Heinrich von Kleist - Eine Dichterrenaissance 9783110910674, 9783484350960

The authors of early literary modernism directed their attention at the so-called 'neglected' literary figures

232 119 13MB

German Pages 471 [472] Year 2005

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Table of contents :
Danksagung
Inhaltsverzeichnis
I. Vorüberlegungen
II. Kleist in seiner Zeit. Eine Dichterlaufbahn neben ›Klassik‹ und ›Romantik‹
III. Schattendasein: Kleists Werk im Bewußtsein der Öffentlichkeit bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts
IV. Die zwei Renaissancen des Heinrich von Kleist
V. Die Sprache der Verehrung
VI. Kleist-Kitsch – das Triviale und die Popularität
VII. Ausblick: »kleistisch [...] – was aber wohl nur heißen will: modern.«
VIII. Zu den Funktionen literarhistorischer Gruppenbildungen oder »in wilden Stürmen neugeboren«
IX. Literaturverzeichnis
Personenregister
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Heinrich von Kleist - Eine Dichterrenaissance
 9783110910674, 9783484350960

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STUDIEN UND TEXTE ZUR SOZIALGESCHICHTE DER LITERATUR

Herausgegeben von Wolfgang Frühwald, Georg Jäger, Dieter Langewiesche, Alberto Martino, Rainer Wohlfeil

Band 96

Anett Lütteken

Heinrich von Kleist Eine Dichterrenaissance

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2004

Für meine Eltern und Larissa

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-35096-2

ISSN 0174-4410

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2004 http ://www. niemeyer. de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Laupp & Göbel GmbH, Nehren Einband: Buchbinderei Geiger, Ammerbuch

Danksagung

Die vorliegende Studie wurde im Frühjahr 1998 dem Fachbereich für Philosophie, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Technischen Universität Carolo-Wilhelmina zu Braunschweig unter dem Titel Dichterrenaissancen - Heinrich von Kleist und Georg Büchner als Dissertation vorgelegt. Für die Drucklegung wurde sie noch einmal überarbeitet und um den Abschnitt zu Georg Büchner gekürzt, wobei nach 1998 erschienene Literatur nur noch in Ausnahmefällen berücksichtigt wurde. Mein Dank gilt all denen, die mir zugetraut haben, diesen Weg zu beschreiten und mich dazu ermuntert haben, ihn - manchen Ortswechseln, Hindernissen und Unwägbarkeiten zum Trotz - nicht zu verlassen. Kritisch und geduldig, durch Rat und Tat zur Seite gestanden hat mir insbesondere mein akademischer Lehrer, Herr Prof. Dr. Jürgen Stenzel (Hamburg), dessen unorthodoxe und tolerante Denk- und Lehrweise stets die gedankliche Freiheit anderer auf der Suche nach Wahrheit zugelassen und respektiert hat. Seine Forschungen zur literarischen Wertung bilden den gedanklichen und methodischen Ausgangspunkt für die in dieser Studie behandelten Fragen. Ihm gilt mein ganz besonderer, tief empfundener Dank. Herrn Prof. Dr. Gerhard Schildt (Braunschweig) bin ich für seine Ratschläge und Orientierungshilfen sehr verbunden. Sein wohlwollendes Votum als Vertrauensdozent ermöglichte mir die Aufnahme in die Begabtenförderung der Friedrich-Naumann-Stiftung, Königswinter, die mir mittels ihrer Studien- und Graduiertenstipendien (1987-1991, 1995-1998) das Tor zu jener materiellen Unabhängigkeit geöffnet hat, derer es bedarf, um akademische Ziele konzentriert ansteuern zu können. Herr Prof. Dr. Jost Schillemeit (t), der das Korreferat zu dieser Arbeit erstellte, vermittelte mir wichtige Wegweisungen zu Autoren, Themen und Methoden. Ein mehrmonatiges Marbach-Stipendium aus Mitteln des Landes Baden-Württemberg ermöglichte mir intensive Quellenstudien unter hervorragenden Arbeitsbedingungen am Deutschen Literatur-Archiv in Marbach: dem Direktor, Herrn Prof. Dr. Ulrich Ott, sei dafür herzlich gedankt, zugleich auch seinen Mitarbeitern für jedwede mir zuteil gewordene Hilfestellung. Vielfältige Anregungen sowie langjährige freundliche Förderung gewährten mir: Frau Prof. Dr. Eva J. Engel (Wolfenbüttel), Frau Dr. Sabine Solf (Wolfenbüttel), Frau Dr. Julie Boghardt (Wolfenbüttel), Herr Dr. Dr. hc. Herbert Blume (Braunschweig), Herr Dr. Eberhard Rohse (Göttingen), Herr Wolfgang Böser (Steinhorst), Herr Günter Lange (Göttingen), Herr Prof. Dr. Peter Hasubek (Göttingen), Herr Prof. Dr. HansHenrik Krummacher (Mainz) und Herr Prof. Dr. Rolf Tarot (Bäretswil). Bei der Beschaffung von Quellenmaterialien und abgelegener Literatur halfen mir freundlicherweise die Mitarbeiter der Stadtbibliothek Braunschweig, Frau

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Dr. Eva Horvath (Hamburg), Herr Dr. Jaroslav Buzga (Prag), die Mitarbeiterinnen der Handschriften-Abteilung der Stadtbibliothek München Monacensia sowie der Theaterwissenschaftlichen Sammlung der Universität Köln. Für die Aufnahme in die Reihe Studien und Texte zur Sozialgeschichte der deutschen Literatur danke ich den Herausgebern und insbesondere Herrn Prof. Dr. Norbert Bachleitner (Wien), für die kompetente, allzeit freundliche Betreuung seitens des Niemeyer Verlages Frau Birgitta Zeller-Ebert sowie Frau Susanne Borgards. Frau Dr. Silvia Dethlefs (Münster) nahm die Mühen kritischer Lektüre auf sich, ihr und den Freunden Dr. Gerd Dethlefs (Münster) und Dr. Thomas Weigel (Münster) bin ich für die unermüdliche Bereitschaft zu konstruktiver Diskussion ebenso verbunden wie Andreas Müllers (Stuttgart) und Wolf Dietrich Blatter (Freudental) für Querstände aller Art. Laurenz Lütteken schließlich danke ich von Herzen für die produktive Hartnäckigkeit bei der Begleitung meiner Pläne - und nicht nur dafür.

Küsnacht, im März 2004

VI

A. L.

Inhaltsverzeichnis

Danksagung

V

I.

Vorüberlegungen 1. Was ist eine Dichterrenaissance? 2. Methodisches

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II.

Kleist in seiner Zeit. Eine Dichterlaufbahn neben >Klassik< und >Romantik< 1. Das zeitgenössische Publikum und die Werke Kleists 2. Zum Verhältnis Heinrich von Kleist Johann Wolfgang von Goethe 3. Heinrich von Kleist und Christoph Martin Wieland 4. Kleist und die »Herren der neuern Schule« 5. Irritation als Konstante - Frühe Urteilsschemata über Heinrich von Kleist

III.

IV.

Schattendasein: Kleists Werk im Bewußtsein der Öffentlichkeit bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts 1. Der >romantische< Kleist und der bürgerliche Geschmack: Die Popularität des Käthchen von Heilbronn 2. Der >patriotische< Kleist - Zur Genese der >preußischen< Literaturgeschichte 3. Der vergessene Dramatiker und Erzähler Die zwei Renaissancen des Heinrich von Kleist 1. Der Dichter der Preußen: Die Neubewertung von Leben und Werk im Kontext der deutschen Einigung 1.1. Die Entdeckung des Dichters durch seine Nation: Der politische >Kleist-Mythos< 1.2. Der Mythos und seine Präfiguration. Zum späten Erfolg der Hermannsschlacht 1.3. Notwendige Ausblendungen 2. Der Ahnherr der Avantgarden - Die beginnende Moderne und ihr >Kleist-Mythos< 2.1. Entwürfe zu einem >modernen< Klassiker 2.2. Umdeutungen und Präferenzen

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VII

2.2.1. Der dionysische Kleist - Literaturexegese nach Nietzsche 2.2.2. »Kleists heilige Krankheit« - Pathophile Biographik und Werkinterpretation 2.2.3. Penthesilea - Der Schlüssel zur Moderne 2.3. Wege zur >großen Gemeinde< - Institutionalisierte Formen des Gedenkens

214 230 244 274

V.

Die Sprache der Verehrung

311

VI.

Kleist-Kitsch - das Triviale und die Popularität

333

VII. Ausblick: »kleistisch [...] - was aber wohl nur heißen will: modern.«

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VIII. Zu den Funktionen literarhistorischer Gruppenbildungen oder »in wilden Stürmen neugeboren«

353

IX.

Literaturverzeichnis 1. Werkausgaben 2. Briefe, Tagebucheinträge und ungedruckte Materialien 3. Quellenverzeichnis 3.1. Quellensammlungen 3.2. Gedruckte Quellen in alphabetischer Anordnung 4. Nicht gezeichnete Artikel, Rezensionen etc. in chronologischer Abfolge 5. Sekundärliteratur 5.1. Bibliographien 5.2. Sekundärliteratur in alphabetischer Anordnung

Personenregister

VIII

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I. Vorüberlegungen

1.

Was ist eine Dichterrenaissance? Sei eine Zeitlang verkannt, oder scheine es, das macht Freunde. Stefan Zweig Der Jünger eines Märtyrers leidet mehr, als der Märtyrer. Friedrich Nietzsche

Der interessierte Feuilletonleser unserer Tage erfährt die >Wiederentdeckung< eines Dichters als eine beinahe alltägliche Selbstverständlichkeit. Beschämt ob seiner Unkenntnis liest er, daß dieser oder jener bislang gänzlich verkannte Dichter anläßlich des Jahrestages seiner Geburt oder seines Todes der Vergessenheit entrissen worden sei und nun an den Verkaufstischen der Buchhandlungen auf die ihm gemäße Würdigung warte. Solcherlei umsatzorientierte Entdeckungen betrafen in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Autoren und Autorinnen wie ζ. B. Hans Henny Jahnn, Elizabeth von Arnim, Franz Michael Felder, Eugen Hoeflich und Charles Ferdinand Ramuz. 1 Die Tendenz dazu scheint sich sogar noch zu verstärken, so daß auch enga-

Zu Elizabeth von Arnim vgl. etwa Hörzu 23, 2. Juni 1995: »Eine literarische Wiederentdeckung. Mit der Neuausgabe ihres zauberhaften Reiseromans Elizabeth auf Rügen begann die Wiederentdeckung einer Autorin, die sich - heute wie damals - ihr Publikum mit unkonventionellem Charme erobert.«; vgl. Ulrich Greiner: Die sieben Todsünden des Hans Henny Jahnn. In: Die Zeit, Nr. 46, 11. November 1994, S. 53f.; Peter von Becker: Franzmichels Erdenfahrt: entlang am großen Lebensriß. Zur Wiederentdeckung des außerordentlichen Poeten und poetischen Reformers Franz Michael Felder. In: Süddeutsche Zeitung, 10./11. August 1985, und Ulrike Längle: Felder Franz Michael, Frangois Michel, Ferenc Mihdly etc. (1839-1869). Die Wiederentdeckung eines >außerordentlichen Poeten und politischen ReformersWiederentdeckt< in diesem Sinne wurden in den letzten fünfzehn Jahren ζ. B. Christoph Martin Wieland (vgl. Hansjörg Schelle (Hrsg.): Christoph Martin Wieland. Darmstadt 1981. (Wege der Forschung 421), S. 1; Hugo Dittberner: Über Wielands Auferstehung. In: ders.: Über Wohltäter. Essays und Rezensionen. Zürich 1992, S. 7-22, hier S. 7ff.), Theodor Kramer, Jura Soyfers (zu beiden: Wendelin Schmidt-Dengler: Das langsame Verschwinden des Anton Wildgans aus der Literaturgeschichte. In: ders.: Die einen raus - die anderen rein, S. 71-84, hier S. 82), Annemarie Schwarzenbach, Leo Perutz, Oskar Maria Graf, Georg Hermann, Rahel Levin-Varnhagen und Arnold Zweig.

1

gierte Leser inzwischen Mühe haben, der schnellen Folge von Dichterrenaissancen hinterherzulesen. Da man nicht nur Dichter lukrativ wiederentdecken kann, sondern gleichfalls Komponisten und bildende Künstler - besonders wenn sie weiblich sind - , 2 hat das Phänomen inzwischen epidemische Formen angenommen und verliert durch sein massenhaftes Auftreten zusehends an Anziehungskraft. Eine Renaissance also ist inzwischen ein postum recht wahrscheinlich eintretendes Künstlerschicksal geworden. Unterschiedlich sind allenfalls die zur Rückbesinnung eingesetzten Maßnahmen, wobei das historische Objekt in den seltensten Fällen sine ira et studio betrachtet wird. Während die einen darauf vertrauen, daß Qualität, hilft man ihr ein wenig auf die Sprünge, sich langsam aber stetig von allein durchsetzt, 3 heben andere ihren persönlichen Anteil am späten Ruhm des Künstlers hervor.4 Dritte führen die Wiederentdeckung als Selbstzweck gleichsam gewaltsam herbei, ohne das geringste Interesse für möglicherweise objektivierbare künstlerische Qualitäten an den Tag zu legen. Zu dieser >Methode< bekennt sich Elisabeth v. Gleichenstein in ihrer Studie zur Malerin Marie Ellenrieder: Die neuere feministisch orientierte Kunstgeschichtsschreibung, die sich die Wiederentdeckung von Künstlerinnen zur Aufgabe gemacht hat[!] und auch erstmals Untersuchungen über die vielfach erschwerten Bedingungen für weibliche Kunstschaffende anstellt, bringt Marie Ellenrieder wieder verstärkt ins Gespräch, ohne allerdings eine neue Beurteilung ihrer Kunst vorzunehmen.5

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Später Ruhm wurde ζ. B. Johann David Heinichen, Jan Dismas Zelenka, Clara Schumann, Augusta Holmes, Fanny Mendelssohn, Marie Ellenrieder, Jan Vermeer, Gustav Mahler und Guido Reni zuteil. Vgl. Denis Mahon (in seinem Vorwort zu: Guido Reni und Europa. Ruhm und Nachruhm. Frankfurt; Bologna 1988, S. 13) über den Nachruhm des Barockmalers: »Es wäre noch vor einem halben Jahrhundert kaum möglich gewesen, ein echtes, grundsätzliches Wiederaufleben des kunsthistorischen Interesses an Reni oder der Bologneser Kunst des siebzehnten Jahrhunderts vorherzusehen. [...] Ich befand mich in der glücklichen Lage, am Rande mitwirken zu können, als die ersten beiden wesentlichen Schritte in dem seit fünfzig Jahren andauernden Prozeß der Neubewertung Renis unternommen wurden, mit dem Ziel seiner Rehabilitierung als Maler von europäischem Rang.« So zeigt sich ζ. B. Reinhard Goebel (im Begleittext seiner Aufnahme der Zwölf Concerti Grossi von 1993, S. 19) verwundert darüber, daß keiner vor ihm den sächsischen Hofkomponisten Heinichen >entdeckt< habe: »Erstaunlich ist, daß bei allen Versuchen, die Bach-Zeit transparent zu machen, niemand bislang dem Schaffen Johann David Heinichens mehr als nur eine akustische Fußnote widmete.« Elisabeth von Gleichenstein: Marie Ellenrieder. Zur Rezeption. In: »... und hat als Weib unglaubliches Talent«. (Goethe). Angelika Kauffmann (1741-1807). Marie Ellenrieder (1791-1863). Malerei und Graphik. Konstanz 1992, S. 26-44, hier S. 26; ähnlich gelöst von sachlichen Bezügen: Johanna Rudolph: Händelrenaissance. Eine Studie. Bd. 1. Berlin 1960, S. 7: »Gegenwärtig erlebt das Werk Georg Friedrich Händeis in der Deutschen Demokratischen Republik eine tiefgehende und weitreichende Erneuerung«, weil (S. 14) »die Wahrheit über dieses Werk [...] historisch und ästhetisch klar erfaßbar« ist: »[d]ie Tatsache, daß in Händeis bedeutendsten Werken die Volksmassen als Vollstrecker der Geschichte auftreten, empfiehlt Händel und sein Werk der Parteinahme all derer, die in den Volksmassen die Träger historischen Fortschritts erkennen - und dies als gesetzmäßig für das gesellschaftliche Leben.«

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Doch das im Zeichen postmodemer Beliebigkeit inflationär verwendete Zauberwort >Wiederentdeckung< zeitigt nur noch bedingt die beabsichtigte Wirkung. Ursprünglich ein Begriff, der das zeitweilige Nichtvorhandensein eines literarischen Oeuvres - auf dem Buchmarkt und in den Köpfen der Leser - ebenso wie die Rückbesinnung darauf als eine Art historischer Wiedergutmachung kennzeichnen sollte, hat er kaum mehr Signalwirkung auf das Publikum. Aus der Ausnahme, die einst eine literarische Sensation beschrieb, nämlich die gänzliche Neubewertung von bereits vergessen Geglaubtem, ist der wenig spektakuläre Regelfall geworden. Da es spätestens bei der nächsten Buchmesse eine neue Dichterrenaissance geben wird, da inzwischen prinzipiell jeder Autor, ohne Rücksicht auf dessen literarische Qualitäten, wiederentdeckbar ist, verbleibt angesichts solcher Fülle kaum mehr die Zeit, einzelne Autoren ernsthaft zur Kenntnis zu nehmen. Ja, es bedarf sogar nicht einmal mehr der Rückbesinnung, weil das Vergessensein allein bereits als hinreichendes Kriterium die Aufnahme in Anthologien gewährleistet.6 Ein positiver Aspekt des industrialisierten Erinnerns darf hier jedoch nicht unterschlagen werden, die Unwahrscheinlichkeit nämlich, daß ein wirklich wichtiges literarisches Werk dabei übersehen wird. Die Vielzahl der kompetenten >Literaturarchäologen< läßt nichts unausgegraben, was sich auch nur den geringsten Anschein dauernder Aussagekraft gibt. Und doch ist eine tiefe Skepsis gegenüber der Ernsthaftigkeit des zumeist äußerlichen und schematisierten Gedenkens angebracht. Die Befürchtung nämlich, daß einem Dichter mit einer datumsgebundenen Würdigung auch ein Bärendienst erwiesen werden kann, formulierte Wilhelm Herzog bereits 1910: Wenn ein Dichter hundert Jahre tot ist, dann erinnert sich seiner wohl die dankbare Nachwelt, man setzt ihm Denkmäler, der Magistrat seiner Vaterstadt benennt eine Strasse nach ihm, und die zur Literatur gehörigen Journalisten widmen dem vor hundert Jahren Verstorbenen - gerade zu seinem Geburts- und Todestage - lange und dank dem Konversationslexikon mehr oder weniger richtige Nekrologe. So wird die Bildung des Volkes erweitert, vertieft, so sein Enthusiasmus für alles Grosse, Wahre, Schöne angeregt und gesteigert. Die Herstellung solcher Gedenkartikel oder Nekrologe ist zu einem Industriezweig der deutschen Publizistik geworden, zu einem Geschäft, das seinen Mann ernährt, - und gegen das nichts einzuwenden wäre, würde bei solcher Betriebsamkeit, bei so fabrikmässiger Lieferung nicht immer das Wesentliche entstellt, gefälscht und um seinen Sinn gebracht.7

Aktueller denn je erscheint Herzogs Äußerung angesichts des perfektionierten Marketings im Literaturbetrieb, das durch die starke Fixierung auf Jahrestage Inhalte immer stärker marginalisiert.

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Vgl. Hans J. Schütz: »Ein deutscher Dichter bin ich einst gewesen«: vergessene und verkannte Autoren des 20. Jahrhunderts. München 1988; Hans Heinz Hahnl: Vergessene Literaten. Fünfzig österreichische Lebensschicksale. Wien 1984; aber auch Heinrich Fischer: Die Vergessenen. 100 deutsche Gedichte des 17. und 18. Jahrhunderts. Nürnberg 1947. Vgl. Wilhelm Herzog: Universitätsjubel. In: Pan 1 (1910/11), S. 4-7, hier S. 4; ähnliche Skepsis äußert Hermann Löns im Gedicht Heinrich von Kleist [1890] (in: Minde-Pouet (1927), S. 14).

3

Die einstige und wenigstens nicht vornehmlich kommerzielle Absicht, durch eine Wiederentdeckung einen Dichter im Nachhinein seinem Rang gemäß zu würdigen, sein Werk dem literarischen Kanon8 einer Sprache ergänzend und bereichernd hinzuzufügen, ist ins Hintertreffen geraten. Der Rang eines Dichters ist nur noch bedingt von Interesse, da der >demokratisierte< Kanon jedem, der schreibt, zunächst einmal die Tore öffnet. Naturgemäß konnte im Zeitalter des >anything goes< der eng begrenzte Kanon des neunzehnten Jahrhunderts keinen Bestand haben. Bis zum Beginn der Moderne konstituierte sich dieser in der deutschen Literatur im Kem aus sechs sogenannten >KlassikernGipfel< der deutschen Literatur, auf die die Entwicklung notwendig zulaufen, mit denen sie aber auch enden mußte. Die Aufnahme weiterer Dichter, ζ. B. aus der nach 1770 geborenen Generation, war in diesem historisch abgeschlossenen Kanon nicht vorgesehen.

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Die seit etwa 1880 sich Bahn brechende Moderne fordert jedoch ihren Tribut. Sie artikuliert das Unbehagen an der hergebrachten Überschaubarkeit auf mannigfache Weise, schlägt neue, anders gewichtete Rangordnungen vor, mit einer langfristigen Folge: der Kanon verliert jegliche Zugangsbeschränkung. Aus dem gehegten Garten, in dem die Pflanzen nur plangemäß gedeihen durften, ist heute eine Wildnis geworden, in die niemand mehr Schneisen zu schlagen wagt: alle Dichter sind nun gleich wertvoll, alle Oeuvres gleich erhal tens wert,10 die ordnenden Hände sind aus vielerlei Gründen abhanden gekommen. Dieser wahrscheinlich beklagenswerte Zustand sei hier lediglich am Ausgangspunkt dieser Studie konstatiert. Betrachtet man demgemäß den entgrenzten Kanon des späten zwanzigsten Jahrhunderts als das Endstadium eines Auflösungsprozesses, stellt sich vor allem eine Frage: Was hat dazu geführt, daß aus sechs kanonisierten Dichtern hunderte werden konnten? Diese Frage soll im folgenden zumindest ansatzweise dadurch beantwortet werden, daß anhand eines herausragenden Beispiels ein historischer, aber gleichwohl nachhaltig wirksamer Prototyp der heute so auffällig trivialisierten Dichterrenaissancen rekonstruiert werden soll. Dies geschieht nicht zuletzt, um Kanonentstehung und -auflösung in ihrer Historizität transparent werden zu lassen. Der für diesen Rekonstruktionsversuch gewählte Autor - Heinrich von Kleist - bietet hierfür besonders markante Anknüpfungspunkte: neben Friedrich Hölderlin und Georg Büchner, die gleichfalls als Schlüsselfiguren des sich wandelnden deutschsprachigen Literaturkanons gelten müssen, steht gerade er am Beginn der Auflösungstendenzen eben dieses Kanons, an deren Schlußpunkt wir angelangt scheinen. Im Namen der genannten Dichter wurden seit Beginn der Moderne Alternativen zur hergebrachten Dichterhierarchie mit besonderer Vehemenz durchgefochten, was die an der Weimarer Klassik orientierte Rangordnung immerhin so ins Wanken gebracht hat, daß seither das gesamte Konstrukt literarischer Wertigkeiten stark relativiert worden ist. Schließlich werden gerade im Hinblick auf Dichter wie Kleist, Hölderlin und Büchner die Techniken des oben beschriebenen industrialisierten Gedenkens entwickelt11 oder, zugespitzt formuliert: der moderne Literaturbetrieb lernt aus den Umständen der Wiederentdeckung gerade dieser Autoren erstmals in vollem Umfang die eigenen Möglichkeiten des manipulierenden Eingreifens in literarische Bewertungsmuster kennen. Ein erster, eher phänomenologischer Annäherungsversuch sei dem schillernden Begriff der >Dichterrenaissance< selbst gewidmet.12 Die Erscheinung firmiert unter

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Sogar der Nachruhm läßt sich bereits zu Lebzeiten vom Autor selbst steuern, indem er geeigneten Institutionen seinen literarischen Nachlaß anträgt und so die Entscheidung über den Wert des Werkes selbst in die Hand nimmt. Hierzu zählen Werkeditionen, Würdigungen in Publikationsorganen, Dichterfeiern, Dichterdenkmale, Theaterzyklen, die Gründung von Dichtergesellschaften etc. Vgl. etwa Norbert Jaron; Renate Möhmann; Hedwig Müller: Berlin - Theater der Jahrhundertwende. Bühnengeschichte der Reichshauptstadt im Spiegel der Kritik (1889— 1914). Tübingen 1986, S. 457; Helmut Schanze: Büchners Spätrezeption. Zum Problem des >Modernen Dramas< in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Gestaltungsgeschichte und Gesellschaftsgeschichte. Hrsg. von Helmut Kreuzer. Stuttgart 1970, S. 3 3 8 -

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verschiedenen Namen, denen bei synonymem Gebrauch eine gemeinsame Tendenz zur geheimnisumwobenen Nebulosität nicht abzusprechen ist. Renaissance, Wiederentdeckung, Wiedererweckung, Spätrezeption, verspätete Bewunderung, verspäteter Nachruhm, Neubelebung;13 diesen Begriffen subsumiert man im literaturwissenschaftlichen und feuilletonistischen Sprachgebrauch ein ganzes Bündel implizit mitgedachter Sachverhalte, so daß eine kurze Analyse der Verwendungsgewohnheiten die vielfältigen Konnotationen erschließen helfen mag. Idealtypisch steht die Resonanz 14 auf ein literarisches Werk in einigermaßen direkter Abhängigkeit zu seiner Publikation. Erfolg wie Mißerfolg setzen damit in der Regel zu Lebzeiten eines Autors ein, zu einem Zeitpunkt also, zu dem er sich den Gegebenheiten des literarischen Marktes stellen, sich ihnen anpassen oder sie sogar beeinflussen kann und (meistens auch) will. Die Wirkung eines Autors ist als ein von ihm selbst initiiertes, aber nur in Ausnahmefällen wirklich gesteuertes Kontinuum beschreibbar, das über seinen Tod hinausreicht und dessen Intensität im Lauf der Zeit heftigen Schwankungen unterliegen kann. Dieser vergleichsweise unspektakuläre Werdegang ist die Basis, von der aus die Idee der >Dichterrenaissance< ihren ganz besonderen Reiz entwickeln kann, bezeichnet sie doch die Ausnahme von der Regel: die diskontinuierlich verlaufende Resonanzgeschichte. Schon der von der historischen Epoche abgeleitete Begriff der Renaissance entwickelt dabei eine gewisse Eigendynamik. Der für die frühe Neuzeit postulierte Aufbruch zu neuen Ufern durch die Rückbesinnung auf die Werte und Formen der griechisch-römischen Antike wirkt auch auf die übertragenen Begriffe 15 fort. Der so bezeichnete literarhistorische Vorgang

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351; Friedrich Rothe: Georg Büchners >SpätrezeptionEin Zeichen sind wir deutungslosc die Rezeption Hölderlins von ihren Anfängen bis zu Stefan George. Stuttgart 1992. (Metzler Studienausgabe), S. 14; Franz Roh: Der verkannte Künstler: Studien zur Geschichte und Theorie des kulturellen Mißverstehens. Köln 1993, S. 49; Günter Blamberger: >Nur was nicht aufhört, weh zu thun, bleibt im GedächtnisstoterDer Titel aller Titel!< Betrachtungen zu Wilkie Collins & seiner Frau in Weiß. In: ders., Das essayistische Werk zur angelsächsischen Literatur in 3 Bänden. Sämtliche Nachtprogramme und Aufsätze. Bd. II. Bargfeld 1994, S. 77-102, hier S. 87; vgl. Paul Böckmann: Literarische Renaissancen. In: Akzente. Zeitschrift für Dichtung 9 (1962), S. 86-95. Zu den Begriffen Resonanz, Wirkung, Rezeption vgl. Marianne Wünsch: Art. Wirkung und Rezeption. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Hrsg. von Klaus Kanzog und A. Masser. Berlin; New York 1984. Bd. 4, S. 894-919; vgl. Roh (wie Anm. 12); gegenüber dem traditionelleren Wirkungsbegriff, der sich eher auf den Autor bezieht, werden hier die, die Relevanz des Rezipienten stärker betonenden, Termini >Rezeption< und >Resonanz< bevorzugt. Vgl. Johan Huizinga: Das Problem der Renaissance. Darmstadt 1971, S. 7f., der konstatiert, daß der Begriff >Renaissance< bereits zur Epochenkennzeichnung nur bedingt taugt

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einer wesentlich späteren Zeit erhält auf diese Weise ein wenig vom Gewicht der geschichtlichen Epoche, von ihrem Verdienst, auf Essentielles verwiesen zu haben, und allemal von ihrem Glanz. Der berühmte »Versuch« Jacob Burckhardts - Die Kultur der Renaissance in Italien (1860) - lud offenbar auch die deutschen Literarhistoriker des späteren neunzehnten Jahrhunderts zur Nachfolge ein: 16 Die Thesen zur Entwicklung des Individuums17 im zweiten Abschnitt der Arbeit wirkten nachhaltig; die hier beschriebenen neuzeitlichen Ausprägungen des Dichterruhmes, an deren Beginn Dante steht, ließen sich als gedankliches Modell leicht übertragen. Offenbar empfand man sich als das von Burckhardt gekennzeichnete »Geschlecht von Poeten-Philologen« einer späteren Zeit, die sich des Ruhmes eines Dichters auf zweierlei Weise bemächtigen: »indem sie selber die anerkanntesten Berühmtheiten [...] werden und zugleich als Dichter und Geschichtsschreiber mit Bewußtsein über den Ruhm anderer verfügen.« 18 Dieses mehr oder wenige explizite Bewußtsein, verbunden mit dem Wunsch, Historiograph einer kulturell-geistigen Hoch-Zeit zu sein, läßt die »Poeten-Philologen« des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts den Phänotyp einer Wiederentdeckung entwickeln, bei dem Leben und Dichtung auf ganz besondere Weise zusammenwachsen.19 Dem Autor wird dabei 1. zu Lebzeiten kein oder nur sehr verhalten sich äußernder Ruhm zuteil, häufig jedoch ein früher Tod, dafür 2. aber größtes Interesse der literarischen Öffentlichkeit nach einer postumen Phase völliger Vergessenheit. Geradezu symbiotisch verknüpft ist damit die Vorstellung, daß es 3. so etwas geben müsse, wie unzeitgemäßes Dichten und Dasein. Eine spätere Generation, richtiger: einige Vorreiter,20 nehmen dann das Recht für sich in Anspruch, den verkannten Dichter und sein Werk als Präfiguration der eige-

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und so zur Übertragung eigentlich eher ungeeignet ist; zur Begriffsgeschichte vgl. Delio Cantimori: Zur Geschichte des Begriffes >Renaissancegesund - krankKranken< kaum mehr unvoreingenommen wahrgenommen werden konnte und deswegen allzu oft von vornherein abgelehnt wurde. Einmal in die Welt gebracht, war das Eigenleben eines solchen Stigmas kaum mehr zu begrenzen. Hatte etwa der Kleist gegenüber ausgesprochen wohlwollende Christoph Martin Wieland 1804 festgestellt, daß der junge Mann eine Eigenschaft habe, »die zuweilen an Verrücktheit zu grenzen schien«, - nämlich, »daß er bei Tische sehr häufig etwas zwischen den Zähnen mit sich selbst murmelte« 36 - so diente diese an sich sehr eingeschränkte »Verrücktheit« recht bald schon - und ganz besonders dann nach der Wannseer Selbsttötung - dazu, das rätselhafte Leben Kleists pauschal als das eines Verrückten zu verurteilen. Manches ließ sich so wesentlich leichter erklären: die sperrigen, fremd wirkenden Texte des Dichters, allen voran seine Penthesilea, galten nun als Produkte eines kranken Hirns, die zudem Goethes Skepsis Kleist gegenüber im nachhinein zu bestätigen schienen. Kleists Vita, in diesem Licht betrachtet, geriet zum Indizienbeweis für seinen Wahn. Was sollte eine bürgerliche Leserschaft denn auch sonst von jemandem denken, der freiwillig auf eine sichere Militär-Laufbahn verzichtete, in Würzburg für einige Zeit zu unbekanntem Zweck verschwand, der eine Verlobung löste, um als Landwirt auf der Deloseainsel im Thuner See ein neues, einfaches Leben zu beginnen, der auf einer Reise in der Schweiz einen seelischen Zusammenbruch erlitt und seine Schriften vernichtete, der plante, mit Napoleon England zu besetzen, dessen Verhältnis zu einer verheirateten Frau schließlich in den gemeinsamen Freitod mit ihr mündete? Das früh festgeschriebene Urteil über Kleist, das so oder ähnlich auch über die anderen genannten Dichter gefällt wurde, belegt überdies die nachhaltige Wirksamkeit weitgehend undifferenzierter Wertungen. Eine Deutung, deren Interesse am Autor ein vorwiegend biographisches ist und dabei wiederum fixiert auf das Spektakuläre oder Skandalöse seines Lebenswandels, muß beinahe notwendig an der Oberfläche bleiben. Solchen Schwarz-Weiß-Schemata, die literarischen Bewertungen auffallend häufig zugrundeliegen und ein erstaunlich langes Leben haben, hat also besonderes

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Zum literaturgeschichtlich bedeutsamen und vom ursprünglichen Kontext meist weitgehend losgelöst verwendeten Bewertungsschema >klassisch< gleich >gesundromantisch< gleich >krank< vgl. Goethes Äußerungen gegenüber Eckermann am 2. April 1829 (in: Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. München 2 1984, S. 286). Christoph Martin Wieland an Georg Wedekind (10. April 1804; in: Sembdner (1996) I, S. 79-82, hier S. 81, Nr. 89).

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Augenmerk zu gelten, wobei ihre Wirkungsmechanismen diachronisch zu beschreiben und im Hinblick auf ihre tatsächlichen Folgen für die Resonanzgeschichte des Autors zu untersuchen sind. Sie stehen in einem natürlichen Spannungsverhältnis zu differenzierteren, beispielsweise auf wissenschaftlicher Analyse basierenden Urteilsmustern, die allerdings auch nur selten frei sind vom Hang zum Mythographischen und so dessen Fortbestand eher noch befördern. Einige Hinweise noch zum nicht ganz selbstverständlichen Phänomen des postumen Erfolgs: Breiter Konsens herrscht darüber, daß zum Wesen einer Dichterrenaissance eine gleichsam abrupt einsetzende Begeisterung des Publikums für den Vergessenen gehört; das >hear, hear!< erschallt - frei nach Schopenhauer - lange nachdem der Redner abgetreten ist. Dieser Kategorie der >Plötzlichkeit< eignet eine gewisse Dramatik; der vermeintlich >plötzliche< Wertewandel bei literarischen Urteilen macht einen nicht unerheblichen Teil des Reizes aus, den das Phänomen bis in die Gegenwart auf den literarischen Markt ausübt. 37 Untrennbar gekoppelt mit der >unvermutet< einsetzenden Rückbesinnung ist die Intensität, mit der sie sich vollzieht. Ein einzelner Rufer in der Wüste genügt hier nicht, um den Entdeckten bekannt zu machen, eher ist ein größerer Haufen Marktschreier notwendig, der keinen Passanten ohne lautstarke Anpreisung der >Ware< vorüberziehen läßt. Eine Dichterrenaissance kann demnach auch als Modeerscheinung begriffen werden, die einen mehr oder weniger präzise zu benennenden Ursprungsort hat. Auf ihrem Scheitelpunkt ist sie kaum mehr zu umgehen, da keine Instanz des literarischen Marktes sie ausläßt, 38 schließlich ebbt sie ab, das Interesse der Öffentlichkeit wendet sich neuen Objekten zu. Untersuchenswert erscheinen in diesem Zusammenhang vornehmlich drei Aspekte: Hat man sich den Zeitraum zwischen Tod und Wiederentdeckung als Phase gänzlicher Vergessenheit vorzustellen, oder handelt es sich hierbei lediglich um eine Fiktion, eine Legende als das Resultat vereinigter feuilletonistischer Bemühungen? Ist der Zeitpunkt, zu dem diese >plötzliche< Rückbesinnung beginnt, beliebig bzw. rein zufällig oder gibt es für ihn eine innere Notwendigkeit; lassen sich gegebenenfalls die Voraussetzungen hierfür bestimmen? Welche Faktoren (z.B. personale Einflüsse, ökonomische Interessen) beeinflussen die Intensität, mit der man sich dem Wiederentdeckten zuwendet? Außerordentlich relevant für das gedankliche Konstrukt >Dichterrenaissance< ist schließlich die Kategorie des »Unzeitgemäßen«: 3 9 der Nietzsche-Lektüre der

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Vgl. Böckmann (wie Anm. 13), S. 86: »Was in seiner Entstehungszeit den konventionellen Erwartungen widersprach, als unverständlich abgelehnt wurde oder übersteigert und willkürlich wirkte, enthüllt sich unversehens in seiner eigenen Schlüssigkeit und Folgerichtigkeit«; ebda., S. 91: »Es möchte scheinen, als hätten sie [Hölderlin und Kleist] über 100 Jahre gebraucht, um in ihrer Bedeutung erkannt zu werden. Plötzlich ging von ihnen eine erregende Kraft aus wie von kaum einem Dichter der Gegenwart«; ebda., S. 94f. Herzog (wie Anm. 7), S. 4. Friedrich Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen. I-IV. [1873ff.]. In: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München; Berlin; New York 1988, Bd. 1, S. 157-510.

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»Poeten-Philologen« ist es zu danken, daß sie zu einem zentralen Kriterium in der Literaturbewertung des zwanzigsten Jahrhunderts werden konnte und zugleich zu einem Hauptmerkmal jeder Dichterrenaissance. Wiederum sind in diesem Begriff die vielfältigsten Konnotationen zu einem dichten semantischen Netz verknüpft: Das Verkanntsein eines Autors, 40 das Erfolglosigkeit bzw. Scheitern in Leben und Werk impliziert, zählt hierzu wie auch der Sachverhalt, daß man als Dichter > seiner Zeit voraus< ist. Und es bedarf einer Instanz, die das Unzeitgemäße postuliert. Sie ist es, die das Verkanntsein als Folge einer tragischen Fehleinschätzung durch die Zeitgenossen benennt, denen somit die eigentliche Schuld am Mißerfolg des Künstlers zugewiesen wird. Nietzsche selbst hat dieses Erklärungsmuster in Schopenhauer als Erzieher auf den Weg gebracht, indem er die Ungewöhnlichkeit eines Künstlers im Kontext seiner gesellschaftlichen Umgebung als die Hauptursache seines Scheiterns kennzeichnete. 41 Seine Rezipienten bemächtigten sich dieser Vorstellung und walzten sie bis zur Inhaltslosigkeit aus; mit größter Selbstverständlichkeit spricht man daher insbesondere seit 1968 vom Leiden, Erkranken und Scheitern an den gesellschaftlichen Verhältnissen als der eigentlichen Todesursache von Künstlern. Nicht der Dichter also versagt, schuldig werden die, die sein Talent übersehen. 42 In der retrospektiven Konstruktion sind gerade die wiederentdeckten Dichter zu Lebzeiten stets >ZufrühgekommeneZukünftige< und als solche >ihrer Zeit voraus< wobei eine Konkretisierung dieses Urteils meist vermieden wird. Diese gedankliche Volte wirkt dabei in mehrfacher Hinsicht, indem sie dem Dichter das Scheitern verzeiht, indem sie die Vorwürfe an die Zeitgenossen entschärft, da sie nicht anders

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Vgl. Karl von Heigel: Heinrich von Kleists Grab [1911], In: Minde-Pouet (1927), S. 42ff„ hier S. 44: »Wir haben Kleist, durch dessen tiefste Qualen/ Ein Lenzhauch weht, wie durch den Sturm im März/ Der deutschen Männern, nicht Sardanapalen,/ Ein Denkmal schuf, das dauernder als Erz,/ Der, wenn er auch durch Nachtgebiete jagte,/ Der Schönheit wohl, - der Wahrheit nie entsagte!/ Er starb verkannt [...]«; Conrad Müller: Zum 21. November 1911. In: Minde-Pouet (1927), S. 49f.: »Das Leben hat dir liebelos Verkannten/ Nur Wirrsal noch und Tod geschenkt. [...] Was gilt's der Welt, wenn einsam sich verblutet/ Auf Dornenpfaden, krank und leidumflutet/ Ein königliches Dornenherz?«; Johann Hermann Wilke: Guiskard-Kleist [1911]. In: Minde-Pouet (1927), S. 60: »Und indes in ihrem niedren Trachten/ Herzlos ihn die ganze Welt verkennt,/ Fiel der erste Held der Freiheitsschlachten,/ Und ein hehres Leben blieb Fragment«; vgl. Goldammer (wie Anm. 20), S. 9. Nietzsche (wie Anm. 39), 1, S. 352, Z. 6-16: »Ein neuerer Engländer schildert die allgemeinste Gefahr ungewöhnlicher Menschen, die in einer an das Gewöhnliche gebundenen Gesellschaft leben [...]. Unsere Hölderlin und Kleist und wer nicht sonst verdarben an dieser ihrer Ungewöhnlichkeit und hielten das Clima der sogenannten deutschen Bildung nicht aus; und nur Naturen von Erz wie Beethoven, Goethe, Schopenhauer und Wagner vermögen Stand zu halten«; vgl. auch Axel Gehring: Genie und Verehrergemeinde. Eine soziologische Analyse des Genieproblems. Diss. Hamburg 1968. (Abhandlungen zur Philosophie, Psychologie und Pädagogik 46), S. 121, der auffalliges Verhalten als eine wesentliche Voraussetzung für die späte Erklärung eines Künstlers zum Genie herausgearbeitet hat. Vgl. etwa Karl Heim: Art. Heinrich von Kleist. In: MGG (1958/1989), Bd. 7, Sp. 1211ff„ hier Sp. 1211: »Kleist mußte als Mensch wie als Künstler scheitern, da er in einer Zeit lebte, die seine einsame Größe noch nicht zu begreifen vermochte.«

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konnten als mißverstehen - und, indem sie das vertiefte, das so viel bessere Verständnis der Nachwelt betont, die diesen Künstler für sich zu entdecken vermag. Der Blick sei abschließend nun auf diejenigen gerichtet, die das Unzeitgemäße eines Künstlers postulieren, eben in der Absicht, ihren - gegenüber vorigen Generationen - erweiterten Horizont deutlich zu machen. Meist sind es sehr wenige Vertreter einer sehr jungen Generation, die die postume >Inbesitznahme< eines Künstlers und dessen Erklärung zum Genie stets mit ganz vitalen Eigeninteressen verbinden. Diese sind überaus vielfältig, gemeinsam ist ihnen jedoch ein negatives Ziel: das Althergebrachte soll abgeschafft und durch Neues ersetzt werden. Dieser Personenkreis bedarf schon wegen des geringen Grades seiner Etabliertheit einer Autorität, die seine Anliegen historisch beglaubigt, ja, die auf dem neu einzuschlagenden Weg bereits ein Stück weit vorangegangen scheint. Wer sollte sich dazu besser eignen, als ein bereits Verstorbener von mittlerem Bekanntheitsgrad, der sich gegen die auf ihn projizierten Sichtweisen nicht mehr wehren kann 43 und von dem sich manches unwidersprochen und in einer Weise behaupten läßt, die bei wirklichen Zelebritäten kaum ernsthaft in Erwägung gezogen würde? All dies bedenkend, könnte man lakonisch fragen: war es denn notwendig, daß Kleist, Hölderlin, Büchner überhaupt gelebt haben? Welche Funktion kann dem realen Menschen und Künstler in all diesen von ihm gänzlich losgelösten Konstruktionen der Nachwelt eigentlich noch zukommen? Zu den zentralen Themen der Untersuchung gehört daher die am Beispiel Heinrich von Kleists vollzogene Analyse der Entstehung von Legenden um Person und Werk, die einmal zu Gemeinplätzen verkommen, beinahe beliebig tradiert und trivialisiert werden und hierdurch den Blick auf das tatsächlich Geschehene verstellen können - auch und gerade im Bereich der Wissenschaft. Den - mit Alfred Kerr zu sprechen - »anerzogenen Irrtum« 44 hierdurch wenigstens in einem kleinen Ausschnitt der Literaturgeschichte aufzuklären, ihn vielleicht durch eine sachlich angemessenere Sichtweise zu ersetzen, ist dementsprechend das erklärte Ziel. Die am Ausgang dieser Studie stehenden Fragen seien zunächst knapp präzisiert: Im wesentlichen richten sie sich auf drei differenzierbare, aufeinander aufbauende Bereiche. Zudem sind sie - in Abhängigkeit vom jeweiligen Abstraktionsgrad - geeignet, die Gesamtproblematik des Phänomens >Dichterrenaissance< näher zu beleuchten. Bereich 1: Rekonstruktion Am Beginn stehen die vornehmlich an das historische Faktenmaterial gerichteten Fragen, mit deren Hilfe die Wirkungsgeschichte des Dichters Heinrich von Kleist

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Vgl. Gehring (wie Anm. 41), S. 121ff„ 126. Alfred Kerr: Einleitung [1917]. In: ders., Theaterkritiken. Hrsg. von Jürgen Behrens. Stuttgart 1971 (RUB 7962/63), S. 3-19, hier S. 10: »Höchste Namen erwirken das Recht nie, vom Sachbestand abzulocken. [...] Nur den Dingen wird in die Pupille geglotzt. Der Kritiker ehrt keinen anerzogenen Irrtum. Nicht bei der Betrachtung des Griechenvolks. Nicht beim Shakespeare. Nicht bei Moliere.«

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untersucht wird: Wie geht eine Dichterrenaissance ganz konkret vonstatten? Welche Personen haben daran teil; welches Umfeld ist für den noch zu definierenden >Erfolg< einer Wiederentdeckung notwendig? In welchen Bereichen des öffentlichen Lebens vollzieht sie sich? Was muß passieren, um einen Vergessenen berühmt zu machen; welche Argumente und Strategien werden dabei verwendet? Läßt sich ein Zeitpunkt bestimmen, an dem Wandel und Kehrtwende der Einschätzung manifest werden? Korrespondiert die neue Wertschätzung mit jeweils vorherrschenden Strömungen des Zeitgeistes, ja, besteht eine wechselseitige Abhängigkeit beider? Schließlich, welche Vorgaben von Seiten des Dichters sind dazu notwendig? Wo immer möglich, soll dieses vornehmlich beschreibende Verfahren auch durch bislang noch nicht berücksichtigte Materialien neue Einblicke ermöglichen. Bereich 2: Analyse Auf zweiter Ebene ist die Vergleichbarkeit des Rekonstruierten näher zu betrachten. In Abgrenzung zu ausschließlich rezeptionsgeschichtlich ausgerichteten Fragestellungen, deren Sinn in Suche und Sammlung von Rezeptionszeugnissen sich erschöpft, geschieht also die historische Rekonstruktionsarbeit nicht um ihrer selbst willen, sondern dient der Schaffung einer Materialbasis für weitergehende Überlegungen zur Beschaffenheit von Dichterrenaissancen: Ereignen sie sich als ein Produkt von Zufällen oder als prozessuale Abfolge gleichsam notwendiger Ereignisse zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt? Gibt es dementsprechend Faktoren, ohne die sie nicht stattfinden können? Fragen der literarischen Wertung - genauer: des literarischen Wertwandels - werden dabei notwendig berührt. Klärend beitragen mag man so zur Analyse der Kriterien, die Werturteilen zugrundeliegen; solchen, die sich im Kontext von Wiederentdeckungen als besonders signifikant erweisen oder solchen, die gegen Dichter und Werk verwendet werden. Näher zu bestimmen ist zugleich der Anteil literarischer bzw. außerliterarischer Werturteile am Wandel der Einschätzung, vornehmlich, um zu kennzeichnen, ob die Rückbesinnung auf einen Dichter eine überwiegend kunstund werkbezogene Angelegenheit ist oder eher ein von konkreten Interessen und Absichten gesteuerter Manipulationsvorgang, in dem in hohem Maße außerliterarische Aspekte maßgeblich sind. Einblicke in die historische Dimension und Wirksamkeit von Werturteilen sollten so möglich werden: Sind - bezogen auf literarischen Wertewandel - tatsächlich alle Werturteile gleich bedeutsam und relevant, wie es die Vertreter der Rezeptionsästhetik Glauben machen wollen? Oder erweisen sich bei Dichterrenaissancen ganz bestimmte Urteile als wirkungsmächtig, die auf eine Werturteilshierarchie schließen lassen, die dann genauer zu analysieren wäre? Beachtung verdienen auch die nicht in das Raster der Analogien sich fügenden Aspekte. Gemeint sind damit nicht spezifische Ereignisse mit dem Status historischer Einmaligkeit, die nicht Übertrag- und vergleichbar sind. Eher geht es beispielsweise um Differenzen, die aus unterschiedlichen und in der Wiederentdeckung unterschiedlich funktionalisierten Gattungsschwerpunkten resultieren: Ist ein Dichter nicht ungleich leichter dadurch wiederzuentdecken, daß seine Werke von vornherein an eine relativ große Öffentlichkeit - etwa das Theaterpublikum - gerichtet sind,

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während die Schar begeisterter Lyrikleser sich stets in Grenzen halten und kaum je als ein Massenpublikum zu bezeichnen sein wird? Hat man dementsprechend bei der Wiederentdeckung eines Dramatikers Quantitäten (ζ. B. Höhe der Auflage) von vornherein anders zu gewichten als bei einem Lyriker? Zu untersuchen ist hierbei letztendlich, ob die Beschaffenheit literarischer Werke Konsequenzen für die Wahrscheinlichkeit der Wiederentdeckung ihres Autors zeitigt. Ist dies der Fall, wäre damit implizit die Frage nach den spezifischen Qualitäten solcher Werke gestellt, nach einem Merkmalsprofil also, das der Rückbesinnung förderlich ist, und nach der Qualität im emphatischen Sinn, nach objektivierbar herausragenden Eigenschaften, die eine späte Entdeckung geradezu provozieren. Bereich 3: Möglichkeiten der Übertragung Wenigstens ansatzweise müßte sich so bestimmen lassen, ob die Beispiele historischer Wertungspraxis auch für die gegenwärtige relevant sind. Vorstellbar ist dies zunächst in Bezug auf die konkret behandelten Dichter. Das Wissen um das >Wann< und >Wie< der Entstehung des >Bildes< von Dichter und Werk müßte sich auf die weitere Beschäftigung mit ihnen auswirken, zumindest jedoch neue Fragen aufwerfen. Die durch die historische Bedingtheit seiner Genese gesteckten Grenzen dieses >Bildes< sind also in ihrer Relativität zu kennzeichnen und auf ihre Wirksamkeit hin zu untersuchen. Sollte sich dabei herausstellen, daß dieses Produkt eines ganz bestimmten Entstehungszusammenhanges zeitlich und inhaltlich weit darüber hinausgreift, daß es möglicherweise sehr viel hartnäckiger fortwirkt als lange angenommen, so müßte dies eine Revision gängiger Auffassungen zumindest in einzelnen Bereichen zur Folge haben. Präziser formuliert: die Prämissen des wissenschaftlichen Umgangs mit Texten und Autoren sollten genauer als bisher geprüft werden, da zunehmend fraglich wird, ob das >BildKulturtechnik< fortentwickelt. Gerade an dieser Stelle wäre es sinnvoll und notwendig - jedoch würde dies den Rahmen der Arbeit deutlich überschreiten - , die Resultate vergleichbarer Studien auch aus den anderen Kunstbereichen hinzuzuziehen, da Phänomene ausgeprägten

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Wertwandels besonders in Musik und bildenden Künsten beinahe noch häufiger auftreten als in der Literatur.

2.

Methodisches

»[J]ede Geschichte ist Wahl« - dieser Satz Lucien Febvres bestimmt die folgenden Überlegungen gehen sie doch davon aus, daß der Historiker »seine Stoffe erschafft oder [...] neuerschafft«, gebunden an die Zufälligkeiten der Überlieferung und die Gewohnheit, die zur Verfügung stehenden Dokumente verkürzend oder betonend zu verwenden.45 Geschichtsschreibung jeglicher Art sollte daher den ihr innewohnenden Entwurfscharakter nicht verhehlen, auch nicht die Tatsache, daß konstruiert werden muß, wo die Antwort auf eine Frage an die Geschichte gegeben werden soll. Ein gewisses Maß an Souveränität ist notwendig, sich hierbei nicht auf die Anhäufung von >BausteinenBau< des Hauses zu überlassen. Die Schwierigkeit besteht also vornehmlich darin, zu »sehen, was man beschreiben muß«; 46 ein vernünftiges Verhältnis von Fakten und daraus zu entwickelnden Konstruktionen anzustreben und zu akzeptieren, daß beide für sich nur sehr begrenzte Fragen beantworten können. Um die Genese eines Entwurfes transparent zu gestalten, ist die jeweils getroffene »Wahl« möglichst stichhaltig zu begründen. Im konkreten Fall betrifft sie vier Bereiche: 1. die Auswahl geeigneter Autoren, 2. die zugrundezulegenden methodischen Präferenzen, 3. die Entscheidung über das heranzuziehende Material, schließlich 4. die Festlegung von Schwerpunkten. Von vergleichsweise vielen Schriftstellern wird eine späte Entdeckung ihres dichterischen Potentials behauptet: Etikettiert wurden so Autoren aller Epochen der neueren deutschen Literatur, beginnend etwa bei Johann Christian Günther und Angelus Silesius, endend bei Hans Henny Jahnn, Uwe Johnson und Arno Schmidt. Wie nun eine sinnvolle Auswahl treffen, um dem Phänomen >Dichterrenaissance< sich anzunähern? Auszugehen hat man dabei sicherlich - trotz aller Diskussionen um den >Kanon< - vom Rang eines dichterischen Werkes. Über diesen besteht nur bei einigen wenigen Autoren ein gewisser Grundkonsens: zur >Gipfelliteratur< rechnet man uneingeschränkt allenfalls ein gutes Dutzend Dichter. Zuerst sollte sich der Blick also auf Autoren richten, die unbestritten als besonders bedeutend gelten und zugleich Objekte von Wiederentdeckungen geworden sind. Problematisch ist dieses Kriterium allemal, handelt doch diese Arbeit gerade davon, daß der >Kanon< und die dazugehörigen Autoren heftigen historischen Schwankungen der Bewertung unterliegen können. Um so auffälliger ist jedoch, daß sich bei gewissen Auto-

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Vgl. Lucien Febvre: Ein Historiker prüft sein Gewissen. In: ders., Das Gewissen des Historikers. Hrsg. und aus dem Französischen übersetzt von Ulrich Raulff. Berlin 1988, S. 9 22, hier S. 13. Ebda.

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ren seit bald einem Jahrhundert ein status quo der Einschätzung herausgebildet hat. Niemand würde deren literarische Qualität ernsthaft in Zweifel ziehen, geschweige denn ihren herausragenden Rang streitig machen. Und gerade dieses Phänomen sei hier genauer betrachtet, daß solche Urteile nämlich selbst historisch begründet sind, daß ihre vermeintliche Objektivierung das Produkt nur weniger Jahrzehnte ist und daß sie ursprünglich einen keineswegs strittigen, weil vornehmlich funktionalisierenden Charakter besessen haben. Zweitens sollte das Phänomen besonders deutlich werden gerade dort, wo das Ausmaß der Schwankung, der Kontrast von Mißerfolg und Wertschätzung, besonders stark ausgeprägt erscheint. Dies begrenzt die Zahl der Autoren von vornherein sehr stark: für nur wenige Dichter treffen beide Kriterien zu; nur wenige, deren Gemeinsamkeit aber gerade darin besteht, daß sie etwa gleichzeitig und so offenbar in ursächlichem Zusammenhang mit der Entstehung der literarischen >Moderne< >entdeckt< worden sind. Zwischen 1880 und 1925 fanden solche Wertungsumbrüche in bis dahin ungekanntem Ausmaß statt, und sie betrafen Autoren wie Jakob Michael Reinhold Lenz, 47 Christian Dietrich Grabbe, Jean Paul,48 Friedrich Hebbel,49 Friedrich Hölderlin, Heinrich von Kleist und Georg Büchner, Autoren, die gegenwärtig selbstverständlich, wenn auch in unterschiedlichen Abstufungen, zu den >Gipfeln< der deutschen Literatur gezählt werden. In einer Epoche, die zukunftsgerichtet eine gänzlich neuartige Literatur anstrebte, häufte sich also zugleich - gebunden an die

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Zur geistigen Situation, die auch bei der Wiederentdeckung des Dichters Lenz zugrundeliegt, vgl. die Notiz in: Westermanns Monatshefte (1909), S. 598f.: »Gewiß, die Literaturgeschichte hat ihre Pflicht der Gerechtigkeit gerade an diesen gebrochenen Talenten zu erfüllen, indem sie ihnen das Ihrige rettet und sichert - die Allgemeinheit aber wird an dieser Besitzregulierung nur höchst selten einmal teilnehmen. Doch wir haben ja heute auch unter unseren allgemein Gebildeten Literaturfreunde und Bibliophilen genug, die es als ein Nobile officium betrachten, sich tätig an solchen Rehabilitierungen und Wiedererweckungen zu beteiligen, auch wenn sie sich eigentlich keinen unmittelbaren geistigen Gewinn daraus versprechen, sondern nur eine Bereicherung ihrer Bibliothek«; vgl. grundsätzlich hierzu: Literarische Avantgarden. Hrsg. von Manfred Hardt. Darmstadt 1989. (Wege der Forschung 648); Hans-Georg Schmidt-Bergmann: Die Anfänge der literarischen Avantgarde in Deutschland: über Anverwandlung und Abwehr des italienischen Futurismus. Ein literarhistorischer Beitrag zum expressionistischen Jahrzehnt. Stuttgart 1991; Die literarische Moderne in Europa. Hrsg. von Hans Joachim Piechotta, Ralph-Rainer Wuthenow, Sabine Rothemann. 3 Bde. Opladen 1994; >Die ganze Welt ist eine Manifestation: die europäische Avantgarde und ihre Manifeste. Hrsg. von Wolfgang Asholt. Darmstadt 1997. Vgl. Kurt Wölfeis skeptische Worte über die Aktualität Jean Pauls, dessen »Wiederbelebung nach Art der Galvanisierung von Fröschen« sich vollziehe (in: Sieben Gründe für Bayreuther/innen Jean Paul zu lesen. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 26/27 (1991/92), S. 376-393, hier S. 380). Vgl. zu Hebbel (und Grabbe): Alfred Kerr: Herodes und Mariamne. [1899]. ((wie Anm. 44), S. 30-33, hier S. 33); ders., Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung (Christian Dietrich Grabbe) [1915] (ebda., S. 105-108, hier S. 105): »Oben stehn Hebbel und Ibsen. Darunter Grabbe mit Strindberg ...«; auch Emil Kuh: Friedrich Hebbel. Eine Charakteristik. Wien 1854.

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Abkehr von Goethe und Schiller - die retrospektive Wendung zu Dichtern, die man bis dahin allein unter historischem Blickwinkel noch als betrachtenswert erachtet hatte. Alle diese Beispiele sind dementsprechend repräsentativ: gemeinsam ist ihnen der frühe Zeitpunkt, die emphatische Zuwendung zu mehr oder weniger vergessenen Personen, die daraus resultierende Selbstverständlichkeit des gegenwärtigen Umgangs mit ihnen; zugrunde liegt ihnen der revolutionierende Anspruch, den bis dahin fest zementierten Kanon aus den Angeln heben zu wollen und durch einen neuen, anders gewichteten zu ersetzen. Die Analyse eines so spektakulären Wertewandels kann also in zweifacher Hinsicht aufschlußreich sein: bezogen auf die Dichter, deren Wirkungsgeschichte zu diesem konkreten historischen Zeitpunkt einem signifikanten qualitativen Wandel unterliegt, bezogen auf die literarische Epoche, deren Mittel und Ziele durch die Rekonstruktion ihres Wertungshorizontes aus einem bislang kaum beachteten Blickwinkel betrachtet werden. Spätere Entdeckungen verfolgen zwar - wenn auch nicht immer ausdrücklich - vergleichbare Ziele, sind aber, durch ihr nachahmendes Gepräge, analytisch von geringerem Interesse. Willkürlich mag die weitere Einschränkung auf nur einen Autor erscheinen jeder der Genannten wäre hier mit gleichem Recht und Anspruch auf Exemplarität zu untersuchen gewesen. Zugunsten Hölderlins, Kleists und Büchners fiel zunächst die Entscheidung, weil sie als die literarischen Leitfiguren des zwanzigsten Jahrhunderts schlechthin gegolten haben und ihr Nachruhm in einem besonders ausgeprägten Mißverhältnis zur einstigen Nichtachtung steht. Da der Rang Kleists und Hölderlins zudem in der Einschätzung zahlreicher Betrachter dem von Goethe und Schiller in nichts nachsteht, ihr Renommee entsprechend als ein bewußter Gegenentwurf zu hergebrachten Sichtweisen aufzufassen ist, dem etwas Singuläres eignet, schien es sinnvoll, gerade seine Genese ausführlich nachzuvollziehen. Im Fortgang der Arbeit stellte sich jedoch heraus, daß drei Autoren den vernünftigerweise zu setzenden Rahmen einer solchen Arbeit notwendig und unausweichlich sprengen würden. So konnten im vollen Bewußtsein der zentralen Rolle Hölderlins wie Büchners in diesem Kontext aus Platzgründen leider nur einige wenige Überlegungen zu diesen Autoren eingearbeitet werden. Zugunsten einer möglichst breiten Vergleichsbasis wurde die Wahl zudem von gattungsbezogenen Überlegungen beeinflußt, vornehmlich, um genauere Aussagen zum Verhältnis von Werk und Öffentlichkeit - zur Rolle des Literaturbetriebes im allgemeinen und des Publikums im besonderen - im Rahmen von Wiederentdekkungen sowie zur Kontextabhängigkeit von Werkpräferenzen treffen zu können. Der Bühnenautor und Epiker Kleist schien hierfür besonders geeignet, nicht zuletzt aber auch, weil gerade um seine Person von Wissenschaft und Feuilleton, von Biographen und Poeten Mythen erschaffen worden sind, die einen unvoreingenommenen Zugang beinahe unmöglich machen. Die Entstehung solcher Mythen sei im folgenden kurz präzisiert, derjenigen nämlich, an deren Entstehen die Literaturwissenschaft maßgeblich beteiligt ist, und mit deren Revision sie sich bis heute vergleichsweise schwer tut. Der sogenannte >Kleist-Mythos< gehört zu den sicherlich signifikantesten Beispielen für das Eigenleben, das die sich um eine berühmte Persönlichkeit ranken-

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den Anekdoten, Stereotypen und Deutungsmuster mit der Zeit zu führen beginnen. Einen solchen Mythos erklären zu wollen, wäre wohl vermessen: zu undurchdringlich ist gerade im Falle Kleists das Wirkungsgeschichte gewordene Geflecht aus >Dichtung< und >WahrheitKleistWiederentdeckungromantischen< Vorstellungen den Eindruck von Kleists Nachruhm nachhaltig und vor allem außerhalb des akademischen Bereichs bestimmt: das Leben des Dichters gab stets den Anreiz, nicht vorhandenes und kaum je rekonstruierbares Wissen durch Analogieschlüsse, Empathie oder pure Phantasie aufzustokken; jeder Verfasser einer Lebensbeschreibung sah sich daher notwendig mit langen, nicht dokumentierten Zeiträumen konfrontiert, in denen sich mitunter Rätselhaftes, bisweilen schwer Nachvollziehbares ereignet haben mußte und die zudem nach langen krisengeschüttelten Phasen in ein trauriges Ende mündeten. Solch eine brüchige biographische Basis provozierte die Spekulationen, die gerade auf dem Sektor der produktiven Rezeption von Robert Walser, Johannes R. Becher und Lion Feuchtwanger bis hin zu Günter Kunert, Christa Wolf, Karin Reschke und Helma SandersBrahms noch zusätzlich mythenbildend wirkten oder - wie etwa bei Becher - der Selbststilisierung dienten.51 Aber nicht nur dort: Einfluß nahmen hierauf auch die Grenzgänger zwischen Wissenschaft und populärwissenschaftlichem Anspruch, die als Literaten oder Künstler sich als Literarhistoriker versuchten und so die Sphären von kreativem, symbolisierendem und wissenschaftlichem Umgang vermischten. Franz Servaes wäre hier für die frühe Zeit zu nennen, der als Journalist eine

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Vgl. zur zugrundegelegten Definition: Wulf Wülfing; Karin Bruns; Rolf Parr: Historische Mythologie der Deutschen. 1798-1918. München 1991, S. 5: Mytheme sind danach »alle semantischen Elemente, die einen Personenmythos konstituieren; dies können einzelne, semantische Merkmale oder Ideologeme - so etwa >deutschfromm< usw. - sein, aber auch ein ganzes Ensemble von Merkmalen oder Symbolen (z.B. die Kombination von >RheinEiche< und >ReichsadlerMitleidsoptik< gegenüber Kleist, soll heißen: das Eintreten für die vermeintlichen >Opfer< der Literaturgeschichte, zum Programm zu erheben, aus dem weitere Stereotypen geradezu notwendig entstehen mußten, weil die Suche nach den Ursachen von Kleists Untergang beinahe genauso notwendig dazu zwang, >Schuldige< und >UnschuldigeTäter< und >Opfer< der Literaturgeschichte ausfindig zu machen. Die Kleist dabei im zwanzigsten Jahrhundert entgegengebrachten Sympathien sind so auch als Kompensation für einen aus der Rückschau als falsch und ungerecht empfundenen Umgang mit dem Dichter zu verstehen. Mit unglückseligen Folgen, da Literaturwissenschaft eben nicht dazu da war und ist, historische Wiedergutmachung zu betreiben, indem polemisch gemeinte und zudem einseitige und zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt bezogene Positionen unkritisch und beipflichtend übernommen werden, sondern eher dazu, die Genese und Strukturen solcher Wertungsmechanismen aufzudecken, zu beschreiben und so die Historizität solcher Urteile und die Interessenlagen ihrer Urheber erkennbar zu machen. Gleichbedeutend wäre dies zudem mit dem Freimachen von gewissermaßen organischen Vorstellungen über die Wirkungsgeschichte eines Autors, die einigermaßen idealistisch davon ausgehen, daß das Verständnis mit der Zeit immer adäquater werde und so einer zur Blüte reifenden Knospe gleiche. Vor aller Analyse des Kleistschen Nachruhms wäre daher eine Bestandsaufnahme der Topoi um Kleist, der Anekdoten und der nachträglichen Projektionen durchaus sinnvoll. Zu verfolgen also, wie kleine und kleinste, lange nach Kleists Tod fixierte und aus zweiter und dritter Hand stammende Gedächtnisfetzen zu Leben und Werk durch die Fabulierlust früher Biographen und Editoren zu plastischen Episoden geformt und wie diese bereitwillig aufgenommen wurden, nicht zuletzt wegen der Vorstellung, daß jede Anekdote stets eine dahinterliegende, gleichsam höhere Wahrheit über die Person repräsentiere. Eine Typologie der so sich konstituierenden Motivik der Kleist-Entwürfe wäre also ein durchaus sinnvolles Instrumentarium, das vor der Interferenz von Wissenschaft und Mythos einigermaßen feien würde. Allein: wenn sich auch einzelne Topoi wie der des >Goethe den Lorbeer von der Stirne Reißens< so von der Entstehung bis in seine verästelten Wirkungen gerade um die Jahrhundertwende und bis heute verfolgen ließen, so würde solche Arbeit jedoch kaum ihren Aufwand rechtfertigen, an deren Ende doch zweifellos der vom

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Franz Servaes: Heinrich von Kleist. Leipzig 1902. (Dichter und Darsteller IX); ders., Der neue Tag. Drama in drei Akten. Leipzig 1903; Julius Hart: Das Kleist-Buch. Berlin 1912.

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Mythos entkleidete Kleist als ein dürres Gerippe nur aus lückenhaft überliefertem Leben und oberflächlich rezipierten Werken übrigbliebe. Ein eher pragmatischer Zugriff auf den >Kleist-Mythos< und die ihn so offenkundig bestimmenden Wertungsmuster erscheint daher erforderlich. Freilich ist es keineswegs so, daß die Wirkungsgeschichte Kleists nicht ausführlich untersucht worden wäre, eine Vielzahl von Studien wurde ihr gewidmet, auf die hier allenfalls summarisch eingegangen werden kann. Dennoch ist die Sensibilität für das im >KleistMythos< gelegene Problem der gedanklichen Prämissen und des darin zugrundegelegen Dichterbildes nicht allzu ausgeprägt und daher nur vereinzelt thematisiert worden. 53 Für die Annäherung an das Thema sind indes beide notwendig: die Rezeptions- und Wirkungsstudien, die als Materialbasis und historische Strukturierungshilfen dienen, und die wenigen den Mythos reflektierenden Arbeiten; Ansätze für den Umgang eben mit einem Kernbestandteil dieses Mythos, der >Wiederentdekkung< des Dichters. Diese, aufgefaßt als wertungsgeschichtlicher Sonderfall, der mit den Strömungen des jeweiligen Zeitgeistes korrespondiert, könnte so - durch die Vermittlung beider und mittels Rekonstruktion weltanschaulicher und urteilsbedingender Horizonte - wichtige Einsichten in die Entstehungsmechanismen des >Kleist-Mythos< und die in diesem Zusammenhang gebrauchten Argumentationsmuster verschaffen. In einem ersten Durchgang gleichsam abgearbeitet wurde Kleists Wirkungsgeschichte auf dem Theater im Gefolge der Institutionalisierung des Dichters im akademischen Bereich und als das Resultat einer ersten rezeptionsgeschichtlichen >Welle< vor und besonders nach dem Ersten Weltkrieg. 54 Hatten Kleists Biographen und Editoren, aber vor allem die Verfasser von Gedenkartikeln seit den achtziger Jahren mit steigender Intensität auf das eklatante Unverständnis von Mit- und Nachwelt hingewiesen und die Behauptung >zementiertFamilie von Schroffenstein< auf der deutschen Bühne. München Phil. Diss. 1925; Fritz Julius Miller: Heinrich von Kleist auf der Wiener Bühne. Wien Phil. Diss. 1930; Karl Hans Böhm: Kleists >Robert Guiskard< auf der deutschen Bühne. München Phil. Diss. 1935; Hans Zigelski: Heinrich von Kleist im Spiegel der Theaterkritik des 19. Jahrhunderts bis zu den Auffuhrungen der Meininger. InauguralDiss. Erlangen 1934. Berlin 1934; Robert Baravelle: Unbekannte Erst- und Frühaufführungen Kleistscher Dramen. In: Jahrbuch der Kleist-Gesellschaft (1929/30), S. 14—26. Notiz in: Deutsche Rundschau (1884); der Verfasser war vermutlich Julius Rodenberg (zitiert nach: Peter Goldammer: »... Ein merklicher Umschwung zu Gunsten des früher fast vergessenen Dichters« ? Herman Grimm über Kleist. In: Beiträge zur Kleist-Forschung (1990), S. 3 1 - 4 7 , hier S. 39).

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ten: stellte man etwa fest, daß die Aufführungen von Kleists Hermannsschlacht im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts und vor der Reichsgründung »bloße Episoden« gewesen seien, 56 so wurde dies mit der »beispiellose[n] Philisterhaftigkeit des deutschen Theaterpublikums«, das »einen durchschlagenden äußeren Erfolg nicht zustande« habe kommen lassen, begründet. 57 Diese bei Nietzsche entliehene Bürgerschelte fand so den Eingang auch in die Literaturwissenschaft. Aufschlußreich erscheinen zudem die Entstehungsjahre dieser Arbeiten: ganz offenbar war die akademische Literaturwissenschaft durch die in der Öffentlichkeit weithin wahrgenommene und von der feuilletonistischen Publizistik vehement betriebene >Wiederentdeckung< Kleists seit der Jahrhundertwende und spätestens seit dessen 100. Todestag in eine Art Zugzwang geraten. Die weitgehend außeruniversitären Aktivitäten zu Kleists Gedenken erhielten nun durch die Grundlagenforschung in Form von Dissertationen, die zugleich dazu dienten, ein methodisches Instrumentarium der sich konstituierenden Theaterwissenschaft zu entwickeln, ein akademisches Pendant. Eine besondere Rolle scheint hierbei der theaterwissenschaftlich ausgerichtete Literaturwissenschaftler Eugen Wolff gespielt zu haben, 58 unter dessen Ägide eine ganze Reihe dieser Arbeiten entstanden ist, die sich methodisch sehr ähneln und zumeist darin erschöpfen, in chronologischer Abfolge Inszenierungen und Bearbeitungen, häufig nicht allzu weit in die Gegenwart der Verfasser reichend zu verzeichnen und beschreiben. 59 Trotz dieser vergleichsweise frühen Ansätze blieb die Wirkungsgeschichte Kleists dennoch bis weit in die siebziger Jahre hinein - und von einzelnen Detailstudien abgesehen 60 - eher ein Stiefkind der Forschung und dies obwohl (oder gerade weil) Helmut Sembdner seit 1957 in immer wieder erweiterten Auflagen gewaltige Materialsammlungen mit Lebensspuren und seit 1967 zum Nachruhm Kleists herausge-

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Otto Fraude: Heinrich von Kleists Hermannsschlacht auf der deutschen Bühne. Inaugural-Dissertation Kiel 1919, Leipzig 1919, S. 5f. Ebda., S. 50. Vgl. Albert Soergel: Dichtung und Dichter der Zeit. Eine Schilderung der deutschen Literatur der letzten Jahrzehnte. Leipzig "1911, S. 116f.; Wolff war einer der Begründer des legendären Vereins »Durch!«. Vgl. etwa Gustav Buchtenkirch: Kleists Lustspiel >Der zerbrochene Krug< auf der Bühne. Heidelberg 1914. (Literatur und Theater. Forschungen 2); Fraude (wie Anm. 56); Kurt Lowien: Die Bühnengeschichte von Kleists >PenthesileaPenthesileaPrinz Friedrich von HomburgPrinz [!] von HomburgNachruhmsPrinz Friedrich von HomburgEntdeckung< gleichsam, nämlich die des politischen Kleist gegeben habe: Wenn sich auch Intellektuelle im Laufe des 19. Jahrhunderts mehr oder minder kontinuierlich und intensiv mit Kleist auseinandersetzten, kann von einer breiten gesellschaftlichen Rezeption erst in den 70er Jahren die Rede sein: Gesellschaftlich wurde Kleist erst in den 70er Jahren >entdecktRechts< per se als ein Greuel aufgefaßt wurde, die von ihm praktizierte wissenschaftliche von >Links< aber als eine Selbstverständlichkeit. Das Resultat atmet demgemäß insgesamt den Zeitgeist von 1968, zumal sich der Autor letztlich schwer damit tat, den gewaltigen Umfang der >rechten< KleistRezeption als genauso legitim oder illegitim zu akzeptieren wie den materialistischen oder jeden anderen auch. Womit das eigentliche Problem im Umgang mit der nationalistisch-chauvinistischen Kleist-Rezeption angesprochen wäre, das in dem sichtlichen Unbehagen liegt, das jeden beschleicht, der sich am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts mit diesem nicht zu leugnenden Aspekt der Wirkungsgeschichte Kleists und den an ihm und anderen Dichtern gerade auf diesem Sektor exzessiv erprobten Manipulationsmöglichkeiten auseinandersetzt. Nur schwer läßt sich hier vermeiden, Partei zu ergreifen gegen die so oberflächlich wirkende politische Lesart mit ihren verheerenden Folgen. Und doch sollte gerade dies tunlichst vermieden werden: zwar ist es insgesamt sehr beruhigend, in der Wirkungsgeschichte Kleists nach der Jahrhundertwende die >Kennerrichtigen< Leser in großer Zahl zu entdecken, die das Gedenken an ihn bewahrten, allein: die von dieser Warte aus >falschen< Leser waren trotzdem zur gleichen Zeit vorhanden - auch wenn es so gar nicht zu den beliebten Vorstellungen von der autonomen Kunst und dem Diskurs der Künstler in einem gesellschafts- bzw. herrschaftsfreien Raum passen will. Das Phänomen der gleichzeitigen Inanspruchnahme Kleists durch weltanschaulich gewissermaßen entgegengesetzte Gruppierungen formuliert etwa Günther Blamberger, der sich in seinem wichtigen Beitrag 1995 ausführlich zum Umgang mit Kleist im Zeichen der Moderne geäußert hat, mit sehr unterschiedlicher Gewichtung. Für ihn >zählt< als das >eigentliche< Kleist-Bild allein das der modernen Strömungen, die »deutschnationale Rezeptionslinie« sieht er erst »nach 1918« dominieren, den Zeitraum zuvor faßt er offenbar als quantiti negligeable\ jedenfalls behandelt er ihn nicht. 67 Gleichwohl ist es dennoch zu bezweifeln, ob seine naheliegende und sachlich sicher begründete These: Kleists Rezeptionsgeschichte im 20. Jahrhundert beweist, daß er ein bedeutender Agent der Moderne im Streit gegen die Antimoderne war, 68

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Blamberger (wie Anm. 12), S. 33. Ebda., S. 41.

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die Problematik zur Gänze erfaßt. Denn man könnte ihr entgegenhalten, daß genauso das Gegenteil richtig ist, daß Kleist nämlich auch im Kampf der Antimoderne gegen die Moderne und so für die gesellschaftlich dominierenden nationalistischen und chauvinistischen Strömungen des Kaiserreichs und der Folgezeit als ein wichtiger Streiter zu gelten hat. Und auch wenn dies am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts ein unbequemes Erbe geworden ist und etwa von Sembdner verkürzend als derjenige Nachruhm bezeichnet wurde, der ein »Mißverständnis« sei und nicht den eigentlichem Kleist betreffe, 69 so entbindet dies nicht von der Pflicht, beide Deutungen, einfach dadurch, daß sie wertungsgeschichtlich relevant geworden sind, zunächst einmal als gleichberechtigt wie auch als gleichwertig zu erachten, was in der vorliegenden Arbeit wenigstens ansatzweise versucht werden soll. Denn weder das Reduzieren auf heute bisweilen lächerlich wirkende Lesarten und Symbolisierungsformen noch das Verteufeln dieses fremd gewordenen Kleistverständnisses, vermögen den Prozeß der seit Reichsgründung immer stärker werdenden politischen Inanspruchnahme Kleists in Frage zu stellen oder zu negieren. >Dichterrenaissancen< sind komplexe Phänomene: sie sind zeitgebunden, haben also ihren historischen Ort innerhalb der Wirkungsgeschichte einiger Dichter; sie werden geprägt von Personen, geistigen Strömungen und gesellschaftlichen Strukturen, deren jeweilige Einflüsse zu bestimmen und in Relation zu setzen sind; sie repräsentieren den Wertwandel, der auf den literarischen Kanon 7 0 eines Kulturraumes sich auswirkt und über die ihn prägenden Mentalitäten Auskunft gibt; sie lassen sich schließlich als ein Prozeß verstehen, der im Kontext übergreifender Veränderungsbestrebungen erst in seiner eigentlichen Dimension erkennbar wird. Diese Beschreibung sei zugleich ein Plädoyer für die methodische Vielfalt bei der Analyse dieses Phänomens, das sich monokausalen Erklärungsversuchen weitgehend entzieht - zu verschiedenartig sind die darin wirksamen Tendenzen, zu unterschiedlich die Blickwinkel, aus denen heraus es sich wahrnehmen läßt, als daß das methodische Instrumentarium der literaturwissenschaftlichen Rezeptionsforschung allein zu seiner Erkärung genügen könnte. Daher ist in dieser Studie eine gewissermaßen konzentrische Annäherung an dieses Phänomen beabsichtigt, die methodologisch von historischer Rezeptionsforschung und Kanondiskussion ebenso beeinflußt ist wie von Wertungstheorie und

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Helmut Sembdner: Nachruhm als Mißverständnis. Ein Funk-Essay [1968]. In: ders., In Sachen Kleist. Beiträge zur Forschung. München 1994, S. 251-266, hier S. 251 f.; diese Einschätzung spiegelt sich in der entsprechenden Auswahl seiner Materialsammlungen, bei der die Rezeption von Seiten der Künstler deutlich bevorzugt wird. Zur Begriffsbestimmung vgl. Renate von Heydebrand; Simone Winko: Einführung in die Wertung von Literatur: Systematik - Geschichte - Legitimation. Paderborn; München; Wien; Zürich 1996. (UTB 1953), S. 222f„ zu Kanonkonzepten ebda., S. 307-321; vgl. Renate von Heydebrand: Probleme des Kanons - Probleme der Kultur. In: Johannes Janota (Hrsg.): Methodenkonkurrenz in der germanistischen Praxis. Vorträge des Augsburger Germanistentages 1991. Tübingen 1993. Bd. 4, S. 3-22.

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-praxis, 71 ebenso von grundlegenden allgemein- wie von mentalitätsgeschichtlichen Vorgaben. Diese methodische Pluralität erscheint auch deshalb notwendig, weil die älteren Vorarbeiten über Künstler-Renaissancen im allgemeinen von Franz Roh und über Literarische Renaissancen von Paul Böckmann als wichtige Anstöße und Diskussionsbeiträge zwar nach wie vor eine differenzierte methodische Grundlegung bieten, zugleich aber auch viele Fragen offen gelassen haben. 72 Den Arbeiten von Hans Robert Jauß, 73 der, wertungstheoretische Ansätze Mukarovskys aufnehmend, 74 im deutschsprachigen Raum mit nachhaltigem Erfolg den Rezipienten zum Forschungsgegenstand erhoben hat, sind Studien zur Aufnahme eines Dichters noch immer gleichsam per se verpflichtet. Über diese eher grundsätzliche Einbindung hinaus soll hier jedoch ein methodischer Sonderweg innerhalb der wirkungsgeschichtlichen Möglichkeiten verfolgt werden: die Arbeitsgrundlage im engeren Sinne soll die historische Rezeptionsforschung sein mit ihrem Interesse vornehmlich an tatsächlichen Auswirkungen von Literatur und nicht an möglichen, die sich wiederum aus einer Vielzahl von Fragestellungen und methodischen Ansätzen konstituiert. 75 Aus diesem Blickwinkel hat dem Publikum von Literatur - und nicht dem Text des Autors - das Hauptaugenmerk zu gelten: seiner sozialen Zusammensetzung, seinem wertenden Umgang mit dem Werk und der Person des Autors oder dem, was es dafür hält oder dazu macht. Das >Publikum< sei hierbei allerdings sehr konkret gefaßt und zu verstehen nicht als eine amorphe Masse, sondern als der allein wenig aussagekräftige Oberbegriff für verschiedenartigste soziale Gruppierungen mit ebenso verschiedenartigen intellektuellen Profilen und weltanschaulichen Voraussetzungen, die es gemäß ihrer konkreten Einflußnahme auf die Wirkungsgeschichte (etwa als Vermittler) näher zu bestimmen gilt. Doch auch diese Einflußnahme bedarf der Konkretisierung. Es genügt also nicht - wie dies traditionell in der Rezeptions- und Wirkungsforschung der Fall war 76 - Zustimmung und Ablehnung zu dokumentieren, 71

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Vgl. Walter Müller-Seidel: Probleme der literarischen Wertung. Über die Wissenschaftlichkeit eines unwissenschaftlichen Themas. Stuttgart 1965; Norbert Mecklenburg (Hrsg.): Literarische Wertung. Texte zur Entwicklung der Wertungsdiskussion in der Literaturwissenschaft. Tübingen 1977. (Deutsche Texte 43). Vgl. Roh (wie Anm. 12) (zuerst: 1948); Böckmann (wie Anm. 13); Ilse H. Burke: »Man muß die Menschheit lieben«: Georg Büchner und J. M. R. Lenz - Ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte. Diss. Michigan State University 1986. Vgl. Hans Robert Jauß: Literarische Tradition und gegenwärtiges Bewußtsein der Modernität. Wortgeschichtliche Betrachtungen. In: Aspekte der Modernität. Hrsg. von Hans Steffen. Göttingen 1965, S. 150-197; ders., Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. München 1977; ders., Die Theorie der Rezeption - Rückschau auf ihre unerkannte Vorgeschichte. Ansprache anläßlich der Emeritierung von Hans RobertJaußam 11. Februar 1987. Konstanz 1987. Vgl. Jan Mukarovsky: Kapitel aus der Poetik. Frankfurt 1967; vgl. Heydebrand/Winko (wie Anm. 70), S. 2 7 5 - 2 8 6 und passim. Vgl. Jörn Stückrath: Historische Rezeptionsforschung. Ein kritischer Versuch zu ihrer Geschichte und Theorie. Stuttgart 1979. Zur Begriffsbestimmung vgl. Stückrath (wie Anm. 75), S. 11; Hannelore Link: Rezeptionsforschung. Eine Einführung in Methoden und Probleme. Stuttgart; Berlin; Köln; Mainz 1976, S. 85.

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es dabei bewenden zu lassen und erstere womöglich als Beitrag zu einem gleichsam überzeitlichen (und inzwischen wohl sehr fragwürdig gewordenen) Verständnis vom Dichter zu verstehen. Aufschlußreicher scheint es hingegen zu differenzieren, von welchen Kriterien beide - Wertschätzung wie Distanzierung - abhängig sind und wie die so gefällten Werturteile - als kleinste Einheiten des Wertsystems - je nach ihrer Ausrichtung beschaffen sind, ob sie etwa Inhalte reflektieren oder eher pauschalisierend vorgefaßte Urteile zum Ausdruck bringen oder gänzlich literaturfremde Aspekte an ein Werk herantragen. 77 Ergänzend, weil in diesem Zusammenhang sehr aufschlußreich, sollen die Erklärungsansätze der Arbeiten zur historischen Mythologie der Deutschen herangezogen werden, die sich mit zu Stereotypen verdichteten Urteilsmustern befaßt und mit den daraus resultierenden Folgen insbesondere für die öffentliche Wahrnehmung von Personen. 78 Wie im allgemeinen die Entstehung, so sind also im besonderen die Funktionen von Werturteilen zu einem konkreten Zeitpunkt von zentralem Interesse wie im übrigen auch die hieraus abgeleiteten Handlungen, ja, gerade sie: denn das Publikum soll hier verstanden werden als ein >Aktivposten< der Wirkungsgeschichte des Autors im wörtlichen Sinne, der innerhalb des Handlungssystems >LiteraturÖffentlichkeit< dezidiert voraussetzt, leitet über zu einer weiteren zentralen Kategorie dieser Arbeit. Relevant für den Literaturbetrieb mit seinen vielfältigen Vermittlungsfunktionen zwischen Autor, Distributoren und Publikum und wirksam für die Wirkungsgeschichte eines Autors kann allein das sein, was Resonanz findet. Daher gilt das Augenmerk weniger privatim geäußerten Einschätzungen, sondern

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Vgl. etwa Michael Kienecker: Prinzipien literarischer Wertung. Sprachanalytische und historische Untersuchungen. Göttingen 1989. (Palaestra. Untersuchungen aus der deutschen, englischen und skandinavischen Philologie 286); Jochen Schulte-Sasse: Literarische Wertung. Stuttgart 1971. [ 2 1976]; ders., Literarische Wertung: Zum unausweichlichen historischen Verfall einer literaturkritischen Praxis. In: LiLi 18 (1988), Heft 71: Wertung und Kritik, S. 13—47; Mecklenburg (wieAnm. 71). Vgl. Wülfing/Bruns/Parr (wie Anm. 50). Renate von Heydebrand: Art. Literarische Wertung. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Berlin; New York 1984. Bd. 4, Sp. 828-871; dies., Zur normativen Konstruktion der Literatur um 1900. Ein Bericht über Untersuchungen an sozialdemokratischen, katholischen und >neutralen< Unterhaltungsblättern. In: LiLi 18 (1988), H. 71: Wertung und Kritik, S. 61-72; Zur theoretischen Grundlegung einer Sozialgeschichte der Literatur. Ein struktural-funktionaler Entwurf. Hrsg. im Auftrag der Münchener Forschergruppe Sozialgeschichte der deutschen Literatur 1770-1900 von Renate von Heydebrand, Dieter Pfau, Jörg Schönert. Tübingen 1988 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 21); vgl. Bourdieus Ansatz zum literarischen Feld< (hierzu: Joseph Jurt: Das literarische Feld: das Konzept Pierre Bourdieus in Theorie und Praxis. Darmstadt 1995).

