 KMFO, Neue Zeit, 25.01.77. 71 KMFO, Berliner Zeitung, 25.01.77. 72 KMFO, DIE ZEIT, 20.01.77.
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einen Fall von Selbstzensur der Schauspieler. Durch die internen Anfeindungen und die beginnende Überwachungs- und Ausreisewelle verunsichert, fürchteten die Darsteller offenbar sowohl ein Verbot der Inszenierung als auch um ihre eigene Zukunft. So notierte Stasi-Informant „René“, dass man viele Passagen auch in den vorderen Reihen kaum verstanden hätte und auch etliche Passagen fehlten, weshalb der Text inkohärent wirkte.73 In Bradleys Lesart mag das teils an den angespannten Proben liegen, jedoch „it is also possible that the actors were swallowing potentially controversial lines – particularly when we consider that the cast included some of the GDR’s most talented and experienced actors [...].“74 In jedem Falle wurde das Stück nicht abgesetzt, aber Dresen zeigte sich gleichsam enttäuscht von der ausbleibenden Kontroverse und Debatte, die er eigentlich damit provozieren wollte. Dies scheint schlussendlich sowohl zu Nachbesserungen als auch zu mehr Selbstvertrauen seitens der Darsteller geführt zu haben, denn bei der dritten Aufführung berichtet schließlich Informant „Ewald“ von mehreren kritischen Momenten, wo das Publikum an Stellen, die an Ausbürgerungen, Besuch von Verwandten jenseits der Elbe oder internationales Recht anspielten, laut lachten und applaudierten.75 Die ausbleibende Absetzung und die bereits erfolgte, politisch unproblematische Besprechung in der WestPresse hatte somit sowohl dazu geführt, dass die Inszenierung erfolgreich und unzensiert gespielt werden konnte, aber auch Dresens Vertrauen in den Staat erschüttert, den er durch seine Arbeit voranbringen wollte. Nachdem er nach seiner Weigerung, von den Biermann-Protesten abzusehen, ein Disziplinarverfahren erdulden musste, wurde er aus der SED ausgeschlossen. Durch die Überwachung und den Ausschluss eines Künstlers, der eigentlich nur seiner Arbeit nachging, ist Dresen schließlich selbst zu einem Kohlhaas geworden: Outwardly, Dresen had accepted the SED’S decision on Faust, just as most of his colleagues had agreed to withdraw their protest against Biermann’s expatriation. But for Dresen, the Biermann dispute was a point too far – the point at which he seemed to switch his identification from Luther to Kohlhaas in refusing to accept what he viewed as repeated injustice.76
Mit deutlichen Konsequenzen: Auch Dresen sollte 1977 in die Bundesrepublik übersiedeln, Kohlhaas war seine letzte Inszenierung in der DDR.
73 Bradley, Politics of Cultural Impact (2010), S. 251. 74 Ebd. 75 Ebd., S. 252. 76 Ebd., S. 253.
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In vielerlei Hinsicht ähnliche Kleist- und Preußen-Bezüge, wenn auch in völlig anderer ästhetischer Ausgestaltung, finden sich bei Heiner Müller. Bei Müller wird die Krise des europäischen Intellektuellen mit einer spezifisch deutschen Geistfeindlichkeit kombiniert, und mit unzähligen inter- und metatextuellen Referenzen präsentiert er, in Brecht’scher Nachfolge und Weiterentwicklung, in seinem dialektischen theatrum mundi das Grauen und die Traumata der Geschichte, die die Gegenwart heimsuchen und dadurch den Fortschritt blockieren. Da das Drama seines Erachtens den Widerspruch zwischen dem Subjekt und dem unpersönlichen Prozess der Geschichte einfordere, ein solcher Widerspruch aber nur noch in der DDR ausgetragen worden sei, war die DDR zeitlebens sein Wirkungssujet par excellence.77 Neben den Stoffen seiner Revolutions- und Produktionsstücke, Antiken- und Shakespearebearbeitungen findet sich dabei eine Fülle stofflicher und thematischer Bezüge, die Kleist als einen permanenten und wichtigen Bezugspunkt von Müllers gesamter Schaffenszeit herausstellt. Kleist steht dabei für „Momente der Kontinuität und Diskontinuität, des Traditionsantritts wie des Traditionsabbruchs“,78 und gleichsam Pate als bewunderter Autor der Jugend, als individuelles tragisches Lebensschicksal sowie als repräsentatives Schicksal eines Intellektuellen im preußischen Staat. Kleists Texte werden von Müller aber ebenso in ein produktives Spannungsverhältnis zu anderen Texten gesetzt, wie Peter Riedl herausarbeitet, „wenn sich vergleichbare Problemkonstellationen, sei es inhaltlicher, sei es sprachlich-stilistischer Art, erschließen und fruchtbar aufeinander beziehen lassen.“79 Darin treffen sich die poetologischen Sphären Kleists und Müllers, da fast alle Dramen Müllers – dann für das 20. Jahrhundert – ihren Grundwiderspruch aus dem Missverhältnis zwischen einer Utopie entwickeln, „die die Erfüllung subjektiver Glücksansprüche in Aussicht stellt, und einer Realisierungsgeschichte dieser Utopie, die einerseits strategisch die Suspendierung dieser Glücksansprüche einfordert und andererseits didaktisch diesen Suspens noch als Vermittlung subjektiver Bedürfnisse mit den Erfordernissen der Allgemeinheit begreift.“80 Die literarische Transkription Kleist’scher Konflikte akzentuiert dabei, wie Riedl fortfährt, die Modellhaftigkeit von entsprechenden Phänomenen und historisiert so die Gegenwart:
77 Pabst, Post-Ost Moderne (2016), S. 105. 78 Stillmark, Kleist-Rezeption Heiner Müllers (1991), S. 73. 79 Riedl, Heiner Müllers Kleist (2014), S. 201. 80 Pabst, Post-Ost-Moderne (2016), S. 58.
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Dieses spezifische Aneignungsverfahren ist zugleich Voraussetzung und Modus von Gesellschaftsanalyse, konfiguriert es doch poietisch ein Modell von sozialen, politischen und ökonomischen Strukturen, die in der gleichermaßen intellektuellen und ästhetischen Rezeption kritisch reflektiert werden können.81
Dies wiederum verschmilzt mit der stofflichen Rezeption, für die vor allem wieder der Homburg zentral ist. Das Preußen Kleists und Friedrichs des Großen ist zudem auch für Müller eine Projektionsfläche, an der er Ursachen der Probleme für den real existierenden Sozialismus seiner Zeit sucht und beispielhaft durchspielt. Kleist und seine Werke, die, wie er in einem Interview mit Erich Fried 1956 sagt, „in den 50ern noch verboten [waren], unter dem Verdikt von Lukács“ (HMW 11, 168), bieten mannigfaltige Ansatzpunkte, um den „Mythos“ der DDR als dem besseren Deutschland permanent kritisch zu hinterfragen und gleichzeitig die Stellung des Intellektuellen zum Staat zu erörtern.82 Heiner Müller stellt zudem einen besonderen Schnittpunkt dar, da er sowohl als Autor als auch als Regisseur und Intendant tätig war und, ähnlich wie Brecht, die Gattungsebenen produktiv miteinander verschränkte. Wie für viele Autoren seiner Generation war Kleist ein prägender Autor der Jugendzeit. Laut Monika Meister waren „Kleists Arbeiten“ für Müller sogar „eine Voraussetzung des eigenen Schreibens“.83 Fest steht: Müller hat sich in jedem Falle an Kleist geschult. In seiner „Autobiographie“ KRIEG OHNE SCHLACHT. LEBEN IN ZWEI DIKTATUREN (1992) gibt er an, dass seine erste eigene Inszenierung am Gymnasium in Frankenberg Kleists Krug gewesen sei, auch wenn die Inszenierung „sicher kein Meisterwerk [war]“ (HMW9 42). Uwe Schütte hat darauf hingewiesen, dass seine 1953 publizierte Anekdote DER SELTSAME VORBEIMARSCH, in der ein listiger sächsischer Bauer im Kontext der Völkerschlacht bei Leipzig napoleonische Soldaten an der Nase herumführt, stark an Kleists Anekdote aus dem letzten preußischen Kriege (1810) angelehnt ist.84 Orientierung am „Modell“ Kleist und Ähnlichkeiten zu seinen Werken sind vor allem bei Müllers Dramen der 60er Jahre zu beobachten. Nach seinen an das
81 Riedl, Heiner Müllers Kleist (2014), S. 202f. 82 S. hierzu auch Eke, Kleist nachschreiben (2014). 83 Meister, Heiner Müllers Kleist-Lektüre (2004), S. 178. 84 Schütte, Arbeit an der Differenz (2010), S. 52.
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Brecht’sche Lehrstück angelehnten Produktionsstücken der 50er Jahre und dem Skandal um das Stück Die Umsiedlerin (1961), der ihm auf mehrere Jahre Publikationsverbot und den Ausschluss aus dem Schriftstellerverband einhandelte, vollzog Müller, ähnlich zu Wolf, Hein, Kunert und Dresen einen Wandel in seiner Stoffwahl. Weg vom Material des sozialistischen Realismus, der das konkrete Tagesgeschehen der DDR kommentieren sollte, verlegte Müller seine Untersuchung der ‚nichtantagonistischen Widersprüche‘ des sozialistischen Aufbaus auf scheinbar unpolitische Felder: das Antikendrama und Shakespeare.85 Wie Miguel Gomes herausgearbeitet hat, waren Shakespeare-Übersetzungen in den 60er Jahren Müllers Weg, nicht nur Geld zu verdienen, sondern um darüber auch seinen Weg zurück in die Autoren- und Theaterszene zu finden. Durch diese Übersetzungen entstand Müllers späteres Stück MACBETH.86 Müller nutzte fortan das klassische Geschichtsdrama, um den tabuisierten Stalinismus zu thematisieren, als kritische Bestandsaufnahme der Geschichte des Sozialismus. Jene wurde für Müller von einer Gewaltlogik angetrieben, deren Mechanismen sich bis in die Antike zurückverfolgen ließen.87 Die Logik dahinter ist folgende: In dieser Zeit entwickelte Müller eine Sicht auf Geschichte und eine Theorie des Geschichtsdramas, die sich weniger auf konkrete historische Ereignisse als auf eine gemeinsame Geschichtsphilosophie fokussierte. Zentral für jene war für Müller, und hier zeigt sich die Verwandtschaft zu Dresens gefesseltem Lorbeer, eine zyklische Wiederkehr von Schrecken und Gewalt. Auffällig ist hierbei aber die Drastik und Brutalität, die Müller ästhetisch ansetzt und damit Brechts Ästhetik deutlich radikalisiert. Für Müller müssen Kunst und Dichtung „einverstanden sein [...] mit der Grausamkeit“. Seine, wie Bohrer es literaturgeschichtlich verortet, „ästhetische Imagination des Bösen“, ist didaktisch-dialektisch intendiert und, wie Dietmar Voss betont, „jenseits von moralisierenden, von theoretisch-philosophischen Diskursen.“88 An den antiken Mythen faszinierte Müller dabei „die Wiederkehr des Gleichen […] unter ganz anderen Umständen […] und dadurch auch die Wiederkehr des Gleichen als eines Anderen.“89 Der Mythos erwies sich dabei für Müller „als ein Ag-
85 Vgl. Schütte, Heiner Müller (2010), S. 36. 86 Gomes, Texts waiting for History (2014), S. 13 87 Vgl. Schütte, Heiner Müller (2010), S. 9. 88 HM und Alexander Kluge: “Ich schulde der Welt einen Toten. Gespräche” (Hamburg 1996), S. 60 & Karl-Heinz Bohrer, Imagination des Bösen (München 2004), S. 464ff., beides zitiert nach Voss, Von deutscher Faszination des Bösen und des Schmerzes (2016), S. 385. 89 Zitiert nach Emmerich, Kleine Literaturgeschichte (2009), S. 342.
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gregat, eine Maschine, an die immer neue und andre Maschinen angeschlossen werden können“.90 Ähnliches hielt er auch für Shakespeare fest: Shakespeares Stücke zeigten ebenso „den Schrecken der Wiederkehr des Gleichen“.91 Müller nutzte, wie viele seiner Kollegen dieser Zeit, seine Stoffwahl somit einerseits als mise en abyme, um seine Beschäftigung mit Stalinismus im Gewande des Antikendramas und der Bearbeitung von Shakespeare, der spätestens seit 1964 in der DDR zum Theaterstandard erklärt wurde,92 weiter durchführen und sich gleichzeitig mit vermeintlich neutralen Stoffen wieder im Theater etablieren zu können, andererseits aber auch, weil sie seinen geschichtsphilosophischen Vorstellungen adäquater zur Umsetzung gereichen. Dabei wird er nicht müde zu betonen, dass es sich nicht um ein Ausweichen vor der Gegenwart handele, sondern nur um eine Verlagerung auf andere Interessen, wie Müller z.B. 1987 in einem Interview mit Walter Höllerer deutlich machte, in dem sich auch zeigt, welche Rolle er Kleist hierbei zuspielt: Das ist auch ´ne deutsche Tradition. Kleist ist auch nicht ausgewichen mit der Penthesilea, höchstens als Autor. Er hat gefunden, dass er sich in so einem mythologischen Stoff freier bewegen kann, auch besser realisieren kann als Autor oder artikulieren kann als in einem historischen. (HMW 10 547)
Der Traditionsbezug Müllers auf Kleists Arbeit an Penthesilea nahm schon vorweg, was Christa Wolf 1983 mit ihrem Kassandra-Projekt und ihrer PenthesileaAusgabe in Angriff nehmen würde (Kapitel 3), und zeigt gleichsam, wie beide von Benjamins Engel der Geschichte beeinflusst sind, wenn sie in der Vergangenheit die Grundlagen für die Probleme der Gegenwart erforschen. Dass diese beiden sehr unterschiedlichen Autoren selben Geburtsjahrs ihre Stoffkritik derart synonym herleiteten, zeigt im Falle ihrer Arbeit am Mythos erneut die generelle Vorstellung der konstruktiv kritisierenden gesellschaftlichen Instanz des Autors im Sozialismus. Doch auch für Müller gibt es eine klare Diskrepanz zwischen der eigenen dialektischen Interpretation und der ideologisch agierenden Staatsführung. Auf dem 11. Plenum des Zentralkomitees der SED 1965 wurde Müller zusammen mit Kunert, Heym, Hacks, Braun und Biermann abgestraft für die „modernistischen, skeptizistischen, anarchischen, nihilistischen, liberalistischen und pornographischen“ Strömungen ihrer Literatur.93 Das ideologische Fass war
90 Ebd., S. 357. 91 Gomes, Texts waiting for History (2014), S. 18. 92 Ebd., S. 13. 93 Vgl. Emmerich, Kleine Literaturgeschichte (2009), S. 181.
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für ihn spätestens übergelaufen, als die SED-Führung die Utopie als präsentisch verkündete: „Damals hatte die Partei gerade beschlossen, dass der Sozialismus eine selbständige geschichtliche Formation und nicht der Übergang zum Kommunismus sei, die Heiligsprechung der Misere, die Geburt der Karikatur ‚real existierender Sozialismus‘.“ (HMW9 157) Diese Formulierung war ein weiterer Schritt hin zum Utopieverlust, zumindest in Gestalt der DDR. Das ging auch einher mit einer Infragestellung der zu benutzenden Stoffe, die zunächst vom Erbe stark eingeschränkt waren. Obwohl Müller die KanonIdee grundsätzlich unterstützte, so sah er Probleme in deren praktischer Umsetzung, wie er in seiner Schrift Kennst du Kleists Schrift „Über das Marionettentheater“ (1950) ausdrückt: „Die Formalism[us]diskussion, grundsätzlich richtig, stiftet viel Verwirrung. Arkadische Schinken sind gefragt... Sentimentales, Mythologisches“ (HMW 8 509). Die Flucht nach vorn zu den vermeintlichen Klassikern und mythischen Stoffen, und da befinden die Autoren sich in der Tat in einer Kleist vergleichbaren Situation, barg die Möglichkeit, an universellen Stoffen konkrete Probleme der Gegenwart abzuarbeiten. Gleichsam boten diese Stoffe auch genug utopisches Potential. Spätestens in den 70er Jahren war für Müller, ähnlich wie für Wolf und Schlesinger, das utopische Potential des Landes vorerst verbraucht, die Realisierung des Kommunismus blieb aber weiterhin das Ziel seiner Arbeiten. Dabei sollte, in der Tradition des epischen Theaters, der Reflexionsprozess, den er durch die Darstellung der kontinuierlichen Katastrophen und Gewalt auf der Bühne auslösen wollte, dazu führen, dass die Menschen sich und ihr Handeln ändern und irgendwann mit diesen Gewaltszenarien nichts mehr anfangen können. Das gilt auch für Shakespeare: „Shakespeare ist ein Spiegel durch die Zeiten, unsre Hoffnung, eine Welt, die er nicht mehr reflektiert. Wir sind nicht bei uns angekommen, solange Shakespeare unsere Stücke schreibt.“ (HMW8 335) Eine utopische Zukunft ist eine Zukunft ohne Shakespeare, und auch ohne Müller selbst: „Meine Hoffnung ist eine Welt, in der Stücke wie GERMANIA nicht mehr geschrieben werden können, weil die Wirklichkeit das Material dafür nicht mehr bereithält.“94 Kleist war für Müller nun eine der stofflichen Quellen, in der sich eine solche Wiederkehr des Schreckens finden ließ: Florian Vaßen findet im HORATIER (1968), der „(z)wischen Lorbeer und Beil“ steht und von den Römern nach erfolgreichem Sieg hingerichtet wird, sowohl starke Ähnlichkeiten zu Homburg
94 Zitiert nach Colombo, Das Drama der Geschichte bei Heiner Müller und Christa Wolf (2009), S. 211.
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als auch zum Gerichtsdrama Der zerbrochene Krug,95 während das Stück selbst in der Einschätzung Schüttes ein Plädoyer für den wahrhaftigen Umgang mit der „unreinen Wahrheit des Sozialismus“96 ist, da jeder Sieg auch die Opfer miteinschließen müsse. Auch hier somit direkte Verwandtschaft zum gefesselten Lorbeer Dresens. Für den bereits genannten PHILOKTET (1964) sieht Rolf-Peter Janz in Kleists Hermann aus der Hermannsschlacht ein Vorbild für Müllers Odysseus, der vor ein ähnliches Geschichtsbild gestellt wird: 160 Jahre nach der Hermannsschlacht kommt Müllers Drama PHILOKTET zu einem ähnlichen Urteil wie Kleist: die Welt ist und bleibt eine Welt im Ausnahmezustand, eine Welt des Terrors. Wie diese Welt funktioniert, wie die Gewalt entsteht und exekutiert wird, mit welchen Mitteln sie gerechtfertigt und propagandistisch genutzt wird – das jedenfalls lässt sich auf der Bühne demonstrieren.97
Die Gemeinsamkeit drastischer Gewaltdarstellungen repräsentiert einen unverzichtbaren Bestandteil für Müllers Werke. Er teilt mit Kleist eine Vorliebe für stark formulierte Antagonismen, die katastrophale Gewaltverhältnisse generieren, bei beiden kommen Aggressionen und Gewaltakte in einer Sprachgewalt daher, die ihresgleichen sucht. Vor allem inszeniert Müller aber „ebenso wie Kleist Ausnahmezustände, Extremsituationen wie Kriegsfälle oder moralische Dilemmata, und er wählt ähnlich wie Kleist Versuchsanordnungen […], um sie durchzuspielen.“98 Deswegen üben Shakespeares Stücke und die antiken Mythen auch einen derartigen Reiz aus, da sie ein schier unerschöpfliches Reservoir an extremen Motiven, Verhaltensmustern und Handlungsmodellen lieferten, die im Angesicht der Geschichte des 20. Jahrhunderts zeigten, wie wenig sich der Mensch in den vergangenen Jahrtausenden verändert hatte.99 Diese Stoffe wurden stellvertretend für das Universum Müllers, das als Zentrum „[d]ie Terrorgeschichte des Sozialismus in der DDR-Provinz und anderen Orten“100 hatte.
95
Vgl. Vaßen, „Die Arbeit an der Differenz“ (2011), S. 230.
96
Schütte, Heiner Müller (2010), S. 42.
97
Janz, Auf den Spuren Kleists (2013), Position 3520.
98
Ebd., Position 3499.
99
Vgl. Schütte, Heiner Müller (2010), S. 36.
100 Emmerich, Kleine Literaturgeschichte (2009), S. 508.
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In den 70er Jahren ist bei Müller aber vor allem ein deutlicher Kleist-Bezug festzustellen, nämlich zu Homburg, den er zum Grundmodell einer „preußischen“ ideologischen Unterdrückung der dialektischen Intelligenz weiterentwickelte. Jenes Homburg-Modell, wie Kunerts Kleist-Modell, repräsentiert dabei einen weiteren Inbegriff einer dialektisch-marxistischen Kulturkritik an der DDR und an Europa im Ganzen. In dieser Zeit wurde, als Weiterentwicklung des Shakespeare’schen Geschichtsdramas, die deutsche Geschichte stetig wichtiger als Stoffquelle für Müller. Die Erfahrungen von Ungarn-Aufstand, Prager Frühling und Post-Stalin-Ära schlugen sich bei Müller in einer Radikalisierung der Darstellung und im Loslösen von einer formalen Dramenstruktur nieder. Wie er in KRIEG OHNE SCHLACHT angab, waren die 70er Jahre der signifikante Sitz im Leben für jenes Geschichtstheater, weil er in den 50ern noch über kein „Instrumentarium [verfügte], das in eine Theaterform zu bringen, bzw. in der DDR kein Theater dafür“ existierte (HMW9 198). Stücke wie Germania Tod in Berlin (1971) oder Die Schlacht (1974), deren Anfangsphasen bis in die 1950er zurückreichen, unterziehen den Anspruch der DDR, aus der deutschen Geschichte gelernt zu haben, einer entschiedenen und vor ideologischen Tabus nicht zurückschreckenden Kritik.101 Für Müller als Autor ergab sich zudem die Frage, wie er sich als einer der Schriftsteller, die in der DDR schließlich eine privilegierte Rolle genossen, und als Intellektueller dazu positionieren sollte. Eine literarische Antwort auf diese Frage fand er im Homburg. Jene „Zähmung eines Außenseiters“ (HMW10 132), wie er es 1978 formulierte, diente zunächst als Vorbild für Müllers Revolutionsstück MAUSER (1970). In seinen Aufzeichnungen findet sich folgende Notiz aus dem Jahre 1986, die beide Stücke in Zusammenhang stellt: HOMBURG Kleists preußischer Traum von einem sinnvollen Krieg, der auch die Gefühle bedient, statt sie bloß zu verwursten, MAUSER der Traum vom sinnvollen Töten für eine universelle und endgültige Gerechtigkeit – beides vor dem Hintergrund des von der europäischen Geschichte tradierten individuellen Todes (es gibt, in Europa, bis dato keinen anderen) […]. Beides historische Stücke: HOMBURG im Vorfeld der Oktoberrevolution, MAUSER vor dem Primat der Friedenssicherung. (HMW8 592)
In MAUSER muss sich der Revolutionär A vor dem als Chor auftretenden Revolutionstribunal verantworten, da er, neben vielen Konterrevolutionären, auch sei-
101 Vgl. Schütte, Heiner Müller (2010), S. 59f.
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nen Vorgänger B erschossen hat. Zentral ist aber sein Konflikt, für das höhere Ziel der Revolution Gefallen am Töten gefunden zu haben und sich gleichzeitig dafür vor sich selbst zu ekeln, wie weit er sich von seiner eigenen Menschlichkeit entfernen musste. Jenes Mäandern zwischen Gehorsam und Auflehnung, in das das Individuum A/Mauser angesichts eines Staats in Form des Tribunals versetzt wird, das ihm das anti-dialektische Ideal „Gegen den Zweifel an der Revolution kein / Andres Mittel als der Tod des Zweiflers“ vermittelt hat, ist der Grundkonflikt, den auch Artur Prinz Friedrich von Preußen durchleben muss.102 A/Mauser wird bei Müller allerdings nicht begnadigt wie Kleists Prinz. Er muss seinem Tod im Sinne der Revolution zustimmen, sodass sein Schlusssatz, der als einziger direkt an Kleists Homburg („In Staub mit allen Feinden Brandenburgs!“) angelehnt ist, dem Stück ein explizit düsteres Ende verleiht: „TOD DEN FEINDEN DER REVOLUTION.“ (HMW4 258). Jenen Grundkonflikt bei MAUSER beschreibt Jonathan Kalb als HomburgSyndrom: eine Metapher für das gefährliche und störrische Festhalten am Muster von instrumentalem und funktionalen Denken, für welches Preußen eine Art „Weltzustand“ bei Müller abliefere.103 Dies steht in engem Zusammenhang mit Müllers Inszenierung von Brechts Fatzer-Fragment. Für Müller ist Der Untergang des Egoisten Johann Fatzer nicht nur Brechts wichtigster Text, sondern ebenfalls eine Homburg-Bearbeitung, aus der Müller das Stück-Format ableitet, was ich in Anlehnung an Kalb und Müllers Kleistpreisrede 1990 als sein Homburg-Modell bezeichnen würde.104 Damit verdreht Müller die Logik der Unterwerfung, die Brechts Schmähgedicht kennzeichnete und hinterfragt die Logik der Unterdrückung, die er bei Brecht an Kleist orientiert sieht. Dem liegt der Konflikt des Homburg zugrunde, der in Müllers wie Brechts Lesart, ähnlich auch wie Dresens gefesselter Lorbeer in Kleists Einsicht liegt, dass eine „gewaltlose Anerkennung der Subjekte nicht möglich ist und dass ihr Konflikt nach dem ‚Homburg-Modell’ dialektisch und performativ ausgetragen werden muss.“105 Müller stellt den Konflikt als ein Aufbegehren gegen jenen Weltzustand Preußen dar, der für verschiedenste historische Kontexte gelten kann, aber stets mit der DDR parallelisiert wird. Jenes Aufbegehren soll dann im Zuschauer, in Brecht’scher Nachfolge, einen Reflexionsprozess auslösen. Wie Michael Gratzke festhält, ist „Kleists preußischer Traum [...] trotz seiner historischen und ideo-
102 Vgl. Gratzke, Blut und Feuer (2011), S. 151. 103 Kalb, The Theater of Heiner Müller (2001), S. 56. 104 Vgl. Gratzke, Brecht und Heiner Müller lesen Kleists Prinz Friedrich von Homburg (2011), S. 459. 105 Ebd., S. 455.
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logischen Distanz nicht weit vom Traum von einem besseren Deutschland entfernt, den Brecht und Müller träumten.“106 Konkret lässt sich dies erstmals bei Matthias Langhoffs Inszenierung von Fatzer zusammen mit Homburg 1978 am Hamburger Thalia Theater feststellen, für welche Müller die Textfassung schrieb. In einem Interview dazu im selben Jahr wird er über die Zusammenhänge der beiden Stücke befragt: MÜLLER Man kann den „Prinzen von Homburg“ lesen als ein Stück über eine Zähmung, die Zähmung eines Außenseiters, der angepasst wird mit diesem groben Scherz der gespielten Hinrichtung. FRAGE Aber Fatzer lässt sich nicht anpassen… MÜLLER Eben, da geht’s tödlich aus. Bei Kleist geht es gut aus – und darum ist es viel tödlicher. Wenn ich diese beiden Stücke in einen Zusammenhang stelle, dann deshalb, weil ich etwas herausfinden will. Ich versuche meine Unruhe, mein Aufgestörtsein durch einen Stoff auf das Publikum zu übertragen. Wenn diese Homburg/Fatzer-Verbindung Proteste im Zuschauerraum auslöst, dann wäre schon eine Störung des Geschäftsablaufs erreicht. (HMW10 132)
Mit dieser Störung des Geschäftsablaufs soll der Zuschauer in einer Weise aufgerüttelt werden, dass ihm/ihr die Geschichtslosigkeit der Zeit bewusst wird, und Müller meint konkret: „die DDR. Und da befinden wir uns in einer Zeit der Stagnation, wo die Geschichte auf der Stelle tritt, die Geschichte einen mit ‚Sie‘ anredet. Es gilt, eine neue Dramaturgie zu entwickeln oder das Stückeschreiben aufzugeben“ (HMW10 134). Für diese Stagnation sind für Müller die Figuren des Homburg oder Fatzer ausschlaggebend. Die Zähmung des Außenseiters wird dabei zum universellen Dreh- und Angelpunkt und zur zentralen Metapher des Homburg-Modells, die das Normieren von Individuen beschreibt, die aus dem Rahmen fallen, die für das Normsystem ein Problem darstellen. Dies sind oft die Intellektuellen, die gewaltsam auf Linie getrimmt werden müssen, und da sind die Homburgs und Kleists allgemeingültige Vorbilder, die als Gundling oder Lessing gegen ihren Bruder Hamlet auf der Müllerschen Bühne anreden. Müller legt somit den Finger in die Wunde aller normativen Gesellschaften und misst sie daran, wie sie mit ihren schwächsten Mitgliedern umgehen. Damit einher geht für Müller, dass sein Schreiben zunehmend auf eine Störung von Sinnzusammenhängen zielt, indem in Homburg-Manier vermehrt das Zerrissene und Traumhafte, die Furcht und der Schrecken zum Gegenstand der Darstellung werden. Der Fokus liegt dabei auf der Geschichte, die aber nicht klassisch-
106 Ebd.
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marxistisch als eine Entwicklung zum Besseren hin, sondern, ähnlich Kunerts „schwarzen Gedichten“, dialektisch ihren Schwerpunkt auf das Böse setzt.107 Die Störung von Sinnzusammenhängen und das Anti-Klassische (und ergo auch Anti-Ideologische) schlagen sich auch in der Form von Müllers Dramen nieder, und auch hierfür ist Brechts Fatzer-Fragment ein ästhetisches Vorbild.108 Die Stücke der 70er Jahre stellen einen kontinuierlichen stofflichen Verdichtungsprozess dar und sind meist nur noch „thematisch verbundene und dichte Gewebe aus Zitaten, die sich mit deutscher Geschichte und Mythologie beschäftigen“,109 also synthetische Fragmente. Wie Schütte betont, gehen diese einher mit einem offenen Literaturbegriff Müllers, der seine Arbeit stets als Prozess sah und keine abgeschlossenen Werke produzieren wollte,110 was zudem auch seiner Schreibweise entsprach, da er gewöhnlich Szenen bei den Proben testete und daraufhin anpasste. Die stark experimentellen Stücke, die er zwischen 1972-82 schrieb, sind der Ausdruck einer Suche nach einer neuen Dramenform, die das herkömmliche Drama dekonstruieren sollte. Diese sind somit auch ein weiterer Ausdruck des Gefühls einer Übergangszeit, ähnlich der Romantik oder der Moderne, die ähnliche Formen hervorbrachten. Gomes betont zudem, dass Müllers deutliches Interesse an postmodernen und dekonstruktivistischen Denkern111 in dieser Zeit einerseits ein Grund für die strukturelle Veränderung seines Schreibens war, andererseits und vor allem aber ein Beleg für die Anerkennung des Scheiterns und der Unmenschlichkeiten jenes großen europäischen Projekts der Aufklärung sei, zu der auch der Marxismus gehöre.112 Beide Aspekte sind maximal verdichtet in den beiden Stücken Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei (1976) und seinem wohl berühmtesten Stück, Hamletmaschine (1977).
107 Vgl. Schütte, Heiner Müller (2010), S. 8. 108 Gratzke betont hierbei, dass Müller Kleist als einen Vorläufer des anti-humanistischen Theaters begreift, welches sich gegen die Vorstellung der in sich ruhenden klassischen Person, die maßgeblich von Schiller propagiert wurde, wendet. Damit sei der gemeinsame Ausgangspunkt Kleists, Brechts und Müllers die Inszenierung des Verlusts der klassischen Person. Gratzke, Brecht und Heiner Müller lesen Kleists Prinz Friedrich von Homburg (2011), S. 456. 109 Kalb, The Theater of Heiner Müller (2001), S. 10. 110 Vgl. Schütte, Heiner Müller (2010), S. 8. 111 Er nennt u.a. Artaud, Foucault und Deleuze: Gomes, Texts waiting for History (2014), S. 15. 112 Gomes, Texts waiting for History (2014), S. 156.
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Die Krisenjahre der 70er lösten für Müller keine persönliche Krise aus, die er literarisch verarbeitete. Vielmehr stellte er als Dramatiker die Vorgänge analytisch zur Schau und thematisierte konkret das Verhältnis des Intellektuellen zum autoritären Staat, wobei das Homburg-Modell wiederum Anwendung findet. Die Hamletmaschine entwickelt Hamlet als den paradigmatischen europäischen Intellektuellen, der grübelnd und passiv die Geschichte an sich vorbeiziehen lässt und dadurch die Zerstörung der Welt nicht aufzuhalten vermag. Der kurze, dialoglose Text stellt ästhetisch sowohl ein weiteres synthetisches Fragment dar, wie es in seiner hermetischen Struktur auch gleichzeitig die Zerstörung einer Ikone europäischer Literatur repräsentiert, die, wie das Europa im Eingangsmonolog, in Ruinen liegt.113 Jene Entstofflichung ist Müllers Ausdruck einer Dialoglosigkeit zwischen Autor und Geschichte im Sozialismus und gleichsam Folge seines in diesen Jahren selbstbezeugten „Hauptinteresse[s] beim Stückeschreiben […], Dinge zu zerstören. Dreißig Jahre lang war Hamlet eine Obsession für mich, also schrieb ich einen kurzen Text, Hamletmaschine, mit dem ich versuchte, Hamlet zu zerstören“ (HMW10 217f.). Das Stück, wie Gomes analysiert, ist vor allem aber ein Stück über ein „Dazwischensein“,114 gefangen zwischen verschiedenen Ereignissen, am Ende einer Ära und am Beginn einer anderen, was das Stück thematisch sehr nahe an Christa Wolfs KON und Kunerts Arbeiten heranrückt. Es ist auch Ausdruck von Müllers Schwebezustand zwischen Distanz zur Politik auf der einen Seite und die durch Privilegien von der Bevölkerung abgelöste Position des Autors auf der anderen. Was von Hamlets Zerstörung übrig bleibt, sind die Geister der Vergangenheit, die unerlöst die Gegenwart von Müllers Bühne heimsuchen, als Ausdruck der Gegenwart und um die Gegenwart aufzurütteln: Wenn Shakespeare über Rom schreibt, wie im „Julius Caesar“, dann stammen die Römer aus London. Die Begriffe Historismus und Historisieren gab es nicht. Ich glaube, dass im Theater immer Gegenwart stattfindet. Es gibt auch mit alten Stücken keine andere Wirkungsebene als eine zeitgenössische. (HMW10 447)
Während Hamletmaschine dabei einen deutlich persönlicheren Aspekt der Krise des Intellektuellen hervorhebt, so bringt Leben Gundlings dies mit konkreten Figuren der deutschen Geschichte zusammen, und zwar mit Preußen in Form einer
113 Vgl. ebd., S.105. 114 Ebd., S. 103.
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Politsatire. Das Stück ist Aufarbeitung preußischer Geschichte und drastischer Gegenwartskommentar, wenn genau zu diesem Zeitpunkt in der DDR die geschmähten Geister preußischer Intellektueller auftauchen und das Preußische im DDR-Verhalten offenbar machen, wodurch Müller auch bereits kritisch die Preußen-Wiederbelebung der frühen 80er Jahre vorwegnimmt.115 Müller sagt in KRIEG OHNE SCHLACHT: „Die DDR, die ich, im Doppelsinn des Wortes, beschrieben habe, die Beschreibung ist auch eine Übermalung, war ein Traum, den Geschichte zum Alptraum gemacht hat, wie das Preußen Kleists und Shakespeares England“ (HMW9 285). Über diesen Doppelbezug, der seine Traditionslinien sowie den Zusammenhang der beiden Stücke verdeutlicht, zeigt sich, dass Müller Homburg und Hamlet in Kombination untersuchte, um nachzuvollziehen, wie sich im aufgeklärten Preußen jene chauvinistischen und geistfeindlichen Tendenzen herausgebildet haben, deren negative Langzeitwirkungen man in der DDR der Gegenwart repräsentiert finden kann.116 Wie Germania und Hamlet, so ist auch Leben Gundlings eine Phantasmagorie, in welcher die Figuren wie Geister aus dem Totenreich die Bühne bevölkern. Müllers Stück drückt aus, dass die Geschichte immer wiederkehrt, indem er alte Stoffe und Stücke wiederkehren lässt als Geister, in der Hoffnung, dass jene seine Texte einmal die Geschichte erleben werden, die ihm fehlt.117 Die geschundenen Intellektuellen in Müllers „Greuelmärchen“, so der Untertitel des Stücks, die nach dem Modell des Reiterdenkmals Friedrichs des Großen Unter den Linden gestaltet sind, wo die „Generäle vorn [sind] und die Intellektuellen unterm Pferdearsch und kriegen die Scheiße ab“ (HMW9 211), sind die drei im Titel genannten und Kleist. So sehen wir zu Beginn den Hofgelehrten Jacob Paul Freiherr von Gundling, der vom Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. in Szenen normativen Wahnsinns und prolligem Soldatenmiteinanders öffentlich gefoltert und lächerlich gemacht wird, was er aber erträgt und, Hamlet zitierend, von England träumt und den Menschen als eine bösartige Wucherung beschreibt. Ihm wird der junge Friedrich II. an die Seite gestellt, der sowohl Zärtlichkeiten und Schroffenstein-artig die Kleider mit seiner Schwester Wilhelmine tauscht, als auch ein homoerotisches Verhältnis mit seinem Erzieher, dem Leutnant Katte, unterhält. Damit aus dem jungen Friedrich aber ein Mann werden kann, lässt Friedrich Wilhelm Katte, um „Ihm das Arschficken […] und das Französischparlieren“ (HMW4 516) auszutreiben, vor Friedrichs Augen hinrichten, was Friedrich mit seinem „Sire, das war ich.“ (HMW4 516) als seine eigene Exekution in-
115 S. Zimmering, Mythen in der Politik der DDR (2000). 116 Vgl. Schütte, Heiner Müller (2010), S. 78. 117 Vgl. Gomes, Texts waiting for History (2014), S. 130.
