Zwischen den Knien der Autorität: Mythos, Liebe, Macht in Heinrich von Kleists »Das Käthchen von Heilbronn« 9783737004404, 9783847104407, 9783847004400


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German Pages [296] Year 2015

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Zwischen den Knien der Autorität: Mythos, Liebe, Macht in Heinrich von Kleists »Das Käthchen von Heilbronn«
 9783737004404, 9783847104407, 9783847004400

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Schriften der Wiener Germanistik

Band 2

Herausgegeben von Konstanze Fliedl, Eva Horn, Roland Innerhofer, Matthias Meyer, Stephan Müller, Annegret Pelz und Michael Rohrwasser

Die Bände dieser Reihe sind peer-reviewed.

Philipp Scholze

Zwischen den Knien der Autorität Mythos, Liebe, Macht in Heinrich von Kleists »Das Käthchen von Heilbronn«

V&R unipress Vienna University Press

®

MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen

www.fsc.org

FSC® C083411

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0440-7 ISBN 978-3-8470-0440-0 (E-Book) ISBN 978-3-7370-0440-4 (V&R eLibrary) Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Veröffentlichungen der Vienna University Press erscheinen im Verlag V&R unipress GmbH. © 2015, V&R unipress GmbH in Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Philipp Scholze 1979 – 2015 Dieses Buch sei dem Autor selbst gewidmet und all jenen, die es für ihn stellvertretend in Händen halten.

Inhalt

1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

2. Von Gedanken und Marionetten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden 2.1.1. Erregung des Gemüts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2. Der Umsturz der Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3. Mangel der Erregung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.4. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Über das Marionettentheater . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1. Schwerpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2. Mensch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3. Un-Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.4. Der Bär . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.5. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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17 20 24 33 37 42 43 50 53 57 65 69

3. Die Fragmente . . . . . . . . . . . . . . 3.1. »Phöbus«-Fragmente vs. Erstdruck . 3.1.1. Erstes Fragment . . . . . . . . 3.1.2. Zweites Fragment . . . . . . . 3.1.3. Resümee . . . . . . . . . . . .

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71 73 74 87 98

4. Die Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1. Sprechende Namen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2. Namenssemantik und metonymische Verweise . . . . . . . . . . .

103 103 104

5. Wesentliche Implikationen des »Käthchens« . 5.1. Exkurs: Groteske . . . . . . . . . . . . . 5.2. Der Mythos . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1. Narrative Kerne . . . . . . . . . . . 5.2.2. Der Messias – die Jungfrau . . . . .

115 117 125 131 133

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8

Inhalt

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140 148 160 161 167 171 177 190 197 198 201 204 208 212

6. Konklusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

215

7. Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

221

8. Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

231

5.2.3. Traum vs. Erscheinung . . . . . 5.2.4. Der Wahnsinn . . . . . . . . . . 5.2.5. Resümee . . . . . . . . . . . . . 5.3. Die Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1. Schau und Vogelfang . . . . . . 5.3.2. Das Zeichen . . . . . . . . . . . 5.3.3. Identität . . . . . . . . . . . . . 5.3.4. Anerkennung . . . . . . . . . . 5.3.5. Resümee . . . . . . . . . . . . . 5.4. Die Macht . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1. Das Geschlecht der Macht . . . 5.4.2. Der Vater . . . . . . . . . . . . 5.4.3. Der Stellvertreter . . . . . . . . 5.4.4. Trinität – Symbolische Ordnung

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Die Fiktion wirkt also wie ein Spiegel, in dem die Gesellschaft ihre eigene Kontingenz reflektiert. (Elena Esposito)

1.

Einleitung Doch handeln im Sinne der so sehnlichst angestrebten Aktivität ist eigentlich nichts anderes als reagieren, wiederholen, sich fieberhaft einem bereits gegebenen, beziehungsweise installierten (gestellten*?) Spiel so gut wie möglich anpassen.1

Ausgangspunkt für die intensive Beschäftigung mit Heinrich von Kleists »Das Käthchen von Heilbronn«2 war die im Rahmen einer Diskussion über die Theatertauglichkeit des Stücks gestellte Frage: »Warum schmeißt sich ein fünfzehnjähriges Mädchen aus dem ersten Stock auf die Straße?« Als Herangehensweise an das »Käthchen« wählte ich zunächst die Untersuchung der in diesem Drama behandelten Gender-Thematik. Ich kam zu diesem Entschluss, weil die »Penthesilea« von Heinrich von Kleist, das Pendant des »Käthchens« (von Kleist selbst als solches bezeichnet3), hinsichtlich dieses Problemfeldes in großem Umfang untersucht wurde, doch über »Käthchen« noch kein expliziter Text dahingehend vorliegt. Wenn sich eine Studie mit den sozialen Funktionen der Geschlechterrollen im »Käthchen« befasst hat, dann unter dem Gesichtspunkt des Abbilds der »Penthesilea«. Käthchen entspricht der männlichen Vorstellung einer vollkommen liebenden Frau. Sie huldigt dem Auserwählten, läuft ihm nach, um bei ihm zu sein, hilft in der Not, rettet ihn, gehorcht ihm, verhält sich passiv, ist unterwürfig, treu und darüber hinaus noch schön anzusehen; kurz: sie liebt ihren Auserwählten und tut was ihr Herr sagt. In meinen Augen muss dem Käthchen jedoch eine viel aktivere Rolle zugeschrieben werden, als dies bisher getan wurde. Das Bild der hörigen Frau müsste dahingehend revidiert werden, dass Käthchen im Gegenteil männlichen Wünschen, Aufforderungen und Anweisungen zuwiderläuft und den Weg ihrer eigenen Bestimmung wählt. 1 Lyotard, Jean-François: Das Inhumane. Plaudereien über die Zeit. Aus dem Französischen von Christine Pries. Hrsg. v. Peter Engelmann. Wien: Passagen 2006, S. 136 (Hervorh. F. L.). 2 In weiterer Folge »Käthchen«. 3 »Denn wer das Käthchen liebt, dem kann die Penthesilea nicht ganz unbegreiflich sein, sie gehören ja wie das + und das – der Algebra zusammen, und sind Ein und dasselbe Wesen, nur unter entgegengesetzten Beziehungen gedacht.« (SWB II, 912, 14 ff.) Heinrich von Kleists Werke zitiere ich, wenn nicht anders angegeben, aus der Münchner Ausgabe von 2010. Kleist, Heinrich von: Sämtliche Werke und Briefe. Münchner Ausgabe. Auf der Grundlage der Brandenburger Ausgabe hrsg. v. Roland Reuß und Peter Staengle. München, Frankfurt am Main: Hanser, Stroemfeld 2010. Im Text angegeben als: (SWB I – III, Seitenzahl, Zeile).

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Einleitung

Während der Auseinandersetzung mit dem »Käthchen« in Hinblick auf die Geschlechterrollen und ihre Dynamiken hat sich immer deutlicher herauskristallisiert, dass diese in ihren Verstrickungen weit verzweigt und recht komplex angelegt sind. Um die Thematik zielführend bearbeiten zu können, musste ich den Blickwinkel erweitern. Daher gliedert sich die Arbeit nun in drei große Themenblöcke, die mit dem »Käthchen« in direktem Kontakt stehen und innerhalb derer sich die Bedeutungen des Geschlechtsbegriffs in all ihren Schattierungen abzeichnen. Es sind dies die mythologischen Verweise, die Liebes- und Zuneigungsbeziehungen sowie die Herrschaftsthematisierung und Machtdarstellungen – auf die schlussendlich alles hinausläuft. Diese Themen sind auf konkrete Geschlechterrollenkonzepte und ihre soziale Situierung hin ausgerichtet, wodurch die Gender-Thematik in allen Bereichen mitschwingt und diesbezügliche Thesen aufgestellt werden können. Im weiteren Verlauf der Untersuchung stellten sich zwei Prosa-Schriften von Heinrich von Kleist als unabdingbare Referenzwerke für die gestellten Fragen heraus: zum einen der Aufsatz »Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden« und zum anderen der Text »Über das Marionettentheater«.4 Aus diesem Grund stehen sie am Anfang meiner Arbeit. So wie die Entstehungszeiten der beiden Texte jene des »Käthchens« zeitlich umrahmen, finden sich auch bezüglich der jeweiligen Themenkreise Entsprechungen. Das »Marionettentheater« liefert unter anderem den Begriff der Grazie, der von der Forschung auch dem Käthchen zugesprochen wird.5 Der »Sprachessay« enthält Motive und Ansätze, die im »Käthchen« wieder auftauchen, z. B. die Entstehung von Bedeutung in Hinblick auf ihre Veränderbarkeit. Nicht zuletzt lässt sich eine Verbindung zwischen dem »Donnerkeil« aus dem Essay und Graf Wetter vom Strahl herstellen, dessen Namen schon den Bezug zu Donner und Blitz innewohnt. Eine weitere Parallele ergibt sich aus der Tatsache, dass der »Sprachessay« wie das »Marionettentheater« als Gespräche, als dialogische Form konzipiert sind. Trotz allem spreche ich diesen beiden Prosa-Schriften keine Schlüsselfunktion6 im Schaffen Heinrich von Kleists zu, sondern lese sie vielmehr in 4 Aus Gründen der Effizienz nenne ich in weiterer Folge »Über das Marionettentheater« »Marionettentheater« und für »Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden« verwende ich, angelehnt an den Begriff »Sprachaufsatz« von Gabriele Kapp, die Bezeichnung »Sprachessay«. Kapp, Gabriele: »Des Gedankens Senkblei«. Studien zur Sprachauffassung Heinrich von Kleists 1799 – 1806. Stuttgart, Weimar: Metzler 2000. 5 »So wurde die Beschreibung der Marionette z. B. als indirekte Darstellung des Kleistschen Stils oder als Charakteristik seiner Dramenfiguren aufgefaßt.« Theisen, Bianca: Bogenschluß. Kleists Formalisierung des Lesens. Freiburg im Breisgau: Rombach 1996, S. 43. 6 Allemann, Beda: Sinn und Unsinn von Kleists Gespräch ›Über das Marionettentheater‹. In: Kleist-Jahrbuch (1981/82), S. 50 – 65, hier S. 51; Eybl, Franz M.: Kleist-Lektüren. Wien: WUV, Facultas 2007, S. 255. Ich möchte dagegenhalten, dass die Einstufung eines Textes als Schlüssel für das Werk eines Autors (oder einen Teil seines Werks), obwohl er dies nicht dezidiert sagt,

Einleitung

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Hinblick auf die Annahme der unterirdischen Verbindung7 Kleist’scher Texte von Michael Rohrwasser oder Gabriele Kapps Vergleich mit einer »Drehscheibe«8. Dem Hauptteil geht weiters ein ausführlicher Vergleich der Buchfassung mit der »Phöbus«-Fassung des »Käthchens« voran. Das Drama wurde für die Buchfassung einer Bearbeitung unterzogen, die zu einigen markanten Unterschieden führte. Diese wurden meines Wissens noch nicht aufgearbeitet. Darüber hinaus hat Kleist selbst kundgetan, dass er den Schritt der Bearbeitung bereue. Es scheint also sinnvoll, ein Auge auf diese Unterschiede zu werfen. Beispielsweise fehlt gegen Ende des 2. Akts die als Doppeltraum bekannte Erscheinung Käthchens und des Grafen in der »Phöbus«-Fassung gänzlich; dafür enthält diese wiederum eine Abhandlung Kunigundes über die semiologische Bedeutung von Kostümierung und Schmückung für den Ausdruck des Körpers. Ein weiterer Grund für diese Gegenüberstellung liegt darin, dass die Figur der Kunigunde in den Fragmenten deutlicher gezeichnet ist und eindeutiger in Verbindung mit dem Totenreich gebracht wird; eine Darstellung, die so explizit in der Buchfassung fehlt. Als Vergleichshilfe habe ich im Anhang beide Fassungen gegenübergestellt. Das Kapitel »Sprechende Namen« arbeitet die Fülle der metaphorischen Bezüge der Personennamen heraus. Sich mit diesen zu beschäftigen, scheint schon insofern abgebracht, als im »Käthchen« Bedeutungsinhalte in den Namen zu finden sind, die essentielle Informationen über die Figuren geben und ihre Handlungen und Sichtweisen nachvollziehbarer machen. Nach und nach zeigte sich, dass mir gängige grundlegende Theorien zu Kleist und seinen Texten für meine Fragestellung nicht weiterhalfen. Ganz im Gegenteil hatte ich das Gefühl, mich im Kreis zu drehen und Widersprüchlichkeiten nicht ausräumen zu können. Aus diesem Grund habe ich beschlossen, geläufige Theoriegebilde zu Kleist und seinem Schaffen beiseite zu lassen und einen anderen Weg einzuschlagen. Bei den angesprochenen Theorien handelt es sich um die sogenannte »Kant-Krise«9 und den »Mesmerismus«10 als Grundlage für die anderen Texte immer unter Vorbehalt betrachten lässt. »Ebensowenig wie sein Pendant, der Aufsatz Über das Marionettentheater, kann der Sprachaufsatz als ein ›Schlüsseltext‹ angesehen werden; keineswegs figuriert er als eine Art Code-Knacker der sanktifizierten dichterischen Werke Kleists.« Kapp 2000, S. 404. 7 Rohrwasser, Michael: Eine Bombenpost. Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Schreiben. In: Heinrich von Kleist. Text und Kritik. Sonderband. Hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold in Zusammenarbeit m. Roland Reuß u. Peter Staengle. München: Ed. Text + Kritik 1993, S. 151 – 162, hier S. 160. 8 Kapp 2000, S. 404. 9 »Die ›Kant-Krise‹ ist ein alleiniges Phänomen der Briefe Kleists sowie der sonstigen Quellen, nicht jedoch ein den poetischen Texten primär ablesbares Konstituens […]. Sie gehört nach Meinung vieler Interpreten dennoch als lebens- und produktionsgeschichtliches Faktum

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Einleitung

somnambule oder traumhafte Szenen im »Käthchen«. Meiner Ansicht nach haben sich diese beiden Zugangsweisen zu Prämissen in der Behandlung Kleist’scher Texte entwickelt, die einen Schatten über sein Werk werfen. Dadurch wird mit einem Ausschlussverfahren gearbeitet, bei dem die textinterne Mehrdeutigkeit von Darstellungen, Begriffen und Passagen immer schon in Richtung dieser zwei großen Themenkomplexe gelesen und interpretiert wird. Kleists Texte oszillieren in sich, bringen multiple Ebenen zum Schwingen, ohne auf eine im Speziellen hinzuweisen. Begriffe, Wertigkeiten und Anschauungen werden so in Schwebe gehalten und können auf mehrere Inhalte gleichzeitig referieren. Durch eine Festlegung auf einzelne Sichtweisen geraten die Texte ins Stottern und können nicht alle Bedeutungen entfalten. Dem Hauptteil schicke ich außerdem einen Exkurs zur Groteske voraus. Dieser erklärt sich daher, dass durch die Verbindung Kunigundes mit dem Totenreich, ebenso wie durch ihre Form der Maskerade eindeutige Hinweise auf diese Erzählform gegeben sind. Es hat sich dabei gezeigt, dass die Form der literarischen Groteske einen Grundbaustein für den Aufbau des »Käthchens« darstellt. Die mythologischen Verweise im »Käthchen« sind Legion. Dabei handelt es sich, ganz im Sinne der Romantik, um eine Verschränkung von antiker und christlicher Mythologie. Ein weiterer essentieller Themenkreis ist die Liebe, die, von verschiedenen Standpunkten aus, heftig verlangt und eingefordert wird. So beginnt das »Käthchen« mit einer Gerichtsverhandlung, die aufgrund der Klage über Liebesentzug einberufen worden ist. Bei der Behandlung dieses Themas betrachte ich unter anderem die Möglichkeit der grundsätzlichen Anerkennung des anderen. Den Abschluss meiner Arbeit bildet die Thematik der Macht, auf die auch die bis dahin angestellten Analysen hinzielen. Dass es sich im »Käthchen« um die Form der patriarchalen Macht handelt, ist bekannt – im »Käthchen« treten sogar gleich drei Vaterfiguren auf. Doch kann diese Form nicht nur als Schablone für den Handlungsvorgang herangezogen oder als Verweis auf das + und –, auf die zur »Penthesilea« gegenteilige Position angesehen werden. Anhand der Untersuchung der drei großen Themen Mythos, Liebe und Macht im »Käthchen« können die komplexen Verschachtelungen, Geflechte und Abhängigkeiten moralischer Übereinkünfte im gesellschaftlichen Umgang mit kritischem Blick betrachtet werden. Es geht um eine prinzipielle Kritik an den geselluntrennbar zum Kleist’schen Werk […].« Eybl 2007, S. 35. Zur »Kant-Krise« siehe: Greiner, Bernhard: Eine Art Wahnsinn. Dichtung im Horizont Kants. Studien zu Goethe und Kleist. Berlin: Schmidt 1994, bes. S. 74 – 92; Eybl 2007, bes. S. 30 – 35; Kleist-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. v. Ingo Breuer. Stuttgart u. a.: Metzler 2009, bes. S. 206 ff. u. 304 f.; Mehigan, Tim: Heinrich von Kleist. Writing after Kant. New York: Camden House 2011. 10 Siehe z. B.: Weder, Kathrin: Kleists magnetische Poesie. Experimente des Mesmerismus. Göttingen: Wallstein 2008.

Einleitung

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schaftlichen Normen und dem Wertesystem. Vorgeführt wird eine fragile Form der Berufung der Macht auf einzelne Mythologeme bzw. Schriftstücke. Weiters stellt das Stück auch den Zusammenhang von Herrschaft und Geschlecht dar, die untrennbar miteinander verbunden sind. Diese Tatsache hat enorme Auswirkungen auf die Individuen, die Subjekte in einem Regierungssystem. Der Beantwortung der Ausgangsfrage nach dem Grund für den Sturz eines Mädchens aus dem ersten Stock auf die Straße konnte ich mit der Lektüre von Platons »Phaidros«11 näherkommen. Diese Lesart habe ich in einem Exkurs im Mythos-Kapitel dargelegt. Anzumerken ist noch der Hinweis auf die Zitierform der verwendeten Lexika und Wörterbücher. Das »Deutsche Wörterbuch« von Jacob und Wilhelm Grimm zitiere ich folgendermaßen: Grimm, DWB, Bandangabe, Spaltenangabe; wenn nicht anders angegeben entnehme ich die Zitate der Quelle: http://woerterbuchnetz.de/DWB/. Die Lexika: Adelung, Johann Christoph: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart; Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon; Brockhaus Kleines Konversations-Lexikon; Damen Conversations Lexikon; Hederich, Benjamin: Gründliches mythologisches Lexikon; Vollständiges Heiligen-Lexikon oder Lebensgeschichte aller Heiligen, Seligen etc. zitiere ich nach: http://www.zeno.org/. Als Fußnote ist der Name des Lexikons mit Jahreszahl, Band und/oder Seiten- bzw. Spaltenangabe angeführt, z. B.: Hederich 1770, Sp. 1401 ff.

11 Platon: Phaidros. In: Sämtliche Dialoge. In Verbindung mit Kurt Hildebrandt, Constantin Ritter u. Gustav Schneider hrsg. u. mit Einleitungen, Literaturübersichten, Anmerkungen u. Registern versehen von Otto Apelt. Bd. II. Menon, Kratylos, Phaidon, Phaidros. Hamburg: Felix Meiner 2004.

2.

Von Gedanken und Marionetten Die philosophische Frage nach dem Ursprung und dem Wesen der S p r a c h e ist im Grunde so alt wie die Frage nach dem Wesen und Ursprung des S e i n s .12

In seinem Aufsatz »Eine Bombenpost. Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Schreiben« bemerkt Michael Rohrwasser: »Kleists Texte sind unterirdisch verbunden, brechen ab und setzen sich fort, kommentieren sich, variieren und widersprechen einander«.13 Ausgehend von dieser These lässt sich für die Kleist’schen Texte »Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden« und »Über das Marionettentheater« feststellen, dass beide von der Seele, dem Geistigen, dem Bewusstsein, der Sprache und der Semantik handeln, nach einem dialogischen Prinzip (mit implizitem Leser)14 verfahren, physikalische Gesetze als Anschauungs- und Erklärungsbeispiele heranziehen sowie mit mathematischen Vergleichen arbeiten. Beim »Marionettentheater« ist die Thematik der Sprache insofern präsent, als sich Bewusstsein erst mittels Sprache einstellt.15 12 Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil. Die Sprache. Text u. Anmerkungen bearbeitet v. Claus Rosenkranz. Hamburg: Felix Meiner 2010, S. 51 (Hervorh. E. C.). 13 Rohrwasser 1993, S 160. Diese These stellt eine interessante Lektüreaufforderung dar. In Anlehnung an diese These werde ich Hinweise auf thematische Verbindungen in den von mir behandelten Arbeiten Heinrich von Kleists aufzeigen, aber keine weiteren Schlüsse dahingehend ziehen. 14 Für den »Sprachessay« siehe hierzu: Kapp 2000, S. 319; Eybl 2007, S. 69. 15 »Logos umfaßt bei Hamann Denken und Sprache. Wörter sind demnach sowohl reine als auch empirische Anschauungen sowie ebenso reine wie empirische Begriffe. Denken kann sich jedenfalls, darin stimmen Hamann, Herder und […] Wilhelm von Humboldt überein, nur in der Sprache vollziehen.« Riedl, Peter Philipp: Öffentliche Rede in der Zeitenwende. Deutsche Literatur und Geschichte um 1800. Tübingen: Niemeyer 1997, S. 121. »Sprache spielt also für Strukturierung von Bewußtsein, in gewisser Weise für die (operative) Entfaltung von Bewußtsein eine entscheidende Rolle. Diese Funktion ist auch für Kleist wesentlich, in seinem Aufsatz gleichwohl in einer sehr spezifischen Form. Das ist vor allem deswegen bemerkenswert, weil die allmähliche Verfertigung der Gedanken aus dieser Perspektive gerade kein Zeugnis einer Sprachkrise ist – im Gegenteil […]. Wird der enge Zusammenhang von Sprache und Bewußtsein anerkannt, ist der Aufsatz nicht nur nicht als Vorläufer des ›Marionettentheaters‹ zu verstehen, sondern steht sogar in einem Gegensatz dazu.« Paß, Dominik: Die Beobachtung der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden. Eine systemtheoretische Lektüre. In: Kleist-Jahrbuch (2003), S. 107 – 136, hier S. 113 f. (Hervorh. D. P.)

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Von Gedanken und Marionetten

Bewusstsein manifestiert sich durch die Sprache; Gedanken und Sprache sind untrennbar miteinander verbunden.16 Des Weiteren ist das »Marionettentheater«, mit der These Paul de Mans gelesen, auch ein Text über das Lesen, wodurch das Referenzsystem des Lesens – die Sprache und die Zeichen im Allgemeinen – auf den Plan tritt. Die Sprache und ihre Struktur wird anhand metaphorischer Beschreibungen aus dem Bereich des Mechanischen thematisiert. Im »Sprachessay« lässt sich das Mechanische, konkret bezogen auf die Sprache, an Ausdrücken wie »zur Fabrikation meiner Idee auf der Werkstätte der Vernunft« (SWB II, 285), der »Hemmschuh an dem Rade des Geistes« (SWB II, 287) oder »es ist so schwer, auf ein menschliches Gemüth zu spielen und ihm seinen eigenthümlichen Laut abzulocken, es verstimmt sich so leicht« (SWB II, 289) festmachen.17 Beim »Marionettentheater« ist das Mechanische mit dem Maschinisten und den Marionetten (Gliederpuppen) gegeben, aber auch der iterative Prozess des Übens eines Tänzers kann mit dem Mechanischen in Korrelation gebracht werden. Beiden Texten liegt die Annahme zugrunde, dass »die Kommunikation von Geist und Materie unter Ausschluß der reflexiven Tätigkeit des Bewußtseins«18 stattzufinden habe. Es geht um die Form der »Authentizität«, die »an die Bedingung der Abwesenheit von Bewußtsein, genauer: von dessen Vermögen zur Reflexion, Selbstbewußtsein also« geknüpft wird und nach dem authentischen resp. »spontanen« Handeln verlangt. Einem »Handeln ohne Subjekt«.19 Wie es ein Handeln ohne Subjekt gibt, so gibt es also auch ein Sprechen ohne Subjekt. Die Abwesenheit von Bewußtsein ist in der Sicht Kleists eine entscheidende Voraus16 »Und auch alle Selbstbeobachtung, auch alles Wissen von unseren eigenen inneren Zuständen ist weit mehr, als es uns gewöhnlich zum Bewußtsein kommt, durch die Sprache bedingt und durch sie vermittelt. Nicht nur das Denken ist, wie Platon es genannt hat, ein ›Gespräch der Seele mit sich selbst‹, sondern bis in die Schicht der Wahrnehmung und Anschauung, ja bis in die Tiefe des Gefühls reicht diese Verbundenheit und diese unlösliche Verschmolzenheit mit der Sprache zurück.« Cassirer, Ernst: Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt. In: Ders.: Symbol, Technik, Sprache. Aufsätze aus d. Jahren 1927 – 1933. Hrsg. v. Ernst Wolfgang Orth u. John Michael Krois unter Mitw. v. Josef M. Werle. Hamburg: Meiner 1985, S. 121 – 160, hier S. 125. Mit der Behandlung der Thematik des Bewusstseins ist ein grundlegendes philosophisches Problem berührt, da »schon der Gebrauch dieses Terminus mit Schwierigkeiten aller Art belastet« ist. Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil. Phänomenologie der Erkenntnis. Text und Anmerkungen bearbeitet von Julia Clemens. Hamburg: Felix Meiner 2010, S. 53. 17 Vgl. dazu: Knauer, Bettina: »… ein gewisser Zustand unsrer, welcher weiß«. Substitutionen und Legitimationsstrategien bei Kleist. In: Gewagte Experimente und kühne Konstellationen. Kleists Werk zwischen Klassizismus und Romantik. Hrsg. v. Christine Lubkoll u. Günter Oesterle. In Verb. m. A. Bormann, G. v. Graevenitz, W. Hinderer, G. Neumann u. D. Ottmann. Würzburg: Königshausen & Neumann 2001, S. 137 – 148, insb. 140. 18 Strässle, Urs: Heinrich von Kleist. Die keilförmige Vernunft. Würzburg: Königshausen & Neumann 2003, S. 166 (Hervorh. U. S.). 19 Ebd.

Von Gedanken und Marionetten

19

setzung für die Emergenz von Authentizität – sei es in Form einer Handlung, sei es in Form eines Sprechakts.20

Der »Sprachessay« galt eine Zeit lang als »bloße Vorstufe«21 zum »Marionettentheater«. Mittlerweile wird ihm mehr Aussagekraft beigemessen und Rohrwasser spricht beiden Texten sogar die gleiche diskursive Vorgehensweise zu: das Verfahren, den Ausgang des Textes nicht im Vorhinein zu bestimmen. Erst durch die allmähliche Verfertigung stellt sich Sinn ein. Die Aufsätze sind in dieser Hinsicht ihr eigener »Argumentationsgang«, ihre eigene »Beweisführung«.22 Bernhard Greiner bringt am Ende seiner Analyse des »Sprachessays« den Grazie-Begriff des »Marionettentheaters« mit der Sprachauffassung Kleists in Zusammenhang. Demzufolge ist der »Grazie-Diskurs […] in der Sprachreflexion und in der poetischen Praxis Kleists am Werke, als eine Art geometrischer Fluchtpunkt des Sprechens«. Greiner kommt zu der Schlussfolgerung, dass in dieser Verbindung der Grund für das Unerschöpfliche der Interpretationen zu Kleists Werken liegt.23 In beiden Texten ist weiters ein ironischer Unterton zu bemerken, der durch paradoxe Aussagen verstärkt wird. Zwei stilistische Merkmale, die in der Frühromantik bevorzugt zur Anwendung kamen. Friedrich Schlegel postuliert in seinen »Lyceum-Fragmenten« die »Sokratische Ironie« als »die einzige durchaus unwillkürliche, und doch durchaus besonnene Verstellung«24 und bringt die Ironie mit dem Paradoxon in Zusammenhang: »Ironie ist die Form des Paradoxen. Paradox ist alles, was zugleich gut und groß ist.«25 Zuerst wende ich mich nun dem »Sprachessay« zu, der »vom Ereignischarakter der Rede, vom Sprechen als produktiver Ursache sowohl neuartigen

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Strässle 2003, S. 167. Rohrwasser 1993, S. 152. Ebd., S. 154. Greiner, Bernhard: Kleists Dramen und Erzählungen. Experimente zum ›Fall‹ der Kunst. Tübingen, Basel: Francke 2000, S. 37 – 51, hier S. 51. Greiner erörtert den »Sprachessay« vorrangig hinsichtlich der Verbindungen zu Immanuel Kants »Kritik der reinen Vernunft«. 24 Schlegel, Friedrich: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hrsg. v. Ernst Behler u. Mitw. v. Jean-Jacques Anstett u. Hans Eichner, fortg. v. Andreas Arndt. 2. Bd. Charakteristiken und Kritiken I. (1796 – 1801). Hrsg. u. eingel. v. Hans Eichner. Paderborn, München, Wien: Schöningh 1967, S. 160. »In ihr soll alles Scherz und alles Ernst sein, alles treuherzig offen, und alles tief verstellt. Sie entspringt aus der Vereinigung von Lebenskunstsinn und wissenschaftlichem Geist, aus dem Zusammentreffen vollendeter Naturphilosophie und vollendeter Kunstphilosophie. Sie enthält und erregt ein Gefühl von dem unauflöslichen Widerstreit des Unbedingten und des Bedingten, der Unmöglichkeit und Notwendigkeit einer vollständigen Mitteilung. Sie ist die freieste aller Lizenzen, denn durch sie setzt man sich über sich selbst weg; und doch auch die gesetzlichste, denn sie ist unbedingt notwendig.« Ebd. 25 Ebd., S. 153.

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Denkens als auch neuartiger historischer Ereignisse«26 durch die Sprache handelt.

2.1. Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden Ein Zeichen ist etwas, das für einen Geist für ein anderes Ding steht. […] Also sind selbst die Gedanken noch Zeichen, die für andere Objekte des Denkens stehen.27

Der »Sprachessay«28 wurde zu Lebzeiten Kleists nie veröffentlicht, obwohl es den Versuch gab, ihn bei Cottas »Morgenblatt« zu verlegen.29 Der Text enthält keinen einzigen Absatz und entspricht der literarischen Form des Essays: »Der Essay ist so zu schreiben, wie wir denken, sprechen, für uns schreiben oder im Zusammenhang frei reden, Briefe schreiben […]«.30

26 Gailus, Andreas: Über die plötzliche Verwandlung der Geschichte durchs Sprechen. Kleist und das Ereignis der Rede. In: Kleist-Jahrbuch (2002), S. 154 – 164, hier S. 155. 27 Peirce, Charles S.: Semiotische Schriften. Bd. 1. 1865 – 1903. Hrsg. u. übers. v. Christian J. W. Kloesel u. Helmut Pape. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, S. 188 f. 28 Eine ausführliche Auflistung der Forschungslage siehe: Paß 2003, S. 108 f. (Anm. 9). 29 »Kleist […] wollte ihn wohl in Cottas Morgenblatt für gebildete Stände veröffentlichen.« Riedl, Peter Philipp: Die Macht des Mündlichen. Dialog und Rhetorik in Heinrich von Kleists Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden. In: Euphorion, Bd. 98 (2004), H. 2, S. 129 – 151, hier S. 131; siehe weiters: Kreutzer, Hans Joachim: Die dichterische Entwicklung Heinrichs von Kleist. Untersuchungen zu seinen Briefen und zu Chronologie und Aufbau seiner Werke. Berlin 1968, S. 205. Der heute vorliegende Text basiert auf der Handschrift eines Unbekannten, von derselben Hand, die von Kleists Drama »Penthesilea« eine Schreibkopie anfertigte. Für die Datierung des Aufsatzes wird von der Forschung die Zeit angenommen, in der Kleist in Königsberg lebte, also 1805/06. Vgl dazu: Kapp 2000, S. 295 f. Urs Strässle hingegen meint, der Essay sei »aller Wahrscheinlichkeit nach während seines Aufenthaltes in Dresden (1807/1808)« niedergeschrieben worden. Strässle 2003, S. 158. 30 Schlegel, Friedrich: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hrsg. v. Ernst Behler u. Mitw. v. Jean-Jacques Anstett u. Hans Eichner. Bd. 18. Philosophische Lehrjahre 1796 – 1806 nebst philosophischen Manuskripten aus den Jahren 1796 – 1828. Erster Teil. Mit Einleitung u. Kommentar hrsg. v. Ernst Behler. Paderborn, München, Wien: Schöningh 1963, S. 206 f. »Ein ›Essay‹ ist eine literarische Form der nicht-fiktionalen Prosa von überschaubarer Länge, in der ein frei gewähltes Thema in offenem Stil und allgemein verständlicher Sprache behandelt wird. Entsprechend seiner thematischen und stilistischen Flexibilität erscheint der Essay in praktisch allen Bereichen des öffentlichen und literarischen Lebens als experimentelle Form, die sich bewusst das Unabgeschlossene und noch nicht Fixierte zum Gegenstand wählt. […] Der Essay lässt zudem seinen experimentellen Charakter als Versuch offen zutage treten und kann in diesem Rahmen als eine Stilübung oder eine Selbstprüfung des Autors aufgefasst werden.« Handbuch der literarischen Gattungen. Hrsg. v. Dieter Lamping in Zusammenarbeit m. Sandra Poppe, Sascha Seiler u. Frank Zipfel. Stuttgart: Kröner 2009, S. 224. Über eine Uneinigkeit in der Gattungsfrage siehe: Kapp 2000, S. 290 ff.

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Eine Besonderheit des Textes ist seine explizite Adressierung: »An R. v. L.«31 (SWB II, 284, 3) Dieses Kürzel steht für Kleists (Brief-)Freund Johann Jakob Otto August Rühle von Lilienstern.32 In seiner Art und Weise ist der Essay nach dem mathematischen Prinzip der Gleichung aufgebaut; er sucht den »Ansatz, die Gleichung, die die gegebenen Verhältnisse [die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden] ausdrückt«.33 (SWB II, 284, 26 f.) Die wesentlichen Schritte, um zu einem Ergebnis zu kommen, werden in Form von Gleichnissen erörtert. Eine Gleichung stellt im mathematischen Sinn eine Gegenüberstellung zweier Werte, Begriffe dar, die im Idealfall in ein Verhältnis der Übereinstimmung gebracht werden. Das eine entspricht dem anderen, kann für das andere stehen. Linguistisch betrachtet kann dies auf die Entsprechung von Signifikant und Signifikat umgelegt werden – auch wenn die Beziehung zwischen den Zeichen nach Saussures Zeichentheorie und deren Weiterentwicklung dadurch nur vereinfacht und unvollständig dargestellt wird.34 Wie der Titel ankündigt, geht es um Gedanken, die sich während des Redens allmählich verfertigen, erst im Entstehen begriffen sind. Es geht um Prozesse, »um das Verfolgen der Dynamik eines Prozesses«.35 Der Essay erläutert anhand

31 Der Adressat steht zwischen dem Titel des Aufsatzes und dem Text. Die Adressierung kann hinsichtlich ihrer Wirkung auch als Widmung gelesen werden. 32 Rühle von Lilienstern war ein Freund, der ihn eine weite Strecke seines Lebens begleitete. Beide waren Fahnenjunker bei der Garde und gemeinsam unternahmen sie die ersten »Erkundungen auf den Feldern der Naturwissenschaft und der Philosophie« – ein Grund, warum Kleist den Essay Rühle gewidmet haben könnte. Ein anderer wäre dessen schriftstellerische Neigung und der Briefaustausch über dergleichen Thematiken. Schulz, Gerhard: Kleist. Eine Biographie. München: Beck 2007, S. 70 f.; »Man erinnert sich in diesem Zusammenhang daran, daß der fiktive Adressat des Sprachaufsatzes, Rühle von Lilienstern, ebenfalls mit der Erarbeitung von Sprachtheorien beschäftigt war[…].« Kapp 2000, S. 354. 33 »Wenn man den Leuten nur begreiflich machen könnte, dass es mit der Sprache wie mit den mathematischen Formeln sei – sie machen eine Welt für sich aus – sie spielen nur mit sich selbst, drücken nichts als ihre wunderbare Natur aus, und eben darum sind sie so ausdrucksvoll – eben darum spiegelt sich in ihnen das seltsame Verhältnisspiel der Dinge.« Novalis: Gesammelte Werke. Hrsg. v. Hans Jürgen Balmes. Frankfurt am Main: Fischer 2008 [Nach dem Erstdruck im Athenaeum 1798], S. 451. 34 Auf das Verhältnis von Kleist zur Zeichentheorie weist schon Eybl hin: »Das Geheimnis, das die sprachlichen Zeichen in ihrem problematischen Verhältnis zum Bezeichneten bergen – das ist das sprachliche Grundthema Kleists, und ein sehr modernes.« Eybl 2007, S. 74. 35 Kapp 2000, S. 306 sowie weiters S. 361. Es ist von Perioden, von Entwicklung, von Dauer die Rede und selbst im Titel steckt die Prozesshaftigkeit der Gedanken, der zeitlich fortschreitende Charakter der Rede: »Schon im Titel wird deutlich, was den Text […] auszeichnet: Das Nach-Außen-Stülpen innersubjektiver Reflexion in die soziale Konstellation geht hier grundsätzlich mit einer Inanspruchnahme von Zeit einher, rechnet auf das und mit dem Vergehen von Zeit.« Peters, Sibylle: Heinrich von Kleist und der Gebrauch der Zeit. Von der MachArt der Berliner Abendblätter. Würzburg: Königshausen & Neumann 2003, S. 140.

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mündlicher Kommunikation, geselliger Gespräche36 und machtergreifender Reden, wie Gedanken und Rede zusammenhängen, was Denken und Sprechen ausmacht. In dieser Hinsicht wird auch die Periode ins Spiel gebracht, sie »transponiert als rhetorische Figur am ehesten den Ablauf des Denkens in die Sprache«.37 Bei Kleist geht es bei der Periode aber nicht nur um die rhetorische Figur38, sie fungiert zugleich als mögliche Form des Erkenntnisgewinns und gleicht dem Verfahren des Essays, sein eigener Argumentationsgang zu sein, »ihr Ende, auf das sie hinstrebt, kann daher anfangs nicht abzusehen sein«.39 Der Kleistsche Begriff der »Periode« ermöglicht treffend in seiner gesamten semantischen Dimension eine Illustrierung der Hauptthese. […] ›Periode‹ wird damit […] zu einer sehr nützlichen Metapher für die Zentralthese, daß eine Rhythmisierung des Bewußtseins durch Sprache in der Zeit stattfindet – eine Rhythmisierung, die das Bewußtsein (und die gesuchte Intention) aus dem psychischen System ausdifferenziert.40

Formal stellt der »Sprachessay«, wie Gabriele Kapp verdeutlicht, ein »durchkomponiertes Ganzes«41 dar. Sein inhaltlich-thematischer Aufbau lässt aber eine Gliederung zu, die für die weiterführende Besprechung von Nutzen ist. Die 36 Riedl 2004, S. 143 f. 37 Theisen, Joachim: »Es ist ein Wurf, wie mit dem Würfel; aber es gibt nichts anderes«. Kleists Aufsatz Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geisteswissenschaft, 68. Jg. (1994), H. 4, S. 717 – 744, hier S. 733. Zur Periode siehe weiters Kapp 2000, S. 370 ff. 38 »Während die oratio perpetua geradlinig weiterschreitet […], ist die Periode ein kreisförmiges Gebilde […] derart, daß zu Anfang der Periode unfertige, integrationsbedürftige Gedankenelemente vorkommen, die erst am Schluß der Periode zum Gedankenganzen integriert werden, während die mittleren Teile durch dieses Verfahren umfaßt und auf das Ganze hinorientiert werden. Das Ende wird also erwartet […]. […] In der Periode werden also die die Periode zusammensetzenden Gedankenelemente in eine gegenseitige Beziehung gebracht, die für die kreisförmige Struktur des Ganzen nutzbar gemacht wird. Manchmal werden auch die umfassten mittleren Teile der Periode in eine gegenseitige Beziehung gebracht, so daß die Periode als umfassender Kreis mehrere Kreissysteme einschließt.« Lausberg, Heinrich: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. Vierte Aufl. Stuttgart: Steiner 2008, § 924. 39 Theisen 1994, S. 721 f.; »Hier reflektiert die Aussage unmittelbar sich selbst. Der Satz, der mit den Worten ›fertig ist‹ fertig ist, ist performativ: Er realisiert das, wovon er spricht – die Herstellung einer Erkenntnis beim Reden – dadurch, daß er davon spricht.« Groddeck, Wolfram: Die Inversion der Rhetorik und das Wissen von Sprache. Zu Heinrich von Kleists Aufsatz »Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden«. In: Kleist lesen. Hrsg. v. Marianne Schuller, Nikolaus Müller-Schöll unter Mitarb. v. Susanne Gottlob. Bielefeld: transcript 2003, S. 101 – 116, hier S. 110. Außerdem: »[…] Kleist wendet also in der Disposition genau jenes Gestaltungs-Gesetz an, dem auch der Beispielsatz zur Verfertigung der Periode unterstellt ist: Die Assoziationsketten sind nur scheinbar unverbunden; in Wirklichkeit erweisen sie sich, ästhetisch und logisch konsistent, eingebunden in eine in sich kohärente Komposition.« Kapp 2000, S. 374. 40 Paß 2003, S. 130. 41 Kapp 2000, S. 296.

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Forschung geht bei der Disposition von sechs Exempeln aus, die »mit Einleitungen, Überleitungen und Schlußreflexion versehen«42 sind. 1. Der Autor und seine Schwester 2. Molière und seine Magd 3. Mirabeau und der Gesandte des Königs 4. Die Lafontainesche Fabel von Fuchs und Löwe 5. Reden in der Gesellschaft 6. Der Student und seine Examinatoren43 Die Beispiele wurden außerdem in gelingendes und misslingendes Sprechen unterteilt, was Rohrwasser mit einer weiteren Differenzierung verbindet: Das Gelingen – in Wärme oder in Kriegssituationen – vollziehe sich mit dem Französischen, die misslingende Rede widerfahre dem Deutschen.44 Im Folgenden plädiere ich für eine drei- bzw. fünfgliedrige Einteilung, da dadurch m. E. die Parallelstruktur der Beispiele deutlicher zum Vorschein kommt und, im Sinne der gleichzeitigen Ausstrahlung der Punkte des Essays in mehrere Richtungen45, die Sinneinheiten des Textes besser dargestellt werden können. Die drei- bzw. fünfgliedrige Einteilung bewegt sich von den situationsbezogenen Inhalten weg und hin zur Behandlung der Themen als solche. Die Fünfteilung sieht folgendermaßen aus: 1. Das Gemüt 2. Das Gegenüber 3. Umsturz der Ordnung 4. Denken und Sprechen 5. Examen In der Dreiteilung lassen sich Punkt 1 und 2 sowie Punkt 4 und 5 subsumieren: 1. Erregung des Gemüts 2. Umsturz der Ordnung 3. Mangel der Erregung. Bis auf den fünften Punkt enden alle Teile mit einer Sentenz, die einem Resümee des vorangegangenen Abschnitts gleichkommt.46 Mit dem ersten und dem letz42 Rohrwasser 1993, S. 152. Vgl.: Theisen 1994, S. 720; Greiner 2000, S. 37; Paß 2003, S. 119; Riedl 2004, S. 133; Eybl 2007, S. 69. 43 Rohrwasser 1993, S. 152. 44 Ebd., S. 154. 45 Barthes, Roland: Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen. In: Ders.: Das semiologische Abenteuer. Aus dem Französischen v. Dieter Hornig. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 102 – 143, hier S. 132. 46 Nach der ersten Fassung des Essays stünde die letzte Sentenz näher mit dem Ende in Zu-

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ten Sinnspruch lassen sich die Hauptgedanken des Essays erläutern. Die Beziehungen des Denkens, des Sprechens und des Gemüts resp. unseres seelischen Zustands zueinander. Der Franzose sagt, l ’ a p p é t i t v i e n t e n m a n g e a n t , und dieser Erfahrungssatz bleibt wahr, wenn man ihn parodirt und sagt, l ’ i d é e v i e n t e n p a r l a n t . (SWB II, 284, 17 ff.; Hervorh. H. v. K.) Denn nicht wir wissen, es ist allererst ein gewisser Zustand unsrer, welcher weiß. (SWB II, 289, 4 f.; Hervorh. H. v. K.)

2.1.1. Erregung des Gemüts 2.1.1.1. Das Gemüt47 Der Essay postuliert Wissen durch spontane Rede zu erlangen. Hilft das stille Denken nicht weiter, führt das Darüber-Sprechen zum Ziel. Ausschlaggebend bei der wissenserlangenden Rede ist, »dreist damit den Anfang« (SWB II, 285, 3) zu machen, den Auftakt »auf gutes Glück« (SWB II, 285, 33 f.) zu setzen. Es geht schließlich nicht darum »Andere«, sondern sich selbst zu belehren. (SWB II, 284, 14; Hervorh. H. v. K.) Das Gemüt stellt die Grundlage für ein solches Reden dar, für die rhetorische Rede überhaupt.48 Es ist das Element, das in alle Richtungen des Essays ausstrahlt. Das Gemüt ist mit dem inneren Wesen, der Seele, unserem Zustand, der weiß, gleichzusetzen. Bezeichnet es doch »ursprünglich, wie der mut, u n s e r sammenhang, wodurch die Sentenzsetzung wieder der der vorangehenden entsprechen würde. Danach folgten lediglich zwei den Essay beschließende Sätze. Vgl. dazu: SWB III, 528 sowie die Brandenburger Ausgabe: Kleist, Heinrich von: Sämtliche Werke. Brandenburger Ausgabe. Hrsg. v. Roland Reuß u. Peter Staengle. Bd. II/9. Sonstige Prosa. Basel, Frankfurt am Main: Stroemfeld, Roter Stern 2007, S. 27 – 32, insbes. 31 f. 47 Die Gemütserregung spiegelt die Stellung der Rhetorik in dem Aufsatz wider. Schon Cicero erwähnt das Bestreben der Rhetorik, das Gemüt zu erregen. Es gibt »nichts Herrlicheres, als wenn man es vermag, die Menschen durch die Rede in seinen Bann zu schlagen, ihre Neigung zu gewinnen, sie zu verleiten, wozu man will, und abzubringen, wovon man will«. Cicero, Marcus Tullius: De oratore. Über den Redner. Lateinisch/Deutsch. Übers. u. hrsg. v. Harald Merklin. Stuttgart: Reclam 2010, S. 59. 48 »Da im Publikum starke Affekte nur erzeugt werden können, wenn der Redner selbst von den Affekten innerlich erfaßt ist, muß der Redner also […] die Erregung starker Gemütsbewegungen in der eigenen Seele wie ein vollkommener Schauspieler beherrschen […]. Die Vorstellungen, die der Redner in sich zur Aufstachelung des eigenen Pathos erzeugt, heißen φαντασίαι […].« Lausberg 2008, § 257, 3c. »Der Affekt und das unmittelbare Bedürfnis sind daher die ersten und wichtigsten Impulse zur Lautbildung überhaupt – und noch auf lange Zeit hin ist die Entwicklung der letzteren von diesen primären Kräften abhängig.« Cassirer 1985, S. 137; vgl. auch Strässle 2003, S. 165; Joachim Theisen verweist im Zusammenhang mit dem Gemüt auf Kants Verwendung des Begriffs in seiner »Kritik der reinen Vernunft«: Theisen 1994, S. 741 f.

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i n n e r e s überhaupt im unterschied vom körper oder leib, […] wie leib und seele«49. Es steht in engem Zusammenhang mit den Gedanken, denn »man thut etwas in seinem gemüt, in gedanken, im geiste«50 ; das Gemüt ist früher auch als »die wohn- und werkstätte der vorstellungen, inneren bilder, ideen«51 verstanden worden. Für Kapp handelt es sich bei Kleists Gemüts-Begriff um einen ambivalenten52, mit dem die Möglichkeit besteht, Kleists »poietisches Prinzip«53 darzustellen; sie spricht von dem Gemüt als der »Prägestätte des Schöpferischen«54 für Kleist, insofern, als »das Gemüt als eine für sinnliche und intellektuelle Eindrücke aufnahmebereite Stätte kreativer Ideen-Produktion«55 fungiert. Das Gemüt lässt sich als die Kraft verstehen, durch die Rede per se funktioniert. Der Rhetorik widersprechend scheinen die Zugangswege der Ausformulierung der durch das Gemüt in Gang gesetzten Gedanken zu sein. Damit es »zur Fabrikation […] [der] Idee auf der Werkstätte der Vernunft« kommen kann, muss im Namen des Gemüts das rhetorische aptum56 der elocutio verletzt werden: »[U]nartikulierte Töne« werden in die Rede gemischt, »Verbindungswörter in die Länge« gezogen, auch »Appositionen« verwendet, »wo sie nicht nötig« wären, und noch so manch andere »die Rede ausdehnender […] Kunstgriffe«. (SWB II, 285, 8 ff.) Es darf »gegen nahezu alle Gesprächsprinzipien verstoßen werden«: Der Redebeitrag stellt sich gegen das Quantitäts-, Qualitäts-, Relevanz- und Ausdrucksprinzip.57 Rhetorische Fähigkeiten werden erst dann wichtig, wenn die 49 Grimm, DWB, Bd. 4, Sp. 3294 (Hervorh. im Orig.); weiter: »[E]s fällt aber zugleich von je her mit seele und herz zusammen oder berührt sich nahe damit, nur dasz auch diese beide bis ins 18. jh. in unserm innenleben einen viel weiteren kreis beherrschen, als jetzt, beide z. b. auch am denken theil haben (vom denken der seele […]). […] so ist das wesentliche des begriffs die e i n h e i t u n s e r s i n n e r e n , in der auch der geist in dem heutigen engeren sinne mit aufgeht als in seinem ganzen, und zwar von der ältesten zeit her bis nahe an unsere zeit heran. es kommt darin mit s i n n ganz oder nahe überein, worin auch jener ursprünglichen einheit ein glücklicher ausdruck aus alter zeit her bewahrt geblieben ist bis heute.« Ebd., Sp. 3299 f. (Hervorh. im Orig.) Entstanden ist das Wort Gemüt als »Kollektivbildung zu Mut in dessen alter Bedeutung, also etwa ›Gesamtheit der seelischen Kräfte und Sinnesregungen‹«; daraus wurde der »Sitz der Empfindung«. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Kluge. Bearbeitet v. Elmar Seebold. 24., durchges. u. erw. Auflage. Berlin, New York: de Gruyter 2002. 50 Grimm, DWB, Bd. 4, Sp. 3295 (Hervorh. im Orig.). 51 Ebd., Sp. 3298. 52 Kapp 2000, S. 375. 53 Ebd., S. 377. 54 Ebd., S. 375. 55 Ebd., S. 376. 56 Riedl 2004, S. 140. Riedl erwähnt, dass Kleist das »Verhältnis von res und verba auf den Kopf« stellt und die »Machtzentrale der Rede vom planenden Verstand zur plötzlichen Intuition« verlagert. Riedl, Peter Philipp: Transformationen der Rede. Kreativität und Rhetorik bei Heinrich von Kleist. In: Kleist-Jahrbuch (2003), S. 79 – 106, hier S. 98. 57 Theisen 1994, S. 723. Es handelt sich dabei aber auch um den Vorgang, die »Vorstellung, dass ein Zeichen ein anderes ergebe«, wie Görner anmerkt. Im »Sprachessay« führt Kleist »die

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Erregung des Gemüts beim Versuch, den Gedanken auszudrücken, sinkt, dann ist es »um so unerläßlicher, daß […] die Sprache mit Leichtigkeit zur Hand« ist, damit das, was »gleichzeitig gedacht« wurde, aber doch nicht »gleichzeitig« gesagt werden konnte, »wenigstens so schnell, als möglich, auf einander« folgt. (SWB II, 288, 27 ff.) Auch um Gedanken wieder hervorzuholen, die wir schon einmal gedacht haben, ist es notwendig, das Gemüt in Erregung zu bringen; Gedanken lassen sich, in den richtigen (Gemüts-)Zustand versetzt, »mit Leichtigkeit durch Vergleichung, Absonderung, und Zusammenfassung« erneut erzeugen. (SWB II, 288, 38 f.) Ist die Erregung groß genug, befindet sich der Redner in einer bebenden Anspannung, in der ein Funke reicht, um den »Umsturz der Ordnung der Dinge« herbeizuführen, und »das Zucken einer Oberlippe« das ausdrucksvollste Moment der Rede ist.58 (SWB II, 286, 28 ff.) Dem sich entwickelnden Druck der Rede muss standgehalten werden und mehr noch, die Gemütsmaschine muss immer in Gang gehalten werden, damit es zu keinem Gedankenabfall kommt. Das Timing ist ausschlaggebend, denn »wenn der Geist schon, vor aller Rede, mit dem Gedanken fertig ist« (SWB II, 287, 38 f.), kommt es zu einem fast unüberwindlichen Hindernis. Dann kann es durchaus vorkommen, dass die Rede verpufft, weil die Gemütserregung nicht gehalten werden konnte. In diesem Fall wird das Gemüt in »seiner Erregung« gehemmt und die Rede misslingt. Bei den Beispielen des misslingenden Sprechens (Reden in der Gesellschaft und beim Examen) geht es nicht nur um das Fehlen der Gemütserregung, da es »in einer Gesellschaft, […] durch ein lebhaftes Gespräch, [zu] eine[r] continuierliche[n] Befruchtung der Gemüther« kommen kann. (SWB II, 288, 7 ff.) Das Misslingen beruht hierbei auf dem hinderlichen Prozess des Übergangs vom Denken zum Sprechen – der Ausdruck scheitert, weil die Idee schon fertig gedacht ist (aber womöglich die Wortwahl der Rede nicht zu der nunmehrigen Gesellschaftssituation passt). Beim Examen hingegen wird die Rede durch einen Mangel an produktiver Erregung gehemmt; gelingt es doch eher, ein Examen mit auswendig gelerntem Wissen zu bestehen als mit Wissen, das im Moment des Sprechens entstanden ist. Erschwerend kommt hierbei die fehlende Bekanntschaft mit dem Gegenüber hinzu, sowie die Scham, vor diesem die Seele gleich einer Geldbörse zu entleeren.

Syntax als einen von Sprachtönen umspielten Weg zur Erkenntnis vor, wobei die Struktur des Satzes, mit der er diesen Weg skizziert, eher einem verschlungenen als einem mittleren Weg gleicht«. Görner, Rüdiger: Gewalt und Grazie. Heinrich von Kleists Poetik der Gegensätzlichkeit. Heidelberg: Winter 2011, S. 29 und 78. 58 »So erweckt manchmal schon ohne gesprochenes Wort der bloße Gedanke für sich durch seinen Hochsinn Bewunderung, wie etwa das Schweigen des Aias in der ›Totenbeschwörung‹ groß ist und erhabener als jede Rede.« Longinus: Vom Erhabenen. Griechisch/Deutsch. Übersetzt u. hrsg. v. Otto Schönberger. Stuttgart: Reclam 2008, S. 21.

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Die »Unanständigkeit dieses ganzen Verfahrens« (SWB II, 289, 27 f.) lässt den Ausdruck im Keim ersticken. Die Betonung der Bedeutung der Gemütserregung für den Übergang vom Denken zum Sprechen, der möglichst kurz sein soll, zieht sich durch den gesamten Essay. Darüber hinaus ist das Gegenüber für das Gemüt essentiell. Fungiert es doch meist als Funke für den Gedankenmotor, der allein durch einen Blick angeworfen werden kann. Ein Blick als Auslöser von Kommunikation.59 2.1.1.2. Das Gegenüber »Es liegt ein sonderbarer Quell der Begeisterung für denjenigen der spricht, in einem menschlichen Antlitz, das ihm gegenübersteht […].« (SWB II, 285, 23 ff.) In einer Art Wechselwirkung erregen sich beide gegenseitig. Das Gegenüber muss dabei kein »scharfdenkender Kopf […] sein«, wichtig ist nur, dass es anwesend ist. (SWB II, 284, 7 f.) Das »innerste Wesen« kann sich allein mit dem Blick ins Licht »als in den hellsten Punkt« nicht selbst »aufklären«. (SWB II, 284, 27 ff.) Es bedarf nun des Blicks des Gegenübers. In der Aussage liegt auch eine Kritik an der Aufklärung, verknüpft sie doch in ihrer Tradition das Licht eng mit den Gedanken, dem Denken.60 So lässt sich sagen, dass in diesem Fall in der Aufklärung kein Erkenntnisgewinn mehr liegt.61 Das Gegenüber, hier die Figur der Schwester, hilft dabei sich aufzuklären; nicht so, »als ob sie es […] im eigentlichen Sinne sagte« oder durch die Methode der Mäeutik (im Examenteil gehe ich näher darauf ein) »durch geschickte Fragen auf den Punct hinführte«. (SWB II, 284, 34 f.; Hervorh. H. v. K.) Das Sprechen über die »dunkle Vorstellung […], die mit dem, was ich suche, von fern her in 59 Eybl 2007, S. 70. »Um das Sprichwort von den ›sprechenden‹ Blicken abzuwandeln – in diesem Text machen die Blicke sprechen.« Ebd. 60 »Was ist Aufklärung? Antwort: Das weiß jedermann, der vermittelst eines Paars sehender Augen erkennen gelernt hat, worin der Unterschied zwischen Hell und Dunkel, Licht und Finsternis besteht. […] Das Licht des Geistes, wovon hier die Rede ist, ist die Erkenntnis des Wahren und Falschen, des Guten und Bösen. Hoffentlich wird jedermann zugeben, daß es ohne diese Erkenntnis ebenso unmöglich ist, die Geschäfte des Geistes recht zu treiben, als es ohne materielles Licht möglich ist, materielle Geschäfte recht zu tun.« Wieland, Christoph Martin: Sechs Fragen zur Aufklärung. In: Was ist Aufklärung? Thesen und Definitionen. Hrsg. v. Erhard Bahr. Stuttgart: Reclam 2002, S. 22 – 28, hier S. 23 f. 61 Vgl. Rohrwasser 1993, S. 151; Riedl 2004, S. 146. »Mit der damit verbundenen skeptizistischen Auffassung zeigt sich Kleist als Zertrümmerer der aufklärerischen Wertewelt, als radikaler Zweifler an der zuversichtlichen Vorstellung, das freie Reden, der Austausch von Argumenten, sei der alleinige Schlüssel zur Bildung und Selbstbestimmung. Daß die emotionalen Einwirkungskräfte auf das ›Gemüt‹ nicht nur für bestimmte Zwecke funktionalisierbar seien, wie das die Affektenlehre suggeriert, die sich die Rhetorik seit je zunutze macht, sondern daß umgekehrt ebendiese Affekte selbst auf gravierende und unkommandierbare Weise Einfluß auf den Rhetor haben […]: dieser Gedanke bedeutet in seiner Konsequenz eine massive Kränkung des aufklärerischen, fortschrittsgläubigen Bewußtseins der Vernunftvollkommenheit.« Kapp 2000, S. 348.

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einiger Verbindung steht«, hilft; und »so prägt, wenn ich nur dreist damit den Anfang mache, das Gemüth, während die Rede fortschreitet, in der Nothwendigkeit, dem Anfang nun auch – ein Ende zu finden, jene verworrene Vorstellung zur völligen Deutlichkeit aus, dergestalt, daß die Erkenntniß, zu meinem Erstaunen, mit der Periode fertig ist«.62 (SWB II, 285, 2 ff.; Hervorh. P. Sch.) Das Gegenüber ist dabei als die Kraft, die das Gemüt erregt, notwendig. Eine »Bewegung meiner Schwester, als ob sie mich unterbrechen wollte«63, der »Versuch von außen« in den Besitz der Rede zu gelangen, bestärkt das angestrengte Gemüt und spannt es noch um einen Grad höher, »wie ein großer General, wenn die Umstände drängen«.64 (SWB II, 285, 13 ff.) Neumann sieht in dem Verhältnis von Gemüt, Vorstellung, Rede und Erkenntnis eine stabile Verbindung, »die den Redner selbst nurmehr als Medium zurücklässt«.65 Mehrfach wurde auf die kriegerischen Implikationen in dem »Sprachessay« hingewiesen. Die Forschung sieht im kriegerischen Moment, den militärischen Metaphern, ein wesentliches Merkmal der Rede, das mit der Gemütserregung in Zusammenhang steht.66 Auf die These des per se agonalen Aspekts der Kleist’62 »Der Gedanke, daß das Gemüt zum allmählichen Aufklaren einer zunächst dunklen Vorstellung wesentlich beitrage, stehe in der Leibniz-Wolffschen Tradition der Erkenntnistheorie […].« Riedl 2003, S. 100. Kapp führt weiter aus, dass es sich bei der »Problematik des ›Dunklen‹ um eine Fragestellung handelt, die ideengeschichtlich […] in jene Traditionslinie […] zur Aufwertung der vorrationalen Vermögen führte«, die von Alexander Gottlieb Baumgarten verfolgt wurde. »Aufschlußreich ist, daß der Irritationskomplex des ›Dunklen‹ mit der pointierten Formel der ›extensiv größeren Klarheit‹ beschrieben wird, eine Formel, in der sich die Möglichkeit eines Zugewinns an Erkenntnis angelegt findet.« Kapp 2000, S. 380 f. 63 Dominik Paß verweist auf die Möglichkeitsform der Aussage, dass die Bewegung »der Schwester eine unterbrechende sein soll, ist also lediglich eine Vermutung«. Paß 2003, S. 119. Das permanente In-der-Schwebe-Halten des Gesagten kann auch Ausdruck der Uneigentlichkeit von Rede sein. 64 Sprechen heißt für Kleist: »daß man sich angesichts eines Partners in das Sprechen hineinspricht«. Kommerell, Max: Geist und Buchstabe der Dichtung. Goethe, Schiller, Kleist, Hölderlin. Frankfurt am Main: Klostermann 1962, S. 300. Die Erwähnung Molières: »In diesem Sinne begreife ich, von welchem Nutzen Moliere seine Magd sein konnte […].« (SWB II, 285, 19 f.), spiegelt m. E. nur die zuvor beschriebene Situation wider. Es handelt sich um eine Äußerung, die wahrscheinlich aus der damals beginnenden Auseinandersetzung Kleists mit Molières »Amphitryon« herrührt. Siehe dazu: Schulz 2007, S. 296 ff.; oder sie stellt eine Bezugnahme auf den Aufsatz von Friedrich Schiller »Die sentimentalischen Dichter« dar. Vgl. hierzu: SWB III, 527. 65 Neumann, Michael: »Die Gewalt des Himmlischen«. Zur Natur aristokratischer Konzepte bei Heinrich von Kleist. In: Kleist-Jahrbuch (2012), S. 156 – 175, hier S. 169. 66 Vgl.: Blamberger, Günter: Agonalität und Theatralität. Kleists Gedankenfigur des Duells im Kontext der europäischen Moralistik. In: Kleist-Jahrbuch (1999), S. 25 – 40; Riedl 2004, S. 147 f. Riedl meint, dass das Gegenüber immer die Form des »agonalen Du« aufweist und selbst die Schwester zum »Widerpart des Redners werden läßt«. Dass der »Dialog bei Kleist, auch der nonverbale, den Charakter eines Kampfes« annimmt: »Ein Salongespräch ist in Kleists Verständnis von seinem Wesen her martialisch, sein Verlauf eine Frage von Sieg und Niederlage.« Auch Michael Rohrwasser spricht von der Kleist’schen Rede als von einem

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schen Rede kann ich in meiner Arbeit nicht näher eingehen.67 Für mich stellt das kriegerische Moment die Macht der Rede dar, den Einfluss der Rede, den es, einmal erlangt, nicht mehr zu verlieren gilt. Es weist zudem auf die Zweideutigkeit der Rede hin, ihre »Janusköpfigkeit«68, die Gutes wie Schlechtes umfasst. Indem Kleist gleichzeitig den kreativitätspsychologischen Charakter der Sprache als Gebärerin von Gedanken und die jeweiligen sozialpsychologischen Konsequenzen betont, das heißt unter bestimmten Umständen Konstruktion und Destruktion miteinander verbindet und aufeinander bezieht, zeigt sich nicht zuletzt die Janusköpfigkeit der persuasiven Rede, ihr gleichermaßen produktives und zerstörerisches Potential.69

Mit dem Gegenüber wird auch der dialogische Aspekt des Essays ersichtlich. Ganz im Sinne der Gemütserregung des Ich70 eröffnet der Essay sein Thema in einer Dialogrede. Das Ich spricht den fingierten Adressaten71 als anwesend Abwesenden an. Das erzeugte dialogische Moment ist für die Thematik des Essays insofern von Bedeutung, als es sich dabei sonst im Grunde um ein Selbstgespräch handeln würde.72 Das Ich braucht aber, wie oben erläutert, um »dreist […] den Anfang« (SWB II, 285, 3) machen zu können, ein Gegenüber73, damit das Gemüt

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kriegerischen Unternehmen und differenziert, wie erwähnt, die agonale Rede im Sinne der Nationalität der Sprecher, und danach, ob die Rede gelingt oder misslingt. Rohrwasser 1993, S. 151 – 162. Michael Rohrwasser spricht davon, dass für Kleist »[d]er Kriegszustand verbindet […] was im Frieden geschieden ist: Reden, Denken und Handeln. […] Der Krieg verändert die Sprache; eine Kriegserklärung ist die Rettung, die den Gedanken und der Rede Wirkung verleiht.« Rohrwasser 1993, S. 158. Dass Sprache an sich kriegerische Implikationen enthält, lässt sich insofern argumentieren, als Sprache auch Voraussetzung für Krieg ist. Einer militärischen Auseinandersetzung geht meist eine verbale Auseinandersetzung voraus. Kapp 2000, S. 345. Riedl 2003, S. 89. Ich spreche von dem Erzähler oder dem Ich anstatt von Kleist (wie es in der Forschung üblich ist). Bei dieser Sichtweise stütze ich mich auf Roland Barthes, der die Unterscheidung zwischen Schreibendem und Seiendem vornimmt: »Der […] Sprechende ist nicht der […] Schreibende, und der Schreibende ist nicht der Seiende.« Barthes 1988, S. 127 (Hervorh. R. B.). Rühle von Lilienstern wird durch die direkte Anrede zu Beginn des Essays als Gegenüber evoziert. »Ferner ist typisch sowohl für das dialogische Verfahren als auch für das Genus des Essays, welches sich aus ersterem entwickelt, daß es weniger den systematisch-deduzierten, abgeschlossenen Gedankengang, sondern gleichsam einen Gärungszustand des Denkens darstellt.« Kapp 2000, S. 317. »Pathetische Mittel reißen dann nämlich stärker mit, wenn sie der Sprecher nicht als Mittel zu verwenden, sondern der Augenblick zu gebären scheint; ja, die Frage an sich selbst und die Antwort ahmt das plötzliche Aufsteigen der Leidenschaft nach.« Longinus 2008, S. 57. »Bekanntlich setzen in der sprachlichen Kommunikation ich und du einander absolut voraus; desgleichen kann es keine Erzählung ohne Erzähler und ohne Zuhörer (Leser) geben.« Barthes 1988, S. 125 (Hervorhebungen R. B.). »Das ›ich‹ ist selbstverständlich nicht ohne ein ›du‹ (den Leser) denkbar, das allerdings gewöhnlich implizit bleibt; umgekehrt setzt das ›du‹ ein ebenfalls impliziertes ›ich‹ voraus […].« Lejeune, Philippe: Der autobiographische Pakt. Aus dem Französischen v. Wolfram Bayer u. Dieter Hornig. Frankfurt am Main: Suhrkamp

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in die richtige Stimmung versetzt wird, damit sich die Gedanken, in der Rede mit dem Gegenüber, verfertigen können.74 Zwischen dem Titel und dem Text des Essays steht der Adressat, das Gegenüber, seine Evokation ist ausreichend, da es sich, wie wir an dem Beispiel mit der Schwester sehen, auch um einen stummen Widerpart handeln kann, der lediglich den »Quell der Begeisterung« (SWB II, 285, 24) des Redenden entfacht. Es genügt, das Ich in die nötige Spannung zu versetzen – obwohl die Schwester, die Bekannte (im Unterschied zum Unbekannten), zudem eine gute Hebamme für die Gedanken ist, denn auch wenn sie das Ich hier nicht durch »geschickte Fragen auf den Punct hinführt[], auf welchen es ankommt«, ist Letzteres doch »häufig der Fall« (SWB II, 284, 34 ff.) –, die Funktion der Gemütserregung zu übernehmen, damit der Redner, der »in dem Augenblick, da er den Mund aufmachte, noch nicht wußte, was er sagen würde«, mit der Rede beginnen kann. (SWB II, 285, 29 f.) Auf der Ebene des Essays spricht also ein Ich zu einem Du, das wir Leser sein könnten.75 In der Mitte des Essays wechselt allerdings die Stimme.76 Das Ich löst sich in die neutrale/n Form/en wir/man auf. Passend für die Beispiele des Sprechens in der Gesellschaft sowie des Examens, die öffentlichen (vs. privaten) Situationen entnommen sind, hat das Ich einen neutralen Standpunkt besetzt, der die Allgemeinheit stärker mit einbezieht und somit auf eine stärkere Identifizierung seitens des Adressaten abzielt. ›Man‹ kann etwas sehen, ›man‹ merkt, wie notwendig eine Erregung des Gemüts ist und zeigt ›sich‹ vorteilhaft; denn »nicht wir wissen«, sondern unser »Zustand […] weiß«. (SWB II, 289, 4 f.;

1994, S. 18 f. (Anm. zur Abbildung). In diesem Sinne kann der Adressat des Essays auch für den Leser stehen. In dem expliziten Du wird implizit der Leser, ein Publikum mit angesprochen. Ich beziehe mich auf Judith Butler, die in der Einführung zu »Die Seele und die Formen« über den Essay von Georg Lukács »Über Wesen und Form des Essays«, der als Brief bezeichnet wird, schreibt: »Die Tatsache, dass der Empfänger im Untertitel des Essays […] genannt ist, legt nahe, das Lukács sich hier nicht an Popper [der Adressat] allein wendet, sondern an ein unbekanntes Publikum, das über seinen Platz in der Literaturgeschichte befinden wird.« Lukács, Georg: Die Seele und die Formen. Essays. Mit einer Einführung von Judith Butler. Bielefeld: Aisthesis 2011, S. 10. 74 »Dialogisch strukturiert ist auch der Text selbst, führt doch der Erzähler […] gewissermaßen ein Selbstgespräch in der fingierten Gegenwart eines Adressaten, seines Freundes Rühle von Lilienstern. Der Erzähler selbst verfertigt seine Gedanken beim Reden, indem er sich an ein – wenn auch hier nur imaginiertes – Du wendet, um so sein Gemüt in den für den kreativen Prozeß entscheidenden Erregungszustand zu versetzen.« Riedl 2003, S. 100. 75 »Erreicht wird die Leserevokation vor allem durch das Aufeinanderbezogensein der beiden Sinnschichten, die als konstitutiv für den Sprachaufsatz angenommen werden: erstens das semantische Textmodell und zweitens die Metaebene mit ihren dichtungstheoretischen Implikationen.« Kapp 2000, S. 319. 76 Zu den Sprecher- und Hörerrollen in dem »Sprachessay« siehe: Theisen 1994, insb. S. 732 u. 735; Paß 2003, S. 111 (Anm. 19) u. 117 f.; Strässle 2003, S. 163.

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Hervorh. H. v. K.) »Doch ich verlasse mein« Thema, »und kehre zur Sache zurück.« (SWB II, 287, 2 f.) Das Gegenüber ist der zündende Funke, gibt einen elektrischen Impuls, wodurch die Rede entfacht wird. Im Mirabeau-Beispiel wird »[d]ie Elektrizität, die nicht nur in diesem Aufsatz, sondern auch in anderen Werken Kleists eine wichtige Rolle spielt«77, als essentielles Element dargestellt. In den Zeiten des »späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts« war es üblich, »die Wirkung einer flammenden Rede mit dem Bild des Blitzes und den Gesetzen der Elektrizität plastisch zu veranschaulichen«.78 Das »noch wenig erforschte Phänomen Elektrizität« wurde als ein »mutmaßliches Lebensprinzip gehandelt«.79 Der spezifische Einsatz des Bildfeldes des Blitzes vermag prägnant den von Kleist im Sprachaufsatz zentral verfolgten Gedanken der Wichtigkeit des Entstehungs-Augenblicks zu illustrieren. […] Die Metaphorik wird von Kleist oft auch andernorts gleichnisartig eingesetzt […] und steht beispielhaft für jene Auffassung ein, die die ersten Momente einer durch Erregung aufgeladenen Situation als potentiell kreative begreift. Demzufolge ist diesem Ereignispunkt, neben dem Moment der Plötzlichkeit, auch die Möglichkeit produktiver Hervorbringung eigen. Die Metapher des Blitzes verbildlicht die mit einem Schlag einsetzende, in einem kleinen Ausschnitt sich gleichsam kristallisierende, geisterhellende Einsicht.80

Die Vorstellung einer elektrischen Wechselwirkung mit dem Gegenüber, dem anderen Pol, untermauert die Bedeutung des Gegenübers für das Gemüt. Die Rede lädt sich durch das Zusammentreffen zweier Menschen entgegengesetzter Polarität auf, »entscheidende Einfälle« entstehen nicht im »psychischen Innenraum des reflektierenden Subjekts«, sondern »im Kräftefeld zweier Seelen, genauer: im Wechselspiel von äußeren Umständen, dem davon affizierten Gemüt und lautlicher Entäußerung«81. Folgt man diesem Bild, lässt sich für den Redner sagen, er ist ein Körper mit dem elektrischen Zustand 0, der mit der Elektrizität eines anderen Körpers geladen wird, sobald sich dieser in der Atmosphäre des neutralen Körpers befindet. Der aus dem Gleichgewicht Gebrachte hat dieserart einen Impuls bekommen und das Redefeuer beginnt. Ist die Rede fertig, hat »er sich, [der Körper, der Redner,] einer Kleistischen Flasche gleich, entladen« und »war […] nun wieder neutral geworden«.82 (SWB II, 286, 34 f.) Die Gemütser77 Riedl 2004, S. 141. 78 Riedl 2003, S. 92. »Die rhetorische Konstituierung der politischen Nation ist ein sprachlicher Schöpfungsakt sui generis, der unwillkürlich als Blitz, ohne willentliche Steuerung einschlägt. Allein der Begriff ›Donnerkeil‹ […] transformiert den Redeakt zu einer elementaren Naturgewalt, die sich mit menschlicher Vernunft nicht beherrschen läßt. Die Sprache steuert das Bewußtsein, das erst im ruhigen Nachdenken zu sich selbst findet.« Riedl 2003, S. 91 f. 79 Strässle 2003, S. 157. 80 Kapp 2000, S. 366. 81 Strässle 2003, S. 158. 82 Zur Kleist’schen Flasche siehe: Strässle 2003, S. 162 (Anm. 507); Berger, Christian-Paul:

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regung hat sich gelegt, der Redner wird wieder neutral und Furcht und Vorsicht kehren zurück.83 Dies ist eine merkwürdige Übereinstimmung zwischen den Erscheinungen der physischen und moralischen Welt, welche sich, wenn man sie verfolgen wollte, auch noch in den Nebenumständen bewähren würde.84 (SWB II, 286 f.)

Wir bräuchten, um zu sprechen, als Gegenüber immer einen Gegenpol, mit dem wir uns in einem spannungsgeladenen Zustand der Auseinandersetzung befinden. Dies würde Entgegengesetztheit als Prinzip für die Form sozialer Interaktion von Individuen bedeuten. Egal wer es sei, um sich in den produktiven Prozess der Erregung zu versetzen, braucht es den anderen, den Zusammenstoß, die Konfrontation. Der Fuchs in der Lafontaine’schen Fabel befindet sich in einem ähnlichen Zustand wie Mirabeau. Er muss aus der Not heraus, vom Löwen bedroht, »das Bewegungsbilder. Kleists Marionettentheater zwischen Poesie und Physik. Paderborn, München, Wien, Zürich: Schöningh 2000, S. 36 f. u. S. 302, Anm. 100. 83 »Die zitierte Textstelle gibt Kleists physikalische Theorie über die Genese des rettenden Gedankens in nuce wieder: Ein Subjekt wird durch die Präsenz eines Anderen aus dem physikalischen Gleichgewicht und also in eine Situation der Bedrängnis gebracht. In dieser Not tritt er die verbale Flucht nach vorne an, macht – wie der Fuchs – einen Anfang ›auf gut Glück‹ und setzt damit einen Prozeß der emotionalen Aufschaukelung in Gang, ständig gereizt durch die Präsenz seines Gegenübers. So gleicht das Gemüt des Redenden einem Generator, der – im Augenblick der emotionalen Hochspannung – ein Maximum an psychischer Energie in artikulierte Laute, in Sprache also, umsetzt. […] Die skizzierte Theorie des rettenden Einfalls oder der spontanen Rede macht hinreichend deutlich, daß es bei den letztlich physikalischen Prozessen, aufgrund derer aus unartikulierten Lauten sich psychische Energie gewinnen und – umgekehrt – psychische Energie unmittelbar in Lautmaterial sich umwandeln läßt, immer um ein Geflecht von kausalen Wechselwirkungen zwischen Sprecher, Adressat und Sprechsituation geht.« Strässle 2003, S. 162 f. 84 Die Übereinstimmung der physischen und moralischen Welt erklärt Heinrich von Kleist deutlicher im »Allerneuesten Erziehungsplan«: »Bringt man den unelektrischen Körper in den Schlagraum des elektrischen, so fällt, es sei nun von diesem zu jenem, oder von jenem zu diesem, der Funken: das Gleichgewicht ist hergestellt, und beide Körper sind einander an Elektricität, völlig gleich. Dieses höchst merkwürdige Gesetz findet sich, auf eine, unseres Wissens, noch wenig beachtete Weise, auch in der moralischen Welt; dergestalt, daß ein Mensch, dessen Zustand indifferent ist, nicht nur augenblicklich aufhört, es zu sein, sobald er mit einem Anderen, dessen Eigenschaften, gleichviel auf welche Weise, bestimmt sind, in Berührung tritt: sein Wesen sogar wird, um mich so auszudrücken, gänzlich in den entgegengesetzten Pol hinübergespielt; er nimmt die Bedingung + an, wenn jener von der Bedingung –, und die Bedingung –, wenn jener von der Bedingung + ist. […] Aber das Gesetz, von dem wir sprechen, gilt nicht bloß von Meinungen und Begehrungen, sondern, auf weit allgemeinere Weise, auch von Gefühlen, Affecten, Eigenschaften und Charakteren.« (SWB II 379 ff.) Die Übereinstimmung in dem Essay wäre nun der Zusammenhang von Erregung und Rede: Wenn die Gemütserregung abfällt, kehrt die Furcht des Sprechers wieder. Die Pole im neutralen Zustand entsprechen den moralischen Ansprüchen des Systems. Ein politischer Umsturz ist nur im Affekt möglich, besonnen und überlegt fehlte der notwendige Erregungszustand.

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Ungewitter von sich ableiten«. (SWB II, 287, 20) Joachim Theisen macht anhand dieses Beispiels auf die »Individualität des Sprechers« aufmerksam, die in beiden Fällen auf dem Spiel steht, »sich auflöst« und einer allgemeinen Absicht unterstellt wird. Einer spricht für alle.85 In der Übereinstimmung zwischen physischer und moralischer Welt spiegelt sich zunächst die Übereinstimmung zwischen Denken und Sprechen wider. […] Das bedeutet zweierlei: ebenso wie innerhalb des Konzepts die Regeln des Sprechens denen des Denkens überlegen sind, dominieren die Gesetze der physischen diejenigen der moralischen Welt. Da jene allgemeingültig vorgegeben sind, ist – in der moralischen Welt – die Individualität bedroht.86

Der Redner ist beim Sprechen von mannigfaltigen Faktoren abhängig, einige davon sind nicht direkt steuerbar. Mit anderen Worten: »Der Zustand, in dem wir uns befinden, ergibt sich aus der Situation, in der wir uns befinden«.87 Unser Zustand, unser Inneres ist in Gefahr, von unvorhersehbaren Situationen überwältigt zu werden, von Fremdfaktoren abhängig zu sein. Setzen wir uns zur Wehr, können wir unsere Gemütserregung nutzen, um eine produktive Energie zu erzeugen, lassen sich Systeme mitunter nach unseren Prinzipien verändern.

2.1.2. Der Umsturz der Ordnung Im Mittelteil des Essays treffen wir auf zwei Gleichnisse. Mithilfe des historischen exemplum und des poetischen exemplum, in letzterem Fall der Fabel, wird die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden weiter veranschaulicht.88 Verbunden sind beide Gleichnisse durch das Abtönungspartikel »Auch«89 (SWB II, 287, 3), mit dem die Fabel eingeleitet wird. Nach dem historischen Gleichnis, 85 Theisen 1994, S. 740. 86 Ebd., S. 740; Urs Strässle weist darauf hin, dass 1770 der französische Materialist Baron Paul Thiry d’Holbach sein »System der Natur« veröffentlicht hat, in dem er anmerkt, »daß die Erscheinungen der moralischen Welt denselben Gesetzen folgen wie die der physischen Welt«. Zit. nach Strässle 2003, S. 154. Strässle geht davon aus, dass Kleist im Zuge seines Interesses für den Mesmerismus diese Schrift kannte. Strässle 2003, S. 155 (Anm.). 87 Theisen 1994, S. 741. 88 Lausberg 2008, § 411 ff.; weiters siehe: Ueding, Gert u. Steinbrink, Bernd: Grundriß der Rhetorik. Geschichte, Technik, Methode. 3., überarb. u. erw. Auflage. Stuttgart, Weimar: Metzler 1994, S. 267 f. 89 »Abtönungspartikel haben die Funktion, das Gesagte im Kontext der Rede zu situieren. Sie geben dem Gegenüber Informationen darüber, in welchem Zusammenhang ein Satz geäußert wurde und ermöglichen es ihm, ihn pragmatisch einzuordnen. […] Abtönungspartikel tauchen besonders in der gesprochenen Rede, im Dialog auf, und dort vor allem dann, wenn die Sprechenden versuchen, persönliche Beziehung zueinander aufzunehmen.« Hentschel, Elke u. Weydt, Harald: Handbuch der deutschen Grammatik. 3., völlig neu bearb. Auflage. Berlin: de Gruyter 2003, 313 ff.

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der »Donnerkeil-Episode«, wird die Fabel als »ein merkwürdiges Beispiel von einer allmähligen Verfertigung des Gedankens aus einem in der Noth hingesetzten Anfang« (SWB II, 287, 6 ff.) vorgestellt. Die Merkwürdigkeit verweist m. E. auf die Tatsache, dass eine spontane Rede den »Umsturz der Ordnung der Dinge« (SWB II, 286, 30) bewirken kann. Beider Beispiele Ausgang bringt eine sozialpolitische Veränderung mit sich, obwohl die Sprecher zu Beginn nicht recht wissen, was sie sagen sollen, schlechte Phrasen verwenden, sich wiederholen und erst allmählich den Gedanken finden, der den »Quell ungeheurer Vorstellungen« (SWB II, 286, 8) zu sprudeln beginnen lässt. Im Lauf der Rede finden sie, »was den ganzen Widerstand, zu welchem […] [die] Seele gerüstet dasteht, ausdrückt«. (SWB II, 286, 13 f.) Das Gemüt ist »zur verwegensten Begeisterung« übergegangen und ein kleiner Funke, »das Zucken einer Oberlippe« (vergleichbar mit der hochgezogenen Lefze eines fletschenden Hundes), »oder ein zweideutiges Spiel an der Manschette«90 stürzt Frankreich in einen Zustand der politischen Unordnung. (SWB II, 286, 27 ff.) Der Fuchs in der Fabel Lafontaines hält dem Löwen eine Verteidigungsrede, »ohne zu wissen, wo er den Stoff dazu hernehmen soll«, und entwickelt im Reden die Gedanken, die eine neue Ordnung entstehen lassen: In dieser bedeutet es kaum etwas, ein Schaf zu erwürgen und den Hund zu fressen, »diese nichtswürdige Bestie« (SWB II, 287, 22 f.), oder einen Schäfer zu zerfleischen. Und mittels der fortschreitenden Rede entsteht der »Gedanke[], der ihn aus der Noth reißt«, wodurch der Fuchs das Gerüst der Ordnung niederbrechen kann und »beweist […], daß der Esel, der blutdürstige! (der alle Kräuter auffrißt) das zweckmäßigste Opfer sei«, um von der Pest91, die im Tierreich herrscht, befreit zu werden. (SWB II, 287, 27 ff.) Ein solches Reden ist ein wahrhaftes lautes Denken. Die Reihen der Vorstellungen und ihrer Bezeichnungen gehen neben einander fort, und die Gemüthsacten für Eins und das Andere, congruieren. Die Sprache ist alsdann keine Fessel, etwa wie ein Hemm-

90 Die Manschette weist an dieser Stelle einen interessanten Aspekt auf: Bedeutet der Begriff doch neben dem steifen Ärmelabschluss auch noch »Angst haben« (Manschetten haben) oder einen unerlaubten Würgegriff beim Ringkampf. Das würde hinweisen auf die Angst, die im Folgenden bekundet wird, wie auch auf den Würgegriff, in dem Mirabeau den Zeremonienmeister hält. Duden. Fremdwörterbuch. 7., neu bearb. u. erw. Aufl. Hrsg. v. d. Dudenredaktion. Auf der Grundlage der neuen amtlichen Rechtschreibregeln. Bd. 5. Mannheim [u. a.]: Dudenverlag 2001; weiters: »es heiszt manschetten haben für besorgnis, furcht haben, als redensart des gemeinen lebens […]; sie geht von der beobachtung aus, dasz der, dessen, hände mit manschetten geziert sind, einem festen anfassen seinerseits und einem rauhen zupacken von anderer seite aus dem wege gehen musz […].« Grimm, DWB, Bd. 6, Sp. 1607. 91 »Die äußere Pest ist nur die historische Maske für eine sehr viel gefährlichere innere Pest, und es ist diese Krankheit im Herzen des Status quo, welche[] durch das Opfer verheimlicht werden soll. Kleists Fabel handelt, mit anderen Worten, von der Pest der Souveränität.« Gailus 2002, S. 162.

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schuh an dem Rade des Geistes, sondern wie ein zweites, mit ihm parallel fortlaufendes, Rad an seiner Axe. (SWB II, 287, 32 ff.)

Die Gemütsverfassung, der innere Zustand, die Seele lassen die Vorstellungen und deren Bezeichnungen übereinstimmen. Die Sprache schränkt in dem Fall nicht ein, die Generierung der Vorstellungen und deren Bezeichnungen laufen parallel. Der Ausdruck findet zum Zeitpunkt der Gedankenverfertigung statt. Das Paradoxon, die Ironie dabei ist, dass, ganz beiläufig, eine Verschiebung herkömmlicher Konnotation passiert92. Damit der Esel als der Blutdurstigste im Tierreich bezeichnet werden kann, muss die herkömmliche Hierarchie der Wertigkeit von Mensch, Tier und Pflanze umgekehrt und eine neue Ordnung erstellt werden. Ähnlich erklärt sich die Machterweiterung bzw. -verschiebung im Beispiel Mirabeaus, der sich vom Zeremonienmeister keine Befehle mehr erteilen lässt; sind doch die Stände »die Repräsentanten der Nation […], [und] [d]ie Nation giebt Befehle und empfängt keine«. (SWB II, 286, 9 ff.) Der feierliche Akt, das Zeremoniell, endet für den Zeremonienmeister mit dem politischen Umsturz. Er kann dem König nur die Kunde vom Ungehorsam überbringen. Das Besondere ist, dass wir es in beiden Fällen mit einem Ausnahmezustand93 zu tun haben; der eine wird durch die Rede ausgelöst, der andere durch die Rede außer Kraft gesetzt.94 Wenn im dritten und vierten Beispiel der Ausnahmezustand ausgerufen wird, dann wird bei Mirabeau gegen den Vermittler geredet, während in der Fabel der Vermittler spricht – der Unterschied zwischen dem Umsturz einer Ordnung und ihrer Rekonstitution, zwischen Revolution und Konterrevolution.95

92 »Kleists dichterisches Verfahren, wie es im Sprachaufsatz erkennbar wird, zeichnet sich im Blick auf den Leser also durch intellektuelle Provokationen (Paradoxa) und durch Herausreizen eines Vorstellungs- und Ergänzungssinns (Zitationen und Aussparungen) aus.« Kapp 2000, S. 327. 93 »Das Besondere der Situation, die im Ausnahmezustand geschaffen wird, besteht nun darin, daß sie weder als faktische noch als rechtliche Situation bestimmt werden kann, sondern dazwischen eine paradoxe Schwelle der Ununterschiedenheit errichtet.« Agamben, Giorgio: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Aus d. Italienischen v. Huber Thüring. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 28. 94 Gabriele Kapp verweist in diesem Zusammenhang auch auf den zerstörerischen Aspekt der Sprache, die nicht nur »metaphorisch«, sondern »im Wortsinn mit Worten« den Gegner vernichtet: »Der Löwe und der Fuchs betreiben mit ihren rhetorischen Kunststücken erst die kollektive Verblendung der versammelten Tiere und verleiten sie dann zur brutalen Tötung des Esels. Interessant ist besonders hier, in der Fabeladaption, das Verfügen über den Stoff, indem in konzentrierter Form die negative Seite der persuasiven Rhetorik gezeigt wird.« Kapp 2000, 346. 95 Rohrwasser 1993, S. 156.

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(Konter-)Revolution passiert mittels Sprache, wodurch sich Ordnung herstellen und/oder zerstören lässt.96 Der Sprache ist die Macht der Veränderung inhärent. Revolution ist nur aus der Rede heraus möglich; parallel dazu kommt es zu Bedeutungsverschiebungen. Der »Sprachessay« kann als Beispiel dafür gelesen werden, dass Wirklichkeit veränderbar ist, »indem sie [die Rede] eine Utopie entwirft, die später im politischen Handeln zu realisieren ist«.97 Möglich wird dies durch spontanes Ergreifen der Rede: »The spontaneous act of speech frees us from the limitations of what has become the ordinary mode of speech«.98 In beiden Gleichnissen werden die Gedanken und die Rede mit einem weiteren Bild in Verbindung gebracht, das symptomatisch für den Essay und auch für das »Käthchen« ist: der Augenblick, der Blitz, die plötzlich einsetzende Rede, das schlagartige Reden. Auf die Augenblicklichkeit des Sprechens verweisen der »Blick, der […] die ganze andere Hälfte« (SWB II, 285, 26 ff.) des Gedankens entstehen lässt, das spontane Sprechen, die blitzende Rede, der »›Donnerkeil‹99 des Mirabeau« (SWB II, 285, 34 f.), der die elektrischen Funken fliegen lässt, oder das Gemüt, das »plötzlich mit einer zuckenden Bewegung« (SWB II, 288, 11 f.) aufflammt, ebenso wie der Fuchs, der das »Ungewitter« (SWB II, 287, 20) von sich ableiten muss.100

96 »Die Sprache tritt nicht in eine Welt der fertigen gegenständlichen Anschauung ein, um hier zu den gegebenen klar gegeneinander abgegrenzten Einzeldingen nur noch ihren ›Namen‹ als rein äußerliche und willkürliche Zeichen hinzuzufügen – sondern sie ist selbst ein Mittel der Gegenstandsbildung, ja sie ist im gewissen Sinne das Mittel, das wichtigste und vorzüglichste Instrument für die Gewinnung und den Aufbau einer reinen ›Gegenstandswelt‹.« Cassirer 1985, S. 126 (Hervorhebung E. C.). 97 Theisen 1994, S. 729. 98 Gustafson, Susan E.: ›Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden‹. The Linguistic Question in Kleist’s ›Amphitryon‹. In: Seminar. A Journal of Germanic Studies 25 (1989), No. 2, S. 104 – 126, hier S. 110; zit. nach: Paß 2003, S. 133. 99 »Donnerkeil […]. 1 eigentlich. blitz, der im älteren volksglauben als aus gewitterwolken niederfallender keil vorgestellt wurde […]. […] 2 übertragen. geistige waffe, strafmittel […].« Grimm, Jacob u. Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Neubearbeitung. Hrsg. v. Akademie der Wissenschaften der DDR in Zusammenarbeit m. d. Akademie d. Wissenschaften zu Göttingen. 6. Bd. Leipzig: S. Hirzel 1983, Sp. 1235 f. »Das in Anführungszeichen gesetzte Wort ›Donnerkeil‹ […] fungiert zunächst als die topische Metapher für die plötzliche Erkenntnis, die geistige Erleuchtung, den unerwarteten Einfall oder überhaupt für die Schnelligkeit des Gedankens […]. In der rhetorischen Tradition ist ›Blitz und Donner‹ aber auch eine Metapher für die glanzvolle Rede selbst.« Groddeck 2003, S. 112; vgl. Riedl 1997, S. 138. 100 Das Augenblickliche scheint der allmählichen Verfertigung entgegengesetzt zu sein. Der rhetorische »Donnerkeil« stellt den Höhepunkt der Rede dar, die sich allmählich aufgeladen hat. Im Sinne der Periode, die »als umfassender Kreis mehrere Kreissysteme einschließt«, kann gesagt werden, dass eine Rede aus mehreren »Donnerkeilen« bestehen kann: Jeder Blitz schlägt unverzüglich ein und gemeinsam bilden sie das sich allmählich verfertigende Gewitter der Rede. Lausberg 2008, § 924.

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Bei der propagierten Rede, der allmählichen Verfertigung von Gedanken, handelt es sich prinzipiell um Sprechakte: eine Rede, die Zustände verändert und Bedeutungsverschiebungen evoziert. Indem ich spreche, handle ich per se; darüber hinaus geht mit der Tätigkeit des Sprechens die Veränderung von Bewusstsein einher.101 Die Sprache bewegt und verschiebt nicht nur Systeme und Ordnungsprinzipien, »als wirkende Kraft, als Tätigkeit – Humboldt spricht von ›Energeia‹«, bewegt sie »auch den Sprecher selbst […], ja verändert [ihn] – und mit ihm die sich sprachlich konstituierende Welt«.102

2.1.3. Mangel der Erregung 2.1.3.1. Denken und Sprechen »Die Frage nach dem Verhältnis von Sprache und Denken ist so alt wie die Philosophie – ja sie ist wahrscheinlich älter als diese: gehört sie doch zu den frühesten Problemen, die sich dem Menschengeist aufgedrängt haben«.103 Im »Sprachessay« stehen Denken und Sprechen in direktem Zusammenhang. Läuft der Motor der Gedanken nicht, so stockt auch die Sprache. Ist der Gedanke noch so klug gedacht, muss er erst den Weg der Rede beschreiten. Es bedarf der Übersetzung von einem Code in den anderen. Schlägt diese fehl, bleibt der Gedanke ganz hinter seinem Ausdruck zurück. Wenn die »Vorbereitung des Gemüts gänzlich fehlt« (SWB II, 289, 2), gerät die Rede ins Stocken, der Ausdruck kongruiert nicht mehr mit dem Gedachten. Das heißt nicht, dass die Vorstellungen, weil sie verworren ausgedrückt, ebenso gedacht worden sind; »vielmehr könnte es leicht sein, daß die verworrenst ausgedrückten grade am deutlichsten gedacht werden« (SWB II, 288, 5 ff.). Da aber »der plötzliche Geschäftswechsel, der Übergang [des] […] Geistes vom Denken zum Ausdrücken […] die ganze Erregung desselben, die zur Festhaltung des Gedankens nothwendig, wie zum Hervorbringen, erforderlich war«, mit einem 101 »Das sprachliche Handeln wurde um 1800 in den Rang einer bewußtseinsschöpfenden Kraft erhoben […]. […] Von dem Prinzip, daß der gesprochenen Sprache ein handlungsauslösendes Moment innewohne, ging die Rhetorik seit der Antike aus.« Riedl 1997, S. 122 u. 125. »[…] Kleists Essay Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden als auch derjenige Über das Marionettentheater charakterisieren […] [den] Zustand des Wissens als einen, in dem Bewusstsein und Sein oder Denken und Handeln übereinstimmen.« Kohlross, Christian: Die poetische Erkundung der wirklichen Welt. Literarische Epistemologie (1800 – 2000). Bielefeld: transcript 2010, S. 49. 102 Riedl 2004, S. 137. »Bei Kleist […] ist […] die Sprache selbst das bildende Organ der Gedanken und Organon der Erkenntnis.« Riedl 2003, S. 88; Kapp 2000, S. 355. 103 Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil. Phänomenologie der Erkenntnis. Text und Anmerkungen bearb. v. Julia Clemens. Hamburg: Felix Meiner 2010, S. 131.

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Mal niedergeschlagen hat, wissen die Redner oft »selbst nicht mehr […], was sie haben sagen wollen«. (SWB II, 288, 16 ff.) Weil »der Geist schon, vor aller Rede, mit dem Gedanken fertig« war, bleibt dieser bei seiner »Ausdrückung« auf der Strecke. (SWB II, 287 f., 38 f./1) Die Sprache ist keine bloße Umsetzung des Gedankens in die Form des Wortes; sie ist vielmehr wesentlich an seiner ursprünglichen Setzung beteiligt. Sie spiegelt nicht nur die innere Bewegung des Denkens nach außen wider; sondern sie ist ein Grundmotiv, sie ist einer der wichtigsten Impulse und Beweggründe für sie. Die Idee ist nicht vor der Sprache; sie wird in der Sprache und durch die Sprache.104 (Hervorh. E. C.)

Damit das Gedachte mittels Sprache nicht nur entsteht sondern auch erklingt, sollte »uns die Sprache mit Leichtigkeit zur Hand sei[n], um dasjenige, was wir gleichzeitig gedacht haben, und doch nicht gleichzeitig von uns geben können, wenigstens so schnell, als möglich, auf einander folgen zu lassen«. (SWB II, 288, 23 ff.) Diese Leichtigkeit der Sprachhandhabung steht in Verbindung mit der Gemütserregung, es bedarf rhetorischer Fähigkeiten, mittels derer ein erregtes Gemüt leicht »durch Vergleichung, Absonderung, und Zusammenfassung der Begriffe« zur Definition Letzterer gelangt.105 (SWB II, 288 f., 38 f./1) Im Verhältnis zwischen Denken und Sprechen scheint es […] doch einen überlegenen Part zu geben, die Sprache, aber es ist die Art dieser Überlegenheit genau zu bedenken. Sie kann nicht absolut gegeben sein, sondern ist immer schon kommunikativ gebunden. Dies ist freilich banal, aber gerade daran hängt das gesamte Kleistsche Konzept. Denn andererseits gilt, daß der Bewegung des Geistes selbst keine Vorwärtsbewegung innewohnt. Die Angewiesenheit des Geistes auf die Sprache rückt die Gefährdung der Kommunikation in um so grelleres Licht. Sie ist in zweifacher Hinsicht gefährdet: zum einen im Gleichlauf von Geist und Sprache, zum anderen in der Beziehung des Sprechers zum Hörer. Das eine ist ein Problem der Erkenntnismöglichkeit, das andere, ebenso wichtige, ein gesellschaftliches.106

Der »Hemmschuh an dem Rade des Geistes« (SWB II, 287, 36) ist mitunter bedingt durch gesellschaftliche Konventionen. Die kommunikative Gebundenheit der Sprache an gesellschaftliche wie epistemologische Vorbedingungen führt zu semantischen Komplikationen. Zeichen und Bedeutung, Signifikant und Signifikat, die jeweilige Außenwelt und die Innenwelten stimmen nicht überein. Das im Inneren Gedachte lässt sich nach außen nicht übermitteln107, Erkenntnis 104 Cassirer 1985, S. 149 f. 105 »Die Dynamik des Denkens und die Dynamik des Sprechens gehen mit einander Hand in Hand; zwischen beiden Prozessen findet ein ständiger Kräfteaustausch statt. Der gesamte Kreislauf des seelisch geistigen Geschehens ist auf diesen Austausch angewiesen und wird von ihm her stets aufs neue in Bewegung gesetzt.« Cassirer 1985, S. 151. 106 Theisen 1994, S. 737. 107 Es gibt einige Beispiele von Kleist, in denen er die Divergenz von Innen und Außen anspricht, z. B. im »Brief eines Dichters an einen anderen«: »Wenn ich beim Dichten in meinen

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und Gesellschaft prallen aneinander ab.108 Aber nicht, weil man der Sprache nicht mächtig wäre, sondern weil die von innen nach außen getragenen Bedeutungen für das Gegenüber mit anderen Konnotationen belegt sind und somit die Interpretation fehlschlägt. Kleists Skepsis, was die Tauglichkeit der Sprache als ›Mittel zur Mitteilung‹ betrifft, gilt daher weniger der Wirksamkeit des sprachlichen Ausdrucks selbst als vielmehr der Unfähigkeit der Sprechenden, in diesem Medium die stets sich ändernde Wechselbeziehung von Eigenem und Fremdem auf eine Art und Weise zu meistern, die eine unverfängliche menschliche Kommunikation gewährleisten könnte.109

Wenn Leute, die »mit einer zuckenden Bewegung aufflammen, die Sprache an sich reißen und etwas Unverständliches zur Welt bringen«, danach »selbst nicht mehr recht wissen, was sie haben sagen wollen« (SWB II, 288, 11 ff.), tritt eine Codeproblematik zu Tage. Das Gesagte, wenn es sich um eine Vorstellung, die »am deutlichsten gedacht« (SWB II, 288, 7) worden ist, handelt, stimmt, nach der Rezeption durch das Gegenüber, mit dem Gemeinten nicht überein. Ein vermeintlich gemeinsamer Sprachcode, der nicht die intendierte Bedeutung parat hält, um den inneren Gedanken transponieren zu können. Der allgemeine Code der Sprachteilnehmer greift zu kurz, er lässt keine Übersetzung zu, der individuelle Kontext110 ist nicht vermittelbar, »Unverständliches [wird] zur Welt« (SWB II, 288, 13) gebracht. Selbst das Innen ist nicht frei von seismischer Aktivität, es kann jederzeit zu Erschütterungen, zu Gemütsabfällen kommen, und dann bleibt auch für das Ich die Bedeutung im Dunkeln. Der innere Code, der Spiegel des Zustands der Seele, kann ohne, oder mit der falschen Erregung, nicht in den allgemeinen Code transponiert werden, die Übersetzung schlägt fehl.111

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Busen fassen, meinen Gedanken ergreifen, und mit Händen, ohne weitere Zuthat, in den Deinigen legen könnte: so wäre, die Wahrheit zu gestehn, die ganze innere Forderung meiner Seele erfüllt.« (SWB II, 451, 14 ff.). Die Gesellschaft als Außenwelt besitzt ihrerseits aber wieder eine Innenwelt – Gesetze, Normen, die kulturell geprägten Wertevorstellungen und Übereinkünfte eines Gesellschaftssystems, seine Strukturen. Demgemäß stimmt also die Innenwelt der Person mit den Innenwelten der Außenwelt, der Gesellschaft, nicht überein. Stephens, Anthony: Kleist – Sprache und Gewalt. Mit einem Geleitwort v. Walter MüllerSeidel. Freiburg im Breisgau: Rombach 1999, S. 18; vgl.: Paß 2003, S. 123 f. Die Äußerung kann »im Kontext einer einmaligen Situation des individuellen Lebens« gelesen werden; sie bleibt dadurch aber abhängig von dem verständnisvollen Wohlwollen der Gesprächspartner. Bachtin, Michail: Die Ästhetik des Wortes. Hrsg. u. eingel. v. Rainer Grübel. Aus dem Russischen übersetzt v. Rainer Grübel u. Sabine Reese. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979, S. 128. In dem Essay handelt es sich m. E. nicht um eine Problematik der Übersetzung von einer in eine andere Sprache, wo es darum geht, zwei (oder mehr) unterschiedliche Sprach- und nationale Codes einander anzugleichen, sondern um das Generieren von Bedeutungen mittels Sprache an sich sowie um die gleichzeitige Übersetzung dieser Bedeutungen in den

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2.1.3.2. Examen Das Examenbeispiel stellt den Abschluss des Essays dar und steht thematisch mit der schon fertig gedachten Rede in engem Zusammenhang. Es handelt sich um bereits gedachte Gedanken, der »Geist [ist] schon, vor aller Rede, mit dem Gedanken fertig«. (SWB II, 287, 38 f.) Vorgedachtes Wissen, zu einem bestimmten Zeitpunkt ohne spezielle Gemütserregung wiedergegebenes Wissen, ist angeeignet, angelernt, nicht eigenständig gedacht. Auswendig Gelerntes ist ein fertiges Produkt, das den Geist eher belastet als beflügelt. Bei dem Examen fehlt die »Vorbereitung des Gemüts gänzlich«, die Gedanken können sich nicht entfalten; und nur ein »unverständiger Examinator wird daraus schließen, daß [wir] […] nicht wissen«. Ist es doch der »Zustand unsrer, welcher weiß«. (SWB II, 289, 3 ff.; Hervorh. H. v. K.) Mit dem Zurückweisen jenes Prüfungsverfahrens nämlich, das, nach dem Dafürhalten des Erzählers, dem Kandidaten zu wenig Raum lasse für eine heuristische Wahrheitsfindung, variiert Kleist – aus didaktischer Perspektive – die zentrale sprachtheoretische Prämisse des Aufsatzes. Diese besagt, daß das Bewußtsein das im Gedächtnis Gespeicherte nur über subjektiv gesteuerte Assoziationsketten abrufe, unkommandierbaren Mechanismen also, deren In-Gang-Setzen von einer affektiven Stimulation abhänge.112

Insofern handelt es sich bei dem Examen um ein Beispiel des Misslingens der »Verfertigung der Gedanken beim Reden, das heißt: einer nicht gelingenden Übersetzung von schon formierten Gedanken in Rede«.113 Bei einem Examen werden auch nur »ganz gemeine Geister, Leute, die, was der Staat sei, gestern auswendig gelernt, und morgen schon wieder vergessen haben« (SWB II, 289, 5 ff.), mit einer Antwort parat stehen. Es liegt insbesondere an der »Unanständigkeit dieses ganzen Verfahrens: man würde sich schon schämen, von jemandem, daß er seine Geldbörse vor uns ausschütte, zu fordern, viel weniger, seine Seele«, dass es »keine schlechtere Gelegenheit […] [gibt] sich von einer vortheilhaften Seite zu zeigen«. (SWB II, 289, 9 ff.) Die fehlende Bekanntschaft mit dem Prüfer kommt in der Examensituation neben der mangelnden Gemütserregung erschwerend hinzu. Denn »selbst der geübteste Menschenkenner, der in der Hebammenkunst der Gedanken, wie Kant sie nennt, auf das Meisterhafteste bewandert wäre, […] [könnte,] wegen der Unbekanntschaft mit seinem Sechswöchner, Misgriffe thun«. (SWB II, 289, 18 ff.) Dementsprechend bekommt Rühle von Lilienstern zu Beginn auch den Ratschlag, mit einem »Bekannten« darüber zu sprechen, ebenso wie nur die Schwester das Ich »durch geschickte Fragen auf den Punct« hinführen allgemeinen Code – für den Idealfall der »gelungenen Kommunikation« müssen also im jeweiligen Moment individueller und allgemeiner Code übereinstimmen. 112 Kapp 2000, S. 333. 113 Paß 2003, S. 115.

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kann, auf den es ankommt. (SWB II, 284, 34 f.) Mit der Form der Mäeutik, der »Sokratischen ›Induktion‹«, soll das Bewusstsein zum Sprechen gebracht werden. Auf diese Weise soll es »der in ihm selbst liegenden Macht, der eigenen und unverbrüchlichen Spontaneität, versichert werden«.114 So erringt der Mensch mit der Sprache nicht nur eine neue Macht über die Dinge, über die objektive Wirklichkeit, sondern auch eine neue Macht über sich selbst.115

Doch es ist sehr schwer, »auf ein[em] menschliche[n] Gemüt zu spielen, und ihm seinen eigenthümlichen Laut abzulocken, es verstimmt sich so leicht«.116 (SWB II, 289, 15 ff.) Die einzige Chance, die diese »jungen Leute[]« bei einem Examen haben, sind »die Gemüter der Examinatoren, wenn die Prüfung öffentlich geschieht«. (SWB II, 289, 22 ff.) Denn ihr Verstand ist ebenso auf eine mustergültige Probe eingestellt. Liegt es doch auch an ihnen, ob sie die Gemüter ihrer Prüflinge erregen oder diese auf einer vorgezeichneten Landkarte Routen des Gedächtnisses abschreiten lassen, um deren Spannweiten zu ermessen.

114 Cassirer 1985, S. 138. 115 Ebd., S. 138. 116 Erich Schmidt erwähnt bez. der Hebammenkunst: »Das bekannte Wort von der ›Hebammenkunst der Gedanken‹ geht auf P l a t o zurück, in dessen Dialog ›Theätet‹ […] Sokrates von sich sagt, daß er als der Sohn einer Hebamme, die Hebammenkunst […] auf geistigem Gebiet ausübe. Bei Kant die Stelle zu finden, auf die Kleist möglicherweise sich verließ, hat mir viel vergebene Mühe und Zeit gekostet, bis mir auch Herr Dr. Rudolf Reicke aus Königsberg schrieb (24. 05. 1905), er glaube nicht, daß Kleist irgend eine Stelle aus Kants während seiner Lebenszeit erschienenen Schriften im Auge gehabt habe; denn die Stelle in Kants Brief an Plücker vom 26. Januar 1796 […]: ›daß ich gleichsam nur die Hebamme Ihrer Gedanken war‹, worauf Dr. Schöndörffer aufmerksam machte, kann, als damals nicht gedruckt, nicht in Betracht kommen. Dagegen verweist Reicke auf die Schrift von ›Immanuel Kant über Pädagogik‹, […] wo es heißt: ›Bei der Ausbildung der Vernunft muß man sokratisch verfahren. Sokrates nämlich, der sich die Hebamme der Kenntnisse seiner Zuhörer nannte, gibt in seinen Dialogen, die uns Plato gewissermaßen aufbehalten hat, Beispiele, wie man selbst bei alten Leuten manches aus ihrer eigenen Vernunft hervorziehen kann‹. Diese Stelle kehrt in der während Kleists Königsberger Aufenthalt zu Leipzig erschienenen, anonymen ›Biographie Kants‹ […] wörtlich wieder. Beide Schriften könnte Kleist gelesen haben. Zu bemerken ist noch, daß Kleist in der Sphäre des Hebammengeschäfts verbleibt und den Examinanden als ›Sechswöchner‹ bezeichnet; diese maskuline Neubildung Kleists, die an Kühnheit nichts zu wünschen übrig läßt, fehlt dem ›Deutschen Wörterbuch‹ gänzlich.« (Hervorh. E. S.). Schmidt, Erich (Hrsg.): Heinrich von Kleists Werke. Im Verein mit Georg Minde-Pouet u. Reinhold Steig. Kritisch durchgesehene und erläuterte Gesamtausgabe. 4. Band. Leipzig, Wien: Bibliographisches Institut 1904/1906, S. 249 f.

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2.1.4. Resümee Der »Sprachessay« veranschaulicht, auf welche Art und Weise sich Gedanken während der Rede entwickeln, worauf bei der Verfertigung geachtet werden muss, welche Störfaktoren es auszuschalten gilt und inwiefern Sprache grundsätzlich von gesellschaftlichen Faktoren, die nicht in der Macht des Sprechers liegen, abhängig ist. Das anschaulichste Beispiel dafür ist der Essay selbst, als autoreferentielles117 Objekt. Nach Gabriele Kapp ist der »Sprachessay« nach dem Gestaltungsprinzip der Periode strukturiert. Überblickt man aus dieser Perspektive die Anlage des Aufsatzes, entdeckt man folgendes Strukturierungsprinzip: eine erzählende Partie geht über in eine erörternde und mündet schließlich in der Mehrwertigkeit eines prägnanten Bildes, in einem Bild, in dem Reflexion und Anschauung zur Synthese gelangen. […] Kleist wendet also in der Disposition genau jenes Gestaltungs-Gesetz an, dem auch der Beispielsatz zur Verfertigung der Periode unterstellt ist: Die Assoziationsketten sind nur scheinbar unverbunden; in Wirklichkeit erweisen sie sich, ästhetisch und logisch konsistent, eingebunden in eine in sich kohärente Komposition.118

Für die Rede, schon für die prinzipielle Entstehung der ihr zugrunde liegenden Gedanken und Worte, ist die Erregung des Gemüts ein unabdingbarer Bestandteil. Es gilt, das Gemüt in die richtige Schwingung zu versetzen, anzuspannen; das kann mitunter so weit führen, dass die Funken fliegen. Scheu sollte zur Verfertigung einer gelingenden Rede abgelegt werden, es geht schließlich darum, spontan das Wort zu ergreifen und sogar in einer Notsituation die Fäden in der Hand zu behalten. Und selbst die größten Redner wussten vor Beginn einer wichtigen Rede oft nicht, was sie sagen würden. Zur Gemütserregung kommt es durch ein Gegenüber. Dabei handelt es sich um niemand Bestimmtes, das Gegenüber muss auch nicht besonders klug sein, nicht einmal etwas sagen muss es, Widerrede ist nicht notwendig, die bloße Anwesenheit reicht aus. Von Belang ist weiter, sich die Rede nicht entreißen zu lassen. Überhaupt wenn die Gegenpartei in keiner wohlwollenden Haltung zu einem selbst steht. Dann heißt es, wenn es sein muss, mithilfe der Sprache auch zuzubeißen, um die Oberhand in der Auseinandersetzung zu behalten. Die Kraft der Sprache führt bisweilen zu machtvollen Reden, nach denen nichts mehr so ist, wie es einmal war. Das besagt auch: Bedeutung ist nicht, sondern Bedeutung wird gemacht. Zu vermeiden ist, Gedanken schon im Vorfeld festlegen zu wollen. Dadurch kann es zu Blockaden kommen. Im schlimmsten Fall fällt die Gemütserregung dann so weit ab, dass letztlich gar kein Ausdruck mehr möglich ist. Neben dem Gemüt stellt auch die Übersetzung individueller Gedanken in den allgemeinen 117 Rohrwasser 1993, S. 161. 118 Kapp 2000, S. 374.

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Sprachcode eine Herausforderung dar: »Die Übersetzung des synchron Gedachten in das diachron Gesagte ist eine Tätigkeit«, bei der »die Regeln des Denkens […] in die Regeln der Sprache« transponiert werden müssen, »während beim allmählichen Verfertigen der Gedanken beim Reden das Denken immer schon den Regeln der Sprache unterworfen, oder: das Denken als inneres Reden dem äußeren Reden kongruent ist«.119 Rhetorische Fähigkeiten sind auf jeden Fall hilfreich, erst recht, wenn die Gemütserregung abfällt. Beim Examen besteht grundsätzlich ein Mangel an Gemütserregung. Außerdem ist der Mangel an Bekanntschaft zwischen den Personen hinderlich. Eine gelungene Rede entsteht entweder in einer privaten Situation, in der man sich wohl fühlt, in der es zu einer produktiven Anregung kommt und die Übersetzung von Gedanken in Rede glückt, oder aber in der völlig gegensätzlichen Situation extremer Anspannung, in der ein permanenter Erregungszustand herrscht und das Rad der Gedanken auf Hochtouren läuft. Der Essay endet mit »(Die Fortsetzung folgt)«, was aber nie der Fall war. Michael Rohrwasser verweist diesbezüglich auf eine Fährte, die es aufzunehmen gilt. Es geht darum, Kleists Texte weiter zu lesen und »den sich allmählich verfertigenden Gedanken zu schnappen«.120 Die Wendung erinnert an die romantische Tradition der Unabgeschlossenheit, des Fragments, als das wahre Kunstprodukt. Besonders deutlich wird hervorgehoben, dass konstruierte Redesituationen und erzwungenes Sprechen nicht funktionsfähig sind und nur bestimmte Erwartungen und Abhängigkeiten der verschiedenen Gesprächspartner aufzeigen.

2.2. Über das Marionettentheater Der Sitz der Seele ist da, wo sich Innenwelt und Außenwelt berühren. Wo sie sich durchdringen, ist er in jedem Punkte der Durchdringung.121

Die Erzählung »Über das Marionettentheater« entstand 1810 und wurde von Heinrich von Kleist im Rahmen der »Berliner Abendblätter«122 selbst herausgegeben. Der gesamte Text erschien an vier aufeinanderfolgenden Tagen als Fortsetzung: von 12. 12. 1810 bis 15. 12. 1810.123 Bedingt durch die Herausgabe 119 120 121 122 123

Theisen 1994, S. 735. Rohrwasser 1993, S. 161 f. Novalis 2008, S. 362 [nach dem Erstdruck im Athenaeum 1798]. Siehe: Schulz 2007, S. 460. Siehe: Kleist-Handbuch, Breuer (Hrsg.) 2009, S. 152 f.; Beil, Ulrich Johannes: ›Kenosis‹ der idealistischen Ästhetik. Kleists ›Über das Marionettentheater‹ als Schiller-réécriture. In:

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unterliegt der Text einer vierteiligen Gliederung; die letzten beiden Teile (die Binnenerzählungen, »Dornauszieher«- und »Fechter-Episode«) sind parallel aufgebaut und bestehen aus gleich vielen Absätzen. Insgesamt umfasst der Text 48 Absätze. Sie verweisen auf einen Gesprächswechsel der Protagonisten oder markieren thematische Vertiefungen sowie Erweiterungen des zuvor Dargestellten. Der erste Teil beginnt mit einer Einleitung und grundlegenden Informationen zu dem Marionettentheater, erläutert die Mechanik der Puppen und die Arbeit des Maschinisten. Der zweite Teil beschäftigt sich näher mit dem Schwerpunkt, den es bei den Puppen zu regieren gilt, und seinen Auswirkungen; die Antithese Anmut/Ziererei (Grazie/Eitelkeit) wird anhand von drei Beispielen von Tänzern der Oper aufgebaut; weiters wird die Religion, der Fall des Menschen, in Zusammenhang mit dem verlorenen Schwerpunkt, der verrutschten Seele, dargestellt; zusätzlich wird das Verhältnis Mensch/Puppe (Gott/Gliedermann) näher betrachtet. Im Zentrum aber stehen die Bedeutung der Unschuld und die Erkenntnis sowie das Sich-Bewusstwerden, dazu dient das Beispiel des jungen Mannes, die »Dornauszieher-Episode« (die erste Binnenerzählung). Als »Beschluß«124 dient die »Fechter-Episode« mit dem Bären und eine zusammenfassende Darlegung zentraler Begriffe mit abschließender kurzer Erörterung. Allgemein wird von drei im Text verhandelten Beispielen gesprochen: der Marionette, dem Jüngling (»Dornauszieher-Episode«) und dem Bären (»Fechter-Episode«). Über die Gattungsfrage ist sich die Forschung bis dato nicht einig geworden. Diese Uneinigkeit rührt daher, dass »die Analysen dieses Kleistschen Textes […] im Grunde auf den gattungsgeschichtlichen Prämissen beruhen, die den verschiedenen Deutungen unausgesprochen zugrunde liegen«125. Bezeichnet wurde Kleist-Jahrbuch (2006), S. 75 – 99, hier S. 78 f.; Wild, Christopher J.: Wider die Marionettentheaterfeindlichkeit. Kleists Kritik bürgerlicher Antitheatralität. In: Kleist-Jahrbuch (2002), S. 109 – 141, hier S. 109 ff. Wild verweist weiters auf den »Berliner Marionettentheaterstreit um 1810« und die Zensur »aller das Theater betreffende[] Artikel« der »Berliner Abendblätter«. Die Zensur, »Bekämpfung und Unterdrückung« des Puppenspiels als »niederer Theaterform[]« ging aus der »theaterpolitischen Allianz zwischen Ifflands Königlichem Nationaltheater und dem preußischen Staat« hervor. Das »Puppenspiel« wurde als »eine Gefahr für die moralische Hygiene des sozialen Körpers« bezeichnet und somit als unsittsam mit einem Verbot belegt. Wild 2002, S. 109 ff.; Eybl 2007, S. 256 f.; Weigel, Alexander: Das imaginäre Theater Heinrich von Kleists. Spiegelungen des zeitgenössischen Theaters im erzählten Dialog Ueber das Marionettentheater. In: Beiträge zur Kleist-Forschung (2000), S. 21 – 114, hier S. 21; im Besonderen geht er auf die Möglichkeit des Textes als Kritik gegen Iffland und seine Theaterprinzipien ein. 124 Kleist, Heinrich von: Sämtliche Werke. Brandenburger Ausgabe. Hrsg. v. Roland Reuß u. Peter Staengle. Bd. II/7. Berliner Abendblätter I. Basel, Frankfurt am Main: Stroemfeld, Roter Stern 1997, S. 329. 125 Durzak, Manfred: Kleist und Hebbel. Zwei Einzelgänger der deutschen Literatur. Hrsg. v.