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vor allem den »kollektiven Bestimmungsleistungen«, 80 solchen Urteilen also, die objektivierbar scheinen, von jeweils näher zu bestimmenden Gruppierungen ausgesprochen werden und etwa in der Wertschätzung oder Ablehnung eines Autors manifest werden. Diese sind zudem von einigem literatursoziologischen Interesse, dann etwa, wenn sich > Verehrergemeinden< formell oder informell konstituieren, um das Gedenken an ein von ihnen verehrtes >Genie< mit größerer Vehemenz zu vertreten oder als Zusammenschlüsse innerhalb von literarischen Strömungen, die durch die Berufung auf einen >Ahnherrn< eigene Interessen besser artikulieren zu können meinen. 81 Gleichfalls aus dieser Perspektive ist die Rolle der Institutionen eines längst etablierten Literaturbetriebes näher zu untersuchen, etwa deren Möglichkeiten zur Einflußnahme, deren Willen zur Veränderung und deren Motive oder, ob diese dem Wertwandel generell eher entgegenstehen bzw. gar aktiv ihn vorantreiben. 82 Das Phänomen der >Dichterrenaissancen< vermag zudem Auskunft zu geben über die Beschaffenheit des kulturellen Gedächtnisses einer Gesellschaft, 83 den Grad seiner Differenziertheit im Umgang mit der Vergangenheit und darüber, daß dieses Amnesien erleiden bzw. durch tätigen Einsatz einzelner oder von Gruppen auch davon >geheilt< werden kann; schließlich reizt es dazu, über die Rituale und >Mnemotechniken< nachzudenken, die notwendig sind, damit die kulturelle Gedächtnisleistung, die stets auch eine kollektive ist, aufrechterhalten werden kann. Um das Chaos der Überlieferung auf einen Ausschnitt zu reduzieren, der wenigstens ansatzweise sich strukturieren läßt, sei hier zudem ein zwar großzügig gefaßter, aber doch weitgehend synchronischer Zugriff angestrebt, der den Zeitraum von der Reichsgründung bis etwa 1920 umfaßt und nicht zufälllig mit der Phase der Institutionalisierung der >ModerneWahl< wirkt sich unmittelbar auf die Darstellung aus: des öfteren sollen bewußt gerade die extrem erscheinenden Positionen vorgestellt werden, die die Argumente einer Vielzahl gemäßigterer Auffassungen pointieren und typologisch gleichsam auf ihren gedanklichen Kern zurückführen. 85 Literaturferne wie etwa die stark weltanschaulich geprägten Positionen und Argumente, die die Dichter vorrangig für politische oder sonstige außerliterarische Ziele zu vereinnahmen suchen, sollen hierbei solchen Auffassungen gleichgeordnet werden, die literaturnäher scheinen und eher werk- oder kunstreflektierend auftreten: beide prägen die Wirkungsgeschichte eines Autors, beide bestimmen seine öffentliche Einschätzung, indem sie stellungnehmend in das >Handlungssystem Literatur< eingreifen, beide nehmen ihn in Anspruch; moralische Urteilskategorien auf sie zu projizieren, ist ein anderes, heute noch beliebtes, aber für den um Rezeptionsprozesse bemühten Betrachter inadäquates Mittel. Wichtige Anreize entlehnt die Studie der anhaltenden Kanondiskussion, die im Spannungsfeld von der Auflösung tradierter Rangordnungen und dem dennoch vorhandenen Bedürfnis nach Orientierung Position zu beziehen sucht. 86 Und obwohl noch unlängst festgestellt werden konnte, daß die literarische Kanonbildung »im allgemeinen von Germanisten offenkundig vernachlässigt« worden sei, und daß dem Kanon - allem besseren Wissen zum Trotz - weiterhin eine »Gloriole der Unantastbarkeit« eigne, sollen die (frühen) Dichterrenaissancen der literarischen Moderne gerade aus diesem Blickwinkel untersucht werden: wie etwa gelangt ein Dichter vom >Randkanon< in den >Kernkanon< und kann so zum integralen Bestandteil der >Gipfelliteratur< eines Sprachraumes werden, und wie ist dies nachzuweisen? 87 Der Literaturkanon soll zudem als ein Instrument verstanden werden, mit dessen Hilfe Macht ausgeübt wird, keineswegs jedoch nur politische Macht. Auch die Aspekte kultureller Machtausübung, die gleichwohl häufig eng verwandt sind, und sich vornehmlich als Konflikte zwischen Tradition und Innovation, aber auch und besonders erbittert als Streit um weltanschauliche Dominanz gerade auf dem Sektor der Kunst erweisen, sollen hierbei berücksichtigt werden. Daß der Literaturkanon zum Teil massiven Veränderungen unterworfen gewesen ist, kennzeichnet ihn als ein an

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Vgl. Jörn Rüsen: Die Uhr, der die Stunde schlägt. Geschichte als Prozeß der Kultur bei Jacob Burckhardt. In: Historische Prozesse. Hrsg. von Karl-Georg Faber und Christian Meier. München 1978. (Beiträge zur Historik 2), S. 186-217, hier S. 215ff. Vgl. Schmidt-Dengler (wie Anm. 1); ders., (ebda.), Friedbert Aspetsberger: Langandauernder Ausschluß aus dem Kanon. Eine wirkungsgeschichtliche Studie zu Arnolt Bronnen. In: Schmidt-Dengler (wie Anm. 1), S. 52-70; Uwe Baur: Prozesse der Kanonisierung österreichischer Literatur, (ebda., S. 204-207); Wilhelm Emrich: Wertung und Rangordnung literarischer Werke. In: Sprache im technischen Zeitalter (1964), S. 974-991, hier S. 974: »Wertung und Rangordnung literarischer Werke scheinen seit dem Erwachen des modernen historischen Bewußtseins unmöglich geworden zu sein«; Alois Hahn: Kanonisierungsstile. In: Assmann (wie Anm. 83), S. 28-37; Seibt (wie Anm. 8), S. 41: »Die Kürze des Lebens ist die letzte und unwiderlegliche Rechtfertigung für literarische Kanonbildung.« Schmidt-Dengler (wie Anm. 1), S. 9f.; vgl. Levin L. Schücking: Soziologie der literarischen Geschmacksbildung. Bern; München 1961, S. 8f.

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seine historischen Rahmenbedingungen geknüpftes Phänomen. Besonders reizvoll erscheint es daher, den Kanon gerade dort zu untersuchen, wo sich sein Konzept als brüchig erweist. Solche Bruchstellen sind die >Dichterrenaissancen< als das Ergebnis eines umfassenden Wertwandels. Der Kanon zu einem bestimmten Zeitpunkt soll daher als ein stets vorläufiges Resultat im oben beschriebenen Konflikt angesehen werden, das nicht in sich konsistent, sondern verschiedensten, sich permanent verändernden Einflüssen ausgesetzt ist. Dem besseren Verständnis solchen literarischen Wertwandels mag zudem die nicht unproblematische, weil recht unscharfe und möglicherweise verfälschende Vorstellung der Prozeßhaftigkeit dieses Vorgangs dienen. Diese setzt voraus, daß es möglich ist, Zustandsveränderungen zwischen einem Anfangszustand Α und einem Zielzustand Β einigermaßen stringent zu beschreiben, was nicht wenig heikel ist, zumal im konkreten Fall weder die Konturen von Α und Β noch die Kriterien für den Wandel eindeutig festgelegt sind. Dennoch erscheint es vernünftig, grundsätzlich zunächst von prozeßhaften Strukturen dieses Phänomens auszugehen. Nicht zuletzt, um der Skepsis Ausdruck zu verleihen, die bei der Verwendung des Begriffs der >Dichterrenaissance< und auch bei naiver Betrachtungsweise geradezu notwendig auf den Plan gerufen wird: allzu sehr eignet ihm die Neigung zum Dramatischen, zum Plötzlichen; ganz so, als ob die Kriterien, nach denen Literatur und deren Verfasser beurteilt werden, sich von einem Tag auf den anderen sprunghaft verändern würden. Daß es sich bei dieser Vorstellung jedoch durchaus um >Leim< handeln könnte, der von denjenigen ausgelegt wird, denen es darauf ankommt, die Urheberschaft für einen solchen Quantensprung für sich in Anspruch zu nehmen, erscheint als eine nicht zu unterschätzende Gefahr, denn: wer würde sich für einen Wertwandel im evolutionären Sinne interessieren, der sich über zwanzig, dreißig oder noch mehr Jahre hinstreckt, wenn doch derselbe Wertwandel zur Revolution erklärt und auf einen punktuellen, allenfalls einige Jahre umfassenden Zeitraum verkürzt, ungleich faszinierender und wesentlich anregender wirkt sowie sich auf die individuelle und spektakuläre >Tat< eines Einzelnen reduzieren läßt. Wertwandel als ein Prozeß betrachtet bedarf also vornehmlich der präzisierenden Definition, der Klärung, wie das Verständnis vom Dichter und dessen Werk zu verschiedenen Zeitpunkten beschaffen ist, wann und wodurch solcher Wandel einsetzt, wobei durchaus nicht unerheblich ist, welchen Einfluß einzelne Personen durch ihre Gedanken oder Taten hierauf nehmen können. Als erkenntnisleitender Begriff zum tieferen Verständnis und zu einer wenigstens ansatzweisen Erhellung neuzeitlicher historischer Prozesse, als die >Dichterrenaissancen< hier auch aufgefaßt werden sollen, sei zudem die von Odo Marquard eingeführte Kategorie »Kompensation« definiert. 88 Modernisierungen jeglicher Couleur wie die Moderne selbst werden danach u.a. als ein Emanzipationsbestreben von

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Odo Marquardt: Kompensation. Überlegungen zu einer Verlaufsfigur geschichtlicher Prozesse. In: Historische Prozesse. Hrsg. von Karl-Georg Faber und Christian Meier. München 1978. (Beiträge zur Historik 2), S. 330-362, hier S. 356ff. passim.

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einer als defizitär verstandenen Tradition aufgefaßt, für die eine Entschädigung bzw. Wiedergutmachung postuliert wird. Diese »Verlaufsfigur moderner geschichtlicher Prozesse« verspricht, auf kulturelle Phänomene appliziert, gleichfalls aufschlußreiche Ergebnisse. In dem historischen Moment nämlich, in dem sich das Bewußtsein für die Möglichkeit einer Revision des Vorhandenen einstellt, werden Wandlungsprozesse und die durch sie angestrebten Ziele (zumindest theoretisch) planbar. Auch der Wandel des literarischen Kanons läßt sich so als eine »Kompensation« verstehen, bei dem seine Defizite benannt (etwa Exklusivität) und neue Inhalte als Antwort darauf forciert werden. Schließlich möchte sich die vorliegende Studie verstanden wissen einerseits als eine Anregung, vorhandene Wertungstheorien durch den Rückgriff auf die durch sie zutage geförderten Ergebnisse aus dem Bereich der historischen Wertungspraxis zu ergänzen und gegebenenfalls zu modifizieren; andererseits auch als ein Beitrag zur Grundlagenforschung, da der Fülle der Rezeptionsstudien zum Trotz Rezeptionsprozesse bedingt durch methodische wie praktische Schwierigkeiten bisher kaum eingehend behandelt worden sind. 89 Erst eine genauere Kenntnis aber solcher Prozesse ermöglicht eine Antwort auf die Fragen nach den Wurzeln unserer eigenen geistigen Traditionen und Anschauungen, die allein im Spiegel vergangener Zeiten erkennbar werden. Eine angemessene Rekonstruktion bedarf einer breiten Materialbasis und muß auch entlegene Zeugnisse aufsuchen; Skepsis ist angebracht gegenüber Versuchen, aus wenigen Zitaten jeweils einen ganzen Kosmos zu entwickeln. Gleichwohl muß die Darstellung auswählen, aber eben auswählen aus der Fülle des Überlieferten (die für die hier behandelten Jahre 1880 bis 1920 besonders reichlich existiert), damit die jeweils signifikanten und exemplarischen Äußerungen möglichst getroffen werden. Zu allererst aber muß die Rede sein von den nicht verwendbaren Quellen, und zwar, weil diese Studie einen überlieferungs- und kulturgeschichtlichen Sonderfall thematisiert: die (zumeist) schriftliche Fixierung von Urteilen über Dichter und ihre Dichtungen, die der Nachwelt tatsächlich auch erhalten bleiben. Ein Phänomen im übrigen, daß ohne die Institution >Literaturkritik< gar nicht denkbar wäre: ohne die seit der Aufklärung sich in ihr europaweit institutionalisierende Reflexion über Literatur, also den öffentlichen Diskurs gäbe es keine Dichterrenaissance. Dies muß daher die Wahl der der Analyse zugrundezulegenden Materialien erheblich beeinflussen. Einmal davon abgesehen, daß die Erinnerung an Vergangenes stets durch den teilweise auch zufallsbedingten Verlust von Kenntnissen im Detail, zuweilen sogar vom Vergessen ganzer Sachverhalte geprägt ist, daß also das >kollektive< Gedächt-

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Vgl. Karl Robert Mandelkow: Probleme der Wirkungsgeschichte. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik II (1970), H. 2, S. 71-84, hier S. 84; Gunter Grimm: Einführung in die Rezeptionsforschung. In: ders., Literatur und Leser. Theorien und Modelle zur Rezeption literarischer Werke. Stuttgart 1975, S. 11-22, hier S. 22; Link (wie Anm. 76), S. 85; Howard (wie Anm. 64), S. 8.

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nis offenbar mitunter durchaus selektiv arbeitet, so sei doch im konkreten Fall auf einige Spezifika und Mechanismen der Tradierung von Urteilen über Literatur verwiesen: Es besteht vor allem eine enorme Diskrepanz zwischen der Vielzahl der von Lesern abgegebenen Urteile und den tatsächlich überlieferten und zugänglichen Äußerungen über Gelesenes. Von den ersten erfahren wir so gut wie nichts, bleibt es doch stets die Ausnahme, daß die Meinung über einen Dichter oder die Bewertung eines Buches eine schriftliche Stellungnahme provoziert; allenfalls mündlich und so für den Augenblick und kaum darüber hinaus - werden solcherlei Eindrücke anderen mitgeteilt. Häufig genug also >verschüttet< der vorwiegend private Charakter zudem meist schichtenspezifischer Lektüregewohnheiten von vornherein den Zugang zu historischen Urteilen über Literatur, die hier ja gerade analysiert werden sollen. Die schriftliche Fixierung von Stellungnahmen zur Literatur ist demnach ein so außergewöhnlicher Vorgang, daß allein sein Vorhandensein auf einen immanenten, durchaus elitär zu nennenden Anspruch des jeweiligen Verfassers schließen läßt, der darüber hinaus häufig gepaart ist mit konkreten Absichten. Die Tatsache, daß bei der Vielzahl dieser Texte > Kennen - meist sogar professionelle Vermittler am Werk sind, hauptamtlich mit Kultur im weitesten Sinne befaßte Personen also, sollte für deren Motive und Zielsetzungen hellhörig machen, sind sie es doch, die Öffentlichkeit und Diskussionsforen überhaupt erst konstituieren und so den Diskurs - auch den über die Qualität, den >Wert< von Literatur - ermöglichen und prägen. 90 Die Mentalität dieser Personen ist daher von äußerster Relevanz, auch wenn und gerade weil sie im Bemühen, etwas zu bewegen, einen häufig monopolartigen Anspruch auf alleinige Urteilskompetenz erheben. Festzuhalten bleibt daher, daß das von einem beliebigen Leser abgegebene Urteil mannigfache, stark filternde Instanzen durchlaufen muß, um nach hundert oder mehr Jahren für eine Analyse überhaupt noch zur Verfügung zu stehen. Dieser Sachverhalt bereitet weitere Probleme: neben der nicht zu unterschätzenden Kategorie >Zufall< spielt wiederum die der »Wahl« im Sinne Febvres eine große Rolle, zumal sie teilweise direkt auf diese Instanzen einwirkt. Zwei dieser Instanzen seien besonders hervorgehoben: der Grad der Öffentlichkeit und Zugänglichkeit der Aussage und der Bekanntheitsgrad des Aussagenden selbst. 91 Je leichter zugänglich, desto eher wirksam - diese banale Feststellung führt direkt zum Kern des Problems. Die wegen ihrer Aussagekraft und Reflexionshöhe in dieser Studie vornehmlich herangezogenen Textsorten zeichnen sich durchgängig dadurch aus, daß sie gemäß ihrer Zielsetzung ein hohes Maß an Öffentlichkeit erlangt haben. Sie umfassen das gesamte Spektrum der zumeist professionell betriebenen Literaturkritik und -analyse, also anspruchsvolle Rezensionen in literarischen Zeitschriften ebenso wie die im Vergleich dazu vordergründig-flach erscheinenden in der Gartenlaube, Feuilletons überregionaler Tageszeitungen wie auch wissenschaftliche Aufsätze in entsprechenden Organen oder

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Zu den Voraussetzungen professioneller Wertung vgl. Heydebrand/Winko (wie Anm. 70),

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Vgl. hierzu den Abschnitt zur »Autorenwertung« (ebda., S. 215-222).

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aber Handlungsanweisungen für Theaterpraktiker. Der ausdrückliche Hinweis auf den ausgeprägt öffentlichen Charakter dieser Texte erscheint notwendig, wenn es darum geht, ein Phänomen zu untersuchen, das zu allererst als Resultat eines öffentlichen Meinungsfindungsprozesses aufgefaßt werden muß - die Kanonisierung oder Aufwertung eines bis zu einem bestimmbaren Zeitpunkt vom Kanon ausgeschlossenen oder an dessen Rand sich befindenden Autors. Die Feststellung, daß sich Wiederentdeckungen nur auf der Basis einer kontrovers geführten Debatte verschiedenster Beteiligter vor der Öffentlichkeit des an Literatur interessierten Publikums vollziehen, also stets ein überindividuelles Gepräge tragen, führt dementsprechend dazu, solchen Stellungnahmen den Vorrang zu gewähren, deren Publizität und Wirksamkeit im Rahmen dieses Diskurses sich nachweisen läßt. Die »Wahl« der Quellen sollte also daran orientiert sein, welche Teilbereiche der >Öffentlichkeit< hierbei eine herausragende Rolle spielen. Zugleich sollte sie die Beziehungen, Wechselwirkungen und Abhängigkeiten zwischen diesen differenzierbaren >Öffentlichkeiten< näher beleuchten, um besser verstehen zu können, welche Faktoren die öffentlich stattfindende Revision von Urteilen beeinflussen. Die Wirkungsweisen von Literatur in dieser Form näher zu bestimmen, heißt somit, diese nicht isoliert zu betrachten, sondern ihre Interdependenzen mit anderen gesellschaftlichen Bereichen wie beispielsweise der Politik als Herausforderung anzunehmen. Dementsprechend finden hierbei auch ungewöhnliche oder entlegene Materialien Verwendung. Keineswegs jedoch bedeutet die angedeutete Präferenz, daß nun Zeugnisse vorwiegend privaten oder halböffentlichen Charakters nicht zur Geltung kämen. Im Gegenteil: Tagebuchnotizen, Briefwechsel und ungedruckte Materialien aus diversen Archiven und Bibliotheken nehmen in der Argumentation gleichfalls breiten Raum ein, dienen sie doch dazu, die Hintergründe des offen zu Tage Tretenden zu erhellen. Zugleich erfordern diese ungleich subjektiver gefärbten Materialien Zurückhaltung, wie sie gegenüber allen Formen von >Erinnerungsliteratur< angebracht scheint. Darüber darf auch nicht die Entdeckerfreude über das oftmals nur an einer Stelle - und gerade in dieser Quellengattung - Bezeugte hinwegtäuschen. Große zeitliche Distanz, bewußte oder unbewußte weltanschauliche Modifikationen, sie alle verstellen unter Umständen den Blick auf Fakten mehr, als daß sie ihn erhellen. Beinahe ausschließlich bezeugen jedoch auch sie die Sichtweisen professionell mit Literatur befaßter Personen, so daß die berücksichtigten Quellen wiederum einem recht engen Verfasserkreis entstammen: es sind dies Schriftsteller, Journalisten, Regisseure und Wissenschaftler. An dieser Stelle sei der Rückbezug auf den oben erwähnten Bekanntheitsgrad des Urteilenden gestattet. In zahlreichen rezeptionsgeschichtlichen Studien steht dieser in engem wechselseitigen Verhältnis zur Wahrscheinlichkeit der Berücksichtigung seines Urteils. Zugegebenermaßen zwingt die Suche nach relevanten historischen Urteilen über Literatur zur »Wahl«, auffällig ist jedoch, wie sehr die Prominenz eines >KritikersBerühmtheit< ist mithin durch dasjenige der >Relevanz< zu ersetzen. Dieses Vorgehen redet indes keineswegs der vereinzelt erhobenen, 92 aber doch wohl unrealistischen Forderung nach Berücksichtigung aller nur irgend erdenklichen Quellen zu einem Thema das Wort, plädiert jedoch ausdrücklich dafür, das Spektrum deutlich weiter als bisher zu fassen und so letztlich der Erkenntnis Rechnung zu tragen, daß keineswegs nur Literaten und Kritiker berufen sind, sich über Literatur zu äußern. Der Wunsch nach möglichst umfassender Rekonstruktion lenkt den Blick auf häufig nur ansatzweise zu entwickelnde Kontexte, die jedoch notwendig für das Verständnis von Dichterrenaissancen sind. So erschließen erst die programmatischen Äußerungen einiger avantgardistischer Zirkel (und auch ein Teil ihrer literarischen Produktion), worin die von ihnen propagierte Nähe und >Verwandtschaft< zu Kleist eigentlich zu suchen ist. Ähnliches leisten auch die Berichte über den in Berlin beheimateten akademischen Brauch, das Grab Kleists jedes Jahr im Spätherbst aufzusuchen. Die Ränder des »literarischen Feldes« (Bourdieu), die Grenzen des »Handlungssystems Literatur« (Heydebrand) sind also abzuschreiten, um die Mechanismen und die Mentalitäten deutlicher zu verstehen, die die Aufnahme von Literatur beeinflussen. Gemeinsam ist schließlich den weitaus meisten Autoren, deren Urteile über Kleist im folgenden Erwähnung finden, bei aller nur erdenklichen weltanschaulichen Heterogenität und ungeachtet verschiedenster Kontexte, jedoch unleugbar etwas, das Thomas Mann als ein Unbewußtes benannt hat: Die Menschen wissen nicht, warum sie einem Kunstwerke Ruhm bereiten. Weit entfernt von Kennerschaft, glauben sie hundert Vorzüge daran zu entdecken, um so viel Teilhabe zu rechtfertigen; aber der eigentliche Grund ihres Beifalls ist ein Unwägbares, ist Sympathie. 93

Manns Skepsis in Bezug auf die Erklärbarkeit von Neigungen wird in dieser Arbeit geteilt; was jedoch über sie allein hinausgeht, die Folgen, die gerade diese »Sympathie« zeitigt - sei es als Edition, Inszenierung oder euphorische Würdigung, sie sollen auch und aufgrund der Fülle Aufschluß gebender Materialien als einander bedingende, im Zusammenhang zu sehende Vorgänge erschlossen werden.

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93

Vgl. Erwin Streitfeld: Mehr Licht! Bemerkungen zu Georg Büchners Frührezeption. In: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins. N. F. der Chronik 80 (1976), S. 89-104. Thomas Mann: Der Tod in Venedig. In: ders., Frühe Erzählungen. Frankfurt 1981. (Frankfurter Ausgabe 9), S. 559-641, hier S. 567f.

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II. Kleist in seiner Zeit. Eine Dichterlaufbahn neben >Klassik< und >Romantik
Dichterkarriere< nur sehr unzulänglich nachvollziehbar sein, sind doch Erfolg und Mißerfolg zu Lebzeiten dabei nicht nur wichtige Orientierungspunkte, sondern zugleich die Wurzel der sich langfristig konstituierenden öffentlichen Einschätzung eines Dichters, des >Bildes< also, das man sich von ihm macht. Ob das Urteil der Zeitgenossen auch als ein Korrektiv gegenüber den Behauptungen späterer Generationen von deren Ignoranz und Desinteresse Kleist gegenüber anzuführen ist, muß sich zeigen. Zu klären ist allerdings zunächst, welche Werke als von Kleist stammend wahrgenommen wurden und welche Resonanz sie zu dessen Lebzeiten erfuhren. Wie jedoch läßt sich ein Abstraktum wie >Erfolg< im Bereich der Literatur genauer bestimmen? Aussagekräftig erscheinen hierfür sowohl quantitative Gesichtspunkte wie die Auflagenhöhe der Werkausgaben oder die Besucherzahlen der Theater, aber auch und besonders die Stimmen lobender Rezensenten, vom Talent überzeugter Schriftstellerkollegen und einflußreicher Verleger. Aus dem behandelten Zeitraum von 1803 bis 1811/12 sind vergleichsweise zahlreiche Äußerungen zu Kleists Werk überliefert - ein Befund, der zunächst in gewisser Diskrepanz zu der verbreiteten Lesart vom desinteressierten zeitgenössischen Publikum zu stehen scheint; warum hätte man über jemanden schreiben sollen, der gänzlich irrelevant ist? Das von akribischen Forschern vornehmlich aus der deutsch-, sporadisch auch der französischsprachigen Presselandschaft 1 dieser Zeit inzwischen zusammengetragene Material gestattet mehr als eine erste Orientierung: rund einhundertsechzig Artikel, Rezensionen und Würdigungen sowie diverse Äußerungen aus privaten Briefwechseln, die sich teilweise recht ausführlich mit Kleists Schaffen auseinandersetzen, sind erhalten. 2

1

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Vgl. Hermann F. Weiss: Funde und Studien zu Heinrich von Kleist. Tübingen 1984, S. 170, über die Anzeigen der Familie Schroffenstein und des Amphitryon im Journal General de la Litterature Etrangere ((1805), H. 10, S. 466; (1807), H. 8, S. 564). Vgl. Die Kleist-Arbeiten Helmut Sembdners 1935-1992. In: Beiträge zur Kleist-Forschung (1992), S. 165-170; Peter Staengle: Kleists Pressespiegel. 1. Lieferung: 1808/1809. In: Ber-

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Daß die weitaus meisten Werke Kleists zu dessen Lebzeiten erschienen sind, 3 läßt allerdings kaum Schlüsse auf deren tatsächliche Resonanz zu. Demgemäß konzentrieren sich die nachfolgenden Überlegungen auf Aspekte, die exemplarisch Aussagen über Kleists Erfolg oder dessen Erfolglosigkeit ermöglichen. Die Reaktionen der Presse auf seine Publikationen an den besonders markanten Punkten seiner Laufbahn werden demgemäß zuerst untersucht: solche >Gelenkstellen< sind l . d e r Beginn seiner Karriere mit dem 1803 anonym erscheinenden Trauerspiel Die Familie Schroffenstein, 2. die Phase von 1807 bis 1809, die seinen Ruf als Dichter begründet und konsolidiert und in der er durch äußerst verschiedenartige Veröffentlichungen wie Amphitryon (1807), Penthesilea (1808) und Das Käthchen von Heilbronn (1808), aber auch als Publizist in der Zeitschrift Phöbus an die Öffentlichkeit trat, 3. schließlich eine späte Phase seines Schaffens von 1810 bis 1811, in der er vornehmlich als Verfasser von Prosatexten bzw. als Journalist in den periodisch erscheinenden Berliner Abendblättern Aufmerksamkeit erregte. Die an Kleists vielfältige Aktivitäten angelegten Maßstäbe, die Kriterien, nach denen er beurteilt wurde, verdienen in diesem Abschnitt besonderes Augenmerk, weil hier wichtige Hinweise auf die zeitgenössische Einschätzung zu erwarten sind. Im zweiten Abschnitt wird anhand der Reaktionen Goethes und Wielands auf und deren Aktivitäten für Kleist ein wirkungsgeschichtlicher >Sonderfall< von großer Tragweite untersucht: die Einflußmöglichkeiten und tatsächliche Einflußnahme von Dichtern auf die Laufbahn ihrer Kollegen und zwar sowohl zu deren Lebzeiten als auch danach. In diesem Kontext kommt der frühen Aufführungsgeschichte des Stückes Der zerbrochne Krug ein besonderer Rang zu, der die vermeintliche Vernachlässigung im ersten Abschnitt begründen mag. Die engen Beziehungen Kleists zu den Vertretern der >Romantischen SchuleSchule< zuzuordnen, mußte ihn beinahe ebenso notwendig in Opposition setzen zu anderen literarischen Strömungen; ein Vorgang dies, der sich letztlich auch auf die Haltung des Publikums ihm gegenüber auswirken mußte. Ins >öffentliche< Bewußtsein gelangte Kleist schließlich wohl w e n i g e r durch seine Werke, als vielmehr durch die als Sensation und Skandal zugleich aufgefaßten Umstände seines gemeinschaftlichen Freitodes mit Henriette Vogel am 21. November 1811. Da »man erst durch die zwei Schüsse am Wannsee auf ihn als Menschen aufmerksam« wurde, 4 dürfen mit einem gewissen Recht die zeitgenössischen Stellungnahmen zu diesem Vorfall in die Überlegungen einbezogen werden, schreiben sie doch, jenseits aller Lektüre und jeglichen literarischen Interesses, das >Bild< vom Dichter auch und gerade in der außerliterarischen Welt fest und formulieren so schon früh >Vör-Urteile< der Person gegenüber, die immer wieder auch die spätere Interpretation seiner Werke bestimmten. Die Familie

Schroffenstein

Die unscheinbare Ankündigung vom 30. November 1802, daß in Zürich in »der Geßnerischen Buchhandlung beym Schwanen« Die Familie Schroffenstein. Ein Trauerspiel in 5 Aufzügen zum Verkauf ausliege, 5 vermochte wohl nur bei wenigen Lesern Interesse zu wecken. 6 Vom Verfasser ist dort keine Rede, und auch in den das halbe Dutzend gerade überschreitenden Würdigungen, die zwischen 1803 und 1805 über

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Sembdner (1996) I, S. 7. Vgl. Zürcherisches Intelligenz-Blatt vom 30. November 1802, Nr. 48, S. 192; ebda., 4. Januar 1803, Nr. 1, S. 3; zur Textüberlieferung, vgl. den Brief Solgers an Tieck vom 6. Juli 1816 (in: Percy Matenko (Hrsg.): Tieck and Solger. N e w York; Berlin 1933, S. 253f.); Theophil Zolling in: Heinrich von Kleists sämtliche Werke. Hrsg. von Theophil Zolling. Τ. 1 4. Berlin; Stuttgart 1885. Bd. 1, S. 60; Peter Michelsen: Die Betrogenen des Rechtsgefühls. Zu Kleists >Die Familie SchroffensteinFamilie SchroffensteinFamilie Schroffenstein< auf der deutschen Bühne. München Phil. Diss. 1925. Charlotte von Kalb und Jean Paul zählen zu den ersten Lesern Kleists (vgl. von Kalbs Briefe an Jean Paul v o m 26. Oktober 1803 und vom 27. Juli 1804 (in: Eduard Berend: Kleist im Urteil Jean Pauls und Charlottens von Kalb. In: Jahrbuch der Kleistgesellschaft (1922), S. 8 5 - 9 0 , hier S. 85ff.) und Jean Paul 1804 in der Vorschule der Ästhetik (zitiert nach: Sembdner (1996) I, S. 120f., Nr. 134b): »Ließ man sich bisher den Schmerz der falschen Bestrebung am wahren Talente gefallen, so sollte man der wahren den Mangel von einem oder mehren Beinen mehr nachsehen, womit sie zum Ziele fliegen will. Novalis' Werke - Schroffenstein - die Söhne des Thals [...] Ludwig Wielands Romane - usw. sind teils Sternchen, teils rote Wolkens, teils Tautropfen eines schönen poetischen Morgens«); vgl. die >kindgerechte< Prosafassung in: Christian Wilhelm Spieker: Familiengeschichtenfür Kinder. Bd. 3: Die glücklichen Kinder. Dessau; Leipzig 1808, S. 150ff., 186.

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dieses Werk geschrieben wurden, 7 spürt man, wie irritierend die Unkenntnis über den Autor wirkte. Zugleich übte die anonyme Erscheinungsweise natürlich einen gewissen Reiz aus, galt es doch, den Urheber anhand seines Textes auszumachen. 8 Überdies erlaubt solche Herausforderung der Leserschaft es heute, die Arbeitsweisen der zeitgenössischen Literaturkritik in nuce kennenzulernen. Ihres wichtigsten Hilfs- und Orientierungsmittels beraubt - der Kenntnis des Autors, die zumeist eine grundsätzliche Kategorisierung erlaubt - , sind die ersten Kritiker des Kleistschen Textes nämlich darauf angewiesen, ihre Beobachtungsgabe sehr viel intensiver als sonst einzusetzen, was wiederum deutliche Hinweise auf die von ihnen an literarische Werke angelegten Maßstäbe zuläßt. Der Dramatiker und Literaturkritiker Ludwig Ferdinand Huber, 9 der Die Familie Schroffenstein im März 1803 in der Zeitschrift Der Freimüthige als erster ausführlich rezensierte, betont seine Begeisterung gleich zu Beginn: Erscheinung eines neuen Dichters. Eine gute Kunde hat der Freimüthige heute einem jeden zu geben, der die jetzigen Konjunkturen der Deutschen Litteratur beherzigt - die Erscheinung eines neuen Dichters hat er zu melden, eines unbekannten und ungenannten, aber wirklich eines Dichters*.10

Dieses Prädikat höchster Güte ist die Summe der positiven Beobachtungen, die Huber am Text macht. Der Dichter habe es vermocht, seine, Hubers, anfängliche, vornehmlich gattungsbezogene Skepsis, die »traurigen Erwartungen [...], zu denen man bei einem Ritterschauspiel [...] in der Regel berechtigt seyn mag«, nicht nur zu widerlegen, sondern durch »die begeisterte Hoffnung« zu ersetzen, »daß endlich doch wieder ein rüstiger Kämpfer um den poetischen Lorbeer aufstehe, wie ihn unser Parnaß

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-b- [Ludwig Ferdinand Huber]: Erscheinung eines neuen Dichters. In: Der Freimüthige, oder Berlinische Zeitung für gebildete, unbefangene Leser, 4. März 1803, Nr. 36, S. 141 f.; vgl. hierzu die Notiz in: Zeitung für die elegante Welt, 30. Juli 1803, Nr. 91, Sp. 724f.; >Do.< in: Neue Allgemeine Deutsche Bibliothek (1803), Bd. 85, 2. St., 6. H„ S. 370-374; Neue Leipziger Literaturzeitung, 23. Dezember 1803, Nr. 76, Sp. 1233-1237; Grätzer Zeitung, 14. Januar 1804, Nr. 8; Ludwig Ferdinand Huber: [Aufforderung]. In: Allgemeine Zeitung, 13. Juni 1804, Nr. 165, S. 660; Aurora, eine Zeitschrift aus dem südlichen Deutschland, 26. Oktober 1804, Nr. 129, S. 515f.; Allgemeine Literatur-Zeitung, 22. August 1805, Nr. 224, Sp. 373-376. Vgl. Friedrich Schulz in: Spenersche Zeitung, 15. Oktober 1824 (zitiert nach: Sembdner (1996) I, S. 91f., hier S. 92, Nr. 98e): »Refer, erinnert sich genau, die kritische Anzeige Hubers in dem ersten Jahrgange des Freimüthigen vom Jahre 1803 mit heftiger Erwekkung des Verlangens nach dem Werk und dem Namen des Dichters gelesen zu haben und bald angenehm überrascht zu sein, dass ein junger von ihm persönlich gekannter Offizier [...] der Verfasser sei.« Zu Huber vgl. Sabine D. Jordan: Ludwig Ferdinand Huber. His life and works. Diss. Stuttgart 1978, S. 147f.; Rudolf Elvers: Art. Ludwig Ferdinand Huber. In: Allgemeine Deutsche Biographie. Leipzig 1881. Bd. XIII, S. 236-240; der Text der Kritik findet sich auch in Ludwig Ferdinand Huber: Sämtliche Werke seit dem Jahre 1802. Zweiter Theil. Tübingen 1810, S. 209-216; vgl. auch die Huber beipflichtende Kurzrezension in der Spenerschen Zeitung vom 7. Mai 1803; hierzu Siebert (wie Anm. 5). Huber (wie Anm. 7).

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gerade jetzt so sehr braucht«, 11 womit er auf die ängstliche Gespanntheit hinwies, mit der das Publikum auf die Generation von Schriftstellern nach Goethe und Schiller wartete. Zuvor schon hatte Huber seine Lektüreeindrücke beschrieben: 12 Ich las einen Bogen, den zweiten, den dritten, ohne recht zu wissen, woran ich war. Hatten Shakespear, Göthe, Schiller, hier wieder einmal Unheil angerichtet? war es eine unberufene Nachahmung, mit etwas eigener Verkehrtheit, und mit den Schellen der neuen ästhetischen Schule ausgestattet?

Das Spannungsfeld, in dem sich neue Dichter und Dichtungen bewegen, eine Art Koordinatensystem also, in dem literarischen Werken ihr Ort angewiesen werden kann, wird hier beschrieben. Darin nehmen die drei Verfasser von »Meisterstükken« die Spitzenposition ein - als >beste< Dramatiker gleichsam. Mit »dem wahrhaft shakespearischen Geiste« wird das dieser Zuordnung zugrundeliegende Kriterium eindeutig benannt, an ihn reichen sogar »die Details in Göthe'ns und Schillers dramatischen Werken« nur bedingt heran. 13 An Shakespeares Dramen als den Garanten überzeitlicher literarischer Qualität also haben sich spätere Dramatiker nach Hubers Auffassung messen zu lassen, wenn sie so ausdrücklich wie in diesem Drama der Fall an den Werken des Engländers orientiert sind. Die negativen Koordinaten hingegen werden von den mit (Narren-)Schellen versehenen Vertretern der »neuen ästhetischen Schule« besetzt, die Huber nicht einmal für würdig hält, namentlich genannt zu werden. 14 Für ihn gehören sie zu einer »leidigen Sekte, die durch ihre Proselytenmacherei die Blüthe unsrer Jugend zu vergiften droht«. 15 Es fällt Huber nicht ganz leicht, Kleists >Koordinaten< in diesem System definitiv zu bestimmen. Denn obwohl dem »merkwürdige[n] Produkt« neben »einer harten, ungleichen Sprache«, »unbestimmten, dunkeln Andeutungen« und »manchen Elementen zu einem grundschlechten Stück« durchaus negative Merkmale eignen, entsteht hieraus dennoch eine »stattliche poetische Welt«. 16 Das verwundert zunächst ein wenig, da Huber weitere und gewichtige Kritikpunkte anmeldet: »der seltsame Stoff, den der Verfasser hier gewählt hat«, »die vielen Lücken der Bearbeitung«,

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15 16

Ebda. Ebda. Ebda. Indirekt ist lediglich von Friedrich Schlegel die Rede; Huber möchte Kleist »vor der Schule schützten], in welcher ein Alarcos ausgebrütet wurde« (S. 29, Z. 61); einig ist er sich darin mit Merkel, dem zweiten Herausgeber des Freimüthigen, der Alarcos »als ein wahres Meisterstück von Unsinn« bezeichnete und zuvor schon boshaft festgestellt hatte: »In Berlin, sagt man mir, sey die Aesthetik bey den Jüdinnen förmliche Himwut geworden, aber das übrige Publikum nimmt wenig Notiz von den Schlg. Gebrüdern« (Brief Garlieb Merkels an Karl August Böttiger, 3. April 1802; in: Die Briefe Garlieb Helwig Merkels an Carl August Böttiger. Hrsg. von Bernd Maurach. Bern; Frankfurt; New York; Paris 1987, S. 107ff., Nr. 34); vgl. Josef Körner: Romantiker und Klassiker. Die Brüder Schlegel in ihren Beziehungen zu Schiller und Goethe. Berlin 1924 [Reprint: Bern 1974], S. 116-122. Huber (wie Anm. 7). Ebda.

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der Eindruck der Unaufführbarkeit, schließlich die »Dunkelheiten der Manier des Dichters«, sowie der »höchst inkorrekte Druck«, all dies störte die Lektüre in großem Umfang. 17 Faßte man diese Aspekte zusammen, wäre das Fazit eindeutig: ein thematisch, sprachlich und dramaturgisch unausgegorenes Stück liegt hier vor. Was ist es dann aber, das Huber dennoch für dieses Stück einnimmt? Wahrscheinlich die Tatsache, daß es dem unbekannten Dichter trotz aller Mängel gelingt, »eine stattliche poetische Welt« vor dem inneren Auge des Rezensenten erstehen zu lassen. Huber meint zu erkennen, daß das »Treffliche Göthe'ns und Schillers« »wirklich dieses Genie genährt« hat; 18 diese vermutete Geistesverwandtschaft bringt sicherlich ein gut Teil seiner Sympathie hervor. Vor allem aber gesteht er dem Dichter eine eigenständige, gewissermaßen originale Begabung zu, die in den Güteprädikaten »Dichter« und »Genie« zum Ausdruck kommt und darin, daß er es vermag, den »Zauber der Poesie« in Worte zu fassen. Dieses weit überdurchschnittliche Talent lasse sich an einigen Stellen deutlich ausmachen: In den Liebesszenen besonders ist es nicht Nachahmung sondern eigenthümliche, naiverhabene Grazie, was an die erotischen Partieen im Sturm und in Romeo und Julia erinnert. Der Gedanke der letzten Szene zwischen Ottokar und Agnes ist von einer genialischen Kühnheit, die das ganze Stück allerdings von der Bühne ausschließt, und die allen den Kunstrichtern, welche ein dreifaches, moralisch-kritisches Erz gegen den Zauber der Poesie waffnet, einen scharfen Tadel sehr leicht machen kann; aber welche Wärme, welche Zartheit in der Ausführung, welche tragische Poesie in der wollüstig-schauderhaften Situation! 19

Huber geht sogar so weit, den Anonymus in manchen »Details des Ausdrucks und der Darstellung« näher an das geniale Vermögen Shakespeares heranzurücken als das Weimarer Dioskurenpaar. Die Hochschätzung kulminiert schließlich in der Prophezeiung: 20 »Dieses Stück ist eine Wiege des Genies, über der ich mit Zuversicht der schönen Litteratur unsers Vaterlandes einen sehr bedeutenden Zuwachs weissage«. Hinweise gibt diese Kritik natürlich auch und vielleicht vor allem über Hubers ganz private Ansichten. Sicherlich kam Die Familie Schrojfenstein dem Autor gelegen, paßte sie doch trefflich zu den inhaltlichen Grundsätzen, die August von Kotzebue als Herausgeber - aber auch seine Beiträger 21 - in der 1803 gerade im ersten

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Ebda. 18 Ebda. 19 Ebda. 20 Ebda. Huber präsentiert im Anschluß daran einige ihm besonders gelungen erscheinende Passagen (I, 2. Aufzug, 2. Szene; II, 2. Aufzug, 1. Szene), was er auch damit begründet, daß wegen des ausländischen Erscheinungsortes der Zugang zum Text erschwert sei. Neben vielen anderen handelt es sich ζ. B. um Karl August Böttiger, August Wilhelm Iffland, August Klingemann und Ernst Theodor Langer, die zu einem späteren Zeitpunkt gleichfalls Kleists Werke besprochen haben; Huber war vom Redakteur Merkel seines Amtes am Freimüthigen enthoben worden (vgl. zum Verhältnis beider und zur Bedeutung Hubers Merkels Brief an Böttiger vom 3. Februar 1805 (in: Briefe Merkel/Böttiger (wie Anm. 14), S. 131ff., Nr. 47): »Ich war nie Hubers Feind [...].«).

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Jahrgang erscheinenden Zeitschrift Der Freimüthige oder Berlinische Zeitung für Gebildete, Unbefangene Leser verwirklichen wollten. 22 Eine Art dritter Weg wurde angestrebt, der sich ex negativo durch die klare Absage an die Romantiker und den zugleich kritischen Standpunkt gegenüber der Weimarer Klassik beschreiben läßt. Der programmatische Name der Zeitschrift sollte stehen für Skepsis gegenüber falscher Autorität, Offenheit in der Sache und Angemessenheit im Umgang: So sehr der Freimüthige in seinen Gesinnungen von den Männern der neuen Aesthetik abweicht, so sehr wird er sich auch im Tone von ihnen unterscheiden. Keine Arroganz, keine Paradoxen-Jagd, keine witzlosen Wortspiele, kein dunkles unverständliches Geschwätz', [...] Er wird die Produkte unserer ersten Dichter mit inniger Wärme loben, wenn sie lobenswürdig sind; er wird sich aber durch keinen berühmten Nahmen, und noch weniger durch eine Würde im Staat, imponiren und verleiten lassen, ein mittelmäßiges oder gar schlechtes Produkt zu bewundern. Gerechtigkeit wird er üben, ohne Ansehen der Person: tadeln wird er seine Freunde, wenn ihnen gemeine Dinge entschlüpfen; loben wird er seine Feinde, wenn ihr besserer Genius zuweilen bei ihnen einkehrt. 23

Der mit scharfen Spitzen gegen Romantiker wie Friedrich Schlegel und ihre weiblichen Anhänger sowie milderen Sticheleien vornehmlich gegen Goethe versehene Text macht deutlich, wie gut sich der unbekannte Verfasser des Dramas in dieses Konzept einpassen ließ: Er war offenkundig mit der Literatur Weimarer Prägung vertraut und an ihr orientiert und zeichnete sich allem Anschein nach durch nicht allzu große Nähe zum »Haufen [...] roher Jünglinge« 24 aus, die die neuen ästhetischen Ideen verbreiteten. Ein potentieller Mitstreiter also schien hier aufzutreten, der durch eine wohlwollende Besprechung gegebenenfalls gewonnen werden konnte. Huber dokumentierte indes sein Interesse am Verfasser durch weitere Stellungnahmen zum Drama und dessen ungenanntem Autor.25 Schließt man sich dem Vorschlag Sabine Jordans an, die Huber auch die Verfasserschaft für die am 30. Juli 1803 erschienene Rezension in der Zeitung für die elegante Welt zuschreibt, so würde dies zumindest den so eng verwandten Argumentationsgang erklären26 und zugleich Hubers offen-

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Über die Art der Ziele Kotzebues vgl. den Brief Merkels an Böttiger nach seinem Weggang aus der Redaktion des Freimüthigen (26. März 1803; in: Briefe Merkel/Böttiger (wie Anm. 14), S. 115f., Nr. 37): »Von der einen Seite sah ich, daß Kotzebue nicht recht wußte, was er wollte, außer gegen Göthe und Schlegel schelten, sich loben und viel Geld einnehmen [...].« [Zur Programmatik]. In: Der Freimüthige (1803), Nr. 1; Hervorhebungen bei Huber. Ebda. Er tat dies auch im Privatleben, was ein Brief vom 5. August 1803 an Carl Gustav Carus (DLA Marbach, Cotta-Archiv) belegen mag, in dem es heißt: »Ich weiß seit den Räubern kein genialischeres Debüt im dramatischen Fache als die Familie Schroffenstein von einem Unbekannten.« Zeitung (wie Anm. 7), S. 724f.; wiederum wird die »merkwürdige Erscheinung« zur Lektüre empfohlen, da der Verfasser sonst befürchtet, »daß ein aufkeimendes Genie dem Drange ungünstiger Umstände, die hauptsächlich aus der Kälte der Zeitgenossen für alles wahrhaft Gute herfließen, unterliegt«; erneut erfolgt der Hinweis auf den Leitstern Shakespeare, der stärker als Goethe und Schiller auf den Verfasser wirkt, auf den »eigene[n] selbständige[n]

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kundige Begeisterung für den Text des >Unbekannten< belegen. N i c h t ganz uneigennützig, auf der Suche nach Mitarbeitern nämlich für die zunächst von ihm selbst herausgegebene Zeitschrift Vierteljährliche 1804 in Cottas Allgemeiner beiter für die Vierteljährlichen

Zeitung:17

Unterhaltungen,

inseriert er am 13. Juni

» D i e Aufforderung, durch w e l c h e ich Mitar-

Unterhaltungen

zu werben, und d i e s e m Journal ein

dauerndes Lebensprinzip zu geben suchte, ist bis jetzt nicht ohne manchen angenehmen Erfolg geblieben.« Trotz mancher Beiträge, » w e l c h e den Erwartungen des Publikums nicht entsprechen möchten«, werde er daran festhalten, anonyme und Pseudonyme Schriftsteller, deren Werke mich bedauern machen, daß sie meine Aufforderung noch nicht auf sich beziehen wollten, von Zeit zu Zeit öffentlich [zu] ersuchen, sich unter derselben verstanden zu glauben. Möchten für jetzt der ungenannte Verfasser des Trauerspiels: die Familie Schrojfenstein, und der ohne Zweifel Pseudonyme Verfasser des Romans: der Palmsonntag, sich dieses gesagt seyn, und mich bald erfahren lassen, daß sie meine Anrede vernommen haben, und sie meinem Wunsche gemäs erwiedern wollen! 28 Für Kleist kam dieser Beifall offenbar von der falschen Seite: auf die s o ausdrückliche Ermutigung zu weiterer literarischer Tätigkeit reagierte er beinahe widerwillig; 2 9 der Aufruf blieb ohne Folgen. Offenkundig mochte er nicht in die Nähe des konservativen Kotzebue gerückt werden, eben auch und gerade, weil ihm zu dieser Zeit Goethe w i e die Romantiker, allen voran Schlegel und Tieck, als echte Vor- und nicht als Feindbilder galten. 3 0 S o ist die Mahnung an die Schwester Ulrike dementsprechend zu verstehen:

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Geist« und den »wahrhaft genialen Schriftsteller«, der hier tätig ist; schließlich werden die bereits bekannten negativen Eindrücke (»das Inkorrekte, Unzusammenhängende, Wilde«) als das »Jugendliche« dieser Erscheinung zusammengefaßt, das das Beste für die Zukunft hoffen lasse (vgl. Jordan (wie Anm. 9), S. 147f. und 232f.; Alfred Estermann: Die deutschen Literatur-Zeitschriften. 1815-1850. Bibliographien. Programme. Autoren. Nendeln 1978, S. 130ff.). Huber, Aufforderung (wie Anm. 7). Ebda.; der Verfasser von Der Palmsonntag war Heinrich Karl Ludewig Bardeleben, sein Pseudonym lautete »Heinrich Frohreich«. An seine Schwester Ulrike schrieb er am 13./14. März 1803 (in: Briefe von und an Heinrich von Kleist. 1793-1811. Hrsg. von Klaus Müller-Salget und Stefan Ormanns. Frankfurt 1997. (Bibliothek deutscher Klassiker 122), S. 312ff., Nr. 75): »Leset doch einmal im 34 oder 36" Blat des Freimüthigen den Aufsatz: Erscheinung eines neuen Dichters. Und ich schwöre euch, daß ich noch viel mehr von mir weiß, als der alberne Kauz, der Kotzebue. Aber ich muß Zeit haben, Zeit muß ich haben - Ο Ihr Erynnien mit eurer Liebe!«; irrtümlich geht Kleist hier davon aus, Kotzebue habe als Herausgeber der Zeitschrift Der Freimüthige die mit »-b-« gezeichnete Rezension verfaßt. Vgl. Heinrich Zschokke über Kleist und Ludwig Wieland (in: Eine Selbstschau. Aarau 1842, S. 204f.): »Goethe hieß ihr Abgott; nach ihm standen Schlegel und Tieck am höchsten [...]«; dagegen hatte Kotzebue zu Goethe 1803 ein äußerst gespanntes Verhältnis, da zum einen die Aufführung seines Stücks Die deutschen Kleinstädter nicht zustande kam, weil sich Kotzebue weigerte, Anspielungen auf die Gebrüder Schlegel daraus zu entfernen, und zum anderen eine von Kotzebue geplante Ehrenfeier für Schiller, die zugleich Goethe und die Brüder Schlegel kompromittieren sollte, einen Skandal auslöste.

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Frage aber mit Behutsamkeit nach disem Blatte [dem Freimüthigen], damit der literarische Spürhund, der Merkel, nicht rieche, wer der neue Dichter sei? Es darf es überhaupt niemand als etwa meine allernächsten Verwandten erfahren; und auch unter diesen nur die verschwiegenen. 31

Der »literarische Spürhund« Garlieb Helwig Merkel hätte als vertrauter Mitarbeiter Kotzebues und Beiträger des Freimüthigen Kleists Identität sicher nicht allzu lange geheimgehalten. Die Verschwiegenheit des Dichters mag jedoch auch damit zusammenhängen, daß ihm sein 1802 vollendeter Erstling nicht allzu geglückt erschien, wofür er im Freundeskreis bei einer Lesung auf der Aare-Insel einige Hinweise erhalten hatte. Wie Heinrich Zschokke viel später berichtete, »ward im letzten Akt das allseitige Gelächter der Zuhörerschaft, wie auch des Dichters, so stürmisch und endlos, daß, bis zu seiner letzten Mordszene zu gelangen, Unmöglichkeit wurde.« 32 Trotz der Zurückhaltung Kleists ließe sich durchaus begründet darüber spekulieren, ob Huber nicht wenigstens ahnen konnte, wessen Werk er hier besprach. Jemand, der wie er durch langjährige publizistische und schriftstellerische Tätigkeit über ausgezeichnete Kontakte zu den literarischen Kreisen verfügte, 33 und dem die wichtigsten Informationsquellen offen standen, 34 könnte durchaus fundierte Überlegungen über eine mögliche Verfasserschaft angestellt haben. Huber benennt die wesentlichen Kritikpunkte erstmals, seine Nachfolger greifen diese, wenn auch mit anderen Schwerpunkten auf. Am skeptischsten und so den Gegenpol zu Huber bezeichnend, gibt sich der Kritiker der Neuen Allgemeinen Deutschen Bibliothek,35 von dem nur dessen Kürzel »Do.« bekannt ist. Das »Versuchsstück« zeichne sich durch »Überladungen, Eccentritäten und übrige [...] Fehler in Plan und Darstellung« aus, was aber zunächst nichts über das Talent des Autors aussage, da es üblich und ein Kotau vor dem Publikum sei, das man sich »gegen

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Brief vom 13./14. März 1803; zu Merkel vgl. Briefe Merkel/Böttiger (wie Anm. 14), S. 1118; Merkel war insbesondere wegen seiner heftigen Attacken gegen Tieck und Schlegel und den etwas respektvolleren gegen Goethe und Schiller bekannt geworden; vgl. Merkels Briefe an ein Frauenzimmer über die neuesten Produkte der schönen Litteratur in Deutschland. Leipzig 1800-1803. Zschokke (wie Anm. 30); daraus könnte auch der Ratschlag im Brief vom 13./14. März 1803 (in: Briefe (wie Anm. 29), S. 312ff., Nr. 75) an die Schwester resultieren: »Auch thut mir den Gefallen u leset das Buch nicht. Ich bitte euch darum [gestrichen: Es ist eine elende Scharteke.] Kurz, thut es nicht. Hört ihr?«; noch Peter Szondi: Versuch Uber das Tragische. Frankfurt 1961, S. 97, deutet das Drama als »dichterisch mißglückt«, aber als »vielleicht dennoch die kühnste seiner tragischen Konzeptionen.« Ein enges Verhältnis bestand insbesondere zu Schiller, aber auch zu Journalisten wie Karl August Böttiger. Und zwar sowohl als Herausgeber von Zeitschriften (Friedens-Präliminarien (10 Bde., Berlin, 1794—1796), Neue Klio, eine Monatsschrift für französische Zeitgeschichte (3 Bde., Leipzig, 1797/98) und Flora (Tübingen, 1793-1803)) als auch als Redakteur von Cottas Neuester Weltkunde und des Nachfolgeorgans Allgemeine Zeitung (vgl. Jordan (wie Anm. 9), S. 111-169); Hubers Tätigkeit im Verlag Cotta garantierte Kontakte zu allen wichtigen Autoren Deutschlands. Do. (wie Anm. 7) (Ernst Theodor Langer zugeschrieben).

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regelrechte Dramen [...] so kaltsinnig« zeige. 36 Eben von der Warte des »regelrechten«, also des Dramas klassischer Prägung, zeigten sich jene Mängel, die Huber im Blick auf Shakespeare gerade als Vorzüge bewertet wissen wollte: Bey Hinsicht auf Zeit- und Orts-Einheit muß man freylich ein Auge, oft beyde zudrücken; was indeß die der Handlung betrifft, gebührt dem Ungenannten doch wirklich das nicht kleine Lob, irgend seinen Hauptzweck aus dem Gesichte verloren zu haben. 37

Während der Rezensent die Tatsache, daß »mancher vom Verf. beliebte Platzwechsel sich gar nicht begreifen ließe«, noch als läßliche Sünde auffaßt, irritieren ihn die Brutalität, die Unruhe und das »Zuviel« des Geschehens der Haupthandlung, die lediglich durch parallel laufenden »Liebeshandel« nicht »empörend« wirke. 38 In einem »Versuchsstück« erwarte man schon gar nicht, daß die »in rastloser Bewegung gehaltne[n]« Charaktere alle gleich gut durchgeführt seien, aber »der leidige Umstand, daß die Hälfte der hier verbrauchten Farben sein Gemälde tragisch genug gelassen hätten, ist ein Mißgriff, der nur reichen Imaginationen eigen bleibt«. 39 Dem deutlichen Zugeständnis an das Talent - »der Verfassser ist offenbar ein so fähiger Kopf, daß er sein Erzeugniß nur nach Jahr und Tag wieder anzusehen braucht, um die es noch entstellenden Verstöße gegen Natur, Geschmack und Schicklichkeit auch ungewarnt wahrzunehmen« - folgt der Hinweis auf dessen Gefährdung: »Seine Einbildung kann er unmöglich ein Haar breit den Zügel weiter schießen lassen, ohne ins Ungenießbare zu stürzen«. 40 Metrische Mängel, die »etwas zu sichtbare[n]« Anleihen bei Lessing und Shakespeare runden das negative Bild ab; die Prognose dieses Rezensenten lautet: »Versucht der Ungenannte sich wieder am Drama: so wird sein nächstes Stück über die Reputation des Autors entscheiden. Entweder etwas ungleich Besseres; oder es ist um seinen Takt und Geschmack auf immer geschehn.« 41 Die weiteren Besprechungen haben ihren Ort zwischen diesen Polen. Eher zu Huber tendiert der unbekannte Rezensent der Neuen Leipziger Literaturzeitung42 mit seinem Fazit: »Wir wünschen, dass dieser Dichter auf seiner Laufbahn nicht still stehen möge.« Er attestiert dem Autor das Vermögen, »ächte[s] Pathos« und wahre »Charakteristik« mit teilweise »ergreifender Würkung« hervorzubringen 43 In seinen Kritikpunkten nähert er sich hingegen eher dem Rezensenten der Neuen Allgemeinen Deutschen Bibliothek. Längst nicht alle Handlungsteile erscheinen ihm hinreichend motiviert, 44 und auch den Charakteren eignen unwahrscheinliche Züge, was

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Ebda. Ebda. Ebda. Ebda. Ebda. Ebda. Literaturzeitung (wie Anm. 7); zu den Redaktionsmitgliedern und Beiträgern vgl. Estermann (wie Anm. 26), S. 122ff. Literaturzeitung (wie Anm. 7). Ebda.: »Wir unterdrücken manche Frage, welche die Wahrscheinlichkeit dieser Parthie sehr zweifelhaft machen könnte, würden uns aber durch die Antwort, welche man darauf

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ihn nicht hindert, besonders die beiden Grafen als gelungen einzuschätzen. Manches am »Ausdrucke« sei »tadelhaft«, der Autor sei »noch nicht über den Ausdruck und den Versbau Meister«, und wenn auch die »Gesinnungen [...] meistens wahr und schön« seien, so seien doch die »zum Theil fremdartige[n] Hülfsmittel«, »um die Würkung zu verstärken« (z.B. der Wahnsinn Johanns) anstößig. 45 Auch hier also liegt der Eindruck vor, der Verfasser habe an manchen Stellen 46 deutlich über das Ziel hinaus geschossen; als sei er der Wirkung seiner Mittel unsicher, habe er zuviel aufgewendet, um das rechte Verständnis zu gewährleisten. Gleichfalls zwischen den beiden Polen anzusiedeln ist die relativ wenig differenzierte Kritik der Zeitschrift Aurora 47 Sie stört sich am »Wahnwitz Johanns«, findet jedoch »[t]reffliche Stellen [...] über das ganze Stück reichlich vertheilt« und kann so im Appell an das Publikum enden: »Die Zeit, der solche Erstlinge zum Opfer dargebracht werden, zeigt sich ihrer unwerth, wenn sie sie nicht dankbar aufnimmt, und den jungen Genius auf ihren Flügeln trägt, bis er erstarkt, und auf eigenen Fittichen sich über sie hinausschwingt«. 48 Der bisher nicht identifizierte Kritiker der Allgemeinen Literatur-Zeitung schließlich bemüht sich um Differenziertheit im Negativen wie im Positiven, denn: »Der Vf., dem es gewiß nicht an Dichtertalent fehlt, scheint Aufmunterung zu verdienen; sonst würden wir bey der Anzeige dieses Werks sicher nicht so weitläufig geworden seyn.« 49 Auch er steht Hubers Begeisterung eher fern, wenn er seine grundsätzlichen Bedenken formuliert, die sich auf den Inhalt, die Bühnenwirksamkeit und die Wahrscheinlichkeit der Charaktere erstrekken. Er vermißt die im klassischen Drama selbstverständliche Harmonie, die sich als höchster Zweck der Poesie aus der »Darstellung des Rein-Schönen« notwendig entwickelt. Ziel sei es, »den ruhigen Genuß des Schönen zu gewähren« und nicht, den Zuschauer mit »einer rohen Wirklichkeit zu entsetzen.« 50 Es nütze daher wenig, daß »die Scenen gut angelegt, die Begebenheiten richtig geordnet, das Interesse gut vertheilt«, die Sprache »edel, kraftvoll - und nur selten matt und prosaisch« seien, da »die Idee des Ganzen« fehlerhaft sei. 51 Eine Sonderstellung innerhalb dieser Reihe nimmt die umfangreiche Rezension der Grätzer Zeitung ein, die das Stück wie seine Bühnenwirksamkeit anhand der Aufführung vom 5. Januar 1804 in Graz kommentiert. 52 Der langen Inhaltsangabe

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geben könnte, sie liege vor dem Anfange des Stücks, nicht befriedigt finden, da ohne das Vorhergegangene das Gegenwärtige nicht so erfolgen konnte, und das Resultat wichtig und selten genug ist, um auch in den entferntem Motiven Klarheit und Wahrheit zu fordern.« Ebda. Ebda. Aurora (wie Anm. 7) (in Sembdner (1996) I, S. 121f., Nr. 135, Joseph Görres zugeschrieben). Aurora (wie Anm. 7). Allgemeine Literatur-Zeitung (wie Anm. 7). Ebda. Ebda. Grätzer Zeitung (wie Anm. 7); zur Aufführungsgeschichte auch Sauer (wie Anm. 5).

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geht die Feststellung voraus, daß in diesem Stück die Darstellung des »tragische[n] Schreckenfs]« besonders gelungen durchgeführt sei und zwar als gewaltige Steigerung zu immer größerer und blutigerer Tragik, die dem Zuschauer im mimetischen Sinne einen Spiegel seiner eigenen Schicksale vorhalten mag. 53 Notwendig resultiert daraus die Ansicht, daß man es mit einem »eben so philosophische[n] als moralische[n] Werk« 54 zu tun habe. Gelungen seien die »mit fester, sicherer Hand« gezeichneten Charaktere ebenso wie die flexiblen Jamben, durch die »der Ausdruck oft an Stärke ungemein gewinnt«. 55 Der Verfasser vermag »nur wenige« Schwächen zu erkennen, und doch bemängelt auch er »die öftere Verlegung des Ortes der Handlung«. 56 Dies lasse zwar die Vorbilder Shakespeare, Goethe und Schiller erkennen, gehe jedoch, obwohl sie sehr durchdacht ausgeführt werde, auf Kosten der Bühnenwirksamkeit. Auch wenn sich »der Dichter zuweilen zu sehr dem Reichthume der Phantasie überlassen, und einige Auftritte zu weitläufig ausgesponnen« habe, so schmälerte dies nicht den starken Eindruck, den die letzten Auftritte machen: sie »durchschauern das Gemüth des Zusehers« geradezu. 57 Auch für diesen Rezensenten tritt in der Person des Autors »ein neuer Dichter Deutschlands aus der Dunkelheit hervor, ebenso überraschend, wie der verkannte und geneckte Collin mit seinem Regulus, aber eben so herrlich und groß.« 58 Der Vergleich mit dem heute weitgehend vergessenen österreichischen Comeille< Heinrich Joseph von Collin, dessen Regulus 1801 in Wien uraufgeführt worden war, erscheint naheliegend, da auch dieser Autor sich neben der Ausrichtung an der Klassik durch die Begeisterung für Shakespeare auszeichnet, die der Rezensent dem Unbekannten gleichfalls attestiert. 59 Zugleich wirkt er jedoch nicht ganz so zufällig, wenn man bedenkt, daß Kleist und Adam Müller nur wenige Jahre später in engem Kontakt zu Collin gestanden haben, der sich u.a. für die Aufführung des Käthchens von Heilbronn in Wien eingesetzt hat. 60

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Grätzer Zeitung (wie Anm. 7). Ebda. Ebda. Ebda. Ebda. Ebda. Ebda.; Heinrich Joseph von Collin ist heute am ehesten noch durch Beethovens Ouvertüre zu seinem Coriolan (op. 62) von 1807 ein Begriff; auch der Bruder des Dichters, der Literaturkritiker Matthäus Kasimir von Collin hat sich, wenn auch Jahre später, für Kleist und den Phöbus eingesetzt (vgl. Sembdner (1996) I, S. 218, Nr. 238a), darüberhinaus 1822 für die Aufführung der Hermannsschlacht in Wien (ebda, S. 283, Nr. 303b) sowie im selben Jahr in den Jahrbüchern der Literatur (Bd. 22, November/ Dezember, S. 111-125: Über neuere dramatische Literatur). Es sind einige Briefe Kleists an Collin überliefert (14. Februar 1808; 2. Oktober 1808; 1. Januar 1809; 22. Februar 1809; 20. u. 23. April 1809; 28. Januar 1810 (alle in: Briefe (wie Anm. 29), S. 412f„ Nr. 141; S. 422f„ Nr. 150; S. 425f., Nr. 155; S. 428f., Nr. 157; S. 43lf., Nr. 161; S. 440f., Nr. 169)); Adam Müller bat Collin am 5. Januar 1808 um die Mitarbeit am Phöbus, die allerdings nicht zustande kam (vgl. Phöbus. Ein Journal für die Kunst. Hrsg. von Heinrich von Kleist und Adam H. Müller. Nachwort und Kommentar von Helmut Sembdner. Darmstadt; Stuttgart 1961, S. 650).

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Zusammenfassend sind vor allem die erstaunlichen Gemeinsamkeiten der Urteile über Die Familie Schroffenstein festzuhalten. Durchweg alle Kritiker attestieren dem unbekannten Dichter eine überdurchschnittliche, allerdings weiterer Entwicklung bedürftige Begabung, was für ein Erstlingswerk als großer Erfolg zu werten ist. Wenn auch die Kritik berufsbedingte Vorsicht walten läßt und es vorzieht, das nächste Werk für ein noch deutlicheres Urteil über den Autor abzuwarten, so ist man sich doch einig, daß hier ein Dichter auftritt, der nicht ohne weiteres einer bestimmten Schule zugeordnet werden kann. Man sieht die ihn prägenden Einflüsse, vor allem aber sein Talent, sich eigenständig und kreativ vom literarischen >mainstream< zu lösen. Die Fähigkeit, aus dem Reichtum eigener Phantasie Poesie zu schöpfen, erscheint den Kritikern bei allen Mängeln im Detail als die wohl wichtigste Eigenschaft eines Autors, dessen jugendliches Alter man selbstverständlich und zu seinen Gunsten annimmt. Der Überschwang, das >Zuviel< in Handlung und Sprache werden so zur Übung im Umgang mit literarischen Mitteln, das Stück selbst zur Vorstudie des eigentlichen Werkes aufgefaßt. Es fiel Kleist in den darauf folgenden Jahren nicht ganz leicht, an den doch immerhin beachtlichen Anfangserfolg von Die Familie Schroffenstein anzuknüpfen. Zwar war er trotz widriger Lebensumstände literarisch produktiv,61 jedoch vergingen immerhin vier Jahre, bis das Lustspiel Amphitryon im Mai 1807, herausgegeben von Adam Müller, erscheinen konnte, 62 was durch Kleists Verhaftung zunächst in Frage gestellt schien. 63 Seit Mitte 1806 arbeitete er an einer ganzen Reihe von Werken, 64 sorgte

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So hinderte ihn nach außen hin nicht einmal die Kriegsgefangenschaft an der Arbeit: »denn wenn nur dort meine Lage einigermaßen erträglich ist so kann ich daselbst meine litterarischen Projecte eben so gut ausführen, als anderswo« (an seine Schwester Ulrike) (17. Februar 1807; in: Briefe (wie Anm. 29), S. 369ff., Nr. 108). Das Stück ist relativ wahrscheinlich zwischen Anfang Mai 1805 und Januar 1807 entstanden, vgl. hierzu wie zur Editionsgeschichte Roland Reuß in: Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke. Hrsg. von Roland Reuß und Peter Staengle. Basel; Frankfurt 1989ff. (Berliner Ausgabe 1, Dramen). Bd. 4, S. 143ff., bes. S. 144; vgl. Helmut Sembdner: Amphitryon. In: Jahrbuch der Schiller-Gesellschaft (1969), S. 361-396; Adam Müller an Friedrich Gentz (9. Mai 1807; in: Jakob Baxa (Hrsg.): Adam Müllers Lebenszeugnisse. 2 Bde. München; Paderborn; Wien 1966. Bd. I, S. 320ff.) und Kleist an Rühle von Lilienstern (13. Juli 1807; in: Briefe (wie Anm. 29), S. 380f., Nr. 114); grundlegend: Wolfgang Wittkowski: Heinrich von Kleists >AmphitryonAntike< und >Moderne< als emanzipatorischer Schritt gegen eine kunstfeindliche Gegenwart und für eine Rückbesinnung auf die ehemals umfassenden gesellschaftlichen Funktionen der Kunst in der Antike. 70 Einig ist man sich darüber, daß das grundlegende Problem der Bearbeitung antiker Stoffe von Kleist durchaus befriedigend, wenn auch mit Einschränkungen im Detail, gelöst worden ist.71 Auffällig ist das ausgeprägte gattungsgeschichtliche Interesse der Autoren. Auf der Suche nach einem deutschsprachigen Lustspiel sehen sie Kleists Angebot eher als vorläufige Lösung an, da ernste, ja tragische Elemente in solchem Umfang vorhanden sind, daß der Eindruck der Zugehörigkeit zur »gemischten Gattung«72 vorherrscht.

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Kunst-Sachen, 1 (1807), 6/7, S. 210: »Vielleicht das erste genialische Produkt, welches seit dem längst nicht mehr bekannten Krieger, und seit den ebenfalls vergessenen Lustspielen nach Plautus von Göthe und Lenz - auf unserm sehr traurigen Theater erschienen ist«; auch: Über die jüngsten Früchte unserer dramatischen Dichter. In: Morgenblatt für gebildete Stände, 27. Mai 1807, Nr. 126, S. 501f.: »Wir [die Dresdener] erfreuen uns der Gegenwart eines der vorzüglichsten, jetzt lebenden Dichter, des Hrn. v. Kleist, der den Altar des Vaterlandes mit einem so frischen Kranze, mit dem Lustspiele: Amphytruon, geschmückt hat, und vielleicht längere Zeit bey uns verweilen wird.« Vgl. Karl Robert Mandelkow: Goethe in Deutschland. Rezeptionsgeschichte eines Klassikers. I: 1773-1918. München 1980, S. 55. Vgl. Hans Dieter Zimmermann: Heinrich von Kleist. Eine Biographie. Reinbek 1991, S. 211-214, und das Kap. Antike und Moderne. Besonders Dippold erachtet die Transformation der Antike, den Erhalt ihres Wesens trotz der Verknüpfung mit modernen Gedanken für besonders gelungen (vgl. Morgenblatt (wie Anm. 69)); Klingemann (wie Anm. 69) hingegen sieht ein großes Problem darin, romantische Haltungen, die er bei Kleist manifestiert findet, auf einen antiken Stoff zu applizieren; daher wird »die kecke Sinnlichkeit des antiken Mythus« für den »romantischen darüber reflektirenden Dichter« »ein fast unübersteigliches Hinderniß«. Diesem Dilemma entziehe sich Kleist erfolgreich durch die Auflösung im Metaphysischen, wobei jedoch das originäre >Antike< des Stoffes ein wenig verloren gehe; auch der ohnehin skeptischere Rezensent der Jenaischen Allgemeinen Zeitung vom 24. Juli 1807 (Nr. 172, Sp. 161-164) sieht die Grenzen dieses Verfahrens: zwar sei »die alte Mythe« »auf eine geniale Weise umgebildet«, jedoch - wie auch bei Moliere - in beschränkter Form. So erscheine das Ganze als »eine Paraphrase« und zugleich ähnele es »einem vorläufigen Abriß [...] von einem großen Werke, das er einst zu vollenden sich vorbehalten hat.« So äußert sich Klingemann (wie Anm. 69); vgl. Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung (wie Anm. 71) und Morgenblatt (wie Anm. 69).

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So bescheinigt Ernst August Friedrich Klingemann in seiner Rezension für die Zeitung für die elegante Welt dem Verfasser, er habe »unter den neuern deutschen Dichtern den ersten bedeutenden Beitrag zu einer künftigen komischen Schaubühne geliefert«, wenn auch noch nicht eindeutig genug, da das Gedicht nicht zu der reinen, sondern zu der gemischten Gattung gehört, indem die positive und negative Poesie sich darin theilen, dahingegen ein echtes Lustspiel blos auf eine negative Weise das Ideal hervorführt. 73

Der bisweilen abschätzig als > Schiller-Apologet< titulierte Schriftsteller und spätere Theaterleiter Klingemann zeigt an dieser Stelle seine Ausrichtung an Schillers literaturtheoretischen Vorstellungen; zudem empfiehlt er einen Vergleich »der humoristischen Behandlung des Lächerlichen, von Kleist, und der witzigen, von Moliere«, der auf dem Feld der Theorie die reichsten Erträge verspreche. 74 Gerade dieser Vergleich beider Autoren dient dem Rezensenten des Morgenblattes für gebildete Stände zur einseitigen Hervorhebung nationaler Eigenschaften. Bei aller Komik sei Moliere die Vorlage doch »zu einer ächt nationeilen Hahnreyschaft geworden«. 75 Bei Kleist hingegen finde sie sich mit solcher Keuschheit und Heiligkeit wieder gebohren, daß uns bis auf den heutigen Tag kein Werk bekannt ist, in welchem seine vielsinnige Mythe der Griechen auf so überraschende, übermenschliche und edle Weise gedeutet worden: ja, der Sinn ist bey seiner herrlichen Tiefe so rein, daß man selbst die schönste und geheimnißreichste Mythe der christlichen Religion ohne allen Zwang darinnen finden mag. Es ist eine Ansicht, deren außer dem Griechen nur der Deutsche fähig ist, die dem Römer fremd bleiben mußte, und zu deren Ahndung der Franzos sich nie erheben wird. 76

So wird auch verständlich, daß die Sympathien des Rezensenten der deutschen Bearbeitung gelten, deren Verfasser für ihn zugleich nationale Tugenden verkörpert. Der Witz sei schließlich »so ächt kerndeutsch, der Scherz so zart und vielsinnig« und »alles Französische so ins Deutsche verklärt worden, daß eine vergleichende Leetüre Kleist's und Moliere's zugleich den richtigsten Maßstab für den poetischen Gehalt beyder Nationen abgibt.« 77 Solche rauhen Töne finden ihre Entsprechung in den beiden vorliegenden französischen Rezensionen, deren Interesse vornehmlich der mißtrauisch beäugten deutschen Bearbeitung des Werkes eines französischen Nationaldichters gilt. Als direkte Antwort auf die Rezension des Morgenblattes empört sich der Autor der Archives

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Klingemann (wie Anm. 69). Ebda. Morgenblatt (wie Anm. 69). Ebda. Ebda.; vgl. Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung (wie Anm. 71): »aber vom deutschen Dichter erwartet man mehr als eine lange, dissertirende Unterredung, man verlangt, den Reichthum und die Fülle von Leben [...].«

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litteraires de 1'Europe darüber, daß der deutsche Journalist anläßlich der Besprechung des Kleistschen Stückes die Gelegenheit wahrgenommen habe, »de mettre Moliere bien au-dessous de M. de Kleist et la nation franfaise bien au-dessous de l'allemande en valeur poetique. «78 Ohne die deutsche Bearbeitung zu kennen, gehört Kleist für ihn zu den »panegyristes un peu exaltes«, in dessen Stück er kaum mehr zu sehen vermag als »un Moliere transfigure«, »un pareil eloge«. Eine noch deutlichere Sprache spricht der beißende Spott im Journal de Paris. Gleichfalls explizit auf die Rezension des Morgenblattes bezogen, erbost sich der Autor darüber, daß nach deutscher Auffassung »cette piece est aussi superieure ä celle de Moliere, que la nation allemande est superieure ä la nation franfaise dans tous les genres dramatiques.« 79 Sein abschließender ironischer Rundumschlag gegen die deutsche Literatur lautet demgemäß: On savoit dejä que la Phedre de Racine n'etoit qu'une miserable production en comparaison d'une Phedre allemande, qui parut ä Berlin, il y a deux ans. On sait encore, ä n'en pouvoir douter, que Schiller a montre plus de talent ä lui tout seul, que Moliere, Regnard, Corneille, Racine & Voltaire. On sait, enfin, que le theatre frangais n'est ni aime, ni estime en Europe; & qu'on jour sur tous les theatres du mondes les chef-d'oeuvres de Brandes, d'Unzer, de Bertuch, de Lessing, de Grossmann, d'Engel, & de M. Kleist. Cela est connu, & doit pour toujours fermer la bouche aux amateurs, partisans ou enthousiastes de la litterature frangaisc. 80

Mit seinem Grenzgang zwischen den Nationalliteraturen geriet Kleist somit direkt zwischen die vom tatsächlichen Kriegsgeschehen noch beeinflußten journalistischen Fronten auf beiden Seiten des Rheins. Ein zweifelhafter Erfolg, wenn man so will, und zugleich ein symptomatischer Vorfall, da er zeigt, von welchen Faktoren literarische Werturteile tatsächlich beeinflußt wenn nicht bestimmt werden. An die Seite der öffentlichen Reaktionen sollten sich private mit einigem Gewinn stellen lassen. Den Vorwurf künstlicher Trennung von Zusammengehörigem nicht scheuend, werden die wohl berühmtesten >privaten< Ansichten zu Kleists Amphitryon hier zunächst einmal beiseitegelassen: Goethes Urteile, die sich in den Tagebüchern, Briefen und Gesprächen finden; dies geschieht nicht zuletzt, da das ganz besondere Verhältnis beider Autoren zueinander an anderer Stelle ausführlich untersucht wird. Nur wenige nichtöffentliche Äußerungen zu Amphitryon sind überliefert: Sieht man von den vergleichsweise ausführlichen, aber positiv voreingenommenen Stellungnahmen des Kleist-Freundes Adam Müller und von dessen Bekannten Friedrich von

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In: Archives litteraire de l'Europe, ou Melanges de Litterature, d'Histoire et de Philosophie, Gazette litteraire (1807), Juillet, S. 8-13; vgl. Rene Lauret: Un romantique ennemi de la France. Henri de Kleist. In: Les Marches des L'Est, 25. August 1912, Nr. 9, S. 7 0 5 717. Nouvelles des sciences, des lettres et des arts. In: Journal de Paris, 7. August 1807, Nr. 219, S. 154. Ebda.

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Gentz einmal ab, 8 1 so sind bisher nur z w e i H i n w e i s e auf private Lektüre bekannt geworden. In e i n e m Brief äußert sich die gleichfalls z u m weiteren Bekanntenkreis der Familie v o n Kleist gehörige Dora Stock 8 2 gegenüber d e m Professor für Oekonomie und Kameralia Friedrich Benedict Weber über die häusliche

Amphitryo-Lek-

türe, was auf die bürgerliche Gewohnheit des gemeinschaftlichen, also lauten Lesens verweist, und zugleich blicken läßt in eine spezifische Mentalität, die die familiäre Herkunft bzw. die persönliche Kenntnis eines Autors zur Grundlage des über ihn gefällten Urteils macht: Ist die Familie Kleist noch in Frankfurt? Und vorzüglich die Schwester von Heinrich Kleist, eine Frau von Massow? - von dem Heinrich Kleist, haben wir jetzt ein Stück gelesen, welches ganz vorzüglich ist und unverkennbare Spuren eines großen Talents trägt. 83 Ein weiteres, allerdings nur halbprivates, weil professionelles Lob, ist v o m nachmaligen Rezensenten der Jenaischen

Literatur-Zeitung

und späteren Breslauer Pro-

fessor für klassische Sprachen Franz P a s s o w zu vernehmen, der am 7. Juli 1807 an M. Hudtwalker schrieb: Sonst ist von neuen Sachen nicht viel zu rühmen, bis auf Heinrich von Kleists (des Verfassers der Familie Schroffenstein) Amphitruo, ein erhabnes und tiefer Bedeutung volles Kunstwerk. 84 Zusammenfassend läßt sich also sagen, daß man Kleists Stück wiederum durchaus w o h l w o l l e n d b e g e g n e t e und sich für die Zukunft einiges von ihm erhoffte:

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Gentz an Müller (16. Mai 1807; in: Baxa (wie Anm. 62) I, S. 323-328); Müller an Gentz (9. und 25. Mai 1807; ebda., I, S. 320ff. und 328-332). Die zeitweilig mit Ludwig Ferdinand Huber (!) verlobte, als Miniaturmalerin und durch ihre freundschaftlichen Kontakte zu berühmten Zeitgenossen bekannt gewordene Dorothea Stock lebte im Hause ihres Schwagers, des Kleist- und Schiller-Freundes Christian Gottfried Körner in Dresden, so daß die häusliche Lektüre sich wohl aus dieser persönlichen Bekanntschaft herleiten läßt. Vgl. eine Parodie auf gerade diese Mentalität in Detlev von Liliencrons Roman Breide Hummelsbiittel (Leipzig 1887, S. 70ff.), in dem sich zwei adlige Damen - die Gräfin Nachtthau und Freifrau von Morgenschnee - auf einer Gesellschaft im Herrenhaus von Wittensee über Kleists Abstammung unterhalten: »>Denken Sie, liebe Gräfin, was mir gestern begegnen muß. Ich gehe bei der Mehling'schen Buchhandlung vorbei und erblicke im Ladenfenster: Der zerbrochene Krug, Lustspiel von Heinrich von Kleist. Ich gehe in die Handlung, um es meiner Tochter zu kaufen. Heute Morgen durchblättere ich das Drama, und finde ... ja finde Abscheuligkeiten und Unanständigkeiten darin, daß ich das Buch schleunig verschloß.< >Ach, selbst der Adel also, liebe Baronin! Ist dieser Kleist aus dem Garziner Hause oder von der Schwißbuner Linie?< >Ich kann es nicht sagen, wo dieser junge Dichter geboren. Ja, selbst der Adel, das mögen Sie wohl sagen ... Natürlich glaubte ich, daß es ein so harmloses Schauspiel sei, wie wir sie täglich auf unseren Bühnen sehen.< >Es wird Zeitdaß wir endlich in die Zucht wieder hineinkommen ... Aber wäre der junge Dichter nicht noch zu retten? Ich muß erfahren, wo er wohnt. Vielleicht hat die Familie noch auf ihn Einfluß. O, in welche Zustände sind wir gerathen. Gott helfe, Gott helfe ...«< Passow war zu dieser Zeit durch Vermittlung Goethes am Gymnasium in Weimar tätig.

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Mit innigem Vergnügen erwähnen wir dieses Lustspiels, das würdig ist, aller Augen auf sich zu ziehen, und unter den Kunstschöpfungen der neuesten Zeit nächst O e h l e n s c h l ä g e r s A l a d d i n den leserlichen Schriftzug ächter Genialität an der Stirn trägt. 85

Wenn auch Oehlenschläger wie sein Werk heute weitgehend unbekannt geworden sind, 86 so ändert dies nichts an der Einschätzung, es hier gleichfalls mit einem Autor zu tun zu haben, der den »göttlichen Beruf des Dichters« 87 zu recht gewählt hat, und den man immerhin bereits nach nur zwei publizierten Werken für lexikonwürdig hielt: denn der Rezensent der Allgemeinen Literatur-Zeitung hielt Karl Heinrich Jördens, dem Herausgeber des berühmten Lexicon deutscher Dichter und Prosaisten ein umfangreiches »Register der Fehlenden« vor und wies ausdrücklich darauf hin, daß Kleist, dem »Vf. des Amphitryon und der Familie Schroffenstein«, wie auch Hölderlin und Novalis »eine Stelle in dieser Gallerie gebührt.«88 Auch wenn das Kleist und Müller einige Publizität verschaffende Phöbus-Projekt schon recht bald scheiterte - bereits im Februar 1809 erschien das letzte Heft - , war es Kleist doch gelungen, sich durch die Vielzahl wie die Vielfalt der darin veröffentlichten Projekte wie auch durch deren späteres Erscheinen in Buchform zumindest im kleinen Kreis der literarisch Gebildeten weit mehr als nur einen gewissen Respekt zu verschaffen. 89 Nur so auch läßt sich die Selbstverständlichkeit erklären, mit der der erste Teil seiner Erzählungen vom Kritiker der Miszellen für die neueste Weltkunde im Oktober 1810 in einem Atemzug mit Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre und im selben Monat sein Käthchen von Heilbronn in der Zeitung für die elegante Welt mit Schillers Dramen genannt wurden:90 solche Urteile bezeugen

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Morgenblatt (wie Anm. 69) (Sperrung in der Vorlage); von Sembdner dem Historiker, Literaturwissenschaftler und Übersetzer Hans Karl Dippold zugeschrieben (vgl. Sembdner (1996) I, S. 151 f., Nr. 175a); vgl. Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung (wie Anm. 71), wo dem Autor - vermutlich von Karl Friedrich von Jariges - »ein schöpferischer Dichtergeist« zugesprochen wird (vgl. Sembdner (1996) I, S. 155ff., Nr. 179); auch Klingemann (wie Anm. 69) bescheinigt Kleist, daß durch seine Bearbeitung »ein neuer Genius als poetische Seele in diesen Körper« eingezogen sei. Der berühmte dänische Schriftsteller Adam Gottlob Oehlenschläger hatte »Aladdin, oder Die Wunderlampe. Ein dramatisches Gedicht in zwei Spielen« zuerst in seinen Poetiske Skrifter (Kopenhagen 1805) veröffentlicht (die deutsche Übersetzung erschien 1808 in Amsterdam). Morgenblatt (wie Anm. 69). Vgl. Allgemeine Literatur-Zeitung, 28. September 1807, Nr. 232, Sp. 609-613. Vgl. Phöbus (wie Anm. 60); Kleist hatte im Verlauf des Jahres 1808 dort neben dem Penthesilea-Fragment, Teilen des Zerbrochnen Kruges, des Käthchen von Heilbronn und dem Guiscard-Fragment auch Die Marquise von O... und Michael Kohlhaas veröffentlicht. Aus Deutschland. In: Miszellen für die neueste Weltkunde, 6. Oktober 1810, Nr. 80, S. 319f.: »Interessanter sind, als die Poesie dieser Messe, die Prosaiker. Göthe's Wanderjahre seines Wilhelm Meister, H. v. Kleists Erzählungen und Lafonteine's neuere Romane werden am meisten die Aufmerksamkeit der Unterhaltungssüchtigen anziehen«; Wilhelm Grimm in der Zeitung für die elegante Welt, 29. Oktober 1810, Sp. 1713ff.: »Alle Dramatiker, welche nach Schiller unter uns aufgetreten sind, haben entweder ihren Vorgänger unglücklich

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recht eindrucksvoll, daß keineswegs alle Zeitgenossen Kleist ablehnend oder desinteressiert gegenüberstanden; seine Werke an denen der >Dioskuren< zu messen und zu einem positiven Urteil zu gelangen, belegt so anschaulich, daß Kleists literarische Qualitäten auch für die nicht zu seinem engsten Umkreis gehörigen Zeitgenossen erkennbar waren. Den durch die Kleist-Studien ganzer Generationen von Literaturwissenschaftlern geprägten Betrachter müssen solche - zugegebenermaßen - vereinzelten Hinweise irritieren. Denn: wie mag es um das immer wieder postulierte >Verkanntsein< dieses Dichters beim zeitgenössischen Publikum tatsächlich bestellt gewesen sein, wenn wenigstens einzelne Kritiker keineswegs zögerten, ihn den >Klassikern< zur Seite zu stellen und so höchstes und im wahren Wortsinn zeitgemäßes Lob aussprachen? Kleists Erfolg oder Mißerfolg erscheint so als eine schwerlich nur oder kaum zu kennzeichnende Größe. Im folgenden sei daher abschließend ganz pragmatisch unterschieden zwischen Werken, die als - wenn auch vielleicht bescheidene - Erfolge zu werten sind, gegenüber solchen, deren Scheitern - aus welchen Gründen auch immer - unübersehbar ist. Einzubeziehen ist dabei auch, ob die Topoi vom >verständnislosen Publikum< und vom >Verkanntsein< dieses Schriftstellers in seiner Zeit nicht in sehr grundsätzlicher Weise als eine durchaus notwendige Konsequenz der von zahlreichen Dichtern dieser Epoche öffentlich vollzogenen Selbststilisierung zu bewerten sind und so deren Bedeutsamkeit unter Umständen stark zu relativieren wäre. Geradezu sprichwörtlich wurde der Mißerfolg des Zerbrochnen Kruges: von der unglückseligen Weimarer Aufführung des Jahres 1808 behielten die Kritiker vor allem dieses Detail, und noch 1811 erinnerten sie sich »der Scherben eines zerbrochenen Kruges«, wurde Kleist geradezu verdächtigt, ein »Don Quixotte«-Schauspiel verfaßt zu haben, als dessen Urheber sich allerdings ein anderer herausstellte. 91 Ohne hier über Goethes bewußt-unbewußten Anteil an Kleists größtem Mißerfolg sinnieren zu wollen, bleibt doch festzuhalten, daß diese eine Aufführung die Haltung des zeitgenössischen Publikums Kleist gegenüber nachhaltig prägte. Gänzlich verständnislos zeigte es sich allerdings auch Penthesilea gegenüber, die 1811 stark verfremdet als Pantomime allein ihm zur Kenntnis gebracht wurde: das »zur Erklärung gele-

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nachgeahmt, oder in mystischen Abentheuerlichkeiten sich verirrt oder den fruchtlosen Versuch gemacht, durch rhetorische Behandlung frappanter Stoffe das hervorzubringen, was nur dem dichterischen Geiste allein vorbehalten ist. Diejenigen unter ihnen, welchen dieser nicht abzusprechen ist, haben im Einzelnen und Theilweise manches Schöne aufgestellt, aber ein schönes Ganze zu schaffen, ist ihnen nicht gelungen, und zwar, weil sie theils das Maß ihrer Kräfte verkannten, theils über die Gränzen des Darstellbaren hinausgehend, das Unmögliche möglich machen wollten. Wir glauben nicht zu viel zu sagen, wenn wir behaupten, daß der Verfasser dieses großen Ritterschauspiels der Erste und Einzige ist, welcher wahren Beruf zeigt, und daß er weiß, was er will und soll, und der auch wirklich kann, was er will. Am unzweideutigsten erhellt dieses, nach unserer Meinung, vornehmlich daraus, daß das ganze Werk durchweg, aus Einem Gusse ist.« Vgl. Vossische Zeitung, 1. Juni 1811, Nr. 66.