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terpretiert. Als Kontrast dazu sehen wir den erwachsenen Friedrich, der in grotesken Szenen seine toten Soldaten verwaltet, in dessen Irrenhäusern die Zwangsjacke in Hegelschem Ton118 als ein „Instrument der Dialektik, […] eine Schule der Freiheit“119 gepriesen wird und der in der Feldinspektionsszene ET IN ARCADIA EGO Voltaire Rüben als Orangen anpreist, wobei der Bildhauer Schadow den Bauern in Stein meißelt, ein Kinderchor singt, ein Heer von Malern die Szene festzuhalten versucht, während Schiller auf einem Pult unter Hustenanfällen den SPAZIERGANG rezitiert. Nicht nur, wie Schütte betont, wurde in der Zwangsjacke oft ein Bild für den „antifaschistischen Schutzwall“ gesehen.120 Auch die Feldszene hat ein DDR-Vorbild: Müller betonte, dass er in einem wilhelminischen Schulbuch einen Bericht über eine Inspektionsreise Friedrichs fand, die ihn „penetrant/erfreulich“ an einen Bericht über eine Inspektionsreise Ulbrichts in die Landwirtschaft erinnerte (HMW9 210f.). In der Sterbeszene Friedrichs wird durch den Titel „Staatsrat“ ebenso auf Ulbricht und ähnlich bizarre Begräbnisrituale (Stalin, Wilhelm Pieck) Bezug genommen.121 Schließlich wird Lessing auf die Bühne gebracht, der sich nach dem Vergessen sehnt, sich die Hölle als Ansammlung von Schreckensbildern der Vergangenheit ausmalt und den Versuch unternimmt, sich gegen seinen Klassiker-Status aufzulehnen, aber letztendlich von den Büsten großer Dichter umstellt wird, bis man ihm selbst auch seine eigene Büste gewaltvoll überstülpt, aus der man nur noch seinen dumpfen Schrei vernehmen kann.122
118 Vgl. Fontius, Preussenkarikatur und DDR-Parodie (2007), S. 202. 119 Ebd., S. 526. 120 Schütte, Heiner Müller (2010), S. 80. 121 Fontius, Preussenkarikatur und DDR-Parodie (2007), S. 201. 122 Lessing, im Gegensatz zu Kleist, ist ein Beispiel eines in der DDR durchweg positiv rezipierten Autors, was vor allem auf Franz Mehrings berühmte Lessing-Legende (1893) zurückzuführen ist, welche nicht nur zum marxistisch-literaturgeschichtlichen Standardwerk avancierte, sondern auch Lessing zum Status eines Autors der Emanzipationsbewegung des deutschen Bürgertums verhalf. Jedoch, wie Hans-Georg Werner 1984 bereits für die marxistische Aneignung Lessings kritisch bemerkte, verwandelte sich Lessing unter Mehrings Feder „in ein Pendant zum politischen Selbstbewusstsein jenes Schriftstellertyps, den Mehring selbst repräsentierte.“ Was Mehring somit affirmativ für die Lessing-Rezeption in der DDR bedeutete, steht in direktem Kontrast zum Urteil des „ewigen preußischen Junkers“, das er über Kleist verhängt hatte. Wenn Müller diese ikonischen Figuren der sozialistisch-kulturellen Erbes auf der Bühne versammelt, so kritisiert er einerseits auch das Klassiker-Gehabe, geht aber andererseits sowohl den Klassikern als auch den vom Erbe Verstoßenen auf den Grund und lässt
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Es werden somit drei Intellektuellen-Haltungen zur Macht dargestellt, in denen sich Homburg- und Hamlet-Modell wiederfinden: Gundlings masochistische Unterwerfung, Friedrichs sadistische Exekution und Lessings resignierter Rückzug. Zwischen der Sterbeszene Friedrichs und Lessings Auftritt ist nun als Übergang eine kurze Szene zwischengeschaltet, die Pantomime „Heinrich von Kleist spielt Michael Kohlhaas“: Verkommenes Ufer (See bei Straußberg). Kleist, in Uniform. Kleistpuppe. Frauenpuppe. Pferdepuppe. Richtblock. Kleist berührt Gesicht Brust Hände Geschlecht der Kleistpuppe. Streichelt küsst umarmt die Frauenpuppe. Schlägt mit dem Degen der Pferdepuppe den Kopf ab. Reißt der Frauenpuppe das Herz heraus und isst es. Reißt sich die Uniform vom Leib, schnürt den Kopf der Kleistpuppe in die Uniformjacke, setzt den Pferdekopf auf, zerhackt mit dem Degen die Kleistpuppe: Rosen und Därme quellen heraus. Wirft den Pferdekopf ab, setzt die Perücke (fußlanges Haar) der Frauenpuppe auf, zerbricht den Degen überm Knie, geht zum Richtblock. Nimmt die Perücke ab, breitet das Frauenhaar über den Richtblock, beißt sich die Pulsader auf, hält den Arm, aus dem Sägemehl rieselt, über das Frauenhaar auf dem Richtblock. Vom Schnürboden wird ein graues Tuch über die Szene geworfen, auf dem ein roter Fleck sich schnell ausbreitet. (HMW4 532f.)
Die Bedeutung dieser reinen Regieanweisungsszene hängt natürlich sehr stark von der endgültigen Inszenierung ab. Jedoch schrieb Müller seine Stücke auch für den Kopf des Lesers, wissend, dass sie in der DDR nicht aufgeführt werden konnten, auch wenn dies hier letztlich nicht der Fall war.123 Auch die reine Textvariante bietet vielerlei Interpretationsansätze: Einerseits wirkt es wie eine Identitätskette Kleists, der sich selbst, als Soldat, als Revolutionär im Gewande Kohlhaas‘, als Liebhaber, als Frau, Wahnsinniger und Selbstmörder spielt, gespickt mit Anspielungen an Müllers eigenen Medea-Text (Verkommenes Ufer), Kleists Marionettentheater (Puppen), Verlobung (Frau auf dem Richtblock) und Penthesilea (Rosen). Honnef fasst die Szene zusammen als eine „Orgie von Gewalt, in der Kleist zuerst gegen die Objekte in seiner Nähe wütet und schließlich sich selbst umbringt.“124 Für Stillmark ist es eine Darstellung von Kleists vergeblicher Suche nach Utopia, die ihn über die verschiedenen Stationen seines Selbst
sie zusammen sein „Greuelmärchen“ deutscher Kulturgeschichte bevölkern. Vgl. Werner, Ideelle Formen der marxistischen Lessing-Aneignung in der DDR (1984), S. 401f. 123 Schütte, Heiner Müller (2010), S. 77. 124 Honnef, Kleist in der DDR (1988), S. 148.
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zur Verzweiflung und zu einer Zerstörungsorgie führt.125 Markus Wilczek fügt noch einen weiteren Aspekt hinzu, indem er argumentiert, dass Kleist als Puppenmeister und somit Autor-Subjekt seine privilegierte Stellung im kreativen Schaffensakt aufgibt und somit selbst einer der vielen Aspekte des künstlerischen Schaffensprozesses wird, als Metapher für das Autorschaftskonzept, das Müller sich selbst gibt.126 Dies sind alles wichtige Aspekte, die zur Deutung dieser Szene beitragen. Meines Erachtens der wichtigste Punkt ist allerdings die Positionierung der Szene im Zusammenhang des Stückes. Kleist hat es als einziges Intellektuellenschicksal des Stückes nicht in den Titel geschafft und befindet sich in einer Verwirrzone zwischen Biographie und Fiktion, die durch die Motive Blut und Sägemehl dargestellt werden. Ein Schlüssel zur Erschließung ist die Anmerkung Müllers, dass die Rollen des jungen Friedrich, Kleists und Lessings in der Büstenszene vom selben Schauspieler gespielt werden sollen (HMW4 537). Diese Vernetzung der drei Schicksale zeigt den Fall Kleists als HomburgModell, als Paradigma des zur Selbstzerstörung gezwungenen Intellektuellen in Preußen, oder in Müllers Worten „drei Figurationen eines Traums von Preußen, der dann staatlich abgewürgt wurde in der Allianz mit Russland gegen Napoleon.“ (HMW9 211). Als Kohlhaas-Szene ist sie zudem ein Scharnier zwischen dem Preußen Friedrich und dem Sachsen Lessing, da Kohlhaas’ Geschichte den Grenzkonflikt beider Staaten par exellence repräsentiert und den der Sachse Heiner Müller auch stets selbst mit dem Preußen in der DDR auslebt. Auch sonst sind die drei Figuren miteinander verwoben: Das Sägemehl/Blut-Motiv wird bei Lessing wieder aufgegriffen, der junge Friedrich und Kleist haben noch natürliche Regungen, die dann abgetötet werden müssen: beide streicheln Frauen, beide haben homoerotische Anklänge, und die über lange Zeit unterdrückten Triebe entladen sich in Gewalt.127 In seiner Kleistpreisrede 1990 verbindet er sie zudem rückwirkend, indem er Friedrich und Lessing beide als Kleistfiguren benennt, die Opfer ihrer Verhältnisse geworden sind (HMW 11 794), wobei durch die Büste auch der Lessing-Kult der DDR karikiert wird. In der Figur des jungen Friedrichs vollzieht Müller einen Wandel, da er ihn erstmals differenziert, ihn in seiner Autobiographie sogar als „fast eine Identifikationsfigur“ (HMW9 211) beschreibt. Er beschreibt dort auch, dass ihn das Stück „mehr angeht als viele andere Texte. Ich kann nicht differenziert darüber reden. […] Es ist in vielen Punkten auch ein Selbstporträt“ (HMW9 212).
125 Vgl. Stillmark, Kleist-Rezeption Heiner Müllers (1991), S. 75f. 126 Wilczek, Reading Stuffing in Heiner Müller’s Kleist (2013), S. 135. 127 Vgl. Honnef, Kleist in der DDR (1988), S. 150.
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Das Kleist-Modell, das auch ein Homburg-Modell ist, ist ein Alptraum überbordenden Rationalismus‘, der durch die Aufklärung repräsentiert wird. Somit ist der Fall Kleist für ihn zudem eine Spätfolge Lessings: „[W]as Lessing durch die Weigerung zu träumen verdrängt hat, das bricht bei Kleist auf. Das ist, glaube ich, der Punkt: Man kann sich eine Zeitlang aus Disziplin oder aus Angst das Träumen verbieten, aber dann bricht es irgendwann auf, und der Traum wird eine rotierende Realität.“128 Das Bild des Aufbrechens benutzte Christa Wolf ebenso für die Romantiker in ihrem Günderrode-Essay, um die Leerstellen zu beschreiben, die die Aufklärung hinterlassen hat, und steht gleichsam sinnbildlich für die dialektische DDRKultur der 70er Jahre nach 20 Jahren Klassizismus-Diktat. Wie Gomes und Emmerich betonen, folgt Müller hier Foucaults Schriften, um die Geschichte der Aufklärung als permanente Ausbreitung von Macht, Disziplin, Dressur, Zwang, Gewalt und Tod darzustellen.129 Die rotierende Realität preußischen Terrors an Geist und Wissenschaft führt Müller in Leben Gundlings als einen Weltzustand vor, der wie der Engel der Geschichte der DDR vorgehalten werden soll als Spiegel und Kritik der abendländischen Zivilisation, der die Apokalypse stets droht. Diese Aspekte kulminieren in der Kleist-Szene und lassen sie dadurch zum Modell werden, das über den empirischen Autor Kleist hinausgeht und als verbindendes Moment die Szenen des Stückes zusammenhält. Damit ist es auch ein Ausdruck des sozialistischen Autors Müller, der ab diesem Zeitpunkt feststellen muss, „dass die Differenz zwischen der Geschichtszeit und seiner eigenen nicht mehr zu schließen ist; dass sich seine Erwartungen an das Leben nicht mehr erfüllen lassen in seiner subjektiven Zeit, und auch seine utopischen oder historischen Vorstellungen sich nicht mehr realisieren lassen in seiner Lebenszeit“.130 Doch trotz der Utopieverzögerung des Sozialismus hält Müller am Konzept fest und sieht auch dieses Stück als notwendigen kritischen Beitrag, der zur Verbesserung der Gesellschaft der DDR führen soll.
128 Interview mit Hendrik Werner, 1994: HMW 12 (2008), S. 719. 129 S. Emmerich, Kleine Literaturgeschichte (2009), S. 277 & Gomes, Texts waiting for History (2014), S. 130. 130 Emmerich, Kleine Literaturgeschichte (2009), S. 277.
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Deutlich konkreter zeigt sich die konstruktive Gesellschaftskritik bei Müllers „Schüler“: Der Dramatiker Stefan Schütz lernte Müller kennen, als er nach seinem ersten Stück 1969, einer Abrechnung mit dem System DDR, direkt eine Disziplinarmaßnahme erdulden musste: „Die Partei hat mich dann später 14 Tage auf Staatskosten nach Sibirien geschickt. Ich sollte auf den ‚richtigen‘ Sozialismus getrimmt werden. Als ich wiederkam, war ich mit dem Thema durch. […] Später bin ich dann bei Luzifer in die Lehre gegangen. Der nannte sich in der DDR Heiner Müller.“131 Jener war auch sogleich von ihm angetan und sieht in ihm 1976 einen Kleist-Schüler: Das erste, was ich von ihm las, war eine dramatische Satire, der Anlass eher privat, eine Kränkung, die er zu tief empfunden hatte, um keine Satire zu schreiben, das Resultat ein literarischer Bombenanschlag auf ein Theater. Das vom bürgerlichen Standpunkt Unangemessene der Reaktion weist ihn als Dramatiker aus. Kleist ist der deutsche Modellfall. […] In der besonderen Art, wie Stefan Schütz mit Widersprüchen unserer Epoche umgeht, die er schmerzhaft tief empfindet, wird zunehmend ein Bedürfnis nach dem Ausgleich deutlich, nach einem Weltzustand, der Drama nicht mehr braucht als freies Spiel von Kräften. (HMW9 2005, S. 178/79)
Nicht nur Müller scheint in Schütz einen Dramatiker gesehen zu haben, der ein ähnliches dramatisches, geschichtsphilosophisches wie utopisches Ziel verfolgte wie er selbst, sondern dies beruhte offenbar auf Gegenseitigkeit, wie Schütz betont: „Wir waren Kommunisten und Teufel, das war Honecker nie.“132 Der 1944 in Memel geborene Schütz, der 1965 die staatliche Schauspielschule in Berlin abschloss und zunächst als Schauspieler am Theater Neustrelitz und am Landestheater Halle arbeitete, gehört wie Schlesinger zu einer jüngeren Generation von Autoren, die es in den 70er Jahren bereits schwieriger hatten, sich zu etablieren. Auch er wird 1981 schließlich in die Bundesrepublik übersiedeln, und auch er wird „nie im Westen an[…]kommen“.133 Ähnlich wie Müller setzt er sich mit dem Geschichtsstück und zahlreichen antiken Stoffen auseinander134
131 Schnell, „Ich habe Angst vor den guten Menschen“ (1997), S. 5. 132 Ebd. 133 Schulze-Reimpell, Im Westen nie angekommen (1997), S. 11. 134 Wie in seinem ersten Stück Gloster (1970) und weiter in Odysseus‘ Heimkehr (1972), Antiope und Theseus (Die Amazonen) (1974) und Laokoon (1979).
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und höhlte damit, wie Günther Rühle 1981 bemerkte, „den Bild- und Argumentationshorizont der Kunstpraxis der DDR durch einen kräftigen, mythischen Unterstrom“ und einen „starken Irrationalismus“ aus.135 Kleist ist auch für Schütz dabei ein ästhetisches Modell: Wie Volker Riedel und Emmerich betonen, ist sein Antikenstück Antiope und Theseus inhaltlich und formal deutlich an Kleists Penthesilea angelehnt.136 Sein Kleistfragment,137 nach seiner Ausreise 1981 verfasst, gibt Kleists fragmentarischem Leben eine Gattungshommage und lässt zwei Figuren, gegenwärtige Verwandte Kleists und Henriette Vogels, ihrer Verzweiflung über den Zustand der Welt bildhaft Ausdruck verleihen. 1986 wird er seinen monumentalen DDR-Roman Medusa veröffentlichen, für den er den Alfred-Döblin-Preis erhielt und in dem die Hauptfigur Marie Flaam ihre Traumreise antritt, als Kritik totalitärer Herrschaft im Spannungsfeld zwischen dem männlichen rationalistischen Projekts des Kommunismus und der mythologischutopistischen Haltung eines an Christa Wolfs Kassandra angelehnten Feminismus.138 In all seinen Stücken geht es Schütz auch um eine Kritik am „realexistierenden“ Sozialismus, der für ihn nur die Alptraumseite des früheren sozialistischen Tagtraums darstellte und in dem er das Scheitern der Subjektwerdung als zentrales Thema literarisch umsetzte.139 Ähnlich wie Christa Wolf, ist Schütz in den 80er Jahren in einer mythologischen „Verherrlichung des Matriarchats bei der ‚Wunschprojektion einer männlichen Phantasie‘ angekommen, ‚die in der Geschichte nicht weiter weiß und nur noch auf die ernährende große Mutter hoffen kann.“140 In seinem 1976141 verfassten und am 15.03.1978 im Hörsaal der Frauenklinik der Karl-Marx-Universität Leipzig unter der Regie von Jürgen Verdofsky142 einmalig (ur-)aufgeführten Stück Kohlhaas zeigt sich deutlich das von Heiner Müller diagnostizierte Geschichtsverständnis. Leistner betont, dass Schütz sich hierbei an
135 Zitiert nach Raddatz, Verbrecher träumen nicht (1997), S. 20. 136 Riedel, Abrechnungen (2002) und Emmerich, Antike Mythen auf dem Theater (1994). 137 Schütz, Kleistfragment (1981), S. 87-91. 138 Vgl. Lernout, Stefan Schütz‘ Alptraum der Geschichte (1997), S. 52. 139 Vgl. Emmerich, Kleine Literaturgeschichte (2009), S. 362. 140 Ebd., S. 363. 141 1977 verfasste Schütz zudem auch ein 32-seitiges Opernlibretto, das nach Aktenlage aber nie vertont wurde. S. Barthel, Kleist-DDR (2015), S. 312. 142 Barthel, Kleist-DDR (2015), S. 321.
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Kleist als sprachgewaltigem „Paraboliker, dem es ums schroffe Aufreißen wesentlicher geschichtlicher Widersprüche“ ging, orientierte und sein Stück als „geschichtsphilosophisch diagnostizierendes Modellspiel“ konzipierte.143 In der Tat nutzte Schütz die Kleist’sche Vorlage nur grob, um über die Grundlagen der sozialistischen Gesellschaft der DDR nachzudenken, konkret die revolutionären Traditionen, auf die die DDR sich in ihrer Gründungsphase berief. Schütz verlegt seinen Kohlhaas mitten in die Bauernkriege hinein, das Stück ist 1525 angesiedelt. Damit geht er einen Stoff an, den er nicht nur als gescheiterte Revolution zu entmythologisieren und damit einen wichtigen Gründungsmythos zu dekonstruieren versucht, sondern er tut dies in einer Phase, in der die DDR auf der verzweifelten Suche nach neuen identifikatorischen Sinnangeboten bestrebt ist, analog zur Gründungsphase, jene Gründungserzählungen wortwörtlich zu monumentalisieren: 1975 hatte die Staatsführung den Maler Werner Tübke aus Anlass des 450. Jubiläums beauftragt, ein gigantisches Monumentalgemälde über den Bauernkrieg anzufertigen, das in einem großen Rundgebäude ähnlich der vielen Einheitsdenkmäler der Kaiserzeit oberhalb von Bad Frankenhausen thronen sollte und im Volksmund bald als Elefantenklo verballhornt wurde.144 Dass Schütz diese Kontextualisierung vornahm, hatte nach Dresen zwei Jahre zuvor also akute zeitgeschichtliche Brisanz, der Kohlhaas-Stoff einen neuen Sitz im Leben. Das Stück selbst kann grob in zwei Teile geteilt werden. Der erste Teil orientiert sich lose am ersten Drittel von Kleists Erzählung und weist neben Michael Kohlhaas auch starke Bezüge zu Shakespeares Macbeth und Goethes Faust auf, also geschlossen Erbe-kompatiblem Material, das gleichsam auf dem Prüfstand steht: Während die erste Szene den Rechtsbruch des Junkers auf der Tronkenburg kurz exponiert, wird die restliche Handlung des Kohlhaas vorausgesetzt oder für unwesentlich befunden. Kohlhaas wird sofort, wie auch seine Frau, als rachsüchtig gezeichnet. Doch er selbst hat eigentlich keinen Einfluss auf den Lauf der Dinge. Nachdem seine Frau gestorben ist, wird Kohlhaas von Hexen belagert und Lucifer selbst tritt auf und offeriert Kohlhaas die Macht, die Welt zum Brennen zu bringen. Kohlhaas, der eigentlich nur den Junker töten wollte, lässt sich überzeugen. Von da an kann er nicht mehr als handelndes Subjekt bezeichnet werden. An dieser Stelle schaltet Schütz eine zweite „Erzählebene“ ein, mit der Figur des Till, ein Eulenspiegel, der jeweils das Gesehene nochmals aus der Narren- und Außenperspektive betrachtet und alle Strukturen der Obrigkeit als unmoralisches Bild des sich-selbst-erhalten-wollenden Status Quo zeichnet.
143 Leistner, Kleist in der neueren DDR-Literatur (1988), S. 338. 144 Zimmering, Mythen in der Politik der DDR (2000), 238.
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Und auch die ganze aus Kohlhaas‘ Rache angezettelte Revolution wird immer mehr das Desaster, welches parabolisch für die Verzettelungen der sozialistischen Idee gesehen werden kann: Kohlhaas ist nach Zerstörung der Tronkenburg befriedet, doch ausgerechnet sein Diener Herse erweist sich als der radikale Umstürzler, der Kohlhaas zu weiterem anstachelt. Als sie schließlich Wittenberg belagern, wird Luther tätig und schafft es, Kohlhaas zu besänftigen, stachelt dann aber selbst die Massen an, weil es ihm nicht um Gerechtigkeit geht, sondern um den Erhalt der Ordnung. Kohlhaas muss schließlich feststellen, dass er stets nur fremdgesteuert handelt und seine Revolution, die er für die Gerechtigkeit angezettelt hat, nichts gegen die bestehende Ordnung ausrichten kann, da nur stets eine neue, korrupte Obrigkeit geschaffen wird, und auch hier können Parallelen zur DDR und zum Wesen von Revolutionen gezogen werden: Kohlhaas: […] Fürst und Kirche bauten Mauern, denn Blindheit fürs Volk ist ihnen wie eine Brust, an der sie sich vollsaugen. […] Nein, dort wo der Drache über uns seine Zähne zeigt, uns zu verwunden, die wir schuldig sind, muss dieses Gebiss zertrümmert werden! Es ist der ewige Krieg gegen den Missbrauch der Macht! (38)
Doch diesen wird er nicht gewinnen. An dieser Stelle sieht das Stück eine Pause vor, die zudem einen starken inhaltlichen Bruch markiert, dessen Übergang unklar ist und von nun an nichts mehr mit der Kleistschen Vorlage oder dem ersten Teil des Stückes zu tun hat. Der zweite Teil, in ironischer Anspielung an Friedrich II. überschrieben Jeder nach seiner Façon, stellt nun zur Schau, was es bedeutet, eine sozialistische Utopie real-existierend erschaffen zu wollen. Genau dies hat Kohlhaas nun mit Wittenberg vor, er will einen selbstbestimmten Sozialismus gründen. Allerdings hat er die Rechnung ohne seine Mitstreiter und das Volk gemacht, von denen er missverstanden und hintergangen wird. Herse erweist sich an dieser Stelle als der revolutionäre Machtideologe: Herse: Kohlhaas, eine Stadt, das ist kein Nest im Wald. Eine Stadt braucht Ordnung. Da sind Splitter, Bäume, alles nennt sich Mensch. Der Gedanke würgt mich, den Gaul Wittenberg nicht zu zähmen mit unserem Sattel. Will ich reiten, brauch ich Zaumzeug! Wir haben die Macht und neues Leder, lass uns zuschneiden die Stadt nach unseren Gesetzen! Man muss etwas zusammenfügen, will man nicht verenden! Kohlhaas: Die Ketten gesprengt, schreit man nach neuen Ketten! Herse! Wie kann man aus Menschen Menschen machen! Wie kann man Gerechtigkeit bauen. […] Ich will keine Ordnung, Herse, ich will leben. (43)
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Kohlhaas‘ liberaler Ansatz wird sich nicht durchsetzen können. Es wird schließlich der „neue[…] Mensch[…]“ (51) proklamiert, die Armen und die Reichen müssen die Rollen tauschen und sind damit zufrieden, dass sie weiterhin überhaupt eine Rolle ausfüllen können, ohne dass sich generell irgendetwas ändert. Letztlich wird das Experiment von kaiserlichen Truppen zerschlagen. Schütz nimmt den Kohlhaas-Stoff, und macht daraus eine Parabel über die gescheiterten deutschen Revolutionen, die symbolhaft das Scheitern des Projektes „DDR“ vorwegnehmen, da jene sich ja an diesen orientiert hat und dementsprechend auch scheitern musste. Er zeigt, dass es irrelevant ist, wie gut die anfänglichen Vorsätze sind, da Fremdbestimmung, Machtinteressen inner- und außerhalb der Revolution stets nur wieder dasselbe hervorbringen. Schütz zeigt sich somit als einer der Enttäuschten, der die Vorbilder seziert, um die Gründe für das Scheitern von Revolutionen bloßzulegen, und bilanziert damit auch seine Gegenwart. Auch braucht er dafür keine Helden mehr: Alle Figuren des Stückes sind grob, drastisch und unsympathisch. Von Kleists Kohlhaas, der die Ungerechtigkeiten auch zum Anlass für Gewalt nimmt, aber bis zum Schluss auf sein Recht beharren kann, ist bei Schütz nichts geblieben. Im Namen der Ordnung wird er von kaiserlichen Soldaten mit Lanzen durchbohrt, und nur Till (Eulenspiegel) überlebt, versteckt in einem Gulli, der die Welt an die Worte Luzifers erinnern wird: „Kohlhaas blende deine Taten aus dem Hirn, sie waren sinnlos! Wie diese Erde!“ (58). Man kann vermuten, dass jener Eulenspiegel eine Persona Schütz‘ ist und durch jenen Lucifer – der Vergleich wurde ja bereits von Schütz bemüht – Heiner Müller zum Publikum ruft. Schütz erweist sich auch in diesem Falle als ein Schüler Müllers, denn auch sein Bild von Geschichte ist ein Hegel-Foucault’sches in Gestalt einer ewigen Wiederkehr des Grauens, ohne Hoffnung auf Veränderung. Die Gegenwart wird ebenfalls als Stagnation empfunden und es ist die Pflicht des sozialistischen Autors, durch drastische Mittel darauf hinzuweisen, als Weckruf. Doch im Unterschied zu Müller scheint Schütz nicht mehr daran zu glauben, dass jemals eine Veränderung eintreten kann. Geert Lernout verweist an dieser Stelle auf eine prägnante Parallele zwischen den Werken Schütz‘ und Müllers und den Werken der klassischen Moderne, respektive deren Rezeption davon: Er zitiert dabei Stephen Dedalus aus Joyces Ulysses: „Die Geschichte ist ein Alptraum, aus dem ich zu erwachen versuche.“ Lernout führt aus, dass jene marxistischen Autoren wie Schütz, aber Ähnliches ist auch bei Müller und Stefan Heym in den 80er Jahren zu beobachten (Kapitel 3), exakt dieses Geschichtsbild wiederaufleben lassen: „Ihnen zufolge ist Geschichte tatsächlich ein Alptraum, und zwar aus dem einfachen Grund, dass wir immer noch auf jene Revolutionen warten, welche Kriegen, Ungerechtigkeiten
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und jeglicher Form von Unterdrückung ein Ende bereiten, kurz, das „Ende der Geschichte“ herbeiführen würden.“145 In diesem Kontext, und dies zeigt sich bei fast allen dialektischen Autoren, ist das Vorgehen, sich auf vorangegangene Epochen oder gar den antiken Mythos zu berufen und dabei die Utopie zu bemühen, um die Probleme und Krisen der Gegenwart zu reflektieren, eine Wiederbelebung der Moderne, wie sie z.B. Joyce mit seinem Odysseus vorgenommen hat, nur im Kontext der DDR der 1970er Jahre und teils bereits unter Zunahme postmoderner und dekonstruktivistischer Mittel. Schütz‘ Kohlhaas hat nur noch wenig mit seiner Vorlage zu tun, er steht mehr als Sinnbild für den vergeblichen Gerechtigkeitssinn von Revolutionen. Er radikalisiert damit aber die Kleist’sche Poetik für seine Zeit und bleibt ihr damit poetisch treu. Er hebelt damit zudem nicht nur einen der Gründungsmythen der DDR aus, indem er das Vergebliche aller deutschen Revolutionen betont und durch eindeutige Bezüge seine These an der Gegenwart der DDR zu beweisen versucht, sondern er liefert damit auch einen deutlichen Seitenhieb auf die Monolithisierungsversuche jener Gründungsmythen, die die Staatsführung ab Ende der 70er Jahre vorantreibt, obwohl an dieser Stelle das kulturelle und das kollektive Gedächtnis von Regierung und Bevölkerung schon nicht mehr vereinbar sind.
Parallel zu Müllers und Schütz’ Zivilisations- und Gesellschaftskritik und im Geiste von Christa Wolfs Arbeiten dieser und der nachfolgenden Jahre (Kapitel 2&3), wird die kulturell-gesellschaftliche Stillstandserfahrung aber auch genutzt, um ein weiteres Versprechen des Sozialismus neu zu hinterfragen, nämlich den Status Quo des Zu-sich-selber-Kommens der Frau in der DDR. In den 70er Jahren erschienen wichtige Werke wie Maxie Wanders Guten Morgen, du Schöne (1977), Brigitte Reimanns Franziska Linkerhand (1974 posthum publiziert), Irmtraud Morgners146 Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz (1974) und Christa Wolfs KON, die das Selbstverständnis von Frauen in der DDR möglichst realistisch untersuchen wollten und dabei auch Themen wie sexuelle Selbstbestimmung, Scheidungen und Mutterschaft und Berufstätigkeit offen anspra145 Lernout, Stefan Schütz‘ Alptraum der Geschichte (1997), S. 44. 146 Morgner, Jahrgang 1933, studierte ebenfalls von 1952-56 mit Uwe Johnson und Adolf Dresen, sowie später Christa Wolf, bei Hans Mayer Germanistik in Leipzig.
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chen.147 Auch wenn es politisch vor allem für die industrielle Produktion wichtig war, dass Frauen arbeiteten und die Ehen funktionierten (d.h. Kinder hervorbrachten und den nötigen Ausgleich zur Arbeitsbelastung schafften), so gab dieser politische Rahmen aber auch die Möglichkeit für eine Vielzahl progressiver Bucherscheinungen und ab den 70er Jahren auch zunehmend DEFAProduktionen,148 die diese Probleme thematisierten und ernst nahmen. Doch wie in vielen Bereichen der Gesellschaft, hatte man im arbeitsteiligen Industriestaat DDR in den 70ern bereits einen hohen Grad der gesellschaftlichen Normalität und Ausdifferenzierung erreicht, und gleichsam das Gefühl des gebremsten sozialen Fortschritts, der Anlass gab, den Status Quo einer kritischen Betrachtung zu unterziehen. In diesem Kontext gilt es zu verstehen, dass die Theater sich 1978 nun – wie von Helmut Ulrich in seiner Kritik des Kohlhaas am DT gefordert – besonders zwei wichtige und bis dahin kaum oder gar nicht beachtete Frauenfiguren Kleists vornahmen und jene somit ihren zeitgeschichtlichen Sitz im Leben fanden, nämlich das Käthchen und erstmalig auch Penthesilea. Das Käthchen, das zwar auch schon positive Besprechungen hatte, gleichsam aber auch immer wieder dem Vorwurf der reaktionären Romantik standhalten musste, schien durch die Inszenierungen im Rahmen der Ehrung 1977 endlich seinen Platz im Kanon gefunden zu haben und die Kritik weiß das Werk als eigenständiges Kunstwerk zu schätzen. So schreibt Erika Stephan über die Inszenierungen im Sonntag: „Das Käthchen von Heilbronn“, seine wundervolle Verquickung von schmerzlich erlebter realer Dissonanz mit märchenhafter Erlösung, war uns lange verdächtig als typisches „Junker-Stück“. Ein Gewinn des Kleist-Jahres: vier Inszenierungen in Dessau, Dresden, Eisenach und Weimar! Die sehr unterschiedlichen Arbeiten in Eisenach und Weimar zeigen zuverlässig: das Stück – vielleicht bedingt durch allzulange Enthaltsamkeit gegenüber allem „Wunderbaren“ auf der Bühne – tut erstaunliche und wohltuende Wirkung. Gründe für die geheime Faszination des Werkes, die Verflechtung von Realismus und Utopie in der dramaturgischen Struktur hat Alexander Weigel (Deutsches Theater) [...] vorzüglich beschrieben.149
147 Vgl. hierzu Georgina Pauls Aufsatz Gender in GDR Literature (2015). 148 Nennenswert wären u.a. Das siebente Jahr (Regie: Frank Vogel, 1968), Sie (Regie: Gitta Nickel, 1970) oder Der Dritte (Regie: Egon Günther, 1972). 149 AdK ID 305a, S. 122, Sonntag 38 (1978), S. 4: Erika Stephan: „KleistInszenierungen: Käthchen von Heilbronn in Eisenach und Weimar, Penthesilea in Meiningen“.