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der Text als: Prosadichtung, Parabel, Abhandlung, Aufsatz, Schrift, Traktat, Essay, Diskurs, Studie, Satire, Feuilleton, Gespräch, Plauderei oder theatralisch inszenierter Dialog à la Platon.126 Die Konstellation der beiden Protagonisten lässt darauf schließen, dass es sich um eine Erzählung mit dialogischer Grundstruktur handelt. Bei der narrativen Instanz127 der Erzählung handelt es sich nach Hans-Christoph Graf v. Nayhauss u. Anne-Christin Nau. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, S. 31 – 48, S. 32. »Betrachtet man die Arbeit z. B. unter philosophischem Aspekt, so impliziert man in der Regel die Form des philosophischen Traktates oder Aufsatzes, die von sich aus ganz bestimmte Postulate an die Gedankenführung dieser Arbeit richtet […]. Erkennt man in dem Text hingegen eine dichterische Parabel, so wird man die Struktur von ganz anderen formalen Gesichtspunkten aus beurteilen. […] Erblickt man schließlich in dem Text eine Reflexion des dichterischen Schaffensvorganges bei Kleist, so sind es die Formmaßstäbe eines poetologischen Essays, die angelegt werden. Es ist in diesem Falle Reflexion, deren Qualität nicht wie im philosophischen Traktat daran gemessen werden kann, ob ein logischer Zusammenhang hergestellt wird, der in sich schlüssig ist. Die Bedeutung dieser Reflexion geht vielmehr aus der Relation zum dichterischen Werk hervor. Der poetologische Essay gibt lediglich Hinweise auf einen Zusammenhang, der als solcher nie rational manifest wird, sondern im dichterischen Werk selbst vermittelt ist.« Durzak 2004, S. 32. Durzak bezeichnet den Text schließlich als »dialogische Erörterung eines bestimmten Themas«. S. 35; siehe weiters: Beil 2006, S. 76; Allemann 1981/82, S 53; Kurz, Gerhard: »Gott befohlen«. Kleists Dialog ›Über das Marionettentheater‹ und der Mythos vom Sündenfall des Bewußtseins. In: Kleist-Jahrbuch (1981/82), S. 264 – 277, hier S. 264. 126 Beil 2006, S. 79 f. 127 Entgegen einer teilweise verbreiteten Auffassung gehe ich davon aus, dass es sich um einen Ich-Erzähler handelt, der nicht mit Kleist gleichzusetzen ist. »Das Ich im Text ist immer ein anderes Ich, ein ersatzhaftes, supplementierendes, ein textuelles Ich durch figurale Transformation und Effekt des Schreibers oder Lesens.« (Hervorhebung A. B.) Babka, Anna: Reading Kleist Queer. Eine rhetorisch-dekonstruktive Lektüre von Kleists Über das Marionettentheater. In: Queer Reading in den Philologien. Modelle und Anwendungen. Mit 41 Abbildungen. Hrsg. v. Anna Babka u. Susanne Hochreiter unter Mitarbeit v. Meri Disoski, Ursula Knoll, Julia Malle, Renaud Lagabrielle u. Maria Katharina Wiedlack. Göttingen: V & R unipress 2008, S. 237 – 264, hier S. 250. Paul de Man verfällt in seiner Auseinandersetzung mit dem »Marionettentheater« der Gleichsetzung des Erzählers mit dem Autor, wenn er von »K« spricht, in Anlehnung an Herrn C… Dass »K« für Kleist steht, ist eindeutig, obwohl Kleist selbst nie ein K im »Marionettentheater« anführt. De Man entkräftet die These, dass es sich um einen autobiographischen Text handle, gegen Ende seines Aufsatzes, doch die K’s, die er selbst dann noch anführt, bleiben »verdächtig«: »Wer kann sagen, welche schrecklichen Geheimnisse sich hinter dem harmlosen Buchstaben M verbergen mögen? Kleist selbst wäre wahrscheinlich am allerwenigsten fähig gewesen, uns darüber aufzuklären, und wäre er es, so wären wir gut beraten, sein Wort nicht für bare Münze zu nehmen. Die Entscheidung darüber, ob Kleist seinen eigenen Text als autobiographischen oder als rein fiktiven verstanden hat, gleicht der Entscheidung darüber, ob Kleists Schicksal als Person und als Schriftsteller durch das Faktum besiegelt wurde, daß ein gewisser Doktor der Philosophie zufällig den lächerlichen Namen Krug trug. Eine Geschichte, die von so vielen K durchzogen ist wie diese (Kant, Kleist, Krug, Kierkegaard, Kafka, K), muß, gleichgültig, wie man sie deutet, verdächtig bleiben.« De Man, Paul: Ästhetische Formalisierung: Kleists Über das Marionettentheater. In: Ders.: Allegorien des Lesens. Aus d. Amerik. v. Werner Hamacher u. Peter Krumme. Mit einer Einl. v. Werner Hamacher. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 205 – 233, hier S. 226 f. Tim Mehigan schließt sich im Großen und Ganzen der Meinung de

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Genette128 um einen extradiegetisch-homodiegetischen und gleichzeitig autodiegetischen Erzähler, der von einem Zusammentreffen mit »Hrn. C.«129 (SWB II, 425, 32) in der Vergangenheit berichtet. Die Erzählung enthält wiederum zwei Binnenerzählungen, wovon die eine der Ich-Erzähler selbst erzählt und die zweite Herr C… Insofern handelt es sich bei beiden Binnenerzählungen um einen intradiegetisch-homodiegetischen Erzähler. Der Erzähler erzählt uns eine Geschichte, die sich vor dem Zeitpunkt des Erzählens ereignet hat. Genauer: Das Ich gibt ein Gespräch wieder, das es mit Herrn C… geführt hat. Das Ich beschreibt, wie das Gespräch abgelaufen ist.130 Dieses mimetische Modell wird allerdings selber noch durch den stetigen Wechsel zwischen direktem Zitat (sozusagen reiner Mimesis) und dem schwer faßbaren Mittel des style indirect libre kompliziert. Beide Formen wechseln einander beständig ab und schlingen sich auf kürzestem narrativem Raum ineinander. Das Resultat ist eine kalkulierte Vordergrundstellung des Erzählers, die ein diëgetisches Element wiedereinführt und die Mimesis in derselben Weise schwächt, wie konjunktivische oder konditionale Verbformen die Autorität von im Indikativ aufgestellten Behauptungen schwächen.131 (Hervorhebungen P. d. M.)

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Mans an (S. 94) und verschränkt ebenso Kleist mit dem Erzähler, wenn er die Begriffe »Verwirrung« und »Mißgriffe« mit Kleists Leben in Verbindung bringt: »These moments of confusion are also the moments of sickness and disquietude in Kleist’s own life.« Mehigan 2011, S. 89. Genette, Gérard: Die Erzählung. 3., durchges. u. korr. Auflage. Übersetzt v. Andreas Knop mit einem Nachwort v. Jochen Vogt überprüft u. berichtigt v. Isabel Kranz. Paderborn: Fink 1998, siehe S. 159 ff. Es gibt einen Unterschied in der Schreibweise des Gegenübers: Zu Beginn wird der Name »Hrn C.« (SWB II, 425, 32) lediglich mit einem Punkt abgekürzt; im letzten Teil wird er zweimal mit Auslassungspunkten wiedergegeben: »Herr C…« (SWB II, 431 f., 21/27) Es scheint sich dabei um einen Übertragungsfehler zu handeln, da ausgeschlossen werden kann, dass eine weitere Figur in der Erzählung auftritt. Sämtliche Ausgaben verwenden an den jeweiligen Stellen diese beiden unterschiedlichen Formen der Abkürzung des Namens. In Folge werde ich, aus Gründen der Einheitlichkeit, den Namen mit Auslassungspunkten angeben. Ein Übertragungsfehler scheint sich ebenfalls bei »Herrn v. G…« (SWB II, 431, 25) ereignet zu haben; ein einziges Mal ist er mit einem Abkürzungspunkt geschrieben. »Die Textstruktur stellt sich in Wirklichkeit noch komplizierter dar, als es aus dem Hinweis auf den Gesprächscharakter an sich schon hervorgeht. Es handelt sich ja genau genommen gar nicht um die bloße (fiktionale) Reproduktion eines (fiktiven) Gesprächs, sondern um den erzählerischen Bericht über ein Gespräch, das [fast, P. Sch.] zehn Jahre zurückliegen soll und dabei […] um einen Bericht, der von einem der damaligen Gesprächspartner erstattet wird.« Allemann 1981/82, S. 55. (Hervorh. B. A.) De Man 1988, S. 216. »Was C sagt, wird in direkter Rede wiedergegeben, aber ›Ich sagte, nein‹ ist freie indirekte Rede, wie aus dem Konjunktiv ›wäre‹ deutlich wird. Wechsel zwischen zwei verschiedenen Redeformen erscheinen regelmäßig im gesamten Dialog.« De Man 1988, S. 233, Anm. 9.

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Als Besonderheit wird die Unterstützung der Vermittlung durch Gesten132 gesehen, die Pantomimik. Nichts Befremdliches ist daran, dass die Wesensart der Marionetten, die »Pantomimik dieser Puppen« (SWB II, 426, 6), auf die Protagonisten übertragen wird. Heißt es doch, dass »ein Tänzer, der sich ausbilden wolle, mancherlei von ihnen lernen könne«. (SWB II, 426, 8 f.) Demzufolge ist es auch nicht erstaunlich, dass »die von Kleist für die Beschreibung des Dialogs verwendeten Ausdrücke in hohem Maße der Sprache des Körpers und seiner Bewegungslogik entliehen«133 sind. Die Gesten muten mitunter an wie Regieanweisungen eines dramatischen Textes: »Er lächelte«; »ich [schlug] den Blick schweigend zur Erde«; »er seinerseits [sah] ein wenig betreten zur Erde« (SWB II, 428, 4/10 f./28 f.); »indem er eine Prise Tabak nahm« (SWB II, 430, 10). Weiters sind noch die Bewegungsbeschreibungen in den Beispielen der Tänzer, des Jünglings und des Bären zu nennen, Letzterer scheint gar in seiner Geste erstarrt zu sein: »Der Bär stand, als ich erstaunt vor ihn trat, auf den Hinterfüßen, mit dem Rücken an einen Pfahl gelehnt, an welchem er angeschlossen war, die rechte Tatze schlagfertig erhoben und sah mir ins Auge: das war seine Fechterpositur«. (SWB II, 432, 1 ff.)134 Diese Gesten sind nonverbale Abwendungen von der Rede, ein Durchbrechen des persuasiven Diskurses, so wie die immer wiederkehrende Abwendung vom Dialog und Hinwendung zu den Geschichten selbst wieder Abwendung vom Redegegenstand ist. Dieses (paradoxe) Element der narrativen Unterbrechungen kann selbst nur mehr als tautologisches Element des bereits disruptiven rhetorischen Gestus des Textes gelesen werden.135

132 »Während Gestik und Mimik in der Rhetorik vornehmlich die Aufgabe zukam, die sprachliche Rede bei der Erzeugung von Affekten zu unterstützen, trennen die anthropologischen, medizinischen und ästhetischen Diskurse der Aufklärung die ›natürliche Sprache des Körpers‹ immer schärfer von der Rede und Schrift ab. […] In klarer Opposition zur Sprache verheißt die Gebärde des Körpers der aufklärerischen Anthropologie unmittelbaren Zugang zu den Gemütsbewegungen im ›Innern‹ des Sprechenden […]. Während die Arbitrarität des sprachlichen Zeichens Rede und Schrift unausweichlich zur missverständlichen Mittelbarkeit verdammt, soll das Ausdrucksmedium Körper die paradoxe Möglichkeit einer Zeichensprache ohne Differenz zwischen Signifikat und Signifikant offerieren.« Lemke, Anja: »Gemüts-Bewegungen«. Affektzeichen in Kleists Aufsatz ›Über das Marionettentheater‹. In: Kleist-Jahrbuch (2008/09), S. 183 – 201, hier S. 183. Bei Kleist haben wir es, mit Kommerell, mit einem Dichter zu tun, »der mit den Mitteln der Sprache in Gebärden dichtet«. Kommerell 1962, hier S. 306. 133 Lemke 2008/09, S. 198. 134 Anja Lemke verweist noch zusätzlich auf die besondere »Beschreibung der agonalen Struktur des Gesprächs« in der »Fechter-Episode«. Ebd., S. 198. In diesem Moment findet sich eine weitere Übereinstimmung mit dem »Sprachessay«. 135 Babka 2008, S. 247. Weiter: »Die Ohnmachten der Figuren, die zahllosen Gesten des Errötens und Erblassens, diverse körperliche Zeichen der Raserei oder Wut, des Schreckens oder der Freude gelten immer als unmittelbare Artikulation des stummen Körperwissens. Insofern unterscheiden sich die Kleistschen Figuren auch von den Helden der nicht klassischen

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Das »Marionettentheater« beginnt damit, dass der Ich-Erzähler verwundert und erstaunt ist über das Interesse des ersten Tänzers der Oper in der Stadt M…, des Herrn C…, bezüglich der »für den Haufen erfundene[n], Spielart einer schönen Kunst«. (SWB II, 427 f., 39/1) Dass sich Herr C… nicht nur für das Marionettentheater interessiert, sondern sogar selbst damit beschäftigt, stellt für den IchErzähler ein Rätsel dar. In der Folge geht es um die Erläuterung des Reizes sowie die Bedeutung dieser »schönen Kunst« für den Menschen, den Tänzer. Die Erzählung ist in besagter Stadt M… in einem öffentlichen Garten situiert. Befremdlich wirkt der Zeitpunkt der Geschichte; Herr C… sitzt im »Winter 1801 […] eines Abends, in einem öffentlichen Garten«. (SWB II, 425, 31 f.) Dort kommt es zu dem Zusammentreffen der Protagonisten. Der Ich-Erzähler lässt sich nach einem einleitenden Wortwechsel bei Herrn C… nieder, »um ihn über die Gründe« seiner, oben erwähnten, sonderbaren Behauptung bezüglich des Marionettentheaters und des Vorteils für auszubildende Tänzer »näher zu vernehmen«. (SWB II, 426, 12 f.) Hierbei haben wir es m. E. nicht mit der Verortung des Gesprächs auf einer Theaterbühne136 zu tun, sondern mit dem ersten Merkmal jener rhetorischen Praxis, nach der das »Marionettentheater« verfährt. Mittels der Zeit- und Ortsangabe wird eine paradoxe Situation inszeniert. Diese »scheinbar widersprüchliche Aussage« weist »auf einen höheren Sinn« hin, der jedem Paradoxon innewohnt und der einen Tenor des Unausgesprochenen als roten Faden durch das »Marionettentheater« zieht137. Die widersprüchlichen Aussagen, die Antithesen, sollen als solche gelesen werden, um durch Abstrahierung und Reduzierung das unausgesprochene Gemeinte zu erahnen. Denn es geht, nach Debriacher, im »Marionettentheater« um die Suche »einer Synthese

Schauspiele Goethes und Schillers, da sie ihr Eigenstes nicht benennen können. Sie können ihr Seelenleben nicht verbalisieren, da es ihnen selbst nicht bewusst ist. Die einzige Möglichkeit sich verständlich zu machen, und sei es auch nur um mitzuteilen, dass man sich selbst ein Rätsel sei, liegt in der Gebärde, in der wortlosen Äußerung.« Debriacher, Gudrun: Die Rede der Seele über den Körper. Das commercium corporis et animae bei Heinrich von Kleist. Wien: Praesens 2007, S. 133. 136 Vgl. Földényi, László F.: Die Inszenierung des Erotischen. Heinrich von Kleist, ›Über das Marionettentheater‹. In: Kleist-Jahrbuch (2001), S. 135 – 147. 137 »[D]as Oxymoron [ist] Ausdruck eines verdeckten Sinns […], den es überraschend und denkanregend zum Ausdruck bringt. […] Das Paradox (paradoxon) kann als gedanklich und sprachlich gesteigerte Form des an sich schon zur Paradoxie tendierenden Oxymorons betrachtet werden. Die nur scheinbar widersprüchliche Aussage weist dabei auf einen höheren Sinn hin und findet sich meist in sentenziöser Form […].« Ueding u. Steinbrink 1994, S. 314; beim Paradoxon geht es auch darum, das »Wert- und Wahrheitsempfinden […] des Publikums« zu schockieren und somit zum Nachdenken anzuregen. Lausberg 2008, § 64,3. Im »Marionettentheater« benennt der Ich-Erzähler die Erläuterungen des Herrn C… selbst als ein Paradoxon: »[S]o geschickt er auch die Sache seiner Paradoxe führe«. (SWB II, 429, 39)

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zwischen Geistigem und Sinnlichem […], um […] die Wechselwirkungen zwischen Körper und Seele darzustellen«138. Bewegungen, deren Abfolgen und Schwerpunkte, gelten als fundamentale Thematiken des »Marionettentheaters«. Bei den Menschen sind Letztere aus dem Lot geraten. Bewegung wird im Tanz, beim Fechten oder als wiederholte Geste, also kreisförmig dargestellt. Der Kreis sowie dazugehörige Formen wie Ellipse und Hyperbel (alle aus der Familie der Kegelschnitte) zählen zu den ausgewählten Vergleichsfiguren. Besonders ist auf die fachübergreifende Bedeutung der Ausdrücke hinzuweisen. Zu den Kegelschnitten gehört auch die Parabel, die u. a. auch als Gattungsbezeichnung für das »Marionettentheater« herangezogen wird. Rüdiger Görner spricht vom »Marionettentheater« als einem Versuch, »Bewegung in ihren diversen Ausprägungen« darzustellen. Es sind Formen mechanischer Bewegung, imitierender mythischer Bewegung und Reflexbewegungen, »Denk-Bewegung[en]«.139 Nach Mehigan kann mit de Man eine weitere Verbindung zum »Sprachessay« hergestellt werden. Für ihn zeigt sich gegen Ende, Worte hätten »no bearing on reality or an empirically demonstrable truth«, »since their rightful aim is to reduce the history of the world to a narrated phenomenon, a story«.140 Er kommt zu dem Schluss, in Anlehnung an den Mythos vom Fall des Menschen, dass das »Marionettentheater« von der Unverständlichkeit, der Unklarheit von Worten per se handelt.141 Neben der Bewegung stehen verschiedene Kunstsparten im Zentrum des »Marionettentheaters«: Tanz, Malerei, Kunst-Tischlerei, Architektur, Bildhauerei, Fechten (als Kampfkunst). Das Gemeinsame der Kunst und der Naturwissenschaft (Mathematik und Physik) ist, m. E., ihre Funktion, ein Abbild der Welt zu liefern, die Welt darzustellen, zu imitieren und zu interpretieren; Gesetze der Mechanik des Ganzen zu suchen, eine Parabel des Menschen und der Welt zu geben. Die Naturwissenschaften in Form der Beschreibung und des Erklärens; die Kunst in Form von immer neu Geschaffenem, das Alte tradierend.

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Debriacher 2007, S. 51. Görner 2011, S. 33. Mehigan 2011, S. 98. »This criticism is directed above all at the myth of the Fall and of its negation, which can hold substance only provided that words are dismembered from their referents and are no longer required to have meaning. This, indeed, is why the ›Marionettentheater‹ is about the disarticulation of words themselves.« Ebd., S. 99.

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2.2.1. Schwerpunkt Um den »Rhythmus der Bewegungen« der Puppen zu erzeugen, braucht es nicht »Myriaden von Fäden«, es geht lediglich darum, den Schwerpunkt der Bewegung »in dem Innern der Figur« zu regieren. (SWB II, 426, 23 ff.) Der Schwerpunkt wird als gerade Linie vorgestellt. Gerät er in Bewegung, beschreiben »die Glieder schon Courven«, erzittert das Ganze sogar nur »auf eine bloß zufällige Weise«, handelt es sich um eine dem Tanz ähnliche Bewegung. (SWB II, 426, 35 f.; Hervorh. H. v. K.) Die Verbindungslinie zwischen Maschinist und Puppe ist auf der einen Seite der Faden, der die Puppe hält und mittels dessen der Schwerpunkt regiert werden kann, aber »von einer andern Seite, etwas sehr Geheimnisvolles«. (SWB II, 427, 20 f.) Nämlich »der Weg der Seele des Tänzers«. (SWB II, 427, 22; Hervorh. H. v. K.) Um ihn zu finden, muss sich der Maschinist in den Schwerpunkt versetzen, »d. h.[, dass er,] mit anderen Worten, tanzt«. (SWB II, 427, 24 f.; Hervorh. H. v. K.) In dem Versinken des Maschinisten in den Schwerpunkt sieht Beda Allemann das »Grundparadoxon […], dessen Existenz erst zugegeben, dann im übernächsten Glied der Argumentationskette zum Verschwinden gebracht wird«.142 Günter Blamberger erkennt in der »Verbindung von Maschinist und Puppe« den perfekten »Zusammenhang zwischen Geist und Körper«.143 Für Bianca Theisen »versetzt sich [der Maschinist] in den Schwerpunkt der Marionette und an den leeren Platz, wo die Seele des Tänzers – der Marionette nämlich – offenbar fehlt«.144 Im Sinne des ästhetischen Diskurses formuliert Anja Lemke: Der Maschinist, der sich in das Innere der Puppe versetzt, bleibt etwas dem Körper Fremdes. Im Mittelpunkt des Körpers als dem angestammten Sitz der Seele nimmt die Kunst selbst Platz. Diese Durchsetzung mit Kunst macht auch vor dem menschlichen Körper nicht halt. Vielmehr sind gerade diejenigen Tänzer der Puppe am nächsten, deren natürliche Körper sich durch ein künstliches Substitut auszeichnen.145

Die Beschreibung des Schwerpunktes, der Mechanik der Marionetten gleicht einer Kurvenbesprechung. Von der Krümmung einer Geraden und deren

142 Allemann 1981/82, S. 59. 143 Blamberger, Günter: Ars et Mars. Grazie als Schlüsselbegriff der ästhetischen Erziehung von Aristokraten. Anmerkungen zu Castiglione und Kleist. In: Resonanzen. Festschrift für Hans Joachim Kreutzer zum 65. Geburtstag. Hrsg. v. Sabine Doering, Waltraud Maierhofer u. Peter Philipp Riedl. Würzburg: Königshausen & Neumann 2000, S. 273 – 281, hier S. 280. 144 Theisen 1996, S. 50. »Versetzen oszilliert hier nun zwischen ›deplazieren‹ und ›entgegnen‹. Es scheint der Aussage damit angemessen, die dazu auffordert, das Entgegengesetzte, Gott und Materie, in seiner Unterschiedenheit zu ›versetzen‹ und in einem Punkt zusammenzudenken, der damit die Paradoxie der Einheit einer Unterscheidung markiert.« Theisen 1996, S. 51. 145 Lemke 2008/09, S. 195.

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Funktionen, resp. Ordnungen, ist die Rede. Ihre »Form der Bewegung« ist aber höchstens elliptisch146, die natürlichste Form, die die »Spitzen des menschlichen Körpers (wegen der Gelenke)« beschreiben. (SWB II, 427, 16 f.) Das Verhältnis der Bewegung der Finger »zur Bewegung der daran befestigten Puppen« stellt sich als »ziemlich künstlich [heraus], etwa wie die Zahlen zu ihren Logarithmen oder die Asymptote zur Hyperbel«.147 (SWB II, 427, 30 ff.) Es werden hier zwei Bewegungen angesprochen, ausgedrückt im Verhältnis, das nur mit zwei Werten funktioniert, einem Ersten und einem Zweiten. Solange das nicht-ableitbare Erste das Problem bleibt, muß differentielle Bewegung als etwas Sekundäres notwendig als Täuschung erscheinen und auf eine Negativierung ihrer selbst hinauslaufen. Dies gilt selbst noch dort, so in frühromantischen Konstruktionen das Erste zwar nur im Zweiten hervorgebracht wird, diese unter den Stichworten Selbstschöpfung und Selbstvernichtung, Progreß und Regreß bekannte Bewegung aber als stete Funktion exponentiellen oder logarithmischen Charakters aufs Unendliche zuläuft. Im Raum des frühromantischen Denkens wird das Problem des nicht-ableitbaren Ersten aufgehoben in der Ableitbarkeit stetiger Funktionen. Die Richtung einer Kurve läßt sich […] tangential an einem der Punkte der Kurve bestimmen. […] Bei einer nicht-ableitbaren Funktion dagegen wird die Homogenität des Punktes in sich gebrochen; indem die Verkettung von Punkt zu Punkt, von Glied zu Glied a-kausal fortschreitet, ohne daß ein Punkt die Folge des nächsten wäre, erscheint die nicht-ableitbare Funktion als eine Aneinanderreihung von geknickten Punkten. Bei Kleists mathematischer ›Fiktion‹ im Marionettentheater könnte man von punktuellen Gelenkstellen in einer rhythmisch skandierten Bewegungsfolge sprechen.148 (Hervorhebung B. T.)

Nachdem Herr C… die mathematisch-physikalische Erklärung gegeben hat, stimmt er trocken dem Ich-Erzähler und seiner zuvor dargelegten Meinung zu, dass das »Geschäfft« des Marionettenspiels etwas »ziemlich Geistloses« sei. (SWB II, 427, 26 f.) Denn »[i]nzwischen« kann der »letzte Bruch von Geist […] aus den Marionetten entfernt werden, [so]dass ihr Tanz gänzlich ins Reich mechanischer Kräfte« fällt und die Bewegung »vermittelst einer Kurbel […] hervorgebracht werden könne«.149 (SWB II, 427, 33 ff.) 146 Bei der Ellipse haben wir es mit einer Leerstelle, einer Auslassung zu tun, sie weist auf eine Ununterscheidbarkeit hin: »Im Marionettentheater hatte der Tänzer die Ununterscheidbarkeit von Puppenspieler und Puppe in der Bewegung an der geometrischen Figur der Ellipse zu verdeutlichen gesucht […]. Sie kennzeichnet […] einen Moment der Ununterschiedenheit, der die Paradoxien der Erzählung organisiert.« Theisen 1996, S. 68 f. 147 Der Logarithmus ist eine Zahl, die mit einer anderen Zahl potenziert werden muss, »um eine vorgegebene Zahl […] zu erhalten«. Duden. Fremdwörterbuch 2001. Asymptote und Hyperbel haben die Besonderheit, dass sie sich aneinander annähern, aber der Schnittpunkt in der Unendlichkeit verbleibt. 148 Theisen 1996, S. 66 f. 149 »Inzwischen« weist in diesem Zusammenhang auf das Jetzt, den Zeitpunkt des Erzählens hin. Das »künstliche« Verhältnis zwischen den Fingern und der Puppe wird im Zusam-

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Einer der größten Vorteile der Puppen gegenüber menschlichen Tänzern liegt darin, dass sie »antigrav«150 sind; der Maschinist hat nur den Schwerpunkt in seiner Gewalt und »so sind alle übrigen Glieder, was sie sein sollen, todt, reine Pendel, und folgen dem bloßen Gesetz der Schwere«. (SWB II, 429, 4 ff.; Hervorh. H. v. K.) Dieses Paradoxon von Schwerelosigkeit und Befolgung der Gravitationsregeln funktioniert nach de Man mittels der Bewegung der Marionetten »um der Trope willen, […] und das allein garantiert die Folgerichtigkeit und Absehbarkeit der wahrhaft anmutigen Bewegungsmuster«.151 Die Puppen leben mit einer Kraft, die sie »in die Lüfte erhebt, [die] größer ist, als jene, die sie an der Erde fesselt […], [sie] brauchen den Boden nur, wie die Elfen, um ihn zu streifen«. (SWB II, 429, 27 ff.; Hervorh. H. v. K.) Ein weiterer Vorteil der Gliederpuppe gegenüber dem Menschen ist ein »negativer«, weil sich die Puppe »niemals ziert[].«152 (SWB II, 428, 38; Hervorh.

menhang mit der Forderung, den letzten »Bruch von Geist« (SWB II, 427, 33 f.) mit reiner Mechanik zu ersetzen, gelesen, wonach die Marionetten »sich selbst programmierende Roboter[]« sind, die mit den »Automaten« der Romantik in Verbindung stehen. Beil 2006, S. 96; Anna Babka versteht den Gliedermann als Cyborg und sieht in der »Figuration des Gliedermanns« die »Möglichkeiten der Verdrehung, Verschiebung, Unterbrechung metaphysischer Vorstellungen von Identität und Ganzheit« gegeben. Babka 2008, S. 238. 150 Für Paul de Man hat dieser Widerspruch »weitreichende Folgen: wenn man in antigrav das französische ›grave‹ hört, dann bedeutet es die Aufhebung des Ernstes, die mit dem ›Gesetz der Schwere‹ einhergeht und in dem Schwere alle Implikationen der Schwermut enthält. Die Unentscheidbarkeit zwischen Ernst und Spiel, das Thema der Geschichte vom Bären, würde – so verstanden – in einer sehr Rilkeschen Synthesis von Steigen und Fallen aufgelöst werden.« De Man 1988, S. 229 (Hervorh. P. d. M.). »Die Puppe ist offenbar in der Lage, die Differenz zwischen Tanz und Tanz, jene Unterbrechung durch die Schwerkraft der Materie, gänzlich zu überwinden. Als antigrave lässt sie die Beschränkung des Körpers und damit auch die problematische Differenz zwischen dem Körper und dem, was er ausdrücken soll, hinter sich. Hier zeigt sich der Traum einer Gestensprache als reiner Ausdruck. Der Tanz wird in dieser Konzeption zum äußersten Gegenpol der Repräsentation, er wird zu einer Sprache, die nichts mehr sagt, weil sie nichts mehr bedeuten will, sondern ganz im Verweis auf sich selbst aufgeht und die Differenz, die der Boden als materieller Gegenpol zum antigraven Ausdruck hier aufzeigt, schließt.« Lemke 2008/2009, S. 195 f. 151 De Man 1988, S. 228; der Dekonstruktivist de Man liest in dem »Marionettentheater« seiner Theorie folgend nicht die Darstellung des Puppenspiels sondern den Text selbst als Tanz der Puppen. »Die ästhetische Kraft hat weder in der Puppe, noch im Puppenspieler ihren Sitz, sondern in dem Text, der sich zwischen ihnen entspinnt. Dieser Text ist das Transformationssystem, die Anamorphose des Fadens, wenn er sich dreht und in die Tropen der Ellipse, der Parabel und der Hyperbel windet. Tropen sind quantifizierte Bewegungssysteme. Die Unbestimmtheiten der Nachahmung und der Hermeneutik sind darin endlich zu einer Mathematik formalisiert, die nicht mehr von Rollenbildern oder semantischen Intentionen abhängen.« Ebd., S. 228. 152 Ziererei wird mit der verrutschten Seele in Verbindung gebracht; wenn man sich ziert, verrutscht die Seele. Dann ist keine Grazie mehr vorhanden. Wie ich noch zeigen werde, geht der Verlust der Grazie, der Anmut, mit einer erstarkenden Eitelkeit einher, die wiederum Ziererei begünstigt (sogenannte falsche Eitelkeit also).

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H. v. K.) Und »Ziererei erscheint, […] wenn sich die Seele (v i s m o t r i x )153 in irgend einem andern Puncte befindet, als in dem Schwerpunct der Bewegung«. (SWB II, 428 f., 39/1 f.; Hervorh. H. v. K.) Wenn also die Seele, die bewegende Kraft, den Schwerpunkt der Bewegung einnimmt, begleitet der Schwerpunkt jede Änderung der bewegenden Kraft resp. Seele, solange »ein Gleichgewichtszustand gewahrt wird«.154 In diesem Fall wäre der Mensch ganz bei sich und in Einklang mit sich selbst. Diese Eigenschaft sucht man bei den Tänzern aber vergebens. Bei ihnen driften der Sitz der Seele und der gravitationsbedingte Schwerpunkt auseinander. Bei der »P… […], wenn sie die Daphne spielt, und sich, verfolgt vom Apoll, nach ihm umsieht«, sitzt »die Seele […] in den Wirbeln des Kreuzes; sie beugt sich als ob sie brechen wollte, wie eine Najade«. (SWB II, 429, 8 ff.) Oder beim »jungen F… […], wenn er, als Paris, unter den drei Göttinnen steht, und der Venus den Apfel überreicht«155, bei ihm sitzt die Seele »gar (es ist ein Schrecken, es zu sehen) im Ellenbogen«. (SWB II, 429, 12 ff.) Der Schwerpunkt der Bewegung des Menschen stimmt nicht mit dem Sitz seiner Seele überein und ein Ungleichgewicht entsteht. Dagegen scheint die Marionette »unangefochten und unbelastet von den bedrückenden Gewalten der Schriftsysteme von Recht, Religion, Familientradition und literarischen Vorbildern zu agieren.156

2.2.2. Mensch »Solche Mißgriffe« der Tänzer, der Menschen, sind »unvermeidlich, seitdem wir von dem Baum der Erkenntniß gegessen haben«. (SWB II, 429, 16 ff.) Unsere Seele ist seither verrutscht. Auch wenn der Ich-Erzähler Herrn C… wissen lässt, dass »so geschickt er die Sache seiner Paradoxe führe, […] [er ihn] doch nimmermehr glauben machen würde, daß in einem mechachischen Gliedermann mehr Anmuth enthalten sein könne, als in dem Bau eines menschlichen Körpers«, muss er sich dieser aufgestellten Behauptung schlussendlich beugen. (SWB II, 429 f., 38 f./1 f.) Der Mensch wird mit dem Gliedermann verglichen und in ein schlechtes Licht gestellt: »Der Tanz der Marionette ist nichts anderes als 153 »[V]is motrix« ist ein Terminus aus der Leibniz-Wolff ’schen Schule des Rationalismus und bedeutet »die bewegende Kraft«. (SWB III, 567) Vgl. weiters: »Den Begriff einer ›vis motrix‹ kennen wir von Kepler und Leibniz; auch Kant verwendet diesen Ausdruck, vor allem in vorkritischen Schriften, um sich dann von ihm zu distanzieren.« Beil 2006, S. 85 f. 154 Durzak 2004, S. 44. 155 Eine auffallende Entgegensetzung zu dem erwähnten biblischen Sündenfall, bei dem der Apfel immer für das Zeichen der Verführung steht, die von der Frau ausgeht. In der mythologischen Darstellung überreicht der Mann, Paris, der Frau, Venus, den Apfel. 156 Eybl 2007, S. 255.

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das Zusammenkommen stetiger Bewegungen, die auf nichts als auf sich selbst verweisen.«157 Die semantische Verschränkung der Marionette mit dem Menschen resp. Tänzer geschieht durch die Wortwahl, durch die Art der Beschreibungen sowie durch den Gesamtaufbau des Textes. Mittels der dialogischen Erzählung und der Betonung der Gesten, bzw. der Pantomimik, ist das Körperliche, der Mensch, als ein Grundelement in den Text eingeschrieben. Klaus Kanzog stellt die Körperlichkeit des Textes, »das Phänomen der Körperbeherrschung, des Lenkens und Gelenktwerdens«, mit dem Ästhetik-Diskurs der Zeitenwende zum 19. Jahrhundert in Bezug.158 Im Umfeld der zentralen Begriffe »Anmut« und »Grazie« hat die Forschung die zeitgenössischen Kontext-Beziehungen weitgehend aufgedeckt […]. [Es ist] die historische Tiefenschärfe des Ästhetik-Diskurses Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts, die in Analogien und Unterschieden den Kleistschen Grundgedanken deutlicher hervortreten läßt. Dabei ist nicht zu übersehen, daß der Ästhetik-Diskurs im Text Über das Marionettentheater konkret auf Phänomene der Körperlichkeit des Menschen bezogen, d. h. anthropologisch konzipiert ist.159

Schon Paul de Man hat in seiner »Ästhetische[n] Formalisierung« das »Marionettentheater« in der Fortführung von Schillers Ästhetik-Konzept gelesen und es als »andere Version[] desselben Themas« bezeichnet, die »einiges von dem, was hinter Schillers Ideologie des Ästhetischen verborgen liegt«160, enthüllt. Für de 157 Debriacher 2007, S. 54. 158 Kanzog, Klaus: Heinrich von Kleists Über das Marionettentheater – wirklich eine Poetik? In: Poetik und Geschichte. Viktor Zˇmegacˇ zum 60. Geburtstag. Hrsg. v. Dieter Borchmeyer. Tübingen: Niemeyer 1989, S. 349 – 362, hier S. 353. Auch Tim Müller spricht von der »Menschenführung«, auf die der Text hinweist. Müller, Tim: Marionettentheater/Menschentheater. Kleists Ethik souveränen Handelns. In: Kleist-Jahrbuch (2010), S. 220 – 236, hier S. 228. 159 Kanzog 1989, S. 354; Lemke 2008/09, S. 184 f. Zur kulturellen Anthropologie siehe außerdem: Neumann, Gerhard: Das Stocken der Sprache und das Straucheln des Körpers. Umrisse Kleists kultureller Anthropologie: In: Heinrich von Kleist. Kriegsfall – Rechtsfall – Sündenfall. Hrsg. v. Gerhard Neumann. Freiburg im Breisgau: Rombach 1994, S. 13 – 29; vgl. weiters: »Dieser Begriff der Grazie oder Anmut führt mitten in die klassizistische Ästhetik hinein, insofern sie das Signum des vollendeten Kunstwerks und das Emblem jener vollkommenen Einheit und Harmonie von Geist und Natur, Vernunft und Sinnlichkeit ist, die die Klassiker im Vorbild der griechischen Antike unmittelbar verwirklicht sehen […].« Lübke, Barbara: Kontrafakturen des Klassischen bei Heinrich von Kleist. Zum Gespräch ›Über das Marionettentheater‹. In: Norm und Transgression in deutscher Sprache und Literatur. Kolloquium in Santiago de Compostela, 4.–7. Oktober 1995. Hrsg. v. Victor Millet. München: Iudicium 1996, S. 140 – 152, hier S. 141. 160 De Man 1988, S. 207; Ulrich Beil liest das »Marionettentheater« besonders in Hinblick auf Friedrich Schillers ästhetische Schriften, im Sinne einer Kleist’schen Erwiderung Schillers. Beil 2006, S. 81. Siehe dazu auch Gudrun Debriacher: »Die Grazie stellt sich dann ein, wenn – und hierin wird sich Kleists Anmut-Begriff deutlich von jenem Schillers unterscheiden – eine Bewegung zugleich willkürlich und sympathetisch ist, denn erst in dem unmittelbaren Ausdruck, hinter dem trotzdem der autonome Wille der Person steht, offenbart sich die

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Man ist klar, dass Schiller die Ästhetik als »gesellschaftliches und politisches Modell, das ethisch in einem angeblich Kantischen Begriff von Freiheit fundiert ist«161, formuliert hat. Der Bezug zu Gesellschaft und Politik macht die Auseinandersetzung des »Marionettentheaters« mit der Ästhetik und der Kunst interessant. Als der privilegierte und unendlicher Variationen fähige Ausdruck dieser Allgemeinheit ist die Kunst in der Tat das, was die Menschheit im weitesten Sinn definiert. Die Menschheit ist in letzter Instanz menschlich nur vermöge der Kunst. Andererseits, als ein Formalisierungsprinzip, das streng genug ist, seine eigenen Notationskodes und -systeme hervorzubringen, funktioniert die Tautologie als restriktiver Zwang, der nur die Reproduktion seines eigenen Systems erlaubt und alle anderen ausschließt.162

Anhand des im »Marionettentheater« postulierten ästhetischen Systems, das auf der Körperlichkeit und der Bewegung an sich beruht, legt de Man den engen Zusammenhang des Textes mit der Rhetorik dar. In dem Sinn, dass der Text selbst als Trope funktioniere. De Man hat die Forschung zum »Marionettentheater« dahingehend bis heute beeinflusst. Über das Marionettentheater zu sprechen meint aus dieser Perspektive gleichzeitig über den figürlichen Ausdruck des Körpers wie über den Text als Ort rhetorischer und poetischer Figuren zu sprechen. Mit dieser Verschränkung von Rhetorik und Anthropologie greift Kleist im ›Marionettentheater‹ den Diskurs des 18. Jahrhunderts um die Möglichkeit der Affektdarstellung und die damit verbundene Diskussion um das Verhältnis von Natürlichkeit und Künstlichkeit, Authentizität und Normierung sowie Unmittelbarkeit und Rhetorik auf, um seine Aporien hervorzutreiben.163

Eine dieser Aporien birgt den Diskurs des Körpers als kulturelles Zeichen. Im Sinn der »Affektsemiotik der Körperzeichen« wird der Körper als »ursprünglich kulturell codiertes« Zeichen verstanden164 ; mit gesellschaftspolitischer Bedeutung. Andrea Gnam verwies darauf, dass »der Prozeß der kulturellen Normierung des Körpers und der damit verbundenen Ängste« im »Marionettentheater« zur Debatte steht165. Wobei grundsätzlich davon auszugehen ist, dass es sich bei dem Körper der Marionette um keinen per se kulturell codierten Körper handelt.

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Bewegung der Seele. […] Es handelt sich bei Anmut nicht mehr um ein Prinzip des poetischen Ausdrucks, sondern um das Ideal des ganzen Menschen und seines commercium corporis et animae, in dem das eine direkt auf das andere verweist, die Spur der Seele wird über den Körper sichtbar.« Debriacher 2007, S. 49 (Hervorh. G. D.). De Man 1988, S. 206. De Man 1988, S. 207. Lemke 2008/09, S. 184. Ebd., S. 185. Gnam, Andrea: Die Rede über den Körper. Zum Körperdiskurs in Kleists Texten »Die Marquise von O…« und »Über das Marionettentheater«. In: Heinrich von Kleist. Text und Kritik. Sonderband. Hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold in Zusammenarbeit m. Roland Reuß u. Peter Staengle. München: Ed. Text + Kritik 1993, S. 170 – 176, hier S. 170.

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Der Gliedermann weiß nichts von einer Geschlechtlichkeit, er hat kein Wissen um eine geschlechtliche Differenz. Es sind wir, die in die Puppe, den Gliedermann unsere Referenzsysteme in Ermangelung anderer Zuschreibungen hineinlegen. Wir konnotieren, interpretieren und beschreiben den unbeschriebenen Körper. Das Unbeschriebene kann in unserem Denken nur in Abstrahierung des Beschriebenen bestehen. Anna Babka hält dagegen, dass so »wie im Marionettentheater jede der Geschichten eine weitere erfordert […], so ist auch der Gliedermann eine Figur die Bedeutung generiert, die unweigerlich disseminiert«.166 Disseminiert dabei nicht eher lediglich unsere Zuschreibung von Bedeutung? Der Marionettenkörper führte uns so unser eigenes Verhalten, unsere eigenen Praktiken der Anschauung vor Augen und verwiese durch seine Unbescholtenheit in Verbindung zu uns Menschen auf unsere immer schon beschriebenen Bedeutungen, die kaum Raum für anderes zulassen. Grundsätzlich verweist die Gegenüberstellung von Marionette und Mensch auf das Paradoxon, dass der Körper einer Marionette sowie der konstruierte Körper, der Prothesen-Körper, mit der »vollkommenen Anmut«167 in Verbindung gebracht wird, der mechanisch entwickelte Körper also mehr Anmut und Grazie168 besitzt als der menschliche Körper. Die Kunstfertigkeit, die der Marionette wie den Unglücklichen zugute kommt, gründet in einem höheren Grad an »Ebenmaaß, Beweglichkeit, Leichtigkeit« und vor allem an der »naturgemäßere[n] Anordnung der Schwerpuncte«. (SWB II, 428, 32 ff.) Das Simulacrum der Grazie (die Prothese) behauptet nicht, etwas anderes als ein perfektes Hinwegtäuschen über die Bedingungen des Endlichen zu sein. Am ehesten entspricht die Auffassung der Grazie im Marionettentheater vielleicht der Allegorisierung der drei Grazien, wie sie im 18. Jahrhundert noch üblich war. Die drei Grazien tanzen einen Rundtanz, lachen dabei, halten sich an den Händen; zwei von ihnen blicken den an, der sie betrachtet, die dritte wendet das Gesicht ab. Die Grazien allegorisieren das Geben und Nehmen. Sie sind zu dritt, weil die erste eine Wohltat gibt, die zweite sie nimmt, die dritte sie wieder gibt und das Gegebene und wieder Genommene sich gleichsam im Kreise bewegt.169

Das »Marionettentheater« deutet noch eine weitere Körperproblematik an: Mit dem Essen »von dem Baum der Erkenntniß« (SWB II, 429, 17) erlangte der 166 Babka 2008, S. 248. »Mit der Kunstfigur kommt auch das verrückte Geschlecht ins Spiel. […] Um das, was natürlich scheint, so zu stabilisieren, dass der Schein aufrecht erhalten wird, muss die Interpellation, die Aufrufung ins ›natürliche‹ Geschlecht, ständig wiederholt werden, muss die Natur naturalisiert werden.« Babka 2008, S. 252. 167 Lemke 2008/09, S. 185. 168 »Mit der supplementierenden Funktion der Prothese wird die Grazie zum Simulationseffekt.« Theisen 1996, S. 55. 169 Theisen 1996, S. 58.

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Mensch »ein Wissen um den menschlichen Körper (und die Geschlechterdifferenz)«170. Mit anderen Worten beschreibt der Mensch von da an sich selbst, und in der Begegnung mit anderem abstrahiert er ausgehend von sich selbst: »Bewusstsein in diesem Kontext meint die Anstrengung, sich selbst in Bezug zu äußeren (Handlungs-)Maßstäben zu setzen, die man erkennen und beurteilen zu können glaubt«171. Der Mensch verlor seine naturgemäße Anordnung der Schwerpunkte durch das Essen vom Baum der Erkenntnis. Die Krux an der Geschichte ist, dass wir mit dem Verlust leben müssen. Die naturgemäße Anordnung wiederzuerlangen, scheint unmöglich, denn »das Paradies ist verriegelt und der Cherub hinter uns; wir müssen die Reise um die Welt machen, und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist«.172 (SWB II, 429, 18 ff.) Der Verlust drückt sich in dem menschlichen Streben nach Erkenntnis aus. Im Versuch, das Sein zu verstehen und das Unerklärliche einer höheren Macht zuzuschreiben. Aber, haben wir es tatsächlich mit einem Verlust zu tun? Die »Unordnungen in der natürlichen Grazie des Menschen« werden von dem »Bewußtsein« angerichtet. (SWB II, 430, 16 f.) Dem Sich-Bewusst-Sein, dem Indem-anderen-Sein.

2.2.3. Un-Schuld Erkenntnis und Bewusstsein173 sind elementare Bausteine der Erzählung, die in einem Naheverhältnis zueinander stehen. Sie sind wesentlich in der Identitätsfindung des Individuums. Wer aber »das dritte Capitel vom ersten Buch Moses 170 Gnam 1993, S. 172. 171 Müller 2010, hier S. 229; weiter: »Meiner Meinung nach ist es diese mythisch beglaubigte Ausgangssituation menschlichen Selbstbegriffs und Selbstbegreifens, auf die der Text hier rekurriert. Dementsprechend lässt sich C.s Bewusstseinskritik so übersetzen: Der Mensch hindert sich selbst durch die Grundhaltung, sich immer in Bezug auf Maßstäbe zu setzen, an deren Erfüllung oder Nichterfüllung er den anderen Wert misst. Diese Maßstäbe aber sind mitunter mit seiner Natur, mit seinen Möglichkeiten nicht vereinbar; sie übersteigen ihn selbst. Das Ziel ist dann ein unerfüllbares Ideal, auf das hin der Mensch sich reflektiert, nämlich auf seine Vollendung als etwas, das er nicht ist bzw. nicht sein kann. Solche Ideen sind die Universalien des abendländischen Menschenbegriffs, die sich, wie wir gesehen haben, in den Ideen von Menschheitsfortschritt, Freiheit, Gott zeigen. Das ironische Gegenstück ist dann Kleists Gliedermann, der zeigt, was der Mensch macht: nämlich sich an selbstgefertigten Fäden künstlich geschaffener Ansprüche zu führen, und zwar in dem Glauben, sich damit einem höheren Zustand anzunähern.« Ebd., S. 229 f. 172 »Es ist der […] Mythos, der bei Platon das Wort bedeutet, das sich nicht im Begriff, sondern im Bild manifestiert. Es ist ein vertrauter Zug der platonischen Philosophie, daß ein Gedankengang, der sich der begrifflichen Darstellung entzieht, in einem sprachlichen Bild, im Mythos, dargelegt wird, das auf unbegriffliche Weise enthält, was die logische Deduktion nicht zu erreichen vermag.« Durzak 2004, S. 39 f. 173 »Den Fall als Grenzwert des Bewußtseins und der Erkenntnis zu denken, ist zur Zeit Kleists

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nicht mit Aufmerksamkeit« liest, »diese erste Periode aller menschlichen Bildung«174, wird die Bedeutung des Bewusstseins nicht verstehen, geht es doch um das Bewusstwerden, die Bewusstwerdung, »seine Unschuld verloren, und das Paradies derselben, trotz aller ersinnlichen Bemühungen, nachher niemals wieder gefunden« zu haben.175 (SWB II, 430, 19 ff.) Die »Grundproblematik des ›Marionettentheaters‹« lässt sich in dem Zusammenhang auch als »Erkenntnisproblematik«176 lesen. Es bleibt das Paradoxon, die Antithesen scheinen sich nicht auf einen Nenner bringen zu lassen: Mit dem Fall haben wir unsere Grazie verloren und sind zu Bewusstsein gekommen, haben Erkenntnis erlangt; wollen wir nun die Grazie wiedererlangen, müssen wir uns von unserem Bewusstsein trennen. Aber die Grazie kann nicht ohne Rest von Bewusstsein im »Marionettentheater« begriffen werden. Das Bewußtsein kann gar nicht vollständig aus der neuen Konzeption von Grazie herausgelöst werden. Das gründet in dem logischen Paradox, daß Grazie zwar in einem Raum jenseits der Differenz situiert, damit aber gerade vom Prinzip der Differenz her gedacht wird und auch nur auf dessen Grundlage bezeichnet werden kann. Trotz der Unhintergehbarkeit des Paradoxons ist es offenkundig das primäre Anliegen des Essays, das Bewußtsein aus der Grazie auszutreiben.177

Zuvor haben wir schon gesehen, dass Grazie mit einem Gleichgewichtszustand in Verbindung steht. Nur wenn dieser hergestellt wird, können sich anmutige Be-

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wohl schon zu sehr zum Gemeinplatz geworden, um noch die Annahme zu erlauben, Kleist habe ernstlich für den Regreß auf einen Zustand vor dem Fall optiert.« Theisen 1996, S. 53. »Die Rede ist von der Periode oder vom Zeitabschnitt, von dem das dritte Kapitel vom ersten Buch Mose in der Heiligen Schrift als Fall in die Zeit berichtet. Der Zeitabschnitt der Periode schneidet die Zeit ab, zumindest die fortlaufend und linear gedachte Zeit der Bildung, wie die Aufklärung sie als Progreß des Menschengeschlechts versteht. Die Periode ist ein rhythmisch wiederkehrender Zeit/Abschnitt. Also eine (zeitlich gesetzte) Un-Zeit im vermeintlichen Kontinuum der Zeit, eine Zwischen-Zeit etwa zwischen dem in den Anfang ›zurückfallenden‹ Ende, dem sich wiederholenden Fall in der Zeit, der selbst Un-Zeit, Simultaneität des Übergangs zwischen zwei Raum- und Zeitordnungen ist.« Theisen 1996, S. 61 (Hervorh. T. B.). Lesen wir das 3. Kapitel vom ersten Buch Moses »mit Aufmerksamkeit« (SWB II, 430, 11 f.), erschließt sich eine eigenartige Sichtweise. Wir sind aus dem Paradies geworfen worden, weil wir durch das Essen vom Baum der Erkenntnis gottgleich geworden sind: »Und Gott der HERR machte Adam und seiner Frau Röcke von Fellen und zog sie ihnen an. Und Gott der HERR sprach: Siehe, der Mensch ist geworden wie unsereiner und weiß, was gut und böse ist. Nun aber, dass er nur nicht ausstrecke seine Hand und breche auch von dem Baum des Lebens und esse und lebe ewiglich! Da wies ihn Gott der HERR aus dem Garten Eden, dass er die Erde bebaute, von der er genommen war.« Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers. Mit Apokryphen. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 1999, 1. Mose 3,21 ff. (Hervorh. im Orig.) Alle weiteren Bibelstellen werden nach dieser Ausgabe zitiert. Roussel, Martin: Zerstreuungen. Kleists Schrift Über das Marionettentheater im ethologischen Kontext. In: Kleist-Jahrbuch (2007), S. 61 – 93, hier S. 75. Greiner, Bernhard: Sturz als Halt. Kleists dramaturgische Physik. In: Kleist-Jahrbuch (2005), S. 67 – 78, hier S. 77.

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wegungsabläufe formieren. Grazie ist »ein integraler Bewegungszustand, der auf einem synergetischen […] Gleichgewichtszustand beruht«.178 Der Sitz der Seele muss dem Schwerpunkt des Körpers entsprechen; der Körper harmoniert mit den Bewegungen des Maschinisten, wenn sich dieser in den Schwerpunkt hineinversetzen kann. Grazie ist alsdann »sichtbar gewordene Freiheit ihres Spielers«.179 Hier stellt sich der Zusammenhang zwischen dem bewusstlosen Körper und dem unendlichen Bewusstsein her. Grazie ist Entfernung und Vollkommenheit des Bewusstseins zugleich, sie ist »selbst stets in Bewegung, ja ist zweigleisige Bewegung (im Sinne einer ständig über sich hinausverweisenden Reihe von Bewegungsmomenten)«.180 Eine unvorhergesehene Wendung einer Bewegung erfährt auch der Jüngling der »Dornauszieher-Episode«. Infolge einer Bewegung verliert der Jüngling seine Anmut, die Grazie. Diese »Unordnung, in der natürlichen Grazie des Menschen, [verursacht] das Bewußtsein«. (SWB II, 430, 16 f.) Die erste Binnenerzählung veranschaulicht den Verlust der Unschuld durch die Bewusstwerdung des »jungen Mann[es], über dessen Bildung damals eine wunderbare Anmuth verbreitet war«. (SWB II, 430, 26 f.) Diese Episode stellt den »biblischen Verlust der paradiesischen Unschuld des Menschen« dar. Sie ist ein Spiegel der Situation des Menschen »seit dem Sündenfall« und definiert seine gegenwärtige Lage, »in der Anmut und Grazie der Bewegung zu einer utopischen Rückerinnerung werden«.181 Die Unschuld geht verloren, indem gleichzeitig Erkenntnis erlangt wird. Erkennen wird so zu einem schuldbeladenen Vorgang. Der Ich-Erzähler berichtet von einem Vorfall, der, vom Zeitpunkt des Erzählens aus gerechnet, vor »drei Jahren, mit einem jungen Mann« geschah. Zusammen sahen sie in Paris den Abguss der Statue des Jünglings, »der sich einen Splitter aus dem Fuße zieht«.182 Als sie sich gemeinsam badeten, ahmte der junge Mann augenscheinlich, »da er den Fuß auf den Schemel setzte«, den Jüngling unbewusst nach; dieses Bild, dieses Abbild, gibt der Spiegel wieder, in den »er in dem Augenblick« schaute. (SWB II, 430, 34 f.) Der Spiegel ist hier der Ort des Erkennens, des Erkennens der (unbewussten) Nachahmung, Wiederholung. Der Erzähler hatte »in eben diesem Augenblick, dieselbe [Entdeckung] gemacht« und 178 Berger 2000, S. 78. 179 Ebd., S. 55. Görner setzt die Freiheit des Schicksals (in Referenz auf einen Brief Kleists vom Mai 1799) in Bezug zur Grazie: »Der im Spiel mit der Gliederpuppe zum Tänzer mutierende Maschinist und die zur quasi schwerelosen Tänzerin gewordene Marionette werden sich gegenseitig zum Schicksal. Und aus der Freiheit vom Schicksal wird ein ästhetischer Zustand, nämlich Grazie. Die Marionette kennt keine moralischen Vorbehalte, kein eigenes Bewusstsein […].« Görner 2011, S. 37. 180 Berger 2000, S. 179 (Hervorheb. C. B.). 181 Durzak 2004, S. 41. 182 Dabei handelt es sich um den »Dornauszieher«, ein »Bildhauerwerk der griechischen Klassik«. (SWB III, 567)

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forderte den jungen Mann zur Wiederholung des Augenblicks auf: »[S]ei es um die Sicherheit der Grazie, die ihm beiwohnte, zu prüfen, sei es, um seiner Eitelkeit ein wenig heilsam zu begegnen: ich lachte und erwiederte – er sähe wohl Geister! Er erröthete und hob den Fuß zum zweitenmal, um es mir zu zeigen […]«.183 (SWB II, 430 f., 38 f./1 ff.) Der Fall aus der Grazie wiederholt sich in jedem Moment, in dem die in sich brüchige Identitätskonstitution aus dem Blick des anderen abgeleitet, die Selbst-Abbildung auf einer Seite der Unterscheidung vom anderen bestätigt werden soll.184

In der Wiederholung lässt sich das Moment der Grazie aber nicht mehr herstellen; das Einzige, das bei dem Versuch erzeugt wird, ist Komik und Gelächter.185 Zusätzlich spielt noch die Grausamkeit des Spiegels als Reflexionsmedium mit: »Der Spiegel ist der Ort, an dem uns klar wird, daß wir ein Bild haben, und zugleich, daß dieses von uns getrennt werden kann, daß unsere ›species‹ oder imago uns nicht gehört.«186 Es schaltet sich die Zeit der Anschauung dazwischen, die immer mit den weiteren Betrachtern in Zusammenhang steht. Die Unschuld geht mit dem Erkenntnisprozess verloren und kann »trotz aller ersinnlichen Bemühungen, nachher niemals wieder gefunden« werden. (SWB II, 430, 20 f.) Mit der wiederholten Bewegung, dem ewigen Versuch, in den Stand der Unschuld zurückzufallen, tritt der gegenteilige Prozess ein und »ein eisernes Netz« legt sich »um das freie Spiel […] [der] Gebärden«. (SWB II, 431, 14 f.) Der Grund der Unmöglichkeit der Wiedererlangung der Unschuld liegt in der Benennung selbiger: »Sobald die Unschuld mit Zeichen markiert, als solche kenntlich gemacht wird, geht sie verloren«.187 Das Markieren mit Zeichen weist 183 Wolfgang Schmidbauer liest das »Marionettentheater« mit Lacan und verbindet den Verlust der Grazie mit dem Spiegel und Narziss: »Das Kind entdeckt im Spiegel etwas Unerreichbares, wie es bereits der Mythos von Narziss behauptet hat, und wie es Kleist in der Metapher von der unerreichbaren Grazie der Gliederpuppe im Vergleich zur beabsichtigten Bewegung formuliert hat.« Schmidbauer, Wolfgang: Kleist – Die Entdeckung der narzisstischen Wunde. Gießen: Psychosozial-Verlag 2011, S. 178. 184 Theisen 1996, S. 64. 185 Ulrich Beil schreibt den Beginn des Laufs des Unheils in dem Moment des Lachens des IchErzählers fest, der »lachte und erwiederte – er [der Jüngling] sähe wohl Geister!« Beil 2006, S. 91. »Zieht man einen Kreis um die Handlungen und Verhaltensweisen, die das individuelle oder soziale Leben bedrohen und sich durch ihre natürlichen Folgen selbst bestrafen, so verbleibt außerhalb dieses Gebietes der Leidenschaften und des Kampfs, in einer neutralen Zone, wo der Mensch dem Menschen nur noch als Schauspiel dient, eine gewisse Steifheit des Körpers, des Charakters und des Geistes; und auch diese noch möchte die Gesellschaft ausmerzen, damit ihre Glieder möglichst beweglich und umgänglich seien. Diese Steifheit ist das Komische, und das Lachen ist ihre Strafe.« Bergson, Henri: Das Lachen. Ein Essay über die Bedeutung des Komischen. Zürich: Arche 1972, S. 22. 186 Agamben, Giorgio: Profanierungen. Aus dem Italienischen v. Marianne Schneider. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005, S. 53. 187 Wild 2002, S. 121.

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auch auf den Umstand hin, dass es sich bei diesem Prozess um einen gesellschaftlichen Vorgang handelt, der alle betrifft, in dem der andere also eine Rolle spielt. Das Wiedererkennen der antiken Statue im eigenen Spiegelbild »genügt noch nicht, um ihn zu verwirren«.188 Es bedarf dazu erst noch des, wenn auch nur scherzhaft gemeinten, Zweifels seines älteren Freundes. Erst indem er die Stichhaltigkeit seiner spontanen Beobachtung zu überprüfen beginnt und nun mit Absicht sucht, noch einmal die Pose des Dornausziehers nachzuahmen, verliert der junge Mann die natürliche Anmut, die ihn bis dahin ausgezeichnet hatte.189

Die Grazie zeigt sich in einem Augenblick. Der Verlust manifestiert sich in der Wiederholung. Die krampfhaften Versuche, Anmut, Grazie und Unschuld wieder herzustellen, gehen mit dem endgültigen Verlust einher und es kommt zur Versteifung der Seele und Verschiebung der Schwerpunkte. Der Verlust »wiederholt […] eine Erinnerung als Zitat«.190 Die Erkenntnis wird durch einen Blick hervorgerufen, den der Jüngling »in dem Augenblick, da er den Fuß auf den Schemel setzte, um ihn abzutrocknen, in einen großen Spiegel warf«. (SWB II, 430, 34 ff.) Das Interessante an dieser Konstellation ist, dass eine Spiegelung keine Realität reflektiert, sondern Realitätseffekte hervorbringt.191 Für Agamben besteht das »Sein« des Spiegelbildes in einer »fortwährenden Zeugung«, was dem Bemühen der Wiedererlangung vom geschauten Bild jegliche Relevanz nimmt.192 Anna Babka und Bernhard Greiner lesen die Spiegelmetaphorik und die Konstellation der Figuren in der »Dornauszieher-Episode« in Hinblick auf »Lacans Spiegelstadium«.193 Ich dagegen möchte zusätzlich einen anderen Weg vorschlagen. Dazu beziehe ich mich auf den Epilog des »Marionettentheaters«, in dem Herr C… von dem Bild des Hohlspiegels spricht. Doch so, wie sich der Durchschnitt zweier Linien, auf der einen Seite eines Punctes, nach dem Durchgang durch das Unendliche, plötzlich wieder auf der anderen Seite einfindet, oder das Bild des Hohlspiegels, nachdem es sich in das Unendliche entfernt hat, plötzlich wieder dicht vor uns tritt: so findet sich auch, wenn die Erkenntniß gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, die Grazie wieder ein […]. (SWB II, 432, 31 ff.)

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Allemann 1981/82, S. 56. Ebd., S. 56. Babka 2008, S. 244. Ebd., S. 245. Agamben 2005, S. 52. Für das Spiegelbild lassen sich nach Agamben zwei Wesensmerkmale ableiten: »Da es keine Substanz ist, hat es keine kontinuierliche Wirklichkeit, und man kann auch nicht sagen, daß es sich fortbewegt. Eigentlich wird es jeden Augenblick neu gezeugt, je nach der Bewegung oder der Anwesenheit dessen, der es betrachtet […].« Ebd., S. 51 f. 193 Babka 2008, S. 245; Greiner 2000, S. 202 f.

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Auch wenn in der »Dornauszieher-Episode« nicht explizit von einem Hohlspiegel194 die Rede ist, ist ein Zusammenhang schon deshalb gegeben, weil Herr C… von der Grazie spricht, die zuerst verloren gegangen schien und sich nun, nach dem langen Weg der Erkenntnis, wieder einstellt. So wie ein normaler Spiegel die Grazie auflösen kann, als Erkenntnismittel ist er imstande Grazie, zu zerstören, kann die spezielle Form des Hohlspiegels diese auch wiederbringen, den Verlust aufheben. Nach Foucault gibt der Spiegel einen Ort der Utopie wieder, einen »Ort[] ohne realen Ort«. Zugleich verweist er in den Bereich der »Heterotopien«, der »Gegenorte«. Dabei handelt es sich um »verwirklichte Utopien, in denen die realen Orte, all die anderen realen Orte, die man in der Kultur finden kann, zugleich repräsentiert« werden.195 Und ich glaube, dass es zwischen den Utopien und diesen völlig anderen Orten, den Heterotopien, eine gemeinsame, gemeinschaftliche Erfahrung gibt, für die der Spiegel steht. Denn der Spiegel ist eine Utopie, weil er ein Ort ohne Ort ist. Im Spiegel sehe ich mich dort, wo ich nicht bin, in einem irrealen Raum, der virtuell hinter der Oberfläche des Spiegels liegt. Ich bin, wo ich nicht bin, gleichsam ein Schatten, der mich erst sichtbar für mich selbst macht und der es mir erlaubt, mich dort zu betrachten, wo ich gar nicht bin: die Utopie des Spiegels. Aber zugleich handelt es sich um eine Heterotopie, insofern der Spiegel wirklich existiert und gewissermaßen eine Rückwirkung auf den Ort ausübt, an dem ich mich befinde. […] Der Spiegel funktioniert als Heterotopie, weil er den Ort, an dem ich bin, während ich mich im Spiegel betrachte, absolut real in Verbindung mit dem gesamten umgebenden Raum und zugleich absolut irreal wiedergibt, weil dieser Ort nur über den virtuellen Punkt jenseits des Spiegels wahrgenommen werden kann.196

Die Rückwirkung des Spiegels auf den Jüngling kann als Selbstreflexion197, als die Wahrnehmung des eigenen Bewusstseins verstanden werden. Der utopische Ort, an dem der Jüngling den Vergleich mit der Statue ansetzt, wird in eine Verbindung mit dem realen Ort gebracht.198 Der Ich-Erzähler und der Jüngling erken194 Das Besondere des Hohlspiegels liegt darin, dass das Bild darin virtuell und vergrößert ist; der Bildpunkt liegt hinter dem Spiegel, also gewisserweise in der Unendlichkeit. Die Reflexion des Spiegels muss durch ein Unendliches gehen, bevor sie wieder hervortreten kann. Insofern gleicht der Hohlspiegel einer Parabel und die Geraden, Reflexionspunkte, gehen durch ein Unendliches. Zum »Spiegel-Beispiel« vgl.: Berger 2000, S. 226 ff. 195 Foucault, Michel: Von anderen Räumen. In: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Bd. IV. 1980 – 1988. Hrsg. v. Daniel Defert u. François Ewald unter Mitarbeit v. Jacques Lagrange. Aus dem Französischen v. Michael Bischoff, Hans-Dieter Gondek u. Hermann Kocyba. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005, S. 931 – 942, hier S. 935. 196 Ebd., S. 935 f. 197 »Der Stand der Reflexion ist unnatürlich […]. Denn Reflexion bedeutet denken, d. h. trennen und vergleichen, und das enthält immer auch eine narzißtische Selbstbespiegelung […].« Kurz 1981/82, S. 266. 198 Abgesehen davon, dass sich die Statue des »Dornausziehers« selbst in einer Heterotopie

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nen die Spiegelung und übersehen die Realität, getäuscht von der künstlichen Anschauung.199 Die vermeintliche Grazie, die der Ich-Erzähler und der Jüngling in einem Augenblick gesehen zu haben vorgeben, entsteht, weil beide die Spiegelung betrachten. Als Utopie ist dieses Bild der Bewegung für sie entseelt und damit fähig, Grazie auszudrücken – so wie es bei Marionetten der Fall ist. Der Spiegel als Heteropie verweist auf das Bild des »Dornausziehers«, das als Abbild wiederum in einer Heteropie, einem Gegenort zu finden ist. Der Abguss selbst ist ein Abbild unter vielen, »befindet sich in den meisten deutschen Sammlungen« (SWB II, 430, 33); an Orten, Museen, die wiederum nur Abbilder, Gegenorte sind. Sobald die Reflexion den Ort der Utopie verlässt, ist die Seele verrutscht und die Grazie fort. Marionetten sind graziös, weil sie sich nicht bemühen, ein Abbild von etwas zu geben, sie täuschen nichts vor; sie sind reine Materie, nicht mehr und nicht weniger. Der Verlust der Grazie, das zeigt dieses Beispiel, geht nicht mit dem Rauswurf aus dem Paradies einher, sondern mit dem Prozess des Werdens.200 Ein Werden, das in der Wiederholung stecken bleibt, der Vorstellung eines idealen Bildes, das nie erreicht wird.201

befindet, in einem Ort der Repräsentation, dem Museum. Die Repräsentation hängt wiederum, wie wir gleich unten sehen werden, mit einer besonderen Funktion des Blicks zusammen. 199 »Da es sich in ihr um ästhetische Erziehung und nicht um eine Parabel des Bewußtseins handelt, ist das, dem der junge Mann sich im Spiegel konfrontiert sieht, nicht er selbst, sondern seine Ähnlichkeit mit einem anderen. Dieser andere ist darüber hinaus kein anderes Subjekt, sondern ein Kunstwerk, eine Skulptur, die unendlicher Reproduktionen fähig ist. Für den hübschen Jüngling ist es einfach, zu einem weiteren Abguß [der Statue des splitterziehenden Jünglings] in der langen Reihe der Reproduktionen zu werden […]. […] Anmut – das geht aus dem Text deutlich genug hervor – ist kein Zweck an sich, sondern ein Mittel, um […] Eindruck zu machen.« De Man 1988, S. 220 (Hervorh. P. d. M.). Heute mehren sich die Versuche, den Menschen zu einer gestalteten Vollkommenheit hin zu entwickeln, dem Menschen die verlorene Grazie künstlich wiederzugeben. Das Streben danach schlägt so weit aus, dass eifrig an der steuerbaren, iterativen Reproduktion des Menschen gearbeitet wird. 200 Einen Prozess der in Zusammenhang mit dem Selbstbewusstsein steht. Bei Kleist fällt dieses »Moment des zu sich selber kommenden Geistes« zusammen mit dem Wissen, »sich selbst ständig beobachtet zu sehen«. Es handelt sich um eine »im Horizont der psychologischen Anthropologie beschreibbare Sonderform der menschlichen Selbstreflexion, die man auch auf den altmodischen Begriff der Scham bringen kann und die tatsächlich schon die Genesis knapp und treffend zur Anschauung bringt, indem sie berichtet, daß die ersten Menschen in dem Augenblick, da sie durch den Sündenfall zu erkennenden Wesen geworden waren, auch gegenseitig und an sich selbst ihre Nacktheit erkannten und ein Unbehagen dabei empfanden«. Alleman 1981/82, S. 57. 201 »Ideale die sich für unerreichbar halten, sind eben darum nicht Ideale, sondern mathematische Fantome des bloß mechanischen Denkens. Wer Sinn fürs Unendliche hat, und weiß was er damit will, sieht in ihm das Produkt sich ewig scheidender und mischender Kräfte, denkt sich seine Ideale wenigstens chemisch, und sagt, wenn er sich entschieden ausdrückt, lauter Widersprüche.« Schlegel 1967, Fragmente [412], S. 243.

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Wie wir bereits gesehen haben, ist die Präsenz des anderen, des Mit-Betrachtenden und Aus-Lachenden ebenso für den Verlust verantwortlich, als sie den Jüngling zur Erkenntnis/Bewusstwerdung führt. Vor dem Ereignis ließen sich nur »ganz von fern […] Spuren von Eitelkeit erblicken«, durch die der Schwerpunkt der Seele in ein Ungleichgewicht fällt, das von den Blicken, »von der Gunst der Frauen herbeigerufen«, die Grazie zum Verschwinden bringt. (SWB II, 430, 28 ff.) Es sind aber nicht ausschließlich die Blicke der anderen, die den Verlust der Unschuld bedeuten. Da der Jüngling »in seiner Selbstreflektion sich selbst zum Gegenstand der Betrachtung macht, oder anders ausgedrückt, daß er immer schon zugleich Zuschauer und Schauspiel(er) ist, verliert er seine Unschuld«.202 Christopher Wild verbindet den Blick, im Sinne der Zuschauer, mit dem Theater, der Kunst, und dem dieser immer schon innewohnenden Gefallensein. Der »Vorgängigkeit des Blicks«203 kann man nicht entkommen und so »hat die Illusion [des Theaters] immer auch die Gefallenheit des Theaters wie seiner Zuschauer zu verbergen«.204 Die Wirklichkeit des Marionettentheaters besteht also in nichts anderem als der Darstellung selbst. […] Als Simulation ist die Marionette – wie die ›mechanischen Beine‹ des ›englische[n] Künstler[s]‹ […] – nicht eingebettet in die Oppositionsreihe von Wirklichkeit und Fiktion, Sein und Schein, Präsenz und Re-Präsentation. Das Marionettentheater versucht nicht, seinen Status als Repräsentation, d. h. Stellvertretung, zu verschleiern […]. Im Gegensatz zum Illusionstheater, welches im Vergleich zur dargestellten Wirklichkeit derivativ bleiben muß und dennoch versucht, sich dieser (in einer unendlichen Approximation) anzunähern, stellt das Marionettentheater das Dargestellte im Zuge der Darstellung her.205

202 Wild 2002, S. 129. »Wenn der Dornauszieher ein Symbol des Sündenfalls (bzw. seiner Nachwirkung in der Erbsünde) darstellt, dann würde der Jüngling diesen allein durch seine identifikatorische Nachbildung wiederholen. Solange er jedoch in dieser imaginativen Identifikation und Absorption befangen bleibt, wird ihm dies nicht bewußt. Er wäre gefallen, ohne es zu wissen. Erst die Intervention des Erzählers würde ihm den Sündenfall zu Bewußtsein bringen. Erst in dem Augenblick, in dem der Jüngling sich mit den Augen des Anderen selbst erblickt, fällt er an und für sich selbst.« Ebd., S. 130. 203 »Kunstwerke sind im Gegensatz zu natürlichen Objekten geschaffen, um gesehen zu werden. Ihnen ist somit ein vorgängiger Blick eingeschrieben. Darin liegt gewissermaßen die Unschuld und Reinheit der Natur und die Gefallenheit der Kunst. Wenn also der Jüngling sich dem Dornauszieher nachbildet, dann gibt er sich damit zu sehen – oder anders ausgedrückt stellt er sich in das Sehfeld eines präexistenten Blicks.« Ebd., S. 130; sobald er das Spiegelbild nicht mehr als Utopie begreift, sondern als Abbild seiner selbst, das da ist, um gesehen zu werden, das also Teil der Heterotopie ist, verliert auch das Bild im Spiegel die Unschuld und Grazie, die es hatte. 204 Ebd., S. 131 f. »Erst der Blick auf den Blick bringt den Akteuren dessen Vorgängigkeit zu Bewußtsein und ihre Gefallenheit an den Tag.« Ebd., S. 132. »Die Nachahmung verdeckt die Idealisierung, die sie betreibt. Die Technik der Nachahmung wird zur Hermeneutik der Bedeutung.« De Man 1988, S. 223. 205 Wild 2002, S. 136 f.

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Den Abschluss der Geschichte des Ich-Erzählers bildet die Zeugenanrufung. Es gibt jemand, der diesen »sonderbaren und unglücklichen« (SWB II, 431, 19) Vorfall bezeugen, beweisen kann. Dieser Zeuge wird aber nicht genannt. Niemand nimmt die Zeugenschaft an. Doch wir alle könnten Zeugen dieses Vorfalls sein, der zugleich unseren eigenen Fall widerspiegelt. Wie in einem Prozess, in dem wir Verurteilte und Zeugen zugleich sind, in einer Person206 – »und schon sind wir in einem unendlichen Regreß«.207

2.2.4. Der Bär Handelte das vorige Kapitel von der Form iterativer Bewegung, so zeigt die letzte Episode des »Marionettentheaters« die Bewegungen des Fechtens, der Kampfkunst, es geht um Finten und kleine Bewegungen einer Tatze, um Stöße zu parieren.208 Wir befinden uns in Russland, auf dem »Landgut des Herrn v. G…, eines livländischen Edelmanns«; Herrn C… wird von dem »von der Universität« heimgekehrten Sohn »ein Rappier« angeboten. (SWB II, 431, 25 ff.) Der Sohn findet in Herrn C… »seinen Meister« und will nun dem Gast den seinigen präsentieren.209 (SWB II, 431, 34) Dabei handelt es sich um einen Bären, der »auf den Hinterfüßen, mit dem Rücken an einen Pfahl gelehnt, an welchem er angeschlossen war«, dastand, »die rechte Tatze schlagfertig erhoben« hatte und Herrn C… dabei »ins Auge« sah.210 (SWB II, 432, 1 ff.) Schnell wird deutlich, dass Herr

206 Im »Käthchen von Heilbronn« werde ich auf diese Konstellation näher eingehen; in dem Drama verschieben sich im 1. Akt die Zuschreibungen der handelnden Figuren vor dem Femegericht: der Anklagende wird schuldig, der Angeklagte Befragender, die Zeugin, das Opfer wird verurteilt und selbst schuldig. Des Weiteren ist »Der zerbrochene Krug« zu erwähnen, bei dem bekanntlich der Richter selbst der gesuchte Schuldige ist. 207 De Man 1988, S. 217; siehe weiters: Lübke 1996, S. 144 f. »Der seltsame Zeuge macht uns so nur darauf aufmerksam, daß wir in den unendlichen Prozeß der Zeichen eingespannt sind, in dem jeder Satz, jedes Wort immer nur durch ein nächstes bestätigt werden kann.« 208 Ulrich Beil stellt fest, dass »das Tier für diesen Zweck wenigstens ansatzweise ›humanisiert‹ werden« musste. »An die Stelle des Kindes und des Genies tritt als Meister der Naivität der Bär.« Beil 2006, S. 88. 209 An dieser Stelle mache ich auf eine angedeutete Parallelität aufmerksam: Die Brüder des Herrn v. G… führen Herrn C… in »den Holzstall«. (SWB II, 431, 37) Zu Beginn der Erzählung haben wir von dem Marionettentheater gelesen, »das auf dem Markte zusammengezimmert worden war« und nach Zimmermannmanier ebenfalls aus Holz gebaut ist. (SWB II, 426, 2 f.); vgl. auch: Wild 2002, S. 133. 210 Durch die beschriebene Haltung denkt man an einen Tanzbären. Dies stellte einen logischen Schluss hinsichtlich der Bedeutung des Tanzes für den gesamten Text dar. »Der Text stellt den Tanz der Puppen in der Tat als eine kontinuierliche Bewegung dar.« De Man 1988, S. 229 (Hervorh. P. d. M.). Und nicht nur den Tanz der Puppen, sondern auch den Tanz der Worte,

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Von Gedanken und Marionetten

C… gegen den fechtenden Bären keine Chance hat. Obwohl er Stöße setzte, die »eines Menschen Brust […] ohnfehlbar getroffen« (SWB II, 432, 13) hätten. Doch der Bär, »wie der erste Fechter der Welt«211, parierte alle Stöße. Noch viel merkwürdiger aber, »auf Finten212 (was ihm kein Fechter der Welt nachmacht) gieng er gar nicht einmal ein: Aug’ in Auge, als ob er meine Seele darin lesen könnte, stand er, die Tatze schlagfertig erhoben«. (SWB II, 432, 19 ff.) Das tierische Bewusstsein scheint dem menschlichen überlegen zu sein. Tatsache ist jedoch, daß der Bär ständig von der Reflexion ausgeschlossen ist, daß also nie die Situation eintreten kann, daß die Reflexion bei ihm schwächer wird. Er ist als reine Natur dem Menschen total entgegengesetzt, ohne daß zwischen beiden eine Brücke vorhanden wäre. Kleist weist hier offensichtlich auf ein dialektisches Verhältnis zwischen Reflexion und Anmut hin. Obwohl die Reflexion die Anmut aufzuheben droht, ist die Anmut offenbar ohne einen Rest von Reflexion nicht möglich.213

Der Bär wäre fähig, Grazie zu besitzen, weil er sein eigenes Handeln nicht reflektiert. Der Tänzer ist in der Welt der Finten, der Täuschungen gefangen, weil er überlegt handelt. Im Grunde ist aber Grazie »als ästhetischer Wert […] an den menschlichen Körper gebunden«.214 In der Tierwelt ist sie (ebenso wie bei den Marionetten) herkömmlich nicht zu verorten. Der Bär und die Marionette weisen noch eine Gemeinsamkeit auf, sie sind beide angebunden: die Marionette mittels Fäden an den Händen des Maschinisten und der Bär mittels einer Kette an einen Pfahl.215 Weder Puppe noch Bär ist ein reflektierendes Wesen; demgemäß wird demonstriert, dass dort, wo »die Reflexion dunkler und schwächer wird, die Grazie darin immer strahlender und herrschender hervortritt«. (SWB II, 432, 30 f.) Eine weitere Besonderheit des Bären ist seine Fähigkeit zu lesen. Für Paul de Man wird der Bär sogar zu einer Figur des »Über-Lesers«.216 Das In-die-Augen-

211 212

213 214 215 216

die in dem Text in immer neuen Formationen, Haltungen, Verbindungen zur Aussage kommen. Der »erste Fechter der Welt« erinnert stark an den ersten Menschen der Welt. Im Gegensatz zu diesem ist jener aber in einem Holzstall angekettet und somit vor jeglicher Versuchung der Erkenntniserlangung geschützt. »Fintensetzen ist also eine Art von Schauspielerei. Tatsächlich sind Finten Fiktionen – auch was ihren etymologischen Ursprung betrifft. Denn das Wort ›Finte‹ ist dem italienischen ›finta‹ entlehnt, das sich über das spätlateinische ›fincta‹ vom klassisch lateinischen ›ficta‹, dem substantivierten Partizip Perfekt von ›fingere‹ (›ersinnen, vortäuschen‹), herleitet. Finten sind somit buchstäblich theatralische Fiktionen, die Herr C. als Darsteller zu inszenieren sucht.« Wild 2002, S. 134. Durzak 2004, S. 42. Ebd. Der Bär lässt aufgrund seiner starren Grundposition an einen romantischen Automaten denken, der jeden Stoß pariert und danach wieder in seine Fechterpositur zurückkehrt und abwartet, was als Nächstes passiert. De Man 1988, S. 223.

Über das Marionettentheater

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Schauen des Bären wirkt für Herrn C… so, »als ob er meine Seele darin lesen könnte«. (SWB II, 432, 21) Herr C… liest, dass der Bär ihn lesen könne. Diese Fähigkeit wird dem Bären durch die Tatsache zugeschrieben, dass er auf Finten des Herrn C… nicht reagiert. Mit anderen Worten, zwischen »intendierter und ausgesagter Bedeutung«217 unterscheiden kann. Für den Bären sind Finten keine Fiktionen, die möglicherweise ihr Ziel treffen könnten; es handelt sich für ihn um »eine eigenständige Instanz des Wirklichen« und er kann somit die Darstellung »als das, was sie ist: eine selbständige Erscheinung der Wirklichkeit« annehmen.218 »Und genauer: im Bären kommt das Oszillieren zwischen Fassung und Fassungslosigkeit nicht nur semantischen Gehalts, sondern des semiotischen Trägers zum Tragen.«219 Gilt der Bär als ein Lesender, kann dem Fechter das Rappier gegen einen »Griffel« (SWB II, 351) – im Sinne der Kleist’schen Anekdote »Der Griffel Gottes.« – ausgetauscht werden. Dann liest man mit de Man die »Stöße« des TänzerErzählers als Worte, gesprochene Sprache, die der Bär entziffern kann. So gesehen ist es die Sprache, die immer stößt und nie trifft: »Sie referiert immer, aber nie auf den richtigen Referenten«.220 Diesem Gedankengang folgend befinden wir uns wieder in einer semantischen Zwickmühle, wie schon im »Sprachessay«. Kleist geht es dabei nicht nur um eine Kritik an der Sprache und dem Bewusstsein, in dem sie sich generiert, es sind »die vergeblichen Hoffnungen, die sich daran knüpfen, und die Verwirrung und Gewalt, die das Reden bewirken und ausüben kann«, er kritisiert »einen bestimmten Gebrauch von Sprache«.221 Auch für diese Geschichte wird nach einem Zeugen gesucht. Der Ich-Erzähler übernimmt enthusiastisch und ohne Zögern diese Funktion: »Glauben Sie diese Geschichte? Vollkommen! rief ich, mit freudigem Beifall; jedwedem Fremden, so wahrscheinlich ist sie: um wie viel mehr Ihnen!« (SWB II, 432, 24 ff.) Bei Kleist hängt die Wahrheit einer Geschichte nicht unbedingt mit deren Wahrscheinlichkeit zusammen.222 217 Ebd., S. 223. 218 Wild 2002, S. 135. »Der Blick des Bären unterläuft somit der Unterscheidung zwischen Schein und Sein. Demnach wäre Schein nur eine bestimmte Form des Seins und nicht dessen Gegenteil.« Ebd., S. 135 (Anm. 59). 219 Schestag, Thomas: Bär. In: »geteilte Aufmerksamkeit«: zur Frage des Lesens. Hrsg. v. Thomas Schestag. Frankfurt am Main u. a.: Lang 1997, S. 177 – 201, hier S. 190 (Hervorh. T. S.). 220 De Man 1988, S. 227. »Die von Tropen erzeugte Zergliederung ist vor allem eine Zergliederung der Bedeutung; sie greift semantische Einheiten wie Wörter und Sätze an.« Ebd., S. 231. 221 Kurz 1981/82, S. 273 f. 222 »Denn die Leute fordern, als erste Bedingung, von der Wahrheit, daß sie wahrscheinlich sei; und doch ist die Wahrscheinlichkeit, wie die Erfahrung lehrt, nicht immer auf Seiten der Wahrheit.« (SWB II, 457, 6 ff.) Aus dem Prosatext: »Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten«.

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Von Gedanken und Marionetten

Nun sind wir angeblich »im Besitz von Allem, was nöthig ist«, um zu »begreifen«. (SWB II, 432, 28) [S]o, wie sich der Durchschnitt zweier Linien, auf der einen Seite eines Puncts, nach dem Durchgang durch das Unendliche, plötzlich wieder auf der andern Seite einfindet, oder das Bild des Hohlspiegels, nachdem es sich in das Unendliche entfernt hat, plötzlich wieder dicht vor uns tritt: so findet sich auch, wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, die Grazie wieder ein; so, daß sie, zu gleicher Zeit, in demjenigen menschlichen Körperbau am Reinsten erscheint, der entweder gar keins, oder ein unendliches Bewußtsein hat, d. h. in dem Gliedermann, oder in dem Gott. (SWB II, 432 f., 31 ff./1 f.)

Die Unwahrscheinlichkeit, dass der Mensch in den Stand der Unschuld zurückversetzt werden könnte, resp. sich die Grazie bei ihm wieder einstellte, hängt mit der Tatsache zusammen, dass der Mensch erst ins Paradies müsste, um neuerlich vom Baum der Erkenntnis essen zu können. Auf die Frage des Erzählers, ob es möglich sei, »in den Stand der Unschuld zurückzufallen«, wenn »wir wieder von dem Baum der Erkenntniß essen […]?«, meint Herr C…: »Allerdings«. Doch er fügt hinzu – und endet mit einem Paradoxon –, dass es »das letzte Capitel von der Geschichte Welt« wäre. (SWB II, 433, 3 ff.) Am Ende des Textes gelangt der Leser nicht in das Paradies, sondern er findet sich, dem im ›Marionettentheater‹ angekündigten Kreisgang gemäß, wieder am Anfang, also in jenem öffentlichen Garten, dessen Ineinander von Kunst und Natur bei Kleist Paradiesvorstellung ersetzt und der in seiner Unentscheidbarkeit von Bühne, Leben und Text die Notwendigkeit, Körper zu lesen, ohne sie zu verstehen, immer wieder neu durchbuchstabiert.223

Die Rückkehr zum Baum der Erkenntnis wäre der Kreisschluss, der die ewige Folge, den unabdingbaren Prozess von Handeln, Denken und Sprechen zu einem Ende im Anfang führen würde. So könnte der Jüngling, durch den Hohlspiegel betrachtet, scheinbar die Anmut seiner Bewegungen zurückgewinnen. Und wir könnten durch das nochmalige Essen vom Baum der Erkenntnis den Bewusstwerdungs-Prozess umkehren und die Schuld tilgen. Das Paradoxe an der Situation ist: »Wer vom Baum der Erkenntnis essen kann, braucht nicht mehr ›zurückzufallen‹. Er ist ja schon im Paradies.«224 Und liegt nicht in der Wiederholung225 eigentlich die Fatalität des ganzen Unterfangens? Geht es nicht eher um eine Aufhebung der Bezeichnungen, das Aussetzen der Opposition von Schuld und Unschuld?226 223 Lemke 2008/09, S. 201. 224 Kurz 1981/82, S. 271. 225 »Da das Moment der Wiederholung in die Struktur der Erbsündigkeit eingeschrieben ist, perpetuiert jenes diese, statt sie aufzuheben.« Wild 2002, S. 141, Anm. 68. 226 »Kleists subversive Kritik des Sündenfallmythos richtet sich gegen die damit verbundene

Über das Marionettentheater

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Die Generalisierung von Gefallenheit würde nämlich den Gegensatz von Schuld und Unschuld hinfällig machen. […] Die Unterscheidung von Sein und Schein arbeitet sich ständig am Sündenfall ab, ohne ihn überwinden zu können. Die Generalisierung des Sündenfalls implizierte dagegen, Schein nicht als defizientes Sein, sondern als selbständige Instanz des Seins zu verstehen.227

2.2.5. Resümee Das »Marionettentheater« ist m. E. nicht als Kleist’sche Poetik oder als Schlüsseltext anzusehen, sondern es handelt sich um Sichtweisen, die unsere Auseinandersetzung mit der Welt und unser Selbstverständnis aus der Routine bringen sollen, indem sie sich vom Boden der sicheren Reproduktion des immer Gleichen abheben. Ulrich Beil, der den Begriff der Kenosis auf Kleists Ästhetik-Verständnis und sein Umarbeitungsprinzip der Schiller’schen Prätexte anwendet und dabei von einem performativen, aber »nicht mehr mimetisch-nachvollziehbren Schreibakt« spricht, formuliert folgendermaßen: Kenosis hätte dann auch mit der Aushöhlung überlieferter Verbindlichkeiten und Vermittlungsmodelle zu tun. Vor allem die irritierende Kluft zwischen These und Beispielerzählung ist es, die dieses performative Verfahren ans Tageslicht bringt.228 (Hervorh. U. B.)

Das befreiende Prinzip der Entleerung von Vorstellungen, Verbindlichkeiten, Vorgegebenem wirkt wie Balsam für die Seele, die sich auf den Weg in den Schwerpunkt ihrer Bewegung begibt. – Doch täuscht diese Entleerung nicht nur einen Weg ins Gleichgewicht vor, handelt es sich nicht um eine trügerische Befreiung? Denn Befreiung lässt sich nur mit ihrer Antithese denken. Das »Marionettentheater« kann als Allegorie für die Abhängigkeiten stehen, denen sich der Mensch in seinem Leben unterwirft oder unterwerfen muss – es stellt somit die Un-Freiheit des Menschen dar. Hätten wir Fäden (im Sinne eines strengen Glaubens), würden wir unbeschwert, weil geleitet, leben – über den Boden streifen. Sobald wir uns aber nicht voll in die Verantwortung eines anderen begeben, kommen Zweifel, Unsicherheiten etc. auf.

Konstruktion einer geschlossenen Totalität der Welt, gegen die damit verbundenen Verzeichnungen ins Über- oder Untermenschliche, gegen Idolisierungen und Dämonisierungen nach absoluten Antithesen […]. […] Es geht ihm um die Hinwendung zur Situation des personalen, leiblichen, sterblichen, partikularen Menschen in einer gebrechlichen Welt.« Kurz 1981/82, S. 273. 227 Wild 2002, S. 140. 228 Beil 2006, S. 98 f.

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Von Gedanken und Marionetten

Wir sind geleitet von Vorstellungen einer Wirklichkeit, in der wir unser Paradies suchen. Das Paradies ist jedoch als Ort der Utopie, der Fiktion zu verstehen, der »in Verbindung und dennoch im Widerspruch«229 zu dem Ort steht, den wir als Welt bezeichnen. Eden ist Teil unserer steten Reflexion, wodurch diese Utopie derart machtvoll auf unsere Vorstellung wirken kann. Wir prägen unsere Regeln und Ordnungssysteme nach Spiegelbildern der zu ordnenden Welt. Indem wir uns selbst und andere im Glauben an die Realität dieses Trugbilds bestärken, sehen wir nicht mehr, dass wir uns nur an einem Ort spiegeln, den es gar nicht gibt. Und nur im Trugbild treffen sich unsere Blicke, die alle in den gleichen Spiegel schauen müssen, um sich überhaupt verständlich zu machen, die Reflexion erkennen zu können. Schweift der Blick ab, reflektieren wir uns nicht mehr und wir scheinen verloren zu sein. Die Reflexion ist der Schein des Seins, den wir leben; das Paradoxe ist, dass wir beständig unser Sein im Schein bestätigen. Mitunter suchen wir heute an neuen Orten Paradiese. Indem wir unsere Vorstellungen, unsere Bilder von einer Maschine mittels des Binärsystems in virtuelle Räume umwandeln lassen. Wir gehen in diesen Räumen herum, erschaffen uns Welten, Menschen, Bezugsysteme, und die Grenze zwischen Real und Irreal beginnt sich mehr und mehr aufzulösen. So wie das Bild im Spiegel nur ein Abbild von uns ist, eine Utopie darstellt, basiert die Welt im Cyber-Raum auf unserer Vorstellung, ist nur ein Abbild unserer Welt. Wir schaffen ein Abbild vom Abbild, ganz im Sinne des »Dornausziehers«, wodurch die Referenzsysteme weiter zirkulieren und im Regress verhaftet bleiben. Für einen Moment hat es den Anschein, als ob wir in diesen fiktionalen Räumen Gott spielen könnten, einen Menschen nach unserem Ebenbild (oder zumindest unserem vorgestellten Wunsch-Bild) erschaffen könnten. Bis uns bewusst wird, dass es sich um ein von uns selbst geschaffenes System handelt, in dem die Grenzen und Abbildfunktionen vorprogrammiert sind.

229 Foucault 2005, S. 935.

3.

Die Fragmente Manches philosophische Kunstchaos […] hat Festigkeit genug gehabt, eine gotische Kirche zu überleben.230

Der Entstehungszeitraum des »Käthchens« umfasst mehr als zwei Jahre. Nicht sicher belegt werden kann der Beginn der Niederschrift.231 Der 1. und 2. Akt wurden als »Fragment« und »Zweites Fragment« im »Phöbus« vorab herausgegeben. Das Erste Fragment des »Käthchens«, abgedruckt im »April/Mai-Heft des ›Phöbus‹ (ausgeliefert im Juni 1808)«232, bildet zugleich den ersten schriftlichen Beleg des Stücks. (SWB III, 482) Kleist wollte das gesamte Stück zur Michaelismesse am 29. September 1808 gedruckt wissen, das geht aus der Korrespondenz mit Johann Friedrich Cotta hervor (zwei Briefe dieses Vorhaben betreffend fehlen).233 Sein Bemühen richtet sich darauf, den Drucktermin und die Aufführung des Stücks zeitgleich zu koordinieren. Schlussendlich kam es 1808 weder zum Druck noch zu einer Aufführung. Das Zweite Fragment, der 2. Akt (ohne ersten Auftritt), wurde in der September/Oktober-Ausgabe des »Phöbus« veröffentlicht »(erschienen vermutlich Januar 1809)«.234 Weitere Versuche, das Stück an einer Bühne zur Aufführung zu bringen, lassen Kleist mit Heinrich Joseph von Collin235 in Wien in Verbindung treten. Ihm vertraute er notwendige Kürzungen des Stücks an.

230 Schlegel 1967, Fragmente [389], S. 238. 231 »Beginn der Arbeit nicht datierbar. Ende 1807, Anfang 1808 – Erste Erwähnung des Stücks in der Korrespondenz mit Marie von Kleist.« (SWB III, S. 482). »Dresden, Ende 1807 / Anfang 1808 […]. Jetzt bin ich nur neugierig was Sie zu dem Käthchen von Heilbronn sagen werden denn das ist die Kehrseite d[e]r Penthesilea ihr andrer Pol, ein Wesen das eben so mächtig ist durch gänzliche Hingebung als jene durch Handeln.« (SWB II, S. 894, 2 ff.) 232 »Phöbus. Ein Journal für die Kunst. Herausgegeben von Heinrich v. Kleist und Adam H. Müller. Erster Jahrgang. Mit Kupfern. Viertes und fünftes Stück. April und Mai 1808. Dresden, gedruckt bei Carl Gottlob Gärtner. […] Fragment aus dem Schauspiel: Das Käthchen von Heilbronn, oder die Feuerprobe.« Kleist 2004, Brandenburger Ausgabe I/6, S. 302. 233 Siehe die Briefe von Kleist an Johann Friedrich Cotta aus Dresden vom »7. Juni 1808« und »24. Juli 1808«. (SWB II, S. 905 ff.) 234 Kleist 2004, Brandenburger Ausgabe I/6, S. 304. 235 Ein »österreichischer Erfolgsdramatiker«, dem Kleist am 2. Oktober 1808 zur »Prüfung, ob ›Das Käthchen von Heilbronn‹ in Wien aufgeführt werden kann«, eine Bühnenfassung des

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Die Fragmente

Das Käthchen von Heilbronn, das, wie ich selbst einsehe, nothwendig verkürzt werden muß, konnte unter keine Hände fallen, denen ich dies Geschäft lieber anvertraute, als den Ihrigen. Verfahren Sie ganz damit, wie es der Zweck Ihrer Bühne erheischt. (SWB II, 912, 5 ff.)

Diesen Schritt getan zu haben, bereut Kleist später. Aus dem Brief an Marie von Kleist, geschrieben im Mai 1811 (das »Käthchen« wurde mittlerweile in Wien [17. März 1810] und Graz [26. Dezember 1810] aufgeführt und der Erstdruck erschien Ende September 1810 bei Andreas Riemer), geht hervor, dass Kleist mit der entstandenen Fassung, der End-Fassung des »Käthchens«, nicht zufrieden war.236 Das Urtheil d[e]r Menschen hat mich bisher viel zu sehr beherrscht; besonders das Käthchen von Heilbronn ist voll Spuren davon[.] Es war von Anfang herein eine ganz treffliche Erfindung, und nur die Absicht, es für die Bühne paßend zu machen, hat mich zu Mißgriffen verfuhrt, die ich jetzt beweinen mogte[.] Kurz ich will mich von dem Gedanken ganz durchdringen, d[a]ß wenn ein Werk nur recht frei aus dem Schoos eines menschlichen Gemüths hervorgeht, d[a]ßelbe auch nothwendig darum der ganzen Menschheit angehören müsse. (SWB II, 969, 13 ff.)

Wie Kleist selbst, war Ludwig Tieck mit der 1810 vorliegenden Fassung des »Käthchens« nicht so glücklich wie bei dessen erstmaliger Lektüre, er vermisste ganz besonders eine Stelle im 4. Akt. Eduard von Bülow erwähnt in der ersten Biographie des Autors, »Heinrich von Kleist’s Leben und Briefe« von 1848, ein Zusammentreffen von Ludwig Tieck mit Kleist, bei dem Kleist eine Bemerkung Tiecks als Kritik aufgefasst haben dürfte und daraufhin eine Stelle, die Tieck eigentlich schätzte, für den Erstdruck umgearbeitet resp. gestrichen hat. Nachdem Kleist das Käthchen von Heilbronn geschrieben, und Tieck [im Sommer 1808] mitgetheilt hatte, sprachen und stritten sie mannigfach darüber und sagte Tieck ihm unter anderen eine Meinung über eine merkwürdige Szene, die das ganze Stück gewissermaßen in das Gebiet des Märchens oder Zaubers hinüberspielte. Kleist mißverstand diese Aeußerung als Tadel, vernichtete die Szene, ohne daß Tieck eine Ahnung davon hatte, und als dieser sie in der Folge im Druck vermißte, konnte er nicht aufhören, darüber sein Bedauern auszusprechen, weil sie die karikirte Häßlichkeit Kunigundens weit besser motivirt und sie in ein besseres Licht gerückt habe. Dieser Szene gemäß wandelte Käthchen im vierten Akt auf dem Felsen und erschien ihr unten im Wasser eine Nixe, die sie mit Gesang und Rede lockte. Käthchen wollte sich herabstürzen, und wurde nur durch eine Begleiterin gerettet. Vorher belauschte sie Kunigundens badende Häßlichkeit und war außer sich vor Angst, wie sie den Ritter vor dem

Stücks schickte. Staengle, Peter: Heinrich von Kleist. Sein Leben. Heilbronn: Kleist-Archiv Sembdner 2007, S. 99 u. S. 221. 236 Vgl. dazu SWB III, S. 482 ff.; sowie Staengle 2007, S. 110.

»Phöbus«-Fragmente vs. Erstdruck

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Ungeheuer errette. Aus dieser Schilderung des Bildes erinnerte sich Tieck noch des schönen Verses: »Da quillt es wieder unterm Stein hervor.«237

Da es sich bei erwähnter Stelle um eine aus dem 4. Akt handelt, ist anzunehmen, dass die beiden »Phöbus«-Fragmente Teil einer Urfassung238 sind und als einzige, durch die Veröffentlichung im »Phöbus«, erhalten geblieben sind. Bei näherer Betrachtung weisen beide Fragmente im Vergleich zum Erstdruck interessante Unterschiede auf. Dabei handelt es sich um geänderte Ausdrücke oder Bezeichnungen, (Text-)Kürzungen, um Details der Charakterisierung einiger Figuren sowie eine, im Zweiten Fragment, auffällig abweichende Erzählung Brigittes (die Haushälterin auf der Strahl-Burg) und Kunigundes (die Gegenspielerin Käthchens und zuerst Verfolgte, dann Verlobte und schließlich Verhasste des Grafen).

3.1. »Phöbus«-Fragmente vs. Erstdruck239 Bei den Fragmenten handelt es sich um Text-Varianten, deren offensichtlichstes Unterscheidungsmerkmal ihre Länge gegenüber dem Erstdruck darstellt. Das heißt, vorrangig ging es bei den vorgenommenen Änderungen an der Urfassung um Kürzungsbestrebungen. Änderungen oder Abweichungen in der Ausdrucksweise der Figuren etc. führe ich nur an, wenn sie von besonderer Relevanz sind, wenn sie also eindeutig den Sinn betreffen und nicht als Ersetzung eines weniger geläufigen Begriffs durch einen geläufigeren gedeutet werden können. Im Anhang gebe ich eine Gegenüberstellung aller geänderten Passagen wieder.

237 Bülow, Eduard von (Hrsg.): Heinrich von Kleist’s Leben und Briefe. Mit einem Anhange. Berlin: Besser 1848, S. 56 f., zitiert nach: Kleist, Heinrich von: Brandenburger Kleist-Blätter 13. Basel: Stroemfeld 2000, 154 f. 238 Entgegen der Meinung von Annette Runte spreche ich mich für die Bezeichnung der Fragmente als Teile einer Urfassung aus. Es muss eine (Ur-)Fassung gegeben haben, auf die sich Tiecks Aussage beziehen kann. Runte, Annette: Traum – Bild – Schrift. Zur Rhetorik der Geschlechter in Kleists »Käthchen von Heilbronn«. In: Kleist lesen. Hrsg. v. Marianne Schuller u. Nikolaus Müller-Schöll. Unter Mitarb. v. Susanne Gottlob. Bielefeld: transcript 2003, S. 117 – 142. 239 Den Erstdruck kürze ich in weiterer Folge mit der Sigle D ab, dabei stütze ich mich auf die Bezeichnung von Roland Reuß und Peter Staengle aus der Brandenburger Ausgabe. Die »Phöbus«-Fragmente werden mit der Sigle P wiedergegeben. Um die verschiedenen Fassungen deutlicher voneinander unterscheidbar zu machen, werde ich die Zitate und Verweise aus den »Phöbus«-Fragmenten mit P-SWB III, Seitenzahl, Zeile bzw. die aus dem Erstdruck mit D-SWB I, Seitenzahl, Zeile angeben. Bei Textpassagen, die in beiden Fassungen einander entsprechen, zitiere ich nach dem Erstdruck mit SWB I, Seitenzahl, Zeile.

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Die Fragmente

3.1.1. Erstes Fragment Die deutlichste Abweichung im 1. Akt besteht darin, dass im zweiten Auftritt in D eine längere Textpassage hinzugefügt ist, die in P nicht vorhanden war. Ein Einschub, bei dem die »Richter des hohen, heimlichen Gerichts, die […] Vorläufer der geflügelten Heere240, die er in seinen Wolken mustert« (SWB I, 503, 13 ff.), das als mitschuldig angeklagte Käthchen vor Graf vom Strahl in Schutz nehmen und ihn rügen, da er ihrer Ansicht nach zu hart mit Käthchen umgegangen sei. Doch zunächst zum ersten Auftritt. 3.1.1.1. Erster Auftritt In der ersten Rede Theobalds, von Käthchens Vater, ist die erste größere Veränderung aufzufinden (P-SWB III, 336, 18 – 34). Für Theobald stellt die Verführung Käthchens das schlimmste Übel aller Zeiten dar. Schicksalsschläge wie die Nichtbezahlung geleisteter Arbeit, Verrat, sogar ein Mordversuch241 werden von Theobald in P als zwar harte, aber hinzunehmende Umstände betrachtet, derentwegen er nicht gegen Graf Wetter vom Strahl geklagt hätte! In D hingegen werden von Theobald lediglich Ehrverletzung und Raub als der gerichtlichen Klage werte Umstände angeführt. Durch die weitaus einschneidenderen Tatbestände in P wird noch deutlicher, weshalb Theobald nicht anders als klagen kann. Des Unrechts Stachel trifft in P Theobalds »Seelen Haut« (P-SWB III, 336, 36) und in D der »Seele Gefühl« (D-SWB I, 504, 6). Und wenn Theobald den Skorpion in P mit dem Fuß wegstößt, so lässt er ihn in D »fahren« (D-SWB I, 504, 9), eine Bezeichnung, die eine Verbindung zum Teuflischen herstellt.242 Bei Theobalds Beschreibung des Käthchens wird in P ihr fürsorgliches Verhältnis zu ihrem Großvater Anton eindrucksvoller beschrieben; dieser bevorzugt sie schließlich auch gegenüber allen anderen Familienmitgliedern und vermacht ihr sein Land, wodurch sie von ihrem Vater in jungen Jahren finanziell unabhängig wird. Theobald steigen Tränen auf, wenn er daran denkt, »daß ich mich von ihrer Liebe zu mir, dieser wahren Milch meiner letzten Tage, nach dem 240 Die »geflügelten Heere« erinnern an Zeus, den Wagenlenker, der voraus fährt, »seinen geflügelten Wagen lenkend, indem er alles ordnet und für alles sorgt; ihm folgt ein Heer von Göttern und Dämonen«. Platon 2004, S. 59. 241 »[N]imm diesen Becher Wein aus meiner Hand und leer ihn: der Hund aber, dem ich heimlich einen Bissen, in des Weines Naß getränkten Brodes vorgeworfen, wäre augenblicklich niedergesunken, verreckt, auch binnen ein Rosenkranz abgebetet wird, verwes’t, so, daß er nur halb, als ob ihn ein Bär angefressen, begraben worden […].« (P-SWB, 336, 27 ff.) 242 Auch in Hinblick auf den Vergleich mit dem Skorpion: »Er sprach aber zu ihnen: Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz. Seht, ich habe euch Macht gegeben, zu treten auf Schlangen und Skorpione, und Macht über alle Gewalt des Feindes; und nichts wird euch schaden.« Lk. 10,18 ff.

»Phöbus«-Fragmente vs. Erstdruck

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unbegreiflichen Gesetz der Natur, würde entwöhnen müssen«. (P-SWB III, 338, 36 ff.) Diese Stelle fehlt in D gänzlich. Trost findet Theobald nur in der Verlobung Käthchens mit einem jungen Landmann, »dessen Güter das ihrige umgränzen«. (SWB I, 506, 7 f.) Dieser Verbindung liegt eine eigenartige Namensverwandtschaft zugrunde: Theobald Friedeborn der Vater, Gottfried Friedeborn der Bräutigam (genealogisch betrachtet läge hier eine Form des Inzest vor). In P wird beschrieben, dass sich Käthchen nicht von einem jugendlichen Lausbubenstreich verführen hat lassen. Wäre es nämlich die Jugend gewesen, »[d]er Teufel, der die Herzen der Mädchen […] verführt«, mit Füßen, »ohne Hufen und Hände ohne Klauen, […] so wollt’ ich mich begnügen, mir die Haareauszuraufen, und schweigen« (P-SWB III, 339, 15 ff.). In D wird die Frömmigkeit Käthchens stärker hervorgehoben, sie sei immun gegen Verführungen jeglicher Art und selbst Jesus erriete den Judaskuss nicht schneller als sie solche Falschheit entlarve.243 (D-SWB I, 506, 30 f.) Bei der Beschreibung des Hergangs der Verführung ist eine Passage von gut 20 Zeilen in D gestrichen. Käthchen wird in D passiver, zurückhaltender und höriger dargestellt als in P. Theobalds Erklärung den Vorfall betreffend ist in beiden Varianten bis auf die eben genannte Kürzung und zwei kurze Erweiterungen, Konkretisierungen, genau deckungsgleich. Doch gerade diese wenigen Änderungen bewirken, dass Käthchen in der Verführungsszene in P ein viel stärker aktives Moment zugeschrieben wird. Dagegen wird in D zusätzlich erwähnt, dass sich Käthchen nach dem Vorfall mit »einigen schüchternen Blicken« (D-SWB I, 508, 10) auf den Grafen wieder erholt und Theobald mit »Pfriemen und Nadeln« (D-SWB I, 508, 12) die Reparatur der Rüstung neuerlich aufnimmt. Nach dem Zusammenbruch Käthchens ist es in P sie selbst, die den Vater tröstet und dem Grafen auch keine schüchternen Blicke, wie in D, zuwirft, sondern sie bleibt gefasst in der Umklammerung von des Grafen Knien stehen. Mein Käthchen sag’ ich: soll ich dich zu Bette bringen? Doch sie, sie zittert; die Lippen bewegt sie, als ob sie etwas sagen wolle, und regt sich und sträubt sich und wischt sich die Augen, wie Einer, den ein unerhörter Vorfall betroffen hat. Und da sie sich nach und nach erholt, und mir die Wangen streichelt, als wollte sie sagen: guter, alter Vater! beruhige dich: so ruft der Graf noch einmal: wess’ ist das wunderbare Kind? und […] zieht sie zu sich. Meins! gestrenger Herr, sag’ ich; mein Goldkind, mein Käthchen! So

243 Auffallend an der weiteren Darstellung sind die Orte und der Gegenstand, die Theobald anführt, um zu zeigen, wie rein und gegen jegliche Versuchung immun sein Käthchen ist. Sie lassen sich als Zitate des »Faust« erkennen und verweisen somit auf die Verführungskünste des Teufels. Die ersten Orte, der Brunnen und die Kirche (Dom), sind jene, an denen Gretchen das schlechte Gewissen der Sünde plagt. Der dritte Ort lässt sich mit dem Zimmer Gretchens verschränken, in dem sie das Schmuckkästchen mit dem Halsschmuck und den Ohrringen findet. Goethe, Johann Wolfgang von: Faust. Texte. Hrsg. v. Albrecht Schöne. Frankfurt am Main: Insel 2003.

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frisch und gesund sonst, wie die Tannen auf den Spitzen der Berge! Ich heiße sie auf den Schemel vor ihm, auf welchem die Werkzeuge liegen, niedersitzen: doch da sie, in ziemlicher Fassung, zwischen seinen Knieen steht und ihm ins Antlitz schaut: so denk’ ich, der Anfall ist wohl auch vorüber, und lasse die Mägde den Schutt wegräumen […]. – Der Graf vom Strahle spricht, während ich ihm an der Schulter arbeite: Katharina, jung Mädel, was auch hast du? Weshalb entsatztest dich so, als du eintratst? War, mein’ ich, nicht vor mir? »Weiß nit, gestrenger Herr, antwortet sie, was mir widerfahren. Laßt gut sein; ist schon wieder vorüber;« und streicht sich die Haare von der Stirn, und schweigt. (P-SWB III; 341, 5 ff.)

Die Tröstung des Vaters, das Stehen »in ziemlicher Fassung« (P-SWB III, 341, 17) sowie das Sprechen Käthchens vermitteln eine Handlungsfähigkeit Käthchens, die in D so nicht gegeben ist.244 Diese Szene ist der erste Kontakt zwischen Käthchen und dem Grafen. In D wird anstatt des Zu-sich-Ziehens nur das Nehmen der Hand (»indem er ihre Hand nimmt« [D-SWB I, 508, 7]) erwähnt. Führen wir uns das Bild der in P dargestellten Szene vor Augen: Der Graf sitzt auf einem Schemel und zieht das Käthchen zu sich, sodass sie zwischen seinen Knien zu stehen kommt. Das Stehen zwischen den Knien einer sitzenden Person, noch dazu an der Hand in diese Position gezogen, kommt eher der Behandlung eines Kindes gleich. Oder aber es geschieht im Rahmen einer liebenden, inniglichen Verbindung zweier Menschen – eine nicht vertraute, nicht verwandte Frau könnte der Graf nicht auf diese Art zwischen seine Knie ziehen (allein der Tugend wegen). Betrachtet man nun das Käthchen als Kind, so würde sich der Graf als eine erziehende/väterliche Instanz einschalten, wodurch es zu einer Konkurrenzsituation zwischen Theobald und dem Grafen käme. Zu bedenken ist hier die soziale Machtposition, die zu gewissen Verhaltensweisen befugt. Generell scheint im »Käthchen« das väterliche, männliche Gesetz zu schalten und zu walten.245 Daneben sind des Öfteren Hinweise auf eine Verbindung des Grafen mit dem Göttlichen gegeben, also der Verweis auf eine religiöse, kirchliche Instanz.

244 Bezüglich der Angst lässt sich ebenfalls eine stärkere Akzentuierung der Handlungsfähigkeit Käthchens in P aufzeigen; dazu greife ich kurz auf den Zweiten Auftritt im 1. Akt vor. Dort erwähnt Käthchen selbst ihren Zustand als einen der Angst und wehrt sich aktiv dagegen. Weil ich dem Vater, der gekommen war, / Auf einem Wagen liebend von Heilbronn, / Um mich zu holen, nicht entgegen eilte / Und dir, statt ihm zu Füßen hinzusinken, / Das Knie in meiner Angst umklammerte. (P-SWB III, 357, 35 ff.; Hervorh. Kursiv H. v. K., Fett P. Sch.) Aus der dezidierten Angst werden in D der Schrecken vor dem Vater und die Bitte um Schutz vor ihm, woraufhin Käthchen bewusstlos niedersinkt. (D-SWB I, 525, 11 ff.) Käthchen setzt keine aktive Handlung mehr, sondern wendet sich um, bittet um Schutz (dies lässt sich noch als performative Äußerung verstehen) und fällt in Ohnmacht – ist handlungsunfähig und auf Hilfeleistung angewiesen. 245 Siehe hierzu auch: Stephens, Anthony: Kleists Familienmodelle. In: Kleist-Jahrbuch (1988/ 89), S. 222 – 237, hier S. 232.