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sene Bruchstück des Gedichts langweilte, und ward zuwider durch verrenkte Sprache und gemeine Malerey im Ausdruck.« 92 Auch als politischer Publizist war Kleist nur wenig erfolgreich, zumal diese Existenzform auf die Journalisten-Schriftsteller des >Vormärz< vorauswies und so tatsächlich als eine unzeitgemäße zu kennzeichnen ist: Die Pläne des Jahres 1809 zur Zeitschrift Germania scheiterten, das zukunftsweisende Konzept der Berliner Abendblätter mit ihrer zensurbedingten Mischung aus Politik, Tagesbegebenheiten und Feuilleton wurde am ehesten noch wegen der abgedruckten Polizeiberichte, bisweilen auch der Theaterkritiken anerkannt.93 Da sie wegen vielfacher Schwierigkeiten nur vergleichsweise kurze Zeit erschienen,94 konnte weder das Ziel der »Erhebung und Belebung des Antheils an den vaterländischen Angelegenheiten« 95 erreicht werden noch vermochten sie es, Kleists Namen als Herausgeber nachhaltig im Bewußtsein der Leser zu verankern. Schwierigkeiten bereitete sich Kleist allerdings immer wieder auch selbst: weniger durch den nach der Weimarer Aufführung immer offenkundiger werdenden Bruch mit Goethe, sondern vor allem auch durch seine tiefe Abneigung gegen August Wilhelm Iffland, den mächtigen Generaldirektor der Königlichen Schauspiele in Berlin, den Kleist aus Ärger über dessen Ablehnung das Käthchen aufzuführen, u. a. mit gezielten Indiskretionen bloßzustellen versuchte, was ihm zum einen insbesondere im etablierten Kulturbetrieb keinerlei Sympathien einbrachte, 96 zum ande-

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Vgl. Morgenblatt für gebildete Stände, 28. Mai 1811; Briefe aus Berlin. In: Zeitung für die elegante Welt, 10. Juni 1811, Nr. 115, Sp. 913-917; Vossische Zeitung, 25. April 1811; auch: Marie-Theres Federhofer: Kunstgenüsse oder Virtuose? Zur Rezeption von Kleists Penthesilea durch den Berliner Verein dramatischer Künstler. In: Kleist-Jahrbuch (1994), S. 156-176. Vgl. Berliner Abendblätter. Hrsg. von Heinrich von Kleist. Nachwort und Quellenregister von Helmut Sembdner. Reprographischer Nachdruck. Darmstadt 1973; Zimmermann (wie Anm. 71), S. 306. Vom 1. Oktober 1810 bis 30. März 1811; vgl. ζ. B. die Inserate der »Redaktion« in der Vossischen /Zeitung, 13. Oktober 1810, Nr. 123; im Berliner Intelligenz-Blatt zum Nutzen und Besten des Publici, 8. Oktober 1810, Nr. 241f., S. 3805f.; in: Allgemeine ModenZeitung, 23. Oktober 1810, Nr. 85, Sp. 679f.; Archiv für Literatur, Kunst und Politik, 28. Oktober 1810, Nr. 86, Sp. 689f. u. a.; vgl. Dirk Grathoff: Die Zensurkonflikte der »Berliner Abendblätter. In: Klaus Peter u.a.: Ideologiekritische Studien zur Literatur. Essays. Frankfurt 1972, S. 155-168. Vgl. Ankündigung. In: Der Freimüthige, 20. Dezember 1810, Nr. 253, S. 1009f.; vgl. Staengle, Pressespiegel, 2. Lieferung (wie Anm. 2), S. 62f. Vgl. Archiv (wie Anm. 94): »Indeß scheint aus den bisher herausgekommenen Blättern, vorzüglich hervorzugehen, daß ihre Tendenz dahin gerichtet ist, einige Sarcasmen gegen Individuen in Umlauf zu bringen; hauptsächlich gegen das hiesige Nationaltheater und dessen Director«; Journal des Luxus und der Moden, Januar 1811 (zitiert nach: Sembdner (1996) I, S. 380ff„ hier S. 380f„ Nr. 436c): »Hier ist leider eine starke Theater-Koalition, die gegen den würdigen Iffland gerichtet ist. Eine Anzahl Schriftsteller, deren Produkte von der Direktion wohl zurückgewiesen werden mußten, weil sie teils unsinnig, teils zu seicht waren, hat sich vereinigt, um ihn in allen seinen tätigen und redlichen Schritten für das ersprießlichste Wohl unserer Bühne zu necken, zu stören und zu beunruhigen.«

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ren aber den Zugang zum Berliner Theater - und damit zum Publikum - endgültig versperrte.97 Ein Dramatiker ohne Theater aber in einer zensurdominierten Epoche konnte sich seiner nur geringen Erfolgsmöglichkeiten sicher sein - er war seines ureigensten Mediums beraubt. Dennoch war Kleist zu Lebzeiten keineswegs erfolglos: Am Beginn etwa der sehr kontinuierlichen und mit nur wenigen Vorbehalten98 als Erfolgsgeschichte zu bewertenden Wirkungsgeschichte des Käthchen von Heilbronn steht die Wiener Aufführung vom 17. März des Jahres 1810. Allerdings war das Publikum - wie im übrigen das gesamte neunzehnte Jahrhundert hindurch - von diesem Stück sehr viel stärker angetan als die Kritik, die allein dem Genre schon skeptisch gegenüberstand. Beschrieb diese das Schauspiel etwa als »ein ziemlich unzusammenhängendes Gerippe einer Rittergeschichte [...], bey dem man sehr oft von der Kette der Ideenverbindung losgerissen« werde, so kam sie doch nicht umhin zuzugestehen: Ein Theil des Publicums ergötzte sich an dem bunten Wechsel der Decorationen, am Costüme, und an dem unbegreiflichen Zusammenhange der Scenen; der gebildetere Theil wünschte dem Dichter einen solidem Geschmack, Consequenz, und Studium des Horaz'schen Briefes an die Pisonen." Diese immer wieder gemachte Beobachtung faßte der Rezensent des Morgenblattes für gebildete Stände schließlich beinahe lakonisch in der Formel »Kleist's Käthchen von Heilbronn wird sehr verschieden beurtheilt, aber immer stark besucht« 100 zusammen: Kleists Schauspiel also sorgte für Mißvergnügen der Kritik101 und war doch zugleich von Anbeginn beim Publikum beliebt. 102

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Vgl. die Nordischen Miszellen, 21. Oktober 1810, Nr. 42, S. 341-346, hier S. 341f„ über den »neckende[n] Geist gegen die Person des Schauspiel-Directors Iffland.« Etwa dem, daß das Stück jahrzehntelang nur in entstellenden Bearbeitungen gegeben wurde. In: Der Sammler, 22. März 1810, Nr. 35, S. 140. Morgenblatt für gebildete Stände, 18. April 1810, Nr. 93, S. 372; vgl. Vossische Zeitung, 12. April 1810, Nr. 44: »Den 17ten März wurde im Theater an der Wien das Kätchen von Heilbronn des Herrn von Kleist mit sehr getheiltem Beifalle, doch aber mit solchem Zulaufe gegeben, daß das Stück drei Tage hintereinander gespielt wurde« sowie Weiss (wie Anm. 1), S. 181, Anm. 32. Die Kritik bemängelte u.a., daß dem Stück »die innre Kraft und Einheit« mangele (in: Der Österreichische Beobachter, 28. März 1810, Nr. 12, Beilage 3); vgl. Revision der neuesten dramatischen Literatur. In: Allgemeiner Deutscher Theater-Anzeiger, 12. Juli 1811, Nr. 28, S. 120, sowie den Hinweis auf die enormen dramaturgischen und bühnentechnischen Schwierigkeiten, die einem Erfolg auf »Provinzial-Bühnen« entgegenstünden (Grätzer Zeitung, 5. Januar 1811, Nr. 3). Vgl. Annalen der Literatur und Kunst des In- und Auslandes, April 1810, S. 140f.: »Obgleich der Jungfrau von Orleans ängstlich treu nachgebildet, zeichnet es sich doch vor den gewöhnlichen Ritter-Stücken vortheilhaft aus, und behauptet unter allen in diesem Jahre erschienenen neuen Darstellungen, (die der Hoftheater eingerechnet), den ersten Rang.«

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Erfolgreich, allerdings vornehmlich bei der Kritik, waren im Gegensatz dazu Kleists Erzählungen, die in zwei Teilen in den Jahren 1810 und 1811 erschienen. Die spätere Beliebtheit etwa des Michael Kohlhaas zeichnete sich also gleichfalls noch zu Lebzeiten Kleists bzw. unmittelbar nach dessen Tod ab; 103 nicht zuletzt freilich, weil die Erzählungen in der politischen Situation dieser Zeit auch als Beitrag zu einer dezidiert eigenständigen und vom französischen Vorbild weitgehend unabhängigen >deutschen< Erzählkunst mit vorbildhaftem Charakter sich auffassen ließen. 104 Der nachhaltige Publikumserfolg des Schauspiels und der Kritikererfolg der Prosa Kleists verweisen schließlich auf recht grundsätzliche Probleme im Umgang mit diesem Dichter, aber keineswegs nur mit ihm allein. Daß der Rezensent der Erzählungen nämlich feststellen konnte: »Für die Menge sind sie nicht geschrieben«, 105 muß daher ebenso symptomatisch erscheinen wie die oben zitierte feine Unterscheidung zwischen dem »gebildetere[n] Theil« des Publikums, der dem Dichter »einen solidem Geschmack [etc.]« wünschte, und dem weniger gebildeten, der sich am Käthchen gänzlich vorbehält- und voraussetzungslos zu erfreuen vermochte. Dieses gedankliche Modell eines hierarchisch zusammengesetzten Publikums, dessen eine Schicht weitestgehend urteilsunfähig nur seinem Vergnügen hinterherläuft und dessen zweite sich davon positiv abhebt durch literarische Bildung und kritisches Urteilsvermögen und so den Idealtypus des Rezipienten verkörpert, dieses gedankliche Modell ist zu allererst ein elementarer Bestandteil der Maßnahmen zur Selbsterhöhung und -Stilisierung der von gesellschaftlichen Zwängen sich emanzipierenden Dichterkaste gewesen: um diesen »gebildetere[n] Theil« aber ging es den zeitgenössischen Poeten (einschließlich Kleist), er galt als das >eigentliche< Publikum, um dessen Zustimmung die Dichter rangen. Diese unterschiedliche Wertigkeit, die den >Dichtern< wie den >Kennern< schmeichelte, weil Mißerfolge erklärbar wurden, Erfolge einen höheren Wert bekamen und zugleich sich so elitäre Distanziertheit zur Masse des Publikums formulieren ließ, begann recht schnell ein Eigenleben zu führen; von immer geringerem Wert war daher fortan der Beifall der Masse, der Tageserfolg bedeutete nun recht wenig gegen den künftigen; Kritiker avancierten zu den Propheten projektierter Größe, wenn die von ihnen konstatierte Qualität eines literarischen Werkes nicht umgehend zum Erfolg führte.

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Vgl. Schöne Literatur. In: Zeitung für die elegante Welt, 24. November 1810, Nr. 235, Sp. 1865-1869; der Rezensent in der Zeitung ßr die elegante Welt, 10. Oktober 1811, Nr. 202, Sp. 1609ff., feierte auch den zweiten Teil der Erzählungen euphorisch, dort heißt es u.a.: »Der ungemeine Beifall, welchen der erste Theil dieser Erzählungen gefunden, ist ein sehr erfreulicher Beweis von der Empfänglichkeit der Lesewelt für das Vortrefliche, und von ihrer Bildungsfähigkeit, an welche Viele, weil sie nur auf das Schlechte und Mittelmäßige sehen, das in jeder Messe erscheint, keinen rechten Glauben haben.« Vgl. Zeitung für die elegante Welt (wie Anm. 103), Sp. 1865. Ebda.

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Ausgerechnet Goethe hat dieses zentrale Denkmuster der sich seit Klopstock in immer stärkerem Maße über sich selbst verständigenden Dichter und ihrer parallel dazu gleichfalls sich institutionalisierenden Kritikerschar an prominenter Stelle exemplarisch formuliert und somit auf die nach 1800 bereits hinlänglich erprobten Charakteristika des Umgangs von Dichtern und ihrem zweigeteilten Publikum verwiesen. Im Vorspiel auf dem Theater in Faust I ist dementsprechend von den Eitelkeiten des Dichters die Rede (»O sprich mir nicht von jener bunten Menge,/ Bei deren Anblick uns der Geist entflieht«, V. 59f.) und von der Minderwertigkeit des Beifalls durch die Zeitgenossen (V. 61ff.); von der »Mitwelt«, die unterhalten werden will und von der »Nachwelt«, die erst den eigentlichen >Wert< des Dichters zu erkennen vermag (V. 75ff.). Daß gerade Goethe diese Terminologie mit nicht zu überhörendem ironischen Unterton festhielt, derer sich diejenigen mit größtem Ernst und gänzlich unironisch bedienten, die Kleist wesentlich später an seine Stelle setzen wollten, kann da nur als ironische Brechung verstanden werden und auch, daß man schon zu Lebzeiten dessen >Verkanntsein< konstatieren konnte,106 weil ein >wahrer< Dichter nach diesem Entwurf in seiner Gegenwart beinahe notwendig erfolglos sein mußte (V. 67-74): Ach! was in tiefer Brust uns da entsprungen, Was sich die Lippe schüchtern vorgelallt, Mißraten jetzt und jetzt vielleicht gelungen, Verschlingt des wilden Augenblicks Gewalt. Oft, wenn es erst durch Jahre durchgedrungen, Erscheint es in vollendeter Gestalt. Was glänzt, ist für den Augenblick geboren, Das Echte bleibt der Nachwelt unverloren.

Nur so wird auch verständlich, warum die kontinuierliche Wirkungsgeschichte des Käthchen von Heilbronn noch heute nur mit Bedenken akzeptiert wird, verweist sie doch auf einen nach diesem Denkmuster unzulässigen Vorgang: den schon zu Lebzeiten einsetzenden Erfolg. Wie im übrigen das abschließende Urteil über Kleists Erfolge oder Mißerfolge weitgehend von der gewählten Bezugsgröße abhängt: im Vergleich zu Kotzebue, Raupach oder Iffland ist sein Anteil an der zeitgenössischen Literatur sicherlich wenig bemerkenswert - dann aber müßte auch Goethe als ein erfolgloser Autor gelten, denn reißenden Absatz fanden seine Werke kaum. Erneut manifestiert sich hier die oben angedeutete zweigeteilte Wahrnehmung, die die gewaltigen Erfolge der heute weitestgehend vergessenen Dramatiker geringschätzt im Vergleich zu denen der nur mäßig erfolgreichen Dichter, die aber zugleich elitäre Ansprüche an die Literatur und ihr Publikum stellten. Am ehesten noch dürfte es daher Kleist zum Verhängnis geworden sein, daß er den Zugang zur Maßstäbe setzenden, urteilsbildenden und die öffentliche Kultur prägenden intellektuellen Elite seiner Zeit verfehlte, ja, daß er diese sogar teilweise gegen sich aufbrachte, was ihm in hohem Maße Wirkungsmöglichkeiten und Publikumsinteresse entzog. 106

Dramatische Sp. 817ff.

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Literatur.

In: Zeitung für die elegante

Welt, 24. Mai 1811, Nr. 103,

2.

Zum Verhältnis Heinrich von Kleist - Johann Wolfgang von Goethe

Die der Konstituierung eines >alternativen< Kanons gleichkommende Wiederentdeckung Kleists um die Jahrhundertwende läßt sich auch und nicht zum geringsten Anteil verstehen als Loslösung und bewußte Abkehr von der in Johann Wolfgang von Goethe einzigartig personifizierten Weimarer Klassik. 107 Dem Verhältnis Goethes zu Kleist hat man daher gerade in dieser Zeit eine besondere Bedeutung zugesprochen, häufig mit der Tendenz, es symbolisch zu überhöhen. Die Relativierung Goethes im Kontext der literarischen Moderne muß dementsprechend in wechselseitiger Abhängigkeit zur Neubewertung Kleists gesehen werden. 108 Um nachzuvollziehen, warum dem eher episodenhaften, wenn auch folgenreichen und epochenübergreifenden Einfluß Goethes auf Kleist solches Gewicht beigelegt wurde, ist scheinbar weit Auseinanderliegendes in Beziehung zu setzen - Goethes ästhetische Maßstäbe, sein kulturpolitischer Status um 1810 und im Kaiserreich, Kleists dichterische Ziele und die Ansätze zu ihrer Verwirklichung, die Notwendigkeit der immer wieder beschworenen Freund- und Feindbilder des Jüngsten Deutschland< und deren Funktionalisierung, die Konsequenzen schließlich, die sich aus einer Auffassung von Literaturgeschichte ergeben, in der der beinahe grenzenlose Einflußbereich Einzelner selbstverständlich angenommen wird. Wohl selten liegt es so nahe, »konstellative Wirkungsgeschichte«109 zu betreiben, wie hier im Falle des Aufeinandertreffens und -wirkens zweier, dem allgemeinen Konsens nach so herausragender Dichter; wohl selten jedoch ist gerade dies so problematisch, weil das an sich durchaus überschaubare Faktenmaterial durch ungezählte Kommentare und Mei-

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Geprägt von Nietzsche (»Goethes angebliches Olympiertum«) entsteht ζ. B. bei Franz Servaes (in: Goethe am Ausgang des Jahrhunderts. Berlin 1897) ein ausdrücklicher Gegenentwurf: der Typus des >modernenDichterkonstellation< mögen daher dienlich sein, wesentliche Konturen schärfer hervorzuheben. Was aber ist vom tatsächlichen Verhältnis beider Dichter überhaupt bekannt? Mit größeren zeitlichen Lücken, doch voller Interesse kommentiert Goethe Kleists Schaffen vom Erscheinen des Amphitryon 1807 an bis in das Jahr 1826, als er, eine Rezension über den Kleist-Herausgeber Ludwig Tieck zum Anlaß nehmend, gewissermaßen abschließend zu Kleist Stellung nimmt. Der Abfolge der zumeist in Briefen und Tagebüchern befindlichen Kommentare Goethes scheint eine innere Notwendigkeit zugrundezuliegen, die zugespitzt formuliert lauten könnte: Goethes Worte über Kleist sind Indizien für ein zunehmendes Unbehagen, sie spiegeln die stetig sich steigernde Skepsis des älteren Mannes dem jungen gegenüber. Dies scheint seine vollkommene Entsprechung auf Seiten Kleists zu finden, für den der Leitstern Goethe mit der Zeit verblaßte und den er nur zu gern ersetzt wissen mochte.110 Die Stationen des Kontaktes beider Dichter seien im folgenden ein wenig präzisiert. Kleists literarische Sozialisation anhand seiner persönlichen Kontakte zu Schriftstellern betrachtet, gleicht einem Schnelldurchlauf durch die deutsche Literaturgeschichte seit 1740. Die >Fossilien< der Aufklärung bahnen seinen dichterischen Weg: dem 1801 in jeder Hinsicht noch unentschlossenen Kleist vermochte der greise Kanonikus Gleim in Halberstadt grundlegende Ziele zu vermitteln,111 und den in der Krise befindlichen bestärkte seit 1803 der >Dekan des deutschen Parnasses< Christoph Mar-

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Grundsätzlich zu dieser Thematik u. a. K. Günther: Art. Kleist, Heinrich von. In: GoetheHandbuch. Stuttgart 1917. II, S. 346-349; A. R. Neumann: Goethe und Kleists >Der zerbrochne KrugDer zerbrochne Krug< am Weimarer Hoftheater 1808. Ein unbekanntes Zeugnis aus Goethes Umkreis. In: Goethe-Jahrbuch 100 (1983), S. 219-225.

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Kleist an Wilhelmine von Zenge (3. Juni 1801; in: Briefe (wie Anm. 29), S. 228-233, Nr. 49); auf ihrer >Kavalierstour< (»Wir suchen uns in jeder Stadt immer die Würdigsten auf«) kamen die Geschwister von Kleist auch durch Halberstadt. Kleist beeindruckte offenkundig der Kommentar Gleims zu seinem Kabinett herausragender Personen am meisten: »Da ist keiner, sagte er, der nicht ein schönes Werk schrieb, oder eine große That begieng.« Den beinahe gleichen Wortlaut verwendet er nämlich, um seine Lebensziele zu definieren (an Ulrike, 1. Mai 1802; ebda., S. 305ff., Nr. 68): »kurz, ich habe keinen andern Wunsch, als zu sterben, wenn mir drei Dinge gelungen sind: ein Kind, ein schön Gedicht, und eine große That.«

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tin Wieland.112 Schwerlich läßt sich jedoch klären, ab wann Kleist, einer typisch romantischen Gepflogenheit folgend, sich bewundernd und vornehmlich an Johann Wolfgang von Goethe als primus inter pares orientierte. Im September 1800 jedenfalls war diese Präferenz noch nicht eindeutig. Der Versuch, »den Grad der Kultur einer Stadt und überhaupt den Geist ihres herrschenden Geschmacks« anhand der Bestände einer Würzburger Bibliothek näher zu bestimmen, endet charakteristisch: die Werke Wielands, Goethes und Schillers, in Kleists Brief unausgesprochen die Höhepunkte anspruchsvoller deutscher Literatur, sind dort schlicht nicht vorhanden, statt dessen »Rittergeschichten, lauter Rittergeschichten, rechts die Rittergeschichten mit Gespenstern, links o h n e Gespenster.«113 Im Jahr darauf nimmt er Goethe in Schutz: die als spöttisch geltende, aber scharf beobachtende Adolfine von Werdeck hatte festgestellt, daß dessen persönliches Auftreten in deutlicher Diskrepanz zur herausragenden Güte seiner Werke stehe, was Kleist diesem jedoch eher zugute halten mochte. Auch hier läßt sich also nur ahnen, wie sehr Kleist Goethe geschätzt haben mag.114 Erst die mit Adam Müller seit 1807 gefaßten Pläne zur gemeinsamen Herausgabe der Zeitschrift Phöbus, die »als großes Kunstjournal« in der Nachfolge der Schillerschen Hören stehen sollte,115 ließen die Option für Goethe konkret werden, aus naheliegenden Gründen. Den unliebsamen Status des unbekannten Nachwuchspublizisten und -dichters wollte Kleist so schnell wie möglich überwinden. Dazu war es nötig, von Goethe nicht nur wahrgenommen, sondern anerkannt zu werden. Goethe für sich zu gewinnen, das hieß nach landläufiger, wesentlich von den Romantikern geprägter Vorstellung,116 die Eintrittskarte zur literarischen Welt, zu den Journalen, Verlagen und Theatern in den Händen zu halten. Jenseits inhaltlicher und ästhetischer Ansprüche resultierte diese durchaus funktionale, dem Bedürfnis nach väterlicher Protektion gleichkommende Auffassung aus der wohl realistischen Erkenntnis, ohne Goethe im literarischen Betrieb der Zeit nicht wahrhaft, d.h. an exponierter Stelle117 reüssieren zu können. Die selbst inszenierte Goethe-Idolatrie, dessen maß-

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Vgl. Thomas C. Stames: Christoph Martin Wieland. Leben und Werk. 3 Bde. Sigmaringen 1987. Bd. 3. An Wilhelmine von Zenge (14. September 1800; in: Briefe (wie Anm. 29), S. 121f„ Nr. 24). Kleist an A. v. Werdeck (November 1801; ebda., S. 279-283, Nr. 58); vgl. Baxa (wie Anm. 62) I, S. 511, und Zschokke (wie Anm. 30), 1, S. 204, über Kleist und L. Wieland: »Göthe hieß ihr Abgott.« Vgl. Adam Müller an Johannes von Müller (17. Dezember 1807; in: Baxa (wie Anm. 62) I, S. 364f„ Nr. 259); Müllers Brief vom 17. Dezember 1807 an Goethe (»Den Titel Phöbus [...] zu rechtfertigen, fehlt uns Ihre Billigung, ein kleiner Beytrag, oder wenigstens die Erlaubniß Ihren beschützenden Nahmen am Eingange hinschreiben zu dürfen«; ebda., I, S. 363f„ Nr. 258). Am prägnantesten hat wohl Novalis diese Auffassung formuliert, der in Goethe den »wahren Statthalter des poetischen Geistes auf Erden« sah (zitiert nach: Mandelkow (wie Anm. 70) I, S. 53; vgl. ebda., S. 44-57). Vgl. Mommsen (wie Anm. 110), S. 13f.

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lose Stilisierung zum Dichterfürsten konnte also für den literarischen Nachwuchs durchaus auch eine Kehrseite haben: sie führte in die Abhängigkeit. Kleist, der schon lange nicht mehr meinte: »Bücherschreiben für Geld - ο nichts davon«, 118 entwarf nun ehrgeizige Pläne. Künftige Erfolge vorwegnehmend, ließ er Goethe einem Phantom gleich fortan durch seine Briefe geistern: Zwei meiner Lustspiele [...] sind schon mehrere Male in öffentlichen Gesellschften, und immer mit wiederholtem Beifall, vorgelesen worden. [...] Auch in Weimar läßt Göthe das Eine aufführen. Kurz, es geht Alles gut[;] Das erste Heft des Phöbus wird Ende Januars erscheinen; Wieland auch (der alte) und Johannes Müller, vielleicht auch Göthe, werden Beiträge liefern[;] Die Herren & Wieland, Böttiger, Joh. Müller, wie wir hoffen, auch HE. v. Göthe [...] werden die Güte haben, uns mit Beiträgen zu unterstützen!;] Ew. Hochwohlgeboren nehme ich mir die Freiheit, in der Anlage die Anzeige eines Kunstjournals zu überschicken, das ich, unterstützt von den HE. & Wieland, Göthe, für das Jahr 1808 herauszugeben denke.119 Spürbar wird die Begeisterung, mit der allein die Vorstellung, Goethe könne mitarbeiten, Kleist erfüllte. Auch er, darin typisch für die um 1770 geborene Generation,

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An Wilhelmine von Zenge (10. Oktober 1801; in: Briefe (wie Anm. 29), S. 271-276, Nr. 56). Die Zitate stammen aus Briefen an Ulrike von Kleist (17. September 1807; 17. Dezember 1807; vgl. auch: 8. Februar 1808; ebda., S. 387ff„ Nr. 119; 400f„ Nr. 128; 411f„ Nr. 140), Johann Friedrich Cotta (21. Dezember 1807; ebda., S. 401f., Nr. 129), Hans von Auerswald (22. Dezember 1807; ebda., S. 404, Nr. 131) und Karl Freiherrn von Stein zum Altenstein (22. Dezember 1807; ebda., S. 402f., Nr. 130); angespielt wird darauf auch in den Anzeigen des Phöbus (z.B. in: Jenaische Allgemeine Zeitung, 26. Dezember 1807, Nr. 302, Intelligenzblatt Nr. 95, Sp. 803-806: »Große Autoren von längst begründetem Ruhm werden mit uns seyn«; so auch Adam Müller an Johannes von Müller (17. Dezember 1807, (wie Anm. 115)): »Wieland, Goethe, Schiller in mehreren Posthumen, und viele Vortreffliche der Nation sind so gut als gewonnen für die Sache.« Müller bedrängte Goethe gleichfalls mit diesem Plan. Am 17. Dezember 1807 (a. a. O.) schrieb er: »Was Ew. Exzellenz dem Prometheus getan haben, darf ja wohl auch der Phöbus hoffen.« In dieser Hinsicht zeigte sich Rühle von Lilienstern gegenüber Carl B. Bertuch schon früh skeptisch: Goethes Interessen müßten doch per se der Zeitschrift Prometheus näher liegen (Brief vom 18. Dezember 1807, in: Sembdner (1996) I, S. 173f., Nr. 201). Dem von Leo von Seckendorff im Verlag Cottas herausgegebenen Prometheus hatte Goethe sein Pandora-Fragment zum Druck überlassen; vgl. hierzu die Briefe Cottas an Goethe vom 19. Februar und 14. April 1808, die auf das Phöbus-Piojekl anspielen (»Zwar führe ich keine Gottheiten in meinen Titeln [...]«; »Die Ober- und UnterGottheiten müßten mich zur Verzweiflung bringen, wenn sie mir femer etwas entzögen, was Ihren Namen führt«); in: Goethe und Cotta. Briefwechsel. 1797-1832. Textkritische und kommentierte Ausgabe in drei Bänden. Hrsg. von Dorothea Kuhn. Bd. 3/1. Erläuterungen zu den Briefen 1797-1815. Stuttgart 1983, S. 172f„ Nr. 228, S. 175f„ Nr. 231, vgl. S. 252f.; zur Konkurrenzsituation und projektierten Vereinigung beider Zeitschriften vgl. den Briefentwurf Leo von Seckendorffs an Cotta (Wien 1808; in: Sembdner (1996) I, S. 269, Nr. 292a) sowie seine Briefe an Karl August Böttiger (13. Januar 1808; ebda., S. 186, Nr. 213b) und K. F. Graf von Brühl (11. April 1808; ebda., S. 186, Nr. 213c).

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verknüpfte damit die »messianische Hoffnung«, Goethe »sei der Wiederhersteller des antiken Kunstgeistes in der kunstfeindlichen, prosaischen Gegenwart«. 120 Auch ohne eine Zusage war die Erwähnung des Namens im Kontext der neuen Zeitschrift wichtig, signalisierte sie doch möglichen Interessenten vertrauenerweckende Qualität auf höchster Ebene. 121 Der nicht ganz uneigennützige Versuch, berühmte Mitarbeiter als auflagenerhöhende >Zugpferde< zu engagieren, darf Kleist dementsprechend wohl nicht angekreidet werden. Ein Interesse am Kontakt, so könnte man meinen, lag zu diesem Zeitpunkt ausschließlich auf Seiten Kleists, der den Part des Bittstellers in dieser naturgemäß noch einseitigen Beziehung einzunehmen hatte. Doch Ende des Jahres 1807, als Kleist die zitierten Briefe schrieb, war er für Goethe längst kein Unbekannter mehr, obwohl er sich unseres Wissens mit seinen Plänen noch nicht direkt an ihn gewandt hatte. Mit dem Goethe eigenen umfassenden Interesse am kulturellen Geschehen seiner Zeit hatte er die, wenn auch skeptische, Annäherung an den jungen Dichter bereits vollzogen, wie Tagebucheinträge des Jahres 1807 belegen. Ein Exemplar des Amphitryon hatte Goethe bereits am 13. Juli 1807, also bald nach dem Erscheinen in Karlsbad erhalten. Ihn irritierte die Lektüre (»Ich las und verwunderte mich, als über das seltsamste Zeichen der Zeit«), 122 die ihn offenbar eher zur Reflexion über die Vermittlung antiker und neuzeitlicher Bearbeitungen dieses Stoffes reizte als zu einer eigentlichen Kritik. Diese äußerte er an den darauf folgenden Tagen gegenüber Riemer und Reinhard.123 Wie bereits vor ihm der Verfasser des Tübinger MorgenblattesllA war auch Goethe angetan von einer möglichen christlich-mystischen Lesart des Stückes. Sein Urteil ist also keineswegs einzigartig, zumal er sich damit begnügte, Pauschalwertungen wie »Das Ende ist aber klatrig« ohne eine nähere Differenzierung festzuhalten, die ihm selbst vor Augen gestanden haben mag, heute aber nicht mehr zu rekonstruieren ist. In einer gleichfalls aus dieser Zeit stammenden Skizze erscheint Amphitryon als Bindeglied von Antike und Moderne, als Versuch der Synthese von Antithetischem, der das Trennende allerdings nur noch stärker heraushebt. 125

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Mandelkow (wie Anm. 70), S. 57. Der Verweis auf eine potentielle Beiträgerschaft Goethes ist in dieser Zeit gewissermaßen topisch, vgl. etwa Leo von Seckendorffs an Ludwig Uhland gerichtete, handschriftlich ergänzte Voranzeige zum Prometheus: »Wir dürfen uns einiger günstiger Auspizien und der besondern Theilnahme Göthes erfreuen, der das erste Stück mit einer Dramatischen Einladung begleiten wird« (zitiert nach: Goethe/Cotta-Briefwechsel (wie Anm. 119), 3/1, S. 252). Vgl. Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Frankfurt 1985ff. Bd. II/6, S. 204; Tagebucheintrag vom 13. Juli 1807 (in: Sembdner (1996) I, S. 159f., Nr. 182a), auch gegenüber dem Jenaer Buchhändler Frommann (18. September 1807; in: Sembdner (1996) I, S. 162, Nr. 186a); hierzu ausführlich Streller (wie Anm. 110), S. 348ff. Vgl. Goethe (wie Anm. 122), II/6, S. 205, Nr. 158, 14. Juli 1807 (»Zu Riemer«), und den Eintrag vom 15. Juli 1807 (»mit Oberhofprediger Reinhard«; in: Sembdner (1996) I, S. 160, Nr. 182a). Vgl. Morgenblatt (wie Anm. 69), dessen Rezension ihm durchaus vorgelegen haben kann. Vgl. Price (wie Anm. 110), S. 276ff.

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Das Urteil stand also bereits fest, als Adam Müller, nichts dem Zufall überlassend, kurze Zeit darauf Goethe ein zweites Exemplar, sowie eines des Zerbrochnen Kruges zukommen ließ, mit dem Wohlwollen heischenden Zusatz, seine, Goethes, Billigung sei schließlich die »des einzigen Richters, den der abwesende Verfasser im Auge gehabt haben kann«. 126 Tatsächlich trifft Adam Müller hiermit den Kern des Problems. Mag die Äußerung für ihn auch die vornehmlich rhetorische Funktion einer captatio benevolentiae gehabt haben, Kleist war ausschließlich auf dieses eine, für ihn zu dieser Zeit maßgebliche Urteil fixiert, mit allen Risiken, die dies in sich bergen konnte. Nach zweimaliger Lektüre des Zerbrochnen Kruges antwortete Goethe, und seinem Schreiben läßt sich indirekt das gezielte Vorgehen Müllers und Gentz' in Sachen Kleist entnehmen. Während Müller sich schriftlich an Goethe gewandt hatte, sorgte Gentz in Karlsbad direkt dafür, daß Kleist im Gespräch blieb.127 Und so bescheinigte Goethe dem Zerbrochnen Krug denn auch »außerordentliche Verdienste« sowie Intensität der Darstellung. Seine bereits am Amphitryon gewonnene Auffassung, Kleist mangele es an eigentlicher Dramatik, an der Fähigkeit, eine Handlung zu entwickeln, schien ihm allerdings erneut bestätigt.128 Doch den Vorbehalten folgte die eigentliche, die gute Nachricht, die die Annäherung vollkommen machte: Das Manuskript will ich mit nach Weimar nehmen, in Hoffnung Ihrer Erlaubnis, und sehen, ob etwa ein Versuch der Vorstellung zu machen sei. 129

Die Einrichtung des Zerbrochnen Kruges für das Theater erfolgte ohne Kleists Zutun, was diesen aber offenbar nicht störte. Während er mit den Vorarbeiten zum Phöbus mehr als ausgelastet war, freute er sich auf einen ihm möglich scheinenden Besuch der Uraufführung seines Werkes.130 Goethe, der bereits im August 1807 konkrete Vorstellungen zu einer angemessenen Inszenierung entwickelt hatte,131 unterwarf

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Müller an Goethe (31. Juli 1807; in: Baxa (wie Anm. 62) I, S. 343f„ Nr. 232). Vgl. Friedrich Wilhelm Riemer: Mitteilungen über Goethe, aus mündlichen und schriftlichen, gedruckten und ungedruckten Quellen. Berlin 1841. Bd. 1, S. 406f., über die Deklamation Kleistscher Texte im Hause Frommanns im Beisein Goethes; auch Goethes Tagebucheinträge vom 18. September, in: Sembdner (1996) I, S. 162, Nr. 186a. Goethe an Adam Müller, 28. August 1807 (in: Baxa (wie Anm. 62) I, S. 345f„ Nr. 236): »Könnte er mit eben dem Naturell und Geschick eine wirklich dramatische Aufgabe lösen und eine Handlung vor unsern Augen und Sinnen sich entfalten lassen, wie er hier eine vergangene sich nach und nach enthüllen läßt, so würde es für das deutsche Theater ein großes Geschenk sein«; zum offenkundigen Interesse Goethes vgl. Barth (wie Anm. 110), S. 219ff. Goethe an Adam Müller (28. August 1807; (wie Anm. 128)). Brief an Ulrike von Kleist (8. Februar 1808; in: Briefe (wie Anm. 29), S. 41 lf„ Nr. 140); zu dem Besuch, der mit Rühle gemeinsam zur zunächst für den Februar geplanten Aufführung stattfinden sollte, kam es allerdings nicht. Bereits zu diesem Zeitpunkt meinte er, die ihm maßgeblich scheinende Rolle des Richters Adam passend besetzen zu können (Goethe an Müller, 28. August 1807; (wie Anm. 128)).

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das Stück nach seiner Rückkehr aus Karlsbad dem procedere der Theaterroutine. 132 Bereits am 13. September traf er sich mit dem von ihm hochgeschätzten Charakterdarsteller und Tenor Heinrich Becker, der in der Funktion des »Wöchners« nach Goethes Anweisungen auch wichtige theaterlogistische Arbeiten zu überwachen hatte. Diesem, als dem designierten Darsteller des Dorfrichters Adam, überreichte er, den Namen des Verfassers vorenthaltend, den Text zur Einrichtung. Diesem Vorgang ist es zu danken, daß wenigstens einige spärliche Details über die Vorbereitung der Inszenierung auf uns gekommen sind. Überzeugt von der Qualität des ihm Vorgelegten und einer Meinung mit den Rezensenten, die sich von Kleist gerade auf dem Gebiet des Lustspiels Großes erhofften, schrieb Becker bereits am 29. September 1807 an den Hofrat Heinrich Blümner: Viehle gute Stücke sind uns eingeschickt worden, und vihle in Versen. Besonders zeichnet sich ein Lustspiel in einem Akt aus, in ganz neuer Manier, in Jamben, welches mit großer Freyheit geschrieben ist, und von bedeutender Wirkung sein wird. Es handelt sich um eine Sache die geschehen ist, nämlich um einen zerbrochenen Krug, es ist prächtig. Ich habe es zum streichen bekommen, denn wie es steht, ist es nicht zu geben, es ist ein bischen derb, aber wenn der Mann, den wir nicht kennen, uns mehr schicken wollte, daß war unser Mann, von dem wir für das Lustspiel vihl erwarten können. 133

Für Becker stand die eigentliche Handlung im Hintergrund, angetan hatte es ihm der hohe Grad der Unkonventionalität, der das Kleistsche Opus offenbar stark vom regulären, auch in Weimar häufig gespielten Lustspielrepertoire abhob. Becker bescheinigte Kleist die Fähigkeit zu »ganz neuer Manier«, die sich auf Formelemente wie den Versbau, aber auch auf die weitgehende Unabhängigkeit von Vorlagen und Traditionen erstreckte. Das Urteil Goethes mag hierbei eine nicht unerhebliche Rolle gespielt haben. Dieser hatte bereits im Brief an Adam Müller darauf hingewiesen, daß die Abkehr von einer sukzessive sich entwickelnden zugunsten einer gleichsam retrospektiv sich der Analyse eines Geschehens widmenden Handlung das Stück von der Bühne verbanne und es schon durch seine Anlage dem »unsichtbaren Theater« anheimfallen lasse.134 So war es denn wohl weniger die Derbheit des Werkes als vielmehr diese strukturelle Schwäche, die nach dem Verständnis Beckers - über Goethes Einfluß darauf ist nichts bekannt - größere Eingriffe erforderlich machte. Die für den Jahresanfang 1808 geplante Aufführung wurde zunächst wegen »Göthens Abwesenheit« verschoben. 135 Seit Anfang Februar widmete sich Goethe 132

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Hierzu ausführlich: Barth (wie Anm. 110), S. 220ff., und William C. Reeve: Kleist on stage, 1804-1987. Montreal 1993, S. 22ff. Vgl. den wohl auch an Blümner gerichteten Brief Beckers vom 10. Januar 1808 (in: Sembdner (1996) I, S. 219, Nr. 239); hierzu Barth (wie Anm. 110), S. 220f. Goethe an Adam Müller (28. August 1807; (wie Anm. 128)). Dies berichtet Heinrich Becker in einem wohl an Heinrich Blümner gerichteten Brief vom 10. Januar 1808 (wie Anm. 133); vgl. hierzu Riemers Brief vom 16. Februar 1808 an die Familie Frommann (in: Sembdner (1996) I, S. 221, Nr. 239b): »Morgen über 8 Tage soll der zerbrochne Krug sein, wenn's möglich ist. Es kommt bei der jetzigen Witterung immer ein Hindernis zwischen die wöchentlichen Anordnungen und man kann für nichts stehn. G[oethe] ist zwar nicht krank, aber unter uns nicht des besten Humors.«

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selbst wieder verstärkt dem Schauspiel und seinem Verfasser: gleich mehrfach nutzte er mittägliche Einladungen, um mit der für die »Eve« vorgesehenen Beate Elsermann »die Rolle aus dem zerbrochnen Krug« durchzugehen, 1 3 6 und auch im Hause Wielands hielt er eine Leseprobe ab, vielleicht, um sich der Güte der gekürzten Fassung zu versichern. 137 Wie dem Tagebuch des gleichfalls anwesenden Riemer zu entnehmen ist, wurde bei diesem Anlaß auch über Kleist selbst und seine Penthesilea gesprochen. 138 Dieses gesteigerte Interesse lag wohl weniger in einer tatsächlichen Notwendigkeit begründet, sondern vielmehr in dem eindringlichen Schreiben Kleists vom 24. Januar 1808, in dem er äußerst eloquent den endgültigen Vorstoß zum bis dahin eher distanzierten Goethe gewagt hatte. In bewußter Anordnung wurden darin gleich drei Anliegen zur Sprache gebracht: An erster Stelle, voller rhetorischer, mit ehrlicher Empfindung vereinter Bescheidenheit (»Es ist auf den >Knieen meines HerzensVerbeugung< vor Goethe spricht noch die Sprache der Bewunderung und ist Indiz für das freiwillig postulierte Ungleichgewicht der Korrespondenten: »Der ich mich mit der innigsten Verehrung und Liebe nenne Ew. Exzellenz gehorsamster Heinrich von Kleist.« Kleists Suche nach Protektion und verständnisvoller Förderung seiner ehrgeizigen Pläne schien wiederum an einem vorläufigen Ziel angelangt. Wenige Tage darauf, am 1. Februar 1808, antwortete Goethe mit großer Offenheit und umso herberer Kritik, jedoch mit der Bitte, sein »Geradezu« zu verzeihen, »es zeugt von meinem aufrichtigen Wohlwollen.« 144 Er erbittet sich Zeit für eine weitere Auseinan-

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Die geplante Aufführung durch Goethe ist Kleist auch noch in anderer Hinsicht nützlich. So kann er am 14. Februar 1808 an Heinrich Joseph von Collin schreiben (in: Briefe (wie Anm. 29), S. 412f., Nr. 141): »HE. v. Göthe läßt es in Weimar einstudieren.« Per se mußte diese Tatsache Eindruck machen und konnte gegebenenfalls eine Entscheidung für die Annahme in Wien beflügeln, zu der es allerdings nicht kam. »Herr Adam Müller und ich, wir wiederholen unsre inständigste Bitte, unser Journal gütigst mit einem Beitrag zu beschenken.« Vgl. Goethe (wie Anm. 122) II/6, Teil 1, S. 931. Brief vom 11. Januar 1808 (in: Sembdner (1996) I, S. 173f., Nr. 201). Diese Äußerung des am Phöbus nur am Rande beteiligten Rühle mag mit taktischer Zielsetzung erfolgt sein; im Brief vom 28. Januar (ebda., S. 174) kommt das hier bereits anklingende Anliegen zur Sprache, Bertuch möge seine Kontakte zu Goethe doch zugunsten Kleists und Müllers einsetzen (»Wenn Sie Goethen zu Beiträgen irgendeiner Art vermögen können, erzeigen Sie uns eine große Gefälligkeit. Es kann ihm ja nicht an alten Arbeiten fehlen, ζ. E. Fragmente aus der Achilleis u. dgl.«). Vgl. Goethe (wie Anm. 122) II/6, Teil 1, S. 273f„ Nr. 212, und den ausführlichen Kommentar ebda., S. 929-932. Das »Wohlwollen« bezog sich besonders auf die »prosaischen Aufsätze«. Die grundsätzlich skeptische Haltung des sich benutzt fühlenden Goethe scheint aus dem wahrscheinlich auf Kleist und Müller bezogenen Tagebucheintrag vom selben Tag hervorzugehen: »Über die Herren, die Goethe als eine Puissance [Autorität] anse-

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dersetzung mit Penlhesilea, die ihm für ein utopisches, wohl wenig erstrebenswertes Theater gemacht zu sein scheint. Mit einem knappen »Nächstens mehr« signalisiert Goethe jedoch sein Interesse an weiterem Kontakt, reagiert aber keineswegs auf die Einladung der »Phöbus«-Herausgeber. Die Goethe häufig angekreidete, als Ausdruck seiner Antipathie empfundene Formulierung: Auch erlauben Sie mir zu sagen (denn wenn man nicht aufrichtig sein sollte, so wäre es besser, man schwiege gar), daß es mich immer betrübt und bekümmert, wenn ich junge Männer von Geist und Talent sehe, die auf ein Theater warten, welches da kommen soll[,]145 ist mithin im Gesamtkontext dieses Briefes durchaus als Teilerfolg zu werten. Kleist erreicht, daß Goethe ernsthaft, differenziert und vor allem ehrlich Kritik übt, daß er, auch und obwohl es ihm Schwierigkeiten bereitet, sich wohlwollend mit dessen Werken auseinandersetzt. Das gegenseitige Einvernehmen ist nicht von Dauer. Den Wendepunkt im Verhältnis beider Autoren markiert die im Tagebuch des mit Weimarer Verhältnissen bestens vertrauten Journalisten und Schriftstellers Stephan Schütze festgehaltene Ablehnung Goethes, künftig am Phöbus mitzuarbeiten: 146 »G[oethe] hat den Herausgebern des

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hen und besch-n. > Will's ihnen aber schon sagenIch habe den Teufel vom Göttlichen! Was hilft's mir, daß man mir nachsagt: das ist ein göttlicher Mann, wenn man nur nach eigenem Willen tut und mich hintergeht Göttlich heißt den Leuten nur der, der sie gewähren läßt, wie ein jeder Lust hat.«< (Goethe (ebda.) II/6, Teil 1, S. 274f., Nr. 214). Goethes explizites Interesse allerdings belegt auch der Brief vom 7. Februar 1808 (in: Sembdner (1996) I, S. 199, Nr. 223b), mit dem er das Phöbus-Heft Frau von Stein zur Lektüre empfiehlt. Ähnlich wie im Schreiben an Kleist heißt es: »Die prosaischen Aufsätze des mitkommenden Heftes werden Sie mit Vergnügen lesen. Die poetischen empfehlen sich vielleicht nicht so sehr. Ich hoffe bald mündlich Ihre Gedancken darüber zu vernehmen.«; vgl. Steiger (wie Anm. 136), V, S. 166f. Goethe an Kleist (1. Februar 1808; in: Goethe (wie Anm. 122) II/6, Teil 1, S. 273f., Nr. 212). Eintrag vom 28. Februar 1808 (zitiert nach Sembdner (1996) I, S. 222, Nr. 239c); das bisher nur auszugsweise gedruckte Tagebuch befindet sich - wie auch der Nachlaß Schützes - im Düsseldorfer Goethe-Museum. Goethes so manifest werdende Ablehnung der Mitarbeit mag mit seiner Furcht vor zu starken romantischen Tendenzen der Zeitschrift begründbar sein (vgl. Mommsen (wie Anm. 110), S. 64-79), doch spielte hierbei sicherlich auch die stillschweigende Vereinbarung mit Cotta eine Rolle, die diesem eine Art >Vorverkaufsrecht< der Beiträge Goethes für die von ihm verlegte Zeitschrift Prometheus zusicherte. Nicht nur Goethe reagierte gegenüber den Vereinnahmungen im Phöbus empfindlich. So schrieb Fouque am 19. Februar 1808 (in: Sembdner (1996) I, S. 209, Nr. 229) nach der Lektüre der Zeitschrift an Varnhagen: »Das gezierte prosaische Gerede im Phöbus habe ich wenig oder gar nicht ansehn können. Im ganzen also finde ich freilich 10

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Phöbus einen Verweis gegeben, daß sie seinen Namen verwenden.« Und auch die Hoffnungen des Hauptdarstellers Heinrich Becker auf einen Bühnenerfolg des Zerbrochnen Kruges - »Wir glauben, daß es von großer Wirkung sein wird« - sollten gründlich getäuscht werden. Die mißglückte Uraufführung des Stückes am 2. März 1808 im Weimarer Hoftheater besiegelte zunächst Kleists Schicksal als zeitgenössischer Bühnenautor, auch und gerade, weil sie auf Goethes ambitionierter >Reformbühne< gegeben wurde. 147 Wenig genug ist über die konkreten Ursachen des Mißerfolges bekannt. Goethes wesentlich später verfaßten Tag- und Jahresheften läßt sich allenfalls entnehmen, daß er den Zerbrochnen Krug als »problematisches Theaterstück« sah, das »gar mancherlei Bedenken erregte, und eine höchst ungünstige Aufnahme zu erleben hatte«.148 Dies hinderte ihn jedoch nicht, sechs Tage nach der öffentlichen Theateraufführung in seinem Hause eine private »Maskerade aus dem zerbrochnen Krug« abzuhalten.149 Während sich Goethe also in Schweigen hüllte, 150 deutete sein Vertrauter, Friedrich Wilhelm Riemer, im Tagebucheintrag vom 2. März und im Brief vom 9. März an die Familie des Buchhändlers Frommann einige Details an: Abends >der Gefangene< und der zerbrochene Krug, der anfangs gefiel, nachher langweilte und zuletzt von einigen wenigen ausgetrommelt wurde, während andere zum Schlüsse klatschten. Um 9 Uhr aus. Der zerbrochne Krug wurde sehr gut, dem Costume nach, gegeben und gefiel im ganzen, ob es gleich zu lang däuchte. Nur einige armselige Patrone unterstanden sich beim Schluß, als applaudiert wurde, zu pochen. Alle Schauspieler hatten sich die größte Mühe gegeben, und wie ungerecht, ja bestialisch, nicht dem Spiel wenigstens Gerechtigkeit widerfahren zu lassen!

Der Eindruck der Langatmigkeit überwog also die anfänglichen Sympathien des Publikums.151 Schwer zu entscheiden bleibt aber, ob die Ursache hierfür in der Art

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Rth. Conventionsgeld nicht zum besten angelegt, zumal da mich gleich Dir die elende Prahlerei mit Goethe und Honorar unsäglich empört.« Zum Weimarer Bühnenstil vgl. Walter Hinck: Goethe - Mann des Theaters. Göttingen 1982 (Kleine Vandenhoeck-Reihe 1487), S. 16, und Norman Orzechowski: Kleists Dramen in den Bühnendekorationen des 19. und 20. Jahrhunderts. Eine historisch orientierte Darstellung unter Einbeziehung ausgewählter Theaterkritiken. Inaugural-Diss. FU Berlin 1989, S. 169-182. Die im Gegensatz zu Dichtung und Wahrheit nur unwesentlich literarisch überarbeiteten Tag- und Jahreshefte entstanden erst zwischen 1817 und 1826; vgl. Goethe (wie Anm. 122) 1/17, S. 500f. Vgl. Goethe (wie Anm. 122) II/6, S. 282, Nr. 221, Eintragung vom 8. März 1808. Obwohl der von Goethe sehr geschätzte Pius Alexander Wolff geladen war, spielte Friedrich Wilhelm Riemer die Hauptrolle (Tagebuch, 8. März 1808): »Abends Wolffs und Elsermann zum Tee. Maskierten wir uns aus dem zerbrochenen Krug. Ich machte den Dorfrichter.« Im Tagebuch heißt es lediglich: »Im Theater der Gefangene und der zerbrochne Krug.« (Goethe (wie Anm. 122) II/6, S. 276, Nr. 218). Die Allgemeine Deutsche Theater-Zeitung vom 11. März 1808, Nr. 21, S. 88ff., berichtete: »Aus dem scheuen Schweigen der Tochter, der Verlegenheit und den Wunden des kahlköpfigen Dorfrichters erraten wir sogleich, daß nur er am Abend unter irgend einem

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und Weise der Bearbeitung des Stückes oder in der Befremden erregenden Kleistschen Schreibmanier zu suchen ist, 152 die einem nicht allzu anspruchsvollen Publikum durchaus Mühe machen konnte. Der Eindruck der Theaterbesucher ist nur durch sehr wenige tatsächlich zeitgenössische Äußerungen belegt. 153 Es überwiegen deutlich die im Extremfall erst Jahrzehnte später fixierten Erinnerungen an diesen Theaterabend, was naturgemäß symbolisierenden, zu Überhöhungen neigenden Darstellungen Tür und Tor öffnete. 154 Als eine der wenigen >echten< Zeuginnen schreibt die Hofdame von Prinzessin Karoline von Sachsen-Weimar, Henriette von Knebel, am 5. März 1808 an ihren Bruder: Ein fürchterliches Lustspiel, was wir am vorigen Mittwoch haben aufführen sehen und was einen unverlöschbaren unangenehmen Eindruck auf mich gemacht hat und auf uns alle, ist der zerbrochene Krug von Herrn von Kleist in Dresden, Mitarbeiter des charmanten Phöbus. Wirklich hätte ich nicht geglaubt, daß es möglich wäre, so was Langweiliges und Abgeschmacktes hinzuschreiben. Die Prinzeß meint, daß die Herrens von Kleist gerechte Ansprüche auf den Lazarusorden hätten. Der moralische Aussatz ist doch auch ein Übel. Ich glaube, bei diesen Herrens hat sich das Blut, was sie sich im Krieg erhalten haben, alles in Dinte verwandelt. Die mißglückte Uraufführung von Weimar, Goethes Ablehnung der Mitarbeit am Phöbus nach zuvor geweckten Hoffnungen, seine Skepsis gegenüber dieser Zeitschrift und den darin abgedruckten Werken Kleists und Müllers 155 auf der einen Seite; auf

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Vorwande bei Jungfer Even gewesen; aber hilf Himmel, hilf! nun müssen wir noch den zweiten und den (das ganze Stück verdarb dritthalb Stunden) eine Stunde währenden, dritten Akt, alles ein einziges Verhör, mit anhören. Dem Erzähler kommt es wohl zu, und wird bei ihm interessant, aber der dramatische Dichter darf die entdeckte Wahrheit nicht so unendlich weit vom endlichen Bekenntniß entfernen« (vgl. Aus Weimar. In: Zeitung für die elegante Welt, 14. März 1808, Nr. 42, Sp. 335f.: »Die Geschichte des Stückes ist wirklich komisch, und es würde gewiß sehr gefallen haben, wenn es auf einen Akt zusammengedrängt und alles gehörig in lebhafte Handlung gesetzt wäre. Stattdessen ist es aber in drei lange Akte abgeteilt, und besonders wird im letzten Akt so entsetzlich viel und alles so breit erzählt, daß dem sonst sehr geduldigen Publikum der Geduldfaden endlich ganz riß, und gegen den Schluß ein solcher Lärm sich erhob, daß keiner imstande war, von den ellenlangen Reden auch nur eine Silbe zu verstehn«; vgl. ebda., 4. April 1808, Nr. 54, Sp. 431 f.). Vgl. Allgemeine Deutsche Theater-Zeitung (wie Anm. 151): »Daß der Verfasser kein Dramatiker ist, beweist seine Unkunde jeder dramatischen Regel«; vgl. Sembdner (wie Anm. 110), S. 375f. Bisweilen wurde dem Bearbeiter (Goethe?) angelastet, den Einakter zum Dreiakter gedehnt und so diesen Eindruck geradezu provoziert zu haben. So berichtet Luise Wieland ihrer Schwester Charlotte am 19. April 1811 (in: Sembdner (1996) I, S. 226, Nr. 246): »Ich habe ein Lustspiel von ihm hier aufführen sehen, welches aber gänzlich durchfiel.« Es ist allerdings wahrscheinlich, daß die Inszenierung diskutiert wurde, was nur für den Salon der Johanna Schopenhauer belegt ist (vgl. die Tagebucheintragungen Stephan Schützes vom 2. und 3. März 1808; in: Sembdner (1996) I, S. 222, Nr. 239c), vgl. auch Rühle an Bertuch (16. März 1808; ebda., S. 173f„ Nr. 201). Vgl. Goethe (wie Anm. 122) IL/6, S. 277, Nr. 219; zu Genasts Bericht und zur unbefriedigenden Quellenlage Sembdner (wie Anm. 110), S. 37Iff. Vgl. ζ. B. Goethes Brief vom 1. Februar 1808 (in: Goethe (wie Anm. 122) II/6, Teil 1,

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der anderen Kleists bedrückendes Fixiertsein auf Goethes Urteil, die von ihm und Müller beabsichtigte Inanspruchnahme Goethes zu eigenen Zwecken, schließlich Kleists unbegrenzte Erwartungen, die beinahe notwendig enttäuscht werden mußten: all dies führte zu beiderseitigen Mißverständnissen und zu unüberwindlichen Differenzen. Das Verstummen des sich zunächst so gut anlassenden Dialoges über die Generationen hinweg ist die Folge, und nur noch sporadisch und eher unterkühlt ist fortan vom jeweils anderen die Rede. Kleist, nach der mißglückten Kooperation gezwungen, künstlerisch einen neuen modus vivendi ohne Goethe zu definieren, bemühte sich, durch den Abdruck einiger Fragmente aus dem Lustspiel: der zerbrochne Krug im März-Heft des Phöbus seinen angeschlagenen Ruf zu konsolidieren. Dabei gesteht er ein, daß »dieses kleine, vor mehrern Jahren zusammengesetzte Lustspiel eben jetzt auf der Bühne von Weimar verunglückt« sei, überläßt aber den Lesern die Prüfung, »worin dies seinen Grund habe.«156 In dieser Formulierung klingt das von Kleist Goethe unterstellte Verschulden zumindest an. Goethe seinerseits gab sich bereits bei der Erwähnung des Phöbus gereizt, achtete jedoch bei aller Distanzierung noch immer Kleists Talent. Dies manifestierte sich in einem Brief vom Anfang Mai 1808 an seinen langjährigen Vertrauten Karl Ludwig von Knebel: Mit den Dresdnern habe ich gleich gebrochen. Denn ob ich gleich Adam Müller sehr schätze und von Kleist kein gemeines Talent ist, so merkte ich doch nur allzu geschwind, daß ihr Phöbus in eine Art von Phebus übergehen würde; und es ist ein probates Sprichwort, das man nur nicht oft genug vor Augen hat: der erste Undank ist besser als der letzte. 157

Eine vorläufig letzte Wendung gab Kleist der Angelegenheit, als er, sich mit dem Abdruck des Zerbrochnen Kruges nicht begnügend, in polemischer Absicht eine Neuauflage des längst abgeklungenen Xeni'en-Streites im April/Mai-Heft des Phöbus initiierte.158 Besonders das erste Epigramm - Herr von Goethe - dokumentiert den nun ins Grundsätzliche gewendeten Grimm Kleists: Siehe, das nenn' ich doch würdig, fürwahr, sich im Alter beschäft'gen! Er zerlegt jetzt den Strahl, den seine Jugend sonst warf. 159

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S. 272f., Nr. 211) an den Jenaer Professor Heinrich Carl Abraham Eichstädt: »Adam Müller wird wohl den ganzen Vorrat seiner Tätigkeit brauchen, um die Sonnenpferde zu füttern.« Phöbus. Ein Journal für die Kunst. Hrsg. von Heinrich von Kleist und Adam H. Müller. Nachwort und Kommentar von Helmut Sembdner. Stuttgart 1961, S. 144 [zuerst: Dresden: Walter, 1808], Goethe an Knebel [3. oder 4.] Mai 1808 (in: Goethe (wie Anm. 122) II/6, Teil 1, S. 297f., Nr. 239), auf Kleist und Müller bezogen hatte Knebel am 3. Mai 1808 (in: Sembdner (1996) I, S. 243, Nr. 264a) Goethe von den »falschen Götzlein, die sich jetzt selbst errichten wollen« und die ihm »gewaltig zuwider« seien, geschrieben. Das Heft war allerdings wohl erst ab Juni 1808 erhältlich; vgl. Phöbus (wie Anm. 156), S. 630. Ebda., S. 241, vgl. auch Nr. 9 Der Theater-Bearbeiter der Penthesilea, S. 242.

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Das Distichon, von dem Goethe umgehend erfahren haben dürfte, besiegelte beider Verhältnis endgültig, indem Goethe zum Greis stilisiert, seine Schaffenskraft auf eine retrospektive Beweihräucherung seiner selbst reduziert und zugleich seine Farbenlehre lächerlich gemacht wurde. Der >zornige< junge Mann thematisierte so zugleich den für ihn unumgänglich gewordenen Generationenwechsel in der deutschen Literatur und brachte eine neue quereile des Anciens et des Modernes auf den Plan; ein Vorgang, der Kleist dann um 1900 in den Augen von interessierten (gleichaltrigen) Literaten zum >Ahnherrn< und >Vorreiter< machte. Der für Kleist gewiß schmerzhafte und zwangsweise herbeigeführte Prozeß des >Abnabelns< vom großen Vorbild und seine Suche nach einem eigenen Weg, der durch vielfältige Kontakte besonders zur Dresdner Romantik gekennzeichnet war, markieren die zunehmende Verselbständigung seines persönlichen Dichtungskonzeptes. Wenn man so will, profitierte er, wenn auch qualvoll, von der Katastrophe. Zumindest ansatzweise scheint er dies selbst so gesehen zu haben. Nur so ist die kurz vor seinem Tod formulierte Reminiszenz an Goethe zu verstehen, bei der er allerdings dessen Namen nicht erwähnte: und so wie wir schon einen Dichter haben - mit dem ich mich übrigens auf keine Weise zu vergleichen wage - der alle seine Gedanken über die Kunst die er übt, auf Farben bezogen hat, so habe ich von einer frühesten Jugend an alles Allg[em]eine was ich über die Dichtkunst gedacht habe, auf Töne bezogen. 160

Für die späteren Jahre fällt es schwer, Goethes Einschätzung Kleists zu bestimmen. Das liegt an der Art und Weise der Überlieferung seiner Stellungnahmen, die vornehmlich Johann Daniel Falk zu danken ist, und an der inhaltlichen Ambivalenz der wenigen über Kleist noch geäußerten Sätze Goethes. Kurz nach Kleists Tod, am 18. Dezember 1811, übersandte Goethe Johanna Schopenhauer seine Textfassung des Zerbrochnen Kruges. Diese zur Disposition stellend unterstützte er das Vorhaben einer Neuinszenierung ausdrücklich mit dem Kommentar: Hier ist eine Abkürzung desselben, die vielleicht auf das Theater gebracht werden könnte. Da Sie das Ganze gegenwärtig haben, so gibt es Ihnen und dem Herrn Assessor [Müller von Gerstenbergk] wohl eine Unterhaltung die beiden Exemplare zu kollationieren, und zu beurteilen ob in dem gegenwärtigen zu viel oder zu wenig getan worden. Sie werden auch mir hierdurch besondere Gefälligkeit erzeigen, und die Aufführung, in sofern man sie für tunlich halten möchte, beschleunigen. 161

Goethes deutliches Interesse an Text und Aufführung (»Sie werden auch mir hierdurch besondere Gefälligkeit erzeigen«) steht in einem gewissen Mißverhältnis zu den von Falk überlieferten Äußerungen, die eher kategorische Ablehnung dokumentieren. In dem bereits 1824 verfaßten, aber erst 1832 zweifach postum veröffent-

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161

An Marie von Kleist, Berlin, Sommer 1811 (in: Briefe (wie Anm. 29), S. 485, Nr. 232). Vgl. Goethe (wie Anm. 122) II/6, S. 1150, und Sembdner (wie Anm. 110), S. 372f„ Anm. 5.

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lichten Buch Goethe

aus nähern

persönlichen

Umgange

dargestellt162

finden

sich

einige Sätze Goethes zu Kleist, die durch den zeitlichen Abstand zu ihrer Fixierung und deren anekdotische A n l a g e d o c h zumindest skeptisch stimmen sollten. A u c h die Tatsache, daß Kleist in diesem Werk überhaupt vorkommt, ist eher u n g e w ö h n lich und w o h l vornehmlich d e m Umstand zu verdanken, daß Falk lange Zeit engere Kontakte zu beiden Dichtern hatte. 1 6 3 G l e i c h w o h l gehören diese nur mittelbar überlieferten Passagen zu den immer wieder bemühten >essentials< literarischer Urteile über Kleist. S i e betreffen Das Käthchen >persönliche< Meinung, den Wasserkrug

von Heilbronn, und Penthesilea.

die Erzählungen,

Goethes

Geradezu berühmt g e w o r -

den sind die meist v o m Kontext gelösten Verdikte: Goethe tadelt an ihm die nordische Schärfe des Hypochonders[;] Ich habe ein Recht, [...] Kleist zu tadeln, weil ich ihn geliebt und gehoben habe; aber sei es nun, daß seine Ausbildung, wie es jetzt bei vielen der Fall ist, durch die Zeit gestört wurde, oder was sonst für eine Ursache zum Grunde liegt; genug er hält nicht, was er zugesagt. Sein Hypochonder ist gar zu arg; er richtet ihn als Menschen und Dichter zu Grunde. Sie wissen, welche Mühe und Proben ich es mir kosten ließ, seinen Wasserkrug aufs hiesige Theater zu bringen. Daß es dennoch nicht glückte, lag einzig in dem Umstände, daß es dem übrigens geistreichen und humoristischen Stoffe an einer rasch durchgeführten Handlung fehlt. Mir aber den Fall desselben zuzuschreiben, ja, mir sogar, wie es im Werke gewesen ist, eine Ausfoderung deßwegen nach Weimar schicken zu wollen, deutet, wie Schiller sagt, auf eine schwere Verirrung der Natur, die den Grund ihrer Entschuldigung allein in einer zu großen Reizbarkeit der Nerven oder in Krankheit finden kann.[;] Die Tragödie [Penthesilea] grenzt in einigen Stellen völlig an das Hochkomische, ζ. B. wo die Amazone mit einer Brust auf dem Theater erscheint und das Publicum versichert, daß alle ihre Gefühle sich in die zweite, noch übriggebliebene Hälfte geflüchtet hätten U·164 D a Falk Sympathien für Goethe w i e für Kleist hegte, ist man geneigt, das Fixierte als einigermaßen authentisch anzusehen, w a s das Diffamierende der Sätze nur u m s o

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Johannes Falk: Goethe aus näherm persönlichen Umgange dargestellt. Ein nachgelassenes Werk. Leipzig 1832; auf Kleist bezogen sind die Seiten 120-123; zur Zuverlässigkeit Falks vgl. Goethe (wie Anm. 122) II/6, S. 782, S. 950; vgl. Über den zerbrochenen Krug des Herrn v. Kleist, und dessen Aufführung auf dem Weimarischen Hoftheater. In: Prometheus (1808), H. 4, S. 12-17. Vgl. Das Büchlein von Goethe. Andeutungen zum besseren Verständniß seines Lebens und Wirkens (Penig 1832; Reprint: Leipzig 1980), das man Oscar Ludwig Bernhard zuschreibt. Dort findet sich Kleist weder im Abschnitt Goethe's Verhältniß zu Anderen (S. 5 1 - 5 9 ) noch unter der Rubrik Goethe's Gegner (S. 110-117), zu denen lediglich Kotzebue, Pustkuchen, Saphir, Menzel und Börne gezählt werden. Kleist fehlt auch in Viehoffs Biographie Goethe's Leben (Stuttgart 1858), der für 1808 in Zacharias Werner den Schwerpunkt poetischer Beschäftigung sieht (S. 47f.); vgl. Rüdiger Wartusch: Neue Lebensspuren Heinrichs von Kleist im Briefwechsel zwischen Böttiger und Falk. In: Kleist-Jahrbuch (1996), S. 188-200. Falk (wie Anm. 162), S. 120-123, passim.

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deutlicher betont. Durch Falks Brille betrachtet wird Kleist in den Augen Goethes zum pathologischen Fall und stigmatisiert als einer, der im Leben und in der Kunst kläglich versagt hat, was nach Kleists freiwilligem Tod leicht behauptet werden konnte, da Gegenwehr nicht zu erwarten war. 165 Falk schildert damit einen Goethe, der den Kritikern um 1900 leichtes Spiel gewähren wird. Dieser Goethe erscheint als mitleidlos, unfähig zum Gedanken einer persönlichen Mitschuld am Mißlingen des Zerbrochnen Kruges, als jemand, der sich selbst als Opfer eines Psychopathen sieht, der wegen eines Mißerfolges vom Duellieren kaum abgehalten werden konnte, 166 mithin also keineswegs als Sympathieträger, und schon gar nicht als der Goethe, der noch 1826 davon spricht, daß »jener talentvolle Mann« - Kleist - eigentlich »nur zu bedauern« sei. 167 Der Text läßt sich jedoch genauso gegen Kleist kehren. Solche Leser nämlich, die Goethes Auffassungen als Credo hinnahmen - dies sind bis zur Jahrhundertwende die weitaus meisten - fanden hier bestätigt, was sie an Kleist immer schon gestört hatte. Falk schreibt also, wahrscheinlich unbeabsichtigt, die Anklageschrift gegen Heinrich von Kleist, deren Vorwürfe die Aufnahme des Werkes steuern und das Renommee des Dichters jahrzehntelang beschädigen. Die überlieferten Bruchstücke sind nicht geeignet, Klarheit über das Verhältnis beider Dichter im Detail zu schaffen. Daraus läßt sich allenfalls eine von Ausdeutungsschwerpunkten abhängige, bisweilen flüchtige Skizzenfolge ohne feste Konturen entwerfen, nicht jedoch ein gerahmtes Bild; zu sehr ergänzungsbedürftig sind Haupt- und Nebenszenen, zu ambivalent das Auszusagende. Die gegenseitigen werk-

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Als weitere Belege für solche pathologisierende Sicht Goethes mögen der Tagebucheintrag vom 11. Juli 1827 (Goethe (wie Anm. 122) 11/10, S. 493f„ Nr. 432 und 433), sowie seine 1826 verfaßte, allerdings erst 1832 gedruckte Besprechung über Tiecks Dramaturgische Blätter (in: Sembdner (1996) II, S. 240, Nr. 274) gelten. Dort heißt es u. a.: »Seine [Tiecks] Pietät gegen Kleist zeigt sich höchst liebenswürdig. Mir erregte dieser Dichter, bei dem reinsten Vorsatz einer aufrichtigen Teilnahme, immer Schauder und Abscheu, wie ein von der Natur schön intentionierter Körper, der von einer unheilbaren Krankheit ergriffen wäre. Tieck wendet es um: er betrachtet das Treffliche, was von dem Natürlichen noch übrig blieb; die Entstellung läßt er beiseite, entschuldigt mehr, als daß er tadelte; denn eigentlich ist jener talentvolle Mann auch nur zu bedauern, und darin kommen wir denn beide zuletzt überein.« Vgl. hierzu auch den undatierten Text Wie Goethe sich irren konnte aus Falks Nachlaß (in: Sembdner (1996) I, S. 224, Nr. 241): »Kleist war wütend, als er erfuhr daß das Stück so durchgefallen sei. Er wollte Goethen fordern, sich mit ihm schießen usw. Man hatte ihm glaublich gemacht, Goethe habe absichtlich das Stück zu 3 Akten ausgesponnen, und es dadurch zum Fallen gebracht. Dieses falsche Gerücht fand um so eher Eingang bei Kleist, da Goethe ihm auf einen warmen höchst gemütvollen Brief, den er an ihn geschrieben, kein Wort, keine Silbe geantwortet hätte. Die Beschuldigung aber ist gewiß völllig grundlos. Von dem Tage der Aufführung des Wasserkrugs an, zeigte Goethe eine entschiedene Abneigung gegen alle Kleistischen Stücke [...].« Sein Wahrheitsgehalt scheint verglichen mit dem Brief Goethes vom 18. Dezember 1811 an Johanna Schopenhauer (in: Goethe (wie Anm. 122) II/6, Teil 1, S. 721, Nr. 588) zumindest fragwürdig. Dramaturgische Blätter (wie Anm. 165).

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und personenbezogenen Affinitäten lassen sich ebenso belegen wie die wechselseitige, nicht immer nachvollziehbar motivierte Ablehnung. Schon der zumindest wahrscheinlich gewordene Schluß, Kleists künstlerische Entwicklung entzünde sich am Gegensatz zu Goethe, läuft wie alle vergleichbaren Interpretationen Gefahr, präfigurierte Deutungsmuster auf einen oder beide Dichter zu projizieren. Mag auch in beider Verhältnis hier und dort eine Tendenz auszumachen sein, eine innere Notwendigkeit, die man beispielsweise als Goethes prinzipielle Abwehr mißliebiger begabter Konkurrenten hat deuten wollen, läßt sich hieraus nicht ableiten. Anders als für heutige Betrachter, für die Kleists Laufbahn nicht ohne den Einfluß Goethes denkbar ist, stand für die Zeitgenossen der Umgang beider Autoren eher am Rande des Interesses, schon, weil alle Poeten dieser Zeit sich am Maßstab Goethe messen lassen wollten oder mußten. Noch vor der mißglückten Weimarer Uraufführung stolperten jedoch die Kritiker über die wenig dezente Vorgehensweise des Kollegen Kleist. Zwar schmückte man Zeitschriften durchaus mit dem Hinweis, einer der ganz großen Dichter sei Beiträger, die Hartnäckigkeit jedoch, mit der Kleist nicht nur in seinen Briefen, sondern auch in den Anzeigen des Phöbus darauf insistierte, daß sich das Projekt »der Begünstigung Goethes« erfreue, provozierte publizistische Schelte. Gerade hier knüpften seine Kritiker an. Während sich die einen nur über die »merkwürdige Stelle« wunderten,168 hielten insbesondere die Autoren des Freimüthigen kaum mit ihrem Spott hinter dem Berg. Die Besprechungen von Penthesilea (5. Febr. 1808) und der Marquise von O. (4. März 1808) enthielten gemäß der in dieser Zeitschrift verfolgten Linie Sticheleien gegen Goethe und Kleist: Von dem Dichter der Familie Schroffenstein und des Amphitruon, von der ersten Stelle in einer Zeitschrift, die Göthens Begünstigung sich rühmt [...] konnte man und mußte man durchaus etwas Besseres und Vollendeteres erwarten. Darf so etwas [die Kußszene zwischen Vater und Tochter] in einer Zeitschrift vorkommen, die Göthes besondern Schutzes, ankündigungsgemäß, zu erfreuen hat, so muß entweder der Herausgeber mit uns scherzen wollen, oder dieser - oder Göthe - Brechen wir ab. 169

Die von Kleist öffentlich forcierte Annäherung an Goethe wurde als (einseitige) Anmaßung empfunden und letztlich zu seinen Ungunsten ausgelegt. 170 Der Kritiker der Miszellen fiir die neueste Weltkunde konstatierte etwa, dem Phöbus mangele

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Vgl. Sonntagsblatt, 31. Januar und 14. Februar 1808, vgl. Ludwig Uhland an Karl Mayer (23. Januar 1808; in: Sembdner (1996) I, S. 187f., Nr. 216). Vgl. Literatur. In: Der Freimüthige, 28. Mai (Nr. 107, S. 425f.) und 11. Juni (Nr. 117, S. 465ff.) 1808. Vgl. Varnhagen an Fouque am 9. Februar 1808 (in: Sembdner (1996) I, S. 208, Nr. 228a): »Das Pochen auf Goethe und dann auch aufs Honorar ist doch schändlich!«; auch am 4. April 1808 (ebda., S. 237f., Nr. 260): »Wo sind denn die ersten Schriftsteller Deutschlands, welche man als Mitarbeiter im Föbus versprach? Ich finde bis jetzt nur Adam Müller und Heinrich Kleist, und wiederum Heinrich Kleist und Adam Müller«; vgl. Karl

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innere Kraft, denn er [der Gott] erzählte aller Welt mit vieler Naivetät, daß er sich der Unterstützung Göthe's freue; ja nicht einmal der Unterstützung, sondern nur der Empfehlung. Übergroße, göttliche Bescheidenheit! - Wem eigene Kraft gebricht, den macht die Empfehlung eines Göthe nicht werther. Wer selber Kraft hat, bedarf keines Schutzpatrons.171 Über die feuilletonistischen Geplänkel der ersten Jahreshälfte 1808 hinaus ist man sich offenbar keiner Besonderheit im Verhältnis beider Autoren bewußt. Im Gegenteil: in den Kritiken zur Aufführung des Zerbrochnen Kruges ist von Goethe nicht einmal die Rede, schon gar nicht von Regie- oder sonstigen Fehlern, die ihm zuzuschreiben wären. 172 Schuld an Kleists Mißerfolg hat er - zumindest in den Augen der zeitgenössischen Betrachter - nicht. Eher sieht man die Ursachen in bestimmten Eigenschaften des Stückes gegründet und ist geneigt, sie dem Verfasser selbst anzulasten. 173 Aus dieser Perspektive resultiert wohl auch das Unverständnis für den von Kleist vom Zaun gebrochenen, aber unerwiderten späten Xenien-Streit. Zu seinen Epigrammen Herr von Goethe und Der Theater-Bearbeiter der Penthesilea heißt es im Freimüthigen lediglich: »Seit dem Unglücksfalle, der den zerbrochenen Krug in Weimar noch einmal fallen ließ, scheint er selbst auf Göthe bös zu seyn.« 174 Ein Blick in Kleists >Pressespiegel< bis zu seinem Tod bestätigt die gezeigte Tendenz. Von Goethe, gar von dessen Verantwortung für vermeintliche Mißerfolge Kleists, ist nicht die Rede, auch nicht anläßlich des 1810 in Buchform erscheinenden Zerbrochnen Kruges.115 Kleist wird als das betrachtet, was er wohl gewesen ist: ein freier Schriftsteller, der zahlreiche Werke mehr oder weniger erfolgreich publiziert hat, dem immer wieder weit überdurchschnittliches Talent attestiert wurde und dem - allerdings - ein Mentor mangelte. 176 Vorläufig kann also festgehalten werden: als

August Varnhagen von Ense: Galerie von Bildnissen aus Raheis Umgang und Briefwechsel (Leipzig 1836. Bd. 2, S. 145): »Das prahlerische Auftreten, welches besonders auch den Namen Goethes als eines Verbündeten mit ungeheuren Geschützsalven den Leuten in die Ohren donnerte, konnte sich in den ungünstigen Zeitumständen nicht halten [...]«; vgl. Ludwig von Knebel an Goethe, 3. Mai 1808 (wie Anm. 157). 171 Vgl. Miszellenfür die Neueste Weltkunde, 23. März 1808 (in: Sembdner (1996) I, S. 216, Nr. 236a). 172 Ygj D e r Freimüthige (wie Anm. 169), der süffisant darauf verweist, daß das Lustspiel »zu Weimar, wo Göthe sich seiner annahm, verunglückte.« 173 Vgl. Allgemeine Deutsche Theater-Zeitung (wie Anm. 151): Der Verfasser beweise »seine Unkenntnis jeder dramatischen Regel«, Falk schreibt im Prometheus (wie Anm. 162), es fehle eine »von Augenblick zu Augenblick fortschreitende Handlung.« Genau dies hatte Goethe bereits am 28. August 1807 im Brief an Adam Müller beklagt. Die Zeitung für die elegante Welt beklagt am 14. März 1808 (wie Anm. 151): »Unsere neuesten Poeten von Talent sind so stolz, daß sie glauben, dem Publikum alles bieten zu können, und daß sie meinen, es müsse sich schon geehrt fühlen, wenn man sich nur herablasse, ihm etwas zum Besten zu geben«; als Mißerfolg bleibt die Aufführung jedoch in Erinnerung, vgl. hierzu die Vossische Zeitung Nr. 66 vom 1. Juni 1811. 174 Der Freimüthige (wie Anm. 169). 175 Vgl. Dramatische Literatur. In: Zeitungßrdie elegante Welt, 24. Mai 1811, Nr. 103, Sp. 817ff. 176 Ebda.: »Daß man über diese Verirrungen [ins Abenteuerliche], die doch - auch ein seltner Fall! - aus Übermaß an Kraft entspringen, den großen Werth dieses Dichters häu-

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besonders wichtig oder prägend wird die Goethe-Episode für Kleists Leben zunächst nicht bewertet. Es stellt sich somit die Frage, von wem denn, wenn nicht von den Zeitgenossen, eigentlich die Vorstellung aufgebracht wurde, Kleist sei »das große tragische Brandopfer, das Goethe seinem Weltruhm darbrachte.« 177 Ein von Hans Joachim Kreutzer auf Penthesilea bezogener Satz mag verallgemeinert die Leitlinie der nachfolgenden Gedanken bilden: »Den Zeitgenossen, etwa gar Goethe, mangelndes Verständnis [...] vorzuwerfen, wäre absurd.« 178 Da bei der Betrachtung Kleists jedoch lange Zeit gerade dieser absurde der normale Fall gewesen ist, benennt die knappe Formel am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts im Vorwurf des mangelnden Verständnisses einen substantiellen und überaus wirkungsmächtigen Bestandteil des sogenannten >Kleist-MythosPrinzipalVerkanntseins< spätere Vereinnahmungen: wiederum bei Arnim lesen wir, daß er sich »ungehemmt der Rührung überlassen« habe, »wieviele edle Kräfte ich so wie Kleist unbegriffen in der Zeit ihrer Wirksamkeit, kalt abkritisiert, habe untergehen sehen.«180 Allerdings erfährt dieser Erklärungsansatz vom Ende Kleists her seine größte, gleichsam epidemische Wirksamkeit erst um die Zeit der Jahrhundertwende, als eine neue junge Generation von Literaten diesen Gedanken aufnimmt, sein Potential erschließen und für eigene Zwecke anzuwenden lernt; ein Vorgang, der seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts durch eine zwar anders akzentuierende, aber Goethe gegenüber bereits skeptische Interpretation aus literaturwissenschaftlicher Sicht vorbereitet worden war. Die Wendung der Literaturwissenschaft vom Werk in die Biographie181 hatte zunächst beinahe naturgemäß auch im Falle Kleists das Interesse an aussagekräftigen Episoden, wie der der mißglückten Uraufführung von Weimar, verstärkt. Jedoch zögerten die Literaturwissenschaftler der Nach-GoetheGeneration aus grundsätzlichen Erwägungen 182 und aus Pietät, das Renommee die-

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Entsprechend erklärt er ihn durch die Mißerfolge der von Kleist herausgegebenen Zeitschriften sowie Armut (»Mangel«) und die Anlage dazu; vgl. auch Arnim an Savigny (Anf. Dez. 1811; in: Sembdner (1996) II, S. 96, Nr. 71b); dieser hatte Arnim am 26. November in Kenntnis gesetzt (ebda., S. 95f., Nr. 71a). Modifiziert erscheint diese Sichtweise in einem undatierten, nur bedingt aussagefähigen Nachlaßfragment Arnims (ebda., S. 102, Nr. 78). An Wilhelm Grimm am 16. Januar 1825 (in: Sembdner (1996) II, S. 101, Nr. 77). Vgl. Helmut Scheuer: Biographie. Studien zur Funktion und zum Wandel einer literarischen Gattung vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Stuttgart 1979, S. 78f.; auch: Hans Martin Kruckis: Goethe-Philologie als Paradigma neuphilologischer Wissenschaft im 19. Jahrhundert. In: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Hrsg. von Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp. Stuttgart; Weimar 1994, S. 451-493. Vgl. Deutsche Vierteljahrsschrift (1842), S. 62: »Große Thaten der Poesie sind seit Göthe und Schiller in Deutschland nicht mehr verrichtet worden; vor und mit ihnen rückte der deutsche Genius in einem solchen Sturmschritt auf der Bahn der Poesie vor, daß er, möchte man fast glauben, die Entwicklungen späterer Zeiten vorwegnahm.«

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ses Klassikers anzutasten, geschweige denn zu beschädigen. So wird in der von Julian Schmidt betreuten, 1859 erschienenen Ausgabe der Gesammelten Schriften Kleists die latente Schuldzuweisung deutlich, Goethe habe mittelmäßige Schreiberlinge wie Zacharias Werner unterstützt anstatt Kleist zu helfen, und dies, obwohl er es mühelos gekonnt hätte. Über Goethes Brief vom 1. Februar 1808 und dessen Kritik an Penthesilea heißt es entsprechend: Alles das ist unzweifelhaft sehr richtig, nur nimmt es Wunder, daß gerade Goethe es sagt; daß er es gerade 1808 sagt, wo er die Pandora schrieb und drucken ließ, wo er den Faust vollendete und wo er den Monstrositäten Zacharias Werners, einem Attila, einer Wanda, durch seine Autorität in Weimar und anderwärts Eingang, und dem Dichter eine Pension verschaffte. Freilich verräth es von Kleist eine seltsame Verirrung, wenn er bei der Penthesilea auch nur an die Möglichkeit einer Aufführung dachte; aber es hätte sich über das Stück denn doch noch etwas anderes sagen lassen, und gerade Goethe hätte es sagen können. Gab es noch einen Weg, Kleist zu retten - in einem Augenblick wo er alle seine Kräfte zusammenraffte - so war es Goethe's mächtiger Schutz; und dieser blieb ihm versagt. 183

Der Anflug von Ratlosigkeit (»nur nimmt es Wunder ...«), mit der Schmidt Goethe unterstellt, er habe sich geradezu eines Mißbrauchs seines Amtes als des führenden >Geschmacksrichters< seiner Zeit schuldig gemacht, indem er Werner Kleist so eindeutig vorzog, belegt die Problematik der Umbruchssituation in Fragen der literarischen Wertung um die Jahrhundertmitte überdeutlich. Die von Eduard von Bülow und anderen immer wieder postulierte Größe Kleists brachte die Literarhistoriker in Schwierigkeiten, offenbarte sie doch scheinbare Defizite im Urteilsvermögen des >01ympiersIrrtums< einem Sakrileg gleichkommen, stellte es doch den dominierenden literarischen Maßstab in Frage, der als »sichtbarer Anhalt für alle Gebildeten« Eindeutigkeit in Urteilsfragen und »Abwehr und Niederhaltung der falschen und verworrenen« Literaturströmungen garantierte. 185 Julian Schmidt vermied es, dieses Problem zu lösen. Daß sich anderes über die Pen-

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Vgl. Einleitung. In: Heinrich von Kleist's gesammelte Schriften. Hrsg. von Ludwig Tieck, revidirt, ergänzt und mit einer biographischen Einleitung versehen von Julian Schmidt. Berlin 1859, S. LXXVIf. Zitiert nach Mandelkow (wie Anm. 70), I, S. 53. Aus Varnhagens Denkschrift über eine zu gründende Goethe-Gesellschaft (1834) (zitiert nach Mandelkow (wie Anm. 70), I, S. 75).

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thesilea hätte sagen lassen, klingt dabei deutlich leiser als die »seltsame Verirrung«, deren sich Kleist schuldig machte, als er über die Realisierbarkeit seines Werkes nachdachte. Der Kleist-Biograph Adolf von Wilbrandt schlug wenige Jahre später in dieselbe Kerbe, als er den Dichter zum Usurpator machte, der »nichts Geringeres erstrebte, als den Herrscherthron im Reiche deutscher Kunst«: Er hat es seinem Freunde Pfuel oft gesagt, daß es nur das eine Ziel für ihn gebe, der größte Dichter seiner Nation zu werden; und auch Göthe sollte ihn daran nicht hindern. Keiner hat Göthe leidenschaftlicher bewundert, aber auch Keiner ihn so wie Kleist beneidet und sein Glück und seinen Vorrang gehaßt. Dem Freund gestand er in wild erregten Stunden, wie er es meinte: »Ich werde ihm den Kranz von der Stirne reißen«, war der Refrain seiner Selbstbekenntnisse wie seiner Träume.186

Mag die Größe der leidenschaftlichen Bewunderung noch neutral formuliert sein, die Hinweise auf die >Todsünden< Neid und Haß, auf wilde Erregung und das gewalttätige »von der Stirne« Reißen des Lorbeerkranzes werfen darin kein allzu positives Licht auf Kleist. Auch Wilbrandt umschiffte also die Klippe der Stellungnahme zu Goethe, indem er Kleists Anteil betonte. Beide Literarhistoriker tun dies in der Absicht, ihr durch feste Bezugsgrößen gekennzeichnetes literarisches Weltbild, wenn auch mit indifferenten Mitteln, aufrechtzuerhalten; beide verdrängen in ihren literaturgeschichtlichen Konstruktionen demgemäß den ihnen hinderlichen Gedanken an eine Schuld Goethes.187 Bemerkenswert ist der zitierte Abschnitt noch in anderer Hinsicht. Wilbrandt bezog seine Information vom greisen Ernst von Pfuel, der im hohen Alter erstmals überhaupt von seiner Freundschaft zu Kleist sprach und dessen Erinnerungsfähigkeit nach so langer Zeit nachweislich ihre Grenzen gehabt hat.188 Dennoch hat gerade die anderweitig nicht überlieferte Äußerung vom Herrunterreißen des Kranzes ein dynamisches Eigenleben entwickelt, das am ehesten vergleichbar scheint mit dem Fortleben der Anekdoten Falks.189

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Adolf Wilbrandt: Heinrich von Kleist. Nördlingen 1863, S. 174; vgl. Friedrich Hebbels verstörte Reaktion über Kleists Wunsch, »Goethe den Lorbeer von der Stirne zu reißen«: »So tief sank ich nie, daß ich mich so weit erhob.« (An Adolph Stern, 25. September 1863; in: Sembdner (1996) II, S. 176f„ Nr. 203). Eine gleichfalls traditionsorientierte Position bezieht Reinhold Steig (in: Heinrich von Kleists Berliner Kämpfe. Berlin; Stuttgart 1901, S. 696): »Hinter Goethe und Schiller in der Schätzung seines Volkes der dritte zu sein, ist wahrlich menschliche Unsterblichkeit für Kleist.« Goldammer (wie Anm. 108), S. 101f., zur (Un-)Glaubwürdigkeit Pfuels, S. 105; vgl. auch Adolf Wilbrandt: Aus der Werdezeit. Erinnerungen. N. F. Stuttgart; Berlin 1907, S. 121f. Geradezu topisch und überproportional häufig wird das traditionelle Ruhmeszeichen der großen Dichter - der Lorbeerkranz - im Zusammenhang mit Kleist verwendet, wobei die Kenntnis der Lorbeer-Episode Wilbrandts bisweilen vorausgesetzt wird; vgl. ζ. B. Ernst von Wildenbruch: Zu Heinrich von Kleist's lOOjährigem Geburtstage [1877]. In: ders., Lieder und Balladen. Berlin 1909, S. 96f.; Adolf Bartels: Heinrich von Kleist [1885] (DLA Marbach, A: Minde-Pouet, 71.1421; auch in: Minde-Pouet (1927), S. llff.); Lily

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Der zunehmenden zeitlichen Distanz zu Goethe folgte die inhaltliche, und zwar in solcher Intensität, daß die Rücksichtnahmen aus der Mitte des Jahrhunderts bereits 1880 wie aus einer anderen Welt zu sein schienen, zumindest für die Literaten des Jüngsten Deutschlands die dem deutschen Literaturbetrieb einen durch heftigste Konflikte gekennzeichneten Generationenwechsel bescherten. Die neuen, in Teilen durchaus revolutionär gemeinten Programme stießen denn auch auf breite Ablehnung und insbesondere auf eine restriktive Kulturpolitik, die die neue Literatur mit den Mitteln der Zensur in ihrem Wirkungsradius zu beschränken suchte.190 Der so erzeugte heftige Legitimationsdruck führte zu Argumentationsformen, bei denen die Konstellation >Täter-Opfer< häufig als das prägende Prinzip der Literaturgeschichte aufgefaßt wurde. Demgemäß wurde nun auch das Verhältnis Goethes zu Kleist mit neuer Eindeutigkeit bewertet, unter anderem, um am historischen Beispiel (und mit der gewollten Möglichkeit des Analogieschlusses) zu zeigen, welche Katastrophen der Kultur eines Landes aus der Verkennung literarischer Hochbegabungen entstehen können. Der Nutzen der Wiederaufnahme des romantischen Deutungsmusters einer Schuld Goethes gegenüber Kleist ist beträchtlich gewesen, da sich hieraus Funktionalisierungsmöglichkeiten auf gleich drei Ebenen ergaben. Der besonders von den Literaten der Jahrhundertwende häufig thematisierte Antagonismus KleistGoethe diente 1. zur Bestimmung des Verhältnisses der literarischen Generationen zueinander und ihres jeweiligen Standortes, also zur Austragung eines literarischen Generationenkonfliktes; 2. zur Bereitstellung positiver und negativer Identifikationsmuster; 3. zur Reflexion über die Existenzgrundlagen von Schriftstellern. Es sind die ganz jungen Dichter, die ihre Kritik am (für sie) verbrauchten, abgelebten Literaturbetrieb des Kaiserreiches durch den Einsatz der historischen Dichterkonstellation verdeutlichen wollen. Ihre auf Anerkennung neuer Inhalte und Darstelllungsweisen abzielende Argumentation soll dabei durch die Parallelschau an

du Bois-Reymond: An Kleist. Eine Antwort auf sein Gedicht Der höhere Frieden [1904]. In: Minde-Pouet (1927), S. 20; Wilhelm Henzen: Kleist. Zur Enthüllung des Kleistdenkmals in Frankfurt a. d. O. [1910] (ebda., S. 24): »Und nach dem Lorbeer auf erhab'nen Stirnen/ Hat er die fast zu kühne Hand gestreckt«; R. Braun: Sonett [1911] (ebda., S. 34); Herbert Eulenberg: Zum 21. November 1911. In: Die Lese 2 (1911), Nr. 46, S. 721; O. Frankl: Festspruch anläßlich der Feier des 100. Todestages Kleists im Reichenberger Stadttheater [1911]. In: Minde-Pouet (1927), S. 37: »Zu deinem Ruhme blasen die Fanfaren!/ Reicht ihm den Lorbeer heut: nach hundert lahren!«; Heinz Gorrenz: Zu Kleists Gedächtnis [1911] (ebda., S. 41); Felix Hollaender: Kleist und die Frauen. In: Blätter des Deutschen Theaters (1911), Nr. 8, 18. November, S. 115ff., hier S. 115; Paul Zech: An Heinrich von Kleist [1911], In: Minde-Pouet (1927), S. 61; Julius Hart: Das Kleist-Buch. Berlin 1912, S. 481; Wilhelm Herzog: Heinrich von Kleist. Sein Leben und Werk. München 1911, S. 221; Alfred Richard Meyer: Dem Andenken Heinrich von Kleists [1912]. In: Minde-Pouet (1927), S. 62. 190

Zu den juristischen Grundlagen des Vorgehens (ζ. B. >lex HeinzeTäter< und >Opfer< der Literaturgeschichte, erheben Anklage gegen Goethe und verklären damit zugleich Kleists Leben und Werk. Eine fiktive Anklageschrift gegen Goethe, gezogen aus den zeitgenössischen Zeugnissen der Jahrhundertwende bestünde im wesentlichen aus der Aneinanderreihung von Vorwürfen, deren Gemeinsamkeit darin besteht, persönliche Defizite des Weimarers als die wahre Ursache seiner angeblichen Verkennung Kleists geltend zu machen bzw. Goethe selbst als Opfer seines kulturellen Umfeldes aufzufassen. Zahlreiche Autoren werteten das Verhalten Goethes gegenüber Kleist als notwendige Folge charakterlicher und sonstiger persönlicher Mängel, nicht selten jenseits jeder Sachlichkeit, zuweilen mit hämischer Freude am Polemischen. So lastete beispielsweise Hugo von Hofmannsthal Goethe sein vergleichsweise hohes Lebensalter an - er zählte beim Zusammentreffen mit Kleist keine sechzig Jahre: »Ja, wer hat denn Heinrich von Kleists Seele getötet, wer denn? Oh, ich sehe ihn, den Greis von Weimar...«. 198 Senilität, Altersstarrsinn, die damit verbundene Unfähigkeit Neues zuzulassen, all dies klingt in dem einen Wort »Greis« an, mit dem Hofmannsthal Goethe apostrophiert. Damit spricht er ihm jegliches Verständnis für Kleist ab. Schlimmer noch, diese Charakterzüge Goethes sieht Hofmannsthal als die eigentlichen Auslöser der persönlichen Katastrophe Kleists. Diesem Anklagepunkt pflichtete auch Arno Holz bei (»Goethe, verfolgt von einem Geist - / der totgenörgelte Heinrich von Kleist«), der die zerstörerischen Folgen inadäquater Kritik besonders hervorhob. 199 Darüber hinaus kritisierte etwa Hans Pfitzner des Weimarers mangelhafte Menschenkenntnis, den besonders das von ihm konstatierte durchgängige Unvermögen, große Talente zu würdigen und sie durch gegenseitigen Austausch zu

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Fritz Mauthner: Kleists >AmphitryonTotschweigen< Kleists, d e s s e n sich G o e t h e vermeintlich schuldig machte, zielt in dieselbe Richtung, auf die es auch H o f m a n n s thal und H o l z ankam. Der Umstand, daß Autoren der unterschiedlichsten literarischen Richtungen in dieser Frage s o überaus einhelllig urteilen, ist - ohne an dieser Stelle zu weit vorgreifen zu w o l l e n - zugleich ein wichtiger Indikator für ein s c h o n recht weit fortgeschrittenes Stadium einer Dichterrenaissance. Erstaunlich erscheint diese Position j e d o c h bei T h o m a s Mann, der sich w i e kaum ein anderer Autor zu Goethe als Gewährsmann bekannt hat. 2 0 1 Mann aber konnte und wollte G o e t h e s A u f -

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In ähnlicher Weise bezweifelte Franz Servaes Goethes literarische Urteilskompetenz: »Liebevoll päppelte Goethe Mittelmäßigkeiten empor und gab jeder ihr wohlgefügtes Postamentchen; nachsichtig duldete und förderte er in seiner Umgebung die Existenz hausbackener Nützlichkeitsmenschen; mit klugem Bedacht reichte er als einem Gleichstrebenden (niemals Gleichwertigen) Schillern die Freundschaftshand und stellte ihn neben sich auf den Sockel: Aber einen Kleist, der ihm mit der Aufführung des Zerbrochnen Krug zu seinem Unheil vertraute, der ihm die Penthesilea >auf den Knien seines Herzens< darbrachte, ließ er kaltsinnig zugrunde gehen« (Servaes (wie Anm. 177), S. 1137); vgl. zu Servaes und zu dessen Kontakten zum Friedrichshagener Dichterkreis auch Rolf Kauffeldt; Gertrude Cepl-Kaufmann: Berlin-Friedrichshagen. Literaturhauptstadt um die Jahrhundertwende. Der Friedrichshagener Dichterkreis [o. O.] 1994, S. 411; ähnlich auch Herzog (wie Anm. 189), S. 231. Der umfassende Einfluß Goethes auf Manns Werk ist hierfür ebenso Beleg wie dessen Goethe-Essays (ζ. B. Goethes Laußahn als Schriftsteller, Goethe als Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters). Zu Manns persönlichen Motiven vgl. seinen Brief an Käte Hamburger (10. September 1932; in: Terence James Reed: Thomas Mann und die literarische Tradition. In: Thomas-Mann-Handbuch. Hrsg. von Helmut Koopmann. Stuttgart 2 1995, S. 95-136, hier S. 113): »Goethe - Sie notieren ganz mit Recht meine Zugehörigkeit zum >sentimentalischen< Gegentyp. Und doch [...]: Das Verwandtschaftsgefühl, das Bewußtsein ähnlicher Prägung, einer gewissen mythischen Nachfolge und Spurengängerei ist sehr lebhaft«; vgl. ebda, den Abschnitt Goethe als Repräsentant, S. 109-114.