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Bei dieser Besprechung zeigt sich nicht nur, dass die Ehrungen, neben aller staatlicher Selbstinszenierung, in der Tat auch ihrem Anspruch gerecht wurden, die kritische Aneignung des Erbe-Kanons voranzutreiben. Es wird auch weiterhin deutlich, wie einflussreich das Engagement einzelner Kleist-Verfechter war, in diesem Falle der DT-Dramaturg Weigel, der in den Jahren 1977/78 die Theater der DDR bereiste, um Neubewertungen des Kleist’schen Werkes zu debattieren und implementieren, so beispielsweise auf dem 7. Kleist-Kolloquium des Verbandes der Theaterschaffenden in Eisenach am 10. und 11. Juni 1978, auf das noch zurückzukommen sein wird. Seine Formel der „Verflechtung von Realismus und Utopie“ scheint zu jener Zeit den gewünschten Nerv getroffen zu haben. Bedeutender ist jedoch, dass sich parallel zur Neubewertung des Käthchens das traditionsreiche Meininger Theater im Rahmen des Kleist-Jubiläums unter der Regie von Werner Freese erstmalig der geschmähten Penthesilea widmete. Dass beide Frauengestalten nun auf Verständnis stoßen, nachdem man sie in den 50er Jahren noch als modern-krankhaft und romantisch-verklärt angesehen hat, ist also kein Zufall. Und ähnlich wie in der klassischen Moderne wird auf Penthesilea als „bis dahin marginalisierte literarische Figur eine Generationenerfahrung projiziert“,150 jedoch in diesem Fall keine Kriegserfahrung, sondern die noch immer bestehenden sozialen Unterschiede zwischen Mann und Frau. In der Tat wird die Meininger Penthesilea als Antwort auf Christoph Schroths Schweriner Bühnenadaption von Franziska Linkerhand konzipiert, als feministischkritischer Kommentar zu jener „Frauentragödie im Sozialismus“,151 als dialektischer Beitrag zur Gleichberechtigung der Geschlechter. So fragt das Programmheft im üblichen didaktischen Stil: Heißt Emanzipation der Frau hier und heute nicht eigentlich Emanzipation beider Geschlechter zur Natur des menschlichen Wesens? Haben fast dreißig Jahre DDR eine jahrtausendealte Bewusstseinsdeformation in der Geschlechterbeziehung schon beseitigen können? Möglicherweise rührt Kleist mit einer „Penthesilea“ an etwas von uns schon in Angriff genommenes, aber eben deshalb noch zu Leistendes und vor allem immer wieder zu Leistendes?152
Statt Antworten folgen Zitate aus Marx’ Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten, Engels Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats
150 Schmidt, Penthesilea-Rezeption in der Moderne (2011), S. 148. 151 Ebd., S. 32. 152 KMFO, Programmheft „Penthesilea“, Theater Meiningen, 1978.
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und aus Feuerbachs Das Wesen des Christentums, woraus das Grundanliegen der Inszenierung ersichtlich wird: Penthesilea soll die Debatte wieder anregen, was Gleichberechtigung der Geschlechter im Marxismus und schlussendlich im Kommunismus real bedeuten soll und ob es nicht noch etliches zu verbessern gäbe, obwohl der Sozialismus bereits für real-existierend erklärt worden war. Dass man mit Marx/Engels et al. die Fragen zu beantworten sucht, verweist außerdem die Kritik in die Schranken, dass das Stück im Sozialismus nichts zu suchen habe. Für diese Einschätzung zeigt sich wiederum die Reihe an Neuveröffentlichungen zu Kleist, die im Rahmen der Ehrung veröffentlicht worden sind, als großer Einfluss, vor allem aber Goldammers Schriftsteller über Kleist und Kunerts Pamphlet für K. wurden für das Konzept herangezogen, während man gleichsam Strellers Untersuchungen erneut dem „Strafurteil“153 von Lukács und Mehring vorzieht. Kunerts Aufruhr wird hierbei fast als Inspiration verstanden, den Finger weiterhin in die Wunde zu legen, wie aus dem Konzeptionspapier hervorgeht: Einer unserer Schriftsteller wurde da – in der von Peter Goldammer herausgegebenen Dokumentation „Schriftsteller über Kleist“ – zurückgewiesen, weil er glaubte, den WarumFinger auf das Gutzumachende legen zu müssen. Von Goethes verkennendem Urteil, den Krug und den Amphitryon betreffend, seiner Behauptung des Krankhaften bei Kleist und deren anachronistischer Wiederholung bis in unsere Lexika ausgehend, schreibt Günter Kunert in seinem „Pamphlet für K.“: [...]154
Jenen „Warum-Finger“, der die für die Inszenierung konzeptuellen Fragen aufwirft, leitet das Kollektiv zudem aus der Offenheit des Kleist’schen Werks selbst her, weswegen es sich derart sinnvoll für das dialektisch-marxistische Theater eigne: Das Geheimnis der literarischen Nachwirkung des Heinrich von Kleist (...) wurzelt in einer gleichsam existenziellen Disposition zum Fragmentarischen[...]. „Kleists Werk ist nicht abgeschlossen. Es ist offen: wie ein Experiment, wie eine Wunde. Es zeigt keine Antworten her, bloß Anstrengungen.“ [...] Sicher, nur: die Zeit war fragmentarisch, ihr künstlerische Bewältigung konnte nur Unvollendetes hervorbringen. In dem Sinne ist Kleists Werk abgeschlossen, abgeschlossen als „Wunde“, die, ohne davor zu erschrecken, dass sie immer noch klafft, wir immer noch nicht herumzeigen können. Das „Experi-
153 KMFO, Dokumentation “Penthesilea”, Theater Meiningen, S. 3. 154 Ebd., S. 4.
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ment“, ihr Ausmaß, ihren Verlauf abzutasten, ist anstrengend, erschreckend, ja grauenhaft, aber vielleicht könnte es Antworten geben. Festzustellen ist: Kleists Werke stellen mehr Fragen als sie Antworten geben. Dadurch wird jeder szenischen Realisierung eine Entscheidung aufgedrängt. Die Entscheidung muss aus der Zeit gegeben werden, dabei aber den biographischen Tatbestanden, der Lebensleistung Kleists nachgehen, um die dichterische Eigenart, die persönliche Intention dieser Leistung nicht zu verzerren.155
Im Unterschied zu den Aufbaujahren, in denen Patriotismus und große Gesellschaftsentwürfe wie Humanismus entscheidend waren, werden Kulturschaffende in der politisch-brisanten Realität der 70er Jahre, und vor allem nach 1976, von Fragmenten, von „offenen Wunden“ angezogen, die als Symbole für die krisengeschüttelte Gegenwart funktionieren und eine geeignetere Reflektionsgrundlage bieten. Hier findet sich wiederum eine Parallele zur Penthesilea-Rezeption der klassischen Moderne, wie sie Müller-Seidel beschrieb: Die Moderne wie auch die DDR-Kulturschaffenden der 70er Jahre bewerten Kleists eigene Krankheiten sowie die Darstellung des Kranken in Kleists Werk nicht mehr negativ, sondern sehen darin soziale Symptome.156 Vor allem nach 1976 ist die Frage existentiell, wie man in einem immer autoritärer auftretenden Staat leben kann, und da kann Kleist dazu dienen, die „Realisierung der natürlichen Forderungen des Individuums an Form und Inhalt seiner Gesellschaft“ zu thematisieren, zumal er „sie nicht als Klassenforderung zu stellen [vermochte], weil er de facto zwischen den Klassen existierte.“157 Diesen außenstehenden Beobachterposten sieht man somit als Vorteil, und die öffentliche künstlerische Auseinandersetzung mit seinen Werken ist so effektiv, weil er seine Themen in einem Spektrum zwischen Realismus und Fiktion abhandelt, die einer Theateraufführung ähnelt: Das Hinaufführen ist bei Kleist immer durch Fiktionen (Traum, Schlafwandeln, Märchen...) bezeichnet, die von der festgefügten, „unten“ verbleibenden Ordnung immer sehr grausam zerstört werden. Der Schönheit und Höhe der Träume gleicht die Fürchterlichkeit ihres Sturzes in die unteren Schichten der Realität.158
155 Ebd., S. 5f. 156 Müller-Seidel, Kleists ‚Hypochondrie’ (1989). 157 KMFO, Dokumentation “Penthesilea”, Theater Meiningen, S. 6. 158 Ebd.
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Dass exakt diese Erfahrung der Diskrepanz zwischen Utopie und grausamer Realität, die das Kollektiv in Kleists Werken sieht, auch Ausdruck der Gegenwart ist, macht es im Konzept überaus deutlich: Man kann natürlich seine Generation mit unserer vergleichen. Wenn sie etwas Gemeinsames haben, dann ist es vielleicht ein gewisses Steckenbleiben ‚auf der ersten Stufe’. Die Realität ihrer Zeit und ihrer Gesellschaft hat auf sie nicht den allmählichen nachhaltigen Eindruck ausgeübt, sondern eine Art von Schockwirkung, Warum ein Künstler diesen ersten unmittelbaren Eindruck nicht überwindet, entweder nicht überwinden kann und sich damit abquält, oder ihn sogar nicht überwinden will und fixiert, das kann sehr viele Gründe haben, subjektive Gründe, die aber trotzdem natürlich immer aus seiner gesellschaftlichen Lage kommen.159
Ganz artverwandt den Argumentationen von Seghers, Wolf, Schlesinger und Kunert wird Kleist als krisenhafter Vorläufer verstanden, dessen „Steckenbleiben“ man analysieren kann, um die Krise der Gegenwart konstruktiv zu überwinden, vor allem aber, um nicht nur die persönlichen Probleme, sondern die gesellschaftlichen Mechanismen, die zu dieser Lage geführt haben, zu verstehen. Für das Problem der noch nicht realisierten Gleichberechtigung von Mann und Frau wird nun also Penthesilea als Reflektionsraum herangezogen, um die marxistische Emanzipation des Menschen vorantreiben zu können – ein Ziel, was Ende der 70er Jahre in weite Ferne gerückt zu sein scheint. Nach einer ausführlichen ad fontes-Analyse der bereits erwähnten Marx/Engels/Feuerbach’schen Grundlagen ist das Anliegen des Meininger Theaters als sozialistisches Theater, dass es zum gesellschaftlichen Fortschritt beitragen will, um die Krise der Gegenwart zu überwinden: Wir möchten deshalb: Den Prozess des Bewusstwerdens des einzelnen Menschen beschreiben, der seine eigenen Kräfte so aus sich heraus schafft, dass er eine Vereinigung mit fremden individuellen Kräften anstrebt zeigen und wie dieser Prozess umschlägt in Zerstörung der fremden wie auch der eigenen Kräfte, weil er an Individuen gebunden ist, die ihre hemmende gesellschaftlich staatliche Verankerung nicht zu überwinden vermögen160
159 Ebd., S. 8. 160 Ebd., S. 11.
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Damit wird auch eine Selbstvergewisserung der Position des Theaters vorgenommen, das sich genau dort befindet, wo es auch sein soll, nur mit dem Unterschied, dass staatliche Kräfte es gleichsam bekämpfen und an der freien Ausübung dieser Rolle hindern. Penthesilea ist dafür eine Metapher, weil die Kultur in der DDR, wie auch die Frau zum Mann, de facto nicht gleichberechtigt war und ernstgenommen wurde, was an einem mangelnden Selbstreflexionsprozess von letzteren lag. Wie bei Dresen, Müller und Wolf soll mit der Inszenierung und durch den Stoff eine fundamentale Zivilisations- und Kulturkritik vorgenommen und durch diese Perspektive schließlich der Exzess der Penthesilea nachvollziehbar gemacht werden: Wir möchten mit unserer Bühnenverwirklichung der „Penthesilea“ erzählen: Wie es einer Frau nicht gelingt, für sich und den geliebten Mann solche gesellschaftlichen Voraussetzungen zu schaffen, damit ihre Vereinigung möglich wird, beide also dem höchsten Zweck ihrer Natur folgen könnten, obwohl (oder gerade weil) sie sich formal gleichberechtigt gegenübertreten wie sie dadurch in den animalischen Stand ihrer Natur zurückfallen muss, weil ihre ungewöhnliche Kraft (die zu unterordnender Resignation unfähig ist) keinen anderen Weg finden kann, als die Zerstörung der fremden Kraft, eben des geliebten Mannes, und wie sich die Frau dadurch selbst zerstört, weil sie sich notwendig der Möglichkeit des Herausschaffens ihrer ureigensten Bestimmung (ihrer „Natur“) berauben musste.161
Angesetzt wird somit beim Patriarchat und dessen Unfähigkeit, gleichberechtigte Frauen zu verstehen. Für die Griechen im Stück liegt ihr Männlichkeitskonzept im „Kriegsführen – durch das weibliche Eingreifen aufgeschreckt, misslingt ihnen der Versuch, die Weiber und ihre Absichten in ihre gesellschaftlichen, hier männlich-kriegerischen Normative einzuordnen.“162 Die Männer sind somit irritiert, gleichsam wird damit aber entlarvt, dass das Patriarchat keine natürliche Ordnung darstellt, weil die „Dominanz [...] den Mann also [isoliert]; hinter aller Kraft und allem Glanz seiner Alleinherrschaft muss seine Unnatürlichkeit entlarvt werden können.“ Dies ist aber auch die Grundlage dafür, dass das „Eingreifen der Weiber in ihren Krieg [...] den Männern rätselhaft [ist] – sensationell, weil ihr gesellschaftliches Bewusstsein die Frauen als ernsthafte Gegner überhaupt nicht zulässt.“163 Damit ist die eine Front beschrieben. Das Amazonenheer ist allerdings kein rein dualer Gegenpol, sondern durch seine Entstehung anders
161 Ebd. 162 Ebd., S. 13. 163 Ebd.
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zu fassen, denn – und hier kommt das marxistische Erbe-Verständnis (nebst Konzept-Rhetorik) zum Tragen – die „Frauen haben sich von den sie unterdrückenden Männern ‚durch eine revolutionäre Aktion’ befreit.“164 Die Amazonen zeichnet aus, dass sie genauso sein können wie die Griechen, allerdings haben sie bereits eine erfolgreiche Revolution hinter sich, die sie von früherer Unterdrückung befreit hat und die ihren rigorosen Gesetzeskanon bestimmt. Penthesileas Tragödie ist nun, dass sie, obwohl selbst hohe Vertreterin des Gesetzes, den Versuch unternimmt, die beiden unnatürlichen Ordnungen wieder zu vereinen, was ihr Unmenschliches abverlangt und sie in den grauenvollen Wahnsinn stürzt, der sie ihren Geliebten zerfleischen lässt. Für Freese und sein Kollektiv ist hierbei entscheidend, herauszuarbeiten, warum dieser Versuch gescheitert ist und ihn als den richtigen Weg zu würdigen: „Der letzte Versuch ist aber nichts geringeres als das Erfinden des Weges, den sie nicht finden konnte. [...] Aber, und das ist zu betonen, Selbsttäuschung und Selbstmord sind ein notwendiges Ergebnis einer notwendigen gesellschaftlichen Wirklichkeit.“165 Dies ist freilich nicht nur ein simultaner Kommentar zu Kleists Tod, sondern auch eine Bestandsaufnahme der DDR-Gesellschaft im Jahre 1978. Gleichzeitig ist für das Kollektiv entscheidend, dass die Figur des Achill auch eine Entwicklung auf Penthesilea zu durchmacht, sich also auch vom griechischen Patriarchat löst: „Deshalb beginnt er in der Realität seinen bisherigen gesellschaftlichen Anspruch zu verändern. (Er emanzipiert sich.) Was bei Achill beginnt, ist bei Penthesilea vernichtet. [...] Eine grausame Welt hat sie zerrissen, nun zerreißt sie die Welt grausamer als es die Männer mit ihrem Krieg tun.“166 Daran wollen sie nun ansetzen und das Stück als Beitrag zu einer Emanzipation beider Geschlechter interpretieren, das an den Gründungsversprechen der DDR ansetzt. In den Versuchen zur Fabel stellt Dramaturgin Gerda Baumbach ihre Ideen „zu einer von uns beabsichtigten Lesart“ folgendermaßen vor: 1. Die Chance, dass auch die Frauen ihren absoluten Partnerschaftsanspruch zu formulieren vermögen, macht eine ideale Partnerschaftsbeziehung ahnbar, jedoch unter den obwaltenden gesellschaftlichen Bindungen nicht realisierbar. Vor Beginn des Stückes gibt es Selbstverwirklichung des einen wie des anderen Geschlechts, aber immer auf Kosten des anderen. 2. Frauen haben sich von den sie beherrschenden Männern befreit und sich Gesetze gegeben, die ihr Zusammenleben organisieren und die Existenz ihrer Ordnung sichern. (An-
164 Ebd., S. 15. 165 Ebd., S. 17. 166 Ebd., S. 21.
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spruch auf „mündigen“ Staat, der aber schon bei seiner Gründung mit dem Preis der Unnatürlichkeit bezahlt werden musste.) Der Befreiungsversuch der Frauen erweist sich als unnatürlich in dem Moment, wo diese „neue“ Ordnung ebenso wie die Männerordnung die Verwirklichung der Partnerbeziehung zwischen Penthesilea und Achill verhindert. Die Frauenordnung hat den Fortschritt erbracht, dass der Anspruch auf eine gleichberechtigte Partnerbeziehung von der Frau erhoben wird und dass dies eine Entdeckung für den Mann ist.167
Der Amazonenstaat ist demnach einerseits der Garant für den gesellschaftlichen Fortschritt, gleichzeitig ist seine Verfassung so total, dass er die Frauen daran hindert, sich wahrhaft frei zu entwickeln. Die Entstehungsgeschichte des Amazonenstaats, die Penthesilea im 15. Auftritt des Dramas erläutert, sollte somit der Ausgangspunkt für die Inszenierung sein, denn jene „revolutionäre Qualität heutigem Emanzipationsdenken zugänglich zu machen, ist unsere erklärte Absicht.“168 Die revolutionäre Qualität steht aber auch in starkem Kontrast zum starren Konstrukt des Staates, der sich daraus entwickelt hat, und hier findet sich unausgesprochen die Parallele wieder zum Jahr 1978, denn die vielen positiven Anreize, die die DDR für die Selbstverwirklichung der Frau bot, stagnierten, wie fast alle soziokulturell progressiven Bereiche dieser Zeit, und deswegen kommen progressive Individuen auch in Konflikt mit dem Staat, weil ein Zu-sich-selberKommen eben auch individuelles Recht und nicht nur kollektives Recht bedeutet. Dies voraussetzend, kann dann auch Penthesileas Scheitern erklärt werden, als Scheitern der Künstler in der DDR, als Scheitern der Frauen in der DDR: Der absolute Selbstverwirklichungsanspruch Penthesileas stellt zu recht den eigenen Staat in frage ..., führt aber zwangsläufig zum tragischen Untergang, weil sich ihr keine gesellschaftliche Alternative für dessen Verwirklichung bietet. Weder an eine Reformierung des eigenen Staates, noch an einen Umsturz der Männergesellschaft ist zu denken.169
Damit sind diese Ausführungen erneut sehr nahe an den Gedanken der Alternativlosigkeit, die aus der Künstlerperspektive allgemein von Schlesinger, Kunert, Wolf und vielen anderen geäußert werden, gleichsam nimmt es aber jene „weibliche Subjektwerdung“ und generelle weibliche Zivilisationskritik auf und teils voraus, die Wolf dann 1983 in den Schriften um Kassandra thematisieren sollte. Ein Zu-sich-selber-Kommen der Frau kann nur vonstattengehen, wenn auch die
167 Ebd., S. 23. 168 Ebd., S. 24. 169 Ebd., S. 28.
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Männer sich jeweils aus ihrem Selbstverständnis emanzipieren, wenn das weibliche Individuum und das Patriarchat sich wie in Dresens gefesseltem Lorbeer wieder annähern, und in dieser beidseitigen Persönlichkeitsentfaltung liegt das Anliegen der Inszenierung: Das Unnatürliche, die Zwänge, die Verkrampfung, die mit dem ersten Schritt zur Befreiung der Frauen aus der Unterdrückung der Männer, die ihre jahrhundertealte Tradition hat, verbunden sind, müssen in der Beziehung zu den Männern auf neuem Niveau [...] aufgehoben werden – was auch eine Emanzipation der Männer bedeutet, also in eins zu sehen ist mit dem Ziel einer menschlichen Gesellschaft und Natur des Menschen als Einheit wiederhergestellt ist – oder aber die Frauen verfallen in das Extrem, die Männer zu bekämpfen, ersetzen also eine „Unnatur“ durch eine neue „Unnatur“ einer kommunistischen Gesellschaft? Heißt nicht „Emanzipation der Frau“ eigentlich Emanzipation beider Geschlechter zur Natur des menschlichen Wesens?170
Damit geht die Meininger Inszenierung in eine andere Richtung als Heiner Müller, der eine Bühnenfassung von Penthesilea für eine Inszenierung Fritz Marquardts 1973 in Rotterdam anfertigte, jene, die Marianne Richter für die Ehrung für „wenig ermutigend“ hielt171 und die deshalb für das Kollektiv nicht in Betracht kam, „da sie auf den Gegensatz Matriarchat-Patriarchat hinausläuft und der Gewalt des natürlichen Triebes die Vorherrschaft einräumt. Das geschieht bei Müller durch Zurückführung des Kleisttextes auf Formen der antiken Tragödie.“ Für die Meininger hatte dies, im Gegensatz zu Müller, nichts Progressives. Besonderen Einfluss auf die Inszenierung hatte zudem die Teilnahme von Schauspieldirektor Freese und Dramaturg Gerhard Schmidt an der wissenschaftlichen Konferenz „Zu Problemen der literarischen Romantik unter besonderer Berücksichtigung des Werkes Heinrich von Kleists und E.T.A. Hoffmanns“ und an einem Kleist-Kolloquium des Verbandes nach dieser Konferenz im Rahmen der Kleist-Ehrung in Frankfurt/Oder vom 19.-21.10.1977, über die sie beim 7. Kleist-Kolloquium des Verbandes der Theaterschaffenden in Eisenach am 10. und 11. Juni 1978 berichteten. Ähnlich der Referentenkonferenz von Goldammer 1961 und des Berliner Seminars Deiters’ zeigt sich auch hier wieder, wie direkt neue wissenschaftliche Erkenntnisse die Theaterlandschaft beeinflussten. Vorge-
170 Ebd., S. 28f. 171 BArch DR1/23808, pag. 273-75.
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sehen war ein Gespräch über die Inszenierungen des Käthchen von Heilbronn in Dessau, Eisenach und Weimar und die DDR-Erstaufführung der Penthesilea in Meiningen. Am 10. Juni konnten sich die Teilnehmer einer Voraufführung mit dieser Inszenierung bekannt machen, das Kolloquium selbst fand im Landestheater Eisenach statt. Alexander Weigel vom DT nahm im Podium teil und diskutierte die Spielbarkeit von Kleists Stücken.172 Doch nicht nur die Spielbarkeit, sondern auch die Sichtweise auf Kleist im Kontext der Zeit hatte sich deutlich verändert, was erhellende Hinweise auf die Spielbarkeit von Stücken wie eben Penthesilea mit sich bringt. Das Stück nämlich, so Freese auf dem Kolloquium, „besteht aus Aufschreien, die keine normale Auseinandersetzung kennzeichnen. Zu zeigen ist damit die ungeheure Gefahr und Kraft des Individuums: die Kraft des Individuums organisiert Harmonie, wo sie von den gesellschaftlichen Voraussetzungen nicht gegeben ist. Das Stück ist also ein Beispiel der Veränderbarkeit der Welt.“173 In dieser Aussage hat sich ein höchst bemerkenswerter Paradigmenwechsel vollzogen: Es wird hier vom Scheitern und von den gesellschaftlich begrenzten Möglichkeiten des Kollektivs gesprochen, die nur ein starkes Individuum harmonisieren kann. Damit stellt es zwar nur einen weiteren Höhepunkt der Entwicklung zur „subjektiven Wende“ der DDR dar, die sich 1978 schon weit über ein Jahrzehnt erstreckt, aber dennoch kann man es in dieser Exaktheit selten ausgesprochen und dokumentiert finden. Die Krisenerfahrung hat bewirkt, dass sich das Individuum aus dem Kollektiv der Gesellschaft zurückgeworfen fühlte, eine Erfahrung, die man mit den verschiedenen Emanzipationsbewegungen von Frauen verglich und bei der man strukturelle Parallelen feststellte. Ähnlich wie Wolfs Subjektwerdung und weiblicher Korrektur soll das gestärkte, emanzipierte Subjekt als Lösungsansatz aus der Krise dienen, als deren Überwindung. Diese Zielstellung schließlich zeigt, dass Penthesilea 1978 genau der treffende Stoff war. Schmidt führt zudem noch einmal aus, warum sie Penthesilea in einem Kontext mit Franziska Linkerhand verorten wollen, da auch jene „sank, weil sie zu stolz und kräftig blühte“:174 Sie rackert im realen Sozialismus – aber sie will nicht mit den momentanen objektiven Möglichkeiten sich bescheiden. Sie ist im Interesse der Entwicklung ihrer Persönlichkeit und im Interesse der Entwicklung unserer Gesellschaft in hohem Maße unbescheiden. Aber ohne sich in ihren Ansprüchen zu bescheiden, kann sie den objektiven Notwendigkeiten nicht Rechnung tragen. Sie muss praktisch scheitern oder ihren subjektiv wie objek-
172 KMFO, Dokumentation „Penthesilea“, Theater Meiningen, S. 30. 173 Ebd., S. 31. 174 Semdner, Kleist. Sämtliche Werke und Briefe (2008/Bd. 1), S. 428.
234 tiv notwendigen Anspruch aufgeben. Das kann Franziska nicht (und das darf Franziska auch nicht im Interesse des Fortschritts). Und darin liegt ihre Tragödie. Franziska ist eine Frau. Mit ihren Handlungen und Ansprüchen stellt sie nicht für die Gesellschaft schlechthin eine Herausforderung dar, sondern vor allem für die Männer-Welt.175
Genau diese Lesart hatte das Kollektiv zuvor für Penthesilea erarbeitet, und beides macht wieder deutlich, wie überaus ernst die Theater ihren marxistischen Auftrag nahmen, im Sinne der Sache konstruktiv gesellschaftliche Missstände aufzugreifen. Jedoch wenn Schmidt für „unsere Zeit“ feststellt, „dass der überwiegende Teil unserer Männerwelt die weibliche Herausforderung noch begreift, aber doch selten in diesem notwendig zu lösenden Widerspruch produktiv wird“ und dass sie in „dieser Auffassung [...] Kleists Stück als gegenwärtig, als für uns bedeutsam“ begreifen, dann bedeutete das aber auch, dass dieser Fortschritt in der DDR zu diesem Zeitpunkt ihrer Meinung nach nicht möglich war und dass der gegenwärtige Staat ein zu autoritäres und starres Konstrukt darstellt, der wichtige Einzelkämpfer, die in solchen Zeiten den Fortschritt sichern, wie Kleists abgestorbene Eiche schmetternd niederstürzt, weil er in ihre Krone greifen kann. Mit dieser vollzogenen dialektischen Erbe-Aneignung, die in den späten 70er Jahren ihren Sitz im Leben fand, erhielt Freese zwar überaus positive Kritiken und künstlerische Anerkennung, löste aber keine Penthesilea-Renaissance aus. Das gelang, wenn überhaupt, im Rahmen von Wolfs Kassandra und in Nachfolge Wolfgang Engel 1986 in Dresden mit der zweiten und letzten Inszenierung des Stücks (beides Kapitel 3). Bedeutend ist sie aber zweifelsohne, da sie noch nie so zeitaktuell schien wie 1978, und ihre Zeitkritik sich so deutlich bis in die 80er Jahre hinein fortsetzte. Der Graben zwischen kulturschaffendem Subjekt und dem Kollektiv wird sich aber nicht mehr schließen, der Lorbeer wird gefesselt bleiben.
175 KMFO, Dokumentation „Penthesilea“, Theater Meiningen, S. 32.
Im Unterschied zu den 1970er Jahren, sind die 80er Jahre einerseits stark von Ernüchterungen, aber auch von Kontinuitäten geprägt. Insgesamt, wie Georgina Paul feststellt, bietet sich in den 80er Jahren ein zunehmend diffuses Bild der Kulturszene, was sie als Symptom der „growing diversity of GDR literature itself as the state’s notion of what constituted ‚socialist’ literature came to seem increasingly outmoded“1 wertet. Hierbei kristallisiert sich allerdings erneut eine Generationendiskrepanz heraus. Jene Reformsozialisten, die nach 1976 die DDR nicht verlassen hatten, hielten am Projekt des Sozialismus fest, verlegten es aber – ernüchtert und enttäuscht von den Erfahrungen des Vorjahrzehnts – zunehmend von der öffentlichen in die künstlerische Sphäre. Wie Dennis Tate 1984 beobachtete, blieben die Autoren sich inhaltlich wie thematisch treu: So far, there is no hint at any radical change of direction in the work of these authors: there is, on the contrary, a strong sense of continuity, a sense that the specific East German issues of the 1970s are no closer to resolution, now combined with the disconcerting realisation that the global threats of the 1980s may well not grant them the time and the international political conditions needed to resolve them in the longer term.2
Genau diese Autoren halten auch an ihren ästhetischen Kleist-Konzepten fest. Eine jüngere Generation folgt diesen Autoren kaum noch nach. Während etablierte Schriftsteller, ihren Bekanntheitsgrad nutzen konnten, um ihre Werke zu veröffentlichen,3 hatten in den 80er Jahren, mit Ausnahme von z.B. Christoph Hein, jüngere Autoren kaum noch die Möglichkeit, die strengen Zensurmecha1
Paul, Gender in GDR Literature (2015), S: 121.
2
Tate, Beyond „Kulturpolitik“ (1984), S. 18.
3
Jones, Complicity, Censorship and Criticism (2011).
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nismen4 zu überwinden und zogen sich, streng von der Staatssicherheit überwacht, in die wachsenden Subkulturen der Großstädte zurück. Mit Kleist wird sich von diesen jungen Autoren innerhalb der DDR niemand literarisch auseinandersetzen. Allerdings wird er für junge Theaterschaffende, die für sich nutzten, dass ab Mitte der 80er Jahre „kein programmatisches Konzept für Kultur, Kunst oder Theater mehr“5 existierte, wieder interessant, die Kleist auch über den Mauerfall hinaus neudefinieren werden (S. Nachbeben). Auch staatlicherseits wurde das Jugendproblem akuter wahrgenommen: Die SED-Führung registrierte, dass die Jugend sich immer weniger mit der DDR und dem Sozialismus identifizierte und beschloss, dass neue Identifikationsangebote die Jugend stimulieren sollten. Dabei setzte man wiederholt auf regionale Bezüge: 1980 wurde mit Friedrich dem Großen und Preußen und 1983 mit dem Luther-Jubiläum versucht, neue Staatsnarrationen zu konstruieren, um sich innenwie außenpolitisch neu aufzustellen. Allerdings widersprachen diese zutiefst den Narrativen der Gründungsphase, wessen man sich offenbar bewusst war.6 Dabei wurde aber exakt auf die Logik zurückgegriffen, die man in der Aufbauphase der 50er Jahre genutzt hatte, wobei man allerdings vergaß, dass die Bevölkerung der Aufbauphase nicht mehr die Zielgruppe war. Vielmehr zeigt sich hierdurch, dass die Staatsführung sich personell nie verjüngt hatte und sich überfordert mit der Aufgabe zeigte, jüngere Generationen anzusprechen, denen man selbst kaum die Möglichkeit gegeben hatte, sich politisch einzubringen. Insofern verwundert es nicht, dass jene Versuche sang- und klanglos scheiterten und rasch wieder verworfen wurden. Die Präsenz dieser veralteten nationalen Narrative stand im direkten Wechselspiel mit einer Verlegung der zu untersuchenden Vorzeit, die für die Probleme der Gegenwart verantwortlich gemacht wurde: Die Autoren wie auch die Thea-
4
Vgl. hier Leeder, Breaking Boundaries (1996) und Saunders, Honecker’s Children (2007).
5
Stuber, Klassik als Symptom (2001), S. 137.
6
In Die SED und das kulturelle Erbe wurde es wie folgt begründet: „Der Klassengegner versucht stets, diese Dialektik im Verhältnis zum kulturellen Erbe als sich widersprechend darzustellen. [...] Erich Honecker antwortete [...] in einem Interview am 4. Juli 1980: „Wenn wir die geschichtliche Leistung von Martin Luther und Carl von Clausewitz würdigen, so stehen wir ganz in den Traditionen von Marx, Engels und Lenin, der deutschen Arbeiterbewegung und unserer Geschichte seit 1945. [...] Es entspricht unserem Weltbild, die Geschichte in ihrem objektiven, tatsächlichen Verlauf, in ihrer gesamten Dialektik zu erfassen.“ Haase, Die SED und das kulturelle Erbe (1988), S. 501.
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terschaffenden verlagerten die zivilisationskritische Suche vom Frühkapitalismus einerseits zur Antike, zu den Anfängen abendländischer Kultur – wobei Penthesilea wieder an Relevanz gewinnt – aber zunehmend auch zum Stalinismus und zur Aufbauphase der DDR, deren verkrustete Strukturen den gesellschaftlichen Fortschritt behinderten. Dabei wird auch der ideologische Umgang mit Kleist als Symptom für das Scheitern des Sozialismus identifiziert. Jene uneinheitliche und oft widersprüchliche, aber dennoch autoritativ als einheitlich und schlüssig inszenierte Kulturpolitik zeichnete sich in vielerlei Bereichen ab, die auch das Kleist’sche Erbe unmittelbar betrifft. Einerseits konnte in Schriften wie Die SED und das kulturelle Erbe, das 1986 erstmalig erschien, selbstkritisch zugegeben werden, dass vormalige Größen wie Mehring und Lukács sich in puncto Romantik und bestimmter Aspekte bürgerlicher Literatur des 20. Jahrhunderts geirrt hatten und die SED in den 50er Jahren kulturpolitisch zu einseitig gewertet hatte.7 Gleichzeitig wurden weiterhin Kulturschaffende mit denselben Begründungen der 1950er Jahre an ihrer Arbeit gehindert. Diese Spannung kann gut an zwei Beispielen des Homburg illustriert werden: 1987 inszenierte ihn die Intendantin des Theaters im Palast (der Republik), Vera Oelschlegel. Das Theater, welches zuvor bereits in Stücken Vergewaltigungen durch die Rote Armee thematisierte (Swetlana Alexijewitschs Der Krieg hat kein weibliches Gesicht, 1985), die DDR-Erstaufführung eines Stücks von Samuel Beckett (Das letzte Band, 1986) und die DDR-Erstaufführung von Heiner Müllers Quartett (1989) veranlasste, lieferte nun in einer beinahe postmodernen Inszenierung einen Homburg, der stark an Müllers Homburg-Modelle erinnert.8 Nicht nur war es zunächst als Doppel-Inszenierung mit Müllers MAUSER geplant, sondern es nahm auch verschiedene Müller-Themen auf, die repräsentativ für die späten 80er Jahre sind, nämlich das Erbe des Stalinismus und die Monolithisierung des Erbes: Wie sich Heinz Kersten erinnert, inszenierte Oelschlegel den Kurfürsten als „autoritäre[n] Herrscher, der in seinem perversen Gehirnwäschespiel mit dem Prinzen auch an Stalin und dessen Schauprozesse denken ließ.“9 Am Ende „[s]chleppen zwei Offiziere [den Prinzen] weg und stellen den so gemachten Helden in den Rahmen eines Denkmals, das wie ein Sarkophag auf die Bühne gebracht wurde: bitter ironischer Schluss eines Traumspiels, das Kleists Visionen als preußischen Alptraum vorführt“10 und Lessings Ende in Müllers Leben Gundlings... (Kapitel 2) spiegelt. Die Inszenierung wurde nach
7
Ebd., S. 73f. bzw. 185ff.
8
Kersten, Auf der Suche nach Kleist (2015), S. 67ff.
9
Ebd., S. 70.