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Der Graf verabschiedet sich nach der oben geschilderten Szene vom Käthchen, indem er aufsteht, sie von oben bis unten mustert – »gedankenvoll« anschaut –, sich schließlich zu ihr hinunterbeugt (beide stehen jetzt), ihre Stirn küsst und sagt: »der Herr seegne dich, und behüte dich, und schenke dir seinen Frieden, Amen!« (SWB I, 508, 18 f.) Diese Verabschiedungsformel erwartet man eher aus dem Mund eines Priesters.246 Danach reitet der Graf davon und Käthchen stürzt sich aus dem Fenster auf die Straße. Bei der Erklärung des Grafen bezüglich der Verfolgung von Käthchen wird in D aus Wien Worms247, die Stadt, in der der Kaiser sitzt. Der Graf ist bereit, im Zuge der Auseinandersetzung in letzter Instanz dorthin zu gehen, sollte seinem Wort kein Glaube, »wies die heilige Schrift vorschreibt […]: ja, ja, nein, nein«248 (SWB I, 510, 9 f.), geschenkt werden. In P stellt sich des Kaisers Gericht als das Gottesgericht dar, wenn Graf vom Strahl hinzufügt: »Alsdann mag Gott, der Herr, kurz und bündig, entscheiden […].« (P-SWB III, 343, 26 f.) Vor der ersten ausführlicheren Verteidigungsrede des Grafen enthält P noch einen Dialog zwischen dem Grafen und dem vorsitzenden Richter Graf Otto. In diesem fragt der Graf vom Strahl nach, ob die Herren der Feme tatsächlich eine Rechtfertigung hören wollen, warum das Käthchen bei ihm wohnt und nicht bei ihrem Vater; weiters wird er aufgefordert anzugeben, wo er sie zuerst angetroffen hat.249 (P-SWB III, 343 f., 33 ff.) Es folgt die defensio des Grafen. In der längeren Variante in P treten vermehrt auf Gott bezogene Bezeichnungen auf. Käthchen ruft an der Stelle, als der Graf ihr 246 Im vierten Buch Mose: »Der HERR segne dich und behüte dich; der HERR lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig; der HERR hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden.« 4. Mose 6,24 ff. (Hervorh. im Orig.) 247 Dies kann auf das Bestreben Kleists zurückzuführen sein, das Stück in Wien aufführen zu lassen, während die Drucklegung in Deutschland stattfand. 248 Hier spielt ein Bibelzitat aus »Matth. 5,37« (SWB III, 486) aus der Bergpredigt herein; es geht darum, nicht zu schwören, sondern: »Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Übel.« Deutlicher ausgedrückt im Brief des Jakobus, Jak. 5,12: »Vor allen Dingen aber, meine Brüder, schwört nicht, weder bei dem Himmel noch bei der Erde noch mit einem andern Eid. Es sei aber euer Ja ein Ja und euer Nein ein Nein, damit ihr nicht dem Gericht verfallt.« 249 Dass diese Passage in D gestrichen wurde, kann auch mit der Tatsache eines Erklärungsnotstandes zusammenhängen, den sie hervorruft. Denn der Graf erwähnt darin, dass er das Käthchen das erste Mal am Rhein traf, als er »nach Straßburg zog, um mit dem Pfalzgrafen, des Friedens wegen, zu unterhandeln«. (P-SWB III, 343, 38 f.) Kurz davor wird Theobald berichtet, dass der Graf gegen den Pfalzgrafen reite. Dazwischen müssen jedoch die sechs Wochen liegen, in denen Käthchen mit gebrochenen Lenden im Bett liegt und nicht gehen kann. Es kann sich zwar durchaus um zwei Reisen gegen den Pfalzgrafen handeln, doch bedürfte dies einer Erklärung, um den Vorwurf einer fehlerhaften Chronologie zu entkräften. In D wird dies umgangen, und der Graf fügt bei der Erzählung des Hergangs zu Beginn ein, dass er sich »auf einer Reise […] nach Straßburg« (D-SWB I, 510, 19 f.) befunden habe, als er Käthchen das erste Mal antraf.

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Kinn nimmt und sie zu sich aufrichtet: »Gott! […] was quält ihr mich!«250 (PSWB III, 345, 22 f.) Nach diesem Ausruf geht sie weg von der Treppe, auf der sie saß und flickte (in D wird daraus die Stallschwelle), beugt sich zuvor aber noch vor dem Grafen nieder und küsst den Saum seines Mantels (eine Geste, die die Hörigkeit gegenüber einer autoritären [religiösen] Instanz zum Ausdruck bringt). Auch der Graf spricht das Käthchen mit religiös gefärbten Floskeln an. Wenn er sich entschließt, dem Geschäft Käthchens in Straßburg näher auf den Grund zu gehen und sich zu ihr gesellt, als sie flickt, wählt er die Ansprache: »Katharina! O Jungfrau! Wie auch steht’s? Hast dein Geschäft in Straßburg bald abgemacht?« (P-SWB III, 345, 9 f.) Dass ein junges Mädchen als Jungfrau bezeichnet wurde, ist noch nicht sonderlich auffällig251, doch der vorangestellte Ausruf »O« lässt sich als ekstatischer Ausruf in der Anrufung von Göttern und Heiligen verstehen. Zudem wird Käthchen von ihrem Vater eindeutig mit himmlischen und göttlichen Verweisen versehen.252 Es kommt zu einer zweiten Verteidigungsrede des Grafen. Im zweiten Teil der defensio unterscheiden sich die beiden Versionen zu Beginn deutlich voneinander: In P nimmt der Graf Theobald zu sich, als dieser nach Schloss Wetterstrahl kommt, bestärkt ihn, dass er das Mädchen mit nach Hause nehmen könne, und bietet ihm seine Hilfe an. Katharina sei ihm zwar in »thörichter Ergebung zugethan«, doch besitze er ebenso »mancherlei Proben« der Macht, die der Vater, Theobald, »über ihr Herz ausübe«. (P-SWB III, 346, 14 ff.) In dieser Version schaut Theobald dem Grafen beim Eintritt noch »bang ins Antlitz« (P-SWB III, 346, 12); in D muss der Graf mit Befremden erschauen, »daß er [Theobald], beim Eintritt in die Thür, die Hand in den Weihkessel steckt, und mich [den Grafen] mit dem Wasser, das darin befindlich ist, besprengt«. (D-SWB I, 511 f., 39 ff.) In D wird die Anteilnahme des Grafen gekürzt, aber er kennt genau das Mittel (der Graf erläutert Theobald, wie er sich zu verhalten habe, damit das Käthchen mit ihm nach Hause gehe), wie Theobald »die Sache, seinen Wünschen gemäß, wieder in’s Geleis rücken könne« (D-SWB I, 512, 5 f.); in P erwartet er lediglich die problemlose Rückgabe Käthchens an den Vater, ohne Mittel dazu zu benennen. Weiters finden wir in P einen Einschub, in dem Theobald zu Wort kommt und das vom Grafen Vorgebrachte bestätigen soll; er tut dies auch, doch 250 »Kleist […] präsentiert immer wieder Vater- und Herrscherfiguren – die Väter der Familie und die herrschenden Väter des Staates – als gottgleich, so noch in einer vexatorisch parodierenden Variation in jener liebenden (also potentiell inzestuösen) Hinneigung des Vaters zur Marquise von O…, seiner zuvor verstoßenen Tochter. – ›Gott mein Vater‹, mit diesem Ausruf der Marquise wurde die Szene eingeleitet.« Schmitz, Walter: »… eine neue Ordnung der Dinge«. Heinrich von Kleists Dresdner Aufenthalt. In: Beiträge zur KleistForschung 2007/08. 21. Jahrgang. Hrsg. v. Lothar Jordan. Würzburg: Königshausen & Neumann 2009, S. 81 – 104, hier S. 97. 251 Grimm, DWB, Bd. 10, Sp. 2388. 252 Siehe hierzu Kap. 4.2.

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greift er in dieser Replik den Grafen zugleich erneut an: Es sei um ihn »zu äffen«253 gewesen, um ihm »von seiner [des Grafen] Kunst [der schwarzen Nacht, der Hexerei] eine Probe zu zeigen«. (P-SWB III, 345, 35 f.) Der Graf reagiert erbost auf diese Anklage und spricht Theobald auf dessen Unfähigkeit an, Käthchen, in seiner Funktion als Vater, eigenständig mit nach Hause zu nehmen. Gegen Ende des ersten Auftritts werden in D bei der Passage zu der Frage, ob der Graf dem Käthchen Gift gegeben habe, noch zusätzliche Opiate, die sie bekommen haben könnte, erwähnt und die möglichen Getränke werden als »verzauberte« (D-SWB I, 513, 12) bezeichnet. Zum Abschluss steht in P die Anweisung an die Häscher, das Käthchen zu holen, und Wenzel, der zweite Richter, sagt: »Bei meinem Eid! Dieser Vorfall macht meinen Witz zu Schanden.« (P-SWB III, 348, 11 f.) Diese Aussage, die auf ein Alleinstellungsmerkmal des Menschen gegenüber der Natur verweist, fehlt in D. Die von Gott verliehene Gabe des vernünftigen Denkens wird verspottet, geschändet.254 3.1.1.2. Zweiter Auftritt Zu Beginn des zweiten Auftritts wird Käthchen mit verbundenen Augen von zwei Häschern hereingeführt. Noch bevor ihr die Augenbinde abgenommen wird, fragt sie: »Bin ich am Ziel, ihr geheimnißvollen Männer?« (P-SWB III, 348, 18); worauf ihr die Häscher antworten: Der erste Häscher (indem er ihr das Tuch aufbindet) Du stehst vor deinem Richter. Der Zweite. Sei wahr, als stündest du vor Gott; denn er sieht in dein innerstes Herz. (P-SWB III, 348, 19 ff.)

Diese Passage, die explizit eine Verbindung des Grafen mit dem Göttlichen behauptet, ist in D gestrichen. Beide Fassungen enthalten das darauf folgende Umherschauen Käthchens »in der Versammlung« und ihre Verbeugung vor dem Grafen, als Käthchen ihn erblickt. (SWB I, 513, 24) Sie erkennt in der Folge auch den Grafen als ihren Richter und begrüßt ihn mit: »Mein hoher Herr!« (SWB I, 253 Das Bild des Affen im Zusammenhang mit dem Teufel wurde vom Graf vom Strahl schon davor erwähnt: »Wenn der Teufel sein Spiel mit mir treibt, so braucht er mich dabei, wie der Affe die Pfoten der Katze; ein Schelm will ich sein, holt er den Nußkern [Kastanie (P-SWB III, 343, 22 f.)] für mich.« (SWB I, 510, 6 ff.) Dies basiert auf der Redensart: die Kastanien aus dem Feuer holen; die Gefahr für jemand anderen übernehmen und selbst nicht davon profitieren. Siehe dazu: SWB III, 486 sowie Grimm, DWB, Bd. 11, Sp. 261; auffällig an diesem Vergleich ist, dass der Graf dabei so oder so mit dem Teufel in Verbindung steht. Er spricht sich bei seiner Erklärung lediglich von einem eigenen Nutzen frei und sagt, er sei der Teufel nicht, höchstens dessen Diener. 254 Grimm, DWB, Bd. 30, Sp. 862.

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513, 36) Der Graf verneint, ihr Richter zu sein, und bezeichnet sich im Gegenteil selbst als einen »Sünder« (P-SWB III, 348, 33), in D als »Verklagter« (D-SWB I, 514, 7). Die Selbstbezeichnung des Grafen als Sünder rechtfertigt Käthchens Aussage: »Du spottest.« (SWB I, 514, 9), als nicht zu hoch gegriffen. Denn wenn sich Gott selbst als Sünder bezeichnet, kann es sich nur um Spott handeln. In D wird nach der nochmaligen Verneinung des Grafen, nicht ihr Richter zu sein, Käthchen vom »richtigen«255 Richter Graf Otto gebeten: »Hier Jungfrau, wenn’s beliebt; hier ist die Schranke!« (D-SWB I, 514, 18) Nach der zweiten Aufforderung entgegnet Käthchen in P: »Ihr sollt mir diesen Busen nicht verwirren.« (PSWB III, 349, 16) Nachdem Graf vom Strahl die Erlaubnis der Richter bekommen hat, Käthchen zu befragen, und sie ihm versichert hat, ihm jeden Gedanken ihres Herzens getreu wiederzugeben, verlangt er in P von ihr, dass sie nun Sorge tragen und ihm das Versprechen halten solle (P-SWB III, 353, 5), und er fragt sie, warum sie ihm so »abgöttisch zugethan« (P-SWB III, 353, 7) sei. In D wird daraus die Frage nach dem Grund, der sie aus des »Vaters Hause trieb« (D-SWB I, 518, 17). In P bezeichnet der Graf Käthchens Verhalten ihm gegenüber als »abgöttisch«, womit er sich selbst auf die Stufe des Göttlichen stellt; am Ende des zweiten Auftritts wird im Gegenzug Käthchen von ihrem Vater als Abbild des Göttlichen bezeichnet. In D fehlt dieser Vergleich; dafür zeigt sie sich dem Blick des Grafen »wie die Rose, / Die ihren jungen Kelch dem Licht erschloß«. (D-SWB I, 518, 31 f.) Der Graf fragt nach dem Ort, der Käthchen vor allen anderen gegenwärtig ist, der sozusagen für sie eine besondere Bedeutung hat, wo sie den Grafen gesehen hat; in P wird dieser Ort mit dem Zusatz »[i]m jungen Busen träumend« (P-SWB III, 354, 4) vorgestellt. Käthchen beteuert nun in P, vom Grafen gedrängt, dass sie ihm alles sagen wolle, was sie wisse (P-SWB III, 354, 18); weiters kommt es in P zu Fragen nach dem Trank, den sie von ihm bekommen hat – im ersten Auftritt war von einem Zaubertrank, von Gift oder von Opiaten die Rede. Graf vom Strahle. Hab’ ich dich nie mit Wein geletzt, Kathrine? Käthchen. Niemals, mein hoher Herr.

255 Vergessen werden darf dabei nicht, vor welchem Gericht Käthchen hier im Grunde steht. Es ist ein Femegericht. Ein Gericht, das sich nicht auf ein verschriftlichtes Gesetz stützt, sondern dessen einziger rechtlicher Rückhalt die moralische Instanz der Mächtigen ist. Es handelt sich um ein Freigericht, dessen hauptsächliche Aufgabe in der Züchtigung der beschuldigten Person liegt. Das Femegericht wird als das »freigericht, das schwere, heilige gericht« bezeichnet; es sind »heimliche[] gerichte«, die sich »aus der sinnlichen feme des waldes […] [auf] die abstracte des gerichts« abgeleitet haben. Grimm, DWB, Bd. 3, Sp. 1517 (Hervorh. im Orig.).

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Graf vom Strahle. Auch nicht mit Wasser? Käthchen. Mit eigener Hand, fragst du? Graf vom Strahle. Ja, oder Milch. Käthchen. Du hast mich nie, mit was es sei geletzt. (P-SWB III, 354, 25 – 36)

In D fehlen diese Fragen zum Getränk, weshalb es auch so wirkt, als ob Käthchen der Frage des Grafen: »Ich aber nahm dich bei der Hand, und reichte / Sonst deiner Lippe – nicht? Was stockst du da?« (SWB I, 519, 33 f.) ausweicht und lediglich die Frage nach dem Nehmen an der Hand beantwortet. Käthchen erwähnt den Vorschlag des Grafen, dass er sie »mit Pferden« (D-SWB I, 521, 9) zu ihrem Vater nach Heilbronn habe bringen wollen. Doch danach hatte der Graf nicht gefragt; ihm ging es um den Stall, in dem er sie besuchte. Und so nennt er sie in P eine »offenbare« Lügnerin (P-SWB III, 536, 33) und in D schiebt er vor die Lügnerin »bei meiner Treu« (D-SWB I, 521, 31). In D gibt Käthchen nun zu, dass der Graf sie im »Stall zu Strahl«256 besucht hat und sie sich somit ihrer »Seelen Seeligkeit […] weggeschworen« hat (D-SWB I, 522, 8) – ich erinnere an das zuvor genannte Bibelzitat aus Matth. 5,37 und Jak. 5,12 zum Thema des Schwörens. In D wird nicht weiter darauf eingegangen, dass der Graf sie angerührt hat. In P hingegen glüht Käthchen »vor Schaam« und der Graf beharrt auf der Frage der Berührung: »Da giebst du zu, daß ich dich angerührt?« (P-SWB III, 357, 10 f.) Worauf Käthchen bestätigt: »Da geb’ ich zu, daß du mich angerührt.« (P-SWB III, 357, 13) Dieses Eingeständnis fehlt in D gänzlich. Nun kommt es zu der einzigen Erweiterung, die in P nicht enthalten ist. Der Einschub umfasst 90 Zeilen und behandelt die Thematik, ob die Befragung Käthchens durch den Grafen weitergeführt werden soll oder nicht. Käthchen beginnt zu weinen, woraufhin Graf Otto, der Richter, und Theobald Mitleid mit Käthchen haben und das harsche Vorgehen des Grafen vom Strahl kritisieren. Gleich darauf tätigt Otto eine das Urteil vorwegnehmende Aussage: »Zuletzt ist nichts im Stall zu Strahl geschehen.« (D-SWB I, 522, 22) Dies kommt Wetter vom Strahl nur zugute, der aber, um abgehen zu können, von Otto nichtsdestotrotz 256 Die Verweise auf die Geburt Jesus in Bethlehem sind in diesem Drama mannigfaltig. Der Stall zu Bethlehem taucht häufig in Redewendungen und Verweisen auf, ebenso im Zusammenhang mit der Beschreibung von Charakteren – hauptsächlich bei Käthchen und dem Grafen vom Strahl. Der »Stall zu Strahl« verweist durch den antiken Mythos des Strahls, mit der Verbindung zum Blitz, zu einer leuchtenden Himmelserscheinung, deutlich auf Bethlehem.

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den Befehl zur Beendigung des Gerichts braucht. Diesen verweigert Otto jedoch und bringt stattdessen weiter Kritik an dem Vorgehen des Grafen vom Strahl an. Ihr sollt das Kind befragen, ist die Meinung, Nicht mit barbarischem Triumph verhöhnen. Sei’s, daß Natur euch solche Macht verliehen: Geübt wie ihr’s thut, ist sie hassenswürd’ger, Als selbst die Höllenkunst, der man euch zeiht. (D-SWB I, 522, 27 ff.)

Wetter vom Strahl kontert, dass er Käthchen lediglich mit »Triumph« vor ihnen habe erheben wollen; denn nicht er, sondern seine Ehre257 stehe vor Gericht. (DSWB I, 522, 35 ff.) Daraufhin schaltet sich Wenzel ein, ein anderer Richter, der Wetter vom Strahl unterstellt, er wolle nur deshalb, dass sie das Käthchen von jeglicher Schuld rein ansehen, weil es gleichzeitig seinen eigenen Freispruch bedeuten würde. (D-SWB I, 523, 1 ff.) Graf vom Strahl reagiert sarkastisch, indem er die Worte Graf Ottos gegen die Richter selbst wendet und durch die Wiederholung der Aussage deutlich wird, dass die Richter die Befragung nicht übernehmen hatten wollen: »Ich? Gründ’? Entscheidende! Ihr wollt sie, hoff ’ ich, / Nicht mit barbarschem Übermuth verhöhnen?«258 (D-SWB I, 523, 6 f.) Woraufhin auch Wenzel »mit Bedeutung« wünscht, »noch zu hören, / Was in dem Stall damals zu Strahl geschehen« (D-SWB I, 523, 9 f.) ist. Dies lässt den Grafen erzürnen und »glutroth« (D-SWB I, 523, 15) werden und, die Maßregelungen der Richter überhörend, mit scharfen Worten Käthchen erneut befragen. Hier soll dich keiner richten, als nur der, Dem deine Seele frei sich unterwirft. (D-SWB I, 523, 27 f.)

Er geht sogar so weit, zu sagen, der Teufel solle ihn holen, wenn die Richter sie zur Befragung zwingen. (D-SWB I, 523, 33) Diese wollen nun den Grafen mit den Häschern wegbringen lassen und beruhigen sich erst, als Graf Otto »(halblaut)« 257 »Statt meiner – / […] / steht mein Handschuh vor Gericht!« (D-SWB I, 522, 36 ff.); vgl. dazu Grimm, DWB, Bd. 10, Sp. 416 f.: Handschuhe sind »seit den ältesten zeiten als schmuck und auszeichnung, wie zum schutz getragen […]« worden. »Von der symbolik die nach altdeutschem rechte dem handschuh anhaftete und über die rechtsalterthümer 152 – 155 gehandelt wird, ist der neueren zeit wenig geblieben. mittelalterlicher brauch ist der wurf des handschuhs als aufforderung zum kampf […].« (Hervorh. im Orig.) 258 Durch die Wiederholung der Phrase Graf Ottos mit der Veränderung eines Wortes verstärkt Graf vom Strahl die Kritik an den Richtern: Aus »Triumph« (Otto) – in dem Zusammenhang lesbar als einen (barbarischen) Triumph haben, eine Genugtuung haben (vgl. dazu: Grimm, DWB, Bd. 22, Sp. 697) –, wird »Übermuth« (Graf vom Strahl). Der nunmehrige barbarische Übermut kann als Ausdruck von Stolz und Hochmut aufgefasst werden (vgl. dazu: Grimm, DWB, Bd. 23, Sp. 426), oder sogar als aus einer fröhlichen Gemütsstimmung heraus verübte Gewalttat (vgl. dazu: Grimm, DWB, Bd. 23, Sp. 428).

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auf die genealogische Herkunft des Grafen Wetter vom Strahl verweist: »Laßt, Freunde, laßt! Vergeßt nicht, wer er ist.« (D-SWB I, 524, 4) Die Richter überlassen ihm also das Geschäft der Befragung weiterhin und wollen nun wissen, was »fünf Tag’ von hier, / Im Stall zu Strahl, als es schon dunkelte« (D-SWB I, 524, 12 f.), passiert ist. Käthchen beteuert dem Grafen neuerlich, alles »Punkt für Punkt« (DSWB I, 524, 21) zu sagen, und Wetter vom Strahl bezieht sich in seiner weiteren Befragung auf eine Behauptung, die in P deutlich und in D nicht so explizit ausgedrückt ist: »Gut. – – Da berührt’ ich dich und zwar – nicht? Freilich! / Das schon gestand’st du?« (D-SWB I, 524, 23 f.) Käthchen bejaht in der nächsten Replik, dass sie es gestanden habe, was aber nur in P belegt ist, wo sie zuvor gesagt hat: »Da geb’ ich zu, daß du mich angerührt.« (P-SWB III, 357, 13) Wie oben erwähnt wird in D lediglich vom Besuch im Stall zu Strahl gesprochen und nicht von der Berührung. (Außer die Aussage in D verwiese auf die Frage, wann der Graf Käthchen bei der Hand genommen habe, die vor der Stallgeschichte abgehandelt wurde, was aber unwahrscheinlich scheint.) Ein Zusatz in D ist die Erwiderung des Grafen auf die Meinung Käthchens, dass er sie mit Füßen von sich gestoßen habe: »Das thu’ ich keinem Hund.« (DSWB I, 525, 8) Diese Aussage nimmt die Anklage Theobalds auf, mit der Käthchen als ein Hund, der von seinem Herrn Schweiß gekostet hat, bezeichnet wird. Wetter vom Strahl gibt zwar zu, Käthchen mit Füßen gestoßen zu haben, doch nennt er dies in P »Possen« (P-SWB III, 358, 6) und in D »Schelmerei, des Vaters wegen« (D-SWB I, 525, 22). Ein weiterer Zusatz in D ist bei der Peitsche gegeben, die der Graf »flammenden Gesichts / Herab vom Riegel« (D-SWB I, 525, 29) nahm. Auffallend ist hier die auch an anderen Stellen im Vergleich zu P verstärkt betonte Hitze und Röte bei Käthchen, aber auch beim Grafen vom Strahl. Die nächste Abweichung der beiden Fassungen betrifft Theobalds Erstaunen über den Freispruch des Grafen vom Strahl und die richterliche Handhabung, ihn ohne Entschädigung auf das Feld hinausführen zu wollen: »Was! Auf das Feld? Mich hilflos greisen Alten? / Und dies mein einzig liebes Kind, –?« (D-SWB I, 527, 26 f.) In P haben wir an dieser Stelle den Verweis auf das Käthchen als Abgott des Vaters: Und dieses Kind? Mein Einziges? Mein Abgott? Das soll zu dem Gemäuer jetzt zurück? Das soll? – (P-SWB III, 360, 4 ff.)

Daraufhin fordern die Richter den Grafen auf, ihnen eine letzte Probe von »der Gewalt« (SWB I, 527, 31), die er über Käthchen ausübt, zu geben und das Kind dem Vater wieder zuzuführen. An dieser Stelle ist noch einmal ein gravierender Unterschied der Fassungen im ersten Akt zu finden. Um das Band zwischen Käthchen und Wetter vom Strahl zu lösen, fragt dieser jene in P, ob sie sich für

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ihn umbringen würde. Käthchen reagiert irritiert; davor hat sie ihm aber zweifach das Versprechen gegeben, alles zu tun, was er von ihr verlangt. Graf vom Strahle. Ich will dir etwas sagen. Du liebst mich. Käthchen. Von ganzem Herzen. Graf vom Strahle. Und was ich will, das thust du. Käthchen. Verlaß dich drauf. Graf vom Strahle. Gewiß? Käthchen. Verlaß dich drauf. (P-SWB III, 360, 24 ff.)

Käthchen bestätigt doppelt, dass sie gewillt ist, des Grafen Forderungen nachzukommen. In der nächsten Sequenz fordert Wetter vom Strahl dann Käthchens Leben. Die Frage kann zweideutiger nicht sein: »Giebst du mir wohl das Leben?« (P-SWB III, 360, 33) wird die gefragt, deren Leben dem Grafen geweiht ist. Käthchen wäre zu dem Schritt allem Anschein nach bereit; doch sie versteht es im Sinn eines doppelten Liebestodes: »Stirbst du auch?« (P-SWB III, 360, 39) Er verneint und Käthchen versteht nicht, was der Graf sonst von ihr wollen könnte, und stellt »(zitternd)« die Frage: »Was willst du haben?« (P-SWB III, 361, 8 f.) Graf vom Strahle. Ich will, daß du zurück nach Heilbronn gehst. – Du bleichst? Du stockst? Du wankst? Du willst es nicht? Du willst es nicht? Käthchen. Ich hab’ es dir versprochen. (sie fällt in Ohnmacht). (P-SWB III, 361, 10 ff.)

Das Versprechen gibt Käthchen zwar in D auch, doch funktioniert es dort, performativ gesehen, nicht. Die Willensbestätigung, die Bedingung des Versprechens und die Beteuerung, diesem Folge zu leisten, kurz der Akt des Versprechens fehlt. Käthchen bringt in D nicht eindeutig zum Ausdruck, dass sie gewillt ist, des Grafen Forderung zu erfüllen.259 Ihr »Ich hab es dir versprochen.« (SWB I,

259 Vgl. Handbuch deutscher Kommunikationsverben. Teil 1: Wörterbuch. Von G. Harras, E. Winkler, S. Erb u. K. Proost. Berlin: de Gruyter 2004, S. 231. »Die Situationen auf die mit versprechen Bezug genommen wird, sind dadurch gekennzeichnet, dass ein Sprecher S

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528, 13) rekurriert ausschließlich auf die Frage an den Grafen, was es ist, das er von ihr wolle: »Was willst du? Sprich.« (SWB I, 528, 8) In D wird die Loslösung aus der Gewalt des Grafen folgendermaßen dargestellt: Der Graf vom Strahl. Du liebst mich? Käthchen. Herzlich! Der Graf vom Strahl. So thu mir was zu Lieb’. Käthchen. Was willst du? Sprich. Der Graf vom Strahl. Verfolg’ mich nicht. Geh nach Heilbronn zurück. – Willst du das thun? Käthchen. Ich hab es dir versprochen. (sie fällt in Ohnmacht). (D-SWB I, 528. 1 ff.)

D endet im 1. Akt mit der Verfluchung des Grafen durch Theobald, die so in P noch nicht enthalten war: »O verflucht sei, / Mordschauender Basiliskengeist!260« (D-SWB I, 528, 22); danach wünscht er ihm noch den Sturz in die Hölle, er solle gar noch »zehntausend Klafter tiefer« hinuntergeschleudert werden, als »ihre wildesten Flammen lodern«. (D-SWB I, 528, 35 f.) Woraufhin ihm Graf Otto auferlegt zu schweigen. In P steht anstelle des Basiliskengeists der »Vatermördergeist« (P-SWB III, 361, 23) und Käthchen wird am Ende mit Wasser versorgt. Das erste Fragment umfasst auch den ersten Auftritt des 2. Aktes. Dabei handelt es sich um den Monolog des Grafen vom Strahl. Es wird unmissverständlich deutlich, dass er Käthchen verehrt, ja sogar liebt. Der Graf tritt aus der Höhle, in der das Femegericht stattgefunden hat, geführt von zwei Häschern, die ihm die Augenbinde abnehmen. Er »sieht sich um, nimmt sich den Helm ab« (PSWB III, 362, 17 f.) und wirft sich sogleich auf den Boden, ins Gras, und weint: »wie ein Schäfer liegen und klagen« (SWB I, 529, 19) will er. Er imaginiert die arkadische Welt der Schäfer261, wofür seine Pferde zu Schafen und Ziegen werden. einem Hörer H gegenüber zum Ausdruck bringt, dass er P [den propositionalen Gehalt] tun will; P ist im Interesse von H.« (Hervorh. im Orig.) 260 »Basiliske, ›der König der Schlangen‹ (griech.), Tier der antiken Mythologie, dessen Blick tödlich sein kann […].« (SWB III, 486) 261 Schäfer steht »in der idyllischen dichtung des 17. und 18. jahrh. als vertreter natürlicher unschuld und zärtlicher liebe; in diesem sinne der griechischen bukolischen dichtung der Alexandrinerzeit entlehnt, die sie in Arkadien zu localisieren pflegte«. Grimm, DWB, Bd. 14, Sp. 2003.

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In P ist der Graf so betrübt, dass keine »Thräne mehr, die unter dem Monde rinnt« (P-SWB III, 363, 3), seine Empfindung auf andere Art ausdrücken können soll als die, die er selbst seiner Betrübnis zuschreibt. In D wird aus der Träne unter dem Mond der »Reimschmidt«.262 (D-SWB I, 530, 3) Darauf folgt in P der Wunsch, dass es sich um einen Wettstreit zwischen ihm selbst und Gottschalk, seinem Knecht (der, »in seiner Wunderlichkeit, […] das Mädchen lieb gewonnen [hatte], und […] ihrer, in der Tat, als seiner Tochter [pflegte]«; D-SWB I, 511, 15 ff.) handeln möge, den er, anscheinend, verloren haben möchte, um einen Grund für seinen Trübsinn zu haben. Das Verhalten des Grafen gleicht dem eines Verliebten263, und er äußert dies auch unmissverständlich. In P hat er für sein Schwelgen zwischen den sechs Gedankenstrichen 49 Zeilen mehr zur Verfügung und seine Liebesvergleiche sind um einige interessante Bilder reicher. Er vergleicht Käthchen mit einem kleinen Veilchen und beklagt die von ihr ausgelöste Verliebtheit: »was hast du meiner Brust angethan?« (P-SWB III, 363, 35) Gott würde ihm jede Sünde vergeben, doch der Graf hat keinen Grund mehr, am Abend die Hände zu falten und zu beten: »[…] sobald nur der Dank für das, was mir heute geworden ist, ausgeweint ist.« (P-SWB III, 363, 38 f.) Als Käthchen vor ihm ihre »liebliche Unschuld« (P-SWB III, 364, 1) entfaltete, fühlte er sich, als sei er »gänzlich zu Gesang verwandelt worden« (P-SWB III, 364, 3), dem »klang der himmelskreise«264 gleich, der

262 Görner sieht in dem »inneren Monolog« des Grafen dessen rhetorische Fähigkeiten verdeutlicht und das »Geständnis« des Grafen, Käthchen zu lieben, »als Sprachproblem« formuliert. Görner 2011, S. 141. 263 »Die Liebe par excellence, die meines Erachtens das Urbild und der Gipfel jeglichen Erotismus ist, zeichnet sich dadurch aus, daß sie folgende zwei Bestandteile zugleich enthält: einmal das Gefühl, daß dieses Wesen unsere Persönlichkeit bis in ihre Tiefen hinein absorbiert, als hätte es uns aus unserem eigenen Lebensboden herausgerissen und in den seinen verpflanzt, so daß nun dort die Wurzeln unseres Lebens sind. Das gleiche, nur mit anderen Worten, sagen wir, wenn wir hinzufügen, daß der Liebende sich dem Gegenstand seiner Liebe völlig übereignet fühlt, wobei es nebensächlich ist, ob die körperliche oder geistige Hingabe sich bereits vollzogen hat oder nicht. Ja, es kann sogar vorkommen, daß infolge von Bedenken (gesellschaftliches Ansehen, Moral, Schwierigkeiten irgendwelcher Art) der Wille des Liebenden einer Übereignung an das geliebte Wesen widerstrebt. Wesentlich ist nur, daß sich der Liebende dem anderen hingegeben fühlt, gleichgültig, wie immer sein Wille entscheiden mag. Hierin liegt kein Widerspruch: denn die rückhaltlose Überantwortung ist kein Werk des Willens, sondern spielt sich in Persönlichkeitsschichten ab, die tiefer liegen. Es ist keine gewollte, sondern eine unwillkürliche Hingabe. Wohin auch unser Wille uns führen mag, überall werden wir dem geliebten Wesen unweigerlich übereignet sein, selbst dann, wenn er uns, um uns vom Gegenstand unserer Liebe zu trennen, ans andere Ende der Welt verbannen würde.« Ortega y Gasset, José: Zur Psychologie des interessanten Mannes. In: Gesammelte Werke. Bd. II. Übersetzt v. Ulrich Weber u. Helene Weyl aus der spanischen Originalausgabe Obras Completas 1950. Stuttgart: Dt. Verlags Gesellschaft 1978, S. 210 – 228, hier S. 215 f. (Hervorh. im Original) 264 Grimm, DWB, Bd. 16, Sp. 2209.

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Sphärenmusik265, die ihn »wie ein Adler kreisend […] in’s Reich unendlicher Lüfte empor[hob]« und ihn ausrufen lässt: »ich bin geliebt! daß die ganze Welt, wie ein großer Resonanzboden, mir widerhallte: ich bin geliebt!« (P-SWB III, 364, 4 ff.) Wetter vom Strahl imaginiert in P, nachdem ihm im Geiste seine Ahnen in »unruhiger Versammlung« (SWB I, 530, 32) erschienen sind, seine und Käthchens Vermählung. Dieser Schritt darf aber nur in seiner Vorstellung gesetzt und nicht zur Wirklichkeit werden. Hier ist kein erzbischöflicher Dom; sie und ich, wir stehen noch nicht, Hand in Hand, vor dem feierlichen Priester, und Friedrichs Lippe flüstert noch, auf die Frage: willt du sie zum Weibe? kein zitterndes: ja, hervor. (P-SWB III, 364, 15 ff.)

In D bleibt davon lediglich die Aussage: »Zum Weibe, wenn ich sie gleich liebe, begehr’ ich sie nicht« (D-SWB I, 530, 33 f.) Gegen Ende tröstet sich der Graf in P mit der Vorstellung: »Die Zeisige werden verflattern, die zwitschernden, aus den Hollundergebüschen, Käthchen, du auch – und wirst nicht wiederkehren, wie sie!« (P-SWB III, 364, 30 ff.) Wetter vom Strahl ist dem Gesetz der Genealogie unterworfen und kann ihm nicht entfliehen. Er unterwirft sich dem Willen des Geschlechts. Seine Stellung gebietet, das Gefühl zu unterdrücken und entgegen seiner Empfindung zu handeln; doch er erkennt, dass das Käthchen etwas Besonderes ist.

3.1.2. Zweites Fragment Das Zweite Fragment weicht in zwei Auftritten gänzlich von der gedruckten Fassung ab. Der 2. Akt besteht in beiden Varianten aus dreizehn Auftritten, wobei im neunten Auftritt jeweils eine völlig andere Geschichte erzählt wird. In P dehnt sich dieser Handlungsverlauf bis hinein in den zehnten Auftritt aus. Dieser ist zu Beginn deutlich länger als in D und enthält zusätzlich einen Dialog zwischen Kunigunde und ihrer Kammerzofe Rosalie. 265 Das Unsagbare drückt sich in Musik aus. Aufgestiegen aus dem Abgrund, der Hölle, um das »unsägliche Leiden der Seele, wenn sie sich selbst fühlt, sich selbst findet«, auszudrücken. »Die Musik entspringt der Hölle; sie fiel nicht aus der Höhe herab. Ihr Ursprung ist weniger himmlischer denn höllischer Art. Später wird dann die ›Harmonie der Sphären‹ auftauchen. Denn die Harmonie folgt auf die Klage und die Verzauberung.« Aber die Klage ist »kein verzweifeltes Wehklagen, kein Flehen«, sie drückt sich aus durch »eine heimliche Sanftheit, eine geheimnisvolle Sanftheit, die den Abgründen der Hölle entsteigt«. Zambrano, María: Der Mensch und das Göttliche. Aus dem Spanischen v. Charlotte Frei. Wien: Turia + Kant 2005, S. 88. Siehe weiters: »Nach der Lehre der Pythagoreer ist die irdische Musik nur eine Nachahmung der himmlischen, und beide werden durch ein Zahlenverhältnis bestimmt. Für die streng gläubigen Pythagoreer war die Zauberkraft der irdischen Musik eine Anspielung auf die magische Wirkung der göttlichen Sterne, die durch ihre harmonischen Bewegungen den Menschen in mysteriöser Weise lenken.« Debriacher 2007, S. 178.

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Im zweiten Auftritt, mit dem dieses »Phöbus«-Fragment beginnt, tritt der Knecht Gottschalk auf, findet seinen Herrn Graf vom Strahl auf der Erde liegend und begrüßt ihn mit: »Ei, was der Gukuck!« (P-SWB III, 365, 7) Dieser Ausruf kann als Verwunderung, Erstaunen über den Anblick des Grafen verstanden werden.266 Der nächste Satz – »So hängt ja der Himmel voller Geigen.« (P-SWB III, 365, 7) – schließt an die im Monolog des Grafen erwähnte Sphärenmusik an und weist zusätzlich eine religiöse Bedeutung auf. […] noch uns geläufig ist der himmel voll geigen: […]. […] was das bild eigentlich meint, ist noch jetzt der volksmäszigen vorstellung nahe, z. b. in einem weihnachtspiel aus Kärnten bei der geburt in Bethlehem singen die hirten, da sie den gesang der engel hören: […], der himmel hat sich geöffnet, dasz man die ›harmonie der sphären‹ hört und sieht, die aus griechisch-philosophischer anschauung her umgekleidet eigenthum der christlichen vorstellung geworden war […].267

Der 2. Akt enthält deutliche Spuren einer komödiantischen Ausrichtung (besonders in P). Die Komik268 macht sich schon im Dialog mit Gottschalk bemerkbar. Im ersten Auftritt sieht der Graf die Pferde seines Trosses: »Ich will mir einbilden, meine Pferde dort unten, wo die Quelle rieselt, wären Schaafe und 266 Der Ausdruck ›Kuckuck‹ steht dabei für den Teufel (wie in der Redewendung ›Was zum Teufel!‹). Obwohl dem Vogel ursprünglich eine göttliche Bedeutung beiwohnte, wurde diese durch das Christentum in eine teuflische verkehrt. – Weiters erscheint der Kuckuck als Pendant zum Adler. Grimm, DWB, Bd. 11, Sp. 2526 ff. Ich erinnere an das Bild, welches der Graf entwarf, als er in seinem Monolog zuvor vom Käthchen schwärmte; beide Bilder/Vögel sind in D nicht mehr enthalten, weshalb darauf geschlossen werden kann, dass sie in P zusammenhängend gedacht waren. 267 Grimm, DWB, Bd. 5, Sp. 2572 f. Zum Morgenland passt die erwähnte Sphärenmusik. »Wie schon im Marionettentheater Kleist den Begriff der Grazie mit jenem des Paradieses verbindet, so verknüpft er auch die Klangerinnerung der Sphärenmusik mit dem Bild des Sonnenaufgangs und macht so das Paradies gegenwärtig.« Debriacher 2007, S. 180. 268 An dieser Stelle möchte ich auf die Komik im Gewand der Groteske verweisen; eingehender werde ich mich mit der Groteske im »Käthchen« im Kap. 5.1. beschäftigen. Die groteske Form der Komik, des Lachens, passt zum »Käthchen« und seiner Zuschreibung »historisches Ritterschauspiel«. Denn die »Blüte des grotesken Realismus« erwächst nach Michail Bachtin in der »volkstümlichen Lachkultur des Mittelalters«. Auch in der Frühromantik (der Entstehungszeit des Käthchens) war die Groteske eine gebräuchliche Form literarischer Darstellung, allerdings mit einer Umgestaltung des Lachmoments: »Die tiefgreifendste Umgestaltung in der romantischen Groteske betraf das Lachprinzip. Das Lachen blieb selbstverständlich erhalten […]. Aber es wurde reduziert, nahm die Gestalt von Humor, Ironie und Sarkasmus an, war nicht mehr froh und triumphierend. Das positive, erneuernde Moment des Lachprinzips war auf ein Minimum eingeschränkt. […] Tatsächlich präsentiert die Groteske, einschließlich ihrer romantischen Ausprägung, die Möglichkeit einer anderen Welt, einer anderen Ordnung und Lebensweise. Sie führt aus der vermeintlichen Allgemeingültigkeit, Unanfechtbarkeit und Stabilität der existierenden Welt heraus.« Bachtin, Michail: Rabelais und seine Welt. Volkskultur und Gegenkultur. Übersetzt v. Gabriel Leupold. Hrsg. u. mit einem Vorwort versehen v. Renate Lachmann. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, hier S. 82 ff. (Hervorh. im Orig.)

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Ziegen«. (P-SWB III, 362, 26 f.) Sie stehen an genau dem Platz, den Gottschalk als jenen angibt, wo er auf den Grafen wartet. Gottschalk aber sieht seinen Herrn nicht, obwohl er zugesteht: »Wir stehn dort, wo die Pferde grasen, und schauen uns die Augen wund, euch aus der Mordhöhle wieder hervortreten zu sehen; und ihr liegt hier, wie ein Dachs269 davor, und sonnt euch.« (P-SWB III, 365, 8 ff.) Der Graf sieht die Pferde, aber Gottschalk, bei den Pferden stehend, sieht den Grafen nicht – sehr aufmerksam scheinen die Gefährten des Grafen die Gegend um sie herum also nicht beobachtet zu haben. Diese Gegenüberstellung der tragischen Geschichte des Grafen mit der Tölpelhaftigkeit seiner Gefährten kann als groteske Situation aufgefasst werden. Indem es das Entfernte einander annähert, sich Ausschließendes verbindet und dabei gegen herrschende Vorstellungen verstößt, ist das Groteske in der Kunst dem Paradoxon in der Logik verwandt.270

Der dritte Auftritt behandelt die Nachricht von einer Kriegserklärung Kunigundes an den Grafen vom Strahl. Die beiden Fassungen stimmen hier weitestgehend überein. Lediglich der Schlussdialog zwischen Gottschalk und dem Grafen wurde in D gestrichen. In diesem wird klar, dass Gottschalk das Käthchen sehr lieb gewonnen hat und sie mehr schätzt, als er sich selbst eingesteht – diese Zuneigung teilt er mit seinem Herrn, wenn auch mit je eigener Ausrichtung. Für Gottschalk zählt Käthchen zur Mannschaft des Grafen, diese Sichtweise fehlt in D gänzlich. Im vierten Auftritt gibt es nur an zwei Stellen Änderungen (siehe Anhang), im fünften Auftritt handelt es sich bei den Änderungen hauptsächlich um kleinere Kürzungen. Auch der sechste Auftritt, bei dem Burggraf von Freiburg mit Georg von Waldstätten über die Beweggründe und den Charakter von Kunigunde spricht, die er entführt hat, um Rache zu üben, weist nur wenige Veränderungen auf. Der siebente Auftritt wurde dagegen um mehr als die Hälfte gekürzt. P enthält eine längere Szene des Zusammentreffens von Wetter vom Strahl und seinem Gefolge mit Freiburg und dessen Rittern, als auch der Graf Unterschlupf in der Köhlerhütte sucht. Die Lichtmetapher spielt in der Szene eine wichtige Rolle. Von Freiburgs Seite soll das Licht vermieden werden, um unerkannt zu bleiben. Gleichzeitig dient die Verdunkelung dazu, Kunigundes Gefangenschaft zu ver269 Das Bild des Dachses ist für den Grafen doppelt gültig, zum einen ist der Dachs ein Tier, das in der Erde wühlt und in Höhlen unter der Erde wohnt – einerseits der Ort, an dem das Femegericht stattfand, und andererseits der, an dem er vom Käthchen schwärmt –, und zum anderen bezieht sich die sprichwörtliche Redensart auf seine Trägheit und seinen Schlaf. Vgl.: Grimm, DWB, Bd. 2, Sp. 666. 270 Efimovicˇ Pinskij, Leonid: Realizm e˙pochi Vozrozˇdenija [Der Realismus in der Renaissance], Moskau 1961, S. 119 – 120. Zit. nach: Bachtin 1995, S. 521 f.

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bergen.271 Für die Partei Wetter vom Strahl ist das Licht im Gegenteil erwünscht. Der Köhlerjunge bringt für sie das Licht und klärt sie auch über die Situation auf, die er durch das Licht der Laterne erkannt hat. (P-SWB III, 377, 28 ff.) Nachdem der Junge »Licht« in die Sache gebracht und Kunigundes Fesseln gelöst hat, kommt es zum Kampf zwischen den Rittersleuten. In D fehlt die Lichtmetapher an dieser Stelle, Gottschalk soll lediglich Decken herbeischaffen. Weiters wurde für D eine längere Passage gestrichen, die Verweise auf die Bibel enthält und in der die Komik verstärkt eingesetzt ist. (P-SWB III, 380, 12 – 38; 381, 1 – 30) Während sie darauf warten, ob der Junge in die Köhlerhütte eintritt und ob das Zeichen zum »Angriff« kommt, entspannt sich zwischen Wetter vom Strahl und Ritter Flammberg, des Grafen Vasall, ein grotesk-komischer Dialog. Der Graf vom Strahle. Wie hoch schätzt ich Immer um die Hälfte geringer, als derer, die mit uns sein werden. – Ich meine, es sind ihrer ein Dutzend. Der Graf vom Strahle. Eher drüber, als drunter. Ritter Flammberg. Wir wollen uns einbilden, es wären zwei. (P-SWB III, 380, 21 ff.)272

Als Kunigunde von dem Köhlerjungen befreit und zu ihrem Retter und Beschützer geführt wird, sieht sie ihn nicht, obwohl der Junge mit dem Finger auf den Grafen weist. Daraufhin deutet der Junge auf eine Eiche. Da nicht näher angegeben wird, ob sich der Graf neben, vor oder hinter der Eiche befindet, fällt sein Standort mit jenem des Baums zusammen. Diese Bedeutungsverbindung wurde für D gestrichen. Köhlerjunge Hier! (er zeigt auf den Grafen vom Strahle.)

271 »Schauermann (von hinten). / Das Licht weg! / Wetzlaf. / Schmeißt ihm die Laterne aus der Hand! / Freiburg (indem er ihm die Laterne wegnimmt). / Spitzbube! Du willst hier leuchten?« (SWB I, 535 f., 35/1 ff.) In Erinnerung an den »Sprachessay« erkennt man in der Lichtmetapher die Anspielung auf die Aufklärung; ebenfalls angesprochen ist das Dunkle als Gegenpol des Lichts. Vom Dunklen wird an späterer Stelle noch zu sprechen sein. 272 Die Komik in dieser Passage lässt sich mit Jean Pauls Theorie aus der »Vorschule der Ästhetik« Über das Lächerliche in der gegensätzlichen Darstellung der Größenverhältnisse festmachen. Dort schreibt er über den Zusammenhang vom Erhabenen und Lächerlichen: »Dem unendlich Großen, das die Bewunderung erweckt, muß ein ebenso Kleines entgegenstehen, das die entgegengesetzte Empfindung erregt.« Weiters heißt es: »Ein Irrtum an und für sich ist nicht lächerlich, so wenig als eine Unwissenheit […]. Sondern der Irrtum muß sich durch ein Bestreben, durch eine Handlung offenbaren können […].« Paul, Jean: Sämtliche Werke. Abt. I. Fünfter Band. Vorschule der Ästhetik. Levana oder Erziehlehre. Politische Schriften. Hrsg. v. Norbert Miller. München, Wien: Hanser 1995, S. 109 f.

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Kunigunde Wo? Köhlerjunge Dort, dort! Seht ihr nicht? Wo die große Eiche steht! (P-SWB III, 382, 8 ff.)

Lässt man das Fragezeichen weg, wird die Verbindung von Graf und Eiche sogar noch deutlicher: Seht ihr nicht wo die große Eiche steht.273 In der Mythologie steht die Eiche in Zusammenhang mit Zeus und Jupiter. Die antike mythologische Darstellung des Gottvaters taucht im »Käthchen« wiederholt auf. In dieser Hinsicht ist die Eiche ein Baum der (obersten) Götter, wie ja auch vom Strahl als Teil des Göttlichen erscheint.274 Im achten Auftritt spielt das Licht wieder eine bedeutende Rolle. Es soll nicht geleuchtet werden, da einige Personen noch immer etwas zu verbergen haben. Burggraf von Freiburg muss seine Identität vor dem Licht schützen, da sonst sein »Wappen« (SWB I, 544, 37) befleckt würde. Für Kunigunde geht es darum, nicht ihre Identität, aber ihren Körper zu verbergen. Freiburgs Wissen um die Besonderheit ihrer »wahren« Identität darf nicht weitergegeben werden. Kunigunde verhindert, dass Graf vom Strahl zu dem am Boden liegenden Freiburg hingeht, da sie befürchtet, er könnte ihm das Geheimnis um ihre Person verraten. Sie inszeniert eine Situation, in der sie als Fräulein Hilfe benötigt. In D folgt auf die Aufforderung, ganz im Sinne der Lichtmetapher als Entlarvung: »Die Fakeln her!« (SWB I, 546, 34), die sofortige Abwehr Kunigundes: »Laßt, laßt!« (SWB I, 546, 36) Worauf Kunigunde in ihrer nächsten Replik dem Grafen gegenüber beteuert: »Das Licht kehrt meinen trüben Augen wieder.« (D-SWB I, 547, 2) In P gibt es dazwischen noch eine kleine Szene mit dem Grafen und Kunigunde, in der er ihr hilft, sich zu setzen, und sie auf des Grafen Frage: »Soll ich [das Gewand lockern]?«, antwortet: »Laßt, laßt. Es geht vorüber schon.« (P-SWB III, 387, 4 ff.) In P kommt es zum doppelten Versuch des Erkennens. Neben der Lichtmetapher soll die »Entblößung« Kunigundes durch das Öffnen ihres Mantels, der ihren Körper versteckt, geschehen. Nach diesem Zwischenfall stellt sich Kunigunde 273 Ich plädiere hier für die metonymische Sichtweise, bei der für »das verbum proprium ein anderes Wort gesetzt wird, dessen eigentliche Bedeutung mit dem okkasionell gemeinten Bedeutungsinhalt in einer realen Beziehung […], also nicht in einer Vergleichsbeziehung […] wie bei der Metapher […], steht […].« An späterer Stelle werde ich noch einmal näher darauf zurückkommen. Lausberg 2008, § 565. 274 Eliade, Mircea: Die Religionen und das Heilige. Elemente der Religionsgeschichte. Aus dem Französischen v. M. Rassem u. I. Köck. Frankfurt am Main, Leipzig: Insel 1998, S. 111. »Die Eiche war Jupiter geweiht (wie sie Zeus geweiht war), weil dies der Baum ist, der am häufigsten vom Blitz getroffen wird. Die Eiche des Kapitols war dem Jupiter Feretrius geweiht, qui ferit, ›der trifft‹, auch Jupiter Lapis genannt und in einem Feuerstein dargestellt.« Ebd. Wir treffen im »Käthchen« noch an mehreren Stellen auf die Eiche und ihre Verbindung zum Göttlichen.

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ihrem Retter vor. Wetter vom Strahl nimmt sie daraufhin mit sich auf seine Burg, wobei nicht klar ist, ob als Gefangene oder Gerettete. Da sie schließlich aus seiner Sicht vom »Regen in die Traufe« (SWB I, 547, 29) kam. Der folgende neunte Auftritt ist eben jener Abschnitt, bei dem die beiden Fassungen unterschiedliche Geschichten erzählen. Am Ende des zehnten Auftritts in P und des neunten Auftritts in D stimmen beide Fassungen wieder weitestgehend überein. 3.1.2.1. Neunter und zehnter Auftritt – in P Im neunten Auftritt in P erleben wir nach dem Beginn, bei dem die zwei Köhler über den Zustand des verletzten Freiburgs berichten, eine Szene zwischen dem dahinscheidenden Freiburg und seinem Freund Georg von Waldstätten. Dieser fragt Freiburg um das Geheimnis Kunigundes, weshalb ihn »dies Weib so schwer gereizt hat?« (P-SWB III, 389, 34) Wieder steckt in der Szene das Moment der Komik, unüblich für eine Sterbeszene und deshalb das groteske Lachen animierend. Freiburg erwidert auf die drängenden Fragen Georgs das Wesen Kunigundes betreffend: Burggraf von Freiburg. O Georg! Wenn ich das sagen könnte – Georg von Waldstätten. Sag’ es. Burggraf von Freiburg. Den Athem meiner ganzen Jugend gäb’ ich, Um nur die sieben Worte auszusprechen. Georg von Waldstätten. Du hast jetzt eben dreizehn schon gesagt. – (P-SWB III, 390, 3 ff.)

Die Tragik der Sterbeszene wird verquickt mit dem Element der Komik und damit herkömmliche Grenzen überschritten, ein wesentliches Merkmal des Grotesken. Das Rätsel um Kunigunde wird nicht gelöst, das Geheimnis nicht gelüftet. Gesagt wird über sie, dass sie keine Nachkommen bekommen könne. Danach »starrt« (P-SWB III, 391, 8) ihm der Tod auf der Zunge und das Letzte, das Georg ihm noch entlocken kann, ist der Hinweis, die Zofe Rosalie zu befragen, sie wisse über das Geheimnis Bescheid: »Und nun laßt mich zufrieden, es ist aus. (er sinkt wieder zurück.)« (P-SWB III, 391, 22 f.). Wie erwähnt, beginnt der zehnte Auftritt in P mit einem Dialog, der ebenfalls in D nicht enthalten ist. Kunigunde philosophiert an dieser Stelle über sich und die Bedeutung ihres Schmuckwerks, für das Bestreben, das »unsichtbare Ding, das Seele heißt« (P-SWB III, 392, 25), zum Ausdruck zu bringen. Man hat das Gefühl, als hielte sie eine Abhandlung über Semiotik. Sie spricht von Details des Aussehens, des Schmucks, der Kleidung, verstanden als Liebesreize mit be-

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stimmter Bedeutung. Redet von der sprachlichen Macht stummer Gegenstände, auf bestimmte Art und Weise angeordnet. Über ihre Locken spricht sie zu Rosalie: Mich dünkt, Rosalie, diese Locken sind Zu zierlich hier. Was meinst du? Es ist nicht Mein Wille, was die Kunst kann, zu erschöpfen. Vielmehr, wo die Bedeutung minder ist, Mögt’ ich dich gern nachläßiger, damit Das Ganze so vollendeter erschiene. (P-SWB III, 391 f., 33 ff.)

Diese Bemerkungen können so verstanden werden, dass Kunigunde das Innere275 abbilden möchte, und dazu müssen alle äußeren Erscheinungen damit übereinstimmen und sich gegenseitig ergänzen. So will sie den Stein auf ihrer Stirn, der »den Glanz, den funkelnden« (P-SWB III, 392, 7), auf sie überträgt, verdecken, da sie dem Grafen ein bewusst inszeniertes Verhalten zur Schau stellen will: »Ihn selber [den Stein], freilich, sieht man weniger, / Doch das Gemüth, das ihn verbarg, so mehr.« (P-SWB III, 392, 10 f.) Anhand des »Sprachessays« habe ich gezeigt, dass das Gemüt als unsere Seele angesehen werden kann; hier findet sich dieser Gedanke wieder. Kunigunde spricht in Zusammenhang mit dem Versuch der Veräußerlichung des Inneren auch die Kunst Rosalies an, sie zu schmücken und schön zu machen. Die Arbeit von Rosalie am Putztisch schätzt Kunigunde, es sei mehr als nur ein »sinnereizendes Verbinden von Gestalten und Farben«. (P-SWB III, 392, 23 f.) Ihr gehe es darum: Das unsichtbare Ding, das Seele heißt, Mögt’ ich an Allem gern erscheinen machen, Dem Todten selbst, das mir verbunden ist. Nichts schätz ich so gering an mir, daß es Entblößt von jeglicher Bedeutung wäre. (P-SWB III, 392, 25 ff.)

Auffällig an dieser Aussage ist auch Kunigundes Einbeziehung des Toten. Sie sagt, das Tote sei ihr verbunden. Der sterbende Freiburg sprach von dem »Beinhaus«276 (P-SWB III, 390, 38), in dem sich der Graf mit Kunigunde eine 275 Bei dem Inneren, welches Kunigunde zum Vorschein bringen möchte, handelt es sich allerdings nicht um ihr eigentliches Wesen – das versucht sie eben dadurch zu verbergen –, sondern um das Spiegelbild eines vorgestellten, vorgehaltenen Inneren. Wie ich später noch zeigen werde, soll ihr Inneres verschleiert werden und lediglich die Vorstellung der anderen, wie ihr Inneres aussieht, sich an ihrem Äußeren spiegeln. 276 »[H]aus auf dem Kirchhof, für die ausgegrabnen todtenbeine […]. Den ags. dichtern hiesz aber bânhûs der menschliche leib selbst, das aus knochen erbaute haus […].« Grimm, DWB, Bd. 1, Sp. 1386 f. (Hervorh. im Orig.) Rudolf Drux beschreibt die »Todesnähe« als ein »Wesensmerkmal seiner Ex-Geliebten. Durch ihre Leblosigkeit erscheint sie noch un-

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Braut freien wolle. Wir haben es also in P mit zwei Stellen zu tun, an denen Kunigunde als mit dem Tod in Verbindung stehend erscheint; und beide Passagen finden sich ausschließlich in P. Die Figur der Kunigunde wird dadurch mit einem interessanten Aspekt versehen, der eindeutig ihr »Wesen« kennzeichnet. Der gestrichene Dialog mit Rosalie macht die Figur Kunigundes um einiges konkreter. Die Verbindung Kunigundes mit dem Reich der Toten kann einerseits als die permanente, unauflösliche Verbindung von Menschlichem und Totem angesehen werden, andererseits kann sie auch in Bezugnahme auf die Grotte im vierten Akt verstanden werden, in der Käthchen Kunigunde erkennt, die »wahre« Kunigunde, ihr Wesen.277 Mit dem Toten im Lebendigen entspricht Kunigunde einem wichtigen Element der Groteske278, außerdem zeichnet sie eben ihre Wandelbarkeit aus, ihre Gestaltung durch die Arbeit ihrer Kammerzofe. Damit ist ein weiteres wesentliches Merkmal des Grotesken in der Figur Kunigundes gegeben – das Verkleiden, die Metamorphose.279 Gemeinsam mit dem Toten, dem sie sich verbunden fühlt, ist diese stete Veränderung ein deutliches Zeichen für eine groteske Figur. Kunigunde kommuniziert über ihre Garderobe, die je nach Anlass gestaltet ist, mit der Außenwelt: Ein Band, das niederhängt, der Schleif ’ entrissen Ein Strauß, – was du nur irgend willst, ein Schmuck, Ein Kleid, das aufgeschürzt ist, oder nicht,

fruchtbarer als eine Braut aus dem Totenhaus (schon im antiken Mythos bemisst sich die Vitalität einer Frau an ihrer Fertilität […]).« Drux, Rudolf: Kunigundes künstlicher Körper. Zur rhetorischen Gestaltung und Interdiskursivität eines »mosaischen« Motivs aus Heinrich von Kleists Schauspiel ›Das Käthchen von Heilbronn‹. In: Kleist-Jahrbuch (2005), S. 92 – 110, hier S. 95. 277 Interessant in diesem Zusammenhang ist die Äußerung Tiecks über das Vermissen einer Szene im vierten Akt des ›Ur-Käthchens‹, in der »Kunigundens badende Häßlichkeit« dargestellt werde. Bevor sie Kunigunde beim Baden belauschte, »wandelte Käthchen […] auf dem Felsen und erschien ihr unten im Wasser eine Nixe, die sie mit Gesang und Rede lockte.« Kleist 2000, BKB 13, S. 155. Die Hässlichkeit wiederum kann mit der Bezeichnung Kunigundes als Furie in Zusammenhang stehen. 278 »Die Beziehung zur Zeit, zum Werden, ist ein konstitutives Merkmal grotesker Motive. Eine damit zwangsläufig verbundene Eigenschaft ist die Ambivalenz: das Motiv stellt auf die eine oder andere Weise beide Pole der Veränderung, das Alte und das Neue, das Sterbende und das Entstehende, den Beginn und das Ende der Metamorphose dar.« Bachtin 1995, hier S. 75 (Hervorh. im Orig.). 279 »Das groteske Motiv zeigt ein Phänomen in der Transformation, in der Metamorphose, im Stadium des Sterbens oder der Geburt, des Wachsens und Werdens.« Ebd., hier S. 74 f. »Die Metamorphose ist die Form, in welcher alles Lebendige das Leiden vermeidet. Und alle Lebenshungrigen, die mehr oder etwas anderes als Menschen sein wollten, haben davon geträumt, ein Dasein bestehend aus Verwandlungen zu führen. Ein Verlangen, das der Schlüssel für alle Fluchtbegehren ist, bis hin zu dem legitimen, das sich Kunst nennt.« Zambrano 2005, S. 41.

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Sind Züg’ an mir, die reden, die versammelt Das Bild von einem innern Zustand geben. Hier diese Feder, sieh, die du mir stolz Hast aufgepflanzt, die andern überragend: Du wirst nicht leugnen, daß sie etwas sagt. (P-SWB III, 392, 30 ff.; Hervorh. P. Sch.)

Kleidung und Schmuck sollen zu dem Grafen sprechen, damit er sie auf die von ihr gewünschte Weise erkennt und seine Handlungen nach ihrem Schein ausrichtet. Dem Rheingraf, ihrem Verlobten, wollte sie die Stirn bieten: »Wenn mich der junge Rheingraf heut besuchte, / So lobt’ ich, daß du mir die Stirn befreit« (PSWB III, 393, 2 f.). Doch weil es der Graf vom Strahl ist, den sie erwartet, soll der »Schleier niederfallen«, dadurch lehrt sie »ihn so empfinden, wie er soll«. (P-SWB III, 393, 5 f.) Mit Kleidung und Accessoires spricht Kunigunde, drückt sie sich aus.280 Gleichzeitig versteckt sie sich dadurch, hält ihr wahres Ich verdeckt. Denn ihr inneres Sein soll im Verborgenen bleiben, nur ihr inneres Wollen soll sich an ihrer Fassade ausdrücken. So ist der Putztisch für sie das wichtigste Utensil und ihre Kammerzofe Rosalie die wichtigste Person. Nach der Entführung durch Burggraf von Freiburg ist es daher auch ihr größter Wunsch, Rosalie wieder bei sich zu haben. Dass Rosalie nach Schloss Wetterstrahl gekommen ist, dankt Kunigunde dem Zufall, der ihren größten Wunsch in Erfüllung gehen ließ. (PSWB III, 393 f., 36 ff.) Die Zofe widerspricht jedoch, es handle sich bei ihrem Erscheinen auf der Strahlburg um keine Zufälligkeit, sondern um eine Fügung, sie sei geführt worden. Und ihre Erzählung des Hergangs ist von religiösen und mythologischen Verweisen geprägt. In der Nacht nach dem Raub ihrer Herrin weiß sie in der Finsternis nicht, wohin sie gehen soll. Plötzlich erblickt sie am Himmel einen »Mondscheins-Regenbogen« (P-SWB III, 394, 11): »Durch seine Pfort ermuntert geh’ ich durch, / Und steh’, am Morgen, vor dem Schloß zu Strahle.« (P-SWB III, 394, 13 f.) Rosalie führt Iris als ihre Helferin an: »Meine Iris war’s, / Ich hab’s euch schon gesagt, sie selbst leibhaftig, / Die Königinn der klugen Kammerzofen.« (P-SWB III, 394, 4 ff.) Rosalie meint damit Iris281, die 280 Der Schleier kann in diesem Zusammenhang auf eine Hochzeit verweisen, da der Rheingraf im Personenverzeichnis als Kunigundes Verlobter angeführt wird, wobei sie aber nichts mehr von ihm wissen will. Stattdessen möchte sie, dass es zu einer Hochzeit mit dem Grafen vom Strahl kommt; er soll es sein, der ihren Schleier erst heben muss. 281 Zu den Bedeutungen des Wortes »Iris« ausgehend von der Schwertlilie: »Den lateinischen Namen Iris bekam die Pflanze wegen ihrer Würde und überirdische Schönheit ausstrahlenden, schimmernden Blüten nach der Göttin des Regenbogens, Iris. Sie ist die weibliche Entsprechung des Götterboten Hermes. Wie er trägt sie geflügelte Schuhe, nur wenn sie als Begleiterin Heras in den Wagen steigt, nimmt sie die Flügel engelsgleich an ihre Schultern. Ihre wichtigste Aufgabe ist das Überbringen von Nachrichten. Sie übermittelt Tatsachen und Meinungen zwischen den Göttern und ebenso deren Wünsche an die Menschen. So ist sie ein Symbol für den Begriff ›Nachricht‹. In ihrem blumengleichen Kleid aus Tautropfen, in

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Dienerin der Juno. Sie wurde vom Himmel gesandt und bediente sich zum Aufund Absteigen des Regenbogens: »Sie ist an sich nichts, als der Regenbogen«.282 Dieses Motiv, einer Himmelserscheinung nachzugehen, erinnert an die Geschichte der Astrologen aus Matth. 2, in der drei Sterndeuter aus dem Osten den Messias auffinden, indem sie einem kürzlich aufgegangenen Stern folgen. Sie werden geführt vom Stern, der vor ihnen geht und ihnen den Weg zeigt; so wie sich Iris Rosalien mit einem Regenbogenschimmer des Mondes bemerkbar macht. 3.1.2.2. Neunter und zehnter Auftritt – in D In D treten im neunten Auftritt Kunigunde, ihre Kammerzofe Rosalie und Brigitte auf, eine Figur, die lediglich in D erscheint. Brigitte, Haushälterin im gräflichen Schloss, erzählt Kunigunde – Rosalie erzählte sie die Geschichte schon zuvor – von des Grafen Erkrankung und dem damit verbundenen Traum283 (der sich späterhin als der Doppeltraum des Grafen und Käthchens herausstellt), in dem geweissagt wird, dass des Grafen Braut, die ihm »der Himmel bestimmt hat« (D-SWB I, 551, 33 f.), eine »Kaisertochter sei […] und ihm ein Maal gezeigt, das dem Kindlein röthlich auf dem Nacken verzeichnet war« (D-SWB I, 552, 21). Kunigunde beruft sich darauf, »die Urenkelin eines der vorigen Kaiser« zu sein, und Brigitte glaubt dadurch, dass der Traum des Grafen nun endlich in Erfüllung gegangen sei. Der zehnte Auftritt ist in D gegenüber P um zwei Drittel des Textes gekürzt und setzt erst kurz vor dem Schluss fast unverändert zu P ein. Die philosophischen Überlegungen Kunigundes zu ihrem Aussehen und der Bedeutung ihres Schmucks fehlen gänzlich in D. Der zehnte Auftritt endet mit einer Szene, in der über das Lesen von Vogelfedern und -spuren gescherzt wird. Als Kunigunde Rosalie fragt, ob sie ihr die Papiere für den Grafen (die Urkunden, Auslöser für dem sich die Gestirne des Himmels spiegeln, schreitet sie über den Regenbogen. Vom Götterhimmel zum Reich der Menschen und bis hinunter an die Ufer des Styx. Sie ist die Führerin der weiblichen Seelen in die Unterwelt. […] Ihre wichtigste symbolische Aussage ist der Regenbogen selbst, dessen Schimmer auch auf den Blütenblättern liegt – er ist die göttliche Nachricht von der Versöhnung zwischen Gott und Mensch nach der großen Sintflut, das erste, was Noah sah, zusammen mit der Taube, die den Ölzweig brachte. Der göttliche Gemahl der Dame Iris war Zephir, Herr über die regenbringenden Westwinde. Möglicherweise geht auf ihn zurück, daß Iris auch zum Symbol der Fama – des Rufes –, des Gerüchts wurde. Das Gerücht ist schillernd, nicht faßbar, gleich Wind und Regenbogen. Es verändert sich aus sich selbst heraus, es kann größer und bedrohlich werden oder sich auflösen, ohne erkennbaren Grund.« Beuchert, Marianne: Symbolik der Pflanzen. Mit 101 Aquarellen von Marie-Therese Tietmeyer. Frankfurt am Main, Leipzig: Insel 2004, S. 146 f. 282 Hederich 1770, Sp. 1371 (»Iris«). 283 An späterer Stelle werde ich näher auf die Bedeutung des Traumes eingehen. Hier sei angemerkt, dass ich die Bezeichnung Erscheinung den Bezeichnungen Traum oder Doppeltraum vorziehe.

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den Streit zwischen ihnen) zurechtgelegt habe, kommt es zu einem doppeldeutigen Dialog über das Heranlocken eines Vogels. Dieses Gespräch verläuft in beiden Fassungen (beinahe)284 gleich. Beim elften Auftritt wurde am Ablauf der kurzen Szene, in der ein Bediensteter des Schlosses darum bittet, den Grafen und seine Mutter vorzulassen, nicht sehr viel verändert. Allerdings hat in P der Bedienstete vor Kunigunde mehr Hochachtung, wenn er nach dem Vorbringen seines Anliegens so lange auf die Zustimmung wartet, bis Rosalie alle Utensilien des Putztisches versteckt hat. Der zwölfte Auftritt ist in beiden Fassungen im Großen und Ganzen ident. Lediglich das Ende, die Frage nach der Rückkehr Kunigundes nach Thurneck, wird in P länger verhandelt. Kunigunde ist in P noch stärker emotional gezeichnet, wenn sie sich »an den Busen der Gräfinn« legt, »und sich die Augen wischt«. (P-SWB III, 399, 29 f.) Ein Fehler in der Regieanweisung am Schluss der Szene in P wurde für D gestrichen. In P gibt am Ende »die Gräfinn […] ihr [Kunigunde] die Hand und begleitet sie bis an ihr Zimmer« (P-SWB III, 400, 36 f.), doch seit dem zehnten Auftritt in P und dem neunten Auftritt in D befinden sich Kunigunde und Rosalie bereits in einem »Gemach in der Burg« (SWB I, 549, 4). Während des zehnten und elften Auftritts bleiben beide in dem Raum und im zwölften treten der Graf und die Gräfin auf, d. h. treten in die vorhandene Szene, das Zimmer von Kunigunde und Rosalie ein. Im dreizehnten Auftritt unterscheiden sich die beiden Textvarianten lediglich durch die Information bezüglich des Traumes des Grafen, die in D hinzugekommenen ist. Dem Grafen gefällt Kunigunde sehr und er überlegt, sie als Frau zu nehmen: »So wahr, als ich ein Mann bin, die begehr ich / Zur Frau!« (SWB I, 558, 31 f.) Die Gräfin fordert ihren Sohn auf, nichts zu überstürzen, und weist auf den Fiebertraum aus der Silvesternacht hin. Graf vom Strahl. Ich will auch nicht, daß heut noch Hochzeit sei: – Sie ist vom Stamm der alten sächs’schen Kaiser. 284 In D betrachtet sich Kunigunde vor dem Öffnen des Fensters noch im Spiegel und öffnet das Fenster anschließend »gedankenlos«. (D-SWB I, 553, 12) Weiters bezeichnet sie die vorbereiteten Urkunden, Briefe und Zeugnisse von Rosalie als dem Grafen zugedacht. (D-SWB I, 553, 14) Und die »Leimruthe« wird früher als in P als Gegenstand zum Vogelfang konkretisiert. Mit der Leimrute kann weiters auch noch gemeint sein: »[…] während der alte (vogelsteller) zusah, wie sein mit leimruthen bestecktes finken-er die eifersüchtigen männchen auf sich lockte. […] die böse liebe und die bösen glüst seind die leimruten, welicher vogel darin kumpt, der musz verderben.« Grimm, DWB, Bd. 12, Sp. 700 (Hervorh. im Orig.). Dem angesprochenen Fittich, der seine Spur schon auf der Leimrute hinterlassen und sie gestreift hat, kann noch folgende übertragene Bedeutung beigelegt werden: »wie einer den vogel beim flügel ergreift, erwischet, hält man einen fliehenden beim fittich, schlafittich […]. […] nicht unähnlich heiszt ein leichtfertiger mensch selbst fittich, ein rechter fittich, ein lockerer vogel, lockerer zeisig.« Grimm, DWB, Bd. 3, Sp. 1693 f. (Hervorh. im Orig.).

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Gräfin. Und der Sylvesternachttraum spricht für sie? Nicht? Meinst du nicht? Graf vom Strahl. Was soll ich’s bergen: ja! (D-SWB I, 559, 6 ff.)

Mit der Überlegung des Grafen und seiner geradezu ungestümen Forderung nach der Eheschließung mit Kunigunde haben sich die Bedeutung der Leimrute und das damit einhergehende Gespräch über die Vogelkunde bewahrheitet. Das Finkenhähnchen aus dem zehnten Auftritt, dem im zwölften Auftritt auf ZeisigArt schmeichelhaft zugeredet wurde, ist beim Flügel erwischt worden und auf den Leim gegangen.285

3.1.3. Resümee Die beiden Fragmente des »Käthchen« unterscheiden sich hauptsächlich durch eine eindeutige Kürzung vom Erstdruck – abgesehen von einer Einfügung im zweiten Auftritt im 1. Akt. Das Stück ist durchzogen von antiken wie biblischen mythologischen Verweisen, wobei diese in P noch häufiger sind als in D. Sie differieren in den Versionen auch hinsichtlich ihrer Ausrichtung; einige Bezeichnungen von Personen oder Ausrufe wurden hinsichtlich einer religiösen Ausrichtung verändert. Die in D hinzugefügten bzw. für diese Fassung ausgetauschte Benennungen stammen ausschließlich aus der Vorstellungswelt des christlichen Mythos. In P sind mehr und eindeutigere Verbindungen zur antiken Mythologie gegeben.286 Nichtsdestotrotz treffen wir auch in D noch auf die polytheistische Sichtweise von mehreren Göttern im Gegensatz zu dem einen Gott. Beide Formen des Glaubens wurden in der Zeit der (Früh-)Romantik parallel als Bezugsrahmen genutzt. Die Frühromantik machte bei ihren Anleihen in der Vergangenheit keinen Unterschied zwischen der antiken Mythologie und der christlichen Religion, und Kleist auch nicht. Charakteristisch ist vielmehr, daß aus der Antike und aus dem Christentum und auch 285 »Der Vogel klebt bereits am Leim […]. Die adelige Paarungsstrategie Kunigundes, die auf Abkunft, höfischem Verhalten und feudalem Landbesitz beruht, scheint völlig aufgegangen. […] Der Konflikt des Grafen ist nun insofern völlig exponiert, als er in seiner Brautwahl geradewegs zwischen der väterlichen und der mütterlichen Welt positioniert ist. Der Entschluss zur Hochzeit wird der Mutter mitgeteilt, den Entschluss zur Nicht-Hochzeit haben die imaginierten Väter in den Ahnenbildern zu hören bekommen.« Eybl 2007, S. 170. 286 Die Betonung des christlichen Mythos kann mit der Tatsache in Zusammenhang gebracht werden, dass das »Käthchen« in einem stark katholisch geprägten Land zur Uraufführung kam. Veränderungen dahingehend könnten also bewusst vorgenommen worden sein, um dem Geschmack des Publikums zu entsprechen.

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aus anderen Kulturen […] mobilisiert wurde, was geeignet schien, die Verwandlung der Welt im Sinne der neuen Mythologie zu fördern.287

»Antike Mythologie und biblischer Mythos verbanden sich«288, um eine neue religiöse Ausrichtung auf den Plan zu rufen. Der romantischen Poesie war es wichtig, ein neues mythologisches Verständnis entstehen zu lassen, zu fördern und fordern.289 Im »Käthchen« spielt das Göttliche eine zentrale Rolle. Käthchen und der Graf werden sogar als Abbild der Götter gehandelt und selbst Kunigunde kann ein göttlicher Aspekt zugeschrieben werden – allein auf Grund ihrer Kammerzofe Rosalie und deren Verbindung zu göttlichen Boten und Erscheinungen. So wie sich die Götter im »Amphitryon« auf der Erde hinter menschlichen Masken verbergen, scheinen die Verweise und Parallelen zum Göttlichen im »Käthchen« auf das verborgene Göttliche der Hauptcharaktere hinzuweisen. In den Texten Kleists sind es des Öfteren zwei Gegensätze, die einander umkreisen, sich einander nähern, sich voneinander entfernen und doch nie ohne das andere auskommen. Es beginnt das Oszillieren zwischen den Extremen, zwischen Gott und Teufel, Tod und Leben. Die Gegensätze werden ineinander verschränkt, und das eine wird ohne das andere nicht mehr denkbar – und daraus entsteht etwas Neues, das Dritte, das gleichzeitig beide Formen vereint und negiert. Das Ineinandergreifen der Gegensätze in Kleists Werken kann auch

287 Peter, Klaus: Sehnsucht nach dem Gott. Kleist, der Mythos und eine Tendenz der Forschung. In: Ders.: Ikarus in Preußen. Heinrich von Kleists Traum von einer besseren Welt. Heidelberg: Winter 2007, S. 31 – 83, hier S. 52. 288 Peter 2007, hier S. 50. »Friedrich Schlegel hat 1800 mit seiner ›Rede über die Mythologie‹ die romantische Auffassung vom Mythos nicht nur geprägt, sondern auch vom gegenaufklärerischen Schema der Verfallsgeschichte gelöst.« Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979, S. 70. 289 »Ich gehe gleich zum Ziel. Es fehlt, behaupte ich, unsrer Poesie an einem Mittelpunkt, wie es die Mythologie für die der Alten war, und alles Wesentliche, worin die moderne Dichtkunst der antiken nachsteht, läßt sich in die Worte zusammenfassen: Wir haben keine Mythologie. Aber setze ich hinzu, wir sind nahe daran eine zu erhalten, oder vielmehr es wird Zeit, daß wir ernsthaft dazu mitwirken sollen, eine hervorzubringen. Denn auf dem ganz entgegengesetzten Wege wird sie uns kommen, wie die alte ehemalige, überall die erste Blüte der jugendlichen Fantasie, sich unmittelbar anschließend und anbildend an das Nächste, Lebendigste der sinnlichen Welt. Die neue Mythologie muß im Gegenteil aus der tiefsten Tiefe des Geistes herausgebildet werden; es muß das künstlichste aller Kunstwerke sein, denn es soll alle andern umfassen, ein neues Bette und Gefäß für den alten ewigen Urquell der Poesie und selbst das unendliche Gedicht, welches die Keime aller andern Gedichte verhüllt. […] Aber die höchste Schönheit, ja die höchste Ordnung ist denn doch nur die des Chaos, nämlich eines solchen, welches nur auf die Berührung der Liebe wartet, um sich zu einer harmonischen Welt zu entfalten, eines solchen wie es auch die alte Mythologie und Poesie war. Denn Mythologie und Poesie, beide sind eins und unzertrennlich.« Schlegel 1967, Rede über die Mythologie, S. 311 – 328, hier S. 312 f.

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aus der Intention der damaligen Zeit erklärt werden, eine neue Mythologie erschaffen zu wollen. Man muß sich stets vor Augen halten, daß der Mythos ein doppeltes System ist. Es entsteht in ihm eine Art Allgegenwart: sobald ein Sinn sich einstellt, bringt er den Mythos zum Verschwinden. Um eine räumliche Metapher beizubehalten, deren approximativen Charakter ich bereits hervorgehoben habe, würde ich sagen, daß die Bedeutung des Mythos durch ein unaufhörliches Kreisen gebildet wird, bei dem der Sinn des Bedeutenden und seine Form, eine Objektsprache und eine Metasprache, ein rein bedeutendes Bewußtsein und ein rein bilderschaffendes miteinander abwechseln; dieses Alternieren wird gewissermaßen durch den Begriff zusammengehalten, der sich seiner wie eines doppeldeutigen Bedeutenden bedient, das zugleich verstandesmäßig und imaginär ist, willkürlich und natürlich.290

In der griechischen Mythologie ist der Facettenreichtum der Götterwelt enorm. Die Vielschichtigkeit liegt in der charakterlichen Bewegtheit der einzelnen Götter und in deren Vielzahl; im biblischen Mythos werden Heilige eingesetzt, um Vielfältigkeit zu erreichen. Die christliche Mythologie ist weit stärker durch den binären Code von Gut und Böse definiert und arbeitet hauptsächlich mit diesen zwei Zuschreibungen. Kleist benutzt die antike Mythologie meiner Meinung nach auch, um dieser binären Zuschreibung zu entgehen. Die antiken Götter stellten mitunter beides zugleich dar, ohne einem Widerspruch zu unterliegen. So ist Zeus gut und böse291; und der Graf kann neben der Funktion eines/des Gottes durchaus auch als Teufel gesehen werden292 – ein Merkmal, auf das ich in Bezug auf den christlichen Gott noch einmal zu sprechen kommen werde. Beim Vergleich der beiden Textfassungen hat sich deutlich gezeigt, dass Figuren auf unterschiedliche Weise gezeichnet sind; nicht von Grund auf, aber doch in einzelnen Charakterzügen durch Zusätze oder Wegnahmen, die dem Bild einer Figur eine bestimmte Akzentuierung geben. So wird dem Käthchen eine aktivere oder eine passivere Rolle zugeschrieben. Kunigunde wird in P viel schärfer und deutlicher gemalt – schon Tieck klagte bezüglich D über den Verlust ihrer konkreteren Darstellung. Weiters kam es zur Veränderung mehrerer kleinerer Textpassagen, meist durch Kürzung, und zwei Mal sogar zur Ersetzung eines kompletten Auftritts. Auffälligerweise fehlt die Erzählung vom Doppel290 Barthes, Roland: Mythen des Alltags. Deutsch v. Helmut Scheffel. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1964, S. 104. 291 Siehe hierzu auch: Ewertowski, Ruth: »Das Böse ist der Schatten des Guten«. Zu Liebe und Gewalt bei Heinrich von Kleist. In: Protomoderne: Künstlerische Formen überlieferter Gegenwart. Hrsg. v. Carola Hilmes u. Dietrich Mathy. Bielefeld: Aisthesis 1996, S. 87 – 98, bes. 87 f. 292 »Entsprechend den ambivalenten menschlichen Situationen zeigt sich das Göttliche immer von der aktivsten Seite: zwischen Verschlingen und Verschlungenwerden ist Verschlingen das aktive. Das Göttliche, insofern es ausschließlich diesen Teilaspekt der Aktivität aufweist, ist zudem dämonisch, ja sogar teuflisch.« Zambrano 2005, S. 101.

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traum des Grafen und Käthchens in P im 2. Akt. Doch dieses Fehlen in P nun als aussagekräftig für D ansehen zu wollen, scheint mir gewagt und nicht zielführend.

4.

Die Personen Und ist nicht dieser milde Widerschein der Gottheit im Menschen die eigentliche Seele, der zündende Funken aller Poesie?293

Bereits in den vorangegangenen Kapiteln wurde immer wieder auf sprechende Personennamen und deren Bedeutungen kurz eingegangen, nun sollen diese anhand des Personenverzeichnisses genauer erörtert werden. Ein umfassendes Personenverzeichnis ist erst in der gedruckten Fassung enthalten, die »Phöbus«Fragmente führen nur die handelnden Personen des ersten und zweiten Aktes an. Mit der exzessiven »Namensmetaphorik d[ies]es Dramas«294 kann kein anderes Stück von Kleist mithalten. Neben Assoziationen des Göttlichen sprechen die Namen noch viele andere Bedeutungsfelder an. Für Annette Runte kündigt die »Vielzahl sprechender Namen eine Bastardisierung an, die Gesellschafts- und Liebessemantik derart miteinander verschränkt, daß das ›Geschlecht der Geschlechter‹ zum Drehpunkt für eine gleichsam genealogische Dramatik wird«.295

4.1. Sprechende Namen Jeder trägt einen Namen, er dient der Anrufung296. Damit verbinden wir aber (meist) noch weitaus mehr als unsere physische Existenz. Dieses Unbekannte – meist handelt es sich dabei um ein prinzipiell eigenes oder intimes Wissen – schwingt für uns und uns Nahestehende bei der Anrufung mit. In dramatischen Texten kann diese assoziative Ebene der Anrufung durch sprechende Namen297 vermittelt werden. Dabei geht es weniger darum, die Fi293 294 295 296

Schlegel 1967, Rede über die Mythologie, hier S. 318. Debriacher 2007, S. 110. Runte 2003, S. 117. Butler, Judith: Haß spricht. Zur Politik des Performativen. Aus dem Englischen v. Kathrina Menke u. Markus Krist. Berlin: Berlin Verlag 1998, S. 10. »Einen Namen zu erhalten, gehört auch zu den Bedingungen, durch die das Subjekt sich sprachlich konstituiert.« Ebd., S. 10. 297 »Eine […] Technik explizit-auktorialer Figurencharakterisierung ist die Verwendung sprechender Namen. […] [Sie] definieren eine Figur schon vor ihrem ersten Auftritt und legen sie auf ein kritisch beleuchtetes Merkmal fest. […] [D]adurch [wird] die Perspektive

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guren auf einen Begriff zu reduzieren, als Regungen und Schwingungen der Figur während der gesamten Handlung besser erkennbar und beschreibbar machen zu können. Sprechende Namen zählen zu einer sehr deutlichen und expliziten Steuerungstechnik, die »schon in der Komödie der Antike verwendet« wurde.298 Als erstes ist daran zu erinnern, daß sich die Informationsvergabe in dramatischen Texten nicht auf das Medium des sprachlichen Haupttextes beschränkt. Nur ein historisch variabler Teil der Gesamtinformationen wird über das perspektivierende Bewußtsein der Figuren dem Rezipienten sprachlich vermittelt; der andere Teil, die AUSSERSPRACHLICHE INFORMATION, erreicht den Zuschauer direkt, unabhängig von den Figurenperspektiven. Dazu gehören Statur, Physiognomie und Kostüm, Gestik und Mimik, Bühnenbild und Requisiten, Stimmqualität, Geräusche und Musik […].299 (Hervorh. M. P.)

Dagegen sind sprechende Namen schon im Text vorgeschrieben. Sie tragen ein Echo mit sich, das auf den Rezipienten trifft. Diese Form der Figurenbezeichnung kann auch als Aufforderung angesehen werden, weitere Bedeutungen und Zuschreibungen in Betracht zu ziehen. Sie haben die Funktion der Charakterisierung der bezeichneten Figur und geben aufschlussreiche Hinweise, um Handlungen und Darstellungen der Protagonisten im Stückkontext besser situieren und nachvollziehen zu können. Oft verschwimmen die Grenzen zwischen explizit sprechenden Namen und der implizit-auktorialen300 Charakterisierung. Im Folgenden führe ich die wichtigsten sprechenden Namen im »Käthchen« an und versuche eine vollständige Erklärung der mehrschichtigen Bedeutungen zu geben und diese Hinweise mit Handlungen der Figuren zu verschränken.

4.2. Namenssemantik und metonymische Verweise Der Graf im »Käthchen« heißt vollständig: »Friedrich Wetter, Graf vom Strahl.« (SWB I, 502) Assoziationen mit dem griechischen Gott Zeus bzw. dem römischen Gott Jupiter sind also schon durch seinen Namen gegeben. Die Beifügung »Wetter«301, ebenso wie der Name des (Adels-)Geschlechts »vom Strahl«302 zeu-

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301

des Rezipienten der Figur gegenüber gesteuert […].« Pfister, Manfred: Das Drama. Theorie und Analyse. München: Fink 2001, S. 262. Ebd., S. 94. Ebd. Ebd., S. 263; mit so einem Namen hätten wir es z. B. bei Ritter Flammberg zu tun, dessen Name ein bestimmtes Schwert bezeichnen kann, und im Kontext des Feuers und somit des gesamten Stückes hinsichtlich seines Untertitels: die Feuerprobe, gelesen werden kann. Siehe dazu auch Fußnote 328. Der Begriff Wetter wird neben dem direktem auch »in übertragenem und bildlichem gebrauch, in vergleichen und redensarten« verwendet, mit den Bedeutungen wie: »[E]in er-

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gen von Gemeinsamkeiten mit der obersten Gottheit der Antike und können durchaus metonymisch gelesen werden. Wird der Zusammenbruch Käthchens, als sie den Grafen in der Stube ihres Vaters erblickt, auf den Blick303 des Grafen zurückgeführt, so »gilt der Blick als Blitz und vice versa der Blitz als Blick« und der Graf vom Strahl drückt gleichsam »jene Gewalt aus […], die der Name bereits in sich trägt«.304 Der Blitz war seine Waffe und die vom Blitz getroffenen Stellen, Enelysia, waren ihm geweiht. Seine Titel sind durchsichtig und zeugen mehr oder weniger alle von seiner Beziehung zu Sturm, Regen, Fruchtbarkeit. […] Zeus ist natürlich Herrscher; aber er hat deutlicher als andere Himmelsgötter seinen Charakter als »Vater« bewahrt. Er ist Zeus pater (vgl. Dyaus pitar, Jupiter), Archetyp des patriarchalischen Familienoberhauptes. Das soziologische Konzept der arischen Stämme spiegelt sich in der Vorstellung vom pater familias. […] Seine Ordnung ist zugleich väterlich und herrscherlich; er gewährleistet das Gedeihen der Familie und der Natur durch seine Schöpferkraft, den Schutz der Gesetze aber durch seine Autorität.305 (Hervorheb. Kursiv: M. E.; Fett: P. Sch.)

Nicht nur der Name Wetter vom Strahl ist es, der ihn mit der höchsten Gottheit der griechischen und römischen Kultur verschränkt. Hinweise, Sprichwörter, Vergleiche, den Grafen als Jupiter bezeichnend, fielen der Änderung oder Kürzung für D zum Opfer. Z. B.: »Mein Weib will ich, beim Jupiter […]!« (P-SWB III,

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eignis mit verheerenden folgen, ein unglück, bedrohliches geschehen u. dgl. […] in ähnlichem sinne für turbulente ereignisse mannigfacher art (streitigkeiten, getümmel, aufruhr) […]. vom göttlichen strafgericht; z. t. noch dem eigentlichen wortgebrauch nahestehend […]. […] ›blitz‹; diese bedeutung hat sich früh aus dem gebrauch im sinne von […] ›unwetter, gewitter‹ verselbständigt […]«. Grimm, DWB, Bd. 29, Sp. 708 ff. Vgl. die Wortgeschichte: »[D]ie begriffe blitzstr. und sonnenstr. als mythologische requisiten haben unter nordischem himmel keinen platz, sie sind ein geschenk der antike. […] im erweiterten gebrauch ›fulmen‹ (und im deutlichen ausgang vom vorigen und gewisz unter dem einflusz antiker vorstellung […]); die aus den wolken erfolgende elektrische entladung heute durch das simpl. eigentlich nur in der poetischen sprache bezeichnet, sonst durch die zusammensetzungen blitzstr. […], donnerstr. […].« Grimm, DWB, Bd. 19, Sp. 754 ff. Siehe weiters: Etymologisches Wörterbuch 2011. »Der Graf ist ein Augenmensch, dessen Blicke an der Oberfläche der Dinge verweilen und nicht tiefer gehen. Das Auge als der Sinn für das, was am Tag liegt und zugleich als ein die anderen Wahrnehmungsorgane dominierendes, in ihrer Funktion störendes oder gar zeitweilig ausschließendes Organ erfährt die Welt auf begrenzte Weise, anders als das Gefühl (im emphatischen Sinne als Sensibilität für die verborgenen Zusammenhänge), das alles umgreifend in sich aufnimmt und deswegen ohne Umwege direkt die Wahrheit erkennt.« Kwak, Miran: Identitätsprobleme in Werken Heinrich von Kleists. Frankfurt am Main: Peter Lang 2000, S. 93 (Hervorh. M. K.). Debriacher 2007, S. 77. Eliade 1998, S. 109 f. Siehe weiters: Hederich 1770, Sp. 1401 ff. (»Iuppiter«): »Der Namen Iuppiter, welcher insgemein Jupiter, wiewohl nicht so richtig, geschrieben wird, […] soll von Iuvo. ich helfe, und Pater, ein Vater, zusammen gesetzet seyn, und so viel, als Iuvans pater, oder ein helfender Vater bedeuten.« (Hervorh. im Orig.)

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383, 3) Ein Ausruf, der Analogiebildungen – wie jene zwischen dem Grafen wie dem Burggrafen und einer Eiche (dem göttlichen Baum) – über die kontextuelle Wirkung unterstützt. In P werden im zweiten Auftritt Käthchen und der Graf mit dem Begriff »Abgott« bezeichnet. Einmal benennt der Graf das Verhalten Käthchens ihm gegenüber als »abgöttisch«: »Was ist’s, mit einem Wort, mir rund gesagt, [d]aß du mir so abgöttisch zugethan?« (P-SWB III, 353, 6 f.) Er vergleicht Käthchens Verhalten mit dem einer Gläubigen, und er ist ihr Gott. Am Ende des 1. Aktes benennt Theobald das Käthchen als »Mein Abgott?« (P-SWB, 360, 4), als die Sitzung geschlossen wird, der Graf freigesprochen und das Käthchen immer noch dem Grafen verfallen, ihm hörig ist. Des Grafen Mutter, Gräfin Helena, weist mit ihrem Namen ebenfalls auf Zeus hin. Helena ist die Tochter der Nemesis und des Zeus. Nemesis verwandelte sich, um den Nachstellungen Zeus zu entfliehen, in eine Gans, woraufhin Zeus sich in einen Schwan verwandelte und so an Nemesis herantrat, die in der Folge ein Ei legte, »aus dem das schöne Weib [Helena] hervortrat«.306 Betrachtet man in diesem Zusammenhang Details der familiären Konstellation der Strahl’schen Familie, ergibt sich der Eindruck, dass sie im Bann des Göttervaters steht. So ängstigt sich die Mutter angesichts der Gewalt des Götterhauptes um ihren Sohn, wenn er nicht zu Hause ist. Diese Sorge wird z. B. in der Nacht des Unwetters deutlich ausgesprochen, bei der Befreiung Kunigundes. S’ ist nicht das Erstemal, Franz, daß wir auf dem Felde, beim Gastwirth zum blauen Himmel übernachten. Was mich Kümmert ist meine alte Mutter; denn die wird keinen Wetterkeil durch die Luft zucken sehen, ohne zu denken, er trifft mein Haupt. (P-SWB III, 378, 2 ff.)

Auch der Vergleich mit Jupiter, als »Archetyp des patriarchalischen Familienoberhauptes«307, spielt eine bedeutende Rolle im »Käthchen« und entspricht dem zuvor erwähnten Verhalten des Grafen im Sinne einer Vaterfigur. Gleichzeitig drückt sich in dem Verhalten eine Form der Machtausübung aus, die zur ge306 Kerényi, Karl: Die Mythologie der Griechen. Bd. 1: Die Götter- und Menschheitsgeschichten. München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 1999, S. 86. Ihren Namen soll Helena vom Wort »έλος, Sumpf, haben, weil sie […] im Sumpfe geboren« wurde. »Insgemein wird Jupiter für ihren Vater angegeben, als welcher sie, nach einigen, mit der Nemesis gezeuget haben soll. Denn da sich diese, um dem Jupiter zu entgehen, in eine Gans verwandelte, so nahm Jupiter die Gestalt eines Schwanes an, und hatte also seine Händel mit ihr. Sie gebar darauf ein Ey, welches ein Schäfer im Walde fand, und es der Leda überbrachte, die es in einem Kästchen aufhob, bis mit der Zeit die Helena aus demselben hervor kam, welche die Leda auferzogen, und für ihre Tochter angegeben. […] Sie wurde für das schönste Frauenzimmer ihrer Zeit in ganz Griechenland gehalten […]«. Hederich 1770, Sp. 1215 (»Helena«). 307 Eliade 1998, S. 110. Für Annette Runte »weist das ungewöhnliche Patronym des ›Graf[en] Wetter vom Strahl‹, der Jupiters Zorn mit dem Glanz des Achill vereint, pathetisch auf die Signatur eines Einzigen hin«. Runte 2003, hier S. 118.

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sellschaftlichen Position des Grafen passt. Durch das Fehlen des männlichen Oberhaupts auf der Strahlburg tritt der Graf gleichsam als Stellvertreter des Göttervaters auf, übernimmt die Stellvertreterposition für/ist den/der »pater familias«.308 Auf der anderen Seite ist er selbst der Göttervater – wird in allegorischer Art und Weise so bezeichnet.309 Auch mit dem Motivkomplex des Doppelgängers lassen sich diese beiden Sichtweisen verbinden. Und es ist der Graf selbst, der, nachdem er unter dem Holunderbusch realisiert hat, dass Käthchen die ihm prophezeite Kaisertochter ist, ausruft: »Nun steht mir bei, ihr Götter: ich bin doppelt! / Ein Geist bin ich und wandele zur Nacht!« (SWB I, 600, 14 f.) Käthchen, die Titelfigur des Dramas, ist die Tochter Theobald Friedeborns, eines Waffenschmieds aus Heilbronn.310 Wie sich am Schluss des Stücks herausstellt, ist ihr Name eine »hybride[] Koseform«311 von Katharina von Schwaben. Der Name Katharina ist griechischen Ursprungs und bedeutet »die Reine, Keusche«, ein Name mehrerer Heiliger.312 Auffällig an ihrer Benennung ist der sächliche Artikel, den ihr Name auf Grund der Koseform erhält. Der sächliche Artikel, lat. neuter, »heißt bekanntlich so viel wie ›keines von zweien‹, ›weder das eine noch das andere‹«.313

308 Eliade 1998, S. 110 (Hervorh. M. E.). 309 Und es sind die Mächtigen, die mit Vergleichen dieser Art in Verbindung gebracht werden: Georg von Waldstätten, der Freund Maximilians, Burggraf von Freiburg, der im Kampf mit Wetter vom Strahl niedergeschlagen wurde, spricht jenen mit: »Gott! Meines Lebens Herr!« (P-SWB III, 385, 6) an. Hierzu passt auch der Vergleich Freiburgs und des Grafen mit einer Eiche: »Gleich einer Eiche schmetternd fällt er um!« (P-SWB III, 385, 20) Es sind die Worte des Ritters Schauermann, eines von Freiburgs Leuten, der über den Ausgang des Kampfes in weiterer Folge sagt: »Gott hat gerichtet!« (P-SWB III, 385, 26). Danach treten sie die Flucht an. Nachdem der Graf, den (unbekannten) Freiburg im Kampf niedergeschlagen hat, wird er aufs Neue mit einem Gott, der gerichtet hat, in Verbindung gebracht. Die Bedeutung der Eiche habe ich bereits erwähnt. Beide Andeutungen wurden für D gestrichen. 310 »Heilbronn meint darin den Heilbronn oder Heilquell, ja insgeheim den Bronn oder die Quelle des Heils. ›Bronn‹ ist ursprünglich ein Synonym für ›Quelle‹ […]. […] Die Quelle oder der Bronn des Heils ist ein altes christliches Gottessymbol. Der Quelle allen Heils entsprungen, verkörpert Käthchen paradiesische Unschuld […]. ›Heil‹ ist zugleich ein Synonym zu ›unversehrt‹ und ein Antonym zu ›zerbrochen‹. Käthchen steht somit gleichsam exterritorial zu der »gebrechlichen Welt«, von der Kleists Dichtungen wiederholt sprechen oder handeln. Als Käthchen von Heilbronn führt sie, mit einem Wort, den Adelstitel unversehrter, an die Transzendenz geknüpfter Ursprungsnatur.« Fronz, HansDieter: Verfehlte und erfüllte Natur. Variationen über ein Thema im Werk Heinrich von Kleists. Würzburg: Königshausen & Neumann 2000, S. 290 f. 311 Runte 2003, hier S. 118. 312 Meyers großes Konversations-Lexikon 1907, Bd. 10, S. 744 f. (»Katharina [1]«). 313 Gruber, Eberhard: Über das Neutrum. In: Über das Weibliche. Hrsg. v. Mireille Calle. Mit Beitr. v. P. Lacoue-Labarthe, E. Gruber, C. Nancy, J. Derrida, H. Cixous, M. Calle, A.-E. Berger u. F. v. Rossum-Guyon. Gegenüber d. frz. Ausgabe überarb. dt. Erstausgabe. Aus d. Frz. v. Eberhard Gruber. Düsseldorf und Bonn: Parerga 1996, S. 37 – 56, hier S. 39. Das Neutrum weist einen »methodologisch doppelte[n] Gebrauch« auf: »als Bezeichnung für ein Drittes,

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Gemäß seiner Ambiguität, […] zielt das Neutrum in der Tat weder auf Doppeldeutiges noch auf eindeutig Genaues. Stets geht es um ein Dazwischen. […] Anders gesagt: das Wort Neutrum besitzt keinen Stellvertreter, der ihm »eigentlich« und nur ihm »gehörte«. Es besitzt keinen eigentlichen Sinn (sensus proprius): wenn es schon vom Einen und vom Anderen nur in der Verneinung zu sprechen vermag, so spricht es noch weniger von sich selbst. Ne-uter° ist eine (Sprech)Weise, um das Eigentlich-Selbe zu vermeiden. Das Neutrum als etwas Un-geeignetes, Un-eigentliches und Un-sauberes (im-propre) eignet sich nicht dazu, das zu bezeichnen, was ein Zeichen gewöhnlich von seinem Referenten referieren will. Die Frage des »Neutrum« scheint von vorneherein mit etwas zusammenzuhängen, das weder nennbar noch erfaßbar ist: und in dieser Hinsicht ist seine (ihre) Doppeldeutigkeit ernst zu nehmen.314

Um die Position des Dazwischen zu erkennen und zu verstehen, bedarf es eines gründlichen Blickes. Ganz im Sinne des »Phaidros«, da es nur wenigen überhaupt möglich ist, das eigene Sein zu schauen und als solches zu erkennen. Es wird zu zeigen sein, wie Käthchen diese Funktion des Dazwischen, des Dritten315, übernimmt und gleichzeitig aufmerksam bleibt gegen alles, was auf sie zustrebt. Ruth Klüger hingegen sieht in der Figur des Käthchens einen erotischen »Männerwunschtraum, nichts anderes«316, repräsentiert: »Das Käthchen ist nichts außer ihrer Rolle, der Rolle der kleinen Menschenhündin, die dem Mann, den ihr eine höhere Gewalt bestimmt, schlicht nachläuft, obwohl dieses Gebaren gegen alle Gepflogenheiten ihrer bürgerlichen Kindheit verstößt.«317 Bezugnehmend auf »Penthesilea« spricht Klüger weiter von dem uneindeutigen Geschlecht Käthchens und verschränkt dieses nicht festzumachende Geschlechtliche, »spiegelsymmetrisch verkehrt, als eine Form von imaginärem Geschlechtswechsel«318, mit Kleist, interpretiert das Drama mit dem Autor und den Autor über das Drama.

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das ein gleichmachendes Maß symbolisiert; und als vorbeugendes Heilmittel […] dagegen.« Ebd., S. 38. Gruber 1996, hier S. 39 f. (Hervorh. E. G.). »Das Element des Dritten erlangt auch in Kleists geschichtsphilosophischem Modell eine zentrale Bedeutung, da es als synthetische Figur auf eine neue Existenz verweist, die das Absolute, für den Menschen Unbegreifliche betrifft. Vor allem in der ›Penthesilea‹ wird es von Kleist in die mythische Struktur eingebaut.« Ennen, Jörg: Götter im poetischen Gebrauch. Studien zu Begriff und Praxis der antiken Mythologie um 1800 und im Werk Heinrich von Kleists. Münster: Lit.-Verlag 1998, S. 31. Klüger, Ruth: Die andere Hündin: Käthchen. In: Kleist-Jahrbuch (1993), S. 103 – 116, hier S. 106. Ebd., hier S. 106. Runte 2003, hier S. 121.

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In seinen Briefen nennt Kleist das Stück immer »K.v.H.«, also eine Umkehr der eigenen Initialen H.v.K., die er ja auch mehrfach als Kürzel verwendet. Ist Käthchen nicht ganz weiblich, dann ist ihr Autor nicht ganz männlich.319

Ich möchte nicht so weit gehen und im Käthchen eine versteckte Einschreibung des Autors in die weibliche Hauptfigur sehen – wie dies Runte anführt. Im weiteren Verlauf wird sich zudem zeigen, dass es wohl nicht sosehr um die geschlechtliche Zuschreibung im biologischen Sinn geht, als das Gender, die soziale Kategorie der geschlechtsspezifischen Zuschreibungen, den eigentlichen Ausschlag gibt – offen bleibt, ob Käthchen die liebende Frau, wie jeder Mann sie sich vorstellt, tatsächlich ist oder sein kann. Käthchens Vater, Theobald Friedeborn, steht ganz in der Tradition der herrschaftlichen Vaterfiguren. Theobald ist ein »altdeutscher Name« mit der Bedeutung »der Volksbeherrscher«320. Der erste Teil des Zunamens »Friede« ist zu lesen im Sinne des Versöhnens als »[…] das ›Beieinandersein‹ im Sinne von ›das gegenseitige Behandeln wie innerhalb der Sippe‹«321, und der zweite Teil »born« stammt von »Brunnen, Quelle«. »Sowohl Brunnen wie Born sind häufige Namenselemente.«322 Beim »Bräutigam« (SWB I, 502) Käthchens treffen wir auf eine auffällige Namensgleichheit: Gottfried Friedeborn, der »Gottverbundene […], der Frieden mit Gott hat«323, kann in weiterer Folge als der gelesen werden, der mit dem Vater, dem zukünftigen Oberhaupt seiner Familie, Frieden geschlossen hat – oder ihn, gehört er doch genealogisch zum selben Stammbaum, gar nicht erst schließen muss. Annette Runte verweist bei den Namen, die »Gott« in sich tragen, auf »deren Berufung auf Höheres unter humoristischen Vorzeichen«324 und führt noch Gottschalk, des Grafen Knecht325, an. Gottschalk ist ein »altdeutscher Mannesname«, und die Person unterstützt die These, den Grafen als Abbild eines Gottes zu sehen, denn Gottschalk »bedeutet soviel wie guter Diener oder Gottes Diener«.326

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Klüger 1993, hier S. 107. Pierer’s Universal-Lexikon 1863, Bd. 17, S. 474 (»Theobald [1]«). Etymologisches Wörterbuch 2011. Ebd.; im zweiten Teil des Namens lässt sich ebenso die Einschreibung der Herkunftsstadt erkennen, mittels Lautumstellung: z. B. Wepse – Wespe; Born – Bronn. Ebd. Meyers Großes Konversations-Lexikon 1907, Bd. 8, S. 175 f. (»Gottfried«). Runte 2003, hier S. 118. Er stimmt in seiner Rolle voll und ganz mit seiner Benennung überein: Schalk – als Knecht, im übertragenen Sinn gemeiner Mensch, später auf harmlose Übeltäter, Spötter angewandt. Meyers Großes Konversations-Lexikon 1907, Bd. 8, S. 180 (»Gottschalk«).

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Die Namen der Nebenfiguren entspringen hinsichtlich der Bedeutung dem »mittelalterlichen ›Setting‹«327: »Ritter Flammberg328, des Grafen Vasall«; »Maximilian, Burggraf von Freiburg«329 ; »Georg von Waldstätten330, sein Freund«; »[Ritter Schauermann und Ritter Wetzlaf, des Freiburgs Vasallen]«331; »Der Rheingraf vom Stein, Verlobter Kunigundens«332 ; »Friedrich von Herrnstadt, Eginhardt von der Wart, seine Freunde«; »Graf Otto von der Flühe, Wenzel von Nachtheim, Hans von Bärenklau, Räthe des Kaisers und Richter des heimlichen Gerichts«333 u. v. a. m. (SWB I, 502) Die Namen sind so gewählt, dass die historische Situierung deutlich wird. Der Name Kunigunde bedeutet »entsprechend dem männlichen Kuno (Konrad) […] kühn im Rat« zu sein.334 Von Thurneck kann in der Bedeutung von »thurn« für »thurm«, z. B. mit einer besonderen Ecke, in bildlicher Gebrauchsweise auf die »höhe, stärke und festigkeit […], auf den festen grund des thurmes […], auf den angriff durch den belagerungsthurm […], [oder] auf den leucht-, 327 Runte 2003, hier S. 117; in Folge führe ich nur die wichtigsten Protagonisten des »mittelalterlichen Settings« an. 328 Unter Flammberg wird ein »breites Landknechtsschwert« verstanden (ein »Zweihänderschwert mit wellenförmiger Klinge«). Der Name weist auch auf das Feuer hin; vom Blitz Getroffenes fängt mitunter zu brennen an. Etymologisches Wörterbuch 2002. 329 Gemäß der Namensbedeutung ist er ein königlicher Verwaltungsbeamter. Der Name Maximilian stellt ein schönes Oxymoron dar: er ist die »Diminutivform von Maximus«, was wiederum bedeutet »der Größte, der Höchste«. Also ist Maximilan ein kleiner Großer. Pierer’s Universal-Lexikon 1860, Bd. 11, S. 29 (»Maximilian«). 330 Das Präfixoid »geo« trägt die Bedeutung »die Erde betreffend« und steht mit dem Wald in Zusammenhang. Etymologisches Wörterbuch 2011. Georg ist weiters einer der bekanntesten Heiligen und der Legende nach tötete er einen Lindwurm oder Drachen, indem er ihn auf seinem weißen Pferd sitzend mit seinem Speer durchbohrte: »In diesem Bilde aber erblickte man im Mittelalter die sinnbildliche Darstellung des Triumphs des Christenthums über das Heidenthum.« Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon 1938, Bd. 2, S. 189 (»Georg [1]«). 331 Die beiden Vasallen Freiburgs (und Sybille, die Stiefmutter von Rosalie) »fehlen im Personenverzeichnis der ersten Buchausgabe von 1810. Die Namen sind frei gewählt, sie gehen nicht auf bestimmte geschichtliche Personen zurück.« Kleist, Heinrich von: Das Käthchen von Heilbronn oder die Feuerprobe. Ein großes historisches Ritterschauspiel. Anmerkungen v. Dirk Grathoff. Stuttgart: Reclam 2007, S. 121. 332 Rheingraf war ein Graf im Rheingau, bei Kreuznach. Brockhaus’ Kleines KonversationsLexikon 1911, Bd. 2, S. 527 (»Rheingraf«). 333 »Flühe« bezeichnet eine »Steinmasse, die sich in beträchtlicher Breite u. Höhe erstreckt […] [und] Felswand«. Pierer’s Universal-Lexikon 1858, Bd. 5, S. 389 (»Flühe«). Im engeren Sinn bezeichnet das Wort also eine Stelle unterhalb eines Steinmassivs, wodurch die Verbindung zur Höhle des Femegerichts gegeben ist. Wenzel ist ein »slawischer Name« und »bedeutet der Ruhmgekrönte, der Volksbesieger«. Pierer’s Universal-Lexikon 1865, Bd. 19, S. 97 (»Wenzel [1]«); Hans ist »eine nur im gemeinen Leben und den niedrigen Sprecharten übliche Verkürzung des ursprünglich Griech. männlichen Taufnahmens Johannes«. Adelung 1796, Bd. 2, S. 968; und Bärenklau meint den älteren »Name[n] der Wurzel von Acanthus mollis, u. dann der ganzen Pflanze«. Pierer’s Universal-Lexikon 1857, Bd. 2, S. 325 (»Bärenklau [2]«). 334 Meyers Großes Konversations-Lexikon 1907, Bd. 11, S. 803 f. (»Kunigunde«).

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feuerthurm« Bezug nehmen.335 Bei dieser Figur ist aber weniger der eigentliche Name für die Charakterisierung ausschlaggebend, als die immer wieder ihr zugeschriebenen weiteren Namen und Begriffe. Kunigunde wird im Drama weiters noch mit nachstehenden Begriffen in Verbindung gebracht: Nixe, »Bestie« (SWB I, 542, 35), »rasende Megäre«336 (SWB I, 533, 5), kleiner griechischer Feuerfunke337 (SWB I, 532, 27 f.), »Thalestris, die Königin der Amazonen«338 (SWB I, 538, 17 f.) und »Furie«339 (P-SWB III, 388, 13). Die Furie, mit der Bedeutung »wut, raserei, dann plagende rächerin von übelthaten, wütendes weib«, stellt eine der Rachegöttinnen der Griechen und Römer dar.340 Wie auch der Graf vom Strahl wird Kunigunde durch die zusätzlichen Benennungen (v. a. Megäre) in den Rang der Götter gestellt. Von der Nixe341, dem weiblichen Wassergeist, ist es nicht weit zu den Nymphen342, die in dem Stück allein auf Grund der Grottenszene im 4. Akt, in der Käthchen Kunigunde »erkennt«, assoziiert werden. Nymphen als »weibliche Quell- u. Wassergottheit[en]343« sind »weibliche untere Gottheiten«344.

335 Grimm, DWB, Bd. 21, Sp. 476 u. 468 f. (Hervorh. im Orig.). 336 Die Megäre ist »eine der Furien«, Erinnyen, eine Rachegöttin, »die Zürnende«. Allgemein wird damit auch ein böses Weib bezeichnet. Georges, Karl Ernst: Ausführliches lateinischdeutsches Handwörterbuch. Hannover8 1918, Bd. 2., Sp. 853 (Hervorh. im Orig.). 337 Darunter wird das »griechische Feuer«, eine im Mittelalter schwer löschbare Pulvermischung verstanden. Siehe hierzu: Eybl 2007, S. 167. 338 Pierer’s Universal-Lexikon 1863, Bd. 17, S. 437 (»Thalestris«); weiters: Hederich 1770, Sp. 208 (»Amazones«). 339 »[E]ntlehnt aus lat. furia, wut, raserei, dann plagende rächerin von übelthaten, wütendes weib. […] eine der als rachegöttinnen von den Römern und Griechen gefürchteten strafenden plagegeister für unthaten.« Grimm, DWB, Bd. 4, Sp. 749 f. (Hervorh. im Orig.). 340 Grimm, DWB, Bd. 4, Sp. 750; »[…] eine der als rachegöttinnen von den Römern und Griechen gefürchteten strafenden plagegeister für unthaten. […] in dem sinne einer strafenden rachegöttin und dem daraus hervorgehenden einer wütenden weiblichen person neben einander steht das wort in folgender stelle: […] in dem sinne wütende, rasende, weibliche person, höchst aufgeregte grausame weibliche person […].« Siehe weiters: Hederich 1770, Sp. 1128 ff. (»Fvriae«). 341 Die Nixe ist der »weibliche wassergeist, die wassernymphe«. Nixin bezeichnet die weibliche Form von Nixe und stellt eine Neubildung aus der männlichen Form Nix dar; diese wiederum wird mit dem Teufel in Zusammenhang gebracht. Grimm, DWB, Bd. 13, Sp. 861 f. 342 »Naturgottheiten niederen Ranges, die, je nachdem sie ihren Sitz in Gewässern (im Meere, in Flüssen, in Seen [auch in den Gewässern der Unterwelt] u. in Quellen), auf Gebirgen u. in Grotten, in Waldtälern, Wäldern u. Hainen od. endlich in Bäumen haben, als Meer-, Fluß-, See- u. Quellnymphen, als Wald- und Baumnymphen verehrt und nach ihren Wohnsitzen benannt werden […].« Georges 1918, Bd. 2, Sp. 1234 – 1235 (Hervorhebungen K. E. G.). 343 »Die Wasser-Nymphe […]. 1. In der Mythologie der Alten, Nymphen, welche sich in den Wassern aufhalten. 2. Eine Art Insecten, welche die größte Libella ist, und im gemeinen Leben auch Jungfer, Heupferd und Schillebold genannt wird […].« Adelung 1801, Bd. 4, S. 1410 f. (»Wasser-Nymphe, die«; Hervorh. im Orig.) 344 Adelung 1798, Bd. 3, S. 550 f. (»Nymphe, die«).

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In engerer Bedeutung verstehet man unter Nymphen schlechthin oft nur die WasserNymphen. Wegen der vielen Liebeshändel, welche die ältern Dichter von diesen Schutzgöttinnen der Naturgegenden erzählen, pflegt man auch wohl zuweilen eine allzu freye weibliche Person eine Nymphe zu nennen.345

Schon die Griechen schrieben den Naturgöttinnen die Rolle der Braut, der Jungfrau zu – und das Nymphchen ist ein unschuldiges, verführerisches Mädchen; sie wird auch als Kindfrau verstanden.346 Das Wort nymphe bedeutet ein weibliches Wesen, durch das ein Mann zum nymphios, das heißt zum glücklichen, am Ziel seiner Männlichkeit angelangten Bräutigam wird. Die Bezeichnung gebührte einer großen Göttin ebenso wie einem sterblichen Mädchen. […] Ewig waren zum Beispiel die Nereiden, die den Nymphen am nächsten standen, ewig, wie das Meer, ihr Element. Doch jene unter den Wassernymphen – Naiaden oder Naides – die zu Quellen und nicht zu größeren Gewässern gehörten, waren ebensowenig unvergänglich wie die Quellen selbst. […] Früher wie später erschienen die Nymphen auch ganz für sich: schönen Angesichts, mit langen Gewändern bekleidet.347

Diese Beschreibung der Nymphen über ihr schönes Angesicht und die langen Gewänder erinnert sehr an das Kostüm von Kunigunde. Dass Kunigunde ein nymphenhaftes Wesen darstellt, ließe sich auch mit Tiecks Klage über die gestrichene Stelle aus dem 4. Akt erklären: »Da quillt es wieder unterm Stein hervor.«348 Außerdem steht Kunigunde wie erwähnt in Verbindung mit dem Reich der Toten, und die Grotte, die Höhle, der Aufenthaltsort von Nixen und Nymphen, steht in Zusammenhang mit dem Dämonischen. In der Grotte wird Kunigunde von Käthchen erkannt, die sprachlos voll Furcht nach oben eilt. Die Nymphen konnten »den gewöhnlichen Sterblichen sehr gefährlich werden«.349 345 Ebd. 346 Duden, Fremdwörterbuch 2001. 347 Kerényi 1999, S. 141 f. (Hervorh. K. K.). »Nymphen erscheinen manchmal auch als Frauen der ersten Menschen, während diese bis zur Erschaffung der Pandora ausschließlich Männer waren: ein Männergeschlecht.« Ebd., S. 164. 348 Kleist 2000, BKB 13, S. 155. Das Bild passt zu der Grotte, dem Lebensraum der Nymphen. Ebenso passt es zu dem Märchenhaften, das Tieck in Bezug auf diese Stelle anspricht, wobei auch der Vorzug des Mythologischen herausgearbeitet wird: »Das ist der, daß wir uns wegen des Höchsten nicht so ganz allein auf unser Gemüt verlassen. Freilich, wem es da trocken ist, dem wird es nirgends quillen; und das ist eine bekannte Wahrheit, gegen die ich am wenigsten gesonnen bin mich aufzulehnen. Aber wir sollen uns überall an das Gebildete anschließen und auch das Höchste durch die Berührung des Gleichartigen, Ähnlichen, oder bei gleicher Würde Feindlichen entwickeln, entzünden, nähren, mit einem Worte bilden.« Schlegel 1967, »Rede über die Mythologie«, hier S. 318. 349 Kerényi 1999, S. 143; weiters: »Wir finden deshalb neben der Nymphenverehrung (und Naturgeistverehrung) auch die Furcht vor den Nymphen. Sie stehlen häufig Kinder, manchmal töten sie sie aus Eifersucht. […] Noch in anderer Hinsicht sind die Nymphen gefährlich: sie verwirren den Geist derer, die sie am hellen Tage sehen. Die Mitte des Tages ist der Augenblick der Epiphanie der Nymphen. […] Daher ist es empfehlenswert, um die Mittagszeit sich keinen Quellen, Brunnen oder Wasserläufen zu nahen […]. Ein späterer

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Nicht zu vergessen ist bei der Figur der Kunigunde ihre Kammerzofe Rosalie. Wie wir oben gesehen haben, weist die Kammerzofe – ebenso wie Kunigunde durch ihr nymphenhaftes Wesen – Verbindungen mit der Götterwelt auf. Von Iris, dem weiblichen Pendant zu Hermes, habe ich schon gesprochen (siehe Kap. 3.1.2.1.). Beiden ist die Funktion des Dienenden eigen.350 Betrachtet man die mythologische Geschichte der Juno in Hinblick auf die Figurenkonstellation von Kunigunde und ihrer Zofe Rosalie, so zeigt sich eine frappante Parallele zu Kunigundes Schmink- und Verkleidungskunst, sowie zu Rosalies Aufgabenbereich. Wie sie die Gemahlin des Königs der Götter war, also war sie auch die Königinn derselben. […] Sie trug für den Putz und Schmuck des Frauenzimmers besonders Sorge und soll solchen erfunden haben. […] Man glaubete, daß sie jederzeit von vierzehn Nymphen bedienet würde. […] Unter solchen war Iris die vornehmste. […] Sie wußte sich ihrer Hoheit und Gewalt auch gegen andere, so wohl Götter, als Menschen, wohl zu bedienen.351 (Hervorh. im Orig.)