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treten gegenüber Kleist nicht nachvollziehen, weder 1910 (»Ich lese Kleists Prosa, um mich so recht in die Hand zu bekommen, und war nach dem Kohlhaas wütend auf Goethe, der ihn wegen seiner >Hypochondrie< und seines >Widerspruchsgeistes< abgelehnt hat«) noch 1927, als er auf die Rundfrage Wie stehst du zu Kleist? etwas gemäßigter antwortete: mir scheint, daß diese Ehrfurcht [vor Kleists Werk] einer der Punkte ist, in dem ein Mensch von heute sich in Opposition gegen die Majestät Goethes fühlen muß, dessen Kälte gegen die Erscheinung Kleists mir immer unbegreiflich und tadelnswert erschien.202 Mit einer Konstruktion, die die Verkennung des Nachwuchses durch die Etablierten im Analogieschluß zur Gesetzmäßigkeit erhebt und ihr so größeres Gewicht verleiht, beschreibt Klabund Goethes Abwehrhaltung noch 1929 in seiner Literaturgeschichte: Wie Schiller Hölderlin fallenließ, so hat Goethe Kleist in schlimmster Weise vor den Kopf gestoßen.203 Daß beide historische Episoden weder zeitlich noch inhaltlich etwas gemein haben, wird ausgeklammert. Dies dient der gezielten Abwertung Schillers und Goethes, stiftet aber auch eine neue Realität, in der Kleist und Hölderlin in die Rolle der unschuldigen Opfer der Literaturgeschichte gezwängt werden. Goethes Schuld liegt dann darin, Kleist den Zugang zum engsten Zirkel der besten deutschen Dichter verwehrt, ihm - so Arthur Eloesser - »einen Herrschersitz auf den seligen Höhen verweigert« 204 zu haben. Nur wenig mochte man Goethe zugutehalten. Ähnlich wie Pfitzner und Klabund arbeitete auch der Schriftsteller Berthold Viertel mit konstruierten Parallelen aus eigentlich voneinander unabhängigen Vorgängen. So konstatierte er 1911 verständnisvoll und auf den für ihn unübersehbaren Fortschritt der Einsichten verweisend: Jeder Gebildete hat es ja heute der Dichtung Kleists gegenüber leichter, als es Goethe, selbst Goethe, zu des Dichters Lebzeiten hatte. Kleist war den geistigen Bedingungen sei-

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Die Antwort erschien in der Frankfurter Oder-Zeitung vom 18. Oktober 1927; wesentlich distanzierter, eher die Schwächen Kleists betonend, schreibt Mann 1954 über das »zwischen Demut und Haß schwankende Mißverhältnis zu Goethe«, die »nagende Wut auf seinen Ruhm« und den »krampfige[n] Drang, ihm den Kranz zu entreißen« (zitiert nach Goldammer (wie Anm. 196), S. 308). Bereits 1949 hatte er in Umkehrung seiner früheren Position Goethes (Falks) Sicht zu seiner eigenen gemacht: »Von >liebevoller< Beschäftigung [mit dem Kleist-Buch Hans M. Wolffs] kann ich nicht sprechen, da mir vieles an diesem Dichter [...] doch recht entsetzlich ist [...] In der Hermannsschlacht, wo der furor nationalistisch wird, merkt man dann, welches hysterischen (Goethe sagte: hypochondrischen) Geistes er im ganzen ist, und zieht erschrocken die Fühler ein« (Mann am 19. Januar 1949 an Hans M. Wolff; in: Sembdner (1996) II, S. 441f„ Nr. 500a). Klabund: Literaturgeschichte. Die deutsche und die fremde Dichtung von den Anfängen bis zur Gegenwart. Wien 1929, S. 210. Arthur Eloesser: Heinrich von Kleist. Eine Studie. Berlin 1905. (Die Literatur 6), S. 1.

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ner Zeit vorausgewachsen. Goethe durfte einen Zukünftigen mißverstehen, wie er ja auch Beethoven nicht verstand. Hier, an dem Seelengestalter Kleist, konnte unser Zeitalter der Psychologie seine neugereifte Einsicht [...] bewähren. 205 Ins grundsätzlich Politische zog der Naturalist und ehemalige Reichstagsabgeordnete Michael Georg Conrad 1911 die Goethe-Kleist-Episode. Für ihn trug nicht G o e t h e die eigentliche Schuld am Scheitern Kleists, sondern - der preußische Staat: Die preußische Regierung im weitesten Sinn hat den Zusammenbruch dieses größten dramatischen Genies [Kleist] der Deutschen auf dem Gewissen, nicht der Olympier und Theaterdirektor Goethe in Weimar. Denn an Goethe konnte sich Kleist rächen und seiner Empörung ein Genüge thun, am ganzen preußischen Volk und der Unfähigkeit der Regierenden nicht. Diese Last war zu massenhaft, zu ungeheuerlich, um von dem krankhaft zarten und unsteten Dichtersmann mit einer geistigen Geste oder einer VerachtungsInterjektion abgetan zu werden. 2 0 6 D i e s e recht z w e i f e l h a f t e Entlastung Goethes v o n persönlicher Schuld ermöglicht wiederum z w e i Lesarten, die j e w e i l s in eine n e u e A n k l a g e münden: die tatsächlich auf die Verhältnisse von 1810 zugeschnittene und - vor allem - die auf die bedrükkend empfundene Gegenwart mit weitgehenden Zensureingriffen gemünzte. D i e wahrscheinlich wirkungsmächtigste Kategorie von A n k l a g e n g e g e n G o e t h e j e d o c h läßt sich aus der allgegenwärtigen Nietzsche-Rezeption der M o d e r n e ableiten. Es handelt sich u m den Vorwurf der Bildungsphilisterei, 2 0 7 die man der kulturbürgerlich-bourgeoisen Sphäre im weitesten Sinne zurechnete. Nicht zuletzt im Kontext des u m die Jahrhundertwende tobenden kulturellen Generationenkonfliktes wurde Goethe s o z u m obersten Repräsentanten einer vehement bekämpften >SpiesserStrafmaßProzeß< gegen den Klassiker, in dem Kleist, »der berechtigte Rivale Goethes«, zu dessen Ankläger und als »das große dramatische Genie des deutschen Volkes« zu dessen Nachfolger avancierte.209 Es verwundert nicht, daß gerade in den Reihen der radikal innovativ sich gebenden Naturalisten die Forderung nach Ersetzung Goethes durch Kleist besonders lautstark erhoben wurde, wobei Kleist implizit stets den eigenen Reihen zugezählt, für die eigenen Anschauungen benutzt wurde. So bestätigte Julius Hart den von Liliencron eingeschlagenen Weg, indem er alle gemäßigt-harmonischen Elemente der Kunst nachdrücklich ablehnte, ja, deren Zerstörung zum Programm erhob: Sondern das Werk und die Dichternatur Kleists ist gerade der leidenschaftlichste Aufschrei und Protest gegen einen solchen Torquato-Tasso-Dichter, gegen eine Goethe-Kunst und Kunstlehre, die das Wesen des Dichterischen in solchem Tassosch-Problematischen sieht und es nur für verdaulich hält, wenn es geführt wird und sich unterwirft einem Goethischen Antonio-Geist. [...] Als Propheten und neue Religionsgründer brechen Kleist und Hebbel herein und können nicht anders als die Ideale und den Glauben Griechenlands und der Renaissance, des Mittelalters und Weimars mit ihren Bettlerhänden zerstören.210

Dieser von den herausragenden Köpfen der literarischen Moderne betriebene >Prozeß< gegen Goethe endet erst 1922 mit Carl Sternheims >UrteilsspruchEin Dichterlebenfreier< Schriftsteller zu sein, was bei nicht allzu vielen Literaten tatsächlich auch glückte. 220 Eher schlecht als recht fristete der Rest sogar bei größerer Berühmtheit sein kärgliches Dasein. 221 Diese Diskrepanz von Anspruch und Wirklichkeit führte zu zahlreichen, nach der Jahrhundertwende deutlich forcierten Überlegungen, wie das künstlerische Selbstverständnis in Einklang mit den gesellschaftlichen Bedingungen des Kaiserreiches zu bringen sei.222 Im Spannungsfeld zwischen der traditionellen idealistischen Sichtweise, die den Lohn des Askese und Verzicht übenden Dichters ausschließlich in dessen Sozialprestige erkennen wollte, und den Tendenzen zur Errichtung einer >SchriftstellergewerkschaftSchutzverband deutscher Schriftsteller 19091933. In: Archiv ßr Geschichte des Buchwesens XXI (1980), S. 1-68, bes. Zu Lage und Bewußtsein der deutschen Schriftsteller um 1910, S. 11-30. Vgl. die Kontroverse des Jahres 1909 zwischen »Homo« [der Schriftsteller Richard Wagner?] und Hans Landsberg bei Fischer (wie Anm. 222), S. 11 ff. »Homo« [1909], In: Fischer (wie Anm. 223); vgl. auch die Argumente Kurt Hillers in seiner Polemik gegen die Kleist-Stiftung. In: Der Sturm, November 1911 (zitiert nach: Helmut Sembdner (Hrsg.): Der Kleist-Preis 1912-1932. Eine Dokumentation. Berlin 1968, S. 30f.). Hans Landsberg: SchriftstellerrVerbände. In: Allgemeine Zeitung, Nr. 17 vom 24. April 1909, S. 378f.

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In diesem unlösbaren Konflikt zwischen den Befürwortern eines traditionellen Mäzenatentums und den Kämpfern für vertraglich geregelte Einkommen diente letzteren das Verhältnis Kleist-Goethe als wichtiger argumentationstaktischer Gesichtspunkt. Das Bemühen, einen zeitgemäßen modus vivendi für Schriftsteller zu bestimmen, fand zunächst, und zeitlich vor den Aktivitäten zur gemeinsamen Interessenartikulation, Eingang in die Literatur. Die Goethe angelastete Existenzkrise Kleists wurde ins Literarische transformiert, um an ihrer überzeitlichen Problematik die aktuell drängenden Probleme sichtbar zu machen. Wilhelm von Polenz, ein >freierreine< Lyrik muß ich offen sagen, scheint Ihrer Natur nicht zu >liegenRobert GuiskardLehrer< auf, was jedoch wohl weniger aus dem Interesse an der Person Wielands, als vielmehr aus dem am gedanklichen Gehalt seiner Werke resultierte. 248 2. Seine an der Jahreswende 1801/1802 in Bern eher zufällig gemachte Bekanntschaft mit Wielands Kindern Ludwig und Charlotte und die daran sich knüpfende Freundschaft mit dem dichterisch gleichfalls ambitionierten Ludwig 249 führt Kleist im Spätherbst 1802 nach Oßmannstedt, wo ihn der alte Wieland nach einigen Tagesbesuchen mitfühlend aufnimmt, als er erfährt, wie schlecht Kleist in Weimar untergebracht ist. 250 Kleist verbringt die Feiertage dort und lebt von Anfang Januar bis gegen Ende Februar 1803, teilweise

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Schräder (wie Anm. 240), S. 161. Hierzu ausführlich und auf Basis des Quellenmaterials: Schräder (ebda.), S. 164—187. Am 28. Juli 1801 (in: Briefe (wie Anm. 29), S. 248-254, Nr. 53) schreibt er an Adolphine von Werdeck: »Sechzehn Jahre, der Frühling, die Rheinhöhen, der erste Freund, den ich so eben gefunden hatte, u ein Lehrer wie Wieland, dessen Sympathien ich damals laß - War die Anlage nicht günstig, einen großen Eindruck tief zu begründen?«; zur Wieland-Lektüre Kleists vgl. dessen Brief an Wilhelmine von Zenge (22. März 1801; ebda., S. 201-207, Nr. 39); auch: Blankenagel (wie Anm. 245), S. 442f., und Kreutzer (wie Anm. 245), S. 50 und 106. Vgl. Kleists Brief an Ulrike (1. Mai 1802; in: Briefe (wie Anm. 29), S. 305ff., Nr. 68); zu Ludwig Wielands Aufenthalt in Bern vgl. Werner Deetjen: Ludwig Wieland in Bern. In: Jahrbuch der Kleist-Gesellschaft (1929/30), S. 24-29. Vgl. Wieland an Wedekind (10. April 1804; (wie Anm. 239)) sowie Stames (wie Anm. 112), III, S. 123-132, passim.

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im Beisein Ludwigs, 251 auf dem Gut vor den Toren Weimars, nach Wielands Aussage »auf eben dem Fuß, als ob er zu meiner Familie gehörte,« 252 hauptsächlich befaßt mit Robert Guiskard,

dem später auf dem Höhepunkt einer Krise vernich-

teten Drama. 253 Von Rastlosigkeit gepackt, vielleicht aber auch von der Furcht vor etwaigen Verheiratungsplänen oder, am wahrscheinlichsten, wegen der unglücklichen Liebe zu dessen Tochter Luise, 254 verläßt er Wieland, nicht jedoch, ohne von diesem ein auf den 24. Februar 1803 datiertes Empfehlungsschreiben für den Verleger Göschen in Leipzig erhalten zu haben, das ihm die künftigen Wege ebnen sollte. Wieland berücksichtigte darin eher >technische< Details wie die Beschaffung von Unterkunft und Kontakten in der Kleist fremden Stadt, schrieb jedoch dann und damit über den üblichen Ton einer Empfehlung deutlich hinausgehend: ich lernte ihn näher kennen, fand an ihm einen jungen Mann von seltnem Genie, von Kenntnissen und von schätzbarem Karakter, gewann ihn lieb und ließ mich daher leicht bewegen, ihm, da er mir einige Zeit näher zu sein wünschte, ein Zimmer in meinem Hause zu Oßmannstedt] einzuräumen. [...] ich habe mich nicht anders als ungem und mit Schmerz wieder von ihm getrennt.255

Daß Wieland mit seinen vielfältigen Kontakten sich mit seiner Empfehlung für einen jungen Dichter nicht von ungefähr gerade an den Verleger Georg Joachim Göschen wandte, darauf mag der Schlußsatz des Schreibens hinweisen: »Den besonderen Zweck, weswegen er einige Zeit in Leipzig zu leben wünscht, wird er Ihnen vermutlich selbst eröffnen.« 256 So könnte dieser nicht näher erläuterte Zweck beispielsweise ein literarisches Projekt welcher Art auch immer gewesen sein, das so Göschen nahegebracht werden sollte. Doch Wielands Anteilnahme endet nicht mit diesem Brief; im Juli 1803 schreibt er teilnahmsvoll und aufmunternd zugleich an Kleist, nachdem ihn Christoph Wilhelm Werdeck wohl zu Beginn des Monats und versehen wiederum mit einem Empfehlungsschreiben Kleists aufgesucht und von dessen andauernder Arbeit am Guiskard berichtet hatte:

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Vgl. Ludwigs Brief an seine Schwester Charlotte (undatiert, Frühjahr 1803; in: Sembdner (1996) I, S. 83, Nr. 91); man hatte sich unter anderem mit Richardsons Clarissa die Zeit vertrieben: »Kleist und ich lasen hier die Clarissa, und lebten in und mit ihr ganze acht Tage.« C. M. Wieland an Wedekind (10. April 1804; (wie Anm. 239)); ähnlich Ludwig Wieland an seine Schwester Charlotte (23. Dezember 1802; in: Sembdner (1996) I, S. 79, Nr. 87): »er [Kleist] wird von unserm Vater sehr geschätzt.« Er verbrannte das Manuskript des beinahe vollendeten Dramas im Oktober 1803 in Paris. Kleists Formulierungen in einem Brief (vom 13./14. März 1803 an Ulrike; in: Briefe (wie Anm. 29), S. 312ff., hier S. 313, Nr. 75) könnten durchaus darauf hindeuten: »ich habe Osmanstädt wieder verlassen. Zürne nicht! Ich mußte fort, u kann dir nicht sagen, warum? Ich habe das Haus mit Thränen verlassen, wo ich mehr Liebe gefunden habe, als die ganze Welt zusammen aufbringen kann; außer du! - ! Aber ich mußte fort!« Wieland an Göschen, 24. Februar 1803 (in: Sembdner (1996) I, S. 87, Nr. 95). Ebda.; vgl. Manger (wie Anm. 243), S. 67ff.

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Sie schreiben mir, lieber Kleist, der Druck mannigfacher Familienverhältnisse habe die Vollendung Ihres Werkes unmöglich gemacht. Schwerlich hätten Sie mir einen Unfall ankündigen können, der mich schmerzlicher betrübt hätte. Z u m Glück läßt mich die positive Versicherung des Herrn von Wferdeck], daß Sie zeither mit Eifer daran gearbeitet, hoffen und glauben, daß nur ein mißmutiger Augenblick Sie in die Verstimmung habe setzen können, für möglich zu halten, daß irgendein Hindernis von außen Ihnen die Vollendung eines Meisterwerks, wozu Sie einen so allmächtigen innerlichen Beruf fühlen, unmöglich machen könne. Nichts ist dem Genius der heiligen Muse, die Sie begeistert, unmöglich. Sie müssen Ihren Guiscard vollenden, und wenn der ganze Kaukasus und Alles auf Sie drückte. 257 Der Sympathiebeweis im Ton väterlicher Besorgnis b e w e g t e Kleist. Zwar ist keine Antwort an Wieland selbst überliefert, aber schon am 20. Juli 1803 schrieb er darüber an seine Schwester: Lies' doch inliegenden Brief von Wieland, dem Alten, den ich, auf ein kurzes Empfehlungsschreiben das ich Werdecks mitgab, am Abend eurer Abreise empfieng. Ich sehe sein Antlitz vor Eifer glühen, indem ich ihn lese. - Die beiden letzten Zeilen sind mir die rührendsten. A l s sich Kleist z w i s c h e n N o v e m b e r 1803 und Juni 1804 mit deutlichen S y m p t o m e n körperlicher und seelischer Krankheit v o n Frankreich k o m m e n d im H a u s e des in französischen Diensten stehenden Militärarztes Georg Christian W e d e k i n d aufhält, entsteht der briefliche Kontakt z w i s c h e n Wieland und Wedekind, und in diesem Kontext steht auch das anfänglich zitierte Schreiben. D i e Sorge u m Kleist, dessen Wesen Wieland durch »fürchterliche Überspannung« und »fruchtloses Streben nach einem unerreichbaren Zauberbild« kennzeichnet, eint die ansonsten nicht näher bekannten Männer. 2 5 8 Der g e n e s e n e Kleist schließlich besucht Wieland n o c h einmal im Juni 1804 in Weimar - damit endet der direkte Kontakt beider Dichter. 2 5 9 D e n noch bleibt Wieland für Kleist wichtig: gern m ö c h t e er ihn als Beiträger z u m

Phöbus

gewinnen, von d e m Wieland allerdings w e n i g hielt; 2 6 0 und offenbar g e n a u s o gern

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Vgl. Starnes (wie Anm. 112), III, S. 145; veröffentlicht wurde der Brief erst 1824; vgl. Klaus Kanzog: Edition und Engagement. 150 Jahre Editionsgeschichte der Werke und Briefe Heinrich von Kleists. 2 Bde. Berlin; New York 1979. Bd. II, S. 305ff. Wieland am 10. April 1807 an Wedekind (wie Anm. 239). Luise Wieland an Charlotte Geßner (19. April 1811; in: Sembdner (1996) I, S. 116, Nr. 127): »[...] ein Jahr [nach dem Umzug von Oßmannstedt nach Weimar] [...] erschien dieser zauberische Kleist wieder [...] Mein Vater empfing ihn als einen alten lieben Freund, und ich mit einer Fassung, die ich mühsam errungen hatte. So erhielt ich mich in dieser Stimmung, auch wie ich mit ihm allein war: bis zu seiner Abreise, die wenige Tage [später] erfolgte.« Vgl. Starnes (wie Anm. 112), III, S. 278; Kleist an Wieland (17. Dezember 1807; in: Briefe (wie Anm. 29), S. 398ff., Nr. 127); an Cotta (21. Dezember 1807; ebda., S. 401f., Nr. 129); an Ulrike (8. Februar 1808; ebda., S . 4 1 1 f „ Nr. 140); vgl. hierzu auch Adam Müller an Johannes von Müller (17. Dezember 1807; in: Baxa (wie Anm. 62) I, S. 364f., Nr. 259): »Wieland, Goethe, Schiller in mehreren Posthumen, und viele Vortreffliche der Nation sind so gut als gewonnen für die Sache. Sie [...] sind zu groß und zu gut, um mir Ihren wichtigen und einzig notwendigsten Beistand zu entziehn.«

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hätte Kleist einen Kommentar zu seinem Amphitryon von Wieland erhalten;261 die entsprechenden Briefe aus Fort de Joux erreichten allerdings ihren Adressaten nicht. Der Dialog der Dichter verebbt nun gänzlich: nicht zuletzt wohl auch, weil Kleist sich immer stärker der romantischen Strömung zuwandte, der Wieland im Gefolge der Schmähungen der Gebrüder Schlegel zum Zwecke seiner »Hinrichtung« verständlicherweise kaum mehr Sympathien entgegenbringen konnte. 262 Wielands erstaunliches Interesse an Kleist, vom Brief an seinen Sohn Ludwig, in dem er um »nähere Nachrichten von ihm« bittet,263 und vom Schreiben an Wedekind, in dem er von dem »außerordentlichen Genie« Kleists spricht,264 bis hin zur Leseprobe des Zerbrochnen Kruges und dem Gespräch über Kleist und seine Penthesilea mit Goethe am 4. Februar 1808 bei einer mittäglichen Zusammenkunft265 und noch über Kleists Tod hinaus,266 läßt auf zumindest ursprünglich tiefergehende Absichten Wielands schließen, die über rein persönlich gemeinte Sympathiebekundungen hinausweisen, ja, eigentlich nur aus der Betrachtung der literarischen Konstellationen und Fronten dieser Zeit verständlich werden und derart auch funktional verstanden werden können. Immer stärker nämlich fand sich Wieland von seinen Schriftstellerkollegen attackiert und zunehmend auch isoliert; seit Goethes und Schillers Xenien,267 seit den Angriffen der Hainbündler 268 hatten die Polemiken

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Kleist an Wieland (17. Dezember 1807; in: Briefe (wie Anm. 29), S. 398ff„ Nr. 127): »Im März dieses Jahres schrieb ich Ihnen zweimal von Fort de Joux [...] Der Gegenstand meines Briefes war, wenn ich nicht irre, der Amphitryon, eine Umarbeitung des Molierischen, die Ihnen vielleicht jetzt durch den Druck bekannt sein wird, und von der Ihnen damals das Manuscript, zur gütigen Empfehlung an einen Buchhändler, zugeschickt werden sollte«; einer der aus Fort de Joux gesandten Briefe (datiert vom 10. März 1807; ebda., S. 371f., Nr. 109), in dem Kleist die Zusendung von Manuskripten ankündigt, ist in einer Abschrift wieder aufgetaucht; auch in diesem Brief betont Kleist: »Würdigen Sie sie [die Manuskripte] gefälligst Ihrer Durchsicht. Ich würde seelig gewesen sein, wenn ich, wie in jenem mir ewig unvergesslichen Winter vor 5 Jahren [!], einen Augenblick hätte finden können, Sie Ihnen vorzutragen« und bittet erneut um Wielands Protektion (»Wenn Sie sie für die öffentliche Erscheinung geeignet finden und der Zeitpunkt nicht ganz ungünstig ist, so führen Sie mich gütigst bei einem Buchhändler ein; ich habe mich schon mit Gessner deshalb in Correspondenz gesetzt, und wenn er mit Cotta verbunden ist, so würd' ich mit Niemandem lieber, für die ganze Zukunft, Geschäfte dieser Art betreiben, als mit ihm«); vgl. Pereis (wie Anm. 245), S. 179ff., und Wittkowski (wie Anm. 62).

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Sengle (wie Anm. 245), S. 51 lf.; Manger (wie Anm. 243), S. 69f. Christoph Martin Wieland an Ludwig Wieland, 10. Juni 1802 (in: Sembdner (1996) I, S. 71, Nr. 79b). 264 Brief vom 10. April 1804 (wie Anm. 239). 265 Vgl. Starnes (wie Anm. 112), III, S. 280. 266 vgl. Wieland an Georg Christian Wedekind (27. Dezember 1811; in: Sembdner (1996) II, S. 104, Nr. 85a); abgedruckt und kommentiert bei Schelle (wie Anm. 245), S. 3ff. 267 Beide hatten Wieland u. a. als »die zierliche Jungfrau von Weimar« verhöhnt (zitiert nach Wieland (wie Anm. 243), S. 97); vgl. Goethes Logenrede Zu brüderlichem Andenken Wielands von 1813; auch: Oscar Fambach: Schiller und sein Kreis in der Kritik ihrer Zeit. Berlin 1957. (Ein Jahrhundert deutscher Literaturkritik (1750-1850) II), S. 313. 268 Vgl. Schräder (wie Anm. 240). 263

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gegen ihn derart an Schärfe gewonnen, daß sie ihm in der Folge sogar wirtschaftliche Nachteile und große finanzielle Sorgen bereiteten, die letztlich zum Verkauf seines Gutes führten. 269 Der grand seigneur sah, daß sein Lebenswerk entwertet und er selbst zunehmend an den literarischen Rand gedrängt wurde. Dem Einhalt zu gebieten, war er sichtlich auf der Suche nach >BündnispartnernLorbeer< von der Stirn reißen wollte, nicht Wieland. Dagegen mußte die vergleichsweise leicht errungene Anerkennung Wielands beinahe folgerichtig blaß erscheinen. Wenn auch Kleist, wie aus seinen Briefen deutlich wird, Wieland persönlich sehr geschätzt hat, so wird ihm spätestens seitdem er mit Adam Müller das Phöbws-Projekt verfolgte, die Kluft nicht verborgen geblieben sein, die sich zwischen Wieland und jenen »Herren der neueren Schule« 271 auftat, die Müller verkörperte. Zwar nahmen Kleist und Wieland zu keinem Zeitpunkt öffentlich gegeneinander Stellung, doch gerade in dieser Zeit bricht der Kontakt, mutmaßlich nach einer erfolgten Ablehnung Wielands, am Phöbus mitzuarbeiten, endgültig ab. Verständnislos hätte sich Kleist sicherlich auch gegenüber Fouques späterer Zuordnung seiner Person zur »Wielandschen Schule« gezeigt. 272

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Vgl. Albert R. Schmitt: Wielands Urteil über die Brüder Schlegel. In: The Journal of English and Germanic Philology 55 (1966), S. 637-661; Schelle (wie Anm. 245), S. 112ff. Undatierter Brief an Ulrike vom Januar 1803 (in: Briefe (wie Anm. 29), S. 31 lf., hier S. 312, Nr. 74); vgl. Fouque (in: Die drei Kleiste. In: Zeitung für die elegante Welt, Nr. 245-253, 20.-28. Dezember 1821): »Der Jüngling kam [...] in Verhältnisse zu Wieland, der ihn ermunterte, seine poetische Bahn fürder zu schreiten, wodurch natürlicher Weise Heinrich in eine polemische, beinahe feindselige Stellung gegen alles geriet, was der damals sogenannten neuen Schule angehörte, oder vor ihr zu Tage gefördert ward.« Dora Stock an F. B. Weber (11. April 1808; in: Sembdner (1996) I, S. 238, Nr. 261). Friedrich Baron de la Motte-Fouque: Lebensgeschichte, aufgezeichnet durch ihn selbst. Halle

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Eine so grundsätzliche Opposition wie diese war von keiner Seite aus zu überbrücken, und auch Kleist konnte sich wohl kaum davor verschließen, daß Wieland folgenreich immer häufiger als ein »negativer Classiker« bezeichnet und so gezielt abgewertet wurde. 273 Diese zuerst von den Gebrüdern Schlegel erhobenen Vorwürfe 274 setzten sich im Kontext umfassend gewandelter literarisch-kultureller Bezugsgrößen beim Kanon wie in der Auffassung von Literaturgeschichte fest, so fest, daß es inzwischen, wenn auch augenzwinkernd-hypothetisch möglich geworden ist, zu fragen, ob denn »eine Weimarer Klassik ohne Wieland denkbar« 275 sei oder vielleicht eine »Wieland-Renaissance« 276 notwendig geworden. Die von einigen Romantikern verkündete damnatio memoriae Wielands 277 hat historisch betrachtet ihren Zweck mehr als erfüllt; Wieland ist mitsamt seinem Lebenswerk weitgehend aus den Aktiva der Literaturgeschichte getilgt worden. Eine Literaturgeschichte, in der der erste Weimarer allenthalben noch als Staffagefigur berücksichtigt wird, bedurfte folgerichtig auch seiner literarischen Urteile nicht länger, auch nicht im Falle Kleists. Der umfassende Autoritätsverlust Wielands und die damit einhergehende literarhistorische Amnesie spiegelt sich in dessen zunehmender Marginalisierung; auf eine Bezugsgröße, die wie Wieland ihren einstigen Status beinahe gänzlich verloren hat, bezieht man sich spätestens seit Beginn der Moderne nicht länger, vielleicht auch, weil die Erkenntnis zu ernüchternd war, daß Wieland bereits achtzig Jahre früher Kleistsche Größe anerkannt hatte. 278 Dadurch kommt es im Falle Kleists zur absurden Situation, daß Wielands positive Erkenntnis der literarischen Möglichkeiten Kleists und deren Wertschätzung - wenn überhaupt - lediglich erwähnenswert scheinen, Goethes vermeintliches Nicht-Erkennen bzw. Nicht-Fördern dieses Talentes aber als symbolträchtiger und provokanter Schlag

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1840, S. 250f.; vgl. ders., (wie Anm. 270) und Eines deutschen Schriftstellers Halbjahrhundert [1828]. Autobiographie. Hrsg. von Hans Karsten. Bremen 1930, S. 63. Vgl. Wieland ((wie Anm. 243), S. 196f.); im Mai 1799 schreibt Friedrich an August Wilhelm und Caroline Schlegel von der »systematischen Vernichtung seiner [Wielands] sämtlichen Poesie und Unpoesie. Diese ist so sehr an der Zeit wie möglich - und da sollte das Alter und das Leben gar keine Rücksicht sein« (in: Wieland, a. a. O., S. 193); vgl. die praktizierte Abwertung bei Sengle (wie Anm. 245), S. 512: »er [Wieland] fürchtet, Schiller und Goethe steckten hinter dem Angriff der Romantiker: es ist der typische Verfolgungswahn des Niedergehenden!« Die auf den Vorwurf des Plagiats, der literarischen Unselbständigkeit und so den Eklektizismus zielenden Äußerungen erschienen zuerst in der Zeitschrift Athenäum (1798), S. 248, (1799), S. 329; sie dienten auch dazu, der Neugründung Publizität zu verschaffen; vgl. Wieland (wie Anm. 243), S. 196ff.; Schaefer (wie Anm. 243), S. 34. J0rgensen (wie Anm. 243), S. 187. Wieland (wie Anm. 243), S. 20Iff.; vgl. auch Schaefer (wie Anm. 243), S. 2f.: »Nichtsdestoweniger unterliegen Wieland und sein umfangreiches Werk auf besonders frappierende Weise im Grunde bis heute einem offensichtlichen Mißverhältnis zwischen potentiellem künstlerischem Angebot, objektiver kultureller Leistung einerseits und Wirkung, Anerkennung bei den Nachgeborenen andererseits.« Schräder (wie Anm. 240), S. 162. Vgl. Herzog (wie Anm. 189), S. 6.

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gegen ganze Generationen sich verkannt fühlender junger Literaten verstanden werden konnten, weil dieser den Status einer literarischen Bezugsgröße eben zu keinem Zeitpunkt ernsthaft einzubüssen drohte. Und so kann Franz Servaes 1911 auf die Frage, »[o]b indes überhaupt Einer zu Lebzeiten Kleists eine richtige Vorstellung von dessen wahrer Bedeutung hatte?«, entschieden antworten: Ο ja, immerhin Einige, aber diese vermochten nicht durchzudringen, weil sie zu vereinzelt dastanden und zu machtlos waren. Wie rührend und feurig zugleich hatte sich der alte Wieland über Kleist geäußert! 279

Der in den vielgelesenen populärwissenschaftlichen Kleist-Biographien solchermaßen zum >vereinzelt< dastehenden Ohnmächtigen erklärte Wieland wird also gleichfalls zum Objekt der Verklärung,280 - auch er ist ein >VerkannterKleist-Entdeckern< der Jahrhundertwende also allenfalls noch ein >Akzeptanz-Urteil< ab, zu den »selbstgewählte[n] Vätern« der »selbsternannte[n] Söhne« zählt er - anders als der bekämpfte Goethe - nicht.282 Zusätzlich noch wurde Wielands Status als literarische Autorität dadurch ausgehöhlt, daß man ihn schon bald nach seinem Tod und dann in stetig zunehmendem Maße mit dem >Papa-Haydn-Syndrom< belegte: so wurde er zum »Großvater der >Deutschen KlassikEnkeln< in Unkenntnis der angebrochenen neuen Zeit gutgemeinte, aber wirkungslose Ratschläge erteilte und dessen einziges Verdienst darin bestanden hatte, »gemüthliche Faselei in ein förmliches System« gebracht zu haben, so Eichendorff 1857.284 Die Autorität und literarische Kompe-

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Servaes (wie Anm. 177), S. 1137. Vgl. Eloesser (wie Anm. 204), S. 1: »IHR WANDELT DROBEN IM Licht, auf weichem Boden, selige Genien! die Olympier in Weimar haben Kleist einen Herrschersitz auf den seligen Höhen verweigert, wenn auch der kluge alte Wieland den Dichter des Robert Guiskard gern in die Lücke zwischen Goethe und Schiller gesetzt hätte.« Herzog (wie Anm. 189), S. 6. Gernhardt (wie Anm. 198), S. 138. Zitiert nach: Wieland (wie Anm. 243), S. 201; vgl. Herbert Eulenbergs >Schattenbild< Heinrich von Kleist (in: ders., Neue Schattenbilder. Berlin 1918, S. 56): »Der alte Wieland, bei dem der junge Dichter vor wenigen Jahren mehrere Wochen zu Besuch geweilt hatte, erfuhr es [die Nachricht von Kleists Tod] zuerst. Er saß in seinem gepolsterten Lehnstuhl nach dem Nachmittagskaffee, hatte sich eine lange Pfeife angezündet und wollte gerade in geistiger Gemächlichkeit in den Leipziger Blättern, die am Tisch vor ihm lagen, einen Rebus raten, wie er dies gerne tat, als er unvermutet auf diese Anzeige als ein noch größeres Rätsel stieß.« Zitiert nach Wieland (wie Anm. 243), S. 200.

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tenz von »Vater Wieland«, der so bereits 1775 von Heinse tituliert worden war, 285 wurde durch solche Verniedlichung und Reduktion weitestgehend untergraben und verharmlost. Das Bild, das man sich im Zusammenhang mit Kleist von ihm machte, war dementsprechend das eines freundlichen altersweisen Herrn, der sich der Anliegen seiner Besucher ebenso freundlich annahm: »Lieber Kleist!« begann da Wieland/ »Viel hat mir mein Sohn erzählt./ Daß auch Sie die Kunst der Dichtung/ Sich als Leitstern auserwählt/ Und in Ihrem ganzen Streben/ Ihre schöne Eigenart/ Unbeirrt von Lob und Tadel/ Als ein Künstler sich gewahrt!/ Doch Sie haben Ihre Schätze/ Wie ein Geizhals uns versteckt!/ Ist der Zeitpunkt nicht gekommen/ Daß man sie zum Leben weckt?« [...] Das Vernommne [die Lesung von Robert Guiskard] noch ein Weilchen/ Überdachte Wieland jetzt!/ Aber dann von seinem Lehnstuhl/ Sprang der Alte jugendlich,/ Der so scheinbar einem Seher/ Alten deutschen Stammes glich/ Und er sprach: »Was Sie geschaffen/ Zeugt von hohem Dichtergeist!/ Ja, Sie sind ein Auserwählter,/ Was Ihr großer Wurf beweist!«286 Diese sicherlich extreme Schilderung der Wieland-Kleist-Episode von 1911 gibt bei all ihrer Trivialität äußerst plakativ doch nur das Bild von Wieland weiter, das Dichter, Feuilleton und Literaturwissenschaft in einhundertjähriger Anstrengung gemeinsam hervorgebracht hatten. 287 Wieland war bereits im ersten Weltkrieg zum allenfalls »bronzenen Klassiker« abgestiegen, 288 nicht zuletzt auch, weil der »deutsche Voltaire« einer auf Nation und Nationalismus angelegten und sich ausbreitenden

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Am 12. April 1775 (in: Wielands Briefwechsel. Briefe der Weimarer Zeit (21. September 1772-31. Dezember 1777). Bearb. von Hans Werner Seiffert. Berlin 1983. (Wielands Briefwechsel. Hrsg. von der Akademie der Wissenschaften der DDR. Zentralinstitut für Literaturgeschichte 5) schreibt Heinse: »Ihr Briefchen, Vater Wieland, hat mir wohl getan, hat mein Wesen mit frischem Leben erquickt. Mein Herz zieht sich nach Ihnen, und verlangt Sie zum Genius meines in der Irre umherschweifenden jungen ungewißen Geistes.« 286 Festenberg (wie Anm. 215), S. 62 und S. 64; ebda., S. 60, ist die Rede von »Papa Wieland«. 287 Ygj p r a n z Muncker (in: Heinrich von Kleists sämtliche Werke. Neu durchgesehene und ergänzte Ausgabe in vier Bänden. Mit einer Einleitung von Franz Muncker. Stuttgart 1883. (Cotta'sche Bibliothek der Weltlitteratur), S. 16), der gleichfalls geradezu idyllische Zustände schildert: »Herzlicher noch empfing Wieland die Begleiter seines Sohnes. Dann kehrte Ulrike in die Heimat zurück; Kleist blieb in Weimar. Doch Wielands Freundlichkeit zog ihn wiederholt zu vorübergehendem und seit Anfang des Jahres 1803 zu dauerndem Aufenthalt nach Osmannstädt, dem Landgut des alten Dichters bei Weimar. Liebevoll wurde er hier als zur Familie gehörig behandelt; er fühlte sich heimisch und konnte sogar in einer Stunde außerordentlicher Offenherzigkeit es über sich bringen, dem väterlichen Freunde einige der wesentlichsten Szenen seines Robert Guiskard aus dem Gedächtnisse vorzutragen«; Schaefer (wie Anm. 243), S. 35: »Seinem letzten Dichter-Gast in Oßmannstedt, dem ruhelosen Heinrich von Kleist, bietet er einige glückliche Wochen in seinem Haus: Er erkennt dessen große dichterische Fähigkeiten, ermuntert ihn und gewinnt Kleists tiefe Dankbarkeit.« 288 So ein Redakteur der Frankfurter Zeitung im Jahre 1918 im Artikel Wielands Höllenfahrt (zitiert nach: Wieland (wie Anm. 243), S. 201).

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Literaturauffassung beinahe notwendig zum »schwächlichen, undeutschen Eklektiker« werden mußte, 289 der einer Erwähnung kaum wert schien. Wielands in der deutschen Literaturgeschichte wohl einzigartiger Autoritätsschwund zog den Verlust seiner Funktion als notwendig zu befragende literarische Instanz nach sich. Im Kontext einer solchen Verwerfung, die auf gewandelte Ansprüche schließen läßt, an das, was Literatur leisten soll und an die Personen, die sie verkörpern, wurde die immer stärker als Gegensatz-Paar gedachte Konstellation Kleist - Goethe zur maßgeblichen erhoben. Wielands Zustimmung zu Kleist paßte nicht in dieses auf Polarisierung zielende Darstellungsschema. Wie aber läßt sich die so offenkundige Fixierung auf >Autoritäten< in Sachen literarischer Urteilsfindung erklären, die im Falle Wielands faktisch nicht mehr vorhanden, bei Goethe aber - allen Relativierungstendenzen zum Trotz - ungebrochen wirksam ist? Daß ein junger Dichter eine berühmte Autorität zwecks Erfahrungsaustausch konsultiert, erstaunt wenig. Kleist wandte sich noch ganz selbstverständlich an Wieland in gerade dieser Funktion - wie er übrigens auch Gleim wohl nicht zuletzt aus diesem Grund aufgesucht haben wird. Synchronisch betrachtet also war Wielands Urteil über Kleist durchaus noch relevant, diachronisch gesehen jedoch kaum mehr; allenfalls ein Teil der Zeitgenossen also akzeptierte noch Wielands Urteile, seine Kennerschaft wie seine Autorität uneingeschränkt; die Nachwelt verlor in dem Maße das Interesse an ihm und seinen Stellungnahmen, in dem sie sich anderen >Autoritäten< zuwandte. Die anhaltende Tendenz, für ein literarisches (Wert-)Urteil Anleihen bei >Autoritäten< zu nehmen, erscheint in diesem Licht überaus problematisch. Zum einen spiegelt dies sicherlich eine gewisse Bequemlichkeit: einer >Autorität< traut man das notwendige Urteils- und Sprachvermögen zu, das über ein Werk zu Sagende in eine angemessene Form zu bringen. Zugleich dient dies der eigenen Positionsbestimmung: die Wahl der hierbei angeführten >Autoritäten< erlaubt Schlüsse auf die zugrundeliegenden Maßstäbe. Im Positiven macht man sich so mit Äußerungen wie »Schon XY stellte hierzu fest, ...« weitgehend unangreifbar und verleiht der vorgetragenen Anschauung zusätzliches Gewicht - wer würde sich anmaßen, >besser< als eine >Autorität< zu urteilen? Andererseits bedürfen gerade polemisch gemeinte Korrekturen historischer Werturteile solcher Referenzen besonders - die Anciennität eines Fehlurteils verbürgt dann eine die Polemik zusätzlich verschärfende Tiefendimension, und auch hier wird das Argument >gewichtigerAutoritäten< belegt so zugleich die offenbar große Schwierigkeit, ästhetische Urteile eigenständig, gewissermaßen also losgelöst von allem historischen Ballast, zu fällen. Sei es mangels eigener Einsichten oder Erkenntnisse, sei es mit konkreten Absichten der Diffamierung oder Aufwertung - das Urteilen über Literatur kommt ohne >Autoritäten< wohl auch weiterhin kaum aus, auch wenn sich die hierfür notwendigen Prämissen - wer überhaupt ist in einem weitgehend aufgelösten Kanon noch als >Autorität< auszuma-

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Zitiert nach Wieland (wie Anm. 243), S. 199f.

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chen? - gegenüber der Situation des neunzehnten Jahrhunderts grundlegend gewandelt haben. Wird diese innerhalb fester und undurchlässiger Kanongrenzen entwickelte Methode dennoch weiter praktiziert, so sollten die hierdurch wirksam werdenden Wahrnehmungsbeschränkungen deutlich sein: sachlich womöglich profundere Urteile werden auf diese Art allzu leicht übersehen oder ausgeblendet, denn: wer sucht bei Dippold, wenn Goethe sich gleichfalls zu Amphitryon geäußert hat? Notwendig ist es auch, sich klarzumachen, daß >Autorität< in jeder literaturhistorischen Epoche neu definiert wird, daß also diejenigen, die man sich angewöhnt hat als >Autoritäten< zu betrachten, dies keineswegs immer gewesen sein müssen oder daß die heute präsenten Autoren keineswegs die den Zeitgeist ihrer eigenen Lebenszeit prägenden gewesen sein müssen, nur weil sie eben heute in aller Munde sind. Die dritte Gefahr schließlich besteht darin, historisch gewordene >AutoritätRomantikem< als grundsätzliche Oppositionshaltung gegen die dominierende >KlassikRomantiker< in der zeitgenössischen Öffentlichkeit stets auch etwas Schimpfliches eignete.

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Irmela Brenden Christoph Martin Wieland. Reinbek 1990. (rowohlts monographien), S. lf. Dora Stock an F. B. Weber (11. April 1808; in: Sembdner (1996) I, S. 238, Nr. 261). Vgl. Friedrich Weisser im Morgenblatt vom 27. Dezember 1811. Zitiert nach: Sembdner (1996) II, S. 284, Nr. 319a.

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Durch seine engen Kontakte zu Adam Müller und Tieck, den Umgang mit dem Zirkel um Rahel Vamhagen, 294 aber auch durch sein zu Lebzeiten schon aufgeführtes »Ritterschauspiel« Das Käthchen von Heilbronn, hatte Kleist zudem selbst auf seine in dieser Richtung durchaus vorhandenen Neigungen verwiesen, mit dem Ergebnis, daß er zum >Romantiker< geradezu stigmatisiert wurde. Ein Umstand dies, der die zeitgenössische Rezeption seiner Werke einerseits behinderte, andererseits aber die >echten< >Romantiker< dazu veranlaßte, Kleist, nachdem sie ihn schon zu Lebzeiten ausdrücklich gelobt hatten,295 postum endgültig für ihre Richtung zu vereinnahmen; das im Wortsinn originelle und eigenständige Literaturkonzept Kleists konnte so zu einem frühen Zeitpunkt in hohem Maß ihm wesensfremden Zwecken subsumiert werden. Hinderlich und einer vorbehaltlosen Aufnahme seiner Werke zusätzlich entgegenwirkend war zudem die verbreitete wie undifferenzierte Einschätzung, daß die Anhänger der romantischen Richtung in keinem Fall guten Einfluß auf junge Talente ausüben könnten; eine Position, die Dora Stock geradezu exemplarisch formuliert hat und die für weite Teile des anspruchsvollen literarischen Publikums der Zeit gegolten haben dürfte: Herrn v. Kleist sehen wir oft in unserm Hause, und wir schätzen ihn als Mensch wie er verdient. Mit dem Schriftsteller haben wir manchen Streit. Sein Talent ist unverkennbar, aber er läßt sich von den Herren der neuern Schule auf einen falschen Weg leiten, und ich fürchte, daß Müller einen schädlichen Einfluß auf ihn hat. 296

Solche Einschätzungen der >romantischen Schule< als einer Irrlehre entbanden durch ihre impliziten Vor-Verurteilungen weitestgehend von differenzierender und sachlicher Kritik, weil so allein die Zuordnung zur einen oder anderen Richtung genügte, um über die Qualität eines literarischen Werkes zu befinden. Zugleich verhinderten sie einen vorbehaltlosen Umgang mit der neuen zeitgenössischen Literatur: abgelehnt von Goethe und gefeiert von Müller, Tieck und Fouque, gelangte Kleist so schon recht früh zwischen die literarischen Fronten; ein Vorgang dies, der der unmittelbaren Wirksamkeit seiner Werke nachhaltig entgegenstand. Die frühe Vereinnahmung durch einige seiner Vertrauten schließlich hat den Charakter eines Präzedenzfalles im Umgang mit Kleist: sie weist den Weg zur freundschaftlich sich gebenden, zugleich aber hochgradig manipulierenden Inanspruchnahme des Dichters, ein Weg, der im Lauf der Wirkungsgeschichte dieses Autors von den verschiedensten konkurrierenden Parteien eingeschlagen, hier aber erstmals beschritten wurde.

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Vgl. Rahel Varnhagen an Alexander von der Marwitz (24. Mai 1810; in: Hellmuth Rogge: Kleist und Rahel. In: Jahrbuch der Kleistgesellschaft (1923/24), S. 128). Vgl. etwa Friedrich Schlegels begeisterte Kritik von 1810, die vor allem als Parteinahme für die literarische Richtung sich lesen läßt (in: Sembdner (1996) I, S. 324f., Nr. 353). Dora Stock an F. B. Weber (11. April 1808; (wie Anm. 291)).

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5.

Irritation als Konstante - Frühe Urteilsschemata über Heinrich von Kleist

Der spektakuläre Freitod von 1811, auf dessen bekannte Details hier nicht näher eingegangen werden soll,297 darf wohl mit einigem Recht als die Keimzelle des sogenannten >Kleist-Mythos< betrachtet werden, beschäftigte er doch als ein skandalöser Vorgang keineswegs nur die zeitgenössischen Journale,298 sondern lenkte zugleich und schon sehr früh das Interesse des Publikums weitgehend vom Dichter Kleist ab,299 um es vornehmlich und ebenso endgültig auf die Umstände seines Todes zu fixieren: von seinem Ende her wurde Kleist seither unabhängig von Weltanschauung und ästhetischen wie politischen Auffassungen betrachtet.300 Von diesem Standort aber ließ sich der Dichter allenfalls ausschnitthaft wahrnehmen, als ein Leidender oder Kranker, der im Leben nicht reüssieren konnte und hieraus Konsequenzen zu ziehen sich gezwungen sah; eine Position dies, die die ohnehin üppig rankende Legendenbildung um Kleist in bisher noch ungeklärtem Ausmaß befördert hat. Zugleich legte diese Perspektive bestimmte Deutungsmuster nahe, die in direktem Zusammenhang mit Kleists verzögerter Anerkennung zu sehen sind: schließlich war der freiwillige Tod zweier Menschen, der Kleist zudem zum Mörder machte, zu allererst ein kapitales Verbrechen nicht nur gegen die eigene Person. Einer größeren Akzeptanz setzte es vor allem wegen der geltenden gesellschaftlichen Nor-

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Vgl. Georg Minde-Pouet: Kleists letzte Stunden. Teil I: Das Akten-Material. Berlin 1925. (Schriften der Kleist-Gesellschaft 5). Vgl. Tagesbegebenheiten. Aus Berlin. In: Der Freimüthige [...] vom 26. November 1811, Bd. 2, S. 944; Korrespondenz und Notizen. In: Zeitung für die elegante Welt, 30. November (Nr. 239, Sp. 1909f.), 6/7. Dezember 1811 (Nr. 243, Sp. 1941f.) und 7. Januar 1812 (in: Sembdner (1996) II, S. 28, Nr. 8); Allgemeine Moden-Zeitung vom 3. Dezember 1811; Allgemeine Zeitung vom 18. Dezember 1811; Morgenblatt für gebildete Stände vom 21. November und 26. Dezember 1811; Mannigfaltigkeiten aus Berlin. In: Miszellen für die Neueste Weltkunde vom 14. Dezember 1811; Albrecht Höpfner in: Gemeinnützige Schweizerische Nachrichten vom 17. Dezember 1811; Süddeutsche Miscellen vom 25. März 1812; Journal de L'Empire vom 9. und 17. Dezember 1811; Le Moniteur vom 18. Dezember 1811; Nouvelles etrangeres. Prusse. Berlin, 10. Decembre. In: Gazette de France vom 19. Dezember 1811; Der Hamburgische Correspondent vom 18. Dezember 1811; The Times vom 28. Dezember 1811 sowie Henri Campan an Rahel Varnhagen (3. Januar 1812; Sembdner (1996) II, S. 76, Nr. 52c): »Unsere Zeitungen sprechen einzig von dieser Dame und diesem Dichter aus Ihrer Stadt, die sich aus Liebe gegenseitig getötet haben.«

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Eine signifikante Ausnahme von dieser Lesart findet sich bei August Gottlob Eberhard: Appellation an die Ankläger und Richter Heinrichs von Kleist [1812] (in: Sembdner (1996) II, S. 50ff., Nr. 25), der gerade vor der Gefahr, den Dichter wegen seines Todes zu vergessen, warnte: »Wenn aber Heinrich v. Kleist auch als Mensch seine Bahn auf eine strafbare Weise beschloß: ist es gerecht, hievon Gelegenheit zu nehmen, ihn auch als Dichter und Schriftsteller büßen zu lassen? Wer kann es erweisen, daß sein poetischer Glaube seine letzte unselige Tat hat motivieren helfen?«; auch: ders., Nachtrag zu meiner Appellation (ebda., S. 55f., Nr. 27). 300 y g j j j e Einleitung zu Goldammer (wie Anm. 196).

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men und der sie prägenden christlichen Ethik ein gravierendes Rezeptionshindernis entgegen. 301 Mochten auch >romantische< Gemüter immer wieder vom Selbstmord schwärmen und ihn - selten genug - wie Karoline von Günderrode sogar in die Tat umsetzen, alltäglich war er deswegen keineswegs, und ein schwerer Tabubruch blieb er allemal. Dies kommentierte Johann Jacob Hertel in seinen durchaus repräsentativen Gedanken bei dem bekannten Selbstmord zweier Verliebten in B****n so: Die schleierlose Leidenschaft Hat ihn auf ihren kühnen Wogen Im wilden Strudel aufgerafft, Und zu dem Selbstmord dann bewogen. Vor allen Augen dieser Welt Hat ihn sein frecher Schritt entstellt. [...] Kein and'rer Umstand - als die Liebe Von einer sträflich fremden Art Hat die verachtungsvollen Triebe Im Wertherischen Wahn gepaart. Vernunftlos war die Zärtlichkeit, Gesetzlos selbsten das Bestreben Nur frevelhafte Sinnlichkeit Kann dieser Tat den Anstrich geben. Hier singt kein unparteiisch Chor Ein sanftes Lied der Schonung vor.302 Zum Vorbild für die Gesellschaft oder gar zum verehrungswürdigen >Klassiker< taugte der Urheber einer solch diskreditierenden Tat keinesfalls. 303 Demgemäß wurden auch seine Werke fortan mißtrauisch auf etwaige Vorzeichen hin beäugt und ließen sich so leicht als der Ausdruck eines verwirrten Gemütes lesen, dessen >kranke< Weltsicht man sich - wenn überhaupt - nicht ohne Vorbehalt aneignen mochte. Verzögert und ungünstig beeinflußt wurde die Wahrnehmung Kleists als Dichter überdies

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Auch die Vertrauten taten sich schwer mit diesem Umstand; vgl. etwa Fouque an Varnhagen (1. Januar 1812; in: Sembdner (1996) II, S. 87, Nr. 62b): »Ich bin mehr als erschüttert durch diesen Fall; ich bin so verwirrt, als ein Mensch werden kann, der den Glauben an Gott, Christus und Seligkeit festhält; also, dem Himmel sei Dank, ich bin nicht irre, aber mit einem ordentlich stöhnenden Schmerze muß ich nach Heinrichs Grabe schauen«; Jung Stilling an Fouque (2. Januar 1812; in: Sembdner (1996) II, S. 89f., Nr. 64): »Ich enthalte mich alles Urteils über diesen Vorfall; denn unser Herr sagt: richtet nicht; aber das empört mich, daß man heutzutage den Selbstmord mit vollkommenem Bewußtsein, ohne verrückt zu sein, entschuldigt. Wie feige und elend muß ein Mensch sein, und wie wenig religiösen Sinn muß ein Mensch haben, der dem himmlischen Vater nicht zutraut, er werde unsre Leiden lindern und uns nicht mehr auflegen, als wir tragen können!« Johann Jacob Hertel in: ders., Die neuesten vermischten Gedichte. Augsburg 1812 (zitiert nach: Sembdner (1996) II, S. 68, Nr. 40a). Vgl. Anna Germaine Baronin Stael-Holstein: Betrachtungen über den Selbstmord. Stralsund 1813; auch Stael an Benjamin Constant (Januar 1812; in: Sembdner (1996) II, S. 59, Nr. 34); A. W. Schlegel an Stael (10. Januar 1812; ebda., S. 59, Nr. 35); vgl. Georges Minois: Geschichte des Selbstmords. Düsseldorf; Zürich 1996, S. 396f.

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durch das Medium, in dem von ihm vornehmlich die Rede war: die Klatschspalten der Journale; sie machten seine traurige Geschichte publik. Einmal nicht mehr Tagesgespräch, mußte er so geradezu zwangsläufig der Vergessenheit anheimfallen, zumal seine Werke nur wenig präsent bzw. zum Zeitpunkt seines Todes teilweise noch nicht einmal publiziert waren. Das Gedenken an den Dichter Kleist konnte unter solchen Voraussetzungen kaum bewahrt werden. Die aus den Zeitumständen und dem gesellschaftlichen Wertesystem verständlich werdende und weithin verbreitete Ablehnung dieser Tat ist also der eigentliche Hintergrund, vor dem die geringe und verzögerte Wertschätzung des Dichters in den folgenden Jahrzehnten zu sehen ist. Zwar zeichnete sich unabhängig von dieser distanzierten, 304 latent verächtlichen,305 bisweilen aber auch mitleidsvollen306 Haltung ein geradezu voyeuristisches Interesse am Tod beider schnell ab, dennoch wurde gerade die Ablehnung - die wenig später schon durch einige wenige Vertraute Kleists in ihr Gegenteil verkehrt wurde, weiterhin aber auf denselben Aspekt (Kleists Tod) bezogen blieb - von Anfang an zum zentralen Maßstab bei der Beurteilung des Dichters erhoben;307 so weitgehend, daß seine literarischen Verdienste daneben zunächst zum bloßen Zeitvertreib eines exzentrischen ehemaligen Offiziers verblassen konnten. 308 Die solchermaßen und zu einem sehr frühen Zeitpunkt sich abzeichnende Dominanz der Biographie und auch der Todesart über das Werk gehört daher traditionell zum kaum je in Frage gestellten Repertoire der Kleist-Deutung: undenkbar seit den Anfängen der postumen Rezeption, ihn ohne sein tragisches Ende verstehen zu wollen - gleich, ob man dieses nun - wie viele Zeitgenossen - ver-

304 vgl. Eichendorffs Tagebucheintrag vom 8. Dezember 1811 (in: ders.: Tagebücher. Autobiographische Dichtungen. Historische und politische Schriften. Hrsg. von Hartwig Schultz. Frankfurt 1993. (Joseph von Eichendorff. Werke in sechs Bänden. Hrsg. von Wolfgang Frühwald, Brigitte Schillbach und Hartwig Schultz 5), S. 336). 305 vgl. Friedrich Schlegel an August Wilhelm Schlegel (4. Januar 1812; in: Sembdner (1996) II, S. 59, Nr. 33): »Er hat also nicht bloß in Werken, sondern auch im Leben Tollheit für Genie genommen und beide verwechselt.« 306 Vgl. Franz Horn: Umrisse zur Geschichte und Kritik der schönen Literatur Deutschlands. Berlin 1819, S. 162. 307 Vgl. Friedrich Wilhelm III. an Hardenberg (27. November 1811; in: Sembdner (1996) I, S. 481, Nr. 541), der sich entschieden gegen die »öffentliche Anpreisung eines [...] vereinten Mordes und Selbstmordes« durch Peguilhen wandte, der am 26. bzw. 28. November 1811 seine für Milde werbende Schrift hierüber in der Vossischen und der Spenerschen Zeitung angekündigt hatte (s. Sembdner (1996) I, S. 480f„ Nr. 539 und 540); vgl. Peguilhen an Hardenberg (3. Dezember 1811; ebda., S. 482, Nr. 542) über seine Absicht, beider Tat »nicht zu rechtfertigen, aber - zu entschuldigen«; auch Staatsrat Gruner an den Polizeipräsidenten von Schlechtendahl (3. Dezember 1811; ebda., S.483, Nr. 543), dessen Schreiben an Peguilhen (6. Dezember 1811; ebda.). 308 Vgl. Weisser (wie Anm. 292) über die Öffentliche Seligsprechung und Vergötterung des Mords und Selbstmords in Deutschland. Im Jahr 1811: »Armes Deutschland! Wenn deine wahnsinnigen Schriftsteller ihre Tollheit bis zum Morde treiben, welche Nation wird der Mörder mehr zählen, als du?«; ders., Ein Wort der Verteidigung. In: ders.: Sämtliche prosaische Werke. Stuttgart 1819. Bd. 4, S. 61ff.

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achtete oder - wie zunächst nur einige wenige Vertraute Kleists, lange danach aber eine ganze Generation junger Literaten - glorifizierte. Daß bis in die jüngste Zeit hinein im toten Kleist der >bessere< Kleist erkannt werden konnte - derjenige nämlich, der zur Projektionsfigur wie auch immer gearteter Interessen taugte - , verweist daher stets auch zurück auf die Entstehungszeit dieses sperrigen wie übermächtigen Paradigmas der Kleist-Deutung, in der heftige Ablehnung der Tat und deren Glorifizierung im öffentlichen Diskurs wie im privaten Austausch zunächst konkurrierten, 309 mit der Zeit jedoch immer stärker zu letzterer tendierten. Dieses Paradigma als ein zeitbedingtes wie -bezogenes Deutungsmuster aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert zu verstehen, läßt dessen spätere Varianten, die Kleists Tod jeweils spezifisch zu stilisieren suchten, immer auch als eine Wiederaufnahme des Versuchs erkennen, den Bruch eines Tabus nachträglich zu legitimieren. So konnten die durchaus nachvollziehbaren Vorbehalte der Zeitgenossen Kleists späteren >Entdeckern< zum wichtigen Argument werden, das sie, um den Dichter zu feiern, nur in sein Gegenteil zu verkehren und als Verkennung durch die Zeitgenossen zu deklarieren brauchten. In Kleists Tod lag daher zunächst und am nachhaltigsten die Irritation des Publikums ihm gegenüber begründet, die sich in zum Teil recht grundsätzlicher Verständnislosigkeit äußerte, 310 und zugleich für dessen geringe Resonanz in der Folgezeit verantwortlich zeichnete. Zwar hatten wenige Freunde und Vertraute die Tat immer wieder verteidigt, Mitleid für den verzagten Dichter erbeten und vor allem auf dessen literarische Verdienste verwiesen,311 doch änderte dies wenig an der sich schnell nun abzeichnenden, überaus charakteristischen Konstante der Kleist-Deutung: die ungewöhnlichen Umstände des Todes zogen das Interesse geradezu magisch an, als Skandal innerhalb der besseren preußischen Gesellschaft, später als weihevolle Tat eines geradezu kultisch verehrten >ErsatzheiIigenKäthchen von HeilbronnAschenbrödels Erwachen als Prinzessinromantische< Liebesgeschichte mit gutem Ausgang. Nur vor diesem Hintergrund erhalten Niemeyers Dichtungsversuche ihren Sinn, der die Kenntnis des Kleist-Stückes voraussetzen muß, um seine Gelegenheitsdichtung motivieren zu können. Der kurz vor der Jahrhundertwende veröffentlichte Roman läßt allerdings keine Aussage darüber zu, ob diese Popularität sich über den gesamten deutschsprachigen Kulturraum erstreckte, oder vielleicht doch nur auf das erstarkte Preußen nach 1870/71 beschränkt blieb. An anderer Stelle jedoch legt der Erzähler Fontane nahe, gerade diese Popularität habe bereits kurz nach Kleists Tod eingesetzt und seither ungebrochen angehalten. In seinem seit 1862 entstandenen - erste Pläne gingen sogar auf das Jahr 1854 zurück - , aber erst 1878 erschienenen Erstlingsroman Vor dem Sturm schildert er die historischen Ereignisse im Preußen des Winters 1812/13. 7 Um auf das Lokalkolorit, aber auch, um auf die geistige Situation dieser Zeit einzustimmen, wird im fünfzehnten Kapitel von einer Schlittenfahrt berichtet, die mehr oder minder zufällig an Kleists Grab am Wannsee vorbeiführt. Eine der Hauptfiguren, der bezeichnenderweise der romantischen Literatur zugewandte, schwärmerisch veranlagte und

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Fontane hatte eine Aufführung des Stückes am 15. Dezember 1875 gesehen und rezensiert (vgl. Theodor Fontane: Heinrich von Kleist. Das Käthchen von Heilbronn. [Gastspiel Julie Abich]. In: ders., Causerien über Theater. Unter Mitwirkung von Kurt Schreinert hrsg. von Edgar Gross. München 1964,1, S. 475ff.); vgl. auch die ähnlich wie im Roman angelegte Parallelschau beider Werke in der Rezension des Käthchen vom 11. Mai 1873 (Theodor Fontane: Heinrich von Kleist. Das Käthchen von Heilbronn. [Gastspiel Luise Reinecke]. In: ders., Causerien ... (s. ο.), I, S. 268). Fontane (wie Anm. 1), S. 27. Theodor Fontane: Vor dem Sturm. Roman aus dem Winter 1812 auf 13. Berlin 1878; vgl. Helmuth Nürnberger in: Theodor Fontane: Vor dem Sturm. Roman aus dem Winter 1812 auf 13. Mit einem Nachwort neu hrsg. von Helmuth Nürnberger. München 1994, S. 719f.

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von fern n o c h mit Kleist selbst bekannte L e w i n von Vitzewitz, weist beim Passieren auf dessen Grabstelle hin: An den ausgebauten Häusern von Zehlendorf vorbei ging es im Fluge auf das Stimmingsche Gasthaus am Wannsee zu, und Lewin, mit der Hand nach links deutend, wies jetzt auf eine umfriedete, nur an vier Pappeln erkennbare Stelle hin, wo sich seit Jahresfrist der Grabhügel Heinrich von Kleists erhob. Hirschfeldt, damals schon in Spanien, wußte nichts von dem beklagenswerten Ereignis, und so fiel es seinem Gefährten zu, ihm von den letzten Schicksalen, dem Leben und Sterben eines Kameraden zu erzählen, mit dem er, als beide noch in derselben Garnison standen, wenigstens oberflächlich bekannt gewesen war. Von dieser Erzählung sprang das Gespräch bald zu seinen Dichtungen über, und der Charakter des Käthchens von Heilbronn, vor allem die dramatische Berechtigung oder Nichtberechtigung des Somnambulen war noch keineswegs festgestellt, als schon ihr Schlitten durch die defileeartige Schmalung hindurchglitt [,..].8 Mit dieser Passage legt Fontane nahe, daß Kleist bereits kurz nach seinem Tod als der Dichter des Käthchen

den literarisch Gebildeten bestens vertraut g e w e s e n sei.

Handelt es sich bei dieser Feststellung nun lediglich u m eine rückwärts gerichtete Projektion der g e g e n Jahrhundertende i m m e r stärker werdenden öffentlichen Präsenz Kleistscher Werke? Oder beschreibt Fontane hier tatsächlich die A n f ä n g e einer kontinuierlichen Wirkungsgeschichte des Käthchen

von Heilbronn,

an deren Ende

die Popularität des Werkes in breiten Kreisen der Bevölkerung steht, so w i e sie in Effi Briest

beschrieben wird?

Der Leser Fontane jedenfalls schätzte das Käthchen

von Heilbronn

als ein Stück,

in d e m der »Zauber der Romantik« g l e i c h s a m kristallisiert sei, 9 w e i l darin eine »typisch deutsche Mädchen- und Märchengestalt« agiere, 1 0 und beschreibt so stellvertretend für die Theaterbesucher seiner Zeit den Reiz des Stückes, das er in der Holunderbuschszene gipfeln sah. Es handele sich u m ein dramatisiertes Märchen, man verlangt keine Korrektheit mehr, und die Gestalt der Kunigunde - ganz nach Märchenart - mochte ebenso schwarz in schwarz gemalt werden wie das Käthchen weiß in weiß." D i e eigentliche Faszination aber mache die Illusion aus: 1 2 Ich stelle an ein Stück wie dieses nur eine Anforderung, und zwar die: daß ich nicht aus der Welt des Schönen, aus einem unbestimmten, süßen Etwas, das sich mir wohlig ums Herz legt, herausgerissen werde.

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Fontane (wie Anm. 7) (zitiert nach Fontane (1994) (wie Anm. 7), S. 458); der literarisch beschlagene Held liebt zudem Hölderlins Gedichte (ebda., S. 483f.; vgl. 560, 608); Fontane läßt hier auch die zeitgenössische Diskussion über den Zustand des Grabes einfließen, die zuerst durch von Bülow angeregt worden war. Fontane (wie Anm. 5) zur Käthchen-Aufführung vom 11. Mai 1873. Fontane (wie Anm. 5) zur Käthchen-Aufführung vom 15. Dezember 1875. Zitiert nach Theodor Fontane: Literarische Essays und Studien. Unter Heranziehung der von Kurt Schreinert gesammelten Materialien hrsg. von Rainer Bachmann und Peter Bramböck. München 1974. II, S. 137. Ebda.

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Zwar werde dies im Käthchen nicht durchgehalten; falsche Zähne, Haare und Waden der Kunigunde störten Fontanes Fantasiewelt ebenso wie die Peitsche des Grafen, um Käthchen zu vertreiben und die ihm überzeichnet scheinende Leidensfähigkeit der Hauptfigur,13 doch mit der Begeisterung für das Märchenhafte, das Romantische des Stückes benennt er gleichsam exemplarisch die Ursache seiner Popularität beim Publikum. Woran aber läßt sich solche angenommene und durch Äußerungen wie die Fontanes wahrscheinlich gemachte Beliebtheit nachweisen, wie belegen, daß die fiktionale positive Resonanz tatsächlich ein Reflex auf die reale Aufnahme des Werkes ist? Anhand der überlieferten Quellen läßt sich die faktische Präsenz des Käthchen von Heilbronn wenigstens annähernd bestimmen. Vergleichsweise weit verbreitet etwa war die Textgrundlage als Lesestück. Weniger wohl in den Gesamt- oder Teilausgaben der Werke Kleists, als - und dies ist besonders hervorzuheben - , vielmehr in den >VolksausgabenDas Käthchen von HeilbronnKäthchen von HeilbronnKäthchen von Heilbronn< [1821] (s. Klaus Kanzog: Heinrich von Kleist und die Musik. In: Klaus Kanzog; Hans Joachim Kreutzer (Hrsg.): Werke Kleists auf dem modernen Musiktheater. Berlin 1977. (Jahresgabe der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft 1973/74), S. 172-210, hier S. 187); vgl. Historisches und systematisches Verzeichnis sämtlicher Tonwerke zu den Dramen Schillers, Goethes, Shakespeares, Kleists und Körners. Nebst einleitendem Text und Erläuterungen f ü r Darsteller, Dirigenten, Spieler und Hörer der Werke, unter besonderer Berücksichtigung der Zwischenaktsmusik bearbeitet von Albert Schaefer. Leipzig 1886, S. 126, danach wurde die Ouvertüre 1821 für das Wiener Hofburgtheater geschrieben; vgl. W[illiam] Neumann: Karl Gottlieb Reissiger. Eine Biographie. Cassel 1854. (Die Componisten der neueren Zeit 12), S. 17. Anton Bohrer: Käthchen von Heilbronn. Oper. [1824] (s. Kanzog (wie Anm. 31), S. 187), erstmalig aufgeführt am 21. April 1824 im Berliner Schauspielhaus (nach Schaefer (wie Anm. 31), S. 126. Karl Ritter: Ouvertüre zum >Käthchen von Heilbronn< [1851] (s. Kanzog (wie Anm. 31), S. 188), entstanden 1851 für das Theater Sankt Gallen. Anton Emil Titl: Musik zum >Käthchen von Heilbronn< [1857] (s. Kanzog (wie Anm. 31), S. 188), entstanden im Zusammenhang mit der Neubearbeitung Heinrich Laubes, uraufgeführt am 27. Dezember 1857 im Hoftheater von Hannover.

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Emil Naumann 35 ebenso wie die sechs (!) Opern, die - ihre Untertitel deuten es an - überwiegend im Kontext der Gattungstradition der >Romantischen Oper< stehen und zwischen 1845 und 1881 entstanden sind. Komponiert wurden sie von J. Hoven, 3 6 Friedrich Lux, 37 Berthold Damcke, 3 8 Wassily Kühner, 39 Moritz Jaffe, 40 Carl Reinthaler 41 und Siegfried Morbach. 42 Es ist also davon auszugehen, daß allein eine populäre Textvorlage ein solches Maß an produktiver Rezeption hervorzubringen imstande war. Zum kreativen Umgang regte der märchenhafte Stoff mit seinen ebenso märchenhaften Figuren auch auf den Feldern der Illustration und des Bühnenbildentwurfes an: der Illustrator Moritz von Schwind tat sich auf diesem Sektor ebenso

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Emil Naumann: Ouvertüre zu >Käthchen von Heilbronn< für großes Orchester (op. 40) [1871], Leipzig 1886. (s. Kanzog (wie Anm. 31), S. 189); Schaefer (wie Anm. 31), S. 126f„ betont die »überaus günstige Aufnahme, welche das Werk bei all seinen zahlreichen Aufführungen fand«; das 1871 komponierte Stück war erstmals »zum Besten der im französischen Kriege Verwundeten« von der königlichen Hofcapelle im Berliner Opernhaus aufgeführt worden, danach in Dresden (1883/84) und Breslau (1884). J. Hoven [Johann Freiherr Vesque zu Püttlingen]: Liebeszauber. Romantische Oper in 4 Aufzügen von Otto Prechtler. Wien 1845; erstmals aufgeführt am 26. März 1845 im Wiener Kärntnertor-Theater; vgl. ders., Liebeszauber. Romantische Oper in 4 Aufzügen von Otto Prechtler. [Klavierauszug]. Mainz; Antwerpen; Brüssel 1847 und Schaefer (wie Anm. 31), S. 127. Friedrich Lux: Das Käthchen von Heilbronn. Große romantische Oper in 4 Aufzügen und einem Vorspiel: Die Werkstätte nach Kleist's gleichnam. Schauspiel bearbeitet von Friedrich Meck [1845] (s. Kanzog (wie Anm. 31), S. 187); die am 24. März 1846 erstmals im herzoglichen Hoftheater Dessau aufgeführte Oper wurde später auch in Wiesbaden, Frankfurt/M., Köln und Mainz gegeben und noch 1882 (so Schaefer (wie Anm. 31), S. 127f.; laut Kanzog (s. o.), S. 187: 1881) in Dessau; vgl. auch den Klavierauszug (Mainz 1881), den Druck (Mainz 1882) sowie die Neuausgabe Mainz 1902, die um eine »Fantasie für Pianoforte, Harmonium und Violine oder Violoncell über Motive aus der Oper« ergänzt wurde. Vgl. Schaefer (wie Anm. 31), S. 127, erstmals Anfang 1845 im Stadttheater Königsberg aufgeführt. Vgl. ebda., S. 128, auch: Kanzog (wie Anm. 31), S. 188; Wassily Kühner ist ein Pseudonym des Großherzogs Peter von Oldenburg; aufgeführt wurde die Oper erstmals am 20. Oktober 1861 im Wiesbadener Hoftheater. Moritz Jaffe: Das Käthchen von Heilbronn, Oper in 5 Acten. Nach dem gleichnamigen Schauspiel von Heinrich von Kleist bearbeitet von Ludwig Bußler. Berlin 1867; die in den Jahren 1863/64 entstandene Oper wurde erstmals am 1. Februar 1866 im Augsburger Stadttheater aufgeführt, später dann, am 25. März 1868 im deutschen Theater zu Prag; vgl. Schaefer (wie Anm. 31), S. 128; [Kleist] (wie Anm. 27), S. 132; Kanzog (wie Anm. 31), S. 188f. Carl Reinthaler: Das Käthchen von Heilbronn. Romantische Oper in 4 Akten frei nach von Kleist's gleichnamigem Schauspiel von Heinrich Bulthaupt. Leipzig [1881]; vgl. Schaefer (wie Anm. 31), S. 128; [Kleist] (wie Anm. 27), S. 133; Kanzog (wie Anm. 31), S. 189: entstanden in den Jahren 1879/80 in Bremen wurde das Stück am 8. Dezember 1882 in Frankfurt/M. anläßlich der Eröffnung des Opernhauses aufgeführt; es wurde in der Folgezeit zu einem Repertoirestück (etwa in München und Berlin). Die vom 26. Oktober 1896 datierende Handschrift in der Wiener National-Bibliothek blieb unaufgeführt; vgl. Kanzog (wie Anm. 31), S. 189.

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hervor 43 wie Ε. Τ. Α. Hoffmann, der - zuständig am Bamberger Theater für die »ästhet. Einrichtung« - bereits 1811 »die einstürzende Burg zum Kätchen von Heilbronn« baute, 44 oder Karl Friedrich Schinkel, von dem ein - allerdings nicht realisierter - Entwurf zum »Schloßhof der Burg Turneck/ in dem Schauspiel: Käthchen von Heilbronn« überliefert ist. 45 Die Reaktionen nicht weniger prominenter Leser und Theaterzuschauer fügen sich in dieses Bild eines weithin bekannten und auch überaus volkstümlichen, aber nicht unumstrittenen Schauspiels: Ludwig Börne stellte fest: »Dieses Schauspiel ist ein Edelstein, nicht unwert, an der Krone des britischen Dichterkönigs zu glänzen«; 46 Fouque war davon überzeugt, daß Kleist bei der von ihm 1822 besuchten Vorstellung in Karlsbad - trotz aller Mängel - »behaglich lächelnd« an seiner Seite gesessen haben würde, wäre er noch am Leben gewesen, 47 Ludwig Robert konstatierte 1824, daß Iffland mit seiner Ablehnung die Schuld an Kleists Tod mittrage, denn: Nach seinem Tode geschähe das, was ihm das Leben retten, und uns einen dramatischen Dichter, wie wir ihn jetzt nicht besitzen, hätte erhalten können. Das Käthchen von Heilbronn ward ein Lieblings-, ja ein Nationalstück, wenigstens des südlichen Deutschlands.48 Hegel zeigte sich in seinen Vorlesungen über die Ästhetik abgestoßen von der unfreien, knechtischen, hündischen Aufopferung der Würdigkeit des Menschen, wie z.B. im Käthchen von Heilbronn.49

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Vgl. [Kleist] (wie Anm. 27), S. 143, zu diesem Öl-Gemälde, das 1826 auf der Münchner Akademie-Ausstellung als sein erstes Werk gezeigt wurde, und vermutlich von einer Wiener Aufführung inspiriert worden ist. Ε. Τ. A. Hoffmann an Hitzig (28. April 1812, in: Sembdner (1996) II, S. 35, Nr. 18); Orzechowski (wie Anm. 26), S. 184ff. Vgl. Karl Friedrich Schinkel: [Bühnenbildentwurf zum Käthchen von Heilbronn], In: ders., Sammlung von Theater-Decorationen. Neue, verb. Aufl. Potsdam 1849, Tafel 11; der in Aquatinta überlieferte Entwurf stammt von Friedrich Christoph Dietrich nach der Schinkelschen Vorlage; vgl. [Kleist] (wie Anm. 27), S. 107, Nr. 248; von Heinrich Anton Dähling ist in der Niedersächsischen Landesgalerie Hannover ein Käthchen von Heilbronn und der Graf Wetter vom Strahl erhalten, dessen tatsächlicher Bezug zu Kleist aber als fragwürdig gilt; vgl. [Kleist] (wie Anm. 27), S. 143; weiterhin sind Stiche verschiedener Künstler erhalten, die allesamt auf Zeichnungen J. H. Rambergs, der in der Nachfolge Hogarths Taschenbücher und Almanache illustrierte, zurückgehen; vgl. [Kleist] (wie Anm. 27), S. 144; Barbara Wilk: Kleist in der Buchillustration. In: Illustration 63. Zeitschrift für Buchillustration. 17 (1980), Η. 1, S. 9ff., hier S. 9; Rudolf Loch: Die Bildkunst zu Kleist. Ein Überblick. In: Kleist-Jahrbuch (1995), S. 121-149, hier S. 124. Ludwig Börne: [Zu Käthchen von Heilbronn], In: Die Wage (1818), H. 4, Oktober (in: Sembdner (1996) II, S. 451f„ hier S. 451, Nr. 514). Fouque in seinen Reise-Erinnerungen. Dresden 1823, S. 223ff. (in: Sembdner (1996) II, S. 456, Nr. 520). Robert (wie Anm. 27). Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik. Berlin, Winter 1828/29 (zitiert nach: ders., Sämtliche Werke. Hrsg. von H. Glockner. Stuttgart 1949-59. Bd. 13, S. 182).

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Heine warb dafür bei Alexandre Dumas, 5 0 Grabbe fand darin »das Rätsel der Liebe, mit sicherer, harter Hand der Welt gezeigt«; 51 Hebbel sprach von der »echtgeborene[n] Tochter der Poesie«; 52 Johannes Brahms konstatierte: »Kleist ist nun ein so großer Liebling von mir wie wenige«, und las Käthchen aus diesem Grund gemeinschaftlich mit Clara Schumann, 53 während Richard Wagner über derselben Lektüre »in Tränen zerflossen« 54 war. Alle diese Zeugnisse ergänzen den Eindruck der durchgängigen Präsenz des Schauspiels und der Selbstverständlichkeit, mit der man in literarisch gebildeten Kreisen mit ihm umging. Beinahe also könnte man angesichts der Vielzahl der Dokumente sogar von einer zumindest zeitweiligen Käthe he n-Mode sprechen, die auf ihrem Scheitelpunkt um die Jahrhundertmitte weite Kreise zog, weil der Stoff und besonders die Titelfigur dem zeitgenössischen Geschmack entgegenzukommen schienen. Solche auf der Schwäche des Publikums für Ritterromantik im allgemeinen und einer geradezu exzessiv naiven Titelfigur im besonderen basierende Volkstümlichkeit mußte am Ende auch die Parodisten und Satiriker herausfordern. Als das vielleicht schlagkräftigste Argument für die wahre Popularität dieses literarischen Werkes entstanden Texte, die seinen Erfolg augenzwinkernd begleiteten und ihn doch für ihr Entstehen benötigten. Die erste dieser Parodien datiert bereits aus den zwanziger Jahren: Karl von Holtei, dessen Frau Luise als erstes Berliner »Käthchen« 1824 auf der Bühne gestanden hatte, ließ seinen Staberl als Robinson. Eine Parodie

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Vgl. den Bericht über das 1837 zwischen A. Dumas und A. Weill geführte Gespräch (in: Karl Emil Franzos: Heine und Kleist. In: Deutsche Dichtung 30 (1901), S. 227f.); Heine an Pierre Martinien Bocage (7. Mai 1834, in: Heinrich Heine: Briefe 1831-1841. Bearb. von Fritz H. Eisner. Berlin; Paris 1970. (Heinrich Heine. Säkularausgabe 21), S. 85, Nr. 488); vgl. Karl Emil Franzos: Ungedruckte Briefe von Heinrich Heine, Nikolaus Lenau, Fritz Reuter und Josef Victor von Scheffel. In: Deutsche Dichtung 11 (1891), S. 28; Alexander Weill: Ein Besuch bei Alexandre Dumas in Frankfurt a. Main. In: Telegraph für Deutschland (1838), Nr. 159, S. 1265-1268, hier S. 1266: »Heine kam vor drei Jahren zu mir und brachte mir eine Übersetzung von Kleist's Käthchen von Heilbronn.« Grabbe an Immermann (19. Februar 1835, in: Sembdner (1996) II, S. 465, Nr. 530a); vgl. Christian Dietrich Grabbe: [Zu Käthchen von Heilbronn]. In: Düsseldorfer Fremdenblatt, 23. März 1836 (zitiert nach: ders., Werke und Briefe. Hrsg. von A. Bergmann. Emsdetten 1966. Bd. 4, S. 204f.). Friedrich Hebbel: Mitteilungen aus meinem Tagebuch [Rom, 21. Februar 1845]: Gedanken beim Wiederlesen des Käthchens von Heilbronn. In: Jahrbücher für dramatische Kunst und Literatur (1848), XI, S. 86ff. Johannes Brahms an Clara Schumann, 26. Februar 1856 (in: Clara Schumann. Johannes Brahms. Briefe aus den Jahren 1853-1896. Im Auftrage von Marie Schumann hrsg. von Berthold Litzmann. 2 Bde. Leipzig 1927. I, S. 178, Nr. 98). Cosima Wagner, Tagebucheintrag vom 15. Februar 1870 (zitiert nach: Sembdner (1996) II, S. 473, Nr. 536a): »Bei Tisch erzählt er, er habe im Käthchen von H. gelesen und sei in Tränen zerflossen [...]. Abends im Käthchen von Heilbronn auch gelesen; wie ich R. sage, wie merkwürdig es sei, daß man am Schluß noch so ergriffen sei, da man alles wisse, so erwidert R., weil hier alles musikalisch ist, es nicht ankommt auf die Überraschung, sondern auf Erfüllung.«

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bereits 1828 erscheinen, 55 Karl Meisls Kathi von Hollabrunn wurde 1831 in Wien gezeigt. 56 Moritz Rapps Wolkenzug erschien 1836, 57 und der bis heute nicht decouvrierte Anonymus, der als »Friedrich Radewell« ein 288-seitiges Buchdrama Tyll Eulenspiegel verfaßte, publizierte es 1840 bei Hoffmann & Campe in Hamburg. 58 Diese Texte setzen die Kenntnis des gängigen Repertoires voraus, aus dem sie gleichsam kumulativ schöpfen, und sie profitieren dabei offenkundig von der bei Kleist zumindest zeitweilig hart an der Grenze zum Trivialen charakterisierten Frauengestalt. So etwa lebt die Robinsonade des »Paraplümachers« Staberl vom Antagonismus des >klassischen< Theaterrepertoires und der ökonomisch ungleich erfolgreicheren >KassenschlagerKlassiker< aus. Er macht sich dabei zunutze, daß Goethes »Gretchen« und Kleists »Käthchen« sich nicht nur reimen, sondern zugleich verwandte Charakterzüge tragen. So läßt er KäthchenGretchen in seiner Parodie gemeinsam mit Faust, Mephisto, Posa und Eulenspiegel auftreten. Letzterem stellt sie liebestrunken nach, wobei die Textvorlagen - Eulenspiegel, Faust I und Käthchen von Heilbronn - gnadenlos vermischt werden. Bereits im Vorspiel. Im Himmel wird »Käthchen« in bekannter Manier eingefühlt: Der Himmel öffnet sich; Käthchen sitzt träumerisch unter einem blühenden Hollunderstrauch, wo der Zeisig sich sein Nest gebaut.60

Nach göttlichem Plan soll sie »Tyll« »als reinste, schönste Jungfrau huld'gen [...] Und dennoch sollen Beide seelenrein/ Und, so es nicht geschieht, verworfen sein.« 61 Schon wenig später kommt es zum näheren Kontakt: 55

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Karl von Holtei: Staberl als Robinson. Eine Parodie. Berlin 1828. In: Monatliche Beiträge zur Geschichte dramatischer Kunst und Literatur. Berlin 1828. Bd. II, S. 42-84. Karl Meisl: Kathi von Hollabrunn [1831]. In: Sembdner (1996) II, S. 463f„ Nr. 528c; vgl. Carl Ludwig Costenoble: Aus dem Burgtheater 1818-1837. Wien 1889. Bd. 2, S. 50 [Tagebucheintrag vom 14. März 1831]. Moritz Rapp: Wolkenzug. Komödie von Jovialis. Stuttgart 1836. In: Atellanen. Hrsg. von Jovialis. Stuttgart; Tübingen 1836, S. 1-141. Friedrich Radewell: Tyll Eulenspiegel. Hamburg 1840. Vgl. Willibald Alexis: [Zu: Holtei, Staberl als Robinson (wie Anm. 55)]. In: Berliner Conversations-Blatt, 17. Oktober 1828; auch: Käthchen von Heilbronn III, 6 und III, 12. Radewell (wie Anm. 58), S. 24; vgl. Käthchen von Heilbronn I, 2 (»[...] und lagerte/ Mich draußen, am zerfallnen Mauerring/ Wo in süßduftenden Holunderbüschen/ Ein Zeisig zwitschernd sich das Nest gebaut«) und IV, 2. Ebda.; das Vorspiel auf dem Theater und der Prolog im Himmel aus Faust I werden bei Radewell zusammengefaßt.