10 Ebd., S. 71.
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wenigen Aufführungen abgesetzt.11 Im März 1989 wiederum lief Homburg im staatlichen Fernsehen der DDR in einer Fernsehinszenierung des DT unter der Regie von Fritz Bornemann, in der Ulrich Mühe als Homburg im historischen Gewande und in reichlich Kunstnebel brav seine Konflikte als deutscher Klassiker durchlebte. Beides war gelebte DDR-Normalität. Bei den wenigen Kulturschaffenden, die sich in den 80er Jahren noch mit Kleist auseinandersetzen, zeigte sich auch inhaltlich eine deutliche Tendenz weg von der Künstlerproblematik der 70er Jahre hin zu einer desillusionierten, aber immer noch progressiv intendierten Zivilisationskritik, wo zuvorderst die kriegerischen Elemente von Kleists Werken eine Rolle spielten. Autorinnen wie Wolf und Irmtraud Morgner weiteten diese Kritik zudem auf eine Verurteilung einer männerdominierten Industriegesellschaft aus, welche Rationalität vorgibt, aber eigentlich damit den „wissenschaftlich und technisch hochgezüchtete[n] Kannibalismus der Gegenwart“ hervorgebracht hat.12 Auf Grundlage der Auseinandersetzung mit der Krisenerfahrung, die die meisten in den Jahren zuvor gemacht haben, trug die veränderte weltpolitische Lage des Kalten Krieges dazu bei, dass wiederum Künstler, die die Aufgabe der Politik und Wissenschaft übernahmen und sich aktiv engagierten. Die Beweggründe sind dabei einerseits von der Ernüchterung und Enttäuschung über den Status quo getrieben: Christa Wolf sprach 1981 von der „Zivilisation, die ihr eigenes Vernichtungsmaterial so systematisch produziert hat, [...] krank, vielleicht geisteskrank, totkrank.“13 Andererseits und gleichzeitig zeigte sich bei vielen Reformsozialisten ein erneuerter motus animi continuus, der sich wiederholt in Form von Ernst Blochs Prinzip Hoffnung14 artikulierte und der persönlich wie auch ästhetisch zu einer Utopieerneuerung führte. In den 80er Jahren rückten somit nicht nur Kleists Kriegsalpträume, sondern auch seine utopischen Visionen in den Mittelpunkt. Die Reformsozialisten, die noch in der DDR verblieben und sich fast alle stark mit Kleists Ästhetik identifizieren konnten, erneuerten, im Gegensatz zur jüngeren Generation, ab Mitte der 80er Jahre – unter dem Einfluss von Michail Gor-
11 Quelle: Ausstellung „EUER KLEIST! SPIELT IHR IHN? Inszenierungen im geteilten Deutschland“, Kleist Museum Frankfurt (Oder), 7. Oktober 2015-31. Januar 2016. 12 Tate, Beyond „Kulturpolitik“ (1984), S. 16. 13 Emmerich, Kleine Literaturgeschichte (2007), S. 276. 14 Ernst Blochs Das Prinzip Hoffnung entfaltet eine Philosophie der konkreten Utopie und wurde während seiner Zeit im US-Exil zwischen 1938 und 1947 verfasst und erschien zwischen 1954-59 in der DDR, in der Zeit, als er in Leipzig lehrte und Wolf, Dresen, Weigel et al. bei ihm Vorlesungen besuchten. Diese Erfahrung und den Einfluss auf ihr Schaffen haben sie häufig thematisiert.
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batschows Perestroika-Politik – ihre Hoffnung, dass durch ihr Zutun es doch noch zu einem menschenwürdigen Sozialismus kommen könnte. Christa Wolf spricht vom verbliebenen „Utopie-Rest, nie ganz aufgezehrt.“15 Die Literatur, wie Emmerich ausführt, glaubte, ganz im Sinne Ernst Blochs, an die verändernde Kraft eines Denkens dessen, was noch nicht ist, aber sein soll: ein lebendiger, menschlicher Sozialismus, in dem, so sagen es Blochs letzte Zeilen aus dem ‚Prinzip Hoffnung’, ‚der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende Mensch [...] sich erfasst und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet.16
Über eine neugedachte Kultur sollte also das langfristige große humanistische Ziel des Zu-sich-selber-Kommens des Menschen wieder in den Blick genommen werden. Mit Kleist wurde dabei sowohl der politische Schrecken des Kalten Krieges angeprangert als auch die Utopie des Sozialismus fundamental kritisiert und erneuert. Schlussendlich würden sie alle daran festhalten: Bis auf Peter Hacks, dessen An Träger wie ein letztes Aufbäumen der Erbe-Politik der 50er Jahre erscheint, standen alle in diesem Kapitel behandelten literarischen KleistRezipienten am 4. November 1989 auf der Großdemonstration auf dem Alexanderplatz und sprachen sich für eine reformierte DDR und gegen eine deutsche Wiedervereinigung aus.
15 Ebd. 16 Ebd.
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Das erste Beispiel einer zivilisatorischen Ernüchterung und ein weiteres imitatio et aemulatio findet sich bei Christoph Hein. Geboren 1944 und somit deutlich jünger als die Reformsozialisten, ist er einer der wenigen Autoren, die es in den 80er Jahren noch zu Erfolgen bringen und veröffentlichen können. Hein, der den Großteil der 1970er Jahre als Dramaturg an der Berliner Volksbühne arbeitete, setzte auf den ersten Blick auch das Selbstverständnis der DDR-Autorenrolle und führt die Tendenzen seiner Mitstreiter fort: Im 1980 uraufgeführten Stück Cromwell, in dem er den Weg des Revolutionärs vom Idealisten zum Diktator nachzeichnet, werden, ähnlich wie zuvor bei Schütz, „ökonomische, soziale und psychologische Erklärungsmuster für das Fehlschlagen von Revolutionen angeboten.“17 In seinem 1982 erschienenen Roman Der fremde Freund/Drachenblut, der ihn international bekannt machte, zeigt er sich als der kühle und nüchterne Beobachter, als Chronist ohne Botschaft einer sich selbst entfremdeten Industriegesellschaft, an der jedwede Bedeutungsmuster scheitern. Jenes kühle, distanzierte Erzählen prägte auch seine ebenfalls 1980 im Erzählungsband Nachtfahrt und früher Morgen erschienene Kurzerzählung Der neuere (glücklichere) Kohlhaas. Damit ist er nach Schütz und der Inszenierung von Adolf Dresen ein weiterer Kohlhaas-Rezipient, der diesen zum Erbe gehörenden Kleist-Text nutzt, um das Seziermesser an die sozialen Strukturen seiner Gegenwart anzulegen, als teils ironische „Analyse der – letztlich – selbstzerstörerischen Mechanismen gesellschaftlicher Machtstrukturen im real existierenden Sozialismus.“18 In Anspielung an sowohl Michael Kohlhaas als auch an Kleists Anekdote Der neuere (glücklichere) Werther, konstruiert Hein einen 1972/73 in einer südthüringischen Kleinstadt angesiedelten „kleistisch gedrängte[n] Geschehnisrapport“.19 Berichtet wird von der bürokratischen Odyssee des Bürgers Hubert K., seines Zeichens Buchhalter in der volkseigenen Schuhfabrik und „das Muster eines Rechnungsführers“ (73). Als ein solches, pocht er eines Tages kleinkrämerisch auf eine Klärung der in seinen Augen ungerechtfertigten Kürzung einer Arbeitsprämie, für die Krankheit als Grund angegeben wurde, obwohl dies in anderen Betrieben nicht der Fall gewesen sei. In Kohlhaas‘scher Manier beharrt er auf seinem Recht, wie alle in der sozialistischen Gesellschaft gleich behandelt zu werden und muss über mehrere Monate hinweg die Schmach seiner Kollegen
17 Grunenberg, Geschichte als Entfremdung (1992), S. 67. 18 Eke, Kleist Rezeption DDR (2009), S. 429. 19 Leistner, Kleist in der neueren DDR-Literatur (1988), S. 339.
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und seiner Ehefrau erdulden und seinen Fall zunächst erfolglos durch verschiedene Gerichtsinstanzen lotsen. Am Ende wird er in einer großen politischen Farce Recht bekommen und entschädigt werden, jedoch seine Familie und sein generelles soziales Umfeld dabei verloren haben. Hein stellt sich mit diesem Text allerdings nicht nur in die Tradition von Kleist, sondern, ähnlich wie bei Kunerts K.s ist sein Hubert K. nicht nur mit Kohlhaas’schen, sondern auch mit Kafkaesken Zügen ausgestattet. Beide dienen ihm dazu, einen satirischen Blick auf die ewig sich wiederholenden Verhaltensmuster und Hierarchien zu werfen, was Jochen Marquardt Heins „Historisierung gelebter Gegenwart“ nennt.20 Die Ironie entsteht dabei vor allem durch die Diskrepanz zwischen der nichtigen Relevanz der erzählten Handlung und der hochkomplexen, sichtlich an Kleist geschulten syntagmatischen erzählerischen Ausgestaltung: Enttäuscht in ihrem Urlaubsverhalten war jedoch Elvira K., die sich durch den Eifer ihres Gatten um eine, wie sie sagte, Lappalie vernachlässigt fühlte und, wohl nicht zu Unrecht, ihrem Ehemann mangelnde Zärtlichkeit vorwarf, ihn auch an gewisse Ehepflichten erinnerte, die anzumahnen sie besonders im Urlaub hoffte, keine Veranlassung zu haben. (79)
Seine Frau, wie auch seine Kollegen, wird sich zunehmend ob des Schadens, den er für das Ansehen seiner Familie und des Betriebs anrichtet, von ihm lossagen. Sein sowohl an Hiob als auch an Kohlhaas geschultes Schicksal bringt ihn nur für einen kurzen Moment zum Reflektieren über die eigene Situation, die allerdings eher an Kafkas (Josef) K. erinnert, wenn es ihm scheint, als sei alles um ihn, der Raum, die Personen, der verlesene Beschluss, ein Traum, eine quälende Erscheinung, die ebenso schnell verschwunden sein würde, wie sie auf ihn eingestürmt war. Mühsam verdeutlichte er sich, dass es nichts weniger als eine bloße Einbildung sei; und obgleich ihm alles unbegreiflich blieb: es war, er begriff es nur langsam, sein wirkliches Leben. (82)
Zu mehr als dieser ernüchternden Erkenntnis wird er es allerdings nicht bringen. Denn auch wenn er beschließt, seine Klage zurückzuziehen, als ihm eine Verhandlung angekündigt wird und damit „seinem gestörten Rechtsgefühl ausreichend Genugtuung“ (80) gegeben wurde, so ist der Fall damit nicht beendet. Im Unterschied zu seinem Kleist’schen Vorbild kann Hubert K. kaum als gradlinig bezeichnet werden und so wird er im zunehmenden Maße fremdbestimmt von anderen, die nur ihre eigenen egoistischen Interessen befriedigen wollen, was
20 Marquardt, Zu Christoph Heins Kleist-Adaption (1992), S. 56.
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den Text in die Nähe von Kafkas Prozess, aber auch Schütz‘ Kohlhaas (Kapitel 2) rückt: Der Ingenieur im Urlaub fördert Hubert K. in seinem Fall nur, weil er somit mehr Zeit in der Nähe von Elvira K. verbringen kann, die er „äußerst reizvoll“ findet. (79) Recht zugesprochen erhält er schlussendlich nur durch die Initiative von Johannes B., einem jungen Gewerkschaftsmitarbeiter – vermutlich eine Anspielung an Johannes R. Becher – der „erst vor einem Jahr von der Hochschule nach H. gekommen und mit zuviel Ehrgeiz versehen, um sich in einer kleinen Stadt einzurichten“, der Aufstiegschancen für sich in K.s Fall wittert und geschickt die offizielle Rhetorik verdreht, indem er K. in einem Brief den Satz in den Mund legt, der die erhoffte Wende bringen soll: „Ich habe kein Vertrauen mehr in die sozialistische Gesetzlichkeit“ (89). Daraufhin spielt sich ein politisches Spektakel ab, das wiederum in völliger Diskrepanz zur Bedeutung des eigentlichen Falles steht: Am letzten Mittwoch im April, wenige Minuten nach zehn Uhr früh, trafen, vielbeachtet, zwei große, schwarze Staatslimousinen vor dem Gebäude des Kreisgerichts in H. ein. Der amtierende Oberrichter der Stadt empfing auf der Vortreppe den Vertreter des Präsidenten des Obersten Gerichts, zwei seiner Mitarbeiter und drei Herren des Bundesvorstandes der Gewerkschaften. (90)
Nach dieser öffentlichkeitswirksamen Zurschaustellung staatlicher Repräsentation, wird dann noch in der dreistündigen Verhandlung Hubert K. Recht zugesprochen und wiederholt darauf hingewiesen, wie in diesem Falle „durch ein nicht zu billigendes, leichtfertiges Verfahren der Kläger in schwere Konflikte mit unserer Gesellschaft“ gekommen sei und dass „[d]as zu revidieren […] vielleicht die vornehmste Aufgabe der heutigen Verhandlung gewesen“ sei (91). Hubert K. wird also rehabilitiert und formal ist die Gerechtigkeit damit wiederhergestellt, aber es profitieren nur Karrieristen und der Staat davon, der den Fall zu Propagandazwecken ausnutzt. K. bleibt daraufhin vereinsamt und isoliert und wird noch Jahre später von der Mutter seiner nun geschiedenen Frau für diese Taten als „verfluchter Gottesnarr“ (92) beschimpft. Leistner beurteilt den Text als ein „indizierendes Prosastück, das gesellschaftlich-soziale Mechanismen erhellt, das die Funktionsweise von Leitungen, Gremien, Instanzen vorführt – und vor allem die Disproportionalität von zusammenstoßenden Haltungen und Einzelreaktionen, aus denen schließlich ein sich verselbständigender, befremdlich eigengesetzlicher Vorgang erwächst.“21 Viel bedeutender an dieser Stelle scheint aber, dass diese Mechanismen, die je-
21 Leistner, Kleist in der neueren DDR-Literatur (1988), S. 340.
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nen unüberbrückbaren Bruch zwischen Individuum und Gesellschaft herausstellen, in allen Gesellschaftsschichten gleichermaßen verankert sind. Wie Bernd Fischer betont, ist jedweder und bei einer Kohlhaas-Adaption zu erwartender Bürgeraufstand völlig undenkbar, „because Hubert K.’s most cruel adversaries (and the loudest defenders of the status quo) are non other than his co-workers, his local union representatives, the general public, and, not least, his wife Elvira.”22 Der Gerechtigkeitswillen legt die Dysfunktionalität sozialer Beziehungen offen und dieses System wird zwar von der staatlichen Obrigkeit toleriert, aber vor allem von seinen Genossen getragen – auch hier klingt Schütz’ Kohlhaas wiederum an. Der Erkenntniseffekt für Hubert K. ist dabei nicht vorhanden. Hein führt dem Leser zynisch vor, dass das Kleistsche Schicksal ihn zwar aus der eintönigen Normativität herausreißt und ihm die Möglichkeit gibt, in Kunertscher Manier die Gesellschaft kritisch zu beobachten, allerdings primär ohne, – und das ist neu – dass dabei eine Erkenntnis im Protagonisten ausgelöst wird, im Gegenteil, er wird zunehmend vom Subjekt zum Objekt seiner eigenen Taten degradiert. Schlimmer noch, wie Marquardt hervorhebt, merkt Hubert K. nicht einmal, dass „die empfindliche Störung seiner bisherigen Lebensweise, […] sich damit als Selbstbetrug, als Ausdruck bloßer Konvention, ja als Lebenslüge herausstellt.“23 Hein nutzt hierbei den Kleist-Stoff über eine deutsche Revolution, um auf das Spannungsverhältnis von Anspruch und Realität eines sich sozialistisch nennenden Staatswesens hinzuweisen, in der Hoffnung, damit eine notwendige Kritik auszusprechen, die diese Missstände zu überbrücken hilft. Gleichzeitig ist bei ihm – im Unterschied zu vielen anderen Kollegen – schon kein einziger Hoffnungsschimmer mehr zu erkennen und völlig abgeklärt berichtet er nur noch von der sich ausbreitenden, systembedingten Selbstzerstörung der DDR-Gesellschaft, „an deren Zustandekommen nicht nur die Exponenten restriktiver Herrschaftsverhältnisse maßgeblichen Anteil haben, sondern auch die systemstabilisierende, nämlich jene Sicherung der sozialen Existenz bezweckende Liaison des – kleinbürgerlichen – Individuums mit der Macht.“24 In diesem Punkt geht Hein einen ernüchterten Schritt weiter als Schütz, dessen Kohlhaas noch seine Situation selbst erkennt und dessen Schicksal nicht konkret in der DDR verhandelt wird. Auch ist hier bereits das Individuum, dass seine Subjektwerdung bei Wolf, Dresen und Freese noch in den Einklang mit staatlicher Obrigkeit bringen wollte, bereits gescheitert.
22 Fischer, What Moves Kohlhaas? (2013), S. 190. 23 Marquardt, Zu Christoph Heins Kleist-Adaption (1992), S. 61. 24 Ebd., S. 56.
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In seiner Rede am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz würde er dennoch für eine Reform der DDR plädieren: „Die Strukturen dieser Gesellschaft müssen verändert werden, wenn sie demokratisch und sozialistisch werden sollen.“ Dass sie das bisher nicht waren, verdeutlicht er an einem Beispiel, das repräsentativ für die DDR-Analysen fast aller seiner Kollegen stehen könnte und das zeigt, dass ihre Literatur auch stets eine littérature engagée für das Ziel des Sozialismus war: Ich möchte uns alle an einen alten Mann erinnern, an einen alten und wahrscheinlich jetzt sehr einsamen Mann. Ich spreche von Erich Honecker. Dieser Mann hatte einen Traum, und er war bereit, für diesen Traum ins Zuchthaus zu gehen. Dann bekam er die Chance, den Traum zu verwirklichen. Es war keine gute Chance, denn der besiegte Faschismus und der übermächtige Stalinismus waren dabei Geburtshelfer. Es entstand eine Gesellschaft, die wenig mit Sozialismus zu tun hatte. Von Bürokratie, Demagogie, Bespitzelung, Machtmissbrauch, Entmündigung und auch Verbrechen war und ist diese Gesellschaft gezeichnet.25
Hein, der nüchterne Dialektiker, erforscht somit auch die Grundlagen des Scheiterns des Sozialismus, und Kohlhaas ist eine Chiffre, mit der man den Staat DDR, der den Stoff einst als Nationalmythos nutzte (Kapitel 1), immer wieder testen sollte. Der Kohlhaas-Stoff wird ihn aber noch weit über die DDR hinaus beschäftigen, da sowohl Willenbrock (2000) wie auch der RAF-Roman In seiner frühen Kindheit ein Garten (2005) wesentliche Züge der Kleist-Erzählung tragen,26 was er selbst 2011 in seiner Rede Mein Kleist auf Schloss Neuhardenberg folgenderweise formulierte: „Auch in meinen eigenen Arbeiten taucht dieser Kerl [Kohlhaas, S.E.] wiederholt auf, oder doch einer seiner Nachfahren.“ 27 Somit bleibt für Hein Michael Kohlhaas als poetologische Figur, als kritischkontrastive Bezugnahme auf die unmittelbar gelebte Gegenwart erhalten, um „das soziale Konfliktpotential gesellschaftlichen Zusammenlebens als weiterwirkendes historisches Kontinuum“28 kenntlich zu machen, das kein reines DDR-Phänomen war.
25 http://www.dhm.de/archiv/ausstellungen/4november1989/hein.html, aufgerufen am 26.08.15. 26 Martin Lüdkes Rezension in der Frankfurter Rundschau vom 29.01.05, s. https://www.perlentaucher.de/buch/christoph-hein/in-seiner-fruehen-kindheit-eingarten.html, aufgerufen am 26.08.15. 27 Hein, Mein Kleist (2011), S. 10. 28 Marquart, Zu Christoph Heins Kleist-Adaption (1992), S. 66.
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Die langläufig einzige konträre – man möchte fast sagen reaktionäre – Position gegenüber Kleist bezieht 1983 der Dramatiker Peter Hacks in seinem Essay An Träger. Der 1928 geborene und 1955 aus München in die DDR übergesiedelte Autor wich literarisch ab den 60er Jahren immer mehr von den Grundsätzen des sozialistischen Realismus ab und versuchte sich als Nachfolger eines universellen künstlerischen Klassizismus, den er nach Weimarer Vorbild als „sozialistische Klassik“ verstanden wissen wollte und die durch adäquat nachempfundene ästhetische Bildung ihren Beitrag zur sozialistischen Erziehung leisten sollte. Hacks formte somit seine eigene ideologische Ästhetik. 1972 veröffentlichte er in diesem Zuge auch seine Grundsätze einer „postrevolutionären Dramaturgie“, die er wie folgt begründet: Der Mensch ist, bereits im gegenwärtigen Zustand des Sozialismus, in so hinlänglichem Maße Herr der Geschichte, dass der dramatische Urheber anfangen kann, seinem Stoff als Herr gegenüberzutreten; er vermag ihn den Gesetzen der Gattung entsprechend zu gestalten und zur Gänze, wie Poesie muss, in Form zu verwandeln.29
Diese, mit der Erklärung des Sozialismus als real existierend sehr konforme Verortung von Literatur liest sich, ähnlich wie Wolfs Lesen und Schreiben (1968), wie ein Versuch, die individuellen künstlerischen Maxime des Autors Hacks in einen staatskonformen Wortlaut zu bringen. Wie viele andere Autoren in den 70er Jahren nutzte Hacks historische und mythologische Stoffe, allerdings mit Goethe als Vorbild und „ohne dass seinen Historien und Parabeln eine sozia30 listische Intention eingeschrieben wäre“. Doch ebenso wie Müller, der freilich gänzlich andere Maßstäbe ansetzte, machten diese „neutralen“ Stoffe Hacks auch in Westdeutschland spielbar und in den 70er Jahren sogar zum meistgespielten Gegenwartsautor auf gesamtdeutschen Bühnen. Wie sich aber aus den verschiedenen Dokumenten entnehmen lässt, trat Hacks aber auch mit dem Selbstverständnis einer nationalen Literaturinstanz auf und teilte offen – „vom Standpunkt des reifen Sozialismus her“ – sein Urteil über die Arbeit anderer Autoren, wobei ihm das Interesse seiner Kollegen für die Romantik und die Moderne dabei ein besonderer Dorn im Auge war. In diesen Kontext fällt auch An Träger, der die briefliche Antwort Hacks‘ an den Germanisten Claus Träger darstellt, der wiederum zunächst auf Hacks 1982 gehaltene Rede Über die Goethe-
29 Zitiert nach Emmerich, Kleine Literaturgeschichte (2007), S. 217. 30 Ebd., S. 218.
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sche Auskunft zu Fragen der Theaterarchitektur reagierte und unter anderem dessen Diffamierung der Romantik – zu der auch Kleist zählte – als „gegen31 bonapartistische Fronde“ kritisierte. Beide Briefe wurden schließlich 1984 im Heft 2 der Zeitschrift für Germanistik veröffentlicht. Wie Leistner betont, wäre es zwar zu einlinig gedacht, den Text als Polemik gegen Wolf und KON zu lesen, zumal ihre Penthesilea-Ausgabe zu diesem Zeitpunkt noch nicht veröffentlicht war, doch er ordnet diesen Essay „als Teil des großen antiromantischen Streifzuges von Hacks“ ein, der die „’romantische‘ 32 Disposition Christa Wolfs […] dementsprechend wohl mit im Blick“ hatte. Hacks kontrastiert diesen Vorgang mit seiner eigenen literarischen Methode, nämlich der Politisierung von Geschichte und Kunst, die er in der Formel zusammenbringt: „Kunst ist vorgestellte Praxis. Falls ich die Welt kenne, heißt das nicht viel seltener als immer: vorgestellte politische Praxis.“ (312). Die Romantik und die Moderne seien zudem deswegen nicht als Vorbild zu nehmen, weil sie sich nur mit Details des Ganzen auseinandersetzten, während für Hacks gilt: „Das Wahre ist nur als System wirklich.“ (313) Diese Statuten scheinen an dieser Stelle vor allem apologetischer Natur zu sein. Denn nicht nur von Träger, sondern von verschiedener Stelle aus wurde Hacks in den 70er Jahren vorgeworfen, eben genau nicht mehr politisch zu arbeiten und mit seinen historisch33 mythologischen Stoffen eine Art klassizistischen Eskapismus zu betreiben. Hacks reagierte folgerichtig in landesherrlicher Manier, hatte er sich schließlich darauf verpflichtet, den Verhältnissen mit der künstlerischen Haltung eines „Klassikers“ zu begegnen. Leistner kommentierte dies 1988: Und je breiter er einen Riss klaffen sah zwischen seiner Kunstidee und einer staatlichgesellschaftlichen Wirklichkeit, deren prosaische Entwicklungen diese Idee als nicht den Realitäten entsprechend erkennbar machten, desto entschiedener hielt er an seinem Anspruch fest: Hartnäckig schalt er Kollegen, von denen er meinte, dass sie ihrerseits kopflos, gleichsam unvernünftige Alternativsucher, geworden seien.34
So liest sich dann auch sein Essay, wenn er auf die von verschiedensten Seiten vorgenommenen Korrekturen am Erbe-Bild von Kleist zu sprechen kommt und dieses dabei wiederaufleben lässt, als hätte sich in den 30 Jahren nichts verändert. Vor allem die maßgebliche Episode des Goethe-Urteils über Penthesilea
31 Vgl. Grubner, „Kunst ist vorgestellte Praxis“ (2011), S. 71. 32 Leistner, Kleist in der neueren DDR-Literatur (1988), S. 351. 33 Vgl. Grubner, „Kunst ist vorgestellte Praxis“ (2011), S. 71. 34 Leistner, Kleist in der neueren DDR-Literatur (1988), S. 351.
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wird aus Goethescher Perspektive neu aufgerollt. So hätte Kleist Goethe mehrfach beleidigt und wegen seiner Ehe diffamiert, „drosch sogar auf deren Sohn, der doch an all der Unzucht die Schuld wirklich nicht hatte: Nun, das nenn ich frühgereiftes Talent doch, bei seiner / Eltern Hochzeit bereits hat er den Carmen gemacht.“ (313). Weiterhin, obwohl er Goethes Überzeugungen kannte, lud er ihn „in die schlechte Gesellschaft seiner Phöbus-Mitarbeiter“ ein und „erbettelte“ die Uraufführung des Zerbrochenen Krugs, druckte dann aber nach der Premiere „im Aprilheft seiner Zeitschrift einige Unverschämtheiten über den eben noch so herzlich beknieten Herrn von Goethe“. Doch dies nur der Anfang von Goethes Ablehnung: „In dem Gezänk ließe sich eine Ursache für Goethes Abneigung gegen Kleist suchen. Aber ich will die Ursache hier nicht finden. Bloß weil Kleist kein Benehmen hatte?, es reicht mir nicht.“ (316). Entscheidend nämlich sei Kleists Kriegstreiberei, wobei er den Homburg und die Hermannsschlacht anführt, behauptend, dass Goethe beide auch kannte, wofür es keine Belege gibt: Ziel war es, die beiden verbliebenen Nicht-Rheinbundstaaten „zum Angriff gegen Frankreich und Deutschland und zur Übernahme der Weltherrschaft zu ermuntern: für Österreich die Hermannsschlacht, für Preußen den Prinzen von Homburg“, wobei Kleist im ersteren seine politische Agenda durch „bewusste Lügenmeldung, die Greuelpropaganda und den Einsatz von als Feinden verkleideten und durch Bluttaten sich unerwünscht machenden Provokateuren“ (317) durchsetzen wollte. Ganz unabhängig von der Bewertung von Kleists politischen Absichten fällt doch auf, wie Hacks in diesem Essay alle Lukácsund Mehring’schen Urteile der nationalsozialistischen Instrumentalisierung Kleists aufzählt, wie sie 1983 selbst der Staatsapparat der DDR seit über 10 Jahren nicht mehr vertrat. Das Kleist-Urteil wird ihm dabei sogar zum Gesinnungstest: „Sie, lieber Herr Träger, finden die Hermannsschlacht ekelerregend. Sie müssen einen ziemlich unpolitischen Ekel haben, wenn ihn der Homburg nicht erregt.“ (317). Den abschließenden Punkt seiner Kleist-Beurteilung findet Hacks schließlich in der Aussage, die gleichsam sein literaturhistorisches Urteil prägnant auf den Punkt bringt: „Worauf es mir ankommt, ist der Schluss, dass Goethe sicherlich Kleist für einen Romantiker ansah und somit überhaupt nicht misskannte. – Hören Sie, das weiß man doch alles. Richtig, es ist nichts Neues dabei.“ (318). Das Goethe-Urteil hatte somit für Hacks einen Gesetzesstatus, wie es auch die marxistischen Kritiker der 30er Jahre geleitet hat, und er schien es als seine Mission zu begreifen, dieses zu restaurieren, respektive allen Lesern begreiflich zu machen, dass dies immer noch die einzig gültige Sichtweise sei. Es überrascht dementsprechend nicht, dass er dafür von den kritisierten Kollegen auch Spott erntet: Müller kommentiert 1975 lakonisch „Die Pose des Klassikers erfordert homerische Blindheit“ und Emmerich hielt 1988 fest, dass „gegen
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Hacks‘ Verheißung einer befriedeten, gelingenden Kultur […] nichts einzuwenden [wäre], wenn sie sich nicht so unendlich weit von der schnöden Alltagswirklichkeit in der DDR entfernte.“35 Hacks will damit sichtlich provozieren und es geht ihm bei Kleist, wie Leistner es in Anlehnung an Arno Schmidt formuliert, um einen Akt „ausgleichender Ungerechtigkeit“.36 Signifikant sind bei diesem Aufsatz vor allem zwei Aspekte: Einerseits haben wir es hier mit einer völligen Selbstidentifizierung Hacks‘ mit Goethe zu tun, in den er sich einfühlt und als dessen legitimer und selbstgerechter Nachfolger im sozialistischen Gewande er nun hochemotional-bürgerlich auf eine Aufwertung Kleists reagiert, in der Form, wie Goethe es wohl seiner Meinung nach in den 1980er Jahren getan hätte. In anderen Worten haben wir es mit dem revisionistischen Gegenpol zu Günter Kunerts Pamphlet für K. zu tun, einem Pamphlet für G. Hacks Polemik ist ein letztes Aufbäumen der ideologischen Fraktion und ein wichtiger Gegenpol für die sonst geschlossen dialektische Kleist-Rezeption der 80er Jahre. Zudem ist es ein pointiertes Beispiel für literaturtheoretische Diskussionen allgemein, „die nach wie vor in den Wäldern des ‚Erbes‘ ausgetragen werden, zumal in denen der deutschen Literaturgeschichte des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts“,37 in die sich Hacks in den 80er Jahren offenbar zurückwünscht. Wirkung hat er damit allerdings keine erzielt.
35 Beides Emmerich, Kleine Literaturgeschichte (2007), S. 358. 36 Leistner, Kleist in der neueren DDR-Literatur (1988), S. 352. 37 Ebd., S. 353.
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Christa Wolf gehörte aus der Generation der Reformsozialisten zu jenen, die in den 80er Jahren in der DDR verblieben und etabliert genug waren, um künstlerische Freiheiten zu genießen. Ähnlich wie Müller arbeitete sie kontinuierlich an ihrer dialektischen Zivilisationskritik, die sie allerdings immer weiter zurück in die Geschichte führen sollte. Für ihre Erzählung Kassandra diente Kleist dabei nicht nur als Vorbild, wie man sich mythologischen Stoffen nähert, sondern seine Penthesilea ist auch in die feministische Diskussion, in der Wolfs Kassandra und Penthesilea verstrickt sind, eingeflossen. Vier Jahre nach KON nun widmete sich Wolf wiederum Individuen, die mit Fremdheit und dem „Zusammenbruch aller Alternativen“38 konfrontiert sind. Nach Kleist, Günderrode und Bettina von Arnim verlegte sie ihre Autorschaftskrise vom frühen 19. Jahrhundert in die mythische Vorzeit – in den trojanischen Krieg und dessen zivilisatorische Konsequenzen. Wolf setzte dabei, wie auch Müller, eine Vorstellung von Geschichte voraus, wie Colombo argumentiert, „als [ein] Kontinuum von Gewalt, Ausschluss und Unterdrückung, das in der griechischen Antike seinen Anfang nahm und noch die Gegenwart beeinflusst.“39 &*'%(*!"%',%*% ($+)!%( %#%( Heinz-Peter Preußer stellte im Jahre 2000 fest, dass Christa Wolfs Kassandra „bereits zur Unkenntlichkeit verstanden worden“ sei.40 In der Tat kann auf eine erstaunliche Masse an literaturwissenschaftlicher Beschäftigung mit diesem Werk verwiesen werden, und es soll hierbei auch nicht um eine Neuinterpretation gehen, sondern um eine Hervorhebung verschiedener Aspekte von Wolfs Erzählung, die mit ihrem Verständnis von Kleist in Verbindung stehen und die neue Sichtweisen eröffnen können. In den vier Frankfurter Poetikvorlesungen, die Wolf 1982 vor der Erscheinung der Erzählung hielt und die von deren Voraussetzungen berichten, ist weiterhin Subjektwerdung ein zentraler Begriff, eine Weiterentwicklung des ubiquitären Zu-sich-selber-Kommens des Menschen, das sie noch als Becher-Zitat Nachdenken über Christa T. vorangestellt hatte und das sie bereits 1968 in ihrem
38 Wolf, Voraussetzungen einer Erzählung (1983), S. 18, fortfolgend VOR. 39 Colombo, Das Drama der Geschichte bei Heiner Müller und Christa Wolf (2009), S. 9. 40 Preußer, Mythos als Sinnkonstruktion (2000), S. 1.