Weiters ist eine heilige Kunigunde belegt, die eine Feuerprobe verletzungsfrei überstanden hat.352 Damit lässt sich die Figur der Kunigunde, wie schon Flammberg, in eine direkte Beziehung zum Untertitel des Stückes bringen. Aberglaube sagt, vom Prophetenwahnsinn befallen werde, wer eine Gestalt aus dem Wasser steigen sehe […]. […] Und überall hält sich auch das ambivalente Gefühl der Furcht und der Anziehung in bezug auf die Wasser, die zugleich auflösen (die ›Faszination‹ der Nymphen zieht den Wahnsinn, die Auflösung der Persönlichkeit nach sich) und zugleich keimen, töten und gebären helfen.« Eliade 1998, S. 239 f. 350 »Iris, mit schnellen Füßen, aber auch mit großen Flügeln, hatte das Amt der Botin. In unserer Sprache: sie war angelos. […] Bricht […] Zwist und Streit unter den Sterblichen aus, verlegt sich gar auf dem Olymp einer aufs Lügen, dann schickt Zeus die Iris aus, den großen Schwur der Götter aus der Ferne, in goldenem Becher, zu holen, das kalte Wasser vielen Namens, welches vom hohen Felsen herunterstürzt. Es ist das Wasser der Styx. […] Zehngeteilt ist sein Strom. Neun Arme umfließen die Erde und das Meer. Ein Arm fließt aus dem Felsen hervor, zum Schaden der Götter. Wer unter ihnen auf dieses Wasser einen Meineid schwört, der liegt sofort atemlos da und bleibt ein ganzes Jahr lang leblos.« Kerényi 1999, S. 52. 351 Hederich 1770, Sp. 1393 (»Ivno«). Beachtenswert in dem Zusammenhang ist auch der Kuckuck, der schon bei Graf vom Strahl und Gottschalk – eine ähnliche Konstellation wie bei Kunigunde und Rosalie – auftauchte. 352 »Religiöse Schwärmerei, die in jener Zeit frommer Glaube hieß und als solcher nur bewundert werden kann, bewog das kaiserliche Paar, in einer Engelsehe zu leben und die Enthaltsamkeit zur höchsten Aufgabe des Lebens zu machen. – Dessen ungeachtet wurde Kunigunde, deren Lebenswandel rein und fleckenlos blieb, von ihren Feinden des verbotenen Umganges mit ihrem Beichtiger beschuldigt und von dem Kaiser selbst auf dem Reichstage zu Frankfurt deßhalb angeklagt. Die Richter unterwarfen sie dem Gottesurtheil, und Kunigunde mußte mit bloßen Füßen über eine glühende Pflugschar wegschreiten. Dieß geschah, die Kaiserin war aber unbeschädigt geblieben; ein Wunder hatte für sie gezeugt und die Verleumdung verstummte.« Damen Conversations Lexikon 1836, Bd. 6, S. 236 (»Kunigunde, die Heilige«).

5.

Wesentliche Implikationen des »Käthchens« Eine Kultur, d. h. die Berufung auf eine ganz bestimmte Weise Mensch zu sein, läßt sich über ihre spezifische Beziehung zum Licht bestimmen, über die Art, wie sie es begreift und anbetet.353

Im Folgenden werden die drei Themenbereiche Mythos354, Liebe und Macht im »Käthchen« beschrieben. Die Thematik des Mythos ist gleichzeitig die Fortführung des zuvor Dargelegten. Im »Käthchen« sind eine Vielzahl mythologischer Verweise anzutreffen. seien sie nun christlichen oder antiken Ursprungs. Ganz im Sinne der Romantik gehen beide Bereiche oftmals eine Symbiose ein und lassen den Drang nach der Formulierung eines Neuen, eines Dritten erkennen. In Zusammenhang mit der Mythologie und ihrer, durch den Akt des In-BeziehungSetzens, teilweisen Neuschreibung355 werden auch gesellschaftskritische Momente artikuliert. Nach Lévi-Strauss kann die »Mythologie […] als Reflex der Sozialstruktur und der sozialen Beziehungen betrachtet«356 werden. 353 Zambrano 2005, S. 46. 354 »Eine zentrale Position in der Literatur des 18. Jahrhunderts nimmt der Stoffkreis der Mythologie ein. Er stellt nicht nur einen immer wieder aufgegriffenen, vertrauten Motivkomplex dar, sondern steht auch im Spiegel von weltanschaulichen Aspekten sowie philosophisch-ästhetischen Diskussionspunkten. Der Mythos bedeutet im eigentlichen Sinn das ›Wort‹, so daß er schon von seinem begrifflichen Ursprung her eine unmittelbare Beziehung zur Sprache aufweist.« Ennen, Jörg: Götter im poetischen Gebrauch. Studien zu Begriff und Praxis der antiken Mythologie um 1800 und im Werk Heinrich von Kleists. Münster: Lit.-Verlag 1998, S. 12. »Denn wie die Arbeit an seinen Gestalten und Inhalten selbst, ist auch die Mythologie seiner Entstehung ein Reagens auf eine Form der Arbeit an ihm und auf die hereditäre Hartnäckigkeit seines Mitgehens durch die Geschichte. Wenn überhaupt etwas diese sprachliche Zuschreibung verdient ›Es geht mir nach‹, so ist es die archaische Imagination, was immer auch in ihr erstmals bearbeitet worden sein mag.« Blumenberg 1979, S. 68. 355 »Mythen sind Geschichten von hochgradiger Beständigkeit ihres narrativen Kerns und ebenso ausgeprägter marginaler Variationsfähigkeit. Diese beiden Eigenschaften machen Mythen traditionsgängig: ihre Beständigkeit ergibt den Reiz, sie auch in bildnerischer oder ritueller Darstellung wiederzuerkennen, ihre Veränderbarkeit den Reiz der Erprobung neuer und eigener Mittel der Darbietung. Es ist das Verhältnis, das aus der Musik unter dem Titel ›Thema mit Variationen‹ in seiner Attraktivität für Komponisten wie Hörer bekannt ist. Mythen sind daher nicht so etwas wie ›heilige Texte‹, an denen jedes Jota unberührbar ist.« Blumenberg 1979, S. 40. 356 Lévi-Strauss, Claude: Strukturale Anthropologie I. Übers. v. Hans Naumann. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S. 227. Zu Mythos und Sprache meint Lévi-Strauss: »Der Mythos ist

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Auch wird an dieser Stelle näher auf den Traum/die Erscheinung des Käthchens und des Grafen einzugehen sein und ich werde, in Zusammenhang mit dem Engelsmotiv, nochmals das Thema des Wahnsinns aufgreifen. Im darauf folgenden Kapitel beschäftige ich mich mit der Liebe, wobei ich besonders auf die Funktion des Erkennens eingehen werde. Das Erkennen oder Verkennen357 der Liebe, des Wesens, das der Liebe fähig ist, ist ein Thema, das bei Kleist häufig für Liebesszenen prägend ist. Dabei kann es auch so weit kommen, dass aus Küssen Bisse werden, oder dass der Vater sein (verkleidetes) Kind umbringt, weil er denkt, es sei das des Rivalen. Oder aber die Frau wird von einem Gott in der Gestalt des eigenen Ehemanns verführt. Für das »Käthchen« ist in dieser Hinsicht das Merkmal als körperliches Erkennungszeichen wichtig. Auf die schon angesprochene Bedeutung und Bedeutungsvielfalt bei Kunigunde werde ich hier nochmals zu sprechen kommen. Essentiell ist für das Stück auch die Thematisierung der Anerkennung, des Ansehens des anderen. Schließen werde ich mit dem Thema der Macht im »Käthchen«, die einen wesentlichen Dreh- und Angelpunkt in dem Drama bildet und auf die meine Untersuchung zustrebt. Besonderes Gewicht lege ich dabei auf die Funktion des Gender. Auf die Rollen der Vaterfiguren, von denen Käthchen ja bekanntlich gleich drei hat358, und ihre gesellschaftlichen Positionen wird eingegangen, ebenso werde ich auf die Thematik des Stellvertreters zu sprechen kommen. Die Inbesitznahme der Stellvertreterposition ist das politische Prinzip des Regierens schlechthin, auf das jegliche Form von Macht referiert oder woraus sie entsteht, sie sich ableitet. Abschließend greife ich den Gedanken der Trinität und der symbolischen Ordnung auf und werde zeigen, inwieweit diesen Relevanz in Bezug auf »Käthchen« zukommen.

Sprache; aber eine Sprache, die auf einem sehr hohen Niveau arbeitet, wo der Sinn, wenn man so sagen darf, sich vom Sprachuntergrund ablöst, auf dem er anfänglich lag.« Ebd., S. 231. 357 Siehe zu diesen beiden Begriffen die grundlegende Arbeit von Müller-Seidel, Walter: Versehen und Erkennen. Eine Studie über Heinrich von Kleist. Köln, Graz: Böhlau 1967. 358 Neumann, Gerhard: Hexenküche und Abendmahl. Die Sprache der Liebe im Werk Heinrich von Kleists. In: Codierungen von Liebe in der Kunstperiode. Hrsg. v. Walter Hinderer. In Verb. mit Alexander von Bormann, Gerhart von Graevenitz, Gerhard Neumann, Günter Oesterle u. Dagmar Ottmann. Würzburg: Königshausen & Neumann 1997, S. 187. Weiter auch: »Die Aufspaltung der Vaterrolle im ›Käthchen von Heilbronn‹ entpuppt sich als eine Pluralität von Vaterfiguren. Käthchen hat gleichsam drei Väter: Theobald, dann den Grafen vom Strahl, dessen Gewalt über sie in der Szene vor dem Vehmgericht einer väterlichen gleichkommt, und schließlich den Kaiser, der seine Vaterschaft auf höchst unwahrscheinliche Art entdecken muß, damit er Käthchen zu Katharina von Schwaben erheben kann und damit der Graf vom Strahl mit gebührendem Anstand zur Rolle des Bräutigams hinüberwechseln darf. Rechnet man den ›Himmel‹ noch dazu, so hat sie vier.« Stephens 1988/89, hier S. 232.

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Die schon erwähnte Form der literarischen Groteske zieht sich als roter Faden durch das gesamte Stück. Bei der Figur der Kunigunde lässt sich sogar von einer allegorischen Darstellung der Groteske sprechen. Die komischen Elemente in einzelnen Szenen im »Käthchen« können eindeutig der Groteske zugeschrieben werden. Ebenso nehmen grundlegende Elemente der Groteske, die Darstellung des Monströsen sowie Verkleidung und Maskerade, wichtige Funktionen in dem Stück ein. Aus diesem Grund ist es mir ein Anliegen, vorab einen kurzen Exkurs zur Groteske zu geben.

5.1. Exkurs: Groteske359 Die Struktur des Grotesken ist die Struktur der Auflösung von Strukturen.360

Das Wort wurde ursprünglich als Begriff für »nicht-natürliche Kombinationen von Menschen-, Tier- und Pflanzen-Teilen« in der bildenden Kunst verwendet. Mit der Bedeutung »zur Höhle gehörig« sind antike Malereien gemeint, die in 359 »Die Groteske bzw. grotesk und die entsprechenden Wörter in den anderen Sprachen sind Entlehnungen aus dem Italienischen. La grottesca und grottesco, Ableitungen von grotta (Grotte), wurden als Bezeichnungen für eine bestimmte Art von Ornamentik geprägt, auf die man Ende des 15. Jahrhunderts bei Ausgrabungen zunächst in Rom und dann an anderen Stellen Italiens stieß. In dem Worte grottesco als Bezeichnung für eine bestimmte, von der Antike angeregte Ornamentik lag für die Renaissance nicht nur etwas Spielerisch-Heiteres, Unbeschwert-Phantastisches, sondern zugleich etwas Beklemmendes, Unheimliches angesichts einer Welt, in der die Ordnungen unserer Wirklichkeit aufgehoben waren: die der klaren Trennung zwischen den Bereichen des Gerätehaften, des Pflanzlichen, des Tierischen und des Menschlichen, die der Statik, die der Symmetrie, die der natürlichen Größenordnung. […]: sogni dei pittori. Damit ist zugleich der Bereich genannt, in dem allem Menschlichen das Zerbrechen jener Ordnungen, die Teilhabe an einer andersartigen Welt, wie sie in der grotesken Ornamentik sinnfällig erscheint, zum Erlebnis wird, über dessen Wirklichkeits- und Wahrheitsgehalt das Denken nie zur Ruhe gekommen ist. […] Im 16. Jahrhundert dringt die Groteske von Italien aus in die Länder jenseits der Alpen und erobert sich alle Lebensbereiche der Ornamentik […].« Kayser, Wolfgang: Das Groteske. Seine Gestaltung in Malerei und Dichtung. Nachdruck der Ausgabe von 1957. Mit einem Vorwort »Zur Intermedialität des Grotesken« und mit einer aktuellen Auswahlbibliographie zum Grotesken, Monströsen und zur Karikatur v. Günther Oesterle. Stauffenburg: Tübingen 2004, S. 20 ff. (Hervorh. W. K.) 360 Fuß, Peter: Das Groteske. Ein Medium des kulturellen Wandels. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2001, S. 97 (Hervorh. F. P.). »Allen Interpretationen ist […] gemeinsam, daß sie das Groteske als Dekomposition symbolisch-kultureller Ordnungsstrukturen deuten. Das Phantastische, das grotesk Realistische, das Wunderbare, das Absurde, Satirische und Karnevaleske sind verschiedene Realisationsformen dieser Dekomposition, Aspekte des Grotesken, die sich in ihm mischen. Sie bilden Eckpunkte des chimärischen Bedeutungsfeldes, das der Groteske-Begriff umfaßt.« Ebd., S. 147; zur Begriffsklärung bei Fuß siehe besonders S. 108 – 153.

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»Höhlen und verschütteten Räumen entdeckt wurden«.361 Als ein Höhepunkt grotesker Darstellung im europäischen Raum wird das 16./17. Jahrhundert gesehen, wo Verkleidung und Maskerade eine eminente Rolle spielten. Auch die Zeit der Romantik ist durch eine Hinwendung zur grotesken Darstellung geprägt, allerdings besaß die Maskierung einen anderen Stellenwert: »In der Romantik verliert die Maske fast völlig ihren erneuernden Impuls und erhält einen düsteren Anstrich. Hinter ihr zeigt sich oft eine schreckenerregende Leere, das ›Nichts‹«.362 Diese »schreckenerregende Leere« kann durchaus mit der Figur der Kunigunde in Zusammenhang gebracht werden. Wie erwähnt, steht sie eindeutig in Verbindung mit dem Bereich des Toten363, sie ist Vertreterin beider Welten, des Lebendigen und des Toten.364 An ihr zeigt sich die groteske Form der Chimäre, sie stellt dieses »Zwischengefüge«365 dar. Das Chimärische ist keine Mißgeburt der Natur, sondern eine ›Mißgeburt‹ der kategorialen Ordnung. Zwar setzt auch das Monströse eine Kulturordnung voraus, die den Normalfall definiert, an dem die Abweichung des Abnormen sich bemißt. Die Abweichung selbst kann jedoch, anders als beim Chimärischen, Produkt eines biologischen Reaktors sein. […] Chimären sind Zwischengefüge. Sie füllen die Lücken der diskontinuierlichen kategorialen Ordnung. Auf den Grenzen der Kategorien angesiedelt, sind sie deren Produkt: Projektionen der Grenze, Gefüge des Übergangs.366

Das Dazwischen, das Weder-Noch, das noch im Werden befindliche Dritte gilt als Repräsentant für die romantische Unfertigkeit. Zugleich ist die Unfertigkeit auch ein grundlegendes Moment der Groteske.367 361 Etymologisches Wörterbuch 2011. 362 Bachtin 1995, S. 91. 363 »Ihre Schönheit ist nicht Ausdruck innerer Harmonie, Zeichen ihrer wesentlichen Eigenschaften, sondern sie suggeriert sie nur, um die Leere zu verdecken, die sich dahinter auftut. Eine Prothesenfigur, die alle Zweifel bestätigt, welche zunehmend seit Ende des 18. Jahrhunderts die Kunstproduktion begleiteten.« Ueding, Gert: Zweideutige Bilderwelt: »Das Käthchen von Heilbronn«. In: Kleists Dramen. Neue Interpretationen. Stuttgart: Reclam 1981, S. 172 – 187, hier S. 174. Der Prothese begegneten wir schon in der Abhandlung über das »Marionettentheater«. Dort wurde sie in Zusammenhang mit dem Begriff der Grazie gebracht. 364 »Die echte Groteske ist alles andere als statisch: sie ist bestrebt, in ihren Motiven das Werden selbst, das Wachstum, die ewige Unabgeschlossenheit und Unfertigkeit des Lebens einzufangen. Daher stellt sie beide Pole des Werdens zugleich dar – das Vergehende und das Neue, das Sterbende und das unmittelbar vor seiner Geburt Stehende; sie zeigt zwei Körper in einem, die Knospung und die Teilung der lebendigen Zelle des Lebens.« Bachtin 1995, S. 103 f. 365 Fuß 2001, S. 365. 366 Ebd., S. 364 f. 367 »Die romantische Groteske ist eine wichtige und folgenreiche Episode in der Weltliteratur. In gewissem Grade war sie eine Reaktion auf jene Tendenzen im Klassizismus und in der Aufklärung, die für deren Beschränktheit und einengende Seriosität verantwortlich waren, auf kalten Rationalismus, auf das staatlich und formal-logisch Autoritäre, auf den Hang zum

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Die deutlichsten Hinweise auf die groteske Gestaltung sind bei Kunigunde wohl durch ihr Prinzip der Verkleidung, ihre (Körper-)Maske368, sowie den Ort, an dem sie erkannt wird (die Grotte), gegeben. Im »Käthchen« erleben wir, dass die Ordnung der Natur369 und die Ordnung als Prinzip gesellschaftlichen Übereinkommens nicht mehr einwandfrei funktionieren. Mittels göttlicher Eingriffe zerbricht das Konzept, gerät die Weltordnung ins Wanken und droht zu zerfallen – das Groteske daran ist, dass die Ordnung, die, wie ich später noch zeigen werde, in Berufung auf eine göttliche Macht eingesetzt wurde, wiederum durch göttliche Kräfte zu zerfallen droht. Ein solcher Zerfall stellt ein wesentliches Merkmal der Groteske dar. Es handelt sich um die Aufhebung natürlicher Ordnungen, der »Ordnungen der Wirklichkeit«.370 In dieser Hinsicht kann auch das Auftreten von übernatürlichen Wesen, von übernatürlichen Erscheinungen wie Engeln und Göttern (in der Realität der Fiktion sowie allegorischen Darstellungen) verstanden werden. Es sind Merkmale eines Zwischenreichs in einer Zeit des Übergangs. Sinic verbindet die Mechanismen der Groteske mit dem »Erwartungshorizont«371 des Lesers. Auch von ihm ist das Funktionieren grotesker Darstellungen

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Perfekten, Vollkommenen und Eindeutigen, auf die didaktische Haltung und den Utilitarismus der Aufklärer, auf den naiven oder banalen Optimismus und Ähnliches mehr.« Bachtin 1995, S. 87 f. »Sie ist eine mosaische Arbeit, aus allen drei Reichen der Natur zusammengesetzt. Ihre Zähne gehören einem Mädchen aus München, ihre Haare sind aus Frankreich verschrieben, ihre Wangen Gesundheit kommt aus den Bergwerken in Ungarn, und den Wuchs, den ihr an ihr bewundert, hat sie einem Hemde zu danken, das ihr der Schmidt, aus schwedischem Eisen, verfertigt hat.« (SWB I, 613 f., 31 ff., 1) Drux verweist in Bezug auf den Begriff »mosaisch« auf die Verbindung zu Moses: »Auch wenn der Kontext keinen Zweifel daran lässt, dass damit ›die Zusammensetzung nach Art eines Mosaiks‹ gemeint ist – mutet es doch etwas naiv an, den ›Zusammenhang mit dem von Moses abgeleiteten Adjektiv (vgl. mosaischen Glaubens ›jüdisch‹)‹ schlichtweg abzustreiten. Um 1800 war diese Bedeutung geläufig (und gebräuchlicher als das elaborierte Synonym zu ›mosaikartig‹) und so wird sie der damalige Leser wie sicherlich auch der Autor Kleist […] zumindest konnotiert haben.« Drux 2005, hier S. 108. »Am Grotesken kollabiert jedoch nicht die Ordnung ›der Natur‹ als Genitivsubjekt im Sinne Kaysers, sondern die Ordnung der ›Natur‹ als Genitivobjekt, die Ordnung, die ihr auferlegt wird. […] Die Abhängigkeit des Grotesken von den je gültigen kulturellen Konventionen manifestiert sich auch in Kaysers These, daß Elemente einer kulturellen Formation aus der Perspektive einer anderen kulturellen Formation, die ihnen keine Funktion und Bedeutung zuschreibt, grotesk erscheinen, obwohl sie im Rahmen der Kultur, der sie entstammen, nicht grotesk wirken.« Fuß 2001, S. 72. Kayser 2004, S. 21. Sinic, Barbara: Die sozialkritische Funktion des Grotesken. Analysiert anhand der Romane von Vonnegut, Irving, Boyle, Grass, Rosendorfer und Widmer. Frankfurt am Main: Peter Lang 2003, S. 61. »Denn solange der Leser nicht etwas anderes erwartet, kann er schwerlich von dem Eintretenden überrascht und verunsichert sein; auch wird ihm nichts entfremdet vorkommen, wenn er nicht Gewöhnliches erwartet.« Ebd., S. 61.

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abhängig, er ist es, der das ausbleibende Ordnungsprinzip an das Dargestellte anlegt. Es war zu sehen, daß das Phänomen des Grotesken in den unterschiedlichsten Bereichen der Kritik auftreten kann. Es können damit allgemeinmenschliche Themen angeschnitten werden, große Zusammenhänge der Gesellschaft sowie auch das Fehlverhalten einzelner Menschen. Das Groteske kann sowohl auf zurückliegende Mißstände als auch auf gegenwärtige Probleme angewandt werden. Voraussetzung ist hier, daß sich der Leser durch den Mißstand betroffen fühlt, daß er dadurch bedroht oder verunsichert werden kann. Es ist meines Erachtens nicht möglich, bestimmte Themengebiete aus dem Grotesken auszuschließen oder als fixe Bestandteile dieses Phänomens anzusehen. Die jeweilige inhaltliche oder stilistische Ausführung eines Themas ist ausschlaggebend dafür, ob Groteskes entsteht oder nicht.372

Einen weiteren wichtigen Faktor des Grotesken stellt das Dämonische dar. Das Dunkle, das Geheimnisvolle und das Nicht-zu-Sehende sind bevorzugte Motive des Grotesken. In der alltäglichen Auseinandersetzung können wir oft nur schwer mit den Erscheinungen des Negativen, des Bösen umgehen, umso erleichterter sind wir dann, wenn uns auf schmunzelnde Weise in der Kunst die Abtrünnigkeit der Welt vor Augen geführt wird – das Lachen der Unsicherheit über die Fratze, die uns erschrickt.373 Das Böse wird in Zusammenhang mit dem Dämon gesehen. Und der Dämon ist es, der zwei Wirkungen, zwei Prinzipien darstellt.374 Doch ist der »Daimon […] nichts anderes als die Summe der Situation, in der sich jedes menschliche Leben, jeder Mensch spontan befindet: wenn 372 Ebd., S. 281; dazu weiter Peter Fuß: »Das Groteske kann jedoch nicht nur auf den Aspekt der Rezeption (Wirkung) beschränkt werden. Zur Weltbegegnung gehört per definitionem eine ›Welt‹ und das ihr Begegnende. Das Groteske ist ein Effekt der ›Spannung‹ zwischen den der Rezeption zugrundeliegenden, die Erwartungen des Rezipienten determinierenden kulturellen Kategorien und Normen sowie einem Gegenstand, der ihnen inadäquat ist und daher die auf ihnen beruhenden Erwartungen enttäuscht. […] Das groteske Phänomen hat drei Dimensionen, eine kollektive (die soziokulturelle Dimension als Hintergrund des Phänomens), eine objektive (die Sachdimension als Gegenstandsseite des Phänomens) und eine subjektive (die Rezeptions- und Produktionsdimension als Aktseite des Phänomens).« Fuß 2001, S. 81 (Hervorh. P. F.). 373 »Bei aller Ratlosigkeit und allem Grauen über die dunklen Mächte, die in und hinter unserer Welt lauern und sie uns entfremden können, wirkt die echte künstlerische Gestaltung zugleich als heimliche Befreiung. Das Dunkle ist gesichtet, das Unheimliche entdeckt, das Unfaßbare zur Rede gestellt. Und so ergibt sich eine letzte Deutung: d i e G e s t a l t u n g d e s Grotesken ist der Versuch, das Dämonische in der Welt zu bannen und zu b e s c h w ö r e n .« Kayser 2004, S. 202 (Hervorh. W. K.). 374 »[D]er griechische δαίμων bezeichnet einen bösen sowohl als einen guten geist, einen schutzgeist: dem christenthum gegenüber trat er in die dunkelheit und treibt die menschen, über die er macht hat, zum bösen.« Grimm, DWB, Bd. 2, Sp. 713 f. »[D]aímo¯n, das in frühester Zeit jedes Wirken eines Gottes bezeichnet, der nicht genannt werden kann oder soll; dann alle Formen des Göttlichen […]. Im Christentum dann in Richtung auf ›Teufel‹ abgewandelt und mit dieser Bedeutung zunächst in die Volkssprache übernommen; dann Rückgriff auf griechische Vorstellungen.« Etymologisches Wörterbuch 2011.

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er sich selbst entäußert bzw. außer sich ist«.375 Das Dämonische steht in Verbindung mit dem Bösen, das wiederum mit dem Teufel und der wiederum mit Gott. Schon die Bibel nennt den Teufel Gottes Bruder.376 Im »Käthchen« kann das Dämonische allen drei Hauptfiguren zugeschrieben werden. So etwa in der Beschuldigung des Grafen, mit dem Teufel im Bunde zu stehen: »ich klage ihn schändlicher Zauberei, aller Künste der schwarzen Nacht und der Verbrüderung mit dem Satan an!« (SWB I, 504, 13 ff.) Der Graf wird beschuldigt, Käthchen durch eine unsichtbare Macht verführt und ihm hörig gemacht zu haben. Künste, die teuflischen Wesen zugesprochen werden. Außerdem ist der Graf außer sich, wenn er im Fieber im Bett liegt und gleichzeitig von einem Engel in Käthchens Schlafkämmerlein geführt wird. Das Käthchen ist außer sich in der Form des Wahnsinns, der im Zusammenhang mit dem Grotesken auch dem Dämonischen zugeschrieben wird.377 Das »Motiv des Wahnsinns ist für die Groteske charakteristisch, weil es erlaubt, die Welt mit anderen Augen zu sehen, mit einem von ›normalen‹ Vorstellungen und Bewertungen freien Blick«.378 Genau dieses Prinzip erkennen wir beim Käthchen, wenn sie der »normalen« Welt den Rücken zukehrt und ihrer Vorstellung folgt.

375 Zambrano 2005, S. 179; weiter: »Und der sich selbst Entäußerte phantasiert; auch der in sich selbst Versunkene phantasiert, denn das Delirium ist die erste Quelle, der die Rede entspringt; es ist das Delirium dessen, der von Ungeheuern belagert wird und diese nicht loswerden kann, ohne daß auch sie zu phantasieren beginnen; und es ist das Delirium dessen, der in seiner Einsamkeit nicht weiß, ob er ein Ungeheuer ist. Im Delirium ist das Subjekt nicht identisch und genauso wenig es selbst, denn in der ursprünglichen Passion des menschlichen Lebens liegen das Ich, Du und Er bzw. Sie – da ist auch noch das ›Es‹ – nicht geschieden vor, weil der Mensch, der Hauptdarsteller, sich selbst fremd ist, er hat sich noch nicht ›erkannt‹.« Ebd. (Hervorh. M. Z.) 376 »Satan Ursprünglich kommt das Wort aus der israelitischen Rechtspraxis und bezeichnet den Ankläger (Staatsanwalt), der die Vergehen des Beschuldigten aufzählt. In nachexilischer Zeit kennt man auch einen Ankläger beim himmlischen Gericht, der vor Gottes Thron die Sünden der Menschen namhaft macht. Im Buch Hiob (1,6; 2,1) wird er zu den Gottessöhnen, d. h. zum himmlischen Hofstaat, gezählt. In neutestamentlicher Zeit ist der Satan schließlich zum Gegenspieler Gottes geworden, dem Teufel, der als Herr dieser Welt gilt, aber endlich von Gott überwunden und vernichtet wird. Wenn in Offb. 2,13 von der Stadt Pergamon gesagt wird, dass dort der Satan wohnt, so ist dabei vielleicht an den dort befindlichen riesigen Zeusaltar gedacht.« Die Bibel 1999, Anhang, S. 334 (Hervorh. im Orig.). 377 »Auch der Wahnsinn kann mit Freud als Dekomposition einer kulturellen Ordnung interpretiert werden. Dies verdeutlicht seine Gegenüberstellung von Religion und Zwangsneurose. Er deutet Religionen als kollektive und gesellschaftlich anerkannte Neurosen und die Neurose als private, nicht sozialadäquate Religion. In der Neurose tritt eine private Ordnung an die Stelle der kollektiven Kulturordnung, die dabei liquidiert wird und ihre feste Gültigkeit (für das neurotische Subjekt) einbüßt.« Fuß 2001, S. 94 (Hervorh. F. P.). 378 Bachtin 1995, S. 90. »Tatsächlich präsentiert die Groteske, einschließlich ihrer romantischen Ausprägung, die Möglichkeit einer anderen Welt, einer anderen Ordnung und Lebensweise. Sie führt aus der vermeintlichen Allgemeingültigkeit, Unanfechtbarkeit und Stabilität der existierenden Welt heraus.« Ebd., S. 99 (Hervorh. M. B.).

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Ins Unheimliche verwandelt erscheint das Menschliche im Wahnsinnigen; wieder ist es, als ob ein »Es«, ein fremder, unmenschlicher Geist in die Seele gefahren sei. Die Begegnung mit dem Wahnsinn ist gleichsam eine der Urerfahrungen des Grotesken, die uns das Leben aufdrängt. Romantik und Moderne haben sich dieses Motivs mit einer bemerkenswerten Häufigkeit bei ihren Gestaltungen des Grotesken bemächtigt. […] Das Groteske ist eine Struktur. Wir könnten ihr Wesen mit einer Wendung bezeichnen, die sich uns oft genug aufgedrängt hat: d a s G r o t e s k e i s t d i e e n t f r e m d e t e W e l t .379

Nach der Grottenszene verhält sich Käthchen erneut wie eine Wahnsinnige. In Bezugnahme auf obiges Zitat kann gesagt werden, dass Käthchen in der Grotte die andere, entfremdete Welt gesehen hat und daher meint: »Es kommt!« (SWB I, 606, 18), der »fremde, unmenschliche Geist«.380 Käthchen rast daraufhin wie eine Wahnsinnige. Sie benennt zwar Eleonore als diejenige, die rast, doch ist das nur die Spiegelung ihres eigenen Verhaltens auf die Person, die – für sie unverständlich – seelenruhig dasteht, obwohl in Käthchens Augen die größte Gefahr auf sie lauert. Käthchen. Fort! Rasende! Eleonore. Wohin? Käthchen. Hier fort, aus diesem Garten will ich – Eleonore. Bist du bei Sinnen? (SWB I, 606, 25 ff.)

Käthchen kann »Es«381 nicht benennen. Sie kommt »zitternd« (SWB I, 604, 1) aus der Grotte und ruft nach der Nichte der Gräfin, Eleonore. Diese bewundert das Aussehen Käthchens, das blass vor Schreck aus der Grotte kommt: »Schaut, wie das Mädchen funkelt, wie es glänzet! / Dem Schwane382 gleich, der in die Brust

379 Kayser 2004, S. 198 (Hervorh. W. K.). 380 Ebd. 381 »Zur Struktur des Grotesken gehört, daß die Kategorien unserer Weltorientierung versagen. […] Wir könnten eine neue Wendung gebrauchen: d a s G r o t e s k e i s t d i e G e s t a l t u n g d e s › E s ‹ , jenes ›spukhaften‹ Es, das Ammann als die dritte Bedeutung des Impersonale (neben der psychologischen – es freut mich – und der kosmischen – es regnet, es blitzt) bestimmt hat. Die verfremdete Welt erlaubt uns keine Orientierung, sie erscheint als absurd.« Kayser 2004, S. 199 (Hervorh. W. K.). 382 Erinnern wir uns an die Geschichte von Zeus und Leda, aus deren Verbindung die Helena entsprang (Fußnote 306), wird uns die Verbindung des Schwans – Käthchens – mit dem Gott Zeus vor Augen geführt: »Zeus verwandelt sich in einen schwan, um Leda zu verführen […]. […] schwäne als gespann der Venus oder des Amor […]. […] auch sonst werden menschen oft als schwan bezeichnet, so jungfrauen wegen ihrer weisze und schönheit, besonders im

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geworfen, / Aus des Krystallsees blauen Fluthen steigt! / – Hast du die jungen Glieder dir erfrischt?« (SWB I, 604, 5 ff.) Rosalie, die bei dem Erscheinen Käthchens dabeistand, erkennt den Ernst der Lage, maßregelt Käthchen ob ihrer Tat und gibt ihr den Rat: »Nun, beim Himmel! Dir wär besser, / Du rissest dir die Augen aus, als daß sie / Der Zunge anvertrauten, was sie sahn!« (SWB I, 604, 33 ff.) Käthchen soll sich davor hüten, das Bild Sprache werden zu lassen, sie soll nicht anfangen zu sprechen und damit Gedanken zu formieren. Sprechen und Schauen spielen bei der Entstehung von Vorstellungen gleichermaßen eine Rolle. Drux weist in diesem Zusammenhang auf den Mythos des Ödipus hin; er liest den Mythos »tiefenpsychologisch« als »Kastration«.383 Meiner Ansicht nach kann mit dem Ödipus-Mythos an dieser Stelle aber eher die Problematik des Erkennens des eigenen Selbst verbunden werden. Mit der Form des Blicks öffnet sich der Verweis auf die Fertigkeit des Erkennen-Könnens an sich. Käthchen will Eleonore von dem Geschehen berichten: »Ich will dir sagen – / (sie kann nicht sprechen).« (SWB I, 605, 10 f.) Zuerst muss ihr Eleonore versichern, geloben, niemandem, wer »es auch sei, den Vorfall zu entdecken«. (SWB I, 605, 16) Doch auch nach dem Versprechen findet sie keinen Ausdruck dafür. Es kann nicht über Käthchens Lippen kommen. Der Schrecken, die Furcht sind zu groß. Die Zwiespältigkeit Kunigundes ist durch ein typisches Moment der Groteske angelegt: die Maskerade. Nach außen hin ist Kunigunde schön, betört jeden Ritter und wickelt ihn um den Finger. Doch nach innen hin, unter ihrer Hülle verbirgt sich das Grauen. Sie ist der doppelte Schein, die Zweideutigkeit der Benennung384, die Allegorie der Maske schlechthin. Sie, diese mosaische Arbeit aus den drei Reichen der Natur385, deren Reize nur frühmorgens geschaut werden können, wenn sie über dem Stuhl liegen (SWB I, 614, 11 f.), ist ganz Maske – im Sinne der Körper-Maske, bei der die »Grenzen zwischen Körper und Welt und zwischen verschiedenen Körpern«386 verschwinden. Ebenso weist die Darstellung

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nordischen […].« Grimm, DWB, Bd. 15, Sp. 2205 ff. (Hervorh. im Orig.); siehe weiters: Hederich 1770, Sp. 1446 ff. (»Leda«). Drux 2005, hier S. 96 (Fußnote 17). »[S]ie ist eine poetologische Figur, an der Kleist sowohl sein Verfahren wie auch die Zweideutigkeit des Produkts demaskiert […].« Ueding 1981, hier S. 174. Bernhard Greiner sieht in der Darstellung der Kunigunde das Prinzip, mit dem das »Drama als literarisches Artefakt«, als poetologische Arbeit, zusammengesetzt, gestaltet ist: »Es ist aus verschiedenen literarischen Gattungen zusammengesetzt: Märchen […], Schauerroman […], Ritterdrama […], Legende […], zeitgenössische romantische Fantastik […], zeitgenössisches Singspiel […]. Die berufenen Zeichen sind bunt gemischt.« Weiters erkennt er in der Sprache, »zusammengesetzt aus Vers- und Prosapartien«, wie dem Titel des Dramas Erkennungsmerkmale für das Montagehafte des »Käthchens«. Greiner 2000, S. 178. Genauer: »Grundlage aller grotesken Motive ist eine besondere Vorstellung vom Körperganzen und den Grenzen dieses Ganzen. Die Grenzen zwischen Körper und Welt und zwischen verschiedenen Körpern verlaufen in der Groteske völlig anders als in klassischen oder naturalistischen Motiven. […] Der groteske Körper ist […] ein werdender. Er ist nie

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der Wertschätzung primär äußerlicher Merkmale deutlich auf eine Versinnbildlichung der Maske hin. Bei Kunigunde kann von dem Scheinhaften als bedeutungstragendem Merkmal gesprochen werden. Von ihrer Wechselhaftigkeit wird im gesamten »Käthchen« ein eindrucksvolles Bild gemalt. Wie bereits angedeutet, bestehen bei ihrer Figur jedoch Zweifel, ob sich hinter ihrer Maske überhaupt etwas verbirgt. Und ein Mensch, der nur aus Maske ohne Dahinter besteht, widerspricht unseren Normen hochgradig.387 Ihre Maskerade wird auch beinahe von Erfolg gekrönt. Schlussendlich wird ihr Spiel jedoch entlarvt – sie aber nicht erkannt, da es zu der von Freiburg im 2. Akt gewünschten Tat nicht kommt, dass ihr einfach das »Halstuch« (SWB I, 539, 25 f.), als ganze Rache, abgenommen werden solle.388 Kunigunde, die schlussendlich Betrogene, vertritt auch das Prinzip des (Gegen-) Adels. Sie stellt Besitz-, Machtansprüche auf Ländereien des Grafen; bei allen ihren Liebhabern kommt es ihr »nur auf deren Besitz«389 an – deutlicher: jeder Liebhaber ist ihr recht, um ihre Ansprüche gegen den Grafen geltend zu machen: »Ist das nicht der dritte Reichsritter, den sie mir, einem Hund’ gleich, auf den Hals hetzt, um mir diese Landschaft abzujagen!« (SWB I, 533, 5 ff.) Kunigunde, die Allegorie der Maske, im Sinn der nichts verbergenden, grotesken Maske, kann das Geheimnis um ihr Wesen bis zum Schluss aufrechterhalten, sich weiter mit der Maske des schönen, aufreizenden Frauenzimmers schmücken. Nicht einmal Käthchen kann den Grafen enttäuschen und ihm mitteilen, was sie gesehen hat. fertig und abgeschlossen, er ist immer im Entstehen begriffen und erzeugt selbst stets einen weiteren Körper; er verschlingt die Welt und läßt sich von ihr verschlingen […].« Bachtin 1995, S. 357 f. (Hervorh. M. B.). 387 »Im Maskenspiel waren in der Antike feste Regeln ausgebildet worden, die ebenso wie feste Typen von Masken die Handlung für das Publikum transparent machten. Die Träger führten ihre Masken als lesbare Zeichen auf. Dieselbe semantische Erwartung bemächtigt sich in der Neuzeit des Gesichts im Theater wie auch im öffentlichen Leben, zwischen denen sich ein neues Verhältnis entwickelt. Im Leben lieferte sich das Gesicht einer Gesellschaft aus, die daran den Charakter ablas und den Träger an sozialen Normen maß, die auf der Bühne außer Kraft gesetzt waren. Als Beute der öffentlichen Aufmerksamkeit konnte sich das Gesicht in der Öffentlichkeit nicht verstecken, sondern nur verstellen, also eine Maske benutzen.« Belting, Hans: Faces. Eine Geschichte des Gesichts. München: Beck 2013, S. 64 (Hervorh. H. B.). 388 »Zugleich verknüpft das Motiv des Ent-Deckens Kunigunde und Käthchen; beide werden durch das Lüften des Halstuches in ihrer wahren Identität erkannt. Ist Kunigundes Körper ein falsches Zeichen, so ist das Mal Käthchens die Inschrift eines wahren.« Eybl 2007, S. 168. Ebenso hat sich aber Käthchen, nach dem Botendienst und der Rettung des Grafen, ein Halstuch umzubinden: »Dein Antlitz speit ja Flammen! – / Du nimmst dir gleich ein Tuch um, Katharina […].« (SWB I, 575, 17 f.) Dies äußert der Graf nach der Herausgabe des Kuverts aus ihrem Busen, womit ihr Inneres, die Darlegung ihrer Neigung, verstanden werden kann. So soll sie sich auf Geheiß des Grafen bedecken, nachdem sie sich vor ihm, bildlich, entblößt hat. 389 Greiner 2000, S. 175.

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Der Mythos

5.2. Der Mythos O! Jesus! Ich bedacht’ es nicht! – Im Stall zu Strahl, da hast du mich besucht. (SWB I, 522, 4 f.)

Im vierten Kapitel habe ich gezeigt, dass es etliche Verweise und Parallelen der Figuren in Hinblick auf verschiedene Mythologeme gibt. Anhand von Mythen werden gesellschaftliche Denkformen ausgedrückt, Meinungen und Vorstellungen zu verschiedenen Themenkomplexen des Lebens tradiert390. Sie unterliegen dabei einem steten Wandel, gemäß der Veränderung und Entwicklung der jeweiligen Gesellschaft. Mythen sind nur insoweit starre Vorstellungen, als es ihr »innerer Kern«391 zulässt, ohne gespalten zu werden. Jörg Ennen erwähnt, dass nach Herder der Mythos »um 1800 vor allem als ein grundlegendes Medium der Seele zu begreifen« ist, »indem er zum Zielpunkt ihres allegorisierenden Vermögens bestimmt wird, um auch das Unaussprechliche auszudrücken«.392 Genau diesem sprachlosen Seelenzustand begegnen wir im »Käthchen« im 1. Akt in der Gerichtsszene, wenn Käthchen vor dem Grafen im Staub liegt und auf seine drängenden Fragen nur noch antworten kann: Mein hoher Herr! Da fragst du mich zuviel. Und läg’ ich so, wie ich vor dir jetzt liege, Vor meinem eigenen Bewustsein da: Auf einem goldnen Richtstuhl laß es thronen, Und alle Schrecken des Gewissens ihm, In Flammenrüstungen zur Seite stehn; So spräche jeglicher Gedanke noch, Auf das, was du gefragt: ich weiß es nicht. (SWB I, 518, 20 ff.)

Nach Zambrano ist das Bewusstsein »ein rein menschlicher Bereich«, »auf den das Göttliche keinen Einfluß hat und in dem es sich ebensowenig spiegelt«.393 Die Seele, die Gott geschaut hat, kann dem Bewusstsein kein Geständnis davon ablegen. Versteht man Käthchen als hochgradig auf die Mythologie bezogene Figur, so steht sie dem Sprachlosen der Seele weitaus näher als der Sprache des Be390 391 392 393

Siehe Lévi-Strauss 1977, S. 227. Blumenberg 1979, S. 40. Ennen 1998, S. 24. Zambrano 2005, S. 19. »Der Mensch, ein Wesen mit Bewußtsein, unterscheidet sich auf grundsätzliche Weise vom Menschen als Wesen aus Seele und Körper. Im Hinblick auf die Seele ist das Bewußtsein eine größere Blöße, so als ob der Mensch durch den Verzicht seinen eigenen Bereich erweitert hätte. Sein im Bewußtsein enthaltenes und davon umhülltes Leben wirft sich entsprechend in die Zukunft. Und in der Zukunft lebt er in der Vorwegnahme.« Ebd.

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Wesentliche Implikationen des »Käthchens«

wusstseins, was erklären würde, warum sie sich vor ihrem eigenen Bewusstsein nicht mitteilen kann – und erst recht nicht, wenn sie von einem (Abbild) Gott(es) befragt wird. Noch bezeichnender ist die Grottenszene im 4. Akt. Käthchen kommt nach der Entdeckung Kunigundes vor Schreck erstarrt aus der Grotte. Hätte Kunigunde gewusst, dass Käthchen darin ist, sie wäre nicht hinabgestiegen. Rosalie wirft dem Käthchen hingegen vor, dass sie in die Grotte stieg, obwohl Kunigunde bereits darin gewesen sei – dass es genau anders herum war, schreibt der Szene ein Stück weit groteske Komik zu. Käthchen erkannte Kunigunde in der Grotte. Als sie nun von Brigitte, der Haushälterin im Schloss zu Strahl, um das Geschehene befragt wird, kann sie nicht sprechen, das Wort kommt nicht über ihre Lippen. Das Gesehene kann nicht ausgedrückt werden: »Ich will dir sagen – / (sie kann nicht sprechen).« (SWB I, 605, 10 f.) Durch das von uns Nicht-Geschaute und uns Nicht-Mitgeteilte geraten wir in einen Schwebezustand. Wir erhalten später nur noch weitere Andeutungen, erfahren aber nichts Konkretes. Es bleibt unserer Phantasie überlassen, welche Ausformungen die mosaische Kunigunde annimmt. Kunigunde ist in ihrer Verkleidung eine potenzielle Rivalin Käthchens, und Käthchen wirft einen Blick hinter ihre Hüllen. Was sie erblickt, lässt sie erschaudern. Es bleibt offen, was an Kunigunde einen derart großen Schrecken bei den anderen auslöst.394 Mythologie und Religion waren seit jeher Strategien des Menschen, um sich Unerklärliches, Unglaubliches sowie das Leben in seinen vielen Erscheinungen leichter erklären zu können. Eine Funktion des Mythos ist es, »die numinose Unbestimmtheit in die nominale Bestimmtheit zu überführen und das Unheimliche vertraut und ansprechbar zu machen«.395 Bei allen (Ur)Glaubensausformungen treffen wir auf übernatürliche Phänomene. Das Übersinnliche stellt für den Menschen ein weit geringeres Problem dar als die Realität, es ist der Beweis göttlicher Kraft, göttlicher Anteilnahme. Das Wunder(bare), das Übermenschliche weist auf das noch Kommende hin, es sind Bezugnahmen auf eine andere Welt, den ersehnten Urzustand, dort, wo alles schon gerechtfertigt ist. Es gibt dem Blick in die Zukunft ein Bild, eine Vorstellung, macht das Ungewisse erträglich. Was enthüllen uns alle diese Mythen und Sinnbilder, alle diese Sagen und Glaubensvorstellungen, die mehr oder weniger deutlich die coincidentia oppositorum, die Vereinigung der Gegensätze, die Ganzwerdung der Bruchstücke voraussetzen? Vor allem

394 »Was Kleists Figuren im Allgemeinen stigmatisiert, das Unvermögen sich mitzuteilen und miteinander zu kommunizieren, wird hier auch durch den besonderen Gegenstand der Rede begründet: Wie kann man etwas auf den Begriff bringen, was nicht zu greifen ist? Wie lässt sich das Wesen des Wesenlosen benennen?« Drux 2005, hier S. 96 (Fußnote 14). 395 Blumenberg 1979, S. 32.

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ein tiefes Unbefriedigtsein des Menschen mit seiner gegenwärtigen Lage, mit dem, was man conditio humana zu nennen pflegt. Der Mensch fühlt sich zerrissen und getrennt. Es fällt ihm schwer, sich des Wesens dieser Trennung stets vollkommen bewußt zu werden, denn bisweilen fühlt er sich von »irgend etwas« Mächtigem, von ihm gänzlich Verschiedenem getrennt; und manchmal fühlt er sich von einem unbestimmbaren, zeitlosen »Zustand« getrennt, an den er keine genaue Erinnerung hat, an den er sich aber im Tiefsten seines Wesens doch erinnert: ein uranfänglicher Zustand, dessen er sich vor der Zeit, vor der Geschichte erfreute. Diese Trennung hat sich wie ein Riß gleichzeitig in seinem Inneren und in der Welt vollzogen. Es war ein »Fall«, nicht unbedingt im jüdisch-christlichen Sinne, aber gleichwohl ein Fall, denn er kam durch eine für das Menschengeschlecht verhängnisvolle Katastrophe und zugleich durch eine ontologische Veränderung im Gefüge der Welt zum Ausdruck. Von einem bestimmten Standpunkt aus kann man sagen, daß zahlreiche Glaubensvorstellungen, welche die coincidentia oppositorum voraussetzen, die Sehnsucht nach einem verlorenen Paradies verraten, die Sehnsucht nach einem paradoxen Zustand, in dem die Gegensätze nebeneinander bestehen, ohne zusammenzustoßen, und in dem sich die Vielfältigkeiten zu Aspekten einer geheimnisvollen Einheit zusammenfügen.396 (Hervorh. M. E.)

Zur Veranschaulichung der Ganzwerdung des Menschen im Diesseits wurde der Mythos der Liebe der Hälften geboren, wie er im »Gastmahl« Platons in der »Rede des Aristophanes«397 gezeigt wird. Es ist die erste Stufe der Ganzwerdung, diese Vereinigung zweier Menschen, die immer auch die Verbindung der Gegensätze im Sinne einer Überwindung ausdrückt. Es ist das Erkennen des anderen als Teil seines Selbst – verstanden aus der Unvollständigkeit des Seins. Im »Käthchen« wird uns dieses (V)Erkennen des Gegenübers vor Augen geführt. Eine Parallelisierung erhält dieser Vorgang durch die Diskrepanz des Nebeneinanders zweier Glaubensvorstellungen: des christlichen und antiken Mythos. Es wird angenommen, dass Kleist den »antiken Mythos synkretistisch

396 Eliade Mircea: Mephistopheles und der Androgyn. Das Mysterium der Einheit. Aus dem Französischen von Ferdinand Leopold. Frankfurt am Main und Leipzig: Insel 1999, S. 107 f. Der Zustand, von dem sich der Mensch als getrennt empfindet, lässt sich mit dem im »Phaidros« dargelegten, der Erinnerung an das Geschaute Sein vergleichen. Siehe Kap. 3.1.3. 397 Das »Gastmahl« verhandelt in sechs Reden über den Gott Eros. Aristophanes »behandelt das Thema […] ausschließlich nach der irdischen Seite seines natürlichen Paarungsbedürfnisses. Die Menschen irren, wenn sie ihren gegenwärtigen Zustand auch für ihren ursprünglichen halten. Dieser ursprüngliche Zustand war vielmehr folgender: Es gab drei Geschlechter, Doppelmann, Doppelweib und Mannweib. Sie waren kugelförmig, Kugeln mit je vier Armen und Beinen, zwei Gesichtern usw. Schnellster Bewegung fähig und ausgerüstet mit großer Kraft neigten sie bald zum Übermut und wurden selbst den Göttern gefährlich. […] Diesem Frevelmut Schranken zu setzen […] halbierte [Zeus] einen jeden […]. Die getrennten Hälften, von Sehnsucht nacheinander erfüllt, suchten sich gegenseitig […]. […] Die Sehnsucht läßt ihnen keine Ruhe. Treffen zwei ursprünglich zusammengehörige Hälften zusammen, dann ergibt sich jene unaussprechliche Liebeswonne und Liebeskraft, die wie ein Wunder erscheint.« Platon: Das Gastmahl. (Inhaltsübersicht.) Neu übers. u. erläut. v. Otto Apelt. In: Sämtliche Dialoge. Bd. III. Hamburg: Felix Meiner 2004, S. XXVIIIf.

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Wesentliche Implikationen des »Käthchens«

ins Christliche«398 deutete. Dieses Verschränken, das In – Verbindung-Setzen zweier Mythen in eins liegt auch im »Käthchen« vor, wie schon bei der Untersuchung zu den Figuren und deren Namen zu sehen war. Es scheint fast so, als bedingten beide einander. Entgegen dieser Beobachtung meint Jörg Ennen in Bezug auf das »Käthchen« in seiner Arbeit »Götter im poetischen Gebrauch«, dass Kleist vor allem den »christlichen Mythos« betone, da es vorrangig »um die Entwicklung eines christlich-romantischen Ritterschauspiels geht«.399 Den antiken Mythos bezieht er, nach Ueding400, hauptsächlich auf die Bereiche des Wunderbaren und des Idyllischen und meint, dass dadurch »das Märchen an die Stelle des Mythos« trete.401 Allein die Namensgebung des Grafen sowie etliche andere Verweise und Ausrufe oder Parallelen zur antiken Mythologie widersprechen dieser Ansicht. Das Märchenhafte402 tritt wohl im »Käthchen« ebenso zutage, doch überdeckt es nicht den Mythos, sondern ergänzt ihn. Es handelt sich um eine Vermischung von dem Wunderbaren des Märchens und mit dem Unglaublichen des Mythos. Bei der Zeugung und Geburt des Käthchens werden christliche und antike Bilderwelten verschränkt.403 Der Kaiser, als symbolischer Repräsentant Gottes404, zeugt Käthchen in einem außerehelichen Akt. Sie, die somit zu einer Halbgöttin stilisiert ist, erfährt göttliche Zuschreibungen; selbst der Vorgang der Geburt wird von religiösen Motiven begleitet. Oesterle meint in Bezug auf die religiösen Zuschreibungen von Käthchen:

398 Kurz, Gerhard: »alter Vater Jupiter«. Zu Kleists Drama Amphitryon. In: Gewagte Experimente und kühne Konstellationen. Kleists Werk zwischen Klassizismus und Romantik. Hrsg. v. C. Lubkoll u. G. Oesterle. Würzburg: Königshausen & Neumann 2001, S. 169 – 185, hier S. 170. 399 Ennen 1998, S. 221. 400 Ueding 1981, S. 249 – 261. 401 Ennen 1998, S. 221. »Der Mythos, der außerhalb von Raum, Zeit und Kausalität steht, wurde zum bevorzugten Ort, um utopische Vorstellungen zu entwickeln und zu reflektieren. Da er Zugang zu einer anderen Form der Wirklichkeit bietet, gleichzeitig aber auch sinnlich faßbar bleibt, werden durch ihn fiktive Räume frei, um den Gegensatz von Ideal und Wirklichkeit auf neue Weise zu gestalten.« Ebd., S. 37. 402 »Als die Romantik Märchen und Sagen wiederentdeckte, tat sie das mit dem fast trotzigen Gestus nach der Aufklärung und gegen diese: nicht alles sei Betrug, was nicht durch die Kontrolle der Vernunft gelassen worden sei. Verbunden damit war die neue Bewertung der Ursprungssituation dieser Stoffe und Gestalten, die mit Vico und Herder begonnen hatte. Vor der Episode der antiken Klassik habe nicht nur Finsternis und Grauen über der Frühzeit der Völker gelegen, sondern auch und vor allem reinste Kindhaftigkeit des Ununterschiedenseins von Wahrheit und Lüge, Wirklichkeit und Traum.« Blumenberg 1979, S. 69. 403 Mit Greiner handelt es sich dabei um den »Mythos des ›Hierogamos‹ […], der Hochzeit von Himmel und Erde, ein mythologischer Synkretismus von christlichen und griechischen Vorstellungen«. Greiner 2000, S. 182. 404 Ebd., S. 185.

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An einem auserwählten Ort mit dem sprechenden Namen ›Heilbronn‹ erfährt eine junge Frau eine Erscheinung in der Silvesternacht. Sie entsteht aus der Ambiguität von Aberglaube (Bleigießen) und Glaube (Gebet/Bitte an Gott). Diese Bitte wird erhört in Form einer Erscheinung. Beim Eintritt des vom Engel begleiteten Ritters sehen sich beide an. Daraufhin fällt Käthchen auf die Knie. Ikonographisch erinnert ihre Demutsgeste an die Verkündigungsszene Marias in Anwesenheit des Engels. Der Graf hingegen, von »unendlichem Entzücken durchbebt«, erhält einen anderen Part. Seinem Begehren wird eine aus der antiken Liebesikonographie stammende Geste der Zärtlichkeit unterlegt: er faßt die am Boden Kniende und nach unten blickende junge Frau am Kinn, »um ihr ins Antlitz zu schauen«. […] In diesem entscheidenden Augenblick, als die vom Mann initiierte zarte Berührung einen Wechselblick einleitet, also genau an dem Punkt, wo christliche Demut und antikisches Begehren, Kniefall und Kinngriff, aufeinandertreffen, wird die Begegnung unterbrochen. […] Die Szene dürfte kaum überinterpretiert werden, wenn man in der Unterbrechung der Vision durch Licht die Aufklärung am Werke sieht.405

Beide, die christliche wie die antike Ikonographie, christliche wie antike Mythologeme sind Bestandteile des »Käthchens«. Die Etablierung einer neuen Religion aus der Verbindung des Alten und Neuen war ein angestrebtes Ziel der Romantik, schlussendlich aber blieb alles Fragment und die Vereinigung kam, außerhalb der Literatur, nicht zustande. Die Suche nach Ganzheit, nach Vereinigung kann als Leitmotiv im »Käthchen« herausgestrichen werden. Die Suche nach dem Geliebten, das Wissen um den anderen, wie im angesprochenen Mythos der »Hälftenliebe«.406 Käthchen als Suchende, Verfolgende ist gleichzeitig das handlungsauslösende Moment. Bevor sie zu ausgesprochenen philosophischen Begriffen geworden sind, bildeten das Eine, die Einheit und die Ganzheit Sehnsüchte, die sich in Mythen und Glaubensvorstellungen offenbarten und in mystischen Riten und Techniken zum Ausdruck kamen. Auf der Stufe des vorsystemischen Denkens drückt sich in dem Mysterium der Ganzheit das Bestreben des Menschen aus, einen Gesichtspunkt zu gewinnen, von dem aus sich die Gegensätze auflösen, der Geist des Bösen sich als Anstifter zum Guten entpuppt, die Dämonen als Nachtseite der Götter erscheinen. Die Tatsache, daß diese archaischen Themen und Motive in der Folklore fortleben und in der Welt der Träume und des Imaginären unablässig auftreten, beweist, daß das Mysterium der Ganzheit zum Wesen des menschlichen Dramas gehört.407

405 Oesterle, Günter: Vision und Verhör. Kleists Käthchen von Heilbronn als Drama der Unterbrechung und Scham. In: Gewagte Experimente und kühne Konstellationen. Kleists Werk zwischen Klassizismus und Romantik. Hrsg. v. Christian Lubkoll u. Günter Oesterle. In Verb. m. A. v. Bormann, G. v. Graevenitz, W. Hinderer, G. Neumann u. Dagmar Ottmann. Würzburg: Königshausen & Neumann 2001, S. 303 – 328, hier. S. 312 f. (Hervorh. G. O.). 406 Horst, Falk: Kleists Käthchen von Heilbronn – oder hingebende und selbstbezogene Liebe. In: Wirkendes Wort. II. Heft, 46. Jg. (1996), S. 224 – 245, hier S. 231. 407 Eliade 1999, S. 108 f.

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Wesentliche Implikationen des »Käthchens«

Die Dämonen entpuppen sich im »Käthchen« als Anstifter zum Guten – Gut und Böse, eine binäre408 Konstellation, in der keine klare Trennung mehr gemacht werden kann. In folkloristischen Vorstellungen besteht seit Jahrhunderten die eigentümliche Verbindung zwischen Gott und Teufel409, die auf ein Verwandtschaftsverhältnis der beiden hinausläuft. Beispielsweise treffen in »Faust« im Prolog im Himmel Gott und Teufel aufeinander und unterhalten sich friedlich. Zwei verschiedene Wesensprinzipien, die sich mitunter doch ähnlicher sind, als es von außen den Anschein hat.410 Bevor sich die beiden Hälften an- und ineinanderfügen können, muss die jeweils andere erkannt, geschaut werden. Beide Seiten müssen erkennen und wahrnehmen. Sonst kommt es zur paradoxen Vereinigung eines Selbst mit dessen eigener Reflexion, die es auf den anderen projiziert und übersieht, dass sich die Bruchlinien nicht aneinanderfügen.

408 »Binarität ist ein Begriff der philosophischen Logik, der im Strukturalismus an Bedeutung gewann. Er bezeichnet die Opposition von zwei Einheiten, die sich als gegensätzliche Werte gegenüberstehen, also in einem bestimmten Sinn ein ›Paar‹ bilden. Binarität ist aber nur eine von verschiedenen Möglichkeiten, eine Relation zu beschreiben.« Drygala, Anke: Die Differenz denken. Zur Kritik des Geschlechterverhältnisses. Wien: Turia + Kant 2005, S. 61. (Hervorh. A. D.). 409 »Wir haben es in diesem Fall mit dem Verwachsen zweier verschiedener, aber eng miteinander verbundener Themen zu tun: des gnostischen Mythos von der Brüderschaft Christi und Satans und des archaischen Mythos vom Bund, ja sogar von der Fast-Brüderschaft von Gott und Teufel.« Eliade 1999, S. 18. 410 »Nach Goethes Auffassung ist Mephistopheles der Geist, der verneint, der Widerspruch erhebt, der, vor allem, den Lebensfluß anhält und verhindert, daß die Dinge ihren Lauf nehmen. Die Tätigkeit des Mephistopheles richtet sich nicht gegen Gott, sondern gegen das Leben. Mephistopheles ist ›der Vater […] aller Hindernisse‹ (Faust II, v. 6205). Was Mephistopheles von Faust fordert, ist stehenzubleiben. ›Verweile doch!‹ (v. 1700) – eine Formel rein mephistotelischen Geistes. Mephistopheles weiß, daß Faust in dem Augenblick, da er verweilt, seine Seele verloren haben wird. Aber dieses Verweilen ist nicht eine Verneinung des Schöpfers, sondern des Lebens. Mephistopheles widersetzt sich nicht unmittelbar Gott, sondern dessen wesentlicher Schöpfung, dem Leben. Statt Bewegung und Leben bemüht er sich, Ruhe, Reglosigkeit, den Tod zu erzwingen. Denn was aufhört, sich zu verändern und zu verwandeln, zerfällt und vergeht. Dieser ›Tod im Leben‹ führt zu geistiger Unfruchtbarkeit; letztlich ist es die Verdammung. Wer die Lebenswurzeln in seinem tiefsten Innern absterben läßt, gerät in die Gewalt des verneinenden Geistes. Das Vergehen gegen das Leben, läßt Goethe durchblicken, ist ein Vergehen gegen das Heil. Und dennoch regt Mephistopheles, wie man des öfteren bemerkt hat, das Leben an, obgleich er sich mit allen seinen Mitteln dem Lebensfluß widersetzt. Er kämpft gegen das Gute, aber am Ende schafft er das Gute. Dieser Dämon, der das Leben verneint, ist gleichwohl ein Gehilfe Gottes. Deshalb gesellt ihn Gott in seiner göttlichen Voraussicht bereitwillig dem Menschen als Gefährten zu.« Eliade 1999, S. 9 f. (Hervorh. E. M.).

Der Mythos

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5.2.1. Narrative Kerne Im Drama sind Götter fiktive Gestalten, bei deren Auftreten und Benennung mehr Assoziationen mitschwingen, als ihre Handlungen ausdrücken können. So führt auch Jörg Ennen die Götter in Kleists »Amphitryon« und »Penthesilea« als poetische Entwürfe »einer Wirklichkeit, die auf der Fiktion der Phantasie beruht«411, an. Den aus dem Mythos entlehnten poetischen Figuren wurde dabei eine neue Funktion zugesprochen, die Wirklichkeit, die von der Sprache nur unzuverlässig abgebildet werden kann, in eine Fiktion der Kunst zu verwandeln. Diese Fiktion sollte eine neue Sprache der Seele darstellen, die sich ihre Wirklichkeit selbst schafft.412

Mit Mythologemen wird versucht, das auszudrücken, was der Sprache entgleitet. Verweise, Vergleiche, Metaphern dienen als Instrumente, Unaussprechliches zu fassen und zu vermitteln.413 Bedeutungsebenen zu eröffnen, in denen das Benannte in hellerem Licht erscheint, stellt ein Grundbedürfnis menschlicher Kommunikation dar. Die herkömmliche Sprache reicht nicht aus, um alle Bedeutungsebenen zu öffnen, so wie die Vernunft nicht ausreicht, um alle Ebenen der Wirklichkeit zu erfassen.414

411 Ennen 1998, S. 212. 412 Ebd. 413 »Eine zentrale, durch den Mythos zum Ausdruck gebrachte Metapher dieser geschichtsphilosophischen Thematik in der Literatur um 1800 ist die Darstellung dieser Vertreibung aus dem Paradies durch den ›Sündenfall der Erkenntnis‹, der Reflexion, was nichts anderes bedeuten soll, als den Verlust der ›Muttersprache‹, der Poesie. Anstelle der Unmittelbarkeit der Sprache, die durch das Göttliche gegeben war, ist eine von der Reflexion getragene Distanz zum einheitlichen Ursprung getreten.« Ennen 1998, S. 33 (Hervorh. E. J.). Der Analogie von »Muttersprache« und Poesie, um zu einer reicheren, »ursprünglicheren« Sprache zurückzufinden, begegnen wir auch im Monolog des Grafen im 2. Akt: »Ich will meine Muttersprache durchblättern, und das ganze, reiche Kapitel, das diese Überschrift führt: Empfindung, dergestalt plündern, daß kein Reimschmidt mehr, auf eine neue Art, soll sagen können: ich bin betrübt. Alles was die Wehmut Rührendes hat, will ich aufbieten, Lust und in den Tod gehende Betrübniß sollen sich abwechseln, und meine Stimme, wie einen schönen Tänzer, durch alle Beugungen hindurch führen, die die Seele bezaubern; und wenn die Bäume nicht in der That bewegt werden, und ihren milden Thau, als ob es geregnet hätte, herabträufeln lassen, so sind sie von Holz, und Alles, was uns die Dichter von ihnen sagen, ein bloßes liebliches Mährchen.« (SWB I, 529 f., 33, 1 ff.) 414 »Die innere Bindung, die zwischen der Form der Sprache und der Form, unter der wir die anschauliche Wirklichkeit erfassen, besteht, wird sich uns in voller Deutlichkeit erst dann ergeben, wenn wir finden, daß der Aufbau beider durch wesentlich dieselben Etappen hindurchführt. Sobald sich zeigt, daß die Einteilung der Welt, die ›divisio naturae‹ in Gegenstände und Zustände, in Arten und Gattungen keineswegs von allem Anfang an ›gegeben‹ ist, muß sich die Frage erheben, wiefern das reiche und vielfältige Gewebe der Anschauungswelt, das in dieser seiner Vielgestaltigkeit vor uns hintritt, selbst von bestimmten geistigen Energien gewirkt und von ihnen durchwaltet ist.« Cassirer, Dritter Teil 2010, S. 130.

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Wesentliche Implikationen des »Käthchens«

Das Element der religiösen Erfahrung zeigt, daß die Sprache der Mythologie Bereiche der Wirklichkeit eröffnen soll, die dem Verstand nicht zugänglich sind, sondern nur der Empfindung, dem Gefühl – Bereiche, die der Sturm und Drang gegen die Aufklärung und später die Romantik gegen die Klassik zur Geltung gebracht haben.415

Dem Versuch der Darstellung des Unaussprechlichen mittels des Mythos begegnen wir im »Käthchen« vor allem in den drei Hauptfiguren: dem Käthchen, dem Grafen und Kunigunde. Greiner schreibt dem Käthchen ein mythisches Dasein zu, er meint, dass Theobald sie als Darstellung eines Mythos bezeichne.416 Käthchen ist eindeutig mit mythologischen Verweisen versehen, m. M. nach darf aber nicht so schnell von Käthchen als einem ›Mythos‹ gesprochen werden. Käthchen wird in einem realen Umfeld stehend dargestellt und dabei mit christlichen (geringfügig auch antiken) Mythologemen beschrieben. Z. B. wird sie mit Jesus verglichen, wenn ihr Vater von ihr sagt: »Den Judaskuß errieth unser Heiland nicht rascher, als sie solche Künste.« (SWB I, 506, 30 f.) Weiters gleicht die Beschreibung ihrer Geburt dem Herabkommen des Heilands, und Theobald nennt sie: […] ein Kind recht nach der Lust Gottes, das heraufging aus der Wüsten, am stillen Feierabend meines Lebens, wie ein gerader Rauch von Myrrhen und Wachholdern! Ein Wesen von zarterer, frommerer und lieberer Art müßt ihr euch nicht denken, und kämt ihr, auf Flügeln der Einbildung, zu den lieben, kleinen Engeln, die, mit hellen Augen, aus den Wolken, unter Gottes Händen und Füßen hervorgucken. Ging sie in ihrem bürgerlichen Schmuck über die Straße, […]: so lief es flüsternd von allen Fenstern herab: das ist das Käthchen von Heilbronn; das Käthchen von Heilbronn, ihr Herren, als ob der Himmel von Schwaben sie erzeugt, und von seinem Kuß geschwängert, die Stadt, die unter ihm liegt, sie gebohren hätte. (SWB I, 505, 12 ff.; Hervorh. P. Sch.)

Sie, die vom Kaiser, dem Stellvertreter Gottes, Gezeugte, erfährt allein durch die Tatsache der Zeugung schon eine mythologische Erhöhung.417 Die Figur der Kunigunde kann als allegorische Darstellung der Groteske für das Drama als poetologisches Prinzip bezeichnet werden. Als Repräsentantin der Mythologie würde sie das Teuflische darstellen. Damit würde sie in der Schlossbrandszene, in der sie Käthchen von draußen Anweisungen gibt, sie dirigiert, sich selbst bezeichnen, wenn sie Käthchen ob des nicht geretteten Futterals, da das von ihr gewünschte Bild daneben lag, tadelt und vom Teufel spricht: »Ein Satan leitet’ ihr die Hand!« (SWB I, 588, 4) 415 Ennen 1998, S. 23. 416 Greiner 2000, S. 182 ff. 417 »Es mogte ohngefähr eilf Uhr Abends sein, und der Jupiter ging eben, mit seinem funkelnden Licht, im Osten auf, als ich, vom Tanz sehr ermüdet, aus dem Schloßthor trat, um mich in dem Garten, der daran stößt, unerkannt, unter dem Volk, das ihn erfüllte, zu erlaben; und ein Stern, mild und kräftig, wie der, leuchtete, wie ich gar nicht zweifle, bei ihrer Empfängniß.« (SWB I, 612, 17 ff.; Hervorh. P. Sch.).

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Der Graf vom Strahl fällt wie erwähnt – schon allein auf Grund der Namensverwandtschaft – mit Zeus zusammen. Und im »mythischen Denken« ist es gerade der Name, der das »Innere, Wesentliche des Menschen« ausspricht: »Name und Persönlichkeit fließen hier in eins zusammen«.418 Graf Wetter benennt die Verbindung seines Geschlechts mit Zeus konkret, wenn er im Monolog im 2. Akt sagt: »Dich aber, Winfried, der ihn führt, du Erster meines Namens, Göttlicher mit der Scheitel des Zevs, dich frag’ ich, ob die Mutter meines Geschlechts war, wie diese: von jeder frommen Jugend strahlender, makelloser an Leib und Seele, mit jedem Liebreiz geschmückter, als sie?« (SWB I, 530 f., 36 ff., 1) Gemeint ist mit der Makellosen das Käthchen, das er zuvor im Femegericht von sich gestoßen hat – wie wir sehen werden allein aus gesellschaftlichem Zwang heraus. Dies gilt es für ihn zu erkennen und als ein grundlegendes Muster seiner Position anzunehmen. Als narrative mythologische Kerne im »Käthchen« können der Mythos des »Messias«419, der Zeus-Mythos – als das patriarchale Prinzip –, der Mythos der Sehnsucht der Doppelwesen aus dem »Gastmahl« Platons und der Wahnsinn, der seit jeher mit dem Göttlichen und somit dem Mythos in Verbindung steht, genannt werden.

5.2.2. Der Messias – die Jungfrau Auf einen wichtigen und oft besprochenen mythologischen Kern treffen wir in der christlichen Heilsgeschichte.420 Der Graf kann Käthchen wegen ihrer unterschiedlichen gesellschaftlichen Positionen nicht annehmen, so wie Josef Maria erst bereit ist zu ehelichen, nachdem der Engel ihm verkündet hat, dass alles mit göttlichem Willen geschehe, nachdem das göttliche Zeichen offenbart wurde. Die Sorge um ihre gesellschaftliche Stellung ist ihnen gemeinsam, wie auch die Offenbarung eines göttlichen Zeichens durch einen Engel – der Graf »verschaut« sich lediglich bei der Wahl und wird schließlich durch das göttliche Kennzeichen, das Mal am Nacken, in seinem Irrtum aufgeklärt. Auf die Geburtsstätte Jesus, den Stall zu Bethlehem, wird im Käthchen mit dem »Stall zu Strahl« (SWB I, 522, 9) Bezug genommen. In der Gerichtsverhandlung gilt er als der Ort, an dem »es« geschehen sein soll; so will es zumindest Graf vom Strahl dargestellt haben, wenn er das Käthchen mit der Frage drängt: – Was ist geschehn, fünf Tag’ von hier, am Abend, In meinem Stall, als es schon dunkelte, 418 Cassirer, Zweiter Teil 2010, S. 50. 419 Greiner 2000, S. 182. 420 Fronz 2000, S. 311; Greiner 2000, S. 178, 183.

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Wesentliche Implikationen des »Käthchens«

Und ich den Gottschalk hieß, sich zu entfernen? Käthchen. O! Jesus! Ich bedacht’ es nicht! – Im Stall zu Strahl, da hast du mich besucht. Der Graf vom Strahl. Nun denn! Da ist’s heraus! Da hat sie nun Der Seelen Seeligkeit sich weggeschworen! Im Stall zu Strahl, da hab’ ich sie besucht! Käthchen (weint). (Pause). (SWB I, 521 f., 39, 1 ff.)

Der Stall zu Strahl, der Ort, an dem das Übel Käthchen widerfahren sein soll, wird als der Ort benannt, an dem nichts passiert ist. Selbst wenn etwas geschehen wäre, könnte es nicht in Sprache gefasst werden. Wie ließe sich ernsthaft und wahrhaftig vor einem Gericht von einem Mythos sprechen? Unter Einbeziehung der Parodie kann gesagt werden, dass es sich bei dem Vorgang um die Benennung einer Schwelle handelt, einen Hinweis auf das, was »zwischen Wirklichkeit und Fiktion, zwischen Wort und Ding« steht; und das Dazwischen lässt sich eben nur schwer benennen.421 Nachdem sich die Richter, das Käthchen schützend, in das Verfahren eingemischt haben, dem Grafen die weitere Befragung überlassen und er das Käthchen »glutroth« (SWB I, 523, 15) in scharfem Ton anzureden beginnt – wogegen auch die Richter nichts tun können (sein gesellschaftlicher Stand ist zu hoch) –, will der Graf wissen, wo sie sich aufhielt, nachdem er sie aus dem Stall jagte. Nachdem er »die Peitsche, flammenden Gesichts, / Herab vom Riegel« nahm, ging Käthchen nach draußen, verließ das Schloss und »lagerte« sich »draußen, am zerfallnen Mauernring / Wo in süßduftenden Hollunderbüschen / Ein Zeisig zwitschernd sich das Nest gebaut.« (SWB I, 525, 29 ff.) Ein Ort, der, wie noch zu zeigen sein wird, ebenfalls mit göttlichen Attributen bestückt ist. Assoziationen zu Maria, Mutter Gottes, sind auch anzutreffen, wenn der Graf nach Lektüre der kaiserlichen Sendung, die Käthchen zu einem Mädchen adliger Abstammung macht – Käthchen weiß jedoch noch nichts davon –, ausruft: Nun mögt’ ich vor der Hochgebenedeyten In Staub mich werfen, ihren Fuß ergreifen,

421 Agamben 2005, S. 42. »Wenn die Ontologie die mehr oder minder glückliche Beziehung zwischen Sprache und Welt ist, so drückt die Parodie als Paraontologie die Unmöglichkeit der Sprache aus, das Ding zu erreichen, wie auch die Unmöglichkeit des Dings, seinen Namen zu finden. Ihr Raum – die Literatur – ist also notwendigerweise und theologisch von der Trauer und von der Fratze (wie die der Logik vom Schweigen) gekennzeichnet. Und trotzdem zeugt sie auf diese Weise von dem, was als die einzige mögliche Wahrheit der Sprache erscheint.« Ebd., S. 43.

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Und mit des Danks glutheißer Thräne waschen.422 (SWB I, 620, 30 ff.; Hervorh. P. Sch.)

Zuvor war es Käthchen, die sich immer, so wie der Graf nun, in den Staub geworfen und ihn mit ›hoher Herr‹ angesprochen hat, nun ist es der Graf, der auf ebendiese Weise vor dem Käthchen kniet und sie mit der Gottesmutter vergleicht. Der Graf vom Strahl bezeichnet sie zudem in der Schlossbrandszene deutlich als »die Jungfrau« (SWB I, 581, 27). Und mit der folgenden Replik Kunigundes schließt sich der Kreis, wenn Kaiser und Gott in einer Linie stehen: »Bei Gott, und wenn’s des Kaisers Tochter wäre!« (SWB I, 581, 30) Auch der Graf verschränkt die Position des Kaisers mit dem höchsten Gott, als er im 5. Akt Theobald gegenüber vor dem »Gottesgericht« steht und sich zu verteidigen hat. Hier vor des höchsten Gottes Antlitz steh’ ich, Und die Behauptung schmettr’ ich dir ins Ohr: Das Käthchen von Heilbronn, die dein Kind du sagst, Ist meines höchsten Kaisers dort; […]. (SWB I, 610, 29 ff.; Hervorh. P. Sch.)

Ob es sich bei Käthchen um eine Personifizierung der Maria oder Jesus handelt, muss nicht vollends geklärt werden, wichtig ist, dass Verbindungen zum Göttlichen eindeutig gegeben sind. In letzterem Fall würde Gertrud, die Mutter Käthchens, mit Maria gleichgesetzt, was durch die Symbolik von Empfängnis wie Geburt Käthchens bestätigt wäre. Der Kaiser erwähnt in seinem GeständnisMonolog die Anwesenheit göttlicher Zeichen bei der Empfängnis Käthchens. Der Graf bringt das Käthchen durch die Aussprache von Bibelzitaten sowie die Anrufung im Sinne des Ave Maria wiederum in die Position der Jesusmutter. Daraufhin fragt er, wo sich der Kaiser und Theobald befänden. Beide geben sich 422 Dieser Ausruf passt zur Verehrung des Käthchens als Heilige, so wie es umgekehrt Käthchen zuvor beim Grafen immer tat. Die Form entstammt aus dem Ave Maria nach Lk 1,28 u. 42: »Und der Engel kam zu ihr hinein und sprach: Sei gegrüßt, du Begnadete! Der Herr ist mit dir! […]: Gepriesen bist du unter den Frauen, und gepriesen ist die Frucht deines Leibes!« »Mit der ›Hochgebenedeiten‹ ist die Jungfrau und Gottesmutter Maria gemeint, zu der der Graf um Erfüllung seiner Liebe gebetet haben mag; doch unterschwellig gilt die angedeutete Proskynese, die spiegelbildlich der Käthchens von ihrem ›Erlöser‹ entspricht, keiner anderen als der soeben fürstlich nobilitierten Jungfrau selbst.« Fronz 2000, S. 311. Ebenso wird mit diesem Bild die Fußwaschung assoziiert. Siehe Joh. 13,1 – 20. »Wenn ich dich nicht wasche, so hast du kein Teil an mir.« Joh. 13,8. Bei der Fußwaschung handelt es sich um »eine liturgische Handlung kathol. u. griechischer Prälaten, die ihren Ursprung in einer uralten Sitte aller Morgenländer hat und schon im Judenthum religiöse Bedeutung bekam. Als Nachahmer Jesu waschen der Papst, Bischöfe, griechische Patriarchen und Klosteräbte am Gründonnerstag nach dem vormittägigen Gottesdienste 12 armen alten Männern die Füße und bedienen sie später bei Tische.« Herders Conversations-Lexikon 1854, Bd. 2, S. 831 f. (»Fußwaschung«). Für den Hinweis danke ich Arno Dusini.

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zu erkennen, enthüllen ihre Maskerade423, legen ihre Verkleidung ab, und der Kaiser ruft: »Hier sind sie!« (SWB I, 621, 2) Daraufhin ruft Käthchen aus: »Gott im hohen Himmel! Vater!« (SWB I, 621, 4) Bedenkt man, dass zwei Männer vor Käthchen stehen, die beide ihr »Vater« sind, erzeugt der Ausruf ein komisches Bild. Ergänzt wird dies durch die Regieanweisung, die besagt: »sie eilt auf ihn zu, er empfängt sie« (SWB I, 621, 5), womit Theobald gemeint zu sein scheint. Mit dem ersten Ausruf würde nun der Kaiser bezeichnet sein, unter Gleichsetzung der höchsten Autorität auf Erden mit Gott. Diese Vermutung wird durch die folgenden Repliken Gottschalks und des Grafen bestätigt. Gottschalk spricht »(für sich). Der Kaiser! Ei, so wahr ich bin! Da steht er!« (SWB I, 621, 6 f.); er akklamiert die Besonderheit der Person und das hohe Ansehen, das sie genießt. Noch deutlicher wird der Graf, wenn er den Kaiser anspricht: »Nun, sprich du – Göttlicher! Wie nenn’ ich dich? / – Sprich, las ich recht?«424 (SWB I, 651, 9 f.; Hervorh. P. Sch.) Unter Berücksichtigung der Gleichsetzung mit einem Gott wirkt die Replik des Kaisers auf des Grafen Aussage paradox, deutlich wird dadurch aber hervorgehoben, dass er eben auch nur ein Stellvertreter ist. Der Kaiser. Beim Himmel, ja, das thatst du! Die einen Cherubim zum Freunde hat, Der kann mit Stolz ein Kaiser Vater sein! Das Käthchen ist die Erst’ itzt vor den Menschen, Wie sie’s vor Gott längst war; wer sie begehrt, Der muß bei mir jetzt würdig um sie frein. (SWB I, 621, 9 ff.; Hervorh. P. Sch.)

Als sich der Graf dem Käthchen zuwenden darf, setzen die Verweise auf das Göttliche erneut ein, diesmal jedoch in Richtung der antiken Mythologie. Auffällig bei dem Bild, als der Graf und das Käthchen – nun Katharina von Schwaben – allein sind, ist die Beschreibung der Szenerie – ich erinnere an das 3. Kapitel, in dem ich die Behandlung des Käthchen durch den Grafen mit der eines Kindes verglich: »Der Graf vom Strahl und das Käthchen. Graf vom Strahl (indem er sie

423 Die Verkleidung, Maskerade von Kaiser und Theobald verweist wiederum auf die Form der Groteske und sie werden dadurch in Verbindung mit Kunigunde gebracht. 424 Die Frage »Wie nenn’ ich dich?« begegnet uns auch schon im 2. Akt beim Monolog des Grafen. Wenn er nach der Benennung Käthchens fragt und sie nicht so nennen kann, wie er es anscheinend gerne möchte – diese Passage folgt gleich auf die oben angesprochene Verbindung der Muttersprache mit der Poesie: »O du – – – wie nenn ich dich? Käthchen! Warum kann ich dich nicht mein nennen? Käthchen, Mädchen, Käthchen!« (SWB I, 530, 12 f.; Hervorh. P. Sch.) Der Graf kann sie nicht sein nennen, weil sie keine Adelige ist, doch gleichzeitig wird hierbei, rückblickend, die göttliche Bezugnahme deutlich dargestellt. Ebenso steht die Herkunft Käthchens durch die Erzählung Theobalds in Zusammenhang mit dem Göttlichen.

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bei der Hand nimmt, und sich setzt).«425 (SWB I, 622, 17 ff.) Der Graf spricht Käthchen in Bezug auf seinen Monolog im 2. Akt an: »Nun denn, mein Käthchen, komm! komm her, o Mädchen!« (SWB I, 622, 20) Käthchen antwortet mit »Mein hoher Herr!«, wie immer, und nach dem Liebesgeständnis des Grafen mit Vergleichen aus der antiken Bilderwelt ruft Käthchen »schamroth« dem Graf zu: »Jesus! Was sprichst du? Ich versteh’ dich nicht.« (SWB I, 622, 23, 34 f.; Hervorh. P. Sch.) Was Käthchen nicht versteht, ist die antike Geschichte, die der Graf als Vergleichsbild seiner Liebe zu ihr erzählt. Zuerst, mein süßes Kind, muß ich dir sagen, Daß ich mit Liebe dir, unsäglich, ewig, Durch alle meine Sinne zugethan. Der Hirsch, der von der Mittagsglut gequält, Den Grund zerwühlt, mit spitzigem Geweih, Er sehnt sich so begierig nicht, Vom Felsen in den Waldstrom sich zu stürzen, Den reißenden, als ich, jetzt, da du mein bist, In alle deine jungen Reize mich.426 (SWB I, 622, 25 ff.)

Die mythologischen Verweise auf Diana passen eher zu Kunigunde, die dem Widersprüchlichen und den Quellen näher steht als das Käthchen. So kann Käthchen auch nicht verstehen, warum der Graf ihr nun diese Geschichte erzählt, denn man »erzählte viel von ihr, der jungfräulichen Jägerin, und von den jung-

425 Der Graf zieht das Käthchen im 1. Akt in der väterlichen Schmiede zwischen seine Beine, worin ich die liebende oder väterliche Behandlung gezeigt sah. Des Grafen Sorge um das Käthchen, sein Wachen – das, wie ich im letzten Kapitel zeigen werde, in Beziehung zur Vaterrolle steht – würde sich nun tatsächlich mit den Empfindungen der Liebe verschränken. Damit lässt sich aber auch sagen, dass sich in der Liebe zu einer Frau und den daraus resultierenden Verhaltensmustern die Liebe und Sorge des Vaters spiegeln würde. 426 Die Geschichte, an die hier erinnert wird, ist die der Artemis/Diana und des Aktaion (Aktäon). Diana war von ihrer Namensbedeutung mit einer doppelten Zuschreibung versehen: »Den Namen Diana hat diese Göttinn von Dea und Jana, welches letztere so viel als Luna, der Mond, wie Janus so viel, als Apollo, die Sonne heißt […].« Sie trägt einen Widerspruch in ihrem Namen. Nicht nur die Doppeldeutigkeit lässt bei dem Bild der Diana eher an Kunigunde als an Käthchen denken, auch dass sie als die Göttin der Jagd gilt und in Verbindung mit Quellen und Nymphen steht: »Sie setzete sich daher noch als ein Kind, dem Jupiter eines Males auf den Schooß, und bat sich dieses Vorrecht aus, wie auch Pfeil und Bogen zum Jagen, und darbey sechzig Nymphen des Oceans, alle von neun Jahren, zu Gefährtinnen, zwanzig amnisische Nymphen aber zu Dienerinnen.« Hunde und Hirsche, Letztere spannte sie auch vor den Wagen, mit dem sie umherfuhr, wurden ihr zur Seite gestellt. Am bekanntesten ist die Geschichte von ihr und Aktaion, den sie zornig »in einen Hirsch verwandelte, und machte, daß er von seinen eigenen Hunden zerrissen und gefressen wurde, weil er sie nur von ungefähr nackend im Bade gesehen«. Dargestellt wird sie »als ein schönes ansehnliches Frauenzimmer mit fliegenden Haaren […], welche Pfeil und Bogen in den Händen hat«. Hederich 1770, Sp. 905 ff. (»Diána«).

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fräulichen Gefährtinnen, die sie begleiteten«, doch wehe »dem Mann, der sie beim Baden in den wilden Bächen und stillen Teichen erblickte!«427 Es ist aber wiederum das Käthchen, das Kunigunde im Bad sah, woraufhin sich Kunigunde entschließt, wie in der mythologischen Erzählung, das Käthchen sterben zu lassen. Das Bild drückt andererseits eine gewisse Scheu aus, die dem Käthchen zugeschrieben werden kann, besonders wenn sie im 4. Akt bei der Verfolgung der Angreifer über den Fluss zu gehen hätte und sich womöglich auf Grund eines Schamgefühls oder der nunmehrigen Angst vor Wasser – nach dem Zusammentreffen mit Kunigunde – nicht getraut. Käthchen (mit dem ersten Schritt ins Wasser). Ah! Gottschalk. Du mußt dich ein wenig schürzen428. Käthchen. Nun, beim Leibe, schürzen nicht! (sie steht still). (SWB I, 592, 1 ff.)

Oesterle bezeichnet, ausgehend von dem schamhaften Verhalten Käthchens, das Drama weniger als eines der Schuld, denn als eines der Scham.429 Hier lenke ich kurz das Augenmerk auf die Beziehung der Scham zur Autorität. Scham wird ausschließlich in Hinblick auf ein Gegenüber, die Gesellschaft, einen Moralkodex empfunden. Scham stellt damit ein gutes Instrument dar, um Menschen in einer Gemeinschaft zu kontrollieren, sie in Zwänge zu verstricken und ihrer auf diese Art und Weise leichter habhaft zu werden. Scham kann so als versteckter Ausdruck der Unterwerfung unter das Diktum des anderen verstanden werden.430 Im »Käthchen« ergeben sich also folgende Zuschreibungen zur Heiligen Familie und dem christlichen Mythos: Käthchen als Verkörperung von Maria431 427 Kerényi 1999, S. 116. 428 »[M]an schürzt sich meistens, um es sich bei einer thätigkeit leicht und bequem zu machen, nimmt das kleid hoch, damit es einem nicht behinderlich sei oder auch damit es nicht beschmutzt oder beschädigt werde. daher heiszt sich schürzen manchmal geradezu: sich zu etwas bereit machen, rüsten, anschicken […].« Eindeutig ergibt sich nach Grimm bei dem Bild eine Verbindung zu den Nymphen und Wassergottheiten, wodurch die Nähe zur Diana resp. Kunigunde gegeben ist. Grimm, DWB, Bd. 15, Sp. 2065 f. 429 Oesterle 2001, hier. S. 324 f. 430 Ariès, Philippe: Geschichte des Todes. Aus dem Französischen v. Hans-Horst Henschen u. Una Pfau. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2005, S. 787. 431 Eine weitere Verbindung zwischen der Heiligengeschichte der Maria und der Geschichte des Käthchens betrifft die Verfolgung des Grafen durch das Käthchen. Wie Käthchen dem Grafen folgt und jeden Morgen auf dem Weg nach Straßburg ihm vorausgeht, so geht auch Maria in »allen Weissagungen, die von Ihm [Jesus] handeln, […] Ihm voraus wie die Morgenröthe dem hellen Tage, wie der Morgenstern der Sonne«. Vollständiges HeiligenLexikon 1875, Bd. 4, S. 155 (»Maria, S. [1]«).

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und in Verbindung mit der Geburt Jesus – »Käthchen wird als Gotteskind und Welterlöserin entworfen«.432 Der Kaiser als der Übervater, Gott(vater) – in Konkurrenz mit Theobald, der zukünftige Gott und Käthchens Ziehvater, dem »nur eine Josephsrolle an seinem Kind«433 zukommt. Der Cherub als der Heilige Geist.434 Der Graf vom Strahl als Jesus – wie er des Öfteren von Käthchen angerufen wird –, Josef, in Hinsicht auf die Stallgeschichte, und in Bezugnahme auf die antike Mythologie Zeus435 – wenn auch z. T. in der Form des Stellvertreters. Kunigunde würde das Gegenprinzip zum Göttlichen erschließen, das dämonische Prinzip, das in derselben genealogischen Linie wie Gott steht. Schließlich haben wir noch die Rittersmänner, die in der Köhlerhütte eine Herberge suchen, um sich vor dem Unwetter zu retten. Sie geben, auf die Frage woher sie kommen, die fiktive Herkunft »Jerusalem« (SWB I, 536, 16) zur Antwort, um den wahren Grund ihrer Machenschaften zu verschleiern. Die Antwort verweist auf die mittelalterlichen Kreuzzüge436 und legt eine Deutung über die biblische Motivik nahe. Käthchen erkennt im Grafen vom Strahl die Darstellung eines Gottes, doch umgekehrt ist dieses Erkennen nicht gegeben; auch wenn der Graf ihr Wesen im Monolog als ein besonderes lobt und mit ihr ein »Geschlecht von Königen erzeugt« werden könnte, mit dem »Wetter vom Strahl […] jedes Gebot auf Erden« hieße. (SWB I, 531, 4 f.) Es bleibt dabei: Er erkennt ihr Wesen zwar als ein Gott ebenbürtiges an, doch seine Standesgrenzen vereiteln es ihm, dementsprechend 432 Greiner 2000, S. 183. 433 Ebd., S. 182. 434 »Der heilige Geist ist die geistige Kraft, die vom Vater ausgeht, die ganze geistige Kraft Gottes; er ist auch das Licht, aber in den einzelnen Ausstrahlungen Gottes. Der Sohn ist der Abgesandte des Vaters, er hat sich aus Liebe aufgeopfert und erniedrigt, durch seine Verbindung mit dem irdischen Element wird er diesem adäquater. Darin besteht auch eigentlich sein Leiden. Das spielende Ringen, der Äther, ist das umgebende himmlische Chaos, aber unvollendet, und insofern ist der Vater, von dem alle Vollendung herrührt, auch hier der Wirkung nach als der Mittelpunkt anzusehen. Die Liebe, als die Mutter aller Dinge, ist die erste und die letzte Stufe, insofern diese ja die vollendetste ist.« Schlegel, Friedrich: Theorie der Gottheit. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Philosophische Vorlesungen [1800 – 1807]. 2. Teil. Mit Einleitung u. Kommentar hrsg. v. Jean-Jacques Anstett. Paderborn: Schöningh 1964, S. 36 – 62, hier S. 38 (Hervorh. F. S.). »Die himmlische Luft oder das Licht, als das Prinzip der Vollendung und Verklärung aller Entwicklungen und Bildungen, könnte man als der Person des heiligen Geistes verbunden, gleichsam als Organon desselben in Beziehung auf die Natur und den Menschen betrachten.« Schlegel 1964, Theorie der Gottheit, hier. S. 38 (Hervorh. F. S.). 435 So wird er auch von einem seiner Knechte beim Schlossbrand mit »Blitz!« angesprochen, als er auf der Leiter zum Fenster hinaufsteigen will; eine andere Bedeutung des Ausrufs »Blitz« würde in diesem Zusammenhang wenig Sinn machen. »Graf vom Strahl. / Wo das Fenster offen ist. / Die Knechte (heben die Leiter auf). / O ha! / Der erste (vorn). / Blitz! Bleibt zurück, ihr hinten da! Was macht ihr? / Die Leiter ist zu lang!« (SWB I, 584, 1 ff.) 436 Siehe dazu: Grathoff, Dirk: Erläuterungen und Dokumente. Heinrich von Kleist. Das Käthchen von Heilbronn oder die Feuerprobe. Stuttgart: Reclam 2002, S. 30.

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zu handeln. Verhaftet in der Genealogie ist er nicht fähig, Käthchen als die anzusehen, die ihm der Engel im Silvestertraum gezeigt hat. Er ist sich Käthchens in der Gesamtheit ihres Wesens nicht bewusst.

5.2.3. Traum437 vs. Erscheinung Gonthier-Louis Fink liest den Doppeltraum438 in Hinblick auf seine orientalische Tradition und weist auf Verbindungen zu Darstellungen dieses Motivs in Texten Wielands hin. In der Schlussfolgerung seiner Arbeit liest er den »von Engeln inszenierten Doppeltraum« im Käthchen als die Verkörperung der vom reinen »Bewußtsein noch unberührte[n] Natur«, die Darstellung »selbstlose[r], aufopfernde[r] Liebe«.439 Franz Eybl spricht statt von einem Doppeltraum von »[z] wei komplementäre[n] Träume[n]«440 und verweist auf Fink. Ueding meint, dass das »Käthchen« »ein vollkommenes Stück Traumliteratur«441 sei. Es fällt schwer, bei dem als Doppeltraum bezeichneten Gebilde im »Käthchen« eindeutig von einem Traum zu sprechen. Käthchen und der Graf, so kann auch 437 »TRAUM […] in der bedeutung ›schlaftraum‹ […]. traum wird meist als germ. *draugma zu driugan ›trügen‹ gestellt […], wobei aber genau entsprechende lautliche parallelen fehlen. der deutung als bloszes ›trugbild‹ steht die tatsache entgegen, dasz man in alter zeit fest an die erfüllung des traumes glaubte und der traum überhaupt für den primitiven menschen hohen wirklichkeitsrang besasz […]. ursprünglicher anwendungsbereich ist der schlafzustand, da alle bedeutungen, die die vorstellung einer schlafsituation vernachlässigen, erst in der jüngeren und jüngsten entwicklungsstufe der sprache hervortreten.« Grimm, DWB, Bd. 21, Sp. 1436 (Hervorh. im Orig.). »Der Traum ist reine Ohnmacht gegenüber dem Geträumten, völlige Ausschaltung des Subjekts und seiner Selbstverfügung inmitten seiner Bilder mit der extremen Disposition zum Angstzustand; doch zugleich ist er die reine Herrschaft der Wünsche, die das Aufgewecktwerden zum Inbegriff aller Enttäuschungen macht, wie auch immer die Zensuren beschaffen sein mögen, unter die der psychische Mechanismus dabei gestellt ist.« Blumenberg 1979, S. 16 f. 438 Siehe: Ueding 1981, hier S. 178. Ebenso verweist Greiner auf die Besonderheit des Traums: »Das Motiv des Doppeltraums ist dem parapsychologischen Interesse der Zeit geschuldet, in diesem Sinne ein bestochener Zufall, der aber im Gefüge des Stücks nicht störend wirkt, weil er die Grundfigur, aus der das Stück entwickelt wird, das Gesetz der komplementären Entsprechung, erneut beruft und entsprechend bekräftigt.« Greiner 2000, S. 184. 439 Fink, Gonthier-Louis: Der doppelte Traum in Kleists Käthchen von Heilbronn. In: »Verbergendes Enthüllen«. Zu Theorie und Kunst dichterischen Verkleidens. Festschrift f. Martin Stern. Hrsg. v. Wolfram Malte Fues u. Wolfram Mauser. Würzburg: Königshausen & Neumann 1995, S. 159 – 175, hier. S. 175. Auch Debriacher liest den »doppelten Traum als […] ein gemeinsames Traumerlebnis an jeweils verschiedenen Orten«. Debriacher 2007, S. 94. 440 Eybl 2007, S. 162. Eybl stellt den komplementären Träumen Käthchen und Kunigunde als »komplementäre Frauenfiguren« zur Seite: »die eine als Inbild natürlicher Grazie vor jedem Bewusstsein […], die andere […] als Inbild berechnender Sozialtechniken im Sprach- und Zeichensystem begehrlicher Weiblichkeit«. Ebd. 441 Ueding 1981, hier. S. 178.

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gesagt werden, haben die gleiche Erscheinung, in der Form der »sichtbarwerdung, mit der idee des lichtes, glanzes im hintergrund«, eine »göttliche, geisterhafte« Erscheinung, die, auf Grund des Engels, der den Grafen führt, auch als »wirklicher eintritt« bezeichnet werden kann442 – und Käthchen spricht eindeutig von der Leibhaftigkeit. Sie begegnen einander in Käthchens Schlafkämmerlein, so als ob sie den anderen vor sich hätten. Günter Oesterle sieht den Unterschied zwischen einer leibhaftigen Erscheinung und einem Traum gerade in der »Intersubjektivität«.443 Brigitte berichtet, dass der Graf sich »halb vom Lager empor[hebt]« und »starrt, als ob er eine Erscheinung hätte, ins Zimmer hinein«. (SWB I, 550, 37 f.) Käthchen erzählt unter dem Holunderbusch dem Grafen, dass er ihr »[l]eibhaftig« (SWB I, 597, 26), wie er jetzt vor ihr steht, erschienen sei. Meiner Ansicht nach liegt in der Aussage des schlafenden Käthchens: »Leibhaftig, wie ich jetzt dich vor mir sehe« (SWB I, 597, 26), der Kern des Problems der Differenzierung zwischen Traum und Erscheinung. Käthchen will, dass, wenn es »wahr wär«, was die Mariane ihr prophezeit hat, ihr der Ritter im Traum gezeigt werden solle (SWB I, 597, 23 f.). Aber der Traum bezeichnet die »tätigkeit, das product, den zustand und die kraft des geistes, durch welche vorstellungen und gedanken zustande kommen, die an wirklichkeit und wahrheit nicht gebunden sind«.444 Wenn es also wahr werden soll, muss sich der Graf in der Erscheinung, dem »wirklichen Eintritt«445, zeigen. Der Wunsch, das nicht Vorhandene zu sehen, wird mit dem Traum ausgedrückt; damit der Wunsch aber in die Wirklichkeit eintreten kann, muss er in Form einer Erscheinung offenbart werden. Und Käthchen verwendet genau diese Formen: Zuerst spricht sie vom Traum, aber sobald der Graf erscheint, steht er »[l]eibhaftig« (SWB I, 597, 26) vor ihr. Der eigentlich zwei Dinge unfassende Wunsch Käthchens, dass es im Traum zu einer Erscheinung kommen solle, erinnert an die biblische Geschichte der Empfängnis Marias: Maria »erscheint«ein Engel446 und Josef »träumt« den »er442 Grimm, DWB, Bd. 3, Sp. 958; weiter: »[I]m gegensatz zur zweiten bedeutung, welche die verwirklichung einer sache oder eines zustandes ausdrückt, und im anschlusz an die erste, die den bloszen teuschenden schein enthalten kann, verwendet der philosophische sprachgebrauch erscheinung von den gegenständen, insofern sie nicht als dinge an sich selbst, sondern als sinnliche anschauungen erfaszt werden.« Ebd. 443 Oesterle 2001, hier. S. 307. »Die häufigen Versuche in der Forschung, die ›Erscheinungsgeschichte‹ im Käthchen von Heilbronn mit Hilfe des damals vieldiskutierten Magnetismus zu plausibilisieren, kann eine Reihe von Widersprüchen nicht ausräumen.« Ebd., S. 307. 444 Grimm, DWB, Bd. 21, Sp. 1438. »[D]er charakter dieses verhältnisses von subjectiver und objectiver wirklichkeit und wahrheit entscheidet über die bedeutungsnuancierung.« Ebd. 445 Grimm, DWB, Bd. 3, Sp. 958. 446 »Und der Engel kam zu ihr hinein und sprach: Sei gegrüßt, du Begnadete! Der Herr ist mit dir! Sie aber erschrak über die Rede und dachte: Welch ein Gruß ist das? Und der Engel sprach zu ihr: Fürchte dich nicht, Maria, du hast Gnade bei Gott gefunden. Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären, und du sollst ihm den Namen Jesus geben. […]

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scheinenden« Engel447; beiden wird die gleiche Geschichte weisgesagt, die Geburt des Messias. Wie bereits erwähnt, lässt sich noch eine weitere Verbindung ausmachen: Erst durch die Verkündigung des Engels nimmt Josef Maria als Frau an, er wollte sie verlassen, als er von der Schwangerschaft erfuhr, da er sich nicht in Schande bringen wollte. Ebenso nimmt der Graf das Käthchen erst an, als er das Mal an Käthchen entdeckt und von ihr die Geschichte nacherzählt bekommen hat – obwohl er sie selbst »erlebte«. Im Folgenden möchte ich zur Konkretisierung der Thematik Traum vs. Erscheinung noch das Augenmerk auf den Ort des Geschehens richten. Klaus Jeziorkowski spricht in Hinblick auf Kleist’sche Texte von gestalteten Texträumen: »Kleists Texte sind Räume.«448 So bezeichnet er in weiterer Folge auch die Träume: »Die Traumszenen sind als Raum-Wechsel inszeniert. Der Traum wird zum Raum-Ereignis, das die Entfernung zwischen Heilbronn und der Burg Wetterstrahl übergreift.«449 Bei der Holunderbuschszene spricht er von drei sich verschränkenden Räumen (dem Holunderbusch, dem Schlafkämmerlein und des Grafen Burg), die mittels des »zerbrochene[n] Blankvers[es]« miteinander verbunden sind.450 Die Verortung der Befragung Käthchens im Schlaf ist eindeutig – auch wenn der Ort selbst vielsprechender ist als vordergründig angenommen. Für den Ort des Geschehens, der Erscheinungen, kann die Form des Traum-Raums als irrealer Ort der Utopie451 angegeben werden. Die Utopie, als

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Da sprach Maria zu dem Engel: Wie soll das zugehen, da ich von keinem Manne weiß? Der Engel antwortete und sprach zu ihr: Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten; darum wird auch das Heilige, das geboren wird, Gottes Sohn genannt werden.« Lk. 1,28 ff. (Hervorh. im Orig.). »Die Geburt Jesu Christi geschah aber so: Als Maria, seine Mutter, dem Josef vertraut war, fand es sich, ehe er sie heimholte, dass sie schwanger war von dem Heiligen Geist. Josef aber, ihr Mann, war fromm und wollte sie nicht in Schande bringen, gedachte aber, sie heimlich zu verlassen. Als er das noch bedachte, siehe, da erschien ihm der Engel des Herrn im Traum und sprach: Josef, du Sohn Davids, fürchte dich nicht, Maria, deine Frau, zu dir zu nehmen; denn was sie empfangen hat, das ist von dem Heiligen Geist. Und sie wird einen Sohn gebären, dem sollst du den Namen Jesus geben, denn er wird sein Volk retten von ihren Sünden.« Mt. 1,18 ff. (Hervorh. im Orig.). Jeziorkowski, Klaus: Traum-Raum und Text-Höhle. Beobachtungen an dramatischen Szenen Heinrich von Kleists. In: Ist mir getroumet mîn leben? Vom Träumen und vom Anderssein. Festschrift für Karl-Ernst Geith zum 65. Geburtstag. Hrsg. v. André Schnyder. Göppingen: Kümmerle 1998, S. 215 – 224, hier S. 215. »Es sind Räume, in denen es Ebenen und Niveaus gibt, compartements, zwischen denen, ebenso wie die Leser, die Textfiguren sich hin- und herbewegen, sehr oft in elementar abrupten, häufig stürzenden oder sich aufrichtenden Bewegungen, die so charakteristisch für Kleists Werke sind.« Ebd., S. 216. Ebd., hier S. 218. Ebd., hier. S. 218 f. Etymologisch bezeichnet Utopie: »›Ideal, Undurchführbahres‹ […] gr. ou(ch), ouk ›nicht‹ und gr. tópos m. ›Ort‹. Die Neubildung durch Th. Moore (1575) als Bezeichnung des – nicht existierenden – Ortes, an dem sich der von ihm beschriebene ideale Staat befindet. Dann übertragen auf alles Ideale.« Etymologisches Wörterbuch 2011.

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übergeordnete Kategorie, kann sowohl die Form des Traums, die Form des Wunschbilds, als auch die der Erscheinung in sich aufnehmen – handelt es sich bei der Verortung eines Traums doch ebenfalls um einen Un-Ort, einen irrealen Ort, einen Raum der Imagination.

5.2.3.1. Schlafkämmerlein Käthchen bat zu Gott, dass, wenn die Prophezeiung Marianes aus dem Blei in der Silvesternacht wahr wäre, ihr der Ritter im Traum gezeigt werden solle. Der Graf liegt zur gleichen Zeit von »einer seltsamen Schwermuth«452 (SWB I, 550, 9) getroffen in seinem Bett und spricht »im Wahnsinn des Fiebers« (SWB I, 550, 13 f.): [E]er scheide gern, sprach er, von hinnen; das Mädchen, das fähig wäre, ihn zu lieben, sei nicht vorhanden; Leben aber ohne Liebe sei Tod; die Welt nannt’ er ein Grab, und das Grab eine Wiege, und meinte, er würde nun erst gebohren werden. (SWB I, 550, 14 ff.)

Daraufhin liegt er drei »hintereinanderfolgende Nächte« in seinem Bett und erzählt seiner Mutter, »ihm sei ein Engel erschienen«, der ihm zurief, er solle vertrauen (SWB I, 550, 18 ff.). Gestärkt würde er sich erst fühlen, wenn ihn der Engel – das versprach ihm dieser – in der Silvesternacht zu ihr, die ihn liebt, führt. In der Silvesternacht dann, zum Jahreswechsel, setzt er sich im Bett halb auf und »starrt, als ob er eine Erscheinung hätte, ins Zimmer hinein« (SWB I, 550, 37 f.), während er Zwiesprache mit seiner Mutter führt. Dann liegt er plötzlich wie tot da. Als er erwacht, ist er betrübt ob des Lichtes453, das in das Schlafkämmerlein Käthchens – wo ihn der Engel hingeführt hat – gebracht wurde. Daraufhin jedoch erholt sich der Graf von seiner Krankheit und wünscht zu leben, denn er war bei der Braut, die ihm »der Himmel bestimmt« (SWB I, 551, 33 f.) hat. Er entwich mit dem Engel an der Hand aus seinem Schlafgemach und wurde – wie bei einer übernatürlichen Erscheinung – zum Schlafkämmerlein Käthchens geführt. Sein Körper liegt nach wie vor in seinem Bett und wird von seiner Mutter sowie einem Arzt auf das ihm noch innewohnende Leben geprüft. Im Sinne des Dämonischen ist der Graf nicht bei sich, sondern außer sich, daher wird er von den seinen Körper Umstehenden als »wie todt« (SWB I, 551, 5) bezeichnet – keine Seele wohnt momentan in ihm. Kunigunde ist es, die diesen Zustand konkreter 452 »Wetter wünscht wohl noch sehnlicher als Käthchen, den ihn liebenden Menschen zu sehen, denn er leidet an einer ›seltsamen Schwermut‹ […] aus jugendlicher Selbstbezogenheit und -überschätzung, die ihn annehmen lassen, ›das Mädchen, das fähig wäre, ihn zu lieben, sei nicht vorhanden‹ […], keines also sei seiner würdig.« Horst 1996, hier S. 228. 453 »Die visionär im Wechselblick sich ereignende, scheinbar ideale Kommunikation zwischen Käthchen und dem Grafen Wetter vom Strahl wird im entscheidenden Moment unterbrochen.« Oesterle 2001, hier S. 305.

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definiert haben möchte: »Sie meint, einem Todten gleich.« (SWB I, 551, 11) Woraufhin Rosalie harsch ihrer Herrin antwortet: »Sie sagt, todt! Stört sie nicht. […].« (SWB I, 551, 13) Folgt man der Annahme, dass des Grafen Seele mit dem Engel in einen Raum der Utopie entschwunden ist, muss sich für den weiteren Handlungsverlauf Käthchen an demselben utopischen Ort befinden, wenn ihr der Graf um Mitternacht leibhaftig erscheint. Das Schlafkämmerlein stünde dann für den utopischen Ort einer Erscheinung, die Käthchen wie ein Traum vorkommt – es ist der Ort, an dem sie sich auch körperlich befindet und der im Moment der Erscheinung als »Gegenort« fungiert (handelt es sich dabei doch um einen Ort, an dem die Seele sichtbar wird). Der Ort der Utopie befindet sich außerhalb unserer erlebten Wirklichkeit. Utopien sind, mit Foucault gesprochen, Räume, »die in Verbindung und dennoch in Widerspruch zu allen anderen Orten stehen […]. […] Utopien sind Orte ohne realen Ort«.454 Es sind Orte, die in einem allgemeinen, direkten oder entgegengesetzten Analogieverhältnis zum realen Raum der Gesellschaft stehen. Sie sind entweder das vervollkommnete Bild oder das Gegenbild der Gesellschaft, aber in jedem Fall sind Utopien ihrem Wesen nach zutiefst irreale Räume.455

Übernatürliches bzw. nicht Reales lässt sich schwer denken. Um den Gedankengang zu erleichtern und einen größeren Grad an Verständlichkeit zu erzeugen, bedient man sich des Mythos. In diesem Fall greifen zwei Mythen: der Mythos der Doppelwesen und die Empfängnis Marias. Bei Letzterem handelt es sich um eine der seltsamsten Geschichten der Menschheit. Und von einer »wunderlichen« Geschichte spricht Rosalie, Kunigundes Kammerzofe, bei der Erzählung Brigittes über des Grafen Krankheit und die Verkündigung der nächsten Frau Wetter vom Strahl: »Hört nur, hört! Es ist die wunderlichste Geschichte von der Welt!« (SWB I, 550, 4 f.) Die Utopie als der Nicht-Ort ist eine Vorstellung, die tief in unserem Inneren verankert ist, ob ihrer Irrealität können wir aber immer nur ein von uns verfertigtes Abbild dieses Ideals wiedergeben. Um ein gemeinschaftliches Bild einer Utopie entstehen zu lassen, bedarf es des Mythos – wie z. B. auch bei der Verortung des Paradieses.456 454 Foucault 2005, hier S. 935. 455 Ebd. Diese Räume haben die Eigenschaft, dass sie »in Beziehung mit allen anderen Orten […] stehen, aber so, dass sie alle Beziehungen, die durch sie bezeichnet, in ihnen gespiegelt und über sie der Reflexion zugänglich gemacht werden, suspendieren, neutralisieren oder in ihr Gegenteil verkehren«. Ebd., S. 934 f. 456 »Obwohl der Garten Eden als Ursprung tatsächlich existierender Flüsse, wie des Euphrat, beschrieben wird, ist es nicht möglich, seine Lage geographisch festzulegen. In der griechischen Übersetzung des Alten Testaments heißt er ›paradeisos‹, ein Wort, von dem unser ›Paradies‹ abgeleitet ist.« Die Bibel 1999, Anhang, S. 310; weiter: »In jüdischen Kreisen erwartete man, dass das Paradies mit dem Lebensbaum […] in der Endzeit wiederkehren

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Bleiben auch einige Unsicherheiten offen, so wäre damit die ideale Kommunikation von Käthchem und dem Grafen in der Utopie verortet. Käthchen sieht des Grafen Erscheinung in der Utopie, an dem Ort, an dem sie dem Graf erscheint; sie bat aber zu Gott, dass ihr der Ritter im Traum erscheinen möge. Mit dem Traum erleben wir, wie oben gezeigt, auch das Trugbild, eine »sinnestäuschung«, ein »leibhaftig vor augen tretendes bild«, eine »erscheinung«.457 Käthchen hat während ihrer Erscheinung nicht nur den Grafen Wetter vom Strahl erkannt, der sie heiraten wird, sondern auch das Abbild Gottes, das er repräsentiert, ausgedrückt durch das Licht, das ihn umgab. – Zugleich kann das Licht auch dem Engel zugeschrieben werden und ist somit doppelt konnotiert: Ein Cherubim, mein hoher Herr, war bei dir, Mit Flügel, weiß wie Schnee, auf beiden Schultern, Und Licht – o Herr! das funkelte! das glänzte! – Der führt’, an seiner Hand, dich zu mir ein.« (SWB I, 598, 32 ff.)

Das von Käthchen beschriebene Licht kann als das Göttliche verstanden werden, das erhellt und erleuchtet. Dagegen kann man Marianes Licht, über das der Graf beim Aufwachen auch seinen Unmut äußert, mit dem irdischen Licht der Aufklärung in Verbindung setzen; dadurch steht es in Beziehung zur Vernunft, die (das Göttliche) verdunkelt anstatt zu erhellen. Es scheint, dass der Graf nach dem Erwachen von dem Licht derart geblendet ist, dass er die Bedeutung und die Tragweite der Erscheinung verkennt. Es ist die Blindheit der Macht, die den Grafen nicht erkennen lässt, dass das »Mädchen, das fähig […] [ist], ihn zu lieben« (SWB I, 550, 15), nicht nur vorhanden ist, sondern ihm sogar folgt wie sein eigener Schatten. Mit der Macht stellt sich wiederum eine Verbindung zur Utopie her. Die Institutionen der Macht bestehen nach Agamben in einem exterritorialen Raum458 ; sie haben sich einen eigenen Ort geschaffen, der außerhalb der allgemeinen Realität liegt. Es scheint, als ob Macht, werde […]. In der Gegenwart dagegen ist es verborgen, und zwar im dritten Himmel […]. Es galt nach jüdischem Glauben als Aufenthaltsort der verstorbenen Frommen in der Zeit zwischen ihrem Tod und der allgemeinen Auferstehung am Ende der Welt.« Ebd., S. 329 und: »Nach frühjüdischen Vorstellungen hat der Himmel mehrere ›Stockwerke‹; das Paradies dachte man sich im ›dritten Himmel‹ […].« Ebd., S. 319. Diese Vorstellung lässt sich sehr gut mit den von Jeziorkwoski angesprochenen Text-Räumen Kleists verbinden. 457 Grimm, DWB, Bd. 22, Sp. 1256 f. Wenn es sich um einen Traum handelt, dann kann es sich bei dem Bild des Grafen auch um ein Trugbild im Sinne einer Erscheinung handeln, einer »vorstellung, von der phantasie geschaffen und nur in ihr lebend. […] in künstlerischer absicht hervorgebracht […]. […] religiöse vorstellungen: indem ich dich (gott) zu finden, zu halten geglaubt, da hielt und umarmte ich ein gemächte meines gehirns und ein trugbild meines herzens […].« Ebd., Sp. 1258 f. (Hervorh. im Orig.). 458 Agamben 2002; Agamben, Giorgio: Ausnahmezustand. (Homo sacer II.1). Aus dem Italienischen v. Ulrich Müller-Schöll. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004.