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KÄTHCHEN. D U heißest ja Tyll/ Und nicht Holbein!/ TYLL. D U kleine Fee, sei still!/ Das hast Du doch keinem Andern gesagt?/ KÄTHCHEN. E S hat mich noch Niemand darnach gefragt./ TYLL. Jetzt merk' ich, Du hast mir etwas Bekanntes,/ Ich glaube gar etwas Landesverwandtes!/ Du bist eine Magdeburgerin?/ KÄTHCHEN. D U weißt ja, daß ich aus Heilbronn bin!/ Mein Vater Theobald Friedeborn,/ Der Waffenschmied, wohnet am Markte vorn./ TYLL. Aber Kind, wie bist Du nach Wien gekommen?/ KÄTHCHEN. Ich bin gelaufen, geklettert, geschwommen! Gradaus über Auen, Berge und Flüsse!/ TYLL. Und besiegtest alle diese Hindemisse,/ Um an dem prächtigen Kaiserhofe/ Zu spielen eine prächtige Zofe?/ KÄTHCHEN. Mein hoher Herr, wie verkennest Du mich!/ Ich sah unterweges nur Dich, nur Dich!/ TYLL. Mein Eichkätzchen/ KÄTHCHEN. Ach von da, von da,/ Wo ich dich auf der grünen Wiese sah,/ War alle meine Ruhe dahin!/ Du schwebest mir vor dem inneren Sinn!/ Nicht kehrt' ich heim in des Vaters Haus,/ Es zog mich in die Ferne hinaus,/ Es hieß mich die steilsten Gebirge erklimmen,/ Es hieß mich reißende Ströme durchschwimmen,/ Frug nicht, ob ich klimmen und schwimmen könnte?/ Und es trugen mich gnädig die Elemente!/ TYLL. Und nun, mein reizendes Kammerkätzchen,/ Nun willst Du mich heiern! nicht wahr, mein Schätzchen?62

Der heiratsunwillige Tyll versucht, sich den Nachstellungen Käthchens zu entziehen, aber weder die Angabe, er habe zehn uneheliche Kinder, noch, daß er bereits verheiratet und ein Narr sei, können diese davon abhalten, die auch Mephistos Annäherungsversuchen hartnäckig widersteht (»Mein hoher Herr, ich heiße das Käthchen,/ Bin nur ein schlichtes, einfältiges Mädchen! [...] Wenn Du mich so preisest über die Maßen,/ Werd' ich roth und denk': willst über mich spaßen!«). 63 Der an diesem Text wiederum evident werdende hohe Bekanntheitsgrad des Käthchen von Heilbronn hatte über die Reichsgründung und weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein Bestand. Manifest wird dies an den zahlreichen Aufführungen der Meininger 64 ebenso wie etwa durch die Tatsache, daß es im Jahre 1905 auch zur Eröffnung des »Deutschen Theaters« von Max Reinhardt gegeben wurde. 65 Die ausgeprägte >Klassizität< des Käthchen kam also offenbar den konservativen Repräsentationszwecken des Meininger Ausstattungstheaters ebenso entgegen wie der ambitionierten und auf einen neuartigen Umgang mit den >Klassikern< zielenden Reinhardt-Bühne. Daß das Käthchen je länger je mehr aber dem im pejorativen Sinne bürgerlichen Theater mit seiner Begeisterung für Ausstattungsstücke anheimfiel, belegen schließ-

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Radewell (wie Anm. 58), S. 69f. (»Fünfter Auftritt. Tyll und Käthchen (an Tylls Arme)«); vgl. besonders Käthchen von Heilbronn I, 2 und IV, 2 passim sowie Faust I (»Gretchens Stube«: »Meine Ruh' ist hin,/Mein Herz ist schwer«, V. 3374f.). Radewell (wie Anm. 58), S. 75. Vgl.: 'Das Käthchen von Heilbronn< am Meininger Hoftheater. Ausstellung des KleistArchivs der Stadt Heilbronn gemeinsam mit den Staatlichen Museen Meiningen vom 11. bis 27. Juni 1997 in der Kreissparkasse Heilbronn. Heilbronn 1997. Vgl. Max Reinhardt an Berthold Held (28. Juli 1905, in: Max Reinhardt: Leben für das Theater. Briefe, Reden, Aufsätze, Interviews, Gespräche, Auszüge aus Regiebüchern. Hrsg. von Hugo Fetting. Berlin 1989, S. 106-109); Joseph Grünstein: [Zu Käthchen von Heilbronn, Inszenierung Max Reinhardt, 19. Oktober 1905]. In: Berliner Börsen Zeitung, Nr. 493, 20. Oktober 1905; [Reinhardt] (s. o.), S. 103f.

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lieh Lene Voigts seit 1914 entstandene Säk'sche Glassiger, mit denen sie zeigen wollte, »wie der sächsische Spießer seine >Glassigr< sieht«. 66 Das auf achteinhalb Spalten reduzierte Stück gibt sich in dieser Lesart nur vordergründig harmlos; die Enttarnung der Kunigunde (IV, 4ff.) etwa liest sich zusammengefaßt so: Ä jedr weeß, daß bei ä Brand/ Dr Ruß sich säddsd uff Gobb und Hand./ So warsch nadierlich ooch bei Gädchen,/ Drum gink ins Bad äs gleene Mädchen./ Wie se nu frehlich bläddschemd mandschde/ Un lusdich im Bassäng rumblandschde,/ Da sah se driem an ännr Gwälle/ Ä scheißlich därres Weibsgeschdälle,/ Das rannde ford mid wildm Saddse/ Un hield die Hände vor de Fraddse./ As Gädchen war vor Schrägg gans blaß/ Un dachde: >Nu, war war dänn das?Nein< als Antwort rechtfertigt, muß lauten: Der unbestreitbare Erfolg des Stückes trug nur sehr bedingt zum Gedenken an Kleist bei, weil er in hohem Maße auf Reduktion beruhte. Reduziert (und entstellt) wurde der Text, der auf der Bühne nur in seinen Bearbeitungen präsentiert wurde, und reduziert wurde auch der Autor, den man so zum romantischen Ritterstück-Verfasser erklären konnte. Für den Erfolg des Schauspiels war Kleist also gewissermaßen nicht vonnöten, weil es dem Publikum auf das >Romantische< des Stückes und nicht auf die Authentizität des Textes ankam; daraus mag sich die von der Wirkungsgeschichte seiner anderen Werke weitgehend abgekoppelte Erfolgsgeschichte des Käthchen von Heilbronn zumindest partiell erklären und so auch als das Resultat eines gewaltigen Mißverständnisses deuten lassen.

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Lene Voigt: Säk'sche Glassiger [gesammelt zuerst: 1925]. Reinbek 1995; vgl. das Vorwort; Max Hermann-Neisse: Die bürgerliche Literaturgeschichte und das Proletariat. Berlin-Wilmersdorf 1922. (Der rote Hahn 55.56), S. 19: »Und was geben die Volksbühnen schließlich? Klassikervorstellungen, die die reaktionärsten Ritterschmarren unserer sogenannten Klassiker, nicht mal ihre pseudofreiheitlichen Aufbegehrstücke, hervorkramen: den Götz von Berlichingen, Das Kätchen von Heilbronn [...].« Voigt (wie Anm. 66), S. 54f. Sembdner (wie Anm. 1), S. 294.

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2.

Der >patriotische< Kleist - Zur Genese der >preußischen< Literaturgeschichte

Als im März 1841 ranghohe preußische Zelebritäten aus Militär und Politik sich bei einem »Erinnerungsfest der kurmärkischen Landwehr« zum gemeinsamen Rückblick auf vergangene Zeiten trafen, war unter den Teilnehmern auch Hermann von Boyen, der einstige Generalstabschef Bülows und Preußische Kriegsminister der Jahre 1814 bis 1819. Ihn angemessen zu beschreiben, besann sich der Verfasser des Artikels in der Allgemeinen Zeitung auf ein literarisches Vorbild: Ganz in anderer Weise zog Boyens graues, würdiges Haupt Blicke und Herzen zu sich hin. Wenn sich je in einer Physiognomie der Charakter ausgedrückt hat, so ist es in dieser; die märkische Tüchtigkeit, Redlichkeit und Gutmüthigkeit ohne Schwäche liest man in jedem Zuge. Die Zeilen, welche Heinrich v. Kleist im Prinzen von Hessen-Homburg dem großen Kurfürsten in den Mund legt, als er sein Vertrauen, selbst bei dem Anschein einer bedrohlichen Unruhe ausspricht: »Doch da's Hanns Kottwitz aus der Priegnitz ist« — (so ist keine Gefahr zu fürchten) - diese Zeilen dürften zur Unterschrift eines Bildnisses des ergrauten Helden dienen. 69

Mit diesem Vergleich hoffte der Autor sichtlich, den >richtigen< Ton zu treffen, die Charakteristika des Beschriebenen stimmig auszudrücken und damit zugleich bei seinen Lesern den Eindruck zu erwecken, daß die von Kleist beschriebenen brandenburgisch-preußischen Tugenden auch in Wirklichkeit und eindrucksvoller Verkörperung existierten. Ist solche Reminiszenz an den Dichter zu diesem Zeitpunkt eher zufällig und zu verdanken allein der literarischen Bildung eines Journalisten oder zeichnet sich hier eine Lesart Kleists ab, nach der dieser wichtige Identifikationsmuster für einen ganzen Landstrich literarisch formuliert und so auch zu außerliterarischem Gebrauch bereitgestellt hatte? Im Wissen um die ideologische Inanspruchnahme Kleists seit der Reichsgründung, während des Ersten Weltkrieges wie in der Folgezeit, ist man versucht, schon hier den zum Repräsentanten monarchischer und (preußisch-deutscher) nationalistischer Ziele funktionalisierten Kleist erkennen zu wollen. Ähnliches gilt, wenn - wie schon bei Eduard von Bülow - die Rede ist von Kleist als dem »vaterländischsten deutschen Dichter«.70 Und doch gibt es offenkundige qua-

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Erinnerungsfest der kurmärkischen Landwehr. In: Allgemeine Zeitung 18. März 1841, I, S. 663; vgl. Kleists Vorlage (V/2: Der Kurfürst: »Doch weil's Hans Kottwitz aus der Priegnitz ist,/ Der sich mir naht, willkürlich, eigenmächtig,/ So will ich mich auf märksche Weise fassen«). Eduard von Bülow: Ueber Heinrich von Kleist's Leben. In: Monatsblätter zur Ergänzung der Allgemeinen Zeitung, November 1846, S. 512-530, hier S. 512; vgl. Wilhelm Ernst Weber: Heinrich von Kleist. In: ders., Kleine Schwärmer. Frankfurt 1826, S. 28f.: »Heinrich von Kleist./ Deine gigantische Kraft, dein genialisches Feuer/ Haben zur Klassizität Ruh' nur entbehret und Maß./ Wer mit zerrissener Seel' und mit ziellos schwankendem Geiste/ Nahet der Musen Altar, halb nur erhören sie den./ Aber ein Denkmal ist dein Prinz von Homburg der edlen/ Vaterländischen Glut, die dich unsterblich hält.«

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litative Unterschiede zwischen der Zeit, in der die >Nationalliteratur< gleichsam unschuldig ihr Dasein neben der Politik fristete, eine Nation eher herbeischreibend als sie tatsächlich erwartend, und jener, in der die Nation sich dann konstituierte, sich darauf besann, wie dieses weltanschaulich am besten zu untermauern sei, und dabei auf die Vorgaben der >Nationalliteratur< zurückgriff. Daher ist gerade für die Zeit vor der Reichsgründung zu fragen, wann diese Vermischung beider Sphären einsetzte, durch wen und wodurch sie befördert wurde. Denn daß die auf wenige und zugleich verfälschende Aussagen reduzierte nationalistische Deutung Kleists, die immer wieder und geradezu exemplarisch an seinem Schauspiel Prinz Friedrich von Homburg erprobt wurde, keineswegs selbstverständlich war, zeigen die zahlreichen Äußerungen von Literaten, Literaturhistorikern und Feuilletonisten über das Stück seit den 1820er Jahren;71 um die Mondsüchtigkeit 72 oder die Vermischung von Traum und Wirklichkeit des Prinzen ging es dabei, um Charakterstärke, soldatische Tugenden und menschliche Schwächen und darum, daß das Werk der eigentliche Höhepunkt in Kleists Schaffen sei, den es zudem auch chronologisch betrachtet repräsentiere.73

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Vgl. Ludwig Robert: [Zu Prinz Friedrich von Homburg], In: Morgenblatt, 29.-31. Januar 1823 (s. Sembdner (1996) II, S. 492ff„ Nr. 554b); Heinrich Heine: Reisebilder zweiter Teil. Hamburg 1827 (s. Sembdner (1996) II, S. 495, Nr. 555); Willibald Alexis: Ein Urteil zwischen Wachen und Traum. In: Berliner Conversations-Blatt, 17. Oktober 1828; R. R Gillies: [Zu Prinz Friedrich von Homburg], In: The Foreign Quarterly Review, Juni 1828 (s. Sembdner (1996) II, S. 503, Nr. 561); Johann Ludvig Heiberg: [Zu Prinz Friedrich von Homburg], In: Kj0benhavns flyvende Post, 4. Juli 1828 (s. Sembdner (1996) II, S. 503f„ Nr. 561a); Friedrich Baron de la Motte-Fouque: Aus dreier Fürsten Lebenslauf. In: Berliner Blätter für deutsche Frauen 11 (1830), H. 4 (Februar), S. 157; Friedrich Hebbel: Über Theodor Körner und Heinrich von Kleist. Dem Hamburger »Wissenschaftlichen Verein« vorgelegt am 28. Juli 1835 (s. Sembdner (1996) II, S. 261f., Nr. 294); Felix Bamberg: [Zu Prinz Friedrich von Homburg], In: Jahrbuch für dramatische Kunst und Literatur (1848), S. 310-331; Albert Dulk: Ein dramatisches Charakterbild der deutschen Nation. In: Morgenblatt, 7. und 14. Mai 1861, S. 470; Albert Dulk: Dramaturgische Studie über Kleists >Prinz Friedrich von HomburgWerbung< u m das preußische Herrscherhaus, die die Idee >Preußen< öffentlich vertrat: Preußen als geistige Lebensform entstand so wesentlich in den Jahren zwischen 1840 und 1870. Diesem Werben gaben die Hohenzollern im Zuge ihrer Selbstverständigung als Herrscher bereitwillig nach. Da diese insbesondere darauf beruhte, Preußen in stetig wachsendem Maße zu glorifizieren, entstand zudem das ausgeprägte Bedürfnis, neben den militärisch-organisatorischen auch dessen (bis dahin kaum wahrgenommene und augenscheinlich eher periphere) kulturelle Leistungen zu betonen. Im Kontext der Entstehung dieser auf alle Lebensbereiche übergreifenden preußischen Ideologie steht auch die zunehmende Inanspruchnahme Kleists für diesen Zweck, die so rasch und gewissermaßen parallel zum preußischen Aufstieg in Deutschland zu einem Bestandteil dieser Ideologie wurde. Daran hatten Wissenschaft wie Publizistik teil, die sich der Möglichkeiten ihrer Einflußnahme ebenso stetig bewußter wurden. Zwei Beispiele mögen dies belegen: die seit den späten zwanziger Jahren entstehenden Vorarbeiten zu einer preußisch geprägten »National-Litteratur« von August Koberstein und die ausgeprägte Kleist-Verehrung der Ikone der preußischen Historiographie schlechthin, Heinrich von Treitschke, der die politischen Schriften Kleists ebenso hoffähig im wahrsten Sinne des Wortes machte wie deren nationale Auslegung. August Koberstein, ein Germanist, der an der Landesschule in Pforta als Pädagoge lange Jahre tätig war und von dort engen Kontakt hielt zu den führenden Vertretern der sich institutionalisierenden Germanistik (Lachmann, Jacob und Wilhelm Grimm), trug durch seine Arbeiten wesentlich dazu bei, die Literaturgeschichte von der Philologie zu trennen und zu emanzipieren. Seit den späten zwanziger Jahren hatte dieser in seinem Grundriß zur Geschichte der deutschen National-Litteratur zum Gebrauch auf gelehrten Schulen ein vielfach aufgelegtes Standardwerk geschaffen, das sich mit der Zeit über den eigentlichen Zweck hinaus zum germanistischen Kompendium entwickelte und als Prototyp einer Literaturgeschichte gelten kann, »die ihr Material um eine historische Idee zu gruppieren« sucht. 90 Bereits bei seinem ersten Erscheinen wurde darin auf den letzten Seiten der Darstellung Kleists »großartiges Dichtertalent« erwähnt, das »hier am Schlüsse des Ganzen noch besonders hervorgehoben werden möge.« 9 1 Zugleich definierte Koberstein dort den zur bürgerlichen Allgemeinbildung notwendigen Kernbestand an Kleist-Wissen:

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Vgl. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Zweiter Band: Von der Reformära bis zur industriellen und politischen >Deutschen DoppelrevolutionHerold der Reichsgründungc Heinrich von Treitschke 9 9 Dieser hatte selbst bereits 1858 einen Kleist-Aufsatz in den Preußischen Jahrbüchern veröffentlicht und so als ein Quereinsteiger gleichsam das Bild

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Vgl. Album des Literarischen Vereins in Naumburg a.d. Saale zur Feier seines fünfzigjährigen Bestehens. Naumburg 1871, S. 62, 66; sowie Koberstein (wie Anm. 93), S. 2 4 9 271. Album (wie Anm. 95), S. 30ff. Ebda. Heinrich von Kleist. Briefe an seine Schwester Ulrike. Hrsg. von Dr. A. Koberstein. Berlin 1860. Vgl. dessen Rezension zu Heinrich von Kleist. Briefe (wie Anm. 98) im Literarischen Centralblatt vom 26. Januar 1860 und zu Heinrich von Kleist's Politische Schriften und andere Nachträge zu seinen Werken. Mit einer Einleitung zum ersten Mal herausgegeben von Rudolf Köpke. Berlin 1862 (Literarisches Centralblatt, 19. Mai 1862).

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von Kleist entscheidend mitgeprägt.100 Ein ganz bestimmtes Bild allerdings, das sich früh schon in einem Brief an den Vater andeutete. »Oft und mit großer Freude« lese er in den Schriften Kleists, so teilte er darin mit, und dies, obwohl er sich eines zwiespältigen Eindrucks nicht erwehren könne, weil einerseits »der Reichtum und die Gestaltungskraft seiner Phantasie [...] größer als die Schillers« sei, andererseits aber »plötzlich« eine »Neigung zum Gräßlichen oder zum Somnambulen oder sonst eine häßliche Schrulle« über ihn komme. 101 Dennoch aber galt, und dies war die wohl ausschlaggebende Lesefrucht: Einen feurigeren Patrioten hat Deutschland nie gehabt: das ist ein glühender Haß gegen die fremden Eroberer, wie er nur unter einer andern Sonne erstarken kann. - Und dieser große Mensch mußte sterben bevor er die Stunde der Befreiung sah, eines wahnwitzigen verbrecherischen Todes sterben. Es ist grauenhaft, wie nahe das Edle und das Niedrige grade in den besten Köpfen beieinander liegen. 102

»[E]in Wort für diesen seltnen Menschen zu sprechen, den seine Nation so wenig ehrt«,103 Kleist in sein Recht zu setzen, trat nun Treitschke an, von ehrlicher Begeisterung getragen. Und schon er verwendet die fürderhin so vertraut werdenden Topoi: von der »einsame[n] Gestalt« ist die Rede, vom »rast- und freudlose[n] Umherirren« und von dem »Unstern, der bei Lebzeiten des Dichters über seinen Schriften waltete«.104 Doch nicht allein um den Lobpreis der dichterischen Qualitäten Kleists ging es hier. In diesem Aufsatz deutete sich das an, was später die bürgerlich-nationalistische und danach die faschistische Kleist-Auslegung werden sollte, die viele ihrer chauvinistischen und antisemitischen, politischen und historiographischen Einsichten - ohne daß Treitschke ihre Ziele mitgetragen hätte - bei diesem entlehnten.105 Hierzu zählt der Lobpreis der Hermannsschlacht als »ein Werk für ernste, gereifte Männer« 106 und vor allem der des Prinz Friedrich von Homburg »als ide-

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Vgl. Heinrich von Treitschke: Heinrich von Kleist. In: Preußische Jahrbücher 2 (1858), H. 6, S. 599-623; vgl. Rudolf Haym an Treitschke (23. Dezember 1858, in: Sembdner (1996) II, S. 286, Nr. 323); Treitschke an Haym (30. April 1863, in: Heinrich von Treitschke. Briefe. Hrsg. von Max Cornicelius. Leipzig 1913. Bd. 2, S. 258); Treitschke an Gustava von Haselberg (29. lanuar 1859, in: Sembdner (1996) II, S. 288, Nr. 325), an seine Frau (12. September 1869, ebda., S. 288, Nr. 326) sowie zu den Fassungen des Essays: Klaus Kanzog: Heinrich von Treitschkes >PenthesileaKulturgeschichtsschreibungc Georg Iggers: Heinrich von Treitschke. In: Deutsche Historiker. Hrsg. von HansUlrich Wehler. Göttingen 1971, S. 66-80 passim. Vgl. Iggers (wie Anm. 104), S, 67. Treitschke (wie Anm. 100), S. 616.

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alste Verherrlichung des deutschen Soldatenthums« 107 ebenso wie die grundsätzliche Einschätzung, daß allein in Deutschland und zwar aufgrund seiner spezifischen Geschichte und der Schwierigkeiten, zu einer Nation zusammenzuwachsen, eine Verbindung von Literatur und Politik sich über die »Grenzgebiete [...] der Poesie« herauszuheben vermag. 108 Wie sehr er mit dieser Position Schule machte, belegten sogar noch seine politischen Gegner: Franz Mehring wies 1911, Treitschke in gewisser Hinsicht beipflichtend, darauf hin, daß dieser völlig zurecht behauptet habe, daß »Kleist sein Lebtag ein preußischer Offizier alter Schule geblieben sei.« 109 Und so könnte man - mit einigen Vorbehalten - durchaus Heinrich von Treitschke als einen der maßgeblichen >Entdecker< Kleists titulieren, eingeschränkt allerdings auf den vornehmlich politisch-nationalistischen Bereich. Denn hier zählte er zu den allerersten, die den Dichter für diese Zwecke ausdrücklich und vornehmlich in Anspruch nahmen, indem er den Umgang mit Kleists politischen Schriften befürwortete und seine Leistungen gerade auf diesem Sektor hervorhob. 110 Damit konstruierte er offen einen zuvor latent vorhandenen und für die weitere Wirkungsgeschichte Kleists prägenden Gegensatz: indem er Kleist ganz bestimmten politischen Koordinaten zuordnete, bestritt er dessen alleinige Zugehörigkeit zur Sphäre der Literatur und Kunst und erinnerte damit auch an das weitgehend vergessene und dezidiert politische Denken Kleists. Er entdeckte also, daß keineswegs der »kleine Kreis aufrichtiger Bewunderer« 111 - bestehend vorwiegend aus Literaten - allein Ansprüche auf Kleist anzumelden das Recht hatte, sondern nahm dieses Recht für sich (und so stellvertretend für die Nation) nun in einem ganz anderen, außerliterarischen Kontext in Anspruch - einem Kontext, dem Kleist selbst sich durch sein entsprechendes politisches Engagement zugeordnet hatte, der aber gerade von den Literaten unter seinen Verehrern und getreu der aus der Weimarer Klassik stammenden Forderung nach einer absoluten Kunst heftig negiert wurde. Auf dieses sehr grundsätzliche und unterschwellig vorhandene Problem im Umgang mit Kleist hatte Felix Bamberg bereits 1848 hingewiesen: Wenn die hohen Ansprüche der deutschen Kritik an sich schon geeignet sind, Kleist zurückzusetzen, so gibt seine Eigentümlichkeit dazu noch viel größere Veranlassung, denn Kleist ist nicht allein kein Prometheus- und Faust-Schöpfer, sondern auch ein echt nationaler Dichter, und, so paradox dies auch klingen mag, es ist doch wahr, daß, so sehr dies bei anderen Nationen ein Titel zum höchsten Ruhme ist, die deutsche Kritik im Gegenteil den

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Ebda., S. 619. Ebda., S. 607f. Franz Mehring: [Zu Kleists 100. Todestag], In: Die Neue Zeit, 17. November 1911. Vgl. G. Häbler: Heinrich von Kleist. Ein Protest. In: Leipziger Zeitung 1862, Nr. 17, 27. Februar, S. 81ff., Nr. 18, 2. März, S. 85ff., Nr. 19, 6. März, S. 89f., Nr. 20, 9. März, S. 93ff.; Roderich Warkentin: Heinrich von Kleist in seinen Briefen. Ein Vortrag. Heidelberg 1900, S. 13, der die »zwar gerechte, aber einseitige Anerkennung des Patrioten auf Kosten des Dichters Kleist« bemängelte. Treitschke (wie Anm. 100), S. 623; vgl. Harry Maync: Treitschke als Literarhistoriker. In: Die Gegenwart 56 (1899), Nr. 36, S. 170; Th. Ebbinghaus: Heinrich von Treitschke und die deutsche Literatur. In: Preußische Jahrbücher 165 (1916), S. 74-83, hier S. 83; zu den Kontakten zu Julian Schmidt vgl. Kanzog (wie Anm. 100), S. 66.

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vorzugsweise nationalen Dichter von vorneherein für eine sekundäre Erscheinung hält. Da nun im Prinzen von Homburg noch obendrein eine lokale Farbe die Dimensionen des Bildes zu verengern scheint, so hat das Urteil sich vollends danach gerichtet. 112

Darin bestünde dann allerdings die eigentliche Entdeckung: daß ein Dichter sich aus seinem ursprünglichen Kontext lösen läßt, und daß es hierdurch möglich wird, ihn in (beinahe) beliebige andere Kontexte einzubinden. Koberstein wie Treitschke dachten so vor, was in der immer stärker weltanschaulich aufgeheizten Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zu einer publizistischen Waffe werden sollte. Beide entdeckten den zuvor wenig bekannten politischen Kleist. Hieraus resultierten signifikante Umdeutungen des Dichters, die zugleich ein hochbrisantes Konfliktpotential in sich bargen. Denn daß die »Bewunderer« Kleists aus dem Lager der Schriftsteller es nicht tatenlos hinnahmen, daß einer der Ihren zum Politiker-Dichter und allenfalls zum Propheten der Nation erklärt wurde - schon, weil sie für sich eine gewissermaßen exklusive poetische Lesart seiner Werke beanspruchten - wird so als Reaktion auf (und Kompensation für) die Entdeckung Kleists durch die Nation nachvollziehbar: mit einiger Verzögerung gingen die Literaten nun daran, Kleist aus ihrer Sicht zu entdecken.

3.

Der vergessene Dramatiker und Erzähler

Vorangestellt sei: bei der weit verbreiteten Vorstellung, Heinrich von Kleists Werke seien zwischenzeitlich gänzlich vergessen oder ohne jegliche Resonanz gewesen, handelt es sich um eine literarisch-publizistische Fiktion. Stets gab es einen, wenn auch zeitweilig recht kleinen Personenkreis, der das Gedenken an ihn aufrechterhalten hat. Die Rede muß daher hier viel eher vom Umfang dieses Gedenkens sein, von der häufig kaum konkret zu ermessenden und so mitunter auch nur mutmaßlichen Präsenz des Dichters im kollektiven Gedächtnis der deutschsprachigen Kulturinstitutionen und des Publikums. Aus dieser Sicht nun spiegeln große Abschnitte seiner Wirkungsgeschichte eine recht umfassende Amnesie, die besonders um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts gekennzeichnet ist durch große Rezeptionslükken, durch >Leerstellen< gerade in den Bereichen, die im Gegensatz dazu heute als die zentralen Aspekte seines Werkes verstanden werden. Enge Grenzen waren dem Gedenken wie der Rezeption unmittelbar nach Kleists Tod allerdings schon dadurch gesteckt gewesen, daß seine Schriften nicht in einer Gesamtausgabe zugänglich waren. Ein Umstand, dem erst durch die Bemühungen Ludwig Tiecks abgeholfen wurde, der 1821 die Hinterlassenen Schriften edierte und darin ζ. B. erstmals Prinz Friedrich von Homburg einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machte.113 Ähnlich verzögert hatte man auch Kenntnis vom Schau-

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Bamberg (wie Anm. 71). Vgl. Klaus Kanzog: Edition und Engagement. 150 Jahre Editionsgeschichte der Werke und Briefe Heinrich von Kleists. Berlin; New York 1979 (vor allem das Kapitel: Kleist in der literarischen Öffentlichkeit der Jahre 1811 bis 1821).

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spiel Die Hermannsschlacht bekommen. Zwar waren einige Passagen bereits 1818 erschienen, das Gesamtwerk jedoch wurde erst von Tieck herausgegeben. 114 Das ausgeprägte wie freundschaftlich-wohlwollende Engagement Tiecks für Kleist - wie auch das Fouques oder Roberts - vermag jedoch nicht darüber hinwegzutäuschen, daß die fehlende Unmittelbarkeit der lange nach Kleists Tod erscheinenden Publikationen das eigentliche Rezeptionshindernis darstellte. Schon früh umgab diese Werkausgaben dementsprechend die Aura, eher für wenige Eingeweihte denn für ein großes Publikum bestimmt zu sein. Zumal insbesondere das Schauspiel Prinz Friedrich von Homburg am Ort seiner eigentlichen Wirkungsmöglichkeit - dem Theater - wegen des zumindest in Preußen lang andauernden Aufführungsverbotes zunächst nur geringe Präsenz erlangen konnte. Erst seit dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms IV., der dem Stück geradezu offizielle Weihen verlieh, normalisierte sich dieser Zustand; immer stärker zum Inbegriff des Preußentums stilisiert, wurde es nun zum Repertoirestück. Allerdings war selbst jetzt eine weitgehend unvoreingenommene Wahrnehmung unmöglich: noch in seiner vielgelesenen Kleist-Biographie von 1863 referierte Adolf Wilbrandt zustimmend die verbreitete Position, daß die sog. >Todesfurchtszene< (111,5) zurecht »die Aufführung seines Stücks so lange vereitelt« habe.115 Diese häufiger vorgetragene Anschauung verweist auf eine weitere, sehr grundsätzliche Schwierigkeit im Umgang mit Kleist: kaum je ist es im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts seinen Lesern möglich, seine Werke so zu akzeptieren wie sie nun einmal sind. Ihre immer wieder konstatierte >SperrigkeitRezeptionslükken< der Jahre um die Jahrhundertmitte sein: unbefangen konnte man sich seinen Arbeiten offenbar nicht nähern, verstellt war dieser Zugang vor allem durch die anhaltende Fixierung auf die Umstände seines Todes. Erschwert war der Zugang aber auch durch vielerlei Anstößiges in seinem Werk, das dem beinahe ausschließlich an der Klassik orientierten Publikum durch die Wahl der Stoffe, deren Bearbeitung wie deren Stil größte Schwierigkeiten bereitete. Ausgeschlossen von einer breiteren Wirkungsgeschichte blieben so weiterhin Die Hermannsschlacht, die erstmals 1860 in Breslau und selbst danach zunächst nur vereinzelt auf den Bühnen in Erscheinung trat,116 vor allem aber Amphitryon und Penthesilea. Beide Stücke wurden von verschiedenen literarischen >Autoritäten< immer wieder offen abgelehnt, und dies mit einer kaum zu unterschätzenden Wirksamkeit. Denn diese, in den Editionen selbst und vor allem in den viel verwendeten Litera-

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Vgl. Johann Baptist Pfeilschiffer: Marbod und Herrmann. Eine Scene aus der Herrmannsschlacht, eine Reliquie von Heinrich von Kleist. In: Zeitschwingen, 22. April 1818 (in: Sembdner (1996) II, S. 141f„ Nr. 149), der das Stück für »[e]ine der herrlichsten Reliquien« aus dem Nachlaß hielt. Adolf Wilbrandt: Heinrich von Kleist. Nördlingen 1863, S. 376. Vgl. Hans Joachim Kreutzer: Die Utopie vom Vaterland. Kleists politische Dramen. In: Oxford German Studies 20/21 (1991/92), S. 69-84, hier S. 73.

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turgeschichten ausgesprochenen, mitunter nicht einmal unbegründeten Urteile, konnten an solchen >Gelenkstellen< der Literaturverbreitung Vorverurteilungen gleichkommen, die sich gleichfalls rezeptionshinderlich auswirkten. 117 Hatte schon Tieck in seiner Vorrede zu den Hinterlassenen Schriften Amphitryon als eine »Verirrung« und ein »Mißverständnis« bezeichnet, 118 so schlossen sich die nachfolgenden Kritiker diesem Urteil ohne Umschweife an. Empfand etwa Häbler die Wahl des Stoffes als letztlich unglücklich, wenn auch Kleist nicht anzulasten, so daß er ausdrücklich dazu riet: »Die Aufführung freilich möchte dennoch kaum zu wagen sein,« 119 so verteidigte Julian Schmidt noch 1876 diese Position: Das einzige von Kleists Stücken, das von der Aufführung ausgeschlossen bleiben muß, ist der Amphitryon, trotz einzelner brillanter Stellen; hier ist er durch zu großen Scharfsinn in der Hauptszene ins Abgeschmackte verfallen. 120

Prolongiert wurde so die Schattenexistenz dieses Stückes als >BuchOpfer< der Opposition zweier konkurrierender literarischer Richtungen wurde, zwischen denen er zu Lebzeiten eine durchaus eigenständige Position zu behaupten versucht hatte. Durch diese sehr komplizierten Umstände fiel für die Werke Kleists ein zentrales Wirkungsmedium über lange Jahre faktisch aus: auf dem Theater, dem Ort, wo das >große< Publikum Kenntnis von >seinen< Dramatikern erhielt, war er allein mit dem, für ihn nicht einmal besonders typischen, dafür aber stets umso stärker bearbeiteten und so verzerrten Werk Käthchen von Heilbronn präsent. Kleist gehörte somit nicht nur zu Lebzeiten zu den »Dramatikern ohne Bühne« - lediglich drei seiner

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Vgl. Xavier Marmier: [Zu Penthesilea], In: Nouvelle Revue Germanique, Juni 1833 (in: Sembdner (1996) II, S. 543, Nr. 604), der Kleist darin den wahrhaft dramatischen Sinn absprach; Wilbrandt (wie Anm. 115) sah das Stück als zurecht von der Bühne verbannt und Häbler (wie Anm. 110) störte sich geradezu exemplarisch an der »Scheußlichkeit der Weise, wie Penthesilea mit ihren Hunden zusammen den Achill zerreißt.« In: Heinrich von Kleists hinterlassene Schriften, hrsg. von Ludwig Tieck. Berlin 1821, S. 43f. Häbler (wie Anm. HO). Julian Schmidt: Heinrich von Kleist. In: Preußische Jahrbücher 37 (1876), S. 593-607. (in: Sembdner (1996) II, S. 566, Nr. 637). Vgl. Wolfgang Witkowski: Heinrich von Kleists >Amphitryonpreußischen< Literatur, soll heißen: zur Literatur von Preußen über Preußen im allerweitesten Sinne, beigetragen hatte, sicherte ihr einen Ehrenplatz in d i e s e m Entwurf, fand sich hier der Aufstieg der geistigen L e b e n s f o r m >Preußen< d o c h in nuce abgebildet, zumal v o n einer Offiziersfamilie, die den eben auch aus militärischen Erfolgen resultierenden Machtzuwachs maßgeblich mit herbeigeführt hatte: 11 Ewald v o n Kleist hatte durch seine schwere Verwundung in der Schlacht v o n Kunersdorf die spezifisch preußische Ethik v o m Gehorsam des Soldaten bis in den Tod hinein geradezu e x e m p l a risch vorgeführt, 1 2 der literarisch ambitionierte Franz Alexander - G l e i m s »Theurer Zweiter Kleist« 1 3 - diente in seiner Militärzeit w i e als Legationsrat gleichfalls aktiv den preußischen Belangen, und Heinrich schließlich hatte sich, o b w o h l er recht früh schon v o m aktiven Soldatentum demissionierte, in späteren Jahren immer stärker auf die publizistische Kriegsführung verlegt, w a s sich durchaus als K o m p e n s a t i o n verstehen ließ - solche familiäre >Dreiheit< v o n Preußentum und Literatur konnte dieser Argumentationsweise also durchaus nützlich sein. 1 4

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1883, S. 691) [Über Prinz Friedrich von Homburg und Die Hermannsschlacht]: »Seit den Grenadierliedern und seit der Minna von Barnhelm hatte das Preußentum in der deutschen Poesie keine solche Verherrlichung erfahren«; vgl. Bab (wie Anm. 5), S. 54f.; Ernst Chmiel: Kriegsgeschichte, Kriegsdichtung und nationale Bildung. In: Pharus. Katholische Monatsschrift für Orientierung in der gesamten Pädagogik 6 (1915), I, S. 38-58, hier S. 54, sowie Max Fischer: Heinrich von Kleist. Der Dichter des Preußentums. Stuttgart; Berlin 1916, S. 12ff. Vgl. schon Varnhagen (Tagebucheintrag vom 28. September 1844; in: ders., Tagebücher. Leipzig; Hamburg 1861/1870. Bd. 2, S. 373): »Die Genies, die aus preußischen Offizieren hervorgehen, haben einen eigentümlichen Charakter, in welchem sich Strenge und Bitterkeit, Mut und Scherzlaune vereinigen, so Heinrich von Kleist, Heinrich von Bülow, Gaudy, Chamisso, und jetzt auch Sallet; in früherer Zeit auch Fouque, doch dieser am wenigsten.« Vgl. auch Peguilhen an Hardenberg (3. Dezember 1811, zitiert nach: Sembdner (1996) I, S. 482, Nr. 542) zum »ruhmwürdigeren Tode des Ewald v. Kleist bei Kunersdorf.« Vgl. Gleim an Franz Alexander von Kleist (30. Januar 1790, zitiert nach: Helmuth Rogge: Heinrich von Kleists letzte Leiden. In: Schriften der Kleist-Gesellschaft 2 (1922), S. 3 1 64, hier S. 51f.); Anke Tanzer: Zwei Kleiste auf Reisen. Heinrich von Kleists Reise nach Würzburg und Franz Alexander von Kleists Reise nach Prag im Kontext der literarischen Reisebeschreibung um 1800. In: Kleist-Jahrbuch (1997), S. 149-163, hier S. 150f. Schon Friedrich Baron de la Motte-Fouque: Die drei Kleiste. In: Zeitung für die elegante Welt, Nr. 245-253, 20.-28. Dezember 1821, überhöht diese Konstellation; vgl. auch dessen Brief an Hitzig vom 28. November 1811 (zitiert nach: Sembdner (1996) II, S. 78f., Nr. 55b): »Seltsam ist es doch mit den drei Dichtern aus dem Kleist'schen Hause. Alle so früh im Grabe, und Jeder gewissermaßen durch die Todesart sein Zeitalter ausdrückend. Der erste gefallen im glorreichsten Preußischen Kriege, fromm und pflichtgetreu bis auf das Letzte, der zweite in wüster Ausschweifung untergegangen noch vor dem Sterben, der dritte in philosophischer Kraft, mit edler Besonnenheit, verirrt hinabgestiegen, einer der herrlichsten Selbstmörder, die es je gegeben hat« (zitiert nach Rogge (wie Anm. 13), S. 51f.).

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Insbesondere Heinrich jedoch schien den entschlossenen Verfechtern der preußischen Sache argumentative Schützenhilfe zu geben. Seine hauptsächlich als Verherrlichung Preußens (oder aber der deutschen Nation) ausgelegten Werke - Prinz Friedrich von Homburg, Die Hermannsschlacht, der Katechismus der Deutschen, sein Gedicht An die Königin Louise von Preussen und die Ode Germania an ihre Kinder - umrahmten den objektiven Zugewinn an politischer Macht literarisch. Nicht zuletzt auch, weil sie wegen der langjährigen vergleichsweise geringen Popularität des Dichters - anders etwa als die Körners oder Arndts - unverbraucht waren und sich so zu identifikationsstiftenden Maßnahmen besonders eigneten. Wie sehr die preußische Lesart Kleists die Wahrnehmung prägen und leiten konnte, zeigt Max Fischers Deutung, der einigermaßen ratlos feststellen mußte, daß in den ersten Werken des großen Preußendichters stofflich nicht das mindeste, was darauf deuten könnte, daß der scheinbar Entwurzelte seine stärkste Kraft aus der märkischen Erde sog, enthalten ist; jedoch vermochte er diesen für ihn nur scheinbaren Widerspruch durch einen Appell an den sensiblen Leser aufzulösen: nur feineres Eindringen spürt auch in der herben Straffheit der frühen Werke etwas von preußischer Prägung.15 Welch allumfassenden Anspruch diese Lesart auch im repräsentativen Kontext für sich geltend machte, zeigte sich im Rahmen einer Feierstunde zum Gedenken an Friedrich Wilhelm III., in der Erich Schmidt ex officio 1910 Kleist in einer Rede über Berliner Poesie vor hundert Jahren zu »Preußens größte[m] Dichter« erklärte. 16 Doch war dies kein Einzelfall: Ernst Elster etwa zeigte sich in seiner Marburger Rektoratsrede Deutschtum und Dichtung fasziniert von der preußischen >Mission< in Deutschland und der Welt, wobei er dem Dichter bescheinigte, »als erster in deutscher Dichtung den preußischen Staatsgedanken« formuliert zu haben, der im Kurfürsten in »weltgeschichtlicher Größe« verkörpert sei. 17 Der Breslauer Literarhistoriker Max Koch schließlich schrieb schon 1902 über Prinz Friedrich von Homburg:

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Fischer (wie Anm. 10), S. 16. Die anläßlich der »Gedächtnisfeier des Stifters der Berliner Universität König Friedrich Wilhelms III.« am 3. August 1910 gehaltene Rede (Berlin 1910) gab Schmidt u. a. Raum, über Kleists »in Ernst und Humor echt märkisches [...] Gipfelwerk« Prinz Friedrich von Homburg zu sprechen (S. 3; vgl. ebda., S. 5f.); zur Atmosphäre der Veranstaltung hielt Gerhart Hauptmann fest: »Sie repräsentieren wie ein Fürst hatte bei Gelegenheit des Universitäts-Jubiläums der Kaiser zu Erich Schmidt gesagt« (Tagebucheintrag vom 20. September 1913, in: Gerhart Hauptmann: Tagebücher. 1906 bis 1913. Nach Vorarbeiten von Martin Machatzke hrsg. von Peter Sprengel. Frankfurt, Berlin 1994, S. 342); vgl. auch Reinhold Steig: Vor hundert Jahren. In: Das literarische Echo 13(1911), Η. 1, Sp. 5-22, hier Sp. 15ff. Ernst Elster: Deutschtum und Dichtung. Rede bei Antritt des Rektorats der Philipps-Universität zu Marburg am 24. Oktober 1915. Marburg 1915. (Marburger akademische Reden 33). S. 25; vgl. auch Francis Lloyd; William Newton: Prussia's Representative Man. London 1875.

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Anfangs verkannt, mußte die Dichtung immer steigende Beachtung finden, je allgemeiner Preußen-Brandenburgs Beruf zur Führung der deutschen Stämme anerkannt wird. Erst seit den nationalen Kriegstagen des preußischen Heeres im Jahre 1870 ist die ganze nationale Bedeutung des Stückes voll hervorgetreten, und ganz natürlich ist es, daß seither auch der Ruhm des lange vernachläßigten preußischen Dichters sich stets vergrößert!18 Diese »königlich preußische Literaturgeschichtsschreibung«, über deren Naivität sich Fedor Mamroth in der Frankfurter Zeitung ebenso königlich amüsierte, 19 war jedoch so naiv nicht, als daß sie nicht sehr ernste Folgen zu zeitigen vermochte; immerhin konnte sie Kleist damit soweit in Beschlag nehmen, daß dieser wie kaum ein anderer Dichter bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs als Synonym für Preußen galt. Dies resultierte u. a. aus der weithin verbreiteten Angewohnheit, in prägnante Kurzformeln zu fassen, was sowohl den Dichter als auch dessen Herkunft vermeintlich treffend charakterisierte: vom »helläugigen blonden Märker« 20 ist daher ebenso die Rede wie vom »preußischen Patrioten«, 21 vom »Großen Sohn der sandigen Mark«, 22 vom »besten Preußen«, 23 vom »Preußengenie« 24 oder vom »dichtende[n] märkische[n] Junker«.25 Gerade die Kennzeichnung als »Junker« (wie die als »Offizier«) grub sich tief in das Bewußtsein der Kleist-Leser ein, konnte sie doch im positiven als Inkarnation und »tiefste Veredelung« 26 des Preußentums verstanden werden oder aber im

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Zitiert nach: Fedor Mamroth: [Über >preußische< Literaturwissenschaft]. In: Frankfurter Zeitung, 12. Juli 1902; auch Hermann Bahr warnte mit Blick auf eine vermeintliche Gefährdung der von Schiller und Goethe geschaffenen deutschen Kultur durch Kleist vor der »besonders bei den Preußen« entstandenen Angewohnheit, »Kleist unsinnig zu überschätzen« (Hermann Bahr: Kleist. In: Österreichische Volkszeitung, 22. Februar 1903); vgl. auch Jochen Schmidt: Stoisches Ethos in Brandenburg-Preußen und Kleists Prinz Friedrich von Homburg. In: Kleist-Jahrbuch (1993), S. 89-102. Mamroth (wie Anm. 18). Erich Schmidt: [Rez. zu: R. Steig, Heinrich von Kleists Berliner Kämpfe], In: Deutsche Literaturzeitung, 30. November 1901. Neue Kunde zu Heinrich von Kleist von Reinhold Steig. Berlin 1902, S. III; vgl. Herman Grimm: Einige neue Bücher. In: Deutsche Rundschau (1901), H. 108, S. 150-153 (zitiert nach: Sembdner (1996) II, S. 186, Nr. 220b): »Professor Steig hat als deutscher Literarhistoriker für sein Buch dagegen den besonderen Vorteil noch, Märker zu sein und für Kleist als Märker (Provincia Magdeburgensis) einzutreten.« Gustav Schüler: An Kleist [1906]. In: Minde-Pouet (1927), S. 22f.; vgl. auch Josef Buchhorn: Heinrich von Kleists Bedeutung als nationaler Dichter. In: Akademische Turnzeitung 28 (1911), S. 358f.; Gottfried Fittbogen: Heinrich von Kleists vaterländische Dichtung. In: Deutsche Rundschau 172 (1917), S. 87-101, 223-246. Heinz Gorrenz: Zu Kleists Gedächtnis [1911]. In: Minde-Pouet (1927), S. 41. Fritz von Unruh: Vor der Entscheidung [1914], Berlin 1919. Arthur Eloesser: Heinrich von Kleist. Eine Studie. Berlin 1905. (Die Literatur. Hrsg. von Georg Brandes 16), S. 58; vgl. S. 59-66. Bab (wie Anm. 5), S. 64; vgl. auch die zwiespältige Formulierung Thomas Manns in Betrachtungen eines Unpolitischen: »dieser hysterische Junker«, der trotz evident krankhafter Züge sich in »patriotische[m] Enthusiasmus« zu äußern vermag (in: Sembdner (1996) II, S. 386, Nr. 435a); vgl. ders., Über einen Vortragskünstler. In: Gesammelte Werke. Band X: Reden und Aufsätze. Frankfurt 1974, 4, S. 153ff.; Wilhelm Schäfer: Die dreizehn Bücher der deutschen Seele. München 1922, S. 382f. ·

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Gegenteil - von zumeist sozialistischer Warte - als pointierte Formel für den politischen Erzfeind, mit dessen Sphäre der Dichter so untrennbar verknüpft war.27 Die Befangenheit in diesem Paradigma vermag zudem die seit den frühesten Anfängen bestehenden Schwierigkeiten der materialistischen Kleist-Forschung mit dem bürgerlichen >Erbe< im allgemeinen und dem preußischen im besonderen wenigstens teilweise zu erklären: die zielgerichteten Konstruktionen der chauvinistischen KleistLegende wurden von ihr vergleichsweise lange für bare Münze genommen, ehe sie durch eigene, entsprechend beschaffene in ihr Gegenteil verkehrt wurden. 28 So erklärte Franz Mehring Kleists Misere ausdrücklich mit einem Argument Treitschkes; weil nämlich der Dichter »sein Lebtag ein preußischer Offizier der alten Schule geblieben sei«, sei er ebenso lange in den Schranken seiner Klasse, die Mehring als »Krebsschaden der deutschen Nation« titulierte, befangen gewesen: Ihm war auf Erden nicht zu helfen, weil der geniale Dichter, der die höchsten Flüge wagen durfte, sich niemals dauernd über die niederen Regionen des altpreußischen Junkertums zu erheben vermochte.29 Max Quarck hingegen versuchte in seinem Aufsatz Ein preußischer Junker als dichterischer Revolutionär Kleist als zwischen zwei Welten stehenden, als sowohl bürgerlichen, aber zugleich auch sich gegen politische Verhältnisse auflehnenden Dichter zu begreifen und so von seiten der »deutschen Arbeiterklasse« der »revolutionären Ader in Kleist« zu huldigen, die sich besonders in Michael Kohlhaas manifestiere, der die »deutsche Arbeiterpresse« bereichert habe: Heinrich von Kleist ist wohl an dem für ihn unbesieglichen Zwiespalt zwischen erbärmlicher Wirklichkeit und innerlichem Freiheitsdrange, den er, obgleich ein preußischer Junker, mit dem aufsteigenden Bürgertum teilte, elend zugrunde gegangen, aber nicht, ohne sich viel kräftiger und vielseitiger, als es gemeiniglich Romantiker schlechthin tun, gegen jene erbärmliche Wirklichkeit im Sinne realer bürgerlicher Politik aufgelehnt und den Weg zum Fortschritt gewiesen zu haben in fast allen seinen Werken.30

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Vgl. Adolf Bartels: Heinrich von Kleist und die Gegenwart. In: Deutsches Schrifttum. Betrachtungen und Bemerkungen von Adolf Bartels, (1912), II. Bd., Bogen 13, S. 1-11, hier S. 5, über den »Junkerhaß« von linksliberaler und sozialdemokratischer Seite. Vgl. Dirk Grathoff: Materialistische Kleist-Interpretation. Ihre Vorgeschichte und ihre Entwicklung bis 1945. In: Text und Kontext (wie Anm. 2), S. 117-179. Franz Mehring: [Zu Kleists 100. Todestag]. In: Die Neue Zeit, 17. November 1911. Max Quarck: Ein preußischer Junker als dichterischer Revolutionär. In: Sozialistische Monatshefte 6 (1902), H. 2, S. 949-959, hier S. 949f.; vgl. auch Kurt Eisner: Das Preußentum Heinrich Kleists. Zum Gedächtnistage seines Untergangs. In: Münchener Post 22J23. November 1911, Nr. 271, S. 2f„ Nr. 272, S. 2f„ der den Nachweis führt, daß die Nähe Kleists zu Preußen eine Legende und recht eigentlich das Gegenteil - dessen Feme dazu bzw. ein tiefer Haß darauf - der Fall sei: »Unpreußisch, antipreußisch ist auch das letzte Werk Kleistens, stofflich sein einziges Preußendrama: Der Prinz von Homburg, der nachtwandelnde Held wird zum Tode verurteilt, weil er durch einen Disziplinbruch die Schlacht gewann. Dieser Held, der zwischen der Qual und der Wollust des Todes träumerisch wandelt, ist der Protest gegen alles Preußenthum, das vorahnende Bekenntnis des

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Daß aber die Entstehung der preußisch dominierten Mythen um Kleist wie noch unlängst postuliert, 31 allein den Arbeiten Reinhold Steigs zu verdanken bzw. anzulasten sei, 32 erscheint angesichts der Fülle der Zeugnisse, in denen der Dichter dem geistigen Konstrukt >Preußen< subsumiert wird, wenig überzeugend. Viel zu sehr entstammt dieses Gedankengut dem zur Mythenbildung neigenden Zeitgeist des Kaiserreichs, dem Kleist sehr entgegenzukommen schien, ließ er sich doch neben den bereits beschriebenen Möglichkeiten genauso auch dem verbreiteten wie populären Mythos um Königin Luise von Preußen zuordnen 33 wie zum integralen Bestandteil der 1913 anstehenden Gedenkfeiern für die Befreiungskriege erklären. Diese insbesondere reizten offenbar dazu, die historischen Vorgänge zur ideologisierten Parallelschau zu nutzen. Im Festspiel in deutschen Reimen Gerhart Hauptmanns etwa mit dem emphatischen Untertitel Zur Erinnerung an den Geist der Freiheitskriege der Jahre achtzehnhundertunddreizehn, -vierzehn und -fünfzehn, das anläßlich der »Jahrhundertfeier« in Breslau aufgeführt wurde, wird Kleist - auch wenn dieser 1813 schon gar nicht mehr gelebt hatte - funktional, soll heißen: im Blick auf seinen Beitrag zur Befreiung der >NationTurnvater< Jahn und Generalstabschef Scharnhorst. Ebenso integrierte Ernst Lissauer den Dichter in seinen Cyklus mit dem Titel 1813, indem er ihn mit wenigsten Worten zu charakterisieren versuchte:

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Dichters, daß er daran zugrunde gehen würde. An Preußen ist Kleist dann zerbrochen«; ähnlich auch Franz Servaes: Heinrich von Kleist. Zu seinem 100jährigen Todestage (f 21. November 1811), In: Die Lese 2 (1911), Nr. 46, S. 725f., zur Frage »Ist Kleist wirklich, wie viele sagen, der Vertreter des Preußentums in unserer Dichtung?« Die von Grathoff (wie Anm. 28), S. 131f., hervorgehobene >Urheberschaft< für die Auffassung, Kleist sei Vertreter einer »>altpreußischZwillingsformeln< zum Verfechter beider erklärte. Diese Position brachte Elisabeth von Berge in ihrem Trauerspiel Heinrich von Kleist von 1902 auf den Punkt. Als General a. D. von Zenge Heinrich im 3. Akt (3. Auftritt) Vaterlandsuntreue vorwirft, kommt es zu folgendem Wortwechsel: [Zenge:] Ein rechter Preuße bleibt bei Preußens Fahnen. Ein schlechter Preuße, der nicht Deutscher ist. 36

HEINRICH.

Der reale, die deutsche Gesellschaft des Kaiserreiches auf eine schwere Zerreißprobe stellende Versuch, die geeinte Nation tatsächlich zu vollziehen, wurde so auf das Zeitalter Kleists und dessen (vermeintliche) politische Anschauungen projiziert. Geradezu programmatisch zählte hierzu die Absicht, »[preußische Art und deutsche Dichtung« einander anzunähern,37 was man immer wieder und gerade in Kleists Leben und Werk präfiguriert sehen wollte. Für Reinhold Steig war daher »Kleist's

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Ernst Lissauer: 1813. Ein Cyklus. Jena 1913; vgl. Eugen Kühnemann: Prolog zu Kleists Hermannsschlacht. Gesprochen bei der Festaufführung der Breslauer Studenten, Juni 1913. In: Minde-Pouet (1927), S. 64f.; Buchhorn (wie Anm. 22), S. 359. Max Bewer: Heinrich von Kleist [1911]. In: Minde-Pouet (1927), S. 31f. Elisabeth von Berge: Heinrich von Kleist. Trauerspiel in fünf Aufzügen. Dresden; Leipzig 1902, S. 70; vgl. auch Rudolf Klee: Die Entwickelung der vaterländischen Gesinnung bei Heinrich von Kleist. In: Die Christliche Welt 25 (1911), Nr. 48, Sp. 1144-1152; Heinrich Meyer-Benfey: Kleists Leben und Werke. Dem deutschen Volke dargestellt. Göttingen 1911; A. Jäger: Das Werden des vaterländischen Gedankens. (Nachweis an der Geistesentwicklung H. v. Kleists). In: Pharus. Katholische Monatschrift für Orientierung in der gesamten Pädagogik 6 (1915), Η. I, S. 121-126. Fischer (wie Anm. 10), S. 12.

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Persönlichkeit [...] die eines deutschen Dichters und preußischen Patrioten,«38 für andere wurde - durchaus vergleichbar in diesem preußischsten aller deutschen Dichter, dem Verherrlicher brandenburgischen Soldatengeistes und Waffenruhms, zugleich der freie Geist der deutschen Bildung, das große Erbe der idealistischen Zeit, lebendig. 39

Prinz Friedrich von Homburg wurde demgemäß als »tiefgedachtes Preislied preußisch-hohenzollerischen Wesens und edelster Vaterlandsliebe«40 beschrieben und als eine Kriegsdichtung mit pädagogischem Impetus von höchster Aktualität, in der der Dichter »den Geist des preußischen Heeres geschildert [habe], die Gesinnung deutscher Helden, die ihr Leben freudig fürs Vaterland in die Schanze schlagen.«41 Im dritten Schritt schließlich wurde Kleist endgültig auf die Nation eingeschworen - bis hin zum Superlativ: als »ein großer deutscher Künstler«,42 »Heiliger Deutscher«,43 »Deutschlands Eckhart«, 44 als einer der »deutschesten unter unseren nationalen Dichtem« oder als »der vaterländischste unserer Dichter«.45 So zum Exponenten einer sehr speziellen Form der >litterature engagee< gedeutet, nahm Kleist schon im Ersten Weltkrieg einen der vordersten Ränge innerhalb eines Sub-Kanons ein, in dem Literatur jenseits der Ästhetik und vornehmlich im Hinblick auf ihren ideologischen Nutzwert bewertet wurde. Mythen ganz besonderer Art über Kleist entstanden auch dort, wo die bereits im Kaiserreich kursierenden Rassetheorien durch (pseudo-)literaturwissenschaftliche Fragestellungen nur notdürftig ummantelt wurden. Um durch Analogieschluß nachzuweisen, daß die der >germanischen< bzw. >arischen< >Rasse< zugehörigen Künstler und Schriftsteller notwendig gleichsam die hervorragendsten Kunstwerke schaffen, bedurfte es erheblicher argumentativer Anstrengungen. Otto Hauser unterschied hierzu 1916 in seinem Aufsatz Deutsch und germanisch vier Rassetypen (»reine Blondlinge«, »Menschen von nordischer Erscheinung, aber dunklerer Haar- und

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Steig (wie Anm. 21), S. Illf. Karl Berger: Schiller und Kleist. Festrede zum Geburtstag des Dichters im Freien Deutschen Hochstift, Frankfurt a. M., 12. Nov. 1911. In: Vom Weltbürgertum zum Nationalgedanken. Zwölf Bilder aus Schillers Lebenskreis und Wirkungsbereich. München 1918, S. 253f.; vgl. auch Julius Bab: An Kleist. 21. November 1914. In: Minde-Pouet (1927), S. 66: »[...] Wie schmolzest du mit Preußens hartem Erz/ der deutschen Seele schweres Gold zusammen [...]/ Es liegt dein Grab so kriegerisch umfriedet,/ das deutsche Grab am See in märkschem Sand.« Vgl. Michael Kohlhaas. Aus einer alten Chronik. Historische Erzählung von Heinrich von Kleist. Hrsg. von Prof. Dr. J. Wychgram. Bielefeld; Leipzig 1903. (Velhagen & Klasings Sammlung deutscher Schulausgaben 10), S. VII. Chmiel (wie Anm. 10), S. 57. Fischer (wie Anm. 10), S. 56. Hans Reisiger: An Heinrich von Kleist. In: Das Reich 2 (1918), H. 4, S. 660-669. Schüler (wie Anm. 22). Jäger (wie Anm. 36), S. 122.

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Augenfarbe«, Menschen von »lichter Haar- und Augenfarbe, aber unnordische[m] Gesichtsschnitt«, »Brünette von unnordischem Gesichtsschnitt«) und schürte damit vor allem mehr oder weniger latente Vorurteile.46 Daß sich die berühmten Künstler nur bedingt oder gar nicht in dieses Schema einpassen ließen, zwang den Verfasser dazu, zumindest zeitweilig deren »Deutschtum« auf rein geistiger Ebene erkennen zu müssen: Noch hat man das Recht, den Geist des Deutschtums als germanisch zu bezeichnen. Noch sind die großen Genien, in denen wir den höchsten Ausdruck unserer Art sehen, Albrecht Dürer, Rembrandt, Böcklin, Bach, Richard Wagner, Klopstock, Lessing, Goethe, Schiller, Kleist, Hebbel, Kant und Schopenhauer, Bismarck und Moltke. Das alles waren Germanen, die der ersten Gruppe angehörten, oder ihr doch wie Böcklin, Richard Wagner und Goethe ganz nahe standen, so nahe, daß sie nicht restlos der zweiten Gruppe zuzuweisen sind. 47

Als später Reflex auf den >Kulturkampf< dominieren in diesem Konstrukt die Geistesgrößen protestantischer Konfession, auch dies Teil der umfassenden Bemühung, die Nation davon zu überzeugen, daß aus dem lutherischen Preußen die besseren Deutschen stammten. Keine Regel ohne Ausnahme: Beethoven - als einziger - sei »aus dem Katholizismus hervorgegangen«;48 ansonsten gelte jedoch, daß »das protestantische Deutschland in der Hauptsache also der blonde Norden, die deutsche Gesamtkultur seit dem sechzehnten Jahrhundert« bestimme, wofür sogar noch die selbst von Hauser nicht zu vernachlässigenden »Schwaben« (Schiller, Hölderlin, Mörike, Uhland etc.) sprächen - sie alle schließlich waren der geistlichen Herkunft nach Protestanten und so genuine »Germanen«. Selbst in solch aberwitzigen Konstruktionen also ist noch das Modell einer >preußischen< Literaturgeschichte zu erkennen, als deren Exponent Kleist eine zentrale Gegengewichtsfunktion einnahm: der so offenkundigen wie faktischen > süddeutschen< (mitunter auch der österreichisch-katholischen) Dominanz gerade in der Literatur sollte er als Inkarnation des norddeutschen Protestantismus entgegenwirken,49 ein Attribut im übrigen, das - losgelöst vom religiösen Aspekt - immer wieder auf Kleist appliziert wurde, dem man so etwa »das wesentlich Protestantische« seines »Deutschtums« attestieren konnte.50 Erich Schmidts und Reinhold Steigs »blonden Märker« so früh schon in das wirre Gedankenkonglomerat von Rassen- wie Religionsfanatismus eingepaßt zu

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Otto Hauser: Deutsch und germanisch. In: Bühne und Welt. Monatsschrift für das deutsche Kunst- und Geistesleben 18 (1916), Nr. 3, S. 97-100, hier S. 98. Ebda., S. 98f.; vgl. auch Arthur Moeller van den Bruck: Der preußische Stil. München 1915, S. 177f., der Penthesilea vor dem »rassenszenischen Hintergrunde« feierte. Hauser (wie Anm. 46), S. 100. Vgl. auch Otto Hinnerk: Schiller, der Deutsche und Kleist, der Preuße. In: Die Ähre, 25. Februar 1916, S. 169-172 und 10. März 1916, S. 193ff. Vgl. Richard Specht: Die Hermannsschlacht. In: Der Merker, 1. Januar 1915, S. 28-34, hier S. 29.

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finden, scheint so mehr als eine trübe Vorahnung nachfolgender Zeiten zu sein.51 Kleist als >Germanen< zu beschreiben, zog beinahe notwendig nach sich, das >germanische< Element auch in seinen Werken hervorzuheben, deren Hauptfiguren sich so gleichfalls stilisieren ließen: Hermann der Cherusker und das Käthchen von Heilbronn sind mit Bewusstsein als germanische Typen, als der deutsche Mann und als das deutsche Mädchen gebildet. 52

Ist solcher Nachruhm nun tatsächlich als ein einziges »Mißverständnis« zu deuten, wie dies Helmut Sembdner vorgeschlagen hat? 53 Wohl kaum, eher als das einigermaßen bewußte Unternehmen, vorhandene geistige Potentiale zweckgerichtet und kompromißlos für politische Zwecke auszuschöpfen. Die Tendenz, Positionen wie die Steigs, die von zahlreichen Autoren so oder ähnlich vertreten wurden, zu Betriebsstörungen der Literaturwissenschaft zu erklären oder sie herablassend als Verblendungen vergangener Zeiten zu deklassieren und sie so zu verniedlichen, geht über deren durchaus systematische, auf einem geschlossenen Weltbild beruhende Argumentationsstrategien allzu oberflächlich hinweg. Zu sehr sind diese Teil der Wirkungsgeschichte Kleists, als daß sie einfach beiseite gelassen oder zu geringerwertigen Deutungsparadigmen herabgestuft werden könnten, nur, weil dieses Paradigma durch die Kriege und politischen Wirren des zwanzigsten Jahrhunderts so nachhaltig diskreditiert ist, daß es zur Gänze seine Funktion im öffentlichen Kultur-Diskurs eingebüßt hat. Das Problem des Historikers jedoch liegt darin, die notwendige Neutralität gegenüber dieser Position zu bewahren, die doch beinahe unwillkürlich moralisch empört, weil sie sachlich so wenig ergiebig und nur sehr am Rande den Absichten des Dichters Heinrich von Kleist gemäß zu sein scheint, weil sie die Möglichkeiten von Literatur als sprachlichem Kunstwerk letztlich pervertiert hat. Sie dennoch als relevant zu begreifen, heißt so vornehmlich, nicht länger zwischen einer >guten< und einer >schlechten< Wirkungsgeschichte zu unterscheiden, sondern beide - jenseits der Kategorie >Moral< - aus dem Widerstreit von Weltanschauungen auf der Grundlage verschiedenster Wertungshorizonte zu verstehen. Die Aufgabe des Historikers also liegt darin, auch diese Position, und sei sie noch so diskreditiert, als gleichgewichtig im Spektrum der Kleist-Deutungen anzunehmen, denn sie sind vermittelt mit dem Werk wie alle anderen auch.

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Vgl. die zeitgemäße >Steigerung< bei Lüdtke: Heinrich von Kleist als nordischer Mensch [1936], C. A-S.: Der Preusse Kleist. Zum 100jährigen Todestag Heinrichs von Kleist. In: Morgenpost (Berlin), 21. November 1911, Nr. 321; vgl. O. Weber (in: Friedrich Kriegeskotten: Scenen aus der >Hermannsschlacht< von H. v. Kleist, mit einem Epilog von P. Kirchhoff und dem Chor >ArnimBuchdrama< ein Schattendasein. Dies änderte sich erst, nachdem Heinrich von Treitschke im Bestreben, den seiner Auffassung nach verkannten Kleist in sein historisches Recht zu setzen, gegen Ende der fünfziger Jahre u. a. eine Aufführung der Hermannsschlacht nachdrücklich gefordert hatte.55 Hierzu bedurfte es eines erfahrenen Bearbeiters, der sich in Feodor Wehl schon kurz darauf einstellte und dem Rudolf Genee mit seiner Bearbeitung für die >Meininger< nachfolgte,56 vor allem aber bedurfte es eines politischen Ziels, das die deutsche Öffentlichkeit in der Art und Weise seiner Ausgestaltung wie kein anderes beschäftigte: die Reichsgründung, deren Koinzidenz mit dem späten Erfolg der Hermannsschlacht unübersehbar ist. Gleichwohl konnte der vielgelesene Publizist und Historiker Treitschke - einer der öffentlich maßgeblichen Befürworter der deutschen Einigung - allenfalls einen

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Georg G o t t f r i e d Gervinus: Neuere Geschichte der poetischen National-Litteratur der Deutschen. 2. Theil. Von Göthes Jugend bis zur Zeit der Befreiungskriege. Leipzig 1842. (Historische Schriften von G. G. Gervinus 6), S. 675f.; Busch (wie Anm. 3), S. 134-155; Hans Joachim Kreutzer: Die Utopie vom Vaterland. Kleists politische Dramen. In: Oxford German Studies 20/21 (1991/92), S. 69-84. Vgl. Heinrich von Treitschke: Heinrich von Kleist. In: Preußische Jahrbücher 2 (1858), H. 6, S. 599-623, hier S. 616; Otto Fraude: Heinrich von Kleists Hermannsschlacht auf der deutschen Bühne. Inaugural-Dissertation Kiel 1919 [Leipzig 1919]; ein früher Reflex hierauf könnte auch Felix Draesekes 1860 entstandene Bühnenmusik zur Hermannsschlacht sein, deren Bardenchor allerdings erst 1905 uraufgeführt wurde (vgl. Klaus Kanzog; Hans Joachim Kreutzer (Hrsg.): Werke Kleists auf dem modernen Musiktheater. Berlin 1977. (Jahresgabe der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft 1974/74), S. 193) sowie Klaus Kanzog: Heinrich von Treitschkes Penthesilea-Beurteilung im Kleist-Aufsatz von 1858 und in der Neufassung der Historischen und politischen Aufsätze. In: Text und Kontext (wie Anm. 2), S. 63-71. Vgl. Feodor Wehl: [Bearb. der Hermannsschlacht], In: Die deutsche Schaubühne (1860), H. 3 (s. Otto Fraude: Heinrich von Kleists >Hermannsschlacht< auf der deutschen Bühne. Leipzig 1919, S. 19-50; 92).

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wichtigen (und vielleicht sogar den entscheidenden) Anstoß geben, Kleists Werk aus der literarischen Sphäre zu lösen und in einen literaturfernen, ihm intentional also durchaus fremden Kontext einzubinden, der ganz oben auf der tagespolitischen Ordnung stand. Doch dies allein vermag nicht die große Resonanz zu erklären, die das Stück in den nachfolgenden Jahrzehnten hatte, nicht die Bereitwilligkeit, darin eine Vorausdeutung der politischen Ereignisse seit 1863 zu sehen, nicht den Eifer, mit dem es in vorhandene Feindbilder integriert wurde. Daß gerade mit diesem Schauspiel Kleist für die >Nation< entdeckt wurde, und wie dies geschah, soll im folgenden gezeigt werden. Treitschke ergriff das Wort für Kleist in einem Moment, in dem die deutsche Einigung zum Greifen nahe schien, in einer politischen Situation also, in der auch die kulturelle Selbstverständigung des sich konstituierenden Reiches zum zentralen Thema wurde. 57 Was aber gab es eigentlich zu diesem Zeitpunkt an dem Stück zu entdecken bzw. aufgrund welcher Eigenschaften kam es dem Zeitgeist der sechziger und vor allem der siebziger und achtziger Jahre so auffällig entgegen? Wie schließlich ist mit den Wirkungen von Literatur umzugehen, deren Erfolg letztlich in oberflächlichen Parallelen zum tagespolitischen Geschehen begründet liegt, und was ist, wenn beinahe ausschließlich diese in bestimmten Kreisen den Nachruhm eines Dichters ausmachen? Denn dies ist der prägende Eindruck, daß Kleists Text aus diesem Blickwinkel kaum als ein Kunstwerk, sondern eher als eine Fortführung der Politik mit anderen Mitteln angesehen wurde. Da hierbei immer wieder die gleichen chauvinistischen Versatzstücke verwendet wurden, erscheint eine nähere Analyse oberflächlich betrachtet zunächst wenig ergiebig, weil sich die Argumente über die Jahrzehnte bis zum Ersten Weltkrieg nur wenig veränderten. Und doch ist sie notwendig, denn mit und an Kleist und exemplarisch geradezu an seiner Hermannsschlacht werden mit wachsender verbaler Aggressionsbereitschaft Positionen bezogen, die in einem Klima allgemeiner ideologischer Zuspitzung mit der Zeit eskalierten. Die Entwicklung also von der historischen Komparatistik, die anhand der Hermannsschlacht zunächst als mehr oder weniger geistreiches feuilletonistisches Apercu betrieben wurde, zum verbalen journalistischen Kriegszustand und dem Auftauchen des Stücks auf den Kriegsspielplänen ist zu berichten. Als 1875 nach vierzigjährigem Planen und Bauen das Hermannsdenkmal für den Cheruskerfürsten Arminius auf der Grotenburg im Teutoburger Wald eingeweiht wurde, so war dies gleichsam der >Schlußstein< für die aus dem Krieg von 1870/ 1871 siegreich und geeint hervorgegangene Nation. Hatte man in Otto von Bismarck

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Vgl. Wolfgang J. Mommsen: Bürgerliche Kultur und künstlerische Avantgarde. Kultur und Politik im deutschen Kaiserreich 1870 bis 1918. Frankfurt; Berlin 1994, S. 26ff.; auch die Gemälde dieser Zeit spiegeln diesen Prozeß (vgl. etwa das Anton von Werner zugeschriebene Bild Kriegerische Germanen oder Karl Theodor von Pilotys Verfolgte Germanin (ca. 1871)); vgl. auch Anton Bruckners Komposition Germanenzug von 1863 sowie Bismarck - Preussen, Deutschland und Europa. Ausstellung im Deutschen Historischen Museum. Berlin 1990, S. 74, U 16 und U 17.

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als Reichskanzler eine charismatische Leitfigur an der Spitze des unter preußischer Führung geeinigten Reiches gefunden, so spiegelte sich die zur Wirklichkeit gewordene Utopie der deutschen Einheit im westfälischen Nationaldenkmal, dessen Ort zugleich Preußens Sieg über seine innerdeutschen Gegner dokumentierte. Die literarischen Beiträge zum Hermann-Mythos seit Klopstock vor dem Hintergrund dieser um sich greifenden zeitgenössischen Mode neu zu lesen, war daher in dieser Zeit einigermaßen konsequent. Kleists Hermannsschlacht schien hierbei jedoch wie kein anderer Text eine integrative Funktion einnehmen zu können, da in ihm - wie man meinte - Utopie und reale Politik einzigartig verbunden waren. Diese Eigenschaft kam insbesondere denen gelegen, die ein >neuesAusstattungsstücken< wie die allgemeine HermannMode für eine gewisse Aufgeschlossenheit gegenüber Kleists Stück sorgten, tat man sich weiterhin schwer, das Werk als ein Repertoirestück im engeren Sinne zu akzeptieren. Fritz Mauthner, der sich anläßlich einer weiteren Berliner Inszenierung gegen Ende der achtziger Jahre Gedanken hierzu machte, führte dies auf ein grundsätzliches Mißverständnis zurück. Man müsse

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und zur Aufführung in Karlsruhe von 1863: National-Zeitung (1863) (beide zitiert nach Fraude (wie Anm. 56), S. 49f.). Zur Aufführung der Meininger vgl. Rudolph Genee: Das Gastspiel der Meininger. In: Deutsche Rundschau 3 (1875), S. 457—463 (zitiert nach: Die Meininger. Texte zur Rezeption. Ausgewählt, eingeleitet und hrsg. von John Osborne. Tübingen 1980, S. 72-82); Bab (wie Anm. 5), S. 15; [Kleist] (wie Anm. 58), S. 116. Zum Wettstreit um die Aufführung vgl. Genee (wie Anm. 61), S. 72 (Zitat: S. 77f.); im Schauspielhaus war es Julius Lechner insbesondere darum gegangen, in puncto Ausstattung neben den Meiningem bestehen zu können (vgl. [Kleist] (wie Anm. 58), S. 116). Genee (wie Anm. 61), S. 78f.; vgl. Wegweiser der Lese. Kleists Hermannsschlacht. In: Die Lese 2 (1911), H. 4, S. 61: »Bekanntlich haben die Meininger die Hermannsschlacht durch ihre Aufführungen dann zum dauernden Gemeingut des deutschen Theaters gemacht«; John Osborne: The Meininger Court Theatre, 1866-1890. Cambridge 1988, S. Iff., S. 5ff.; dagegen die Neue Freie Presse vom 15. Dezember 1898, S. 7: »Selbst nach den Kämpfen von 1870, die der Tendenz der Dichtung neues Leben einzuflößen schienen, konnte dies Drama sich nicht behaupten. Endlich versuchten die Meininger in ihrem Streben, durch Massenwirkungen Erfolge zu erringen, die Hermannsschlacht ihrem Repertoire einzuverleiben; auch hier hat sie Dauersiege nicht errungen«; vgl. Walter Hinck: Historie und Literatur. Hat Geschichtsdichtung Zukunft? In: ders., Geschichtsdichtung. Göttingen 1995. (Sammlung Vandenhoeck), S. 11-60, hier S. 33; und ders., Geschichtsdrama und Anachronismus. Probleme modemer Inszenierungen. Ebda., S. 61-73, hier S. 61.

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die Zuschauer darüber aufklären [...], daß sie es mit einem unerhörten Gelegenheitsstück, mit einer Parodie, mit einem Kriegsgesang, mit Allem, was man will, nur nicht mit einem konventionellen Bärenhäuterdrama aus der germanischen Urzeit zu thun [haben].64

Gerade in dieses Fahrwasser jedoch drohte das von Kleist nur sehr eingeschränkt auf historische Richtigkeit hin ausgelegte Drama auch in anderen Lebensbereichen zu geraten: so etwa, wenn in einer Textausgabe »für den Schulgebrauch und das Privatstudium« von 1905 die Frage beantwortet werden sollte: »Welche Bilder altgermanischen Lebens führt der 1. Akt vor?« 65 Der Autor projektierte folgende Antwort: Verlauf einer Jagd auf Auerochsen; Heimkehr vom fröhlichen Jagen; ein Gelage der Jäger nach Beendigung des Treibens; eine Verhandlung deutscher Stammesfürsten über wichtige Fragen der Politik. Situationsbezeichnungen enthalten die Schilderung von der Erlegung des Auerochsen durch Ventidius, sowie zur Ausmalung der Zukunftskämpfe durch Hermann in der 3. Szene. 66

Trotz solcher nicht nur der zeitgenössischen Pädagogik allein vorbehaltenen Lesarten: die eigentliche Katalysatorfunktion bei der Aufnahme des Stückes entstammte nicht dem kulturellen Bereich im engeren Sinne, sondern dem politischen. Parallel und so als ein Element des im Kaiserreich florierenden Bismarck-Mythos steigerte sich das Interesse an Kleists Hermannsschlacht. Dieses galt also weniger dem Werk selbst, sondern resultierte aus dessen Einverleibung in die historische Mythologie der Deutschen. 67 Gewohnt, Bismarck mit Nationalstereotypen aus Realität und Literatur zu belegen, 68 lag dem zeitgenössischen Publikum das bei Kleist an den politischen Ereignissen seiner Zeit in historischem Gewand thematisierte Problem - die Uneinigkeit der Deutschen im Kampf gegen den äußeren Feind - für eine Verwendung im Zusammenhang mit der vom Reichskanzler tatsächlich vollzogenen Einigung nahe. Da auch die nationalstaatlichen Mythen des späten neunzehnten Jahrhunderts dazu tendieren, Widersprüche der gesellschaftlichen Entwicklungen zu überwinden und zu harmonisieren, 69 wurde Kleists Werk immer häufiger als Präfiguration der politischen Ereignisse verstanden, wodurch dem Dichter mit der Zeit die Rolle des

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Fritz Mauthner: Die Hermannsschlacht. (Deutsches Theater). In: Die Nation 5 (1887/88), Nr. 50, S. 710f., hier S. 710. Die Hermannsschlacht. Ein Schauspiel von Heinrich von Kleist. Mit ausführlichen Erläuterungen für den Schulgebrauch und das Privatstudium von Dr. W. Gerstenberg, Oberlehrer am Kgl. Gymnasium zu Meppen. Paderborn 1905. (Schöninghs Ausgaben deutscher Klassiker mit ausführlichen Erläuterungen 34), S. 122. Ebda. Vgl. Wülfing; Bruns; Parr (wie Anm. 33); Parr (wie Anm. 33), S. 9ff. Neben zahlreichen symbolisch überhöhenden Attributen wie >RealistSteuermannLotse< oder >Getreuer Eckhart< war insbesondere die Bildung von Dioskurenpaaren beliebt: Bismarck/Goethe; .../Luther; .../Wilhelm I. (vgl. Busch (wie Anm. 3), S. 138ff.; [Bismarck] (wie Anm. 57), S. 455-482; Parr (wie Anm. 33)). Vgl. Parr (wie Anm. 33).

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Propheten z u k a m . 7 0 Konkret wirkte sich dies in einer s u k z e s s i v e selbstverständlich werdenden Parallelsetzung des literarischen Hermann mit d e m realen Otto v o n B i s marck aus, die insbesondere anläßlich offizieller Feierstunden formuliert wurde. A l s Bismarck a m 1. April 1895 seinen 80. Geburtstag beging, feierte man diesen Tag im ganzen Reich. L u d w i g Hamann, der Chronist eines aus d i e s e m Anlaß erschienenen Nachschlagewerkes, verzeichnete die Bismarck-Feiern allerorten und hielt für »Cassel« u. a. f o l g e n d e Aktivitäten fest: Nachdem schon Sonnabend Abend anläßlich Bismarck's Geburtstag im königl. Theater eine Festvorstellung, Kleist's Hermannsschlacht, stattgefunden hatte, an welche sich ein Epilog, der Gesang des Liedes Deutschland, Deutschland über Alles und ein begeistert ausgebrachtes Hoch auf den Fürsten Bismarck anschlossen, konzertierten heute Vormittag auf dem Friedrichsplatz vier Militärkapellen. 71 Detaillierter n o c h berichtete die Lokalpresse v o n dieser für die öffentliche Festkultur des Kaiserreiches durchaus exemplarischen Feierlichkeit. 7 2 D i e R e d e ist da v o n einer »glänzenden Festvorstellung«, bei der »Ihre H o h e i t e n der Erbprinz und die Erbprinzessin von Meiningen, s o w i e die Spitzen der Behörden« a n w e s e n d waren. 7 3

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Vgl. etwa Hermann Conrad: Heinrich von Kleist als Mensch und Dichter. Vortrag, gehalten im Kasino der Haupt-Kadetten-Anstalt (Dezember 1895). Berlin 1896, S. 28; Hermann Gilows Einleitung zur Hermannsschlacht in: Heinrich von Kleists Werke in sechs Teilen. Auf Grund der Hempelschen Ausgabe neu hrsg. mit Einleitung u. Anmerkungen versehen von Hermann Gilow, Willy Manthey, Wilhelm Waetzoldt. Berlin 1909. (Goldene Klassiker Bibliothek). Bd. 3, S. 113: »Ihre vollständige Erfüllung aber haben Kleists Ahnungen erst 1870/71 gefunden, wo die 1813 noch im stillen Wipfel einer Eiche ruhende, nun aber flügge gewordene Brut des Aars den Habicht rupfte und Alldeutschland ohne fremde Hilfe und ohne die Mittel diabolischer List den Erbfeind niederrang«; Elster (wie Anm. 17), S. 25, Fischer (wie Anm. 10), S. 54f.; Rudolf Werner: Kleists Hermannsschlacht und die deutsche Zukunft. In: Bühne und Welt (1916), S. 119-124, hier S. 123: »Diese Prachtgestalt [Hermann] ist von jeher mit Recht bewundert worden. Es ist, als ob der Dichter mit Seherblick das Auftreten Bismarcks vorausgeahnt habe« oder Hermann Bousset: Heinrich von Kleist. In: Jugendlese, ein Jahrbuch in vier Teilen. Berlin 1917. Bd. 1, S. 40-50, hier S. 47ff. (zitiert nach Busch (wie Anm. 3), S. 5): »Wenn Ihr aber die Hermannsschlacht lest, in der der Dichter alle deutschen Stämme zu einer Einheit aufruft und im Spiegelbild der alten Zeit des Römerkampfes die Gegenwart nur zu deutlich erkennen läßt, da geht sein prophetisches Ahnen und Gestalten weit über die eigene Gegenwart hinaus, da wird das ganze dichterische Gebilde zu einem Vorahnen Bismarckscher Art und seiner politischen Kunst. Einmal springt in Kleists Prophetentum auch eine kleine Fröhlichkeit empor, die deutschen Jungen ganz besondere Freude machen wird. Kleist hat nämlich unser schönes, feldgraues Kriegskleid vorausgesehen.«

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Ehrungen des Fürsten Bismarck zum 80. Geburtstage 1895. Eine Chronik der nationalen Feiertage, sowie gesammelte Reden und Ansprachen für das deutsche Volk und die Verehrer des Alt-Reichskanzlers hrsg. von Ludwig Hamann. Leipzig [o. J.], S. 95; vgl. hierzu auch die vor allem quantitativ beeindruckende Anthologie von Paul Arras (Bismarck-Gedichte. Gesammelt von Paul Arras. Leipzig 1898) sowie [Bismarck] (wie Anm. 57). Vgl. Die Bismarckfeier in Cassel. In: Casseler Tageblatt und Anzeiger. Zeitung für Stadt und Land, Montag, den 1. April 1895, No. 91, Zweites Blatt. Ebda.

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M u s i k a l i s c h eingerahmt v o m (bedachtsam a u s g e w ä h l t e n ) Kaisermarsch

Richard

Wagners - für das »neue Kaysertum« sei dieser schließlich die »erhabenste Verherrlichung in T ö n e n « 7 4 - und e i n e m Hymnus

für Soli, Chor und Orchester von Julius

Rietz, 7 5 kam das »vaterländische Schauspiel« Kleists zur Aufführung: Es war dies eine sehr passende Wahl, denn wenn man selbstverständlich auch im Einzelnen keine persönlichen Bez[i]e[h]ungen auf den Bismarcktag in diesem Stücke finden kann, so sind es doch um so mehr Beziehungen auf die Sache, mit welcher im Fühlen der Nation der Name unzertrennlich verknüpft ist: die nach blutiger Niederwerfung eines übermächtigen Feindes erkämpfte deutsche Einheit. Das hat Kleist, als ein echter Dichter seiner Zeit vorauseilend, in seinem Schauspiel mit so wahrer und echter Empfindung, mit so kühnem und rücksichtslosem Ausdruck zur Zeit der französischen Fremdherrschaft dargestellt, daß wir heute, wo des Dichters Traum erfüllt ist, mit gehobener Stimmung der lebendigen Darstellung seiner Dichtung folgen, die in dem Herzen der Hörer eine patriotisch entflammende Wirkung übt. Die Aufführung im Königlichen Theater war vortrefflich geeignet, dem Stücke diese Wirkung zu sichern. 76 Eingebunden in ein v a t e r l ä n d i s c h e s Gesamtkunstwerk< - d e m Vortrag des nus Schloß sich ein Epilog

Hym-

einer mit goldener Rüstung ausstaffierten Germania an,

die auf einer »mächtigen Eiche« sich postierte und v o n Kleist zu Bismarck wieder überleitete

war Kleists Drama ein großer Erfolg sicher. 7 7 Je stärker aber der

Dichter solchermaßen in die offizielle, staatlicherseits beabsichtigte Weltanschauung, in der das »Theater ein Werkzeug des M o n a r c h e n « war, 7 8 integriert wurde, desto mehr v e r s c h w a m m auch die Bereitschaft, z w i s c h e n realer Person Bismarck

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76 77 78

Ebda. Es könnte sich dabei um dessen Altdeutschen Schlachtengesang für Solostimme, Chor und Orchester (op. 12) gehandelt haben (?); Rietz war der Lehrer u. a. von Felix Draeseke, der, wahrscheinlich angeregt von Treitschke, bereits 1860 eine Bühnenmusik zur Hermannsschlacht verfaßt hatte (Sächs. Landesbibliothek Dresden, Mus. 7099-F-506/07); Rietz »in dankbarer Verehrung« gewidmet war zudem eine 1865 erstmals aufgeführte Ouvertüre fir Orchester zu Kleist's Drama >Die Hermannsschlacht< von Georg Vierling. Leipzig 1866; vgl. hierzu auch die Hermannsschlacht-Kompositionen von Louis Schlottmann (Bardengesang Wir litten menschlich seit dem Tage, Op. 42, Nr. 1. In: ders., Lieder und Gesänge für eine Singstimme. Berlin [ca. 1875]) und Otto Dorn: Ouvertüre zu Kleist's Drama Die Hermannsschlacht. Op. 30, [1875]. Offenbach [ca. 1890], die wohl im Kontext der Berliner Aufführungen zu sehen sind; auch Hans Pfitzner hatte kurz nach seiner Bühnenmusik zum Käthchen von Heilbronn (op. 17) (Berlin 1905) anläßlich der Eröffnung von Max Reinhardts »Deutschem Theater« 1905, beeindruckt und erschüttert von der Hermannsschlacht, den Gesang der Barden vertont (Berlin 1906) (vgl. Pfitzner an Reinhardt (24. Juli 1905), in: Hans Pfitzner: Reden, Schriften, Briefe. Unveröffentlichtes und bisher Verstreutes. Hrsg. von Walter Abendroth. Berlin; Neuwied 1955, S. 295f.; Hans Pfitzner: Gesang der Barden. Aus der >Herrmannsschlacht< von Heinrich von Kleist. In: Süddeutsche Monatshefte 4 (1907), Η. 1, S. 120 und Notenbeilage; vgl. Kanzog (1977), S. 193). [Casseler Tageblatt] (wie Anm. 72). Ebda. Aus einer Rede Kaiser Wilhelms II. über die Aufgabe des Theaters (zitiert nach: Neue Freie Presse, 21. Juni 1898, Nr. 12150).

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und der Hermann-Figur zu differenzieren. Was der Lokalredakteur 1895 n o c h beinahe entschuldigend anführen zu m ü s s e n meinte - daß e s keine direkte B e z i e h u n g z w i s c h e n beiden gäbe

das war schon w e n i g e Jahre später und im fortgeschrit-

tenen Stadium des Bismarck-Mythos kaum mehr der R e d e wert, weil es geradezu selbstverständlich als Einheit verstanden wurde. S o beendete etwa D e t l e v v o n Liliencron 1908 seinen Prolog rigem Todestag

zu Kleists

Herrmannsschlacht.