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Essay Lesen und Schreiben verwendete. In jenem reagiert sie noch auf die Kritik, dass der Roman im wissenschaftlichen Zeitalter noch nicht angekommen sei und setzt jener entgegen, dass im Gegenteil die Prosa-Literatur die „unbestechliche und zugleich verständnisvolle Begleiterin der Wissenschaft“ (LUS 36) sei. Prosa schaffe Differenziertheit und baue tödliche Vereinfachungen ab, sei revolutionär und realistisch, verführe und ermutige zum Unmöglichen. „Sie unterstützt das Subjektwerden des Menschen.“ (LUS 47). Ihr Plädoyer für realistische Prosa-Literatur, das, trotz aller sonstigen Bedachtheit der Darstellung, teils etwas bemüht mit der sozialistischen Gesellschaft verknüpft wird, enthält aber auch in diesem Essay bereits eine interessante Voraussetzung: „Zu schreiben kann erst beginnen, wem die Realität nicht mehr selbstverständlich ist.“ (LUS 36). Exakt jene Voraussetzung schien bereits bei Nachdenken über Christa T. im gleichen Jahr gegeben zu sein, doch haben sowohl die Zensurerfahrung bei diesem Text als auch die Ereignisse des Jahres 1976 zusätzlich zu einer umfassenden Autorschaftskrise und weg vom ästhetischen Realismus geführt, wie bei KON (Kapitel 2) zu beobachten war. Auf der Suche nach möglichen Antworten auf die Fragen dieser Krise und mit dem Hintergrund einer Welt, die auf einen möglichen Atomkrieg zusteuerte, ging sie mit ihren neuen Projekten an die Gründungsmythen Europas zurück und weitete damit ihre Beschäftigung mit Außenseiterinnen aus. Der Mythos war für sie insofern interessant, als dass sie in jenem eine „tiefere seelische Realität“ (VOR 126) zu finden hoffte, wie auch ein neues Sinnangebot für eine Autorin in der DDR, die „Sinngebung durch verbrauchte Institutionen nicht zu erhoffen“ (VOR 124) mehr imstande war. In den Voraussetzungen zu Kassandra nun begibt sie sich in ihrer gewohnt subjektiv-authentischen Art – die Vorlesungen wurden in Form von zwei Reiseberichten, eines Arbeitstagebuchs und eines Briefes verlesen – auf die Suche nach Alternativen für die unzähligen Krisen, die ihre Gegenwart bestimmen. In ihrer umfassenden Spurensuche durch die mythische Geschichte des Abendlandes, von dem Gewaltakt an einer Frau als mythologische Gründungsgeschichte Europas (Entführung Europas), über mögliche matriarchale Ursprünge gelangt sie zur Erkenntnis, dass Frauen über die Jahrhunderte hinweg zum reinen Objekt stilisiert wurden (VOR 146). Das Ideal der griechischen Polis, wie Colombo hervorhebt, habe ein Menschenbild geschaffen, das über Jahrtausende seine Ausstrahlung beibehalten und Frauen und Fremde marginalisiert habe.41 Dies scheinen die Kernprobleme zu sein, die Wolf in ihrer historischen Situation besonders gereizt haben. Sie identifiziert erneut das „Objektemachen“ als die
41 Vgl. Colombo, Das Drama der Geschichte bei Heiner Müller und Christa Wolf (2009), S. 75.
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Hauptquelle von Gewalt und unternimmt nun den Versuch, weibliches Schreiben als ein Mittel zu entwickeln, das sie zwischen sich und die Männerwelt legen will (VOR 116). Dies bedeute aber auch, sich endgültig vom Realismus zu verabschieden: „Frauen als Handelnde, Gewalttätige, Erkennende? Sie fallen durch den Raster der Literatur. Dieser heißt „Realismus“. Die ganze bisherige Existenz der Frau war unrealistisch.“ (VOR 146) Die Gleichstellung von Weiblichkeit löst demnach den Realismus als Hauptanliegen der Subjektwerdung ab, der Wolfs Schreiben sich widmet. In Kassandra, jener Nebenfigur in Aischylos‘ Orestie, die sie zum Vorbild nimmt, findet sie den Stoff, die Hauptfigur, mit dem die „Rückführung aus dem Mythos in die (gedachten) sozialen und historischen Koordinaten“ (VOR 142) des Geschehens gelingen soll. Eine Mythoskorrektur, eine Suche nach neuen Lebensweisen, und auch eine „Relektüre eines der abendländischen Kultur zugrunde liegenden Gründungstextes […] deren Zweck es ist, diesen als ideologisches Konstrukt zu entlarven“.42 Kassandra als personifizierte Dialektik, die die Zukunft erkennt, weil sie die Gegenwart kritisch betrachtet und daraus Mut schöpft, sich freiwillig ins Abseits zu begeben, weil sie weiß, dass es keine lebbaren Alternativen mehr für sie gibt, und sie sich von gültigen Utopien trennen muss. (VOR 123ff.) KON scheint hier noch deutlich durch, allerdings wird nun mit der Krise auch eine neue, kreative Freude am Scheitern verbunden: „Freude aus Verunsicherung ziehn – wer hat uns das denn beigebracht!“ (VOR 167) In ihrer vierten und letzten Vorlesung beschreibt sie Kassandra als ihr Sinnangebot, das ihr Leben ähnlich verändert wie zuvor der Marxismus: Seit ich begonnen habe – den Namen „Kassandra“ vor mir hertragend als eine Art Legitimations- und Losungswort – mich auf jene Bereiche einzulassen, in die er mich führt, scheint alles, was mir sonst begegnet, „damit“ zusammenzuhängen […]. Mit der Erweiterung des Blick-Winkels, der Neueinstellung der Tiefenschärfe hat mein Seh-Raster, durch den ich unsere Zeit, uns alle, dich, mich selber wahrnehme, sich entschieden verändert, vergleichbar jener frühen entschiedenen Veränderung, die mein Denken, meine Sicht und mein Selbst-Gefühl und Selbst-Anspruch vor mehr als dreißig Jahren durch die erste befreiende und erhellende Bekanntschaft mit der marxistischen Theorie und Sehweise erfuhren. (VOR 167)
Sie beschreibt den Mythos als einschlägige Erfahrung, der an die Tiefe, einen ihrer Schlüsselbegriffe von Literatur in Lesen und Schreiben, anknüpft und ihn mit
42 Roser,
Mythenbehandlung
und
„Medea.Stimmen“ (2000), S. 93.
Kompositionstechnik
in
Christa
Wolfs
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dem neuen Sehen semantisch verknüpft, der Kassandra zugeschriebenen Eigenschaft. Der Realismus wird bei Wolf endgültig durch eine weibliche Mythenkorrektur43 ersetzt, die an die Meininger Penthesilea (Kapitel 2) erinnert und die sie als Identifikationsangebot nutzt, um sozialistische Alternativen zu schaffen. Kassandra wurde einerseits von einer größtenteils weiblichen Leserschaft zum feministischen Manifest verklärt, während viele Kritiker und Interpreten in Wolfs Werk eine reine Zeitkritik gegen das „deutsche miserere“ 44 der DDR sahen.45 Wie bei KON ist es auch hier der Aspekt der Fremdheit, der das kritische Sehen ermöglicht. Der Grieche Panthoos, der als Kassandras Mentor das politische Geschehen durchweg kritisch analysiert und später auch Kassandra selbst: als sie zur Ausgestoßenen wird, beginnt sie, die Mythenentstehung generell und die Palastrhetorik zu hinterfragen. Das politische System schafft sich somit durch Exklusion und Zurückweisung der Kritiker selbst seine inneren Feinde und höhlt sich selbst von innen her aus. Dieser unverkennbare Zeitkommentar, der auch die Situation der politischen Mythen der DDR widerspiegelt, deren Sinnleere allzu offenbar wurde, zwingt die Protagonistin dazu, ihre eigene Situation, von der ehemals privilegierten (Prinzessin, Priesterin, Vorzeigeautorin) zur ausgestoßenen, kritisch zu bewerten und dialektisch neu zu verhandeln. Ihre ge-
43 Diesen Begriff habe ich von Bernd Seidensticker übernommen, s. Seidensticker, Mythenkorrekturen (2005). 44 Einen guten Überblick über die zeitgenössische Rezeption gibt z.B. Alexander Stephan, Christa Wolf (1987), S. 139-147. 45 Und in der Tat stellt dies eine legitime Lesart des Textes dar: Der Minderwertigkeitskomplex der (östlichen) Troer gegenüber dem grobschlächtigen Auftrumpfen der (westlichen) Hellenen, die vielen Überläufer auf Trojanischer Seite, die sich vom Selbstbewusstsein der kriegsdominierenden Griechen angezogen fühlen und schließlich auch das Erstarken der Palastwache zur (Stasi-) Geheimpolizei unter Eumelos unter gleichsamen Zurückdrängen von Priamos und Hekabe, das Rückfallen in Menschenopfer, die man zuvor aufklärerisch abgeschafft hatte, der drohende und tatsächliche Krieg an allen Fronten – berichtet als letztes Zeugnis einer Seherin, bevor sie in der Fremde ebenfalls den Tod finden wird. Der deutsch-deutsche, internationale und inländische Konflikt-Kontext der Entstehungszeit ist spürbar in Wolfs Erzählung eingeflossen. In gewisser Weise, nimmt man die Wendezeit und den Literaturstreit um Wolf hinzu, kann der Untergang Trojas und Kassandras Tod in der Fremde auch fast als seherische Leistung gedeutet werden.
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genwärtige Not verlangt nach Begegnung mit dem Engel der Geschichte: mit Hilfe der Vergangenheit will sie den Fehlentwicklungen der Jetztzeit entgegenwirken, um (utopisch) auf eine lebbare Zukunft hinzuwirken.46 Ähnlich wie Wolf dies in Störfall verhandelt, muss Kassandra dies auch für sich selbst einsehen: „Worauf sollten sie setzen: auf meinen Hang zur Übereinstimmung mit den Herrschenden oder auf meine Gier nach Erkenntnis. […] Gib’s zu: Viel zu lange bist du drauf aus gewesen, beides zu bekommen.“47 Kassandra entscheidet sich emanzipatorisch für die Erkenntnis, für das Sehen und findet ein anderes Sinnangebot in der Gemeinschaft der Frauen in den Höhlen am Skamandros. In der dichotomischen Welt zwischen der geisterhaften Zitadelle und dem griechischen Heer, zwischen den Ideologien, findet sich, versteckt in den Bergen, eine heterogene Gruppe von mehrheitlich Frauen zusammen, die jene Zwischenzeit, die ihnen der Krieg gibt, für ein neues Gesellschaftsmodell nutzen. In beinahe idyllisch beschriebener Landschaft kann dieser Ort unterhalb des Berges Ida einen gesellschaftlichen Schonraum herstellen, der an die Feldszene in Kleists Erdbeben in Chili, aber auch an die 15. Szene aus Penthesilea erinnert, denn auch hier, außerhalb der normativen Gesellschaft, im Freien, scheint kurz eine Gesellschaftsutopie auf, die wie eine arkadische Gesellschaft in paradiesischer Natur angesiedelt ist. Nur wissen die Frauen am Skamandros, dass ihre Gesellschaft nur so lange existieren wird, wie der Krieg andauert, und das die Gewalt dann wieder auf sie zurückfallen wird. Aber in kindlicher Freude kosten sie jeden Moment hierarchieloser, polyamoröser und geschlechtsunspezifischer, weil menschlicher Gemeinschaft aus und versuchen sie, für die Nachwelt zu bewahren: Wir zerbrachen uns die Köpfe, wie wir ihnen eine Botschaft hinterlassen könnten, doch wir waren der Schrift nicht mächtig. Wir ritzten Tiere, Menschen, uns, in Felsenhöhlen, die wir, eh die Griechen kamen, fest verschlossen. Wir drückten unsere Hände nebeneinander in den weichen Ton. Das nannten wir, und lachten dabei, uns verewigen. (KAS 157)
Colombo identifiziert in dieser Stelle die Bedeutung künstlerischer Utopiegestaltung für Wolf: „Dadurch, dass die Höhlen fest verschlossen und von der Nachwelt wohl nicht gefunden sind, signalisiert die Autorin den utopischen Charakter sowie die Tatsache, dass das offizielle Zahlenmaterial primäre Quelle ist, wäh-
46 Vgl. Colombo, Das Drama der Geschichte bei Heiner Müller und Christa Wolf (2009), S. 162-169. 47 Wolf, Kassandra (1983), S. 76, fortfolgend KAS.
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rend das Alltagsleben am Skamandros nicht in den historischen Kanon eingegangen ist.“48 Die Erzählung wird damit selbst zur Utopie und zeigt gleichsam auf, wie brüchig die Mythenentstehung sich vollzieht. Das ändert allerdings nichts an deren Bedeutung. Denn obwohl allen bewusst ist, dass ihre Gemeinschaft zum Scheitern und zum gewaltvollen Untergang verurteilt ist, ahnen sie, dass sie gerade ein neues Gesellschaftsmodell ausprobieren, das aber nur Utopie sein kann, da die Umstände keine realistischen sind: Ganz plötzlich, von einem Augenblick zum andern, konnte unsere Sonne untergehn. Liebevoll und genau haben wir jeden Gang an jedem unserer Tage, die gezählt waren, verfolgt. Mich erstaunte, dass eine jede von den Frauen am Skamander, so sehr verschieden wir auch voneinander waren, fühlte, dass wir etwas ausprobierten. […] Wir sahn uns nicht als Beispiel. Wir waren dankbar, dass gerade wir das höchste Vorrecht, das es gibt, genießen durften, in die finstere Gegenwart, die alle Zeit besetzt hält, einen schmalen Streifen Zukunft vorzuschieben. (KAS 159)
„Ins Gebirge. In den Wald. In die Höhlen am Skamander. Zwischen Töten und Sterben ist ein Drittes: Leben.“ (KAS 141), heißt es an einer anderen Stelle, die sich in ähnlichem Wortlaut („Alternative: einfach Leben?“) auch in Sommerstück (1989) wiederfindet, das größtenteils zur selben Zeit entstanden ist.49 Doch die Utopie wird von den Griechen blutig niedergeschlagen und die Kleist’sche Denkart in Wolfs Interpretation wie in KON wird hier weitergeführt. Kassandra steht am Ende auch ohne lebbare Alternativen da und geht freiwillig in den Tod, weil sie ihre Autonomie nicht verlieren will. Der freiwillige Tod in der Fremde, die sie als Barbarin ächtet und das Zeugnis ihrer Erzählung ist ihr leiser Schritt zu Emanzipation und Authentizität. Allerdings macht Wolf hier ein Angebot, wie die von ihr erdachte sozialistische Gesellschaft funktionieren könnte, nämlich als Gesellschaft mit aufgeklärten, weiblichen Stimmen. Diese Krisenerfahrung ist somit eine produktive, weil sie dadurch wachgerüttelt wird. Wenn Kassandra ihre Geschichte erzählt, dann ist ihr Anlass, dass sie „nie lebendiger als in der Todesstunde“ (KAS 26) war und somit Zeugin dieser vergessenen, von der Männerwelt unterdrückten Utopie sein kann, auch wenn es keinen mehr gibt, der ihr ihr Zeugnis abverlangt. Wolf leitet aus ihrer Mythenkorrektur also den Vorschlag ab, den wahren Sozialismus durch Angleichung des Weiblichen herbeizuführen. Die Erzählung selbst wird
48 Ebd., S. 169. 49 Wolf, Sommerstück (1989), 69.
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zum Modell für eine Art Utopie.50 Dieser Sozialismus bleibt bei Wolf, da er später, auch in ihrem ähnlichen Medea-Projekt, nicht weiterentwickelt wird, Utopie, bleibt Mythos. „Die utopische Dimension von Literatur wird vornehmlich im Relativen und Reflexiven einer subjektzentrierten literarischen Rede gesucht.“51 Diese Utopie bedeutet für Wolf aber Leben und dies ist für sie Ausdruck eines wahren Humanismus, der Menschlichkeit.52 Dieser ist eben nicht an das Geschlecht gebunden, aber die weibliche Mythenkorrektur kann helfen, sie herzustellen in Form einer generellen „europäischen Zivilisationskritik.“53 Ihr Vorschlag zur Möglichkeit eines utopischen Sozialismus durch eine weibliche Stimme ist also in Blumenbergs Sinne Arbeit am Mythos in zweifacher Hinsicht: einerseits Bearbeitung, Dekonstruktion und Aktualisierung von mythischen Stoffen,54 die Helen Bridge dies zum Anlass nimmt, das gesamte Projekt als Mythosarbeit zu analysieren, mit dem Hinweis, dass Blumenberg auch in Wolfs Bibliographie zu den Voraussetzungen erscheint.55 Es ist aber andererseits auch, und dies muss deutlich hervorgehoben werden, Arbeit am Mythos des realexistierenden Sozialismus, der reformiert werden soll. Sie reagiert auf das Scheitern der sozialistischen Utopie in der DDR mit einem eigenen, literarischen Anstoß zur Verbesserung der Gesellschaft und verstand dies als ihre Form der konstruktiven Sozialismuskritik, der sie sich als Autorin in der DDR immer noch verpflichtet fühlte. Wie Liermann argumentiert, ist ihr Text damit sowohl „Kassandra-Ruf“, der die Gegenwart (wenn auch potentiell vergeblich) aufrütteln will, und sieht sich gleichzeitig in der Tradition der Exilsliteratur, die aus der Fremde das Unheil in Deutschland beschworen; die mythische Fremde, in die Wolf sich mit Kassandra flüchtet.56 Eine zweite wichtige Mythenkorrektur findet sich in der Figur der Penthesilea, die Wolf in Kassandra auftreten lässt und auch in Wolfs Nachwort zu Kleists Drama, das sie wenige Monate später neu herausgibt. Aus der bisher wenig be-
50 Liermann, Selbstbilder später DDR-Literatur (2013), S. 106. 51 Ebd., S. 109. 52 Vgl. Kuhn, Christa Wolf’s Utopian Vision (1988), S. 205. 53 Colombo, Das Drama der Geschichte bei Heiner Müller und Christa Wolf (2009), S. 9. 54 S. von Engelhardt/Rohrwasser, Mythos und DDR-Literatur (1985). 55 Bridge, Women’s Writing and Historiography in the GDR (2002), S. 215ff. 56 Vgl. Liermann, Selbstbilder später DDR-Literatur (2013), S. 112.
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achteten Auseinandersetzung mit Kleists Werk ergeben sich auch interessante Perspektiven auf Wolfs Figur, die sich zunächst, wenn auch primär politisch, sehr voneinander unterscheiden. Mit Wolfs Penthesilea wird ein anderer Ansatz weiblicher Subjektwerdung vorgeführt, der deutlich radikaler ist. Sie ist Fürsprecherin und Repräsentantin eines Feminismus, der vermutlich auf den Bücherstapel feministischer Standardwerke ohne Antworten referiert, den Wolf in den Voraussetzungen benennt.57 Im Gespräch mit Jacqueline Grenz diese Art des extremen Feminismus als Gegenpol zu ihrer Kassandra hin: Bei Penthesilea [...] habe ich versucht, eine Entwicklung zu zeigen: Ich wollte zeigen, wohin der Weiblichkeitswahn sich verirren kann. Sie verkörpert eine sektiererische Tendenz, die mir widerstrebt, wie alles, was auf reine Abgrenzung und Feinseligkeit einem Andersgearteten gegenüber hinausläuft – so sehr ich auch die Penthesilea-Position begreife. Mehr als die Penthesilea haben mich die Frauen interessiert, die sich der Auseinandersetzung stellen, die sich nicht einfach in einen absoluten Kampf gegen die Männer und die Männerwelt stürzen, sondern auch sich selbst in Frage stellen können: Ihre Position ist produktiver, da sie die Zusammenhänge mit der Gesamtgesellschaft nicht zerreißen. (LUS 86)
Kassandra steht ihr skeptisch gegenüber und hält ihre Herangehensweise für unvernünftig, aber es schwingt auch stets eine leichte Bewunderung58 für die gewaltige Leidenschaft jener Frau mit, die als Heldin stilisiert wird, im Unterschied zu Achill. Auffällig ist vor allem die Irritation, die Penthesilea hinterlässt, wenn sie als „eine Spur zu grell“ (KAS 139) empfunden wird und sie „undurchdringlicher als jeder Abschirmdienst […] der Schauder des gemeinen Volkes vor ihrer Unbedingtheit“ (KAS 139) umgab. Die Leidenschaft, mit der sie ihre Ziele verfolgt, unterscheidet sie deutlich von Kassandra, die durch ihre Außenseiterrolle und ihre Alternativlosigkeit nur noch konstatieren kann: „Mein Eifer, den Menschen neue Fragen einzugeben, ließ nach, ist ganz geschwunden.“ (KAS 37). Für diese zurückgezogene, träumerische Art wird sie von Penthesilea verachtet, die nur noch auf Vernichtung des Männlichen aus ist:
57 S. Wolf, VOR (1983), S. 162. Unter anderem Werke von Luce Irigaray, Elizabeth Gould Davis, Bertha Eckstein-Diener und Richard Fester. 58 Daniela Frickel sieht dies als verächtlichen Kommentar auf Kleists Penthesilea-Figur, aber dies kann ich sowohl aus Kleist als auch aus Wolf nicht herauslesen. Frickel, Kleists Penthesilea im Werk Christa Wolfs (2014), S. 173.
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Nicht der Gesang, nur der Befehl bewegt mehr als Luft. Das ist nicht mein Satz, das ist Penthesileas Satz. Sie verachtete, was sie mein „Gehabe“ nannte. Deine Träume gegen ihre Wurfspeere. Sie hatte eine fatale unglückselige Art zu lachen. […] Zu spät, wieder einmal zu spät habe ich begriffen, dass sie sich, ihr Leben, ihren Körper zur Verfügung stellte, um dieses Unrecht vor aller Augen auf die Spitze zu treiben. Der Abgrund von Hoffnungslosigkeit, in dem sie lebte. (KAS 128)
Penthesilea hat sich entschlossen, die Waffen der Gegner zu ergreifen und sieht ihren eigenen Vernichtungsfeldzug als Zeichenhandlung an, die durch ihre heroischen Züge in den Mythos eingehen können. Ihr radikales Programm zeigt sich in einem Streitgespräch, das Kassandra beobachtet: Die bewohnte Welt, soweit sie uns bekannt war, hatte sich immer schneller gegen uns gewehrt. Gegen uns Frauen, sagte Penthesilea. Gegen uns Menschen, hielt Arisbe ihr entgegen. Penthesilea: Die Männer kommen schon auf ihre Kosten. Arisbe: Du nennst ihren Niedergang zu Schlächtern auf ihre Kosten kommen? Penthesilea: Sie sind Schlächter. So tun sie, was ihnen Spaß macht. Arisbe: Und wir? Wenn wir auch Schlächterinnen würden? Penthesilea: So tun wir, was wir tun müssen. Doch es macht uns keinen Spaß. Arisbe: Wir sollen tun, was sie tun, um unser Anderssein zu zeigen! Penthesilea: Ja. Oinone: Aber so kann man nicht leben. Penthesilea: Nicht leben? Sterben schon. Hekabe: Kind. Du willst, dass alles aufhört. Penthesilea: Das will ich. Da ich kein andres Mittel kenne, dass die Männer aufhörn. (KAS 140)
Penthesilea ist in ihrer Weltsicht bereits zur Extremistin geworden, die in ihrer anti-maskulinen Normativität bereits keine Kompromisse mehr zulässt. Das Dominant-Werden des männlichen Rationalismus, wie Fuhrmann argumentiert, treibt die Ausgeschlossenen zu Exzessen oder lässt sie zumindest so erscheinen.59 Auch von Utopien ist sie nicht mehr zu beeindrucken. Als Kassandra ihr schließlich vorwirft, in ihrer Todessucht auch die anderen Frauen in den Tod zu zwingen, fährt Penthesilea sie an: „So kommst du mir! Gerade du: nicht Fisch, nicht Fleisch!“ (KAS 141) Kassandra zieht sich daraufhin aus dem Geschehen zurück, da sie gegen so viel Aggression nichts ausrichten kann. Kassandra sucht den Weg in den Frieden, auch wenn dieser unmöglich sein sollte. Penthesilea ist ein Produkt des Krieges und hat vor, in diesem und als dieses zu sterben. Das Zusammentreffen mit Achill wird somit ein Kampf zwischen zwei Urgewalten: Penthesilea, die mit einem Übermaß an Gewalt alle gegen Frauen verübte Gewalt an den Männern rächen will und Achill, der große Held, der für alle
59 Vgl. Fuhrmann, Christa Wolf und Kleists „Penthesilea“ (1998), S. 158.
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männlichen Übel einstehen muss. Wolf webt in ihrem Text sehr kunstvoll alle Arten von Überlieferung zusammen und zeigt sie in ihrem Entstehungsprozess. So ist Achill einerseits der große Kämpfer und gierige Liebhaber. Aus der Frauenperspektive wird er dabei zum triebhaften „Vieh“. Aber auch die sexuelle Unbestimmtheit Achills nimmt Wolf mit auf: Neben seinem Begehren für Briseis und Polyxena wird berichtet, dass er beim Aufbruch in die Schlacht „in einer abgelegnen Kammer mit einem anderen Jüngling auf dem Bett“ (KAS 99) gefunden wurde und man ihn wörtlich von diesem losreißen musste: „Achill stellte nämlich allen nach: Jünglingen, nach denen ihm wirklich verlangte, und Mädchen, als Beweis, dass er wie alle war. Im Kampf ein Unhold, damit jeder sah, dass er nicht feige war, wusste er nichts mit sich anzufangen nach der Schlacht.“ (KAS 99). Achill hat in seinem öffentlichen Auftreten somit auch seine eigene Agenda, die ihn antreibt. Da er eine potentielle Gefahr für den griechischen Sieg darstellen könnte, wenn ihm der Status des gefürchteten Helden abhandenkäme, würde seine „Schwäche“ bekannt, so muss er seine divergente Körperlichkeit in ein Überbetonen seiner Kampfeshandlung legen. Es liegen mit Penthesilea und Achill, quasi die extrovertierten AntiGeschwister von Günderrode und Kleist aus KON, wiederum zwei Figuren vor, die, von ihren Geschlechtsrollenkonflikten getrieben, sich ganz einer physischen Zeichenhandlung verschrieben haben, die genügend gesellschaftliche Strahlkraft und stoffliche Mythosvorlage erzeugen soll. Sie reagieren damit auf die nüchterne Einschätzung, dass Menschen solche Heldentaten bräuchten, um sich an ihnen zu orientieren und zu identifizieren: „Du meinst, […] der Mensch kann sich selbst nicht sehen. – So ist es. Er erträgt es nicht. Er braucht das fremde Abbild.“ (KAS 147). In ihrem kriegerischen Heldentum gibt es für beide schlussendlich auch keinen Weg mehr ins Leben, wie Kassandra resigniert feststellt: Wenn wir geglaubt hatten, der Schrecken könne sich nicht mehr steigern, so mussten wir jetzt einsehn, dass es für die Greuel, die Menschen einander antun, keine Grenzen gibt; dass wir imstande sind, die Eingeweide des andern zu durchwühlen, seine Hirnschale zu knacken, auf der Suche nach dem Gipfelpunkt der Pein. (KAS 141)
Das Ende von Penthesilea und Achill könnte grausamer kaum sein. Während Kleist den Geschlechts-, Authentizitäts- und Gesellschaftskonflikt in seiner Penthesilea vereint und sie somit zu einer Getriebenen durch sich selbst macht, die im Wahn den Geliebten Achill tötet, der sich ihr in Liebe ergeben will, um sich dann selbst zu richten, so sind bei Wolf, einer anderen Überlieferung folgend, diese Konflikte auf beide Protagonisten aufgeteilt und richten sich gegenseitig zugrunde: Nachdem sie ihn zwingt, sie zu töten, vergeht er sich an ihrer
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Leiche: „Achill der Griechenheld schändet die tote Frau. Der Mann, unfähig, die Lebendige zu lieben, wirft sich, weiter tötend, auf das Opfer.“ (KAS 143) Dem weinenden Achill wird von den Griechen dann der Leichnam entrissen und die Amazonen ziehen im Wahn mit ihm von dannen. Beide Figuren stehen sinnbildlich dafür, wie Konflikte, die ohne Vernunft angegangen werden, zu blinder Raserei und Gewalt werden. Wenn bei Kleist die Liebenden sich im Wahn zerfleischen, weil sie zwischen Individuum und Gesellschaft nicht mehr vermitteln können, stecken diese Figuren voller Tragik. Kassandra selbst ist schon zu kühl in ihrer Darstellung, und Achill und Penthesilea werden nur Opfer ihrer selbstgewählten Raserei. In dieser Entwicklung lässt sich die Veränderung von Krisenempfindung in den 70er Jahren (KON) zur nüchternen Betrachtung der 80er Jahre auch bei Wolf nachvollziehen. Der Grieche Panthoos bringt die Kleist’sche Bearbeitung aber trotzdem mit ins Spiel, indem er das Gemetzel folgend deutet: „Die töten, wen sie lieben, lieben, um zu töten.“ (KAS 140) Konsequenterweise findet auch Panthoos dann das Ende, dass Achill bei Kleist zuteilwird. Denn Kleist, der die Ilias mit dem Pentheus-Mythos verbindet und Penthesilea wie eine rasende Mänade aus Euripides‘ Bakchen ihren Geliebten zerfleischen und zerstückeln lässt, ist mit dieser Verbindung auch bei Wolf präsent. Die Amazonen verfallen, für Wolf auch ein Bezug zu matriarchalen Riten, an Penthesileas Grab in einen rituellen Wahn, einen Totentanz. Als sich dann der Exilgrieche Panthoos, der Oberpriester Apolls an der Seite Kassandras und gelegentlicher Liebhaber, zu ihnen gesellt, wird er als Mann, und vor allem als Grieche erkannt, folglich als Königinnentöter kategorisiert und von der rasenden Menge erschlagen. Mit dieser deutlichen Referenz an den Kleist-Text ist der Siedepunkt des weiblichen Extremismus erreicht. Dass Kleist und seine Penthesilea auch für Wolfs Kassandra Pate standen, zeigt sich nicht nur in den gezeigten Zitaten, sondern vor allem im Nachwort der Penthesilea-Ausgabe, die Wolf im gleichen Jahr wie Kassandra herausgab. In der mit 15 Pastellen von Gabriele Koerbl ausgestatten Ausgabe spricht Wolf über ihre eigene Herangehensweise an das Drama und versucht Kleists Intentionen zu verstehen. Dabei zeigt sich, dass Wolf in der Penthesilea auch eine textproduktive Variante sieht, wie ein Dichter seinen Verortungsprozess am antiken Mythos abarbeitet und dabei allerdings eine vormoderne Wildheit und Zerstörungswut hervorbringt, die man bis dahin in der deutschen Literatur kaum kannte. Sie bemüht sich dabei, differenziert eine historisch-kritische Einordnung der Antikenrezeption um 1800 zu geben und stellt in Bezug auf Kleist treffend fest: „Sein Unglück ist: Er hängt ja an den Werten der Klassiker. Nur: Wenn er sich
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ihnen nähert, verändern sie sich ihm bis zur schauerlichen Fratze“.60. Wolf ist fasziniert davon, dass Kleist in diesem Stück das Material zu seiner „vertracktesten Identifikationen“ (PEN 206) gefunden hat, die ihm erlaubte, sich bis an die Grenzen seiner Natur zu entäußern und sich dabei zugleich hinter einem undurchdringlichen Fabelgeflecht zu verbergen. Ein weiteres, das bisher schärfste Instrument seiner Selbsterforschung, so beschaffen, dass es Intimes, Persönliches, zugleich aber Allgemeingültiges hervorbringen musste. (PEN 208)
Dies kann schon fast programmatisch auch für Wolfs Intentionen an Kassandra festgestellt werden. Sie fragt sich weiterhin, warum ein Dichter denn gerade einen antiken Stoff wählt, aus einer „Literatur unaufhörlicher Verdrängung weiblicher Kultur“ (PEN 209), um, wie Kleist selbst schreibt, „sein ‚innerstes Wesen‘ aus[zu]drücken durch das Schicksal, durch den Mund einer Frau?“ (PEN 212). Wolf konstatiert Kleist ein Sexualitäts- und Frauenproblem als Motor seiner Penthesilea-Arbeit: Kleist als Mann – dies wäre eine gesonderte Studie. Doch soll man ein so tief und absichtsvoll verschleiertes Geheimnis aufbrechen wollen? Denn, daran ist nicht zu zweifeln, es ist nicht zuletzt seine Sexualität, sein von den üblichen männlich-weiblichen Beziehungen schmerzvoll und auch wieder stolz abweichendes und abgesondertes Dasein, die ihn zu Mystifikationen treiben – ihn, den zugleich ein unwiderstehlicher Drang beherrscht, sich ganz auszusprechen. (PEN 212)
Sie spricht es auch hier nicht offen aus, aber auch in ihrer Ausgestaltung der Kleist-Figur in KON sind die Geschlechtskonflikte und latent homophilen Anspielungen so präsent, dass man vermuten könnte, dass Wolf bei Kleist eine sich literarisch niederschlagende Homosexualität annimmt.61 Sie begründet damit einerseits die Tatsache, dass Kleist so übertrieben die Angst der Männer vor starken Frauen aufnimmt, andererseits die Angst vor der Entfesselung seines eigenen „Wahnsinns“ ihm als Antrieb dient. Insofern könnte an dieser Stelle die bereits aufgeworfene Frage nach Achills Geschlechtskonflikt durchaus mit der These beantwortet werden, dass Wolf genau jene Charakteristika, die sie bei Kleist analysiert, in überbordender Weise in ihrer Achill-Figur zum Grundprinzip gemacht hat und man in Wolfs Achill eine Art „Kleist als Penthesilea“-
60 Wolf, Kleists „Pentesilea“ (1986), S. 206, fortfolgend PEN. 61 In ähnlicher Weise ist Wolf in ihrem letzten Roman, Stadt der Engel (2010), von Thomas Manns „Versteckspiel“ in seinen Tagebüchern fasziniert.
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Studie vorliegen hat. Fuhrmann kritisiert an dieser Stelle, dass Wolf den Text zugunsten ihrer Interpretation umdeute, da es Kleist nur um seine eigenen Konflikte, nicht aber um einen männlich-weiblichen ging.62 In der Tat behauptet sie an anderer Stelle fälschlicherweise, dass Achill sich Penthesilea gar nicht ergebe. Brown hebt in ähnlicher Weise hervor, dass Wolfs Analyse des Amazonenstaats schon allzu sehr von ihrer Beschäftigung mit Anthropologie und Matriarchat gefärbt ist.63 Der Kern ihrer These, die auch in ihrer Kleist-Figur verkörpert ist, bleibt aber, dass Kleist den Zusammenbruch aller Alternativen bearbeite und Leben nicht möglich sei: „Also kein Ausweg, keine Möglichkeit, keine Hoffnung? So ist es: Nichts davon. Trauer.“ (PEN 218). Für Wolf, wie auch im Falle Müllers (Kapitel 2), ist Kleist ein Visionär, der schon über ein Jahrhundert zuvor die Schrecken und Krisen des 20. Jahrhunderts vorbereitet hat und Penthesilea ist das drastischste Beispiel. Damit stellt er für Wolf das bessere Sinnangebot für ihre Zeit dar, als die Weimarer Klassik es noch vermag, was wie eine direkte Antwort an Hacks An Träger anmutet: Die Klassiker, die sich, weil sie es nötig brauchten, ihr humanes Griechenland erfanden, wollen dem ruchlosen Gedanken nicht nachhängen, dem nach Sittlichkeit strebenden Menschen könne einmal der Ausweg verlegt sein. Kleist weiß es. Heute müsste für blind und unempfindlich gelten, wer es leugnen wollte. Unser Jahrhundert hat aus jenen seelischen Hohlräumen, welche Aufklärung und Vernunft nicht berührt haben, Extremismen und Wahnsinnstaten, vor denen ein einzelner grässlicher Mord aus auswegloser Liebesraserei verblasst. (PEN 219)
Wolf sieht im Erbe der Weimarer Klassik ein einseitig apollinisches Menschenbild, das die Traditionslinie von Ausgrenzung und Verdrängung fortsetzt, womit sie implizit die Sinnkrise verdeutlicht, in der sie und ihr Land sich befinden. Vielmehr aber noch, sieht sie in Kleists Penthesilea ein Projekt, in dem ein Autor, dem seine Alternativen wegbrechen, sich dem Mythos zuwendet, um in ebenso subjektiv-authentischer Weise seine Krisensituation zu verarbeiten und damit „mutig und ohnmächtig, fehlbar und der Hilfe bedürftig, [einen] verkörperte[n] Schrei nach einer realen Möglichkeit für eine lebbare Existenz“ (PEN 220) hervorbringt. Ihr produktiver Rezeptionsprozess ist insofern prägnant, weil er aufzeigt, was der Text für Wolf bedeutet hat und wie er ihre Arbeit an Kassandra beeinflusst hat. Wie Preußer ebenso betont, erkennt Wolf in Kleists Penthesilea einen Men-
62 Vgl. Fuhrmann Christa Wolf und Kleists „Penthesilea“ (1998), S. 175. 63 Brown, Christa Wolfs Kleistbild (1995), S. 180f.
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schen, „der dem Idealbild gleicht, das ihre Kassandra sich selbst setzt.“64 Denn Kleist ist für Wolf, so kann man es lesen, auch ein Vorbild gewesen für die Art und Weise, wie sie sich Kassandra angenähert hat und das in mehrfacher Hinsicht: Seine biographische Alternativlosigkeit, die sie bereits in KON thematisiert hat, sieht Wolf bei sich selbst und (in identischem Wortlaut in den Voraussetzungen) auch in Kassandra. Kleists Penthesilea-Projekt wird Vorbild für Wolfs Kassandra-Projekt und die Konflikte seiner Figur Penthesilea finden sich in Ansätzen in verschiedenen ihrer Figuren wieder, auch wenn sie ihrer eigenen Penthesilea – und das durchaus wiederum in Kleist’scher Tradition – eine andere, radikalere Funktion gibt. Aber auch das utopische Potential, das Kleist stets freilegt, schlägt sich bei der Bloch-Studentin in der Chili-Szene am Skamandros nieder. Bei aller Dialektik ist Kleist für Wolf auch in den 80er Jahren noch ein Autor des Prinzips Hoffnung.