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damit sie Beständigkeit hat, einen solchen irrealen Raum braucht, eine Utopie, um die gegebenen Verhältnisse aufrechterhalten zu können. Durch das Leben in der Irrealität der Machtinstitutionen lebt der Graf an der Realität vorbei und ein Erkennen ist von vornherein ausgeschlossen. Es bedarf der Einwirkung göttlicher Kräfte, damit dem »Gottesvertreter« die Augen geöffnet werden. Der Graf muss quasi aus einer Utopie (Macht) in eine andere Utopie (Erscheinung) geworfen werden, um die Realität wahrzunehmen. Doch selbst dann ist die Gewissheit des Erkennens nicht gegeben. 5.2.3.2. Holunderbusch459 Die Szene, in der sich der Graf bewusst wird, dass das Käthchen das Mädchen ist, das fähig ist ihn zu lieben, spielt wiederum an einem Ort, der mit Attributen des Irrealen beladen ist: unter dem Holunderstrauch. Es ist eine Szene, die nicht den Standeskonventionen entspricht, weshalb sich der Graf auch beeilen muss, um nicht erwischt zu werden.460 Einerseits zählt der Holunderbusch zu den »heiligen Bäumen«, steht also in Verbindung mit dem Göttlichen – insofern kann er als Pendant zur Eiche und deren Verschränkung mit dem Grafen gesehen werden –, zum anderen weist er eine ebenso »rätselvolle[] Beziehung zum Teufel und zu Hexen« auf und »oft auch zum Tod«461. Er ist eine Mischung aus Gut und Böse, stellt einen »Doppelbereich« dar. Noch dazu steht er mit Frau Holle, einer Märchenfigur, in Zusammenhang.462 Aber nicht nur der reale Ort ist umgeben von Wundermächten, Käthchen imaginiert schlafend einen weiteren Ort. Es ist wieder eine Utopie, eine arkadische Landschaft, in der sie sich begegnen. Das Käthchen berichtet im Schlaf von dem Ort, an dem sie den Grafen (sie sieht ihn wahrhaftig vor sich), der mit ihr spricht, erkennt: »Auf dem Schimmel. 459 Zur Sichtweise des Somnambulismus siehe: Barkhoff, Jürgen: Magnetische Fiktionen. Literarisierung des Mesmerismus in der Romantik. Stuttgart u. a.: Metzler 1995; Debriacher 2007; Eybl 2007; Fronz 2000; Greiner 2000; Weder 2008. Miran Kwak bringt den Somnambulismus bei Kleist mit dem Entwicklungskonzept Schuberts in Zusammenhang: Kwak 2000, S. 43 f., insbes. 3. Kapitel 73 ff. 460 Das Zusammenkommen der beiden auf diese Weise, die Befragung des Käthchens im Schlaf, das Hinlegen zu ihr, entspricht nicht den Standesgesetzen. Dessen ist sich der Graf bewusst. Er darf dabei nicht erwischt werden: »Doch rasch, ehe Gottschalk kommt, und mich stört.« (SWB I, 594, 4). Am Ende, als Gottschalk wirklich auftaucht, erhebt er das Käthchen, das vor ihm auf dem Boden flehend kniet mit der Bemerkung: »Geschwind erhebe dich! / Mach dir das Tuch zurecht! Wie siehst du aus?« (SWB I, 601, 9 ff.) 461 Beuchert 2004, S. 138. 462 »Häufiger jedoch wird der Name auf ›Holle‹, die ›Holde Gnädige‹ zurückgeführt. Diese frühgermanische Muttergöttin wandelte sich in eine mehr dämonische Gottheit des Hauswesens. Sie belohnte Fleiß und Ordnung (Frau Holle schüttelt die Betten aus, dann schneit es auf der Erde), aber ebenso bestraft sie Unordnung und Faulheit. […] Ihre Gaben sind eine merkwürdige Mischung von Lohn und Strafe, Segen und Fluch, Leben und Tod.« Beuchert 2004, S. 137 f.

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[…] Auf einer schönen grünen Wiese […], / Wo Alles bunt und voller Blumen ist.« (SWB I, 594 f., 35, 2 f.) Der Graf begibt sich in ihre Phantasie und betritt somit den Raum ihrer Imagination: »Ach, die Vergißmeinnicht! Ach, die Kamillen! / […] / Ich will vom Pferde niedersteigen, Käthchen, / Und mich ins Gras ein wenig zu dir setzen.« (SWB I, 595, 5 ff.) Es bedarf dieses imaginären Raums, um den Grafen erkennen zu lassen. Mit einfachen Fragen versucht der Graf, die Spannweite von Käthchens Gedächtnis abzuschreiten, und muss erkennen, dass Käthchen das vom Engel gezeigte Mädchen ist. Hier tritt das Mal als Erkennungszeichen in Kraft. Doch erst nach der Bestätigung des Kaisers wird er den Schritt wagen, sie endgültig als seine Braut anzuerkennen. Bei der Erwähnung des »leichten Hemdchen[s]« (SWB I, 599, 9), in dem Käthchen daliegt, kommt es zu einem Irritationsmoment in der Utopie. Zuerst streitet Käthchen des Grafen Beschreibung ab. Danach, als die Mariane mit dem Licht kommt, sagt sie selbst: »Ich lag im Hemdchen auf der Erde da«. (SWB I, 600, 9) Eybl erkennt darin das »sich selbst Lügen«463 strafende Käthchen und spricht, »im Gegensatz zu Kunigunde«, von Käthchen als ganz »mit ihrer Hülle verwachsen«.464 Zwischen den beiden Aussagen kommt es zu einer weiteren Irritation. Die erste Verunsicherung der unterschiedlichen Wahrnehmung wird mit der Erwähnung von Käthchens schwarzen Augen übergangen. Eigenartig daran ist, dass das Schlafkämmerlein zuvor noch mit Licht durchflutet war. Wenn das Käthchen nun den Grafen, der steht, anblickt, müssten die schwarzen Augen auf etwas anderes hinweisen.465 Käthchen erklärt die schwarzen Augen damit, dass 463 Eybl 2007, S. 181. 464 Ebd., S. 180. 465 An dieser Stelle komme ich auf den »Sprachessay« zurück. Gabriele Kapp hat darauf hingewiesen, dass dem Dunklen eine besondere Form der Klarheit zugeschrieben werden kann. Ich erinnere daran, dass sich im »Irritationskomplex des ›Dunklen‹ […] die Möglichkeit eines Zugewinns an Erkenntnis« ausdrücken kann«. Und Käthchen, die mit den schwarzen Augen sieht, ist es, die erkennt. Der Graf aber, der lichtumflossen in das Schlafkämmerlein tritt, wird geblendet. Günther Oesterle weist noch auf die Kritik an der Aufklärung an dieser Stelle hin, meint aber das Licht, das Mariane bringt, woraufhin die Erscheinung verschwindet. Kapp 2000, S. 380 f. und Oesterle 2001, hier. S. 313. Weiters finden sich die schwarzen Augen in einem Gedicht Goethes wieder, wo sie in Bezug zur Natur gesetzt werden. In »Willkommen und Abschied« werden die »hundert schwarzen Augen«, die in der »Finsternis aus dem Gesträuche« schauen, als Verbindung des Menschen mit der Natur verwendet: »Schon stand im Nebelkleid die Eiche, / Ein aufgetürmter Riese, da, / Wo Finsternis aus dem Gesträuche / Mit hundert schwarzen Augen sah.« Goethe, Johann Wolfgang von: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Gedichte 1756 – 1799. Bd. 1. Hrsg. v. Karl Eibl. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1987, S. 283. »Zum ersten Mal erscheint so die Natur in diesem Gedicht als menschliche und der Mensch als Natur, wobei deren Ambivalenz als schöpferische und zugleich bedrohliche, ja zerstörerische Macht […] betont wird. […] Immer […] bleibt sie das undurchdringlich andere, das Fremde schlechthin […]. In diesem Zusammenhang wird auch die Liebe zum bloßen

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sie »glaubt’[] es wär ein Traum.« (SWB I, 599, 24) In Verbindung mit dem Traum würden die »schwarzen Augen« auf die unsichere Liebe verweisen. In dieser Unsicherheit der Zuschreibung befinden wir uns auch in dem Moment unter dem Holunderbusch. Käthchen und der Graf erzählen sich gegenseitig eine gemeinsam erlebte Erinnerung. Doch Erinnerungen sind trügerisch und können bei zwei Personen Unterschiede aufweisen. Weiters ist anzumerken, dass Käthchen, als sie noch im Bett lag, dachte, das alles wäre ein Traum – in dem sie sich dann eventuell nicht im »bloßen leichten Hemdchen« geträumt hat – und erst mit dem Ortswechsel, dem Heraussteigen aus dem Bett und dem Knien vor dem Grafen, erkannte sie, dass es sich um eine Erscheinung und keinen Traum handelte. Der Ritter, bittet Käthchen, soll ihr im Traum erscheinen, doch da »erschien[…]« der Graf »[l]eibhaftig«. (SWB 597, 25 f.) Und Käthchen sah, »wie ich jetzt dich vor mir sehe« (SWB I, 597, 26), den Grafen »groß, mit schwarzem Aug’« an, weil sie »glaubt’, es wär ein Traum.« (SWB I, 599, 24; Hervorh. P. Sch.)

5.2.4. Der Wahnsinn Wahnsinn und Religion sind eng miteinander verbunden. Erst im Wahnsinn, im ekstatischen Zustand, öffnet sich der Mensch uneingeschränkt und wird so empfänglich für das Göttliche. Im »Käthchen« sind vor allem das Käthchen und der Graf vom Wahnsinn befallen und somit, neben ihren Charakterisierungen und Benennungen, dem Göttlichen in einer weiteren Form nahegestellt. Im tiefsten Wesen ihrer selbst erinnert sich Käthchen, als sie den Grafen zum ersten Mal in der Werkstatt des Vaters erblickt, dass sie den Grafen schon geschaut hat, sie spürt den Wuchs der Flügel, ist dem Wahn verfallen, sie könne fliegen. Der Graf unterliegt einer Form des Wahns, wenn er mit Fieber im Bett liegt und ihn der innere Kampf träumen und außer sich sein lässt. Und dem Wahn der Liebe zu Käthchen verfallen, tritt er im 5. Akt in Kunigundes Gemächer, um zu prüfen, ob es mit den Erzählungen über Kunigunde seine Richtigkeit hat. An dieser Stelle möchte ich auf die Frage zurückkommen, warum sich ein Mädchen »dreißig Fuß hoch, mit aufgehobenen Händen auf das Pflaster der Straße nieder[wirft]«. (SWB I, 508, 21 f.) Ich werde das »Käthchen« im Folgenden mit Platons Dialog »Phaidros« verschränken, da ich in diesem Dialog nachvollziehbare Motive für diese Tat fand. Außerdem ergaben sich weitere Ähnlichkeiten zwischen dem »Käthchen« und »Phaidros«. So z. B. bei der Szene im Naturphänomen, die wortlos nur auf Blicke sich verlassen muß. Solcherart verweist sie den Liebenden auf sich selbst zurück, der sich ihrer in keiner Weise sicher sein kann.« Goethe Handbuch. Bd. 1. Gedichte. Hrsg. v. Regine Otto u. Bernd Witte. Stuttgart, Weimar: Metzler 1996, S. 78.

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zehnten Auftritt, in der Kunigunde und Rosalie über die »Vogelschaukunst« philosophieren, bei der man »die Zukunft zu ermitteln aus Vogelflug und den anderen Zeichen« versucht.466 Ebenso kann die Erläuterung des Burggrafen von Freiburg bei der Beschreibung Kunigundes in die Nähe des »Phaidros«-Dialogs gebracht werden: »Der Mensch ist, nach Platon, ein zweibeinigtes, ungefiedertes Thier […].« (SWB I, 540, 1 f.) Das Ungefiedertsein wird mit der versehrten Seele erklärt. Der gesunden Seele wachsen Schwingen, die sie fliegen lassen. Jegliche Seele nimmt sich jegliches Unbeseelten an und durchwandelt den ganzen Himmel bald in diese, bald in jene Form eingehend. Ist eine vollkommen und mit unversehrten Schwingen, so zieht sie auf erhabener Bahn und durchwaltet den ganzen Weltraum; aber die ihre Schwingen gebrochen hat, treibt dahin, bis sie irgendwo eine sichere Stätte findet. Dort setzt sie sich dann fest und nimmt einen irdischen Leib an, der sich selbst zu bewegen scheint um ihrer Kraft willen; und nun heißt das Ganze, die Seele samt dem ihr verwachsenen Leib ein lebendes Wesen, und zwar mit der Nebenbezeichnung des Sterblichen […]. Aber die Ursache für die Einbuße der Schwingen, die der Seele ausfallen, wollen wir ins Auge fassen.467

5.2.4.1. Exkurs: Phaidros und der Sturz Käthchens Bei einem Sturz aus einem Fenster, das ›dreißig Fuß‹ hoch ist, wird der Person unwillkürlich eine Nähe zum Wahnsinn zugeschrieben. Zieht man die Indizien des Stückes zur Erläuterung des Wahns heran, zeigt sich, dass er in enger Verbindung zum Göttlichen steht: »mit Händen, wie zur Anbetung verschränkt […] stürzt sie vor ihm nieder, als ob sie ein Blitz niedergeschmettert hätte!« (SWB I, 507 f., 39/1 ff.) Geradeso erklärt sich ihr Antlitz, das »flammend auf ihn gerichtet« ist, »als ob sie eine Erscheinung hätte«. (SWB I, 508, 5 f.) Käthchen erkennt den Grafen, sieht ihn, erkennt das Göttliche (in ihm). Daher wirft sich Käthchen in der Höhle des Femegerichts auch vor dem Grafen in den Staub und bringt kein Wort mehr heraus. Es handelt sich um eine Gleichsetzung des Grafen mit dem Gott Jupiter/Zeus. Es ist ein Wahn göttlichen Ursprungs. [N]ach dem Zeugnis der Alten [ist] der Wahnsinn, manía, herrlicher als die besonnene Verständigkeit: sofern jener gottgewirkt ist, diese menschlich bedingt. Ferner hat auch in den schwersten Krankheiten und Nöten, die als Folge alten Götterzorns hin und wieder nach Generationen vorkommen, der Wahnsinn, der zur entscheidenden Zeit sich einstellte und prophetische Aufklärung gab, Befreiung gebracht, indem er zu Gebeten an die Götter und Handlungen in ihrem Dienst seine Zuflucht nahm, die ihn Sühn- und Weihemittel finden ließen, wodurch er die Menschen, die an ihm Anteil hatten, heil machte für die Gegenwart und für die Zukunft, Erlösung bringend dem richtig im Wahnsinn Schwärmenden und Besessenen von seinen gegenwärtigen Leiden.468 466 Platon 2004, S. 56. 467 Ebd., S. 58 f. 468 Ebd., S. 56.

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Dem Wahnsinn wird in jeder Religion eine besondere Bedeutung beigemessen, Heilige stehen prinzipiell in einer Verbindung zum Wahnsinn.469 Erst der ekstatische Zustand bietet wie gesagt die Möglichkeit der uneingeschränkten Öffnung des Menschen, um für das Göttliche empfänglich zu werden.470 Ebenso steht der Wahnsinn mit den Leidenschaften471 in Zusammenhang, die kurz vor dem Sturz im »Käthchen« einsetzen. Im Wahn stellt sich eine »ursprüngliche Beziehung des Menschen zum Göttlichen« dar. Diese Beziehung drückt sich »nicht durch die Vernunft, sondern den Wahn« aus; und die »Vernunft leitet den Wahn um in Liebe«.472 Die »absolute Liebe, sie verbindet Göttliches und Menschliches, das eine ist nichts ohne das andere«.473 Das Göttliche, der Wahnsinn und die Liebe bilden eine Trias. Die Verzückung, die Käthchen beim Anblick des Grafen befällt, »das Antlitz flammend auf ihn gerichtet« (SWB I, 508, 5 f.), lässt sich mit der von Menschen vergleichen, denen beim Anblick der Schönheit, in Erinnerung an das Göttliche, »[d]as Göttliche ist schön«474, »die Schwingen wachsen«475. Und wenn der Mensch ein göttergleiches Angesicht erblickt, das die Schönheit gut widergibt, […] dann durchrieselt ihn zuerst ein Schauer und Nachwehen der Angstbeklemmungen von damals beschleichen sein Gemüt; dann aber verehrt er den er vor sich sieht wie einen

469 Zu dieser Thematik siehe auch den Artikel von Friedrichs, Julia: Waren die Heiligen verrückt? In: ZEITmagazin. Nr. 14 vom 27. März 2013. 470 »Wahnsinn ist in dieser Ordnung auch die Bewegung, durch die man versucht, sich ihr zu entreißen, um zu Gott zu gelangen. […] Wahnsinn ist auch dieser Verzicht auf die Welt, ist auch die vollständige Hingabe an den dunklen Willen Gottes, ist auch jene Suche, deren Endpunkt man nicht kennt, und dies alles sind alte, den Mystikern vertraute Themen.« Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973, S. 53. 471 »[W]ahnsinn steht dann auch übertragen für zustände der erregung, in denen man der überlegung beraubt und durch die das klare urtheil getrübt ist, besonders unter dem banne von leidenschaften […]. dann erscheint die leidenschaft selbst als ein wahnsinn […].« Grimm, DWB, Bd. 27, Sp. 677 (Hervorh. im Orig.). 472 Zambrano 2005, S. 26. María Zambrano stellt dann auch den Verfolgungswahn, das Verfolgen, in einen göttlichen Zusammenhang. Und ich erinnere, dass sich der Grund der Klage Theobalds im »Käthchen« aus dem Ereignis einer Verfolgung ableitet. »Am Anfang war der Wahn; d. h. der Mensch fühlte sich beobachtet, ohne selbst zu sehen. So beginnt der Verfolgungswahn: Die unabdingliche Gegenwart einer unserem Leben übergeordneten Instanz, die die Wirklichkeit verdeckt und uns nicht sichtbar ist. D.h., sich beobachtet wissen, ohne jenen sehen zu können, der uns sieht. Und daher ist dieser Blick statt einer Quelle des Lichtes ein Schatten. Aber wie bei jedem menschlichen Wahn ist die Hoffnung gegenwärtig und hier vielleicht mehr als bei anderen Wahnformen, weil es der erste ist. Die Hoffnung ist im Schrecken gefangen; die Angst, sich beobachtet zu fühlen, enthält die Lust, es zu sein, und zudem die ganze geweckte Hoffnung, die zu dieser Gegenwart hindrängt, die sich enthüllt, indem sie sich verbirgt.« Ebd., S. 28. 473 Peter 2007, S. 31 – 83, hier S. 37. 474 Platon 2004, S. 59. 475 Ebd., S. 63.

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Gott; und, scheute er nicht den Schein hochgradigen Wahnsinns, so opferte er seinem Geliebten wie einem heiligen Weihebild und einer Gottheit. Und wie er ihn anblickt, befällt ihn wieder nach dem Schauer im Wechsel ungewohnte Hitze und Schweiß. Die Ausstrahlungen der Schönheit, die er mit seinen Augen aufgenommen hat, haben ihn durchglüht und wie Regen fällt es auf das sprossende Gefieder.476

Diese Befiederung erlangt aber nur der Geweihte. Dass Käthchen eine Geweihte ist, ergibt sich allein aus der Beschreibung ihres Vaters: »das Käthchen von Heilbronn, ihr Herren, als ob der Himmel von Schwaben sie erzeugt, und von seinem Kuß geschwängert, die Stadt, die unter ihm liegt, sie gebohren hätte«. (SWB I, 505, 24 ff.) Ebenso wie der Kaiser von göttlichen Himmelserscheinungen bei der Zeugung Käthchens spricht. Ein Wesen von zarterer, frommerer und lieberer Art müßt ihr euch nicht denken, und kämt ihr, auf Flügeln der Einbildung, zu den lieben, kleinen Engeln, die, mit hellen Augen, aus den Wolken, unter Gottes Händen und Füßen hervorgucken. (SWB I, 505, 15 ff.)

Käthchen hat das Göttliche gesehen und folgt nun »dem Gespanne der Götter«.477 So fühlt sie auch das Gefieder wachsen und meint zum Himmel aufsteigen und mit ihm mitfahren zu können. Rational lässt sich dieses Gefühl nicht begründen, es beruht auf einer Erkenntnis des schon Gesehenen, des Seins, aus dem jede Seele entsteht.478 Wenn nämlich einem Menschen beim Anblick der Schönheit hienieden in Erinnerung an die wahre Schönheit die Schwingen wachsen und er, sie regend, emporzufliegen sich sehnt, doch, da er dazu die Kraft nicht hat, nur in die Höhe blickt wie ein Vogel, unbekümmert um die Dinge am Boden: dann trifft ihn der Tadel, er sei in Wahnsinn befangen; aber eben d i e s e Verzücktheit erweist sich als die allerbeste und von der besten Herkunft für den der sie in sich hat und den der mit ihr Gemeinschaft haben darf, und die Teilnahme an dieser Art Wahnsinn ist es, was die Liebe zum Schönen ausmacht, um deretwillen man einen »verliebt« nennt. Denn wie gesagt, jede Menschenseele hat von Natur das Seiende geschaut; sonst wäre sie nicht in diese Lebensform eingegangen. Doch wird es nicht einer jeden leicht, von den Dingen hienieden aus sich an die droben zu erinnern: weder denen, die jene einst nur kurz geschaut haben, noch denen, die bei ihrem Sturz auf die Erde verunglückt sind, so daß sie in böse Gesellschaft gerieten und, zur Ungerechtigkeit sich wendend, das Heilige vergaßen, daß sie damals geschaut. So 476 Ebd., S. 65. 477 Ebd., S. 60. 478 »Das farb- und gestaltlose und untastbare Sein, das wirklich ist, läßt sich allein von dem Geist, dem Steuermann der Seele, erschauen; um dasselbe wohnt an diesem Ort das Geschlecht des wahren Wissens. Der göttliche Verstand nun, der mit Geist und reinem Wissen sich nährt, und der einer jeden Seele, der es vergönnt ist aufzunehmen was für sie paßt, indem sie nach langer Zeit einmal wieder das Sein erschaut, findet seine Befriedigung und erhält Nahrung und Wonne aus dem Anblick der Wahrheit, bis der Umschwung im Kreis auf denselben Punkt zurückgekehrt ist.« Ebd., S. 60.

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Wesentliche Implikationen des »Käthchens«

bleiben ihrer denn nur wenige, deren Erinnerungskraft stark genug ist. Wenn diese ein Abbild der Dinge droben erblicken, ergreift sie fassungsloses Erstaunen, doch wissen sie nicht was ihnen widerfährt, weil sie es nicht deutlich erkennen.479

Käthchen hat erkannt, hat das Seiende geschaut. Das Abbild löst Erstaunen und Scheu aus, aber auch die »Liebreize«480 des Schönen, des Grafen, machen sich bemerkbar. Sie fühlt ihre »Schwingen« wachsen und sehnt sich »mit aufgehobenen Händen« (SWB I, 508, 21 f.) emporzusteigen. Sie ist im Wahnsinn gefangen, »ihrer fünf Sinne beraubt« (SWB I, 508, 23) und folgt dem Geschauten. Käthchen folgt dem Grafen, wider alle gesellschaftlichen Konventionen, Schritt auf Tritt, »bereit dem Gegenstand ihrer Sehnsucht dienstbar zu sein und so nah, als ihr immer gestattet werden mag, bei ihm zu schlafen«.481 Sie lässt alles hinter sich zurück: »Eigenthum, Heimath und den Bräutigam« (SWB I, 509, 8), verschwindet und verlässt »[a]lles, woran Pflicht, Gewohnheit und Natur sie knüpften«.482 (SWB I, 509, 13 f.) Die Liebende, entfernt von allen/m, nur nicht von ihrem Geliebten:

479 Ebd.,S. 63 f. (Hervorh. im Orig.) 480 »Nun wallt sie und wogt bis zum Grunde; und ein Gefühl wie wir es beim Wachsen der Zähne an diesen empfinden, wenn sie eben hervordringen, dieses Jucken und diesen unbehaglichen Druck am Zahnfleisch – eben ein solches empfindet die Seele dessen, dem die Schwingen zu wachsen beginnen: es wallt und bohrt in ihr und wird ihr unbehaglich, wenn sie das Gefieder heraustreibt. So lang sie nun im Blick auf die Schönheit des Knaben Ausstrahlungen aufnimmt, die von dorther kommend ihr zufließen – ›Liebreize‹ heißen sie eben darum – und so befeuchtet und erwärmt wird, setzt ihre Pein aus und sie ist voll Freude; ist sie aber allein und vertrocknet, so werden zugleich auch die Mündungen der Kanäle trocken, durch welche das Gefieder hervordringen will, schrumpfen zusammen und wehren der Triebkraft des Gefieders. Diese mit dem Liebreiz innen abgesperrt, stößt, pulsierend wie die Schlagadern, gegen jeden einzelnen der hemmenden Kanäle, so daß die ganze Seele ringsum Stiche empfindet und in Aufregung und Schmerz versetzt wird. Zugleich aber ist sie doch auch wieder voll Freude, indem sie die Erinnerung des Schönen festhält. Indem beide Gefühle sich mischen, wird ihr unheimlich bei diesem seltsamen Zustand; ratlos wütet sie herum: die wahnsinnige Erregung läßt sie weder Nachts schlafen noch am Tage ruhig auf der Stelle bleiben, sondern sehnsuchtsvoll eilt sie nach den Orten, wo sie den Träger der Schönheit zu erblicken vermeint.« Ebd., S. 66. 481 Ebd., S. 67. 482 »Dem Bewußtsein in einer oder mit einer Geschichte zu leben geht zweifellos das Gefühl des Verlorenseins, des Ausgeliefertseins voraus. Und ganz gleich wie ausgereift die ›historische‹ Zeit und die wissenschaftliche Untermauerung sein mag, die der Mensch seiner Geschichte gibt, in der Tiefe der Seele, in dem, was wir das ›ursprüngliche Gefühl‹ genannt haben, werden wir uns immer steuer- und richtungslos fühlen, manchmal am Rande des ›Schiffbruchs‹, einer unbekannten Totalität ausgeliefert, die uns bewegt. Daß aus dieser Totalität, die uns umgibt und bewegt, etwas oder jemand herausragt, wenn auch anklagender Art, wird als eine ungeheure Erleichterung empfunden; denn dabei handelt es sich gleichsam um eine Freisetzung des Unbekannten und eine Anklage. Und die Anklage, so schrecklich sie auch sei, ist eine Zuerkennung, die offenlegt, was später ›Subjekt‹, Ich, genannt werden wird; irgendwie jemand zu sein.« Zambrano 2005, S. 85.

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Mutter, Brüder und Freunde hat sie sämtlich vergessen; daß das Vermögen, um das sie nicht sorgt, drauf geht, gilt ihr nichts; was Sitte und Anstand verlangen und sie zuvor sich zur Ehre rechnete, verachtet sie alles, bereit dem Gegenstand ihrer Sehnsucht dienstbar zu sein […].483 Seit jenem Tage folgt sie ihm nun, gleich einer Metze, in blinder Ergebung, von Ort zu Ort; geführt am Strahl seines Angesichts, fünfdrähtig, wie einen Tau, um ihre Seele gelegt […]. (SWB I, 509, 20 ff.)

In Käthchens Brust wallen vom Augenblick des Erkennens an zwei Gefühle – Verzückung und Angst. Die Verzückung ist stärker und dominiert ihr Verhalten. Allgemeine Wertvorstellungen sind außer Kraft gesetzt, allein der andere zählt, das Ziel darf nicht mehr aus dem Blickfeld geraten. Daneben herrscht die Angst, Angst sich im Wahnsinn zu verlieren, Angst auch vor dem Verlust des Geliebten, dem Verlust des Göttlichen. Angst macht auch, in der vorgegebenen sozialen Rolle zu erstarren, in der Permanenz der festgelegten Zuordnung des anderen (auf immer) verweilen zu müssen – obwohl das Göttliche erinnert wurde. Um entkommen zu können, muss sie sich gehen lassen, dem Wuchs des Gefieders nachgeben und dem Folge leisten, der das Gefieder sprießen hat lassen. Mit dem Sprung aus dem Fenster des väterlichen Hauses nimmt sie die Rolle einer Wahnsinnigen an. Dieser Wahnsinn, der »als göttliches Geschenk uns verliehen wird«, vermittelt uns »die wertvollsten Güter«.484 Käthchen wird geführt, gesteuert, bewegt von einer höheren Instanz. Sie hat ihr eigenes Sein geschaut.485 Sie kann nicht anders. Der »Unbewegte Beweger«, »von allen Göttern der menschliche Gott«486, leitet sie.487 Käthchens Sturz aus dem Fenster folgt der Bewegung des »unbewegten Bewegers«.488 Der Ratio bleibt ihr Verhalten fremd – es entspringt nach Zambrano 483 Platon 2004, S. 66 f. 484 Ebd., S. 55. 485 »Das menschliche Schauen findet nicht außerhalb des Lebens statt; es gibt kein ›objektives‹ Schauen und um so weniger des Nächsten, des Ähnlichen. Wir sehen in unserem eigenen Innern. Und das Schauen ist die Einheit dessen, der sieht; man sieht um so mehr, je näher man am identischen Sein ist, je vollkommener die Einheit des Schauenden ist.« Zambrano 2005, S. 234. 486 Zambrano 2005, S. 96 f. 487 Hier zeigt sich eine Parallele zum »Marionettentheater«, wo die Puppe allein durch ein Zucken des Maschinisten in Bewegung versetzt wird und sich der Maschinist, um die Puppe zu bewegen, in ihrem Schwerpunkt befinden muss. 488 »Die Reindarstellung des Widerspruchs gegen den Mythos ist in der Metaphysik des Aristoteles der unbewegte Beweger, der so großen Eindruck auf die christliche Scholastik machen sollte, weil er alle Bedingungen der Beweisbarkeit eines Gottes zu erfüllen schien. Seine Unbewegtheit ist auch der Inbegriff seines Desinteresses an der Welt. Seine theoretische Autarkie ist die Aufhebung aller Gewaltenteilung und Machtproblematik durch den schlichten Akt der Weglassung ihrer Voraussetzung: der Attribute der Handlung, des Willens, der Wirkungslust. […] Das epochale Mißverständnis, dies könne die begrifflich-

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Wesentliche Implikationen des »Käthchens«

dem Gefühl, nach Platon zugleich der Verzückung und der Angst angesichts des Göttlichen. Unerklärlich und unbegreiflich für alle, die nicht, in einer bewegten oder unbewegten Form, daran beteiligt sind/waren. So kann auch erklärt werden, weshalb der Graf über den Sturz Käthchens nicht sonderlich überrascht ist. Doch ein sprachliches Zeugnis für den göttlichen Wahn zu geben, das ihre Tat rechtfertigen könnte, scheint unmöglich. Die Frage: »Was fesselt dich an meine Schritte an?« (SWB I, 518, 18), kann nicht beantwortet werden. Wie könnte Käthchen auch, sie folgt einer inneren Bewegung, sie folgt ihrem Gefühl, sie folgt sich.489 Sie kann kein Geständnis von etwas ablegen, was nur ihre Seele begreift. Mein hoher Herr! Da fragst du mich zuviel. Und läg’ ich so, wie ich vor dir jetzt liege, Vor meinem eigenen Bewustsein da: Auf einem goldnen Richtstuhl laß es thronen, Und alle Schrecken des Gewissens ihm, In Flammenrüstungen, zur Seite stehn; So spräche jeglicher Gedanke noch, Auf das, was du gefragt: ich weiß es nicht. (SWB I, 518, 20 ff.)

Vom göttlichen Wahnsinn kommen wir zu dem Motiv der Engel im »Käthchen«. Denn es sind die Wahnsinnigen, die Gottgeweihten, denen Engel erscheinen; und das sind in dem Fall das Käthchen und der Graf. 5.2.4.2. Engel490 Das Göttliche, Übernatürliche, Phantastische bestimmt den Lauf des »Käthchen«, beeinflusst die Figuren in ihrer Entwicklung. Das Motiv des Engels kommt dabei nicht von ungefähr, es hat in der Romantik Tradition. Für die Attraktivität des Engelsmotivs im Kontext der romantischen Ästhetik sind mehrere Ursachen maßgeblich. Erstens entstammt gerade das Motiv jener Sphäre des Glaubens und der Religion, welche als Chiffren-, Metaphern- und Modell-Fundus »besetzt« werden; mit Engeln konnotiert ist eine Transzendierungsbewegung über das Irdische und Endliche hinaus. Zweitens spielen Engel als Mittler zwischen den differenten Sphären des Endlichen und des Unendlichen eine signifikante Rolle. Ihr Ersystematische Fassung des biblischen Gottes sein, ist nahezu unfaßbar, da doch Autarkie das gerade Gegenteil dessen ist, was den Heilsaufwand dieses Gottes für den Menschen nicht nur verständlich, sondern auch glaubwürdig machen sollte.« Blumenberg 1979, S. 36. 489 »Wenn nun offenbar das von sich selbst Bewegte unsterblich ist, so wird man unbedenklich gerade darin das Wesen und die Begriffsbestimmung der Seele suchen dürfen. Denn jeder Körper der seine Bewegung von außen erhält ist seelenlos, aber einer der sie von innen erhält, aus sich selbst, ist beseelt: dies eben ist die Natur der Seele.« Platon 2004, S. 58. 490 »[E]in durch das christenthum in alle neueren sprachen überführtes wort, weil für den himmlischen boten und geist kein heimischer ausdruck geeignet schien […].« Grimm, DWB, Bd. 3, Sp. 472.

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scheinen als Verkündigungs- oder Auferstehungs-Engel markiert Wendepunkte in der Heilsgeschichte, und zwar solche, die an sprachliche Vorgänge geknüpft sind. Das Wort beweist anläßlich der Engelsbotschaft seine geschichtsprägende Kraft. Drittens sind mit Engeln diverse Ideen und Motive konnotiert, die im Kontext ästhetischer Autoreflexion fruchtbar gemacht werden können (und schon früher entsprechend eingesetzt wurden): Das Bildfeld um Flügel und Flug, die Idee einer Überwindung raum-zeitlicher Distanzen, die erwähnte Idee einer Engelssprache wie überhaupt die enge Bindung der Boten an das Wort. Viertens bestehen Affinitäten zwischen dem Engelsmotiv und der Idee künstlerischer Inspiration, der Vorstellung also, der Künstler artikuliere Höheres als nur die Ideen und Gedanken eines endlichen und einzelnen Wesens.491

Als Wendepunkt im »Käthchen« kann die Furcht des Kaisers vor dem nochmaligen Herabsteigen eines Cherubs gesehen werden. Deshalb muss der Kaiser das Käthchen als seine Tochter anerkennen und sie in die genealogische Linie seines Geschlechts aufnehmen. Der Kaiser setzt noch zur Bedingung, dass der Graf von der »Buhlerin, an die er geknüpft ist«, lässt, erst dann würde er »die Verkündigung wahrmachen«. Außerdem gilt es, »den Theobald, unter welchem Vorwand es sei«, zu bewegen, »daß er […] dies Kind abtrete, und sie mit ihm verheirathen müsse[]: will […] [er] nicht wagen, daß der Cherub zum zweitenmal zur Erde steige und das ganze Geheimniß, das ich hier den vier Wänden anvertraut, ausbringe!« (SWB I, 612 f., 34 f., 1 ff.) Der Kaiser wird von Angst getrieben. Die Angst, dass das Volk alles entdecken könnte. Der Kaiser wollte sich »erlaben« (SWB I, 612, 21) und ging zu diesem Zweck in einen vom Volk weniger gut besuchten Teil eines Gartens und traf dort Gertrud, »beim Schein verlöschender Lampen, während die Musik, fern von dem Tanzsaal her, in den Duft der Linden niedersäuselte«. (SWB I, 612, 25 ff.) Er unterhielt sich mit ihr und zeugte im Zuge dieser »Unterredung« mit Gertrud Käthchen.492 Dass die Zeugung nicht für beide Seiten eine Erquickung darstellte, wird klar, wenn der Kaiser erzählt, dass er sich, »als sie sehr weinte«, ein »Bildniß Papst Leo’s[] von der Brust los machte, und es ihr, als ein Andenken von mir, den sie gleichfalls nicht kannte, in das Mieder steckte«.493 (SWB I, 612, 28 ff.) 491 Schmitz-Emans, Monika: Engel in der Krise. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft. 38. Jg. (2003), S. 111 – 138, hier S. 113 f. 492 Diese Vorgehensweise ist aus der antiken Mythologie bekannt. Im Besonderen bei der Darstellung des Zeus: »Wie er in der Liebe ungemein ausschweifete, so wird er auch für den Urheber des Ehebruchs gehalten. […] Er nahm auch noch mehr Gestalten an, als erzählet worden, seinen Leidenschaften ein Genügen zu thun; wie z. B. die Gestalt eines Adlers […].« Hederich 1770, Sp. 1407 ff. (»Ivppiter«). 493 Es ist die Angst vor der Entdeckung einer Vergewaltigung, denn die Frau, Käthchens Mutter, »als sie sehr weinte« (SWB I, 612, 28), bekam als Trostpflaster ein Bild des Papstes, vom Kaiser – eindrucksvoller lässt sich die Vermischung der zwei staatslenkenden Gewalten, in ihrer Regentschaft über das Volk, kaum darstellen. Siehe außerdem: Greiner 2000, 192 f.; und weiters macht Greiner auf einen Kommentar der ihm zugrunde liegenden KleistAusgabe aufmerksam, in der ein Streit zwischen Luther und Papst Leo X. erwähnt wird,

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Wesentliche Implikationen des »Käthchens«

Die Ebenen des Sinnlichen und Übersinnlichen vermischen sich im »Käthchen«494, Realität vermischt sich mit Irrealität, und oft fällt es schwer zu erkennen, ob wir uns an einem utopischen oder einem realen Ort befinden. Genau an diesen Zwischenorten und Nicht-Orten zeigen sich im »Käthchen« die Engel. Der Graf wird in seiner Erscheinung von einem Engel an der Hand zum Käthchen geführt – in die Utopie. An den kosmologischen Orten, bzw. auf dem Weg dorthin, erscheinen Engel, die Repräsentanten und Helfer Gottes, die Mittler und Boten.495 Die Funktion des Boten treffen wir im »Käthchen« mehrmals an: Wenn der Graf immer wieder Boten zu Theobald nach Heilbronn schicken lässt, um ihn von der Anwesenheit Käthchens zu unterrichten. Dann kommt der Bote, der den Krieg bringt (SWB I, 532, 1 ff.), wie in der Offenbarung die Engel, als die das Unheil bringenden auftreten. Rosalie, als Vermittlerin der Botschaft des Silvestertraums des Grafen, ist ihrem Namen nach die göttliche Botin schlechthin.496 Obendrein wird Käthchen zur Botin497, wenn sie vor dem Sturm auf das Schloss von Thurneck warnt. Als Mittler oder Verkündigungsengel tritt ein Cherub gemeinsam mit dem Grafen bei der Erscheinung in der Silvesternacht auf. Ein Engel führt den Grafen zum Käthchen hin, leitet seinen Weg. Die Erwähnungen des Lichts in dieser Darstellung können auf zweierlei Weise verstanden werden. Einerseits kann damit das himmlische Licht des Engels, der Erscheinung, gemeint sein, andererseits das himmlische Licht des Grafen, als Rekurs auf seinen Namen und seine göttliche Abstammung. Aufmerksam machen möchte ich an dieser Stelle auf die Tatsache, dass der Graf vom Engel geführt wird: Der Graf an der Hand des Engels

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»woraus dann das größte Schisma der christlichen Kirche erwachsen ist. Luther wurde nicht müde, den Papst generell als den Hort der Lüge, ja als den Antichristen zu schildern. Ein Kaiser, weltlicher Stellvertreter Gottes auf Erden, dem eine Frau aus dem Volk einfach zur Lust zu dienen hat und der dabei seine Kaiserwürde von einem Papst erhalten hat, dessen Anspruch, geistlicher Stellvertreter Gottes auf Erden zu sein, zutiefst in Frage gestellt ist: mit solchen Stellvertretern konnte die mythische Hochzeit von Himmel und Erde allenfalls partiell gelingen.« Ebd., S. 194. »Je schärfer in einem ästhetischen Konzept der Kontrast zwischen Sinnlichem und Übersinnlichem akzentuiert wird, desto wichtiger sind Bilder der Vermittlung, Modelle der Kommunikation zwischen den ontisch differenten Sphären. Kunst und Poesie sollen eine solche Kommunikation begründen. Und sie sollen zudem selbst begründen, daß sie dergleichen überhaupt zu leisten vermögen. In dieser verzwickten Situation entdecken die Romantiker die Figur des Engels neu.« Schmitz-Emans 2003, hier S. 113. »Die ›klassische‹ Funktion des Engels besteht in der Vermittlung zwischen Immanenz und Transzendenz. Engel, Boten, sind Zwischenwesen und Grenzgänger; sie unterliegen nicht den räumlich-zeitlichen Beschränkungen der Sterblichen, und sie verfügen über eine Engelssprache, welche die Kommunikation zwischen Irdischem und Überirdischem erleichtert, da sie aus ›wahren‹ Zeichen besteht.« Schmitz-Emans 2003, hier S. 113. Siehe Fußnote 350 (Kap. 4.2.). Klüger, Ruth: Die andere Hündin: Käthchen. In: Euphorion (89), 1995, S. 103 – 115, hier S. 111.

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folgt diesem in das Schlafkabinett des Käthchens. Bei Käthchens Erscheinung des Cherubim, mit dem der utopische Ort einer Unversehrtheit angezeigt wird, der es Käthchen erlaubt, unverletzt aus einem zusammenfallenden Gebäude zu treten, stellt sich uns ein entgegengesetztes Bild dar. Außerdem wird die Form einer Gegenrealität in der beschriebenen Szenerie und der darauf folgenden Anrede an den Engel deutlich. Käthchen (tritt rasch, mit einer Papierrolle, durch ein großes Portal, das stehen geblieben ist, auf; hinter ihr) ein Cherub (in der Gestalt eines Jünglings, von Licht umflossen, blondlockig, Fittige an den Schultern und einen Palmzweig in der Hand). Käthchen (so wie sie aus dem Portal ist, kehrt sie sich, und stürzt vor ihm nieder). Schirmt mich, ihr Himmlischen! Was widerfährt mir? Der Cherub (berührt ihr Haupt mit der Spitze des Palmzweigs498, und verschwindet.) (SWB I, 584 f., 32 ff., 1 ff.; Hervorh. P. Sch.)

Auffällig ist, dass Käthchen dem Engel voraus geht, als ob sie ihn führen würde oder aber seiner Führung, im Gegensatz zu dem Grafen, nicht bedürfte. Die Darstellung des vorausgehenden Käthchens kann auch als Bild verstanden werden, dass Käthchen in der Form der Analogie mit dem Engel in Verbindung steht – des Gottes/Grafen rechte Hand ist, sein Helfer (auf dieses Bild werde ich später noch einmal zurückkommen). María Zambrano meint, dass der Engel immer denen erscheint, die die Einsamkeit erlangt haben: »Er ist das heilige Abbild der Einsamkeit.«499 Das lässt sich für Käthchen insoweit nachvollziehen, als sie, nachdem sie dem Grafen versprechen musste, ihm nicht mehr zu folgen, die Leere, die der Verlust des »Vertrauten der Auserwählten« (SWB I, 612, 34) hinterlassen hat, verspürt und ebenso während des Schlossbrands, allein auf sich gestellt, göttlicher Hilfe bedarf. Des Weiteren passt die Zuschreibung auf den Zustand des Grafen, als ihm der Engel erscheint, denn Kranke sind – zumindest was ihre Krankheit anbelangt – auch allein, besonders wenn sie sich in einem komaartigen Zustand befinden. Käthchen beschließt, nachdem sie sich vom Grafen losgesagt hat, in die Einsamkeit des Klosters zu gehen. Auf diesem Weg taucht wieder das Engelsmotiv auf. Ihr Vater und Gottfried, ihr ehemaliger Verlobter, begleiten sie. Gottfried glaubte, dass sie sie nur den halben Weg führen müssten, da »zwei Engel kom498 Der Palmzweig steht in der Bedeutung für: »[Z]weig (langes blatt) des palmbaums, auch zweig der palmweide; eigentlich und (wie schon bei den Römern und Juden) als symbol des sieges und des dadurch errungenen friedens, in der christlichen zeit dann auch als attribut der engel und märtyrer, der gerechten […].« Grimm, DWB, Bd. 13, Sp. 1420. Psalm 92,13: »Der Gerechte wird grünen wie ein Palmbaum, er wird wachsen wie eine Zeder auf dem Libanon.« Es ist die Freude der treuen Gottgläubigen über die Heiden, die Verruchten, Gottlosen. Kunigunde, in der kein Gott wohnt, die Übeltäterin, wird vergehen, und Käthchen wird wie die Palme, wie die Zeder im Libanon blühen. 499 Zambrano 2005, S. 232.

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men [würden], Jünglinge, von hoher Gestalt, mit schneeweißen Fittigen an den Schultern« (SWB I, 559, 30 ff.) und ihnen das Käthchen abnähmen. »Doch es war nichts«, sie mussten sie »bis ans Kloster« bringen. (SWB I, 560, 2) 5.2.4.3. Kloster Der Gang ins Kloster ist dramaturgisch gesehen außerordentlich wichtig. Das Kloster nicht als der irdische Ort, an dem sich Gottgeweihte aufhalten, um Gott möglichst nahe zu sein. Im »Käthchen« wird es der Ort des Wendepunktes im Drama. Durch den Gang dorthin erfährt Käthchen von dem Anschlag auf die Burg Thurneck, auf der sich der Graf befindet, und kann ihn warnen/retten.500 Als der Vater erkennt, dass es Käthchen mit dem Gang ins Kloster ernst meint und es sich nicht um eine jugendliche Flause eines Mädchens handelt, das seinen Prinzen nicht bekommen hat, schlägt er ihr vor, wieder zu dem Mauerring beim Holunderbusch zu gehen. Er selbst würde beim Grafen um Erlaubnis darum bitten. Käthchen lehnt jedoch ab. Als der Vater sich dann auf die gleiche Art, wie sie es sonst vor dem Grafen tut, ihr zu Füßen wirft und ihr verspricht, den Grafen auf eben diese Weise anzuflehen, begründet er sein Einlenken und seine Bitte vor dem Grafen mit: »Es ist besser, als daß sie [Käthchen] vor Gram vergehe.« (SWB I, 563, 14 f.) Falk Horst meint dazu, dass nur noch diese »Selbstverleugnung […], die Tochter vor der letzten Konsequenz ihrer hoffnungslosen Liebe zu retten« vermag. Dass sich Käthchen schließlich von dem Gang ins Kloster abwendet, schreibt Horst der Liebe des Vaters zu, die sie »vor einem Verzweiflungsschritt« zurückhält.501 Gott im höchsten Himmel; du vernichtest mich! Du legst mir deine Worte kreuzweis, wie Messer, in die Brust! Ich will jetzt nicht mehr ins Kloster gehen, nach Heilbronn will

500 Die erste Szene im 3. Akt, der Weg ins Kloster, bietet neuerlich auch Elemente grotesker Komik, die ebenfalls in den darauf folgenden Auftritten zu bemerken ist. Sie äußert sich u. a. in Wort- und Sprachspielen, die an den »Sprachessay« erinnern; die Bedeutungen, die Redepartner einem Wort oder einem Satz geben, kann mitunter stark differieren. Anzuführen ist auch die komische Szene der vertauschten Briefe (vierter Auftritt, 3. Akt), wo der, der sie selbst versiegelte, nicht mehr weiß, welcher nun welcher ist. Im dritten Auftritt gibt Eginhardt, der Botschaft von den Vorgängen auf Schloss Thurneck bringen soll, einen weiteren Beweis für das Trügerische an Kunigundes Wesen. Er berichtet von ihrer (Brief-) Antwort auf des Grafen Antrag, seine Frau zu werden und dadurch die Herrschaft Stauffen zu erlangen: »Sie sey so gerührt, daß ihre Augen, wie zwei Quellen, niederträufelten, und ihre Schrift ertränkten; – die Sprache, an die sie sich wenden müsse, ihr Gefühl auszudrücken, sei ein Bettler. – Er habe auch ohne dieses Opfer, ein ewiges Recht an ihrer Dankbarkeit, und es sei, wie mit einem Diamanten, in ihre Brust geschrieben; – kurz, einen Brief voll doppelsinniger Fratzen, der, wie der Schillertaft, zwei Farben spielt, und weder ja sagt, noch nein.« (SWB I, 567, 25 ff.) 501 Horst 1996, hier S. 234.

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ich mit dir zurückkehren, ich will den Grafen vergessen, und, wen du willst heirathen; müßt’ auch ein Grab mir, von acht Ellen Tiefe, das Brautbett502 sein. (SWB I, 563, 18 ff.)

Ich widerspreche der Ansicht, dass der Schritt Käthchens aus einer Verzweiflung heraus geschieht. Denn das Kloster ist der Ort, an dem sie Graf Wetter, (ihrem) Gott, wenn nicht auf physische, so doch auf spirituelle Weise in Form der Anbetung am nächsten sein könnte. Es ist also genau der gegenteilige Schritt; keine Abwendung vom Grafen, sondern m. M. nach eine bewusste Annäherung, die ihr nicht verboten werden kann. Unübersehbar bei dieser Szene sind die Steigerung der väterlichen Macht und die Verschränkung mit dem Göttlichen, sowie das Moment der Ironie. Der eine will immer das Gegenteil des anderen. Theobald müsste eigentlich froh darüber sein, dass Käthchen den Grafen nicht mehr verfolgt und keine Schande mehr über sein Haus bringt. Doch den gänzlichen Verlust von Käthchen hält er nicht aus. Auch im Kloster, dem Ort der Weltabgewandtheit, wäre sie für ihn verloren. Er könnte ihrer dort nicht habhaft werden, hätte keine Macht über sie. So ist es ihm lieber, sie verehrt den Grafen vor dessen Burg hausend. Daraufhin beschließt das Käthchen aber, »weder« ins Kloster »noch« zur Burg des Grafen zu gehen, sondern dem Wunsch ihres Vaters zu folgen und wen auch immer zu heiraten – selbst den Tod schließt sie nicht aus. Sofort meint Theobald nun: »Ich will dich ins Kloster bringen!« (SWB I, 563, 29) Käthchen weigert sich weiter und will lediglich ein Nachtlager im Kloster haben, um am nächsten Tag zurückzukehren und sich den Wünschen ihres Vaters zu beugen. Es ist ein andauerndes Hin und Her. Und immer gerade in dem Moment, in dem der eine nachgibt und einlenkt, schert der andere wieder aus und entfernt sich aufs Neue. Die Stelle ist stark von Ironie geprägt, sie zeigt das »Unvorhergesehene und das Paradox«503 wie aufs Exempel. Dem Anschein nach wird, aus Liebe, auf eigene Wünsche, Verlangen, Begehren verzichtet. Doch wird durch dieses Verhalten insgeheim wiederum ein Mehr an Zuwendung und Liebesnahrung erhofft. Dies erkennend, lenkt der andere ein und will selbiges geben, um ebenfalls ein Mehr zu erhalten. Jankélévitch nennt diese Form der »liebende[n] Zurücknahme« einen »ganz einzigartigen Fall von universio«504 : Über seine Geliebte zu lächeln, was man liebt entfernen, damit die Liebe durch die Abwesenheit stärker wird, nein sagen, wenn man ja meint, das sind im Leben des 502 Diesen Wunsch kennen wir vom Graf vom Strahl, der, als er todkrank im Bett lag, sagte: »Leben […] ohne Liebe sei Tod; die Welt nannt’ er ein Grab, und das Grab eine Wiege«. (SWB I, 550, 16 f.) 503 Jankélévitch, Vladimir: Die Ironie. Aus dem Französischen v. Jürgen Brankel. Berlin: Suhrkamp 2012, S. 78. 504 Ebd.

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Wesentliche Implikationen des »Käthchens«

Herzens ganz gewöhnliche Umkehrungen, obschon die Gedankenlosen darauf ständig hereinfallen. […] Aber die universio ist ein noch allgemeineres Gesetz: Schmerz, Anstrengung und Reue stellen drei Typen der metaphysischen Vermittlung dar, in denen man sieht, wie sich das Bewusstsein verleugnet, um sich besser zu behaupten […]. […] Daher ist der Wille ironischer und intelligenter als das Begehren: Denn das Begehren will den Zweck, aber nicht die Mittel; es will den Zweck sofort, magisch und naiv, aber nicht dialektisch; es will ohne jede Ordnung das Mögliche und das Unmögliche, […] denn es denkt überhaupt nicht an das Nacheinander der Handlungen; es ist also entschlusslos und platonisch. Dagegen ist Wollen – was Wollen heißt – zu den Zwecken durch die Mittel streben, zusammen den Zweck und die Mittel wollen – die Mittel, die die umgekehrten Zwecke sind. […] Die Menschen wollen nicht, was sie tun, sondern das, wozu sie tun, was sie tun.505 (Hervorh. V. J.)

Diese Beschreibung passt gut auf die zuvor dargestellte Szene. Und im Rahmen dieser Ironie wäre allem Anschein nach alles wieder ins Lot gebracht, zumindest für Theobald und Gottfried; doch ihre Rechnung haben sie ohne das Schicksal gemacht, das zufällige Zusammentreffen eines Boten (Engel) mit Käthchen im Kloster, wodurch »durch Gottes Fügung« (SWB I, 572, 28) Käthchen in die Rolle der Botin schlüpfen kann, um den Grafen vor drohendem Unheil zu warnen. In diesem Bild ist das Motiv der Wahnsinnigen, die erst durch ihren Wahn für das Göttliche zugänglich ist, mit dem des Engels als Boten verschränkt. Der Engel, der sich nur den vom Wahnsinn Getroffenen zeigt – und die Wahnsinnige, die zum Engel, zur Botin wird.

5.2.5. Resümee Im »Käthchen« finden wir ein permanentes Spiel mit mythologischen Bezugssystemen vor. Dabei geht es, mit Blumenberg gesprochen, hauptsächlich um die narrativen Kerne, kaum um eine detailgetreue Wiedergabe überlieferter Geschichten. Mit einer getreuen Wiedergabe althergebrachter Darstellungen blieben die alten Ordnungen aufrecht. Das Bestreben der Zeit war es jedoch, Bestehendes neu zusammenzusetzen und daraus etwas Neues entstehen zu lassen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Weiters hat sich gezeigt, dass im »Käthchen« mit utopischen Bildern gearbeitet wird, die Vorhersagen, Wünschen, einem Zukunftsdenken entsprechen – wie bei den Mythen. In dieser Hinsicht wären auch die Bilder des christlichen Mythos, z. B. der Geburt des Heilands, als in einer Utopie zu verortende anzusehen. Besonders hervorzuheben ist die Verwendung der Motive der Heiligen Familie und des Stalls zu Bethlehem. Im »Käthchen« geht es primär um eine Veranschaulichung der Funktionsmomente von Macht und 505 Ebd., S. 78 f.

Die Liebe

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Gewalt in gesellschaftlichen Vorgängen506 ; und gerade diese werden durch mythologische Verweise und Bezugnahmen abgesichert. Mit der Mythologie in Verbindung stehen die Engel, die den vom Wahnsinn Befallenen erscheinen. Engel, Boten, göttliche Abgesandte bevölkern das »Käthchen« und führen die Protagonisten auf ihren Wegen – auch wenn die Pfade manchmal den Anschein eines Irrweges haben oder dem Wahnsinn selbst zu entspringen scheinen. Eine wichtige Aufgabe von Engeln ist ihre Schutzfunktion, die vor niemandem Halt macht. Engel prüfen nicht die Abstammung derer, denen sie ihren Schutz geben. Durch die Engel tritt das Übernatürliche in das Schauspiel ein. Doch Engelserscheinungen drücken immer auch den Glauben an sich aus, den Glauben an das noch zu Erreichende. Der Sturz des Käthchens kann mit Platons »Phaidros« gelesen werden, wodurch sich bei Käthchen das Bild einer Wahnsinnigen in Richtung der Gottgeweihten drehen lässt. Mit dem »Geschauten Sein« eröffnet sich der Übergang zur Liebesthematik, da für die Liebe das Sehen ein wichtiges Moment, wenn nicht sogar das wichtigste, darstellt.

5.3. Die Liebe507 An der Wahrheit des Wesens der Dinge und an der Wahrheit Gottes gemessen ist die ganze menschliche Ordnung nur Wahnsinn.508

Der größte Mythos unserer Vorstellungswelt ist die Liebe. Sie wird zur Essenz des Lebens hochstilisiert, in der Mythologie wie im Alltag. Liebe übt eine unerklärliche Wirkung aus, ein Sog509 entsteht. Meist wird Liebe als ein Gefühl bezeichnet, 506 Bei Foucault geht es um die Form der Pastoralmacht, die in Bezug auf Familie im Allgemeinen und die Politik im Speziellen gesehen werden kann: »Diese für das Abendland so charakteristische, in der ganzen Geschichte der Zivilisation so einzigartige Machtform wurde im Hirtenstall geboren, oder hat ihn zumindest als Modell genommen, also im Vorgriff auf eine Angelegenheit des Hirtenstalls betrachtete Politik.« Foucault, Michel: Geschichte der Gouvernementalität. Bd. 1. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesung am Collège de France 1977 – 1978. Aus dem Französischen v. Claudia Brede-Konersmann u. Jürgen Schröder. Hrsg. v. Michel Sennelart. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, S. 194. 507 Liebe ist ein Abstraktum zu dem Adjektiv, eine »zustandsbildung zu dem adj. lieb«. Grimm, DWB, Bd. 12, Sp. 917 (Hervorh. im Orig.). Die Bedeutung von »lieb« stammt »aus der vorstellung des heftig verlangten, begehrten« und ist »zum theil von der stellung des wortes abhängig«. Grimm, DWB, Bd. 12, Sp. 896. 508 Foucault 1973, S. 53. 509 »Für die Liebe aber ist typisch, daß unsere Seele sich unserer Hand entwindet und von der anderen Seele gleichsam angesogen wird. Der Sog, den die fremde Persönlichkeit auf unser Leben ausübt, nimmt diesem die Schwerkraft, löst es aus seiner Verwurzelung im eigenen

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Wesentliche Implikationen des »Käthchens«

dass sich jeglicher rationalen Definition entzieht. Doch wird Liebe auch als Zeichensystem bestimmt. Niklas Luhmann spricht in seinem Werk »Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität« von Liebe als einem »Kommunikationscode« und analysiert darin das Feld der Liebessemantik.510 Die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien, die solche Probleme der Kombination von Selektion und Motivation zu lösen haben, benutzen eine realitätsgebundene Semantik: Wahrheit, Liebe, Geld, Macht usw. […] Den Sachverhalten selbst wird Kausalität unterstellt. Die Beteiligten meinen dies, haben dies »im Sinn«. Aber die Medien selbst sind nicht diese Sachverhalte; sondern sie sind Kommunikationsanweisungen […]. Die Funktionen und Effekte der Medien lassen sich daher auch nicht auf dieser Ebene der faktisch lokalisierten Qualitäten, Gefühle, Ursächlichkeiten erfassen, sondern sie sind in sich selbst immer schon sozial vermittelt durch eine Verständigung über Möglichkeiten der Kommunikation. In diesem Sinne ist das Medium Liebe selbst kein Gefühl, sondern ein Kommunikationscode, nach dessen Regeln man Gefühle ausdrücken, bilden, simulieren, anderen unterstellen, leugnen und sich mit all dem auf die Konsequenzen einstellen kann, die es hat, wenn entsprechende Kommunikation realisiert wird.511

Als »Kommunikationscode« ist Liebe ebenso ein Informationscode. Insofern, als sie immer auf den anderen gerichtet ist512 und Liebe auch davon handelt, wie viel der andere von mir weiß und was er von mir wissen darf/soll. Wenn nun Wissen als ein Machtfaktor verstanden wird, steht Liebe in einem Verhältnis zur Macht – der Macht über den anderen.513

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Erdreich und verpflanzt es in das geliebte Wesen, wo dann die ursprünglichen Wurzeln wieder anzuwachsen scheinen wie bei der Staude, die man in neuen Boden versetzt. […] Diese Absorption des Liebenden durch den Gegenstand seiner Liebe ist nun aber nichts weiter als die Folge des Bezaubertseins. Ein anderes Wesen bezaubert uns, und diesen Zauber fühlen wir in Gestalt eines ständigen sanft-elastischen Ziehens, das auf unsere Person wirkt. Das Wort Bezauberung, so banal es auch geworden sein mag, ist doch noch immer der beste Ausdruck für die bestimmte Art von Wirkung, die das geliebte Wesen auf den Liebenden ausübt. Man sollte dieses Wort auffrischen, sollte in ihm den magischen Sinn, den es ursprünglich hatte, wieder lebendig werden lassen.« Ortega y Gasset 1978, S. 217. Luhmann, Niklas: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, S. 23. Ebd., S. 22 f. »Die zeitgenössische deutsche Romantik geht […] von Relationierung der Welt auf einen anderen zur Aufwertung der Welt durch einen anderen über.« Ebd., S. 167 f. »Auch die politische Macht wird dadurch, daß sie jede Macht anderer Macht unterwirft, universell sensibel für Themen jeder Art, sofern sie sich politisieren lassen, und wird zugänglich für Personen jeder Art, sofern sie sich an politischen Wahlen beteiligen. Wichtige Tendenzen der modernen Gesellschaft fördern solche Zusammenhänge von Universalisierung und Spezifikation über Reflexivität, und das Medium für Intimbeziehungen folgt, obwohl für den Einzelfall auf extreme Partikularisierung angelegt, genau diesem Trend.« Ebd., S. 37.

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Zur Zeit der Romantik hat sich die »Form des Code[s]« verändert, in »eine Form der Reflexion von Autonomie bzw. Selbstreferenz«. »Wenn schließlich die Autonomie von Intimbeziehungen durchgesetzt und zur Reflexion gebracht ist, genügt für die Begründung die (unerklärliche) Tatsache, daß man liebt. Als selbstreferentieller Kommunikationszusammenhang rechtfertigt sich die Liebe selbst.«514 Über die Kriterien des Romantischen ist man sich nicht einig: Ist es die Intention auf (nicht mehr zu realisierende) Synthese, ist es die Behauptung der Einheit von Subjekt und Welt, ist es das Abweichen von der Normalität, die all dies ermöglicht? Im Bereich der Liebessemantik fällt vor allem auf, daß die alte Differenz in der Formentypik der Semantik, der Unterschied von Idealisierung und Paradoxierung, in einer neuen Einheit aufgeht. Die Liebe selbst ist ideal und paradox, sofern sie die Einheit einer Zweiheit zu sein beansprucht. Es gilt, in der Selbsthingabe das Selbst zu bewahren und zu steigern, die Liebe voll und zugleich reflektiert, ekstatisch und zugleich ironisch zu vollziehen.515

Käthchen liebt den Grafen vom Strahl im Sinne einer »Perfektionsidee«, wodurch sich die Nähe ihrer Handlung zur Form der »Passion« ergibt516 ; im Sinne des »(auch) aktiven Passionsbegriff[s]«. Indem sie eigenständig handelt, individualisiert sie sich und liebt dennoch den Grafen abgöttisch. Alles hat Käthchen aufgegeben, um in der Nähe des Grafen sein zu können. Im zweiten Kapitel habe ich gezeigt, dass Käthchen (zumindest in der »Phöbus«Fassung) sogar bereit ist, aus Liebe zu sterben. Es ist eine heftig verlangte Liebe. Von himmlischen Instanzen gezeigt, steht sie in Verbindung zur unendlichen Ordnung. Anders gesagt, die Liebe und ihr Leidensweg beruhen auf dem Wahnsinn, der wiederum Bedingung für das Göttliche ist. In Käthchens Liebe drückt sich in jedem Fall das Unaussprechliche und Numinose aus; aber verbunden eben auch mit aktivem, individualisiertem Handeln. Ein beeindruckendes Bild von der Unmöglichkeit der Darstellung von Liebe gibt uns Käthchen im 3. Akt, nachdem sie es geschafft hat, den Grafen vor dem Ansturm auf die Burg zu warnen. Wetter vom Strahl fragt, ob das nun alles gewesen sei: Hast du mir sonst noch, Jungfrau, was zu sagen? Käthchen. Nein, mein verehrter Herr.

514 Ebd., S. 51 f. (Hervorh. N. L.). 515 Ebd., S. 171 f. 516 Ebd., S. 57. »›Passion‹ meint ursprünglich einen Seelenzustand, in dem man sich passiv leidend und nicht aktiv wirkend vorfindet. […] Der Übergang vom passiven zum (auch) aktiven Passionsbegriff ist ferner die Vorstufe für jede mögliche Individualisierung, denn nur Handeln, nicht Erleben, kann man individuell zurechnen.« Ebd., S. 73 ff.

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Wesentliche Implikationen des »Käthchens«

Graf vom Strahl. – Was suchst du da? Käthchen (sich in den Busen fassend). Den Einschlag, der vielleicht dir wichtig ist. Ich glaub’, ich hab’ –? Ich glaub’, er ist –? (sie sieht sich um). Graf vom Strahl. Der Einschlag? Käthchen. Nein, hier. (sie nimmt das Couvert und giebt es dem Grafen). (SWB I, 574 f., 38, 1 ff.)

Der Einschlag, der aus dem Busen geholt wird, kann auch im Sinne eines Liebesbeweises verstanden werden. Die Liebe Käthchens zielt auf das innere Wesen ab, die Seele. Doch bei der Seele haben wir es mit einem »Ding«517 zu tun, das nicht geschaut werden kann, wie die Gedanken. Ihre Liebe ist ein unbeschreibliches Gefühl, das Unaussprechliche der Seele – auf dieses Verständnis weist Kleists Brief an seine Schwester Ulrike vom 5. Februar 1801518 hin. Dass die Sprache nicht taugt, das Gemeinte auszudrücken (weil die Gedanken von der Seele abgetrennt sind), kennen wir aus dem »Sprachaufsatz«. Käthchen kann dem Grafen nicht alles mitteilen, was ihr am Herzen liegt. Er würde sie nicht verstehen, die Bruchstücke, die sie ihm geben kann, reichen nicht aus, ihn erkennen zu lassen. Und darauf kommt es an. Er muss erkennen, er muss selbst sehen. Der Blick, das Sehen, ist die essentiellste Bedingung für Liebe. Um bezaubert zu werden, müssen wir vor allem die Fähigkeit besitzen, eine andere Person zu sehen, was mehr ist als nur ein Öffnen der Augen. Es bedarf einer ganz besonderen, a priori vorhandenen Wißbegier, die viel weiter reicht, viel umfassender und tiefgründiger ist als die verschiedenen Arten sachbezogenen Wissensdrangs (wie man ihn beim Wissenschaftler, beim Techniker, beim Reisenden, der die Welt kennenlernen möchte, vorfindet), oder als die Neugierde, die sich auf bestimmte Handlungen einer Person richtet (und sich zum Beispiel in der Klatschsucht äußert). Nein, es bedarf einer vitalen Wißbegier, deren Objekt die Menschheit als solche ist, und zwar in ihrer konkretesten Gestalt: der Person als eines lebendigen Ganzen, als der individu517 Dem »unsichtbare[n] Ding, das Seele heißt«. (P-SWB III, 392, 25) 518 »Ach, Du weißt nicht, wie es in meinem Innersten aussieht. Aber es interessirt Dich doch –? O gewiß! Und gern möchte ich dir Alles mittheilen, wenn es möglich wäre. Aber es ist nicht möglich, u. wenn es auch kein weiteres Hinderniß gäbe, als dieses, daß es uns an einem Mittel zur Mittheilung fehlt. Selbst das einzige, das wir besitzen, die Sprache taugt nicht dazu, sie kann die Seele nicht mahlen u. was sie uns giebt sind nur zerrissene Bruchstücke. Daher habe ich jedesmal eine Empfindung, wie ein Grauen, wenn ich jemandem mein Innerstes aufdecken soll; nicht eben weil es sich vor der Blöße scheut, aber weil ich ihm nicht Alles zeigen kann, nicht kann, u. daher fürchten muß, aus den Bruchstücken falsch verstanden zu werden.« (SWB II, 704, 12 ff. Hervorh. H. v. K.)

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ellen Ausprägung des Daseins. Ist uns dieser Wissensdrang nicht gegeben, so werden die trefflichsten Geschöpfe an uns vorbeiziehen, ohne daß wir sie sehen.519

Wonach blickt sich Käthchen an oben zitierter Stelle um? Wenn sie schon in den Busen gefasst hat, ist es unwahrscheinlich, dass sie das Kuvert weder spürt noch findet. Vielleicht glaubt sie, es verloren zu haben.520 Eybl verweist bezüglich des Errötens – »Dein Antlitz speit ja Flammen!« (SWB I, 575, 17) – auf die »Erhitzung vom schnellen Lauf«.521 Oder aber Käthchen errötet aus Scham; denn mit dem Bild, ein Kuvert aus dem Busen zu ziehen, kann auch das Ausschütten der Seele dargestellt sein, das Offenbaren ihres Herzens aus der tiefen ›Höhle der Brust‹. Sieht man das Erröten als Scham, ist sich Käthchen bewusst, dass ihre Geste als Zeichen interpretierbar ist und mehr bedeutet/bedeuten kann. Die Handlung des Suchens im Busen mutet komisch an, es scheint äußerst seltsam, den Umschlag nicht sofort zur Hand zu haben. So kann diese Handlung als Hinweis darauf verstanden werden, dass Käthchen nicht konkret den Umschlag, sondern in ihrer Seele sucht. Man kann dies verbinden mit dem Bild des Herzens, das, in ein Kuvert gesteckt, das wahre Begehren des Schreibenden ausdrücken würde. Es entstammt aus einem Brief an Ulrike vom 13. und 14. März 1803: »Ich wollte ich könnte mir das Herz aus dem Leibe reißen, in diesen Brief packen, und dir zuschicken. – Dummer Gedanke!« (SWB II, 811, 11 ff.) Den dummen Gedanken würde Käthchen mit den Worten: »Nein, hier« (SWB I, 575, 12) quittieren und dem Grafen das Kuvert übergeben – das Erröten kann somit gleichzeitig für das mit dem Kuvert überreichte Gefühl, das Herz, stehen. Mit Jeziorkowski522 bestätigt sich das Bild von dem Busen als dem tiefen Höhlenraum der Brust, in dem sich das Herz verbirgt und auf seinen Ausdruck wartet.

519 Ortega y Gasset 1978, S. 223. (Hervorh. J. O. y G.). »Sie [die Wißbegier] bereitet zwar das Sehorgan auf das Schauen vor, aber dieses muß schon von sich aus einen scharfen Blick haben. Solcher Scharfblick ist die erste unter den außerordentlichen Gaben, die als integrierende Bestandteile in der Liebe zusammenwirken. Es handelt sich dabei um eine besondere Art Intuition, durch die es uns möglich wird, das innere Wesen des Mitmenschen, die Gestalt seiner Seele samt dem in seinem Körper sich ausdrückenden Sinngehalt rasch zu erkennen.« Ebd., S. 225. 520 Siehe Eybl 2007, S. 180. Eybl erwähnt in dem Zusammenhang die »Interaktion der Körper«, die in dem Vorgang »ihre Annäherung vollziehen«. Er verweist auf die noch immer vorherrschende Form der »indirekten Kommunikation« zwischen Käthchen und dem Grafen, als der Brief, mit dem Wissen um den Anschlag, von Gottschalk an den Grafen übergeben wird und von Käthchen nur die leere »Hülle« der Botschaft. Ebd. 521 Ebd., S. 180. 522 Jeziorkowski 1998. Verschränken ließe sich dieses Bild mit der in der ersten Replik des Dramas ausgesprochenen Metapher Graf Ottos, als Vertreter Gottes, den »irdischen Schergen«, die »den Frevel aufsuchen, da, wo er, in der Höhle der Brust, gleich einem Molche verkrochen […] nicht aufgefunden werden kann«. (SWB I, 503, 14 ff.) Der ›Frevel‹ ließe sich somit als Käthchens Gefühl verstehen.

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Wesentliche Implikationen des »Käthchens«

Liebe wird, gerade in der damaligen Zeit, hauptsächlich in festgefahrenen starren Standesgrenzen erlebt.523 Die Thematik der Übertretung von Grenzen wegen einer Liebesneigung ist legionenhaft in der Weltliteratur zu finden524. So beruht auch die Anklage Theobalds zu Beginn des Dramas auf der Tatsache, dass sich Käthchen durch das Verfolgen des Grafen, im Nachgehen ihrer Liebe, ihrer Liebesprophezeiung, den gesellschaftlichen Konventionen entzieht; sie bricht mit ihrer Familie, ihrer Herkunft. Ihre Liebe und das daraus rührende Verhalten entsprechen nicht ihrem (vorgegebenen) Stand. Ebenso wenig wie des Grafen ausgesprochene Zuneigung in seinem Monolog im 2. Akt dem seinen entspricht. Käthchen darf erst (offiziell) lieben und geliebt werden, wenn die Verbindung gesellschaftspolitisch legitimiert worden ist. Damit sind wir an einem zentralen Punkt des »Käthchen« angekommen. Aus Liebe, einer der intimsten und emotionalsten Erfahrungen eines Menschen, wird ein gesellschaftspolitisch verhandelbares Gut. Ein Objekt, das von Institutionen vergeben oder entzogen werden kann. Die konventionellen, standesbedingten Grenzen bilden den Rahmen, aus dem nicht gefallen werden darf.525 Eindrucksvoll wird dies auch am Ende der Femegerichtsszene dargestellt, wenn der Graf vom Strahl das liebende Käthchen dem Vater wiedergeben soll; damit soll der Graf noch einmal die Größe seiner Macht demonstrieren, die er eben auch über Käthchen hat. 523 »Dennoch kommt es in der Romantik noch nicht zu der an sich denkbaren ›Demokratisierung‹ der Liebe im Sinne einer für alle gleichermaßen bereitgehaltenen Möglichkeit. Die Form, in der die Semantik zelebriert wird: die Einheit von Idealisierung und Paradoxierung, blockiert das, was möglich wäre. […] Ohne schichtspezifisch ausgeflaggt zu sein, ist der Universalismus der romantischen Liebe (wie der bürgerliche Universalismus Europas überhaupt) in den vorausgesetzten Einstellungen eine hochselektive Idee.« Luhmann 1999, S. 175 f. 524 »Liebeskonflikt, Der herkunftsbedingte Zahl und Art der Hindernisse, die sich in literarischen Werken der Vereinigung von Liebenden entgegenstellen, sind unübersehbar. Unter ihnen stehen an erster Stelle die verschiedensten Einwände der Familien, hauptsächlich der Eltern. […] Bedeutungsvoller werden Familienwiderstände, wenn sie ein gewisses Maß an objektivem Recht in sich tragen und die den Liebenden entgegenarbeitende Partei nicht Schrullen und egoistische Ansprüche vertritt, sondern allgemeiner gültige Prinzipien, deren Geltung auch die betroffenen Liebenden bis zu einem gewissen Grade anerkennen. Das ist der Fall, wenn die Partner ihrer Herkunft nach verschiedenen Völkern, Parteien, Kasten oder weltanschaulichen Doktrinen angehören, die sie bis zu dem Augenblick, in dem sie von Liebe zu einem der konträren Partei angehörigen Menschen ergriffen wurden, bejahten, sodass sie sich nun in einen echten Konflikt gestürzt sehen, der eine Entscheidung zwischen dem bisher anerkannten Prinzip und ihrem Gefühl verlangt.« Frenzel, Elisabeth: Motive der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. Stuttgart: Kröner 2008, S. 456 f. (Hervorh. E. F.). 525 »Die Romantik bevorzugte das Motiv des Konflikts zwischen verfeindeten Familien und lokalisierte die durch Standesunterschiede gegebenen Konflikte meist außerhalb der modernen Gesellschaft. Nur in märchenhaftem Rahmen ist die Verbindung des Ritters Wetter vom Strahl […] mit der Bürgerstochter möglich und auch nur dadurch, dass sie sich als illegitime Tochter des Kaisers erweist.« Frenzel 2008, S. 470.

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Liebe muss mit der Gesellschaft, mit der vom Menschen erschaffenen Welt konform gehen. Alles andere wäre ein Verstoß gegen das jahrhundertelange Bemühen des Menschen, die Natur526 und ihre Erscheinungen zu bannen und in den Griff zu bekommen.527 In den Bereich der Natur fällt neben dem Tod auch die Liebe, weshalb es gilt, ihr Grenzen zu setzen. Käthchen und ihre Gegenspielerin Kunigunde zeigen in ihrer Unterschiedlichkeit verschiedene Pole des Liebesverhaltens. Kunigunde referiert vordergründig auf den »Körper«, auf Äußerlichkeiten. An ihr wird deutlich gemacht, dass »man nirgendwo seinen Sinnen trauen kann«.528 Mit dem Käthchen erleben wir diejenige, die von der Oberflächlichkeit in die Tiefen des Herzens vorzudringen gedenkt.

5.3.1. Schau und Vogelfang Das Erkennen bzw. Verkennen (Versehen)529 des Gegenübers ist eines der großen Themen im »Käthchen«. Erkennen vollzieht sich im »Käthchen« vorrangig auf der Ebene des Blicks, des Schauens. Käthchen kann nur mittels eines Merkmals, eines kleinen Mals am Nacken530, erkannt, geschaut werden. Es ist das stumme 526 Systematisch hat sich mit dem Thema »Natur« Hans-Dieter Fronz auseinandergesetzt, er betrachtet in Bezug auf das »Käthchen« den Naturbegriff in Hinblick auf ihre (A)Sexualität. So stellt für ihn »Kunigunde nichts anderes als eine Verkörperung von Käthchens unterdrückter Sexualität« dar. Fronz 2000, S. 306. 527 »Jahrtausende lang hatte der homo sapiens seine Fortschritte dem Widerstand, den er der Natur entgegensetzte, zu verdanken. Die Natur ist nicht eine wohlgeordnete und wohltätige Vorsehung, sondern eine Welt der Vernichtung und der Gewalt, die, auch wenn sie je nach Neigung der Philosophen als mehr oder weniger gut oder böse eingeschätzt werden kann, dennoch dem Menschen immer fremd, wenn nicht feindlich bleibt. Der Mensch hat also die Gesellschaft, die er errichtet hat, der Natur, die er unterdrückt hat, entgegengesetzt. Die Gewalt der Natur mußte außerhalb des vom Menschen für die Gesellschaft vorgesehenen Gebietes gehalten werden. Dieses Verteidigungssystem ist durch die Schaffung von Moral und Religion, die Errichtung der Stadt und des Rechts und durch die Einführung der Ökonomie zustande gekommen und erhalten worden, dank der Organisation der Arbeit, der kollektiven Disziplin, und selbst der Technologie. Dieser gegen die Natur errichtete Wall hatte zwei schwache Punkte, Liebe und Tod, wo immer ein wenig wilde Gewalt durchsickerte. Diese beiden schwachen Punkte zu schützen hat sich die Gesellschaft sehr bemüht. Sie hat alles, was sie konnte, getan, um die Heftigkeit der Liebe und Aggressivität des Todes abzuschwächen.« Ariès 2005, S. 501 (Hervorh. P. A.). 528 Ueding 1981, hier S. 176. 529 Siehe diesbezüglich: Müller-Seidel 1967. Müller-Seidl kommt bezüglich des »Käthchens« zu dem Schluss, dass »nahezu alle Figuren Kleists – mit Ausnahme des Käthchen von Heilbronn – dem Versehen ausgesetzt sind«. Ebd., S. 132. 530 Der Engel zeigte dem Grafen während der Erscheinung ein rötliches Mal am Nacken Käthchens. Bei einem rötlichen Mal spricht man meist von einem Feuermal, geläufiger von einem Storchenbiss, der Menschen kennzeichnet.

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Wesentliche Implikationen des »Käthchens«

Zeichen, das sie als Kuckuckskind des Kaisers benennt. Sie zu lieben setzt voraus, sie in ihrer Ganzheit zu sehen. Der Graf, der Käthchen nicht erkennt, scheint von seinem eigenen Strahl geblendet zu sein. Umgekehrt aber hat Käthchen den Grafen bereits geschaut und daher folgt sie ihm gleich einer Sinnverwirrten. Wie das Käthchen muss auch Kunigunde geschaut werden, um sie zu erkennen. Gerade bei ihr wird die Problematik des Erkennens des anderen veranschaulicht. Sie ist nicht das Sein, das sie zu sein vorgibt. Sie leitet den Blick von ihrem wahren Inneren durch ihren Schein ab, verkleidet sich, benutzt Mäntel, Umhänge, Schleier, um nicht erkannt zu werden. Sie stellt die Vermischung kultureller Ordnungen531 dar. Sie will erreichen, dass ihr der Graf auf den Leim geht, sie will den Vogel fangen532 – wie sie es zuvor schon mit drei anderen Rittern gemacht hat. Und der Graf geht Kunigunde auf den Leim; der Fang ist geglückt. Es sind »die böse liebe und die bösen glüst«, die als Leimruten verstanden werden. Der Vogel, der sich darin verfängt, muss »verderben«.533 »Die Kunstwirkung, die Kunigunde ausübt, die Seelenblindheit«, die sie darstellt, ist nicht ihr einziges Potenzial, um der Kunst der Verführung auf die Sprünge zu helfen. Der »Bann, in den ihr Bild schlägt, verweist auf den mythischen Kern ihrer Anziehungskraft«, und das »Bild, das sie vorstellt, dient ihr wie die Leimrute beim Vogelfang dazu, ihre ganz pragmatischen Geschäfte zu machen«.534 Entblößt gesehen, wird sie als Monster erkannt, als Schreckensgestalt, die Furcht und Angst verbreitet. Kunigundes konstruierter Körper löst »entfesselt« furchterregendes Grauen aus. Das Entsetzen Käthchens, die unaussprechliche Angst kann als die Furcht vor der schreckenerregenden Leere, dem »Nichts«535 betrachtet werden. Wenn wir vor dem Nichts erschrecken, erschrecken wir aber im Grunde vor uns selbst. Denn die Leere, das Nichts, ist nicht denkbar; so projizieren wir unweigerlich unsere eigenen Vorstellungen in die Leere. Damit etwas erkannt und benannt werden kann, muss es zu einem Zeichen werden. Und ein Zeichen enthält immer schon eine Anschauung in sich.536 Betrachten wir nun die Leere und benennen sie als solche, handelt es sich nur um das Abbild unserer eigenen Vorstellung. Anders 531 »Auf die Relation zu den Symbolen einer synchron oder diachron fremden Kulturordnung, die das Groteske als Vermischung des Eigenen und Fremden oder des Gegenwärtigen und Vergangenen zum chimärischen Phänomen macht, verweisen schon die griechischen Mythen, denen die Bezeichnung des Produkts dieser Form der Anamorphose entlehnt ist.« Fuß 2001, S. 357. 532 »Der Vogel klebt bereits am Leim, als in Szene II/13, womit der Akt schließt, der Graf seiner Mutter eröffnet: ›So wahr, als ich ein Mann bin, die begehr ich Zur Frau!‹ […]. Die adelige Paarungsstrategie Kunigundes, die auf Abkunft, höfischem Verhalten und feudalem Landbesitz beruht, scheint völlig aufgegangen.« Eybl 2007, S. 170. 533 Grimm, DWB, Bd. 12, Sp. 700 (Hervorh. im Orig.). Siehe weiters Fußnote 284. 534 Ueding 1981, hier S. 179 f. 535 Bachtin 1995, S. 91. 536 Vgl. dazu: Peirce 2000, S. 191 ff.

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gesagt: Wir spiegelten uns im Nichts. Damit wir aber zu einer derartigen Erkenntnis fähig sind, bedarf es eines hohen Grades an (Selbst-)Reflexion.537 Die Sprachlosigkeit Käthchens ließe sich so mit dem Schrecken vor ihrem eigenen Spiegelbild erklären. Die Szene zwischen Kunigunde und Käthchen spielt in der Grotte. Damit lässt sich in diesem Ort eine weitere Bedeutung erkennen, nämlich in der Wasseroberfläche als Spiegel; wie beim Mythos des Narziss’, wo der Schrecken über sich selbst aus der Spiegelung hervorgeht. Wir erkennen oft nicht, dass das, was wir im anderen zu sehen glauben, unser eigenes Ich ist, das widergespiegelt wird.538 Dies wäre in dem Sinn kein Erkennen, sondern ein doppeltes Verkennen, des Selbst und des anderen. Dass ich im Glauben bin, den anderen zu erkennen, und doch nur mich sehe – aber nicht einmal erkenne, dass ich mich selbst betrachte, sondern im Glauben bin, ich betrachte den anderen –, deutet auf die Imagination des anderen aus dem eigenen Selbst hin. Der andere bin immer auch ich (mehr dazu in Kap. 5.3.3.2.). Zudem ist der Blick auf den anderen immer schon vorgeprägt durch gesellschaftliche Vorannahmen, Anschauungen des So-Sein-Sollens der Autoritäten, also durch nichteigene Vorstellungen belastet. Die Krux an der Geschichte ist, dass »das Menschenherz« aber nun einmal den Wunsch hegt, »zu sehen und gesehen zu werden; zu lieben und geliebt zu werden«.539 Das ist ein logisches Verlangen, denn das Schauen ist erst vollkommen, wenn die Finsternis nicht ihrem eigenen Schicksal überlassen wird, wenn das Dunkelste der Höhle, das Menschenherz, auch zum Licht aufsteigt. Und wenn selbst der verklärte Körper, ohne seine Körperlichkeit aufzugeben, in den Glanz des Lichts eintauchen kann […] und davon durchstrahlt werden kann, ohne auf seine Körperlichkeit verzichtet zu haben; dann wird das Reich des Schauens, des Gottes, der sieht, verwirklicht sein. Und noch dazu wird die Liebe, die wesentlichste aller Bewegungen, unter denen das menschliche Leben leidet und in der die Bedingtheit des Menschen – diesem alleinigen Sein, das sich bewegt – zusammengefaßt ist, keine ganze Liebe sein, wenn der, der sich 537 Nach Greiner ist es das »Käthchen«, das ein »hohes Maß an Selbstreflexivität«, im Vergleich zu den anderen Dramen Kleists, aufweist. Greiner 2000, S. 174. »Das menschliche Schauen findet nicht außerhalb des Lebens statt; es gibt kein ›objektives‹ Schauen und um so weniger des Nächsten, des Ähnlichen. Wir sehen ihn in unserem eigenen Innern. Und das Schauen ist die Einheit dessen, der sieht; man sieht um so mehr, je näher man am identischen Sein ist, je vollkommener die Einheit des Schauenden ist.« Zambrano 2005, S. 234. 538 »Die Charakteristik des Begegnens der Anderen orientiert sich so aber doch wieder am je eigenen Dasein. Geht nicht auch sie von einer Auszeichnung und Isolierung des ›Ich‹ aus, so daß dann von diesem isolierten Subjekt ein Übergang zu den Anderen gesucht werden muß? […] ›Die Anderen‹ besagt nicht soviel wie: der ganze Rest der Übrigen außer mir, aus dem sich das Ich heraushebt, die Anderen sind vielmehr die, von denen man selbst sich zumeist nicht unterscheidet, unter denen man auch ist.« Heidegger, Martin: Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer 2006, S. 118 (Hervorh. M. H.). 539 Zambrano 2005, S. 106.

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Wesentliche Implikationen des »Käthchens«

bewegt, nicht zuletzt zu bewegen vermag. So es nicht einen Gott gibt, der durch den Menschen bewegt wird.540

Käthchen muss es nun – so wie der Gott, der unbewegte Beweger, sie in Bewegung versetzt hat – schaffen, den Grafen/Gott zu bewegen, von seinem Standesdünkel wegzurücken. Die Schwere der Standesgesetze ist es, die der Liebe ein Stück weit die Kraft der Bewegung entzieht. Dadurch entsteht eine Angst davor, dass alles erstarrt, vertrocknet, und so beginnt die Suche nach dem Licht, das Sehen lässt: »Die Liebe gab dem Leiden, der Leidenschaft des menschlichen Lebens Sinn und verwandelte sie in eine Handlung.«541 Deutlich wird im »Käthchen« gezeigt, dass der Stand, die Herkunft, an erster Stelle steht. Der Graf liebt das Käthchen. Eindrucksvolle Worte findet er dafür im Monolog im 2. Akt. Seine Vergleiche für Käthchens Seele, die »nackt vor […] [ihm] stand, von wollüstiger Schönheit gänzlich triefte, wie die mit Ölen gesalbte Braut eines Perserkönigs, wenn sie, auf alle Teppiche niederregnend, in sein Gemach geführt wird« (SWB I, 530, 18 ff.), entsprechen den Verbindungen zwischen dem Seelischen und der Mythologie der romantischen Poesie und stellen Käthchen als ideale romantische Figur dar. Ganz im Sinne einer neu zu schaffenden Mythologie werden alte Mythologien wieder erweckt.542 Doch der Graf, die Menschwerdung des Blitzes, ist von seinem eigenen Licht geblendet. Er müsste gegen den Widerstand seiner Herkunft handeln. Das Strahl’sche Geschlecht lässt nämlich keine Verbindung mit einer Bürgertochter zu. Der Graf muss sich »fassen und diese Wunde vernarben« lassen, und »welche Wunde vernarbte nicht der Mensch?« (SWB I, 531, 6 f.) Der Graf vom Strahl sieht ein, dass er das Käthchen vor der Gesellschaft nicht anerkennen kann, die Konventionen zu starr sind, als dass er sie »aufheben[] und in das duftende Himmelbett tragen« (SWB I, 530, 15 f) könnte, und er vergisst die Liebe zu Käthchen recht rasch, wenn er Kunigunde, die er selbst befreit und dadurch vor der befreienden Entblößung ihres Seins bewahrt hat, zuerst als »Gefangene« mit auf sein Schloss nimmt und – nach einer Unterredung mit ihr und seiner Mutter – von Kunigunde als der Auserwählten, dem Mädchen, das ihm der Engel gezeigt hat, zu schwärmen beginnt: »So wahr, als ich ein Mann bin, die begehr ich / Zur Frau!« (SWB I, 558, 31 f.) Er begehrt gerade die zur Frau, die 540 Ebd. 541 Ebd., S. 207. 542 Schlegel 1967, »Rede über die Mythologie«, hier S. 319 f. »Aber auch die andern Mythologien müssen wieder erweckt werden nach dem Maß ihres Tiefsinns, ihrer Schönheit und ihrer Bildung, um die Entstehung der neuen Mythologie zu beschleunigen. Wären uns nur die Schätze des Orients so zugänglich wie die des Altertums! […] Im Orient müssen wir das höchste Romantische suchen, und wenn wir erst aus der Quelle schöpfen können, so wird uns vielleicht der Anschein von südlicher Glut, der uns jetzt in der spanischen Poesie so reizend ist, wieder nur abendländisch und sparsam erscheinen.« Ebd.

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ihn über längere Zeit mit lästigen Kriegsführungen wegen ein paar Ländereien, die sie im Namen eines alten Kaisergeschlechts für sich beansprucht, verärgert hat. Der Graf übersieht auch, dass ihre Vorgehensweise, sich um einen Ritter zu bemühen, der ihrem Anliegen nicht nur Gehör sondern auch Nachdruck verleihen kann, immer auf die gleiche Art abläuft, und tappt (blind vor Liebe) in ihre Falle. Kunigunde tritt zwischen Käthchen und den Grafen vom Strahl, sie unterbricht deren Liebensband; ermächtigt durch die vermeintliche Beziehung zu einem alten Kaisergeschlecht.543 Übersehen wird das Mal, das Kennzeichen, das den Menschen vor allen anderen auszeichnet. Kunigunde schreibt sich dieses Mal nicht zu und auch sonst niemand auf der Strahlburg erwähnt es. Brigitte geht zwar in ihrer Erzählung auf die Existenz des Mals als Kennzeichen ein, doch wird in weiterer Folge nicht mehr davon gesprochen. Lediglich die Tatsache, dass Kunigunde eine vermeintliche Kaisertochter ist, wird zur Identifizierung der angekündigten Braut herangezogen. Auch der Graf verlangt das Zeigen des Zeichens nicht – ist aber in der Holunderbuschszene überrascht, wenn es Käthchen ist, die es auf ihrem Nacken trägt, wenngleich er es zuvor bei Kunigunde nie thematisiert hat.

5.3.2. Das Zeichen544 Das »Käthchen« ist geprägt von einer stark zeichenbeladenen Struktur, wobei die nicht-sprachlichen Zeichen oft die gesprochenen Worte an Bedeutung zu überragen scheinen.545 Drei Zeichen möchte ich für das Thema Liebe besonders hervorheben, anhand derer die »Wahrhaftigkeit« der Figuren im Käthchen gezeigt wird. 543 Kunigunde vertritt, wie dargelegt, das Lebendige wie das Tote, und es ist der Tod, der »die Liebesbindung, den Rhythmus der Liebe [unterbricht]. Eine in die Melodie, d. h. das glückliche Leben eingefügte Synkope. Die Seele betritt ihre Höllen: den Tod und den unsäglichen Schmerz des Lebendigseins. Ihre Reise verläuft nach innen.« Zambrano 2005, S. 90. Als nach innen verlaufende Reise kann auch der Weg Käthchens, der sie mit ihrem Vater und ihrem Verlobten im dritten Akt zum Kloster führt, beschrieben werden. Stellt doch der Eintritt in ein Kloster, wie schon gesagt, die Absage an die Welt dar, den Verzicht auf alles Weltliche und die völlige Hingabe an die Liebe, die Liebe Gottes. 544 »Symbole wachsen. Sie entstehen aus der Entwicklung anderer Zeichen, vor allem aus Similes oder aus gemischten Zeichen, die am Wesen der Similes und der Symbole teilhaben. Wir denken ausschließlich in Zeichen.« Peirce 2000, Bd. 1, S. 200. 545 »Unter den Dramen Kleists ragt das ›Käthchen von Heilbronn‹ durch sein hohes Maß an Selbstreflexivität heraus. Das betrifft insbesondere sein Bilden von Zeichen und sein Zeichenverständnis, also seine Semiologie, die hier selbst wieder Gegenstand des Stückes ist. Denn die Grundhandlung des Dramas besteht in nichts anderem als im Bewahrheiten eines Zeichens, und so ist seine leitende Frage, ob und wie solch ein Bewahrheiten gelingen kann.« Greiner 2000, S. 174.

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Wesentliche Implikationen des »Käthchens«

Das bedeutendste Zeichen ist das Mal Käthchens an ihrem Nacken, das Zeichen ihrer Herkunft, ihrer Abstammung. Ich betrachte es als Körperzeichen. Bei Kunigunde ist der gesamte Körper ein Zeichen. Beider Frauen besitzen insofern semiotische Körper, anhand derer zusätzliche Bedeutung transportiert wird. Die eine trägt das Mal als Hinweis kaiserlicher Abstammung und steht dadurch gleichzeitig in Verbindung zu den himmlischen Kräften, die andere trägt das Mal des Teuflischen, in Form des Nichts, der Leere, die ihr »Beinhaus« (P-SWB III, 390, 38) darstellt. Das zweite essentielle Zeichen ist das Requisit des Futterals546 mit einem angeblich darin befindlichen Bild. In der Schlossbrandszene soll es Käthchen aus dem brennenden Zimmer holen, sie nimmt jedoch »nur« das Bild547, da Kunigunde den wahren Beweggrund – nämlich die im Futteral befindliche »Acte, die Schenkung, Stauffen betreffend, von Friedrich Grafen vom Strahl« (SWB I, 591, 28 f.) – verheimlicht und nur spricht: »Das Bild mit dem Futtral, Herr Graf vom Strahl! / Das Bild mit dem Futtral! […] – Was es mir gilt, / Ist hier der Ort jetzt nicht, euch zu erklären.« (SWB I, 580, 6 f., 27 f.) Nachdem alles niedergebrannt ist und die Angreifer in die Flucht geschlagen wurden, spaziert Käthchen über die Trümmer und findet das unversehrte Futteral: »Früh morgens, im / Schutt, heut’ sucht’ ich nach und durch Gottes Fügung – – / nun, so!«548 (SWB I, 591, 17 ff.) Der Akt im Futteral ist für die Entwicklung des Stücks entscheidend. Denn nur durch 546 »Es ist die Problematisierung von Form und Inhalt in den Bildern von Inhalten und Behältnissen, von Dingen und Hüllen, von Körpern und Bekleidung, deren Relationen zueinander mehrfach in Frage gestellt werden. […] Die Hüllen sind Objekte des Tausches und damit in die Konflikthandlung direkt integriert.« Eybl 2007, S. 179 f. 547 Dass Käthchen das Bild des Grafen wichtiger ist als das Futteral, abgesehen davon, dass sie nicht weiß, worum es Kunigunde bei dem Futteral geht, kann folgendermaßen erklärt werden: »Das ›Bild‹ stellt die ›Sache‹ nicht dar – es ist die Sache, es vertritt sie nicht nur, sondern es wirkt gleich ihr, so daß es sie in ihrer unmittelbaren Gegenwart ersetzt. […] In allem mythischen Tun gibt es einen Moment, in dem sich eine wahrhafte Transsubstantiation – eine Verwandlung des Subjekts dieses Tuns in den Gott oder Dämon, den es darstellt, vollzieht.« Cassirer, Zweiter Teil 2010, S. 47. 548 An dieser Stelle ist ein dramaturgischer Fehler passiert, der sich meines Erachtens auch nicht mit Groteske, Ironie, Parodie, Paradoxie o. dgl. erklären lässt. Zwischen der Verfolgung der Angreifer und dem Ende des Schlossbrandes liegt die Unterbrechung eines Aktes. Die Aussagen der Figuren und die Handlungen vom Ende des 3. Aktes beziehen sich aber eindeutig auf die am Anfang des 4. Aktes – ohne die Möglichkeit einer zeitlichen Pause. Es ist kaum Zeit verstrichen und der Verweis auf das frühmorgendliche Auffinden des Futterals im Schutt wäre schlichtweg falsch. Käthchen läuft auch dem Grafen nach und wird in einer Szene mit Gottschalk mit des Grafen geforderter Lanze verknüpft. Gottschalk nimmt das Futteral an sich und Käthchen bleibt zurück. Für das Durchsuchen der Trümmer ist keine Zeit, denn dann wäre sie wohl nie dem Tross des Grafen hinterher gekommen. Graf vom Strahl verfolgt den Rheingraf vom Stein, die Angreifer der Burg, augenblicklich nach der Szene, in der Kunigunde das Käthchen wegen dem Futteral schilt: »Zu Pferd, zu Pferd! / Laßt uns den Sturzbach ungesäumt erreichen, / So schneiden wir die ganze Rotte ab!« (SWB I, 588, 22 ff.) Als das Gefolge am Bach ankommt, hört Gottschalk schon das Käthchen rufen.

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das Bekanntwerden seines Inhaltes wird der Graf zum schlafenden Käthchen hingehen und es befragen, was es mit seiner Liebe zu ihm auf sich hat.549 Als drittes Zeichen sehe ich die Erscheinung Käthchens und des Grafen an. Die Erscheinung zähle ich zu den Zeichen, da Käthchens Erinnerung daran das handlungsauslösende Moment in dem Drama darstellt.550 Zudem ist eine Erscheinung ein göttliches Zeichen, das den Grafen und Käthchen als füreinander bestimmt zeigt. Das auslösende Moment der Katharsis – falls es in diesem Drama tatsächlich zu einer solchen kommt –, das Mal, ist zugleich ein Requisit.551 Das Requisit nimmt im Theater eine »Zwitterstellung« ein, zwischen zwei Zeichensystemen agierend: »Es gehört gleichzeitig dem verbalen und dem non-verbalen System an, denn es ist einerseits Teil des Sprechtextes und szenischen Textes und andererseits ein visuelles Element.«552 Das Mal ist ein sprechendes Zeichen, »das dramaturgische Wichtigkeit erlangt« und eindeutig den »Bildcharakter des Requisits« besitzt, worin seine »Doppelfunktion begründet« ist.553 549 Die Körpermerkmale wie auch das Futteral sind in dieser Hinsicht in ihrer Funktion als Zeichen Symbole: »Ein Symbol ist ein Zeichen, das die Eigenschaft, die es zu einem Zeichen macht, verlöre, wenn es keinen Interpretanten gäbe. Von dieser Art ist jede sprachliche Äußerung, welche nur kraft dessen bedeutet, was sie bedeutet, weil sie so verstanden wird, daß sie Bedeutung besitzt.« Peirce 2000, Bd. 1, S. 375 (Hervorh. C. P.). 550 So verstanden, lässt sich das dritte Zeichen auch als Ikon bezeichnen, es wäre dann »ein Zeichen, das auch noch dann die Eigenschaft besitzen muß, die es zu einem Zeichen macht, wenn sein Objekt nicht existiert«. Peirce 2000, Bd. 1, S. 375; insofern ein Ikon »ein reines Vorstellungsbild« ist, »das nicht notwendig visuell ist«, »enthält es nicht die Bekundung, ein Zeichen zu sein, weil eine solche Bekundung ein Zeichen von anderer Art als der eines Vorstellungsbildes wäre. […] Alle Ikons, von Spiegelbildern bis zu algebraischen Formeln, sind sehr ähnlich, insofern sie sich auf überhaupt nichts festlegen; nichtsdestoweniger sind sie die Quelle allen Wissens«. Peirce 2000, Bd. 1, S. 429. Wird die Vorstellung, das Bild, im Zuge der weiteren Auseinandersetzung/Differenzierung versprachlicht (mündlich oder schriftlich), so hat dessen Bezeichnung in der Rede den Charakter eines Symbols– insofern verstehe ich die Erscheinung in ihrer Abhandlung im Drama als Symbol eines Ikons, wodurch es wieder als Zeichen bezeichnet werden kann. 551 »Dem Requisit fällt dabei eine wichtige Rolle zu. Stumm, aber dennoch beredt, ist es Zeichen und konkreter Gegenstand zugleich und bietet damit das Ineinander verschiedener Wahrnehmungsmöglichkeiten im Interaktionsraum des Theaters an. Im weitverzweigten Beziehungsgeflecht bildet das stumme Requisitenspiel den roten Faden, an dem sich der Zuschauer orientieren kann.« Ottmann, Dagmar: »Das stumme Zeichen«. Zum dramatischen Requisit in Kleists Prinz Friedrich von Homburg. In: Gewagte Experimente und kühne Konstellationen. Kleists Werk zwischen Klassizismus und Romantik. Hrsg. v. C. Lubkoll u. G. Oesterle. Würzburg: Königshausen & Neumann 2001, S. 249 – 276, hier S. 250 f. 552 Ottmann 2001, hier S. 254. 553 Ebd., hier S. 255. »Das Requisit ›ist‹ etwas, nämlich etwas körperlich Faßbares, ein sinnlich wahrnehmbarer Gegenstand, und gleichzeitig ›zeigt‹ es auf etwas, auf eine über die sichtbare Erscheinung hinausgehende Bedeutung. Der Zerfall des Requisits in zwei Bedeutungsbereiche, in Wirklichkeit und zeichenhaften Hinweis zugleich, ist vielleicht am besten mit dem Begriff der ›Körpersprache‹ zu umschreiben, den man hinsichtlich des Requisits erweitern könnte.« Ebd.

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Das Metonym und seine Technik wird […] als besonderer Typus der Zeichensetzung erfaßt. Den von ihm ausgehenden Zeichenbildungsprozeß als Akzentuierung des Zusammenhangs in der Sache kann man wie folgt beschreiben: Seine metasprachliche Bedeutung – seine Objektbildung – kann aus dem bezeichneten Gegenstand selbst – dem Zeichenträger – und seinem realen Umfeld interpretativ abgeleitet werden. Von hier aus läßt sich eine direkte Verbindungslinie zum Requisit ziehen. Das Requisit ist quasi die Transposition des Metonyms in ein theatralisches Zeichen: Es ist ein in der Wirklichkeit vorhandener Gegenstand mit einer wörtlichen Bedeutung und ein zeichenhafter Hinweis mit einer übertragenen Bedeutung, die beide zueinander in einem realen Zusammenhang stehen. Im Requisit wird das metonymische Sprachbild gleichsam zu einer körperhaften, plastischen Skulptur, die auf der Bühne eine spezifische Rollenfunktion erhält.«554

Erkennen wir das Mal des Käthchens als elementares Requisit in diesem Drama an, und sprechen wir von dem Requisit als zentralem Bestandteil des poetologischen Verfahrens, dann besitzt das Mal die Fähigkeit, die »behauptete ›Ästhetik des unmöglichen Zugleichs‹ und die Technik des Enthüllens und Verhüllens bei Kleist sinnkonstitutiv nachzuvollziehen«, wodurch es in seiner »Mehrdimensionalität […] formsemantisch[e]« Wichtigkeit erlangt und besondere Aussagen ermöglicht und zulässt.555 Käthchen selbst weiß nichts über die Bedeutung des Mals auf ihrem Nacken; davon hat nur der Graf durch den Engel Kenntnis. Und seltsamerweise erinnert sich auch der Kaiser an ein Mal von Käthchens Mutter. So gesehen sind es die Autoritäten, die das Wissen um Käthchens Zeichen besitzen. Ähnlich wie das handlungsrelevante Zeichen Käthchens ist Kunigundes Körper als Ganzes zeichenhafter Bedeutungsträger. Sie wird als schöne Frau dargestellt, die besonderen Wert auf ihr Äußeres, ihren Körper legt. Ich erinnere an die Szene im 2. Akt (im Besonderen in der »Phöbus«-Fassung), in der sie sich für den Grafen herrichtet/herrichten lässt. Ihr Körper birgt aber auch ein Geheimnis; so kann sie es während ihrer Befreiung nicht zulassen, dass ihr Mantel auch nur gelockert wird, wodurch Einblick auf ihren Körper gegeben werden könnte. Das Augenscheinliche, die Oberfläche stimmt nicht mit dem Darunter überein. Sein und Schein klaffen auseinander. Kunigundes Körper steht mit seiner Stilisierung in direktem Bezug zur Gesellschaft und deren kulturellen Konnotationen.556 Kunigunde ist Herrscherin über die Maskerade und das Täuschen, »Meisterin der Zeichen« und »reine Projektionsfläche männlicher Phantasien«.557 554 Ebd., hier S. 256 f. (Hervorh. O. D.). 555 Ebd., hier S. 260. 556 Ich erinnere an das Verständnis des Körpers als »kulturell codiertes« Zeichen. Lemke 2008/ 09, S. 185; siehe Kap. 2.2.2.. 557 Greiner 2000, S. 175. Wie zuvor Käthchen als Projektionsfläche männlicher Phantasien

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Die Grotte, die Verkleidung, die Maskerade und ihr mit dem Tod in Zusammenhang stehendes dämonisches Wesen weisen sie dem Bereich der grotesken Darstellung zu. Kunigunde ist die Figur, die ihre Reize über die Stühle legt (SWB I, 614, 11 f.). Beim Bad in der Grotte im 4. Akt sieht Käthchen Kunigunde hüllenlos, erschrickt und stürmt sprachlos nach oben. Wegen des Gesehenen soll sie von Rosalie vergiftet werden, weil sie »Es« gesehen hat. Erst im 5. Akt erläutert Freiburg, dass Kunigunde auf Grund ihres mosaischen Wesens nicht geschaut werden darf (SWB I, 613 f., 31 ff.). Eleonore versucht dem Geheimnis um das furchtvolle Verhalten Käthchens auf den Grund zu gehen: »Was macht an allen Gliedern so dich zittern? / Wär dir der Tod, in jenem Haus, erschienen, / Mit Hipp’ und Stundenglas, von Schrecken könnte / Dein Busen grimmiger erfaßt nicht sein!«? (SWB I, 605, 5 ff.) Sieht man nun Käthchen als vom unbewegten Beweger Angetriebene, als Prinzip der Veränderung und Entwicklung, so könnte Kunigunde – als ihr Pendant – mit der Unbeweglichkeit, dem Stillstand verbunden werden. So wie Kunigunde in ihrem Sein, im Leben verharrt, gerät das Käthchen, von ihrem Anblick hypnotisiert, ins Stocken. Greiner spricht hinsichtlich der Darstellung der Kunigunde als Verkörperung der »schreckenerregenden Leere«, des »Nichts«558, des »wesenlose[n] Bild[s]« (SWB I, 539, 2), in dem »kein Gott […] wohnt« (SWB I, 539, 6), von der »Welt der leeren Zeichen«.559 Das volle Zeichen, das »Bild, in dem Gott wohnt«, ist dagegen Käthchen, während Kunigunde »Repräsentantin der leeren Zeichen« ist.560 Greiner stellt dem »Käthchen« in seiner Abhandlung »Penthesilea« zur Seite, indem er das eine »als Pendant und Reflexionsform des anderen« liest und dem »Käthchen« die poetologische Metapher der Arabeske zuschreibt.561 So ist das Stück eine »Arabeske« ganz im Sinne des poetischen Konzepts der Romantik […]. Und das Stück erhebt in Käthchen als poetologischer Metapher noch einen weitergehenden Anspruch: daß das Zeichen, das es als so zu verstehende Arabeske schaffe, nicht nur Hindeutung sei auf das romantische ›Unendliche‹, sondern bewahrheitet werde als dieses in sich bergend, als Symbol, d. h. als Bild, ›in dem Gott wohnt‹ […].562

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gehandelt wurde, als erotischer »Männerwunschtraum« (Klüger 1993, S. 106), so schreibt Greiner nun Kunigunde diese Rolle zu. Warum die Darstellungen mit den männlichen Wunschträumen und Phantasien verschränkt werden, kann ich nicht nachvollziehen, besonders auf Grund von deren offensichtlicher Beliebigkeit. Bachtin 1995, S. 91. Greiner 2000, S. 186. Und nur »im Hindurchgehen durch die Welt der leeren Zeichen […], kann das (Traum-)Wort[, dass sie eine Kaisertochter ist,] wahr gemacht werden«. Ebd. Greiner 2000, S. 179. An sich stellt die Wortkombination »leeres Zeichen« einen Widerspruch in sich dar; widersprüchlich wie auch Kunigunde, die zugleich ein Wesen »berückender wie verblendender Zeichen« ist. Ebd., S. 174. Greiner 2000, S. 180. Ebd., S. 179. Weiter schreibt Greiner dem »Käthchen« die Form der Arabeske »auch in dem Sinn« zu, »daß es zusammengesetzt ist aus Motiven, Handlungsmustern, Figurenkonstellationen all der anderen Dramen Kleists. […] So ist das Käthchen-Drama eine Arabeske der

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Das Stück vollziehe dies einerseits durch den Ausschluss des anderen – »Krieg mit der Repräsentantin der leeren Zeichen« –, und andererseits im »Hinübergehen zum Anderen«. In der zweiten Strategie sieht Greiner im Käthchen »strukturell […] genau den Weg Penthesileas wiederholt: vom mythischen Dasein zum Eintritt in die ›symbolische‹ Ordnung (›Symbol‹ hier als ›bloßes‹, d. h. leeres Zeichen verstanden)«. Dieser Weg wird jedoch abgelenkt – aber auf andere Weise als in der »Penthesilea«.563 Die Verschränkung des »Käthchens« mit der »Penthesilea« ergibt sich auf Grund von Kleists eigener Aussage über die beiden Stücke: »sie gehören ja wie das + und – der Algebra zusammen, und sind Ein und dasselbe Wesen, nur unter entgegengesetzten Beziehungen gedacht.« (SWB II, 912, 15 ff.) Den Weg des »Käthchens« »als mythologisches Drama«564 und komplementäres Pendant zu »Penthesilea« zeichnet Greiner folgendermaßen: Um den Eintritt in das »volle Symbol« zu vollziehen, es Wirklichkeit werden lassen, »als neuer Vollzug des Mythos«, braucht es zuvor »die Kunigunde-Welt der leeren Zeichen [als] konstitutives Moment der Öffnung zum ›vollen Symbol‹«.565 D. h. der Graf vom Strahl muss, um mit dem Käthchen einen neuen Mythos erschaffen zu können – »den Mythos von der Zeugung eines neuen Menschengeschlechts«566 –, durch die Kunigunde-Handlung hindurch. Am Schluss ist Kunigunde, als »leeres Zeichen«, aber nicht besiegt, sondern hat »die Fehde angesagt«: »Semiologisch besagt dies, daß das erfüllte Symbol […] sich nur in der Welt leerer, zu ›Arabesken‹ gefügter Zeichen zu öffnen vermag, nicht als ein Jenseits dieser Zeichen.«567 Wenn nun das »Käthchen« als »mythologisches Drama (um das Schaffen eines Symbols) zu lesen ist«, und dafür die Kunigunde-Welt als Ausformung der leeren Zeichen durchschritten werden muss, damit das »Wort wahr gemacht werden«568 kann, damit sich das »erfüllte Symbol« öffnen kann, so ist das Ende relativ ernüchternd. Greiner schreibt, dass die Substanz des »vollen Symbols« in der Öffnung – die in der Welt der leeren Zeichen geschieht – »sich selbst aufheben würde, wenn es wirklich würde (als neuer Vollzug des Mythos)«569. Durch dieses Paradox der Selbstaufhebung gelangen wir zu einem Ort, der »nur die Schwebe zwischen Verwirklichung und Nicht-Verwirklichung« darstellen kann, »es also ein er-

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anderen Kleists.« Ebd., S. 180 f. Kleist selbst hat allerdings nur auf eine Verbindung des »Käthchens« mit der »Penthesilea« verwiesen, was eine derartige Herausstreichung des »Käthchen« nicht wirklich zu rechtfertigen scheint. Ebd., S. 179 f. Ebd., S. 195. Ebd., S. 195. Ebd., S. 189. Ebd., S. 190. Ebd., S. 186. Ebd., S. 195.

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fülltes Symbol immer nur als Symbol des Symbols geben kann«.570 Dies lässt sich nun aber über jegliches Symbol sagen. Jedes Zeichen, jedes Symbol referiert auf andere Zeichen.571 Das »Repräsentamen« vermittelt »dem Verstand eine Idee von einem Ding«572, und damit gehen die Verweise weiter. Ertragreicher scheint hier die Betrachtung Kunigundes – mit ihrer unmäßigen Fülle an Zeichen – letztendlich als leeres Zeichen. Diese Verbindung scheint paradox, doch liegt in der Maßlosigkeit immer auch der Drang auf den Verzicht. Wie bei dem Bild der Groteske, die eine widersinnige Anhäufung von Formen ist, aber genau dadurch als Auflösung von Strukturen verstanden werden kann.573 Durch die Zeichenhaftigkeit (und bei Kunigunde die geradezu immense Fülle an Zeichen) der Figuren ließe sich ebenso die absurde Fülle der Zuschreibungen darstellen, denen alle Zeichen unterliegen. Zuschreibungen vollziehen sich durch Anerkennung, Anschauung. Auf welche Art und Weise ich andere betrachte und vergleiche. Es ist die Veränderung des Blickwinkels, wodurch sich Zuschreibungen verschieben, Symbole auf immer wieder andere Zeichen referieren können.

5.3.3. Identität Bei Kleist kommt es in vielen Texten zu Figurenkonstellationen, die eine Identitätsproblematik anschneiden. Oft stößt man auf revolutionäre Identitäten, die die Last eines schweren, weil unkonventionellen Standes tragen. Joachim Pfeiffer

570 Ebd., S. 195. Hier zieht Greiner den Schluss aus der Verschränkung von »Käthchen« und »Penthesilea«: »So reflektieren die Dramen einander, bestätigen einander, ergänzen und erfüllen einander in komplementärer Entsprechung.« In dem Zusammenhang sieht Greiner auch das »Medium resp. Beziehungsgeschehen der Grazie«. Grazie wird nicht als Eigenschaft betrachtet, sondern als »glückliches Übereinstimmen des Getrennten«. »Käthchen« und »Penthesilea« stellen den »Vollzug dieses Pendant-Verhältnisses als Geschehen der Grazie« dar. Ebd., S. 195 u. 201. 571 Der Begriff des Symbols wurde »früh und häufig verwendet […], um ein Übereinkommen oder einen Vertrag zu bezeichnen. […] Es ist auf alles anwendbar, das sich dazu eignet, die mit dem Wort verbundene Idee zu erfüllen […]. Es selbst identifiziert diese Objekte nicht.« Peirce, Bd. 1, 2000, S. 198 f. (Hervorheb. C. P.) »Wir haben gesehen, daß selbst die Gedanken nur insofern eine intellektuelle Bedeutung haben, als sie sich in andere Gedanken übersetzen lassen. Also sind selbst die Gedanken noch Zeichen, die für andere Objekte des Denkens stehen.« Ebd., S. 189. 572 Ebd., Bd. 1, S. 193. »Das Wort Mittel bezeichnet selbst, daß etwas in der Mitte zwischen zwei anderen Dingen steht. Außerdem ist dieser dritte Geisteszustand oder das Denken der Sinn für ein Lernen, und das Lernen ist das Mittel, durch das wir von Unwissenheit zum Wissen übergehen.« Ebd., S. 192. 573 Fuß 2001, S. 97.