An Bismarcks

zehnjäh-

mit den Versen:

Zum Andenken an Bismarcks Todestag,/ Der vor zehn Jahren alle Welt durchbebte,/ Soll heute hier die Herrmannsschlacht erscheinen./ Kein besserer Name kann Kleists Rächer sein./ Was er gewollt: das große Vaterland,/ Bismarck hats durchgesetzt mit seiner Kraft,/ Auf erznem Felsgrund steht das Deutsche Reich. 79 U n d wohl aus ähnlichen Motiven beschrieb Arthur E l o e s s e r in seiner Kleist-Biographie von 1905 das Dioskurenpaar Bismarck/Hermann: Hermann trägt seine Pläne allein in sich wie Bismarck, dem es auch nicht darauf ankam, mißverstanden und selbst verachtet zu werden. Er betölpelt den Varus wie Bismarck Napoleon III. [...] Er ist schroff und hochfahrend, dann spöttisch, humoristisch, liebenswürdig, ein Meister in der Kunst der Menschenbehandlung wie Bismarck, er hat dieselbe soldatische Religiosität, die nach feinster Vorbereitung die Entscheidung dem deutschen Gotte überläßt, und wenn den Cherusker beim Gesang der Barden die unterdrückte Leidenschaft einmal übers Haupt schlägt, gleicht er auch noch Bismarck, der nach ungeheuren Erschütterungen in Tränen ausbrechen konnte. 80 Zugespitzt und s o transponiert in die Tonart des Krieges wurde dieses Apergu nach 1914. Richard Specht pries Kleists ungeheure Intuition, die in dieser Hermannsgestalt das bismarcksche Wesen vorausgeahnt und geformt hat, bis in wesentliche Züge seiner Diplomatie hinein. 81 Julius Bab hingegen betonte in seiner 67-seitigen Huldigung an Preußen:

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In: Gute Nacht. Hinterlassene Gedichte von Detlev von Liliencron. Berlin 1909, S. 15f.; vgl. Parr (wie Anm. 33), S. 138f. Arthur Eloesser: Heinrich von Kleist. Eine Studie. Berlin 1905, S. 59. Specht (wie Anm. 50), S. 29; er spielt - wie Eloesser - auf Bismarcks vielgepriesene diplomatische Verschlagenheit an, die sicherlich am spektakulärsten in den Verwicklungen um die »Emser Depesche« vom 13. Juli 1870 zutage trat (vgl. [Bismarck] (wie Anm. 57), S. 315); Kleists Hermann agiert durchaus vergleichbar, als er die in Stücke geschnittene Hally an die germanischen Stammesfürsten schickt, um deren Reaktion zu provozieren (IV, 4ff.) (vgl. auch Schellberg in: Die Hermannsschlacht. Heinrich von Kleist. Für Schule und Haus hrsg. von Dr. Wilhelm Schellberg, Direktor der Realschule zu Eschweiler. Münster 1912. (Aschendorffs Sammlung auserlesener Werke der Literatur), S. 166, der in diesem Kontext folgende Unterrichtsfrage vorschlug: »Inwiefern gilt für Hermann Arndts Wort: >Alle Kriegskünste, Listen und Hinterlisten sind erlaubt?HuckepackEntdeckung< eines bestimmten

Ausschnitts aus Kleists Werk gleich - eben für diese Z w e c k e - und war zudem mit einer nicht zu unterschätzenden volkstümlichen Popularität gekoppelt. D i e s e manifestierte sich am deutlichsten wahrscheinlich darin, daß das Stück zunehmend als Programmpunkt für typisch wilhelminische Festtage akzeptiert wurde. Das Bedürfnis, es für solche Z w e c k e oder ein bestimmtes Publikum ( w i e etwa Schüler) einzurichten - also zu kürzen bzw. sprachlich-inhaltlich zu glätten - brachte Publikationen nach f o l g e n d e m Muster hervor: Scenen aus der Hermannsschlacht von H. v. Kleist, mit einem Epilog von P. Kirchhoff und dem Chor Arnim, gedichtet von O. Weber, komponirt von Fr. Kriegeskotten. Zur Aufführung an vaterländischen Festtagen für höhere Schulen eingerichtet. 83 Für die zahlreichen (Schul-)Feiern anläßlich etwa von Sedanstag, 8 4 Kaisers Geburtstag oder z u m G e d e n k e n an die Leipziger Völkerschlacht 8 5 wurde die weiterzugebende politische Botschaft darin bedarfsgerecht umrahmt von Musik und gebundener

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Bab (wie Anm. 5), S. 48f. Vgl. Kriegeskotten (wie Anm. 52); E. Steffen: Ein deutsches Drama: Kleists »Hermannsschlacht*. In: Zeitschrift für den deutschen Unterricht 19 (1905), S. 545-571, 618-640, hier S. 545; Heinrich Ortner: Zu Kleists >HermannsschlachtGesamtkunstwerk< en miniature. Mit wenigen Requisiten und ohne Kostüme, aber mit zwei Berufsmusikern, die das Schwertmotiv aus der Walküre als Hornsignal blasen sollten, konnten so die Sinne der Schüler vermutlich wesentlich wirksamer als mit dem Text allein angesprochen werden. Daß dies jedoch keineswegs die einzig mögliche, zugleich aktualisierende wie politische Lesart war, bewies Adam Müller-Guttenbrunn mit seinem Engagement für die Aufführung der Hermannsschlacht in Wien. 87 Für den überzeugten Nationalisten war das Schauspiel zu allererst »ein Gedicht auf Österreich« und kam daher seinen eigenen (nationalkultur-)politischen Absichten sehr entgegen, die vornehmlich in einer dezidiert antimodernen nationalen Erneuerung des österreichischen Theaters bestanden. Müller-Guttenbrunn, der in späteren Jahren einen »deutsche[n] Spielplan« propagierte, 88 und noch 1920 das Wiener Publikum dafür lobte, daß es vor den Deutschen Kleist eine Heimstatt gegeben habe, indem es u.a. das Käthchen von Heilbronn des »protestantischen« Dichters als »dichterische[n] Festbraten« des St. Katharinentages (25. November) schätzte, 89 führte demgemäß in der Einleitung zu seiner Textbearbeitung den ausführlichen Nachweis, dass die Seele Heinrichs von Kleist voll war von überschäumender Begeisterung für das Haus Österreich, wie es sich ihm im Jahre 1809 darstellte. Kleist sah in Kaiser Franz den Retter und Befreier Deutschlands, in Erzherzog Carl den Überwinder des Unüberwindlichen, er wünschte nichts sehnlicher, als die Wiederaufrichtung der deutschen Kaiserwürde und es besteht für ihn kein Zweifel darüber und konnte damals keiner bestehen, wem sie gebührt. Er lässt den Gedanken seines Lebens: die Vereinigung Preussens mit Österreich zu einem gemeinsamen Schlag gegen den Unterdrücker in seiner Hermannsschlacht zur Wahrheit werden, und er lässt den Beherrscher der Preussen (Marbod) [!], dem er die Ehre des entscheidenden Sieges gönnt, schliesslich das Knie vor Hermann beugen.90

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Vgl. auch die Gedanken zur Hermannsschlacht anläßlich der »vierzigjährige[n] Erinnerung an die Begründung des neuen Reiches durch die Kaiserproklamation von Versailles« in: Die Lese (wie Anm. 30), S. 61, oder Kühnemann (wie Anm. 34) mit seinem Prolog zur »Festaufführung« des Stückes durch die Breslauer Studentenschaft. Vgl. Kleist's Hermannsschlacht - ein Gedicht auf Österreich. Von Adam Müller-Guttenbrunn erläutert und eingerichtet anlässlich der Aufführungen im Kaiserjubiläums-Stadttheater. Wien 1898; zu den Motiven der Theater-Gründung: Adam Müller-Guttenbrunn: Erinnerungen eines Theaterdirektors. Hrsg. von Roderich Meinhart. Leipzig 1924; auch [Kleist] (wie Anm. 58), S. 128. Adam Müller-Guttenbrunn: Ein deutscher Spielplan. In: Bühne und Welt 11 (1908/09), S. 669-672. Adam Müller-Guttenbrunn: Das entgötterte Theater. In: Almanach des Deutschen Volkstheaters (Leipzig). Leipzig; Wien; Zürich 1920, S. 95-102, hier S. 95f.; vgl. bereits Adam Müller-Guttenbrunn: Die Verkleinerung des Burgtheaters. In: Dramaturgische Gänge. Dresden; Leipzig 1892, S. 1-7, hier S. 3. Müller-Guttenbrunn (wie Anm. 87), S. 15.

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Dieser späte Reflex auf die lange Jahre immer wieder erwogene >großdeutsche< Lösung, diese Option für ein gemeinschaftlich erstarktes Deutsches Kaiserreich unter österreichischer Führung, das allein siegreich gegenüber dem Erzfeind Frankreich auftreten könnte, belegt recht anschaulich wie sehr das Stück auch von MüllerGuttenbrunn nicht als Parabel auf politische Zustände und Handlungsweisen, sondern vornehmlich als Analyse einer konkreten Situation, als eine Schilderung mit Anspruch auf historische Wahrhaftigkeit also, aus der es reale politische Konsequenzen zu ziehen galt, gelesen wurde. Hierdurch ließ sich das Schauspiel programmatisch einsetzen, denn Müller-Guttenbrunn feierte es als eine bis dahin zu Unrecht verkannte Apotheose der Donaumonarchie, als einen »literarhistorische[n] Besitz Österreichs«, den er, weil dieser »von unseren Vätern verschleudert wurde durch Unachtsamkeit und Gedankenlosigkeit«, nun gegen Ende des Jahrhunderts einer breiten Öffentlichkeit nahelegen wollte.91 Nicht um das Stück oder dessen Verfasser also ging es hier, sondern darum, daß vermeintlich ein [g]enialer deutscher Dichter [...] eine der schwungvollsten Erhebungen dieses Staates, einen weltgeschichtlichen Kampf unserer Vorfahren zum Ausgangspunkt einer unsterblichen Dichtung gemacht

hatte.92 Müller-Guttenbrunn war es daher eine »heilige Pflicht«,93 des Dichters Werk so zu bearbeiten, daß es gemäß seinem nationalpädagogischen Anspruch auf dem von ihm als Pächter und Direktor geführten Wiener Kaiserjubiläums-Stadttheater 1898 über die Bühne gehen konnte, die eigens zu den Feierlichkeiten anläßlich des 50. Regierungsjahres von Kaiser Franz Joseph I. begründet worden war.94 Daß die Wahl auf Kleists Stück zur feierlichen Eröffnung des neuen Theaters fiel, belegt daher recht anschaulich, wie problemlos es sich auch in der gänzlich andersartigen politischen Situation Österreichs auf (semi-)offizielle Repräsentationsbedürfnisse zuschneiden ließ; die politische Inanspruchnahme Kleists war also keineswegs auf Preußen allein beschränkt. Offenbar aber vertraute Müller-Guttenbrunn der Wirksamkeit des Kleistschen Textes nicht völlig - dies zeigt etwa der veränderte Schlußpassus seiner Version, in der verstärkend-pathetisch ein von allen Beteiligten ausgerufenes »Heil Hermann, Heil! Deutschlands Befreier Heil!« ertönen sollte -, 9 5 dennoch aber schien ihm das Stück hervorragend geeignet zu sein, die langjährige Regentschaft des habsburgischen Monarchen literarisch zu überhöhen. Daß hierdurch auf einem ganz anderen Gebiet politischer Sprengstoff ausgelegt wurde, zeigten insbesondere die Reaktionen der in Wien erscheinenden Neuen Freien

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Ebda., S. 16. Ebda. Ebda. Vgl. hierzu: Neue Freie Presse, 9. Juli 1898, Nr. 12168, S. 7; Müller-Guttenbrunn wurde vom Rat der Stadt Wien hierzu ernannt, was einer offiziellen Billigung der von ihm verfolgten kulturellen und nationalen Ziele gleichkommen dürfte. Ebda. (Ergänzung zu V, 24).

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Presse, bei der in dieser Zeit u.a. Theodor Herzl, aber auch der spätere Kleist-Biograph Franz Servaes tätig waren.96 Denn hier prallten nicht allein konservativ-nationalistische und - zumindest dem eigenen Anspruch nach - fortschrittliche bzw. avantgardistische Interessenlagen aufeinander: Anstoß erregte Müller-Guttenbrunn vor allem deshalb, weil sein Plan »in den antisemitischen Blättern feierlich angekündigt worden war«, wie die (jüdisch dominierte) Neue Freie Presse hierzu feststellte.97 Diese sah sich dementsprechend veranlaßt, ihrer >modernen< Lesart Kleists gemäß nachzuweisen, daß eine Aufführung dieses Stückes keineswegs erforderlich sei.98 Schließlich handele es sich um ein undramatisches, ja geradezu episches Stück, überholt sei es zudem, weil von »Anspielungen auf den Beginn des Jahrhunderts erfüllt«, und so einem heutigen Betrachter von vornherein fremd, dessen vielleicht vorhandenes »Interesse [...] naturgemäß von Scene zu Scene« sinken müsse, wofür als Belege Passagen aus den weithin bekannten Kleist-Biographien Wilbrandts und Brahms angeführt wurden.99 Mit dieser Auffassung wurde lange vor dem Ersten Weltkrieg geradezu exemplarisch das bis in die Gegenwart anhaltende Unbehagen der emphatisch modern sich gerierenden Kleist-Exegeten am >politischen< bzw. chauvinistischen Kleist formuliert: 100 für den Rezensenten der Neuen Freien Presse jedenfalls repräsentierte das Stück nicht den >eigentlichen< Dichter. Daß die Aufführung »nicht sehr warm« aufgenommen wurde und sogar »vor Schluß manchen Zuschauer [...] in die Flucht« schlug, weil hier selbst »der Parteitreue ein zu starkes Opfer« auferlegt worden sei,101 und daß ein Vertreter des offiziellen Wien, der seit 1895 amtierende Bürgermeister Karl Lueger, es bei einem Bankett als »Schandstück« bezeichnet haben sollte,102 wurde demgemäß in der Neuen Freien Presse mit großer Genugtuung vermerkt. Publizistische Polemiken dieser Art jedoch, in denen der Krieg der Weltanschauungen und vor allen Dingen der der Antisemiten gegen die Juden anhand von solchen Exempla durchgefochten wurde, waren gerade in dieser Zeit beileibe kein Einzelfall und schon gar nicht auf die Donaumonarchie allein beschränkt. Um die Jahrhundertwende tat sich in Deutschland in diesem unerfreulichen Sektor der Feuilletons besonders der noch 1942 zum Ehrenmitglied der NSDAP ernannte Schriftsteller und Literarhistoriker Adolf Bartels hervor, der in späteren Jahren auch gegen

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Zum Anspruch der Neuen Freien Presse vgl. Franz Servaes an Hermann Sudermann (21. März 1905; DLA Marbach, Cotta Nachl. Sud. IV, 25,106-109), der diesem schrieb, daß man sich als Redakteur dieser Zeitung getrost wähnen dürfe, »das vielleicht beste Lesepublikum unter allen deutschen Zeitungen zu besitzen«; vgl. auch Eugen Kilian: [Zur Inszenierung der Hermannsschlacht durch Müller-Guttenbrunn], In: Das litterarische Echo 1 (1898/99), Sp. 356f. Etwa im Deutschen Volksblatt (vgl. Neue Freie Presse, 8. Dezember 1898, Nr. 12319, S. 7). Neue Freie Presse, 15. Dezember 1898, Nr. 12326, S. 7. Ebda. Exemplarisch hierfür erscheinen die Positionen Claus Peymanns: Streitgespräch über Kleists >HermannsschlachtDeutsches< zu urteilen. 106 Oft schon habe er diesen für seine Äußerungen zurecht gewiesen: Aber Herr Dr. Mamroth hat es natürlich nicht vergessen, er hat seinen Haß nach jüdischer Weise vortrefflich konserviert und stellt mich nur deswegen jetzt als gänzlich unbedeutend hin, weil er denkt, daß mich das um so mehr verletzt.107 Zwar hatte dieser durch die Anspielung auf die Emser Depesche und deren vermeintliche Parallelen in der Hermannsschlacht lediglich das beliebte Feuilletonapergu wieder aufgenommen, dadurch aber die gerade im Kulturbetrieb des Kaiserreichs latent stets vorhandenen politisch-weltanschaulichen Fronten erhärtet. Im höchsten Maße vordergründig also sind die zu dieser Zeit an Kleist sich entzündenden Konflikte; daß gerade seine Werke aber so auffallend häufig gleichsam als Brandherde des in

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Vgl. Adolf Bartels (wie Anm. 27), S. lf.; ders.: Kleiststiftung und Schillerstiftung. In: Deutsches Schrifttum. Betrachtungen und Bemerkungen von Adolf Bartels. April 1912, Bogen 14, S. 28f.; ders. (wie Anm. 85), S. 92 (»Man kennt die jüdische Wohltätigkeit, und es ist am Ende zu erwarten, daß auch Herr S. Fischer, sobald er 20 Millionen besitzt, eine halbe für die Kleiststiftung, d. h. für schlecht honorierte jüngere Dichter jüdischer und judenfreundlicher Art übrig haben und darauf die ihm gebührende Auszeichnung empfangen wird«); vgl. die Entgegnung in: Mitteilungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus, Nr. 4, 12. Februar 1913, und Sembdner (wie Anm. 32). Adolf Bartels: Literarische Erziehung. In: Der Kunstwart 9 (1895/96), H. 20, S. 305-308, hier S. 308; ders., Schriften über Literatur. [Rez. Zu H. Conrad: Heinrich von Kleist als Mensch und Dichter]. In: Der Kunstwart 9 (1895/96), S. 356. Adolf Bartels: Deutsche Dichter. Charakteristiken. Leipzig 1943, S. 189. Kritiker und Kritikaster. Pro domo et pro arte. Von Adolf Bartels. Mit einem Anhang: Das Judentum in der deutschen Literatur. Leipzig 1903, S. 47. Ebda.

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späteren Jahren entstehenden ideologischen Flächenbrandes innerhalb der deutschen Kultur wirken, erscheint überaus signifikant, spiegeln sich hierin doch eindrücklich die Versuche, einen wichtigen, aber eben nicht gänzlich kanonisierten und so sakrosankten Autor der jeweiligen Weltanschauung systematisch zuzuordnen. Die Inanspruchnahme wie sie sich bei Müller-Guttenbrunn und Bartels zusehends dogmatisch manifestierte, traf naturgemäß auf die heftige Gegenwehr derjenigen, die in Kleist nicht den haßerfüllten Streiter für den Nationalstaat erkennen mochten. Zunächst jedoch, besonders aber während des Ersten Weltkriegs, schienen die Verfechter der chauvinistischen (und häufig zugleich antisemitischen) Anschauungen die Oberhand zu erlangen, die gerade die Hermannsschlacht als Kompendium für Kriegszeiten verstanden wissen wollten:108 in diesem Werk werde - so hieß es aus diesem >Lager< - »unsere eigenste Angelegenheit« ausgetragen, was nicht nur jetzt, vom Widerschein des Weltbrandes angeglüht und in den blutroten Flammen dieser Tage deutlicher als zuvor, sondern so lange es ein Problem >Deutschland< geben wird,

tief empfunden werde.109 Die noch immer vergleichsweise geringe Präsenz des Stükkes konnte so als ein Vorzug gepriesen werden, denn: Als im August 1914 kurz vor Beginn der Winterspielzeit der große Krieg ausbrach, waren die deutschen Bühnen mitten in dem Aufwallen völkisch-deutschen Gefühls in peinlichster Verlegenheit, wie sie dem neuen Geist, der plötzlich alles Volk fortriß, gerecht werden sollten. Mit dem vorhandenen Vorrat bisher gangbarer Stücke war mit einem Male gar nichts anzufangen. 110

Da, wie derselbe Autor feststellte, weder Wilhelm Teil noch Minna von Barnhelm oder Götz von Berlichingen diesen neuen Bedürfnissen entsprechen konnten, besann man sich - zunächst skeptisch - auf die Hermannsschlacht.111 Jetzt erst, im Krieg, sei das Stück »zeitgemäß« im eigentlichen Sinne geworden: Denn die gehen völlig fehl, die die Hermannsschlacht allen Ernstes für eine Art patriotischer Gelegenheitsdichtung [...] halten. Das Werk ist mehr, weit mehr! Es ist, kurz gesagt, das Drama der deutschen Seele. 112

Auch Siegfried Jacobsohn setzte sich - aus gänzlich anderen Motiven allerdings dafür ein, die Hermannsschlacht zum festen Bestandteil eines »Kriegsspielplanes« zu

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Vgl. Max Jungnickel: Das lachende Soldatenbuch. München 1915, S. 14: »Also, an Kleists Geburtstag sollst Du Dich besaufen. Das wird ein neuer Kriegsartikel. [...] Und dann sollt ihr sie hören, die wundervollen, patriotischen Rasereien von Heinrich von Kleist. Und dann müßte zum Sturmangriff geblasen werden. Ich sage Euch, bei Gott, wir würden hundertfach siegen. Überhaupt, wir würden immer siegen, wenn wir die Hermannsschlacht dieses vulkanischen Engels singen könnten. Was ist ein Regimentsmarsch dagegen?-!« Specht (wie Anm. 50), S. 29. Werner (wie Anm. 70), S. 119. Ebda. Ebda.

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machen; dieses Stück enthalte, wie im übrigen auch Büchners Dantons Tod oder Hebbels Nibelungen, Zündendes, wenn auch nicht im engeren patriotischen Sinne. 113 Damit sei angedeutet, daß es zu dieser Zeit durchaus auch eine andere Lesart der Hermannsschlacht gab: diejenige etwa von Robert Walser, in dessen kurzem Prosatext Auf Knien! von 1908 bezeichnenderweise von der Titelfigur nicht, wohl aber von den Charakteristika des »Augenblickserfolgsmensch[en]« Ventidius die Rede ist: Kann es eine reizendere Liebhaberrolle geben als den jungen Römer Ventidius? Sonst können etwa Liebhaber auf die Nerven fallen, anlangweilen, anöden, dieser da in keinem Moment. Der Elegant aus dem alten Rom vermeidet es, überflüssige Worte zu machen, und doch fließt ihm die Rede nur so sturzweise, nicht nur glas-, sondern literflaschenweise zum Mund heraus [...].114

Diejenige Hermannsschlacht aber auch, um die Regisseure wie Eugen Kilian, Artur Holz oder Max Reinhardt bemüht waren. 115 Einig darin, dem Publikum den >ganzen< Kleist vor Augen stellen zu wollen, erwarben sie die Hermannsschlacht auch für ihr dezidiert modernes Theater, das sie auf den Trümmern der >Meiningerei< errichteten. Kilian etwa hatte 1909 die feierliche Wiedereröffnung der Schackgalerie der Münchner Hofbühne mit seiner Inszenierung der Hermannsschlacht gekrönt. Daß Lion Feuchtwanger dies als ein »ganz aussichtslose^] Experiment« beschreiben konnte, und zwar, obwohl, wie er zugestand, »Kilian [...] das patriotische Pathos, daß das Drama durchweht, zurückgedrängt« hatte, erscheint wiederum durchaus symptomatisch: unbehaglich und sperrig ist das Stück nach den Kriterien der modernen Ästhetik seither geblieben. 116 Und so ist es wohl auch kein Zufall, daß Feuchtwanger, um Thusnelda zu charakterisieren, die ihm - wie vielen der jüngsten Literaten dieser Zeit - viel näher liegende Penthesilea bemühte, als deren »späte, ungeschlachte Enkelin« er die Frau Hermanns beschrieb. 117 Seine geradezu exemplarische Enttäuschung darüber, daß hier keine »Kleistischen Einzelmenschen« geschildert und auch »das Seelische nicht gestaltet« wurde, belegt so ex negativo, welche Erwartungshaltung Kleist entgegengebracht wurde. 118 Wie sehr gerade Feuchtwanger das ideologische Mißbrauchspotential des »Hermann«-Stoffes im allgemeinen wie das einiger Kleist-Texte im besonderen verspürte, zeigt ein Abschnitt im

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[Siegfried Jacobsohn]: Kriegsspielplan. In: Die Schaubühne 10 (1914), Nr. 33/34, S. 135f.; vgl. ders., Die Hermannsschlacht. In: Das Jahr der Bühne 7 (1917/18), S. 109-115. Robert Walser: Auf Knien! In: Die Schaubühne 4 (1908), Η. 1, S. 498. Vgl. Artur Holz: Die Hermannsschlacht. Drama in fünf Aufzügen. In: Die Scene 5 (1915), März-Heft, S. 44ff. u. April-Heft, S. 57f., zur Aufführung im Wiener Burgtheater vom 10. Dezember 1914; Reinhardt inszenierte das Stück 1916 für die von ihm in der Kriegszeit nicht zuletzt aus alter Verbundenheit mit der Volksbühnenbewegung geleitete Berliner Volksbühne am damaligen Bülow-Platz. Lion Feuchtwanger: Die Hermannsschlacht. In: Die Schaubühne 5 (1909), H. 2, S. 382f., hier S. 382. Ebda., S. 383. Ebda., S. 382.

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Roman Die Geschwister Oppermann von 1933, der sich auch als ein später Reflex auf die 1909 erlebte Aufführung und die seither immer aggressiver werdende chauvinistische Lesart Kleists verstehen läßt: der Schüler Berthold Oppermann, der noch vor dem Tod des verehrten Gymnasiallehrers Dr. Heinzius das Vortragsthema Der Humanismus und das zwanzigste Jahrhundert gewählt und vorbereitet hatte, muß von dessen Nachfolger, Dr. Vogelsang, erfahren, daß dieses Thema nun - Zeichen der Zeit - obsolet geworden ist.119 Der parteitreue Lehrer, dessen »Lieblingsthema« die »Hermannsschlacht, der großartige Eintritt der Deutschen in die Geschichte« ist, und der seinen Einstand im bis dahin »liberalen« Berliner Gymnasium durch Zitation von Kleists Hymnus Germania an ihre Kinder gibt, 120 schlägt dem Schüler, den er sofort an Namen und Thema des Vortrags als jüdischen »Zersetzer« erkennt, vor, zu einem anderen, ihm relevanter scheinenden Thema zu sprechen: Was bedeutet uns Heutigen Hermann der Deutsche?121 Oppermann, geschildert als juveniler Intellektueller (und so in natürlicher Opposition zu allem Nationalistischen), ist darüber innerlich entsetzt: Hermann der Deutsche. Es heißt Hermann der Cherusker, Mensch. Übrigens, Hermann der Cherusker oder Hermann der Deutsche, mir ist das Scheibenhonig. Mir liegt das nicht. 122

Die buchstäblich im Namen Kleists vollzogene Absetzung des »Humanismus« im Roman Feuchtwangers erwies sich in den folgenden Jahren als zutreffende Diagnose des Zustandes der deutschen Gesellschaft. Daß sich die Hermannsschlacht in der bewußt pervertierten Lesart der NS-Ideologie auch dazu eignete, auf den Zweiten Weltkrieg einzustimmen und die Kampfbereitschaft zu schüren, hat die lange vor diesem Krieg formulierten Vorbehalte gegenüber den chauvinistischen Deutern des Stückes in übelster Weise bestätigt und zu einer letztlich wohl kaum wiedergutzumachenden Diskreditierung der Dichtung geführt, deren Wirkungsgeschichte so das Kunstwerk selbst überlagert und in den Hintergrund gedrängt hat. 123

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Vgl. Lion Feuchtwanger: Die Geschwister Oppermann [zuerst: 1933]. Frankfurt 1981, S. 57f. Ebda., S.55f. Ebda., S. 58. Ebda. Vgl. etwa die Rede von Rudolf Heß vor der Hauptversammlung der Goethe-Gesellschaft im Mai 1934 (in: Klassiker in finsteren Zeiten. 1933-1945. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar. 2 Bde. Marbach 1983. (Marbacher Kataloge 38), S. 208f.), die Deutsche Kantate nach Worten deutscher Dichter von Edgar Rabsch (Hannover 1933) oder Friedrich Schülen: Kleists Hermannsschlacht als politische Dichtung. In: Die Hilfe. Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und geistige Bewegung 45 (1939), S. 497-501.

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1.3. Notwendige Ausblendungen Allen Bemühungen, Kleist zum kulturellen Repräsentanten preußisch-deutscher Nation zu erklären, waren auch bei größtem Wohlwollen von Seiten der Interpreten stets gewisse Grenzen gesetzt; schwerlich und allenfalls unvollständig ließ sich dieser in ein solchermaßen geschlossenes Weltbild integrieren: zu vieldeutig war seine Erscheinung, zu komplex sein Werk, um allein strukturell einfachste, meist chauvinistische Botschaften zu übermitteln. Da aber aus dieser Perspektive der ideologische Nutzen Kleists dennoch größer schien als seine aus eben dieser Sicht gleichfalls offenkundigen Unzulänglichkeiten in Lebensweise und Dichtungsart, führte dies geradezu notwendig zu Manipulationen an seinem öffentlichen Erscheinungsbild: zugunsten seiner vermeintlich >staatstragenden< Botschaft wurde das umschrieben oder weggelassen, was unbequem an ihm war. Dieser aus argumentativer Notwendigkeit entstehende >Systemzwang< sei im folgenden beschrieben. Den Dichter als ein Vorbild für ein wahres >PreußenDeutschtum< erscheinen zu lassen, waren insbesondere die Umstände seines Todes sicherlich kaum geeignet. Viel zu sehr verstieß die Tat gegen eines der zentralen Tabus innerhalb einer christlich geprägten Gesellschaftsform, als daß sie sich ohne weiteres verschweigen oder gar gutheißen ließ. 124 Dennoch bekannten sich erstaunlich wenige Interpreten so offen dazu, von Kleists Selbsttötung wie von diesem selbst abgestoßen zu sein, wie Ludwig Geiger: Der Eindruck, den Kleist's Tod hinterließ, war im Ganzen kein großer. Nachdem die durch die schauerliche That erregte Neugierde befriedigt war, ging man über den excentrischen Dichter, der die Zeitgenossen verhältnismäßig wenig beschäftigt hatte, zur Tagesordnung über. Die Schwere der Zeit verlangte Männer, welche standhaft der Gefahr ins Auge sahen, nicht sich feige davon machten. 125

Die einschlägigen, dem Herausgeber des Goethe-Jahrbuchs offenbar bestens bekannten Deutungsmuster werden hier in ihr Gegenteil verkehrt. Kein Wort vom >großen Einsamen< oder dem >VerkanntenZeitgenossen< nichts getan hatten, ihn vom Sterben abzuhalten. Hierdurch schmälerte sich des Dichters >Schuld< bis

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Treitschke (wie Anm. 55), S. 623. Vgl. etwa Conrad (wie Anm. 70), S. 6, sowie Georg Iggers: Heinrich von Treitschke. In: Deutsche Historiker. Hrsg. von Hans-Ulrich Wehler. Göttingen 1971. Bd. II, S. 66-80, hier S. 66ff. Fischer (wie Anm. 10), S. 71. Ebda., S. 69. Berger (wie Anm. 39), S. 253f.

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hin zum Freispruch, zum Nachteil derer allerdings, die seine Größe vermeintlich nicht hinreichend gewürdigt hatten und auf diese Weise genötigt wurden, durch entsprechende Kompensationsleistungen eine gleichsam kollektive Schuld zu büßen. Zumeist selbsternannte >Autoritäten< in allen weltanschaulichen Lagern maßten sich folgenreich an, der Masse der Rezipienten in Sachen Kleist so ein über die Zeiten dauerndes Schuldbewußtsein aufzuoktroyieren, das die Aufnahme des Dichters von vornherein mit verklärendem Schein umhüllte. Kleist solchermaßen als verkannten Dichter zu verstehen, war zudem keineswegs ein Privileg seiner dezidiert >modemen< Anhängerschaft; auch diejenigen, die ihn zum >nationalen< Dichter erhoben wissen wollten, bedienten sich dieses Deutungsmusters, wenn auch mit gänzlich anderen Absichten, so doch deutlich früher als jene. Die offenbar weltanschaulich übergreifend konsensfähige Formel vom unverstandenen Dichter, der an seinem Vaterland scheiterte, ließ sich politisch (und ästhetisch) zweifach ausdeuten, als patriotischer Akt oder als geniales Märtyrertum, das mangelnde Resonanz erst entstehen ließ. Daß Kleists >moderne< Exegeten nicht davon freizusprechen sind, sich bereits vorhandener Deutungsmuster einfach bedient und so recht eigentlich nur wenig Originelles - aber dafür umso Wirksameres - zu dessen Verständnis beigesteuert zu haben, spielt hierbei eine nachgeordnete Rolle. Während sie Kleists Tat bewußt provokant als Befreiungsschlag gleichsam von der Unerträglichkeit des Seins feiern konnten, sahen sich die an traditionelle Werte und Normen gebundenen konservativen Interpreten gezwungen, das schwer nur Bestreitbare so weit zu stilisieren, daß das tatsächliche Ereignis kaum mehr erahnbar war. So zog sich etwa Hermann Conrad aus der Affäre, der beinahe lakonisch feststellte: »Ueber die letzten Tage des Dichters darf ich glücklicherweise in dieser kurzen Lebensskizze schweigen,« 131 und Erich Schmidt, der zur Einweihung des Frankfurter Kleist-Denkmals 1910 sprach, gab sich explizit erfreut über den solchermaßen vorgezogenen 100. Jahrestag, hatte er so doch Gelegenheit über den aktiven und vorbildlichen Patrioten Kleist von 1810 zu sprechen und nicht über den verzweifelten, der 1811 die »Tragödie am Wannsee« auslöste. 132 Ähnlich verklausuliert mußte der Dichter wiederum bei Conrad im »heldenmütigen Kampfe gegen ein unerbittliches Schicksal« scheitern: Der Kampf endet mit der Vernichtung aller Hoffnungen des Helden, nicht bloß auf Glück und Ehre, sondern auch auf die Möglichkeit eines menschenwürdigen Daseins. Der Held beugt sich nicht vor der stärkeren Macht: er stirbt unüberwunden. Es ist eine grause Schicksals-Tragödie. 133

Und auch Julius Bab sublimierte dieses Problem in seinen Reflexionen zum Thema, indem er zwischen einem gewissermaßen konventionellen und dem Selbstmord Kleists als einem Sonderfall deutlich unterschieden wissen wollte:

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Conrad (wie Anm. 70), S. 38. Richard Groeper: Enthüllung des Kleistdenkmals in Frankfurt a.O. am 25. Juni 1910. In: Zeitschrift ßr den deutschen Unterricht 24 (1910), S. 504-510, hier S. 506. Conrad (wie Anm. 70), S. 10.

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Auch wer von Kleists Biographie sonst nichts kennt, kennt doch die Tatsache, daß dies Leben durch Selbstmord geendet hat. Und der Selbstmord, das ist eine weit verbreitete und auch nicht unkluge Psychologie, gilt ja als der äußerste, sicherste Beweis für ein mißglücktes, zur Lösung seiner Aufgaben nicht fähiges Leben. Wie kann also eines Selbstmörders Leben und Werk als ein Sieg gepriesen, als eine führung- und richtunggebende Leistung in Anspruch genommen werden. Auf diesen naheliegenden Einwand ist zu entgegnen, daß in Kleists Leben der Selbstmord diese abschließende, bilanzziehende Bedeutung tatsächlich nicht hat. Allerdings war sein Leben in der Zusammenarbeitung des staatlich-preußischen und des menschheitlich-deutschen Momentes vor eine schier übergroße Aufgabe gestellt, die auch Titanenkräfte ermatten konnte. 134 Kleist aber habe diese A u f g a b e dennoch gelöst, sein Leben sei s o insgesamt erfolgreich g e w e s e n , der Selbstmord lediglich »das g l e i c h s a m zufällig endgültig gewordene Resultat« einer Phase des Aus- bzw. Abspannens von einer übergroßen Anstreng u n g . 1 3 5 D a ß sich ein L e b e n w o m ö g l i c h nicht als ein w e i t g e h e n d h a r m o n i s c h e s G e f ü g e beschreiben lassen sollte, war offenbar auch für B a b ein allzu unerträglicher Gedanke, als daß er nicht alles daran gesetzt hätte, diesen Eindruck nachhaltig zu widerlegen. Daß sich diese Deutung auch ins Literarische w e n d e n ließ, zeigt schließlich Elisabeth von Berge, in deren »Trauerspiel« Heinrich

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v o n 1 9 0 2 der Prot-

agonist als ein edler Märtyrer für Volk und Vaterland und s o als Opfer seiner >Mission< stirbt: Nimm hin, ο Vaterland. Mit meinem Blut/ Dein Recht Dir, Deine Freiheit zu erstreiten,/ war meiner Jugend Traum, und ich kann nur/ Mir sterbend noch die eigne Freiheit retten. (Zieht die Pistole hervor). 136 Derart geläutert wurde der Tat nicht nur einiges von ihrem Schrecken g e n o m m e n : im Gegenteil konnte der offenkundige Bruch des gesellschaftlichen Tabus s o aufgewertet und zu e i n e m Positivum gewandelt werden, d e m nicht länger ein Makel anhaftete.

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Bab (wie Anm. 5), S. 33f. Ebda., S. 35. Elisabeth Berge: Heinrich von Kleist. Trauerspiel in fünf Aufzügen. Dresden; Leipzig 1902. (III. Aufzug, 9. Auftritt) (zitiert nach Busch (wie Anm. 3), S. 3, Nr. 6); vgl. hierzu auch die Briefe Elisabeth Berges an Georg Minde-Pouet (7. Januar und 21. Juli 1902; DLA Marbach, A: Minde-Pouet 71.820/1 und 2); ähnlich Kühnemann (wie Anm. 34): »Ihm brach das Herz, das starke, glutenreiche,/ Um unsers Vaterkändes Schmach und Qual,/ Und aus den Reihen der Lebend'gen stahl/ Gebrochen er sich in des Todes Reiche.// Doch Schmach und Qual - sie hat als neue Kraft/ Des Dichters Sang durchloht,/ Und brennend flammt in wilder Leidenschaft/ in seinem Lied die fürchterliche Not«; auch Paul Friedrich: Heinrich von Kleist [1906]. In: Minde-Pouet (1927), S. 21: »Ich starb an Deutschland. Seine Schmach und Schande/ Trieb mich zuerst hinaus in fremde Lande,/ Doch als ich sah, daß Nacht blieb wie zuvor,/ Da stieg ich blutend zu dem Schattentor«, und Adolf Bartels: Heinrich von Kleist [1885, DLA Marbach: A: Minde-Pouet, 711421]: »>Wohlan! Du bist bereit, ich seh es wohl./ Gott möge uns die Eigenmacht vergeben^/ So nimmt er aus der Tasche das Pistol -/Ein Schuß, noch einer: fahre wohl, ο Leben!«

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Doch keineswegs allein des Dichters skandalöser Abgang wurde aus dieser Perspektive zum Problem, dem man allenfalls durch mehr oder weniger verhaltene Ausblendung begegnen mochte. Dementsprechend wurden gleichfalls viele Mühen aufgewandt, Kleist von den Eskapaden seiner Biographie freizusprechen. Akribisch wurde hierzu der Nachweis erbracht, daß Fehlschläge oder Irrwege kaum je von Kleist selbst, wohl aber von seinen Zeitgenossen oder gar den waltenden Umständen zu verantworten waren: Es ist zunächst unbestreitbar, daß die Lebensführung Kleists schwere, verhängnisvolle Irrungen aufweist; und kein Biograph darf diese Wahrheit leugnen oder beugen. Seine Pflicht ist es aber auch festzustellen, vor allem ob die ihm vorgeworfenen fehlerhaften Handlungen auch alle beglaubigt sind, und dann, wenn das der Fall, ob sie alle aus seiner eigenen perversen Natur geflossen sind, oder ob nicht ein Teil der Schuld, die man Heinrich von Kleist aufbürdet, seiner Zeit, seinem Schicksal, ja, vielleicht auch seiner genialen Begabung als solcher zur Last fällt. 137

»Wissenschaftliche Naivetät ohnegleichen« walte in diesem Zusammenhang, jegliche »Anekdote« diene den Autoren »als Beweis-Material für die krankhafte SeelenDisposition des Dichters«.138 Dieser Methode Einhalt zu gebieten, sie zu widerlegen, schickt sich der Verfasser, Professor Hermann Conrad, in seinem im Dezember 1895 im Casino der Berliner Haupt-Kadetten-Anstalt gehaltenen Vortrag an.139 Demgemäß erstrahlt der Held bei ihm im lichten Schein eines weitgehend ungebrochenen Weltbildes, das Harmonie, vor allem aber Normalität als maßgebliche Gestaltungselemente auch noch der zerrissensten Biographie zugeordnet wissen möchte: »selbstverständlich« tritt Kleist daher als ältester Sohn »eines altadeligen, kriegerischen Geschlechts« in das preußische Heer ein: Daß er als künstlerisches Genie für den Soldatenstand untauglich war, ist ebenso selbstverständlich. 140

Nicht mit den üblichen Kategorien also läßt sich ein solches Genie messen; daher kann Conrad das geplatzte Verlöbnis mit Wilhelmine von Zenge auch leicht »als Fehler, wie er damals öfter als in späterer Zeit begangen wurde«, kennzeichnen,141 daß eine reguläre Berufstätigkeit für Kleist kaum je in Frage kam, ergibt sich hieraus beinahe von selbst, schließlich seien ja »Amt und Kunst«142 grundsätzlich unvereinbar. Gleichfalls dürfe Kleist die Entfernung »vom festen Boden der bürgerlichen Verhältnisse hinweg« nicht zum Vorwurf gemacht werden, schließlich habe Schiller

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Vgl. Conrad (wie Anm. 70), S. 6. Ebda.; vgl. Bartels (wie Anm. 104), S. 356: »Er [der Vortrag] verdient deswegen hier Erwähnung, weil Conrad energisch gegen die Biographen Kleists Wilbrandt, Brahm u.s.w. ankämpft, die des Dichters ganzes Leben zu einer Krankheitsgeschichte machen.« Conrad (wie Anm. 70), S. 6-10. Ebda., S. lOf. Ebda., S. 11. Ebda., S. 12.

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dies in seiner Flucht aus Stuttgart gleichfalls praktiziert und was habe dieser nicht dennoch geleistet?143 Solchermaßen entschärft erscheinen auch krankhaft wirkende Episoden und Verhaltensweisen relativ harmlos oder werden gänzlich negiert. Zudem kann die durch Krankheit erzeugte Schwäche auch zur Absolution von Fehlschlägen dienen: Kleist etwa habe Goethe zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt aufgesucht (»körperlich durch eine lange, schwere Krankheit reduziert«), daher schon vermochte er es nicht, diesen für sich einzunehmen, der »in seinem sorgenfreien und von äußerem Glück beständig begleiteten Leben« für solches Unglück nur wenig Verständnis aufbringen konnte.144 Andere - besonders wirksam vor allem Sigismund Rahmer - gingen sogar so weit, Kleist durch ihre Studien explizit >gesundschreiben< zu wollen und so von dem ihnen als Makel erscheinenden Vorwurf des Pathologischen vornehmlich aus Pietät freizusprechen. 145 Geradezu unerträglich war solchen Interpreten der Ruch von Krankheit, Exzentrizität oder gar Wahnsinn, denn er störte den Einsatz des Dichters als Vorbild für die Nation allzusehr. Die solchermaßen ausgeblendeten problematischen Aspekte des Menschen Kleist ermöglichten die Schaffung eines gänzlich anderen und recht durchsichtigen Bildes vom Dichter, eines, das sich national-propagandistischen Zwecken erstaunlich leicht subsumieren ließ und als elementarer Bestandteil des ideologisch-publizistischen Nachweises der preußischen >Sendung< verstanden werden muß. Ein Äquivalent zu den oben beschriebenen Tendenzen läßt sich gleichfalls im Umgang mit Kleists Werken erkennen. Allerdings verstärkte sich hierbei die Notwendigkeit, zu glätten oder auszusparen noch zusätzlich, denn das Dilemma im Umgang mit diesem Dichter blieb bestehen: einerseits wurden einige seiner Werke als hervorragend geeignet für propagandistische Zwecke erkannt und insbesondere dort verwendet, wo staatliche Anliegen repräsentativ für eine große Öffentlichkeit vorgebracht werden sollten; andererseits mußten sie hierzu - wenn auch nur partiell, so doch stets substantiell - verändert werden, um eine eindeutige Tendenz daraus ablesen zu können. Hierzu bedurften seine Texte zudem so sehr der Bearbeitung, daß kaum je der Dichter selbst zu Wort kommen konnte. Der Schwerpunkt der Glättungsbestrebungen lag beinahe naturgemäß bei Prinz Friedrich von Homburg, dem »Kaiser-Geburtstagsstück«,146 das sich nicht nur beim herrschenden Regenten Wilhelm II. größter Beliebtheit erfreute; den Schülern galt es als patriotisches Lehrstück147 und auf den Theatern wurde es nicht zuletzt wegen 143 144 145

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Ebda., S. 18. Ebda., S. 17f. Vgl. Sigismund Rahmer: Aus der Werkstatt des dramatischen Genies. Wiesbaden 1906. (Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens 28); ders., Heinrich von Kleist als Mensch und Dichter. Nach neuen Quellenforschungen von S. Rahmer. Berlin 1909, sowie Horst Häker: Sigismund Rahmer. In: Beiträge zur Kleist-Forschung (1995), S. 17-26. Egon Erich Albrecht: Heinrich von Kleists >Prinz Friedrich von Homburg< auf der deutschen Bühne. Ein Beitrag zur Bühnengeschichte Kleists. Kiel. Phil. Diss. 1921, S. 11 Iff. Conrad (wie Anm. 70), S. 37; dies spiegelt sich auch in den Aufsatzthemen, die u. a. lauteten: »Die siegreiche und segensreiche Gewalt des staatenbegründenden und staatenbilden-

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der zweihundertsten Wiederkehr d e s Jahrestages der historischen Schlacht von Fehrbellin 1875 und später auf den Kriegsspielplänen 1 4 8 präsentiert. Ohne j e g l i c h e Bearbeitung j e d o c h eignete sich das Schauspiel nicht unbedingt dazu, die preußisch-deutsche Nation zu repräsentieren: zwar vermeinte man, in »dies e m Preußenstück [...] die Zukunftsfanfare eines neuen idealischen Preußentums« zu vernehmen 1 4 9 und gewöhnte sich recht schnell daran, den Schlußsatz als die eigentliche Botschaft zu verstehen, 1 5 0 aber daß darin ein preußischer Offizier Todesangst verspürte (111,5) und seinen militärischen Pflichten w e n i g s t e n s zeitweilig nicht nachkam bzw. traumwandlerisch auftrat (1,1), begrenzte d e s s e n Verwendungsspektrum oberflächlich betrachtet zunächst d o c h erheblich: der Kernbereich preußisch-soldatischer >Ethik< wurde hier angetastet und w e g e n der durchgängigen N e i g u n g der Interpreten, die Fiktion für Realität zu lesen, als schwer zu nehmende Rezeptionshürde erkannt. Eine von M a x Grube überlieferte Episode bestätigt zudem, daß man sich auch in höchsten Kreisen dieser besonderen Problematik bewußt war: Bei e i n e m B e i s a m m e n s e i n im Hause des Generalintendanten der Königlichen Schauspiele in Berlin, Graf Hochberg, bei d e m neben Grube u.a. auch Matkowsky, Wildenbruch und Kaiser W i l h e l m II. anwesend waren, kam das Gespräch auf Kleists Stück:

den Geistes der Hohenzollern als die Grundidee des Dramas«, »Kleists Prinz von Homburg, ein echt preußisches Stück«, »Die nationale Bedeutung des Dramas« etc. (Hermann Heinze: Aufgaben aus Kleists >Prinz Friedrich von Homburg< und >Hermannsschlacht< und Körners >ZrinyPrinz Friedrich von Homburg< erläutert und gewürdigt für höhere Lehranstalten sowie zum Selbststudium. 2. verb. Aufl. Leipzig 1914 [zuerst 1903], S. 5f.: »Der nationale Gehalt macht dieses Drama ganz besonders für die Schullektüre geeignet, weshalb wir es denn auch, nachdem die Vorurteile, die man gegen Kleists Dichtungen hatte, gefallen sind, in den Kanon der Schuldramen aufgenommen sehen« und Franz Schnaß: Kleists Prinz von Homburg. Ein Beitrag zum nationalen Deutschunterricht. In: Deutsche Schulpraxis 14 (1918), April, S. 114ff. 148

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Vgl. Bernhard Luther: Heinrich von Kleists Patriotismus und Staatsidee. In: Neue Jahrbücherfür das Klassische Altertum, Geschichte und Deutsche Literatur 19 (1916), S . 5 1 8 538, hier S. 538; vgl. Busch (wie Anm. 3), S. 96ff. Fischer (wie Anm. 10), S. 76; vgl. Bab (wie Anm. 5), S. 58-64. »In Staub mit allen Feinden Brandenburgs!« (V, 11) wurde so zu einem geflügelten Wort, vgl. etwa Geflügelte Worte. Der Zitatenschatz des deutschen Volkes. Gesammelt und erläutert von Georg Büchmann. Berlin 1926, S. 187f., der lediglich zwei weitere Passagen aus Kleists Werken aufnahm: aus Prinz Friedrich von Homburg »die kraftvollen, soldatischen Worte des Obristen Kottwitz«: »Was kümmert Dich, ich bitte Dich, die Regel,/ Nach der der Feind sich schlägt [...]/ Die Regel, die ihn schlägt, das ist die höchste« (V,5) sowie die Anrede »Hoher Herr« aus Käthchen von Heilbronn, das sich als rhetorischer Höhepunkt öffentlicher Reden großer Beliebtheit erfreute (symptomatisch ζ. B. Erich Schmidts Rede zur Einweihung des Kleist-Denkmals 1910 (wie Anm. 16), vgl. Groeper (wie Anm. 132), S. 506f.); vgl. auch Karl Strecker: Kleist-Sonette. Die Eiche auf dem Grabe des Dichters flüstert im Nachtwind [1911], In: Minde-Pouet (1927), 54-57, Sonett II: »Ein heller Adlerschrei - klingt seine Stimme:/ >Die Feinde Brandenburgs in Staub! In Staub!Das ist ein Lieblingsstück von mirdas müssen Sie uns bald bringen.< - >Wenn nur die fatale Feigheitsszene nicht wäreAber dieser Auftritt kann j a einfach gestrichen werden.< [...] >Aber Majestät halten zu Gnaden< - diese höfische Wendung fiel mir zum Glücke noch ein - >das hieße ja das Stück zerstören und ihm einen Angelpunkt ausbrechen !< Hierauf gab es eine kleine Stille, der Kaiser sah mich groß an und meinte kurz: >Wieso?< Ich führte nun aus, wie der Prinz uns durch diese Szene menschlich näher rückte [...] Der Kaiser folgte mir mit sichtlicher Aufmerksamkeit, erwiderte indessen nichts, wandte sich an einen Herrn des Gefolges und sprach von etwas ganz anderem. 151 D o c h führte das A b w ä g e n zwischen Nutzen und Problemlastigkeit des Werkes nicht unbedingt zur Ablehnung: nur w e n i g e , w i e etwa Paul Ernst und dies bezeichnenderw e i s e mitten i m Ersten Weltkrieg, zeigten sich gänzlich verständnislos: Wenn das Motiv in den Kreis preußischer und militärischer Pflichterfüllung gelegt ist, dann müssen wir das Vergehen [des Prinzen] emst nehmen. Ein Offizier muß gehorchen, er muß doppelt peinlich gehorchen, wenn auf seinem Gehorsam der Ausgang der Schlacht steht. Mag er tausendmal ein liebender Jüngling sein, der gestern abend durch einen Halbtraum der Gegenliebe versichert wurde und nur noch im Rausch lebt; mag er tausendmal seinen Fürsten aufs innigste verehren und lieben; mag er zu den größten Hoffnungen vor der Welt berechtigen: was soll denn werden, wenn ein Officier in der Schlacht seine Anordnung nicht befolgt? Wir werden seiner liebenswürdigen Menschlichkeit zugeben, daß er ein Unglücklicher ist und nicht ein Verbrecher; aber er muß bestraft werden; und wenn der Tod auf seinem Vergehen steht, dann muß er eben den Tod erleiden. 152 Eher verlegte man sich stattdessen darauf - w i e sich dies seit L u d w i g Roberts Bearbeitung eingebürgert hatte - , etwa die Todesfurcht-Szene s o zu kürzen, daß die eindeutigsten Passagen entfielen. 1 5 3 Andere - w i e A d o l f Bartels - schlugen gar die Tilgung ganzer S z e n e n vor. 1 5 4 In umfänglichen Argumentationen wurde dementspre-

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Vgl. Grube (wie Anm. 8). Paul Ernst: Der Prinz von Homburg [1916/17]. In: ders., Der Zusammenbruch des deutschen Idealismus. München 1941, S. 309-327, hier S. 315ff. (zitiert nach Busch (wie Anm. 3), S. 5f.), vgl. auch Windel in: Prinz Friedrich von Homburg. Ein Schauspiel von Heinrich von Kleist. Hrsg. von Dr. H. Windel. Bielefeld; Leipzig 1905. (Sammlung deutscher Schulausgaben), S. 6f.; Lothar Wendriner: Zum Verständnis von Kleists Drama >Prinz Friedrich von HomburgPrinz Friedrich von HomburgÄsthetik des Häßlichen< konnte so immer wieder (und über lange Zeiträume hinweg) auch an die Grenzen der Rezeptionsbereitschaft und vor allem des Rezeptionsvermögens breiter und im Literaturbetrieb dominierender Leserschichten stoßen. Solchen insbesondere, die, ohnehin wenig innovationsfreudig, an der deutschen Klassik, ihren Kunstgesetzen und Epigonen geschult und in diesem Werthorizont unerschütterlich befangen, sich leicht überfordert zeigten, wenn Harmonie, edle Einfalt oder stille Größe in Kunstwerken schlicht nicht vorhanden waren oder in ihr Gegenteil verkehrt wurden. Extreme Erfahrungen wie sie Kleist seinen Lesern nahelegte, mußten so beinahe notwendig mit jener (wert-)konservativen Weltsicht kollidieren, der Kunst wie Literatur allein dazu dienten, anmutige, harmonische und gefallige Schönheit zu schaffen. Solche Leser, deren Erwartungshaltung in Bezug auf hohe Literatur gerade von Kleist nur allzu leicht enttäuscht werden konnte, reagierten hierauf auf zweierlei Weise: entweder sie erkannten mit einigem Recht, es hier mit >unklassischer< und damit nach

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Conrad (wie Anm. 70), S. 31f.; vgl. Scherer (wie Anm. 10), S. 692f. Conrad (wie Anm. 70), S. 32-38 (Zitat S. 32f.). Bismarck gegenüber Wildenbruch am 13. Oktober 1889 (zitiert nach Berthold Litzmann: Emst von Wildenbruch. 2 Bde. Berlin 1916. Bd. II, S. 347); vgl. auch Adolf Wilbrandt: Heinrich von Kleist. Nördlingen 1863, S. 376. Exemplarisch formuliert bei Treitschke (wie Anm. 55), S. 612: »Von dem Liebeswahnsinn dieser Jungfrau, die ihre Zähne in den zuckenden Leichnam des Bräutigams schlägt, wendet sich jedes natürliche Gefühl.« Ebda., S. 621.

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diesem Wertsystem eben nicht wirklich >guter< Literatur zu tun zu haben. 160 Daher nahmen sie sie von vornherein mit recht grundsätzlichem Vorbehalt und einigem Unbehagen nur zur Kenntnis - dies entspricht der im Lauf des neunzehnten Jahrhunderts am häufigsten Kleist gegenüber eingenommenen Haltung, die gleichbedeutend ist mit dessen zögerlicher Akzeptanz als >Klassikernationalen< Dichter stark entgegenkam und für diesen Zweck weitgehend >unverbraucht< schien. Hierzu waren allerdings, wie gezeigt, erhebliche Glättungen notwendig, die ihn einer am Paradigma >Klassik< mit all seinen Implikationen orientierten Literaturauffassung erst erträglich machen konnten. Aus dieser Sicht wurden die Prioritäten recht eindeutig auf die noch im entferntesten Sinne >vaterländischen< Texte Kleists verlegt. Dem kam entgegen, daß diese Texte von der Hermannsschlacht bis zum Katechismus der Deutschen gegen Ende des Lebens entstanden waren und so als Ziel- und Höhepunkt seiner Arbeit - als sein dichterisches Vermächtnis also - sich auslegen ließen; seine anderen Arbeiten wurden daher, weil hierunter nicht zu subsumieren und auch weil sie - wie Penthesilea - Tabus verletzten, als »Uebergangs- und Versuchs-Stücke« auf dem Weg zu den >eigentlichen< Texten bewertet161 oder verharmlost, weil schon zu dieser Zeit nicht sein konnte, was nicht sein durfte: wenn etwa Krafft-Ebing Penthesilea zur Verkörperung des »weiblichen Sadismus« erklärte, so war dies nach Meinung Max Fischers »törichtefs] Geschwätz«: In Wahrheit ist Penthesilea nicht eine Kranke, eine zu sexueller Unnatur Pervertierte; ihre Leidenschaften quellen aus überströmender Kraft, aus übergroßer Fülle. Sie ist naturstarkes, leidenschaftstrotzendes Weib und verfügt über alle Skalen weiblicher Empfindung. 162

Die Zurückhaltung gerade Penthesilea gegenüber und damit auch deren gewollte Ausblendung war zudem bereits 1858 von Treitschke vorgegeben worden, der Kleist hier »sich in die Mysterien des geschlechtlichen Lebens verirren sah, die der Kunst unbedingt verschlossen« seien.163 Diese, aus konservativem Blickwinkel notwendige und explizite Ablehnung des Dramas, die seiner Verdrängung gleichkam, zeitigte eine wichtige Folge: sie schuf einen interpretatorischen Freiraum, den sich Kleists Verfechter aus dem >modernen< Lager zunutze zu machen wußten. Für sie gab es hier tatsächlich etwas zu entdecken: ein Schauspiel, das den gleichfalls neuen ästhetischen Forderungen weitgehend entsprach und zudem durch die beinahe geschlossene Ablehnung des einen weltanschaulichen Lagers die Befürwortung durch das andere geradezu provozieren mußte. Die aus konservativ-nationalistischer Sichtweise verständlichen und naheliegenden Präferenzen für bestimmte Werke Kleists zuungunsten anderer wie die sich hieraus 160

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Vor diesem Wertungshorizont läßt sich Kleist beinahe nur polarisierend verstehen: gemessen an Iphigenie gehört Penthesilea eben kaum zu den klassischen Gestalten, was von vornherein einem Ausschluß aus der ranghöchsten Literatur gleichkommt. Conrad (wie Anm. 70), S. 21. Fischer (wie Anm. 10), S. 31. Treitschke (wie Anm. 55), S. 612; vgl. Kanzog (wie Anm. 55).

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geradezu zwangsläufig ergebenden Ausblendungen, deuten bereits an, was sich mit dem Siegeszug der Moderne endgültig offenbart: Die >Entdeckung< eines Dichters ist auf weite Strecken gleichbedeutend mit der Auswahl derjenigen Facetten seines Werkes (und seiner Biographie), die sich den jeweils verfolgten ästhetischen und/ oder politischen Zwecken subsumieren lassen. Innerhalb der konkurrierenden weltanschaulichen Lager entsteht so eine signifikant unterschiedliche Auffassung vom Dichter, die einen jeweils mit Bedacht gewählten Ausschnitt einer Gesamtschau programmatisch vorzieht. Der solchermaßen entstehende Nachruhm des Autors gleicht einem zertrümmerten Denkmal, das an mehreren Orten zugleich, allerdings in einzelnen, nur theoretisch noch komplementären, keineswegs aber konsistenten Teilen wiedererrichtet werden soll, und das am Ende dann nur noch von fern - wenn überhaupt - dem Dargestellten ähneln kann. Daß hierzu die massive Entstellung und Verzerrung des Porträtierten billigend in Kauf genommen wurde, belegt eindrucksvoll, wie wenig autonom die Literatur als Kunstform schon zu Zeiten war, in denen man dies noch einigermaßen ernsthaft postulierte.

2.

Der Ahnherr der Avantgarden - Die beginnende Moderne und ihr >Kleist-Mythos
modernen< Klassiker Dichtermonographien spiegeln die Summe der Deutungsversuche eines Verfassers oder die von ihm vertretene weltanschauliche Richtung, bisweilen sind sie sogar repräsentativ für die Ansichten einer ganzen Epoche. Monographien sind deshalb Seismographen auch für den Wandel von Anschauungen, Werten und Darstellungsweisen. Seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts prägen die Heinrich von Kleist gewidmeten Deutungsversuche in hohem Maße das Bild vom Dichter, indem sie Details aus Leben und Werk, häufig das Rätselhafte, Unerklärliche und Unklärbare betonend, darbieten, und so das Faszinosum >Kleist< breiteren Leserschichten überhaupt erst zugänglich machen. Ein durch technische Errungenschaften und Bildungshunger wachsender literarischer Markt schuf zudem die Grundlage für den hohen Beliebtheitsgrad der fast ausschließlich von >Brotmißglücktes< Leben wie das Heinrich von Kleists war nun von neuartigem Interesse, spiegelte es doch ex negative, daß das Genie als ein > soziales Wesen< der Anteilnahme seiner Zeit bedarf, wenn es seinerseits die Gesellschaft durch seine Werke bereichern soll. Die ursprünglich aus der Geschichtswissenschaft stammende heroisierende Biographik also wird in den Kunstwissenschaften dieser Zeit nicht nur adaptiert, sondern in Form der positivistischen Biographie geradezu in ihr Gegenteil verkehrt: nach den strahlenden Helden vom römischen Feldherrn bis zu Johann Wolfgang von Goethe folgten nun die traurigen, gescheiterten, die >unklassischen< Helden.166 Die zunächst an den Klassikern Goethe, Herder, Lessing und Klopstock erprobte historisch-kritische Methode konnte so mit nur geringer zeitlicher Verzögerung u. a. auch auf Heinrich von Kleist appliziert werden. 167 Die beiden im folgenden vorgestellten Kleist-Monographien sind typisch für die populärwissenschaftliche Variante der Lebensschilderung: sie gleichen einander in ihrer pädagogischen Grundhaltung, in Umfang und Breite der Darstellung, im Bemühen um eine Gesamtinterpretation, die in dieser Zeit aufgrund der wissenschaftlichen Erkenntnislage noch möglich und erstrebenswert schien. Sie sind charakteristisch für die Sichtweisen ihrer Autoren und deren Generationszugehörigkeit, nicht zuletzt, weil sie die ästhetischen, künstlerischen und auch sozialen Anliegen ihrer eigenen Epoche im Spiegel einer früheren schildern. Als sich am 28. November 1912 die Nachricht vom Tod des Literaturkritikers und Theaterdirektors Otto Brahm (* 1856) verbreitete, war eine Epoche zu Ende gegangen, so jedenfalls lautete das Fazit der zahlreichen Nachrufe und Würdigungen aus der zeitgenössischen literarischen Welt, die Brahm Vieles verdankte.168 Dieser hatte

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Dramen, die zentrale Lebensstationen thematisieren (etwa Wilhelm von Polenz: Heinrich von Kleist. Trauerspiel in vier Akten. Dresden und Leipzig [1891]; Otto Helmut Hopfen: Heinrich von Kleist. Ein Dichterleben in 5 Akten. München [1899]; Elisabeth von Berge: Heinrich von Kleist. Trauerspiel in fünf Aufzügen. Dresden; Leipzig 1902), aber auch die Versdichtung Ein Dichterleben. Erzählendes Gedicht von Hermann von Festenberg. Ein Gedenkblatt zum hundertjährigen Todestage des Vaterländischen Dichters Heinrich v. Kleist. Leipzig-Gohlis 1911. Zur (Dichter-)Biographik vgl. Helmut Scheuer: Biographie. Studien zur Funktion und zum Wandel einer literarischen Gattung vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Stuttgart 1979; Friedrich Sengle: Zum Problem der modernen Dichterbiographie. In: Deutsche Vierteljahrsschrift 26 (1952), S. 100-111, hier S. lOOff. Vgl. Heinrich Düntzer: Goethes Leben. Leipzig 1880; Rudolf Haym: Herder nach seinem Leben und seinen Werken dargestellt. 2 Bde. Berlin 1880/85; Erich Schmidt: Lessing: Geschichte seines Lebens und seiner Schriften. Berlin 1884; Franz Muncker: Friedrich Gottlieb Klopstock: Geschichte seines Lebens und seiner Schriften. Berlin 1888. Vgl. Samuel Fischer: Otto Brahmf. In: Die neue Rundschau XXIV (1913), Η. 1, S. Iff.; Paul Schienther: Otto Brahm (1856-1912), ebda., S. 186-201 und S. 323-338; auch: Otto Brahm: Kundgebungen zu seinem Gedenken. Hrsg. von Willi Simon. Berlin 1913, mit Berichten von der Trauerfeier, bei der Gerhart Hauptmann, Arthur Schnitzler und Paul Schienther sprachen und u. a. S. Fischer, Walter Rathenau und Erich Schmidt anwesend waren, der Gedenkfeier und dem Abdruck der Pressenachrufe; Max Lesser: [Nachruf auf

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als einer der Gründer der Berliner »Freien Bühne« und als stürmisch gefeierter wie heftig bekämpfter Direktor des »Deutschen Theaters« und des »Lessing-Theaters« die hauptstädtische, ja, die deutsche Theaterlandschaft mit den Errungenschaften der naturalistischen Moderne konfrontiert wie kein anderer; er hatte Gerhart Hauptmanns große Popularität mit seinen Inszenierungen erst ermöglicht und durch einen untrüglichen Instinkt für herausragende Begabung den Grundstein zur Weltkarriere Max Reinhardts gelegt. 169 Daß gerade durch dessen einzigartige Erfolge Brahms Leistungen vor der Zeit verblassen würden, war 1912 bereits ansatzweise zu ahnen, denn Brahms Stem war im Begriff, gemeinsam mit dem mit seiner Person untrennbar verknüpften Naturalismus langsam aber sicher zu sinken.170 Im Kontext dieser langanhaltenden kulturellen >Großwetterlage< sowie als Konsequenz der alles >nichtarische< niederwalzenden Propaganda-Maschinerie des »Dritten Reiches«, die - wie auch Reinhardt und sein Theater - den Kaufmannssohn, dessen eigentlicher Nachname Abrahamsohn lautete,171 vergessen machen wollte, ist auch weitgehend das Wissen um die vielfältigen Verdienste Brahms um Heinrich von Kleist verloren gegangen. Sie seien im folgenden wenigstens ansatzweise dargestellt, wozu es dienlich scheint, den Werdegang Brahms als Befürworter und Parteigänger Kleists in drei Phasen seines Lebens zu betrachten: zunächst im Kontext akademischer Tradition, der Brahm durch seine Lehrer Wilhelm Scherer und Erich Schmidt maßgebliche Anregungen zur Beschäftigung mit Kleist verdankte; während seiner Zeit als freier Publizist und schließlich auf dem Höhepunkt seiner Karriere als Theaterdi-

Otto Brahm]. In: Neues Wiener Tagblatt, 30. November 1912, S. 92; vgl. auch den Kommentar zu Lesser Urys Gemälde Otto Brahm in einer Loge des Deutschen Theaters (1901) in: Berliner Kunstfrühling. Malerei, Graphik und Plastik der Moderne 1888-1918. Aus dem Stadtmuseum Berlin. Hrsg. von Dominik Bartmann. Berlin 1997, S. 126, Nr. 113. 169 v g l . Die Berliner Moderne. 1885-1914. Hrsg. von Jürgen Schutte und Peter Sprengel. Stuttgart 1987, S. 377ff.; Philipp Ursprung: Warten auf das Paradies: Die Berliner Kunstwelt in den 1890er Jahren. In: Berliner Kunstfrühling (wie Anm. 168), S. 21-24; Lothar Brauner: Künstler in Berlin 1888-1918. Zur Entwicklung vom Drei-Kaiser-Jahr bis zur Novemberrevolution. In: Berliner Kunstfrühling (wie Anm. 168), S. 9-13. 170 Schon Emil Faktor: [Nachruf auf Otto Brahm]. In: Berliner Börsencourier, 29. November 1912, S. 31 (zitiert nach: Brahm (wie Anm. 168), S. 29ff., hier S. 31): »Und wenn man heute Max Reinhardt als sein Widerspiel, als ein erfolgreiches Antipodentum ansieht, das aus dem schmal und einförmig gewordenen Bett der Realistenkunst hinausstrebte, so darf man nie vergessen, daß es Otto Brahm war, der diesen entfremdeten und widerspenstigen Jünger an die Oberfläche zog«; vgl. Hans Landsbergs Nachruf (ebda., S. 33); Max Schach: [Nachruf auf Otto Brahm]. In: Berliner Volkszeitung, 29. November 1912 (zitiert nach: Brahm (wie Anm. 168), S. 58f.): »Ein Programm ist mit ihm gestorben.« 171 Scherer hatte Brahm als Rezensenten an die Augsburger Allgemeine und die Nationalzeitung empfohlen. Wegen des offenen Antisemitismus der Zeit, der die Publikations- und damit die Verdienstmöglichkeiten des jungen Autors zu beeinträchtigen drohte, riet er Brahm zunächst, die Rezensionen mit Pseudonym bzw. Chiffre (»Otto Anders« bzw. »O. A.«) zu zeichnen, und später, den Nachnamen zu kürzen; vgl. Evamaria Westphal-Wolf: Otto Brahm und seine Beziehungen zu Max Halbe. Coburg 1978, S. 4f.; auch Schienther (wie Anm. 168), S. 197, und seinen Nachruf in: Berliner Tageblatt, 1. Dezember 1912.

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rektor und Kritiker mit Kontakten zu allen kulturell relevanten Adressen seiner Zeit sowie als Beförderer junger Talente. Den Zugang zur Universität hatte sich Otto Brahm schwer erkämpfen müssen; nach der Realschule und einer (ungeliebten) Ausbildung zum Bankkaufmann akzeptierte der Vater widerwillig ein Studium der Germanistik in Berlin und Heidelberg. Die wichtigsten Eindrücke davon, wie eine zeitgemäße Literaturwissenschaft auszusehen habe, erhielt der Zwanzigjährige wohl in den Seminaren eines der berühmtesten Hochschullehrer seiner Zeit, Wilhelm Scherers, bei dem Brahm auch seine Doktorarbeit zu schreiben begann, die er aber wegen seines fehlenden Reifezeugnisses und nach einer Zwischenstation in Straßburg bei Erich Schmidt, dem späteren Herausgeber der Werke Kleists, in Jena bei Eduard Sievers zu beenden sich gezwungen sah. 172 Scherers Ansatz, der - im Gegensatz zur streng-philologischen Ausrichtung Karl Lachmanns und seiner Schüler - bei einer Öffnung der Germanistik für Schule und ein größeres Publikum durchaus nicht die Gefahr der >Verwässerung< ihrer Resultate fürchtete und den Essayismus von Seiten der Fachwissenschaft befürwortete, 173 prägte Brahms literarisches Weltbild: auch er blieb, entgegen

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Vgl. Otto Brahm: Das deutsche Ritterdrama des 18. Jahrhunderts: Studien über Joseph August von Törring, seine Vorgänger und Nachfolger. Straßburg 1880. (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Culturgeschichte der germanischen Völker 40); zum Verhältnis Brahm/ Scherer vgl. Oskar Seidlin: Der Theaterkritiker Otto Brahm. 2. Aufl. Bonn 1978. (Studien zur Literatur der Moderne 6) (zuerst: 1936), S. 13-17; 23ff.; auch Schlenther in: Brahm (wie Anm. 168), S. 48-57, passim. Vgl. Scherers vielbenutzte Geschichte der deutschen Litteratur (Berlin 1883), die 16 Auflagen erzielte; Jürgen Fohrmann: Einleitung: Von den deutschen Studien zur Literaturwissenschaft. In: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Hrsg. von Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp. Stuttgart; Weimar 1994, S. 1-14, hier S. 8f., dort auch zu den im »Nibelungenstreit« aufeinanderprallenden grundsätzlichen Standpunkten der verschiedenen germanistischen Richtungen im Kaiserreich; Berthold Litzmann: Im alten Deutschland. Erinnerungen eines Sechzigjährigen. Berlin 1923, S. 188f.; Briefwechsel zwischen Karl Müllenhoff und Wilhelm Scherer. Im Auftrag der Preußischen Akademie der Wissenschaften herausgegeben von Albert Leitzmann. Mit einer Einführung von Edward Schröder. Berlin; Leipzig 1937. (Das Literatur-Archiv 5); Briefwechsel von Wilhelm Scherer und Erich Schmidt. Mit einer Bibliographie der Schriften von Erich Schmidt hrsg. von Wemer Richter und Eberhard Lämmert. Berlin 1963; Jürgen Sternsdorff: Wissenschaftskonstitution und Reichsgründung: die Entwicklung der Germanistik bei Wilhelm Scherer; eine Biographie nach unveröffentlichten Quellen. Frankfurt; Bern; Cirencester 1979. (Europäische Hochschulschriften: Reihe 1, Deutsche Sprache und Literatur 321); Maria Liljeberg: Otto Brahm. Versuch einer kulturhistorischen Monographie. Diss. Berlin/ DDR 1980, S. 13ff.; Wolfgang Höppner: Studien zu den literaturwissenschaftlichen Auffassungen Wilhelm Scherers: ein Beitrag zur Geschichte der Germanistik. Diss. (Β) Humboldt Universität Berlin 1986; ders., Universitätsgermanistik und zeitgenössische Literatur. Wilhelm Scherers Berliner Jahre 1877-1886. In: Literarisches Leben in Berlin. 1871-1933. Hrsg. von Peter Wrack. Berlin/ DDR 1987, S. 157-203; Rainer Kolk: Liebhaber, Gelehrte, Experten. Das Sozialsystem der Germanistik bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. In: Wissenschaftsgeschichte (s. o.), S. 48-114, hier S. 91 und 93-101; Herbert H. Egglmaier: Entwicklungslinien der neueren deutschen Literaturwissenschaft in Österreich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des

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allen sonstigen Präferenzen für die Moderne, an der Klassik orientiert und sah in der Suche nach »handgreiflichem Tatsachenmaterial« (Seidlin) 174 und dessen Kausalitätsbeziehungen die Grundlage einer nach naturwissenschaftlichen Prinzipien ausgerichteten und somit überprüfbaren, weil >wahren< Literaturwissenschaft. Was der Germanist Friedrich Zarncke als polemische Kritik gegen Scherers methodischen Ansatz formulierte 175 - »die Journalistik mit ihrer leichtgeschürzten Methode rückwärts hineinzutragen in die germanistische Wissenschaft« genau das machte Scherers (und Schmidts) Schüler Brahm, der als Jude ohnehin nur geringe Aussichten auf eine akademische Laufbahn im Kaiserreich zu gewärtigen hatte, zur Grundlage einer notgedrungen außeruniversitären, dafür aber überaus erfolgreichen Karriere als Publizist und Kritiker.176 Bekannt war er den Eingeweihten durch zahlreiche Kritiken in der Vossischen Zeitung, berühmt wurde er durch seine 1884 entstandene, vom »Verein für deutsche Literatur« preisgekrönte Kleist-Biographie. 177 Diese entspricht weitestgehend dem geschilderten Ansatz einer breitenwirksam konzipierten Germanistik auf der Basis minutiös zusammengetragener Resultate. Den Grundstein für Brahms lebenslanges Interesse an Kleist mochte vor allem der glänzende Redner Scherer in seinen Vorlesungen und Seminaren gelegt haben: dieser hatte nach einem Bericht des Literaturwissenschaftlers Berthold Litzmann Kleist in seinen Vorlesungen mit klagend-anklagenden Worten (»Man fand ihn, die Kugel im Herzen. Das

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20. Jahrhunderts. In: Wissenschaftsgeschichte (s. o.), S. 204-235; Hermann Paul störte sich an der aus seiner Sicht bei Scherer unzulässig betriebenen »Vermischung populärer und wissenschaftlicher Darstellungsweise« (Hermann Paul: [Rezension zu: Karl Knorr; Ueber Ulrich von Lichtenstein; Der Marner, hrsg. von Philipp Strauch; Albrecht Wagner, Ueber den Mönch von Heilsbronn]. In: Jenaer Literaturzeitung Nr. 27 (1877), S. 428ff., hier S. 428), obwohl Scherer doch vorgebe, Lachmanns strenge Tradition fortzusetzen. Seidlin (wie Anm. 172), S. 29f. Friedrich Zarncke: [Rezension], Wilhelm Scherer: Geistliche Poeten der deutschen Kaiserzeit; Geschichte der deutschen Dichtung im 11. und 12. Jahrhundert. In: Literarisches Zentralblatt (1876), Sp. 151ff„ hier Sp. 153. Vgl. Kolk (wie Anm. 173), S. 109, der betont, daß beide, wie auch der Bonner Professor Berthold Litzmann, ihr Fach »offensiv in der kulturellen Öffentlichkeit« repräsentierten, »die nicht mehr als Störfaktor für die solide Forschung gilt.« Otto Brahm: Heinrich von Kleist. Gekrönt mit dem ersten Preise des Vereins für Deutsche Literatur. Berlin 1884; bereits 1885 erschien eine zweite Auflage; der Preis war für »als vorzüglich anerkannte Arbeiten aus dem Gebiete der deutschen Geschichte oder Kulturgeschichte« ausgelobt worden (zitiert nach Seidlin (wie Anm. 172), S. 29). Seidlin betont ebda., daß das »Bild, das wir Heutigen von Kleist haben«, bei Brahm keineswegs zu finden sei, und daß es eben auch die Mängel der Methode Scherers spiegele: »Die Gründlichkeit steht einer Tiefgründigkeit hindernd im Wege, unter der Stoffmasse ertrinkt eine souveräne Stoffdeutung« (S. 32); vgl. ebda, S. 29-34; vgl. hierzu Erich Schmidts Einschätzung, der gegenüber »der einst von dem jungen Wilbrandt einschmiegend dargebotenen Krankheitsgeschichte« Kleists in der Darstellung Brahms »ruhige Linien, klare Analyse, treffende Stilkritik« überwiegen sieht (Erich Schmidt: [Nachruf auf Otto Brahm]. In: Deutsche Rundschau, Januar (1913) (zitiert nach: Brahm (wie Anm. 168), S. 65-69, hier S. 67)); vgl. Horst Claus: The theatre director Otto Brahm. Ann Arbor 1981. (Theatre and dramatic studies 10), S. 13f.

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hatte er noch sicher zu treffen gewußt«) charakterisiert und mit solcher Emphase sicherlich sein jugendliches Publikum anzusprechen vermocht. 178 Das Erich Schmidt aus Dankbarkeit und als Ermunterung zu dessen kritischer Kleist-Ausgabe gewidmete Werk 179 gründet wesentlich auf der Feststellung, daß seit dem Erscheinen der Monographie Wilbrandts 1863 so viele bis dahin unbekannte Zeugnisse zu Leben und Werk Kleists aufgetaucht seien, daß es nun an der Zeit sei, »von Neuem den Versuch einer zusammenfassenden Darstellung [zu] wagen.« 1 8 0 Wo nun aber lagen die Schwerpunkte dieses Unternehmens? Brahm bemühte sich, aus den historischen Fakten, seinen Beobachtungen am Stil der Werke Kleists und den Nachrichten über seine Erscheinung ein Charakterbild zu entwerfen, das in seinen exemplarischen Zügen Schlüsse auf »allgemeine Richtungen der Zeit« zuließ. 181 Das mitunter dürre Material zu Kleists Leben und Werk hatte also dem hohen Anspruch zu dienen, über das rein Biographische hinaus die Zeit Kleists selbst verständlich zu machen. Ganz im Sinne Scherers 182 und so den Vorwurf des Feuilletonistischen durchaus nicht scheuend, vermied er, »weiter ins Detail zu gehen und den ganzen gelehrten Apparat spielen zu lassen.« 183 Heraus kam hierbei ein zeitgemäßes Kleist-Bild der achtziger Jahre: es ist das Bild einer Umbruchszeit, in der bis dahin unverbrüchliche Denktraditionen zur Disposition gestellt werden, in der das Neue aber noch nicht ohne das Alte gedacht werden kann. Brahm verkörpert diesen Umbruch wie kaum ein anderer: noch schaudert sein an der Ästhetik der Weimarer Klassik geschulter Blick angesichts der dramaturgischen Mängel des Zerbrochnen Kruges und Penthesileas, noch macht ihm Kleists Mut zur Schilderung des Häßlichen und der Grausamkeit zu schaffen, weil er so wenig mit dem »Standpunkt der schönen Kunst« gemein hat, und doch kann Brahm schon zugestehen:

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Litzmann (wie Anm. 173), S. 189; Scherers Begeisterung spiegelt sich auch in seiner Literaturgeschichte: vgl. Scherer (wie Anm. 173), S. 678f. (»Eine Erzählung wie das Erdbeben in Chili gehört zu den Meisterstücken aller prosaischen Epik überhaupt«) und S. 689-695 (»Aber 1821 gab Tieck Heinrich von Kleists hinterlassene Schriften und 1826 dessen gesammelte Werke heraus. Seitdem ist uns diese melancholische Gestalt immer theurer geworden und mit fortschreitender Erkenntnis immer höher gestiegen. Ein tragischer Dichter und ein tragisches Schicksal! [...] Seinem Dichten fehlte die Ermunterung des Beifalls«, S. 689f.). In der Widmung vom 20. Mai 1884 heißt es u. a.: »ich möchte auch einen Wunsch aussprechen, der an meine Arbeit unmittelbar anknüpft: den Wunsch, daß Sie Ernst machen mit dem Plane, den Sie mir noch jüngst in Wien entwickelt haben, und uns eine kritische Ausgabe der Kleistschen Dichtungen schenken. Für solches Werk sind Sie vor vielen berufen; und es steht Ihnen in Ihren getreuen Seminaristen eine allzeit hülfreiche Schaar zur Seite, mit der sich auch schwere Arbeit guten Muthes verrichten läßt. Frischauf also! Hier haben Sie meinen Kleist; geben Sie uns den Ihren.« (Brahm (wie Anm. 177), [o. S.]); die in Zusammenarbeit mit Georg Minde-Pouet und Reinhold Steig entstandene Werkausgabe Schmidts erschien allerdings erst in den Jahren 1904/05. Brahm (wie Anm. 177), Vorwort [o. S.]. Ebda. »[...] ich hoffe so den Fortschritten zu entsprechen, welche die litterarhistorische Wissenschaft, besonders unter Scherers Einfluß in den letzten Jahren gemacht hat« (ebda.). Ebda.

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[...] wir erkennen den Versuch, einen neuen Weg zu gehen, dem die bisherige Entwicklung [der Ästhetik] ausgewichen war und sehen ein neues großes Ziel. Das >widerwärtige Bildklassische< Argumente notwendig fehlgehen müssen. Der Dichter der Penthesilea sei schließlich das Gegenstück zu Goethe, »das andere Extrem«. 185 Und so wird Brahm zum Vermittler zweier Welten. Hin- und hergerissen, ganz so als fehle ihm der Mut zur eigenen Courage, schildert er fasziniert seinen Eindruck von Penthesilea: In gigantischen Gestalten verkörpert der Dichter so sein eigenes übergewaltiges Wollen; und die Kraft und die Pracht seiner Darstellung, der Glanz seiner Menschen und der Zauber seiner Sprache tritt uns selten so unwiderstehlich entgegen. [...] und wie am Ende der schrecklichste Ausdruck entfesselter Raserei auf uns einstürmt, empfinden wir trotz allem Gräßlichen Befreiung des Gemüthes und tragische Stimmung. 186

Letztlich aber kann alle Euphorie über Kleists Fähigkeit, Charaktere plastisch zu schildern, nicht darüber hinwegtäuschen, daß dem an Schillers Dramen ausgerichteten Brahm »der dramatische Nerv«, die »dramatische« Stimmung doch zu sehr fehlt, als daß das Stück für ihn jemals mehr als ein »Experiment« sein könnte: Die Voraussetzung ist wunderlich, die Motivierung flüchtig, die Technik bequem; keine Verwicklung und keine Intrigue hat das Stück, das ohne Akte dahinläuft, nur Stimmung hat es und Leidenschaft. 187

Der Biograph Brahm also befindet sich in einem Urteils-Dilemma, um so mehr noch, als auch die Grenzbereiche, in denen sich der Mensch Heinrich von Kleist immer wieder bewegt hat, ihn bei aller Bewunderung doch nachhaltig irritieren. Es ist ihm »unheimlich«, wie »die Interessen des Menschen bei Kleist von denen des Poeten überwuchert und völlig verschlungen werden,« 188 und nur widerstrebend berichtet

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Ebda., S. 214. Ebda. Ebda., S. 199. Ebda. Ebda., S. 63.

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er von dem gegen christlich-abendländische Traditionen so offenkundig verstoßenden »entsetzliche[n] Gedanke[n], der wie eine Wahnvorstellung durch Kleists ganzes Leben sich zieht, [...] in der Gemeinschaft eines Anderen den Tod zu suchen.« 189 Der Charakter des Dichters erscheint ihm »ins Extreme verzerrt« und »krankhaft gesteigert«, 190 mitunter werde dessen Handeln von einem »Fiebereinfall« 191 motiviert, während sein Geist zeitweilig mit einer »schweren Umnachtung« 192 zu kämpfen habe. Aus diesen Schilderungen steigt auf ein einsamer, an den Grenzen zum Wahnsinn schwankender Heroe mit übermenschlicher Schaffenskraft: Vor keinem Opfer scheut es in ihm, und sein Dämon scheint zu rufen: über Leichen vorwärts! 193

Brahm trägt hier dem öffentlichen Interesse seiner Zeit an seelischen Vorgängen, an der Psyche und ihren Krankheiten Rechnung und kann sich doch nicht frei machen von dem traditionell psychischen Defekten und der Selbsttötung entgegengebrachten Unbehagen. Brahm dämonisiert Kleist und begründet damit eine Sichtweise, die sich vornehmlich die ihm nachfolgende Generation junger Literaten mit großer Vehemenz zu eigen gemacht hat. Jenseits des bürgerlichen common sense seiner Zeit erscheint auch Brahms Urteil über Kleists patriotische Bestrebungen. Keineswegs schätzt er das Nationale in der Literatur und geradezu übel nimmt er dem Dichter die chauvinistischen Einsprengsel im Michael Kohlhaas: Hier aber treffen wir auf einen entscheidenden Mangel der Geschichte; auf den Punkt, wo dem Künstler der Patriot unsanft ins Werk gegriffen und die ursprüngliche Reinheit seiner Intention getrübt hat. [...] So unkünstlerisch macht sich die politische Gesinnung des Dichters Luft: die Sympathie für die Menschen seiner Heimath, der Haß gegen den sächsischen Fürsten, der auf Kosten Preußens sein Königthum erworben hatte, den Rheinbündler, der vor Napoleon im Staube lag. [...] Wie durch diese gewaltsame Interpolation Kleist die herrlichste seiner Erzählungen im Innersten geschädigt hat, werden wir stets beklagen müssen. Je bestimmter die größere Hälfte der Novelle im hellen Tageslichte daliegt, um so schattenhafter erscheint nun das Gespenst des Schlusses; und daß der Dichter mit einem so willkürlichen Einschiebsel nicht noch gründlicher scheiterte, kann als ein neuer Triumph seiner Kunst gelten. 194

Gleichwohl schwärmt er - und wiederum zeigt sich das zugleich Rück- und Vorwärtsgewandte des Brahmschen Urteils - ganz im Sinne der preußisch geprägten und durchaus chauvinistischen Literaturgeschichtsschreibung, wenn auch mit anderen Argumenten, von der Hermannsschlacht und Prinz Friedrich von Homburg als

189 190 191 192 193 194

Ebda., Ebda., Ebda., Ebda. Ebda., Ebda.,

S. 8. S. 63. S. 130. S. 63. S. 283ff.

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den »beiden größten seiner Dramen«. 195 Bisweilen scheinen - bewußt, unbewußt auch Parallelen zu Brahms Leben zutage zu treten: auch für ihn gilt am Anfang seiner Karriere die auf Kleist gemünzte Feststellung, daß er, obwohl »auch seine Wurzeln noch völlig in der früheren Epoche liegen [...,] doch jung genug [sei], um die neue mit heraufführen zu helfen,« 196 und für seine ganz konkrete Situation um die Mitte der achziger Jahre traf ganz gewiß folgendes zu: zu ungeschickt fühlt er sich, ein Amt zu erwerben, zu ungeschickt es zu führen; [...] was er zu seinem Glück braucht, ist dieses: unaufhörliches Fortschreiten in seiner Bildung, Unabhängigkeit und häusliche Freuden. [...] Auf Ausbildung seines Innern läuft alles für ihn heraus.197

Ohne Zweifel liegt Brahms Gedanken ein teleologisches Literaturgeschichtsbild zugrunde. Danach entwickeln und steigern sich Kleists Werke, um in den Dramen Die Hermannsschlacht und Prinz Friedrich von Homburg den eigentlichen Kulminations- und Endpunkt zu finden, der de facto auch mit dem Tod des Dichters zusammenfällt und diese Vorstellung so indirekt zu bestätigen scheint. Teleologisch ist der Entwurf Brahms jedoch noch in einer zweiten Hinsicht: Kleists Ort »auf dem Koordinatenfeld von Naturalismus und Stilisierung,« 198 dem sich Brahm eingehend widmet, wird nicht zuletzt bestimmt um nachzuweisen, daß der Naturalismus des späten 19. Jahrhunderts als Gegenentwurf zur Weimarer Klassik einen markanten, nicht zu übersehenden Wegbereiter und Ahnherrn in Heinrich von Kleist hatte. Wieder einmal also dient die rückwärts gerichtete Projektion kontroverser Standpunkte vornehmlich dazu, Selbstbestätigung für die ästhetischen Diskussionen einer konkreten Gegenwart zu erhalten. 199 Der Band, der zugleich die Richtigkeit und die Brauchbarkeit der SchererMethode zur Vermittlung germanistischer Forschung nachweisen sollte, gefiel den zeitgenössischen Lesern, wurde zum Standardwerk mit breiter Wirkung. 200 Allen

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Ebda., S. 286; ähnlich S. 217 (»und das brennende Verlangen, eine neue Zeit für das geknechtete Vaterland mit heraufbringen zu helfen, ließ ihn in den großen dramatischen Schöpfungen seiner patriotischen Periode den Gipfel seines Dichtens erklimmen«) und S. 222. 196 Ebda., S. 222. 197 Ebda., S. 41. 198 Seidlin (wie Anm. 172), S. 32. 199 Vgl. auch Seidlin (wie Anm. 172), S. 33: »So weit schon geht der Hang, Kleist als Vorläufer der neuen, modernen Literaturrichtung zu betrachten, dass selbst das Käthchen von Heilbronn [...] aus ihrer unrealistischen, verträumt-märchenhaften Sphäre gerissen wird, dass selbst von dieser romantischen Sagengestalt ausgesagt werden kann: Ganz >auf dem Boden dieser Welt steht sie daEtappen-Sieg< seines »kleinen Freundes O. Brahm«201 gegenüber der Hochschulgermanistik: Hochgeehrter Herr und Freund. Lassen Sie mich Ihnen aussprechen, wie sehr wir uns über Ihren Sieg gefreut haben. Viertausend Mark sind kein Pappenstiel, und wenn schon das Geld was bedeutet, so die Ehre noch mehr. Es zählt dies zu den im Leben nicht allzu oft vorkommenden Ereignissen, gegen deren Wucht sich auch der Übelwollendste nicht verschließen kann. Als Kollege habe ich - und mit mir gewiß viele - noch die Spezialfreude gehabt, daß ein Schriftsteller den ersten und ein Professor erst den zweiten Preis errungen hat. Es ist recht gut, daß

S. 135ff., hier S. 135f.); Julius Rodenberg: Eine neue Biographie H. v. Kleists. In: Deutsche Rundschau 41 (1884), S. 321f.; Franz Mehring hingegen kritisierte 1893 Brahms bürgerliche Literaturgeschichtsauffassung im allgemeinen und dessen vermeintliche Unterwürfigkeit, seinen »Lakaienstolz« gegenüber Erich Schmidt im besonderen (Franz Mehring: Die Lessing-Legende. Zur Geschichte und Kritik des preußischen Despotismus und der klassischen Literatur. Berlin 1893 (zitiert nach: ders., Gesammelte Schriften. Berlin 1961ff., Bd. 9, S. 191)); ähnlich kritisch zeigt sich Theophil Zolling: »Der biographische Wert ist gleich Null. Brahm begnügt sich, Kleists Leben frei nach Wilbrandt nachzuerzählen. Im eilfertigen Bestreben, sich an der von seinem Lehrer Prof. Wilhelm Scherer präsidierten Preisausschreibung des Allgemeinen Vereins für Literatur zu beteiligen, hat er auf jede eigene Forschung verzichtet und von neueren Quellen nur notdürftig Kenntnis genommen« (Theophil Zolling: Neues über Heinrich von Kleist. In: Die Gegenwart, 12. September 1885); vgl. ders., In eigener Sache, (ebda., 31. Oktober 1885), als Antwort auf die Kritik des Brahm-Freundes Schienther (Paul Schienther: Brahm und Zolling Uber Heinrich von Kleist oder Wie man Bücher schreibt und ausschreibt. In: Frankfurter Zeitung, 21. Oktober 1885), Zolling habe stillschweigend aus Brahms Werk zitiert. 201

An Wilhelm Hertz, 14. Juli 1884 (in: Theodor Fontane: Briefe. Dritter Band. 1 8 7 9 1889. Darmstadt 1980. (Theodor Fontane. Werke, Schriften und Briefe; Abt. IV), S. 341, Nr. 309); vgl. auch Fontanes Rezension des Buches (in: Theodor Fontane: Literarische Essays und Studien. Zweiter Teil. Unter Heranziehung der von Kurt Schreinert gesammelten Materialien hrsg. von Rainer Bachmann und Peter Bramböck. München 1974, S. 423ff.); positive Reaktionen gab es jedoch auch von den Dichterkollegen Fontanes: Theodor Storm schrieb am 13. Dezember 1884 an Erich Schmidt (in: Theodor Storm Erich Schmidt. Briefwechsel. Hrsg. von Κ. E. Lange. Berlin 1976. Bd. 2 (zitiert nach: Sembdner (1996) II, S. 181, Nr. 213)): »Ich stecke jetzt in Brahms Kleist. Ein gescheutes Jüdchen! Mitunter übers Ziel hinaus. (Penthesilea)«, und gegenüber Paul Heyse erwähnte er am 4. März 1885 (ebda.): »Ich habe in der Teestunde - nachdem ich das gute Brahmbuch über Kleist gelesen - den Frauen die Hermannsschlacht vorgelesen«; C. F. Meyer wandte sich gleich mehrfach direkt an Brahm: am 13. Juli 1884 (»Ihr >Kleist< hat mich schon durch sein schmuckes Äußere aufs angenehmste berührt. Ich danke herzlich. [...] Auch wer mit dem zu wissenschaftlichen Verfahren nicht einverstanden wäre und die Intuition Vischers vorzöge, wird sagen müssen: Hier lernt man etwas, man trägt etwas heim. Der - Leben und Kunstrichtung - unendlich interessante Gegenstand ist vollständig ergriffen, im ganzen gewiß richtig gesehen und im einzelnen oft geistreich behandelt«) (in: Sembdner (1996) II, S. 181, Nr. 214), am 5. Dezember 1884 (»Daß Sie jetzt Kleiststraße 1 wohnen, ist hübsch und auch leicht zu behalten - und das Gute, welches Ihnen über Ihren Kleist gesagt wird, nur recht und billig«) (ebda.) sowie am 31. Oktober 1885 (»Einen >Schiller< in der Art und mit dem Verfahren Ihres >Kleist< möchte ich wohl besitzen«) (ebda.).