Die Gegenwart eines drohenden Krieges, die sich in Kassandra niedergeschlagen hat, wie auch Kassandra selbst, beeinflusste auch die Kleist-Inszenierungen auf den Bühnen der DDR, die im Vergleich zu den 70er Jahren im Folgejahrzehnt deutlich abnahmen, aber völlig neue Themen und radikalere Formen entdeckten. Im Kontext von Pershing-2-Raketen und dem Atomunfall von Tschernobyl wurden schließlich die beiden in der DDR zuvor umstrittensten Stücke Kleists in der zweiten Hälfte der 80er Jahre noch einmal völlig neubewertet, wobei deren Thematisierung von Kriegsszenarien den Anlass für die Zeitgenossenschaft gab: Nach der Meininger Inszenierung 1978 und auch im Nachgang zu Wolfs Bestseller wagte sich Wolfgang Engel 1986 in Dresden an die zweite und letzte DDR-Inszenierung von Penthesilea, und nach der patriotischen Thalenser Inszenierung der Hermannsschlacht 1957 wagten sich gleichzeitig Michael Helle am Kleisttheater Frankfurt/Oder und Karl Georg Kayser am Schauspiel Leipzig 1987/88 respektive an zwei Neuinszenierungen. Der Kontext des Kalten Krieges könnte dabei deutlicher nicht sein. Auch hierfür kann für die Theaterschaffenden Kleist als prägnanter Ansprechpartner gewonnen werden, denn das in vielen von Kleists Werken präsente Motiv, als Individuum zwischen militärische Fronten geraten zu sein, die keine Differenzierung erlauben, ohne dass man Gefahr läuft, von beiden Seiten zum Feindbild erklärt zu werden, ist eine zentra-
64 Preußer, Mythos als Sinnkonstruktion (2000), S. 42.
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le Lebensrealität, die Künstler in den 80er Jahren erlebten und auf der Bühne thematisieren wollten. Jene Ausgangsbasis nutzte Wolfgang Engels Inszenierung von Penthesilea am Dresdner Staatsschauspiel. Wolfs Kassandra hatte 1983 den Trojanischen Krieg, Penthesilea und eine Gender-Zivilisationskritik zum Bestseller gemacht und den Weg für eine breit rezipierte Inszenierung geebnet und ihre Erzählung nebst dem Penthesilea-Vorwort dienten auch als zentrale Inspiration für die Aufführung. Aber auch generell schien das Stück Mitte der 80er Jahre erneut einen Nerv zu treffen, wie wiederum DT-Dramaturg Weigel 20 Jahre später festhalten sollte: In jener Zeit, als ich in Ost-Berlin und damit in der in vieler Hinsicht abgeschlossenen DDR lebte und arbeitete, erschien mir PENTHESILEA vor allem als eine Tragödie von Menschen, Penthesileas und Achills, die in ihrer Gesellschaft, der der Amazonen bzw. der der Griechen, befangen sind, sich deshalb missverstehen müssen und an unterschiedlichen, doch gleich strengen und von ihnen verinnerlichten Gesetzen untergehen. Da erscheint Penthesilea als Opfer der von der Oberpriesterin repräsentierten Ordnung, während Achill, dessen Bild in der DDR durch Christa Wolfs viel gelesenes Buch KASSANDRA eher negativ geprägt war, nicht so recht interessierte und der tragischen Gestalt der Penthesilea gar nicht wert erschien.65
Die Inszenierung war jedenfalls ein voller Erfolg: Insgesamt über 22 000 Besucher kamen66 und 1988 erschien eine 230-seitige Inszenierungsdokumentation in der Reihe Theaterarbeit in der DDR, zusammengestellt von Regieassistent Michael Funke und dem Dramaturgen Dieter Görne, was die Bedeutung der Inszenierung unterstreicht und die auch als Grundlage für die Analyse dienen soll. Zudem ist diese Inszenierung die einzige, von der es eine Videoaufzeichnung gibt,67 sodass diese hier auch in Teilen herangezogen werden kann. Kleists ureigener Konflikt Individuum-Gesellschaft erfährt hier, im Vergleich zu den 70er Jahren, eine Perspektivverschiebung: Nach der Thematisierung vom konflikthaften Verhältnis Bürger-Staat wie im Kleist-Projekt des DT (Kapitel 2) wird es hier nun weiterentwickelt in Richtung der Frage, wie Indivi-
65 Weigel, Kleists Penthesilea und die Wahrheit des Krieges (2008), S. 27. 66 Funke, Dokumentation PENTHESILEA (1988), S. 224. 67 AdK AVM-Theater 33.8054.
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duen im Spannungsfeld antagonistischer Gesellschaftssysteme leben können, die sich jeweils als absolut, legitim und die Wahrheit verkündend begreifen, aber schlussendlich dadurch defizitär und menschfeindlich sind. Wie Engel68 in einem Gespräch mit Martin Linzer für Theater der Zeit ausführt: Bei Penthesilea interessiert uns vor allem, dass zwei Gesellschaftsordnungen aufeinandertreffen, die man sich extremer kaum vorstellen kann. Dass sich die Protagonisten der Männer- und Frauenwelt zwar systemkonform verhalten wollen, doch, als sie aufeinandertreffen, feststellen, dass es auch noch etwas anderes gibt. Sie fangen an, sich ungewollt gegen ihre eigene Ordnung zu wehren. Es gibt in dem Stück diese zwei Sekunden Arkadien, in denen es möglich ist, Ich und Du zu sagen. Aber die Figuren haben nicht die Kraft, den kurzen Moment der Harmonie zu verlängern, sie fallen – und nun umso extremer – in die Ausgangssituation zurück. Das ist meine Zeit, unser spätes 20. Jahrhundert, das wollte ich erzählen.69
Penthesilea wird somit zur Chiffre für die Antagonismen Mann-Frau, West-Ost, Kapitalismus-Kommunismus, Bundesrepublik-DDR und schlussendlich für den Kalten Krieg schlechthin, der alle Bereiche gesellschaftlichen und kulturellen Lebens der 80er Jahre prägte. Ähnlich Wolfs Ansatz und als Weiterentwicklung der Meininger Konzeption, stellt sich das Theaterkollektiv nun unter diesen Vorzeichen die Frage nach der „Möglichkeit der Individualität“, wie aus dem Konzeptionsprotokoll vom 19.06.1986 hervorgeht. Dabei ist klar, dass vor allem das nicht eingelöste Versprechen des Zu-sich-selber-Kommens des Menschen im Sozialismus ist, jene vergänglich-utopischen „zwei Sekunden Arkadien“. Während Dramaturg Görne feststellt, auf Kleists sogenannte Kant-Krise Bezug nehmend, dass die „persönliche Ohnmacht [...] aber kein erkenntnistheoretisches Problem [ist]; denn ganz praktisch klafft die Schere zwischen postuliertem Ideal
68 Wolfgang Engel, Jahrgang 1943, Bühnenarbeiter, Schauspieler, Regieassistent, Regisseur am Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin bis 1974, dann Dresden-Radebeul bis 1976, Theater der Freundschaft Berlin bis 1978, in Dresden seit 1980. 1987 erhielt er den Kunstpreis der DDR für seine Leistungen in Dresden. In Dresden inszenierte es Hebbels Nibelungen, ein Büchner-Projekt (1982, Dantons Tod und Der hessische Landbote an einem Abend, gefolgt von Lenz und Woyzeck), Heiner Müllers Die Schlacht und Der Lohndrücker (1981) und Goethes Iphigenie auf Tauris (1981), Funke, Dokumentation PENTHESILEA (1988), S. 226f. 69 Ebd., S.7.
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und tatsächlichen Bewusstseinsstand bei uns immer mehr auseinander,“70 wird Funke noch deutlicher: Den Kommunisten war damals sonnenklar: Dies wird anders, wenn wir an der Macht sind. Wenn das nach fast vierzig Jahren Geschichte eines souveränen sozialistischen Staates im erforderlichen Maße noch nicht geschieht, läuft das auf Deformation der denkenden Persönlichkeit hinaus. Deformation durch bewusste Unterordnung oder auch durch Aufgeriebensein. Und das hat auch was mit Penthesilea und Achilles zu tun. Kleist baut doch bewusst zwei Individuen in entindividualisierte Systeme rein, wo die Vasallen nur ihre festgelegte Rolle spielen. Bei Penthesilea gibt es einen ständigen Wechsel zwischen bewusster Reflexion und Impulsen durch Teile des Unterbewussten, die dann wirksam werden. Ihr System, dem sie dauernd noch zu folgen sucht, indem sie Anspruch und ideologische Konvention verbinden will, lässt sie nie zu vollem Bewusstsein kommen. Diese Grundspannung halte ich für sehr wichtig.71
Es ist somit nicht nur nicht zum Zu-sich-selber-Kommen oder zu Wolfs Subjektwerdung gelangt, sondern es hat sich durch die starren Strukturen eher ins Gegenteil verkehrt. Jener Wahnsinn, dem die Menschen dadurch ausgesetzt sind, treibt sie schließlich selbst in selbigen und somit ist Penthesilea auch eine empfundene Symbolfigur für den verzweifelten Kampf des Individuums in den 80er Jahren, denn sie „probiert, persönliches Ziel und Ideologie zu verschmelzen. Ihr Kraftakt ist von der Überzeugung getragen, dass es klappen könnte/muss, also noch kein aufgebrochener Konflikt.“72 Dies ist jene Art von Künstlerkonflikt, mit dem sich auch die Autoren und Theaterschaffenden in den 70er Jahren bereits identifizierten. In den 80er Jahren oszilliert die Stimmung zwischen Ernüchterung und fast schon pragmatisch-utopischer Hoffnung, wie sie Müller, Wolf und Heym zumindest ästhetisch auch erfassten. Görne formuliert sein Prinzip Hoffnung wie folgt: „Nun ist es aber allerdings auch meine Lebenshaltung, dass wir ja auf Grund einer Spur von Hoffnung alle noch hier zusammensitzen. Man muss sich doch fragen, warum die sich kaputtmachen. Der Antrieb zur Konsequenz in der Suche ist die Hoffnung.“, während die Kostümbildnerin Jutta Harnisch entgegnet: „Ich lese das Stück und denke, wir sind noch keinen Millimeter weitergekommen.“73 Engel kann nun auch offen als Problem den deklarierten realexistierenden Sozialismus hierfür als Grund benennen: „Unser größtes Ideal müsste sein: Unser Motiv für diese Gesellschaft ist die Suche nach dem Schlüs70 Ebd., S. 93. 71 Ebd., S. 94. 72 Ebd., S. 101. 73 Ebd., S. 95.
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sel [Hervorhebung im Text, SE]. Die Realität: Wir behaupten, den Schlüssel schon lange zu besitzen.“74 Anlass der Inszenierung ist somit nicht nur, Penthesilea für die Zeit verständlich aufzubereiten, sondern Kleist und das Stück als Reflexionszone den Zuschauern vorzuhalten mit dem Ziel, vor den möglichen Konsequenzen des eigenen Handelns und der weltpolitischen Gegenwart zu warnen. Kleist sei dafür besonders geeignet und Engels Argumentation erinnert einerseits an Kunerts Kleist-Modell (Kapitel 2), das die Rezipienten zur Dialektik zwinge, und zeigt andererseits Engel auch als Schüler von Brechts Epischem Theater: Das Ehrliche an Kleist ist, dass man gezwungen wird, vor sich selbst Angst zu bekommen. Man muss in sich selbst hinabsteigen. Die Figuren dürfen keine Monster sein. Man muss sich in den Figuren begreifen können. Die Katastrophen entstehen immer dann, wenn wir überrascht und erschüttert staunen, was alles in uns steckt. Sie werden vermieden, wenn wir im voraus begreifen, wozu wir fähig sein könnten.75
Das In-sich-selbst-Hinabsteigen wird auf der Bühne inszenatorisch damit gelöst, dass, wie in einer Bühne auf der Bühne, ein großer Wartesaal mit vier Türen und fünf Bänken steht, ein „Saal des Wartens, vor dem draußen die Schlacht tobt“ (Abb. 9), was das von Botenberichten und Mauerschauen geprägte Stück unterstreicht. Gleichzeitig ist dieser schlichte Raum aber auch zentral für den Kern der dramatischen Handlung, denn in „diesem Raum wird hauptsächlich nachgedacht, reflektiert, gewertet, sich auseinandergesetzt, kurz: Hier werden die aus den draußen abrollenden, lawinenartigen Zerfleischungskämpfen folgenden individuellen Konflikte ausgetragen. [...] Der Raum des Wartens ist Ruhepunkt im blutigen Gewühl und Schlachtfeld für individuelle Emanzipation (Penthesilea, Achill) zugleich. [...] Ich will keinen Spielraum auf der Bühne, keinen realen Raum. Der Saal des Wartens ist poetisch gemeint“76 und gleichsam „meinen wir den Saal des Wartens als Umschreibung für Den-Verhältnissen-ausgeliefertsein. Unter der Konstruktion liegt in diesem Stück ein Vulkan. [Hervorhebungen im Text, SE]“77 Insofern dient der Raum auch als Sinnbild für das gesellschaftliche Eingesperrtsein, zu dem man in der immer unfreieren DDR oft gezwungen wird und das die Sehnsucht nach außen lenkt. Die zeitlose Schlichtheit des Raums soll dabei einerseits klarstellen, dass ein Schauspiel und nicht die Wirk-
74 Ebd., S. 94. 75 Ebd., S. 96. 76 Ebd., S. 111. 77 Ebd., S. 113.
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lichkeit geboten wird. Der Raum wird als theatrum mundi, als Bühne auf der Bühne gestaltet, als eindeutiger „Kunstraum“, in dem von Schauspielern Theater gespielt wird. Andererseits soll er das Universelle des Konflikts betonen: „Es ist extrem wichtig, dass wir das Stück nicht zeitlich eingrenzen, denn es handelt sich um ein Menschheitsproblem.“78 Dieses Problem wird primär posttraumatisch verordnet und man beruft sich auf Müller und Wolf um zu erklären, dass nur mit einem stärkeren kritischen Bewusstsein die Menschen wieder lernen können, sich zurechtzufinden.79 Auf der Bühne sind es hier die Akteure, die sich mit den Bänken im Raum immer wieder selbst Barrieren schaffen (Abb. 10). Abb. 9: Konzeption des Bühnenbildes
Quelle: Funke (1989), S. 128.
78 Ebd. 79 „Heiner Müller hat mal gesagt: ‚Wir haben noch nicht gelernt, mit dem Frieden umzugehen.’ Noch näher am Stück liegt eine Äußerung Christa Wolfs, die sinngemäß feststellte, dass sich solange nichts ändert oder gar schlimmer wird, solange die Menschen es nicht schaffen, das Verhältnis von Mann und Frau zu klären.“ Ebd., S. 111.
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Abb. 10: Szene mit Achill (Christoph Homann) und Penthesilea (Cornelia Schmaus)
Quelle: Funke (1989), S. 6. Fotograf: Hans-Ludwig Böhme
Aber es gibt auch eine künstliche Trennung: In der Mitte des Raumes steht eine glühende Neonröhre, die im Boden versinkt und sich in die Höhen des Bühnenturms erhebt, wo man ihr Ende nicht mehr erahnen kann. Tobias Wellenmeyer, dessen Diplomarbeit80 ausschnittsweise in der Dokumentation abgedruckt ist, sieht darin den „glühende[n] Draht des Lebens, de[n] Faden, an dem alles hängt, die beinahe durchbrennende Sicherung. Aber auch der Riss, der durch die Welt geht, der sie zu zerreißen droht, die Teilung als Überzeichen, das Unvereinbare, der Wahnsinn.“81 Den gesamten Raum interpretiert er als Warteraum, in dem die Selbstzerstörung zweier Liebenden stattfindet, aber auch als Insel ihrer Liebe. Als gemeinsames Gefängnis zweier Ideologien, die im Innern ihrer Vertreter verankert sind, und im Innern ausgetragen werden. Als Kommunikationsraum schlechthin,
80 Tobias Wellenmeyer: „Innenraum – Spielraum – Gesellschaftsraum. Über Wolfgang Engels Theaterarbeit in der Mitte der achtziger Jahre“, Diplomarbeit an der Theaterschule „Hans Otto“ Leipzig 1988. 81 Funke, Dokumentation PENTHESILEA (1988), S. 152.
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als Raum der Begegnungen und der Qual: als die gemeinsame Welt, außerhalb derer es nur den Tod gibt.82
In diesem Reflexionsraum soll nun beispielhaft verhandelt werden, wie nach Freiheit strebende Individuen, die stets zwischen den Stühlen sitzen müssen, zwischen die Fronten der Ideologien gelangen, die in ihnen mit katastrophalen Folgen kollidieren werden. Für die theoretische Konzeption zitiert Dramaturg Görne Wolfs Schriften, die Essays Thomas Manns und Stefan Zweigs, wie aber auch die Klassiker von Mayer und Schriftsteller über Kleist. Der Referenzrahmen hat sich somit seit den 70er Jahren nicht mehr verändert. Neu ist, dass auf Rosa Luxemburg mit ihrem berühmten „Freiheit als Freiheit der Andersdenkenden“ Bezug genommen wird, als Idealanspruch an eine menschenwürdige Gesellschaft, der das freiheitsstrebende Individuum nicht als kollektiv-feindlich gegenübersteht: Machen wir gegenüber Penthesilea nicht denselben Fehler, wie Generationen von Politikern gegenüber Luxemburg: Versuchen wir nicht, das Bild der maß- und kompromisslosen Eigenrealisierung auf eine ethisch-moralische wie politisch-programmatisch abgesicherte Reihe zu bekommen. Jeder derartige Versuch muss scheitern. Immer würde ein überwältigender, fast mutlos machender Rest an Unvereinbarem, neu provozierten Fragen und gewaltigen Widersprüchen übrigbleiben. 83
Hierbei wird der absolute Anspruch individueller Freiheit, der schon 8 Jahre zuvor in Meiningen (Kapitel 2) thematisiert wurde, in seiner Aktualität bestätigt, nur, dass sich seitdem die Situation eher beunruhigend verschärfte. In den 80er Jahren wurde immer offenbarer, wie überholt das staatliche Selbstverständnis und die politische Situation der DDR war, die sich nie inhaltlich zu aktualisieren wusste und in Krisenzeiten die kritischen Stimmen unterdrückte. Als Konsequenz zeigte sich nun, dass ein Krieg immer wahrscheinlicher wurde und die gesellschaftlich-politisch-kulturellen Sphären der DDR immer weiter auseinanderdrifteten. Angesichts von Tschernobyl und Atomraketen wurde das Stück zudem noch, wie auch die Hermannsschlacht 1988, zu einer Plattform für die Thematisierung des politischen Wahnsinns, der alle Lebensbereiche durchdrang, und als Warnung vor dem, wozu Menschen fähig sind:
82 Ebd. 83 Ebd., S. 134.
270 Die größten menschlichen und gesellschaftlichen Katastrophen passierten wohl immer durch diejenigen, die von sich nicht wussten, wissen wollten, wozu sie fähig sind. [...] Der Wahnsinn Penthesileas liegt dabei nicht in einer irgendwie schrägen Psychostruktur Penthesileas, sondern in der alles überlagernden Kriegsatmosphäre. (Wir sollten uns nicht zu schnell über einer derartigen Situation stehend wähnen.) [...] Das Irreale, Überhitzte, Wahnsinnige, Unterbewusste ist zwar nicht der Kern dieses klaren Modells verwirrender Verwicklungen, aber sein Klima. [Hervorhebung im Text, SE]84
Mit Penthesilea kann und will man der Gesellschaft den dialektischen Spiegel vorhalten, dass eine Katastrophe wahrscheinlich ist, wenn kein Umdenken stattfindet. Die durch die Videoaufzeichnung85 verfügbare Aufführung nun besticht vor allem durch die Natürlichkeit des Schauspiels.86 Die Anfangsszenen sind sehr stark gekürzt, Achill und Penthesilea treten direkt in den ersten Szenen auf. Die vielen Botenberichte werden sehr statisch und sprachzentriert gespielt und Engel gelingt es hier nicht, dem eine gewisse Energie abgewinnen. Die Griechen tragen dunkle, historisch-ungenaue Uniformen,87 die Amazonen tragen schlichte Kleider mit denen der Griechen ähnlichen Männermänteln. Penthesilea, gespielt von Cornelia Schmaus, trägt Hosen und eine gegürtete Bluse, quasi eine weibliche Variante des Männerkostüms, mit kurzer wilder Lockenmähne. Jutta Harnisch betont in den Protokollen, dass ihr vor allem dicke Mäntel wichtig waren, „weil Menschen in ihrem Bedürfnis nach Schutz ( = sich im Mantel verkriechen) so ausgeliefert wirken.“88 Körperlich heben sich beiden Protagonisten jedoch stets ab, Penthesilea und Achill werden von Beginn an lokale Sonderrollen zugestanden: Penthesilea steht anfangs allein auf der rechten Seite der Neonsäule, mit den Amazonen gegenüber; Achill, gespielt von Christoph Hohmann, spiegelsymmetrisch in der Griechenszene auf der linken Seite. Allerdings verhalten beide Gruppen sich unterschiedlich: Die Männer sind bis auf Achill sehr nüchtern männlich, die Frauen lachen, scherzen, sind zärtlich miteinander, küssen sich oft. Diese Konstellation verstärkt auch den Kontrast zwischen den Griechen. Achill
84 Ebd., S. 139. 85 AdK AVM-Theater 33.8054. 86 Ich gebe hierbei meine Eindrücke einer bestimmten, durch die in einer Totalen gefilmten Aufführung wider. An welchem Tag diese Aufnahme gemacht wurde, ist nicht bekannt. Ebenso wenig kann darüber eine Aussage gemacht werden, wie repräsentativ diese Aufführung im Vergleich zu anderen war. 87 Funke, Dokumentation PENTHESILEA (1988), S. 123. 88 Ebd.
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springt wie liebestoll mit Fechtmaske auf die Bühne, entkleidet sich und legt sich auf einer Bank nieder, trägt als einziger helle Kleidung. Dieses Verhalten wird er auf Penthesilea nach der ersten Begegnung übertragen. Beide werden, in meiner Lesart der Videoaufzeichnung, in völliger Gefühlsverwirrung gezeigt, die auch die Ihren ratlos lässt. Sie räkeln sich auf den Boden, modulieren ihre Stimmen, laufen wie kleine Kinder umher, agieren übermäßig sinnlich, körperlich, ohne dass es übertrieben wirkt. Achill mimt mit stets offenem Hemd auch das mittlerweile klassische Kostüm des Prinzen von Homburg. Im 15. Auftritt erscheint dann der Raum wie ein Liebesschlachtfeld: überall liegen zerrissene Rosen und die Bänke sind wie Barrikaden aufgestapelt, die das Paar vor den Ihrigen schützen, wobei Penthesilea permanent zwischen Gefühlsüberwältigung und Aggression hin und her mäandert und Achill mit jugendlicher Verspieltheit alles leichtfertig hinzunehmen scheint (Abb. 11). Nachdem sie allerdings Achills Kampfantrag erhält, engleitet sie förmlich sich selbst. In der Darstellung hat dies aber weder etwas Übertriebenes noch ‚Krankhaftes’, sondern ist ein logischer Gefühlsausbruch in der Folge ihrer zuvor dargestellten Persönlichkeit und als Zuschauender leidet man mit ihr in dieser nachvollziehbaren Kränkung, in der wütenden Raserei, nach dieser außerordentlichen Selbstoffenbarung, die sie Achill zukommen ließ. Nachdem sie zur Schlacht ruft, ist eine Pause. Abb. 11: Szene mit Achill (Christoph Homann) und Penthesilea (Cornelia Schmaus)
Quelle: Funke (1989), S. 48. Fotograf: Hans-Ludwig Böhme
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Im zweiten Teil ist das Bühnenbild leicht verändert (Abb. 12) und stellt sich in Form einer rechteckigen Wand mit einer Tür dar, welche die Seitenansicht des ersten Bildes ist. Nach dem Bericht von Achills Tod sinkt das Bühnenbild dunkel in den Boden, die Neonsäule hebt sich nach oben. Im Hintergrund – am Horizont, der an den Himmel aus Friedrichs Seelandschaft (Mönch am Meer) erinnert – sieht man Penthesilea mit der Leiche Achills, die aus rotem Ton zu sein scheint, im Vordergrund die vier Amazonen, die das Geschehen kommentieren (Abb. 13). Der rein durch Sprache vollzogene Selbstmord wird auf der Bühne auch entsprechend performativ nur durch Sprache umgesetzt: Penthesilea steht starr da, spricht mit hoher Stimme sehr unbetont artikuliert, als wäre sie in Trance. Den Schacht-Monolog spricht sie fast betonungslos, sie sitzt starr, und bei „so, so, so“ wird es dunkel um sie, man sieht nur ihre Silhouette vor dem Himmel. Abb. 12: Bühnenbild 2. Teil
Quelle: Funke (1989), S. 73. Fotograf: Hans-Ludwig Böhme
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Abb. 13: Schlussszene
Quelle: Funke (1989), S. 81. Fotograf: Hans-Ludwig Böhme
Am Ende wird dennoch, wie in Peter Steins Homburg 1972, eine klare Parallele zu Kleist selbst gezogen: Als Schlussbild kommt eine Leinwand heruntergefahren, auf der aus Henriette Vogels Brief an Pegilhen vom 21.11. 1811 zitiert wird: „Kleist und ich befinden uns hier auf dem Wege nach Potsdam in einem sehr unbeholfenen Zustande, indem wir erschossen daliegen.“ Damit wird eine endgültige Rehabilitierung doppelt vollzogen: Man kann Penthesilea nun durch Kleist nachvollziehen und Kleist nachvollziehen, nachdem er durch Penthesilea erfahrbar gemacht wurde. Dramaturg Görne führte dies in einem Essay aus, in dem er die verschränkte „Sehnsucht nach Glück“ benennt, die er bei beiden identifiziert.89 Die in der Dokumentation abgedruckten Reaktionen auf die Inszenierung könnten eindeutiger kaum sein: Neben elf beinahe maßlos begeisterten Rezensionen, die die gelungene Inszenierung, den zeitlosen Stoff und das großartige Schauspiel loben, finden sich etliche angetane, nachdenkliche Zuschauermeinungen, die bei 27 gutbesuchten Aufführungen von einem vollen Erfolg reden können, der wohl dann auch als Meilenstein die gedruckte Dokumentation wert war.
89 Ebd., S. 158-65.
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Die Hermannsschlacht für die 80er Jahre neu zu denken, verdeutlicht den immensen Kontrast zu den späten 50er Jahren. Einerseits motiviert durch Claus Peymanns epochemachende Inszenierung am Bochumer Schauspielhaus im Jahre 1982,90 durch Wolfs Kleist-Schriften und Engels Dresdner Penthesilea zwei Jahre zuvor, andererseits und vor allem aber, weil die Hermannsschlacht wie ein Mahnmal dafür fungiere, dass es so etwas wie einen gerechten Krieg schlichtweg nicht gebe. Kleists widersprüchliche Figuren brächten dies deutlich zum Vorschein, wie Dramaturg Matthias Caffier im Programmheft als „Annäherung an Kleist“ beschreibt, die auch in der Leipziger Volkszeitung abgedruckt wurde: Eine der großen Qualitäten dieses Dramatikers besteht für uns heute in seiner totalen Desillusionierung alles Heldischen. [...] Der HERMANNSSCHLACHT wird nachgesagt, sie sei ein für den Tag geschriebenes patriotisches Befreiungsstück. Obwohl von Kleist als Gegenstück (in parabelhafter Form) konzipiert, erscheint es uns heute ganz aktuell; wir sehen darin ein Antikriegsstück, das aus einer großen Freiheitssehnsucht heraus entstand.91
Im Unterschied zur patriotischen und beinahe völkischen – ideologischen – Mobilmachung Curt Treptes 1957 (Kapitel 1), wird Kleists Hermann hier nun zur beinahe Brecht’schen dialektischen Figur, die den starren nationalistischen und schlussendlich kriegstreibenden Tendenzen entgegenwirken und diese überwinden soll, da sie in ihrem Anspruch seit den 50er Jahren politisch kaum angepasst worden waren und diese starren Strukturen den Friedensprozess der Gegenwart behinderten. Auch zeigt sich im Goethe-Vergleich, der an Wolfs PenthesileaEssay erinnert, dass das harmonisierende Erbe mit seiner Aufbau-Ästhetik an dieser Stelle keinen Halt mehr hat und angesichts eines Krieges der moderne Kleist sich besser eignet, die Dichotomien der krisengeschüttelten Gegenwart zu begreifen – man findet sich in seinem Chaos wieder. Ähnlich wie bei Wolf, Müller, Hein und Heym wird versucht dialektisch zu analysieren, wie es zum Hier und Jetzt kommen konnte und Hermann stellt unter Beweis, dass es im Krieg, und sei er noch so gerechtfertigt, niemals Moral oder Ethik geben wird. Ein
90 Kayser in einem Interview mit dem Sächsischen Tageblatt vom 6.1.1988, KMFO Inszenierungsdokumentation Hermannsschlacht, Leipzig 1988. 91 KMFO Inszenierungsdokumentation, Programmheft Hermannsschlacht, Leipzig 1988.
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Friedensdialog sei der einzige Weg. So wird schließlich Franz Fühmann auf dem Berliner Friedensforum 1981 zitiert, und das Stück in den Kontext des Kalten Krieges gestellt, der ja auch ein innerdeutscher ist: Das ungebrochene Tradieren einer Ausschließlichkeitshaltung, die den Weg zur Konstituierung der Menschheit letztlich im Untergang des Anderen sieht, statt die Zukunft als Synthese zweier Widerspruchspole, also als ein Neues zu fassen, bietet wenig Hoffnung auf jenes Rettende, das in dem Maße wüchse, in dem die Gefahr wächst.92
Auf der Bühne, wie auf den Fotos (Abb. 14) zur Produktion zu erkennen, schlägt sich dies in einer Art postmodernen komödiantischen Schauer-Revue nieder. Wiederum Weigel zeigt in seiner Besprechung beider „Hermannsschlachten“ in Theater der Zeit 5/1988, dass vor der großen (hier: römischen) Quadriga, dem vielfach genutzten Symbol auch der deutschen Teilung, die während der Inszenierung mit Waffen zerstört wird und ähnlich des geistgeplagten Geschichtsraums Heiner Müllers, die verschiedenen Repräsentanten des Terrors auf deutschem „Torfboden“ die Bühne bevölkern: Vor einem recht modisch-modernen wirkenden Folienhorizont und auf braunem Torfboden (Bühne: Axel Pfefferkorn) versammeln sich Länder und Zeiten in Gestalt eines Varus (Klaus Pönitz), der wie ein US-amerikanischer General, eines Ventidius (Matthias Hummitzsch), der wie ein Italiener aus dem 18. Jahrhundert, eines Marbod (Günter Grabbert), der mit einer Fellmütze und schwerem Mantel wie ein russischer Partisanenkommissar, einer Thusnelda (Ellen Herwig), die wie [die] Gattin aus einem Familienschwank, eines Hermann (Friedhelm Eberle), der wie ein gehobener Proletarier (Waldarbeiter?) aussieht; schließlich germanische Fürsten, die an preußische Junker und Beamte und römische Soldaten, die an insektenhafte Homunculi aus einem Science-Fiction-Film erinnern.93
Was hier teilweise wie eine alptraumhafte „Erbe-Parade“ klingt, aber vor allem den Terror des 20. Jahrhunderts abbildet, kam vor allem durch die komödiantischen Elemente bei den Kritikern nicht gut an,94 zeigt aber bereits Parallelen zu den ebenfalls von Müller geprägten Arbeiten Frank Castorfs und René Polleschs an der Berliner Volksbühne. Dennoch war die Inszenierung vor allem eine Mahnung und Warnung, dass die Bühnenrealität schon bald wieder Alltag werden
92 KMFO Inszenierungsdokumentation, Programmheft Hermannsschlacht, Leipzig 1988. 93 KMFO Inszenierungsdokumentation Hermannsschlacht, Leipzig 1988. 94 Ebd.
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könnte und dies wurde von allen Kritiken auch verstanden: Joachim Bohlmann schreibt in der Leipziger Tageszeitung Tribüne: Der Regisseur [...] machte [...] die negativen gesellschaftlichen Konsequenzen der Handlung zum Gegenstand seiner Inszenierung. Das mündet in einem überzeugenden Schlussbild: Ein riesiges schwarzes Tuch senkt sich über Hermann und seine Mitstreiter, die aufgebrochen waren, ihr Vaterland gegen dem Imperialismus Roms zu verteidigen und dabei selbst zu faschistischen Gewalttätern wurden. Die Alraune, die vorher den Untergang des Römers Varus vorausgesagt hatte, wiederholt Hermanns Bannfluch nun als unser heutiges Urteil über ihn.95
Damit wird nicht nur ein Gegenpol gegen die Deutschen Festspiele aufgebaut, sondern auch symbolisch manifestiert, dass für ein friedliches Weiterleben die postfaschistischen Gründungsjahre der DDR fast 40 Jahre nach ihrer Gründung endlich überwunden werden müssten, weil sonst ein neuer Krieg alle Bemühungen zunichtemachen würde. Die nationalistische Instrumentalisierung sowohl der Nationalsozialisten als auch der Kommunisten haben dem Stück genommen, was es, marxistisch-dialektisch betrachtet, eigentlich auch sein kann: Eine Warnung, dass Krieg immer nur einseitige, totale Pole erschafft, die keine Ausdifferenzierung mehr zulassen und dass die politische DDR in ihren 40 Jahren in einem System verfangen ist, von dem sie sich anfangs lösen wollte. Somit haben am Ende der DDR ausgerechnet die beiden vor allem in der statischen Gründungsphase umstrittensten Stücke ihren Sitz im Leben in der DDRKultur gefunden. In einer Phase, in der Kulturproduktion und staatliche Realität so weit entfernt waren wie nie zuvor, dienen die Stücke als Ausdruck einer zivilisationskritischen Warnung vor der Zerstörung der Menschheit und als Ausdruck der mittlerweile utopischen Hoffnung auf das DDR-Gründungsversprechen des Friedens und der Völkerversöhnung. Die Schrecken, die Kleist in diesen Stücken produziert hat, wurden als zeitnahe Wirklichkeit empfunden und mussten als akute Mahnung thematisiert werden.
95 KMFO, “Kritische Aneignung an einen Cheruskerfürsten“, Joachim Bohlmann, Tribüne 19.1.1988.
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Abb. 14: Szenen der Hermannsschlacht
Quelle: KMFO, Inszenierungsdokumentation Die Hermannsschlacht, Schauspiel Leipzig 1988, Fotografin: Helga Wallmüller.
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Auch Stefan Heym setzte sich in den 80er Jahren mit den historischen Gründen für die Probleme der Gegenwart auseinander und analysiert konkret, ähnlich wie Hein, Schütz, Wolf und Müller, die Gründe für das Scheitern des demokratischen Sozialismus im 20. Jahrhundert, wobei Kleist wieder als der Autor des Prinzips Hoffnung in Zeiten des Terrors fungierte. Die Aufarbeitung historischer Themen, vor allem die Geschichte des Sozialismus betreffend, bildeten fortan einen Schwerpunkt in seinem literarischen Schaffen, mit denen er fast immer an97 eckte. Zudem gehörte er, wie bereits erwähnt, 1976 zu den Erstunterzeichnern der Petition gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns.
96 Der 1913 in Chemnitz geborene Heym, der wegen seiner jüdischen Herkunft Deutschland verließ und ab 1935 in den USA zunächst studierte und anschließend erfolgreich als Journalist und Autor arbeitete, musste 1952 unter Präsident McCarthy gemeinsam mit unter anderen Brecht, Chaplin und Thomas Mann als linker Intellektueller ausreisen und emigrierte über Prag in die DDR. Durch seinen internationalen Erfolg und seine Bekanntheit in den USA war er gut vernetzt und konnte diesen Status zu auch oft in den Verhandlungen für die Veröffentlichung seiner Bücher nutzen, wie Sara Jones in ihrer Studie gezeigt hat. S. Jones, Complicity, Censorship and Criticsim (2011). 97 So war seine kritische Auseinandersetzung mit den Ereignissen um den Arbeiteraufstand in Ost-Berlin 1953 5 Tage im Juni so explizit, dass der Roman 1956 abgelehnt wurde, 1974 in der Bundesrepublik und schlussendlich erst 1989 in der DDR veröffentlicht wurde. 1965 wurde Heym von Erich Honecker persönlich auf dem 11. Plenum des ZK der SED angegriffen und 5 Tage im Juni, wie auch z.B. Heiner Müllers Der Bau verboten. Wegen der Darstellung von Marx und Engels in seinen Roman Lassalle (1969) sollte jener ebenso nicht veröffentlicht werden, und als er ihn gesetzeswidrig an einen Verlag in der Bundesrepublik gab, wurde an ihm das Exempel statuiert und er mit 300 Mark Strafe belegt. Der Roman erschien schließlich 1974 in der DDR. Dies schreckte ihn aber keineswegs ab: War die implizite Stalinismuskritik in Der König David Bericht (1972) noch in ein biblisch-metaphorisches Gewand gekleidet, so war Collin (1978) das erste Buch eines DDR-Autors, das ohne alle Vorsicht und Rücksicht die Geschichte der DDR aufrollt als eine Geschichte des Stalinismus, in dem chiffriert u.a. Johannes R. Becher, Helene Weigel und Georg Lukács agieren. Weil er auch diesen Roman wiederum unerlaubt in der Bundesrepublik veröffentlichte, da es in der DDR erwartungsgemäß nicht möglich war, wurde er 1979 aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen. Seine Stalinismus-Kritik Die Architekten, in den 60er Jahren entstanden, veröffentlichte er erst im Jahre 2000, kurz vor seinem Tod. Vgl. Emmerich, Kleine Literaturgeschichte (2007), S. 328f.