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meint diesbezüglich, für Kleist seien »alle vorgegebenen Sozialisationsmodelle, alle Modelle gesellschaftlicher Subjektbegründung problematisch geworden«.574 Das literarische Subjekt in Kleists Texten setzt sich selbst aufs Spiel, es ist bereit, seine Identität zu verlieren, indem es sie in kühnen Entwürfen auflöst und unkonventionell neu erfindet. […] Gerade das Ausgegrenzte: also das verbotene Gefühl, das ausgegrenzte Geschlecht, die verbotene Sexualität, die anstößige Phantasie werden exzessiv in Szene gesetzt. Das Ausgeschlossensein aus der symbolischen Ordnung mündet nicht in den Versuch literarischer Emanzipation, sondern in die blasphemische Überbietung und Zerstörung der Realität. […] Das Subjekt rettet sich nicht durch Integration, sondern zelebriert literarisch die Obdachlosigkeit, zu der es verdammt wurde.575

Meist wird auf die Thematik des unlösbaren Konflikts zwischen Identität und gesellschaftlicher Umgebung eingegangen. Die Identitätsproblematik im Sinnes des Identitätsverlusts kann aber auch mit der Dämonisierung eines Menschen in Zusammenhang gebracht werden, womit er in Korrelation mit der Groteske steht. Ich reihe den Identitätsverlust, der durch Verwischung der Grenzen des Individuums oder durch Darstellung der Marionettenhaftigkeit eines Menschen gegeben wird, unter die Dämonisierung ein, da ich denke, daß die Wirkung auf den Leser hier vor allem in der erzeugten Angst besteht, keine nach außen abgegrenzte Identität mehr zu haben und damit manipulierbar zu sein. Diese Angst sehe ich als eine ›Urangst‹ des Menschen an, wie auch die Angst vor dem Dämonischen, nicht Erklärbaren.576

Eine mit Schwierigkeiten behaftete Anerkennung der Identität des anderen drückt sich in der Szene der Briefübergabe Käthchens aus, wenn sie um Einlass in das Zimmer zum Grafen und Gottschalk bittet und beide die Stimme des Käthchens nicht erkennen. Hier wird versucht, mittels der Stimme Anerkennung zu finden. Schon die Form der Aufforderung, die Türe zu öffnen, ist mehrdeutig: »Macht auf!« (SWB I, 569, 10) kann ebenso als Machtanrufung577 im Sinne einer Aufforderung und Anrufung der Macht-Person, in dem Fall Graf vom Strahl, verstanden werden, aufzustehen, sich in Bewegung zu setzen. Und wieder treffen wir, in einer dramatisch wichtigen Szene, auf Momente grotesker Komik. Stimme (von außen). Macht auf! Macht auf! Macht auf!

574 Pfeiffer, Joachim: Die Konstruktion der Geschlechter in Kleists Penthesilea. In: Gewagte Experimente und kühne Konstellationen. Kleists Werk zwischen Klassizismus und Romantik. Hrsg. v. C. Lubkoll u. G. Oesterle. Würzburg: Königshausen & Neumann 2001, S. 187 – 198, hier S. 195; weiter: »Was ihm blieb, war die Literatur, die ihm eine imaginäre Verflüssigung solcher Identitäten, auch der geschlechtlichen, erlaubte.« Ebd. 575 Ebd., hier S. 194 f. 576 Sinic 2003, S. 270. 577 Für diesen Hinweis danke ich Arno Dusini.

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Gottschalk. Holla! – Wer ruft? Stimme. Ich, Gottschalk, bin’s; ich bin’s, du lieber Gottschalk! Gottschalk. Wer? Stimme. Ich! Gottschalk. Du? Stimme. Ja! Gottschalk. Wer? Stimme. Ich! Der Graf vom Strahl (legt die Laute weg). Die Stimme kenn’ ich! Gottschalk. Mein Seel! Ich hab’ sie auch schon wo gehört. Stimme. Herr Graf vom Strahl! Macht auf! Herr Graf vom Strahl! Graf vom Strahl. Bei Gott! Das ist – Gottschalk. Das ist, so wahr ich lebe – Stimme. Das Käthchen ist’s! Wer sonst! Das Käthchen ist’s, Das kleine Käthchen von Heilbronn! Graf vom Strahl (steht auf). Wie? Was? zum Teufel! (SWB I, 569 f. 9ff, 1 ff.)

Hans-Dieter Fronz sieht, in Bezug auf das »Marionettentheater« und Kleists Stücke, nicht die »Entzweiung«, wie sonst bei Kleist üblich, sondern hierin »offenbart sich Käthchens reines Beisichsein und Einssein mit sich in der Szene«.578 Es ist ein Spiel mit dem Namen, der Identität und den gesellschaftlichen Mechanismen der Anerkennung. Es handelt sich um die »Spannung zwischen individueller und gesellschaftlicher Existenz«, sowie die »Thematisierung des Namens«.579 In dieser Passage drückt sich mit der stufenweisen Erkennung des Käthchens auch die »Genese und Selbsterfahrung der menschlichen Identität im Spannungsfeld von Sprache und Familienkonstellationen« aus. Stephens un578 Fronz 2000, S. 343. 579 Stephens 1999, S. 357.

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terteilt sie in drei Bereiche: Den ersten, den »inneren Bereich einer unversehrten Eigentümlichkeit« in der »Aura des Utopischen« stellen die ersten Benennungen des »Ich« dar. Der zweite Bereich wäre der familiärer Beziehungen, mit denen sich leicht »eine falsche Intimität« einstellt; wenn Gottschalk und der Graf, kurz bevor sich das Käthchen zu erkennen gibt, in einer Art liebevollen Zuwendung der Stimme begegnen und glauben, den Menschen hinter der Stimme zu erkennen. Schließlich setzt sich aber der letzte Bereich durch, der auf die »Namensproblematik« Käthchens – sie ist (noch) keine Adlige – weist, der »Bereich der Exteriorität« ihrer Figur. Damit würde in dieser Szene die »Brüchigkeit jener Struktur« gezeigt, »die das moderne Subjekt als die Basis seiner Identität erlebt«.580 Der Name ist essentiell für die Identität. Geht der Name verloren, funktioniert Identifikation nicht mehr, die gesellschaftliche Rolle gerät ins Wanken. Der Name ist jener Grenzwert, an dem in unserer Gesellschaft Identität erfahren wird: als Einheit des Körpers mit sich selbst – oder als Selbst-Zerstörung und Dissoziation der Person. Man kann dies auch anders, von der Seite des Schmerzes der Individuation her, ausdrücken: Der Name ist die Wunde, durch die das Selbst verletzt oder zerstört wird, er ist die Barriere, die den Weg des anderen zum Selbst versperrt.581

Käthchen weiß, ohne die Personen gesehen zu haben, sofort, mit wem sie spricht. Doch weder der Graf noch Gottschalk können ihre Stimme erkennen, sie haben eine Ahnung, doch Käthchen muss ihren Namen selbst nennen. Erst dadurch wird sie als die wahrgenommen, die sie ist. Davor ist sie eine »Stimme« ohne Namen. Kunigundes Figur demonstriert mit ihrem Körper die Bruchlinien der menschlichen Identität. Sie ist ein Mischgebilde »aus allen drei Reichen der Natur«.582 (SWB I, 613, 31 f.) Ihr Zusammengesetzsein spricht auch die kulturelle Identität eines Menschen, seine Herkunft an: ihre Zähne kommen aus München, ihre Haare aus Frankreich, der gesunde Ausdruck ihrer Wangen aus Ungarn und den Wuchs ihres Oberkörpers verdankt sie einem schwedischem Hemd. (SWB I, 613 f., 32 ff., 1) Weder ihr biologischer noch ihr kultureller Ursprung kann eindeutig benannt werden. So ist es auch mit ihrem Geschlecht: Kunigunde nennt sich eine Kaisertochter, darauf begründet sie ihren Anspruch auf die Ländereien des Grafen, doch: »Der jetzt lebende Kaiser ist mir fremd; die Urenkelin eines der vorigen Kaiser bin ich, die in verflossenen Jahrhunderten, auf 580 Ebd., S. 357 f. 581 Neumann 1997, hier S. 176. 582 Darunter werden in der Literatur das »Tier-, Pflanzen- und Mineralreich« verstanden. Grathoff 2002, S. 54. Siehe zur weiteren Erklärung in Bezug auf das Mosaik: SWB III, 487. Bei letzterer Erläuterung wird wiederum auf die Herkunft des Motivs aus dem Orient verwiesen, »vermuthlich aus Persien«. Ebd.

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dem deutschen Thron saßen.« (SWB I, 549, 22 ff.) Mit den verflossenen Jahrhunderten wäre wohl auch das Geschlecht verflossen. Beruft sie sich nun auf eben dieses Geschlecht, beruft sie sich auf eine unsichere Identität. Daher bedarf sie der Form der Maskerade und der Verhüllung, um den Schein ihres Seins aufrechterhalten zu können. Die Maskerade, als groteske Gestaltung, ist wiederum ein Spiel mit unklarer Identität. Hinter der Maske des Schönen verbirgt sich das Hässliche, hinter dem Lebendigen der Tod, hinter dem Geordneten die Unordnung – unsere Normen, unsere Zuschreibungen werden unterwandert und verunsichert. D. h., die Maske referiert auf unsere gesellschaftliche Maskerade, indem sie mit dem Vortäuschen von Identität spielt. Das Mechanische verfremdet sich, indem es Leben gewinnt; das Menschliche, wenn es sein Leben verliert. Dauerhafte Motive sind die zu Puppen, Automaten, Marionetten erstarrten Leiber und die zu Larven und Masken erstarrten Gesichter. […] Schon in Bonaventuras Nachtwachen verdeckt die Maske kein darunter lebendes, atmendes Gesicht, sondern ist sie selber zum Gesicht des Menschen geworden. Risse man sie ab, so grinste darunter der nackte Schädel entgegen.583

5.3.3.1. Maske In der westlichen Kultur hat sich bezüglich der Bedeutung der Maske für den Träger ein Wandel vollzogen. Belting erwähnt, dass »seit der Antike keine Masken mehr hervorgebracht« worden sind, mit denen die Menschen »sich identifiziert hätten«. Daher wurde das Gesicht immer wichtiger, das »als Zeichenträger und Ausdrucksträger ohne Konkurrenz blieb und soziale Rollen der Maske auf sich zog«.584 Masken im alten Sinne wurden folglich negativ, als Täuschung des Gesichts bewertet. Zwischen Gesicht und Maske entfiel die einstige Trennung, wie sie gegenüber Trägermasken bestanden hatte, die sich ein Tänzer oder Schauspieler aufsetzte.585

Um sich bewusst in Szene zu setzen, um sich zu präsentieren, ist somit das Gesicht zur modernen Maske geworden. Mit dem Antlitz stelle ich mich vor und täusche gleichzeitig etwas vor. Für die gesellschaftliche Interaktion werden Masken ›aufgesetzt‹, hinter der großen Maske Gesellschaft spielen wir das Spiel, um Konventionen zu entsprechen und nicht aus dem System zu fallen. Im »Käthchen« stoßen wir an mehreren Stellen eindeutig auf angelegte Masken. Beim Sonderfall der Kunigunde, die eine Ganzkörpermaske trägt, tritt die Form der Maskerade als Zeichenträger per se auf.586 583 584 585 586

Kayser 2004, S. 197 f. Belting 2013, S. 119. Ebd. Die Leere hinter der Maske Kunigundes lässt sich auch folgendermaßen erklären: »Die

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Wesentliche Implikationen des »Käthchens«

Den ersten Masken begegnen wir in der Gerichtsszene im 1. Akt, wenn das Femegericht587 verkleidet, »[v]ermummt von Kopf zu Füßen« dasitzt, »[w]ie das Gericht, am jüngsten Tage […]!« (SWB I, 515, 7 f.), und selbst die »Grafen, Ritter und Herren (sämtlich vermummt)« erscheinen (SWB I, 503, 7 f.). Diese Szenerie kann durchaus mit einer grotesken Maskerade in Verbindung gebracht werden. Doch nicht nur die Szenerie mutet grotesk an, auch die Verhandlung an sich. Das Verhör verfährt nach grotesk-absurden Mustern. Günter Oesterle gibt in seinem Aufsatz »Vision und Verhör« Aufschluss über die Funktion der juristischen Gerichtsdynamiken im »Käthchen« und streicht die Veränderungen der Prozesspraxis zwischen der Buchfassung und der »Phöbus«-Fassung hervor.588 Die Verbindung neuer, damals aktueller Verhörpraktiken589 mit der Darstellung eines symbolisch-inquisitorischen Gerichtsverfahrens, das dann eingesetzt wird, wenn der »Arm weltlicher Gerechtigkeit« (SWB I, 503, 17) nicht mehr ausreicht, um die Freveltaten zu bestrafen, kann durchaus als gesellschaftskritische Aussage verstanden werden, wozu eben gerade die Groteske gerne eingesetzt wird.

Präsenz der Maske bedarf der Absenz ihres wechselnden Trägers. Masken übernehmen am Körper noch entschiedener die Führung, als es das Gesicht vermag, und regieren über den Körper, der sie trägt. Indem sie ihn verwandeln, statten sie ihn mit einer symbolischen Macht aus, die den Ausdruck verselbständigt.« Belting 2013, S. 45. 587 Die Beleuchtung des Gerichtssaals, der Gerichtshöhle, wirkt schon grotesk: So muss das Gericht mit der Erleuchtung »von einer Lampe« (SWB I, 503, 3) auskommen, um fünf namhaft angeführte Personen – die jedoch nicht dicht zusammen an einem Tisch sitzen – und »mehrere Grafen, Ritter, Herren« (SWB I, 503, 6) zu beleuchten; wieder mehrere Häscher tragen Fackeln, doch deutet das danach folgende »u. s. w.« (SWB I, 503, 8) an, dass noch mehr Personen anwesend gewesen sein müssen. Was hier erhellt werden soll, ist fraglich, und so wirkt die Beleuchtung für die Szene des »hohen, heimlichen Gerichts«, das als »Vorläufer der geflügelten Heere, die er in seinen Wolken mustert« (SWB I, 503, 13 f.), angesehen werden kann, und dessen Richter von Theobald sogar als hohe und heilige Herren (SWB I, 503, 27) bezeichnet werden, völlig unpassend und grotesk. 588 Oesterle 2001, S. 303 – 328. 589 Oesterle führt folgende Veränderungen der Verhörpraxis an, die im »Käthchen« wirksam eingesetzt wurden: »Da ist einmal die Tatsache, daß sich durch die Abschaffung der Folter um die Mitte des 18. Jahrhunderts die Techniken des Verhörs verfeinert hatten und damit die Tortur sich gleichsam ins Verhör selbst einnisten konnte. Da ist zum zweiten die nun einsetzende Reflexion auf die Doppelrolle des Inquirenten, der ja keineswegs mit allen Mitteln das Geständnis erzwingen, sondern der zugleich auch Anwalt des Beschuldigten sein soll. Und da ist drittens die um die Jahrhundertwende aufkommende Rechtsdiskussion zu bemerken, die von der Überforderung des Inquirenten ausgeht, der Ankläger und Verteidiger ›in Einer Person‹ sein muß. Als Konsequenz […] wird daher eine Ausdifferenzierung in getrennte Funktionen von Richter, Ankläger und Verteidiger vorgeschlagen; das bedeutet die Ablösung des Inquisitionsprozesses durch den ›Anklageprozeß‹. Zu nennen ist viertens die gender- und ständespezifisch unterschiedliche Behandlung einerseits des beklagten Grafen, der als Adliger einem bestimmten ›Privilegienstrafrecht‹ untersteht, und andererseits Käthchen, das als Zeugin ›Punkt für Punkt‹ […] verhört wird.« Oesterle 2001, hier. S. 319 f. (Hervorh. im Orig.).

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Die überraschende Tatsache, daß der Beklagte zum Inquirenten wird, verweist nicht nur auf § 610 des reformierten preußischen Landrechts und auf das dort verbriefte Recht des Beklagten, dem Zeugen Fragen vorzulegen, sondern ebenso auf eine im Laufe des 18. Jahrhunderts vollzogene Umakzentuierung des Ziels des Inquisitionsprozesses. Das Verfahren der Verhörpraxis tritt ins Zentrum des Interesses […]. Die in der dramatischen Dynamik des 1. Akts bedeutsame Wendung, bei der der Graf die aktive Rolle des Inquirenten übernimmt, versetzt die Richter in eine Beobachterposition.590

Oesterle gibt somit eine logische und leicht nachvollziehbare These, weshalb der Graf die Funktion des Staatsanwaltes gegen sich selbst übernimmt. Als Anwalt vertritt er ganz und gar das Geschlecht des Adels – selbst die Femerichter verweisen auf seinen Stand und seine Herkunft –, und erst, als er vom Gericht entlassen und schuldfrei gesprochen wieder vor der Höhle auf dem Waldboden liegt, bekennt er sich zu weiteren Gefühlen fürs Käthchen. Der Graf legt die Maske des Adels ab und bekennt seine Zuneigung, seine innige Liebe zu Käthchen. In diesem Monolog werden die hohen gesellschaftlichen Erwartungen und der enorme Druck der Konventionen, im Speziellen des Adelsgeschlechts, anschaulich zum Ausdruck gebracht. In der imaginierten arkadischen Landschaft kann er »die Seufzer«, die seiner »von Gram sehr gepreßten[] Brust entquillen, geradeaus zu der guten Götter Ohr empor« tragen (SWB I, 529, 31 ff.). Die gepresste Brust versinnbildlicht den Druck der Gesellschaft, der auf ihm lastet. Wie gerne würde er Käthchen »in das duftende Himmelbett tragen« (SWB I, 530, 15 f.). Doch es erscheinen sofort die »grauen, bärtigen Alten« (SWB I, 530, 29), vor denen er sich zu rechtfertigen hat: »Nein, nein, nein! Zum Weibe, wenn ich sie gleich liebe, begehr’ ich sie nicht; eurem stolzen Reigen will ich mich anschließen: das war beschlossne Sache, noch ehe ihr kamt.« (SWB I, 530, 33 ff.) Der Monolog löst Unverständnis beim Leser/Zuseher aus; der, der gerade noch das Käthchen von sich gestoßen und ihr ein Versprechen abgerungen hat, das gegen ihren (und scheinbar seinen eigenen) Willen war, betet sie in Wahrheit an. Denn Käthchen ist eine Frau, mit der sich »ein Geschlecht von Königen« erzeugen ließe, mit dem »Wetter von Strahl […] jedes Gebot auf Erden!« (SWB I, 531, 4 f.) hieße. Und könnte er, dürfte er, fände er »jemals ein Weib […], Käthchen, dir gleich: so will ich die Länder durchreisen, und die Sprachen der Welt lernen, und Gott preisen in jeder Zunge, die geredet wird.« (SWB I, 531, 7 ff.) Aber schon einen Atemzug später sitzt die Maske der adeligen Verstellung wieder. Und augenblicklich 590 Ebd., S. 321. (Hervorh. G. O.). »Der Graf führt an seiner Probandin, dem Käthchen, exemplarisch den neuesten Stand des psychologisch-juristischen Diskurses durch. […] Die Kritik des Vorsitzenden Femegerichts, daß die hier vorgeführte Art psychischen Terrors ›hassenswürdiger‹ sei als ›die Höllenkunst‹, derer man den Grafen beschuldige […], erfaßt präzis jene Veränderung zwingender Gewalt innerhalb des Zivilisationsprozesses, die sich mit der Abkehr von der körperlichen Folter und der Entwicklung neuer, sprachlich sublimer Überführungsmethoden vollzieht.« Ebd., S. 322 ff.

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verliebt er sich in das, in einem Befreiungskampf von ihm gerettete Fräulein, und sieht dabei sogar über die Tatsache hinweg, dass es sich dabei um seine Erzrivalin Kunigunde handelt – er hat sich verschaut. Eine erinnerte Liebesbeziehung ist es, die eine weitere Maske in dem Drama lüftet. Der Kaiser legt die Maske der fürstlichen Contenance für den Moment seines Geständnisses ab. Und er erkennt in diesem Zuge, dass die Welt begonnen hat, »aus den Fugen zu wanken«, die Ordnung in Gefahr ist. Diese Verunsicherung verspürt der Mann, bei dem die Fäden der weltlichen Macht zusammenlaufen. Der Umsturz steht kurz bevor. Augenscheinlich kann es so nicht weitergehen. Der Kaiser muss sich das verdrängte Vergehen eingestehen, um gegen die Revolution der göttlichen Kräfte handlungsfähig zu sein. Er muss die göttlichen Signale bis zu einem gewissen Grad anerkennen, will er nicht riskieren, dass seine zelebrierte Ordnung zerstört wird. Stürzte das Gebäude der Macht auf Grund des himmlischen Bebens ein, wäre er seine Stellung auf immer los. Daher gilt es nun, vor allem seinen Thron vor dem Untergang zu bewahren. Es ist der Versuch des Machterhalts des Mächtigen in Zeiten drohenden Ungemachs; leicht erkennt man die Parallele zur Lafontaine’schen Fabel im »Sprachessay« (Kap. 2.1.2.). Reue ob der offensichtlichen Vergewaltigung Gertruds, Käthchens Mutter, zeigt der Kaiser nicht. Es gilt das nochmalige Herabsteigen des Cherubs, der »das ganze Geheimniß, das [er] […] hier den vier Wänden anvertraut« (SWB I, 613, 4 f.) hat, ausbringen könnte, um jeden Preis zu verhindern – auch wenn das Volk die zwei Ereignisse – »Wie zwei Hälften eines Ringes, passend« (SWB I, 629, 16) – selbst aneinanderreihen kann. Und selbst in Zeiten größter Not weiß er, ganz im Sinne des Wolfes, der das Ungewitter von sich ablenken muss, sein Missgeschick zu seinem Vorteil zu wenden. Der Graf bedrängt den Kaiser, dass er ihm das Käthchen zur Braut gebe: »Nun, hier auf Knieen bitt ich: gieb sie mir!« (SWB I, 621, 19). Auf Grund seiner Position weist ihn der Kaiser erst einmal zurück, um anschließend die Einwilligung mit einer Forderung verknüpft geben zu können: »Der Tod591 nur ist umsonst, / Und die Bedingung setz’ ich dir.« (SWB I, 621, 26 f.) Der Graf muss den vermeintlichen Vater Käthchens in sein Schloss aufnehmen – an späterer Stelle werde ich auf diese Forderung, diesen Akt noch zu sprechen kommen. Theobald, der nunmehrige Stiefvater Käthchens, lässt sich zu dem Schritt bewegen, das Käthchen nicht mehr als seine Tochter anzuerkennen – obwohl er noch vor dem Gottesgericht vehement dagegen ankämpfte und bereit war, sein Leben dafür zu geben –, sondern in ihr die Kaisertochter zu sehen. Im Tausch gegen den Einzug in das Schloss vom Strahl. In dieser Hinsicht steigt er auf der Leiter der Machtverteilung eine Stufe höher und darf, wenn auch nicht namentlich, am Tisch des 591 Mit diesem Aphorismus lässt sich das Bild einer Heirat mit Kunigunde, die dem Toten nahesteht, verschränken.

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Adels Platz nehmen. Ohne jede Bedingung übergibt er seine vermeintliche Tochter an den Kaiser. In seiner Rolle kommt dadurch deutlich jene des Stellvertreters zum Tragen, der als Vertreter des biologischen oder göttlichen Vaters die Zeit bis zur Aufnahme in den Adelskreis überbrückt. Identität, verstanden als des Selbst »erlebte innere Einheit der Person«592, besitzen die Figuren im »Käthchen« nicht, es handelt sich eher um ein Geflecht von Verhaltensweisen und Eigenschaften, das eine Figur zu einem Konstrukt von Anschauungen, Vergleichen und Zuschreibungen macht. Kluge meint, dass es sich bei den Figuren um »nicht realistisch aufgefaßte Charaktere, Allegorien und Symbole« handelt, die »als Zeichen und Bilder« verstanden werden können.593 Doch mit Hans Belting kann gesagt werden, dass jeder Ausdruck des Selbst schon eine Rolle an sich darstellt.594 Der Gegenbegriff zur Rolle ist das Selbst, aber dieses unterliegt seinerseits einem Rollenzwang. Das Recht auf unser Selbst löst erst einmal die Frage aus, was denn das Selbst ist, und das führt zu der weiteren Frage, wie verlässlich dessen Ausdruck im Gesicht ist. Das Ich wird von dem Impuls geleitet, ein Selbst auszudrücken, das sich nicht »von selbst« zeigen kann. Das Gesicht gehört jemandem, den wir ohne Gesicht nicht kennen. […] Das Verhältnis zwischen Ausdruck und Selbst ist schwer zu durchschauen. Der Ausdruck eines Gesichts kommt in der Gesichtsarbeit zustande, bei welcher Mimik, Blick und Stimme wechselweise die Führung übernehmen. Das Gesicht ist daher eher eine Bühne als ein Spiegel. Wird die Ausdrucksarbeit stillgelegt, so bleibt nichts als eine leere Bühne zurück. Erst im Tod siegt eine einzige Maske über die vielen, die im Gesicht kommen und gehen.

Der Begriff der Identität weist bei Kleist auch auf das Bild des Doppelgängers hin, und dieses steht wiederum in Verbindung mit dem Abbild, und das Abbild, wie schon aus dem »Marionettentheater« und dem Gleichnis mit dem dornausziehenden Jüngling bekannt, ist immer Repräsentant, Stellvertreter – im Sinne des Einstehens für eine gesellschaftlich geprägte Rolle. 5.3.3.2. Doppelgänger595 – Abbild Gerhard Kurz hat in einem Aufsatz zu »Amphitryon« das »Käthchen« in Verbindung mit dem Motiv der Verdoppelung596 gebracht. Dabei geht es um die zweifache Brechung der personalen Identität »in der Verbindung des Mensch592 Duden, Fremdwörterbuch. 2001. 593 Kluge, Gerhard: Das Käthchen von Heilbronn oder Die verdinglichte Schönheit. Zum Schluß von Kleists Drama. In: Euphorion 89 Bd., H. 1 (1995), S. 23 – 36, hier S. 28. 594 Belting 2013, S. 37 (Hervorh. H. B.). 595 »Das Doppelgängermotiv kann in der Variante von der belebten Puppe identisch mit dem Motiv vom künstlichen Menschen werden. Die Vorstellung von einem durch überirdisches Einwirken zustande gekommenen Doppel-Ich berührt sich mit der im Volksglauben vorherrschenden Auffassung, dass die Existenz des Menschen im Traum, im Spiegelbild, im Schatten, ja selbst im Porträt ein zweites Dasein bedeute und dass das Abbild ein lebendiger

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lichen und des Göttlichen und in der Figur der Verdoppelung«.597 Kurz spricht in Bezug auf das »Käthchen« von der »Verdopplung«, ja auch »Verwechslung« von »Käthchen und Kunigunde«.598 Denkt man an die Reihe der romantischen Doppelgänger, kann man von einem epochalen Interesse an solchen Verdoppelungen oder Doppelgängern sprechen. […] Das Ich macht die schreckliche Erfahrung, daß es auch ein anderer/ein anderes ist, oder daß es gespalten ist und sich als fremdes begegnet.599

Käthchen und Kunigunde als Doppelgängerinnen. Dieser Gedanke mutet zu Beginn seltsam an, doch bei genauer Betrachtung ist er nicht mehr so abwegig. Ich habe gesagt, dass Kunigunde mit dem Bösen600 in Verbindung steht, Käthchen mit dem Guten. Das Böse in Kunigunde drückt sich durch die Motivik des Todes aus, während Käthchen die Bewegung, das Lebendige transportiert. Die interessante Beobachtung von Vernant, die Verdoppelung diene der Vermittlung zwischen dem Toten und dem Lebenden601, passt genau zur Zuordnung der beiden Figuren. Die Grottenszene könnte, wie schon erwähnt, als Selbsterkenntnis insofern gedeutet werden, als sich Käthchen beim Anblick Kunigundes

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Teil der Person sei. Was dem Abbild angetan wird, geschieht auch der Person. […] Narziss verliebt sich in sein vom Wasser aufgefangenes Bild, zunächst ohne zu wissen, dass es ein Spiegelbild ist, dann klüger, aber unglücklicher, da seine Liebe nie Erfüllung finden wird; der Anblick des Doppelgängers führt zur tödlichen Wahrnehmung des ewig geteilten und doch einen Ichs. […] Auch personale Doppelgänger, Verwechslungen und Stellvertretungen nahmen in jener Epoche [der Romantik; Anm. P. Sch.] verbreiteter Identitätsproblematik einen hinter- und abgründigen Charakter an.« Frenzel 2008, S. 98 ff. »In seinen Untersuchungen zur gesellschaftlichen Funktion der griechischen Tragödie interpretiert René Girard die Figur der Verdoppelung oder des Doppelgängers als einen Ausdruck einer gesellschaftlichen Krise, in der mit den Unterschieden zwischen Personen auch ihre Identität verloren geht.« Kurz 2001, hier S. 174; »zum Motiv der Verdoppelung vgl. auch Jean-Pierre Vernant: Mythe et pensée chez les Grecs. Paris 1988 […]. Vernant interessiert sich vor allem für die Funktion des ›double‹ als Vermittlung zwischen den Lebenden und den Toten, dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren.« Ebd., Anm. 22. Kurz 2001, hier S. 174. Ebd., hier S. 174. Ebd. Das Böse spielt in der Gesellschaft des Menschen eine besondere Rolle. Es ist seit jeher in der Gesellschaft verankert; das wird auch im Sprachgebrauch sichtbar: »[D]er physische Schmerz, das moralische Leid, die Not des Herzens, die Schuld und die Strafe sowie die Schläge des Schicksals werden allesamt mit ein und demselben Grundwort auf der Basis von malum (Übel) bezeichnet«. Ariès 2005, S. 777 (Hervorh. im Orig.). Die Etymologie von Böse »malus, pravus, iratus, oft in bös gekürzt«, besagt: »auf leibliche gegenstände angewandt bezeichnet böse das schmerzende, wehthuende […]. die krankheit selbst heiszt böse […]. […] die bisher erörterten vorstellungen führen schon von sachen auf lebende wesen, thiere und menschen, wie auch die krankheiten und plagen personificiert werden […]. […] milder ist böse = schlecht, gering, verdorben, falsch, ganz objectiv genommen […].« Grimm, DWB, Bd. 2, Sp. 248 ff. (Hervorh. im Orig.) Kurz 2001, hier S. 174.

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selbst erkannt hat und vor Schreck wegen der Schau ihres »zweiten Gesichts« sprachlos wird. Hatte sie doch bis dahin das genaue Gegenteil dessen an sich wahrgenommen, was sie in der Grotte sehen musste. Sie erkannte den Tod in ihrem Wesen: et in arcadia ego602. Werden Käthchen und Kunigunde als Doppelgängerinnen gelesen, kann sich hinter dem geschauten »Gräuel« (SWB I, 606, 2), dem »Anblick« Kunigundes, Käthchens »Wahrnehmung des ewig geteilten und doch einen Ichs« verstecken.603 Damit würde es sich um den Diskurs der Selbsterkenntnis handeln. Andererseits kann aber auch – betrachtet man Kunigundes gemäß ihrer Herkunftsangaben totes Geschlecht – von dem Abbild der gesellschaftlichen Anerkennung der Frau gesprochen werden – das Nichts als Zeichen der Nicht-Anerkennung. Wie oben erwähnt, kann bei dem Blick ins Nichts, die Leere, unser eigenes Selbst widergespiegelt werden; in der Abwesenheit anderer Zeichen werden die eigenen umso stärker wahrgenommen. So würde sich Käthchen als in der gleichen konstruierten Ordnung der Welt verhaftet erkennen wie Kunigunde. Ich betrachte nun die Grottenszene als Spiegelszene. Kunigunde und Käthchen stehen sich spiegelbildlich gegenüber; Kunigunde kann als Spiegelbild Käthchens angesehen werden. Kunigunde hat keine Substanz, sie muss sich jeden Morgen aufs Neue »bilden«, Bild werden, sich jeden Tag neu erschaffen und ist nur äußerer Schein, nur als Abbild der anderen zu verstehen, sie ist ein Mosaik aus vorgestellten Bildern – in dieser Hinsicht ist sie »Nichts«, aus lauter Zuschreibungen bestehend. Demgemäß kann Kunigunde kein Sein bilden, denn sie bleibt der äußere Schein. Würde sie erkannt, so wäre ihr Schein als das Sein aller sichtbar. »Der Spiegel ist der Ort« an dem wir uns gewahr werden, dass »unsere species […] uns nicht gehört«.604 Dass unser äußerer Schein nicht unser Sein darstellt. Hier kommt der Mythos des Narziss’ zu tragen, dessen »Quelle der Liebe« auf die »grausame Erfahrung« hinweist, dass »das Bild unser Bild ist und nicht ist«.605 Es ist unser Bild, indem wir es wahrnehmen, doch sobald wir uns erkennen und verkennen (nicht unserem reinen Sein im Schein begegnen), beginnen die Sichtweisen der anderen mitzuschwingen. Liebe nannten »die mittelalterlichen Dichter« die Pause zwischen der Wahrnehmung des Bildes und »der Tatsache, daß man sich darin erkennt«. Wird diese Pause ersatzlos gestrichen, kann man nicht mehr lieben und »glaubt, Herr über seine species zu sein«.606 In der »species« 602 Nicolas Poussin: Et in Arcadia ego. Paris, Louvre, um 1638. Zit. nach Jezerkowski 1998, hier S. 222. 603 Frenzel 2008, S. 98. 604 Agamben 2005, S. 53. 605 Ebd. 606 Ebd., S. 53 f.

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drückt sich so auch die Spannung aus, dass »jedes Wesen sich selbst begehrt, begehrt, an seinem eigenen Sein festzuhalten, sich selbst mitzuteilen«. »Ein anderes Wesen lieben heißt: […] das Begehren« zu begehren, das zu lieben, »mit dem es an seinem Sein festzuhalten begehrt«. Und das »›spezielle‹ Sein« ist »das Bild oder das Antlitz der Menschheit«.607 Kunigunde könnte als dieses Bild, als »Antlitz der Menschheit« verstanden werden. Sie ist der äußere Schein, der sich umfassend anbietet. Käthchen dagegen ist die, die Substanz hat, sich aber nur schwer mitteilen kann. Species ist das, was sich dem Blick anbietet und mitteilt, das, was sichtbar macht und zugleich in einer Substanz und in einem spezifischen Unterschied fixiert sein kann – und auf jeden Fall fixiert sein muß –, um eine Identität konstituieren zu können.608

Es ist der Anblick des eigenen Ichs609, in dem das Fehlen des anderen sichtbar wird. Dies bedeutet aber auch, dass man das andere, das man nicht hat, ein Stück weit braucht. Diese Bewusstwerdung lässt Käthchen in Rätseln sprechen und ihre Rede unverständlich und widersprüchlich werden. Zuerst meint sie – nachdem ihr Eleonore Stillschweigen versprechen musste: »Was sag’ ich! / Du mußt sogleich zum Grafen, Leonore, / Und von der ganzen Sach’ ihn unterrichten.« (SWB I, 605, 32 f.) Doch Eleonore fällt es schwer, Bericht von etwas zu erstatten, das sie nicht weiß. Gleich darauf erwidert Käthchen: »– Doch ihm nicht sagen, nein, um’s Himmels willen, / Daß es von mir kommt. Hörst du? Eher wollt’ ich, / Daß er den Gräuel nimmermehr entdeckte.« (SWB I, 605 f., 37, 1 f.) Eleonore versteht die Furcht, den Gräuel nicht, und will wissen: »Was ist’s, das du erschaut?« (SWB I, 606, 5), doch Käthchen meint, dass es besser sei, wenn das Wort nie über ihre Lippen käme, sie meint, dass sie damit den Grafen enttäuschen würde, doch: »Durch mich kann er, durch mich, enttäuscht nicht werden!« (SWB I, 606, 9) Das versteht Eleonore erst recht nicht und fragt nach dem Grund der Verheimlichung vor dem Grafen. Käthchen wendet sich um und ruft aus: Horch! Eleonore. Was giebt’s?

607 Ebd., S. 54. 608 Ebd., S. 55. 609 »Das Ich macht die schreckliche Erfahrung, daß es ein anderer/ein anderes ist, oder daß es gespalten ist und sich als fremd begegnet.« Kurz 2001, hier S. 174. Ebenso muss der Graf in der Holunderbuschszene erkennen, dass er eine doppelte Identität besitzt: »Nun steht mir bei, ihr Götter: ich bin doppelt! / Ein Geist bin ich und wandele zur Nacht!« (SWB I, 600, 14 f.) Mit dieser Aussage ließe sich der Somnambulismus wohl eher auf den Grafen beziehen als auf Käthchen.

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Käthchen. Es kommt! (SWB I, 606, 14 ff.)

Mit diesem »Es« kann das dämonische Wesen, das Monster Kunigunde gemeint sein. Dies würde der Darstellungsweise der Groteske entsprechen. Und die groteske Darstellungsform will uns darauf hinweisen, dass hinter jedem Abbild610, jedem Ausdruck noch eine weitere Bedeutung lauert; das immer so fort, bis in die Unendlichkeit. Peter Fuß sieht in dem »gegenstandslosen Bild«, das Kunigunde darstellt, eine »Dekomposition symbolisch kultureller Ordnungsstrukturen. Der Gegenstand ist ein Effekt des Diskurses«611 – steht Käthchen in derselben Ordnung, ist sie von dieser Auflösung ebenso betroffen. Kunigunde verflucht die Tatsache ihrer Entdeckung in drei Repliken auf ähnliche Art und Weise, wobei ihr letzter Ausruf eine Erweiterung enthält: »Gift, Tod und Rache! […]« (SWB I, 607, 9), »Gift! Pest! Verwesung!« (SWB I, 607, 14) und »Gift! Asche! Nacht! Chaotische Verwirrung!« (SWB I, 607, 25) Das angesprochene Chaos lässt sich mit der Groteske und der Romantik verschränken. Als Hinweis auf das Unfertige (Chaos wirkt immer wie etwas noch zu Bearbeitendes), da die »romantische Dichtart […] noch im Werden«612 begriffen ist. Kunigunde verkörpert somit ganz das romantische Prinzip. Käthchen erhält ebenfalls eine Zuschreibung zum Prinzip des Unheimlichen, Dunklen (das Naturmagische), wenn sie in der Holunderbuschszene bei der Erscheinung mit großen schwarzen Augen dargestellt wird. Diese lassen das Käthchen, wie Kunigunde, als Chimäre erscheinen, deren Seele – mit dem Bild der Augen als Spiegel der Seele – auch das Negative vertritt. Wird Käthchen als Chimäre gesehen, vertritt sie auch die »entfremdete« Welt der Groteske.613 Die Krise der Identität im »Käthchen« ist eine Krise der Anerkennung. Die Anerkennung des So-Seins. Diese geht nicht mit einer bloßen Namensgebung 610 »Aber Abbilder zeigen doch noch im Widerschein, wenn auch in negativer Spiegelung, was als Urbild eigentlich zu denken wäre. […] Die ›bloßen Abbilder‹ zeigen eine als Differenz zu kennzeichnende formale Konstante. Als Abbilder unterscheiden sie sich schon von den Urbildern, sind, indem sie sind, was sie sind, nicht das, wovon sie zeugen. Über diese ontologische Differenz hinaus ist festzustellen, daß das endliche Erkennen immer auf Differenzierungen angewiesen ist […]. Denn nur durch Differenzierung ist jenes objektiv reale Korrelat erreichbar, das das Erkennen braucht, um sich selbst widerspiegeln und somit zu Erkenntnis gelangen zu können.« Gockel, Heinz: Mythologie als Ontologie. Zum Mythosbegriff im 19. Jahrhundert. In: Mythos und Mythologie in der Literatur des 19. Jahrhunderts. Hrsg. v. Helmut Koopmann. Frankfurt am Main: Klostermann 1979, S. 25 – 58, hier S. 25 f. 611 Fuß 2001, S. 237. 612 Schlegel 1967, Fragmente [116], S. 183. 613 »Als Gegenpol des Erhabenen enthüllt das Groteske erst die ganze Tiefe. Denn wie das Erhabene – im Unterschied zum Schönen – den Blick auf eine höhere, übermenschliche Welt lenkt, so öffnet sich im Lächerlich-Verzerrten und Monströs-Grauenvollen des Grotesken eine unmenschliche Welt des Nächtlichen und Abgründigen.« Kayser 2004, S. 61.

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einher. Es ist die grundsätzliche Anerkennung unseres Selbst wie die Anerkennung des anderen.

5.3.4. Anerkennung Auch wenn es so aussieht, als ob das »Käthchen« mit einer Hochzeit endet, bei der die richtige Braut den Prinzen heiratet und das Böse bestraft wird, wird zu zeigen sein, dass das »Käthchen« »nicht mit einem Jubelfinale schließt, sondern durchaus ambivalent«614, und die Behauptung eines positiven Ausgangs des Dramas in Frage gestellt werden muss. Käthchen verhält sich im Verlauf des Stücks nicht nach den üblichen Standeskonventionen. Sie ist eine Unwissende und handelt lediglich nach den Vorgaben der göttlichen Erscheinung, des göttlichen Wahnsinns. Es scheint, als ob die Bestrebungen Käthchens, des Bastards, am Ende des Dramas ihr Ziel erreicht hätten. Der Graf feiert mit Käthchen Hochzeit und sie wird als das Kuckuckskind des Kaisers anerkannt. Doch noch bevor die Trauungszeremonie beginnt, ruft sie ein Schutzgebet aus und fällt in Ohnmacht. Der Hochzeitsakt wird im Stück selbst nicht vollzogen, und es fehlt auch die Zustimmung der Braut.615 Die Frage, ob sie des Grafen Hand annimmt und sich mit ihm verheiratet, wird dreimal von allen »Vätern«Käthchens unterschiedlich gestellt; sie bleibt ihnen die Antwort schuldig. Der Kaiser. […] Willst du diesen Ring mit ihm wechseln? Theobald. Willst du dem Grafen deine Hand geben? Graf vom Strahl (umfaßt sie) Käthchen! Meine Braut! Willst du mich? (SWB I, 626, 29 ff.)

Der Graf umfasst Katharina, doch als sie in Ohnmacht fällt, ist es nicht er, der sie umschlossen hält, der sie auffängt und sie stützt. Es ist die Mutter des Grafen, die, nach dem Ausruf Käthchens: »Schütze mich Gott und alle Heiligen!« (SWB I, 627, 614 Kluge 1995, hier S. 36; Kluge erkennt in »Käthchens Erschrecken und […] Bewußtlosigkeit« am Ende des Stücks, den »Ausdruck ihres Erschreckens über die […] Verdinglichung des Schönen«. Ebd. Greiner meint, dass die Hochzeit im »Käthchen« deshalb nicht stattfindet, weil »die Hochzeit mit Käthchen Vollzug des Mythos [wäre], Rückgang in den Raum vor aller Unterscheidung, den Käthchen ja auch als märchenhafte Ungeschiedenheit von irdischem Handeln und unendlichem Sinn verkörpert, dessen andere Seite aber Penthesileas Tat erwiesen hat.« Greiner 2000, S. 190. 615 Vgl. dazu J. L. Austin: Zur Theorie der Sprechakte. (How to do things with words). Deutsche Bearbeitung von Eike v. Savigny. Stuttgart: Reclam 1998, S. 28 ff., 35 ff.

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2), sie »empfängt« (SWB I, 627, 3), ihr unter die Arme greift. Ihre Ohnmacht wird als Bejahung interpretiert und der Kaiser übergibt sie mit den Worten: »Wohlan, so nehmt sie, Herr Graf vom Strahl, und führt sie / zur Kirche!« (SWB I, 627, 5 f.; Hervorh. P. Sch.) Aus dem Text geht nicht mehr hervor, ob Käthchen aus ihrer Ohnmacht erwacht. Deutlich wird jedoch, schon durch den Zeilenumbruch, dass Käthchen in der Hand des Grafen ist und von ihm geführt werden soll; damit alles seine Richtigkeit hat, geht es zuerst zur Kirche. Käthchen (Katharina von Schwaben) aber hat ihre Selbstbestimmung aufgegeben. Sie wird machtlos (gemacht). Nach einem kurzen Dialog zwischen Kunigunde und dem Grafen dient als Krönung des Stücks die Regieanweisung der Aufstellung zum Marsch. Käthchen »wird« neben den Kaiser unter den Baldachin »gestellt«!616 Sie bleibt, über das Ende hinaus, ohnmächtig – ohne Macht. Die Hochzeit mit dem Ritter aus der Prophezeiung Marianes, die es im Blei sah (SWB I, 596, 35 f.), wird aller Voraussicht nach vonstatten gehen. Der Vorgang ist eingebettet in die Form traditioneller Konventionen und dient damit der Aufrechterhaltung alter Ordnungen. Käthchen handelt das gesamte Stück gegen festgefahrene Abkommen, gegen übliche gesellschaftliche Zuschreibungen und wird zum Schluss doch vereinnahmt. Die Anerkennung von Käthchen passiert lediglich durch ihre Standeserhöhung. Dadurch wird sie in das System integriert und fällt mit ihrer Forderung nicht mehr aus dem Rahmen. Die Liebeskonzepte im »Käthchen« sind durch Standeszugehörigkeiten geprägt. Liebe kann erst erfolgreich sein, wenn die gesellschaftlichen Konventionen erfüllt sind. Genau diese trockene und bürokratische Sicht auf die Liebe drückt – im Zusammenspiel mit der Liebe als Verblendung – die Zwiespältigkeit eines der größten und unerklärlichsten Gefühle der Menschheit aus. Die Liebe ist die machtvollste Zerstörungskraft, denn indem sie die Unangemessenheit und manchmal die Nichtigkeit ihres Gegenstandes freilegt, enthüllt sie eine Leere, ein im Begriff verständlich zu werdendes niederschmetterndes Nichts. Es ist der Abgrund, in den nicht nur das Geliebte fällt, sondern das eigene Leben, die Wirklichkeit selbst dessen, der liebt. Es ist die Liebe, die die Wirklichkeit und die Nichtigkeit der Dinge aufdeckt, die das Nicht-Sein und sogar das Nichts entdeckt. Der Schöpfergott erschuf die Welt aus Liebe, aus dem Nichts.617

Das Nichts hat Käthchen im Akt davor gesehen. Nun erfährt sie die Nichtigkeit ihrer eigenen Liebesbestrebungen: Der Stand allein ist es, der zählt. Sie wird vom Grafen wegen ihrer neu erlangten Kaiserverwandtschaft und der damit einher616 »(Marsch: Der Kaiser stellt sich mit Käthchen und dem / Grafen vom Strahl unter den Baldachin; die Damen / und Ritter folgen. Trabanten beschließen / den Zug. – Alle ab). / Ende.« (SWB I, 627, 13 ff.) 617 Zambrano 2005, S. 217.

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gehenden gesellschaftlichen Anerkennung durch die oberste Autorität geheiratet, nicht weil es ihm durch die Erscheinung geweissagt wurde. Der Graf erkennt nicht Käthchen, sondern nur das Zeichen. Er sieht sie als die an, die das Mal trägt, das sie zur Kaisertochter stilisiert – es ist das Lesen dieses Zeichens, weshalb der Graf Käthchen annehmen kann. Der Grund für die Befragung beim Holunderbusch ist ein anderer: Dies Mädchen, bestimmt, den herrlichsten Bürger von Schwaben zu beglücken, wissen will ich, warum ich verdammt bin, sie einer Metze gleich, mit mir herum zu führen; wissen, warum sie hinter mir herschreitet, einem Hunde gleich, durch Feuer und Wasser, mir Elenden, der nichts für sich hat, als das Wappen auf dem Schild. – Es ist mehr, als der bloße sympathetische Zug des Herzens; es ist irgend von der Hölle angefacht, ein Wahn, der in ihrem Busen sein Spiel treibt. (SWB I, 593, 23 ff.)

Am Ende der Szene muss der Graf erkennen, dass der von ihm bezeichnete höllische Wahn, der auf einem göttlichen Zeichen basiert, das Käthchen zur Kaisertochter macht. Der Graf ist jedoch den Standesgesetzen so stark verhaftet, dass er sogar nach dem Identifizieren des Käthchens die Weissagung vor dem Gottesgericht leugnet.618 Gestützt wird dieses Dementi von der irdisch göttlichen (kirchlichen) Instanz. Betrachtet man die Regieanweisung bei des Grafen Widerruf, kann gelesen werden, dass er seine Richtigstellung »mit dem Erröthen des Unwillens« (SWB I, 609, 5) gibt. Auf seine Aussage folgt die Bestätigung des Erzbischofs, der dadurch versucht, das Gottesgericht abzuwenden. Dem Erzbischof von Worms geht es aber eher um eine Verschleierung der Gegebenheiten, welche die Ordnung zu zerstören drohen, als darum, eine Gotteslästerung zu beseitigen. Dem Anschein nach tritt er als Anwalt für den Grafen auf und schlägt vor, die Entschuldigung des Grafen anzunehmen, um dem Gottesgericht ein Ende zu setzen und den »Wunderbau der Welt« (SWB I, 609, 32) nicht zu gefährden: Mein Fürst und Herr, mit diesem Wort, fürwahr, Kann sich des Klägers wackres Herz beruh’gen. Geheimer Wissenschaft, sein Weib betreffend, Rühmt er sich nicht; schau, was er der Mariane Jüngst, in geheimer Zwiesprach’, vorgeschwatzt: Er hat es eben jetzo widerrufen! Straft um den Wunderbau der Welt ihn nicht,

618 »Erlass’, in deiner Huld und Gnade, mir, / Ein Mährchen, aberwitzig, sinnverwirrt, / Dir darzuthun, das sich das Volk aus zwei / Ereignissen, zusammen seltsam freilich, / Wie die zwei Hälften eines Ringes, passend, / Mit müß’gem Scharfsin, an einandersetzte. / Begreif ’, ich bitte dich, in deiner Weisheit, / Den ganzen Vorfall der Sylvesternacht, / Als ein Gebild des Fiebers […] / Daß ich geraß’t, die Tochter jenes Mannes / Sei meines hochverehrten Kaisers Kind!« (SWB I, 609, 12 ff.)

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Der ihn, auf einen Augenblick, verwirrt. (SWB I, 609, 26 ff.)

Es scheint, als wollte die Kirche die Wahrwerdung eines göttlichen Zeichens im letzten Moment verhindern. Der Graf wird von der Obrigkeit gezwungen, Käthchen aufs Neue von sich zu stoßen. Es gilt die Tatsache zu verbergen, dass der »Kaiser, der Stellvertreter Gottes auf Erden, […] sich als ein sehr irdischer Mann erwiesen« hat und »nach einer Frau aus dem Volk« griff, »um sich beim Geschlechtsverkehr zu erquicken«619. Erst die Reflexion des Kaisers, in der er sich zu erinnern beginnt, erst das Gottesgericht als göttliche Instanz führen zu einem Einlenken des Adels. Erst als die genealogischen Grenzen verschwimmen und die Gefahr droht, dass die Welt in der jetzigen Ordnung aus den Fugen gerät, kommt es zu einem Einlenken. Es geht nicht so sehr darum, wie weit sich Graf Wetter noch an den Traum erinnert, als darum, wie sprunghaft und an den Standesdünkel gefesselt er handelt620, um die genealogische Ordnung zu erhalten. Diese fadenscheinige Leugnung will Theobald nicht auf sich sitzen lassen und er nimmt die Entschuldigung des Grafen nicht an. Auf die neuerliche Anschuldigung Theobalds wird der Graf erbost und gesteht wieder alles: Hier vor des höchsten Gottes Antlitz steh’ ich, Und die Behauptung schmettr’ ich dir ins Ohr: Das Käthchen von Heilbronn, die dein Kind du sagst, Ist meines höchsten Kaisers dort; komm her, Mich von dem Gegentheil zu überzeugen!« (SWB I, 610, 29 ff.)

Damit handelt er zum ersten Mal gegen den Willen der Autorität und damit gegen seine eigene Abstammung. Dies kann auch als Zeichen dafür gesehen werden, dass sich die Liebe von ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit loslösen kann, wenn man sie lässt, wenn man will. Bezeichnend für die Auseinandersetzung ist, dass Käthchen immer in Bezug auf einen anderen, einen Mann geführt wird. Sie wird nicht als selbständiges Subjekt behandelt, sondern als des Theobalds »Weib« (SWB I, 609, 28) und Tochter, für die er sich zu rechtfertigen hat, später wird sie dann zu des Kaisers Tochter, weshalb dieser von Theobald verlangt, dass er ihm das Kind abtreten müsse. Der Kaiser handelt mit Käthchen wie mit einem Objekt, seinem Besitz. Er gibt sie an den Grafen weiter, gibt sie zur Heirat frei. Mit Agamben lässt sich hier von der Rückerstattung dessen sprechen, »was in der Sphäre des Heiligen abgesondert war«; in dem Fall wäre es das Mädchen Käthchen, mit dem Himmel in 619 Greiner 2000, S. 193. 620 »Wetter hat wie Penthesilea durch das von Verstand und sozialen Normen bestimmte Bewußtsein keinen Zugang zum Unterbewußten und dessen Empfinden, das aber dennoch in unbegreiflichen Reaktionen deutlich wird.« Horst 1996, S. 231.

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Verbindung stehend, das dem irdischen Gebrauch übergeben wird.621 Käthchen stellt ein Gut dar, über das verhandelt wird, ein Tauschobjekt in der Ordnung des Mannes. Es wird ausschließlich über das Käthchen verhandelt, nie mit ihr – die Sicht auf sie geschieht ausschließlich über andere. Anke Drygala sieht nach Luce Irigaray in einer solchen Behandlung die »Vereinnahmung der Frau […] und de[n] gleichzeitige[n] Ausschluss als Frau aus der symbolischen Ordnung«.622 5.3.4.1. Purpur Kehren wir noch einmal zur Aussage Käthchens in der Femegerichtsszene zurück, wo sie auf die Frage, weshalb sie den Grafen verfolge, keine Antwort geben kann, nicht weiß, was es war, das sie aus dem väterlichen Haus trug. Auch wenn sie vor ihrem »eigenen Bewußtsein« läge und »alle Schrecken des Gewissens« sie bedrängten, auf die Frage des Grafen kann sie nur mit »ich weiß es nicht« antworten. (SWB I, 518, 21 ff.) Während der Erscheinung ist Käthchen »vom Purpur der Freude über und über schimmernd, aus dem Bette gestiegen, und [hat] sich auf Knieen vor ihm [dem Grafen] niedergelassen, das Haupt gesenkt, und: mein hoher Herr! gelispelt« (SWB I, 552, 18 ff.) – allein die purpurne Farbe schreibt ihr eine göttliche Berufenheit zu.623 Anke Drygala erwähnt, dass die Farbe Purpur, eine tiefrote, auch das Blut – im Speziellen das der Frau, als lebensspendendes Merkmal – symbolisiere. Die Frau wurde auf Grund ihres Kennzeichens tabuisiert, doch der Stoff, das Blut, von der Autorität in Beschlag genommen. Das Blut, das »im religiösen Ritus […] als Vermittlung zwischen Vater und Sohn, Gott und Mensch« fungiert624, wäre somit Bestandteil und Grund der Unaussprechlichkeit von Käthchens Wissen; im Besonderen in Hinblick auf die religiöse Dimension der Erscheinung. Es ist der symbolische Ausschluss des Weiblichen, der in der Religion so stark zelebriert wird. Ausgedrückt wird dies auch in dem Zuschreibungssystem des Trinitätsgedanken, der ausschließlich männlich besetzt ist. 621 Agamben 2005, S. 80. 622 Drygala 2005, S. 27. Der Begriff der symbolischen Ordnung umfasst »Symbolisierungen, mit denen ein soziales Gemeinwesen Regeln und Ordnungen darstellt. Sie umfassen sowohl Traditionen, Riten, Mythen, Denk- und Sprachformen wie auch (soziale, gesellschaftliche) Institutionen«. Ebd., S. 28. 623 Agamben stellt eindrucksvoll die performative Wirkung der purpurnen Farbe und ihre Vereinnahmung durch die Obrigkeit dar. Ein eigenes Amt wurde eingerichtet, das sich ausschließlich um die zeremonielle Funktion der kaiserlichen Garderobe zu kümmern hatte. Die Farbe Purpur wurde ausschließlich für höher gestellte Personen und Mächte verwendet: »Und nur wenn man um die rechtliche Bedeutung des Purpurs als Insigne der Souveränität weiß, wird man begreifen, weshalb ab dem 4. Jahrhundert die Purpurherstellung verstaatlicht wurde oder daß ihr Besitz für einen Privatmann mit der Gefahr eines Majestätsprozesses verbunden war […].« Agamben, Giorgio: Herrschaft und Herrlichkeit. Zur theologischen Genealogie von Ökonomie und Regierung. (Homo Sacer II.2). Aus dem Italienischen v. Andreas Hiepko. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2010, S. 214. 624 Drygala 2005, S. 26.

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Während das Körpererleben der Frau ohne symbolischen Ausdruck bleibt, fungiert sie, ihr Blut, als Medium der göttlichen Vereinigung. Aber über sich selbst kann sie nicht sprechen – dies ist das zu erkennende Hindernis im Denken der Geschlechterdifferenz.625

Käthchen wird durch die Farbe Rot – das rötliche Feuer(Mal) auf ihrem Nacken, wie der kräftige Schimmer der purpurnen Farbe – gekennzeichnet, ihre Herkunft ist göttlicher Natur. Doch darüber kann sie nicht sprechen, noch weniger es als Garant für ihr Sein heranziehen. Lediglich die Autorität ist legitimiert, über göttliche Zeichen zu sprechen und zu urteilen. Diese gebietet und verbietet, was Käthchen wann, wie sagen darf und zu sagen hat. Somit steht das Käthchen, im Besonderen als Frau, Mädchen, in einem (scheinbar) unlösbaren Abhängigkeitsverhältnis zur Macht. Und das allein auf Grund ihres biologischen Geschlechts. Deutlich tritt dies in dem besitzergreifenden Verhalten der männlichen/väterlichen Autoritäten zutage. Es handelt sich um einen männlichen Machtdiskurs. Und im Fall Käthchens, auf die Heilsgeschichte bezogen, sind es die Väter, die das Gesetz machen, regeln und repräsentieren. Das Werk – die Heilsökonomie –, das Jesus auf Erden vollbracht hat, ist in Wahrheit die Verherrlichung des Vaters […]. Doch in ebendemselben Maße ist sie die Verherrlichung des Sohns durch den Vater.626

Geleitet von göttlichen Zeichen und selbst mit göttlichen Zeichen und Zuschreibungen beladen, verkörpert Käthchen zugleich das Göttliche und das aus dem Göttlichen Ausgeschlossene. So ein Aushalten extremer Gegensätze ist eine bei Kleist beliebte Konstellation für die ›Auserwählte‹. So wie man aber dem Vater das Prädikat des Schöpfers in der Hinsicht beilegen kann, als er alle Wesen vollendet, das Ideal in ihnen zur Reife bringt, so liegen auch die Gesetze des Vaters auf einem ganz andern Gebiete, als die Naturgesetze; das heilige Gesetz, das dem göttlichen Herrscher zugeschrieben werden kann, ist das Sittengesetz, als ein von den Naturgesetzen wesentlich verschiedenes, ja diesen ganz entgegengesetztes Gesetz. Alle Naturgesetze beruhen auf dem Werden, der Beweglichkeit, Veränderung, Entwicklung; in aller Sittlichkeit und Tugend muß aber jeder etwas Festes, Beharrliches, Mäßigendes, Beschränkendes anerkennen.627 (Hervorh. F. Sch.)

Oesterle erklärt, das »Käthchen verkörpere keineswegs, wie so oft in der Forschung behauptet wurde, eine reflexionslose Grazie; sie ist viel eher als ›schöne Seele‹ entworfen, die […] in der Lage ist, Demütigungen zu entschuldigen«.628 Doch dass es sich bei der Ohnmacht Käthchens um das Annehmen einer Demütigung handelt, bezweifle ich. Käthchen entschuldigt Verblendung, sogar ein 625 626 627 628

Ebd., S. 27. Agamben 2010, S. 242. Schlegel 1964, S. 50. Oesterle 2001, hier. S. 326.

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Sich-Verschauen in den anderen. Doch die schließliche Vereinnahmung durch die Autoritäten lässt sie bewusstlos werden, ihr Bewusstsein wird ihr genommen. In der Ohnmacht drückt sich zugleich eine Abhängigkeit aus – es ist das Sein ohne Macht über sich selbst. Käthchen steht im Herrendienst zum göttlichen, väterlichen Gesetz. Ein Vertrag ist eine Verschriftlichung von Macht, er stellt ein festgeschriebenes Abhängigkeitsverhältnis mit dem Gegenüber her. Nur dadurch kann geherrscht, Macht ausgeübt werden. Um so einen Vertrag handelt es sich auch bei den Papieren im Futteral. Sie befähigen Kunigunde, über den Grafen auf eine bestimmte Weise zu herrschen, ihn in die Abhängigkeit zu drängen – wie sie es schließlich auch mit dem Akt der Hochzeit bezweckt, der den Vertrag zweier Menschen (als lebenslanges Band) par excellence repräsentiert. Mit der Abhängigkeit kommen wir zurück zur Liebe. Im Objekt der Liebe, in der Anerkennung des anderen, nimmt man sich immer ein Stück weit selbst wahr. Liebe ist »Internalisierung des subjektiv systematisierten Weltbezugs eines anderen«629. Um die Spiegelung des Selbst (denn wie schon gesagt, der andere bin immer auch ich630) im Gegenüber nicht zu verlieren, sind wir zu großen Opfern bereit. Die Verschmelzung von Aktivität und Passivität auf beiden Seiten zu einem neuen Begriff von Passion bedeutet nicht, daß die Asymmetrie in der Beziehung der Geschlechter aufgehoben wird. Aber sie muß auf der Basis dieser Einheit von Aktion und Passion rekonstruiert werden, und das geschieht durch zwei gegenläufige Asymmetrien. Einerseits wird Liebe als Kampf charakterisiert: als Belagerung und Eroberung der Frau. Andererseits ist bedingungslose Selbstunterwerfung unter den Willen der Geliebten die Form, in der Liebe sich darstellt und »gefällt«. In der absoluten Unterwerfung geht es um volle Aufgabe der persönlichen Eigenart. […] Ganz deutlich korrespondiert diese Forderung mit dem alten »passiven« Begriff der Passion. Demnach kulminiert die Liebe im Verlust der Identität – und nicht, wie man heute denken würde, im Gewinn der Identität.631 (Hervorh. N. L.)

629 Luhmann 1999, S. 30. 630 »Der Liebende, der idiosynkratische Selektionen bestätigen soll, muß handeln, weil er sich mit einer Wahl konfrontiert findet; der Geliebte hatte dagegen nur erlebt und Identifikation mit seinem Erleben erwartet. […] Der Informationsfluß, die Selektivitätsübertragung von Alter (Geliebter) auf Ego (Liebender) überträgt mithin Erleben auf Handeln. Das Besondere (und wenn man will: das Tragische) der Liebe liegt in der Asymmetrie, in der Notwendigkeit, auf Erleben mit Handeln zu antworten und auf Schongebundensein mit Sichbinden. […] Das in der Liebessemantik immer wieder auftauchende Unendlichkeitsthema hat auch den Sinn, daß es in der Erlebniswelt des anderen keine Grenzen für eigenes Handeln gibt; zumal für den nicht, der in diese Welt als ebenfalls geliebt eingeht. Die Asymmetrie von Erleben und Handeln enthält dann die Chance des Zuvorkommens: Man kann sich nach dem Erleben des anderen richten, auch wenn er noch nicht entsprechend gehandelt hat, auch wenn er noch keinen Wunsch geäußert, noch keine Zurechnung auf sich selbst auf sich genommen hat.« Luhmann 1999, S. 26 f. (Hervorh. N. L.) 631 Edd., S. 77 f. (Hervorh. N. L.)

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Die »Liebe« als der Weg zur »Selbstentfremdung«, lässt mitunter das Leben auch schon einmal die Hölle auf Erden werden632. Die Hölle menschlicher Abhängigkeit.633 Und die Abhängigkeit ist es auch, die Macht und Herrschaft kennzeichnet. Kunigunde ist es, die Abhängigkeiten bewusst produziert, um als Person bestehen zu können. Deutlich zeigt sich dies in ihrer Klage das Futteral betreffend. Darin drückt sich der Vorwurf an Käthchen aus, sie um ihre Absicherung, ihre Herrschaften gebracht zu haben. Doch ihre Urkunden waren wertlos. Die Schenkung der Ländereien, von des Grafen eigener Hand, ist der hauptsächliche Grund ihrer Klage über Käthchen. Darin drückt sich der Verlust von Macht aus, die darum umso dringender im Vollzug der Hochzeit wiedererlangt werden muss.

5.3.5. Resümee Wie ich zeigte, kann das Thema Liebe in der Fortführung der mythologischen Thematik gelesen werden. Die Liebesdiskurse im »Käthchen« funktionieren hauptsächlich auf Basis mythologischer Vergleiche und Zuschreibungen. So ist es auch die christliche Mythologie, mit der sich Konstellationen der Abhängigkeit gut darstellen lassen. Liebe bedeutet aber auch, den anderen zu sehen. Wir zeigen durch unser Verhalten, unsere Aussagen, durch Gesten an, wenn wir einen anderen als geliebtes Subjekt anerkennen. Im »Käthchen« wird das zu liebende Wesen gar mittels Kennzeichen markiert – und bleibt trotzdem verkannt. Es sind göttliche Hinweise, die im »Käthchen« funktionieren. Umso größer ist das Vergehen des Verkennens oder der Behandlung des Liebessubjekts lediglich als Objekt der Begierde – als Objekt, mit dem ein Ziel verfolgt wird –, oder wenn das Wesen der Liebe an sich als austauschbares Gut angesehen wird. 632 Ebd., S. 78 (Hervorh. N. L.). 633 »Folglich ist die Hölle jener Ort, an dem, wenn auch nur in rein strafender Form, die göttliche Weltregierung bis in alle Ewigkeit fortlebt. Während die Engel im Paradies bis auf die leere Form ihrer Hierarchie jegliche Regierungsfunktion aufgeben und nicht mehr Verwalter, sondern lediglich Assistenten sind, bleiben die Dämonen die unfehlbaren Verwalter und ewigen Henker der göttlichen Gerechtigkeit. Das bedeutet jedoch, daß in den Augen der christlichen Theologie die Idee der ewigen Regierung (also das Paradigma der modernen Politik) eine infernale Idee ist. Kurioserweise hat diese ewige Regierung der Strafen, diese Strafkolonie, die keine Sühne kennt, eine unverhoffte theatralische Kehrseite. […] Dieses grausame Spektakel erregt bei den Seligen und den Engeln, die es mit ihnen gemeinsam betrachten, kein Mitleid, sondern Vergnügen, da die Bestrafung der Verdammten Ausdruck der ewigen Ordnung der göttlichen Gerechtigkeit ist […].« Agamben 2010, S. 196 f.

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Wesentliche Implikationen des »Käthchens«

Es ist der Blick, der in der Liebe eine wichtige Funktion erhält. Liebe steht in Verbindung zu dem Schon-Geschauten, das wiederum in Verbindung zu dem eigenen Sein steht. Damit spielt die Identitätsproblematik in dieses Thema hinein. Die Liebe kann trügen, in der Verblendung, im Verkennen des Subjekts. Eine eigene Identität ist für das Begehren wichtig. Die Berufung auf die eigene Identität macht ja zunächst gerade Unabhängigkeit von den Umständen und Unabhängigkeit von Einflüssen anderer deutlich. […] Und dazu gehört, daß man gerade dem, den man liebt […], bescheinigt, daß man durch ihn und durch die Liebe zu ihm das eigene Ich entfaltet. Identität muß also als Stabilitäts- und als Steigerungsbegriff zugleich gehandhabt werden.634

In der Liebe drückt sich zugleich die Anerkennung des anderen, seiner Identität, aus. Doch Identität, Liebe und Begehren sind immer auch abhängig von der gesellschaftlichen Position eines Menschen. Umso wichtiger ist es, den anderen zu erkennen, ihn in seinem Sein zu erkennen, ihm Identität zuzugestehen – und ihn nicht nur als das eigene Spiegelbild oder als Projektionsfläche gesellschaftspolitischer Sichtweisen wahrzunehmen.635 Untrennbar verbunden mit Liebe sind die Abhängigkeit und auch der Schmerz, und als Subjekte (wie als Objekte) sind wir gefangen in einem Diskurs schmerzvollen Begehrens – des anderen wie des Selbst.

5.4. Die Macht Die Ordnung ist also keine Substanz, sondern eine Relation.636

Liebe spielt im »Käthchen« eine mächtige Rolle – beinhaltet sie doch immer eine Form der Macht. Besonders in hierarchisch strukturierten Gesellschaften haben »Liebes«verbindungen einen hohen Stellenwert hinsichtlich ihrer politischen Funktion. Mit ihnen wird Politik gemacht, werden Machtverbindungen gestärkt oder neu geknüpft.637 Die Frage der Herkunft, der Abstammung, des Ge634 Luhmann 1994, S. 45. »Als Bedingung intimer Kommunikation müssen die beteiligten Personen so weit individualisiert sein, daß ihr Verhalten in spezifischer Weise ›lesbar‹ wird mit Hilfe einer Differenz, nämlich der Differenz von unmittelbarem eigenen Interesse bzw. eigenen Gewohnheiten und dem, was mit Rücksicht auf den anderen oder mit Rücksicht auf die Beziehung zu ihm getan wird.« Ebd., S. 41. 635 »Zunächst wird schärfer herausformuliert, daß der Liebende sich in der Orientierung am anderen immer auch auf sich selbst bezieht: Er will im Glück des anderen sein eigenes Glück finden.« Luhmann 1994, S. 174 636 Agamben 2010, S. 105. 637 Ich betrachte unsere Gesellschaftsstruktur ebenso als hierarchisch geordnete, wodurch sich

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schlechts638 ist immer ausschlaggebend, Verhaltensmuster und Rollenbilder werden dadurch vorgegeben. Es sind Normen, starre Muster und Konzepte, denen es zu entsprechen gilt. Ein Verstoß dagegen bedeutet den gleichzeitigen Verlust von Macht. Mit Normen werden Ordnungen aufrechterhalten. Und die bestehenden Ordnungen üben Macht aus. Ohne Macht wiederum gibt es keine Norm, die eine Ordnung herstellt, wodurch eine Hierarchie geschaffen wird, auf die sich ein Geschlecht beziehen kann und mit einer Heiratspraktik im Namen der Liebe Ansprüche – auf Macht – stellen kann und über andere herrschen kann. Macht stellt eine menschliche Grundkonstante dar. Die Unterwerfung ist ein entscheidendes Prinzip unserer Gesellschaft. Diese Unterwerfung ist eine Unterwerfung unter die Ökonomie, verstanden im Foucault’schen Sinn als »weise Führung […] des Hauses zum Wohl der ganzen Familie«639, und in Weiterführung als Unterwerfung unter die Wirtschaftsbestrebungen des Staates. Diese Unterwerfungsstruktur ist zugleich Bedingung und Resultat einer hierarchischen Struktur. Hierarchie bedeutet »Rangordnung«, es handelt sich bei dem Wort um eine Entlehnung aus dem kirchen-lateinischen »hierarchia«, das eine »›innerlich fest bestimmte Rangordnung (der Weihen, der Amtsgewalt)‹« bezeichnet.640 Unsere Hierarchie ist die Übertragung der göttlichen, kirchlichen Macht: »So macht die politische Säkularisierung theologischer Begriffe (die Transzendenz Gottes als souveräne Macht) nichts anderes, als die himmlische Monarchie auf die Erde zu versetzen, läßt deren Macht aber unangetastet«.641 Das hierarchische

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das Prinzip des Machterhalts durch »Liebes«verbindungen auf unsere Gesellschaft übertragen lässt. Die Etymologie des Begriffs »Geschlecht« geht aus von: »›Generation, Art, Ursprung‹. Wie das parallele air. slicht zu air. slig- ›schlagen‹ zeigt, ist die Ausgangsbedeutung ›Fußspur‹ (›Eindruck‹), an das sich ›Nachfolge‹ knüpft (diese Bedeutungen sind im Germanischen bei dieser Sippe nicht bezeugt). Daraus folgt ›Nachkommenschaft‹, woraus sich ›Familie‹ und ›Art‹ ohne weiteres ergeben. Die Bedeutung ›Sexus‹ ist spät von 1. sexus m. übernommen, zunächst in Ableitungen wie geschlechtlich.« Etymologisches Wörterbuch 2011 (Hervorh. im Original). Foucault 2004, S. 144. Foucault betrachtet den Begriff der Ökonomie in seiner Veränderung hinsichtlich der Regierungspraktik. »Das Wort ›Ökonomie‹« bezeichnet ursprünglich die ›weise Führung [gouvernement] des Hauses zum Wohl der ganzen Familie‹. […] [D]ie Kunst des Regierens ist gerade die Kunst, die Macht in der Form und nach dem Muster der Ökonomie auszuüben. […] Das Wort ›Ökonomie‹ bezeichnet im 16. Jahrhundert eine Regierungsform; im 18. Jahrhundert wird es, veranlaßt durch eine Serie komplexer und, wie ich glaube, für unsere Geschichte absolut entscheidender Vorgänge, eine Realitätsebene, ein Interventionsfeld für die Regierung bezeichnen. Das also heißt Regieren und Regiertwerden.« Ebd., S. 144 f. »Zunächst in lateinischer Form entlehnt aus kirchen-l. hierarchia […], diese aus nicht klassischem gr. hierarchía ›Amt des Priesters‹, zu gr. hiereús m. ›Priester‹, zu gr. hierós ›heilig‹; der zweite Bestandteil geht zurück auf gr. árchein ›herrschen‹. Zunächst beschränkt auf die Rangordnung von Priestern und Engeln; dann Verallgemeinerung.« Etymologisches Wörterbuch 2011 (Hervorh. im Original). Agamben 2005, S. 74.

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Wesentliche Implikationen des »Käthchens«

Prinzip ist der Weg des Stellvertreters. Macht wird von oben nach unten vergeben. Bei jeder Übergabe geht ein bisschen an Macht verloren. Macht schwindet in ihrer fortwährenden Abwärtsbewegung. Damit steht sie aber unweigerlich in Zusammenhang mit der Auflösung. Durch den steil abfallenden Verlauf der Machtkurve unterliegt ihre Vergabe wiederum strengen Auflagen und Gesetzen. An ihrer Spitze können nur wenige stehen. Macht wird immer von jemandem ausgeübt und ist auf jemanden gerichtet.642 Während ihrer Ausübung ist es essentiell, sich auf ihre Herkunft zu berufen, ihren Ursprung. Macht ist immer auch Denken im System und unter Berufung auf ein System. Macht beruht auf dem Gehorsam, der die Macht als solche bestätigt. Kein Teil kann aus dem Rad der Macht aussteigen. Selbst der Aussteiger, der Eremit, kann nur insofern aussteigen, als er das System als solches anerkannt hat und sich nicht hineinstellt, wobei er aber weiterhin in Bezug dazu steht643 – ein unauflösliches Paradoxon. Jede Gesellschaft, jedes System braucht einen Gegenpol, das von ihr/ihm Abzugrenzende. In der Abgrenzung passiert die Absicherung des Anspruchs, die Instandhaltung der Macht. Grundsätzlich ist zu bedenken, daß die Macht eben nicht eine Substanz, ein Fluidum ist, etwas, das von diesem und jenem herkommen würde […], daß die Macht ein Ensemble von Mechanismen und 642 Diesbezüglich möchte ich kurz auf Foucault und den von ihm geprägten Begriff der »Gouvernementalität« eingehen. Die Macht, auf die sich Foucault mit diesem Begriff bezieht, basiert auf dem Gehorsam und der Achtung der jeweiligen bestehenden Ordnung. »Das heißt, das öffentliche Wohl ist im wesentlichen der Gehorsam gegenüber dem Gesetz, gegenüber dem Gesetz des Souveräns über diese Erde oder gegenüber dem Gesetz des absoluten Souveräns, Gott. Doch jedenfalls ist das, was das Ziel der Souveränität, jenes Gemeinwohl oder allgemeine Wohl kennzeichnet, letztlich nichts anderes als die Unterwerfung unter dieses Gesetz. Das bedeutet, das Ziel der Souveränität ist zirkulär: Es verweist auf die Ausübung der Souveränität selbst; das Wohl besteht im Gehorsam gegenüber dem Gesetz, folglich besteht das Wohl, das die Souveränität sich zum Ziel setzt darin, daß die Leute der Souveränität gehorchen.« Foucault beschreibt die Gouvernementalität in drei Schritten und meint zum Schluss, dass der Begriff mit seiner Herkunft, den Praktiken und Ergebnissen des Staates kurzzuschließen ist. Er schreibt, dass eben diese »Gouvernementalisierung des Staates« sein »Überleben ermöglicht hat.« Und das wahrscheinlich weil Gouvernementalität »dem Staat zugleich innerlich und äußerlich ist, da es ja die Taktiken des Regierens sind, die in jedem Augenblick erlauben zu definieren, was in die Zuständigkeit des Staates fallen darf und was nicht, was öffentlich und was privat ist, was staatlich ist und was nicht staatlich ist.« Foucault 2004, S. 148 f. u. 164. 643 Dieses Prinzip ist auch Grundlage des Grotesken, wenn es den Ort der Abgrenzung einer Kultur schafft und sich damit gleichzeitig in die Ordnung einschreibt: »Zwar ist die Fremdheit, die Nichtzugehörigkeit des Grotesken zur kulturellen Ordnung eines seiner Hauptkennzeichen. Aber gerade in seiner Nichtzugehörigkeit ist es Teil der Kulturformation. Jede Kulturordnung markiert selbst einen ›Ort‹, der zugleich eines ihrer Elemente und ihr Fremdes ist: ihre Grenze, ihren Rand, der in ihrem Inneren abgebildet werden muß, damit sie sich selbst gegenständlich werden und sich fixieren kann, indem sie sich von möglichen anderen Ordnungsstrukturen abgrenzt.« Fuß 2001, S. 73.

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Prozeduren ist, deren Rolle oder Funktion und Thema darin besteht, die Macht zu gewährleisten, selbst wenn sie dies nicht erreichen. Es handelt sich um ein Ensemble von Prozeduren […].644

5.4.1. Das Geschlecht der Macht Nach Grimm ist im Begriff des Geschlechts »die gesamtheit der von einem stammvater herkommenden […][,] die blutsverwandte familie, die sippe« ausgedrückt, sowie das Geschlecht »als grundlage des staates«, weiter dann die »abstammung, herkunft«, sowie »stamm […]. […], auf die ganze menschheit bezogen, nach ihrer abstammung von einem stammvater, das menschengeschlecht«. Schließlich meint der Begriff noch »das natürliche, männliche oder weibliche geschlecht«.645 Anke Drygala spricht bei dem Begriff des Geschlechts von einem logischen Paradox, das zweierlei bezeichnet, »die menschliche Gattung, das Menschengeschlecht, als auch das weibliche und männliche Geschlecht als einzelne und verschiedene Geschlechter«. Die »Widersprüchlichkeit und Mehrdeutigkeit« des Wortes wird durch die Verwendung des Gender-Begriffes relativiert.646 Unter Bezug auf Geneviève Fraisse, die den Gender-Begriff ablehnt, verweist Drygala auf den »Unterschied« als Denkfigur, »ein Instrument zur Analyse und Untersuchung von Diskursen«.647 Das Denken im Sinne der Differenz war schon in der Philosophie der Antike verbreitet. In diesem Sinn ist die Geschlechterdifferenz ein Ort, an dem Denken entsteht. In der Philosophiegeschichte existieren tatsächlich zunächst beide Denkmodelle der Einheit und der Verschiedenheit nebeneinander. So werden zum Beispiel in Platons ›Das Gastmahl‹ zwei Varianten des Geschlechterverhältnisses präsentiert, das Androgyne als Darstellung der ursprünglichen Einheit und die Differenz als Getrennt- und Anderssein. Dass sich das Denken der Einheit in der europäischen Tradition des Denkens als philosophisches Prinzip durchgesetzt hat, ist das eigentliche Skandalon. Denn, wie Geneviève Fraisse betont, »der reale Ursprung des Denkens läge in der Andersheit, in der primären geschlechtlichen Andersheit, der das Nicht-Verstehen und folglich das

644 Foucault 2004, S. 14. 645 Grimm, DWB, Bd. 5, Sp. 3904 ff. (Hervorh. im Original). 646 Drygala 2005, S. 78; weiter: »Dieser Begriff bezeichnet zugleich ein allgemeines und ein Besonderes, das wiederum selbst voneinander verschieden ist. Dieses außerordentliche Problem hat schon die Philosophen der Antike beschäftigt […].« Ebd. 647 Ebd., 2005, S. 78 f. »Die sprachliche und grammatikalische Mehrdeutigkeit bildet für sie [Geneviève Fraisse] den Schlüssel für die Analyse der Geschlechterdifferenz, die gerade in dieser Uneindeutigkeit zum Ausdruck kommt. Aus diesem Grund lehnt sie den ›gender‹Begriff ab, er verdeckt die Ambiguität des Geschlechterverhältnisses, indem er ein neues Allgemeines konstituiert.« Ebd., S. 78.

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Wesentliche Implikationen des »Käthchens«

Verstehen entspringt« (Fraisse 1996, 51) Das Ereignis des Nicht-Verstehens, dass etwas anders ist, bewirkt das Erstaunen, von dem aus die Reflexion beginnt.648

Die Durchsetzung des Denkprinzips der Einheit steht in Zusammenhang mit der Bedeutung des Begriffs »Geschlecht« als »Grundlage des Staates«649. In dieser Hinsicht ist das Geschlecht die Herrschaft der Hierarchie, diese beruht wiederum auf dem Gesetz der Genealogie. Die Form der hierarchischen Macht kann aber kein Denken der Differenz im Sinne der Verschiedenheit, des Anders-Seins zulassen – damit würde sie sich selbst in Frage stellen und einen Angriffspunkt für ihre Aufhebung geben. Sie muss ihre Einheit bewahren, die immer von dem Ausgeschlossenen bedroht ist. Die Ablehnung des anderen hängt sehr stark mit der »Wirksamkeit von Herrschaftsinteressen« zusammen und der Verweigerung einer offenen und ehrlichen Analyse.650 Für diese Arbeit ist das Bild der Anerkennung des anderen in seiner Andersheit, im Sinne der Differenz, ausschlaggebend.651 Eine solche Akzeptanz eröffnet die Fähigkeit, den anderen in seinem So-Sein zu erkennen und auf ihn eingehen zu können. Diese Sichtweise sollte m. E. grundlegender Maßstab einer Gesellschaft und Grundprinzip einer politischen Denkweise sein. Denn das »Regieren« ist ein »aus den Menschen und den Dingen gebildeter Komplex«.652 Das heißt überdies, diese Dinge, deren die Regierung sich annehmen muß, […] sind die Menschen, die Menschen jedoch in ihren Beziehungen, in ihren Bindungen und ihren Verflechtungen mit jenen Dingen, also den Reichtümern, den Ressourcen und der Subsistenz […]. Es sind die Menschen in ihren Beziehungen zu jenen anderen Dingen wie den Sitten, den Gepflogenheiten, den Handlungs- oder Denkweisen.653

Im »Käthchen« ist die Handlung an der Schnittstelle von Herrschaft und Geschlecht angesiedelt. Die große Schandtat wird als Form unsittlichen und nicht standesgemäßen Verhaltens thematisiert. Die Herkunft, das Geschlecht als Zeichen für den Menschen und seine Stellung ist im gesamten Drama prägend. Verschiebungen der Identität des Geschlechts verweisen auf die Zwischenräume, die Leerstellen, die sich aus vordefinierten Zuschreibungen ergeben. 648 649 650 651

Ebd., S. 80 f. Ebd., S. 84. Ebd. »Die Andersheit zieht keinen Trennstrich zwischen zwei Lebewesen oder zwei Eigenschaften; sie nimmt die Geschichte der Geschlechterdifferenz ernst. Und wer Differenz sagt, sagt nicht nur Unterschied, sondern auch Widerstreit.« Fraisse, Genevièse: Geschlechterdifferenz. Tübingen 1996, S. 130, zitiert nach Drygala 2005, S. 85. Der Gedanke der Differenz als Unterschied und Widerstreit geht nach Drygala auf Lyotard zurück (Lyotard, Jean-François: Der Widerstreit. Übers. v. Joseph Vogl. Mit einer Bibliogr. zum Gesamtwerk Lyotards v. Reinhold Clausjürgens. München: Fink 1989). 652 Foucault 2004, S. 146. 653 Ebd., S. 146.

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Die Anerkennung eines Menschen beginnt mit seiner Anrufung. Lange Zeit verwies der Name eindeutig auf die Herkunft seines Trägers und beinhaltete meist auch die Bezeichnung seiner beruflichen Tätigkeit. Die Frage »Woher kommst du?« hängt wie eine Bleikugel an der Existenz und beinhaltet immer ein »Von wem stammst du ab?«. Es ist die Frage nach dem »Wer bist du?« unter gleichzeitiger Einbeziehung und Prüfung der Geschichte des anderen. Die Abstammung gilt als grundlegendes Wissen über einen Menschen, um ihn zu kennen, ihn zu erkennen und anzuerkennen. Subjekt, Name und Herkunft werden ineinander verschränkt. So auch im »Käthchen«. Das Adelsprädikat deutet auf die gesellschaftliche Erhöhung der Bürgerstochter hin, ihren eigentlichen Stand. Es ist der Hinweis auf ihre andere Herkunft, das andere Geschlecht. In der Verbindung des Namens mit dem Städtenamen – der geographischen Herkunft – über eine Präposition wird an das Göttliche und die Benennung des Heilands erinnert. Zugleich wird mit der Koseform eine Verniedlichung ausgedrückt, die, selten intendiert, einer Geringschätzung der anderen Person gleichkommt.654 In diesem Fall scheint eindeutig das Kindliche mit der kosenden Namensgebung intendiert zu sein, und durch die Bezugnahme auf Kindliches entsteht der Verweis auf die Unmündigkeit. In Hinblick auf die Macht und ihre Ausübung wird somit die Bevormundung auf Grund einer angenommenen Unselbständigkeit Käthchens ausgedrückt. Durch den Kosenamen wird ihr weiters das sächliche Geschlecht zugewiesen, was, wie schon im Personen-Kapitel angesprochen, auf die Form des Dazwischen, des Weder-Noch anspielt. Jene Position, die beide Anschauungen vertritt, indem sie ein Drittes bezeichnet. Das Dritte ist nicht die Synthese; das Genuine am Dritten ist die Tatsache, daß es sowohl das Erste als auch das Zweite gleichermaßen negiert. Ein solches Drittes, die Negation beider Terme der Dichotomie, kann es nicht geben und darf es nicht geben.655

Auf eine Form der Ausgrenzung treffen wir auch bei Kunigunde. Sie wird von ihrem ehemaligen Verehrer verfolgt, der das Wissen um Kunigundes Geheimnis besitzt. (P-SWB III, 375, 30 f.) Die Anspielungen beziehen sich m. E. auf ihre Herkunft, die so unsicher wie ihr Sein ist. Somit befindet sich ihr Geschlecht – sowohl im Sinne der Abstammung wie des Menschen an sich – in Schwebe. 654 Durch die Verniedlichung des Namens wird die Person im Grunde nicht voll anerkannt. Nicht beim Namen angesprochen, sondern mit einer verniedlichten Form des eigentlichen Namens. Kosenamen werden oft Kindern gegeben. Durch die Benennung versucht man eine liebevolle Zuwendung zu einem nicht mündigen Lebewesen auszudrücken. In dieser Hinsicht wäre es interessant, sich Liebesbeziehungen Erwachsener anzusehen, die sich nicht beim Namen nennen, sondern mit Kosenamen ansprechen. 655 Jahraus, Oliver: Männer, Frauen und nichts Drittes. Die Kategorie der Drittheit als poetologische Struktur in Heinrich von Kleists Drama Penthesilea. In: Athenäum, 13 Jg. (2003), S. 131 – 146, hier S. 136.

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Wesentliche Implikationen des »Käthchens«

Jedenfalls muss es zu Brüchen in der genealogischen Abfolge gekommen sein, die eben auch das Sein betreffen. Nachdem Kunigunde mit dem Tod, dem Toten in Verbindung steht, kann als ein möglicher Ort ihrer Herkunft das Totenreich angesehen werden. So wäre sie in doppelter Hinsicht die Vertreterin eines toten Geschlechts: einerseits das unfruchtbare Geschlecht, das biologisch Tote, andererseits ist ihr (Familien-)Geschlecht dem Tode geweiht oder bereits tot, ausgestorben (wogegen die Erwähnung der Verwandten – »weil die Tanten mich erwarten«; SWB I, 556, 14 – Kunigundes spricht). Kunigunde, die attraktive Adelige, muss sich jeden Morgen erst kostümieren, um vor die Gesellschaft treten zu können656, um ihr sich verzehrendes (oder schon verzehrtes) Inneres zu verbergen. Die Hülle lenkt ab, von der Leere, die unter ihren Gewändern herrscht. Daher reicht es auch aus, ihr das Halstuch wegzunehmen, um sie zu enttarnen.

5.4.2. Der Vater657 Es zeigt sich, dass alle Bestrebungen des Menschen auf Machtausübung hinauslaufen. Diese hat immer das Ziel, einen spezifischen Bereich »zu erhalten, zu stärken und zu schützen«.658 Der »Familienvater« ist ebenso ein Führer wie der »Superior eines Klosters, der Pädagoge« oder der Herrscher, der »seinen Staat regiert«.659 Regieren bezieht sich »auf die Herrschaft, die man über sich selbst und über andere ausüben kann, über seine Seele und seine Art zu handeln«. Daher wird genau genommen nie »ein Staat« regiert: »Das, was man regiert, sind auf 656 Dieser morgendliche Putz ist allgegenwärtig. Wir richten uns her, verkleiden uns, legen Masken an. Die Maskerade wird nach der jeweiligen Tagesverfassung oder einem speziellen Anlass gewählt. Der Körperschmuck soll für uns sprechen. 657 »Der Begriff des Vaters ist der schwierigste, nur durch die Offenbarung verständlich, und die Philosophie kann hier für sich in der Tat nur die Möglichkeit eines herrschenden Weltkönigs zeigen, und die Stelle aufweisen, die er einnimmt in Beziehung auf die Welt; die Überzeugung von seiner lebendigen Wirklichkeit kann nur Sache der Religion sein. Bei der Forschung nach dem Vater läßt sich die Analogie anwenden von dem Verhältnisse der Sonne zu den übrigen Planeten. So wie die sämtlichen Gestirne nicht einzeln bleiben, sondern um den schönsten und vollkommensten unter ihnen, der als Mittelpunkt sich darstellt, eine höhere Ordnung bilden, sich eine Sonne zum gemeinschaftlichen Beherrscher wählen, so folgen auch die höhern Geister, die aus der himmlischen Lichtwelt, aus Mitleid mit dem hilfsbedürftigen Elemente, sich trennen, gleichfalls einem Beherrscher und König in ihrer Mitte.« Schlegel 1964, S. 40 (Hervorh. F. Sch.). 658 Foucault 2004, S. 139. 659 Ebd., S. 141. »Es gibt im Grunde drei Regierungstypen, deren jede von einer besonderen Form von Wissenschaft oder Reflexion abhängig sind: die Leitung seiner selbst, die von der Moral abhängt; die Kunst, eine Familie vorbildlich zu führen, die von der Ökonomie abhängt; und schließlich die ›Wissenschaft der guten Regierung‹ des Staates, die von der Politik abhängt.« Ebd., S. 142.

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jeden Fall Leute, es sind Menschen, es sind Individuen und Kollektive.«660 Und das Haus des Vaters ist der Ort, an dem die Regentschaft in der Welt ihren Ursprung hat. Es ist die Macht des Vaters, der über sein Haus wacht – ebenso wie der Hirte über die Schafe. Die Figur des Vaters steht seit jeher in Beziehung zur Macht, repräsentiert Macht. Entzieht sie sich der Führungsrolle, greifen jene Mechanismen, die sie anklagen und vor ein Femegericht stellen, denn dann handelt sie nicht nach den Normen gesellschaftlicher Konventionen. Im »Käthchen« haben wir verschiedenste Formen der Machtausübung wie aufs Exempel dargestellt: den Familienvater Theobald, den herrschenden Fürsten Graf Wetter vom Strahl, den Souverän als Kaiser, sogar einen Prior661 – auch wenn er nur von sekundärem Belang für das Stück ist, seine Anwesenheit ist für den Gang der Handlung ausschlaggebend. Den drei Hauptakteuren der Machtausübung ist ein wesentliches Element gemeinsam: Alle stehen in einer väterlichen (Handlungs-)Beziehung zum Käthchen. Käthchen wird von allen regiert. Theobald, der Stiefvater, der sie, im Glauben sie sei seine eigene Tochter, erzogen hat, handelt als Familienoberhaupt und regiert über ihr Leben. Er will sie mit »Gottfried Friedeborn, der […] sie zum Weibe begehrt[]« (SWB I, 506, 7 f.), verheiratet wissen und danach sein eigenes »versinkendes Leben auf sie stützen« (SWB I, 508, 26 f.). Ihr Bräutigam, den ihr Vater für sie ausgesucht hat, trägt denselben Nachnamen wie dieser, was eine genealogische Verbindung andeutet. Damit würde sie ein Mitglied aus ihrem vermeintlichen Geschlecht ehelichen und ihrem vermeintlichen Vater durch die Heirat erhalten bleiben.662 Graf Wetter vom Strahl drückt seine väterliche Macht über Käthchen mittels christlicher Redewendungen aus und steht auf Grund seiner gesellschaftlichen Stellung in einer über sie regierenden Position. Er begehrt sie nicht zur Frau, die Schranken der Konvention verbieten das, doch liebt er sie und würde mit ihr das beste Geschlecht auf Erden zeugen. Das väterliche Verhalten rührt nicht allein aus ihrer Minderjährigkeit, sondern auch aus dem Obrigkeitsgedanken der Unmündigkeit der Untertanen. Der Kaiser und der Graf werden im »Käthchen« als in der gleichen genealogischen Ordnung stehend gekennzeichnet, allein die Rangfolge unterscheidet sie. 660 Ebd., S. 183. 661 Es gibt auch noch die Femerichter, die in ihrer Machtausübung gezeigt werden; doch habe ich darauf verwiesen, dass sie vor der größeren Machtinstanz, dem Grafen, Respekt zeigen und ihn in seinem Tun gewähren lassen (müssen); sie sind eindeutig hierarchisch dem Grafen untergeordnet. 662 »Die Kleist-Forschung hat an manchen Texten die latenten Inzestkonstellationen aufgedeckt […]. Insgesamt beachtenswert ist die Struktur der starken Väter von Töchtern mit schwachen Partnern […].« Eybl 2007, S. 171, Anm. 3. Die Inzestverweise ließen sich bezüglich des Käthchens insofern entkräften, als es sich bei ihrem Vater, Theobald, nur um den vermeintlichen Vater handelt, womit eine Ehe zwischen Käthchen und Gottfried Friedeborn keine inzestuöse Verbindung wäre.

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Allen drei Männern, Vätern, ist die Form des Begehrens in ihrer Beziehung zu Käthchen gemeinsam. Theobald begehrt sie als Pflegerin im Alter und möchte durch ihre Verheiratung seinen Besitz erweitern. Der Graf begehrt sie als Frau (Mädchen), darf sie aber auf Grund der Standesgesetze nicht zur Frau nehmen, erfreut sich grundsätzlich ihrer Treue und ihrer Huldigung ihm gegenüber. Der Kaiser schließlich will durch die Anerkennung Käthchens das Ende der Himmelserscheinungen erreichen, um die Welt in die gewohnte Ordnung zurückzubringen, und begehrt die Hochzeit zwischen Käthchen und dem Grafen. Weiters tritt die Macht des Vaters in Form göttlicher Erscheinungen auf. Der Engel repräsentiert die All-Macht des Gott-Vaters, der sich alle unterzuordnen haben; er ist Stellvertreter Gottes.663 Die göttliche Ordnung, die himmlische Herrschaft ist die erste von allen und auf sie berufen sich sämtliche Regierungsformen des Menschen. Dieses Verhältnis benennt Foucault mit dem Pastorat: »Das Pastorat ist ein grundlegender Verhältnistypus zwischen Gott und den Menschen, und der König hat gewissermaßen teil an dieser pastoralen Struktur des Verhältnisses zwischen Gott und den Menschen.«664 Der König ist der Hirte der »menschlichen Herde in jener Menschheitsperiode, die nicht zur augenblicklichen Verfassung der Welt gehört«. Denn die Politik, im Sinne der Regierung von Menschen, beginnt, »wenn sich die Welt verkehrtherum dreht«.665 Verweise auf das Göttliche referieren im »Käthchen« stets auf eine bestimmte Form von Macht. Die einen verweisen auf die antike Vorstellung von Regierung, die anderen auf die orientalische, hebräische Form. Insofern zeigen sie die zirkuläre Struktur von Macht auf. Beiden Vorstellungen liegt die Auffassung zugrunde, dass Gott der oberste Hirte der Menschen ist: »Gott war Hirte […].«666 Dieses Verhältnissystem zwischen Gott und den Menschen geht im Christentum über in die Form des Pastorats, »das seine Gesetze, seine Regeln, seine Techniken, seine Verfahren hat«.667 Durch diesen Übergang wird der Mensch die Macht des 663 »Der Name ›Engel‹ wird auch für die himmlischen Wesen verwendet, die zur Umgebung Gottes gehören. Gott wird dabei als König gedacht; die Engel bilden seinen ›Hofstaat‹, der die Herrlichkeit Gottes preist und seinen Willen ausführt. […] Im Neuen Testament begegnen Engel als Boten Gottes […], aber auch als himmlische Repräsentanten irdischer Gemeinden, die zugleich die Aufgabe eines Schutzengels haben […].« Die Bibel, Anhang, S. 310. 664 Foucault 2004, S. 186. »Der Gott ist der Hirte der Menschen. Diese Metapher des Hirten, diese Bezugnahme auf das Pastorat erlaubt es, einen bestimmten Verhältnistypus zwischen dem Souverän und dem Gott zu bezeichnen, in dem Maß, daß, wenn Gott der Hirte der Menschen ist, der König gewissermaßen der subalterne Hirte ist, dem Gott die Menschenherde anvertraut hat, und der am Ende des Tages und am Ende seiner Herrschaft die Herde, die ihm anvertraut gewesen ist, Gott zurückgeben muß.« Ebd. 665 Ebd., S. 213. 666 Ebd., S. 223. 667 Ebd. Weiter: »Christus ist Pastor, sicher, und er ist ein Pastor, der sich opfert, um Gott die Herde wieder zurückzubringen, die verloren war, der sich sogar opfert, nicht nur für die

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Pastorats, der Führung durch einen Hirten anerkennen: »Die religiöse Macht ist also die pastorale Macht.«668 Es war die Kunst, mittels derer man die Leute lehrt, die anderen zu regieren, oder wie man die anderen lehrt, sich von bestimmten Leuten regieren zu lassen. Dieses Spiel der Regierung der einen durch die anderen ist es, des täglichen Regierens, des pastoralen Regierens, das während fünfzehn Jahrhunderten als die Wissenschaft par excellence, als die Kunst aller Künste, das Wissen allen Wissens erwogen wurde.669

Foucault sieht den Ursprung der pastoralen Macht nicht bei den Griechen gegeben, sondern verortet ihn im Orient.670 Von dort aus hat sich das Pastorat im »gesamten hellenischen« Raum verbreitet.671 In Hinblick auf die unterschiedliche Ausrichtung der hellenischen und orientalischen Entwicklung der Regierung der Menschen lässt sich für das »Käthchen« folgender Vergleich anstellen: Käthchen entspräche in dieser Hinsicht der orientalischen Machtstruktur. Es ist auch der hebräische, der christliche Gott, der genau dann erscheint, »wenn man die Stadt verläßt, beim Auszug aus den Mauern und wenn man den Weg zu verfolgen beginnt«.672 Und Käthchen zieht aus ihren Mauern aus, um den Grafen zu verfolgen, ebenso wie sie bereit ist, sich für den Grafen zu opfern – ganz im Sinne Christus, der sich für die Menschen opfert: »Der wahre Hirte ist derjenige, der sich völlig für seine Herde aufopfert und nicht an sich selbst denkt.«673 Der Graf – als Vertreter des Prinzips der griechischen Gottheit – ist dagegen hauptsächlich damit beschäftigt, »seine Stadt zu verteidigen«, der griechische Gott »gründet die Stadt […], er hilft beim Bau der Mauern, er gewährleistet ihre Solidarität, er gibt der Stadt seinen Namen, […] er beschützt, er interveniert, es geschieht, daß er zornig wird und daß er sich wieder versöhnt, doch niemals leitet der griechische Gott die Menschen der Stadt, wie ein Hirte seine Schafe leiten

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Herde im allgemeinen, sondern für jedes einzelne seiner Schafe im besonderen. […] Der erste Pastor ist offensichtlich Christus.« Ebd., S. 223 f. Ebd., S. 225. »Die wirkliche Geschichte des Pastorats, als Ausgangspunkt eines spezifischen Typus der Macht über die Menschen, die Geschichte des Pastorats als Modell, als Matrix der Prozeduren der Regierung der Menschen, diese Geschichte des Pastorats in der abendländischen Welt beginnt erst mit dem Christentum.« Ebd., S. 217. Ebd., S. 222. »Die Idee, daß es eine Regierung der Menschen geben kann und daß die Menschen sich regieren, ist also, wie ich denke, keine griechische Vorstellung. […] Ich denke jedoch, man kann allgemein feststellen, daß die Idee der Regierung der Menschen eine Idee ist, deren Ursprung man eher im Orient suchen muß, in einem zunächst vorchristlichen und dann im christlichen Orient.« Ebd., S. 185. Ich möchte anmerken, dass mir die Schwierigkeit und die Problematik des Orient-Begriffs durchaus bewusst ist (geprägt wurde er von Edward Said), ich kann hier aber nicht näher auf die Entstehung und Auswirkungen eingehen. Ebd., S. 217. Ebd., S. 188. Ebd., S. 207.

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würde«.674 Der Graf vertritt die Menschen im Sinne des Stellvertreters, der sich immer auf den nächsthöheren bezieht und im Glauben an diesen handelt und sich auf ihn beruft – in dem Fall Zeus.675 Käthchen tritt in Zusammenhang mit der »Feuerprobe« in der Funktion des Hirten, der über seine Schäfchen wacht, auf. Sie ist es, die den Grafen vor dem Anschlag auf die Burg warnt; ebenso rettet sie, an seiner statt, Kunigundes Futteral und das Bild aus dem brennenden Schloss. Kurz gesagt: Käthchen ist der wachende Hirte, der seine Herde führt und bereit ist, seine Heimat zu verlassen, der Graf der antike Gott, der beschützt, aber nicht führt, und mitunter auch zornig werden kann. In der Funktion des beschützenden, rettenden Hirten tritt Käthchen in den Kreis der Macht ein.

5.4.3. Der Stellvertreter Graf vom Strahl, das habe ich zuvor dargelegt, ist ein Stellvertreter.676 Seine Herrschaft beruht auf der Akzeptanz, der Fügung in diese Rolle. Öffnen wir das Blickfeld etwas weiter, dann erkennen wir, dass jegliche Machtausübung auf einer Stellvertreter-Beziehung beruht.677 Übt ein Mensch über einen anderen Menschen Macht aus, begibt er sich augenblicklich in eine Abfolge der Stellvertreterschaft. Denn eine grundlegende Bedingung für die Ausübung von Macht stellt die Rechtfertigung der Handlung dar – und sei es die diktatorische Rechtfertigung, die sich auf die vom Diktator, der Diktatorin selbst erstellten Gesetze beruft. Der Stellvertreter handelt nach gesetzten Regeln, geschriebenen Kodizes, ohne von einer anderen Instanz, für eine (korrekt) ausgeführte Handlung, belangt zu werden. Die Bibel gilt als einer der ältesten Kodizes. Sie stellt eine 674 Ebd., S. 187 f. 675 Der Hirte nicht als »leitender« Hirte, sondern als jener, »[…] der für seine Herde das Gesetz macht. Von daher kommt die Bezeichnung Zeus’ als Nomios. Zeus ist der Gott-Hirte [dieu berger], der Gott, der den Schafen die Nahrung gewährt, die sie brauchen.« Ebd., S. 203. 676 Eindrücklich wird diese Funktion auch im Monolog des Grafen zu Beginn des zweiten Aktes demonstriert, in dem er sich unweigerlich selbst in den Rang einer Herrschaftsabfolge stellt, wo jedwedes Zuwiderhandeln gegen deren Regeln und Gesetze einem Bruch mit dem Vater, der Herrschaft, der Macht gleichkäme. 677 »Die Struktur der Macht ist ein gerere vices, das heißt, sie selbst wird ihrem Wesen nach vices ausgeübt, ist somit Stellvertretung. Das Wort ›vices‹ bezeichnet die ursprüngliche Vikarianz der souveränen Macht oder, wenn man so will, ihren absolut wesenlosen, rein ›ökonomischen‹ Charakter. Erst vor diesem Hintergrund gewinnt die doppelt (oder dreifach) gegliederte Struktur der Regierungsmaschine (Herrschaft und Regierung, auctoritas und potestas, ordinatio und executio, aber auch die Unterscheidung der Gewalten in den modernen Demokratien) ihre eigentliche Bedeutung. Fraglos handelt die Regierung in Stellvertretung der Herrschaft; doch Sinn ergibt dies nur innerhalb einer Ökonomie der Stellvertretung, in der keine der Mächte ohne die andere auskommt.« Agamben 2010, S. 168 (Hervorh. G. A.).

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Übereinkunft bereit, an die sich ein Christ zu halten hat, man denke nur an die zehn Gebote. Die Bibel gibt Beispiele, wie wir mit dem Leben, wie wir miteinander umzugehen haben, umgehen soll(t)en. Der Aufbau von Regierungen, der Anspruch auf Herrschaft vollzog sich immer unter Hinzunahme des Mythos. Als Bezugspunkt genommen, floss er in abgeänderter Form in die Reglements und Gesetze der Regierungen ein und prägte das Verhalten der Menschen.678 Gesetze regeln das Miteinander der Menschen und Stellvertreter berufen sich bei ihrer Machtausübung auf diese: »Die Ontologie der Regierungsakte ist eine Ontologie der Stellvertretung, da innerhalb des ökonomischen Paradigmas jede Macht stellvertretend ausgeübt wird, das Geschäft eines anderen erledigt.«679 Der niedriger Gestellte steht in einem stellvertretenden Verhältnis zum Nächsthöheren u.s.w., bis der Gipfel erreicht ist. Doch der Gipfel der Macht liegt nicht in unseren Sphären. Er liegt in der unvorstellbaren Vorstellung der Unendlichkeit. Um die Funktionsweise der Regierungsmaschine zu verstehen, muß man sich klarmachen, daß die Beziehung ihrer beiden Pole Herrschaft und Regierung im wesentlichen eine Stellvertretungsbeziehung ist. Sowohl der Kaiser als auch der Papst wurden als »vicarius Christi« oder »vicarius Dei« bezeichnet. […] Das innertrinitarische Verhältnis von Vater und Sohn bildet das theologische Paradigma jeder potestas vicaria, bei der alle Handlungen des Stellvertreters als Willensbekundungen des Vertretenen betrachtet werden. Wie wir sahen, ist jedoch der an-archische Charakter des Sohns, der jeglicher ontologischer Begründung im Vater entbehrt, ein wesentliches Element der trinitarischen Ökonomie. Die trinitarische Ökonomie ist der Ausdruck einer anarchischen Macht und eines anarchischen Seins, die zwischen den drei Personen gemäß einem Paradigma der Stellvertretung zirkulieren.680

Die Stellvertreterschaft birgt gleichzeitig den Entzug der körperlichen Anwesenheit in sich und bewirkt dadurch das Aufkommen von Zweifel.681 Dem Verlust wird Restriktion entgegengesetzt, geforderter Gehorsam und Glaube dienen als Ersatz für den abwesenden Körper, als Kompensation für den Mangel. Agamben führt noch Paulus’ ersten Brief an die Christen in Korinth als Beleg für die zwingende Stellvertreterschaft des Menschen in jeder auch noch so hohen Führungsposition an. Gehorsam bis über den Tod hinaus wird gefordert. Und selbst dann, im Reich der Auferstandenen, wird jeder einer hierarchischen 678 Dahingehend erscheint es mir von großem Interesse, z. B. heutige Gesetze auf ihre mythologischen Einschreibungen hin zu untersuchen, inwiefern sie sich entwickelt haben und welche Mythologeme immer noch als Gesetz Geltung haben. 679 Agamben 2010, S. 171. »Es gibt kein Wesen, sondern nur eine ›Ökonomie‹ der Macht, nur ›Regierung‹.« Ebd., S. 169. Der Begriff Ökonomie ist hier im Sinne Foucaults gesetzt. 680 Ebd., S. 166 ff. (Hervorh. G. A.). 681 Ebd., S. 167; siehe dort das Zitat von Johannes Quidort.

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Struktur unterworfen; eine Gleichstellung wird es nicht geben, jetzt nicht, wie auch nicht im Tod. Der Mangel bleibt bestehen. Selbst Christus ist Stellvertreter und folgt in seinem Tun einer exakten hierarchischen Anordnung. Denn wie sie in Adam alle sterben, so werden sie in Christus alle lebendig gemacht werden. Ein jeder aber in seiner Ordnung: als Erstling Christus; danach, wenn er kommen wird, die, die Christus angehören; danach das Ende, wenn er das Reich Gott, dem Vater, übergeben wird, nachdem er alle Herrschaft und alle Macht und Gewalt vernichtet hat. Denn er muss herrschen, bis Gott ihm »alle Feinde unter seine Füße legt« (Psalm 110,1). Der letzte Feind, der vernichtet wird, ist der Tod. Denn »alles hat er unter seine Füße getan« (Psalm 8,7). Wenn es aber heißt, alles sei ihm unterworfen, so ist offenbar, dass der ausgenommen ist, der ihm alles unterworfen hat. Wenn aber alles ihm untertan sein wird, dann wird auch der Sohn selbst untertan sein dem, der ihm alles unterworfen hat, damit Gott sei alles in allem.682

Alles unterwirft sich dem Stellvertreter, um in die Unendlichkeit einzugehen, wo alles Sein absolut und inexistent ist und nur noch Gott Alles verkörpert. Damit hörte die Stellvertreterschaft auf. Es gäbe niemanden mehr, der als Stellvertreter für jemanden oder etwas eintreten könnte. Da ich bisher den Stellvertreter als leitendes, maßgebendes und universelles Prinzip der Machtausübung konsequent anerkannt habe, darf am Ende ein letzter Schritt nicht übersehen werden: Gott selbst ist Stellvertreter. Erst wenn der paradiesische Zustand erreicht ist, d. h. der letzte Feind, der Tod, getötet worden ist, erst dann geht alles in Gott ein. Das bedeutet aber, dass das Paradies nicht das Ende wäre, sondern lediglich ein Schritt in Richtung Auflösung.683 Diese würde auf das Stadium, das »Gott […] alles in allem [sei]«684, folgen. Steht aber nicht der Gedanke an die Auflösung mit dem Gedanken an die Unendlichkeit in Verbindung? Nehmen wir nicht oft als Bild für die Unendlichkeit die zwei sich gegenüberstehenden Spiegel, in denen sich alle Spiegelbilder spiegeln, sich in der Unendlichkeit verlieren? Folgen wir diesem mise-en-abyme, dann ist die Unendlichkeit die Auflösung in Gott und Gott würde demzufolge für die Unendlichkeit stehen, als Stellvertreter für das Undenkbare.

682 Die Bibel 1999, 1. Kor. 15, 22 – 28. (Hervorh. im Orig.). 683 »Die Tatsache, daß das Leben ein Ende hat, wird nicht negiert; aber dieses Ende fällt nie mit dem physischen Tod zusammen, sondern hängt von kaum bekannten Bedingungen im Jenseits ab, von der Intensität des Lebens nach dem Tode, vom Gedenken der Hinterbliebenen, vom irdischen Renommee des Verstorbenen, vom Eingriff überirdischer Wesen usw. Zwischen dem Augenblick des Todes und dem Ende des Lebens nach dem Tode liegt ein Zwischenreich, das das Christentum, wie alle Heilsreligionen, zur Ewigkeit ausgedehnt hat. […] Die Toten harren, gemäß dem Versprechen der Kirche, auf das wirkliche Ende des Lebens, die Auferstehung in der Glorie und das künftige ewige Leben.« Ariès 2005, S. 776. 684 Die Bibel 1999, 1. Kor. 15,28.

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Die oberste Instanz im Staat, der »subalterne Hirte«685, vertritt für Gott die Hirtenrolle. »Der Hirte ist derjenige der wacht.«686 Wie ein Vater gilt es über der Herde auf der Erde zu wachen, wie Gott-Vater im Himmel. Das Wachen des Vaters ist nach Foucault das Überwachen des Staates687; und um die Überwachung möglich zu machen, braucht es das Schlagwort Sicherheit, wodurch restriktive Gesetze zugelassen werden und »Taktiken […] es erlauben, diese recht spezifische, wenn auch sehr komplexe Form der Macht auszuüben, die als Hauptzielscheibe die Bevölkerung, als wichtigste Wissensform die politische Ökonomie und als wesentliches technisches Instrument die Sicherheitsdispositive hat«.688 Zum Sicherheitsdispositiv passt auch das Bild, das ich zum Abschluss der Arbeit zeigen möchte: Käthchen selbst wird zur Stellvertreterin in dem Stück und tritt in den Kreis der Macht ein. Wenn sie im 4. Akt dem Grafen, der den Angreifern des Schlosses hinterherjagt, mit dem Futteral nachhetzt, hilft ihr Gottschalk und will sie mit sich nehmen, damit sie dem Grafen die Rolle selbst übergeben kann. Doch das Pferd sträubt sich und Käthchen geht nicht durchs Wasser. Gottschalk, die ganze Zeit über beim Käthchen, wird vom Grafen gerufen. Graf vom Strahl. Meine Lanze will ich haben! Gottschalk (hilft das Käthchen in den Steigbügel). Ich bringe sie schon! […] Gottschalk. Gleich, gleich! Ich bringe die Lanze schon. – Was hast du denn da in der Hand? Käthchen (indem sie sich auszieht). Das Futteral, Lieber, das gestern – nun! (SWB I, 590 f., 35 ff., 1 ff.)

Käthchen kann hier als Lanze des Grafen gelesen werden. Damit steht sie im Sinne der Stellvertreterin für ihn ein. Der Graf führt die Lanze, die Lanze folgt seiner Kraft und wird, wenn sie trifft, selbst zum Führer, in dem Sinn, als sie das Ziel niederwirft. Wird dieses Bild weiter verfolgt, kann das Futteral als Klinge oder Spitze der Lanze betrachtet werden. Sie ist scharf genug, um Kunigunde auf die Schliche zu kommen. Die Klinge, die den Schein der Maskerade offenbart, in der Hand des Stellvertreters. Käthchen wird das Amt des Stellvertreters von Gottschalk zugeschrieben. Eine Voraussetzung dafür besteht darin, dass sie in 685 686 687 688

Foucault 2004, S. 186. Ebd., S. 190. Ebd., S. 190. Ebd., S. 162.

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Wesentliche Implikationen des »Käthchens«

wesentlichen Momenten über sich selbst bestimmt und nach ihren Maßstäben handelt. Darin zeigt sich ein grundlegendes Moment politischen Handelns. Für einen Familienvater, einen Souverän ist es essentiell, diese Fähigkeit zu besitzen, »es ist [sogar] ganz und gar notwendig, daß ein Mensch sich selbst zu führen […] weiß, bevor er anderen befiehlt«.689 Käthchen besitzt durchaus diese Fähigkeit, da ihr Handeln in dem Stück als ein selbständiges bezeichnet werden kann.

5.4.4. Trinität – Symbolische Ordnung Der Diskurs der Trinität drückt die Ausgrenzung der Frau aus der symbolischen Ordnung aus.690 In dem Dreieck ist kein Platz für das Weibliche, es ist lediglich als das von der Frau stammende Symbol des Blutes enthalten und mittels Tabuisierung wird aufs Neue das Weibliche daraus entfernt. Von der Dreifaltigkeit geht die Macht aus. So teilt sich im »Käthchen« die Macht auf das Dreieck der Väter auf. Streng gemäß der genealogischen Abstammung der Menschheit – und, damals wie heute, mit der notwendigen Vorstellung der gegebenen Machtstellung eines Übervaters, der das Ganze lenkt. Der Trinitätsgedanke wird mit der Ausformung der »Welt der Väter […] genealogisch geprägt und Kultur stiftend« dargestellt, »von Theobald über den Kaiser bis zum Vater im Himmel« als »maskuline Dreieinigkeit«.691 Im DreierSystem angelegt, wird die göttliche Ausgangsmacht evoziert. Der starke Bezug auf die hierarchisch strukturierte Gesellschaftsordnung, in der das Geschlecht der Herkunft alles ist, beseitigt den letzten Zweifel, dass es sich bei den drei Vätern um eine Anspielung auf die Dreifaltigkeit handelt. Tatsächlich zieht sich durch den gesamten Dionysischen corpus der zentrale Gedanke, daß das Heilige und Göttliche sich dadurch auszeichnen, hierarchisch geordnet zu sein. Seine kaum verhohlene Strategie zielt – durch die obsessive Wiederholung eines triadischen Schemas, das sich aus der Trinität ableitet und von der Triarchie der Engel auf die irdische Hierarchie übertragen wird – auf die Heiligung der Macht.692

689 Ebd., S. 169, Anm. 20. 690 »Die christliche Religion repräsentiert sich in der heiligen Dreieinigkeit von Gottvater, Sohn und Heiligem Geist als männliche. Es gibt keinen Ort der Frau. Maria ist reduziert auf die Funktion der Mutter, aber asexuell und ohne Bedeutung für die spirituelle Vereinigung. Als Frau ausgeschlossen, wird sie als Mutter vereinnahmt.« Drygala 2005, S. 26. 691 Neumann 1997, S. 185. Geprägt wird das Ganze »durch das Gesetz der Schrift […], durch Erkennungszeichen […] bestimmt und durch Erbvertrag und territorialen Besitz geregelt […]. Ihr gegenüber steht die Welt der Mütter, magisch auf die Natur und ihre ewige Wiederkehr bezogen […] und – rein körperorientiert – das Muttermal als Erkennungszeichen […].« Ebd. 692 Agamben 2010, S. 184. (Hervorh. G. A.).