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wir Professoren und Geheimräte haben, aber ihre Alleinherrschaft dann und wann gebrochen zu sehn, ist doch eine Wonne, weil ein gelegentlicher Triumph von Gerechtigkeit und bon sens. Wie immer Ihr Th. Fontane. 202 D a s Verdienst, die e p o c h e m a c h e n d e Erscheinung Kleist in ihrer vollen Tragweite (soll heißen: nach d e m Verständnis der Moderne) erfaßt zu haben, gestehen noch die Verfasser der Nachrufe ganz selbstverständlich Brahm zu; seine Kleistbiographie sei es schließlich g e w e s e n , »die uns zuerst das rätselreiche Genie des g e w a l tigen Vorahners moderner Stimmungen näher brachte.« 2 0 3 U n d Kleist beschäftigte Brahm darüber hinaus: in seinen zahlreichen Kritiken wird der Dichter immer wieder zum ästhetischen Anlaufpunkt, zum Korrektiv und Maßstab gewählt. Zugleich umreißen und erhellen sie das literarische Weltbild des jungen Kritikers, seine ästhetischen Auffassungen und Argumentationsmuster. 2 0 4 Dieser hatte beispielsweise eine

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Am 2. Januar 1884 an Brahm (in: Fontane (wie Anm. 201), S. 295f„ Nr. 273); vgl. auch Fontane an seine Frau Emilie (21. Juli 1884, ebda., S. 343ff., Nr. 310), an Wilhelm Hertz (26. September 1884, ebda., S. 354, Nr. 323) sowie an Friedrich Stephany (16. April 1886, ebda., S. 466, Nr. 439): »Zu gleicher Zeit aber leb' ich und sterb' ich der Überzeugung, daß wir in Brahm-Schlenther die besten Nummern der jungen Schule gehabt haben respektive noch haben. [...] Tieck, Platen, Schlegels, Fichte, Schopenhauer waren alle blutjung, als sie kritisch vom Leder zogen. Nun werden Sie zwar sagen: >Ja, dieRobert GuiskardDeutsche TheaterDas Käthchen von HeilbronnMakkabäerDeutsche Theater< von 1885, in dem er besonders zwei Fähigkeiten als konstitutiv für einen Theaterleiter hervorhebt: 1. die »Kunst der Inszenesetzung« und 2. »die Kunst des literarischen Entdeckens«, »den Mut des Findens«. 208 Beides erwartete er, am »Deutschen Theater« Adolph L'Arronges in besonderem Maße an den Werken Kleists belegt zu finden, denn schließlich habe man Kleists Büste programmatisch und als »wohlverdiente Auszeichnung« 209 neben den Bildnissen von Lessing, Goethe und Schiller in der Vorhalle aufgestellt. Das neuere Drama, das Kleist als ein früher Vertreter repräsentiere, sei bisher kaum je angemessen auf die Bühne gebracht worden, daher sei dies nun die »ernsteste Pflicht«210 des hauptstädtischen Theaters. Die Inszenierung des Prinz Friedrich von Homburg belege, daß dies wirkungsvoll und erfolgreich möglich sei, denn:

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Vgl. Otto Brahm: Das Deutsche Theater (wie Anm. 204), S. 35. 206 Ygj jjg Kritik zu Romeo und Julia (in: Vossische Zeitung, 8. Januar 1885): »Das Drama des gesamten neunzehnten Jahrhunderts existiert noch nicht für das Deutsche Theater; Kleist ließ es nur flüchtig mit dem Zerbrochnen Krug, Grillparzer gar nicht zu Worte kommen. Ungezählte schöne und fruchtbare Aufgaben harren der Lösung.« 207 In der Kritik zu Pauline Lucca. In: Vossische Zeitung, 4. Januar 1884 (zitiert nach: ders., Kritische Schriften (1913) (wie Anm. 204), S. 63). 208 Zitiert nach Brahm (wie Anm. 207), S. 81-86, hier S. 8 lf.; zuerst in: Deutsche illustrierte Zeitung, 13. Juni 1885. 209 Ebda., S. 83. 210 Ebda.

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Wer die Schöpfung eines Dichters zum Bühnenleben erheben will, muß fähig sein, solche stimmungsgebenden Grundtöne zu vernehmen und sie durch die Vermittlung seiner Darsteller nachklingen zu machen im Hörer; und eben diese Gabe, wie sie die klassischen Aufführungen des Deutschen Theaters zum Erfolge geführt hat, brachte dem Kleistschen Werke den Sieg, das so lange, gleich allen Schöpfungen des Dichters als »problematisches Theaterstück< gegolten hatte. Das fröhliche Preußenstück, in der drängenden Fülle seiner Aktion, in seinen fürchterlichen und seinen märchenhaften Szenen herausgestellt, bezwang die Hörer [...] Diese Werke, erfüllt von so viel echtem, dramatischem Leben, sind problematisch für das Theater, sind nur unter besonders günstigen Bedingungen zu einer vollen Bühnenwirkung zu bringen.211 Brahm versucht hier wiederum, Kleist mit der eher retrospektiven Kategorie des >Klassischen< in Beziehung zu setzen und zu erklären; vor allem, um ihn am Dramatiker Schiller messen zu können, aber auch, um getreu seiner literaturwissenschaftlichen Herkunft Goethes Vorgabe zu bestätigen, Kleists Werke seien »problematische Theaterstücke«. 212 Hierbei legt er die Vorstellung zugrunde, daß schwer zu inszenierende Werke wie sie Kleist verfaßt hat, nur auf derjenigen Bühne mit Erfolg aufgeführt werden können, die wie das »Deutsche Theater« ihr szenisches und darstellerisches Instrumentarium beinahe ausschließlich an den Stücken der Klassik eingeübt und verfeinert hat; nur eine solche Bühne vermöchte es, »den individuellen Ton und die Stimmung« zu treffen, die der »Krone seiner [Kleists] Schöpfungen« allein eignet. 213 Folgerichtig wirkte diese Ansicht direkt auf Brahms eigene Theaterpraxis fort: mag sein, daß es ihm selbst, als er ab 1889 über die Geschicke der »Freien Bühne« zu bestimmen begann, gerade an den geschilderten »besonders günstigen Bedingungen« gemangelt hat. Brahm nämlich - und dies fiel bereits den Zeitgenossen auf 2 1 4 -

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Ebda., S. 83ff. Wie sein Lehrer Scherer, so erklärt auch Brahm Kleist gleichsam aus der Summe der auf ihn wirkenden (vornehmlich) klassischen Einflüsse: »Mit den Poeten des Sturmes und Dranges zeigt Heinrich von Kleist auch als Künstler Verwandtschaft. [...] Er beruht vielmehr überall auf den Classikern, auf Shakespeare, auf den Alten, auf Lessing, auf Schiller, weniger auf Goethe. An Lessing erinnert zuweilen sein Dialog. Wie Schiller versucht er in dem herrlichen Fragment eines Robert Guiscard den antiken Chor wieder einzuführen. Wie Schiller in der Jungfrau von Orleans [...] stellt er eine weibliche Kriegsheldin in der Penthesilea und den Somnambulismus des Heldenthums im Prinzen von Homburg dar. Dennoch steht er auf einem andern Boden als Schiller: er ist ein Realist und Vertreter der charakteristischen Kunst auf der Höhe unserer classischen Dichtung, mit allen Erfahrungen derselben ausgerüstet und doch in bewußtem Gegensatze zu ihr« (Wilhelm Scherer: Geschichte der deutschen Literatur. Berlin 1883, S. 692f.). Brahm (wie Anm. 208), S. 83. Vgl. Siegfried Jacobsohn: Brahm und Hardt. In: Das Jahr der Bühne 4 (1912), S. 98-103, hier S. 98f.; auch die Nachrufe von Max Schach (in: Brahm (wie Anm. 168), S. 58ff., hier S. 59): »Er mußte der Apostel Ibsens und Hauptmanns werden. Dabei schrieb er das beste Werk über Heinrich v. Kleist; er huldigte dem Pathos des genialen Feuergeistes, aber - er hat nie ein Werk des Dichters gespielt. Das Lessingtheater mußte in seinem Stil bleiben.«; Erich Schmidt (ebda., S. 65-69, hier S. 68): »Der Biograph Kleists und Schillers, von denen allenfalls Der zerbrochne Krug und aus äußerem Anlaß Demetrius seine

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vermied die >Klassikerklassische< Kabale und Liebe aber durchfiel.215 Seine anschließenden, nur noch sporadischen Klassiker-Produktionen216 waren gleichfalls nur mäßige Erfolge und im Vergleich zur Resonanz auf die Stücke Ibsens und Hauptmanns kaum der Rede wert. Diese wohl schmerzlichen Erfahrungen bestärkten ihn offenbar in der Auffassung, daß beide Theaterformen - die >klassische< und die >moderne< - so grundsätzlich verschieden sind, daß sie auf einer Bühne nicht realisierbar zu sein schienen und auch nicht angemessen von denselben Personen zu sprechen und darzustellen.217 Brahms Interesse und seine eigentliche Leidenschaft galten fortan der »Produktion der Heutigen«.218 Diese bewußte, entschieden gewollte und mit den Jahren sich bis zum Dogmatischen hin verstärkende Position hatte vornehmlich ein Resultat: »der andere Teil des Spielplans blieb im Hintertreffen«, 219 derjenige nämlich, auf dem die Klassiker von Shakespeare bis Kleist ihren Ort hätten haben sollen und beim Kritiker Brahm durchaus auch hatten. Diese Einstellung erzeugte zugleich das produktive Unbehagen, aus dem heraus der Brahm-Schüler Max Reinhardt sein Theaterkonzept einer Synthese von Antike, Klassik und Moderne zu verwirklichen suchte, die allein durch die Trennung des einstmals bewährten Gespanns möglich wurde. Wie sehr auch Brahm sich anstrengte, zwischen den Polen >Tradition< und >Innovation< zu vermitteln, es gelang ihm nur sehr eingeschränkt und eher theoretisch. Und so steht bei ihm der gleichsam >kulturnationalistische< Entwurf vom »germanische[n] Charakterdrama«, dessen »Tiefe der Charakteristik« Kleist im Gegensatz zur »gallischefn] Leichtigkeit« eines Moliere repräsentiere,220 unvermittelt neben der typisch >moder-

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Bretter beschritten, und der Direktor führten getrennten Haushalt«; Emil Faktor (ebda., S. 29ff., hier S. 29f.): »Gewiß war es nicht die Unlust und das geringe Vermögen seiner Künstler, was ihn daran hinderte. [...] Trotzdem soll nicht übersehen werden, daß es Brahm bis zu einem gewissen Grade an Phantasie fehlte. Der freien Erfindung stand er hilfloser gegenüber als der naturwahren Schilderung, das Gedankliche war ihm näher als das Phantastische, die Dialektik wichtiger als Glanz und Schwärmerei der Rede«, und Alfred Holzbock (ebda., S. 36). Vgl. Claus ((wie Anm. 177), S. 72): »Brahm recognized he could not update the classics by Staging them like the plays by Ibsen and Hauptmann. But this recognition did not prevent him from presenting new productions of ten plays by five classical authors during the first season.« Neben einigen Schiller-Dramen führte er in den ersten Jahren durchaus die ihm liebsten Kleist-Stücke auf: Prinz Friedrich von Homburg, Der zerbrochne Krug und Käthchen von Heilbronn, jedoch offenbar ohne große Resonanz; vgl. Claus (wie Anm. 177), S. 98. Otto Brahm: Freie Bühne. In: Berliner Tageblatt, 16./ 18. Oktober 1909, (zitiert nach Brahm (wie Anm. 204), S. 4 6 2 - 4 7 7 , hier S. 476). Ebda. Ebda.; vgl. Otto Brahm. Briefe und Erinnerungen, mitgeteilt von Georg Hirschfeld. Berlin 1925, S. 19: »Er mußte einseitig werden, um ein Ganzer zu bleiben.« Über Gerhart Hauptmanns Einsame Menschen vgl. Otto Brahm, (zitiert nach Brahm (wie Anm. 204), S. 350^-355, hier S. 351) (zuerst in: Freie Bühneßr modernes Leben, 25. März

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nen< Reihenbildung, in der eine Abfolge Shakespeare, Schiller, Kleist, Ludwig, Ibsen, Hauptmann konstruiert221 und zur literaturgeschichtlichen Notwendigkeit erklärt wird. Bewußt sind ihm gleichfalls die Schattenseiten der >modernen< Dichterverehrung, wenn er vor der »engere[n] Gemeinde«, den »Clique[n]« wamt, die Dichter für sich vereinnahmen, und denen er als einer der maßgeblichen Träger der neuen Richtung skeptisch gegenübersteht: [...] Nur das Gewöhnliche verkennt man niemals, und alle Literaturgeschichte lehrt, daß die Kotzebue, die zuerst lustig mit dem Strome schwammen, nur um so schneller wieder ans flache Ufer geworfen wurden, während die Kleist auf einsamer, aber zielsicherer Fahrt das Weltmeer der Unsterblichkeit erreichten. Für [Gottfried] Keller ist der Umschwung zum Glück noch zu seinen Lebzeiten eingetreten. Keine >engere Gemeinde< hat sich - zum Glück - um ihn gebildet, keine Clique, die ihren eigennützigen Kultus mit ihm treibt [...]. 222

Doch damit nicht genug: Brahm propagiert - später unterstützt von seinem Freund Paul Schienther - bereits 1883 die Idee eines Kleistdenkmals, lange Jahre also bevor diese Möglichkeit konkrete Formen anzunehmen begann; 223 bemängelnd, daß »der größte preußische Dichter« »von den Brettern des königlich preußischen Schauspielhauses« gänzlich verschwunden sei, fordert er L'Arronge geradezu auf, sein »Deutsches Theater« doch mit Prinz Friedrich von Homburg als dem »eisernen Bestandt e i l des Repertoirs« zu eröffnen, schließlich sei »seine Darstellung ein Prüfstein für Blüthe oder Verfall deutscher Schauspielkunst.«224 Brahm fordert also Öffentlichkeit und breite Resonanz für die Werke Kleists, auch wenn er diese selbst zu schaffen sich nicht für geeignet hält, was ihm Siegfried Jacobsohn weitgehend verständnislos vorhielt:225 »Von den deutschen Direktoren, die uns eine Ehrung Kleistens schuldig waren, hat allein der preisgekrönte Biograph des Dichters sich gedrückt.« Zugleich läßt sich jedoch festhalten, daß Brahm, wenn auch eher im Hintergrund weiterhin aktiv für Kleists Belange (oder das, was er dafür hielt) eingetreten ist, war

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1891) und Kleist und Moliere im Hoftheater (ebda., S. 382-386, hier S. 385; zuerst in: Die Nation, 16. Januar 1892); vgl. ebda. (S. 394-401, hier S. 398) Brahm über Hebbels Gyges (zuerst in: Die Nation, 13. März 1892). Vgl. Paul Lindaus >Schatten< (ebda., S. 269-272, hier S. 271; zuerst in: Die Nation, 26. Oktober 1889): »Die Macht der genialen Persönlichkeit zu schildern, welche sich gegen die Gesellschaft aufbäumt, welche Fehde ansagt der konventionellen Moral und an den Grundfesten eines Gemeinwesens trotzig rüttelt, das ihm morsch und hohl erscheint - das ist die Sache der germanischen Kunst allezeit gewesen, und darum ist sie und wird bleiben die Kunst der starken Individualitäten. Shakespeares Coriolan, Schillers Karl Moor, Kleists und Otto Ludwigs >HeldenKommodenaltar< aufbaute, 230 er versuchte auch, den juvenilen Dramatiker vor psychischen Gefährdungen wie sie Kleist erlitten hatte zu bewahren: Nur eins möchte ich sagen, lieber Junge: Vor dem Kleistischen >Alles und nichts< möchte ich Sie warnen, denken Sie an Guiscard und Ihren eigenen >Dämonin magnis voluisse sat est< gilt da nicht recht.231

Indizien für Brahms fortdauernde Kleistverehrung sind zudem die gemeinsamen Aktivitäten mit dem Verleger S. Fischer, die u. a. eben auch in den Aufruf zur KleistStiftung von 1911 mündeten, den beide neben anderen mitinitiierten und unterzeich-

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Otto Brahm: Heinrich von Kleist und sein Dramen-Fragment >Robert Guiskardevolutionäre< Wandlung, sondern ihr Ersatz gemeint war, forderte zu einem gänzlich neuartigen Umgang mit jeglichen Kunstformen auf, dem man sich seit den frühen neunziger Jahren durch eine deutlich forcierte Nietzsche-Rezeption insbesondere in den avantgardistischen Publikationsorganen stellte.289 Parallel zu dieser weltanschaulichen Umbruchssituation und in offenkundiger Abhängigkeit zu und Wechselwirkung mit ihr intensivierte sich die Beschäftigung mit Heinrich von Kleist. Ohne Nietzsches Entwürfe der Moderne wäre Kleists >Renaissance< ebensowenig denkbar wie die Hölderlins, gaben sie doch die Folie, auf der das Bild vom Dichter für das zwanzigste Jahrhundert skizziert wurde. Nietzsche also als »Paradigma der Moderne« 290 schlechthin aufzufassen und vor diesem Hintergrund den Philosophen mit dem Dichter in Relation zu setzen, erfordert jedoch einige Differenzierung: 1. zwischen dem (in diesem Kontext weniger relevanten) Kleist-Leser Nietzsche, dessen Lektüre sich in Spuren auch in seinen Werken wiederfindet, 2. dem Entstehen des >Nietzsche-MythosKleist-Mythos< offenkundig korrelieren, 3. und vor allem, den Folgen der Nietzsche-Rezeption für das Kleist-Verständnis, die den Dichter im Lichte Nietzsches und so durch eine Art Metarezeption gänzlich verändert erscheinen ließ. Schon der belesene Schüler Friedrich Nietzsche war offenbar an Kleist interessiert; der vierzehnjährige Eleve der Landesschule Pforta bei Naumburg notierte nämlich am 7. August 1859 in seinem Tagebuch:

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Vgl. Eugen Biser: Die Reise und die Ruhe. Nietzsches Verhältnis zu Kleist und Hölderlin. In: Nietzsche-Studien 7 (1978), S. 97-114, 115-129 (Diskussion); Ernst Behler: Zur frühen sozialistischen Rezeption Nietzsches in Deutschland. In: Grundfragen der Nietzsche-Forschung. Hrsg. von Mazzino Montinari und Bruno Hildebrand. Berlin 1984. (NietzscheStudien 13), S. 503-520; Vivetta Vivarelli: Das Nietzsche-Bild in der Presse der deutschen Sozialdemokratie um die Jahrhundertwende. In: Grundfragen der Nietzsche-Forschung (s. o.), S. 521-569; Ernst Nolte: Nietzsche und der Nietzscheanismus. Frankfurt; Berlin 1990, S. 209ff.; Mazzino Montinari: Friedrich Nietzsche: eine Einführung. Berlin; New York 1991, S. 132f., zur Rolle Lou von Salomes; Blamberger (wie Anm. 239), S. 31 ff.; Peter Pütz: Nietzsches Denken und die Ästhetik des frühen 20. Jahrhunderts. In: Eberhard Lämmert; Giorgio Cusatelli; Heinz Georg Held (Hrsg.): Avantgarde, Modernität, Katastrophe. Letteratura, Arte e Scienza fra Germania e Italia nel primo 1900. Florenz 1995, S. 3-15; Steven E. Aschheim: Nietzsche und die Deutschen: Karriere eines Kults. Stuttgart; Weimar 1996, S. 22ff.; sowie ausführlich über »Deutsche Literatur im Urteil Nietzsches«: Matthias Politycki: Umwertung aller Werte? Deutsche Literatur im Urteil Nietzsches. Berlin; New York 1989. (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung 21), zu Kleist: S. 401^-10, und Ralph-Rainer Wuthenow: Nietzsche als Leser. Hamburg 1994, S. 39-90.

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Theo Meyer: Nietzsche als Paradigma der Moderne. In: Die literarische Moderne in Europa. Hrsg. von Hans Joachim Piechotta, Ralph-Rainer Wuthenow und Sabine Rothemann. 3 Bde. Opladen 1994. Bd. I, S. 136-170, hier S. 136.

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Mein Geburtstag ist nun in wenigen Monaten; ich bin noch nicht einig, was ich mir wünschen werde. Entweder Gaudys, Kleists Werke oder Tristram Shartdi von Sterne.291 Und im selben Jahr standen die (von Julian Schmidt herausgegebenen) Sämtlichen Werke Kleists wiederum ganz oben auf seinem vorweihnachtlichen Wunschzettel, 292 sodaß anzunehmen ist, daß er zum Fest in den Besitz eben dieser Werke gelangte, nach denen er noch in Menschliches, Allzumenschliches zitierte. 293 Der 22-jährige Student berichtet aus Leipzig von einem - wie gezeigt sehr zeittypischen - Besuch einer Aufführung des Käthchen von Heilbronn, bei der ihn der Graf von Strahl besonders beeindruckt hatte. 294 Aus den späten sechziger und frühen siebziger Jahren sind zudem einige Fragmente im Nachlaß überliefert, die bezeugen, daß Kleist Nietzsche schon in jungen Jahren im Sinne einer bestimmte Charakteristika repräsentierenden Denkfigur sporadisch zwar, aber doch nachhaltig beschäftigte: Angesichts von dessen Abschiedsbrief wollte er - wie im übrigen auch an Lessings Reaktion auf den Tod seiner Frau und seines Kindes - »[f]aunische Züge der Verzweiflung« erkennen; 295 charakteristisch - in welcher Hinsicht auch immer - schien ihm im Herbst/ Winter 1870/71 der Schiller und Kleist gemeinsame »Mangel[!] an Musik«, an den er anschloß: »Letzterer [Kleist] ist viel höher zu stellen. Er ist bereits aus der Auf-

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In: Sembdner (1996) II, S. 168, Nr. 189; am 19. Oktober 1861 jedoch empfahl er Friedrich Hölderlin in einem Aufsatz mit dem Thema Brief an meinen Freund, in dem ich ihm meinen Lieblingsdichter zum Lesen empfehle (GSA Weimar 71/ 215); vgl. Nietzsches Briefdisposition vom 3. August 1861 (in: Friedrich Nietzsche: Briefe. Juni 1850-September 1864. Briefe an Friedrich Nietzsche. Oktober 1849-September 1864. Berlin; New York 1975. (Friedrich Nietzsche. Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe; 1. Abt.; Bd. 1), S. 166, Nr. 252); die Schreiben an Franziska und Elisabeth Nietzsche vom 12. Oktober 1861, in dem er um Zusendung einer Hölderlin-Biographie bat, die er für den Aufsatz benötigte, und vom 17. Oktober (ebda., S. 181, Nr. 281 und S. 182, Nr. 282), und an Wilhelm Pinder (5. Juli 1866, in: Friedrich Nietzsche: Briefe. September 1864-April 1869. Berlin; New York 1975. (Friedrich Nietzsche. Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe; 1. Abt.; Bd. 2), S. 137f., Nr. 510); diese Präferenz zeigte sich noch in den siebziger Jahren (vgl. Nietzsche an Carl von Gersdorff (1. April 1874), in: Friedrich Nietzsche: Briefe. Mai 1872-Dezember 1874. Berlin; New York 1978. (Friedrich Nietzsche. Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe; 2. Abt.; Bd. 3), S. 214, Nr. 356). Nietzsche an Rosalie Nietzsche (vermutlich: 26. November 1859, in: Friedrich Nietzsche, Briefe (wie Anm. 291), 1. Abt., Bd. 1, S. 86, Nr. 116); auf dieser Liste standen auch die Klavierauszüge von Glucks Iphigenie in Tauris und Beethovens Sinfonie Nr. 7. Vgl. Nietzsche über die »Muse als Penthesilea« (in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München; Berlin; New York 1980. Bd. 2, S. 420, Nr. 100). An Franziska und Elisabeth Nietzsche (29. Mai 1866, in: Friedrich Nietzsche, Briefe (wie Anm. 291), 1. Abt., Bd. 2, S. 131ff„ Nr. 507); Graf Wetter von Strahl wurde von einem Mitglied der Schauspieler-Familie Devrient gegeben, wobei aus dem Brief nicht hervorgeht, ob es sich um Karl (1797-1872), Emil (1803-1872) oder Eduard (1801-1877) gehandelt hat, die Neffen des ungleich berühmteren Ludwig Devrient (1784-1832). Vgl. Friedrich Nietzsche: Sämtliche Briefe. Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München 1986. Abt. 3, Bd. 3, S. 33 [84],

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klärungsperiode völlig heraus. D i e Kunst hielt ihn fest: aber die politische Wahnvorstellung war noch stärker«; 2 9 6 und auch die Konstellation Goethe-Kleist beschäftigte ihn in dieser Zeit, 2 9 7 nicht zuletzt wohl, weil i h m »die Stellung großer Geister zu einander s o erstaunlich wichtig« war, denn deren Urtheil habe »einen stärkeren Instinkt und eine tiefere bewußte Einsicht hinter s i c h « . 2 9 8 Privatim scheint er z u d e m v o n der Penthesilea-Figur (und k e i n e s w e g s nur v o n den in den bildenden Künsten der Zeit allgegenwärtigen Amazonenfiguren) angetan g e w e s e n zu sein. 2 9 9 In s e i n e m im Nachlaß erhaltenen Gedicht Nach einem nächtlichen

Gewitter

v o m Juli 1871 ist

dort über eine »große, e w g e A m a z o n e « zu lesen: [...] Und so tratst du an mein oedes Bette Vollgerüstet, waffengleißend hin, Schlugst an's Fenster mir mit erz'ner Kette, Sprachst zu mir: >Nun höre, was ich bin! >Bin die große ewge Amazone, >Nimmer weiblich, taubenhaft und weich >Kämpferin mit Manneshaß und -Hohne >Siegerin und Tigerin zugleich! >Rings zu Leichen tret' ich, was ich trete, >Fackeln schleudert meiner Augen Grimm >Gifte denkt mein Hirn - nun kniee! Bete! >Oder modre WurmTodesfurchtOpfer< der »deutschen Bildung« solchermaßen in seinen eigenen Kampf gegen die Bildungsphilister einspannend und damit eine Lanze für Schopenhauer brechend, entstand diese Passage mit im wahrsten Sinne des Wortes grundlegender Wirkung: um seinen eigentlichen und sicher selbst leidvoll erfahrenen Vorwurf, das deutsche Bildungswesen nivelliere und zerstöre jegliche Unkonventionalität, zu untermauern, greift Nietzsche auf historische Exempla zurück. Mit ihnen formuliert er bereits 1874, was späteren Generationen von Kritikern zur willkommenen Argumentationshilfe werden wird: Hölderlin und Kleist werden festgeschrieben zu Exponenten der »Ungewöhnlichkeit«. Und solche »fremdartige[n] Charaktere« werden in bestimmten Bildungssystemen - wie Nietzsche zitiert - »anfänglich gebeugt, dann melancholisch,

302 vgl. etwa den Schiller offenkundig zurücksetzenden Satz: »Der Prinz von Homburg ist das Musterdrama«, Kleist habe darin Schillers Theorie recht eigentlich durchgeführt (Nietzsche (wie Anm. 293), 7, S. 684); vgl. Politycki (wie Anm. 289), S. 406, Anm. 134. 303 Nietzsche (wie Anm. 293), 7, S. 328. 304 Nietzsche (wie Anm. 293), 1, S. 43f. 305 Nietzsche (wie Anm. 293), 1, S. 352; zum Verhältnis Nietzsches zu Hölderlin und Kleist vgl. Biser (wie Anm. 289).

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dann krank und zuletzt sterben sie«.306 Durch das Versagen einer ignoranten Mitwelt also entsteht das Leiden »ungewöhnlicher Menschen«, die nicht nur daran, sondern zusätzlich noch an der »Verzweiflung an der Wahrheit«307 kranken und so zwangsläufig scheitern müssen. Zugleich nimmt Nietzsche die romantischen Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit kreativer Menschen auf, von denen einige unberührt durch äußere Anfechtungen bestehen, andere aber durch ihre Disposition und eine Natur, die eben nicht »von Erz« ist, zum Scheitern gezwungen sind.308 Nietzsches Sympathie nun gilt diesen Scheiternden, deren Isolation und »Ungeliebtheit« er durch tätige »Genossen« überwunden sehen möchte. 309 Retrospektiv erhielt der Vergleich >Schopenhauer - Kleist< eine signifikante Wendung zudem dadurch, daß Nietzsche enthüllte, er selbst habe sich hinter der Larve > Schopenhauer verborgen, und daß der Titel richtiger hätte heißen müssen: Nietzsche als Erzieher, was der Kleist und Nietzsche nun gemeinsamen »Ungeliebtheit« nachträglich eine gänzlich neue Qualität verlieh.310 In den wenigen Zitatzeilen finden sich also zu einem sehr frühen Zeitpunkt die zentralen Versatzstücke vorformuliert, die die Literaturschau des frühen 20. Jahrhunderts prägten: das >Leiden< an den gesellschaftlichen Zuständen; die Zuordnung >gesund< - >krank< als Wertungskriterien für kreatives Sein, wobei Krankheit und Scheitern durchaus bereits positiv konnotiert und so als eine Auszeichnung, nicht als Stigma verstanden werden; die per se vorhandene Einsamkeit des großen Künstlers, die zur Gefahr für Leib und Seele werden kann; die »Genossen«, die Fürsprecher des Genies. Da die »Einsamen und Freien im Geiste« zudem stets in ein »Netz von Missverständnissen«,311 das man auch als den permanenten Zustand des >Verkanntseins< apostrophieren könnte, verstrickt sind, kommt diesen Fürsprechern die entscheidende Vermittlungsfunktion zwischen verständnisloser >normaler< Welt und den ihr gegenüberstehenden >Vereinzelten< zu. Nietzsche ergänzt diese Versatzstücke um ein weiteres, wenn er das gänzliche Versagen der akademischen Welt beim Umgang mit dem »werdenden Genius« verurteilt: Für dessen Noth hat der Gelehrte kein Herz, er redet mit scharfer kalter Stimme über ihn weg, und gar zu schnell zuckt er die Achsel, als über etwas Wunderliches und Verdrehtes, für das er weder Zeit noch Lust habe. Auch bei ihm findet sich das Wissen um das Ziel der Kultur nicht. 312 306

Nietzsche (wie Anm. 293), 1, S. 352. Ebda., S. 355. 308 y g ] Thomas Anz: Gesund oder krank?: Medizin, Moral und Ästhetik in der deutschen Gegenwartsliteratur. Stuttgart 1989. (Metzler-Studienausgabe); Politycki (wie Anm. 289), S. 384-410. 309 Indirekt bestätigte er den Gedanken von der »Ungeliebtheit« der Genies noch einmal in Menschliches, Allzumenschliches (1886): »zumeist« sei fehlende Anerkennung zu Lebzeiten durch »unsere Fehler, Schwächen und Narrheiten« selbst verschuldet, aber: »es giebt übrigens Ausnahmefälle«, zu denen er mit großer Wahrscheinlichkeit Kleist und Hölderlin zählte (zitiert nach Nietzsche (wie Anm. 293), 2, S. 262, Nr. 375). 310 Nietzsche (wie Anm. 293), 6, S. 320; vgl. Politycki (wie Anm. 289), S. 405. 311 Nietzsche (wie Anm. 293), 1, S. 354. 312 Nietzsche (wie Anm. 293), 1, S. 400. 307

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Da nun - so Nietzsches Diagnose - gerade die formal am höchsten Gebildeten beim Umgang mit dem »Genius«, in dem doch für ihn »die Wurzel aller wahren Cultur« lag, 313 schmählich versagen, blieb, um dem Verkannten doch die ihm zustehende Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, allein die Möglichkeit, sich selbst zu den erlesenen Verständnisvollen zu zählen und so den Anspruch auf ein monopolartiges, weil adäquates Verstehen, das einem Inbesitznehmen de facto gleichkam, zu begründen. Was Nietzsche so für sich später in Sachen Schopenhauer in Anspruch nahm und seine Adepten für ihre Entdeckungen von Kleist, Hölderlin und Büchner bis Grabbe, Hebbel und Lenz, formulierte er bereits im Winter 1869/70: Große Genies sind den Alltagsfliegen unfaßbar und recht eigentlich unberechenbar. Wenn sich trotzdem eine richtige Werthschätzung derselben allmählich festsetzt, so sind ihre verwandten Geister diejenigen, die sie erkannt haben. 314

Erstmalig bei Nietzsche wohl erhielten diese »verwandten Geister« einen solchen Rang zugeschrieben, der die Unterscheidung von großer (und ignoranter) Masse und einigen wenigen Auserwählten als den wahren Interpreten des Genies beförderte und in späteren Jahren mit großer Bereitwilligkeit nachgelebt wurde. Nicht länger also sollte das Genie-Leben nach Art Johann Peter Eckermanns oder James Boswells allein hagiographisch dokumentiert werden, vor allem die »richtige Werthschätzung« galt es nun zu verbreiten. Den in Schopenhauer als Erzieher und zuvor schon in seinen privaten Aufzeichnungen bezogenen Standort ergänzte und untermauerte Nietzsche noch einmal in Jenseits von Gut und Böse: dort rechnete er Kleist neben Byron, Musset, Poe, Leopardi und Gogol zu den »großen Dichter[n]«, denen ein seelischer Defekt, ein »Bruch« gemeinsam sei, aber auch der Kampf mit »einem wiederkehrenden Gespenst von Unglauben, der kalt macht und sie zwingt nach gloria zu schmachten.« 315 Verkompliziert wird eine Beschreibung von Nietzsches Kleist-Verständnis noch dadurch, daß es sich »an die wechselnde Einschätzung Wagners geknüpft« wandelte, 316 und so 1878 noch ihn diesem unter-, 317 1888 aber ihm überordnete. 318 Dennoch blieb auch hierbei die geschilderte Tendenz bestehen, Kleist als genialen, aber unverstandenen Dichter aufzufassen; wie wichtig Kleist dem Philosophen gewesen sein muß, belegt zudem der ganz späte Umgang mit ihm, der in einigen Nachlaßfragmenten dokumentiert ist. 319

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Ebda., S. 358. Nachlaß-Fragment (Nietzsche (wie Anm. 295), Abt. 3, Bd. 3, S. 50, 2 [20]); vgl. Axel Gehring: Genie und Verehrergemeinde. Eine soziologische Analyse des Genieproblems. Diss. Hamburg 1968. (Abhandlungen zur Philosophie, Psychologie und Pädagogik 46). Nietzsche (wie Anm. 293), 5, S. 223; vgl. Politycki (wie Anm. 289), S. 408. Politycki (wie Anm. 289), S. 404. Nietzsche (wie Anm. 293), 8, S. 502. Nietzsche (wie Anm. 293), 13, S. 249, 502. Ebda.

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Schwieriger als eine Zusammenschau der Kleist-Spuren in Nietzsches Werk erscheint hingegen der Versuch, den Mythos >Nietzsche< in Beziehung zu setzen zum Mythos >KleistGottesdienstGemeinde< ihren >Glauben< bekannte, und aus der >Ungläubige< ausgeschlossen werden konnten; beide wurden mit den gleichen Attributen (wie etwa »der einsame«, 324 der >kranke< oder der >problematischeZeitgeistes< zu verdanken, oder ob, was wahrscheinlich scheint, der >Nietzsche-Kult< notwendig war, um den >Kleist-Kult< (und auch den um Hölderlin) zu initiieren. Rein phänomenologisch betrachtet ließe sich zahlreichen Intellektuellen der Zeit um die Jahrhundertwende ein explizites Bedürfnis nach metaphysischer Betätigung außerhalb der christlichen Religion attestieren, das, durch die Krise des Christentums in einer zunehmend säkularisierten Gesellschaft verursacht, sich aus den gesamteuropäischen geistigen Strömungen wie dem Nihilismus und dem Sozialismus, aber eben auch aus Nietzsches Philosophie speiste. Die Krise des Glaubens hinterließ ein Vakuum, das die Suche nach

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W. Roscher an Elisabeth Förster-Nietzsche (5. März 1905, in: Hubert Canzik: Der Nietzsche-Kult in Weimar. Ein Beitrag zur Religionsgeschichte der wilhelminischen Ära. In: Nietzsche-Studien 16 (1987), S. 405-429, hier S. 406). Florens Rang: Der Wert Heinrichs von Kleist. Eine Rhapsodie. In: Preußische Jahrbücher 124 (1906), S. 4 0 1 ^ 2 4 , hier S. 424. Herzog (wie Anm. 243), S. 2. Vgl. Canzik (wie Anm. 320), S. 406f., zum einschlägigen Vokabular der Anhänger und Gegner Nietzsches. Vgl. Elisabeth Förster-Nietzsche: Der einsame Nietzsche. Leipzig 1914. Etwa Hofmannsthal, Franz Servaes, Maximilian Harden, Walter Rathenau, Gerhart Hauptmann, Heinrich und Julius Hart; ein wichtiges Forum der Nietzsche-Rezeption waren die Zeitschriften Freie Bühne und der von Wilhelm Herzog mit herausgegebene Pan·, vgl. Nolte (wie Anm. 289), S. 211, 219ff. Vgl. Canzik (wie Anm. 320), S. 414ff.; Nolte (wie Anm. 289), S. 211; Montinari (wie Anm. 289), S. 133.

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einem Glaubensersatz provozierte, den man schließlich in der Kunst als dem letzten Bereich, in dem Metaphysisches überhaupt noch möglich schien, gefunden zu haben meinte. 327 Dieser Prozeß, in dem tradierte Glaubensinhalte auf profane bzw. pagane Bereiche übertragen wurden, war von Nietzsche selbst maßgeblich beeinflußt worden. Er hatte Einiges dazu getan, als >Kultwerber< in eigener Sache verstanden zu werden; ihn also als »Ursprung und Gegenstand des Kultus« aufzufassen, liegt nahe. 328 Und wenn sein Freund Erwin Rohde ihm »geniale Selbstdarstellung« bescheinigte, 329 so faßt dies lediglich zusammen, was Nietzsche hinter den »Masken des Dionysos, Zarathustra, des Antichristen und des Übermenschen« zu seiner Selbst-Stilisierung getan hatte. 330 Für die >Geworbenen< waren Nietzsches Leben und Lehre nicht die »Mitteilung [...] einer neuen Wahrheit, sondern eines neuen Lebensgefühls«, 331 was die ungeheuere Wirkung des Philosophen verständlicher macht, die zudem tätig und in hagiographischer Absicht von Elisabeth Förster-Nietzsche und einigen ihrer Helfer unterstützt und verbreitet wurde. 332 Wenn Harry Graf Kessler also bereits 1895 feststellen konnte: Es gibt wohl heute in Deutschland keinen leidlich gescheiten studierten oder gebildeten Mann von zwanzig bis dreißig Jahren, der nicht Nietzsche einen Teil seiner Weltanschauung verdankte,333 so beschreibt dies wohl zuverlässig eine im Kontext der Dichterrenaissancen keineswegs zu vernachlässigende Größe. Indem also Nietzsches Leben mehr noch als

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Vgl. Ernst Troeltsch: Die Kirche im Leben der Gegenwart. [1911]. In: ders., Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik. Leipzig 1913. (Ges. Schriften 2); Canzik (wie Anm. 320), S. 405f. Canzik (wie Anm. 320), S. 408. Erwin Rohde an Franz Overbeck (17. März 1895, zitiert nach Canzik (wie Anm. 320), S. 408). Canzik (wie Anm. 320), S. 408. Carl Albrecht Bernoulli: Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche. Eine Freundschaft. Jena 1908, Bd. II. S. 290 (zitiert nach Canzik (wie Anm. 320), S. 408). Vgl. Elisabeth Förster-Nietzsche: Der junge Nietzsche. Leipzig 1912; dies, (wie Anm. 324); F. Tönnies: Der Nietzsche-Kultus. Eine Kritik. Berlin 1897; J. v. Troll-Borostyäni: Nietzsche-Kultus. In: Der Kyffhäuser 2 (1900), S. 77-81; selbst in der spöttischen Ablehnung (etwa W. C. Becker: Der Nietzschekultus. Ein Kapitel aus der Geschichte der Verirrungen des menschlichen Geistes. Leipzig 1908) wurde der Kult weiter verbreitet. Harry Graf Kessler, Tagebucheintrag vom 28. Januar 1895 (in: Canzik (wie Anm. 320), S. 412); vgl. auch Leo Berg: Der Übermensch in der modernen Litteratur. Ein Kapitel zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts. Paris; Leipzig; München 1897, S. 216: »Nachdem Nietzsche aber sein Zauberwort ausgesprochen hatte, war in Deutschland plötzlich alles Übermensch, oder man wollte ihn doch aus sich erzeugen, literarisch und menschlich; und wie denn eitel und klein unser Dichtergeschlecht ist, so bezog man das vom Übermenschen immer direkt ganz persönlich auf sich selbst. Man pochte auf seine Sonderrechte, der Eine als Künstler, welches geheimnisvolles Wort Vielen Übermensch bedeutet, der Andere als Erotiker. Man machte Schulden, verführte Mädchen und besoff sich, alles zum Ruhme Zarathustras.«

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dessen Lehre verehrt wurde, formierte sich ein gewissermaßen alternativer Personenkult, der sich gegen die verbreiteten Mythen des neunzehnten Jahrhunderts von Königin Luise über Otto von Bismarck bis hin zu Schiller und Goethe richtete und sich grundsätzlich von ihnen zu distanzieren suchte. Nietzsche als Identifikationsfigur hierfür auszuwählen, dessen negative Theologie positiv zu wenden und in einen modernisierten Personenkult umzudeuten, 334 ihn selbst also als >Religionsstifter< einer neuen, anti-kirchlichen, anti-klassischen, anti-akademischen und anti-bürgerlichen Bekenntnisform zu interpretieren, wurde so bereits in den neunziger Jahren zum Kernbestand >modernen< Denkens. Diesem Kult zuträglich waren zwei weitere Faktoren, aus der Biographie seine Krankheit und aus der Lehre die als Aufrufe zur Nachfolge gedeuteten Texte. Nietzsches Zusammenbrach konnte so zur »Titanentragödie« und zum Sturz des »modernen Heroen« überhöht werden;335 das »Verhängnis Hölderlins« sah man über ihn hereinbrechen, 336 dessen Einfluß auf Nietzsche von Cosima (bzw. Richard) Wagner bereits 1873 »mit einiger Besorgnis« konstatiert worden war.337 Dem »unter dem Übermaß seiner Schaffenskraft« 338 zusammengebrochenen Nietzsche wurde die Krankheit zur Auszeichnung, zum positiven Stigma und zum Beleg, daß »der Neid der Götter gerade ihre Lieblinge trifft«. 339 Daß gemäß Kesslers Beschreibung eine ganze Generation Passagen wie diese: Ja, meine Freunde, glaubt mit mir an das dionysische Leben und an die Wiedergeburt der Tragödie. Die Zeit des sokratischen Menschen ist vorüber: kränzt euch mit Epheu, nehmt den Thyrsusstab zur Hand und wundert euch nicht, wenn Tiger und Panther sich schmeichelnd zu euren Knien niederlegen. Jetzt wagt es nur, tragische Menschen zu sein: denn ihr sollt erlöst werden. Ihr sollt den dionysischen Festzug von Indien nach Griechenland geleiten! Rüstet euch zu hartem Streite, aber glaubt an die Wunder eures Gottes![,] 340

aus Nietzsches Erstling wörtlich und persönlich nahm, ja, sie in einem geradezu umfassenden >WirJüngern< eines >Religionsstifters< Erkorenen folgten den Aufrufen Nietzsches und glaubten an ihre Sendung. Gerade die der Literatur nahestehenden Nietzscheaner jedoch versuchten dieser Sendung eine zusätzliche historische

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Vgl. Nolte (wie Anm. 289), S. 88. H. Diels: [Kaisergeburtstagsrede in der Preußischen Akademie der Wissenschaften (23. Januar 1902)] (zitiert nach Canzik (wie Anm. 320), S. 413). Carl von Gersdorff an Franz Overbeck (13. Januar 1889, zitiert nach Canzik (wie Anm. 320), S. 413). Cosima Wagner, Tagebucheintrag vom 24. Dezember 1873. A. Oehler: Nietzsches Werke und das Nietzsche-Archiv in Weimar. Leipzig 1910, (zitiert nach Canzik (wie Anm. 320), S. 413). Canzik (wie Anm. 320), S. 413. Nietzsche (wie Anm. 293), 1, S. 132. Zitiert nach H. Jürgen Meyer-Wendt: Der frühe Hofmannsthal und die Gedankenwelt Nietzsches. Heidelberg 1973, S. 150.

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Dimension zu verleihen, indem auch die »tragische[n] Menschen« vergangener Zeiten auf diese Art >erlöst< werden sollten, wobei die Rolle des Erlösers von der deutschen Klassik bisweilen auch Nietzsche selbst zugewiesen wurde. 342 In bestimmten Zirkeln und sicherlich am signifikantesten im Umgang des GeorgeKreises mit dem bereits von Nietzsche verehrten Hölderlin manifestiert, entstand der Kult um die Dichter-Ahnen, der nicht zuletzt der Selbstverständigung diente. Was im Nietzsche-Kult als dem >Archetypus< moderner Personenverehrung mit Ritualen und Denkmustern eingeübt worden war, ließ sich seit der Jahrhundertwende übertragen auf die beiden entstehenden Dichterkulte, die sich in Terminologie und Ritualisierung, zugespitzt sicherlich, auch als Subkulte der umfassenden Nietzsche-Verehrung begreifen lassen. Gerade für den Literaten ergab sich hieraus eine laizistische Trias, Nietzsche im Zentrum thronend, Kleist und Hölderlin gleichsam zu seinen Füßen, die - denkbar auch in anderer, gewissermaßen flexibel handhabbarer Personenkonstellation 343 - die spezifischen Identifikationsbedürfnisse der sich selbst zumeist ebenfalls ex negativo definierenden Schriftstellergeneration der Jahrhundertwende umschreibt. Vor allem anti-klassisch waren diese, und hierfür bürgte Kleist als der von Goethe abgelehnte Autor und als der unverstandene Mensch in den Augen der Dichter wie neben ihm nur Hölderlin. Dem »Mythenzerstörer« wie dem »Mythenschöpfer« Nietzsche verdankte diese Generation also nicht nur die Abkehr von der Tradition durch ihre Zerstörung, sondern auch den Aufbruch zu neuen Ufern, der identisch war mit der Schaffung neuer >GlaubensinhalteWerk< [...] erfindet erst Den, welcher es geschaffen hat, geschaffen haben soll; die grossen Männerculture tragique< de l'esprit, que les Grecs avaient connue et apres eux, les Anglais de Shakespeare et les Fran^ais de Corneille. 379

Andlers Studie dokumentiert so zugleich die zeitlich ein wenig verzögert einsetzende Aufnahme Kleists in Frankreich, die im Gefolge erst der Nietzsche-Verehrung und so nicht zuletzt durch seine Monographie größere Dimensionen anzunehmen begann. Mit einigem Fug und Recht also kann man Nietzsches Werke wohl als einen >General-Schlüssel< zum Verständnis Kleists im zwanzigsten Jahrhundert auffassen, der insbesondere in den avantgardistischen Zirkeln das Bild vom Dichter maßgeblich geprägt hat. Der hohe Bekanntheitsgrad seiner Werke, seine dort formulierten tendenziell anti-bürgerlichen und anti-klassischen Attitüden und das Faszinosum seiner Biographie erzeugten ein neuartiges Lebensgefühl und ein ebenso neues geistiges Klima. Nietzsche selbst schließlich gab den Stimulus, die >GescheitertenUnzeitgemäßen< als die >Ahnherrn< der von ihm mit eingeläuteten Moderne zu feiern und zu verehren. Kleist wie Hölderlin verdanken so einen gut Teil ihres Nachruhms den von diesem Philosophen zumeist ex negative formulierten Maßstäben und den an ihm als Ikone der Moderne erstmals praktizierten Techniken der Verehrung einer Geistesgröße als Religionsersatz im zwanzigsten Jahrhundert.

2.2.2. »Kleists heilige Krankheit« - Pathophile Biographik und Werkinterpretation »Unsere zeitgenössische Kunst, die Dichtung in vorderster Reihe, wird von keiner Anklage so häufig getroffen, als der, daß sie pathologisch sei.«380 Der sich hinter dem Kürzel »M.« verbergende Kritiker der Zeitschrift Hochland aus dem Jahre 1911 beschreibt eine Tendenz, die sich nach der Jahrhundertwende ganz unmittelbar auch auf die Beurteilung Heinrich von Kleists ausgewirkt hatte, zählte man diesen doch in immer stärkerem Umfange zu den ästhetischen Bereitern der Moderne. Der Begriff des (Psycho-)Pathologischen jedoch war in dieser Zeit keineswegs nur »Anklage« und »Behauptung mit fast automatischer Gedankenlosigkeit«,381 sondern

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Ebda., S. 94. M.: Das Pathologische und die zeitgenössische Kunst. In: Hochland 8 (1911), S. 236241, hier S. 236; vgl. Frank Richardson: Heinrich von Kleist's Reception in France. Diss. University of Michigan 1959, S. 276; Hans Peter Dreitzel: Die gesellschaftlichen Leiden und das Leiden an der Gesellschaft. Vorstudien zu einer Pathologie des Rollenverhaltens. Stuttgart 1972; Anz (wie Anm. 308), S. 50ff., 194f.; Sander L. Gilman: What looks crazy. Towards an Iconography of Insanity in Art and Medicine in the Nineteenth Century. In: The turn of the century. German Literature and Art, 1890-1915. Edited by Gerald Chappie and Hans H. Schulte. Bonn 2 1983. (Modern German Studies 5), S. 5 3 86; Susan Sontag: Krankheit als Metapher. Frankfurt 1977; Walter Müller-Seidel: Kleists >HypochondrieDecadenceAußenseiter< der Literaturgeschichte den allgemein anerkannten Größen

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Etwa L. Loewenfeld: Hypnose und Kunst. Ein Vortrag. Wiesbaden 1904. (Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens 28); Albert Moll: Berühmte Homosexuelle. Wiesbaden 1910. (Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens 75); Otto Hinrichsen: Zur Psychologie und Psychopathologie des Dichters. Wiesbaden 1911. (Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens 80); Wilhelm Steckel: Dichtung und Neurose. Bausteine zur Psychologie des Künstlers und des Kunstwerkes. Wiesbaden 1909. (Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens 65); Gaston Vorberg: Guy de Maupassants Krankheit. Wiesbaden 1908. (Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens 60); Wilhelm Weygandt: Die abnormen Charaktere bei Ibsen. Wiesbaden 1907. (Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens 50); Gustav Wolff: Psychiatrie und Dichtkunst. Wiesbaden 1903. (Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens 22). Birnbaum (wie Anm. 385) unterscheidet u. a. im Kapitel Psychopathische Charaktere (S. 153-182) folgende Typen: »Die Hypersensitiven« (ζ. B. Mörike, C. F. Meyer); »Die Konfliktnaturen«; »Die Disharmonischen« (Kleist); »Der hypersensible Ästhet«; »Die psychopathisch Verschrobnen«; »Die Haltlosen«; »Die moralisch Defekten«; daneben untersucht er »Abnorme Empfindungs- und Gedankenverknüpfungen« (ζ. B. bei Grillparzer, Otto Ludwig und Hebbel) (S. 48-60), »Abirrungen des Persönlichkeitsbewußtseins« (u. a. Heine, C. Ph. Moritz) (S. 61-71), »Depressives Seelenleben« (u. a. Luther, Haller, Schubart, Reuter) (S. 125-152) und »Sexualpsychische Abirrungen« (bei Hebbel, Goethe, Platen, Wilde, Gleim) (S. 194-209); vgl. auch Rahmer (wie Anm. 385); Sadger (wie Anm. 388). Vgl. Fischer (wie Anm. 384), S. 5. Kritik kam auch aus den Reihen der Freud-Adepten: der Literaturwissenschaftler Otto Rank etwa kritisierte Sadgers Kleist-Vortrag vor der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung heftig (vgl. Herman Nunberg; Ernest Fedem (Hrsg.): Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. Bd. II (1906-1910). Frankfurt 1977. S. 201); hierzu auch Fischer (wie Anm. 384), S. 14; skeptisch gab sich auch Jaspers (wie Anm. 383), S. 610: »Urteilt der Psychopathologe darüber [über den Künstler], so gibt er als Dilettant ein subjektives Urteil ab, das niemand interessieren, aber manchen empören kann. Die Pathographie ist eine heikle Sache.«

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zunächst vorzog, schien es doch deutlich unverfänglicher, Grabbes Alkoholsucht zu beschreiben als Goethes Trinkgewohnheiten. Durchaus in vormoderner Tradition stehend, die Geisteskrankheit »als überirdische Begnadung« auffaßte, 396 untersuchte man systematisch die psychischen Auffälligkeiten gerade der scheinbar gescheiterten Dichter und verfestigte sie so zum Stigma. In eigentümlicher Nähe zudem zu Goethes Diktum »Das Klassische nenne ich das Gesunde und das Romantische das Kranke«,397 wählen die sich als Literarhistoriker betätigenden Mediziner ihre Studienobjekte: den >unklassischen< Autoren gilt die offenkundige Präferenz, den Stürmern und Drängern< der verschiedenen Epochen wie Lenz und Klinger, wie Grabbe, Hebbel und Schubart und auch C. F. Meyer, Platen und Otto Ludwig finden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in diesen Studien zumindest Erwähnung. Lange vor dem Büchner-Jahr widmete der im >Dritten Reich< zu großen Ehren gelangte Arthur Moeller van den Bruck dem »Problematiker« Georg Büchner eine zwanzigseitige Analyse in seinem Aufsatzband Verirrte Deutsche von 1904,398 und auch Friedrich Hölderlin wurde in diesem Bereich der Forschung wenigstens parallel zu - wenn nicht vor - seiner Entdeckung als Poet als kranker Mann ausführlichen Analysen unterzogen.399 In diesem Kontext galt der Biographie Heinrich von Kleists mit ihren Eskapaden, Ausfällen und den in der Selbsttötung kulminierenden dramatischen Einlagen von Anbeginn ein besonderes Augenmerk, schien hier doch höchste Begabung mit einer jede Norm sprengenden Persönlichkeit in seltener Reinheit verknüpft zu sein. Den eigentlichen, weil ursprünglichen und weithin rezipierten Anstoß hierzu dürfte eine Äußerung Goethes gegeben haben, in der er im Zusammenhang mit Käthchen von Heilbronn von der ihm tadelnswert vorkommenden »nordischen Schärfe des Hypochonders« gesprochen hatte.400 Obwohl es Goethe kaum darum gegangen sein kann, anhand eines literarischen Werkes die medizinische Diagnose »Hypo-

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Vgl. Hellpach (wie Anm. 385) (zitiert nach M. (wie Anm. 380), S. 237). Im Gespräch mit Eckermann am 2. April 1829 (in: Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. München 2 1984, S. 286). 398 Arthur Moeller van den Bruck: Verirrte Deutsche. Vom Deutschen und Problematischen. Günther - Lenz - Klinger - Grabbe - Büchner - Conradi - Hille. Minden 1904, S. 118; vgl. auch Rahmer (wie Anm. 385), S. 34, der trotz Lektüre der Franzos-Ausgabe Georg mit Ludwig Büchner verwechselt. 399 Ygj £ ρ v a n vieutens Studie Die Geistesstörung Friedrich Hölderlins, (in: Die Nation XXIII, Nr. 40); Wilhelm Lange: Hölderlin. Eine Pathographie. Tübingen; Stuttgart 1909; Carl Dallago: Bahr und sein >Dialog vom MarsyasKranke< als etwas besonders Positives und Auszeichnendes. Dabei ist dieser scheinbar so moderne Gedanke im Grunde eine Anleihe an bewährtes, althergebrachtes Gedankengut: schon die frühen Kleist-Biographen wie etwa von Bülow oder Wilbrandt waren mit dem Phänomen der Kleistschen Krankheit konfrontiert gewesen, die sich für sie am auffälligsten in der Selbsttötung manifestierte. Zugestehen konnten diese Biographen allenfalls, daß Kleist am Vaterland so sehr gekrankt habe, daß es ihn in den Tod trieb. Die in Hegels Philosophie und somit maßgeblich für die ästhetischen Auffassungen des neunzehnten Jahrhunderts begründete Vorstellung von »Gesundheit« als hochrangigem ästhetischen Maßstab zwang zu Behelfskonstruktionen. Da seelische bzw. psychische Krankheit gemäß den vorherrschenden gesellschaftlichen und kunsttheoretischen Wertvorstellungen negativ besetzt war, ja, sogar als Indiz für ein schuldhaftes Handeln aufgefaßt wurde, 424 konnte allein ein edles Motiv - Kleists Patriotismus und sein Leiden an den politischen Zuständen das Fürchterliche der Tat legitimieren. 425 Die tabubrechende Handlung erhält durch

Kleists in Günter Kunerts >Ein anderer K.< In: Romantik. Aufbruch zur Moderne. Hrsg. von Karl Maurer und Winfried Wehle. München 1991. (Romantisches Kolloquium 5); Joel Lefebvre: Le poete, le politique et le philosophie. Pour une lecture psycho-historique du Prince du Hombourg. In: Cahiers d'etudes germaniques 20 (1991), S. 115124; Sigrid Scheifele: Projektionen des Weiblichen. Lebensentwürfe in Kleists Penthesilea. Würzburg 1992. (Epistemata: Reihe Literaturwissenschaft 86); hierzu: Ruth Klüger in: Germanistik 4 (1993), H. 2/ 3, S. 766; Dorothea von Mücke: Der Fluch der heiligen Cäcilie. In: Poetica 26 (1994), S. 105-120; Anthony Stephens: Verzerrungen im Spiegel: das Narziß-Motiv bei Heinrich von Kleist. In: Heinrich von Kleist. Kriegsfall - Rechtsfall - Sündenfall. Hrsg. von Gerhard Neumann. Freiburg 1994. (Rombach Wissenschaft: Reihe Litterae 20), S. 249-297. 424 Vgl. Volkelt 1880 über Hölderlin: »Er ist schuldvoll, denn er besaß nicht die Kraft, die Seite des Endlichen und Zufälligen positiv in sich zu verarbeiten. Er floh vor ihr, und sie rächte sich dafür« (zitiert nach Müller-Seidel (wie Anm. 380), S. 228); vgl. Adolf Bartels: Das >Kleist-Problemromantisch-kranken< Antipoden, die fortan, d. h. im gesamten zwanzigsten Jahrhundert zum ästhetischen Richtwert erklärt wurden. Kleist wie Hölderlin profitieren also postum in kaum zu kennzeichnendem Umfang vom Gegen-Klassik-Programm der Moderne, ein Paradigma, für das beide - als zunächst >unklassische< Autoren benutzt worden sind.

2.2.3. Penthesilea - Der Schlüssel zur Moderne Berlin, 16. September 1911: Paul Lindau, der Dramaturg des Königlichen Schauspielhauses am Gendarmenmarkt und ehemalige Leiter des Meininger Hoftheaters, inszeniert anläßlich von Kleists hundertstem Todestag dessen Trauerspiel Penthe-

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lpe: Gespräche mit Meyer. Gespräch über die Sexualpsychose. In: Blätter des Deutschen Theaters (1911), Nr. 9, 24. November, S. 144; vgl. auch Paul Emsts Dialog Die Kunstfigur und die Maske In: ders., Erdachte Gespräche. München 1921, S. 110-113, in dem Ödipus mit Penthesilea über deren »unter Hysterie« versteckte »Empfindsamkeit« verhandelt.

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silea.

Seine M o t i v e hierfür w i e auch die Absicht, die »Aufführbarkeit« des Stückes

nachzuweisen, 4 4 0 erläuterte er in der parallel dazu im R e c l a m Verlag erscheinenden Bearbeitung ausführlich: seine H o f f n u n g sei es, daß die glühende und pietätvolle Liebe, die mir Kleist einflößt - und unter seinen Dramen keines in höherem Grade als diese Penthesilea [...] in meinem Versuche, das gewaltige Werk aus dem bleiernen Schlafe des Buchdramas für die deutsche Bühne zu erwekken, nicht vermißt werden wird. Mein ehrlichstes Bestreben ist es jedenfalls gewesen, der Kleistischen Penthesilea ihre Reinheit und Unversehrtheit zu bewahren. 441 Der Aufführung des Kleist-Kenners Lindau, der sich über Jahrzehnte für das Gedenken an den Dichter eingesetzt hat, 4 4 2 war ein beachtlicher Erfolg beschieden. D i e hauptstädtische Kritik lobte seine Leistung ausdrücklich und gleichfalls die Sprachkraft ünd das Spielvermögen seiner Akteure, 4 4 3 - auch w e n n Siegfried Jacobsohn ihm dann letztlich d o c h bescheinigte, »aus e i n e m dampfenden H e x e n k e s s e l einen handlichen Futternapf für höhere Zivilanwärter mit Töchtern« 4 4 4 gemacht zu haben.

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Paul Lindau: [Zu Penthesilea]. In: Penthesilea. Ein Trauerspiel von Heinrich von Kleist. In vier Aufzügen für die Bühne eingerichtet von Paul Lindau. Leipzig [1911]. (RUB 5325), S. 103; die Bühnenmusik hatte Ferdinand Hummel komponiert (vgl. Klaus Kanzog: Heinrich von Kleist und die Musik. Eine Bibliographie. In: ders. und Hans Joachim Kreutzer (Hrsg.): Werke Kleists auf dem modernen Musiktheater. Berlin 1977. (Jahresgabe der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft 1973/74). S. 172-210, hier S. 185). Lindau (wie Anm. 440), S. 104. Vgl. dessen seit den siebziger Jahren entstandene Arbeiten: Über die letzten Lebenstage Heinrich von Kleists und seiner Freundin. In: Die Gegenwart 4 (1873), Nr. 31, 2. August, S. 69-72; Nr. 32, 9. August, S. 87-90; Nr. 33, 16. August, S. 117ff.; Ein politisches Manifest von Heinrich von Kleist. In: Die Gegenwart 10 (1876), Nr. 45, 4. November, S. 294ff.; vgl. auch in der - gleichfalls von ihm begründeten - belletristischen Monatsschrift Nord und Süd: Ein Aufsatz von Heinrich von Kleist (4 (1878), H. 10, Januar, S. 3-7). Der Rezensent der Theaterzeitschrift Die Szene schrieb ((1911), S. 59): »Das konservative Hoftheater und das fortschrittliche Deutsche spielen das Werk gleichzeitig und man merkt: es ist nicht allein eine gewaltige Dichtung, sondern daneben - wie alle Dramen Kleists - ein bühnengerechtes Theaterstück. Ein Stück, das dem tüchtigen Regisseur keine Schwierigkeiten bereiten wird und das ein jedes Theater spielen darf, welches das seltene Glück hat, eine Penthesilea zu besitzen.« In: Bühne und Welt 14 (1911), S. 29f., wurde zwar die - im Vergleich zum Reinhardt-Theater - »hoftheatermäßig abgeschwächte [...] Einrichtung« Lindaus kritisiert, gelobt wurden jedoch das anschaulichere »Aufgebot reicherer Mittel« und vor allem die Leistung Rosa Poppes, die bewies, »daß sie unter den Heroinen von heute noch immer in einsamer Größe ragt«; vgl. Siegfried Jacobsohn: Penthesileen. In: Das Jahr der Bühne 4 (1912), S. 23-31, hier S. 25ff., der Lindaus Hauptdarstellerin Gertrud Eysoldt vorzieht, sie jedoch in der Zusammenarbeit mit Lindau für unterfordert hält. Jacobsohn (wie Anm. 443), S. 24; Jacobsohn sieht das Berliner Repertoire von der Mittelmäßigkeit beherrscht und faßt Lindaus Penthesilea als ein Sakrileg gegenüber Kleist auf, angesichts dessen er nur eines fürchtet: »Mit ähnlicher Congenialität wird, soll, dürfte - so Gott will und Lindau gesund bleibt und sonst alles klappt - gegen den Prinzen von Homburg und Robert Guiscard und den Zerbrochenen Krug und Hebbels Nibelungen vorgegangen werden« (in: Saisonbeginn. In: Das Jahr der Bühne 4 (1912), S. 1-7, hier S. 3).

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Gleichwohl: Lindaus offenkundige Verdienste um dieses Stück wie um Kleist sind heute - aller einstigen Popularität des Erzählers und Dramatikers, des Kritikers und Essayisten Lindau zum Trotz - weitgehend vergessen. Szenenwechsel: Berlin, 23. September 1911: in Max Reinhardts »Deutschem Theater« geht die Uraufführung der maßgeblich von dessen Dramaturgen Felix Hollaender konzipierten Penthesilea-Inszenierung über die Bühne, so erfolgreich immerhin, daß sie keineswegs nur von den begeisterten Zuschauem als ein Höhepunkt der Aufführungsgeschichte dieses Werkes bewertet worden ist. 445 Denn auch im ReinhardtTheater verfolgt man überaus ehrgeizige Pläne: dank der herausragenden Leistung der Protagonistin Gertrud Eysoldt 446 kann der nachhaltig wirksame Beweis angetreten werden, daß das Stück zu Unrecht als unspielbar gilt. 447 Und so wird explizit nicht nur das moderne Theater für Kleists Trauerspiel geöffnet, zugleich verschafft man dem Werk im Gegenzug überhaupt erstmals eine breitere Öffentlichkeit; ein Vorgang dies, der noch nicht einmal eine Generation zuvor undenkbar gewesen wäre, hatten doch bis dahin so ziemlich alle Leser des Stückes zumindest große Vorbehalte, meist aber größtes Unbehagen geäußert und eine Aufführung aus mancherlei

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Der über die Inszenierung entsetzte Siegfried Jacobsohn (»die Schändung, die als Ehrung ausgegeben wurde«, (wie Anm. 443), S. 31) beschreibt die Begeisterung des Publikums: »Als aber nach den Aktschlüssen Beifall nicht erscholl, nein, losdonnerte, herab- und hinauftoste, schier die Wände sprengte und sich nimmer erschöpfen und leeren wollte, da war nicht mehr zu zweifeln, daß die Begriffsverwirrung einen Grad erreicht hat wie noch nie zuvor« (ebda., S. 30). Zur schauspielerischen Leistung Gertrud Eysoldts vgl. Carsten Niemann: >Das Herz meiner Künstlerschaft ist Mute die Max Reinhardt-Schauspielerin Gertrud Eysoldt. Hannover 1995; Leonard M. Fiedler: >Nur schaffen will ich und geschaffen werdenSpielraums< ist zudem ganz direkt auf die Bühnentechnik zu beziehen. Kleists Drama zählt zu denjenigen Stücken, mit denen Reinhardt die technischen Vorteile der Drehbühne nachzuweisen suchte. Der Anreiz hierzu lag natürlich gerade auch darin, daß die Fülle der Szenen und Darsteller, die Kleists Text forderte, ohne die Drehbühne kaum zu bewältigen gewesen, nun aber effektvoll zu inszenieren war. Die Schwierigkeit, agierende Massen auf dem engen Bühnenraum zu zeigen - ein Aspekt, der Reinhardt von Oedipus bis Danton's Tod stets neu faszinierte - , mußte auch bei Penthesilea überdacht werden, fehlten doch in Kleists Vorlage die Aktschlüsse, die allein die vom Dichter geforderten größeren Umbauten zuzulassen schienen. Die nicht ohne eine gleichfalls neuartige Beleuchtungstechnik zu denkende »Massenregie« des Reinhardt-Theaters beschreibt dessen Bühnenbildner und Dekorationsmaler Ernst Stern: Da eine Änderung der Szene einerseits im Gedicht selbst bedingt ist, anderseits es aber eigentliche Aktschlüsse nicht gibt außer zwei ganz scharfen Zäsuren, bei denen man den Vorhang fallen lassen kann, um dem Zuschauer im unaufhaltsamen Fluß des Geschehens eine Atempause zu gönnen und die Szenerie zu ändern, sah ich mich genötigt, die Drehbühne zu verwenden. Ich glaube nicht, daß sie jemals sich so glänzend bewährt hat wie in diesem Fall. Es ist durch die Drehbühne möglich, offene Verwandlungen vorzunehmen, während man weiterspielt. Die Griechen sind so auf einem Schauplatz und die Amazonen auf einem anderen; sie sind räumlich tatsächlich voneinander getrennt. Penthesilea kann, gestützt von Protoe, wirklich von der Quelle unter Zypressen »im Gehen auf eine Brücke gelangen« und über die Brücke hinweg auf einen hohen Hügel. Die Drehscheibe ist von einer hohen, runden, weiß gemalten Mauer vollkommen eingeschlossen, die als Horizont dient. Diese Wand wird durch einen komplizierten Apparat, der laternenartig in der Mitte oben hängt, verschieden beleuchtet, während die Beleuchtung der Schauspieler durch andere, von der Mittellampe vollkommen unabhängige Apparate geschieht. 505

Die auf Penthesilea bezogenen Strömungen des Zeitgeistes von der Psychoanalyse bis zur Nietzsche-Rezeption münden in ihrer vermutlich größten Komplexität und Konzentration in die Inszenierung des Reinhardt-Theaters. Mit dieser so pointierten Zusammenschau einer Vielzahl geistiger Tendenzen der Zeit wird der Dichter Kleist in der Penthesilea-Fassung des »Deutschen Theaters« endgültig und mit der breiten öffentlichen Wirksamkeit des Theaters zum Vorläufer und zugleich zum Kernbestand der Moderne erklärt. Keineswegs aber liegt hiermit eine allein von Reinhardt und dessen Kreis getragene Penthesilea-Mode vor, vielmehr belegen zahlrei-

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Ernst Stern: Penthesilea. Betrachtungen des Malers. In: Reinhardt und seine Bühne. Bilder von der Arbeit des Deutschen Theaters. Hrsg. von Ernst Stern und Heinz Herald. Berlin 1920, S. 79-85, hier S. 79f.

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che Texte, einige K o m p o s i t i o n e n 5 0 6 s o w i e Bilder und Illustrationen, 5 0 7 daß die Tendenz zu einer dezidiert modern gedeuteten Penthesilea

gerade v o n den Schriftstel-

lern und Künstlern mitgetragen wurde und bereits seit den 80er Jahren vorhanden war, 5 0 8 auch w e n n in diesen Werken lediglich einzelne der genannten Strömungen manifest werden. Einige davon gehören g l e i c h w o h l in den Kontext der ReinhardtInszenierung: Im hauseigenen Publikationsorgan, den Blättern

des Deutschen

Thea-

ters, wurde d e m Kleist-Gedenken d e s Jahres 1911 viel R a u m g e w i d m e t . Zur Penthesilea-Prtmiere

ließ man in d i e s e m Forum b e i s p i e l s w e i s e die Hauptdarstellerin

Gertrud Eysoldt über ihre Rolle nachdenken, 5 0 9 und als Würdigung z u m Todestag

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Zu Kleist-Vertonungen vgl. grundsätzlich: Historisches und systematisches Verzeichnis sämtlicher Tonwerke zu den Dramen Schillers, Goethes, Shakespeares, Kleists und Körners. Nebst einleitendem Text und Erläuterungen für Darsteller, Dirigenten, Spieler und Hörer der Werke, unter besonderer Berücksichtigung der Zwischenaktsmusik bearbeitet von Albert Schaefer. Leipzig 1886; Kanzog (wie Anm. 440). Einer von Kleist mehr oder weniger unabhängigen - mögliche Bezüge wären noch genauer zu klären - >Mode< scheinen die zahlreichen Amazonen-Darstellungen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts anzugehören; vgl. hierzu die Vielzahl der Darstellungen von Anselm Feuerbachs Amazonenschlacht von 1857/58, die diversen Kämpfenden [Sterbenden] [Verwundeten] Amazonen von Franz von Stuck (von 1892, 1902, 1904, 1905 und 1912) wie auch die Monumentalausführung als Bronzestatue der zuerst 1897 in kleinerem Format erarbeiteten Speerschleudernden Amazone bis hin zu Ernst Sterns Ananke, den von Bruno Cassirer angeregten Penthesilea-Entwürfen Max Slevogts von 1898 bis 1923 (Johannes Sievers; Emil Waldmann: Max Slevogt. Das druckgraphische Werk. Radierungen, Lithographien, Holzschnitte. Erster Teil. 1890-1914. Hrsg. von H.-J. Imiela. Heidelberg; Berlin 1976, S. 13ff.; Norbert Suhr: Max Slevogt als Graphiker. In: Max Slevogt. Gemälde. Aquarelle. Zeichnungen. Hrsg. von Ernst-Gerhard Güse, Hans-Jürgen Imiela, Berthold Roland. Saarbrücken 1992, S. 75-93, hier S. 75, 78f. sowie Berliner Kunstfrühling. Malerei, Graphik und Plastik der Moderne 1888-1918. Aus dem Stadtmuseum Berlin. Hrsg. von Dominik Bartmann. Berlin 1997, S. I l l , Nr. 96) und Christian Rohlfs Jagender Amazone von 1912; vgl. Kleist (wie Anm. 238), S. 117f.; Barbara Wilk: Kleist in der Buchillustration 17 (1980), Η. 1, S. 9ff.; Rudolf Loch: Die Bildkunst zu Kleist. Ein Überblick. In: Kleist-Jahrbuch (1995), S. 121-149, hier S. 121ff. Vgl. ζ. B. Liliencrons undatierte Miscelle: »Heut gelesen zum so und so vielten Male: Heinrich Kleists Penthesilea. Ο du Dichter! Selbst Goethe, der >mildeSm 97 < in der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek; der Erstdruck erschien im Todesjahr Wolfs auf Initiative des Wiener Hugo Wolf-Vereins, gleichfalls 1903 erschien ein von Max Reger bearbeiteter Klavierauszug zu vier Händen; die eigentliche Uraufführung fand am 15. März 1904 im Wiener Konzert-Verein unter der Leitung von Ferdinand Löwe statt; vgl. Kanzog (wie Anm. 440), S. 182f. Die Angaben zur Entstehungszeit variieren (vgl. Janciks Einführung zu Hugo Wolf: Penthesilea: symphonische Dichtung. Vorgelegt von Hans Jancik. Wien 1971. (Hugo Wolf: Sämtliche Werke 16)). Vgl. Jancik (wie Anm. 515); Detlev Altenburg: Art. >Symphonische DichtungKenner< aber sofort deutlich werdende strukturelle Gemeinsamkeiten (Handlung, Figurenkonstellation). Ein solcher Text rechnet mit einem kundigen, überaus kompetenten Leser, der nicht nur direkte, gewissermaßen also: l:l-Verweise versteht, der im Gegenteil seinen Kunstgenuß gerade aus den >verhüllten< Anspielungen eines Textes zu ziehen vermag. 544 Bei dem »Theaterroman« des besonders nach dem Ersten Weltkrieg überaus populären Ullstein-Autors Walter Bloem, Das lockende Spiel aus dem Jahre 1905, handelt es sich um einen solchen Text, der mit einiger Selbstverständlichkeit nicht nur eine genaue Kenntnis der Berliner Theaterszene seit der Jahrhundertwende voraussetzt, sondern an einer Aufführung von Kleists Penthesilea und durch die Übernahme der Idee der getrennten, wiedervereinigten und erneut getrennten Liebenden die Handlung des Romans entzündet. 545 Indirekt, auf einer dritten Ebene gleichsam, zeichnet Bloem damit die tatsächlich stattfindende, die ganz reale Entdeckung der Penthesilea in Romanform nach und fängt so die Atmosphäre dieser >Gründerzeit< des modernen Theaters ein. Konkret bietet er eine nur wenig verhüllte Beschreibung des Reinhardt-Theaters: 546 das neu erbaute Ber-

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Vgl. die 1986 vom Rhenish Philharmonie Orchestra unter Michael Haläsz produzierte Aufnahme des Werks. Vgl. im Kontext dieser Technik auch Hans von Hülsens Novelle Abigail op'ten Haage aus der Sammlung Versprengte Edelleute (Berlin 1919), in der ein altes, in Danzig lebendes Fräulein, deren Dasein um Gefühlsabenteuer mit Dichtern kreist, eines Tages nach einer Penthesilea-kuiiiXhmrig tot in ihrem Zimmer aufgefunden wird, nachdem sie ihrer Katze Mignon den Hals - nach bekanntem Vorbild - regelrecht durchgebissen hatte. Bloem hatte seit 1904 seine Tätigkeit als Anwalt eingestellt, um als freier Schriftsteller in Berlin zu leben. Mit einer Gesamtauflage von ca. 2 Millionen Bänden galt er seinerzeit als Bestseller-Autor. Die im erwähnten Roman anklingende Theater-Faszination versuchte er als Regisseur und Dramaturg am Kgl. Theater Stuttgart von 1911 bis 1914 auch in die Praxis umzusetzen; vgl. in diesem Kontext Ernst von Wildenbruchs Lukrezia-Roman von 1907 (wie Anm. 448), der Penthesilea ausführlich als genialen Wurf Kleists schildert, in dem »das geheimnisvollste Rätsel des rätselreichen Weltgefüges« berührt werde: »Das Füreinanderbestimmtsein, die Zueinandergehörigkeit zweier Menschen vom Uranfange der Dinge bis zum letzten Tage der Welt.« (zitiert nach Sembdner (1996) II, Nr. 618). Unter dem »berühmte[n]« Komponisten »mit der aufgestülpten Nase« (Walter Bloem: Das lockende Spiel. [Auszug]. In: Bühne und Welt. Zeitschrift für Theaterwesen, Literatur und Musik 11 (1908/09), S. 546, 552-557, hier S. 552; vgl. ders., Das lockende Spiel. Leipzig; Zürich 1905) ließe sich etwa Hans Pfitzner erkennen, der 1905 die Büh-

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liner »Kleist-Theater« - eine Institution, die der Kritiker Herbert Ihering wohl in Kenntnis des Romans 1909 in der Schaubühne tatsächlich forderte, weil gerade dieser Name einen »symbolischen Klang« habe 547 - , dieses Theater, in dem »Direktor Hinrichs [...] ein Theatermann, wie er im Buche steht: vom höchsten Idealismus der Ziele geschwellt, doch mit beiden Beinen auf den realen Brettern stehend« wirkt, soll dem Namen des Theaters entsprechend mit einer Aufführung der Penthesilea eröffnet werden - an dieser Stelle gedenke man der Einweihung des »Deutschen Theaters« 1905 mit Käthchen von Heilbronn.548 Der durch die Macht der Leidenschaft ausgelöste dramatische Konflikt entzündet sich an dem erneuten Aufeinandertreffen des geschiedenen Schauspieler-Ehepaares, Richard Königsmarck und Editha von Langendorff, die beide die Königlichen Bühnen verlassen hatten, um einander zu entgehen. Beide erleben zwischenzeitlich eine mehr oder weniger leidenschaftliche Affäre, Richard mit Claudine Munzinger, der Tochter »eines millionenschweren Frankfurter Baumeisters und Schloßbesitzers«, Editha mit dem jungen Dramatiker und Arzt Hans Josef Neuenbornf!], dessen Drama Johannes Wittenborg am Kleist-

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nenmusik zum Käthchen verfaßt hatte; auch das ebda., S. 552f., geschilderte Gespräch des Direktors mit einem Journalisten spiegelt Reinhardts Taten: »Höre soeben, Sie bringen morgen abend zwei Elefanten auf die Szene ... kann ich sie interviewen, diese angenehmen kleinen Zeitgenossen? Und gestatten Sie, daß ich ein längeres Feuilleton über sie bringe [?...] lassen Sie das! Die Elefanten sollen ja eine Ueberraschung für das Publikum sein! Ich bringe sie in einer ganz besonders pikanten Beleuchtung kaum als Umrisse vom Sonnenuntergang abgehoben...«; vgl. auch den Hinweis auf Reinhardts Lichtregie (hierüber Reinhardt an Berthold Held, 21. Juli 1904; Reinhardt (wie Anm. 481, S. 93-102, hier S. 97): »Licht ist die Hauptsache!« [Hervorhebung von Reinhardt]) und den Einsatz lebender Tiere auf der Bühne (auch 1911 bei Penthesilea trat zur Steigerung des realistischen Eindrucks eine Hundemeute auf); mit dem »machtvollen Menschentum« der Idealbesetzung Editha von Langendorff dürfte wohl auf Gertrud Eysoldt angespielt sein (ebda., S. 553); vgl. ebda., S. 556, den Hinweis auf die »Massenregie« und die Fortschritte in der Bühnendekoration (vgl. Trudis Goldsmith-Reber: Max Reinhardt als Wegbereiter der modernen Bühnenbild-Kunst: Seine Zusammenarbeit mit Malern und Architekten von 1905-1915. In: Gerald Chappie; Hans H. Schulte (Hrsg.): The turn of the century: German literature and art 1890-1915. Bonn 1981, S. 291-310, hier S. 295ff.). Vgl. Herbert Ihering: Kleisttheater. In: Die Schaubühne 5 (1909), II, S. 660f„ hier S. 660: »Er [der Name] soll das Repertoire einer Bühne nicht auf die Werke unsers größten Dramatikers[!] einschränken, wohl aber auf eine Dramenreihe, an deren Anfang gewissermaßen Kleist, in deren Mittelpunkt Hebbel, an deren Ende bis jetzt Paul Emst steht.« Charakteristisch ist auch der von Ihering anvisierte Spielplan, an dessen oberster Stelle natürlich - Penthesilea zu stehen hätte und der viele Gemeinsamkeiten mit dem des Reinhardt-Theaters aufweist: »Irgend ein berliner Theater müßte sich also finden, das unter dem Banner Kleist etwa folgenden Spielplan durchkämpfte. Selten gegebene Sachen von Kleist, Hebbel, Otto Ludwig (Penthesilea - vor allem, Amphitryon, Guiskard; Moloch; Das Fräulein von Scuderi, Hanns Frei); dann Büchner (Wozzeck, Danton); Grabbe [...].« Charakteristisch ist auch die Selbstverständlichkeit, mit der Bloem Jahre vor Reinhardts Inszenierung der Romanhandlung gerade eine Penthesilea-laszeaieruag zugrundelegt: es dürfte ihm dabei nicht ausschließlich um Handlungsmuster und Figurenkonstellation zu tun gewesen sein, sondern durchaus das einem ambitionierten Theater in dieser Zeit und an diesem Ort Naheliegende spiegeln.

270

Theater uraufgeführt werden soll. 549 Die so angelegte Verwirrung der Gefühle nach trivialem Muster vermag nicht darüber hinwegzutäuschen, daß der Autor sehr auffällig darum bemüht ist, seine Kleist-Verehrung literarisch zu artikulieren. Im Kapitel »Generalprobe zur Penthesilea« tritt denn auch zeitweilig die vordergründige Handlung zugunsten des bewunderten Dichters zurück. 550 Zugleich handelt es sich bei dieser Roman-Inszenierung der Penthesilea um den Nachweis der Eignung des Kleist-Dramas zum Gesamtkunstwerk im Wagner'schen Sinne, denn in dem nach »Bayreuther System« gebauten Raum (»keine Ränge, keine Logen, nur ein stark und in flachem Rund ansteigendes riesiges System von Sesselreihen und ganz hinten eine kleine, wenig vorspringende Galerie«) 551 findet eine alle Sinne ergreifende Verbindung von Poesie und Musik statt: schon das »Faltenspiel« des »schweren, silbergrauen Sammets« anstelle eines »gemalten Vorhangs« »lenkte ab vom Alltag« und unterstreicht den >FestspielGreuelszene< des Stückes: Ein greller Aufschrei der Fanfaren! Und sekundenlange Stille ... und horch ... ein zweiter, wilderer Schrei ... und nun einander hetzend, aufpeitschend, anfallend mit gefletschten Zähnen ein wildes Rudel entfesselter Töne, atemlos daherkeuchend in irrem Rasen ... [...] Und aus dem Sturm der Fanfaren, dem Aufheulen der Hörner ringt sich ein sehnsuchtswirr einherbrandendes Unisono-Tutti der Geigen los ... gestreckten Laufes dahinfegend wie die schäumende Karriere eines mähnenumflatterten Hengstes, auf dessen Rükken, stieren Auges vornübergebeugt, ein lechzendes Königsweib sich duckt... immer vorwärts ... vorwärts ... ihm nach, dem Leuchtenden, dem Einzigen. 552

Dem musikalischen Vorspiel folgt die eigentliche Handlung: das Publikum, nach Verklingen der Musik »wie aus magischer Verstrickung erwachend«, wird durch die perfekte Bühnendekoration erneut in seinen Sinnen betört und fühlt sich glaubhaft in die Ebene von Troja versetzt, auf der sich nun das Geschehen entwickelt (»und das Fiebertempo des Versschritts übertrug sich unentrinnbar auf die Phantasie der Hörer... zwang ihr das Ahnungsbild der Helden der Liebestragödie auf«). 553 Editha von Langendorff und Richard Königsmarck verkörpern als Hauptdarsteller (»Noch niemals meinte Hans Josef so überzeugende, so überwältigende Verkörperung göttergebenedeiten Heroentums auf der Bühne geschaut zu haben«) zweierlei Tragödien: so sind sie die Haß-Liebenden des Kleist-Dramas und die Darsteller des ganz privaten Liebesdramas, das sie nach der Scheidung nun mit noch unklarem Ausgang wieder zusammengeführt hat. Und auch Hans Josef, der unglückliche Liebhaber Edithas, spürt die Vermischung der persönlichen und der theatralischen Sphären:

549 550 551 552 553

Vgl. Bloem (wie Anm. 546), S. 546. Ebda., S. 552-557. Ebda., S. 554. Ebda. Ebda., S. 555f.