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In den Kontext seiner Aufarbeitung historischer und zeitgeschichtlicher Ereignisse gehört auch sein 1984 in der Bundesrepublik und 1990 in der DDR erschienener Roman Schwarzenberg, wo ein Sonderfall der Besatzungszeit im Mittelpunkt steht. Der Landkreis Schwarzenberg war durch ein Versehen 1945 weder von der Roten Armee noch von den amerikanischen Truppen besetzt worden, in dessen Folge sich ein Aktionsausschuss unter der Leitung des Landrats Hänichen gründete und für sechs Wochen den Landkreis autonom verwaltete, bis die Rote Armee schließlich in das Gebiet einmarschierte und es der Kontrolle der sowjetischen Militäradministration unterstellte. Diesen historischen Rahmen wählt Heym, um darin die Geschehnisse der Gründungsphase der DDR zu reflektieren und in Form eines utopischen Romans die (Un-)Möglichkeit eines demokratischen Sozialismus zu thematisieren. Der Roman ist gegliedert in fiktionalisierte Tatsachen-Interviews mit dem Genossen Kadlitz, der dem Aktionsausschuss 1945 angehörte und auf diesen bereits mit der Perspektive des Scheiterns zurückblickt, sowie in fiktionale Erzählteile, die die jeweils anderen Protagonisten abdecken. In diesen thematisiert Heym weniger die pragmatischen Bemühungen des historischen Aktionsausschusses, sondern den fiktiven Versuch des bürgerlichen Intellektuellen Max Wolfram, seine politische Wunschvorstellung von einem selbstständigen sozialistischen Staat mit demokratischem Charakter in Schwarzenberg aufzubauen, „auf diese Weise die Republik Schwarzenberg als Muster darbietend für ein Deutschland, das noch im Schoß der Zukunft lag?“ (126). In der Sekundärliteratur ist nun einerseits diskutiert worden, wie dieser Roman Heyms eigene Biogra98 phie thematisiert und auch, inwiefern man ihn als utopischen Roman kategorisieren kann: Emmerich hält ihn für einen solchen, der mit der Musterrepublik Schwarzenberg „eine implizite Kritik am real gewordenen, undemokratischen 99 Sozialismus in der DDR“ äußert. Diese Einschätzung kommt ein wenig zu kurz. Walter von Reinhart hält ihn treffender für eine „kritische Reflexion, die die Möglichkeit utopischen Denkens in Frage stellt. Utopie und Utopiekritik ste100 Der Thematisierung von Utopie hen im Text gleichberechtigt gegenüber.“ müssen zum besseren Verständnis allerdings noch zwei Aspekte hinzugefügt werden, die von Interpreten bislang offenbar nicht entdeckt worden sind: Die Anspielungen an Kleist, und Ernst Bloch.
98 Hadomi, Stefan Heym and Schwarzenberg (1996). 99 Emmerich, Kleine Literaturgeschichte (2007), S. 328. 100 Von Reinhart, Utopie und Utopiekritik in Stefan Heyms Roman Schwarzenberg (1997), S. 361.
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Kleist hat seinen Weg in Heyms Roman gefunden über eine direkte Anspielung an dessen Erzählung Das Erdbeben in Chili. Am Anfang von Schwarzenberg wird geschildert, wie der jüdische Intellektuelle Max Wolfram, aus Schwarzenberg stammend – reflektierend über seine zur NS-Zeit begonnene Dissertation mit dem Titel Soziale Strukturen der Zukunft. Vergleichende Studie utopischer Gedankengänge (26), die sich mit Morus, Campanella und Andreae auseinandersetzt, mit dem Hintergedanken, eine neue Gesellschaft der Zukunft erdenken zu können – in Dresden im Gefängnis in einer Zelle auf seine Hinrichtung durch den Strang ausharrt, in ähnlicher Weise wie Jeronimo Rugera 1647 in Chile „an einem Pfeiler des Gefängnisses [stand], in welches man ihn eingesperrt hatte, 101 und sich erhenken [wollte].“ Doch wie Jeronimo seinem Tode durch das plötzliche Erdbeben entkommt, wird Max Wolfram durch den Alliiertenangriff auf Dresden gerettet, dessen Bomben auch das Gefängnis zerstören. Heyms Schilderung der Geschehnisse ist dabei unverkennbar an Kleist angelehnt. Kleists Beschreibung im Erdbeben: Der Boden wankte unter seinen Füßen, alle Wände des Gefängnisses rissen, der ganze Bau neigte sich, nach der Straße zu einzustürzen, und nur der, seinem langsamen Fall begegnende, Fall des gegenüberstehenden Gebäudes verhinderte, durch eine zufällige Wölbung, die gänzliche Zubodenstreckung desselben. Zitternd, mit sträubenden Haaren, und Knieen, die unter ihm brechen wollten, glitt Jeronimo über den schiefgesenkten Fußboden hinweg, der Öffnung zu, die der Zusammenschlag beider Häuser in die vordere Wand des Gefängnisses eingerissen hatte. […] hier leckte die Flamme schon, in Dampfwolken blitzend, aus allen Giebeln, und trieb ihn schreckenvoll in eine andere; […] Hier lag ein Haufen Erschlagener, hier ächzte noch eine Stimme unter dem Schutte, hier schrieen Leute von brennenden Dächern herab, hier kämpften Menschen und Tiere mit den Wellen […] hier stand ein anderer, bleich wie der Tod, und streckte sprachlos zitternde Hände zum Himmel. Als Jeronimo das Tor erreicht, und einen Hügel jenseits desselben bestiegen hatte, sank er ohnmächtig auf demselben nieder.102
Heyms Darstellung wiederum lautet wie folgt: Er durchlief Korridore, in denen es gellte und jammerte, stolperte Treppen hinab, durch deren schwankendes Gerüst Feuer züngelte […] da und dort, wie Silhouetten, Gestalten,
101 Semdner, Kleists Gesammelte Werke und Briefe (2008/Bd.2), S. 144. 102 Ebd., S. 145f.
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ob Sträflinge, ob Wärter, sie unterschieden sich nicht; einer wälzte sich, bereits heulend wie ein Tier […] lachhaft im Donner der immer noch detonierenden Bomben, der berstenden Pfeiler, der in sich zusammenstürzenden, rauchenden Wände. Er kauerte, gekrümmt wie ein Fötus, unter einem Stück steinernen Bogengewölbes, ringsum der Dampf und die Flammen; […] Er hob den Kopf, erkannte, über die Trümmer hinweg, ein Stück Himmel […]. Mit letzter Kraft […] erklomm er eine Art Gipfel und brach zusammen. (27f.)
Dass Heym sich hier Kleists Erdbeben zum Vorbild nimmt, ist nicht nur eine intertextuelle Referenz an eine ikonische Zerstörungsszene, es hat auch Konsequenzen für das Utopie-Verständnis von Schwarzenberg. Kleists Erzählung hat drei Teile: Befreiung aus Gewalt durch Katastrophe, Gesellschaftsutopie in der Natur, Niederschlagung der Utopie durch Gewalt. Dieser Aufbau scheint beinahe paradigmatisch für das zyklische Geschichtsverständnis der ewigen Wiederkehr von Gewalt zu sein, das auf Marx und Hegel aufbaut und durch das Autoren wie Schütz, Müller, Wolf und teils Hein geprägt sind. Diesen Aufbau kann man nun wiederum auch in Heyms Roman feststellen: Befreiung aus der Katastrophe des Nationalsozialismus und des Krieges, Utopie „Freie Republik Schwarzenberg“, Niederschlagung der Utopie durch die Rote Armee. Im Erdbeben wird auf dem Feld eine arkadische Gesellschaftsutopie dargestellt als generell möglich, aber sie scheitert an der begrenzten Erkenntnisfähigkeit und der unkritischen Selbsteinschätzung aller Protagonisten. Wolframs Verfassungsentwurf wird im Roman als ein „Klein-Arkadien“ verspottet (243). Durch die Anspielung an Kleist wird das utopische Moment des Tals und der Ebene bei Santiago für Schwarzenberg bemüht, aber auch gleichzeitig das Unmögliche, das Scheitern mitgedacht, was dem Nicht-Ort per definitionem inneliegt. Heym formuliert mit Schwarzenberg in der Tat eine sozialistische Utopie, aber er ist sich wie Kleist bewusst, dass die historischen wie gesellschaftlichen Umstände 1945 nicht die richtigen waren, um diese umsetzen zu können. Dementsprechend unterzieht Heym die Utopie und auch das utopische Denken einer generellen Kritik. So lässt er seinen Protagonisten Max Wolfram selbst erkennen, dass sein Verfassungsentwurf „auch ein utopisches Werk“ (81) ist und ihn damit konfrontieren: „Haben Sie nicht selbst geschrieben, Herr Kollege, […] dass jede bisher entworfene Utopie eine Diktatur war, die die Menschen zu ihrem Glück zwang, und jene, die sich eine andere Art von Glück vorstellten, liquidierte?“ (69). Jedoch, wie von Reinhart herausgearbeitet hat, wird über Wolf-
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ram auch Ernst Blochs Kategorie der abstrakten Sozialutopie in Schwarzenberg thematisiert, die sich durch die Arbeit des Aktionsausschusses kurzzeitig zu ei103 ner konkreten Utopie wandelt. Konkrete Utopie im Sinne Blochs ist nur dann möglich, wenn das utopische Modell sich konkret auf die realen Bedingungen bezieht. Erst durch den „konkreten Bezug der subjektiv-utopischen Intention auf den Fahrplan, auf die Reife der Bedingungen, auf die objektiv-utopische Tendenz-Latenz, auf reale Möglichkeit in Wirklichkeit selber […] entsteht statt abstrakter konkrete Utopie.“104 Doch wie das „Gesellschaftsvakuum“ im Erdbeben bei Heym sein Äquivalent im „Machtvakuum“ des unbesetzten Landkreises Schwarzenberg findet, so sehr wird diese Utopie durch die verschiedenen Machenschaften der Schwarzenberger Genossen wie auch der beiden Besatzungsmächte letztendlich ausgehebelt. Doch der Vergleich zu Ernst Bloch kann auch textimmanent gestärkt werden, was den zweiten Aspekt darstellt, der bisher übersehen wurde: Im „Nachspiel“ des Romans wird berichtet, dass Jahre nach Kriegsende eine Szene mit mittlerweile „Professor Max Wolfram an der Universität Leipzig“ erzählt, der gerade seine „Vorlesungsreihe ‚Soziale Strukturen in utopischen Gesellschaften‘“ (268) hält. Durch die konkrete Ortsbenennung kann es sich im Falle des Utopie-Forschers Max Wolfram nur um eine konkrete Anspielung an Ernst Bloch handeln, der seit 1948 in Leipzig lehrte, aber im Zuge seiner Kritik an der Niederschlagung des Ungarnaufstands 1956 in Ungnade gefallen war, worauf man ihn 1957 zwangsemeritierte und er schlussendlich 1961 kurz nach Mauerbau von den Bayreuther Festspielen nicht mehr wiederkehrte. Auch wenn man Bloch danach offiziell nicht mehr rezipieren durfte, so hat er sich seinen Einfluss bewahrt. Nicht nur hat Christa Wolf ihren Kleist in KON aus Das Prinzip Hoffnung zitieren lassen, auch Heym verschränkt Kleist mit Bloch und lässt beide in Gestalt Max Wolframs den demokratischen Sozialismus kurzzeitig erleben – eine Hoffnung, die den motus animi continuus künstlerischer Produktion fast aller Kulturschaffenden in diesem Kapitel zusammenfasst. Heym thematisiert damit einen Utopieverlust, da die Möglichkeit eines authentischen deutschen Sozialismus – in Schwarzenberg wie in der gesamten SBZ – durch die Niederschlagung und stalinistisch/sowjetische Fremdbestimmung im
103 Von Reinhart, Utopie und Utopiekritik in Stefan Heyms Roman Schwarzenberg (1997), S. 364. 104 Bloch, Antizipierte Realität, S. 25, zitiert nach: Ebd., S. 365.
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Keim erstickt wurde. Dies stellt aber keine resignierte Sicht Heyms auf die DDR der 80er Jahre dar, sondern ist eine Erinnerung daran, welches Potential die DDR zu Beginn hatte. Denn nicht nur weißt Schwarzenberg deutliche historische Parallelen zur Gründungsphase der DDR auf, sondern von Reinharts Analysen zeigen auch, dass der vermeintlich utopische Verfassungsentwurf Wolframs fast 105 wortwörtlich an die DDR-Verfassung angelehnt ist. Das utopische Modell in Schwarzenberg stellt also keine Alternative zur bestehenden gesellschaftlichen Realität dar, sondern ist eine komplementäre Ergänzung und eine Erinnerung daran, welche Ansprüche die DDR einstmals gestellt hatte, die immer noch die offizielle Grundlage des Staates bildeten, jedoch in deutlicher Diskrepanz zu deren Umsetzung. Dabei kritisiert die Idealität des utopischen Entwurfs zwar das Bestehende, negiert es jedoch nicht. Heyms Roman ist somit ein weiterer konstruktiv-kritischer Beitrag zur Verbesserung der DDR und ebenso nicht deren Vernichtung durch einen Dissidenten, wie viele seiner Romane aufgefasst worden sind. Vielmehr fordert er mit Schwarzenberg die Einlösung des in der DDR und 106 ihrer Verfassung enthaltenen demokratischen Potenzials. In diesem Sinne sind Heyms Worte im November 1989 auf dem Alexanderplatz zu verstehen: „Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen! Nach all' den Jahren der Stagnation – der geistigen, wirtschaftlichen, politischen; – den Jahren von Dumpfheit und Mief, von Phrasengewäsch und bürokratischer Willkür, von amtlicher Blindheit und Taubheit. […] Einer schrieb mir – und der Mann hat recht: Wir haben in diesen letzten Wochen unsere Sprachlosigkeit überwunden und sind jetzt dabei, den aufrechten Gang zu erlernen!“107
105 Ebd., S. 372ff. 106 Ebd., S. 376. 107 http://www.linksfraktion.de/nachrichten/habe-fenster-aufgestossen/, aufgerufen am 27.08.15.
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' Das Prinzip Hoffnung erfasste in den 80er Jahren schließlich auch Heiner Müller. Die Ereignisse in der Sowjetunion um Gorbatschows Perestroika ließen die Menschen nicht nur auf eine friedliche Koexistenz der beiden Systeme hoffen,108 sondern auch auf die Möglichkeit des Gelingens für das Projekt „Kommunismus“. Müller äußerte beim „Internationalen Gespräch der Schriftsteller“ in OstBerlin 1987, dass Gorbatschows Politik „die Eroberung der einzigen Position, die Zukunft wirklich möglich macht [gestatte. …] Was jetzt in der Sowjetunion versucht wird, ist eine ungeheure Korrektur, die Renaissance einer Hoffnung, die mit den Namen Lenin und Trotzki verbunden war und von Stalin auf Eis gelegt wurde.“109 Mit der Hoffnung kommt auch explizit das Lehrstück zurück, da wieder ein Lehrziel formuliert werden kann. Kleist ist auch bei Müller eine Chiffre für den gescheiterten Sozialismus, und schlussendlich ein Ausdruck für Müllers Utopieverlust nach der Wiedervereinigung. " %#"$ !%$"&%$ Aus diesem Ansatz heraus entstand ab Mitte der 80er Jahre das fünfteilige Stück WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE. Jene Ausfallstraße Moskaus, auf der die Wehrmachtspanzer gestoppt wurden und die somit als Anfangspunkt des Imports des Sozialismus fungiert, ist zudem der Ausgangspunkt für fünf Monologe in Blankversen, die zwischen Lehrstück, Langgedicht und Tragödie oszillieren und die aus unterschiedlichen Perspektiven, rückwärtsgewandt wie Benjamins Engel der Geschichte, nach den Gründen des Scheiterns des Sozialismus im 20. Jahrhundert fragen.110 Die Stücke waren als unmittelbare politische Kommentare geschrieben und sind Müllers literarischer Versuch, eine Hoffnung zu denken.111 Hierbei wird er zunächst sein Homburg-Modell (Kapitel 2) wieder aufgreifen, allerdings für Soldatenszenen des 2. Weltkriegs, an denen er Homburg-Konflikte durchspielt. Im Kontext des Kalten Krieges mit Weltkriegsszenen spürt Müller somit in Kleists Literatur des Krieges,112 wie Riedl formuliert, insbesondere jene
108 Vgl. Hörnigk, Strategien des „Übergangs“ bei Brecht, Müller und Braun (2012), S. 92. 109 Emmerich, Kleine Literaturgeschichte (2007), S. 267. 110 Schütte, Heiner Müller (2010), S. 73. 111 Vgl. HMW9 (2005), S. 273. 112 In Anspielung an Mathieu Carrières Studie, Für eine Literatur des Krieges, Kleist, (1981).
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Dialektik der Aufklärung auf, die er, im Anschluss an Horkheimer/Adorno, „als eine die Utopie zertrümmernde historische Konstante dramatisch vergegenwärtigt.“113 Im ersten Teil der Dramenreihe, Russische Eröffnung (1984), findet sich eine Homburg-Szene, in der ein Soldat, der bei einem vom Kommandeur fingierten Angriff desertiert, von jenem dafür hingerichtet wird. Der Kommandeur glaubt an das große Ziel des Kommunismus, der Deserteur an sein Recht auf Leben. Auf den Zusammenhang mit Homburg machte Müller, wie so oft, selbst aufmerksam: In einem Interview mit Gregor Edelmann zum Stück antwortet Müller auf die Frage, ob der Kommandeur die Utopie seiner Gesellschaft noch bewahrt habe: Da muss man weiter ausholen. Man kann diesen Text ja auch lesen als eine Variante auf „Homburg“. Die Struktur ist dieselbe. Aber dort findet der Konflikt in der herrschenden Schicht statt. Homburg hat in einer Art Ekstase den Sieg herbeigeführt. Aber er hat gegen den Befehl gehandelt. […] Der Sieg ist schön, aber wichtiger ist das Gesetz. Deshalb muss er hingerichtet werden. Befehlsverweigerung. Da es aber ein Sieg war und da es in der Familie bleibt, ist das Happy-End am Schluss traumhaft möglich. Im Grunde ist das, was wir als eine Traumsequenz in WOLOKOLAMSKER I finden, der Schluss des „Prinzen von Homburg“ (HMW10 459)
Das Homburg-Modell soll in diesem Stück zeigen, dass Pazifismus und das Recht auf Begnadigung der bessere Weg ist, der aber in der Geschichte des Sozialismus nicht verfolgt worden ist, mit entsprechenden Folgen, die man in der Gegenwart der 80er Jahre spüren kann. In Müllers Kommentar zur Inszenierung wird dies noch deutlicher: Das Wunschbild der Begnadigung des Deserteurs braucht den Realismusgrad der Exekution, damit ein Krieg gedacht werden kann, in dem die Begnadigung die realistische Lösung ist. Im Schatten des Atomkriegs, der Alternative zum Kommunismus, scheint sie utopisch. (HMW5 97)
Eine stofflich sehr ähnliche Homburg-Szene findet sich auch im zweiten Teil des Stückes, Wald bei Moskau (1986), in der ein Sanitätsoffizier, der ihm anvertraute Verwundete im Stich ließ, dafür vom Kommandeur degradiert wird, obwohl der Arzt – wie er protestierend hervorhebt – ihm hinsichtlich Ausbildung und militärischem Rang vorgesetzt ist. Durch die Bestrafung wird zwar das Rechtsgefühl
113 Riedl, Heiner Müllers Kleist (2014), S. 204.
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der Soldaten wiederhergestellt – dies jedoch durch eigenmächtiges, formal gesetzesbrecherisches Handeln, was die Gefahr birgt, dass die einmalige Ausnahme der Gesetzesüberschreitung zur Regel werden könnte.114 In verwandter Weise, nur in diesem Falle direkt zitiert, wird Homburg in Müllers letztem Stück, Germania 3 Gespenster am toten Mann (1995), eingesetzt. In jenem letzten Stück, in dem die Geister der deutschen Vergangenheit, ähnlich Kaysers Leipziger Hermannsschlacht 1988, wie mehrere HamletVarianten das wiedervereinigte, dritte Deutschland Müllers als Revue heimsuchen, tauchen nochmals alle wichtigen Müller-Motive auf: Hitler und Stalin, Ulbricht und Thälmann, die Nibelungen, drei „Brechtwitwen“, die die Inszenierung von Brechts Coriolan überwachen, DDR-Kulturpolitik und eine Wohnzimmerszene in seiner Jugendstadt Frankenberg. Diese Totenbeschwörung ist nicht nur Müllers Vermächtnis, dass nun im vereinigten Deutschland eigentlich nichts Positives mehr zu erwarten wäre, sondern die letzte seiner vielen Mahnungen, dass der Dialog mit den Toten nicht abreißen darf, bis sie herausgeben, was an Zukunft mit ihnen begraben worden ist.115 In der dritten Szene des Stückes, überschrieben SIEGFRIED EINE JÜDIN AUS POLEN, finden in der zweiten Unterszene zwei deutsche Offiziere in Stalingrad eine Verpflegungsbombe, die für die Kompanie bestimmt ist und die sie, trotz gegenteiliger und gegenseitig erörterter Anweisungen und Androhungen, allein aufessen. Satt, schämen sie sich für ihre Taten, und erschießen sich. An dieser Stelle, am Übergang zur nächsten Unterszene, fügt Müller Teile der Schlussszene des Homburg ein: HOMBURG Nun, o Unsterblichkeit, bist du ganz mein! / Du strahlst mir, durch die Binde meiner Augen, / Mit Glanz der tausendfachen Sonne zu! / Es wachsen Flügel mir an beiden Schultern, / Durch stille Ätherräume schwingt mein Geist, / Und wie ein Schiff, vom Hauch des Winds entführt, / Die muntre Hafenstadt versinken sieht, / So geht mir dämmernd alles Leben unter: / Jetzt unterscheid ich Farben noch und Formen, / Und jetzt liegt Nebel alles unter mir KURFÜRST Lasst den Kanonendonner ihn erwecken! HOMBURG Nein, sagt! Ist es ein Traum? KOTTWITZ Ein Traum, was sonst? (HMW5 263)
Durch die Kombination des Unsterblichkeitsmonologs der 10. Szene des 5. Aktes des Homburg mit der Traumfrage der 11. Szene, wodurch die Begnadigung
114 Vgl. Schütte Heiner Müller (2010), S. 74. 115 Ebd., S. 12.
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des Prinzen fehlt, wird dem Monolog ein beinahe ironisches Ende verliehen, welches an Steins Schaubühne-Inszenierung von 1972 erinnert. Mit der auch zuvor von den Offizieren angekündigten Hochkultur (Goethe und Schiller), die sie mit Öl und Weizen konterkarieren, wird der surreale Todestraum aus Kleist’scher Feder mit der Niedertracht der Militärs in Einklang gebracht. Colombo und Ganter116 heben hervor, dass es sich in beiden Fällen um einen „Tod aus Einsicht“ handle, wobei die Offiziere allerdings nicht jene Unsterblichkeit erreichen, sondern eine Perversion von Hitlers Ehrentod repräsentieren.117 Gratzke betont zudem, dass Müller durch das direkte Textzitat Kleist „mit Hölderlin und Heine in eine Tradition von Autoren stellt, die von einem besseren Deutschland träumten, aber von dem Deutschland, in das sie geboren waren, zerstört wurden“ und dass Kleists Homburg für Müller eine „Figur ist, in der sich sowohl der Traum von einem besseren Deutschland als auch das Scheitern dieses Traumes ausdrückt.“118 Für diese Annahme spricht zudem, dass man in den Archivaufzeichnungen Müllers zum Stück, die Frank Hörnigk zusammengetragen hat, diese Notiz findet: „Was mich interessiert: / ein Stück von Kleist zu schreiben / das Kleist nicht geschrieben hat.“ (HMW5 349) Der letzte Teil, Der Findling. Nach Kleist, zeichnet einen an Kleists gleichnamiger Erzählung nur thematisch orientierten Generationskonflikt nach, der sich aus der Enttäuschung speist, die der Ungarn-Aufstand und der Prager Frühling bei der jüngeren Generation hinterlassen haben. Das dialoghafte Gedicht über einen SED-Funktionär, der seinen Adoptivsohn im Gefängnis in Bautzen besucht, weil jener aus Provokation Nazi-Parolen an Hauswände geschmiert hatte und die sich Jahre später in West-Berlin wiedersehen, thematisiert somit den Verlust der Jugend – einen entscheidenden Moment der DDR-Geschichte, der deren Scheitern vorwegnahm. Die Desillusionierung der Jugend führt zu Rebellion und Provokation gegen die Elterngeneration der Republikgründer, die dem Ist-Zustand des Sozialismus keine Bedeutung mehr geben können und die Reformhoffnungen mit begraben haben. Müller reflektiert somit darüber, dass seine Generation die
116 Ganter, Heiner Müller and the Geschichtsdrama (2008), S. 291. 117 Colombo, Das Drama der Geschichte bei Heiner Müller und Christa Wolf (2009), S. 146. 118 Gratzke, Bertolt Brecht und Heiner Müller lesen Kleists Prinz Friedrich von Homburg, (2011/2), S. 459.
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letzte DDR-Generation sei, die noch an die Utopie des Kommunismus glaubte. Nach ihnen käme niemand mehr, es blieben nur Gespenster: Und das zerrissne Blauhemd für den Toten / Gefallen an der Mauer Stalins Denkmal / Für Rosa Luxemburg Die Geisterstädte / VERGESSEN Kronstadt Budapest Prag / Wo das Gespenst des Kommunismus umgeht / Klopfzeichen in der Kanalisation119
Das Zitat drückt auch die zunehmende Enttäuschung in Bezug auf die Mauer aus, die er bei ihrem Bau noch unterstützt hatte, weil er durch sie eine neue inhaltliche Debatte erhofft hatte. In KRIEG OHNE SCHLACHT zieht er das Resümee, dass er damals eigentlich kein Stück der Hoffnung, sondern einen „Nachruf auf die Sowjetunion, auf die DDR“ und die Teile III-V seine letzten drei Szenen zur DDR waren:120 „Die DDR bezog ihre Legitimation zunehmend nur noch aus den Toten […]. Der Beweis für die Existenz der DDR […] war zuletzt nur noch die Grenze, die Toten an der Mauer, dem Mausoleum nicht nur des deutschen Sozialismus, ihre letzte perverse Legitimation als Staat.“121 Kleists Stoff, in dem die Vaterliebe durch die Undankbarkeit des Adoptivsohnes in Hass und Gewalt umschlägt, die der Vater bis in die Hölle zu behalten hofft, findet bei Müller die Parallele, dass der Vater seinen Sohn am Ende an die Stasi ausliefert und dient dadurch als Ausdruck des Krisen- und Monolithisierungsprozesses der DDR der 70er Jahre, die somit zu ihrem eigenen Grabstein wird. „Der Riss zwischen den Generationen in der Führungsschicht war die Initialzündung für die Implosion des Systems.“122 Die kritische Reformdebatte, die eine neue Generation integriert hätte, was seit den 70er Jahren versäumt wurde, fand in der Desillusionierung der späten 80er Jahre ihr jähes Ende, und im Mauerfall ihr symbolisches Sinnbild. Der Wiedervereinigungsprozess entzog dem marxistischen Autor Müller letztlich auch die persönliche und stoffliche Grundlage, diese Utopie noch weiter zu verfolgen, was er semantisch und etymologisch präzise im Begriff der Ortlosigkeit zusammenfasste, die erneut konkret an Kleist gebunden ist und vermutlich auch nicht zufällig an Wolfs ähnlichen Buchtitel erinnert.
119 HMW5 (2002), S. 243. 120 HMW9 (2005), S. 273. 121 Ebd. S. 274. 122 Ebd., S. 276.
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Den Begriff der Ortlosigkeit benutzte er zum ersten Mal 1985 bei der Diskussion nach seiner Büchner-Preisrede Die Wunde Woyzeck, wo er von Ulrike Meinhof als Tochter Preußens und spätgeborene Braut Kleists sprach, weil auch sie „politisch ortlos“ war.123 In der Wendezeit und danach wird Müller in den vielen zynischen Interviews und Reden, die er in der Zeit gab, darauf zurückkommen. Stillmark weist zurecht darauf hin, dass die vielen Selbstzeugnisse Müllers mit Vorsicht zu behandeln und oft widersprüchlich seien, weil er einen ständigen Abwehrkampf gegen Festschreibung seiner Traditionslinien durch die Literaturwissenschaft führte.124 Dies traf 1990 sicherlich zu, jedoch lässt sich in den nachfolgenden Jahren bis zu seinem Tode 1995 beobachten, nicht zuletzt in KRIEG OHNE SCHLACHT, dass er seinen offenen Literaturbegriff zwar beibehält, aber dennoch Wert darauf legt, seine Erinnerungen und Sichtweisen festzuhalten und zu diskutieren, da für ihn, wie Schütte in Kleistweise anmerkt, „die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden […] Antrieb war, Interviews zu geben.“125 In seiner Kleistpreisrede DEUTSCHLAND.ORTLOS 1990 sprach er, worauf Schütte und Gratzke hinweisen, weniger über Kleist als über sich selbst im Kontext des sich vereinenden Deutschlands.126 Müllers Kleist ist dort ein „Geisterfahrer“, dessen Preußen eine „Erdbebenzone“ darstellt und dem die „gebrechliche Einrichtung der Welt [zur] Bedingung seiner Existenz als Autor [gereichte] und zuletzt der Grund [war], seine Existenz auszulöschen.“127 In einem Interview nach der Rede betont er, dass ihn bei Kleist vor allem die „Diskrepanz zwischen den Stoffen und dem, was er daraus gemacht hat“128 interessiere und Kleist ihm näher als der Kanon stünde, weil ihm die Intensität wichtig sei. In einem Interview mit Frank Raddatz 1994 führt er die Ortlosigkeit weiter aus: „Für Kleist war Deutschland noch eine Idee, eine Utopie“, während das jetzige Deutschland „ein unbenennbares Vakuum [ist], das von der D-Mark zusammengehalten wird.“129 Doch für Kleist zerbrach diese Utopie durch Napoleon, und das reizt Müller: „Kleist ist etwas Fremdes. Das Fremde will man eigent-
123 HMW10 (2008), S. 396ff. 124 Stillmark, Zur Kleist-Rezeption Heiner Müllers (1991), S. 72. 125 Schütte Heiner Müller (2010), S. 118. 126 S. Schütte, Arbeit an der Differenz (2010) S. 489f. und Gratzke, Bertolt Brecht und Heiner Müller lesen Kleists Prinz Friedrich von Homburg (2011), S. 456. 127 HMW8 (2005), S. 382ff. 128 HMW11 (2008), S. 793f. 129 HMW12 (2008), S. 461.
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lich sein. Deswegen ist Kleist so interessant.“130 Ein Jahr später, in einem Gespräch mit Alexander Kluge, fasste er diese Aspekte nochmals zusammen: Und bei Kleist war das am deutlichsten, dass er weg wollte, aber keinen Ort finden konnte. Er war ein ganz ortloser Autor. Und das ist auch das Problem jetzt, wie man das zusammenkriegt, alle diese Teile von Deutschland. Eigentlich war Deutschland nie ein Ort, es war immer Utopie.131
All diese Aussagen bezeugen doch nicht nur eine deutliche Konsistenz der Argumente und deren sprachbildlicher Ausgestaltung, sondern sie zeigen einen Autor Müller, der ebenso ortlos ist und sich des Kleists bedient, Kleists politische Utopie und deren Scheitern betont, um seiner Situation habhaft zu werden. Nur im Gegensatz zu Kleist ist ihm sein gesellschaftlicher Antipode, sein Stofflieferant verlorengegangen: die DDR. Der Deutschland-Träumer Kleist ist dem Deutschland-Alptraumverwalter Müller in der Nachwendezeit, in der das Homburg-Modell nicht mehr funktionierte, als Projektionsfläche für ein Autorschaftskonzept der Ortlosigkeit von Bedeutung, das über das Ende der eigenen Existenz verfügen muss. Nach mehreren Jahren, in denen er nicht weiß, warum und worüber er noch schreiben soll, da seit der Wiedervereinigung Deutschland kein gutes Material mehr für Dramatik darstelle,132 gibt er kurz vor seinem Tod dem neuen Deutschland Germania 3 Gespenster am toten Mann als Erbe mit auf den Weg, in Linda Maedings Worten „als Gedächtnisnarben, Male gesellschaftlich nicht erwünschter Erinnerungen von Geschichte.“133 Der endgültige Utopieverlust hat Müller nie ernsthaft in der Bundesrepublik ankommen lassen, ihn aber für sich selbst auch als Dramatiker überflüssig gemacht. In seinen eigenen Worten: Vielleicht machte gerade das Irreale des Staatsgebildes DDR seine Anziehung für Künstler und Intellektuelle aus. Die entscheidende Abweichung von Hölderlins „Ödipus“ in meiner Theaterfassung für Besson war ein Wort in dem Monolog des Protagonisten nach der Selbstblendung. Hölderlin: …Denn süß ist es / Wo der Gedanke wohnt, entfernt von Übeln. Müller: … Denn süß ist wohnen / Wo der Gedanke wohnt, entfernt von allem.134
130 Ebd., S. 475. 131 Ebd., S. 835. 132 S. HMW 9 (2005), S. 209. 133 Maeding, Gespenstische Landschaften (2012), S. 140. 134 HMW 9 (2005), S. 284f.
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Für alle Kleist-Adepten, die das Ende der DDR noch erlebten, war Kleist schlussendlich das Sinnbild der dialektischen Ästhetik geworden, in gewisser Weise ein Sinnbild für ihre Autorschaft in der DDR.
Mit der deutschen Wiedervereinigung 1990 gab es zwar einen nationalinstitutionellen Bruch zur Kulturszene der DDR, aber die kulturelle Produktion wirkte freilich noch lange über dieses Datum hinaus. In der Tat blieben viele Akteure zunächst in ihren Rollen verhaftet und hatten es teils auch schwer, in der neuen Realität anzukommen. Vor allem all jene, die im November 1989 auf dem Alexanderplatz für eine reformierte, demokratische DDR warben, konnten oft mit der von Helmut Kohl sehr rasch vorangetriebenen nationalen Wiedervereinigung, inklusive des Ausverkaufs aller volkseigenen Betriebe durch die Treuhand und des Wegfalls aller staatlicher Kulturinstitutionen wenig anfangen und betrachteten sie mit Sorge. Dennoch haben sowohl Literatur als vor allem auch das Theater und die Kunsthochschulen es geschafft, ihre spezifischen Eigenheiten in das vereinigte Deutschland einzubinden. Kleist gehört dabei als deutliches Kontinuum dazu, ja man kann vor allem auf dem Theater von einem regelrechten Kleist-Boom sprechen, dem sogar eine Fernsehdokumentation gewidmet wurde. Es gab somit über die DDR hinaus eine ganz spezifische Kleist-Affinität von einer bestimmten Gruppe von DDR-Kulturschaffenden, die in verschiedensten Kontexten Kleist dazu nutzten, ihren eigenen Stand in der Welt und in der Gesellschaft zu reflektieren. Gleichzeitig beginnt aber direkt 1990 eine völlige Umdeutung der DDRKultur, die von westdeutschen Narrativen geprägt war und unter dem Verdikt von ‚Kultur im Totalitarismus’, das sich größtenteils bis heute hält, wurden alle Kulturschaffenden dichotomisch in Systemtreue und Dissidenten eingeteilt und erstere an den öffentlichen Pranger gestellt, wie man am besten im sogenannten 1 deutsch-deutschen Literaturstreit um Christa Wolf erkennen kann. Heiner Müller verspottete dies schon 1979 in einem Beitrag für Le Monde als die „Sozialis-
1
Anz, Es geht nicht um Christa Wolf (1991).