Die Macht

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In dem Bild der Trinität spiegelt sich die Grundbedingung für eine hierarchisch geordnete Welt wider; und in seiner Veräußerlichung im christlichen Mythos die Inthronisierung des Mannes als Herrscher über die Macht – unter Ausschluss der Frau aus diesem System. Die Dreifaltigkeitskonstellation ist damit die Basis für die Macht und durch ihre Beschreibung als Mythologem ein geweihtes Objekt, das nicht zu hinterfragen ist. Sie gewährt den Mächtigen damit die Rechtfertigung ihres Anspruchs. Hinsichtlich des »Käthchen« drängt sich nun eine Frage auf. Käthchen, habe ich gezeigt, wird die Funktion des Stellvertreters zugeschrieben. Eigenartigerweise geht sie, wenn sie aus dem brennenden Schloss tritt, dem Engel voraus. Normalerweise führen Engel und leiten die Menschen. So wie Käthchen, unter göttlicher Führung, in der Funktion des Hirten handelt, kann sie nun in dieser Rolle gesehen werden, wenn sie den Engel führt. Damit wäre sie neuerlich als Stellvertreterin anzusehen, als Stellvertreterin Gottes. Als Stellvertreterin Gottes würde nun Käthchen im Grunde in die Trinität eindringen. Es wäre der Einschluss des Ausgeschlossenen, des zweiten Teils, der wesentlich für die Form des Dritten ist. Mit dem Einschluss in die Trinität begäbe sich Käthchen in das Zentrum der Macht, dessen System aber auf dem Ausschluss der Frau besteht. Mit ihrem (gelungenen) Einschluss wäre somit das System gesprengt und nicht mehr, in der alten Form, vorhanden. Es würde ein neues System entstehen – nach dem Muster des alten. Dadurch verlöre Käthchen aber zugleich ihre Funktion als Form des Dritten, des Dazwischen, des WederNoch. Diese Form lässt sich durch die Eingliederung nicht mehr repräsentieren: »Und das ist das eigentliche Dritte: Das Dritte ist dasjenige, das von einem Schema, das zwischen zwei Seiten unterscheidet, nicht mehr erfaßt werden kann! […] Das Zugleich begründet das Paradox.«693 Käthchen in ihrer Funktion des Dritten würde somit eigentlich ausgelöscht, das Dritte als »andere Option« wäre durch die Wiederaufnahme alter Strukturen zerstört. Es scheint fraglich, ob die Rückkehr des Weiblichen in die symbolische Ordnung wünschenswert ist. Stellt sie doch im Grunde die Ordnung der patriarchalen Herrschaftsansprüche dar und die Aufnahme des Weiblichen wäre lediglich ein weiterer Akt der Vereinnahmung des Weiblichen in ein männliches System, mit anderen Worten eine nochmalige Auslöschung des Weiblichen aus dem symbolischen Gefüge der Herrlichkeit. Diese Zweifel lässt auch das Stück am Ende anklingen. Käthchens Ohnmacht694 würde die fortgeführte Handlungsabhängigkeit der Frau in dem System 693 Jahraus 2003, hier S. 141 f. 694 Im Sinne des Liebescodes kann gesagt werden: »Das Verhältnis von unabhängigen und abhängigen Variablen wird sozusagen umgedreht. Die Liebe entsteht wie aus dem Nichts, entsteht mit Hilfe von copierten Mustern, copierten Gefühlen, copierten Existenzen und mag dann in ihrem Scheitern genau dies bewußt machen.« Luhmann 1999, S. 54.

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Wesentliche Implikationen des »Käthchens«

der Macht darstellen. Daher wird Käthchen auch nicht von dem Grafen aufgefangen, der sie »umfaßt« (SWB I, 626, 34), sondern von der Gräfin, der Mutter, die danebensteht. Es ist der Fall in die althergebrachten Ordnungen, der sie vor der Ohnmacht – durch die sie aus der Ordnung fällt – noch ausrufen lässt: »Schütze mich Gott und alle Heiligen!« (SWB I, 627, 2) Dieser Ausruf wirkt wie ein Eingeständnis Käthchens an die Hierarchie. Darauf kann der Kaiser dann auch sagen, ohne dass die Welt aus den Fugen gerät: »Wohlan, so nehmt sie, Herr Graf vom Strahl, und führt sie zur Kirche!« (SWB I, 627, 5 f.) Die Ordnung ist wiederhergestellt und Theobald wurde in die Riege des Macht-Dreiecks aufgenommen, die Stellvertretung der Macht ist neu gewählt. Die »unteilbare Dreiheit« der Trinität drückt sich in der Überschneidung der drei Termini »oikonomia, ordo und gubernatio« aus.695 In dieser Aufstellung lässt sich die »oikonomia« mit Theobald, »ordo« mit dem Kaiser und »gubernatio« mit dem Grafen gleichsetzen. Der Schluß des Dramas feiert den Sieg der Väterwelt, jener eucharistischen Struktur eines Erbvertrags […]: Käthchen, gleich mit drei Vätern ausgestattet, die sie in die Welt des Gesetzes zurückzerren, wird stumm und ohnmächtig zur Trauung getragen.696

Käthchen ginge es wohl eher um eine Aufhebung der Ordnung, eine Enthebung der Macht, eine Befreiung von den Normen und ein Eintreten des Selbst. Dies würde aber wahrscheinlich wieder auf der Relation zu einem Symbol gründen, einem Zeichen, und wäre damit als »Symbol immer nur als Symbol des Symbols«697 vorhanden und stünde somit in dem Regress, wie schon im »Marionettentheater« angesprochen.

695 Agamben 2010, S. 115 (Hervorh. G. A.). 696 Neumann 1997, S. 187. 697 Greiner 2000, S. 195.

6.

Konklusion Folgende Geschichte hätte ich gerne erzählt: daß die Wiederholung der Wiederholung entflieht, um sich zu wiederholen. Daß sie, indem sie sich in Vergessenheit zu bringen sucht, ihr Vergessen fixiert und so ihre Abwesenheit wiederholt.698

Bei der Untersuchung des »Käthchens« hinsichtlich des Mythos, der Liebe und der Macht hat sich gezeigt, dass das Kleist’sche Stück an sich als ein Machtdrama bezeichnet werden kann. Gearbeitet wird mit Abbildern gesellschaftlicher Funktionen und Konventionen. Das bedeutet auch, dass das Geschlecht – im Sinne der Herkunft, der Abstammung, der Familie, der sozialen Rolle, der biologischen Form – mitthematisiert wird; allein schon durch die gesellschaftlich vorgegebene Rolle eines Subjekts. In der Ausformung der Macht kulminieren beide vorangegangenen Untersuchungsgegenstände, der Mythos und die Liebe. Die Verbindung zwischen den Dramen »Penthesilea« und »Käthchen« erklärt sich, bezugnehmend auf oben Erwähntes, insofern, als es sich bei der »Penthesilea« ebenso um ein Machtdrama handelt, wie das »Käthchen« ein Geschlechterdrama ist. Beide Begriffe sind auf das Engste verknüpft und bedingen einander beinahe. Macht zeigt sich ungern direkt. Eben deshalb spielen der Mythos und die Liebe eine große Rolle. Mit ihrer Hilfe lässt sich die Macht verbergen. Es liegt immer ein Geheimnis, etwas nicht Offenbartes um das Moment der Macht. Dieses Verstecken gehört zum Spiel der Macht. Kunigunde ist in ihrer grotesken Darstellung ein Paradebeispiel für den Versuch, Macht in Form von Verhüllung und Selbstzuschreibung fremder Realitäten zu erlangen. Ebenso setzt sie ihr biologisches Geschlecht als Verführungsmacht ein. Beinahe hätte sie auch Erfolg damit, würde Käthchen sie nicht hüllenlos sehen und versuchte sie nicht, das Käthchen zu töten. Es ist eine Welt der Maskerade und des Scheins, in der sich die Macht am wohlsten fühlt. Dass das Drama selbst als »großes historisches Ritterschauspiel« verkleidet im Mittelalter situiert ist, bedeutet nicht, dass es sich nicht mit der damals aktuellen politischen Situation auseinandergesetzt hat, im Gegenteil, liegt darin doch gerade auch ein Beweis für die Langlebigkeit gängiger Machtstrukturen, die sich über die Jahrhunderte kaum verändert haben. Es geht dabei um 698 Lyotard 2006, S. 177.

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die Verschränkung des Systems der Macht mit der Religion, mit Mythen, wodurch sich die Herrschenden eine Vorstellungswelt errichten, auf die sie sich berufen können. Diese Form der Machtausübung funktioniert ausschließlich durch Stellvertreter, die einer festgelegten Ordnung folgend ihre Macht auf das Ziel des Obersten hin ausrichten. Die Liebe funktioniert dabei in vorgelebten Bahnen und steht dem System unterstützend zur Seite – ja selbst das System basiert auf dem Prinzip der Liebe. Jedem Ausbruch aus dem gesellschaftlich konstruierten Gefüge wird auf schnellstmögliche Art Einhalt geboten und das Subjekt wieder in vorgesehene Bahnen geleitet. Als Basis des Systems dient das Göttliche, das Rettung nur für diejenigen bereithält, die bereit sind, sich den Gegebenheiten zu unterwerfen und dem gemeinsamen Weg zu folgen. Ich habe gezeigt, dass das »Käthchen« ein Stück ist, das – wie die »Penthesilea« – auf anschauliche Weise das Machtgefüge in einer Gesellschaft darstellt. Indem wir uns auf einen Mythos, sei er griechischen oder hebräischen Ursprungs, berufen, setzen wir den Zyklus der Macht fort. Es ist dabei gleichgültig, ob es sich bei der Darstellung um ein Matriarchat oder Patriarchat, um ein + oder ein – handelt. Die Mechanismen sind dieselben. Mythen werden herangezogen, um die notwendigen Schritte und Handlungen zu rechtfertigen. Sie liefern dem Machtsystem und seinem Aufbau den Nährboden. Die Form ist die der Berufung auf einen Ursprung, der im Mythos zu finden ist und der den Mächtigen dient, um ihre Forderungen zu legitimieren und zu autorisieren. Aufgebaut ist das System in pyramidaler Form, jeder Stellvertreter versucht, im Sinne desjenigen zu handeln, den er vertritt. Das System funktioniert nach dem hierarchischen Prinzip. Im »Käthchen« wird deutlich, dass Macht und Glaube unzertrennlich miteinander verbunden sind. Als die vorherrschende Macht im »Käthchen« zeigt sich das Männliche. Es geht um die männliche/väterliche Ausübung von Macht über einen anderen Menschen. In diesem Zusammenhang ist auch die Multiplikation der Vaterfigur des Käthchens zu sehen. Sie steht in der Abhängigkeit von gleich drei Männern/Vätern, denen sie folgt. Dahingehend lässt sich auch Theobalds Klage verstehen. Denn seine Klage ist nichts anderes, als die Beschwerde über den Verlust von Macht. Ausdruck findet dieser in dem Ungehorsam Käthchens. Käthchen ist nur noch dem Grafen hörig, ihm verfallen, läuft ihm nach und verlässt ihren Vater. Der Vater will jedoch weiterhin über seine Tochter herrschen, die sich ihm widersetzt hat, und so zieht er vor das Femegericht. Theobald beklagt den Verlust eines »Besitzes«, eines Menschen, der bestimmte Aufgaben zu erfüllen hat: den Vater zu lieben, ihn im Alter zu pflegen und dessen Besitz durch kluge Heirat zu erweitern. Der Graf vom Strahl ist ebenfalls Vater. Er regiert über sein Volk und ist diesem verpflichtet – wie der Hirte der Herde. Auf Grund seines Namens steht er in einer genealogischen Linie mit der obersten (griechischen) Gottheit. Er re-

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präsentiert als Stellvertreter Gott/Zeus, der als das Familienoberhaupt schlechthin gilt. Das lässt den Grafen wiederum zu einer stellvertretenden Vaterfigur werden. Der Kaiser schließlich ist der legitime Vater Käthchens, und darüber hinaus gilt seine Position auch als Repräsentation des obersten Gottes. In diesem Machtgefüge herrscht der Mann, als Vertreter des väterlichen Prinzips, über die Frau. Dadurch bleibt die Frau ohne Macht und kann nur mittels Ungehorsam das Fremdwalten über sie umgehen. Doch um in der Gesellschaft einen Platz zu bekommen, muss sie sich von den herrschenden Instanzen in den für sie vorgesehenen Stand setzen lassen. Auf andere Art und Weise scheint in der Gesellschaft kein Platz für eine Frau zu sein. Dahingehend lässt sich auch Käthchens Ohnmacht am Ende des Stückes lesen: Die Frau bleibt ohne Macht. Selbst das Sehen und die Berufung auf göttliche Zeichen versprechen keine Besserung. Handelt es sich bei dem Göttlichen doch um die Grundlage aller Macht über den Menschen. Diese Machtstrukturen sind spiegelbildlich für unsere Gesellschaft. Das Prinzip des Haushalts, über den der Vater regiert, ist Grundlage für unser Gesellschaftssystem. In der Fortführung der Herrschaft des Vaters entsteht so eine ganze Reihe an Vätern, Vaterfiguren, die jeweils Stellvertreter des obersten Vaters sind, der aber wiederum nur ein Stellvertreter ist. So wie in der Welt herrscht im »Käthchen« die Macht des Stellvertreters. Und selbst Käthchen wird dieses Prinzip kurzzeitig zugeschrieben, sie dringt in die Macht ein. Am Ende wird sie aber für den (Stief-)Vater aus dem Gebäude der Macht geholt und in den für sie vorgesehenen Stand versetzt. Denn die Bedingung des Kaisers zur Einwilligung in die Hochzeit ist, dass ihr Ziehvater in das Haus des Grafen vom Strahl aufgenommen werden muss. Erst dann darf Käthchen geheiratet werden. Käthchen entzieht sich das ganze Stück über beharrlich der ihr vorangestellten Macht. Durch die Verfolgung des Grafen folgt sie aber wiederum dem System, nur auf ihre selbstbestimmte Art. Im Laufe des Dramas wird aus einem eindeutig aktiven Käthchen eine passive Katharina. Dieser »Fall« entspricht der Ohnmacht am Ende des Stücks. Alle stehen den Gepflogenheiten nach aufgereiht und sind bereit, zur Kirche zu schreiten. Allein Käthchen bleibt ohne Macht und fällt um. Der Fall in die Ohnmacht kann aber ebenso als der Ausdruck eines neuerlichen Falls aus der Ordnung betrachtet werden, da es eben im Walten der Herrschaft nur einen ganz bestimmten Platz für sie gibt. Zwei Auserwählte, die nebeneinander, mit gleicher Berechtigung sein können, sind in der Geschichte nicht vorgesehen. Einer von beiden muss sich fügen. So wie sich Käthchen während des ganzen Stücks dem Machtdiskurs entzieht, ist sie ihm ebenso verbunden. Allein die Beschreibung Käthchens als Auserwählte folgt dem althergebrachten Prinzip. Sie ist Gefangene ihrer eigenen Geschichte. Sie steht zwischen den Knien der Autorität. Trotz ihres Ausbruchs bleibt sie Gefangene, weil sie das Referenz-

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system, in dem sie sich bewegt, nicht ändern kann. Im Gegenteil, jede Bewegung scheint das System zu bekräftigen. So wie jedoch »Penthesilea« nicht eine Kritik an der weiblichen Form der Machtausübung darstellt, drückt das »Käthchen« nicht die Kritik an der Männlichen aus. Es ist eine Kritik des Systems per se, eine Kritik des Gesetzes der Macht. Es ist eine Parabel des Lebens, mit dem Ausdruck der Absurdität von Machtansprüchen. In dieser Hinsicht funktionieren auch die Ironie und das Paradoxon. Es geht darum, vorgeformte Schablonen abzulegen, eine Akzeptanz für eine Umformung, eine Bedeutungsverschiebung von gesellschaftlichen Strukturen zu entwickeln. Unklar bleibt nur der Ausgang, sind wir doch alle Teil dieses Systems und dadurch auch unweigerlich gebunden. In der Art der Rahmung des »Käthchens« durch den Mythos wird deutlich eine Kritik an dem (Macht-)System bekundet. Durch die Verwendung von Mythen, »Sagen und Glaubensvorstellungen«, die mit der »coincidentia oppositorum«, der »Vereinigung« von Gegensätzen arbeiten, drückt sich »ein tiefes Unbefriedigtsein des Menschen mit seiner gegenwärtigen Lage, mit dem, was man conditio humana zu nennen pflegt«, aus.699 Wir berufen uns auf eine Macht, die nicht rational verständlich zu machen ist – das beweist Käthchen eindrucksvoll in ihrer Aussage bei der Befragung vor dem Femegericht durch Graf vom Strahl. Wir vermischen Traditionen, um eine Rechtfertigung für unser Tun und Handeln zu erhalten, und übersehen dabei das Absurde des Systems selbst. Macht funktioniert nur in Berufung auf Bedeutungen, und wir sind es, die die Bedeutungen festlegen. Es ist das System der Sprache, das die Macht besitzt, Veränderungen hervorzurufen. Doch es müssten Übereinkünfte aufgekündigt werden, damit sich Neues einstellen kann. Daher ist die Rede vor den Femerichtern von vornherein zum Scheitern verurteilt. Denn Kommunikation funktioniert dort in einem vorgefertigten System, das nur eine ganz bestimmte Rede zulässt und mit Unsicherheiten, Unerklärlichkeiten nichts anfangen kann. Von daher führt der Graf seine Befragung geschickt an den zwanghaften Vorschreibungen der Richter vorbei. Mit des Grafen Hilfe artikuliert Käthchen das Unaussprechliche so, dass die Richter nur die von ihnen verstandene Bedeutung wahrnehmen, aber im Grunde nichts gesagt worden ist. Die Richter gehen von der Annahme aus, dass Bedeutung per se gegeben ist und nicht von jedem Sprechenden auf je unterschiedliche Art im Prozess der Rede verfertigt wird. So wie die Richter die andere Bedeutung nicht erkennen wollen und Käthchen nach der Rückgabe an ihren Vater in Ohnmacht fällt, wollen die Obrigkeiten am Ende des Dramas die Bedeutung Käthchens nicht erkennen, und sie fällt erneut in Ohnmacht. Der einzige Ausruf, der ihr bleibt, ist der Ruf nach dem Schutz des

699 Mircea 1999, S. 107 f. (Hervorh. E. M.).

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Göttlichen. Dessen Stellvertreter stehen ihr aber schon gegenüber, und so verläuft alles in den geordneten Bahnen und Käthchen wird zur Hochzeit gebracht. Das Stellvertreterdasein macht uns zu Marionetten und dem Prinzip nach unfrei. Wir sind abhängig von den Vorstellungen der anderen, die wir zu den unseren machen. Wir berufen uns auf eine höhere Macht, die uns leitet, an die wir unsere Verantwortung abgeben. Frei handeln können wir nur, wenn uns nicht bewusst ist, was wir tun. In dem Zusammenhang ließe sich von Käthchen sagen, sie sei im Besitz der vollen Grazie. Sie kann sich nicht erklären, weshalb sie den Grafen verfolgt. Es ist ein Drang, ein innerer Zwang, der sie führt, der sie sich erinnern lässt. Doch schon die Erinnerung basiert auf dem Mythos des Göttlichen, referiert auf den Regress der Zuschreibungen und wird von der Vorstellung des Auserwählten gelenkt. Ihr Nichtwissen leitet sich, meines Erachtens, allein von der Tatsache der Unerklärbarkeit des Systems an sich ab. Denn ein Stellvertreter steht über dem anderen, über diesem wieder ein anderer – es ist ein mise-en-abyme, der Ursprung des Systems der Macht lässt sich nicht festmachen und bleibt in der Ungewissheit verankert. Es ist das Prinzip, das wie ein Spiegel immer auf uns selbst verweist, aber das Bild hinter dem Bild nicht preisgibt – vielleicht auch deshalb, weil dieses Bild, wie beim Spiegel, in der Utopie liegt. Unser Spiegelbild wiederum verweist uns auf die anderen. Denn nur durch die Reflexion sind wir fähig, uns selbst zu erkennen, nur durch den anderen wissen wir um unser Selbst Bescheid. In der Anerkennung des anderen (und dadurch des Selbst) liegt ein wesentliches Moment gesellschaftlicher Standpunkte. Wenn Anerkennung nur in Bahnen funktioniert, die vorgedacht und rückverweisend auf tradierte Systeme sind, kommt es zu keiner Achtung vor dem Gegenüber, aber eben auch nicht vor uns selbst. Wir erkennen den anderen und uns selbst nur in Bezug auf die Rolle in der Gesellschaft an. Käthchen befindet sich als Mensch in dem System, in dem Zeichen über alles andere gestellt werden, sie bestimmen den gesellschaftlichen Umgang. Kunigunde ist hierfür das Paradebeispiel. Sie referiert mit all ihren Gesten, Handlungen, Meinungen auf Konventionen, denen sie sich unterwirft und gehorcht. Ihr Denken ist exemplarisch für ein volles Bewusstsein. Im Gegensatz zu Käthchen, die in der Form der Nicht-Differenz denkt und handelt und insofern kein Bewusstsein hat. Dadurch lässt sich auch Käthchens Naivität erklären. Nachvollziehbar wird auch, weshalb Käthchen ihrer Gegenspielerin hilft, denn in ihren Augen stellt Kunigunde nicht den Widerpart dar. So ist es Käthchen auch möglich, für Kunigunde in das brennende Haus zu steigen, um das Bild des Grafen zu retten. An Kunigunde würde sich, mit ihrer Demaskierung, das ganze Konstrukt offenbaren, auf das die Welt ihre Bedeutung baut – doch dazu kommt es nicht. Käthchen hat es zwar gesehen, doch darüber berichten kann sie nicht, die Furcht ist zu groß. Durch ihre grotesk-dämonische Gestaltung ist Kunigunde

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eine Figur, mit der sehr effektvoll Kritik an dem Gesellschaftssystem geübt werden kann. Bei der Untersuchung von Mythos, Liebe und Macht wurde deutlich, dass unser Leben an einer Utopie orientiert ist. Die Absurdität, das Paradox daran ist, dass diese Utopie, die als Übereinkunft für den Menschen dient, eine derartige Macht bekommen hat, dass er nicht erkennt, dass es sich um eine Projektion seiner eigenen Wünsche, Träume und Vorstellungen handelt. Auch die Erscheinung des Grafen deutet auf die Form der Utopie hin, die wiederum eine Wiederholung der Utopie ist und der Regress der Verweise setzt sich fort. Um einen neuen Zustand der Welt zu errichten, müsste der alte Zustand durchschaut werden – doch wie etwas durchschauen, das auf einer unfassbaren Utopie gründet? Der Versuch der Neuerung scheint immer auf das Alte zurückgeworfen zu werden, indem alte Strukturen fortgeführt werden. Die Realisierung des Dritten löscht dieses zugleich als solches aus. Somit ließe sich auch sagen, dass die Bestrebungen der Romantik, eine neue Religion entstehen zu lassen, von vornherein in ihrem Anspruch zum Scheitern verurteilt waren. Es scheint, als könnten wir das Leben ohne Bezug auf eine übergeordnete Macht nicht denken. Und müssten uns immer darauf berufen. Doch genau diese Berufung gälte es zu beenden, die Unsicherheiten des Lebens auszuhalten und Festigkeit in dem Handeln des Selbst zu suchen. Wir leben jedoch in einer stetigen Wiederholung des immer Gleichen, tradieren immer wieder aufs Neue alte Muster und glauben darin die Rechtfertigung für unser Tun zu haben. Die Erklärung, warum Käthchen auf die Frage, weshalb sie den Grafen verfolgt, nicht antworten kann, ist unter Bezugnahme auf das Machtgefüge nun weiter zu ergänzen. Auf die Frage: »Was fesselt dich an meine Schritte an?« (SWB I, 518, 18), kann Käthchen keine Antwort geben, da sie die Gesellschaftsstruktur und ihre Präsuppositionen erklären müsste. Und warum genau wer über wen herrscht, bleibt hinter allen Gesetzen und Gepflogenheiten verborgen. Das System funktioniert, nur die Elemente werden von Zeit zu Zeit ausgetauscht. So bleibt auch uns meist nichts anderes übrig, als unseren Weg zu gehen und im Bedarfsfall die Antwort parat zu haben: »Auf das, was du gefragt: ich weiß es nicht.« (SWB I, 518, 27)

7.

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8.

Anhang

Vergleich der beiden Textfassungen Bei der Gegenüberstellung der beiden Fassungen stehen auf der linken Seite die Fragmente (P) und auf der rechten die Buchfassung (D). In beiden Fassungen führe ich die Seitenzahlen nach der Münchner Ausgabe an, um ein leichteres Auffinden der Passagen zu ermöglichen. Textliche Unterschiede und Abweichungen der Interpunktion habe ich in P wie in D durch Unterstreichen hervorgehoben. Da in P noch kein vollständiges Personenverzeichnis vorhanden war, habe ich diesen Vergleich ausgespart. P

D

Erster Akt.

Erster Act.

Scene: Eine unterirdische Höhle, mit den Insignien des Vehmgerichts, von einer Lampe erleuchtet.

Scene: Eine unterirdische Höhle, mit den Insignien des Vehmgerichts, von einer Lampe erleuchtet.

Erster Auftritt.

Erster Auftritt.

Graf Otto von der Flühe, (als Vorsitzer). Wenzel von Nachtheim, Hans von Unkenfeld, (als Beisassen), mehrere Grafen, Ritter und Herren, (sämmtlich vermummt), Häscher und Fackeln u. s. w. – Theobald Friedeborn, Bürger aus Heilbronn, (als Kläger), Graf Wetter vom Strahle (als Beklagter, stehen vor den Schranken). Graf Otto (steht auf) Wir, Richter des hohen, heimlichen Gerichts, die wir, die irdischen Schergen Gottes, Vorläufer der geflügelten Heere, die er in seinen Wolken mustert, den Frevel aufsuchen, da, wo er, in der Höhle der Brust, gleich einem Molche verkro[335|

Graf Otto von der Flühe (als Vorsitzer), Wenzel von Nachtheim, Hans von Bärenklau (als Beysassen), mehrere Grafen, Ritter und Herren (sämmtlich vermummt), Häscher mit Fackeln u. s. w. – Theobald Friedeborn, Bürger aus Heilbronn (als Kläger), Graf Wetter vom Strahle (als Beklagter, stehen vor den Schranken). Graf Otto (steht auf). Wir, Richter des hohen, heimlichen Gerichts, die wir, die irdischen Schergen Gottes, Vorläufer der geflügelten Heere, die er in seinen Wolken mustert, den Frevel aufsuchen, da, wo er, in der Höhle der Brust, gleich einem Molche verkrochen,

232 336]chen, vom Arm weltlicher Gerechtigkeit nicht aufgefunden werden kann: wir rufen dich, Theobald Friedeborn, ehrsamer und vielbekannter Waffenschmidt aus Heilbronn auf. deine Klage anzubringen gegen Friedrich, Graf Wetter vom Strahle; denn dort, auf den ersten Ruf der heiligen Vehme, von des Vehm-Herolds Hand dreimal mit dem Griff des Gerichtsschwerdts, an die Thore seiner Burg, deinem Gesuch gemäß, ist er erschienen, und fragt, was du willst? (er setzt sich) Theobald Friedeborn. Ihr hohen, heiligen und geheimnißvollen Herren! Hätte er, auf den ich klage, sich bei mir ausrüsten lassen – setzet in Silber, von Kopf bis zu Fuß, oder in schwarzen Stahl, Schienen, Schnallen und Ringe von Gold; und hätte nachher, wenn ich gesprochen: Herr, bezahlt mich! geantwortet: Theobald! Was willst du? Ich bin dir nichts schuldig; oder wäre er vor die purpurnen Schranken meiner Rathsherren getreten, und hätte, nach Art der Verläumder, gesagt: der Friedeborn sinnt auf Verrath, ihr Herren; dem Pfalzgrafen, der euch bedroht, sendet er Waffen zu; schickt die Häscher, auf daß man ihn greife: und es hätte sich nachher befunden, daß ich ihm nichts zugesendet, als Fangeisen, den Wolf zu fangen, und Speere mit Widerhaken, den Eber daran auflaufen zu lassen; oder hätte er mich auf sein Schloß laden lassen, und im Saal seiner Väter gesprochcn: Meister, die Klage, die ich gegen dich verführt, reut mich; die Rüstung will ich dir zahlen, und zum Zeichen, daß du keinen Groll gegen mich hegst, nimm diesen Becher Wein aus meiner Hand und leer ihn: der Hund aber, dem ich heimlich einen Bissen, in des Weines Naß getränkten Brodes vorgeworfen, wäre augenblicklich niedergesunken, verreckt, auch, binnen ein Rosenkranz abgebeter wird, verwes’t, so, daß er nur halb, als ob ihn ein Bär angefressen, begraben worden ihr Herren der hohen und heiligen Vehme, so wahr mir Gott helfe! ich glaube, ich hätte nicht vor euch geklagt. Ich erlitt, in drei und funfzig Jahren, da ich lebe, so viel Unrecht, daß meiner Seelen Haut nun gegen seinen

Anhang

vom Arm weltlicher Gerechtigkeit nicht aufgefunden werden kann: wir rufen dich, Theobald Friedeborn, ehrsamer und vielbekannter Waffenschmidt aus Heilbronn auf. deine Klage anzubringen gegen Friedrich, Graf Wetter vom Strahle; denn dort, auf den ersten Ruf der heiligen Vehme, von des Vehmherolds Hand dreimal mit dem Griff des Gerichtsschwerdts, an die Thore seiner Burg, deinem Gesuch gemäß, ist er erschienen, und fragt, was du willst? (er setzt sich). Theobald Friedeborn. Ihr hohen, heiligen und geheimnißvollen Herren! Hätte er, auf den ich klage, sich bei mir ausrüsten lassen – setzet in Silber, von Kopf bis zu Fuß, oder in schwarzen Stahl, Schienen, Schnallen und Ringe von Gold; und hätte nachher, wenn ich gesprochen: Herr, bezahlt mich! geantwortet: Theobald! Was willst du? Ich bin dir nichts schuldig; oder wäre er vor die Schranken meiner Obrigkeit getreten, und hätte meine Ehre, mit der Zunge der Schlangen – oder wäre er aus dem Dunkel mitternächtlicher Wälder herausgebrochen und hätte mein Leben mit Schwerdt und Dolch, angegriffen:

so wahr mir Gott helfe! ich glaube, ich hätte nicht vor euch geklagt. Ich erlitt, in drei und funfzig Jahren, da ich lebe, so viel Unrecht, daß meiner Seele Gefühl nun gegen seinen

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Stachel wie gepanzert ist; und während ich Waffen schmiede, für Andere, die die Mücken stechen, sag’ ich selbst zum Scorpion: fort mit dir! und laß ihn fliegen. Friedrich, Graf Wetter [336|337] vom Strahle, hat mir mein Kind entführt, meine Katharine. Nehmt ihn, ihr irdischen Schergen Gottes, und überliefert ihn allen geharnischten Schaaren, die an den Pforten der Hölle stehen und ihre glutrothen Spieße schwenken: ich klage ihn schändlicher Zauberei, aller Künste der schwarzen Nacht und der Verbrüderung mit dem Satan an! Graf Otto. Meister Theobald von Heilbronn! Erwäge wohl, was du sagst. Du bringst vor, der Graf vom Strahl, uns vielfältig, und von guter Hand bekannt, habe dir dein Kind verführt. Du klagst ihn, hoff ich, der Zauberei nicht an, weil er deines Kindes Herz von dir abwendig gemacht? Weil er ein Mädchen, voll rascher Einbildungen, mit einer Frage, wer sie sei oder wohl gar mit dem bloßen Schein seiner rothen Wangen, unter dem Schatten der Federbüsche hervorglühend, oder mit irgend einer andern Kunst des hellen Mittags, ausgeübt auf jedem Ringelstechen, für sich gewonnen hat? Theobald. Es ist wahr, ihr Herren, ich sah ihn nicht zur Nachtzeit, an Mooren und schilfreichen Gestaden, oder wo sonst des Menschen Fuß selten erscheint, umherwandeln und mit den Irrlichtern Verkehr treiben. Ich fand ihn nicht auf den Spitzen der Gebirge, den Zauberstab in der Hand, das unsichtbare Reich der Luft abmessen, oder in unterirdischen Höhlen Beschwörungsformeln aus dem Staub heraufmurmeln. Ich sah den Satan und die Schaaren, deren Verbrüderten ich ihn nannte, mit Hörnern, Schwänzen und Klauen, wie sie im Holzschnitt abgebildet sind, an seiner Seite nicht. Wenn ihr mich gleichwohl reden lassen wollt, so denke ich es durch eine schlichte Erzählung dessen, was sich zugetragen, dahin zu bringen, daß ihr aufbrecht, und ruft: unsrer sind dreizehn und der vierzehnte ist der Teufel! zu den Thüren rennt, und den Wald, der diese Höhle umgiebt, auf dreihundert

233 Stachel wie gepanzert ist; und während ich Waffen schmiede, für Andere, die die Mücken stechen, sag ich selbst zum Skorpion: fort mit dir! und laß ihn fahren. Friedrich, Graf Wetter vom Strahl, hat mir mein Kind verführt, meine Katharine. Nehmt ihn, ihr irdischen Schergen Gottes, und überliefert ihn allen geharnischten Schaaren, die an den Pforten der Hölle stehen und ihre glutrothen Spieße schwenken: ich klage ihn schändlicher Zauberei, aller Künste der schwarzen Nacht und der Verbrüderung mit dem Satan an! Graf Otto. Meister Theobald von Heilbronn! Erwäge wohl, was du sagst. Du bringst vor, der Graf vom Strahl, uns vielfältig und von guter Hand bekannt, habe dir dein Kind verführt. Du klagst ihn, hoff ich, der Zauberei nicht an, weil er deines Kindes Herz von dir abwendig gemacht? Weil er ein Mädchen, voll rascher Einbildungen, mit einer Frage, wer sie sey? oder wohl gar mit dem bloßen Schein seiner rothen Wangen, unter dem Helmsturz hervorglühend, oder mit irgend einer andern Kunst des hellen Mittags ausgeübt auf jedem Jahrmarkt, für sich gewonnen hat? Theobald. Es ist wahr, ihr Herren, ich sah ihn nicht zur Nachtzeit, an Mooren und schilfreichen Gestaden, oder wo sonst des Menschen Fuß selten erscheint, umherwandeln und mit den Irrlichtern Verkehr treiben. Ich fand ihn nicht auf den Spitzen der Gebirge, den Zauberstab in der Hand, das unsichtbare Reich der Luft abmessen, oder in unterirdischen Höhlen, die kein Strahl erhellt, Beschwörungsformeln aus dem Staub heraufmurmeln. Ich sah den Satan und die Schaaren, deren Verbrüderten ich ihn nannte, mit Hörnern, Schwänzen und Klauen, wie sie zu Heilbronn, über dem Altar abgebildet sind, an seiner Seite nicht. Wenn ihr mich gleichwohl reden lassen wollt, so denke ich es durch eine schlichte Erzählung dessen, [504|505] was sich zugetragen, dahin zu bringen, daß ihr aufbrecht, und ruft: unsrer sind dreizehn und der vierzehnte ist der Teufel! zu den Thüren rennt und den Wald, der diese Höhle umgiebt, auf dreihundert Schritte im

234 Schritte im Umkreis, mit euren TaftMänteln und Federhüthen besäet. Graf Otto. Nun, du alter, wilder Kläger! so rede! Theobald. Zuvörderst müßt ihr wissen, ihr Herren, daß mein Käthchen Ostern, die nun verflossen, funfzehn Jahre alt war; gesund an [337|338] Leib und Seele, wie die ersten Menschen, die gebohren worden sein mögen; ein Kind recht nach der Lust Gottes, das heraufging aus der Wüsten meines Lebens, wie ein gerader Rauch von Myrrhen und Wachholdern, wenn alle Lüfte in feierlicher Stille ruhn. Etwas Zarteres, Frommeres und Treueres müßt ihr euch nicht denken, und kämt ihr, auf Flügeln der Einbildung, zu den lieben, kleinen Engeln, die aus den Wolken, unter Gottes Händen und Füßen hervorgucken. Gieng sie, in ihrem bürgerlichen Schmuck, über die Straße, den Strohhut auf, von gelbem Lack erglänzend, das schwarzsammtene Leibchen, das ihre Brust umschloß, mit feinen Silberkettlein behängt: so lief es flüsternd von allen Fenstern herab: das ist das Käthchen von Heilbronn; das Käthchen von Heilbronn, ihr Herren, als ob der Himmel von Schwaben sie erzeugt, und von seinem Kuß geschwängert, die Stadt, die unter ihm liegt, sie gebohren hätte. Vettern und Basen, mit welchen die Verwandtschaft, seit drei Menschengeschlechtern, vergessen worden war nannten sie ihr liebes Mühmchen; die ganze Straße, in der wir wohnten, erschien an ihrem Namenstage, oder zu Weihnachten, oder wenn sonst die Gelegenheit dazu war, und beschenkte sie; wer sie nur einmal, gesehen und einen Gruß von ihr empfangen hatte, schloß sie acht folgende Tage lang, so oft er sich zur Ruhe legte, in sein Gebet ein. Anton, der Großvater, den sie in seiner letzten Krankheit gepflegt hatte, hatte ihr als einem Goldkinde, dem er ein Zeichen seiner Liebe zu geben wünschte, vorzugsweise vor mir und meinen übrigen Geschwistern, ein Landgut verschrieben, das vor den Thoren der Stadt liegt, und sie dadurch, unabhängig von mir, schon zur wohlhabenden Bürgerin gemacht. Fünf

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Umkreis, mit euren Taftmänteln und Federhüthen besäet. Graf Otto. Nun, du alter, wilder Kläger! so rede! Theobald. Zuvörderst müßt ihr wissen, ihr Herren, daß mein Käthchen Ostern, die nun verflossen, funfzehn Jahre alt war; gesund an Leib und Seele, wie die ersten Menschen, die gebohren worden sein mögen; ein Kind recht nach der Lust Gottes, das heraufging aus der Wüsten, am stillen Feierabend meines Lebens, wie ein gerader Rauch von Myrrhen und Wachholdern! Ein Wesen von zarterer, frommerer und lieberer Art müßt ihr euch nicht denken, und kämt ihr, auf Flügeln der Einbildung, zu den lieben, kleinen Engeln, die, mit hellen Augen, aus den Wolken, unter Gottes Händen und Füßen hervorgucken. Ging sie in ihrem bürgerlichen Schmuck über die Straße, den Strohhut auf, von gelbem Lack erglänzend, das schwarzsammtene Leibchen, das ihre Brust umschloß, mit feinen Silberkettlein behängt: so lief es flüsternd von allen Fenstern herab: das ist das Käthchen von Heilbronn; das Käthchen von Heilbronn, ihr Herren, als ob der Himmel von Schwaben sie erzeugt, und von seinem Kuß geschwängert, die Stadt, die unter ihm liegt, sie gebohren hätte. Vettern und Basen, mit welchen die Verwandtschaft, seit drey Menschengeschlechtern vergessen worden war nannten sie, auf Kindtaufen und Hochzeiten, ihr liebes Mühmchen, ihr liebes Bäschen; der ganze Markt, auf dem wir wohnten, erschien an ihrem Namenstage, und bedrängte sich und wetteiferte, sie zu beschenken; wer sie nur einmal, gesehen und einen Gruß im Vorübergehen von ihr empfangen hatte, schloß sie acht folgende Tage lang, als ob sie ihn gebessert hätte, in sein Gebet ein. Eigenthümerin eines Landguts, das ihr der Großvater, mit Ausschluß meiner, als einem Goldkinde, dem er sich liebreich bezeigen wollte, vermacht hatte, war sie schon unabhängig von mir, eine der wohlhabendsten Bürgerinnen der Stadt. Fünf Söhne wackerer Bürger, bis in den Tod von [505|506] ihrem Werthe gerührt, hatten nun schon um sie angehalten; die Ritter,

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wackre Männer, jeder ihrer Schwestern Eine werth, wenn sie deren gehabt hätte, hatten nun schon um sie angehalten; dem Fräulein, das die Ritter umbuhlen, stand sie zur Seite; und wäre sie Eines gewesen, das Morgenland wäre aufgebrochen und hätte Perlen und Edelsteine, von Mohren getragen, ihr zu Füßen gelegt. Wie viele Thränen vergoß ich, wenn ich dachte, daß ich mich von ihrer Liebe zu mir, dieser wahren Milch meiner letzten Tage, nach dem unbegreiflichen Gesetz der Natur, würde entwöhnen müssen; doch weil Gottfried Friedeborn, der junge Landmann, des[338|339]sen Güter das ihrige umgränzen, sie zum Weibe begehrte, und sie auf meine Frage: Katharine, willt du ihn? antwortete: Vater! Dein Wille sei meiner; so sagte ich, der Herr seegne euch! und weinte und jauchzte, und beschloß, Ostern, die kommen, sie nur zur Kirche zu bringen. – So war sie, ihr Herren, bevor sie mir dieser entführte. Graf Otto. Nun? Und wodurch entführte er sie dir? durch welche Mittel hat er sie dir, und dem Pfad, auf welchen du sie geführt hattest, jetzt entrissen? Theobald. Durch welche Mittel? – Ihr Herren, wenn ich das sagen könnte, so begriffen es diese fünf Sinne, und so ständ’ ich nicht vor euch und klagte auf alle, mir unverständlichen, Gräuel der Hölle. Der Teufel, der die Herzen der Mädchen, wie ihr euch auszudrücken beliebt, auf Tournieren und Ringelstechen, oder wo sonst die muntere Ritterschaft zusammen kommt, verführt, der ist mir gar wohl bekannt. Jugend heißt er, und hat glatte Scheitel, Füße ohne Hufen und Hände ohne Klauen, mancher Seraph hat sie nicht kleiner; und steckte kein andrer in ihm, als der, so wollt’ ich mich begnügen, mir die Haareauszuraufen, und schweigen. Was soll ich euch sagen, wenn ihr mich fragt: durch welche Mittel? Hat er sie am Brunnen getroffen, wenn sie Wasser schöpfte, und gesagt: Lieb Mädel, wer bist du? Hat er sich an den Pfeiler gestellt, wenn sie aus der Kirche kam, und gefragt: Lieb Mädel, wo wohnst du? Hat er sich in ihre Kammer geschlichen, und ihr einen

235 die durch die Stadt zogen, weinten, daß sie kein Fräulein war; ach, und wäre sie Eines gewesen, das Morgenland wäre aufgebrochen, und hätte Perlen und Edelgesteine, von Mohren getragen, zu ihren Füßen gelegt. Aber sowohl ihre, als meine Seele, bewahrte der Himmel vor Stolz; und weil Gottfried Friedeborn, der junge Landmann, dessen Güter das ihrige umgränzen, sie zum Weibe begehrte, und sie auf meine Frage: Katharine, willt du ihn? antwortete: Vater! Dein Wille sei meiner; so sagte ich, der Herr segne euch! und weinte und jauchzte, und beschloß, Ostern, die kommen, sie nun zur Kirche zu bringen. – So war sie, ihr Herren, bevor sie mir dieser entführte.

Graf Otto. Nun? Und wodurch entführte er sie dir? Durch welche Mittel hat er sie dir und dem Pfade, auf welchen du sie geführt hattest, wieder entrissen? Theobald. Durch welche Mittel? – Ihr Herren, wenn ich das sagen könnte, so begriffen es diese fünf Sinne, und so ständ ich nicht vor euch und klagte auf alle, mir unbegreiflichen, Gräuel der Hölle. Was soll ich vorbringen, wenn ihr mich fragt, durch welche Mittel? Hat er sie am Brunnen getroffen, wenn sie Wasser schöpfte, und gesagt: Lieb Mädel, wer bist du? hat er sich an den Pfeiler gestellt, wenn sie aus der Mette kam, und gefragt: Lieb Mädel, wo wohnst du? hat er sich, bei nächtlicher Weile, an ihr Fenster geschlichen, und, indem er ihr einen Halsschmuck umgehängt, gesagt: Lieb Mädel, wo ruhst du? Ihr hochheiligen Herren, damit war sie nicht zu gewinnen! Den Judaskuß errieth unser Heiland nicht rascher, als sie solche Künste. Nicht mit Augen, seit sie gebohren ward, hat sie ihn gesehen; ihren Rücken, und das Maal darauf, das sie von ihrer seeligen Mutter erbte, kannte sie besser, als ihn. (er weint.)

236 Halsschmuck gebracht, und gesagt: Lieb Mädel, gefällst mir? Ihr hochheiligen Herren, damit war sie nicht zu gewinnen! Nicht mit Augen, seit sie gebohren ward, hat sie ihn gesehen; ihren Rücken und das Maal, das sie von ihrer seligen Mutter erbte, kannte sie besser, als ihn. (er weint). Graf Otto (nach einer Pause). Und gleichwohl, wenn er sie verführt hat, du wunderlicher Alter, so muß es wann und irgendwo geschehen sein? Theobald (indem er sich noch das Tuch vorhält). Heiligen Abend vor Pfingsten, da er auf fünf Minuten, in meine Werkstatt kam, um sich, wie er sagte, eine Eisen[339|340] schiene, die ihm zwischen Schulter und Brust losgegangen war, wieder zusammenheften zu lassen. Wenzel von Nachtheim. Was! Hans von Unkenfeld. Als er, auf fünf Minuten, in deiner Werkstatt erschien, um sich eine Brustschiene anheften zu lassen? –

Graf Otto. Fasse dich, Alter, und erzähle den Hergang. Theobald. (indem er sich die Augen trocknet) Es mochte ohngefähr eilf Uhr Morgens sein, als er mit einem Troß Reisiger, vor mein Haus sprengte, rasselnd, der Erzgepanzerte, vom Pferd stieg, und in meine Werkstatt trat: das Haupt tief herab neigt’ er, um mit den Reiherbüschen, die ihm vom Helm niederwankten, durch die Thür zu kommen. Meister, schau’ her, spricht er: dem Pfalzgrafen, der eure Wälle niederreißen will, zieh’ ich entgegen; die Lust, ihn zu treffen, sprengt mir die Schienen; nimm Eisen und Drath, ohne daß ich mich zu entkleiden brauche, und heft’ sie mir wieder zusammen. Herr! sag’ ich: wenn euch die Brust so die Rüstung zerschmeißt, so läßt der Pfalzgraf unsere Wälle ganz; nöth’g’ ihn auf einen Sessel, in des Zimmers Mitte nieder, und: Wein! ruf ich in die Thüre, und vom

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Graf Otto (nach einer Pause.) Und gleichwohl, wenn er sie verführt hat, du wunderlicher Alter, so muß es wann und irgendwo geschehen sein? Theobald. Heiligen Abend vor Pfingsten, da er auf fünf Minuten in [506|507] meine Werkstatt kam, um sich, wie er sagte, eine Eisenschiene, die ihm zwischen Schulter und Brust losgegangen war, wieder zusammenheften zu lassen. Wenzel. Was! Hans. Am hellen Mittag? Wenzel. Da er auf fünf Minuten in deine Werkstatt kam, um sich eine Brustschiene anheften zu lassen? (Pause.) Graf Otto. Fasse dich, Alter, und erzähle den Hergang. Theobald (indem er sich die Augen trocknet.) Es mogte ohngefähr eilf Uhr Morgens sein, als er mit einem Troß Reisiger, vor mein Haus sprengte, rasselnd, der Erzgepanzerte, vom Pferd stieg, und in meine Werkstatt trat: das Haupt tief herab neigt’ er, um mit den Reiherbüschen, die ihm vom Helm niederwankten, durch die Thür zu kommen. Meister, schau her, spricht er: dem Pfalzgrafen, der eure Wälle niederreißen will, zieh ich entgegen; die Lust, ihn zu treffen, sprengt mir die Schienen; nimm Eisen und Drath, ohne daß ich mich zu entkleiden brauche, und heft’ sie mir wieder zusammen. Herr! sag ich: wenn euch die Brust so die Rüstung zerschmeißt, so läßt der Pfalzgraf unsere Wälle ganz; nöthig’ ihn auf einen Sessel, in des Zimmers Mitte nieder, und: Wein! ruf ich in die Thüre, und vom

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frischgeräucherten Schinken, zum Imbiß! und setz’ einen Schemel, mit Werkzeugen versehen, vor ihn, um ihm die Schiene wieder, herzustellen. Und während draußen noch der Streithengst wiehert, und mit den Pferden der Knechte, den Grund zerstampft, daß der Staub, als wär’ ein Cherub vom Himmel niedergefahren, emporquoll: öffnet langsam, ein großes, flaches Silbergeschirr, auf welchem Flaschen und Gläser und der Imbiß gestellt waren, auf dem Kopf tragend, das Mädchen die Thüre und tritt ein. Nun seht, wenn mir Gott der Herr aus Wolken erschiene, so würd’ ich mich ohngefähr so fassen, wie sie. Geschirr und Becher und Imbiß, da sie den Ritter erblickt, läßt sie fallen; und leichenbleich, mit Händen, wie zur Anbetung verschränkt, den Boden mit Brust und Scheiteln küssend, stürzt sie vor ihm nieder: als ob sie ein Blitz niedergeschmettert hätte! Und da ich sage: Herr meines Lebens! Was fehlt dem Mädchen? und sie aufhebe: schlingt sie, wie ein Taschenmes[340|341]ser zusammenfallend, den Arm um mich: das Antlitz flammend auf ihn gerichtet, als ob sie eine Erscheinung hätte. Der Graf vom Strahle, indem er ihre Hand nimmt, fragt: wess’ ist das Kind? Gesellen und Mägde strömen herbei und jammern: hilf, Himmel! Was ist dem Jüngferlein widerfahren? Mein Käthchen! sag’ ich: soll ich dich zu Bette bringen? Doch sie, sie zittert; die Lippen bewegt sie, als ob sie etwas sagen wolle, und regt sich und sträubt sich und wischt sich die Augen, wie Einer, den ein unerhörter Vorfall betroffen hat. Und da sie sich nach und nach erholt, und mir die Wangen streichelt, als wollte sie sagen: guter, alter Vater! beruhige dich: so ruft der Graf noch einmal: wess’ ist das wunderbare Kind? und faßt sie bei der Hand und zieht sie zu sich. Meins! gestrenger Herr, sag’ ich; mein Goldkind, mein Käthchen! So frisch und gesund sonst, wie die Tannen auf den Spitzen der Berge! Ich heiße sie auf den Schemel vor ihm, auf welchem die Werkzeuge liegen, niedersitzen: doch da sie, in ziemlicher Fassung, zwischen seinen Knieen steht und ihm ins Antlitz schaut: so denk’ ich, der

237 frischgeräucherten Schinken, zum Imbiß! und setz’, einen Schemel, mit Werkzeugen versehn, vor ihn, um ihm die Schiene wieder, herzustellen. Und während draußen noch der Streithengst wiehert, und, mit den Pferden der Knechte, den Grund zerstampft, daß der Staub, als wär’ ein Cherub vom Himmel niedergefahren, emporquoll: öffnet langsam, ein großes, flaches Silbergeschirr auf dem Kopf tragend, auf welchem Flaschen, Gläser und der Imbiß gestellt waren, das Mädchen die Thüre und tritt ein. Nun seht, wenn mir Gott der Herr aus Wolken erschiene, so würd’ ich mich ohngefähr so fassen, wie sie. Geschirr und Becher und Imbiß, da sie den Ritter erblickt, läßt sie fallen; und leichenbleich, mit Händen, wie zur Anbetung [507|508] verschränkt, den Boden mit Brust und Scheiteln küssend, stürzt sie vor ihm nieder, als ob sie ein Blitz nieder geschmettert hätte! Und da ich sage: Herr meines Lebens! Was fehlt dem Kind? und sie aufhebe: schlingt sie, wie ein Taschenmesser zusammenfallend, den Arm um mich, das Antlitz flammend auf ihn gerichtet, als ob sie eine Erscheinung hätte. Der Graf vom Strahl fragt: weß ist das Kind? Gesellen und Mägde strömen herbey und jammern: hilf Himmel! Was ist dem Jüngferlein widerfahren; doch da sie sich, mit einigen schüchternen Blicken auf sein Antlitz, erholt, so denk ich, der Anfall ist wohl auch vorüber und gehe, mit Pfriemen und Nadeln, an mein Geschäft. Drauf sag’ ich: Wohlauf, Herr Ritter! Nun mögt ihr den Pfalzgrafen treffen; die Schiene ist eingerenkt, das Herz wird sie euch nicht mehr zersprengen. Der Graf steht auf; er schaut das Mädchen, das ihm bis an die Brusthöhle ragt, vom Wirbel zur Sohle, gedankenvoll an, und beugt sich, und küßt ihr die Stirn und spricht: der Herr seegne dich, und behüte dich, und schenke dir seinen Frieden, Amen! Und da wir an das Fenster treten: schmeißt sich das Mädchen, in dem Augenblick, da er den Streithengst besteigt, dreißig Fuß hoch, mit aufgehobenen Händen, auf das Pflaster der Straße nieder: gleich einer Verlohrenen, die ihrer fünf Sinne beraubt ist! Und bricht sich beide Lenden, ihr heiligen Herren, beide

238 Anfall ist wohl auch vorüber, und lasse die Mägde den Schutt wegräumen, und geh an mein Geschäft. – Der Graf vom Strahle spricht, während ich ihm an der Schulter arbeite: Katharina, jung Mädel, was auch hast du? Weshalb entsatztest dich so, als du eintratst? War, mein’ ich, nicht vor mir’. »Weiß nit, gestrenger Herr, antwortet sie, was mir widerfahren. Laßt gut sein; ist schon wieder vorüber;« und streicht sich die Haare von der Stirn, und schweigt. Darauf sag’ ich: Wohlauf Herr Ritter! Nun mögt ihr den Pfalzgrafen treffen; die Schiene ist eingerenkt, das Herz wird sie euch nicht mehr zersprengen. Der Graf steht auf; er schaut das Mädchen, das ihm bis an die Brusthöhle ragt, vom Wirbel zur Sohle, gedankenvoll an; und beugt sich, und küßt ihre Stirn und spricht: »Der Herr seegne dich, und behüte dich, und schenke dir seinen Frieden, Amen!« Und da wir an das Fenster traten, um ihn abreiten zu sehen, schmeißt sich das Mädchen, in dem Augenblick, da er den Streithengst besteigt, dreißig Fuß hoch, mit aufgehobenen Händen, auf das Pflaster der Straße nieder: gleich einer Verlornen, die nun ihres Lebens überdrüßig ist. Und bricht sich beide Lenden, ihr heiligen Herren, beide zarten Lendchen, dicht über des Knierunds elfenbeinernem Bau; und ich, alter, bejammernswürdiger Narr, der mein versinkendes Leben auf sie stützen wollte, muß sie, auf meinen Schultern, wie zu Grabe tragen: indessen er dort, den Gott verdamme, zu Pferd, unter dem Volk, das herbeigeströmt, herüberruft von hinten, was vorgefallen sei! Hier liegt sie nun, auf dem Todtbett, in der Glut des hitzigen Fiebers, sechs bleigeflügelte Wochen, ohne sich zu regen. Keinen Laut bringt sie hervor; auch nicht der Wahnsinn, dieser Dietrich aller Brüste, eröffnet die ihre; kein Mensch vermag das Geheimniß, das in ihr waltet, ihr zu entlocken. Und prüft, da sie sich ein wenig erholt, den Schritt, und schnürt ihr Bündel, und tritt, beim Strahl der Morgensonne, in die Thür. Wohin? fragt sie die Magd; zum Grafen Wetter vom Strahl, antwortet sie, und verschwindet. Wenzel.

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zarten Lendchen, dicht über des Knierunds elfenbeinernem Bau; und ich, alter, bejammernswürdiger Narr, der mein versinkendes Leben auf sie stützen wollte, muß sie, auf meinen Schultern, wie zu Grabe tragen; indessen er dort, den Gott verdamme! zu Pferd, unter dem Volk, das herbeiströmt, herüberruft von hinten, was vorgefallen sei! – Hier liegt sie nun, auf dem Todbett, in der Glut des hitzigen Fiebers, sechs endlose Wochen, ohne sich zu regen. Keinen Laut bringt sie hervor; auch nicht der Wahnsinn, dieser Dietrich aller Herzen, eröffnet das ihrige; kein Mensch vermag das Geheimniß, das in ihr waltet, ihr zu entlocken. Und prüft, da sie sich ein wenig erholt hat, den Schritt, und schnürt ihr Bündel, und tritt, beim Strahl der Morgensonne, in die Thür: wohin? fragt sie die Magd; zum Grafen Wetter vom Strahl, antwortet sie, und verschwindet.

Wenzel. Es ist nicht möglich!

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Zum Grafen Wetter vom Strahl? – Es ist nicht möglich. Hans. Verschwindet? Wenzel. Und läßt Alles hinter sich zurück? Hans. Haus und Hof und den Bräutigam, dem sie verlobt war? Wenzel. Und begehrt auch deines Segens nicht einmal? Theobald. Verschwindet, ihr Herren – Verläßt mich und Alles, woran Pflicht, Gewohnheit und Natur sie knüpften – Küßt mir die Augen, die schlummernden, und verschwindet: ich wollte, sie hätte sie mir zugedrückt. Wenzel. Beim Himmel! Ein seltsamer Vorfall. – Theobald. Seit jenem Tage folgt sie ihm nun, gleich einer Metze, in blinder Ergebung, von Ort zu Ort; geführt am Strahl seines Angesichts, fünfdräthig, wie einen Tau, um ihre Seele gelegt; auf nackten, jedem Kiesel ausgesetzten, Füßen, das kurze Röckchen, das ihre Hüfte deckt, im Winde flatternd, nichts als den Strohhut auf, sie gegen der Sonne Stich, oder den Grimm der Witterung, zu schützen. Wohin sein Fuß, im [342|343] Lauf seiner Abentheuer, sich wendet: durch den Dampf der Klüfte, durch die Wüste, die der Mittag versengt, durch die Nacht verwachsener Wälder: wie ein Hund, der mit dem Schweiß seines Herren genährt worden ist, schreitet sie hinter ihm her; und die gewohnt war, auf weichen Kissen zu ruhen, und das Knötlein spürte, in des Bettuchs Faden, das ihre Hand nachläßig darin eingesponnen hatte: die liegt jetzt, einer Magd gleich, in seinen Ställen, und sinkt, wenn die Nacht kömmt, ermüdet auf die Streu nieder, die seinen stolzen Rossen untergeworfen wird. Graf Otto. Graf Wetter vom Strahl! Ist dies gegründet! Graf vom Strahle. Wahr ist’s, ihr Herren; sie geht auf der Spur, die hinter mir zurückbleibt. Wenn ich mich umsehe, erblick’ ich zwei Dinge: meinen Schatten und sie.

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Hans. Verschwindet? Wenzel. Und läßt Alles hinter sich zurück? Hans. Eigenthurn, Heimath und den Bräutigam, dem sie verlobt war? Wenzel. Und begehrt auch deines Seegens nicht einmal? Theobald. Verschwindet, ihr Herren – Verläßt mich und Alles, woran Pflicht, Gewohnheit und Natur sie knüpften – Küßt mir die Augen, die schlummernden, und verschwindet; ich wollte, sie hätte sie mir zugedrückt. Wenzel. Beim Himmel! Ein seltsamer Vorfall. – Theobald. Seit jenem Tage folgt sie ihm nun, gleich einer Metze, in blinder Ergebung, von Ort zu Ort; geführt am Strahl seines Angesichts, fünfdräthig, wie einen Tau, um ihre Seele gelegt; auf nackten, jedem Kiesel ausgesetzten, Füßen, das kurze Röckchen, das ihre Hüfte deckt, im Winde flatternd, nichts als den Strohhut auf sie gegen der Sonne Stich, oder den Grimm empörter’ Witterung zu schützen. Wohin sein Fuß, im Lauf seiner Abentheuer, sich wendet: durch den Dampf der Klüfte, durch die Wüste, die der Mittag versengt, durch die Nacht verwachsener Wälder: wie ein Hund, der von seines Herren Schweiß gekostet, schreitet sie hinter ihm her; und die gewohnt war, auf weichen Kissen zu ruhen, und das Knötlein spürte, in des Bettuchs Faden, das ihre Hand unachtsam darin eingesponnen hatte: die liegt jetzt, einer Magd gleich, in seinen Ställen, und sinkt, wenn die Nacht kömmt, ermüdet auf die Streu nieder, die seinen stolzen Rossen untergeworfen wird. Graf Otto. Graf Wetter vom Strahl! Ist dies gegründet? Der Graf vom Strahl. Wahr ists, ihr Herren; sie geht auf der Spur, die hinter mir [509|510] zurückbleibt. Wenn ich mich umsehe, erblick’ ich zwei Dinge: meinen Schatten und sie.

240 Graf Otto. Und wie erklärt ihr euch diesen sonderbaren Umstand? Graf vom Strahle. Ihr unbekannten Herren der Vehme! Wenn der Teufel sein Spiel mit ihr treibt, so braucht er mich dabei, wie der Affe die Pfoten der Katze: ein Schelm will ich sein, holt er die Kastanie für mich. Wollt ihr meinem Wort schlechtweg, weil’s die heilige Schrift vorschreibt, glauben: ja, ja, nein, nein: gut: wo nicht, so will ich nach Wien, und den Kaiser bitten, daß er den Theobald ordinire. Alsdann mag Gott, der Herr, kurz und bündig, entscheiden: hier werf ich ihm vorläufig meinen Handschuh hin. Graf Otto. Ihr sollt hier Rede stehn, auf unsre Fragen! Womit rechtfertigt ihr, daß sie unter eurem Dache schläft? Sie, die in das Haus hingehört, wo sie geboren und erzogen ward? Graf vom Strahle. Wollt ihr das wissen? Graf Otto. Allerdings. Wo traft ihr sie zuerst an? Graf vom Strahle. Am Rhein, als ich nach Straßburg zog, um mit dem Pfalzgrafen, des Friedens wegen, zu unterhandeln. [343|344] Graf Otto. Erzählt den Hergang. Graf vom Strahle. Ich war, es mögen ohngefähr neun Wochen sein, ermüdet, in der Mittagshitze, an der Wand eines Felsens eingeschlafen: nicht im Traum gedacht ich des Mädchens mehr, das in Heilbronn aus dem Fenster gestürzt war: da liegt sie mir, wie ich erwache, gleich einer Rose, entschlummert zu Füßen; als ob sie vom Himmel herabgeschneit wäre. Und da ich zu den Knechten, die im Grase herum liegen, sage: Ei, was der Teufel! Das ist ja das Käthchen von Heilbronn! schlägt sie die Augen auf, und bindet sich das Hütlein zusammen, das ihr schlafend vom Haupt herabgerutscht war. Katharina! ruf ’ ich: Mädel! Wo kommst auch her? Auf funfzehn Meilen von Heilbronn, fernab am Gestade des Rheins? »Hab’ ein Geschäft, gestrenger Herr,« antwortet sie, »das mich

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Graf Otto. Und wie erklärt ihr euch diesen sonderbaren Umstand? Der Graf vom Strahl. Ihr unbekannten Herren der Vehme! Wenn der Teufel sein Spiel mit ihr treibt, so braucht er mich dabei, wie der Affe die Pfoten der Katze; ein Schelm will ich sein, holt er den Nußkern für mich. Wollt ihr meinem Wort schlechthin, weils die heilige Schrift vorschreibt, glauben: ja, ja, nein, nein; gut! Wo nicht, so will ich nach Worms, und den Kaiser bitten, daß er den Theobald ordinire. Hier werf ’ ich ihm vorläufig meinen Handschuh hin! Graf Otto. Ihr sollt hier Rede stehn, auf unsre Frage! Womit rechtfertigt ihr, daß sie unter eurem Dache schläft? Sie, die in das Haus hingehört, wo sie gebohren und erzogen ward?

Der Graf vom Strahl. Ich war, es mögen ohngefähr zwölf Wochen sein, auf einer Reise, die mich nach Straßburg führte, ermüdet, in der Mittagshitze, an einer Felswand, eingeschlafen – nicht im Traum gedacht ich des Mädchens mehr, das in Heilbronn aus dem Fenster gestürzt war – da liegt sie mir, wie ich erwache, gleich einer Rose, entschlummert zu Füßen; als ob sie vom Himmel herabgeschneit wäre! Und da ich zu den Knechten, die im Grase herumliegen, sage: Ei, was der Teufel! Das ist ja das Käthchen von Heilbronn! schlägt sie die Augen auf, und bindet sich das Hütlein zusammen, das ihr schlafend vom Haupt herabgerutscht war. Katharine! ruf ich: Mädel! Wo kömmst auch her? Auf funfzehn Meilen von Heilbronn, fernab am

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gen Straßburg führt; schauert’ mich im Wald so einsam zu wandern und schlug mich zu euch.« Drauf lass’ ich ihr zur Erfrischung reichen, was mir Gottschalk, der Knecht, mit sich führt, und erkundige mich: wie der Sturz abgelaufen? auch was der Vater macht? und was sie in Straßburg zu erschaffen denke? doch da sie nicht freiherzig mit der Sprache herausrückt: was auch geht’s dich an, denk’ ich; ding’ ihr einen Boten, der sie durch den Wald führe, schwing’ mich auf den Rappen, und reite ab. Abends, in der Herberg’, an der Straßburger Straß, will ich mich eben zur Ruhe niederlegen: da kömmt Gottschalk, der Knecht, und spricht: das Mädchen sei unten und begehre, in meinen Ställen zu übernachten. Bei den Pferden? frag’ ich. Ich sag’: wenn’s ihr weich genug ist, mich wird’s nicht drücken. Und füg’ noch, indem ich mich im Bett wende, hinzu: magst ihr wohl eine Streu unterlegen, Gottschalk, und sorgen, daß ihr nichts widerfahre. Und wandert Tags darauf, früher aufgebrochen, als ich, wieder auf der Landstraße, und lagert sich wieder in meinen Ställen, und lagert sich Nacht für Nacht, so wie mir die Reise fortschreitet, darin: als ob sie zu meinem Troß gehörte. Nun litt’ ich das, ihr Herren, um jenes grauen Alten dort, der mich jetzt darum straft; denn der Gottschalk hatte das Mädchen liebgewonnen, und pflegte ihrer, als seiner Tochter; kömmst du einst [344|345] durch Heilbronn, dacht’ ich, so wird er’s dir danken. Doch da sie sich auch in Straßburg wieder bei mir einfindet, und ich gleichwohl spüre, daß sie nichts im Orte erschafft, denn mir hatte sie sich ganz und gar geweiht, und wusch und flickte, als ob es sonst am Rhein nicht zu haben wäre: so denk’ ich, sollst ihr doch einmal mit der Sprache näher auf ’s Herz rücken und hören, was sie treibt. Und spreche, da ich sie auf der Treppe finde, mit Hemden, die ich abgelegt, und Strümpfe flickend beschäftigt: »Katharina! O Jungfrau! Wie auch stehts? Hast dein Geschäft in Straßburg bald abgemacht? Und eine Glut, wie wenn ein Heerd geschürt wird, flammt ihr über’s Antlitz: – nein, flüstert sie, noch nicht; und hebt einen Knäuel auf, der ihr

241 Gestade des Rheins? »Hab’ ein Geschäft, gestrenger Herr,« antwortet sie, »das mich gen Straßburg führt; schauert mich im Wald so einsam zu wandern, und schlug mich zu euch.« Drauf laß? ich ihr zur Erfrischung reichen, was mir Gottschalk, der Knecht, mit sich führt, und erkundige mich: wie der Sturz abgelaufen? auch was der Vater macht? und was sie in Straßburg zu erschaffen denke? Doch da sie nicht freiherzig mit der Sprache herausrückt: was auch geht’s dich an, denk’ ich; ding’ ihr einen Boten, der sie durch den Wald führe, [510|511] schwing mich auf den Rappen, und reite ab. Abends, in der Herberg, an der Straßburger Straß, will ich mich eben zur Ruh niederlegen: da kommt Gottschalk, der Knecht, und spricht: das Mädchen sei unten und begehre in meinen Ställen zu übernachten. Bei den Pferden? frag’ ich. Ich sage: wenn’s ihr weich genug ist, mich wird’s nicht drücken. Und füge noch, indem ich mich im Bett wende, hinzu: magst ihr wohl eine Streu unterlegen, Gottschalk, und sorgen, daß ihr Nichts widerfahre. Drauf, wandert sie, kommenden Tages früher aufgebrochen, als ich, wieder auf der Heerstraße, und lagert sich wieder in meinen Ställen, und lagert sich Nacht für Nacht, so wie mir der Streifzug fortschreitet, darin, als ob sie zu meinem Troß gehörte. Nun litt ich das, ihr Herren, um jenes grauen, unwirrschen Alten willen, der mich jetzt darum straft; denn der Gottschalk, in seiner Wunderlichkeit, hatte das Mädchen lieb gewonnen, und pflegte ihrer, in der That, als seiner Tochter; führt dich die Reise einst, dacht’ ich, durch Heilbronn, so wird der Alte dirs danken. Doch da sie sich auch in Straßburg, in der erzbischöflichen Burg, wieder bei mir einfindet, und ich gleichwohl spüre, daß sie nichts im Orte erschafft: denn mir hatte sie sich ganz und gar geweiht, und wusch und flickte, als ob es sonst am Rhein nicht zu haben wäre: so trete ich eines Tages, da ich sie auf der Stallschwelle finde, zu ihr und frage: was für ein Geschäft sie in Straßburg betreibe? Ei, spricht sie gestrenger Herr und eine Röthe, daß ich denke, ihre Schürze wird angehen, flammt über ihr Antlitz empor:

242 von Schooß herabgefallen war. Ich sage: woran auch liegt’s? Wird sich der Vater daheim, wenn du so lang’ ausbleibst, nicht härmen? – – Was denn ist’s für ein Geschäft? setz’ ich forschend hinzu, da sie nichts herfürbringt, weint, und mit der Nadel schafft, als jagte sie Einer. »Ei,« spricht sie, »gestrenger Herr,« und schaut auf die Wäsche nieder; ihr wißt’s ja!« – Ich? frag’ ich. Nein, so wahr mir Gott helfe, da irrst du. Wie soll ich’s wissen? Hast du’s mir jemals anvertraut? – Käthchen! sag’ ich, und nehm’ ihr das Kinn, und richt’ es sanft zu mir auf. »Gott!« ruft sie, »was quält ihr mich!« rafft Hemden und Strümpfe auf, neigt sich, und küßt mir des Mantels Saum, und geht ab. Holla! denk’ ich, steht es so mit dir? und send’ einen Boten flugs gen Heilbronn dem Vater zu, mit folgender Meldung: »das Käthchen sei bei mir; ich hütete seiner; in zwanzig Tagen könne er es vom Schloß Wetterstrahl, daheim im Schwabenlande, abholen, wohin ich in fünfen auf brechen und es mitnehmen würde.« Graf Otto. Hat dies seine Richtigkeit, Alter? Theobald. Wahr ist’s, ihr hohen Herren; er schickte mir den Boten gen Heilbronn, und ich, guter Narr, erschien auch. Doch das wußt’ ich nicht, daß es blos war, um mich zu äffen, und mir von seiner Kunst eine Probe zu zeigen; denn sie blieb nach wie vor bei ihm. Graf vom Strahle. Äffen! – Wenn du der Affe der Vernunft bist: was geht’s mich [345|346] an? Wärst du verständig verfahren, wie’s deinem drei und funfzig jährigen Alter zukam: hättest du die träumerische Kunst nicht, von der du sprichst, zu Schanden machen, und das Mädchen mit dir nehmen können? Graf Otto. Weiter, Graf Wetter! berichtet den Vorfall! Graf vom Strahle. Da er am zwanzigsten Tage, verabredeter Maßen, bei mir erscheint: mit dem Mädchen, das mir nach Schloß Wetterstrahl gefolgt war, hatte ich kein Wort weiter gesprochen; nehm’ ich ihn, ungesehen von ihr, und führ ihn in meiner Väter Saal. Und such’ ihn, der mir bang ins

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»was fragt ihr doch? ihr wißts ja!« – Holla! denk ich, steht es so mit dir? und sende einen Boten flugs nach Heilbronn, dem Vater zu, mit folgender Meldung: das Käthchen sei bei mir; ich hütete seiner; in kurzem könne er es, vom Schlosse zu Strahl, wohin ich es zurückbringen würde, abholen.

Graf Otto. Nun? Und hierauf ? Wenzel. Der Alte holte die Jungfrau nicht ab?

Der Graf vom Strahl. Drauf, da er am zwanzigsten Tage, um sie abzuholen, bei mir erscheint, und ich ihn in meiner Väter Saal führe: erschau ich mit Befremden, daß er, beim Eintritt in die Thür, die Hand [511|512] in den Weihkessel steckt, und mich mit dem Wasser, das darin befindlich ist, besprengt.

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Antlitz schaut, durch Offenherzigkeit zu gewinnen; bericht ihm, was vorgefallen; wie mir das Mädchen, in thörichter Ergebung zugethan sei; wie ich gleichwohl von der Gewalt, die er über ihr Herz ausübe, mancherlei Proben hätte; und wie ich, für die Rückkehr zu ihrer Pflicht, Alles von ihrem Gefühl und dem Eindruck der ersten Überraschung erwarte, wenn er nur Klugheit genug habe, ihn nicht durch Schelten zu verwirren. Er auch, indem er ein wenig Muth faßt, verspricht mir, daß er mild sein werde; er liebe das Mädchen viel zu sehr, sagt er, als daß er ihr, um welchen Fehler es immer sei, lange zürnen könne; Alles sei vergeben und vergessen, wenn sie nur wieder mit ihm zurückkehren wolle. Dies abgemacht, gehn wir in den Stall hinunter, wo sie steht, und mir eine Waffe vom Staub säubert. So wie er in die Thüre tritt, und die Arme, mit thränenvollen Augen, öffnet, sie zu empfangen: stürzt mir das Mädchen leichenbleich zu Füßen, alle Heiligen anrufend, daß ich sie vor ihm schütze. Gleich einer Salzsäule steht er bei diesem Ausruf da; und ehe ich mich noch gefaßt habe, spricht er schon, das entsetzensvolle Antlitz auf mich gerichtet: das ist der leibhaftige Satan! und schmeißt mir den Hut, den er in der Hand hält, in’s Gesicht, als wollt’ er ein Gräuelbild verschwinden machen, und läuft, als setzte die ganze Hölle ihm nach, nach Heilbronn zurück. Graf Otto. Du wunderlicher Alter! Was hast du für Einbildungen? Wenzel. Was war in dem Verfahren des Ritters, das Tadel verdient? [346|347] Kann er dafür, wenn sich das Herz deines thörichten Mädchens ihm zuwendet? Hans. Was ist in in seiner ganzen Aussage, das ihn anklagt? Theobald. Was ihn anklagt, fragt ihr? O du – Mensch, entsetzlicher, als Worte fassen und der Gedanke ermißt: stehst du nicht rein da, als hätten die Cherubim sich entkleidet, und ihren Glanz dir, funkelnd wie Mailicht, um die Seele gelegt! – Mußt’ ich vor dem

243 Ich arglos, wie ich von Natur bin, nöth’ge ihn auf einen Stuhl nieder; erzähle ihm, mit Offenherzigkeit, Alles, was vorgefallen; eröffne ihm auch, in meiner Theilnahme, die Mittel, wie er die Sache, seinen Wünschen gemäß, wieder in’s Geleis rücken könne; und tröste ihn und führ ihn, um ihm das Mädchen zu übergeben, in den Stall hinunter, wo sie steht, und mir eine Waffe von Rost säubert. So wie er in die Thür tritt, und die Arme mit thränenvollen Augen öffnet, sie zu empfangen, stürzt mir das Mädchen leichenbleich zu Füßen, alle Heiligen anrufend, daß ich sie vor ihm schütze. Gleich einer Salzsäule steht er, bei diesem Anblick, da; und ehe ich mich noch gefaßt habe, spricht er schon, das entsetzensvolle Antlitz auf mich gerichtet: das ist der leibhaftige Satan! und schmeißt mir den Hut, den er in der Hand hält, in’s Gesicht, als wollt’ er ein Gräuelbild verschwinden machen, und läuft, als setzte die ganze Hölle ihm nach, nach Heilbronn zurück.

Graf Otto. Du wunderlicher Alter! Was hast du für Einbildungen? Wenzel. Was war in dem Verfahren des Ritters, das Tadel verdient? Kann er dafür, wenn sich das Herz deines thörichten Mädchens ihm zuwendet? Hans. Was ist in diesem ganzen Vorfall, das ihn anklagt? Theobald. Was ihn anklagt? O du – Mensch, entsetzlicher, als Worte fassen, und der Gedanke ermißt: stehst du nicht rein da, als hätten die Cherubim sich entkleidet, und ihren Glanz dir, funkelnd wie Mailicht, um die Seele gelegt! – Mußt’ ich vor dem

244 Menschen nicht erbeben, der die Natur, in dem reinsten Herzen, das je geschaffen ward, dergestalt umgekehrt hat, daß sie vor dem Vater, zu ihr gekommen, um ihr von seiner Liebe Milch zu reichen, kreideweißen Antlitzes entweicht, wie vor dem Wolfe, der sie zerreißen will? Nun denn, so walte, Hekate, du Fürstin des Zaubers, moorduftige Königin der Nacht! Sproßt, ihr dämonischen Kräfte, die die menschliche Satzung sonst auszujäten bemüht war, blüht auf, unter dem Athem der Hexen, und schoßt zu Wäldern empor, daß die Wipfel sich zerschlagen, und die Pflanze des Himmels, die am Boden keimt, verwese; rinnt, ihr Säfte der Hölle, tröpfelnd aus Stämmen und Stielen gezogen, fallt, wie ein Katarakt, ins Land, daß der erstickende Pestqualm zu den Wolken empordampft, fleußt und ergießt euch durch alle Röhren des Lebens, und schwemmt, in allgemeiner Sündfluth, Unschuld und Tugend hinweg! Graf Otto. Meinst du, daß er ihr Gift eingeflößt? Wenzel. Hat er ihr Getränke gereicht, die des Menschen Herz mit geheimnißvoller Gewalt umstricken?

Theobald. Gift? – Ihr hohen Herren, was fragt ihr mich? Ich habe die Flaschen nicht gepfropft, von welchen er ihr, an der Wand des Felsens, zur Erfrischung reichte; ich stand nicht bei ihr, als sie in der Herberge, Nacht für Nacht, in seinen Ställen schlief. Wie soll ich wissen, ob er ihr Gift eingeflößt? Habt neun Monate Geduld, wenn ihr euch überzeugen wollt; alsdann sollt ihr sehen, wie’s ihrem jungen Leibe bekommen ist. [347|348] Graf vom Strahle. Der alte Esel, der! Dem entgegn’ ich nichts, als meinen Namen! Ruft sie herein; und wenn sie ein Wort sagt, das mich auch nur von fern anklagt, so nennt mich den Grafen von der stinkenden Pfütze, oder wie es sonst eurem gerechten Unwillen beliebt.

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Menschen nicht erbeben, der die Natur, in dem reinsten Herzen, das je geschaffen ward, dergestalt umgekehrt hat, daß sie vor dem Vater, zu ihr gekommen, seiner Liebe Brust ihren Lippen zu reichen, kreideweißen Antlitzes entweicht, wie vor dem Wolfe, der sie zerreißen will? Nun denn, so walte, Hekate, Fürstinn des Zaubers, moorduftige Königinn der Nacht! Sproßt, ihr dämonischen Kräfte, die die menschliche Satzung sonst auszujäten bemüht war, blüht auf, unter [512|513] dem Athem der Hexen, und schoßt zu Wäldern empor, daß die Wipfel sich zerschlagen, und die Pflanze des Himmels, die am Boden keimt, verwese; rinnt, ihr Säfte der Hölle, tröpfelnd aus Stämmen und Stielen gezogen, fallt, wie ein Katarakt, ins Land, daß der erstickende Pestqualm zu den Wolken empordampft; fließt und ergießt euch durch alle Röhren des Lebens, und schwemmt, in allgemeiner Sündfluth, Unschuld und Tugend hinweg! Graf Otto. Hat er ihr Gift eingeflößt? Wenzel. Meinst du, daß er ihr verzauberte Tränke gereicht? Hans. Opiate, die des Menschen Herz, der sie genießt, mit geheimnißvoller Gewalt umstricken? Theobald. Gift? Opiate? Ihr hohen Herren, was fragt ihr mich? Ich habe die Flaschen nicht gepfropft, von welchen er ihr, an der Wand des Felsens, zur Erfrischung reichte; ich stand nicht dabei, als sie in der Herberge, Nacht für Nacht, in seinen Ställen schlief. Wie soll ich wissen, ob er ihr Gift eingeflößt? habt neun Monate Geduld; alsdann sollt ihr sehen, wies ihrem jungen Leibe bekommen ist. Der Graf vom Strahl. Der alte Esel, der! Dem entgegn’ ich nichts, als meinen Namen! Ruft sie herein; und wenn sie ein Wort sagt, auch nur von fern duftend, wie diese Gedanken, so nennt mich den Grafen von der stinkenden Pfütze, oder wie es sonst eurem gerechten Unwillen beliebt.

245

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Graf Otto. Geh, Häscher, und rufe sie! Zwei Häscher (ab) Wenzel. Bei meinem Eid! Dieser Vorfall macht meinen Witz zu Schanden. Zweiter Auftritt.

Zweiter Auftritt.

Das Käthchen von Heilbronn (tritt auf, mit verbundenen Augen, geführt von) zwei Häschern. Die Vorigen.

Käthchen (mit verbundenen Augen, geführt von) zwei Häschern – Die Häscher (nehmen ihr das Tuch ab, und gehen wieder fort). – Die Vorigen.

Das Käthchen. Bin ich am Ziel, ihr geheimnißvollen Männer? Der erste Häscher (indem er ihr das Tuch aufbindet) Du stehst vor deinem Richter. Der Zweite. Sei wahr, als stündest du vor Gott; denn er sieht in dein innerstes Herz. Käthchen (sieht sich in der Versammlung um, und beugt, da sie den Grafen erblickt, ein Knie vor ihm) Mein hoher Herr! Graf vom Strahle. Was willst du? Käthchen. Vor meinen Richter hat man mich gerufen. Graf vom Strahle. Dein Richter bin nicht ich. Steh’ auf, dort sitzt er. Ein Sünder steh’ ich vor ihm, so wie du. Käthchen. Mein hoher Herr! Du spottest. [348|349] Graf vom Strahle. Du hörst es, nein Was neigst du mir dein Angesicht in Staub? Ein Zaubrer bin ich, und gestand es schon, Und laß’, aus jedem Band’, das ich dir wirkte, Jetzt deine junge Seele wieder los. (er erhebt sie). Graf Otto. Hier sitzen deine Richter.

Käthchen (sieht sich um)

Käthchen (sieht sich in der Versammlung um, und beugt, da sie den Grafen erblickt, ein Knie vor ihm). Mein hoher Herr! [513|514] Der Graf vom Strahl. Was willst du? Käthchen. Vor meinen Richter hat man mich gerufen. Der Graf vom Strahl. Dein Richter bin nicht ich. Steh auf, dort sitzt er; Hier steh ich, ein Verklagter, so wie du. Käthchen. Mein hoher Herr! Du spottest. Der Graf vom Strahl. Nein! Du hörst! Was neigst du mir dein Angesicht in Staub? Ein Zaubrer bin ich, und gestand es schon, Und laß, aus jedem Band, das ich dir wirkte, Jetzt deine junge Seele los. (er erhebt sie). Graf Otto. Hier Jungfrau, wenn’s beliebt; hier ist die Schranke! Hans. Hier sitzen deine Richter! Käthchen (sieht sich um).

246 Ihr versucht mich. Graf Otto. Hier tritt heran! Du sollst uns Rede stehn. Käthchen (stellt sich neben den Grafen vom Strahl, und sieht die Richter an). Ihr sollt mir diesen Busen nicht verwirren. Graf Otto. Nun? Wenzel. Wird’s auch werden? Hans. Wirst du dich bald uns nähern? Wirst du zur Schranke treten, wie sich’s schickt? Käthchen (für sich) Sie rufen mich.

Wenzel (befremdet) Was fehlt dem Wesen dort? Käthchen. Auf Purpur sitzen sie, vermummt in Schwarz. Wie das Gericht am jüngsten Tage, da! Graf vom Strahle (sie aufweckend) Du wunderliches Mädchen! Was auch hast du? Du stehst hier vor dem heimlichen Gericht! Auf jene böse Kunst bin ich verklagt, Mit der ich, wie du weißt, dein Herz gewann; Geh hin, und melde jetzo, was geschehn. Käthchen (mit kreuzweis auf die Brust gelegten Händen) Mein hochverehrter Herr! Du quälst mich grausam. [349|350] Belehre deine treue Dienerin, Wie soll ich mich in diesem Falle fassen? Wenzel. Ist es erhört? Graf Otto. Die Dirne! Hans. Ist sie taub? Graf vom Strahle (mit noch milder Strenge)

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Ihr versucht mich. Wenzel. Hier tritt heran! Hier sollst du Rede stehn. Käthchen (stellt sich neben den Grafen vom Strahl, und sieht die Richter an). Graf Otto. Nun? Wenzel. Wirds? Hans. Wirst du gefällig dich bemühn? Graf Otto. Wirst dem Gebot dich deiner Richter fügen? Käthchen (für sich). Sie rufen mich. Wenzel. Nun, ja! [514|515] Hans. Was sagte sie? Graf Otto (befremdet). Ihr Herrn, was fehlt dem sonderbaren Wesen? (sie sehen sich an) Käthchen (für sich). Vermummt von Kopf zu Füßen sitzen sie Wie das Gericht, am jüngsten Tage, da! Der Graf vom Strahl (sie aufweckend). Du wunderliche Maid! Was träumst, was treibst du? Du stehst hier vor dem heimlichen Gericht! Auf jene böse Kunst bin ich verklagt, Mit der ich mir, du weißt, dein Herz gewann, Geh hin, und melde jetzo, was geschehn! Käthchen (sieht ihn an und legt ihre Hände auf die Brust). – Du quälst mich grausam, daß ich weinen mögte! Belehre deine Magd, mein edler Herr, Wie soll ich mich in diesem Falle fassen? Graf Otto (ungeduldig). Belehren – was! Hans. Bei Gott! Ist es erhört? Der Graf vom Strahl (mit noch milder Strenge).

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247

Du sollst sogleich vor jene Schranke treten, Und Rede stehn, auf was man fragen wird! Käthchen. So ist es wahr: du bist verklagt? Graf vom Strahle. Du hörst. Käthchen. Und jene Männer dort sind deine Richter? Graf vom Strahle. So ist’s. Käthchen (zur Schranke tretend) Ihr würd’gen Herrn, wer ihr auch sein mögt dort, Steht gleich vom Richtstuhl auf und räumt ihn diesem! Denn, beim lebend’gen Gott, ich sag’ es euch, Rein, wie sein Harnisch, ist sein Herz, und eures Verglichen ihm, und meins, wie eure Mäntel: Wenn hier gesündigt ward, ist er der Richter, Und ihr sollt zitternd vor der Schranke stehn!

Du sollst sogleich vor jene Schranke treten, Und Rede stehn, auf was man fragen wird! Käthchen. Nein, sprich! Du bist verklagt? Der Graf vom Strahl. Du hörst. Käthchen. Und jene Männer dort sind deine Richter? Der Graf vom Strahl. So ist’s. Käthchen (zur Schranke tretend). Ihr würd’gen Herrn, wer ihr auch sein mögt dort, Steht gleich vom Richtstuhl auf und räumt ihn diesem! Denn, beim lebend’gen Gott, ich sag’ es euch, Rein, wie sein Harnisch ist sein Herz, und eures [515|516] Verglichen ihm, und meins, wie eure Mäntel. Wenn hier gesündigt ward, ist er der Richter, Und ihr sollt zitternd vor der Schranke stehn!

Graf Otto. Du, Närrin, jüngst der Nabelschnur entlaufen, Woher kommt die prophet’sche Kunde dir? Welch ein Apostel hat dir das vertraut? Theobald. Seht die Unseelige! Käthchen (da sie den Vater erblickt, auf ihn zugehend) Mein theurer Vater! (sie will seine Hand ergreifen) Theobald. Dort ist der Ort jetzt, wo du hingehörst! [350|351] Käthchen. Weis’ mich nicht von dir. (sie faßt seine Hand und küßt sie) Theobald. – Kennst du das Haar noch wieder, Das du in diesen Tagen grau gefärbt?

Graf Otto. Du, Närrinn, jüngst der Nabelschnur entlaufen, Woher kommt die prophet’sche Kunde dir? Welch ein Apostel hat dir das vertraut? Theobald. Seht die Unseelige! Käthchen (da sie den Vater erblickt, auf ihn zugehend). Mein theurer Vater! (sie will seine Hand ergreifen). Theobald (streng). Dort ist der Ort jetzt, wo du hingehörst!

Käthchen. Ich hab’ in jeder Stund’ einmal gedacht, Wie seine Locken fallen. Sei geduldig,

Käthchen. Weis’ mich nicht von dir. (sie faßt seine Hand und küßt sie). Theobald. – Kennst du das Haar noch wieder, Das deine Flucht mir jüngsthin grau gefärbt? Käthchen. Kein Tag verging, daß ich nicht einmal gedachte, Wie seine Locken fallen. Sei geduldig,

248 Und gieb dich nicht unmäß’gem Grame preis: Wenn Freude Locken wieder dunkeln kann, So sollst du wieder wie ein Jüngling blühn. Graf Otto. Die Häscher dort! Die Peitsche! Bringt sie her! Theobald. Geh hin, wo man dich ruft. Käthchen (zu den Richtern, da sich ihr die Häscher nähern) Was wollt ihr mir? Wenzel. Ward je ein Mädchen dreist, wie dies, gesehn? Graf Otto (da sie vor der Schranke steht) Du sollst hier Antwort geben, kurz und bündig, Auf unsre Fragen! – Denn wir, von unserem Gewissen eingesetzt, sind deine Richter, Und an der Strafe, wenn du freveltest, Wird’s deine übermüth’ge Seele fühlen. Käthchen. Sprecht ihr verehrten Herr’n. Was wollt ihr wissen? – Graf Otto. Warum, als Friedrich Graf vom Strahl erschien, In deines Vaters Haus’, bist du zu Füßen, Wie man vor Gott thut, nieder ihm gestürzt? Warum warfst du, als er von dannen ritt, Dich aus dem Fenster sinnlos auf die Straße, Und folgtest ihm, da kaum dein Bein vernarbt, Du Schaamvergessene, von Ort zu Ort, Wohin sein stolzes Roß sich wendete? [351| 352] Käthchen (hochroth und mit Beklemmung, zum Grafen vom Strahle) Das soll ich hier vor diesen Männern sagen? Graf vom Strahle. Die Metze, die verwünschte, sinnverwirrte, Was fragt sie mich? Ist’s nicht an jener Männer Gebot genug dort, daß sie reden soll? Käthchen (ganz in den Staub niederfallend)

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Und gieb dich nicht unmäß’gem Grame preis: Wenn Freude Locken wieder dunkeln kann, So sollst du wieder wie ein Jüngling blühn. Graf Otto. Ihr Häscher dort! ergreift sie! bringt sie her! Theobald. Geh’ hin, wo man dich ruft. Käthchen (zu den Richtern, da sich ihr die Häscher nähern). Was wollt ihr mir? Wenzel. Saht ihr ein Kind, so störrig je, als dies? Graf Otto (da sie vor der Schranke steht). Du sollst hier Antwort geben, kurz und bündig, Auf unsre Fragen! Denn wir, von unserem [516|517] Gewissen eingesetzt, sind deine Richter, Und an der Strafe, wenn du freveltest, Wird’s deine übermüth’ge Seele fühlen. Käthchen. Sprecht ihr verehrten Herrn; was wollt ihr wissen? Graf Otto. Warum, als Friedrich Graf vom Strahl erschien, In deines Vaters Haus, bist du zu Füßen, Wie man vor Gott thut, nieder ihm gestürzt? Warum warfst du, als er von dannen ritt, Dich aus dem Fenster sinnlos auf die Straße, Und folgtest ihm, da kaum dein Bein vernarbt, Von Ort zu Ort, durch Nacht und Graus und Nebel, Wohin sein Roß den Fußtritt wendete? Käthchen (hochroth zum Grafen). Das soll ich hier vor diesen Männern sagen? Der Graf vom Strahl. Die Närrin, die verwünschte, sinnverwirrte, Was fragt sie mich? Ists nicht an jener Männer Gebot, die Sache darzuthun, genug? Käthchen (in Staub niederfallend).

249

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Nimm mir, o Herr, das Leben, wenn ich fehlte. Was in des Busens stillem Reich geschehn, Und Gott nicht straft, das braucht kein Mensch zu wissen; Den nenn’ ich grausam, der mich darum fragt. Wenn du es wissen willst, wohlan, so rede, Denn dir liegt meine Seele offen da. Hans. Ward, seit die Welt steht, so etwas erlebt? Einer der vermummten Richter. Im Staub liegt sie vor ihm – Ein Anderer. Gestürzt auf Knieen – Ein Dritter. Wie wir vor dem Erlöser hingestreckt! Graf vom Strahle (sich zu den Richtern wendend) Ihr würd’gen Herrn, ihr rechnet hoff ’ ich, mir Nicht dieses Mädchens Thorheit an. – Daß sie Ein Wahn bethört, ist klar, wenn euer Sinn Auch gleich, wie meiner, noch begreift nicht: welcher? Erlaubt ihr mir, so frag’ ich sie darum: Ihr mögt, aus meiner Fragen Art entnehmen, Ob diese Brust hier schuldig ist, ob nicht? Graf Otto (ihn forschend ansehend) Es sei. Versucht’s einmal, Herr Graf vom Strahl, und fragt sie. Graf vom Strahle (zum Käthchen) Willt den geheimsten der Gedanken mir, Kathrine, der dir irgend, fass’ mich wohl, Im Winkel wo des Herzens schlummert, geben? [352|353] Käthchen. Das ganze Herz, o Herr, dir, willst du es: So bist du sicher dess’, was darinn wohnt. Graf vom Strahle. Wohlan. Jetzt sorge wohl, daß du’s mir hältst. – Was ist’s, mit einem Wort, mir rund gesagt, Das du mir so abgöttisch zugethan? Was schmiedet dich an meine Schritte an? Käthchen.

Nimm mir, o Herr, das Leben, wenn ich fehlte! Was in des Busens stillem Reich geschehn, Und Gott nicht straft, das braucht kein Mensch zu wissen; Den nenn’ ich grausam, der mich darum fragt! Wenn du es wissen willst, wohlan, so rede, Denn dir liegt meine Seele offen da! Hans. Ward, seit die Welt steht, so etwas erlebt? Wenzel. Im Staub liegt sie vor ihm – Hans. Gestürzt auf Knieen – Wenzel. Wie wir vor dem Erlöser hingestreckt! Der Graf vom Strahl (zu den Richtern). Ihr würd’gen Herrn, ihr rechnet hoff ich, mir Nicht dieses Mädchens Thorheit an! Daß sie Ein Wahn bethört, ist klar, wenn euer Sinn [517|518] Auch gleich, wie meiner, noch nicht einsieht, welcher? Erlaubt ihr mir, so frag ich sie darum: Ihr mögt, aus meinen Wendungen entnehmen, Ob meine Seele schuldig ist, ob nicht? Graf Otto (ihn forschend ansehend). Es sei! Versuchts einmal, Herr Graf, und fragt sie. Der Graf vom Strahl (wendet sich zu Käthchen, die noch immer auf Knieen liegt). Willt den geheimsten der Gedanken mir, Kathrina, der dir irgend, fass mich wohl, Im Winkel wo des Herzens schlummert, geben? Käthchen. Das ganze Herz, o Herr, dir, willt du es, So bist du sicher deß, was darin wohnt. Der Graf vom Strahl. Was ists, mit einem Wort, mir rund gesagt, Das dich aus deines Vaters Hause trieb? Was fesselt dich an meine Schritte an? Käthchen.

250 Mein hoher Herr! Da fragst du mich zuviel. Und läg’ ich so, wie ich vor dir jetzt liege, Vor meinem eigenen Bewußtsein da: Auf einem goldnen Richtstuhl laß es thronen, Und alle Schrecken des Gewissens ihm, In Flammenrüstungen, zur Seite stehn: So spräche jeglicher Gedanke noch Auf das, was du gefragt: ich weiß es nicht. Graf vom Strahle. Du lügst mir, Katharina? Willst mich täuschen? Mir, der doch das Gefühl dir just umstrickt? Vor dessen höhrem Blick du offen liegst? – Was hab’ ich dir einmal, du weißt, gethan? – Was ist an Leib’ und Seel’ dir widerfahren? Käthchen. Wo? Graf vom Strahle. Da oder dort. Käthchen. Wann? Graf vom Strahle. Jüngst oder früherhin. Käthchen. Hilf mir, mein hoher Herr. Graf vom Strahle. Ja, ich dir helfen, Du wunderliches Ding. – (er hält inne). Besinnst du dich auf nichts? Käthchen (sieht vor sich nieder) [353|354] Graf vom Strahle. Was für ein Ort, wo du mich je gesehen, Ist dir im Geist, vor Andern, gegenwärtig. Käthchen. Der Rhein ist mir vor Allen gegenwärtig. Graf vom Strahle. Ganz recht. Da eben war’s. Das wollt’ ich wissen. Der Felsen am Gestad’ des Rheins, wo wir Zusammen ruhten, in der Mittagshitze. – Und du gedenkst nicht, was dir da geschehn? Käthchen. Was, mein verehrter Herr? Graf vom Strahle. Nicht? Nicht? Käthchen.

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Mein hoher Herr! Da fragst du mich zuviel. Und läg’ ich so, wie ich vor dir jetzt liege, Vor meinem eigenen Bewustsein da: Auf einem goldnen Richtstuhl laß es thronen, Und alle Schrecken des Gewissens ihm, In Flammenrüstungen, zur Seite stehn; So spräche jeglicher Gedanke noch, Auf das, was du gefragt: ich weiß es nicht. Der Graf vom Strahl. Du lügst mir, Jungfrau? Willst mein Wissen täuschen? Mir, der doch das Gefühl dir ganz umstrickt; Mir, dessen Blick du da liegst, wie die Rose, Die ihren jungen Kelch dem Licht erschloß? – Was hab ich dir einmal, du weißt, gethan? Was ist an Leib und Seel’ dir widerfahren? Käthchen. Wo? Der Graf vom Strahl. Da oder dort. [518|519] Käthchen. Wann? Der Graf vom Strahl. Jüngst oder früherhin. Käthchen. Hilf mir, mein hoher Herr. Der Graf vom Strahl. Ja, ich dir helfen, Du wunderliches Ding. – (er hält inne). Besinnst du dich auf nichts? Käthchen (sieht vor sich nieder). Der Graf vom Strahl. Was für ein Ort, wo du mich je gesehen, Ist dir im Geist, vor Andern, gegenwärtig. Käthchen. Der Rhein ist mir vor allen gegenwärtig. Der Graf vom Strahl. Ganz recht. Da eben wars. Das wollt ich wissen. Der Felsen am Gestad’ des Rheins, wo wir Zusammen ruhten, in der Mittagshitze. – Und du gedenkst nicht, was dir da geschehn? Käthchen. Nein, mein verehrter Herr. Der Graf vom Strahl. Nicht? Nicht?

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Was meinst du? Ich will dir Alles sagen, was ich weiß. Graf vom Strahle. – Was reicht’ ich deiner Lippe zur Erfrischung? Käthchen. Du sandtest Gottschalk, deinen treuen Knecht, Und hießest, weil ich deines Weins verschmähte, Ihn einen Trunk mir aus der Grotte schöpfen. Graf vom Strahle. Hab’ ich dich nie mit Wein geletzt, Kathrine? Käthchen. Niemals, mein hoher Herr. Graf vom Strahle. Ja, oder Milch. Käthchen. Du hast mich nie, mit was es sei, geletzt. Graf vom Strahle. Ich aber nahm dich bei der Hand, und reichte Sonst deiner Lippe – nicht? Was stockst du da? [354|355] Käthchen. Wann? Graf vom Strahle. Eben damals. Käthchen. Nein, mein hoher Herr. Graf vom Strahle. Jedoch nachher. Käthchen. In Straßburg? Graf vom Strahle. Oder früher. Käthchen. Du hast mich niemals bei der Hand genommen. Graf vom Strahle. Kathrine! Käthchen. (erröthend). Ach, was sag’ ich. In Heilbronn. Graf vom Strahle. Wann? Käthchen. Als der Vater dir am Harnisch wirkte. Graf vom Strahle. Und sonst nicht? Käthchen.

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– Was reicht’ ich deiner Lippe zur Erfrischung? Käthchen. Du sandtest, weil ich deines Weins verschmähte, Den Gottschalk, deinen treuen Knecht, und ließest Ihn einen Trunk mir, aus der Grotte schöpfen.

Der Graf vom Strahl. Ich aber nahm dich bei der Hand, und reichte Sonst deiner Lippe – nicht? Was stockst du da? Käthchen. Wann? Der Graf vom Strahl. Eben damals. [519|520] Käthchen. Nein, mein hoher Herr. Der Graf vom Strahl. Jedoch nachher. Käthchen. In Straßburg? Der Graf vom Strahl. Oder früher. Käthchen. Du hast mich niemals bei der Hand genommen. Der Graf vom Strahl. Kathrina! Käthchen. (erröthend). Ach vergieb mir; in Heilbronn! Der Graf vom Strahl. Wann? Käthchen. Als der Vater dir am Harnisch wirkte. Der Graf vom Strahl. Und sonst nicht? Käthchen.

252 Nein, mein hoher Herr. Graf vom Strahle. Kathrine! Käthchen. Mich bei der Hand? Graf vom Strahle. Ja, oder sonst, was weiß ich. Käthchen (besinnt sich) In Straßburg hast du mir das Kinn erhöht. Graf vom Strahle. Wann? Käthchen. Als ich auf der Treppe saß, und weinte, Und dir, auf was du sprachst, nicht Rede stand. [355|356] Graf vom Strahle. Warum nicht stand’st du Red’? Käthchen. – Ich schämte mich. Graf vom Strahle. Du schämtest dich. Ganz recht. Auf meinen Antrag. Du wardst glutroth bis an den Hals hinab. Welch’ einen Antrag macht’ ich dir? Käthchen. Du sagtest, Der Vater würde sich in Schwaben härmen, Und fragtest mich, ob ich nicht heim begehrte?

Graf vom Strahle. Davon ist nicht die Rede! – Wo hab’ ich sonst, Wann irgend noch im Leben dich getroffen? – Ich hab’ zuweilen dich im Stall besucht. Käthchen. Nein, mein verehrter Herr. Graf vom Strahle. Nicht? Katharina! Käthchen. Du hast mich niemals in dem Stall besucht, Und noch viel wen’ger rührtest du mich an. Graf vom Strahle. Was! Niemals? Käthchen. Nein, mein hoher Herr. Graf vom Strahle.

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Nein, mein hoher Herr. Der Graf vom Strahl. Kathrina! Käthchen. Mich bei der Hand? Der Graf vom Strahl. Ja, oder sonst, was weiß ich. Käthchen (besinnt sich). In Straßburg einst, erinnr’ ich mich, beim Kinn. Der Graf vom Strahl. Wann? Käthchen. Als ich auf der Schwelle saß und weinte, Und dir auf was du sprachst, nicht Rede stand. Der Graf vom Strahl. Warum nicht standst du Red’? Käthchen. Ich schämte mich. [520|521] Der Graf vom Strahl. Du schämtest dich? Ganz recht. Auf meinen Antrag. Du wardst gluthroth bis an den Hals hinab. Welch einen Antrag macht’ ich dir? Käthchen. Der Vater, Der würd’, sprachst du, daheim im Schwabenland’, Um mich sich härmen, und befragtest mich, Ob ich mit Pferden, die du senden wolltest, Nicht nach Heilbronn zu ihm zurück begehrte? Der Graf vom Strahl (kalt). Davon ist nicht die Rede! – Nun, wo auch, Wo hab’ ich sonst im Leben dich getroffen? – Ich hab’ im Stall zuweilen dich besucht. Käthchen. Nein, mein verehrter Herr. Der Graf vom Strahl. Nicht? Katharina! Käthchen. Du hast mich niemals in dem Stall besucht, Und noch viel wen’ger rührtest du mich an. Der Graf vom Strahl. Was! Niemals? Käthchen. Nein, mein hoher Herr. Der Graf vom Strahl.

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Kathrine! Käthchen (mit Affect) Niemals, mein hochverehrter Herr, niemals. Graf vom Strahle. Da seht die offenbare Lügnerinn! Käthchen. Ich will nicht selig sein, ich will verderben, Wenn du mich je – Graf vom Strahle (sie unterbrechend.) Da schwört sie und verflucht Sich, die leichtfert’ge Dirne, noch, und denkt, [356|357] Gott werd’ es ihrem jungen Blut vergeben. – Was ist geschehn, fünf Tag’ von hier, am Abend, In meinem Stall, als es schon dunkelte, Und ich den Gottschalk hieß, sich zu entfernen? Käthchen. O! Himmel! Ich bedacht’ es nicht. Vergieb! Im Stall zu Strahl, da hast du mich besucht. Graf vom Strahle. Nun also! Da besinnt sie sich. Und glüht, Auch schon vor Schaam, daß es mich brennt, bis hier. Da giebst du zu, daß ich dich angerührt?

253 Kathrina! Käthchen (mit Affect). Niemals, mein hochverehrter Herr, niemals. Der Graf vom Strahl. Nun seht, bei meiner Treu, die Lügnerinn! Käthchen. Ich will nicht seelig seyn, ich will verderben, Wenn du mich je –! Der Graf vom Strahl (mit dem Schein der Heftigkeit). Da schwört sie und verflucht Sich, die leichtfert’ge Dirne, noch und meint, Gott werd’ es ihrem jungen Blut vergeben! – Was ist geschehn, fünf Tag’ von hier, am Abend, [521|522] In meinem Stall, als es schon dunkelte, Und ich den Gottschalk hieß, sich zu entfernen? Käthchen. O! Jesus! Ich bedacht’ es nicht! – Im Stall zu Strahl, da hast du mich besucht. Der Graf vom Strahl. Nun denn! Da ist’s heraus! Da hat sie nun Der Seelen Seeligkeit sich weggeschworen! Im Stall zu Strahl, da hab’ ich sie besucht! Käthchen (weint). (Pause). Graf Otto. Ihr quält das Kind zu sehr. Theobald (nähert sich ihr gerührt). Komm, meine Tochter. (Er will sie an seine Brust heben). Käthchen. Laß, laß! Wenzel. Das nenn’ ich menschlich nicht verfahren. Graf Otto. Zuletzt ist nichts im Stall zu Strahl geschehen. Der Graf vom Strahl (sieht sie an). Bei Gott, ihr Herrn, wenn ihr des Glaubens seid: Ich bin’s! Befehlt, so gehn wir aus einander. Graf Otto. Ihr sollt das Kind befragen, ist die Meinung, Nicht mit barbarischem Triumph verhöhnen. Sei’s, daß Natur euch solche Macht verliehen:

254

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Geübt wie ihr’s thut, ist sie hassenswürd’ger, Als selbst die Höllenkunst, der man euch zeiht. Der Graf vom Strahl (erhebt das Käthchen vom Boden). Ihr Herrn, was ich gethan, das that ich nur, Sie mit Triumph hier vor euch zu erheben! Statt meiner – (auf den Boden hinzeigend). steht mein Handschuh vor Gericht! [522| 523] Glaubt ihr von Schuld sie rein, wie sie es ist, Wohl, so erlaubt denn, daß sie sich entferne. Wenzel. Es scheint ihr habt viel Gründe, das zu wünschen? Der Graf vom Strahl. Ich? Gründ’? Entscheidende! Ihr wollt sie, hoff ’ ich, Nicht mit barbarschem Übermuth verhöhnen? Wenzel (mit Bedeutung). Wir wünschen doch, erlaubt ihrs, noch zu hören, Was in dem Stall damals zu Strahl geschehn. Der Graf vom Strahl. Das wollt ihr Herrn noch –? Wenzel. Allerdings! Der Graf vom Strahl (glutroth, indem er sich zum Käthchen wendet). Knie’ nieder! Käthchen (läßt sich auf Knieen vor ihm nieder). Graf Otto. Ihr seid sehr dreist, Herr Friedrich Graf vom Strahl! Der Graf vom Strahl (zum Käthchen). So! Recht! Mir giebst du Antwort und sonst keinem. Hans. Erlaubt! Wir werden sie – Der Graf vom Strahl (eben so). Du rührst dich nicht! Hier soll dich keiner richten, als nur der, Dem deine Seele frei sich unterwirft. Wenzel. Herr Graf, man wird hier Mittel –

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Käthchen. Da geb’ ich zu, daß du mich angerührt. Graf vom Strahle. Nun? Käthchen. Mein verehrter Herr? Graf vom Strahle. Was will ich wissen? Käthchen. Was du willst wissen?

255 Der Graf vom Strahl (mit unterdrückter Heftigkeit). Ich sage, nein! Der Teufel soll mich holen, zwingt ihr sie! – Was wollt ihr wissen, ihr verehrten Herrn? Hans (auffahrend). Beim Himmel! Wenzel. Solch ein Trotz soll –! [523|524] Hans. He! Die Häscher! Graf Otto (halblaut). Laßt, Freunde, laßt! Vergeßt nicht, wer er ist. Erster Richter. Er hat nicht eben, drückt Verschuldung ihn, Mit List sie überhört. Zweiter Richter. Das sag’ ich auch! Man kann ihm das Geschäft wohl überlassen. Graf Otto (zum Grafen vom Strahl). Befragt sie, was geschehn, fünf Tag’ von hier, Im Stall zu Strahl, als es schon dunkelte, Und ihr den Gottschalk hießt, sich zu entfernen! Der Graf vom Strahl (zum Käthchen). Was ist geschehn, fünf Tage von hier, am Abend, Im Stall zu Strahl, als es schon dunkelte, Und ich den Gottschalk hieß, sich zu entfernen? Käthchen. Mein hoher Herr! Vergieb mir, wenn ich fehlte; Jetzt leg’ ich Alles, Punkt für Punkt, dir dar. Der Graf vom Strahl. Gut. – – Da berührt’ ich dich und zwar – nicht? Freilich! Das schon gestand’st du? Käthchen. Ja, mein verehrter Herr. Der Graf vom Strahl. Nun? Käthchen. Mein verehrter Herr? Der Graf vom Strahl. Was will ich wissen? Käthchen. Was du willst wissen?

256 Graf vom Strahle. Heraus damit! Was stockst du? Ich nahm und herzte dich und küßte dich, Und schlug den Arm dir – Käthchen. Nein; mein hoher Herr. Graf vom Strahle. Was sonst? Käthchen. Du stießest mich mit Füßen von dir. Graf vom Strahle. Mit Füßen? Was! Weshalb. Warum, Kathrinchen? Käthchen. Weil ich dem Vater, der gekommen war, Auf einem Wagen liebend von Heilbronn, Um mich zu holen, nicht entgegen eilte Und dir, statt ihm zu Füßen hinzusinken, Das Knie in meiner Angst umklammerte. [357|358] Graf vom Strahle. Da hätt’ ich dich mit Füßen fortgestoßen? Käthchen. Ja, mein verehrter Herr. Graf vom Strahle. Ei, Possen! Was! Du bliebst doch nach wie vor im Schloß zu Strahl. Käthchen. Nein, mein verehrter Herr. Graf vom Strahle. Nicht? Wo auch sonst? Käthchen. Ich gieng, als du die Peitsche riefst, hinaus Vor das bemoos’te Thor, und lagerte Mich draußen, am zerfallnen Mauernring, Wo in süßduftenden Hollunderbüschen Ein Zeisig zwitschernd sich das Nest gebaut. Graf vom Strahle. Hier aber jagt’ ich dich mit Hunden weg. Käthchen. Nein, mein verehrter Herr. Graf vom Strahle. Und als du wichst, Rief ich den Nachbar auf, dich zu verjagen.

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Der Graf vom Strahl. Heraus damit! Was stockst du? Ich nahm, und herzte dich, und küßte dich, Und schlug den Arm dir –? [524|525] Käthchen. Nein, mein hoher Herr. Der Graf vom Strahl. Was sonst? Käthchen. Du stießest mich mit Füßen von dir. Der Graf vom Strahl. Mit Füßen? Nein! Das thu’ ich keinem Hund. Warum? Weshalb? Was hatt’st du mir gethan? Käthchen. Weil ich dem Vater, der voll Huld und Güte, Gekommen war, mit Pferden, mich zu holen, Den Rücken, voller Schrecken, wendete, Und mit der Bitte, mich vor ihm zu schützen Im Staub vor dir bewustlos nieder sank. Der Graf vom Strahl. Da hätt’ ich dich mit Füßen weggestoßen? Käthchen. Ja, mein verehrter Herr. Der Graf vom Strahl. Ei, Possen, was! Das war nur Schelmerei, des Vaters wegen, Du bliebst doch nach wie vor im Schloß zu Strahl. Käthchen. Nein, mein verehrter Herr. Der Graf vom Strahl. Nicht? Wo auch sonst? Käthchen. Als du die Peitsche, flammenden Gesichts, Herab vom Riegel nahmst, ging ich hinaus, Vor das bemoos’te Thor, und lagerte Mich draußen, am zerfallnen Mauernring Wo in süßduftenden Hollunderbüschen Ein Zeisig zwitschernd sich das Nest gebaut. Der Graf vom Strahl. Hier aber jagt’ ich dich mit Hunden weg? Käthchen. Nein, mein verehrter Herr. [525|526] Der Graf vom Strahl. Und als du wichst,

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Käthchen. Nein, mein verehrter Herr. Was sprichst du da? Graf vom Strahle. Nicht? Nicht? – Das werden diese Herren tadeln. Käthchen. Du kümmerst dich um diese Herren nicht. Du schicktest Gottschalk mir, am dritten Tage, Und ließt mir sagen, ich soll vernünftig sein. Graf vom Strahle. Und was entgegnetest du dem? Käthchen. Ich sagte: Den Zeisig littest du, den zwitschernden, In den süßduftenden Hollunderbüschen: Mögt’st denn das Käthchen von Heilbronn auch leiden. [358|359] Graf vom Strahle (erhebt das Käthchen.) Nun dann, so nehmt sie hin, ihr Herr’n der Vehme, Und macht mit ihr und mir jetzt, was ihr wollt. (Pause). Graf Otto. Wenn euer Urtheil reif, wie mein’s, ihr Herr’n, Geh’ ich zum Schluß, und lass’ die Stimmen sammeln. Wenzel. Zum Schluß! Einer der vermummten Richter. Die Stimmen! Alle. Sammelt sie! Hans. Der Narr, der! Der Fall ist klar. Es ist hier nichts zu richten. Graf Otto. Vehm-Herold! Nimm den Helm und sammle sie.

257 Verfolgt vom Hundgeklaff, von meiner Grenze, Rief ich den Nachbar auf, dich zu verfolgen? Käthchen. Nein, mein verehrter Herr! Was sprichst du da? Der Graf vom Strahl. Nicht? Nicht? – Das werden diese Herren tadeln. Käthchen. Du kümmerst dich um diese Herren nicht. Du sandtest Gottschalk mir am dritten Tage, Daß er mir sag’: dein liebes Käthchen wär’ ich; Vernünftig aber mögt’ ich sein, und gehn. Graf vom Strahl. Und was entgegnetest du dem? Käthchen. Ich sagte, Den Zeisig littest du, den zwitschernden, In den süßduftenden Hollunderbüschen: Mögt’st denn das Käthchen von Heilbronn auch leiden. Der Graf vom Strahl (erhebt das Käthchen). Nun dann, so nehmt sie hin, ihr Herrn der Vehme, Und macht mit ihr und mir jetzt, was ihr wollt. (Pause). Graf Otto (unwillig). Der aberwitz’ge Träumer, unbekannt Mit dem gemeinen Zauber der Natur! – Wenn euer Urtheil reif, wie meins, ihr Herrn, Geh’ ich zum Schluß, und laß die Stimmen sammeln. Wenzel. Zum Schluß! Hans. Die Stimmen! Alle. Sammelt sie! Ein Richter. Der Narr, der! Der Fall ist klar. Es ist hier nichts zu richten. [526|527] Graf Otto. Vehm-Herold nimm den Helm und sammle sie.

258 Vehm-Herold (sammelt die Kugeln, und bringt den Helm, worin sie liegen, dem Grafen). Graf Otto (steht auf.) Herr Friedrich Wetter Graf vom Strahl, du bist Einstimmig von der Vehme losgesprochen, Und dir dort, Theobald, dir geb’ ich auf, Nicht fürder mit der Klage zu erscheinen, Bis du kannst bessere Beweise bringen. – (zu den Richtern.) Steht auf, ihr Herr’n! Die Sitzung ist geschlossen. Die Richter (erheben sich). Theobald. Ihr hochverehrten Herr’n, ihr sprecht ihn schuldlos? Gott, sagt ihr, hat die Welt aus nichts gemacht; Und er, der sie durch nichts und wieder nichts Vernichtet, in das erste Chaos stürzt, Der sollte nicht der leid’ge Satan sein? Graf Otto. Schweig, alter, grauer Thor! Wir sind nicht da, Dir die verrückten Sinnen einzurenken. [359|360] Vehm-Häscher, an dein Amt! blend’ ihm die Augen, Und führ’ ihn wieder auf das Feld hinaus. Theobald. Und dieses? Mein Einziges? Mein Abgott? Das soll zu dem Gemäuer jetzt zurück? Das soll? – Graf Otto. Herr Graf vom Strahl, das überläßt Die Vehme eurem Edelmuth. Ihr zeigtet Von der Gewalt, die ihr hier übt, so manche Besondre Probe uns; laßt uns noch eine, Die größeste, bevor wir scheiden, sehn, Und gebt sie ihrem alten Vater wieder. Graf vom Strahle. Ihr Herr’n, was ich thun kann, das soll geschehn. – Kathrine! Käthchen. Mein hoher Herr! Graf vom Strahle. Ich will dir etwas sagen. Du liebst mich. Käthchen.

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Vehm-Herold (sammelt die Kugeln und bringt den Helm, worin sie liegen, dem Grafen). Graf Otto (steht auf) Herr Friedrich Wetter Graf vom Strahl, du bist Einstimmig von der Vehme losgesprochen, Und dir dort, Theobald, dir geb’ ich auf, Nicht fürder mit der Klage zu erscheinen, Bis du kannst bessere Beweise bringen. (zu den Richtern) Steht auf, ihr Herrn! die Sitzung ist geschlossen. Die Richter (erheben sich). Theobald. Ihr hochverehrten Herrn, ihr sprecht ihn schuldlos? Gott sagt ihr, hat die Welt aus nichts gemacht; Und er, der sie durch nichts und wieder nichts Vernichtet, in das erste Chaos stürzt, Der sollte nicht der leid’ge Satan sein? Graf Otto. Schweig, alter, grauer Thor! Wir sind nicht da, Dir die verrückten Sinnen einzurenken. Vehm-Häscher, an dein Amt! Blend’ ihm die Augen, Und führ’ ihn wieder auf das Feld hinaus. Theobald. Was! Auf das Feld? Mich hilflos greisen Alten? Und dies mein einzig liebes Kind, –? Graf Otto. Herr Graf, Das überläßt die Vehme euch! Ihr zeigtet Von der Gewalt, die ihr hier übt, so manche Besondre Probe uns; laßt uns noch eine, Die größeste, bevor wir scheiden, sehn, Und gebt sie ihrem alten Vater wieder. Der Graf vom Strahl. Ihr Herrn, was ich thun kann, soll geschehn. – Jungfrau! Käthchen. Mein hoher Herr! [527|528] Der Graf vom Strahl. Du liebst mich? Käthchen.

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Von ganzem Herzen. Graf vom Strahle. Und was ich will, das thust du. Käthchen. Verlaß dich drauf. Graf vom Strahle. Gewiß? Käthchen. Verlaß dich drauf. Graf vom Strahle. Giebst du mir wohl das Leben? Käthchen. Mein hoher Herr. Graf vom Strahle. Nun! Sei mir offen. Sag’ mir’s. Käthchen. Stirbst du auch? [360|361] Graf vom Strahle. Nein, davon red’ ich nicht. Käthchen. Mein hoher Herr! Graf vom Strahle. Mithin, scheid’ ich nicht auch, so giebst du’s nicht? – Rasch mit der Antwort nur! Käthchen (zittend) Was willst du haben? Graf vom Strahle. Ich will, daß du zurück nach Heilbronn gehst. – Du bleichst? Du stockst? Du wankst? Du willst es nicht? Du willst es nicht? Käthchen. Ich hab’ es dir versprochen. (sie fällt in Ohnmacht). Theobald (empfängt sie) Mein Kind! Mein liebes Kind! Hilf, Gott im Himmel! Graf vom Strahle (wendet sich) Dein Tuch her, Häscher! (er verbindet sich die Augen). Theobald. Du Vatermördergeist! Mußt’ ich auch diese Probe deiner Kunst noch sehn? Graf Otto (vom Richtstuhl herabsteigend) Was ist geschehn, ihr Herr’n? Wenzel (betrachtet das Mädchen) Sie fiel in Ohnmacht. Graf vom Strahle (zu den Häschern)

Herzlich! Der Graf vom Strahl. So thu mir was zu Lieb’.

Käthchen. Was willst du? Sprich. Der Graf vom Strahl. Verfolg’ mich nicht. Geh nach Heilbronn zurück. – Willst du das thun? Käthchen. Ich hab es dir versprochen. (sie fällt in Ohnmacht). Theobald (empfängt sie). Mein Kind! Mein Einziges! Hilf, Gott im Himmel! Der Graf vom Strahl (wendet sich). Dein Tuch her, Häscher! (er verbindet sich die Augen). Theobald. O verflucht sei, Mordschaunder Basiliskengeist! Mußt’ ich Auch diese Probe deiner Kunst noch sehn? Graf Otto (vom Richtstuhl herabsteigend). Was ist geschehn, ihr Herrn? Wenzel. Sie sank zu Boden (Sie betrachten sie). Der Graf vom Strahl (zu den Häschern).

260 Führt mich hinweg! Theobald. Der Hölle zu, du Satan! Hans. Schafft Wasser her! Theobald. Kathrine! Graf Otto. Häscher, fort! [361|362] Theobald Friedeborn. Kennst du den Vater nicht mehr, Käthchen? Käthchen. Ach! Wenzel von Nachtheim. Sie schlägt die Augen auf. Hans von Unkenfeld. Sie wird sich fassen. Graf Otto. Bringt sie in das Gemach des Pförtners hin!

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Führt mich hinweg! Theobald. Der Hölle zu, du Satan! Laß ihre schlangenhaar’gen Pförtner dich An ihrem Eingang, Zauberer, ergreifen, Und dich zehntausend Klafter tiefer noch, Als ihre wildsten Flammen lodern, schleudern! Graf Otto. Schweig Alter, schweig! [528|529] Theobald. (weint). Mein Kind! Mein Käthchen!

(der Vorhang fällt).

Käthchen. Ach! Wenzel. (freudig). Sie schlägt die Augen auf! Hans. Sie wird sich fassen. Graf Otto. Bringt in des Pförtners Wohnung sie! Hinweg! (Alle ab).

Zweiter Akt.

Zweiter A{k}t.

Scene: Wald vor der Höhle des heimlichen Gerichts.

Scene. Wald vor der Höhle des heimlichen Gerichts.

Erster Auftritt.

Erster Auftritt.

Der Graf vom Strahle (tritt auf, mit verbundenen Augen, geführt von zwei Häschern, die ihm die Augen aufbinden, und alsdann in die Höhle zurückkehren. Er sieht sich um, nimmt sich den Helm ab, wirft sich auf ’s Gras nieder und weint). Nun will ich hier, wie ein Schäfer, liegen und klagen. Die Sonne scheint noch röthlich durch die Stämme, auf welchen die Wipfel des Waldes ruhen; und wenn ich, nach einer kurzen Viertelstunde, sobald sie hinter den Hügel gesunken ist, aufsitze, und mich im Blachfelde, wo der Weg eben ist, ein wenig daran halte: so komme ich noch nach Schloß Wetterstrahl, ehe die Lichter darin erloschen sind. Ich will mir einbilden, meine Pferde dort unten, wo die Quelle rieselt, wären Schaafe und Ziegen, die an dem Felsen kletterten, und an Gräsern und bittern Gesträuchen rissen;

Der Graf vom Strahl (tritt auf mit verbundenen Augen, geführt von zwei Häschern, die ihm die Augen aufbinden, und alsdann in die Höhle zurückkehren – Er wirft sich auf den Boden nieder und weint). Nun will ich hier, wie ein Schäfer liegen und klagen. Die Sonne scheint noch röthlich durch die Stämme, auf welchen die Wipfel des Waldes ruhn; und wenn ich, nach einer kurzen Viertelstunde, so bald sie hinter den Hügel gesunken ist, aufsitze, und mich im Blachfelde, wo der Weg eben ist, ein wenig daran halte, so komme ich noch nach Schloß Wetterstrahl, ehe die Lichter darin erloschen sind. Ich will mir einbilden, meine Pferde dort unten, wo die Quelle rieselt, wären Schaafe und Ziegen, die an dem Felsen kletterten, und an Gräsern und bittern Gesträuchen rissen; ein leichtes

Anhang

ein leichtes weißes, linnenes Zeug bedeckte mich, mit rothen Bändern zusammen gebunden; und um mich her flatterte eine Schaar muntrer Winde, um die Seufzer, die meiner, von Kummer sehr gepreßten, Brust entschlüpfen werden, gradaus zu der Götter Ohr empor zu tragen. Wirklich und wahrhaftig! Ich will meine Muttersprache [362|363] durchblättern, und das ganze, reiche Capitel, das diese Überschrift führt: Empfindung, dergestalt plündern, daß keine Thräne mehr, die unter dem Monde rinnt, auf eine neue Art, soll sagen können: ich bin betrübt. Wenn mir Gottschalk gegenüber säße, und irgend etwas, was es auch sei, vor uns auf der Erde läge, damit ich mir einbilden könnte, es sei en Wettstreit. Alles, was die Wehmuth rührendes hat, will ich aufbieten, Lust und in den Tod gehende Betrübniß sollen sich abwechseln und meine Stimme, wie einen schönen Tänzer, durch alle Beugungen hindurch führen, die die Seele bezaubern; und wenn die Bäume nicht in der That bewegt werden, und ihren milden Thau, als ob es geregnet hätte, herabträufeln lassen, so sind sie von Holz, und Alles, was uns die Dichter von ihnen sagen, eine bloße angenehme Täuschung. O du – – – wie nenn’ ich dich? Käthchen! Warum kann ich dich nicht mein nennen? Käthchen! Mädchen! Käthchen! Warum kann ich dich nicht mein nennen? Warum kann ich dich nicht aufheben, und in das duftende Himmelbett tragen, das mir die Mutter, daheim im Prunkgemach aufgerichtet hat? Käthchen! Käthchen! Käthchen! Du, deren junge Seele, als sie heut nackt vor mir stand, von wollüstiger Schönheit gänzlich triefte, wie die, mit Ölen gesalbte, Braut eines Perserkönigs, wenn sie, auf alle Teppiche niederregnend, in sein Gemach geführt wird. Käthchen! Mädchen! Käthchen! Warum kann ich es nicht? Du Schönere, als ich singen kann, ich will eine eigene Kunst erfinden und dich weinen. Alle Phiolen der Empfindung, himmlische und irdische, will ich eröffnen, und eine solche Mischung von Thränen, einen Erguß so eigenthümlicher Art, so heilig zugleich und üppig, zusammenschütten, daß jeder Mensch gleich, an dessen Hals’ ich sie weine, sagen

261 weißes linnenes Zeug bedeckte mich, mit rothen Bändern zusammengebunden, und um mich her flatterte eine Schaar muntrer Winde, um die Seufzer, die meiner von Gram sehr gepreßten, Brust entquillen, gradaus zu der guten Götter Ohr empor zu tragen. Wirklich und wahrhaftig! Ich will meine Muttersprache [529|530] durchblättern, und das ganze, reiche Kapitel, das diese Überschrift führt: Empfindung, dergestalt plündern, daß kein Reimschmidt mehr, auf eine neue Art, soll sagen können: ich bin betrübt.

Alles, was die Wehmuth Rührendes hat, will ich aufbieten, Lust und in den Tod gehende Betrübniß sollen sich abwechseln, und meine Stimme, wie einen schönen Tänzer, durch alle Beugungen hindurch führen, die die Seele bezaubern; und wenn die Bäume nicht in der That bewegt werden, und ihren milden Thau, als ob es geregnet hätte, herabträufeln lassen, so sind sie von Holz, und Alles, was uns die Dichter von ihnen sagen, ein bloßes liebliches Mährchen. O du – – – wie nenn ich dich? Käthchen! Warum kann ich dich nicht mein nennen? Käthchen, Mädchen, Käthchen! Warum kann ich dich nicht mein nennen? Warum kann ich dich nicht aufheben, und in das duftende Himmelbett tragen, das mir die Mutter, daheim im Prunkgemach, aufgerichtet hat? Käthchen, Käthchen, Käthchen! Du, deren junge Seele, als sie heut nackt vor mir stand, von wollüstiger Schönheit gänzlich triefte, wie die{,} mit Ölen gesalbte{,} Braut eines Perserkönigs, wenn sie, auf alle Teppiche niederregnend, in sein Gemach geführt wird! Käthchen, Mädchen, Käthchen! Warum kann ich es nicht? Du Schönere, als ich singen kann, ich will eine eigene Kunst erfinden, und dich weinen. Alle Phiolen der Empfindung, himmlische und irdische, will ich eröffnen, und eine solche Mischung von Thränen, einen Erguß so eigenthümlicher Art, so heilig zugleich und üppig, zusammenschütten, daß jeder Mensch gleich, an dessen Hals ich sie weine, sagen

262 soll: sie fließen dem Käthchen von Heilbronn! Du kleines Veilchen, das an der bemoos’ten Felswand, im Schatten wildrankender Brombeergebüsche, blühte, und bestimmt schien, mir, wenn ich dich jemals erblickte, einen Geruch zuzusenden, und dann vergessen zu werden: was hast du meiner Brust angethan? So wahr mir Gott die Sünde vergebe, ich meine, meine Seeligkeit ist mir zugemessen. Ich weiß nicht mehr, warum ich Abends die Hände falten und beten soll: sobald nur der Dank für das, was mir heute geworden ist, ausgeweint ist. War’s nicht, als sie sich [363| 364] da, in ihrer lieblichen Unschuld, vor mir entfaltete, als ob ich, diese Verbindung von Eisen und Fleisch und Blut, die gegen die Erde drückt, gänzlich zu Gesang verwandelt worden wäre; als schwäng’ ich mich, wie ein Adler, kreisend und gewälzt und kopfüber, in’s Reich unendlicher Lüfte empor, immer jauchzend und wieder jauchzend: ich bin geliebt! daß die ganze Welt, wie ein großer Resonanzboden, mir wiederhallte: ich bin geliebt! – ich bin geliebt! ich bin geliebt! ich bin geliebt! schwachher der Nachhall lispelnd noch von den äußersten Sternen, die an der Gränze der Schöpfung stehn, zu mir herüber zitterte. – – – Ihr grauen, bärtigen Alten, was wollt ihr? Was verlaßt ihr eure goldnen Rahmen, ihr Bilder meiner geharnischten Väter, die meinen Rüstsaal bevölkern, und tretet, in unruhiger Versammlung, hier um mich herum, eure ehrwürdigen Locken schüttelnd? Hier ist kein erzbischöflicher Dom; sie und ich, wir stehen noch nicht, Hand in Hand, vor dem feierlichen Priester, und Friedrichs Lippe flüstert noch, auf die Frage: willt du sie zum Weibe? kein zitterndes: ja, hervor. Nein, nein, nein! sag’ ich; das war beschloßne Sache, noch eh ihr kamt: ich werd’ eurem stolzen Reigen mich anschließen. Dich aber, Winfried, der ihn führt, Erster meines Namens, dich frag’ ich, ob die Mutter meines Geschlechts war, wie diese: von jeder frommen Jugend strahlender, makelloser an Leib und Seele, mit jedem Liebreiz geschmückter, als sie? O Winfried! Grauer Alter! Ich küsse dir die Hand, und danke dir, daß ich bin: doch hättest du sie an deine stählerne Brust

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soll: sie fließen dem Käthchen von Heilbronn! – – –

Ihr grauen, bärtigen Alten, was wollt ihr? Warum verlaßt ihr eure goldnen Rahmen, ihr Bilder meiner geharnischten Väter, die meinen Rüstsaal bevölkern, und tretet, in unruhiger Versammlung, hier um mich herum, eure ehrwürdigen Locken schüttelnd?

Nein, nein, nein! Zum Weibe, wenn ich sie gleich liebe, begehr’ ich sie nicht; eurem stolzen Reigen will ich mich anschließen: das war beschlossne Sache, noch ehe ihr kamt. Dich aber, Winfried, der ihn führt, du Erster meines Namens, Göttlicher mit der Scheitel des Zevs, dich frag’ ich, ob die Mutter meines Geschlechts war, wie diese: von jeder frommen Jugend strahlender, makelloser an [530|531] Leib und Seele, mit jedem Liebreiz geschmückter, als sie? O Winfried! Grauer Alter! Ich küsse dir die

263

Anhang

gedrückt, du hättest ein Geschlecht von Königen erzeugt, und Wetter vom Strahle hieße jedes Gebot auf Erden! Ich weiß, daß ich mich fassen und diese Wunde vernarben werde: denn in welchem Schmerz faßte sich nicht der Mensch? Die Zeisige werden verflattern, die zwitschernden, aus den Hollundergebüschen, Käthchen, du auch – und wirst nicht wiederkehren, wie sie! Doch wenn ich jemals ein Weib finde, das dir gleicht: so will ich die Länder durchreisen und die Sprachen der Welt lernen, und Gott preisen, in jeder Zunge, die geredet wird. – Gottschalk! Gottschalk (aus der Ferne) He! U. s. w. [364|365]

Hand, und danke dir, daß ich bin; doch hättest du sie an die stählerne Brust gedrückt, du hättest ein Geschlecht von Königen erzeugt, und Wetter vom Strahl hieße jedes Gebot auf Erden! Ich weiß, daß ich mich fassen und diese Wunde vernarben werde: denn welche Wunde vernarbte nicht der Mensch? Doch wenn ich jemals ein Weib finde, Käthchen, dir gleich: so will ich die Länder durchreisen, und die Sprachen der Welt lernen, und Gott preisen in jeder Zunge, die geredet wird. – Gottschalk!

Zweites Fragment des Schauspiels: Das Käthchen von Heilbronn ‹Zweites ›Phöbus‹-Fragment› Zweiter Akt.

Zweiter Auftritt.

Zweiter Auftritt.

Gottschalk (tritt auf.) Der Graf vom Strahle. Gottschalk. Ei, was der Gukuck! So hängt ja der Himmel voller Geigen. Ist das Gericht schon vorbei, gestrenger Herr? – Nun, so wahr ich lebe! Wir stehn dort, wo die Pferde grasen, und schauen uns die Augen wund, euch aus der Mordhöhle wieder hervortreten zu sehen; und ihr liegt hier, wie ein Dachs davor, und sonnt euch. – Ein Bote ist angekommen von eurer Mutter. Der Graf vom Strahle. Ein Bote? Gottschalk. Gestreckten Laufs, keuchend, mit verhängtem Zügel: mein Seel, wenn Schloß Wetterstrahl eine Pulverpfanne, und die Landstraße eine Donnerbüchse gewesen wäre, er hätte nicht rascher herangeschossen werden können. Der Graf vom Strahle. Was bringt er mir, Gottschalk?

Gottschalk. Der Graf vom Strahl. Gottschalk (draußen). Heda! Herr Graf vom Strahl! Graf vom Strahl. Was giebts?

Gottschalk. Was zum Henker! – – Ein Bote ist angekommen von eurer Mutter. Der Graf vom Strahl. Ein Bote? Gottschalk. Gestreckten Laufs, keuchend, mit verhängtem Zügel; mein Seel, wenn euer Schloß ein eiserner Bogen und er ein Pfeil gewesen wäre, er hätte nicht rascher herangeschossen werden können. Der Graf vom Strahl. Was hat er mir zu sagen?

264

Anhang

Gottschalk. He! Ritter Franz! [365|366]

Gottschalk. He! Ritter Franz! [531|532]

Dritter Auftritt.

Dritter Auftritt.

Der Ritter Flammberg (tritt auf). Die Vorigen.

Ritter Flammberg (tritt auf). Die Vorigen.

Der Graf vom Strahle. Gott grüß’ dich, Flammberg! Was führt dich so eilig zu mir her? Ritter Flammberg. Der Gräfinn euer Mutter, Gebot, gestrenger Herr; sie befahl mir, den besten Renner zu nehmen, und euch entgegen zu reiten. Der Graf vom Strahle. Nun? Und was bringst du mir? Ritter Flammberg. Krieg, gnädiger Herr, ein Aufgebot zu neuer Fehde, noch ganz warm, wie es die Gräfin eben von des Herolds Lippen empfangen hat. Der Graf vom Strahle. Was sagst du? (er setzt sich den Helm auf.) Gottschalk. Ei, lustig! So bleiben wir in der Gewohnheit. Der Graf vom Strahle. Wessen? Doch nicht des Burggrafen, mit dem ich eben den Frieden abgeschlossen?

Der Graf vom Strahl. Flammberg! – Was führt dich so eilig zu mir her? Flammberg. Gnädigster Herr! eurer Mutter, der Gräfin, Gebot; sie befahl mir den besten Renner zu nehmen, und euch entgegen zu reiten! Der Graf vom Strahl. Nun? Und was bringst du mir? Flammberg. Krieg, bei meinem Eid Krieg! Ein Aufgebot zu neuer Fehde, warm, wie sie es eben von des Herolds Lippen empfangen hat.

Ritter Flammberg. Des Rheingrafen, gestrenger Herr; des Junkers vom Stein, der unten am weinumblühten Neckar seinen Sitz hat. Der Graf vom Strahle. Des Rheingrafen! – Was hab’ ich mit dem Rheingrafen zu schaffen, Flammberg? Ritter Flammberg. Mein Seel! Was hattet ihr mit dem Burggrafen zu schaffen? Und was wollte der Jungherr von Waldstätten von euch, ehe ihr mit dem Burggrafen zu schaffen kriegtet? Wenn ihr den kleinen griechischen Feuerfunken nicht austretet, der diese Kriege veranlaßt: so sollt ihr noch das ganze Schwabengebirge wider euch auflodern sehen, und die Alpen und den Hundsrück obenein. [366|367] Der Graf vom Strahle.

Graf vom Strahl (betreten). Wessen? – Doch nicht des Burggrafen, mit dem ich eben den Frieden abschloß! (er setzt sich den Helm auf). Flammberg. Des Rheingrafen, des Junkers vom Stein, der unten am weinumblühten Neckar seinen Sitz hat. Der Graf vom Strahl. Des Rheingrafen! – Was hab ich mit dem Rheingrafen zu schaffen, Flammberg? Flammberg. Mein Seel! Was hattet ihr mit dem Burggrafen zu schaffen? Und was wollte so mancher Andere von euch, ehe ihr mit dem Burggrafen zu schaffen kriegtet? Wenn ihr den kleinen griechischen Feuerfunken nicht austretet, der diese Kriege veranlaßt, so sollt ihr noch das ganze Schwabengebirge wider euch auflodern sehen, und die Alpen und den Hundsrück obenein. Der Graf vom Strahl. Es ist nicht möglich! Fräulein Kunigunde –

Anhang

Es ist nicht möglich! Der Rheingraf fordert – Ritter Flammberg. Im Namen Fräulein Kunigundens von Thurneck, die kleine Herrschaft Stauffen von euch; jene drei Städtlein und siebzehn Dörfer und Vorwerker, eurem Vorfahren Otto Grafen vom Strahle, von dem ihrigen, Peter Edlen von Thurneck, käuflich abgetreten; genau, und mit denselben Worten, wie dies Maximilian, Burggraf von Freiburg und der Jungherr Georg von Waldstätten, in früheren Zeiten, in ihrem Namen, gethan haben. Der Graf vom Strahle (steht auf.) Die rasende Megäre! Ist das nicht der dritte Reichsritter, den sie mir, einem Hund gleich, auf den Hals hetzt, um mir diese Landschaft abzujagen! Ich glaube, das ganze Reich frißt ihr aus der Hand. Kleopatra fand Einen, und als der sich den Kopf zerschellt hatte, schauten die Anderen; doch ihr dient Alles, was eine Ribbe weniger hat, als sie, und für jeden Einzelnen, den ich ihr zerzaus’t zurücksende, stehen zehn Andere wider mich auf – Was führt’ er für Gründe an? Ritter Flammberg. Wer? Der Herold? Der Graf vom Strahle. Was führt’ er für Gründe an? Ritter Flammberg. Ei, gestrenger Herr, da hätt’ er ja roth werden müssen. Der Graf vom Strahle. Er sprach von Peter von Thurneck – nicht? Und von der Landschaft ungültigem Verkauf ? Ritter Flammberg. Allerdings. Und von den schwäbischen Gesetzen; mischte Pflicht und Gewissen bei jedem dritten Wort, in die Rede, und rief Gott zum Zeugen an, daß nichts als die reinsten Absichten, seinen Herrn, den Rheingrafen, vermögten, des Fräuleins Sache zu ergreifen. Der Graf vom Strahle. Aber die rothen Wangen der Dame behielt er für sich? Ritter Flammberg. Davon hat er kein Wort gesagt. [367|368] Der Graf vom Strahle.

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Flammberg. Der Rheingraf fordert, im Namen Fräulein Kunigundens von Thurneck, den Wiederkauf eurer Herrschaft Stauffen; jener drei Städtlein und siebzehn Dörfer und Vorwerker, eurem Vorfahren Otto, von Peter, dem ihrigen, unter der [532|533] besagten Clausel, käuflich abgetreten; grade so, wie dies der Burggraf von Freiburg, und, in früheren Zeiten schon ihre Vettern, in ihrem Namen gethan haben. Der Graf vom Strahl (steht auf). Die rasende Megäre! Ist das nicht der dritte Reichsritter, den sie mir, einem Hund’ gleich, auf den Hals hetzt, um mir diese Landschaft abzujagen! Ich glaube, das ganze Reich frißt ihr aus der Hand. Kleopatra fand Einen, und als der sich den Kopf zerschellt hatte, schauten die Anderen; doch ihr dient Alles, was eine Ribbe weniger hat, als sie, und für jeden Einzelnen, den ich ihr zerzaus’t zurücksende, stehen zehn Andere wider mich auf – Was führt’ er für Gründe an? Flammberg. Wer? Der Herold? Graf vom Strahl. Was führt’ er für Gründe an? Flammberg. Ei, gestrenger Herr, da hätt’ er ja roth werden müssen. Der Graf vom Strahl. Er sprach von Peter von Thurneck – nicht? Und von der Landschaft ungültigem Verkauf ? Flammberg. Allerdings. Und von den schwäbischen Gesetzen; mischte Pflicht und Gewissen bei jedem dritten Wort, in die Rede, und rief Gott zum Zeugen an, daß nichts als die reinsten Absichten seinen Herrn, den Rheingrafen, vermögten, des Fräuleins Sache zu ergreifen. Der Graf vom Strahl. Aber die rothen Wangen der Dame behielt er für sich? Flammberg. Davon hat er kein Wort gesagt. Der Graf vom Strahl.

266 Daß sie die Pocken kriegte! Ich wollte, ich könnte den Nachtthau in Eimern auffassen, und über ihren weißen Hals ausgießen. Ihr kleines verwünschtes Gesicht ist der letzte Grund aller dieser Kriege, wider mich; und so lange ich den Märzschnee nicht vergiften kann, mit welchem sie sich wäscht, hab’ ich auch vor den Rittern des Landes keine Ruhe. Aber Geduld nur – Wo mag sie sich wohl jetzt aufhalten? Ritter Flammberg. Bei dem Rheingrafen, gestrenger Herr, auf der Burg zum Stein, wo ihr schon, seit drei Tagen, Prunkgelage gefeiert werden, daß die Feste des Himmels erkracht, und die Sonne nicht mehr angesehen wird. Der Burggraf von Freiburg, den sie verabschiedet hat, wüthet; und wenn ihr einen Boten an ihn absendet, so zweifle ich nicht: er zieht mit euch gegen die Steinburg zu Felde. Graf vom Strahle. Bring’ mir die Pferde Gottschalk, ich will reiten! – Ich habe dieser jungen Aufwieglerin versprochen, wenn sie die Waffen ihres kleinen, schelmischen Angesichts nicht ruhen ließe wider mich, so würd’ ich ihr einen Possen zu spielen wissen, daß sie es ewig in einer Scheide tragen sollte: und so wahr ich diese Rechte aufhebe, ich halte Wort. – Bring’ mir die Pferde, sag’ ich, ich will reiten. Gottschalk (halblaut in die Höhle rufen.) Käthchen! Der Graf vom Strahle. Was? – Die Pferde, Gottschalk, sag’ ich! Die Pferde! Gottschalk. Gleich, gleich, gestrenger Herr – He! Jung Mädel! Wo bleibst du? Der Graf vom Strahle. Der alte Geck, der! Was geht ihm das Mädchen an? Gottschalk. Was, mir? – Bei Gott, gnädiger Herr, wenn’s ein Hund wär’, so würd’ ich – Der Graf vom Strahle. Ei so, Narr, der du bist! – Das Käthchen ist bei seinem Vater geblieben, und geht wieder nach Heilbronn zurück. [368|369] Gottschalk (betroffen.) Was sagt ihr?

Anhang

Daß sie die Pocken kriegte! Ich wollte, ich könnte den Nachtthau in Eimern auffassen, und über ihren weißen Hals ausgießen! Ihr kleines verwünschtes Gesicht ist der letzte Grund aller dieser Kriege wider mich; und so lange ich den Märzschnee nicht vergiften kann, mit welchem sie sich wäscht, hab’ ich auch vor den Rittern des Landes keine Ruhe. Aber Geduld nur! – Wo hält sie sich jetzt auf ? [533|534] Flammberg. Auf der Burg zum Stein, wo ihr schon seit drei Tagen Prunkgelage gefeiert werden, daß die Feste des Himmels erkracht, und Sonne, Mond und Sterne nicht mehr angesehen werden. Der Burggraf, den sie verabschiedet hat, soll Rache kochen, und wenn ihr einen Boten an ihn absendet, so zweifl’ ich nicht, er zieht mit euch gegen den Rheingrafen zu Felde. Graf vom Strahl. Wohlan! Führt mir die Pferde vor, ich will reiten. – Ich habe dieser jungen Aufwieglerin versprochen, wenn sie die Waffen ihres kleinen schelmischen Angesichts nicht ruhen ließe wider mich, so würd’ ich ihr einen Possen zu spielen wissen, daß sie es ewig in einer Scheide tragen sollt; und so wahr ich diese Rechte aufhebe, ich halte Wort! – Folgt mir, meine Freunde!

267

Anhang

Der Graf vom Strahle. Fort sag’ ich! Die Pferde will ich haben, ich will reiten. (Alle ab).

(Alle ab).

Scene: Köhlerhütte im Gebirg. Nacht, Donner und Blitz.

Scene: Köhlerhütte im Gebirg. Nacht, Donner und Blitz.

Vierter Auftritt.

Vierter Auftritt.

Maximilian Burggraf von Freiburg und Georg von Waldstätten (treten auf).

Burggraf von Freiburg und Georg von Waldstätten (treten auf).

Burggraf von Freiburg (in die Scene rufend.) Hebt sie vom Pferd’ herunter! – (Blitz und Donnerschlag.) – Ei, so schlag’ ein, wo du willst; nur nicht auf die Scheitel der lieblichen Kunigunde von Thurneck, die mit weißer Kreide belegt ist. Eine Stimme (ausserhalb der Scene.) He! Wo seid ihr? Burggraf von Freiburg. Hier! Georg von Waldstätten. Habt ihr jemals eine solche Nacht erlebt? Burggraf von Freiburg. Das gießt vom Himmel herab, Wipfel und Bergspitzen ersäufend, als ob eine zweite Sündfluth heranbräche. – Hebt sie vom Pferd herunter! Eine Stimme (ausserhalb der Scene.) Sie rührt sich nicht. Eine andere. Sie liegt, wie todt, vor des Pferdes Hufen da. Burggraf von Freiburg. Ei, Possen! Das thut sie blos, um ihre falschen Zähne nicht zu verlieren. Sagt ihr, ich wäre der Burggraf von Freiburg und zu dem, was ich mit ihr vor hätte, braucht sie keine. – So! bringt sie her. [369|370] Ritter Schauermann (erscheint, das Fräulein Kunigunde von Thurneck auf der Schulter tragend.) Georg von Waldstätten. Dort ist eine Köhlerhütte.

Freiburg (in die Scene rufend). Hebt sie vom Pferd’ herunter! – (Blitz und Donnerschlag). – Ei, so schlag’ ein wo du willst; nur nicht auf die Scheitel, belegt mit Kreide, meiner lieben Braut, der Kunigunde von Thurneck! Eine Stimme (außerhalb) He! Wo seid ihr? Freiburg. Hier! Georg. Habt ihr jemals eine solche Nacht erlebt? Freiburg. Das gießt vom Himmel herab, Wipfel und Bergspitzen ersäufend, als ob eine zweite Sündfluth heranbräche. – Hebt sie vom Pferd’ herunter! [534|535] Eine Stimme (außerhalb). Sie rührt sich nicht. Eine Andere. Sie liegt, wie todt, zu des Pferdes Füßen da. Freiburg. Ei, Possen! Das thut sie bloß, um ihre falschen Zähne nicht zu verlieren. Sagt ihr, ich wäre der Burggraf von Freiburg und die ächten, die sie im Mund’ hätte, hätte ich gezählt. – So! bringt sie her. Ritter Schauermann (erscheint) das Fräulein von Thurneck (auf der Schulter tragend). Georg. Dort ist eine Köhlerhütte.

Fünfter Auftritt.

Fünfter Auftritt.

268

Anhang

Zwei Köhler. Ritter Schauermann (das Fräulein auf der Schulter tragend, und) Ritter Wetzlaf, mit den Reisigen des Burggrafen (treten auf.) Die Vorigen.

Ritter Schauermann mit dem Fräulein, Ritter Wetzlaf und die Reisigen des Burggrafen. Zwei Köhler. Die Vorigen.

Burggraf von Freiburg (an die Köhlerhütte klopfend.) He da! Der erste Köhler (drinnen.) Wer klopfet? Burggraf von Freiburg. Frag’ nicht, du Schlingel, und mach’ auf. Der zweite Köhler (eben so.) Holla! Nicht eher, bis ich den Schlüssel umgekehrt habe. Wird doch der Kaiser nicht vor der Thür sein? Burggraf von Freiburg. Hallunke! Wenn nicht der: Doch Einer, der hier regiert, und den Scepter vom Ast brechen wird, um’s dir zu zeigen. Die beiden Köhler (treten auf.) Der erste Köhler (eine Laterne in der Hand.) Wer seid ihr? Was wollt ihr?

Freiburg (an die Köhlerhütte klopfend). Heda!

Burggraf von Freiburg. Ein Rittersmann bin ich; und diese Dame, die hier todtkrank herangetragen wird, das ist – Ritter Schauermann (von hinten). Das Licht weg! Ritter Wetzlaf. Schmeißt ihm die Laterne aus der Hand! Burggraf von Freiburg. (indem er ihm die Laterne wegnimmt). Spitzbube? Du willst hier leuchten? [370| 371] Der erste Köhler. Ihr Herren, ich will hoffen, ich bin der Größeste unter euch. Warum nehmt ihr mir die Laterne weg? Der zweite Köhler. Wer seid ihr? Und was wollt ihr? Burggraf von Freiburg. Rittersleute, du Flegel, hab’ ich dir gesagt. Georg von Waldstätten. Wir sind reisende Ritter, ihr guten Leute, die das Unwetter überrascht hat. Burggraf von Freiburg. Kriegsmänner, die von Jerusalem kommen, und in ihre Heimath ziehen; und jene Dame dort, die heran getragen wird, von

Der erste Köhler (drinnen). Wer klopfet? Freiburg. Frag’ nicht, du Schlingel, und mach’ auf. Der zweite Köhler (eben so). Holla! Nicht eher bis ich den Schlüssel umgekehrt habe. Wird doch der Kaiser nicht vor der Thür sein? Freiburg. Hallunke! Wenn nicht der, doch Einer, der hier regiert, und den Scepter gleich vom Ast brechen wird, um’s dir zu zeigen. Der erste Köhler (auftretend, eine Laterne in der Hand). Wer seid ihr? Was wollt ihr? Freiburg. Ein Rittersmann bin ich; und diese Dame, die hier todtkrank herangetragen wird, das ist – Schauermann (von hinten). Das Licht weg! [535|536] Wetzlaf. Schmeißt ihm die Laterne aus der Hand! Freiburg. (indem er ihm die Laterne wegnimmt). Spitzbube! Du willst hier leuchten? Der erste Köhler. Ihr Herren, ich will hoffen, der Größeste unter euch bin ich! Warum nehmt ihr mir die Laterne weg? Der zweite Köhler. Wer seid ihr? Und was wollt ihr? Freiburg. Rittersleute, du Flegel, hab ich dir schon gesagt! Georg. Wir sind reisende Ritter, ihr guten Leute, die das Unwetter überrascht hat. Freiburg. (unterbricht ihn). Kriegsmänner, die von Jerusalem kommen, und in ihre Heimath ziehen; und jene Dame dort, die herangetragen wird, von

Anhang

Kopf zu Fuß in einem Mantel eingewickelt, das ist – (ein Gewitterschlag.) Der erste Köhler. Ei, so plärr’ du, daß die Wolken reißen! – von Jerusalem, sagt ihr? Der zweite Köhler. Man kann vor dem breitmäuligen Donner kein Wort verstehen. Burggraf von Freiburg. Von Jerusalem, ja. Der zweite Köhler. Und die Dame, die in den Mantel gewickelt, herangetragen wird, sagt ihr? Georg von Waldstätten (auf den Burggrafen zeigend.) Das ist des Herren kranke Schwester, ihr ehrlichen Leute, und begehrt – Burggraf von Freiburg Das ist Einem von uns die Schwester, und meine Gemahlin; todtkrank, wie du siehst, von Schloßen und Hagel halb erschlagen, so, daß sie kein Wort vorbringen kann. Die begehrt eines Platzes in deiner Köhlerhütte, bis das Ungewitter vorüber und der Tag angebrochen ist. Der erste Köhler. Die begehrt einen Platz in meiner Hütte. [371|372] Georg von Waldstätten. Ja, ihr guten Köhler; bis das Ungewitter vorüber ist, und wir unsre Reise weiter fortsetzen können. Der zweite Köhler. Mein Seel, da habt ihr Worte gesagt, die den Lungenodem nicht werth waren. Der erste Köhler. Isaak! Junge (in der Hütte.) He! Burggraf von Freiburg. Willst du das thun? Der zweite Köhler. Ihr Herrn, das würd’ ich des Kaisers Hund nicht abgeschlagen haben. – Isaak! Schlingel! Hörst du nicht? Junge (in der Hütte.) He! sag’ ich. Was giebts? Der zweite Köhler. Das Stroh sollst du aufschütteln, Schlingel, und die Decken zurecht legen, für ein krank

269 Kopf zu Fuß in einem Mantel eingewickelt, das ist – (Ein Gewitterschlag). Der erste Köhler. Ei, so plärr’ du, daß die Wolken reißen! – Von Jerusalem, sagt ihr? Der zweite Köhler. Man kann vor dem breitmäuligen Donner kein Wort verstehen. Freiburg. Von Jerusalem, ja. Der zweite Köhler. Und das Weibsen, das herangetragen wird –? Georg (auf den Burggrafen zeigend). Das ist des Herren kranke Schwester, ihr ehrlichen Leute, und begehrt – Freiburg (unterbricht ihn). Das ist jenes Schwester, du Schuft, und meine Gemahlin; todtkrank, wie du siehst, von Schlossen und Hagel halb erschlagen, so daß sie kein Wort vorbringen kann: die begehrt eines Platzes in deiner Hütte, bis das Ungewitter vorüber und der Tag angebrochen ist. [536|537] Der erste Köhler. Die begehrt einen Platz in meiner Hütte? Georg. Ja, ihr guten Köhler; bis das Gewitter vorüber ist, und wir unsre Reise fortsetzen können. Der zweite Köhler. Mein Seel, da habt ihr Worte gesagt, die waren den Lungenodem nicht werth, womit ihr sie ausgestoßen. Der erste Köhler. Isaak! Freiburg. Du willst das thun? Der zweite Köhler. Des Kaisers Hunden, ihr Herrn, wenn sie vor meiner Thür darum heulten. – Isaak! Schlingel! hörst nicht? Junge (in der Hütte). He! sag’ ich. Was giebts? Der zweite Köhler. Das Stroh schüttle auf, Schlingel, und die Decken drüberhin; ein krank Weibsen,

270

Anhang

Weibsen, das kommen, und Platz nehmen wird in der Hütten! Hörst du? Burggraf von Freiburg. Ist noch jemand im Haus? Der erste Köhler. Ei, ein Flachskopf von zehn Jahren, der uns an die Hand geht. Burggraf von Freiburg. Gut. Platz jetzt hier Tritt heran, Schauermann! Ritter Schauermann. Hier, gnäd’ger Herr. Burggraf von Freiburg. Licht her! (ein Knecht bringt die Laterne, die Ritter besehen das Fräulein.) Georg von Waldstätten. Sie hängt, wie todt, von der Schulter nieder. [372|373] Ritter Wetzlaf (zu den Köhlern.) Was wollt ihr! Was habt ihr hier zu suchen? Georg von Waldstätten. Sie hat den Hut verloren. Hätt’ ich ihr den Mantel nicht gegeben: der Wind hätt’ ihr alle Kleider vom Leibe gerissen. Burggraf von Freiburg. Ei, Georg! So hätt’ ich sie ihr in der Steinburg nicht auszuziehen brauchen. Ritter Schauermann (zum Burggrafen und dem Junker von Waldstätten.) Ist Alles gut, ihr Herrn? Kann ich gehen? Burggraf von Freiburg. Es ist Alles gut. Sie kann sich nicht rühren. Geh’ schmeiß’ sie herein, Schauermann, und bewache sie, bis ich rufe. Ritter Schauermann mit Fräulein Kunigunde von Thurneck (ab.)

wird kommen und Platz nehmen, in der Hütten! Hörst du? Freiburg. Wer spricht drin? Der erste Köhler. Ei, ein Flachskopf von zehn Jahren, der uns an die Hand geht. Freiburg. Gut. – Tritt heran, Schauermann! hier ist ein Knebel losgegangen. Schauermann. Wo?

Sechster Auftritt.

Sechster Auftritt.

Burggraf von Freiburg und Georg von Waldstätten (treten in den Vordergrund) Ritter Wetzlaf (lagert sich mit den) Reisigen (zur Seite.) Die Köhler (schüren hinten die Kohlen, und gehen ab und zu. Späterhin) der Köhlerjunge.

Die Vorigen (ohne Schauermann und das Fräulein.)

Burggraf von Freiburg. Nun, Georg, alle Saiten des Jubels schlag’ ich an: wir haben sie; wir haben diese Kunigunde von Thurneck! So wahr ich

Freiburg. Nun, Georg, alle Saiten des Jubels schlag ich an: wir haben sie; wir haben diese Kunigunde von Thurneck! So wahr ich

Freiburg. Gleichviel! – In den Winkel mit ihr hin, dort! – – Wenn der Tag anbricht, werd ich dich rufen. (Schauermann trägt das Fräulein in die Hütte).> [537|538]

Anhang

nach meinem Vater getauft bin! Nicht um den ganzen Himmel, um den meine Jugend gebetet hat, geb’ ich die Lust weg, die mir bescheert ist, wenn der morgende Tag anbricht. – Warum kamst du nicht früher von Waldstätten herab? Georg von Waldstätten. Weil du mich nicht früher rufen ließest. Freiburg. O Georg! Du hättest sie sehen sollen, wie sie daher geritten kam, einer Fabel gleich, von den Rittern des Landes umringt, gleich einer Sonne, unter ihren Planeten! War’s nicht, als ob [373|374] sie zu den Kieseln sagte, die unter ihr Funken sprühten: ihr müßt mir schmelzen, wenn ihr mich seht? Thalestris, die Königin der Amazonen, als sie herabzog, Alexander den Großen zu bitten, daß er sie küsse: sie war nicht reizender und göttlicher, als sie. Georg. Wo fiengst du sie? Freiburg. Fünf Stunden, Georg, fünf Stunden von der Steinburg, wo ihr der Rheingraf, durch drei Tage, schallende Jubelfeste gefeiert hatte. Die Ritter, die sie begleiteten, hatten sie kaum verlassen: da werf ’ ich ihren Vetter Isidor, der bei ihr geblieben war, in den Sand: und auf den Rappen mit ihr, und auf und davon. Georg. Aber, Max! Max! Was hast du nun mit ihr vor? Wenn ich dich recht verstehe. – Freiburg. Ich will dir sagen, Freund – Georg. – Was bereitest du dir mit allen diesen ungeheuren Anstalten vor? Freiburg. Lieber! Guter! Wunderlicher! Honig von Hybla, für diese, vom Durst der Rache, zu Holz vertrocknete Brust. Warum soll dies wesenlose Bild länger, einer olympischen Göttin gleich, auf dem Fußgestell prangen, die Hallen der christlichen Kirchen von uns, und unseres Gleichen, entvölkernd? Lieber angefaßt, und auf den Schutt hinaus, das Unterste zu Oberst, damit mit Augen erschaut wird, daß kein Gott in ihm wohnt. Georg.

271 nach meinem Vater getauft bin, nicht um den ganzen Himmel, um den meine Jugend gebetet hat, geb’ ich die Lust weg, die mir bescheert ist, wenn der morgende Tag anbricht! –. Warum kamst du nicht früher von Waldstätten herab! Georg. Weil du mich nicht früher rufen ließest. Freiburg. O, Georg! Du hättest sie sehen sollen, wie sie daher geritten kam, einer Fabel gleich, von den Rittern des Landes umringt, gleich einer Sonne, unter ihren Planeten! Wars nicht, als ob sie zu den Kieseln sagte, die unter ihr Funken sprühten: ihr müßt mir schmelzen, wenn ihr mich seht? Thalestris, die Königin der Amazonen, als sie herabzog, vom Kaukasus, Alexander den Großen zu bitten, daß er sie küsse: sie war nicht reizender und göttlicher, als sie. Georg. Wo fingst du sie? Freiburg. Fünf Stunden, Georg, fünf Stunden von der Steinburg, wo ihr der Rheingraf, durch drei Tage, schallende Jubelfeste gefeiert hatte. Die Ritter, die sie begleiteten, hatten sie kaum verlassen, da werf ’ ich ihren Vetter Isidor, der bey ihr geblieben war, in den Sand, und auf den Rappen mit ihr, und auf und davon. Georg. Aber, Max! Max! Was hast du –? Freiburg. Ich will dir sagen, Freund – Georg. Was bereitest du dir, mit allen diesen ungeheuren Anstalten, vor? Freiburg. Lieber! Guter! Wunderlicher! Honig von Hybla, für diese [538|539] vom Durst der Rache zu Holz vertrocknete Brust. Warum soll dies wesenlose Bild länger, einer olympischen Göttin gleich, auf dem Fußgestell prangen, die Hallen der christlichen Kirchen von uns und unsers Gleichen entvölkernd? Lieber angefaßt, und auf den Schutt hinaus, das Oberste zu Unterst, damit mit Augen erschaut wird, daß kein Gott in ihm wohnt. Georg.

272

Anhang

Aber in aller Welt, sag’ mir, was ist’s, das dich mit so rasendem Haß gegen sie erfüllt? Freiburg. O Georg! Der Mensch wirft alles, was er sein nennt, in eine Pfütze, aber kein Gefühl. Georg, ich liebte sie, und sie war dessen nicht werth. Ich liebte sie, und ward verschmäht; Georg, und sie war meiner Liebe nicht werth. Ich will dir was [374|375] sagen – Aber es macht mich blaß, wenn ich daran denke. Georg! Georg! Wenn die Teufel um eine Erfindung verlegen sind: so müssen sie einen Hahn fragen, der sich umsonst um eine Henne gedreht hat, und hinterher sieht, daß sie vom Aussatz zerfressen ist, und dazu nicht taugt. Der Köhlerjunge (tritt auf, die Laterne in der Hand, und spricht mit den Alten.) Georg. Du wirst sie nicht auf die Freiburg führen, und keine unritterliche Rache mit ihr vorhaben? Freiburg. Nein, Georg. Ich würde keinem Knecht zumuthen, sie an ihr zu vollziehn. Ich bringe sie auf die Steinburg, zu ihrem Galan, und dem ganzen Troß ihrer Anbeter zurück.

Aber in aller Welt, sag’ mir, was ist’s, das dich mit so rasendem Haß gegen sie erfüllt? Freiburg. O Georg! Der Mensch wirft Alles, was er sein nennt, in eine Pfütze, aber kein Gefühl. Georg, ich liebte sie, und sie war dessen nicht werth. Ich liebte sie und ward verschmäht, Georg; und sie war meiner Liebe nicht werth. Ich will dir was sagen – Aber es macht mich blaß, wenn ich daran denke. Georg! Georg! Wenn die Teufel um eine Erfindung verlegen sind; so müssen sie einen Hahn fragen der sich vergebens um eine Henne gedreht hat, und hinterher sieht, daß sie, vom Aussatz zerfressen, zu seinem Spaße nicht taugt.

Georg. Was! Auf die Steinburg wieder zurück? Freiburg. Ja, lieber Georg, ich rühre sie nicht an; ich bringe sie zu ihrem Liebhaber zurück. Georg. Nun, und was, in aller Welt, willst du da?

Georg. Was! Das Halstuch abnehmen? Freiburg. Ja Georg; und das Volk zusammen rufen.

Freiburg. Ei, da will ich über sie philosophiren. Da will ich euch einen metaphysischen Satz über sie geben, wie Platon, und meinen Satz nachher erläutern, wie der lustige Diogenes gethan. Der Mensch ist – – Aber still, mich dünkt? Georg. Nun? Der Mensch ist? – Freiburg. Der Mensch ist, nach Platon, ein zweibeinigtes, ungefiedertes Thier; du weißt, wie Diogenes diesen Satz bewiesen. Und diese Kunigunde, Freund, diese

Georg. Du wirst keine unritterliche Rache an ihr ausüben? Freiburg. Nein; Gott behüt’ mich! Keinem Knecht muth’ ich zu, sie an ihr zu vollziehn. – Ich bringe sie nach der Steinburg zum Rheingrafen zurück, wo ich nichts thun will, als ihr das Halstuch abnehmen: das soll meine ganze Rache sein!

Georg. Nun, und wenn das geschehn ist, da willst du –? Freiburg. Ei, da will ich über sie philosophiren. Da will ich euch einen metaphysischen Satz über sie geben, wie Platon, und meinen Satz nachher erläutern, wie der lustige Diogenes gethan. Der Mensch ist – – Aber still: (er horcht). Georg. Nun! Der Mensch ist? – [539|540] Freiburg. Der Mensch ist, nach Platon, ein zweibeinigtes, ungefiedertes Thier; du weißt, wie Diogenes dies bewiesen; einen Hahn, glaub’ ich, rupft er, und warf ihn

273

Anhang

Kunigunde von Thurneck, die ist nach mir – – – Aber still! So wahr ich ein Mann bin. Dort steigt jemand vom Pferd! [375|376]

unter das Volk. – Und diese Kunigunde, Freund, diese Kunigunde von Thurneck, die ist nach mir – – – Aber still! So wahr ich ein Mann bin: dort steigt jemand vom Pferd!

Siebenter Auftritt.

Siebenter Auftritt.

Der Graf vom Strahle, und Ritter Flammberg (treten auf.) Die Vorigen. (Nachher) Gottschalk.

Der Graf vom Strahl und Ritter Flammberg (treten auf. Nachher) Gottschalk. – Die Vorigen.

Der Graf vom Strahle (in die Szene rufend.) Bind’ die Pferde an, Gottschalk und füg’ dich zu mir. – Das ist eine Nach, die Wölfe in den Klüften um ein Unterkommen anzusprechen. Gottschalk (von aussen.) Holla! Ihr Herren! Wenn ihr so gut sein wollt – Ritter Flammberg. Was giebt’s? Gottschalk. Schafft mir Licht, zum Henker. Ich stehe hier mit den Pferden, wie in einen Sack eingenäht. Der Graf vom Strahle. Gleich, Gottschalk, gleich! Du sollst gleich welches haben. Ritter Flammberg. Dort blitzt eine Laterne. Heda! Die Köhler (aus dem Hintergrunde.) Hurrassasa! Hat heut der Teufel hier Reichstag? Was giebt’s? Der Graf vom Strahle. Rittersmänner, ihr wackern Leute, die der Regen treibt, Schutz zu suchen in euerer Köhlerhütte. Ist’s vergönnt, einzutreten? Freiburg (ihm in den Weg tretend.) Erlaubt, ihr Herren! – Wer ihr auch sein mögt: in dieser Hütte, ist kein Platz für euch. Georg von Waldstätten (eben so.) Ihr könnt hier nicht einkehren. Der Graf vom Strahle. Wie? Was? Ich kann hier nicht eintreten? Georg von Waldstätten. Mit eurer Vergunst, nein. Freiburg.

Der Graf vom Strahl (an die Hütte klopfend). Heda! Ihr wackern Köhlersleute!

Flammberg. Das ist eine Nacht, die Wölfe in den Klüften um ein Unterkommen anzusprechen. Graf vom Strahl. Ists erlaubt, einzutreten? Freiburg (ihm in den Weg). Erlaubt, ihr Herrn! – Wer ihr auch sein mögt dort – Georg. Ihr könnt hier nicht einkehren. Graf vom Strahl. Nicht? Warum nicht? Freiburg.

274 Es ist kein Raum mehr, sich darin zu bergen. Wäre noch [376|377] Raum drin: wir übernachteten selbst nicht, wie ihr seht, im Freien. Wir sind reisende Ritter, die das Ungewitter hierher verschlagen; meine Frau liegt in der Hütte todtkrank, den einzigen Winkel, der leer ist, mit ihrer Bedienung erfüllend. Ihr werdet sie nicht daraus verjagen wollen. Der Graf vom Strahle. Ihr Herren, das thut mir leid, um mich und eure Frau. – Krank, sagt ihr? An was? Ritter Flammberg. Hat sie ein Bett drin? Der Graf vom Strahle. Kann man ihr mit Mänteln? – Burggraf von Freiburg. Wir danken, ihr würdigen Herren, wir danken. Sie ist mit Allem versorgt. Georg von Waldstätten. Sie wird sich wohl gegen Morgen erholen. Der Graf vom Strahle. Nun, so wünsch’ ich euch eine glückliche Reise! Wir wollen uns hier unter diesen Bäumen betten. – Gottschalk! Gottschalk (von aussen.) He! Der Graf vom Strahle. Sind die Pferde angebunden? Ritter Flammberg. Hast du Licht? Gottschalk. Ja, der Junge hat sich meiner erbarmt. Der Graf vom Strahle. Schaff ’ die Decken her, wenn du fertig bist. Wir wollen uns ein Lager bereiten, auf der Erden, unter den Zweigen. (sie spreiten ihre Mäntel unter, und legen sich nieder.) Ritter Flammberg. Es ist nicht möglich, weiter zu reiten. Die Gebirgswege sind so glatt, man mögte den Pferden Schlittschuhe unterbinden, und darüber hinlaufen. [377|378] Der Graf vom Strahle. S’ ist nicht das Erstemal, Franz, daß wir auf dem Felde, beim Gastwirth zum blauen Himmel übernachten. Was mich kümmert ist meine alte Mutter; denn die wird keinen Wetterkeil durch die Luft zucken sehen, ohne zu denken, er trifft mein Haupt.

Anhang

Weil kein Raum drin ist, weder für euch noch für uns Meine Frau liegt darin todtkrank, den einzigen Winkel der leer ist mit ihrer Bedienung erfüllend: ihr werdet sie nicht daraus vertreiben wollen.

Graf vom Strahl. Nein, bei meinem Eid! Vielmehr wünsche ich, daß sie sich bald darin erholen möge. – Gottschalk!

Flammberg. So müssen wir beim Gastwirth zum blauen Himmel übernachten. Graf vom Strahl. Gottschalk sag’ ich! [540|541]

275

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Gottschalk und der Köhlerjunge (treten auf.) Ritter Flammberg. Bringst du die Decken?

Gottschalk (indem er ihnen die Decken giebt.) Das weiß der Teufel, was das hier für eine Wirtschaft ist. Der Junge sagt, drinnen wäre ein geharnischter Mann, der ein Fräulein bewachte: das läge geknebelt, und mit verstopftem Munde, auf dem Stroh da, wie ein Kalb, das man zur Schlachtbank bringen will. Der Graf vom Strahle. Was sagst du? Ein Fräulein? Geknebelt und mit verstopftem Munde? – Wer hat dir das gesagt? Flammberg. Jung’! Woher weißt du das? KöhIerjunge. St! – Um aller Heiligen willen! Ihr Herren, was macht ihr? Der Graf vom Strahle. Komm her. Köhlerjunge. Ich sage: St! Flammberg. Jung’! Wer hat dir das gesagt? So sprich! Köhlerjunge (heimlich, nachdem er sich umgesehen.) Hab’s geschaut, ihr Herren. Lag auf dem Stroh, als sie sie hineintrugen, und sprachen, sie sei krank. Kehrt’ ihr die Lampe zu, und erschaut’, daß sie gesund war, und Wangen hatt’ als wie unsre Lore. Und wimmert’ und druckt’ mir die Händ’, und blinzelte, und sprach so vernehmlich, wie ein kluger Hund: mach’ mich los, lieb Bübel! daß ich’s mit Augen hört’ und mit den Fingern verstand. Der Graf vom Strahle. Jung’, du flachsköpfiger! So thu’s! [378| 379] Flammberg. Was säumst du? Was machst du? Der Graf vom Strahle. Bind’ sie los, und schick’ sie her! Köhlerjunge (schüchtern.)

Gottschalk (draußen). Hier! Graf vom Strahl. Schaff die Decken her! Wir wollen uns hier ein Lager bereiten, unter den Zweigen. Gottschalk und der Köhlerjunge (treten auf). Gottschalk (indem er ihnen die Decken bringt). Das weiß der Teufel, was das hier für eine Wirtschaft ist. Der Junge sagt, drinnen wäre ein geharnischter Mann, der ein Fräulein bewachte: das läge geknebelt und mit verstopftem Munde da, wie ein Kalb, das man zur Schlachtbank bringen will. Graf vom Strahl. Was sagst du? Ein Fräulein? Geknebelt und mit verstopftem Munde? – Wer hat dir das gesagt? Flammberg. Jung’! Woher weißt du das? KöhIerjunge (erschrocken). St! – Um aller Heiligen willen! Ihr Herren, was macht ihr? Graf vom Strahl. Komm her. Köhlerjunge. Ich sage: St! Flammberg. Jung’! Wer hat dir das gesagt? So sprich. Köhlerjunge (heimlich nachdem er sich umgesehen). Hab’s geschaut, ihr Herren. Lag auf dem Stroh, als sie sie hineintrugen, und sprachen, sie sei krank. Kehrt’ ihr die Lampe zu und erschaut; daß sie gesund war, und Wangen hatt’ als wie unsre Lore. Und wimmert’ und druckt mir die Händ’ und blinzelte, und sprach so vernehmlich, wie ein kluger Hund: mach mich los, lieb Bübel, mach’ mich los! daß ich’s mit Augen hört’ und mit den Fingern verstand. Graf vom Strahl. Jung’, du flachsköpfiger; so thu’s! Flammberg. Was säumst du? Was machst du? Graf vom Strahl. Bind’ sie los und schick sie her! [541|542] Köhlerjunge (schüchtern).

276 St! sag’ ich. – Ich wollt’, daß ihr zu Fischen würdet! – Da erheben sich ihrer drei schon, und kommen her, und sehen, was es giebt. (Er bläs’t die Laterne aus.) Der Graf vom Strahle. Nichts, du wackrer Junge, nichts. Flammberg. Sie haben nichts davon gehört. Der Graf vom Strahle. Sie wechseln blos, um des Regens willen, ihre Plätze. – Köhlerjunge (sieht sich um.) Wollt ihr mich schützen? Der Graf vom Strahle. Ja, so wahr ich ein Ritter bin; das will ich. Flammberg. Darauf kannst du dich verlassen. – Köhlerjunge (sieht sich wieder um.) Der Graf vom Strahle. Nun? Ritter Flammberg. Was säumst du? Der Graf vom Strahle. Was stehst du und steckst die Hände, die du brauchen sollst, in die Hosen, und bedenkst dich? Gottschalk. Hast kein Herz, Junge? Köhlerjunge. – Weiß nit, ihr Herrn. Der Graf vom Strahle (lachend) Weiß nit! Köhlerjunge. Wohlan! Ich will’s dem Vater sagen. – Harrt einen Augenblick hier und Schaut, was ich thue. [379|380] (Er geht und spricht mit den beiden Alten, die am Feuer stehen, und verliert sich nachher in die Hütte). Flammberg. Sind das solche Kauze? Beelzebubs-Ritter, deren Ordensmantel die Nacht ist? Eheleute, auf der Treppe mit Stricken und Banden an einander getraut? Der Graf vom Strahle. Krank, sagten sie! Flammberg. Todtkrank und dankten für alle Hülfe! – (Pause.) Gottschalk.

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St! sag’ ich. – Ich wollt, daß ihr zu Fischen würdet! – Da erheben sich ihrer drei schon und kommen her, und sehen, was es giebt? (er bläst seine Laterne aus). Graf vom Strahl. Nichts, du wackrer Junge, nichts. Flammberg. Sie haben nichts davon gehört. Graf vom Strahl. Sie wechseln bloß um des Regens willen ihre Plätze. Köhlerjunge (sieht sich um). Wollt ihr mich schützen? Graf vom Strahl. Ja, so wahr ich ein Ritter bin; das will ich. Flammberg. Darauf kannst du dich verlassen.

Köhlerjunge. Will’s dem Vater sagen. – schaut was ich thue, und ob ich in die Hütte gehe, oder nicht? (er spricht mit den Alten, die hinten am Feuer stehen, und verliert sich nachher in die Hütte). Flammberg. Sind das solche Kauze? Beelzebubs-Ritter, deren Ordensmantel die Nacht ist? Eheleute, auf der Landstraße mit Stricken und Banden an einander getraut? Graf vom Strahl. Krank, sagten sie! Flammberg. Todtkrank, und dankten für alle Hülfe! Gottschalk. Nun wart’! Wir wollen sie scheiden. (Pause).

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Mein Seel! Ihr Herren, wenn ich die Sache recht bedenke, so wollt’ ich, ich hätte geschwiegen. Ritter Flammberg. Warum hast du’s nicht gethan!? Gottschalk. Wenn der Junge Herz hat, so wird’s einen blutigen Strauß geben. (Pause.) Der Graf vom Strahle. Wie hoch schätzt ihr wohl ihre Zahl? Ritter Flammberg Immer um die Hälfte geringer, als derer, die mit uns sein werden. – Ich meine, es sind ihrer ein Dutzend. Der Graf vom Stahle. Eher drüber, als drunter. Ritter Flammberg. Wir wollen uns einbilden, es wären zwei. (Pause.) Gottschalk. Aber, ihr Herren, paßt auf wo der Junge bleibt! So wahr ich lebe, er schlüpft’ eben vom Feuer hinweg. Die Alten, mit denen er sprach, stehen allein. Der Graf vom Strahle. Wird ihn doch der Luzifer nicht, eh’ er wieder gekommen? – Ritter Flammberg. Richtig! [380|381] Der Graf vom Strahle. Was? Gottschalk. Der Teufel soll mich holen! Der Graf vom Strahle. Ist er fort? Ritter Flammberg. Er schlich eben in die Hütte hinein. – Der Graf vom Strahle. Gottschalk! Geh’ doch einmal, und mach’ dir ein Geschäft bei den Alten, und horche, wie sie gesinnt sind. Gottschalk. Mein Seel! Das wird einen Lärm setzen, wie bei der Hochzeit von Kanaan. (er schleicht sich in den Hintergrund und spricht mit den Alten.) Der Graf vom Strahle. Ich meine, es wird Alles bleiben, wie es ist. – Sprach der Junge nicht, es läge ein geharnischter Mann bei ihr? Ritter Flammberg.

277

278 Allerdings. Der Graf vom Stahle. So wird der Schlingel nichts ausrichten. Ritter Flammberg. Je nun! – Der Junge war schlau genug, Andern einbilden zu können, er sei es nicht. Wenn er sich auf ’s Stroh hinlegt, neben ihr, so sieht er aus, wie ein Sack voll Kohlen; kein Mensch merkt auf ihn. Ein geschickter Schnitt, der ihr, ungesehen von dem, der sie bewacht, die Hände befreit; das Übrige, mein’ ich, thut sie schon selbst. (Pause.) Ritter Schauermann (drinnen.) He! Holla! Die Bestie! Ihr Herrn draußen! Der Graf vom Strahle. Auf, Flammberg! Erhebe dich! (sie stehen beide auf.) Kunigunde von Thurneck (drinnen.) Hülfe! [381|382] Freiburg. Was giebt’s, Schauermann? (Die ganze Schaar des Burggrafen erhebt sich.) Ritter Schauermann (drinnen.). Ich bin angebunden! Die Bestie! Kunigunde von Thurneck (tritt auf. Hinter ihr) der Köhlerjunge. Köhlerjunge. Hier! (er zeigt auf den Grafen vom Strahl.) Kunigunde. Wo? Köhlerjunge. Dort, dort! Seht ihr nicht? Wo die große Eiche steht! Freiburg. Ihr ewigen Götter: was erblick’ ich?

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Schauermann (in der Hütte). He! holla! Die Bestie! Graf vom Strahl. Auf, Flammberg; erhebe dich! (sie stehen auf). [542|543] Freiburg. Was giebt’s? (Die Parthei des Burggrafen erhebt sich). Schauermann. Ich bin angebunden! Ich bin angebunden! (Das Fräulein erscheint.)

Freiburg. Ihr Götter! Was erblick’ ich?

Achter Auftritt.

Achter Auftritt.

Fräulein Kunigunde von Thurneck (im Reisekleide, mit entfesselten Haaren.) Der Köhlerjunge. (Späterhin) Ritter Schauermann. – Die Vorigen.

Fräulein Kunigunde von Thurneck (im Reisekleide, mit entfesselten Haaren). – Die Vorigen.

Fräulein Kunigunde (wirft sich dem Grafen vom Strahle zu Füssen.) Mein hoher und verehrter Herr! Nehmt einer Vielfach geschmähten und geschändeten

Kunigunde (wirft sich vor dem Grafen vom Strahl nieder) Mein Retter! Wer ihr immer seid! Nehmt einer Vielfach geschmähten und geschändeten

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Jungfrau euch an! Wenn euer ritterlicher Eid Den Schutz der Unschuld euch empfiehlt, hier liegt sie In Staub gestreckt, die jetzt ihn von euch fordert! Burggraf von Freiburg. Reißt sie hinweg, ihr Männer! Georg von Waldstätten (ihn zurückhaltend.) Max! hör’ mich an. Burggraf von Freiburg. Reißt sie hinweg, sag’ ich! Laßt sie nicht reden! Der Graf vom Strahle. Halt dort, ihr Herr’n! Was wollt ihr? [382| 383] Burggraf von Freiburg. Was wir wollen? Mein Weib will ich, beim Jupiter – Auf! Greift sie! Kunigunde. Dein Weib! Du Schändlicher! Der Graf vom Strahle. Berühr sie nicht! Wenn du von dieser Dame was verlangst, So sagst du’s mir! Denn mir gehört sie jetzt, Weil sie sich meinem Schutze anvertraut. (er erhebt sie.) Burggraf von Freiburg. Wer bist du, Übermüthiger, daß du Dich zwischen zwei Vermählte drängst? Wer giebt Das Recht dir, mir die Gattin zu verweigern? Kunigunde. Die Gattin! Bösewicht! Das bin ich nicht! Der Graf vom Strahle. Und wer bist du, Nichtswürdiger, daß du Sie deine Gattinn sagst, verfluchter Bube, Daß du sie dein nennst, geiler Mädchenräuber, Die Jungfrau, dir vom Teufel in der Hölle Mit Knebeln und mit Banden angetraut? Burggraf von Freiburg. Wie? Was? Wer? Georg von Waldstätten. Max, ich bitte dich. Der Graf vom Strahle. Wer bist du? Burggraf von Freiburg. Ihr Herr’n, ihr irrt euch sehr –

279 Jungfrau euch an! Wenn euer ritterlicher Eid Den Schutz der Unschuld euch empfiehlt; hier liegt sie In Staub gestreckt, die jetzt ihn von euch fordert! Freiburg. Reißt sie hinweg, ihr Männer! Georg (ihn zurückhaltend) Max! hör mich an. Freiburg Reißt sie hinweg, sag’ ich; laßt sie nicht reden! Graf vom Strahl. Halt dort ihr Herrn! Was wollt ihr! Freiburg. Was wir wollen? Mein Weib will ich, zum Henker! – Auf! ergreift sie! Kunigunde. Dein Weib? Du Lügnerherz! Graf vom Strahl (streng). Berühr’ sie nicht! Wenn du von dieser Dame was verlangst, So sagst du’s mir! Denn mir gehört sie jetzt, Weil sie sich meinem Schutze anvertraut. (er erhebt sie). [543|544] Freiburg. Wer bist du, Übermüthiger, daß du Dich zwischen zwey Vermählte drängst? Wer giebt Das Recht dir, mir die Gattin zu verweigern? Kunigunde. Die Gattin? Bösewicht! Das bin ich nicht! Graf vom Strahl. Und wer bist du, Nichtswürdiger, daß du Sie deine Gattin sagst, verfluchter Bube, Daß du sie dein nennst, geiler Mädchenräuber, Die Jungfrau, dir vom Teufel in der Hölle, Mit Knebeln und mit Banden angetraut? Freiburg. Wie? Was? Wer? Georg. Max, ich bitte dich. Graf vom Strahl. Wer bist du? Freiburg. Ihr Herrn, ihr irrt euch sehr –

280 Der Graf vom Strahle. Wer bist du, frag’ ich. Burggraf von Freiburg. Ihr Herren, wenn ihr glaubt, daß ich – Der Graf vom Strahle. Schafft Licht her! Burggraf von Freiburg. Dies Weib hier, das ich mitgebracht, das ist – [383|384] Der Graf vom Strahle. Ich sage Licht herbeigeschafft! Gottschalk und die Köhler (kommen mit Fackeln und Feuerhacken). Burggraf von Freiburg. Ich bin – Georg von Waldstätten. (heimlich.) Ein Rasender bist du. Fort! Gleich hinweg! Willst du auf ewig nicht dein Wappen schänden. Der Graf vom Strahle. So, meine wackern Köhler, leuchtet mir. Burggraf von Freiburg (schließt sein Visier.) Der Graf vom Strahle. Wer bist du jetzt, frag’ ich? Öffn’ das Visier. Burggraf von Freiburg. Ihr Herr’n, ich bin – Der Graf vom Strahle. Öffn’ das Visier. Burggraf von Freiburg. Ihr hört. Der Graf vom Strahle. Meinst du, leichtfert’ger Bube, ungestraft Die Antwort mir zu weigern, wie ich dir? (er reißt ihm den Helm vom Haupt herab; der Burggraf taumelt.) Ritter Wetzlaf. Schmeißt den Verwegenen doch gleich zu Boden! Ritter Schauermann Auf! Zieht! Burggraf von Freiburg. Du Rasender, welch’ eine That? (er erhebt sich, zieht und haut nach dem Grafen; der weicht aus.) Der Graf vom Strahle. Du haust nach mir? Ritter Flammberg. Auf, Gottschalk, jetzt! Der Graf vom Strahle.

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Graf vom Strahl. Wer bist du, frag’ ich! Freiburg. Ihr Herren, wenn ihr glaubt, daß ich – Graf vom Strahl. Schafft Licht her! Freiburg. Dies Weib hier, das ich mitgebracht, das ist – Graf vom Strahl. Ich sage Licht herbeigeschafft! Gottschalk und die Köhler (kommen mit Fakeln und Feuerhacken). Freiburg. Ich bin – Georg (heimlich). Ein Rasender bist du! Fort! Gleich hinweg! Willst du auf ewig nicht dein Wappen schänden. Graf vom Strahl. So, meine wackern Köhler; leuchtet mir! [544|545] Freiburg (schließt sein Visir). Graf vom Strahl. Wer bist du jetzt, frag’ ich? Öffn’ das Visir. Freiburg. Ihr Herrn, ich bin – Graf vom Strahl. Öffn’ das Visir. Freiburg. Ihr hört. Graf vom Strahl. Meinst du, leichtfert’ger Bube, ungestraft Die Antwort mir zu weigern, wie ich dir? (er reißt ihm den Helm vom Haupt, der Burggraf taumelt). Schauermann. Schmeißt den Verwegenen doch gleich zu Boden! Wetzlaf. Auf! Zieht! Freiburg. Du Rasender, welch eine That! (er erhebt sich, zieht und haut nach dem Grafen, der weicht aus).

Graf vom Strahl.

Anhang

Du hast [384|385] Noch so viel Herz, du lügnerischer Brautmann? (er zieht und haut ihn nieder.) So fahr zur Hölle hin, woher du kamst, Und feire deine Flitterwochen drin! Georg von Waldstätten (zum Burggrafen.) Gott! Meines Lebens Herr! Was starrst du so? Burggraf von Freiburg. Weh mir! Was ist geschehn? Georg von Waldstätten. Bist du getroffen? Ritter Wetzlaf. Getroffen ist er – Einer (aus dem Haufen.) Wankt – Ein Anderer. Und bleicht – Ein Dritter. Und fällt – Ritter Schauermann. Gleich einer Eiche schmetternd fällt er um! Alle. Entsetzen! O Entsetzen! Ritter FIammberg. Auf jetzt, ihr Freunde! Ritter Schauermann. Gott hat gerichtet! Fort! Entflieht! Ritter Flammberg. Schlagt drein! Jagt das Gesindel völlig in die Flucht! (die Parthei des Burggrafen entweicht, niemand bleibt als Georg von Waldstätten, der über ihm beschäfftigt ist.) Der Graf vom Strahle (über den Burggrafen gebeugt.) Freiburg! Was seh’ ich? Ihr allmächt’gen Götter! Du bist’s? Kunigunde Der undankbare Höllenfuchs! Der Graf vom Strahle. Was galt dir diese Jungfrau, du Unselger? – Was wolltest du mit ihr? [385|386] (Pause.) Georg von Waldstätten. Er kann nicht sprechen, Blut füllt, vom Scheitel quellend, ihm den Mund. Kunigunde.

281 Du wehrst dich mir, du Afterbräutigam? (er haut ihn nieder). So fahr’ zur Hölle hin, woher du kamst, Und feire deine Flitterwochen drin!

Wetzlaf. Entsetzen! Schaut! Er stürzt, er wankt, er fällt! FIammberg (dringt vor). Auf jetzt, ihr Freunde! Schauermann. Fort! Entflieht! Flammberg. Schlagt drein! Jagt das Gesindel völlig in die Flucht! (Die Burggräflichen entweichen; niemand bleibt als Georg, der über den Burggrafen beschäftigt ist). [545|546] Graf vom Strahl (zum Burggrafen). Freiburg! Was seh ich? Ihr allmächt’gen Götter! Du bist’s? Kunigunde (unterdrückt). Der undankbare Höllenfuchs! Graf vom Strahl. Was galt dir diese Jungfrau, du Unsel’ger? Was wolltest du mit ihr? Georg. – Er kann nicht reden. Blut füllt, vom Scheitel quellend, ihm den Mund. Kunigunde.

282 Laßt ihn ersticken drin! Der Graf vom Strahle. Mir unbegreiflich! Ein Mensch, wie der, so wacker sonst, und gut. – Kommt ihm zu Hülf ’, ihr Leute! Ritter Flammberg. Auf! Greift ihn an, Und tragt ihn dort in jene Hütte hin. Kunigunde. In’s Grab! Die Schaufeln her! Er sei gewesen! Der Graf vom Strahle. (zum Fräulein.) Beruhigt eure regen Geister, Fräulein! Wie er am Boden machtlos liegt gestreckt, Wird er auch unbeerdigt euch nicht schaden. Kunigunde. Ich bitt’ um Wasser! Der Graf vom Strahle. Fühlt ihr euch nicht wohl? Kunigunde. Nichts, nichts – Es ist – Wer hilft? – Ist hier kein Sitz? – Weh mir! (sie wankt.) Der Graf vom Strahle. Ihr Himmlischen! He! Gottschalk! Hilf! Gottschalk. Die Fackeln her! Der Graf vom Strahle. Hier ist ein Sitz, mein Fräulein! Kommt! Eure Hand! Gebt her! Hier laßt euch nieder. (er führt sie auf einen Sitz.) Wie fühlt ihr euch, sagt an? – Schafft Wasser, Gottschalk! – Wie fühlt ihr euch? (er setzt sich bei ihr nieder.) Kunigunde. Gut, gut. [386|387] Der Graf vom Strahle. Mich dünkt, ihr zittert? Wollt ihr nicht das Gewand, das euch umschließt – Soll ich? – Kunigunde. Laßt, Laß. Es geht vorüber schon. Der Graf vom Strahle. So fühlt ihr euch ein wenig leichter jetzt? Kunigunde.

Anhang

Laßt ihn ersticken drin! Graf vom Strahl. Ein Traum erscheint mir’s! Ein Mensch wie der, so wacker sonst, und gut. – Kommt ihm zu Hülf ’, ihr Leute! Flammberg. Auf! Greift an! Und tragt ihn dort in jener Hütte Raum. Kunigunde. Ins Grab! Die Schaufeln her! Er sei gewesen! Graf vom Strahl. Beruhigt euch! – Wie er darnieder liegt, Wird er auch unbeerdigt euch nicht schaden. Kunigunde. Ich bitt’ um Wasser! Graf vom Strahl. Fühlt ihr euch nicht wohl? Kunigunde. Nichts, nichts – Es ist – Wer hilft? – Ist hier kein Sitz? – Weh mir! (sie wankt). Graf vom Strahl. Ihr Himmlischen! He! Gottschalk! hilf! Gottschalk. Die Fakeln her!

Kunigunde. Laßt, Laßt! Graf vom Strahl (hat sie auf einen Sitz geführt). Es geht vorüber? [546|547] Kunigunde.

Anhang

Das Licht der Augen kehrt mir dämmernd wieder. Der Graf vom Strahle. Was war’s, das so urplötzlich euch ergriff ? Kunigunde. Ach! Mein großmüth’ger Retter und Befreier, Wie nenn’ ich das? Welch ein entsetzensvoller, Unmenschlicher Frevel war mir zugedacht? Denk’ ich, was ohne euch, vielleicht schon jetzt, Mir widerfuhr – hebt sich mein Haar empor, Und meiner Glieder jegliches erstarrt. Der Graf vom Strahle. Wer seid ihr? Und was wollt’ euch dieser Mann? Kunigunde. O mein erlauchter Herr, wie freu’ ich mich! Die That, die euer Arm vollbracht, ist keiner Unwürdigen geschehen. Kunigunde, Freifrau von Thurneck bin ich, daß ihr’s wißt: Das süße Leben, das ihr mir erhieltet, Wird, ausser mir, mit Dank in Thurneck noch Ein ganz Geschlecht euch von Verwandten lohnen. Der Graf vom Strahle. Ihr seid? – Es ist nicht möglich. Kunigunde Von Thurneck, ihr? Kunigunde. So sagt’ ich! Was erstaunt ihr? Der Graf vom Strahle. Nun denn, bei meinem Eid, es thut mir leid, So kamt ihr aus dem Regen in die Traufe: Denn ich bin Friedrich Wetter Graf vom Strahl. (er steht auf.) [387|388] Kunigunde. Was! Euer Name? – Der Name meines Retters? – Der Graf vom Strahle. Ist Friedrich Strahl, ihr hört’s. Es thut mir leid, Daß ich euch keinen bessern nennen kann. Kunigunde (steht auf.) Ihr Himmlischen! Wie prüft ihr dieses Herz?

283 Das Licht kehrt meinen trüben Augen wieder. – Graf vom Strahl. Was war’s, das so urplötzlich euch ergriff ? Kunigunde. Ach, mein großmüth’ger Retter und Befreier, Wie nenn’ ich das? Welch ein entsetzensvoller, Unmenschlicher Frevel war mir zugedacht? Denk’ ich, ohne euch, vielleicht schon jetzt, Mir widerfuhr hebt sich mein Haar empor, Und meiner Glieder jegliches erstarrt. Graf vom Strahl. Wer seid ihr? Sprecht! Was ist euch widerfahren? Kunigunde. O Seligkeit, euch dies jetzt zu entdecken! Die That, die euer Arm vollbracht, ist keiner Unwürdigen geschehen; Kunigunde, Freifrau von Thurneck, bin ich, daß ihr’s wißt; Das süße Leben, das ihr mir erhieltet, Wird, außer mir, in Thurneck, dankbar noch Ein ganz Geschlecht euch von Verwandten lohnen. Graf vom Strahl. Ihr seid? – Es ist nicht möglich? Kunigunde Von Thurneck? – Kunigunde. Ja, so sagt’ ich! Was erstaunt ihr? Graf vom Strahl (steht auf). Nun denn, bei meinem Eid, es thut mir Leid, So kamt ihr aus dem Regen in die Traufe: Denn ich bin Friedrich Wetter Graf vom Strahl! Kunigunde. Was! Euer Name? – Der Name meines Retters? – Graf vom Strahl. Ist Friedrich Strahl, ihr hört’s. Es thut mir Leid, Daß ich euch keinen bessern nennen kann. Kunigunde (steht auf). Ihr Himmlischen! Wie prüft ihr dieses Herz?

284 (sie legt die Hände schmerzvoll vor das Gesicht.) Gottschalk (heimlich zu Flammberg.) Die Thurneck ist es? Hört’ ich nicht? Ritter Flammberg. Sie ist’s! Es ist die Furie, die wir gesucht. (Pause.) Kunigunde. Es sei. Es soll mir das Gefühl. das hier ln diesem Busen sich entflammt, nicht stören. Ich will nichts denken, fühlen will ich nichts, Als Unschuld, Ehre, Leben, Rettung – Schutz Vor diesem Wolf, der hier am Boden liegt. – Komm her, du lieber, goldner Knabe, du, Der mich befreit, nimm diesen Ring von mir, Es ist jetzt Alles, was ich geben kann: Einst lohn’ ich würdiger, du junger Held, Die That, die mich erlös’te, dir, die muth’ge, Die mich vor Schmach bewahrt, die mich errettet, Die That, die mich zur Seligen gemacht. (der Knabe küßt ihr die Hand; sie wendet sich zum Grafen.) Euch, mein Gebieter – Euer nenn’ ich Alles, Was mein. Was habt ihr über mich beschlossen? In eurer Macht bin ich; was muß geschehn? Muß ich nach eurem Rittersitz euch folgen? Der Graf vom Strahle. Mein Fräulein – es ist nicht eben allzuweit. Wenn ihr ein Pferd besteigt, so könnt ihr bei Der Gräfinn, meiner Mutter, übernachten. Kunigunde. Führt mir das Pferd vor! [388|389] Ritter Flammberg (zu Gottschalk.) Fort, du! Gottschalk (ab.) Der Graf vom Strahle. Ihr vergebt mir. Wenn die Verhältnisse, in welchen wir – Kunigunde. Nichts, nichts! Wenn ihr mich liebt – Ich klagte nicht, Müßt’ ich auch gleich in eure Kerker wandern. Der Graf vom Strahle.

Anhang

Gottschalk (heimlich). Die Thurneck? hört’ ich recht? [547|548] Flammberg (erstaunt). Bei Gott! Sie ist’s! (Pause). Kunigunde. Es sei. Es soll mir das Gefühl. das hier ln diesem Busen sich entflammt, nicht stören. Ich will nichts denken, fühlen will ich nichts, Als Unschuld, Ehre, Leben, Rettung – Schutz Vor diesem Wolf, der hier am Boden liegt. Komm her, du lieber, goldner Knabe, du, Der mich befreit, nimm diesen Ring von mir, Es ist jetzt Alles, was ich geben kann: Einst lohn’ ich würdiger, du junger Held, Die That dir, die mein Band gelös’t, die muthige, Die mich vor Schmach bewahrt, die mich errettet, Die That, die mich zur Seeligen gemacht! (sie wendet sich zum Grafen). Euch, mein Gebieter – Euer nenn’ ich Alles, Was mein ist! Sprecht! Was habt ihr über mich beschlossen? In eurer Macht bin ich; was muß geschehn? Muß ich nach euren Rittersitz euch folgen? Graf vom Strahl (nicht ohne Verlegenheit). Mein Fräulein – es ist nicht eben allzuweit. Wenn ihr ein Pferd besteigt, so könnt ihr bei Der Gräfin, meiner Mutter, übernachten. Kunigunde. Führt mir das Pferd vor!

Graf vom Strahl (nach einer Pause). Ihr vergebt mir. Wenn die Verhältnisse, in welchen wir – Kunigunde. Nichts, Nichts! Ich bitt euch sehr! Beschämt mich nicht! In eure Kerker klaglos würd’ ich wandern. Graf vom Strahl.

285

Anhang

In meine Kerker! Was! Ihr überzeugt euch – Kunigunde (ihn unterbrechend.) Drückt mich mit eurer Großmuth nicht zu Boden. – Ich bitt’ um eure Hand! Der Graf vom Strahle. He, Flammberg! Leuchtet! (er führt die Dame ab; Flammberg mit der Fackel folgt.)

In meinen Kerker! Was! Ihr überzeugt euch – Kunigunde (unterbricht ihn). Drückt mich mit eurer Großmuth nicht zu Boden! – Ich bitt’ um eure Hand! [548|549] Der Graf vom Strahl. He! Fackeln! Leuchtet! (ab). Scene: Schloß Wetterstrahl. Ein Gemach in der Burg.

Neunter Auftritt.

Neunter Auftritt.

Der Burggraf von Freiburg (verwundet am Boden) Georg von Waldstätten (über ihm; zur Seite) Die Köhler.

Kunigunde (in einem halb vollendeten, romantischen Anzuge, tritt auf, und setzt sich vor einer Toilette nieder. Hinter ihr) Rosalie und die alte Brigitte. Rosalie (zu Brigitten). Hier, Mütterchen, setz dich! Der Graf vom Strahl hat sich bei meinem Fräulein anmelden lassen; sie läßt sich nur noch die Haare von mir zurecht legen, und mag gern dein Geschwätz hören. Brigitte (die sich gesetzt). Also ihr seid Fräulein Kunigunde von Thurneck? Kunigunde. Ja Mütterchen; das bin ich. Brigitte. Und nennt euch eine Tochter des Kaisers? Kunigunde. Des Kaisers? Nein; wer sagt dir das? Der jetzt lebende Kaiser ist mir fremd; die Urenkelin eines der vorigen Kaiser bin ich, die in verflossenen Jahrhunderten, auf dem deutschen Thron saßen. Brigitte. O Herr! Es ist nicht möglich? Die Urenkeltochter – Kunigunde. Nun ja! Rosalie. Hab ich es dir nicht gesagt? Brigitte. Nun, bei meiner Treu, so kann ich mich ins Grab legen: der Traum des Grafen vom Strahl ist aus! [549|550] Kunigunde.

Georg von Waldstätten. Nimm hier von diesem Wasser, Max! Wie geht’s dir? Fühlst du ein wenig besser dich? Burggraf von Freiburg (sie richten ihn auf, er trinkt.) Ach, Georg. Der erste Köhler (betrachtet ihn.) Es scheint, er geht, wo alles Fleisch. Der Zweite. Sein Aug’ Ist dunkel, seine Nägel blau, wie Wachs. – Georg von Waldstätten. Sag’ mir, o Max, eh’ deine Seel’ entweichet, Wodurch hat dich dies Weib so schwer gereizt? [389|390] Wodurch hat sie so grimmig dich gereizt, Daß du solch eine That ihr angethan? Burggraf von Freiburg. O Georg! Wenn ich das sagen könnte – Georg von Waldstätten. Sag’ es. Burggraf von Freiburg. Den Athem meiner ganzen Jugend gäb’ ich, Um nur die sieben Worte auszusprechen. Georg von Waldstätten. Du hast jetzt eben dreizehn schon gesagt. – Burggraf von Freiburg. Ist sie hinweg mit ihm?

286 Georg von Waldstätten. Du kanntest ihn? – Es war der Graf vom Strahl, der sie befreit. Burggraf von Freiburg. Ist sie hinweg mit ihm? Georg von Waldstätten. Sie sind hinweg. Er nahm sie mit sich auf sein Schloß zu Strahl. Burggraf von Freiburg (mit einem Seufzer.) O Georg! Georg von Waldstätten. Was denkst du? Burggraf von Freiburg. Morgen liebt er sie, Und übermorgen ist er mit ihr verlobt: Und doch – Georg von Waldstätten. Und doch – Burggraf von Freiburg. Und doch – ihm wäre besser, Wenn er sich einen Erben will erzielen – Georg von Waldstätten. Wenn er sich einen Erben will erzielen? Burggraf von Freiburg. In einem Beinhaus freit’ er eine Braut. [390| 391] Georg von Waldstätten. Du unbegreiflicher Prophet! Was weißt du? Burggraf von Freiburg. Ich will dir sagen, Freund. Ich war einst – Georg von Waldstätten. Nun? Du warst? – Burggraf von Freiburg. Tod starrt mir auf der Zung’, ich kann nicht sprechen. – Geht. fragt – Georg von Waldstätten. Wen? Burggraf von Freiburg. Fragt – Georg von Waldstätten. Nun, sprich! Wen soll ich fragen? Burggraf von Freiburg. Wie heißt die Zofe schon, die um sie ist? Georg von Waldstätten. Rosalie! Burggraf von Freiburg. Fragt Rosalien, die mein’ ich. Und nun laßt mich zufrieden, es ist aus. (er sinkt wieder zurück.) Georg von Waldstätten.

Anhang

Welch ein Traum? Rosalie. Hört nur, hört! Es ist die wunderlichste Geschichte von der Welt! – – Aber sei bündig, Mütterchen, und spare den Eingang; denn die Zeit, wie ich dir schon gesagt, ist kurz. Brigitte. Der Graf war gegen das Ende des vorletzten Jahres, nach einer seltsamen Schwermuth, von welcher kein Mensch die Ursache ergründen konnte, erkrankt; matt lag er da, mit glutrothem Antlitz und phantasirte; die Ärzte, die ihre Mittel erschöpft hatten, sprachen, er sei nicht zu retten. Alles, was in seinem Herzen verschlossen war, lag nun, im Wahnsin des Fiebers, auf seiner Zunge: er scheide gern, sprach er, von hinnen; das Mädchen, das fähig wäre, ihn zu lieben, sei nicht vorhanden; Leben aber ohne Liebe sei Tod; die Welt nannt’, er ein Grab, und das Grab eine Wiege, und meinte, er würde nun erst gebohren werden. – Drei hintereinander folgende Nächte, während welcher seine Mutter nicht von seinem Bette wich, erzählte er ihr, ihm sei ein Engel erschienen und habe ihm zugerufen: Vertraue, vertraue, vertraue! Auf der Gräfin Frage: ob sein Herz sich, durch diesen Zuruf des Himmlischen, nicht gestärkt fühle? antwortete er: Gestärkt? Nein! – und mit einem Seufzer setzte er hinzu: »doch! doch, Mutter! Wenn ich sie werde gesehen haben!« – Die Gräfin fragt: und wirst du sie sehen? »Gewiß!« antwortet er. Wann? fragt sie. Wo? – In der Sylvesternacht, wenn das neue Jahr eintritt; da wird er mich zu ihr führen. Wer? fragt sie, Lieber; zu wem? Der Engel, spricht er, zu meinem Mädchen – wendet sich und schläft ein. Kunigunde. Geschwätz! Rosalie. Hört sie nur weiter. – Nun? Brigitte. Drauf in der Sylvesternacht, in dem Augenblick, da eben das Jahr wechselt, hebt er sich halb vom Lager empor, starrt, als ob er eine Erscheinung hätte, ins Zimmer hinein, und, indem er mit der Hand zeigt: »Mutter! Mutter! Mutter!« spricht er. [550|

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Kommt, laßt uns ihn in jene Hütte tragen. (sie heben ihn auf und tragen ihn fort.) Scene: Schloß Wetterstrahl. Ein Gemach in der Burg. Zehnter Auftritt. Fräulein Kunigunde von Thurneck (am Putztisch, beschäfftigt, die letzte Hand an ihren Anzug zu legen. Hinter ihr) Rosalie. Kunigunde. Mich dünkt, Rosalie, diese Locken sind Zu zierlich hier. Was meinst du? Es ist nicht [391|392] Mein Wille, was die Kunst kann, zu erschöpfen. Vielmehr, wo die Bedeutung minder ist, Mögt’ ich dich gern nachläßiger, damit Das Ganze so vollendeter erschiene. Sieh, diesen Stein, der diesen Busch von Federn Zusammenhält: gewiß! er steht mir gut; Er wirft den Glanz, den funkelnden, auf mich; Doch streu’ ich diese Haare über ihn, So scheint es mehr, er nimmt den Glanz von mir: Ihn selber, freilich, sieht man weniger, Doch das Gemüth, das ihn verbarg, so mehr. Rosalie. Gewiß! In manchem Sinne habt ihr Recht. Da kömmt er, denkt man, übers Meer und bietet Mit seinem Strahl sich an, und ihr verschmäht ihn: Ihr werft ihn hin, wo man ihn kaum erblickt. Das aber wußt’ ich nicht, daß es euch mehr Um das Gemüth zu thun ist, als die Stirn, Auf die ihr mir befahlt, ihn aufzustecken. Kunigunde. Da hast du dich geirrt, Rosalie. Die Kunst, die du an meinem Putztisch übst, Ist mehr, als blos ein sinnereizendes

287 551] Was giebt’s? fragt sie. »Dort! Dort!« Wo? »Geschwind!« spricht er – Was? – »Den Helm! Den Harnisch! Das Schwerdt!« – Wo willst du hin? fragt die Mutter. »Zu ihr,« spricht er; »zu ihr! So! so! so!« und sinkt zurück; »Ade, Mutter Ade!« streckt alle Glieder von sich, und liegt wie todt. Kunigunde. Todt? Rosalie. Todt, ja! Kunigunde. Sie meint, einem Todten gleich. Rosalie. Sie sagt, todt! Stört sie nicht. – Nun? Brigitte. Wir horchten an seiner Brust: es war so still darin, wie in einer leeren Kammer. Eine Feder ward ihm vorgehalten, seinen Athem zu prüfen: sie rührte sich nicht. Der Arzt meinte in der That, sein Geist habe ihn verlassen; rief ihm ängstlich seinen Namen ins Ohr; reizt’ ihn, um ihn zu erwecken, mit Gerüchen; reizt’ ihn mit Stiften und Nadeln, riß ihm ein Haar aus, daß sich das Blut zeigte; vergebens: er bewegte kein Glied und lag, wie todt. Kunigunde. Nun? Darauf ? Brigitte. Darauf, nachdem er einen Zeitraum so gelegen, fährt er auf, kehrt sich, mit dem Ausdruck der Betrübniß, der Wand zu, und spricht: »Ach! Nun bringen sie die Lichter! Nun ist sie mir wieder verschwunden!« – gleichsam, als ob er durch den Glanz derselben verscheucht würde. – Und da die Gräfin sich über ihn neigt und ihn an ihre Brust hebt und spricht: Mein Friedrich! Wo warst du? »Bei ihr,« versetzt er, mit freudiger Stimme; »bei ihr, die mich liebt! bei der Braut, die mir der Himmel bestimmt hat! Geh, Mutter geh, und laß nun in allen Kirchen für mich beten: denn nun wünsch’ ich zu leben.« Kunigunde. Und bessert sich wirklich? Rosalie. Das eben ist das Wunder. [551|552] Brigitte. Bessert sich, mein Fräulein, bessert sich, in der That; erholt sich, von Stund’ an,

288 Verbinden von Gestalten und von Farben. Das unsichtbare Ding, das Seele heißt, Mögt’ ich an Allem gern erscheinen machen, Dem Todten selbst, das mir verbunden ist. Nichts schätz ich so gering an mir, daß es Entblößt von jeglicher Bedeutung wäre. Ein Band, das niederhängt, der Schleif ’ entrissen, Ein Strauß, – was du nur irgend willst, ein Schmuck, Ein Kleid, das aufgeschürzt ist, oder nicht, Sind Züg’ an mir, die reden, die versammelt Das Bild von einem innern Zustand geben. Hier diese Feder, sieh, die du mir stolz Hast aufgepflanzt, die andern überragend: Du wirst nicht leugnen, daß sie etwas sagt. Zu meinem Zweck heut beug’ ich sie danieder: [392|393] Sie sagt nun, dünkt mich, ganz was Anderes. Wenn mich der junge Rheingraf heut besuchte, So lobt’ ich, daß du mir die Stirn befreit; Doch weil’s Graf Wetter ist, den ich erwarte, So laß ich diesen Schleier niederfallen; Nun erst, nun drück’ ich aus, was ich empfinde, Und lehr’ ihn so empfinden, wie er soll. (sie steht auf) Wer naht! Rosalie. Wo? Kunigunde. Draußen von der Gallerie. Rosalie. Es ist – Kunigunde. Horch! – Rasch die Sachen weg, Rosalie. Rosalie. Was träumt ihr? Es ist niemand. Kunigunde. Niemand? Rosalie. Niemand. Der Windzug war’s, der mit der Wetterfahne Geklirrt. Kunigunde. Mich dünkt’, es war sein Fußtritt. – Nun, nimm die Sachen weg, Rosalie. Rosalie. Fürwahr! Sieht man in dieser Fassung euch,

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gewinnt, wie durch himmlischen Balsam geheilt, seine Kräfte wieder, und ehe der Mond sich erneut, ist er so gesund wie zuvor. Kunigunde. Und erzählte? – Was erzählte er nun? Brigitte. Ach, und erzählte, und fand kein Ende zu erzählen: wie der Engel ihn, bei der Hand, durch die Nacht geleitet; wie er sanft des Mädchens Schlafkämmerlein eröffnet, und alle Wände mit seinem Glanz erleuchtend, zu ihr eingetreten sei; wie es dagelegen, das holde Kind, mit nichts, als dem Hemdchen angethan, und die Augen bei seinem Anblick groß aufgemacht, und gerufen habe, mit einer Stimme, die das Erstaunen beklemmt: »Mariane!« welches jemand gewesen sein müsse, der in der Nebenkammer geschlafen; wie sie darauf, vom Purpur der Freude über und über schimmernd, aus dem Bette gestiegen, und sich auf Knieen vor ihm niedergelassen, das Haupt gesenkt, und: mein hoher Herr! gelispelt; wie der Engel ihm darauf, daß es eine Kaisertochter sei, gesagt, und ihm ein Maal gezeigt, das dem Kindlein röthlich auf dem Nacken verzeichnet war, – wie er von unendlichem Entzücken durchbebt, sie eben beim Kinn gefaßt, um ihr ins Antlitz zu schauen: und wie die unselige Magd nun, die Mariane, mit Licht gekommen, und die ganze Erscheinung bei ihrem Eintritt wieder verschwunden sei. Kunigunde. Und nun meinst du, diese Kaisertochter sei ich? Brigitte. Wer sonst? Rosalie. Das sag’ ich auch. Brigitte. Die ganze Strahlburg, bei eurem Einzug, als sie erfuhr, wer ihr seid, schlug die Hände über den Kopfzusammen und rief: sie ist’s! [552|553] Rosalie. Es fehlte nichts, als daß die Glocken ihre Zungen gelös’t, und gerufen hätten: ja, ja, ja! Kunigunde (steht auf).

289

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Meint man – ich wag’ noch nicht zu sagen, was? Kunigunde. Laß das. Davon ein Andermal. – (sie tritt wieder vor den Spiegel.) Ach, Freundinn! Wie vielen Dank bin ich dem Zufall schuldig, Der dich auf dieses Schloß hierher geführt. Von allen Wünschen, sieh, die mich durch diese [393|394] Verhängnißvolle Nacht begleiteten, War dies der größeste – und er ist mir erfüllt. Rosalie. Ihr nennt es Zufall! – Meine Iris war’s, Ich hab’s euch schon gesagt, sie selbst leibhaftig, Die Königinn der klugen Kammerzofen. Als euch der Burggraf mir entrissen hatte, Und ich, umirrend in der Finsterniß, Nicht weiß, wie ich den Fußtritt wenden soll, Zeigt gegenüber, matt verzeichnet, sich Ein zarter Mondscheins-Regenbogen mir. Ich kann nicht sagen, wie mich dies erfreute. Durch seine Pfort ermuntert geh’ ich durch, Und steh’, am Morgen, vor dem Schloß zum Strahle. Kunigunde. Ich will ihr einen Götter-Tempel baun. – Ach, Theuerste! Kannst du mir sagen, was Aus diesem Wüthrich mag geworden sein? Wir ließen bei den Köhlern ihn zurück. Lebt er? – Sag’ an. Rosalie. Wenn Wünsche tödten könnten, So sagt’ ich: nein. – Ich weiß es nicht, mein Fräulein. Kunigunde. Geh, und erkund’ge dich danach. – Die Ruhe Ist meinem Busen fremd, bis ich es weiß. Rosalie. Der alte Knecht, der eben noch im Hofe Den Vorfall meldete, versicherte, Er würde nimmer wieder auferstehn. Kunigunde. Kannst du mir sagen: er ist todt, Rosalie: Die Lippen sind auf ewig ihm geschlossen – Jedwedes Wort der Botschaft will ich dir

Ich danke dir, Mütterchen, für deine Erzählung. Inzwischen nimm diese Ohrringe zum Andenken, und entferne dich. (Brigitte ab).

Zehnter Auftritt. Kunigunde und Rosalie.

290 Mit einer Perle, wie ein König, lohnen. – (indem sie zum Fenster geht und es öffnet.) Hast du mir Alles dort zurecht gelegt? Urkunden? Briefe? Zeugnisse? [394|395] Rosalie (bei dem Putztisch.) Hier sind sie. In diesem Einschlag liegen sie beisammen. Kunigunde (nimmt eine Ruthe von draußen herein und betrachtet sie.) Gieb mir doch – Rosalie. Was, mein Fräulein? Kunigunde. (lebhaft). Schau, o Mädchen! Ist dies die Spur von einem Fittig nicht? Rosalie (indem sie zu ihr geht.) Was habt ihr da? Kunigunde. Leimruthen, die, ich weiß Nicht wer? an diesem Fenster aufgestellt! Sieh, hat hier nicht ein Fittig schon gestreift? Rosalie. Gewiß! Da ist die Spur. Was war’s? Ein Zeisig? Kunigunde. Ein Finkenhähnchen war’s, das ich vergebens Den ganzen Morgen schon herangelockt. Rosalie. Seht nur dies Federchen. Das ließ er stecken! Kunigunde (gedankenvoll.) Gieb mir doch – Rosalie. Was, mein Fräulein? Die Papiere? Kunigunde (lacht und schlägt sie.) Schelminn! – Die Hirse will ich, die dort steht. Rosalie (lacht und geht und holt die Hirse.) [395|396]

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Kunigunde (nachdem sie sich im Spiegel betrachtet, geht gedankenlos ans Fenster und öffnet es. – Pause). Hast du mir alles dort zurecht gelegt, Was ich dem Grafen zugedacht, Rosalie? Urkunden, Briefe, Zeugnisse? Rosalie (am Tisch zurück geblieben). Hier sind sie. In diesem Einschlag liegen sie beisammen. Kunigunde. Gieb mir doch – (sie nimmt eine Leimruthe, die draußen befestigt ist, herein). Rosalie. Was, mein Fräulein? Kunigunde. (lebhaft). Schau, o Mädchen! Ist dies die Spur von einem Fittig nicht? Rosalie (indem sie zu ihr geht). Was habt ihr da? Kunigunde. Leimruthen, die, ich weiß Nicht wer? an diesem Fenster aufgestellt! – Sieh, hat hier nicht ein Fittig schon gestreift? Rosalie. Gewiß! Da ist die Spur. Was war’s? Ein Zeisig? [553|554] Kunigunde. Ein Finkenhähnchen war’s, das ich vergebens Den ganzen Morgen schon herangelockt. Rosalie. Seht nur dies Federchen. Das ließ er stecken! Kunigunde (gedankenvoll). Gieb mir doch – Rosalie. Was, mein Fräulein? Die Papiere? Kunigunde (lacht und schlägt sie). Schelmin! – Die Hirse will ich, die dort steht. Rosalie (lacht und geht und holt die Hirse).

Eilfter Auftritt.

Eilfter Auftritt.

Ein Bedienter (tritt auf.) Die Vorigen.

Ein Bedienter (tritt auf). Die Vorigen.

Der Bediente.

Der Bediente.

291

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Graf Wetter und die Gräfinn, seine Mutter, Wenn ihr erlaubt, mein Fräulein. Kunigunde (wirft Alles aus der Hand.) Fort jetzt, Rosalie! – (zu dem Bedienten.) Ich bin bereit, die Würd’gen zu empfangen. Rosalie und der Bediente (ab.)

Graf Wetter vom Strahl, und die Gräfin seine Mutter! Kunigunde (wirft Alles aus der Hand). Rasch! Mit den Sachen weg. Rosalie. Gleich, gleich! (sie macht die Toilette zu und geht ab). Kunigunde. Sie werden mir willkommen sein.

Zwölfter Auftritt.

Zwölfter Auftritt.

Der Graf vom Strahle, Gräfinn Helena, (treten auf.) Fräulein Kunigunde von Thurneck. Kunigunde (geht der Gräfinn verbindlich entgegen). Verehrungswürd’ge! Meines Retters Mutter! Wem dank’ ich, welchem Umstand’, das Vergnügen, Daß ihr mir euer Antlitz schenkt, daß ihr Vergönnt, die theuren Hände euch zu küssen? (sie küßt ihr die Hand.) Gräfinn Helena. Mein Fräulein! Ihr demüthigt mich. Ich kam, Um eure Stirn zu küssen, und zu fragen, Wie ihr in meinem Hause euch befindet? (sie küßt ihr die Stirn.) Kunigunde (küßt ihr die Hand noch einmal.) Recht gut. Ich fand hier Alles, was ich brauchte. Ich hatte nichts von eurer Huld verdient, Und ihr besorgtet mich, gleich einer Tochter. Wenn irgend etwas mir die Ruhe störte, So war es dies beschämende Gefühl; Doch ich bedurfte nur den Augenblick, Um diesen Streit in meiner Brust zu lösen. [396|397] (sie wendet sich zum Grafen.) Wie steht’s mit eurer linken Hand, Graf Friedrich? Der Graf vom Strahle. Mein Fräulein! Daß ihr danach fragt, vergebt mir, Ist mir empfindlicher, als ihre Wunde.

Gräfin Helena, der Graf vom Strahl (treten auf). Fräulein Kunigunde. Kunigunde (ihnen entgegen). Verehrungswürd’ge! Meines Retters Mutter, Wem dank’ ich, welchem Umstand’, das Vergnügen, Daß ihr mir euer Antlitz schenkt, daß ihr Vergönnt, die theuren Hände euch zu küssen? Gräfin. Mein Fräulein, ihr demüthigt mich. Ich kam, [554|555] Um eure Stirn zu küssen, und zu fragen, Wie ihr in meinem Hause euch befindet? Kunigunde. Sehr wohl. Ich fand hier Alles, was ich brauchte. Ich hatte nichts von eurer Huld verdient, Und ihr besorgtet mich, gleich einer Tochter. Wenn irgend etwas mir die Ruhe störte So war es dies beschämende Gefühl; Doch ich bedurfte nur den Augenblick, Um diesen Streit in meiner Brust zu lösen. (Sie wendet sich zum Grafen). Wie steht’s mit eurer linken Hand, Graf Friedrich? Der Graf vom Strahl. Mit meiner Hand? mein Fräulein! Diese Frage, Ist mir empfindlicher als ihre Wunde!

292 Ich glaub’, der Sattel war’s, an dem ich mich Geschicklos stieß, da ich vom Pferd’ euch hob. Gräfinn Helena. Ward sie verletzt? Kunigunde. Es fand sich, als wir hier Dies Schloß erreichten, daß sie blutete. Der Graf vom Strahle. Die Hand selbst, seht ihr, hat es schon vergessen. Wenn es der Burggraf war, dem ich im Kampf Dies Blut gezahlt, so kann ich wirklich sagen, Schlecht war der Preis, um den er euch verkauft. Kunigunde. Ihr denkt von seinem Werthe so – nicht ich. (indem sie sich zur Mutter wendet). – Doch wie? Wollt ihr euch, Gnädigste, nicht setzen? (sie holt einen Stuhl; der Graf bringt die andern. Sie lassen sich sämmtlich nieder.) Gräfinn Helena. Wie denkt ihr, über eure Zukunft, Fräulein? – Habt ihr die Lag’, in die das Schicksal euch Versetzt, bereits erwogen? Wißt ihr schon, Wie euer Herz darin sich fassen wird? Kunigunde (bewegt.) Verehrungswürdige und gnäd’ge Gräfinn, Die Tage, die mir zugemessen, denk’ ich In Preis und Dank, in immer glühender Erinnerung dess, was jüngst für mich geschehen, In unauslöschlicher Verehrung eurer, Und eures Hauses, bis auf den letzten Odem, Der meine Brust entschlüpft, wenn’s mir vergönnt ist, In Thurneck, bei den Meinen, hinzubringen. (sie weint.) [397|398] Gräfinn Helena. – Wann denkt ihr zu den Euren aufzubrechen?

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Der Sattel wars, sonst nichts, an dem ich mich Unachtsam stieß, euch hier vom Pferde hebend. Gräfin. Ward sie verwundet? – Davon weiß ich nichts. Kunigunde. Es fand sich, als wir dieses Schloß erreichten, Daß ihr, in hellen topfen, Blut entfloß. Graf vom Strahl. Die Hand selbst, seht ihr, hat es schon vergessen. Wenn’s Freiburg war, dem ich im Kampf um euch, Dies Blut gezahlt, so kann ich wirklich sagen: Schlecht war der Preis, um den er euch verkauft. Kunigunde. Ihr denkt von seinem Werthe so – nicht ich. (indem sie sich zur Mutter wendet). – Doch wie? Wollt ihr euch, Gnädigste, nicht setzen? (sie holt einen Stuhl, der Graf bringt die andern. Sie lassen sich sämmtlich nieder). Gräfin. Wie denkt ihr, über eure Zukunft, Fräulein? Habt ihr die Lag’, in die das Schicksal euch Versetzt, bereits erwogen? Wißt ihr schon, Wie euer Herz darin sich fassen wird? [555| 556] Kunigunde (bewegt). Verehrungswürdige und gnäd’ge Gräfin. Die Tage, die mir zugemessen, denk ich In Preis und Dank, in immer glühender Erinnerung dess, was jüngst für mich geschehn, In unauslöschlicher Verehrung eurer, Und eures Hauses, bis auf den letzten Odem, Der meine Brust bewegt, wenn’s mir vergönnt ist, In Thurneck bei den Meinen hinzubringen. (sie weint). Gräfin. Wann denkt ihr zu den Euren aufzubrechen?

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Kunigunde (mit unterbrochener Stimme.) Ich wünsche – weil die Guten mich erwarten, – Wenn’s sein kann, morgen – oder mindestens – In diesen Tagen, abgeführt zu werden. Gräfinn Helena. Bedenkt ihr auch, was dem entgegensteht! Kunigunde. Nichts mehr, Ehrwürdigste, wenn ihr mir nur Erlaubt, mich offen vor euch zu erklären. (sie küßt ihr die Hand; steht auf, holt die Papiere, und tritt damit vor dem Grafen vom Strahle.) Nehmt dies von meiner Hand, Herr Graf vom Strahl. Der Graf vom Strahle (steht auf.) Mein Fräulein! – Kann ich wissen– was es ist? Kunigunde. Die Documente sind’s, den Streit betreffend, Um eure Herrschaft Stauffen, die Papiere, Auf die ich meinen Anspruch gründete. Der Graf vom Strahle. Mein Fräulein, ihr beschämt mich, in der That. Wenn hier dies Heft, wie ihr zu glauben scheint, Ein Recht begründet: weichen will ich euch, Und wenn es meine letzte Hütte gälte! Kunigunde. Nehmt, nehmt, Herr Graf vom Strahl! Die Briefe sind Zweideutig, seh’ ich ein, der Wiederkauf, Zu dem sie mich berechtigen, verjährt: Doch wär’ mein Recht so klar auch, wie die Sonne, Nicht gegen euch mehr kann ich’s geltend machen. Der Graf vom Strahle. Niemals, mein Fräulein, niemals, in der That! Mit Freuden nehm’ ich, wollt ihr mir ihn schenken, Von euch den Frieden an; doch wenn auch nur Der Zweifel eines Rechts auf Stauffen euer, Das Document hier nicht, das ihn euch belegt! Bringt eure Sache vor bei Kaiser und Reich,

293 Kunigunde. Ich wünsche – weil die Tanten mich erwarten, – Wenn’s sein kann, morgen, – oder mindestens – In diesen Tagen, abgeführt zu werden. Gräfin. Bedenkt ihr auch, was dem entgegen steht! Kunigunde. Nichts mehr, erlauchte Frau, wenn ihr mir nur Vergönnt, mich offen vor euch zu erklären. (sie küßt ihr die Hand; steht auf und holt die Papiere). Nehmt dies von meiner Hand, Herr Graf vom Strahl. Der Graf vom Strahl (steht auf). Mein Fräulein! Kann ich wissen, was es ist? Kunigunde. Die Documente sind’s, den Streit betreffend, Um eure Herrschaft Stauffen, die Papiere Auf die ich meinen Anspruch gründete. Graf vom Strahl. Mein Fräulein, ihr beschämt mich, in der That! Wenn dieses Heft, wie ihr zu glauben scheint, Ein Recht begründet: weichen will ich euch, Und wenn es meine letzte Hütte gälte! Kunigunde. Nehmt, nehmt, Herr Graf vom Strahl! Die Briefe sind Zu dem sie mich berechtigen, verjährt; [556|557] Doch wär’ mein Recht so klar auch, wie die Sonne, Nicht gegen euch mehr kann ich’s geltend machen. Graf vom Strahl. Niemals, mein Fräulein, niemals, in der That! Mit Freuden nehm ich, wollt ihr mir ihn schenken, Von euch den Frieden an; doch, wenn auch nur Der Zweifel eines Rechts auf Stauffen euer, Das Document nicht, das ihn euch belegt! Bringt eure Sache vor, bei Kaiser und bei

294 Und das Gesetz entscheide, was sie werth sei. [398|399] Kunigunde (zur Gräfinn.) Befreit denn ihr, verehrungswürd’ge Gräfin, Von diesen leid’gen Documenten mich, Die mir in Händen brennen, widerwärtig Zu dem Gefühl, das mir erregt ist, stimmen, Und mir auf Gottes weiter Welt zu nichts mehr, Lebt ich auch Sarahs Alter, helfen können. Gräfinn Helena (steht gleichfalls auf.) Mein theures Fräulein! Eure Dankbarkeit Führt euch zu weit. Ihr könnt, was eurer ganzen Familie angehört, in einer flüchtigen Bewegung nicht, die euch ergriff, veräussern. Nehmt meines Sohnes Vorschlag an, und laßt In Wetzlar die Papiere untersuchen; Versichert euch, ihr werdet werth uns bleiben, Man mag auch dort entscheiden, wie man wolle. Kunigunde (mit Affect.) Der Anspruch war mein Eigenthum, Frau Gräfinn! Ich brauche keinen Vetter zu befragen, Und meinem Sohn vererb’ ich mein Gefühl. Wie man in Wetzlar spricht, gilt mir gleichviel, Hier diese, sag’ ich, entscheidet so. (sie zerreißt das Document und Iäßt es fallen.) Gräfinn Helena. Mein liebes, junges, unbesonnenes Kind, Was habt ihr da gethan? – – Kommt her, Weil’s doch geschehen ist, daß ich euch küsse. (sie umarmt sie.) Kunigunde (indem sie noch an dem Busen der Gräfinn liegt, und sich die Augen wischt.) Ich will, daß dem Gefühl, das mir entflammt, Im Busen ist, nichts fürder widerspreche! Ich will, die Scheidewand soll niedersinken, Die zwischen mir und meinem Retter steht! Ich will mein ganzes Leben ungestört,

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Reich, Und das Gesetz entscheide, wer sich irrte. Kunigunde (zur Gräfin). Befreit denn ihr, verehrungswürd’ge Gräfin, Von diesen leid’gen Documenten mich, Die mir in Händen brennen, widerwärtig Zu dem Gefühl, das mir erregt ist, stimmen, Und mir auf Gottes weiter Welt zu nichts mehr, Lebt’ ich auch neunzig Jahre, helfen können. Gräfin (steht gleichfalls auf). Mein theures Fräulein! Eure Dankbarkeit Führt euch zu weit. Ihr könnt, was eurer ganzen Familie angehört, in einer flüchtigen Bewegung nicht, die euch ergriff veräußern. Nehmt meines Sohnes Vorschlag an und laßt In Wetzlar die Papiere untersuchen; Versichert euch, ihr werdet werth uns bleiben, Man mag auch dort entscheiden, wie man wolle. Kunigunde (mit Affect). Nun denn, der Anspruch war mein Eigenthum! Ich brauche keinen Vetter zu befragen, Und meinem Sohn vererb’ ich einst mein Herz! Die Herrn in Wetzlar mag ich nicht bemühn: Hier diese rasche Brust entscheidet so! (sie zerreißt die Papiere und Iäßt sie fallen). Gräfin. Mein liebes, junges, unbesonnes Kind, Was habt ihr da gethan? – – Kommt her, Weil’s doch geschehen ist, daß ich euch küsse. (sie umarmt sie). [557|558] Kunigunde. Ich will daß dem Gefühl, das mir entflammt, Im Busen ist, nichts fürder widerspreche! Ich will, die Scheidewand soll niedersinken, Die zwischen mir und meinem Retter steht! Ich will mein ganzes Leben ungestört,

295

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Verbringen, ihn zu preisen, ihn zu lieben. Gräfinn Helena (gerührt.) Gut, gut, mein Töchterchen. Es ist schon gut. – Ihr seid zu sehr erschüttert. [399|400] Der Graf vom Strahle. – Ich will wünschen, Daß diese That euch nie gereuen möge. Gräfinn Helena. Kommt! Sammelt euch. – Wollt ihr euch niederlassen? Begehrt ihr an die freie Luft hinaus? Kunigunde. Laßt, laßt! S’ ist schon vorüber. (sie faßt sich und trocknet sich die Augen.) Wann wird es mir Erlaubt sein, nach Thurneck aufzubrechen? Gräfinn Helena. Wann ihr es wünscht. Mein Sohn wird euch begleiten. Ihr habt blos, ihm die Stunde zu bestimmen. Kunigunde. So sei’s – auf morgen denn! Gräfinn Helena. Was! Morgen schon! Wollt ihr nicht ein Paar Tag’, mein liebes Kind, Bei uns verweilen? Wir wollen Boten schicken, Die eure würd’gen Vettern heim beruhigen. Kunigunde. Ich sehne mich an ihre Brust zurücke. Wenn’s mir vergönnt ist – Gräfinn Helena. Gut, gut. Wie ihr wollt. So mögt ihr, mit der Morgendämmerung, reisen. Kunigunde. Erlaubt, daß ich, auf einen Augenblick Mich jetzt – Gräfinn Helena. – Geht, geht! Wir werden euch zu Tisch doch sehn? Kunigunde (mit einer Verbeugung.) Ich hoff ’s. Sobald mein Herz sich sammelte, Hab’ ich das Glück, euch wieder aufzuwarten. (ab; die Gräfinn giebt ihr die Hand und begleitet sie bis an ihr Zimmer.) [400|401]

Durchathmen, ihn zu preisen, ihn zu lieben. Gräfin (gerührt). Gut, gut, mein Töchterchen. Es ist schon gut, Ihr seid zu sehr erschüttert. Der Graf vom Strahl. – Ich will wünschen, Daß diese That euch nie gereuen möge. (Pause).

Kunigunde. (trocknet sich die Augen). Wann darf ich nun nach Thurneck wiederkehren? Gräfin. Geich! Wann ihr wollt! Mein Sohn selbst wird euch führen! Kunigunde. So sei’s – auf morgen denn!

Gräfin. Gut! Ihr begehrt es. Obschon ich gern euch länger bei mir sähe. – Doch heut bei Tisch noch macht ihr uns die Freude?

Kunigunde (verneigt sich). Wenn ich mein Herz kann sammeln, wart’ ich auf. (ab).

296

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Dreizehnter Auftritt.

Dreizehnter Auftritt.

Der Graf vom Strahle. Gräfinn Helena.

Gräfin Helena. Der Graf vom Strahl.

Der Graf vom Strahle. So wahr, als ich ein Mann bin, die begehr’ ich Zur Frau! Gräfinn Helena. Nun, nun, nun, nun! Der Graf vom Strahle. Was! Nicht? Du willst, daß ich mir eine wählen soll; Doch die nicht? Diese nicht? Die nicht? Gräfinn Helena. Was willst du? Ich sagte nicht, daß sie mir ganz mißfällt. Der Graf vom Strahle. Ich will auch nicht, daß heut’ Vermählung sei.

Der Graf vom Strahl. So wahr, als ich ein Mann bin, die begehr ich Zur Frau! Gräfin. Nun, nun, nun, nun! Graf vom Strahl. Was! Nicht? [558|559] Du willst, daß ich mir Eine wählen soll; Doch die nicht? Diese nicht? Die nicht? Gräfin. Was willst du? Ich sagte nicht, daß sie mir ganz mißfällt. Graf vom Strahl. Ich will auch nicht, daß heut noch Hochzeit sei: – Sie ist vom Stamm der alten sächs’schen Kaiser. Gräfin. Und der Sylvesternachttraum spricht für sie? Nicht? Meinst du nicht? Graf vom Strahl. Was soll ich’s bergen: ja! Gräfin. Lass’ uns die Sach’ ein wenig überlegen. (ab).

Gräfinn Helena. Laß uns die Sach’ ein wenig überlegen. (ab). Der Vorhang fällt.