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musklischees der [westlichen] Medien“, die nur zwischen „Dogma und Dissidenz“ unterscheiden können.2 Adolf Dresen, der 1990 nach Berlin zurückkehrte, beobachtete dies auch im Kontext der Debatte um die Zeitschrift Theater der Zeit, für die er 1992 einen Artikel zur „Vergangenheitsbewältigung“ schrieb: „Ein Alptraum, was sich da jetzt abspielt in der alten DDR. Die »Bewältigung der Vergangenheit«, wieder 3 einmal fällig, versinkt im Stasi-Strudel.” Die Überlast der Stasi-Akten, die die DDR-Geschichte als reine Überwachungsgeschichte prägte, was zweifelsohne ein signifikanter Aspekt ist, lässt aber kaum noch Raum dafür, DDR-Kultur als solche zu würdigen und ernstzunehmen, und gleichsam auch ihre Realität nachzuvollziehen, die sich eben nicht an zwei Fronten abspielte, wie Dresen weiter ausführt: Wer meint, anstelle von 40 Jahren Kompromisswirtschaft wären 40 Jahre Widerstand ehrenwerter gewesen, der soll zunächst einmal begreifen, dass die DDR-Opposition, und zwar bis zuletzt, in einer spezifischen Vermischung, heute sagt man wohl „Verstrickung“, mit dem „System“ war. Die Demonstranten zu der Zeit, als die Demonstrationen noch riskant waren und Mut erforderten, waren keine absoluten Gegner der DDR, sie waren früher oft Kommunisten oder Marxisten gewesen, waren es manchmal immer noch. Es ist sehr bezeichnend, dass diese Nicht-Gegner die Avantgarde der Revolution von 1989 waren, und es ist ein typisch deutscher Unverstand zu glauben, Purismus der Fronten oder Radikalität der Macher seien die Basis einer Revolution – im Gegenteil, sie dürften eine Revolution in Deutschland eher immer verhindert haben. Ich erinnere an Lenins höfliche Bezeichnung der Radikalität als „Kinderkrankheit“ der Linken.4
Diesen Konflikt kultureller Deutungshoheit kann man wiederum an zwei Beispielen von Kleist-Nachbeben nachzeichnen, sowohl aus ost- als auch aus westdeutscher Perspektive. Denn über Kleist wurde nicht nur auch die Wiedervereinigung und das Verschwinden der DDR reflektiert, sondern es wurde auch gleichsam interessiert als ein „ostdeutsches Phänomen“ beobachtet. Auch hier zeigt sich wieder, dass Kleist der ideale Autor ist, um „offene Wunden“ darzustellen.
2
HMW8, S. 213.
3
Dresen, Vergangenheitsbewältigung (1992).
4
Ebd.
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Eine der zahlreichen Wende-Inszenierungen von Kleists Werken ist die Frankfurter Inszenierung der Familie Schroffenstein, dem einzigen Kleist-Stück, das in der DDR nie aufgeführt wurde. Regie führte Michael Funke, der 4 Jahre zuvor als Regieassistent für Wolfgang Engel an der Dresdner Penthesilea-Inszenierung beteiligt war. Bei der Premiere am 9. November 1990, am Jahrestag der Maueröffnung, präsentierte sich die Bühne des Kleist-Theaters als dreieckiger, betongrauer Raum, von einem beweglichen Mittelkeil geteilt, der zu beiden Seiten ausschlagen und somit zweimal fast einen identischen Raum hergestellt werden kann, wobei jeweils auf einer Seite der Keil in der Wand fehlt. Die in kaltblaues Licht getauchten beiden somit entstehenden Räume stehen für die beiden Familienburgen und erinnert in seiner Zweipoligkeit auch an das Penthesilea5 Bühnenbild (Kapitel 3). Im Konzeptionspapier zur Aufführung wird allerdings deutlich, dass die Bipolarität der Rossitzer und Warwander Familienseiten im Kontext der Wiedervereinigung für Funke zunächst eine andere Bedeutung bekam, wie er in seinen Konzeptionelle[n] Notizen zur meistverachteten deutschen Tragödie „Die Familie Schroffenstein“ im August 1990 festhielt: Den Plan zu dieser Inszenierung gab es über ein Jahr vor den größten Umwälzungen der deutschen Nachkriegsgeschichte. Die Proben beginnen in der verlöschenden DDR. Die Premiere findet in Deutschland statt, am ersten „Jahrestag“ der Maueröffnung. Das Stück handelt von zwei verfeindeten Häusern der gleichen Familie und kann kaum „deutscher“ sein............ LUFTHOLEN. Konzeption klar? Zu schön, um wahr zu sein. Nichts wäre jetzt langweiliger, als eine Inszenierung über deutsche Wiedervereinigung, egal ob wir meinen, sie verdammen oder feiern zu müssen. Die Zeit, wo im Theater tagespolitische Direktbezüge ein Gefühl garantierter Subversion sicherten, ist vorbei. Müssen wir also zurücktreten von einem Stück, bei welchem sich die Zuschauer Ventile verschaffen könnten, die wir gar nicht auslösen wollten? Müssen wir Bezüge zwischen Gegenstand und Gegenwart bewusst verschleiern? Müssen wir uns gar die berühmte ökonomische Frage vorlegen: Was bringt Kasse? [...] Mit alldem können wir dieses Stück getrost weiter verstauben lassen. Streichen wir das Thema Wiedervereinigung. Bleiben wir bei der Atmosphäre dieses Vorganges, bei Deutschland und den „deutschen Seelen“, bei Kleist, seinen Figuren oder bes-
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AdK ID 713.
296 ser Autoinkarnationen, bei uns also. Dann sind wir angekommen, ob es uns passt oder nicht, dann können wir anfangen.6
Was also ein Kommentar zur Wiedervereinigung hätte werden können, wird unter der Regie Funkes schlussendlich zu einem Requiem subversiver KleistProduktionen in der DDR und gleichzeitig ein Neuanfang in eine ganz andere Richtung, die von den Kritikern auch gelobt wurde. Steffi Prutean kommentiert für Antenne Brandenburg am 10.11.90: „Für die Inszenierung gab es reichlich Applaus und viele Bravos. [...] Wäre vor einem Jahr die Mauer nicht gefallen, hätte es gestern Abend im Kleist-Theater eine DDR-Erstaufführung gegeben. Stünde die Mauer heute noch, hätten wir Kleists Grab am Kleinen Wannsee noch 7 nicht besuchen dürfen.“ Rainer-K. Langner hält in Der Morgen am 13.11.90 fest : „Michael Funke hat Kleists Schicksalstragödie von aktueller Gegenwartsdeutung ferngehalten; in Frankfurt steht nicht der „Ossi-Clan“ einem „WessiClan“ gegenüber; die Inszenierung versucht nicht, den Erbvertrag zum Eini8 gungsvertrag umzukrempeln.“ Der Umbruch auf allen gesellschaftlichen Ebenen war vermutlich in den Köpfen des Publikums präsent genug. 1992 schließlich wurden Redakteure des ZDF auf die große Anzahl der KleistInszenierungen aufmerksam und versuchten dieses Phänomen in Dietmar N. 9 Schmidts Dokumentation Heinrich von Kleist in den neuen Ländern zu ergründen. So wird von Aufführungen von Schroffenstein am BE, Penthesilea im Schauspielstudio Berlin, Homburg am Kleist-Theater Frankfurt (Oder), Amphitryon in Dresden, der Krug und Schroffenstein am Theater Chemnitz und schließlich das Käthchen sowohl am Nationaltheater Weimar als auch am DT unter der Regie von Thomas Langhoff berichtet. Über Langhoffs knallbuntes Käthchen, in dem Dagmar Manzel als Kunigunde mit ihrem Kostüm stark an die Ost-PunkLegende Nina Hagen erinnerte, wird die Einleitung gewagt, mit der sich der Regisseur den Kleist-Boom erklären will:
6
Ebd.
7
Ebd.
8
Ebd.
9
AdK AVM-Theater 33.8118.
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Eine von den vielen, auffallend vielen Inszenierungen Kleists auf dem Theatergebiet der ehemaligen DDR neuerdings. Kleist aller Orten wenn man heute durch die neuen Länder fährt. Dass sich in der Vergangenheit die Theater der DDR mit Kleist, mit diesem Erbe deutscher Klassik und Romantik immer schwergetan haben und dass sie den Preußen unter den großen deutschen Dichtern lieber vernachlässigen als sich zurechtbiegen wollten, das gewiss macht die Neugier auf seine Werke, jetzt nach der Wende, sehr verständlich. Eine Neugier, ein Interesse freilich, das tiefer reicht, das sich begründen lässt mit der ja recht erklärlichen Sensibilität für die Spannungen zwischen dem Gemeinwesen und dem Individuum, zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft, zwischen Staatsraison und Menschenwürde.10
Auch wenn letztere Beobachtung sicherlich zutreffend ist, so haben doch alle vorangegangenen Fallstudien gezeigt, dass die Einschätzung, Kleist sei in der DDR vernachlässigt worden, wohl kaum zulässig ist. Vielmehr zeigt sich hier bereits eine der vielen Tendenzen, wo durch zu wenig Wissen und aus reiner Außenperspektive geurteilt wurde, ohne die Beteiligten an diesen Produktionen selbst zu befragen, was sie eigentlich zu diesen Stücken gebracht hatte. Stattdessen wurde auch hier die DDR zunehmend mit dem Prädikat totalitär versehen und die Inszenierungen als Befreiungsschlag gewertet, da man nun endlich sich frei entfalten könne. Schmidts Dokumentation tappt nicht völlig in diese Falle, kann sich aber die Inszenierungen auch nicht anders als post-totalitär erklären, was durch die Zwischensequenzen, die Brieflesungen Kleists mit Panoramen von preußischen Schlössern, Plattenbauten und verfallenen Gründerzeitbauten kontrastieren, unterstrichen wird. Allerdings mit Bedauern, dass etwas Eigenes dabei ist verlorenzugehen. Zum Dresdner Amphitryon wird kommentiert: In Aufführungen wie dieser gibt das Theater der ehemaligen DDR nichts mehr von seinen besonderen Perspektiven, von seiner oft eigentümlichen Sinngebung zu erkennen. Hat es sich eingeordnet in den gewiss niveauvollen Umgang mit traditionellen Bühnentexten, deren Interpretation über den Ort und die Zeit in Dresden eben so viel aussagt wie in Düsseldorf.11
Auch wenn die Bühnenbilder in der Tat fantasievoller geworden sind, muss in diesem Falle trotzdem festgehalten werden, dass Irmgard Langes Amphitryon in der Tat sehr stark an Wolfgang Engels Penthesilea aus dem Jahre 1986 ange-
10 Ebd. 11 Ebd.
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lehnt ist. Es stellt sich in dieser Bewertung somit eher die Frage, welche „eigentümliche Sinngebung“ man für das „DDR-Theater“ seitens des ZDF annahm. Auch Langhoffs Käthchen unterstellt Schmidt „Grenzerfahrungen, Grenzüberschreitungen, die sich von den gewohnten, rationalen Erklärlichkeiten gerade im 12 Theater der ehemaligen DDR so sehr unterscheiden.“ Diese Einschätzung kann man nur mit völliger Unkenntnis der DDR-Theaterszene erklären, wie sie sich auch in der Popkultur festgesetzt hat. In Florian Henckel von Donnersmarcks Film Das Leben der Anderen (2006) findet sich diese Logik auch wieder: Im Film, der 1984 spielt, wird eine Inszenierung eines Stücks des Protagonisten Georg Dreyman (Sebastian Koch) gezeigt, die eine graue Fabrikbühne auffährt, auf welcher die Produktion der DDR-Wirtschaft dargestellt wird im Sinne des Bitterfelder Wegs. In einer der Schlussszenen sieht man dann eine Nachwendeinszenierung desselben Stücks, diesmal mit minimalistischem Dekor und modischen Kostümen. Wahrscheinlicher ist, dass jene vermeintliche DDRInszenierung spätestens Ende der 60er Jahre schon völlig (auch politisch) unzeitgemäß gewesen wäre, während die künstlerisch anspruchsvolle Inszenierung, wie sie vermeintlich nur aus westdeutscher Perspektive stattfinden konnte, ohne weiteres in den 70er oder 80er Jahren, in denen der Film hauptsächlich spielt, hätte stattfinden können. Dies hätte aber der totalitären, düsteren Stasi-Logik, der sich der Film verpflichtet fühlt, widersprochen. Diese Logik findet sich auch in Schmidts Besprechung von Langhoffs Käthchen. Auch hier muss gesagt werden, dass die Inszenierung sich in ihrem visuellen Expressionismus wahrlich sehr stark von den meisten DDR-Produktionen abhebt, andererseits auch nur versucht, eine Märcheninszenierung zu sein. Zudem, wie Michael Eberth betont, handelte es sich hierbei um Langhoffs erste Inszenierung als Intendant des DT, die er in die Nachfolge Max Reinhardts stellen 13 wollte, der auch das Käthchen für seine erste Aufführung wählte. Langhoff wollte hier nicht nur visuell eine neue Epoche eines traditionsreichen Hauses einleiten, sondern auch reflektieren, dass es nunmehr ein DT im vereinigten Deutschland gibt, mit einem Ensemble aus Ost und West, die beide erstmalig im Käthchen vereint auftraten, mit gesonderten Ost- und Westteilen im begleitenden Programmheft. Manche Produktion versuchte aber in der Tat, die Ereignisse der Wende zu verarbeiten. Am Frankfurter Kleist-Theater wurde 1991 unter der Regie von Marie-Luise Preuß der Homburg gespielt, allerdings mit prägnanten Veränderungen: So wurde im dritten Akt eine Szene eingefügt, „die staatliche Gewalt und
12 Ebd. 13 Eberth, Kleistkrisen (2008), S. 35f.
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Unterdrückung choreographiert und mit der Erinnerung an das dritte Reich wird 14 natürlich auch auf die DDR mit angespielt“ – eine Verbindung, die durch Bildmontagen der Mauer im Hintergrund eindeutig hergestellt wird. Auch wurde das mehr oder minder versöhnliche Ende in dieser Inszenierung, „die ihre Bezüge bis zuletzt in aktueller Erfahrung sucht“, vollständig umgedeutet: In der 15 inszenierten Erschießungsszene wurde, in Brecht-Müllerscher Tradition, ein Staatsstreich eingebaut, angeführt von Kottwitz, der zur Verhaftung des Kurfürsten führt. Der Despot wird abgesägt, „[g]erettet wird der Prinz, entmachtet wird der Fürst durch eine Rebellion der Offiziere, die sich gleich als revolutionäres Volk entpuppen werden. Kleist nach der Wende, nach dem Ende Preußens und 16 der DDR.“ Ein wahrlich verwunderter Prinz fragt daraufhin: „Nein sag, ist es ein Traum?“, worauf die Masse des Volkes und des Militärs im Chor schreit: „IN STAUB MIT ALLEN FEINDEN BRANDENBURGS!“, in Anspielung an die friedliche Revolution und als Grabgesang auf die DDR, aus deren Unterdrückung man sich selbst befreit hatte und nicht auf weise Monarchen angewiesen war, die das Volk zur Mündigkeit erziehen. Auch wenn man Schmidts Dokumentation ehrliches Interesse an den Inszenierungen nicht abreden kann, so wird doch mehr als deutlich, wie einseitig die DDR-Kulturszene betrachtet und damit meist missverstanden wurde. Die vorangegangenen Analysen haben gezeigt, dass seine Einschätzungen vollständig auf fehlendem Wissen und der reinen Annahme einer Kulturszene in Unterdrückung beruhen. Auch handelt es sich bei diesen Inszenierungen kaum um Neugierde, denn die Stoffe waren alle bereits vertraut. Vielmehr bekommt man den Eindruck, dass sich nach dem Mauerfall noch einmal alles Kreative entlud, was sich vorher aufgestaut hatte, und das nun in voller künstlerischer Freiheit umgesetzt wurde und so auch umgesetzt werden konnte. Es gab offenbar noch vieles, was man durch Kleist ausdrücken wollte. Gleichzeitig profilierte auch hier sich Kleist wieder als der Autor der Zwischenzeiten, der Übergangszeiten, des Umbruchs. Auch in der Literatur gibt es Kontinuitäten und Neuanfänge der Kleist-Tradition. Über Günter Kunerts, Klaus Schlesingers, Christoph Heins und Heiner Müllers Projekte wurde in den Kapiteln bereits eingegangen. Bei Christa Wolf gibt es kleinere Anspielungen an Kleist in Leibhaftig (2002), und in ihrem letzten Ro-
14 AdK AVM-Theater 33.8118. 15 Vgl. Gratzke, Blut und Feuer (2011/2), S. 455. 16 Ebd.
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man, Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr Freud (2010), der wie ein abbittendes Testament die Nachwendeereignisse, ihre eigenen Traditionsbezüge sowie den Horizont ihrer eigenen Sterblichkeit erforscht. Eine zweifelhafte utopische Hoffnung wird durch Kleists Marionettentheater ins Spiel gebracht, das ihr der Benjamin-Forscher Peter Gutman zukommen lässt: Als ich ins MS. VICTORIA zurückkehrte, [...] hatte Peter Gutman wieder mal einen Zettel unter meiner Tür durchgesteckt. Ein Satz von Kleist war ihm mitteilenswert erschienen: Doch das Paradies ist verriegelt und der Cherub hinter uns; wir müssen die Reise um die Welt machen, und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist. Es war noch vor Mitternacht, ich rief ihn an: Und wenn wir auf das Paradies verzichten würden? Das glaubst du doch selber nicht, sagte er. Wir sind doch schon heftig bei dieser Reise um die Welt. Nur anders, als Kleist sie sich vorstellen konnte: Nicht mit der Kutsche. Mit Raketen. Wir suchen den Hintereingang, und wenn der auch geschlossen sein sollte, werden wir ihn aufsprengen. Notfalls mit Atombomben. Herzlichen Dank, sagte ich. Das hilft mir beim Einschlafen.17
Kleist, jener Engel der DDR-Geschichte, spukt in vielerlei Hinsicht als poetologische Projektionsfolie auch durch das Werk der Kleist-Preisträgerin Monika Maron, die 1941 in Berlin geboren wurde und 1988 aus der DDR ausreiste, in der sie ihre Texte nie veröffentlichen konnte. Im Roman Animal Triste (1996) lässt Maron ihre Erzählerin, die kurz nach dem Zeitenumbruch der Wiedervereinigung als Paläontologin im Ost-Berliner Naturkundemuseum auf Franz, einen Hautflüglerforscher aus Ulm treffen und sich in diesem verlieben, ununterbrochen aus Penthesilea zitieren, weil sie mit ihrer Freundin Beate die Rolle für deren Aufnahmeprüfung an der Schauspielschule einstudiert. Am Ende erfährt man, dass die Erzählerin Penthesileas Liebeskonzept des „Gewinnens oder Tötens“ als Hauptmotiv ihres tierischen Verlangens nach Franz verinnerlicht hat: „[E]s gibt nicht nur die Penthesilea, es gibt auch das demütige, aber ebenso halsstarrige Käthchen von Heilbronn. Es läuft aufs gleiche hinaus: ‚...dich zu gewin18 nen oder umzukommen.‘“ Umkommen wird aber der Mann, der Geliebte Franz. Weil sie ihn nicht haben kann, tötet sie ebenfalls aus tierischer Liebe.19
17 Wolf, Stadt der Engel (2010), S. 353f. 18 Maron, Animal Triste (1996), S. 175. 19 Weitere kleinere Kleistanspielungen finden sich in Endmoränen (2003) und der Fortsetzung Ach Glück (2007), wo die Protagonistin Johanna mit Achim zusammenlebt, einem zurückgezogenen Mann, der sein Leben einer nicht enden wollenden Kleist-
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Kleist ist bei diesen Autoren, von denen viele sich nach der Wiedervereinigung ortlos fühlten, ein fester Code, eine Chiffre, die auf das Was bleibt ihres künstlerischen Schaffens in der DDR zurückverweist und dessen sie sich schaffend in der gesamtdeutschen Gegenwart vergewissern. Vielmehr als die verschiedenen Anspielungen auf Kleist scheint aber die Kontinuität einer literarisch-ästhetisch Autoren- und Theaterschaffendenhaltung ausschlaggebend zu sein, die weiterhin mit der Erinnerung an ihre Kulturproduktion in der DDR nachbebt. Die besondere Beziehung einer bestimmten dialektischen DDR-Kulturtradition mit Kleist hat mehrere Generationen ostdeutscher Autoren und Regisseure geprägt, die nunmehr jene ostdeutsche Leere bespielen, nachdem westdeutsche Narrative die Deutungshoheit übernahmen, die jedoch der ostdeutschen Realität nie entsprachen, was nach aller anfänglichen Euphorie immer deutlicher hervortrat. Der dialektische Kleist zeigt, wie in Müllers Kleist-Preisrede 1990, dass Kleist nicht nur zu einem Sinnbild für jene marxistische Ästhetik und ihre DDR-Autorschaft geworden ist, sondern darüber selbst im Rückblick zu einem fingierten DDRAutor und Autorschaftsvorbild geworden ist, der sämtliche Phasen kultureller DDR-Identität durchlaufen hat und mit dem man die DDR etwas besser verstehen kann. Es gilt somit auch hier, wenn Günter Kunert sagt, dass Kleist zur Dialektik zwingt. Kleist hilft, die DDR differenzierter zu betrachten.
Forschung gewidmet hat. 2007 gab Elke Gilson zudem unter dem bezeichnenden Titel „Doch das Paradies ist verriegelt...“ Zum Werk von Monika Maron einen Werkskommentar heraus.
1. Anhaltinisches Landestheater Dessau Spielzeit 1949/50 Regie: Richard Ulrich 2. Deutsches Nationaltheater Weimar Spielzeit 1950/51 Regie: Kurt Bertschee 3. Theater der Jungen Welt Leipzig Spielzeit: 1950/51 Regie: Johannes Arpe 4. Gerhard-Hauptmann-Theater Görlitz Spielzeit 1950/51 Regie: Georg-Heinrich Lange 5. Brandenburgisches Landestheater Spielzeit 1952/53 Regie: Ilse Laux 6. Bühnen der Stadt Gera Spielzeit 1952/53 Regie: Hans Alva 7. Berliner Ensemble Spielzeit 1952/53 Regie: Therese Giehse
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8. Leipziger Theater Spielzeit 1953/54 Regie: Artur Jopp 9. Theater Rudolstadt Spielzeit 1953/54 Regie: n.n. 10. Theater der Werftstadt Stralsund Spielzeit 1953/54 Regie: Rainer Reinhardt Lange 11. Thomas-Müntzer-Theater Eisleben Spielzeit 1954/55 Regie: Karl-Heinz Kahl 12. Theater Zwickau Spielzeit 1955/56 Regie: Heinz K.F. Wanke 13. Theater der Altmark Stendal Spielzeit 1955/56 Regie: Rolf Lünden 14. Städtisches Theater Karl-Marx-Stadt Spielzeit 1955/56 Regie: Adolf Loose 15. Kreistheater Karl-Marx-Stadt Spielzeit 1955/56 Regie: Siegfried Drechsel 16. Friedrich-Wolf-Theater Neustrelitz Spielzeit 1955/56 Regie: Carl Gert Zinser 17. Landestheater Eisenach Spielzeit 1956/57 Regie: Karl Niedworok
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18. Hans-Otto-Theater Potsdam (Tournee-Ensemble) Spielzeit 1957/58 Regie: Karl-Heinz Möbius 19. Volkstheater Rostock Spielzeit 1957/58 Regie: Hermann Wagemann 20. Kleist-Theater Frankfurt/Oder Spielzeit 1958/59 Regie: Manfred Banach 21. Kreistheater Annaberg Spielzeit 1958/59 Regie: Gerhard Pröhl 22. Gerhard-Hauptmann-Theater Görlitz Spielzeit 1959/60 Regie: Wolfram Lindner 23. Kreistheater Borna Spielzeit 1959/60 Regie: Erich Westphal 24. Städtisches Dorftheater Prenzlau Spielzeit 1960/61 Regie: Kurt-Frank Zwarg 25. Volkstheater Cottbus Spielzeit 1960/61 Regie: Klaus-Martin Boestel 26. Städtische Bühnen Quedlinburg Spielzeit 1960/61 Regie: Curt Trepte 27. Theater der Werftstadt Stralsund Spielzeit 1961/62 Regie: Claus-Martin Winter
306
28. Maxim-Gorki-Theater Berlin Spielzeit 1961/62 Regie: Maxim Vallentin 29. Hans-Otto-Theater Potsdam Spielzeit 1961/62 Regie: Erwin Arlt 30. Theater Plauen Spielzeit 1961/62 Regie: Harald Moszdorf 31. Theater der jungen Generation Dresden Spielzeit 1962/63 Regie: Helfried Schöbel 32. Leipziger Theater Spielzeit 1962/63 Regie: Günter Schwarzlose 33. Volkstheater Halberstadt Spielzeit 1963/64 Regie: Werner Wedding 34. Staatstheater Schwerin Spielzeit 1965/66 Regie: Wolfgang Böttcher 35. Meininger Theater Spielzeit 1965/66 Regie: Fred Grasnick 36. Theater Rudolstadt Spielzeit 1965/66 Regie: Manfred Autengruber 37. Nationaltheater Weimar Spielzeit 1966/67 Regie: Fritz Bennewitz
307
38. Theater der Stadt Brandenburg Spielzeit 1966/67 Regie: Gernot Schulze 39. Volkstheater Rostock Spielzeit 1966/67 Regie: Wolfram Lindner 40. Theater Prenzlau Spielzeit 1967/68 Regie: Helmut Krenzlau 41. Bühnen der Stadt Gera Spielzeit 1967/68 Regie: Manfred Patschke 42. Staatsschauspiel Dresden Spielzeit 1968/69 Regie: Helfried Schöbel 43. Landestheater Eisenach Spielzeit 1968/69 Regie: Walter Schmidt 44. Theater der Jungen Welt Leipzig Spielzeit: 1970/71 Regie: Günter Schwarzlose 45. Theater Karl-Marx-Stadt Spielzeit 1970/71 Regie: Helfried Schöbel 46. Theater der Altmark Stendal Spielzeit 1970/71 Regie: Hans-Georg Türck 47. Volksbühne Berlin Spielzeit 1971/72 Regie: Ernstgeorg Hering
308
48. Hans-Otto-Theater Potsdam Spielzeit 1971/72 Regie: Günter Rüger (?) 49. Theater Plauen Spielzeit 1973/74 Regie: Hartmut Ostrowsky 50. Theater Magdeburg Spielzeit 1974/75 Regie: Dieter Roth 51.. Thomas-Müntzer-Theater Eisleben Spielzeit 1964/65 Regie: Gerhard Neumann 52. Volkstheater Cottbus Spielzeit 1975/76 Regie: Gert Jurgons 53. Deutsches Theater Berlin (zusammen mit Prinz Friedrich von Homburg) Spielzeiten 1975-77 Regie: Adolf Dresen 54. Städtische Bühnen Quedlinburg Spielzeit 1976/77 Regie: Wolf Sabo 55. Volkstheater Rostock Spielzeit 1977/78 Regie: n.n. 56. Landestheater Stralsund Spielzeit 1978/79 Regie: Gertrude Schareck (?) 57. Kleist-Theater Frankfurt/Oder Spielzeit 1982/83 Regie: Wilfried Mattakert
309
58. Hans-Otto-Theater Potsdam Spielzeit 1982/83 Regie: Piet Drescher 59. Volksbühne Berlin Spielzeit 1983/84 Regie: Helmut Straßburger / Ernstgeorg Hering 60. Theater Eisenach (zusammen mit Prinz Friedrich von Homburg) Spielzeit 1986/87 Regie: Michael Grosse 61. Theater Rudolstadt Spielzeit 1987/88 Regie: Konstanze Lauterbach (?) 62. Eduard-von-Winterstein-Theater Annaberg Spielzeit 1987/88 Regie: Götz Langer 63. Arbeitertheater SDAG Wismut Gera 1988 64. Städtische Bühnen Quedlinburg Spielzeit 1989/90 Regie: Hans-Joachim Böttger 65. Deutsches Theater Spielzeit 1990/91 Regie: Thomas Langhoff 1. Staatsschauspiel Dresden Spielzeit 1955/56 Regie: Fritz Wendel
310
2. Volkstheater Halberstadt Spielzeit 1961/62 Regie: Gerd Naumann 3. Anhaltisches Theater Dessau Spielzeit 1961/62 Regie: Arno Wolf 4. Theater Plauen Spielzeit 1961/62 Regie: Adolf Loose 5. Nationaltheater Weimar Spielzeit 1962/63 Regie: Fritz Bennewitz 6. Nationaltheater Weimar Spielzeit 1967/68 Regie: Fritz Bennewitz 7. Theater Zwickau Spielzeit 1967/68 Regie: Wolfgang Keymer 8. Theater Brandenburg Spielzeit 1968/69 Regie: Werner Freese 9. Leipziger Theater Spielzeit 1969/70 Regie: Karl Georg Kayser 10. Theater Karl-Marx-Stadt Spielzeit 1969/70 Regie: Gerhard Meyer 11. Landestheater Stralsund Spielzeit 1972/73 Regie: K. Fiedler (?)
311
12. Volkstheater Cottbus Spielzeit 1975/76 Regie: Ekkehard Dennewitz 13. Deutsches Theater Berlin (zusammen mit Der zerbrochne Krug) Spielzeiten 1975-77 Regie: Adolf Dresen 14. Theater Plauen Spielzeit 1976/77 Regie: Hartmut Ostrowsky 15. Kleist-Theater Frankfurt/Oder Spielzeit 1977/78 Regie: Wolfgang Fleischmann 16. Theater der Altmark Stendal Spielzeit 1981/82 Regie: Hans Falckner / Rainer Gerlach 17. Hans-Otto-Theater Potsdam Spielzeit 1981/82 Regie: Günter Rüger 18. Bühnen der Stadt Gera Spielzeit 1981/82 Regie: Klaus Krempe 19. Anhaltisches Theater Dessau Spielzeit 1982/83 Regie: Klaus Stephan 20. Meininger Theater Spielzeit 1986/87 Regie: n.n. 21. Landestheater Eisenach (zusammen mit Der zerbrochne Krug) Spielzeit 1986/87 Regie: n.n.
312
22. Theater im Palast Berlin Spielzeit 1987/88 Regie: Helga Oelschlegel 23. Deutsches Theater Berlin Fernsehinszenierung 1989 Regie: Fritz Bornemann 24. Berliner Ensemble: Spielzeit 1990/91 Regie: Manfred Wekwerth 25. Kleist-Theater Frankfurt/Oder Spielzeit 1991/92 Regie: Marie-Luise Preuß 1. Kleist-Theater Frankfurt/Oder Spielzeit 1952/53 Regie: Heinz Isterheit 2. Theater Plauen Spielzeit 1953/54 Regie: Hannsjosef Bolley 3. Leipziger Theater Spielzeit 1955/56 Regie: Rudi Kurz 4. Bühnen der Stadt Gera Spielzeit 1955/56 Regie: Hans Alva 5. Meininger Theater Spielzeit 1956/57 Regie: Fritz Bennewitz
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6. Volkstheater Cottbus Spielzeit 1961/62 Regie: Wolfram Lindner 7. Theater Annaberg Spielzeit 1962/63 Regie: Roland Gandt 8. Landestheater Schwerin Spielzeit 1962/63 Regie: William Adelt 9. Kleist-Theater Frankfurt/Oder Spielzeit 1965/66 Regie: Carl Rüdiger 10. Theater Plauen Spielzeit 1968/69 Regie: Klaus Krampe 11. Kammerspiele Leipzig Spielzeit 1971/72 Regie: Peter Förster 12. Brandenburger Theater Spielzeit 1972/73 Regie: Manfred Dietrich (?) 13. Theater Rudolstadt Spielzeit 1973/74 Regie: Eckart Heinrichs 14. Hans-Otto-Theater Potsdam Spielzeit 1976/77 Regie: Uta Birnbaum 15. Landestheater Schwerin Spielzeit 1977/78 Regie: Istvän Iglödi
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16. Volkstheater Rostock Spielzeit 1977/78 Regie: Wilfried Kretzschmer 17. Maxim-Gorki-Theater 18. Spielzeit 1982/83 Regie: Karl Gassauer 19. Theater Magdeburg Spielzeit 1983/84 Regie: Annegret Hahn 20. Staatsschauspiel Dresden Spielzeit 1991/92 Regie: Irmgard Lange 1. Theater Magdeburg Spielzeit 1956/57 Regie: Klaus Geißler 2. Harzer Bergtheater Thale Spielzeit 1961 Regie: Curt Trepte 3. Kleist-Theater Frankfurt/Oder Spielzeit 1961/62 Regie: Hansjörg Schneider 4. Volksbühne Berlin Spielzeit 1976/77 Regie: Kurt Hübner
5. Nationaltheater Weimar Spielzeit 1977/78 Regie: Fritz Bennewitz
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6. Staatsschauspiel Dresden Spielzeit 1977/78 Regie: Hannes Lange 7. Landestheater Eisenach Spielzeit 1977/78 Regie: Dieter Roth 8. Anhaltisches Theater Dessau Spielzeit 1977/78 Regie: Karl Mennerich 1. Burgfestspiele Bad Düben 1951 Regie/Adaption: Willy Winkler 2. Harzer Bergtheater Thale Spielzeit 1963 Adaption: Horst und Ursula Wendler Regie: Curt Trepte 3. Arbeiter- und Bauerntheater Naturbühne Bauerbach 1966 Adaption: Horst und Ursula Wendler 4. Deutsches Theater Berlin Spielzeiten 1977/78 Regie/Adaption: Adolf Dresen 1. Meininger Theater Spielzeit 1978/79 Regie: Werner Freese
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2. Staatsschauspiel Dresden Spielzeit 1986/87 Regie: Wolfgang Engel 1. Bergtheater Thale Spielzeit 1957 Regie: Curt Trepte 2. Kleist-Theater Frankfurt/Oder Spielzeit 1987/88 Regie: Michael Funke 3. Leipziger Theater Spielzeit 1988/89 Regie: Karl Georg Kayser 1. Kleist-Theater Frankfurt/Oder Spielzeit 1990/91 Regie: Michael Funke
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Kurz & Knapp Zur Mediengeschichte kleiner Formen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart Mai 2017, 398 S., kart., zahlr. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3556-0 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3556-4
Solvejg Nitzke
Die Produktion der Katastrophe Das Tunguska-Ereignis und die Programme der Moderne Mai 2017, 358 S., kart. 36,99 € (DE), 978-3-8376-3657-4 E-Book: 36,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3657-8
Stephanie Bung, Jenny Schrödl (Hg.)
Phänomen Hörbuch Interdisziplinäre Perspektiven und medialer Wandel 2016, 228 S., kart., Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3438-9 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3438-3
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Literaturwissenschaft Uta Fenske, Gregor Schuhen (Hg.)
Geschichte(n) von Macht und Ohnmacht Narrative von Männlichkeit und Gewalt 2016, 318 S., kart. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3266-8 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3266-2
Stefan Hajduk
Poetologie der Stimmung Ein ästhetisches Phänomen der frühen Goethezeit 2016, 516 S., kart. 44,99 € (DE), 978-3-8376-3433-4 E-Book: 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3433-8
Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)
Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 8. Jahrgang, 2017, Heft 1 August 2017, 208 S., kart. 12,80 € (DE), 978-3-8376-3817-2 E-Book: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3817-6
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