271

Doch ... kurz nur währte dies jähe Erwachen zum Bewußtsein seiner eigenen Existenz ... seines persönlichen Schicksals ... bald riß die Ueberwucht der Dichtung den Lauscher wieder in ihren Bann ... und der droben stand war nicht mehr Richard Königsmarck ... war der leuchtende Sohn der Thetis ... war des Dichters lebenflammendes Geschöpf.554 Mit geradezu erschreckender Intensität wirkt auf den Liebhaber das immer weiter sich steigernde Spiel Edithas, das ihm zur wahren Inkarnation der Figur Kleists wird: Was war's denn, was in ihr so ungeheuer, so fremd, so erschreckend raste? Ο ... nun begriff er's mit einem Male, der stille, bebende Lauscher drunten im Parkett ... Des toten Dichters Riesenseele ... dessen Gebeine draußen am Wannsee moderten ... diese Riesenseele, die unbegriffen, unerkannt hatte verglühen und in sich selbst verbrennen müssen, in einer bangen, harrenden, horchenden Zeit ... die brauste nun durch das Wesen der lebenden, sehnenden Frau da droben ... Und tief, tief neigte der lebende Dichter vor dem toten das Haupt ... der werdende vor dem ewig seienden, der ringende vor dem vollendeten.555 Die sich gegen Kapitelende zunächst scheinbar klärende Liebesgeschichte unterbrechend - Hans Josef sieht an den Schlußversen des 5. Auftritts, daß »Editha-Penthesilea« allein für ihn bestimmt ist ergänzt der Erzähler das inzwischen sattsam bekannte Thema mit Variationen Junge, noch nicht erkannte Dichter und ihr Säulenheiliger Kleistquerelle des anciens et des modernsgroßen Gemeinde< - Institutionalisierte Formen des Gedenkens Ein grundsätzlicher Konsens der kulturellen Instanzen ist notwendig, um das Gedenken an einen Dichter und den Umgang mit seinem Werk in institutionalisierte Formen überzuleiten. Dieser Konsens muß anfänglich wenigstens darüber herrschen, daß der Dichter >der Rede wert< ist - sei es in Ablehnung oder Zustimmung. Liegt dies vor, so leiten sich beinahe alle anderen Formen des öffentlichen Diskurses daraus gleichsam von selbst ab: je mehr Instanzen sich hieran beteiligen, je breiter also das öffentlich artikulierte Interesse bekundet wird, desto wahrscheinlicher, daß der Diskurs eine feste Form annimmt, sich zur Institution wandelt, die dem Dichter einen Platz im Kollektiven Gedächtnis< eines Kulturraumes im weitesten Sinne zu sichern vermag. Innerhalb der jeweils spezifischen Zeitgegebenheiten verfügt der literarische Markt über eine Vielzahl von Möglichkeiten, das Gedenken zu institutionalisieren. Der im Gefolge einer zumindest partiell gewandelten Wertschätzung intensivierte öffentliche Diskurs über Heinrich von Kleist nun fällt in eine Zeit, in der auch und gerade die Formen dieses Dichter-Gedenkens sich wandeln, oder präziser: modernisiert werden. In einer solchen Übergangszeit muß der Konflikt zwischen >Tradition< und >Innovation< naturgemäß einen Höhepunkt erreichen; das Bewährte steht in harter Konkurrenz zu dem noch wenig Erprobten. Und man kann sagen: dieser Konflikt entzündet sich im deutschsprachigen Kulturraum geradezu beispielhaft an Kleist, an dem beide Zugangsmöglichkeiten - die des traditionellen Dichtergedenkens wie die des modernen - durchgespielt werden, eine Konkurrenz, die nicht zuletzt auch seinen späten Ruhm mitbegründet und ihn so fest im kulturellen Gefüge verankert hat. Durch diese Gegenüberstellung sollten sich zudem die >Diskurs-Fronten< klären und personalisieren lassen, denn der beschriebene Konflikt wird nicht von anonymen Instanzen, sondern vorwiegend von öffentlich agierenden Personen oder Gruppen und aus den unterschiedlichsten Motiven ausgetragen. Die Institutionalisierung Kleists zum >Klassiker< der deutschen Literatur läßt sich aus diesem Blickwinkel als ein Vorgang beschreiben, bei dem die Bereitstellung von Grundlagen - wie etwa von Textausgaben oder Biographien - ebenso relevant ist, wie die hierdurch erst ermöglichten Formen repräsentativen Gedenkens herkömmlicher oder modernisierender Prägung, die eine jeweils signifikant andere Auffassung vom Dichter publik zu machen suchen.

274

Was die Ausgaben seiner Werke angeht, muß Kleist spätestens nach der Jahrhundertwende als ein unumstößlich fest >etablierter< Autor gelten. In der Hierarchie der Editionen von der wissenschaftlichen Kriterien genügenden kritischen Werkausgabe bis zur bearbeiteten Jugendversion einzelner Erzählungen ist er auf allen Ebenen vertreten, was auf Interesse an seiner historischen Leistung ebenso schließen läßt wie auf die aktuelle Popularität seiner Werke in dieser Zeit. Mit dem Erscheinen der lange geplanten fünfbändigen Werkausgabe von Erich Schmidt, die dieser gemeinsam mit Georg Minde-Pouet und Reinhold Steig 1904/ 1905 herausgab, 560 ist auf dem Editionssektor und im Bereich der Gesamtausgaben ein zumindest vorläufiger Abschluß der Institutionalisierung Kleists erreicht worden, nicht zuletzt, weil hier die methodischen Möglichkeiten der auf akribische Textphilologie wie Materialbeschaffung und -sichtung ausgerichteten zeitgenössischen Literaturwissenschaft ausgeschöpft wurden.561 Eine Schlüsselstellung innerhalb der KleistForschung besonders im akademischen Bereich mußte sie allein dadurch erlangen, daß Schmidt als der Nachfolger Scherers auf dem eminent wichtigen Berliner Lehrstuhl - und so als der Exponent der >preußischen< Literaturwissenschaft schlechthin wie auch als >Oberhaupt< der Scherer-Schule - das Unternehmen vorantrieb. Die wissenschaftliche >Entdeckung< Kleists läßt sich demnach personalisieren, was nicht heißen soll, das niemand sonst sich mit Kleist wissenschaftlich auseinandergesetzt hätte: aber Schmidt wie Minde-Pouet stehen für eine bestimmte Auffassung von diesem Dichter, indem sie den (eher konservativen) akademischen Umgang mit ihm geradezu verkörpern, der eben nur ein möglicher und in der zeitgenössischen Diskussion nur sehr bedingt der maßgebliche gewesen ist; der eine tat dies von universitärer Warte, der andere eher als eine Art >Manager< in Sachen Kleist. Beide beschäftigten sich über lange Zeiträume mit dem Dichter - Brahm hatte Schmidt ja schon 1884 in seiner Biographie ermutigt, das Projekt voranzubringen,562 während Minde-Pouet von Anbeginn seiner wissenschaftlichen Tätigkeit Ende der 90er Jahre

560

Zu den Problemen, die sich aus der Zusammenarbeit mit Reinhold Steig ergaben vgl. Ernst Elsters Schreiben an Minde-Pouet vom 24. Juni 1901 (DLA Marbach 71.894/ 1 und 2): »Mit Erich Schmidt habe ich in Weimar, wo ich ihn traf, wieder über die KleistAusgabe gesprochen, an der Sie ja wohl Anteil nehmen werden; es würde mich herzlich freuen, wenn diese Sache nun bald in Fluss käme. Schmidt glaubte mit Steig wegen der Abendblätter sich nun endlich verständigen zu können, da ich aber noch keine Nachricht erhalten habe, so muss ich befürchten, dass er in dieser Angelegenheit mit ihm noch nicht ins Reine gekommen ist«; »Ich habe Ihnen wohl schon früher geschrieben, dass Erich Schmidt den Kleist auf unbestimmte Zeit vertagt sehen möchte; er fürchtet, dass Steig, der ausser dem in seinem Buche verwerteten Material noch neues zu besitzen scheint, mit diesem herausrücken möchte, sobald die neue Ausgabe abgeschlossen vorläge; und da Steig nicht Farbe bekennen will, so wollte Schmidt die Ausgabe zur Zeit lieber ganz liegen lassen [...].«

561

Kleist, Werke (wie Anm. 450). Vgl. Brahm (wie Anm. 177), Widmung.

562

275

auf Kleist geradezu fixiert war. 563 Beide waren in hohem Maße auf die repräsentativen Formen des Gedenkens an Kleist bedacht, so daß sich ihre Beschäftigung keineswegs allein auf die Erstellung einer Textgrundlage für wissenschaftliche Zwecke beschränkte, sondern auch auf durchaus außerliterarische Felder, wie die Verknüpfung der Literatur Kleists mit den Zielen preußisch-deutscher und später im Falle Minde-Pouets nationalsozialistischer Politik, erstreckte. 564 Im Kontext der Entdeckung Kleists durch das Verlagswesen jedoch ist es zunächst wichtig und symptomatisch, daß die Edition Schmidts in der vom Marburger Professor Ernst Elster herausgegebenen Reihe Meyers Klassiker-Ausgaben erschien. Denn dem >Klassiker< Kleist hatte man bereits seit den achtziger Jahren immer wieder wohlfeile Gesamtausgaben gewidmet, solche also, die einem breiteren Publikum den Zugang zu seinen Texten eröffnen sollten: Eduard Grisebachs »Liebhaber· Ausgabe auf Büttenpapier«, die 1884 bei Reclam erschien, zählt hierzu ebenso wie Zollings Sämtliche Werke (1885), die von Rudolf Genee eingeleiteten Sämtlichen Werke von 1888, Franz Munckers Ausgabe innerhalb der Cotta'sehen Bibliothek der Weltlitteratur,565 Karl Siegens Sämtliche Werke (1895) oder die von Hermann Gilow, Willy Manthey und Wilhelm Waetzoldt herausgegebenen Werke in der Goldenen Klassiker-Bibliothek.566 Auf diesem Sektor dokumentiert sich das Vor-

563

Vgl. hierzu schon Minde-Pouets frühe Korrespondenz, etwa mit Leo Berg (7. Januar 1902; DLA Marbach, Α.: Minde-Pouet 71.819), Elisabeth Berge (7. Januar 1902; ebda., 71.820/ 1), Gustav Roethe (12. Juli 1900; ebda., 71.1151/ 3), Edward Schröder (30. April 1904; ebda., 71.1220/ 1), Franz Servaes (12. Dezember 1900 (ebda., 71.1235/ 1), 20. Februar 1901 (ebda., 71.1235/ 2), 21. Mai 1902 (ebda., 71.1236/ 1), ca. 1902 (ebda., 71.1236), 15. Januar 1903 (ebda., 71.1237), 30. April 1903 (ebda., 71.1237/ 2), 13. Mai 1903 (ebda., 71.1237/ 3), 26. November 1904 (ebda., 71.1238/ 2)), Reinhold Steig (18. Dezember 1902; ebda., 71.1265/ 2), Adolf Wilbrandt (30. März 1893; ebda. 71.1351/ a); vgl. Georg Minde-Pouet: Heinrich von Kleist. Seine Sprache und sein Stil. Berlin 1897. 564 Vgl. Hans Joachim Kreutzer: >... Der Erste Nationalsozialistische Dichter Der Vergangenheit...Kanonrang< und >Reihenplatz< in einem direkten Abhängigkeitsverhältnis stehen, eben auch, weil die kommerzielle Ausrichtung der Verlagsunternehmen die Verkäuflichkeit eines Werkes stets mit zu berücksichtigen hatte. Die seit 1886 erscheinende Reihe führte Kleist bei den ersten zwanzig Bänden gleich zweimal: Nr. 6/7 war Käthchen von Heilbronn vorbehalten - nach Lessings Minna von Barnhelm (Nr. 1), Goethes Faust (Nr. 2/3) und Schillers Wilhelm Teil (Nr. 4/5) - , während Michael Kohlhaas im Doppelband Nr. 19/20 erschien, nach Moliere, Shakespeare, Sophokles, Lenau, Ε. T. A. Hoffmann sowie Goethe und Schiller. 569 Zumindest diese beiden Texte also begründeten offenbar Kleists Rang als >Klassiker< auch nach verlegerischen (und somit pekuniären) Gesichtspunkten. Aufgenommen wurden zudem als Nr. 73/74 seine Erzählungen und als Nr. 86 der Zerbrochne Krug, was ebenfalls deren ausgeprägte Popularität dokumentiert, denn die Reihe umfaßte immerhin weit über 1500 Nummern. 570 Signifikant erscheint die offenbar im späten 19. Jahrhundert noch nachgeordnete Wichtigkeit des Prinz Friedrich von Homburg (Nr. 160) und der Hermannsschlacht (Nr. 178/179). Schließlich fanden auch Penthesilea (Nr. 351/352) und Die Familie Schroffenstein (Nr. 465/466) Aufnahme -Amphitryon hingegen nicht. 571 Die hier ablesbare sukzessive und de facto auch wertende Aufnahme von Kleists Texten in das Verlagsprogramm des Leipziger Bibliographischen Instituts spiegelt also recht genau die Verhältnisse auf den

569 Yg[ Das Käthchen von Heilbronn oder die Feuerprobe. Ein großes historisches Ritterschauspiel von H. v. Kleist. Berlin 1886ff. (Meyer's Volksbücher 6/7); Michael Kohlhaas. Eine Erzählung von Heinrich von Kleist. Hrsg. von H. Kurz. Berlin 1886ff. (Meyer's Volksbücher 19/20). 570 Vgl. Erzählungen von Heinrich von Kleist. Hrsg. von Heinrich Kurz. Berlin 1886ff. (Meyer's Volksbücher 73/74); Der zerbrochene Krug. Ein Lustspiel von Heinrich von Kleist. Hrsg. von H. Kurz. Berlin 1886ff. 571 Vgl. Heinrich von Kleist: Prinz Friedrich von Homburg. Ein Schauspiel in 5 Akten. Hrsg. von H. Kurz. Berlin 1886ff. (Meyer's Volksbücher 160); ders., Die Hermannsschlacht. Ein Drama in 5 Akten. Hrsg. von H. Kurz. Berlin 1886ff. (Meyer's Volksbücher 178/179); ders., Penthesilea. Berlin 1886ff. (Meyer's Volksbücher 351/352).

278

Bühnen wider. Wie gezeigt, hatte das >romantische< Käthchen Kleists Ruhm auf dem Theater begründet und immerhin so fest verankert, daß es von Verlagsseite her mit größter Priorität behandelt wurde, ebenso wie der zur Schullektüre gewordene Kohlhaas. Dieser Befund ist symptomatisch auch für die anderen Billig- und Volksausgaben: die 1867 begründete Universalbibliothek des Reclam-Verlags führte Kohlhaas als Nr. 8 und Käthchen als Nr. 40 - also gleichfalls ganz oben auf der Prioritätenliste - schon im ersten Verlagsprospekt überhaupt.572 Und auch die Verleger, die Reclams Geschäftsidee kopierten, wählten ähnlich: Hempel's Klassiker-Bibliothek führte bereits 1879 die Erzählungen, Die Familie Schroffenstein, Die Hermannsschlacht sowie Penthesilea und Vermischte Schriften,513 die Bibliothek der Gesamt-Litteratur des In- und Auslandes ließ Ende der achtziger Jahre zuerst Käthchen, dann Prinz Friedrich von Homburg, Michael Kohlhaas und Die Hermannsschlacht erscheinen, 574 in der Reihe Minerva. Illustrierte Klassiker-Ausgaben, die »Meisterwerke aus den Literaturschätzen aller Nationen« in wöchentlichem Abstand bot, erschien Käthchen 1896 gar als 1.-3., und Der zerbrochne Krug als 4. und 5. Lieferung, wenig später gefolgt von Die Hermannsschlacht (Lfg. 64/65) und Prinz Friedrich von Homburg (Lfg. 65[!]-67), 575 während die von Georg Witkowski herausgegebene Reihe Die Meisterwerke der deutschen Bühne als Nr. 7 Prinz Friedrich von Homburg, als Nr. 19 Käthchen, als Nr. 32 Der zerbrochne Krug auf-

572

573

574

575

576

Vgl. Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas. Leipzig 1867. (Reclams Universalbibliothek 8); ders., Käthchen von Heilbronn. Leipzig 1867. (Reclams Universalbibliothek); wenig später folgte Der zerbrochne Krug; vgl. den ältesten erhaltenen Verlagsprospekt, abgedruckt in: Reclam. 100 Jahre Universal-Bibliothek. Ein Almanach. Stuttgart 1967, S. 21, sowie S. 17-23, zu den Präferenzen Hans Heinrich Reclams, der entschieden auf (Bühnen-)Popularität als Auswahlkriterium setzte. Vgl. Heinrich von Kleist: Erzählungen. Leipzig 1879. (Hempel's Klassiker-Bibliothek 669-671), in derselben Reihe erschienen 1879 als Nr. 662 Die Familie Schroffenstein\ als Nr. 666 Die Hermannsschlacht; als Nr. 663 Penthesilea, als Nr. 672/3 Vermischte Schriften. Vgl. Heinrich von Kleist: Das Käthchen von Heilbronn oder die Feuerprobe. Halle 1887. (Bibliothek der Gesamt-Litteratur des In- und Auslandes 108); in derselben Reihe als Nr. 127 Prinz Friedrich von Homburg, 1888 als Nr. 192 Michael Kohlhaas·, 1889 als Nr. 326 Die Hermannschlacht. Vgl. Heinrich von Kleist: Käthchen von Heilbronn oder die Feuerprobe. Ein großes historisches Ritterschauspiel. Leipzig 1896. (Minerva. Illustrierte Klassiker-Ausgabe. Meisterwerke aus den Literaturschätzen aller Nationen Lfg. 1-3), in derselben Reihe als Lieferung 4.5 Der zerbrochene Krug\ als Heft 64/65 Die Hermannschlacht\ als Nr. 65-67 Prinz Friedrich von Homburg. Vgl. Heinrich von Kleists Prinz Friedrich von Homburg. [...] Leipzig 1903. (Die deutschen Klassiker, erläutert und gewürdigt für höhere Lehranstalten, sowie zum Selbststudium von E. Kuenen, M. Evers und einigen Mitarbeitern 21); ders., Das Käthchen von Heilbronn oder die Feuerprobe. Ein großes historisches Ritterschauspiel. Mit Einleitung und Anmerkungen von Anna Ettlinger. Leipzig 1903. (Die Meisterwerke der deutschen Bühne 19); 1905 in derselben Reihe als Nr. 32 Der zerbrochene Krug.

279

nahm. 5 7 6 D o c h damit nicht genug: diese Popularität zeigt sich - zeitlich ein w e n i g versetzt und in der Schwundstufe gewissermaßen - auch in der Schul- und Jugendlektüre: Graeser's

Jugendbibliothek

Hauffs Märchen,

Höltys Gedichten

tor Faustus,577 für höhere

führte Kohlhaas

während die Reihe Die deutschen

Lehranstalten,

einigen Mitarbeitern,

sowie

bereits 1888 als Nr. 4, nach

und Gustav S c h w a b s Nacherzählung des Klassiker,

zum Selbststudium

Prinz Friedrich

von Homburg

erläutert

von E. Kuenen,

und

Doc-

gewürdigt

M. Evers

und

1903 als Band 21 aufnahm, mit

»einer Karte der Heeresaufstellung und des Schlachtplanes nebst einer Karte des historischen Kriegsschauplatzes der Schlacht bei Fehrbellin«, und 1905 als Band 27 Die Hermannsschlacht Schulausgaben Der zerbrochne

f o l g e n ließ. 5 7 8 Koch's

führten entsprechend Prinz

deutsche

Klassikerausgaben.

Friedrich

von Homburg

Krug als Nr. 19. 5 7 9

Schließlich wurde bereits 1906 im Band Lesestücke schen Unterricht

Billigste

als Nr. 17 und

der Reihe Handbuch

des deutschen

und Schriftwerke

Unterrichts

im

an höheren

deutSchu-

len die Kleist-Lektüre in der Schule ausdrücklich e m p f o h l e n , nicht zuletzt natürlich aus patriotischen Gründen. 5 8 0 Zwar sei Kleist » E p i g o n e « , aber auch w e n n »die

577

578

Vgl. Michael Kohlhaas. Eine Erzählung von Heinrich von Kleist. Gesichtet und herausgeben von G. Wöckl. Wien 1888. (Graeser's Jugendbibliothek 4); vgl. auch Prinz Friedrich von Homburg. (München 1910) als Nr. 18 in der Reihe Quellen. Bücher zur Freude und zur Förderung. Vgl. etwa die Schulausgaben des Prinz Friedrich von Homburg in folgenden Reihen: Teubner's Sammlung deutscher Dicht- und Schriftwerke für höhere Töchterschulen, Jaeger'sehe Sammlung deutscher Schulausgaben für höhere Lehranstalten, Velhagen & Klasing's Sammlung deutscher Schulausgaben (Bielefeld; Leipzig 1905), Aschendorffs Ausgaben für den deutschen Unterricht (Münster 1901; Bd. 7), Freytag's Schulausgaben klassischer Werke, Schöninghs Ausgaben deutscher Klassiker (Paderborn 4 1906; Nr. 17), Graeser's Schulausgaben classischer Werke (Wien 1885ff., Nr. 37) oder Hugo Gaudigs Reihe Deutsche Schulausgaben (1908); auf diesem Sektor gestaltet sich die Editionsgeschichte des Michael Kohlhaas, des Käthchen von Heilbronn sowie der Hermannsschlacht durchaus vergleichbar (vgl. etwa Die Hermannsschlacht. Ein Drama in 5 Aufzügen. Mit Einleitung und Anmerkungen von Adolf Lichtenfeld. Wien 1885f. (Graeser's Schulausgaben classischer Werke. Unter Mitwirkung mehrerer Fachmänner hrsg. von J. Neubauer 17); Die Hermannschlacht. Ein Schauspiel von Heinrich von Kleist. Mit ausführlichen Erläuterungen für den Schulgebrauch und das Privatstudium von Dr. W. Gerstenberg, Oberlehrer am Kgl. Gymnasium zu Meppen. Paderborn 1905. (Schöninghs Ausgaben deutscher Klassiker mit ausführlichen Erläuterungen 34); Die Hermannsschlacht. Ein Drama in 5 Aufzügen. [...]. Wien 1906. (Graeser's Schulausgaben klassischer Werke); Die Hermannsschlacht. Heinrich von Kleist. Für Schule und Haus hrsg. von Dr. Wilhelm Schellberg, Direktor der Realschule zu Eschweiler. Münster 1912. (Aschendorffs Sammlung auserlesener Werke der Literatur)).

579

Vgl. Heinrich von Kleist: Prinz Friedrich von Homburg. Ein Schauspiel in 5 Akten. Einleitung und Erläuterungen von Rud. Schrepfer. Nürnberg 1909. (Koch's deutsche Klassikerausgaben. Billigste Schulausgaben 17); ders., Der zerbrochene Krug. Ein Lustspiel. Einführung und Erläuterungen von Karl Frauenfelder. Nürnberg 1909. (Koch's deutsche Klassikerausgaben. Billigste Schulausgaben 19). 580 P a u l Goldscheider: Lesestücke und Schriftwerke im deutschen Unterricht. München 1906. (Handbuch des Deutschen Unterrichts an Höheren Schulen I, 3), S. 171-177.

280

Klassiker vorläufig im Mittelpunkte« des Literaturunterrichts der höheren Schulen zu belassen seien, so dürfe man sich doch nicht gänzlich den neueren Autoren gegenüber verschließen, auch wenn der Verfasser zu bedenken gab: Niemand kann eigentlich weniger ein Schulschriftsteller sein als Heinrich v. Kleist: Eigenwille, Laune, plötzliche scheinbar unvermittelte Einfalle, Mangel an Plan und Ordnung, Übertreibung beherrschen sein Leben und seine Werke. Daneben aber empfiehlt ihn doch auch wieder so manches: seine Unverdrossenheit, seine Innigkeit, seine wahrhafte, treuherzige Natur.581 Daß Kleist zu diesem Zeitpunkt bereits ein durchaus beliebter Schulautor sein konnte, dessen Werk - wie bei anderen Autoren eben auch - gleichwohl nur eingeschränkt wahrgenommen wurde, zeigt der Bericht des Hofdiakonus Dr. Frommel, den er im Oktober 1903 auf dem 2. »Kunsterziehungstag« in Weimar aus der Praxis seiner Lehrtätigkeit am großherzoglichen Viktoriapensionat in Karlsruhe vortrug. 582 Als Geistlicher beauftragt, die nachklassische Zeit im Deutschunterricht einer höheren Mädchenschule erstmalig zu behandeln, stellte er fest, daß dies »Experiment« gelungen sei, weil er »eine entschiedene Mitarbeit und eine entschiedene Freude der jungen Mädchen« wahrzunehmen vermochte: Ich habe dort Erfahrungen gemacht, die sich decken, mit dem was Herr Dr. [Heinrich] Hart sagte, nämlich, daß das Abgeklärte sehr häufig weniger Anklang fand, als das Ungeklärte, das Drängende. Ich habe gefunden, daß ζ. B. die jungen Mädchen mehr Freude finden an Kleist, als an Grillparzer, an Liliencron mehr Freude als an Geibel. (Heiterkeit).583 Diese arglos vorgebrachte Äußerung spaltete die Diskussionsrunde umgehend in KleistGegner und Kleist-Befürworter, die für ihren Berufsstand gewissermaßen repräsentativ antworteten. Der Berliner Professor Rudolf Lehmann etwa stellte fest: Es ist nicht richtig, bloß das zu treiben, was das Kind gern hat. Sollen wir wirklich, wie der Herr Redner aus Karlsruhe sagte, mit den jungen Mädchen, wenn sie Kleists Käthchen von Heilbronn mehr lieben als Grillparzers Dichtungen, mehr Kleist als Grillparzer treiben? (Vielfache Zurufe: Ja!) Nein, meine Herren, das ist nicht meine Ansicht. Wir sollen Dinge treiben, woran etwas gelernt werden kann, die geistige Arbeit erfordern und anregen. Ich möchte nicht, daß die deutsche Stunde ein bloßer Genuß wird. Sie hat höhere Aufgaben, als bloß Stimmung zu machen.584

581

582

583 584

Goldscheider (wie Anm. 580), S. 172f.; vgl. hierzu auch Friedrich Kriegeskotten: Scenen aus der >Hermannsschlacht< von H. v. Kleist, mit einem Epilog von P. Kirchhoff und dem Chor >ArminBiographie< gegenüber der reinen Textphilologie ein sehr viel höheres Maß an Auslegungsfreiheit zuließ, worauf naturgemäß diejenigen besonders viel Wert legen mußten, die ein >neues< Bild vom Autor entwerfen wollten.

fungsausschüssen verankerten Privatlektüreempfehlung für 14jährige Jungen gab; Michael Kohlhaas wie auch die gleichfalls empfohlenen Journalisten Freytags oder Goethes Hermann und Dorothea seien eher geeignet, »ein für allemal von solcher Lektüre abzuschrekken«, da die Schüler nicht einmal eine »Ahnung ihres Kunstwertes« erhäschen könnten (S. 195). 585 Ebda., S. 226. 586 Ygi Laurenz Kiesgen: Heinrich von Kleist. Leipzig [1901]. (Reclams Biographien); Franz Servaes: Heinrich von Kleist. Leipzig 1902. (Dichter und Darsteller IX); Eloesser (wie Anm. 422), Herzog (wie Anm. 243), Brahm (wie Anm. 235).

282

Kleist also war um die Jahrhundertwende ein weithin bekannter Autor, der eine Entdeckung gar nicht nötig hatte, weil er vom Mädchenpensionat bis zur Universität rezipiert wurde, wenn auch zumeist nur über eine zugegebenermaßen kleine Auswahl seiner Werke. In diesem Befund scheint ein Widerspruch zu liegen: während sich die Angehörigen der literarischen Avantgarden im weitesten Sinne anschicken, den unbekannten oder den >eigentlichen< Kleist zu entdecken, kennen ihn die weniger ambitionierten bzw. die entschieden nicht avantgardistischen Publikumsteile bereits aus zahlreichen Werkausgaben, der Schule oder dem Theater. Möglich wurde dieses ein wenig abstruse >Rezeptionsklima< dadurch, daß sich diejenigen, die Kleist >neu< verstanden wissen wollten, von der Masse der Rezipienten dadurch unterschieden, daß sie anderes zur Grundlage dieses neuartigen Verstehens erhoben. Oder pointierter: die Kleist-Leser der Volksausgaben und die Besucher der Käthchen-Aufführungen bildeten aus Sicht einiger, nach eigener Auffassung avantgardistischer Leser die >großekleineKleist-Kultus< zu initiieren. Beide Anschauungen konnten offenbar weitgehend unabhängig voneinander existieren, weil der Kleist der >Kleist-Entdecker< wenig oder gar nichts mit dem der Kleist-Leser der Völksausgaben gemein hatte. Denn: >entdeckt< wurden vor allem diejenigen Seiten Kleists, die bis dahin kaum öffentlich zu entdecken gewesen waren, seine Dramenfragmente, die als unspielbar geltenden Stücke wie Penthesilea, die pathologisch scheinenden Aspekte von Leben und Werk. Bei der >Entdeckung< Kleists im Kontext der Moderne handelt es sich also streng genommen um eine Annäherung von den Rändern her, die nicht zuletzt der Standortbestimmung eben dieser Moderne und ihrer Abgrenzung vom Hergebrachten dienlich sein sollte. Doch auch diejenigen, die spätestens 1911 einen gänzlich anderen Kleist forderten, konnten ihre Herkunft vom >Kern< des Werkes her nicht verhehlen: So verlegte etwa Samuel Fischer 1902 Michael Kohlhaas und 1905 Käthchen von Heilbronn, letzteres innerhalb der bibliophilen Reihe Pantheon-Ausgabe und gab sich damit - im Vergleich zu seinem sonstigen Verlagsprogramm - geradezu erstaunlich traditionell, was ihn gleichwohl nicht hinderte, in anderen Bereichen das Phänomen Kleist völlig neuartig zu verstehen.587 In streng konventionellen Bahnen bewegte sich das öffentliche Gedenken an Kleist dort, wo er wenigstens zeitweise gelebt hatte bzw. gestorben war: in Frankfurt/ Oder und Berlin. Nicht zuletzt lag dies darin begründet, daß eben dieses öffentliche Gedenken in den meisten Fällen gleichbedeutend war mit offiziellem, daß also politische und kulturelle Entscheidungsträger - die Repräsentanten des deutschen

587

Vgl. Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas. Aus einer alten Chronik. Berlin 1902. (Pantheon· Ausgabe); Das Käthchen von Heilbronn von Heinrich von Kleist. Mit acht Bildern von Karl Walser. Berlin 1905. (Pantheon-Ausgabe).

283

Staates - formell oder informell daran partizipierten. Von dieser Seite waren kaum Neuerungen zu erwarten: einen Dichter postum angemessen zu ehren, verfügten sie über ein Instrumentarium, das den repräsentativen Bedürfnissen von Staat und Kommunen ebenso genügte wie es völlig beliebig zu gebrauchen war. Der hierüber herrschende öffentliche Konsens sah etwa Kranzniederlegungen am Grab vor, 588 Dichterfeiern anläßlich von Jahrestagen oder für eine herausragende historische Persönlichkeit auch die Errichtung eines Denkmals, das zur Gestaltung der größeren und kleineren Plätze und Parks sich eignete, also gleichfalls repräsentativen Ansprüchen zu dienen hatte, indem es öffentlichen Raum gestaltete. Kleist kamen diese eher dem mittleren als dem späten neunzehnten Jahrhundert zugehörigen Gedenkformen erst spät und auffällig verzögert zugute, dennoch sind sie gerade in seinem Fall Indizien für das von öffentlicher Seite stark zunehmende Interesse an ihm, das als ein Zeichen von erhöhter Akzeptanz zugleich eine wichtige Grundlage seiner Institutionalisierung als Dichter gewesen ist. Schon vor 1870 - der genaue Termin scheint heute nicht mehr rekonstruierbar hatte man dieses Interesse an Kleist in Weimar auf ganz besondere Weise dokumentiert, indem das von James Marshall konzipierte Decken-Gemälde über dem Proszenium im Grossherzogl. Hoftheater zu Weimar auch Kleists Konterfei, neben denen der berühmtesten Dramatiker und Musiker abbildete, doch scheint dies eher die Ausnahme gewesen zu sein. 589 Einen echten Höhepunkt hatte es hingegen in der Erklärung des Prinz Friedrich von Homburg zum »Weihefestspiel« 590 gefunden: kein Geringerer als Kaiser Wilhelm II. hatte sich dafür eingesetzt, daß das Stück anläßlich der Eröffnung des Königlichen Schauspielhauses nach umfangreichen Umbauarbeiten 1905 als erstes gegeben werden sollte. 591 Wenn auch die >offizielle
Dem Größten ihres Geschlechtes. Die Familie von KleistPrinz Friedrich von HomburgEigentum< der Nation erklärte.592

592

Diskussion. Hrsg. von Walter Müller-Seidel. Berlin 1965. (Jahresgabe der Heinrich-vonKleist-Gesellschaft 1964), S. 75-94, hier S. 87; Dirk Grathoff: Zur frühen Rezeptionsgeschichte von Kleists Schauspiel >Prinz Friedrich von Hornburg'. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift N. F. 30 (1980), S. 289-311, hier S. 290. Vgl. Thomas Nipperdey: Nationalidee und Nationaldenkmal in Deutschland im 19. Jahrhundert. In: Historische Zeitschrift 206 (1968), S. 529-585; Eberhard Lämmert: Der Dichterfürst. In: Dichtung. Sprache. Gesellschaft. Akten des IV. Internationalen GermanistenKongresses 1970 in Princeton. Hrsg. von Victor Lange und Hans-Gert Roloff. Frankfurt 1971. (Beihefte zum Jahrbuch für Internationale Germanistik 1), S. 439-455; Hartmut Boockmann: Denkmäler. Eine Utopie des 19. Jahrhunderts. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 28 (1977), S. 160-173; Günter Hess: Panorama und Denkmal. Erinnerung als Denkform zwischen Vormärz und Gründerzeit. In: Literatur in der sozialen Bewegung. Hrsg. von Alberto Martino. Tübingen 1977, S. 130-206; Wilfried Lipp: Natur - Geschichte - Denkmal. Zur Entstehung des Denkmalbewußtseins der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt; New York 1987.

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Die »Denkmalswuth« 593 des späten 19. Jahrhunderts, die seit der Reichsgründung immer stärker auf die Dichter gelenkt worden war, konzentrierte sich - nach gescheiterten Plänen anläßlich der Zentenarfeiern von 1876/77 in Frankfurt/ Oder594 zunächst allerdings nicht auf Kleist allein: seit 1890 gedachte man im Berliner Viktoriapark der >Sänger< der Befreiungskriege, denen man Kleist kurzerhand zuordnete. Innerhalb eines Denkmalsensembles, das Besinnung und Erholung zugleich gestatten sollte, wurden die Hermen der Dichter Arndt, Körner, Rückert, Schenkendorf, Uhland und Kleist errichtet - letztere nach einem Entwurf Karl Prachts.595 Nachdenklich hält der jugendliche Kleist dort ein Manuskript, während auf dem Sokkelrelief Schlange, Mohnblume und Lorbeerzweig als Insignien des Dichters abgebildet sind. Dieses Bildprogramm entsprach jedoch keineswegs den Wünschen der Kleist-Verehrer, die sich kaum an der Reduktion ihres Dichters auf einen patriotischen Aktivisten störten, sondern ihn vor allem in einer Monumentalstatue verewigt sehen wollten.596 Zwar wußte man um die Schwierigkeit, ein >realistisches< Bild von Kleist zu entwerfen, da die überlieferten Porträts nur widersprüchliche oder ungenaue Angaben über sein Aussehen zuließen, empfand aber dennoch die Herme als unbefriedigend. Und so fragte Minde-Pouet schon 1899: »Aber was nützt ein Denkmal, das seinen Namen trägt und ihn doch nicht darstellt?«597 Ein >echtes< Denkmal also nach dem Vorbild der Goethe- und Schillerstatuen sollte Kleist errichtet werden; nur, daß diese Mode längst ihren Höhepunkt überschritten hatte, übersah man bei den Planungen. Hatten 1800 in Deutschland erst 18 Denkmäler existiert, die Zivilisten darstellten, so waren es 1883 bereits etwa 800. 598 Gerade, weil dies schließlich zur »Monumentalisierung des Zweitrangigen, Trivialen und literarisch Bedeutungslosen« geführt hatte,599 war es nicht allzu

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Zitiert nach Rolf Selbmann: Dichterdenkmäler in Deutschland: Literaturgeschichte in Erz und Stein. Stuttgart 1988, S. 104. 594 Vgl. Paul Hoffmann: Ein Denkmal ßr Heinrich von Kleist. In: Märkische Blätter. Beilage zur Frankfurter Oder-Zeitung (1905), Nr. 39; auch: Wolfgang Barthel: Der Traum vom Nationaldenkmal. Gottlieb Elsters Denkmal für Heinrich von Kleist in Frankfurt an der Oder. Frankfurt/ O. 1991. (Frankfurter Buntbücher 1), S. 2f. 595 Selbmann (wie Anm. 593), S. 163ff. 596 vgl. Richard Groeper: Enthüllung des Kleistdenkmals in Frankfurt a. O. am 25. Juni 1910. In: Zeitschrift ßr den deutschen Unterricht 24 (1910), S. 504-510, hier S. 507: »Im Berliner Viktoriapark steht die Hermenbüste Kleists in der Reihe der vaterländischen Dichter. Aber er war mehr. Er läßt sich nicht gesellig in eine Gruppe einreihen. Er war ein Einsamer.« 597 Georg Minde-Pouet: Auch ein Kleist-Denkmal. In: Das litterarische Echo, H. 19, 1. Juli 1899, Sp. 1244ff. 598 Nach: Nipperdey (wie Anm. 592), S. 559. 599 Selbmann (wie Anm. 593), S. 108; vgl. auch die kritischen zeitgenössischen Stimmen (ebda., S. 104) sowie bereits 1857 im Bremer Bürgerfreund (27. August, Nr. 62, S. 27) über die Weimarer Pläne: »die meisten Städte, in denen solche Denkmäler errichtet werden, meinen nur sich und nicht die Toten«; Wilhelm Busch: Maler Klecksel. München 1884. Kap. 1, V. 85-92: »Der Plastiker, der uns ergötzt,/ Weil er die großen Männer setzt,/ Grauschwärzlich, grünlich, weißlich,/ Schon darum ist er löb- und preislich,/ Daß

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erstaunlich, daß die Reihe irgendwann einmal auch an Heinrich von Kleist kommen würde, den man ob seiner verwirrenden Lebens-, Sterbens- und Arbeitsweise und trotz Käthchen von Heilbronn und seiner preußischen Herkunft eher der >zweiten Garde< zuzurechnen gewohnt war. Da generell also von einer »absteigenden Rangfolge der Geehrten« auszugehen ist - man beachte etwa die vor der Kleist-Herme bereits errichteten Bildsäulen für Melchior Meyr (1873), Heinrich Zschokke (1881), Konrad Grübel (1882), Karl von Holtei (1882), Karl Stieler (1887) etc. etc. - , 6 0 0 spricht der Augenschein eher gegen eine tatsächlich im bürgerlichen Lager fest verankerte Popularität Kleists, selbst Friedrich Hölderlin hatte man schließlich bereits 1881 ein Denkmal in Tübingen errichtet. 601 Obwohl also dieses Medium zur Dokumentation von Dichtergedenken auch um 1900 schon recht abgenutzt, zumindest aber problematisch erscheinen mußte, formierten sich seit den späten neunziger Jahren einige Unentwegte, um ein KleistDenkmal - in Berlin 602 oder Frankfurt/ Oder - zu ermöglichen 603 Das Projekt wurde zunächst maßgeblich von zwei Lehrern vorangetrieben - Paul Hoffmann und Ottomar Bachmann - , was typisch und symptomatisch für die eher der bildungsbürgerlichen Honoratiorenschicht zuzuordnenden Interessenten an traditionalistischen Formen des Gedenkens scheint. Das Vorhaben erhielt feste Konturen, als am 19. April 1906 ein Aufruf zur Errichtung eines Denkmals für Heinrich von Kleist in Frankfurt a. Oder erschien. Das Kleist-Komitee, das Stadtväter, Bankiers und Lehrer, zahlreiche Universitätslehrer bzw. Kleist-Forscher wie auch Künstler vereinigte, erläuterte darin sein Anliegen und bat um finanzielle Unterstützung. 604 Der Text dieses Auf-

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jeder, der zum Beispiel fremd,/ Soeben erst vom Bahnhof kömmt,/ In der ihm unbekannten Stadt/ Gleich den bekannten Schiller hat.« Selbmann (wie Anm. 593), S. 108f. Ebda., S. 171; vgl. Das Hölderlin-Denkmal in Tubingen. In: Illustrirte Zeitung 77 (1881), 10. September, S. 218. Auf die Initiative des Schriftstellers Otto Weddigen hatte sich Anfang 1908 auch in Berlin ein Kleist-Denkmalskomitee formiert, daß aber auf Ernst von Wildenbruchs Anregung hin seine Arbeit zurückstellte, um die Frankfurter Bemühungen nicht zu behindern; vgl. Barthel (wie Anm. 594), S. 9; vgl. auch Servaes (wie Anm. 586), S. 160: »Die Anerkennung, die ihm ehemals verweigert wurde, wird ihm heute reichlich zutheil. Doch nicht eher werden wir uns zufrieden geben, als bis das, wie sich's gebührt, vor der ganzen Welt öffentlich documentiert sein wird - durch ein Denkmal Unter den Linden in Berlin«. Vgl. Paul Hoffmann: Heinrich von Kleist in Berlin. In: Frankfurter Oder-Zeitung, 9. Juni 1899; ders., (wie Anm. 594); ders., Ein Grabmal für Heinrich von Kleist. In: Zeitschrift für Bücherfreunde 11 (1907/08), S. 416-420; Zur Vorgeschichte des Kleistdenkmals. In: Frankfurter Nachrichten, 13. April 1909; Ottomar Bachmann: Das Kleistgrab am Wannsee und das Kleistdenkmal in Frankfurt a. O. In: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins 10 (1906), S. 121 f.; vgl. das zugehörige Archivmaterial der Kleist-Gedenk- und Forschungsstätte Frankfurt/Oder. Unterzeichnet hatten u. a. Erich Schmidt, Friedrich Paulsen, Reinhold Steig, Rudolf von Gottschall, Ludwig Geiger, S. Rahmer, Eugen Wolff, Georg Minde-Pouet, aber auch Otto Brahm, Franz Servaes, Richard Schaukai, Ernst von Wildenbruch, Paul Heyse, Friedrich Spielhagen, Detlev von Liliencron und Max Reinhardt; vgl. Neuer Theater-Almanach 18

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rufs erscheint signifikant durch den bereits hier angeschlagenen patriotischen Tonfall, aber auch durch die zugrundegelegte Auffassung vom Dichter; beides mußte letztlich diejenigen provozieren, die wenige Jahre darauf einen gänzlich anderen Kleist entdeckt sehen wollten, an diesem Projekt zu diesem Zeitpunkt aber durchaus noch beteiligt waren. Der 100. Todestag sollte danach zum Anlaß werden, die historische Schuld der Stadt Frankfurt gegenüber Kleist einzulösen, was man durch die Anhäufung eines entsprechenden Kapitals zur Denkmalserrichtung in die Wege leiten wollte. Hatten die Zeitgenossen ihm die Anerkennung verweigert - so der Text - und damit seine ungestillte Sehnsucht nach Erfolg zur eigentlichen Todesursache gemacht, so sei ihm spät erst »Gerechtigkeit« widerfahren, namentlich durch die »wissenschaftliche Forschung«. Das grundsätzlich >Epigonale< des projektierten Entwurfs offenbarte sich gegen Ende des Textes deutlich: Wir stehen noch unter dem frischen Eindruck der Ehrung Schillers im Säkularjahre seines Todes - ringsum in allen deutschen Landen hat es machtvoll sich geregt, das Gedächtnis dieses Unsterblichen zu festigen - da flamme denn auch das Gedenken auf an den grossen Sohn der Mark, an Heinrich von Kleist! Es erwache und erstarke der Wille, ein Bild von ihm zu schaffen, das herniederschaue auf kommende Geschlechter, sie mahnend, so treu und deutsch zu sein wie er! 605

Das schwäbische Modell der erfolgreichen Einsetzung Schillers zum Repräsentanten deutscher Nation mitsamt der Schiller-Stiftung lag den Frankfurter Aktivitäten also offenkundig zugrunde wie auch der in Preußen stets latente kulturelle >Minderwertigkeitskomplexbesseren< Gesellschaft an dem Projekt: Militärs finden sich dort, Juristen, Studenten, Burschenschaften, Lehrer, Hochschullehrer, Theater-Leute wie von Hülsen, Reinhardt und Brahm, die Familie von Kleist, aber auch der Patriotische Handwerker-Verein, literarische Gesellschaften aus Hamburg, Potsdam, Berlin und Frankfurt, der Reichsbankdirektor, Regierungsräte, Ärzte, Theologen, ein Brauereibesitzer und ein Orgelbauer; ein breites Spektrum also der mehr oder weniger belesenen Gesellschaft des Deutschen Reiches fand sich im Bestreben nach einem Kleistdenkmal vereinigt.606 Zur zielstrebigen, in der Praxis aber häufig auch kontroversen Durch-

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(1907), S. 125f„ hier S. 126, sowie ebda., S. 125, zu den Plänen der Tiedge-Stiftung, in Dresden in der Pillnitzerstraße 29 eine Gedenktafel für Kleist anzubringen. Zuerst in den Märkischen Blättern, der Beilage zur Frankfurter Oder-Zeitung·, der mit Korrekturen und Ergänzungen versehene Sonderdruck findet sich vollständig bei Barthel (wie Anm. 594), S. 4f. M. Pollack: [Spendenliste]. In: Frankfurter Oder-Zeitung, 17. Mai 1906; vgl. Barthel (wie Anm. 594), S. 6f.

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führung der ehrgeizigen Pläne, die Alfred Klaar - selbst Komiteemitglied - karikierend in ein »Kleistnationaldenkmal« münden sah, 607 bedurfte man zu allererst des nötigen Kapitals. »[Z]um Besten des Denkmal-Fonds« besann man sich also auf ein weiteres bewährtes Mittel öffentlichen Gedenkens, die Dichterfeier.608 So etwa am 24. Mai 1908, als zur »Säkularfeier« der Uraufführung des Zerbrochnen Kruges - die ja eher ein negativer Höhepunkt der Karriere Kleists zu Lebzeiten gewesen war - ein Ensemble des Berliner Neuen Schauspielhauses unter der Leitung von Max Grube das Lustspiel aufführte, musikalisch umrahmt von drei Kleist-Kompositionen von Georg Vierling, Joseph Joachim und Rudolf Ewald Zingel. 609 Wie das Denkmal aussehen sollte, auch hierüber ließ sich nur schwerlich Einigkeit erzielen. Favorisierte Bachmann einen Brunnen, so krittelte Hoffmann, daß allein Feuer, niemals aber Wasser Kleist symbolisieren könne. 610 Am Ende erhielt der Entwurf Gottlieb Elsters den Ausschlag, ohne daß jemals die Öffentlichkeit dazu befragt worden war.611 Am 25. Juni 1910 schließlich kam es zur feierlichen Enthüllung des Denkmals, 612 das in absolut konventioneller Darstellungsweise die bronzene Aktfigur eines sitzenden, lorbeerbekränzten Jünglings zeigt, der eine Leier hält.613 Den Denkmalssockel schmücken ein Rundmedaillon, das den Kopf des Dichters zeigt und die Inschrift trägt: »Dem Andenken Heinrichs von Kleist« sowie Szenen aus Käthchen von Heilbronn, dem Zerbrochnen Krug und Prinz Friedrich von Homburg - letztere wiederum Indizien für den kleinen Werkausschnitt, der Kleist

607 Ygj A[lfred] K[laar]: In der Vaterstadt Heinrich von Kleists. In: Vossische Zeitung, 28. März 1909; zitiert nach Barthel (wie Anm. 594), S. 6. 608 Zitiert nach Barthel (wie Anm. 594), S. 7; vgl. Rainer Noltenius: Dichterfeiern in Deutschland. Rezeptionsgeschichte als Sozialgeschichte am Beispiel der Schiller- und FreiligrathFeiern. München 1984, S. 47ff„ S. 247ff. 609 Abdruck des Programms bei Barthel (wie Anm. 594), S. 7; vgl. Dem Andenken des Dichters Heinrich von Kleist. Ouvertüre für grosses Orchester von Joseph Joachim. Op. 13. Berlin 1878 [zuerst 1856]; Georg Vierling: Ouverture für Orchester zu Kleist's Drama >Die Hermannsschlachu. Op. 31. Klavierauszug zu vier Händen vom Componisten. Leipzig 1866; Rudolf Ewald Zingel: Ouvertüre zu H. von Kleists >Der zerbrochne Krug'. Frankfurt 1900. 610 Vgl. Bachmann (wie Anm. 603), S. 121f.; Hoffmann (wie Anm. 603). 611 Zum Entwurf vgl. Otto Weddigen: Das Heinrich von Kleist-Denkmal für Frankfurt a. O. In: Die Post, 4. Februar 1910; Barthel (wie Anm. 594), S. lOf. 612 Vgl. Groeper (wie Anm. 596); Die Enthüllung des Kleistdenkmals in Frankfurt/Oder. In: Frankfurter Oder-Zeitung, 26. Juni 1910; [W. Wintzer]: Unser Kleist-Denkmal und die Kritik, (ebda., 1. Juli 1910). 613 Vgl. Eloesser (wie Anm. 590), S. 1226: »Im vorigen Jahre bekam Kleist sogar ein Denkmal von seiner Vaterstadt Frankfurt an der Oder geschenkt. Man baute einen Kasten aus Marmor, meißelte ihm in die Flanken die üblichen Dramenszenen und oben auf der länglichen Truhe lagerte sich der bekannte Zwitter, der sich mit einer Leier zu schaffen macht«; vgl. Zur Vorgeschichte des Kleistdenkmals. In: Beiblatt zu den Frankfurter Nachrichten, 17. April 1909: »Ein indifferenter Genius mit Lorbeerkranz und Harfe, ohne jede Charakteristik, ohne Kraft und Feuer. Lyrik dem Dramatiker. Der Traum von einem KleistNationaldenkmal ist ausgeträumt. Im Park wird sich ein Gedenkstein erheben, an dem der Name besagt, wem er gehört und bei dem jedermann denken kann, was er will.«

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in bestimmten Schichten populär machte. 614 Geadelt wurde die Veranstaltung vor allem durch ihren Hauptredner Erich Schmidt, der als Rektor der Berliner Universität, als Präsident der Goethe-Gesellschaft und Kleist-Herausgeber eine einzigartige Schlüsselstellung in der akademischen Neugermanistik innehatte. 615 Nach dem Bericht Richard Groepers kennzeichneten typische Elemente des traditionalistischen Dichtergedenkens die Veranstaltung; sie hätte so auch an jedem anderen Ort des Reiches (und beinahe auf jeden anderen Dichter bezogen) stattfinden können. Bei strahlendem Sonnenschein hatten sich die geladenen Gäste zu mittäglicher Stunde versammelt: das Komitee, die »Honoratioren der Stadt«, »die nächsten Blutsverwandten des Dichters«, Schmidt und Minde-Pouet schließlich als die Inkarnation der »Kleist-Forscher«; »Abordnungen aller Knaben- und Mädchenschulen Frankfurts« versprachen zudem, dem Fest »einen besonders volkstümlich-nationalen Anstrich« zu geben, während die »Lehrerschaft« dem Dichter huldigte, »indem der Lehrergesangverein die Feier mit einem Hymnus einleitete«. 616 Soweit das Szenario, vor dem nach ausführlicher Würdigung des Künstlers Kleist Erich Schmidt vor allem den Patrioten Kleist hervorhob, der »keine preußische Enge« kenne, sondern auf »Alldeutschland« bezogen sei. Dieser vorbildliche Patriotismus sei zugleich nicht bloß militärisch. Er [Kleist] verstand darunter Gott, Vaterland, Kaiser, Freiheit, Liebe, Reue, und er pflegte hinzuzusetzen: Schönheit, Kunst, Wissenschaft. Von hier aus muß Kleists Patriotismus gewürdigt werden: >In Staub mit allen Feinden Brandenburgs^617

Auf die Apotheose des Patriotismus folgten die Übergabe, ein Rundgang um das Denkmal und das Niederlegen von »Kranzspenden«. 618 Ein weitgehend perfektioniertes Dichtergedenken also, das in solchen schematisiert verlaufenden Feierstunden seine Glanz- und Höhepunkte erlebte, und sich zugleich darin genügte. Aber selbst hier, wo Kleist nun spät zwar, aber doch intensiv geehrt werden sollte, mochte man sich nicht mit der dunklen Seite seiner Existenz abfinden, die in die Selbsttötung geführt hatte. Dieser bürgerlicher Lebensweise wie christlichem Weltverständnis offenbar zutiefst zuwidere und geradezu rezeptionsverhindernde Vorgang hatte dazu geführt, daß ein kleines, aber aussagekräftiges Detail an dieser Veranstaltung nicht stimmte. War es das ursprüngliche Vorhaben gewesen, Kleist das Denkmal zur 100. Wiederkehr seines Todes 1911 zu errichten, 619 so hatte man offenkundig bewußt die Pläne dahingehend modifiziert, dieses Bildnis bereits knapp 1 x/2 Jahre eher zu enthüllen. So nämlich brauchte nicht »die Erinnerung an die Tragödie am Wannsee wach[ge]rufen« zu werden, sondern stattdessen die an das Jahr 1810, eine

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Vgl. Barthel (wie Anm. 594), S. 12f. Vgl. Jakob Minor: Erich Schmidt. In: Das Literarische Echo 13 (1910), Η. 1, Sp. 3 9 46. Vgl. Groeper (wie Anm. 596), S. 506f. Ebda., S. 510. Ebda. Vgl. den entsprechenden Wortlaut des Aufrufs von 1906 bei Barthel (wie Anm. 594), S.4f.

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Zeit, da Kleist seine ganze Persönlichkeit entfaltete, als er durch seine reiche journalistische Tätigkeit in scharfe Opposition gegen den damaligen Kanzler trat, als er der Welt die Macht seiner Novelle offenbarte, als er mit dem Prinzen von Homburg auf der Höhe seines künstlerischen Vermögens stand, als er seinen Namen mit dem der Königin Luise verband in dem schönsten Gruße, der jemals einer Königin gesungen worden ist [...]. 620

Dem öffentlich agierenden, dem Preußen zugewandten Künstler Kleist also galt die Huldigung Schmidts, und hier, in dieser »Säkularfeier« nach 98'/2 Jahren, wurde die Technik, Unbequemes für das große Publikum auszublenden und so faktisch zu verdrängen, zur Meisterschaft gebracht. Was läßt sich festhalten über die gezeigten Möglichkeiten traditionellen und traditionalistischen Dichtergedenkens im Kontext der >Wiederentdeckung< Kleists? Alle bis hierher gezeigten Verfahren, Kleist als einen Dichter zu institutionalisieren, sind in keiner Weise originell, beanspruchten aber auch nicht, es zu sein. Sie wurden nicht für und an Kleist entwickelt, sondern lediglich auf ihn übertragen als Adaptionen bewährter Gedenktechniken, die vornehmlich an Schiller und Goethe geradezu exzessiv erprobt worden waren, und dies bereits Jahrzehnte früher. Der Schritt von der Pflege der Grabstätte zum Dichterdenkmal kommt im Falle Kleists also nur sehr bedingt der ursprünglich damit auch beabsichtigten Modernisierung des Gedenkens gleich, da er bei ihm zu einem Zeitpunkt vollzogen wird, zu dem Denkmäler ihre Funktion, das öffentliche Bewußtsein zu prägen, bereits einzubüßen drohen. Mangelnde Originalität allerdings war jedoch keineswegs gleichbedeutend mit dem Scheitern dieser Institutionalisierungsbestrebungen, sondern bürgte eher für deren Zählebigkeit: ein Denkmal wurde Kleist schließlich errichtet, und man könnte boshaft sagen, es war der Kleist des >establishmentsOrtDer ist verfemt, der Selbstmordfrevel übt?< [...].« Vgl. Wilhelm Dilthey: Archive für Literatur. Vortrag vor der Gesellschaft für deutsche Literatur^ In: Deutsche Rundschau 58 (1889), S. 360-375, über die Notwendigkeit von Literaturarchiven; Ulrich Ott; Friedrich Pfäfflin: 1895 - 1995. Hundert Jahre. Schwäbischer Schillerverein - Deutsche Schillergesellschaft. In: Marbach. Rückblick auf ein Jahrhundert. 1895-1995. [...], S. 11-78.

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An Kleist nun sollte demonstriert werden, daß solches Tun keineswegs den Schwaben allein überlassen werden sollte, schon, um im Zeichen des deutschen Kulturprovinzialismus zu belegen, daß auch in Preußen dies, wenn nicht besser, so doch immerhin möglich war. Die historische >Leistung< der am 4. März 1920 in Berlin gegründeten und in Frankfurt/O. eingetragenen Kleist-Gesellschaft liegt also vornehmlich darin, insbesondere mit dem Jahrbuch der Kleist-Gesellschaft als Publikationsorgan, dem Umgang mit Kleist einen solchen >Ort< verschafft zu haben. 622 Geradezu fatal jedoch wirkte sich spätestens im >Dritten Reich< die noch aus den ersten Komitee-Tagen gewahrte weltanschauliche Kontinuität aus, die die ursprünglich nur als eine Möglichkeit betrachtete gedankliche Verknüpfung >Kleist-Preußen/ Deutschland< zur einzigen, zur ausschließlichen und damit zur Notwendigkeit erhob. Verkörpert wurde diese politische Linie im Vorstand von dem mittlerweile zum Direktor der Deutschen Bücherei Leipzig avancierten Georg Minde-Pouet 623 und dem Literaturwissenschaftler Julius Petersen, einem Schüler des schon 1913 verstorbenen Erich Schmidt, der ihm an öffentlichem Einfluß durchaus gleichkam, 624 aber auch unter den Mitgliedern - etwa bei Hermann Gilow oder Ernst Elster - war sie verbreitet. 625 Diese personelle Konstellation verbürgte sich programmatisch für den sukzessiven Übergang von einer zunächst preußisch-patriotischen Kleist-Deutung zu einer nationalistischen, die am Ende mühelos - und durch die tätige Mithilfe Minde-Pouets - in eine nationalsozialistische mündete. Daß sie schon bei den Initiatoren der neuen Vereinigung konsensfähig war, belegt der Wortlaut des im Februar 1922 veröffentlichten Aufrufs: Die Kleist-Gesellschaft ist am 4. März 1920 in Berlin, mit dem Sitz in Frankfurt a.d. Oder, als eingetragener Verein gegründet worden. Sie ist Mittelpunkt aller Bestrebungen, die darauf abzielen, die Erinnerung an Heinrich von Kleist im deutschen Volke lebendig zu erhalten, für die Vertiefung der Volkstümlichkeit seiner Werke einzutreten, die Erkenntnis für seine Persönlichkeit, insbesondere die durch ihn beflügelte vaterländische Gesinnung zu fördern.626

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Vgl. Rolf Busch: Imperialistische und faschistische Kleist-Rezeption 1890-1945. Eine ideologiekritische Untersuchung. Frankfurt 1974, S. 168ff.; vgl. Richard Groeper: Zur Geschichte der Kleist-Gesellschaft. In: Jahrbuch der Kleist-Gesellschaft (1931/32), S. 202. Er war dort von 1917 bis 1923 Direktor; vgl. Staengle (wie Anm. 564), S. 51. Vgl. Petra Boden; Bernhard Fischer: Der Germanist Julius Petersen (1878-1941). Bibliographie, systematisches Nachlaßverzeichnis und Dokumentation. Marbach a. N. [1994]. (Deutsches Literaturarchiv. Verzeichnisse, Berichte, Informationen 16). Dieser Zusammenschluß weltanschaulich verwandter Geister läßt die »These drei« Staengles (Staengle (wie Anm. 564), S. 49: »Minde-Pouets Engagement für die KleistGesellschaft bildet das strategische Zentrum zur Durchsetzung eines persönlichen Alleinvertretungsanspruchs auf das Kleistsche Werk«) zumindest problematisch erscheinen, da die Beteiligten allesamt über genügend öffentlichen Einfluß verfügten, ihre Interessen wirksam zu vertreten und sich deshalb kaum einem >Monomanen< gefügt haben würden, wenn er nicht auch ihre Meinung repräsentierte. Vgl. Aufruf zur Gründung der Kleist-Gesellschaft. In: Sembdner (1996) II, S. 389ff., Nr. 441; auch Minde-Pouets Gründungsansprache vom 4. März 1920 (Georg Minde-

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Vergleichsweise harmlos noch wirkt diese Passage gegenüber den folgenden, die deutlich machen, womit das Gedenken an den Dichter hier untrennbar verknüpft werden sollte: es galt, die weltanschauliche Fixierung und den politisierten Einsatz Kleists in bisher ungekanntem Umfang zu organisieren und so die vorhandenen Strömungen einer nationalistischen und auch tendenziell antidemokratischen wie antirepublikanischen Deutung des Dichters zusammenzuführen: Keiner ruft uns mächtiger zur Selbstbesinnung und zu kühner Kraftentfaltung auf als Kleist. Von ihm können wir lernen, daß nur nationale Kunst urzeugend ist, daß nur innerste Seeleneinkehr einem Volke die Kraft gibt, die zur freischaffenden Tat führt. Kleists Werke sind eine einzige Sehnsucht nach einem Leben des Menschen in Menschenwürde, Selbsterziehung und Liebe im Schutze eines von der Welt geachteten Staatswesens. Mit ihm, diesem Vertreter echten Menschentums und heißester Vaterlandsliebe, können wir die Hoffnung auf ein starkes künftiges deutsches Leben hegen und pflegen.

»Zu Kleist stehen heißt deutsch sein!« - dies war die Kernaussage der hier angezeigten Bestrebungen. 627 Sie belegen, daß die öffentliche Inanspruchnahme von Literatur als einer Teilfunktion der Politik innerhalb der deutschen Gesellschaft der Nachkriegszeit schon frühzeitig eine neue Qualität zu erhalten begann. Dies geschah vor allem durch die Steigerung bereits vorhandener Techniken der Funktionalisierung und natürlich keineswegs allein auf Kleist bezogen, bei diesem aber außerordentlich früh und extrem. Neue Gedenkformen wurden hier also nicht entwickelt, bewährte aber durch einen immer schärfer werdenden Ton in eine bestimmte Richtung umgedeutet - auch dies ein Indiz für ein erwachendes Bewußtsein für Manipulationsmöglichkeiten, das sich besonders in den extremen politischen Lagern auftat und die öffentliche Wirksamkeit von Kultur zunutze machte. Merkwürdig mutet allerdings an, daß in den Reihen der Befürworter der neuen Gesellschaft sich auch Personen fanden, die zu den exponiertesten Opfern gerade dieser zunehmend ins Extrem getriebenen weltanschaulichen Ausrichtung wurden: Max Liebermann etwa, Ernst Cassirer oder Walther Rathenau. Und ebenso »merkwürdig ungeschieden bei-

Pouet: Ansprache in der Gründungsversammlung der Kleist-Gesellschaft am 4. März 1920 in Berlin. In: Jahrbuch der Kleist-Gesellschaft (1921), S. 52-55, hier S. 52 und 54), die den sprachlichen Duktus des Aufrufs bereits andeutet und so den maßgeblichen Anteil Minde-Pouets daran nahelegt: »Gerade der Krieg hat überraschend erwiesen, wie mächtig und unmittelbar Heinrich von Kleist mit seinen Werken auf die Gesamtheit der Deutschen wirkte. Wir alle haben es erlebt, daß zu Beginn dieses Krieges ganz plötzlich von neuem die Erinnerung an ihn erwachte, weil keine Dichtungen der Vergangenheit zeitgemäßer wirkten als die seinen. [...] Gerade heute müssen wir uns auf die Männer besinnen, die bekannt haben, daß nur nationale Kunst urkräftig ist. Nötiger als je braucht Deutschland jetzt eine bewußte Kulturpolitik. Das hat uns in eindringlichster Weise der Unterstaatssekretär Carl Heinrich Becker dargetan, der ausführte, daß das deutsche Volk bei seiner politischen und wirtschaftlichen Ausschaltung im Ringen der Völker nur noch seinen Ideengehalt einzusetzen hat und Verinnerlichung braucht. Das Reich des Geistes muß das Ziel aller Mühen des deutschen Volkes sein. [...] Auch auf diesem Wege ist uns Heinrich von Kleist ein sicherer Führer.« 627

[Aufruf] (wie Anm. 626).

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einander« stehen die, 628 die schon immer Kleist national gedeutet wissen wollten (Reinhold Steig oder Heinrich Meyer-Benfey), neben denen, die ihn ursprünglich und maßgeblich zum >modernen< Autor erst gemacht, dann aber (wenigstens teilweise) eine politische Kehrtwendung vollzogen hatten: Gerhart Hauptmann, Julius Bab, Hugo von Hofmannsthal, Fritz Engel und Franz Servaes. Absichtsvoll sollen an dieser Stelle zwei weitere Institutionen, die gleichfalls den Nachruhm Kleists begründeten und festigten, übergangen werden. Zwar sorgten auch sie für den organisierten und d. h., den institutionalisierten Umgang mit dem Dichter, doch unterschieden sie sich von den bisher geschilderten durch signifikant andere Ziele, die sie mit ebenso signifikant modernisierten Formen des Gedenkens durchzusetzen versuchten. War mit dem Kleist-Denkmal und der Kleist-Gesellschaft der Dichter in Diensten der Nation zu Ehren gekommen, so wurde durch die KleistStiftung und den Kleist-Preis dem Dichter der Künstler gehuldigt. Modernisiertes Dichtergedenken entsteht aus der Nuancierung und Akzentuierung bereits bekannter Möglichkeiten. Kleist als >modernen< Dichter zu feiern, bedurfte es also zunächst durchaus der hergebrachten Formen: bei Grab-Besuchen und den obligatorischen Feierstunden offenbarte sich dies, aber auch durch die gedanklichen Anleihen an Schiller-Stiftung und Schiller-Preis bei der Initiierung von Kleiststiftung und Kleist-Preis. So wandelt sich oberflächlich betrachtet das Prozedere des Dichtergedenkens kaum; aber dennoch fällt es auf, daß dort, wo Kleist der >Moderne< zugeschlagen wird, stets Künstler in überwiegender Zahl - zumeist Dichter - daran mitwirken. Diese waren zwar auch schon Teil der buntgewürfelten Schar gewesen, aus der sich das Kleist-Komitee zusammengesetzt hatte, ihr eigentliches Forum jedoch fanden sie erst in den von ihnen selbst gestalteten Feierstunden und den durch sie selbständig geprägten Institutionsformen des Gedenkens. Das Spektrum ihrer Möglichkeiten zu beschreiben, seien folgende, durchweg öffentlichkeitswirksame >Orte< und Spielarten dieser kollektiven kulturellen Gedächtnisleistung ein wenig genauer untersucht: 1. Lesungen, Dichterfeiern (anläßlich von Jahrestagen); 2. das Gedenken in Presse bzw. Feuilleton; 3. das Gedenken auf dem Theater; 4. schließlich die Konstituierung von Kleiststiftung und Kleist-Preis. In relativ bescheidenem Rahmen sicherlich und doch wirksam engagierten sich insbesondere die literarischen Gesellschaften für das Gedenken an Kleist, denen als der >Basis< öffentlicher Dichterverehrung eine nicht zu unterschätzende Vermittlerfunktion zukam. In größerem Umfang agierten diese Zusammenschlüsse seit den späten achtziger Jahren, um besonders in den größeren Städten zur Förderung von Volksbildung und zur Pflege der Kultur beizutragen. 629 Namentlich sei hier Die lit-

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Vgl. Walter Müller-Seidel: Zum Geleit. In: Der Kleist-Preis. 1912-1932. Eine Dokumentation. Hrsg. von Helmut Sembdner. Berlin 1968. (Jahresgabe der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft 1967), S. 5-8, hier S. 7, über die weitgehend identischen Initiatoren des Kleist-Preises. Die Vielzahl der Gründungen provozierte spöttische >Gegengründungen< wie den Schwabinger Literaturverein Schillerlocke·, vgl. Hermann Wilhelm: Die Münchner Boheme. Von der Jahrhundertwende bis zum Ersten Weltkrieg. München 1993, S. 35.

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terarische Gesellschaft zu Hamburg angeführt, deren Programm durchaus beispielhaft für das anderer derartiger Vereinigungen stehen mag. Mit thematischen Abenden war man dort bemüht, vornehmlich dreierlei zu leisten: ältere und neuere Literatur zu bestimmten Themen oder Autoren vorzustellen, zugleich die Dichter der Gegenwart zu fördern und neuere wissenschaftliche Positionen einem interessierten, keineswegs nur akademischen Hörerkreis nahezulegen, dies zumeist mit ortsbedingt lokalen Präferenzen. Die Dichter schätzten dieses ihnen gebotene neuartige Forum daher besonders zur Vorstellung ihrer noch im Werden begriffenen Arbeiten. Bereits in der ersten »Saison« der Hamburger Gesellschaft etwa wurden anläßlich eines »Liliencron-Abends« einige Gedichte des nahe Hamburg lebenden Autors und emphatischen Kleist-Verehrers bei einer solchen »Vortragsversammlung« zu Gehör gebracht, darunter auch eines, das Heinrich von Kleist gewidmet war.630 Innerhalb des umfangreichen wie ambitionierten Vörtragsprogramms, auf dem in den ersten Jahren u. a. Fontanes Lyrik, Annette von Droste-Hülshoff, Friedrich Hölderlin, Ibsen und deutsche Dialektdichtungen gestanden hatten, 631 widmete man Liliencrons »Abgott«632 am 14. Januar 1895 einen »Heinrich von Kleist-Abend«.633 Der Rezitator Otto Emst trug dort, nach einem einführenden Vortrag von Julius Loewenberg über Kleist, dessen Gedicht Das letzte Lied sowie Szenen aus Prinz Friedrich von Homburg vor, um den Abend wiederum mit Liliencrons An Heinrich von Kleist zu beenden. Solche feierlichen Gedenkstunden, die meist von musikalischen Einlagen ergänzt wurden, fanden naturgemäß insbesondere im Zusammenhang mit Jahrestagen auch ein größeres öffentliches Interesse. Neben solchen eher bürgerlichen Vereinigungen wie der Hamburger Gesellschaft gab es vereinzelt Zusammenschlüsse wie den Neuen Verein in München, der 1903 aus dem Akademisch-Dramatischen Verein hervorgegangen war. Entstanden nicht zuletzt, um Zensurbestimmungen durch nicht-öffentliche Veranstaltungen im Rahmen des Vereinslebens geschickt zu umgehen, gab er u. a. dem von seinen Mitgliedern angestrebten, noch im experimentellen Stadium befindlichen Theater ein

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Leon Goldschmidt: Die litterarische Gesellschaft zu Hamburg. Ein Rückblick auf die ersten zehn Jahre ihres Bestehens. Hamburg 1901, S. 71; die Veranstaltung fand am 4. April 1892 statt; vgl. Liliencron (wie Anm. 508); ders., DerMäcen. Erzählungen. Leipzig 1889; ders., (wie Anm. 477); auch dessen Gedicht Des großen Kurfürsten Reitermarsch: »[...] Verstünde doch die Zeit den echten Dichter!/ An Hebbel haben wir, an Kleist verbrochen,/ Was niemals wieder ... [...].« (in: ders., Werke. Hrsg. von Benno von Wiese. Bd. 1. Gedichte, Epen. Frankfurt 1977, S. 253-262). Vgl. Goldschmidt (wie Anm. 630), S. 74 (29. Januar 1894), S. 73 (21. Februar 1893), S. 73 (17. Mai 1893); vgl. hierzu auch Bruno Willes Hölderlin-Vortrag vom 27. April 1898 (S. 81), der als wichtiges Indiz für die frühe Hölderlin-Entdeckung in Kreisen der Berliner Avantgarde zu werten ist, S. 75 (29. Oktober 1894), S. 75 (17. Oktober 1894). Liliencron an Theobald Nöthig (24. November 1884; in: Peter Goldammer (Hrsg.): Schriftsteller über Kleist. Eine Dokumenation. Berlin; Weimar 1976, S. 597). Goldschmidt (wie Anm. 630), S. 76. Vgl. Hintergrund. Mit den Unzüchtigkeits- und Gotteslästerungsparagraphen des Strafgesetzbuches gegen Kunst und Künstler. 1900-1933. Hrsg. und kommentiert von Wolfgang Hütt. Berlin 1990.

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Forum.634 So illustre Mitglieder wie Josef Ruederer, einer der Mitbegründer des Intimen Theaters, Ernst von Wolzogen, der Begründer des Überbrettls, Erich Mühsam, Frank Wedekind oder Thomas Mann verbürgten diesen gehobenen Anspruch.635 Der Neue Verein hatte sich in München und darüber hinaus insbesondere durch die Aufführung hervorragender, sonst von der Bühne ferngehaltener Werke und durch Veranstaltung litterarischer Abende [...] einen Namen gemacht. 636

Diverse Ur- und Erstaufführungen der Werke Wildes, Ibsens, Strindbergs, Wedekinds, Halbes und Schnitzlers hatte man diesem Programm gemäß in München initiiert.637 Der Ehrgeiz, interessante und wichtige, aber noch nicht hinreichend bekannte Werke zu inszenieren, erstreckte sich sinnvoll ergänzend auch auf die Literaturgeschichte: so wurden etwa 1911 Die Soldaten von Lenz, 1912 Hölderlins Empedokles in der Bearbeitung von Wilhelm von Scholz geplant und allein im Jahre 1904 Werke von Moliere, Cervantes, Hebbel, Gryphius und - Kleist gezeigt. 638 Zwar war dieser Schwenk in die Literaturgeschichte keineswegs zufällig und dürfte den eigentlichen Interessen des Vereins nur begrenzt entsprochen haben - er ist im Kontext der Auseinandersetzungen nach dem Verbot des Akademisch-Dramatischen Vereins zu sehen und daher vor allem als eine prophylaktische Maßnahme gegen weitere Zensureingriffe - , dennoch führte er zu einer der seltenen Aufführungen des Robert Gmcarii-Fragments. 639 Leopold Weber, der Kritiker des Kunstworts, zeigte sich vom Gelingen dieses Experiments überzeugt: Die Tragödie ist bekanntlich nicht über den ersten Ansatz in einem Aufzuge hinaus gediehen. Dieser Ansatz aber ist von einer solchen Gewalt, und er bietet dabei immerhin ein Gemälde von so weit in sich abgeschlossener Wirkung, daß man dem jungen Verein für

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Vgl. das gedruckte Mitgliederverzeichnis 1913/14 (Handschriften-Sammlung der Stadtbibliothek München Monacensia). 636 vgl. die Einladung zu einer Vereinsversammlung vom 3. Dezember 1903 (Handschriften-Sammlung der Stadtbibliothek München Monacensia); zur Programmatik: die Satzungen des Vereins >Der neue Verein< (§ 2): »Der Zweck des Vereins ist die Pflege des literarischen und künstlerischen Lebens in München. Zur Erreichung dieses Zweckes veranstaltet der Verein Vorlesungen Münchner und auswärtiger Schriftsteller, Vorträge über literarische und künstlerische Themata, sowie dramatische Aufführungen«; Der >Akademisch-Dramatische Vereint und der >Neue Vereint in München. Ein Rückblick von Wilhelm Rosenthal (masch. Typoskript ebda.) und zum studentischen Theaterleben: Karl Konrad: Die deutsche Studentenschaft in ihrem Verhältnis zu Bühne und Drama. Berlin 1912, S. 303-307; vgl. Wilhelm (wie Anm. 629), S. 34ff. 637 Wilhelm (wie Anm. 629), S. 34; vgl. das gedruckte Winterprogramm 1908/09 mit einem Rückblick auf die bis dahin gespielten Werke (Handschriften-Sammlung der Stadtbibliothek München Monacensia). 638 vgl. das Winterprogramm 1908/09 (Handschriften-Sammlung der Stadtbibliothek München Monacensia) sowie zu Lenz das Protokoll der Versammlung vom 22. Juni 1911 (ebda.), zu Hölderlin das der Versammlung vom 24. Mai 1912 (ebda.). 639 Vgl. hierzu Rosenthals Rückblick Der >Akademisch-Dramatische Vereint und der >Neue Vereint in München (wie Anm. 636).

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sein Unternehmen nur dankbar sein kann. Mit Wonne atmete man da endlich wieder einmal, statt sich die Ohren von allerhand Modeproblemgezänk widergellen lassen zu müssen, die reine scharfe Schicksalsluft der echten Tragödie. 640 Den durchaus elitären Aktivitäten einer sich selbst als literarische Avantgarde mit verschiedenerlei Ausrichtung definierenden Gruppe ist es also zu danken, daß Kleist vor e i n e m zwar kleinen, aber doch höchst anspruchsvollen Publikum g e g e b e n wurde. D a ß auch einzelne Dichter sich mit ähnlichem Anspruch und einiger V e h e m e n z für Kleist engagierten, belegt der ansonsten eher öffentlichkeitsscheue Franz Kafka, der, größte H e m m u n g e n überwindend, 1913 in Prag den A n f a n g v o n Michael

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haas zu Gehör brachte. 6 4 1 Kafka, der Kleist n e b e n Grillparzer, D o s t o j e w s k i und Flaubert zu seinen »eigentlichen Blutsverwandten« zählte 6 4 2 und d e s s e n Prosa schon aus Schulzeiten kannte, 6 4 3 notierte am 11. D e z e m b e r 1913 über seine wohltätigen Z w e c k e n zugedachte Lesung: In der Toynbeehalle den Anfang von Michael Kohlhaas gelesen. Ganz und gar mißlungen. Schlecht ausgewählt, schlecht vorgetragen, schließlich sinnlos im Text herumgeschwommen. Musterhafte Zuhörerschaft. [...] Wild und schlecht und unvorsichtig und unverständlich gelesen. Und am Nachmittag zitterte ich schon vor Begierde zu lesen, konnte kaum den Mund geschlossen halten. 644 Max Brod hingegen widersprach d i e s e m deprimierten Urteil entschieden und milderte es - w i e sollte es anders sein? - zugunsten Kafkas: Die ganze kleine Vorlesungs-Episode machte in der Wirklichkeit einen weit weniger melancholischen Eindruck als das Tagebuch ihn vermittelt. Selbstverständlich[!] hatte Kafka wundervoll gelesen, das habe ich als Zuhörer noch in guter Erinnerung. Er hatte nur ein viel

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Vgl. Leopold Weber: Münchner Theater. In: Der Kunstwart 17 (1904), H. 7, S. 682-686, hier S. 682; am selben Abend wurde Hebbels Diamant gegeben. Sein Urteil über Kleists wohl berühmteste Prosa lautete: »Das ist eine Geschichte, die ich mit wirklicher Gottesfurcht lese, ein Staunen faßt mich über das andere, wäre nicht der schwächere, teilweise grob hinuntergeschriebene Schluß, es wäre etwas Vollkommenes, jenes Vollkommene, von dem ich gern behaupte, daß es nicht existiert. (Ich meine nämlich, selbst jedes höchste Literaturwerk hat ein Schwänzchen der Menschlichkeit, welches, wenn man will und ein Auge dafür hat, leicht zu zappeln anfängt und die Erhabenheit und Gottähnlichkeit des Ganzen stört)« (an Feiice Bauer (10. Februar 1913); in: Franz Kafka: Briefe an Feiice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit. Hrsg. von Erich Heller und Jürgen Born. New York City 1967, S. 291f.); zum Verhältnis KafkaKleist vgl. J. W. Dyck: Kleist - Kafka: Instinkt der Verwandtschaft. In: Literatur als Dialog. Festschrift zum 50. Geburtstag von Karl Tober. Johannesburg 1979, S. 435—452; PeterAndre Alt: Kleist und Kafka. Eine Nachprüfung. In: Kleist Jahrbuch (1995), S. 97-120. An Feiice Bauer (2. September 1913; in: Kafka, Briefe (wie Anm. 641), S. 4 5 9 ^ 6 2 ) . Vgl. Kafka-Handbuch in zwei Bänden. Unter Mitarbeit zahlreicher Fachwissenschaftler hrsg. von Hartmut Binder. Bd. 1: Der Mensch und seine Zeit. Stuttgart 1979. I, S. 201. Tagebucheintrag vom 11. Dezember 1913 (in: Franz Kafka: Tagebücher. Hrsg. von HansGerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley. Frankfurt 1989, S. 610f.); vgl. hierzu Robert Gernhardts >IllustrationFreien Volksbühne< in Wien am 15. November 1911 im großen Musikvereinssaale veranstalteten Gedächtnisfeier. In: Strom 1 (1911), H. 8, S. 225-238. Vgl. Ο. K. (wie Anm. 652); vgl. auch Jakob Minor im Berliner Tageblatt, 20. November 1911: »Heinrich von Kleist ist das schwierigste Problem der Literaturgeschichte und je weiter die Forschung fortschreitet, um so schwieriger wird das Problem.« Vgl. Zur Erinnerung an Kleist's 100. Todestag. In: Bohemia (Prag), 21. November 1911, Nr. 322, S. 15; vgl. die Notiz im Prager Abendblatt vom 21. November 1911, Nr. 265, S. 5 und 7; auch: Kleist-Feier im Neuen deutschen Theater. In: Union vom 21. November 1911, Nr. 322, S. 9.

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In diese pietätvolle und beinahe flächendeckende Gedenkidylle mußte Frank Wedekinds Rede im Münchner Schauspielhaus wie eine Bombe einschlagen. 660 Der von der Zensur arg gebeutelte Autor nahm die Gelegenheit zum Anlaß für eine Generalabrechnung mit der >offiziellen< Kultumation: gegen die akademische Germanistik ging es da, 661 gegen die restriktiven Maßnahmen von Staat und Polizei im Kulturbereich, 662 gegen die Kulturnation selbst, 663 die diese Beschneidung der künstlerischen Freiheiten zuließ. Ein leidenschaftliches Plädoyer also für die Freiheit der Künste auch dort, wo sie extrem sind, gehalten in aggressivem Wortlaut, die Texte der Bibel und die salbungsvolle Sprache der Vertreter der Kirche sakrilegisch karikierend und lustvoll verletzend. Wedekind formt hier die traditionelle Dichterfeier in seinem Sinne neu: beiseite räumt er dabei beliebte Kleist-Klischees - wenn er etwa an exponierter Stelle feststellt, daß »[w]eder die Erniedrigung Preußens, noch die Bedrückung durch die Fremdenherrschaft« schuld an Kleists Tod seien 664 während er gleichzeitig Kleists historische Erfahrungen aggressiv modern ausdeutet als symptomatisch für den Umgang der deutschen Nation mit ihren Dichtern. Im (relativ) besseren Früher das schlechtere Heute anzuklagen und hierdurch für die unbeschränkte Ausübung der Künste zu streiten, darum ging es Wedekind eigentlich in seiner Rede zu Kleists einhundertstem Todestag, von der er befürchtete (und mit einigem Recht befürchten mußte), daß aus Furcht vor restriktiven Maßnahmen niemand sie drucken würde. 665 Wedekinds unverhohlene und bewußte Vereinnahmung

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Gehalten am 20. November 1911; vgl. Wedekind (wie Anra. 278), S. 1130-1133. Ebda., S. 1130: »Im allgemeinen teile ich die Literarhistoriker in zwei große Klassen ein. Die einen sind Literarhistoriker, für die die gesamte Literatur immer hundert Jahre vor der Gegenwart aufhört. Die anderen haben den genialen Blick, die Literatur der Gegenwart mit der vergangener Jahrhunderte zu vergleichen und an ihr zu messen. [...] Die erste Art von Literarhistorikern dagegen, die Erfolgsanbeter, Autographensammler, Pharisäer und Schriftgelehrten, hat vor hundert Jahren, genau so wie sie es heute tun würde, alles versäumt, was Heinrich v. Kleist vor seinem unseligen Geschick hätte bewahren können.« Ebda., S. 1131: »Es ist also gar nicht ausgeschlossen, daß es Heinrich v. Kleist im heutigen Deutschland noch schlimmer ginge als vor hundert Jahren. Gibt es doch heute Fälle in Deutschland, wo die der Zensurbehörde vorgelegten Dramen direkt an die Staatsanwaltschaft weiterbefördert werden mit der Anfrage, ob der Autor nicht wegen Vergehens gegen die Sittlichkeit in Anklagezustand zu versetzen sei.« Ebda., S. 1132: »Vor hundert Jahren, als dieses Volk bettelarm und politisch ohnmächtig war, fühlte es sich von Stolz und Großherzigkeit beseelt. Sonst hätten Kleists und Dietrich Grabbes Dramen niemals gedruckt und Friedrich Hebbels Trauerspiele niemals aufgeführt werden können. [...] Heute ist dieses Volk reich, stark, satt und selbstgenügsam geworden. Seine größten Dramatiker [...] diese Männer werden von aller Mitarbeit an der Lösung unserer Kulturaufgaben aufs ängstlichste ferngehalten.« Ebda., S. 1133. Ebda., S. 1132: »Ich möchte eine Wette eingehen, daß keine Zeitung ihren Lesern gegenüber den Mut hat, die Worte, die ich eben aussprach, zu drucken«; dennoch plante er die Publikation eines Kleist-Vortrags, den er am 29. Oktober 1911 im Klintworth-Saal zu halten gedachte, im Zeitgeist, für den Fritz Engel, zugleich einer der maßgeblichen Befürworter der Kleist-Stiftung, als Redakteur verantwortlich war (vgl. Wedekind an Engel, 22. Oktober 1911; in: Sembdner (1996) II, S. 363f„ Nr. 410a).

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Kleists für seine Zwecke wurde denn auch übel vermerkt; ganz privat äußerte Ludwig Thoma hierüber die Ansicht: »Der Kerl muß doch immer seinen Arsch zum Fenster hinaus strecken,« 666 während Alfred Freiherr von Mensi in der Allgemeinen Zeitung notierte: Wer Wedekind näher kennt, mag vielleicht von vornherein schon nicht erwartet haben, daß er von oder über Kleist sprechen werde. Aber eine solche Rede pro domo hatte man denn doch nicht erwartet [...]. Kleist war ihm nur der Vorwand, um gegen Polizei und Zensur [...] zu Felde zu ziehen. [...] Wir wunderten uns nur, daß das hinter seinem Vortragstisch aufgehängte Kleist-Porträt nicht bei diesen Worten vom Nagel fiel. Einzelne Zurufe und Beifall bewiesen, daß es im Publikum an Gesinnungsgenossen Wedekinds übrigens nicht fehlte. Kleist, Grabbe, Hebbel und - Frank Wedekind, lauter große von der deutschen Nation mißverstandene, von Polizei und Zensur verfolgte Dichter! 667

Mit dieser Polemik gegen Wedekinds Rede enthüllte Mensi den Kern der >modernen< Kleist-Exegese gleichsam während seiner Entstehung und am Beginn ihrer Offenbarung; allein, langfristig betrachtet setzte sich dieser wohl angemessenen Einschätzung zum Trotz das bei Wedekind geradezu exemplarisch betont unsachgemäße und durchsichtig dargebotene Denkmuster in ganz erstaunlichem Umfang in der kulturellen Öffentlichkeit durch. Wedekinds Position war - wie auch Mensi feststellte durchaus bei bestimmten Teilen des Publikums konsensfähig, die dies zudem auch öffentlich kundtaten. Wedekind trug also durch seine Rede ganz maßgeblich dazu bei, daß Kleist in immer stärkerem Maße von denen vereinnahmt wurde, die provozieren wollten. Eine überaus produktive Möglichkeit schließlich, den Gestelztheiten des als erstarrt empfundenen traditionalistischen Dichtergedenkens zu entgehen, bezeichnete der Intendant des Mannheimer Hoftheaters, Ferdinand Gregori. 668 Dieser hatte für den November 1911 einen »Kleistzyklus« initiiert, bei dem der Versuch einer Synthese von bekanntem (Käthchen von Heilbronn, Prinz Friedrich von Homburg, Der zerbrochne Krug, Hermannsschlacht) und unbekanntem (Amphitryon, Robert Guiskard, Penthesilea) Kleist gewagt wurde. 669 Am Ende der Veranstaltungsreihe stand am 19. November eine Gedächtnis-Matinee, bei der Gregori seinen gleichfalls dezidiert modernen Umgang mit Kleist verdeutlichte. Fasziniert von Kleists Sprache und Diktion, sympathisiert er insbesondere mit dessen weniger bekannten

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Thoma an Carl Rössler (22. November 1911; in: Ludwig Thoma: Ein Leben in Briefen. (1875-1921). München 1963, S. 240). Mensi in: Allgemeine Zeitung, 25. November 1911. Mit ähnlicher Zielsetzung inszenierte Eugen Kilian in der Saison 1911/12 am Münchner Hoftheater einen Kleist-Zyklus; vgl. die Notiz in Bühne und Welt 14 (1911/12), S. 118f., Kilian (wie Anm. 479); vgl. auch Max Reinhardts und Paul Lindaus gleichfalls in diesem Kontext zu sehende Penthesilea-Aufführungen in der Saison 1911/12 in Berlin oder Paul Schienthers Inszenierung des Zerbrochnen Kruges bei den Festspielen im GoetheTheater in Lauchstedt. Vgl. Ο. K. (wie Anm. 652), S. 1162.

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Bühnenwerken, und noch die geringsten Äußerungen des Dichters erscheinen ihm typisch »kleistisch«, soll heißen unvergleichlich mit denen anderer Dichter. Auch hier also erneut eine Annäherung von den Rändern her, die im Gedenkjahr eine Verpflichtung gegenüber Kleist sah, die es einzulösen galt und die Gregori gerade bei Penthesilea als besonders dringlich empfand. Zugleich bekannte er sich offen dazu, Kleists Jünger zu sein: »Er [Kleist] wollte sich nicht in Szene setzen, er wollte >geglaubt< werden.« 670 Für derlei >Glaubensbekenntnisse< boten vor allem die zahlreichen Gedenkartikel in den Feuilletons der regionalen und überregionalen Zeitungen und Zeitschriften das geeignete Forum. 671 Literarische Zeitschriften etwa widmeten Kleist ganze Hefte (Der Merker, Die Lese, Jugend, Blätter des deutschen Theaters, Die Szene, Zeitgeist) oder ausführliche Gedenkartikel, 672 in denen insbesondere die Vertreter der literarischen Avantgarden die Gelegenheit wahrnahmen, Kleist in ihrem Sinne zu schildern. 673 Daß die Gräben zwischen den gegensätzlichen Kleistdeutungen gerade hierdurch immer breiter wurden und so auch die Bereitschaft zu verbaler Aggression innerhalb der öffentlichen Diskussion über ihn wuchs, belegen die bissigen Anmerkungen des Sturm-Gründers Herwarth Waiden, die sich wie ein Vorgeplänkel der heftigen, sich über Kleist anbahnenden Konflikte ausnehmen. Waiden hatte die Kleist-Sondernummer des Zeitgeist, der von Fritz Engel redigierten Beilage des Berliner Tageblattes, in dem sich die arrivierten und etablierten Kulturakteure wie Paul Lindau, Ludwig Fulda, Hermann Sudermann, Otto Brahm und außer Konkurrenz gewissermaßen - sogar Fürst Bülow über einen genauso e t a bliertem Kleist geäußert hatten, kommentiert. 674 Bülow hatte dort für Germania an ihre Kinder als »dem schönsten und mächtigsten Schlachtgesang, der je von einer deutschen Lippe flöß«, geschwärmt, 675 Lindau und Mauthner äußerten wie diverse

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Ferdinand Gregori: Kleist und wir. In: Der Merker 2 (1911), H. 28, II, S. 1145-1150, hier S. 1148. Vgl. Ο. K. (wie Anm. 652), S. 1162. Vgl. auch das Novemberheft der österreichischen Zeitschrift Strom (Überblick bei: Armin A. Wallas: Zeitschriften und Anthologien des Expressionismus in Österreich. [...]. 2 Bde. München; New Providence; London 1995. Bd. 1, S. 398f.). Vgl. u. a. Bahr (wie Anm. 235); Eloesser (wie Anm. 590); S. Friedländer: Marionetten, Menschen, Götter. Zum hundertsten Todestage Heinrichs v. Kleist. In: Jugend 16 (1911), S. 1233; 1235; Otto Franz Gesichen: Heinrich von Kleist. Ein Gedenkblatt zu seinem hundertsten Todestag. In: Neuer Theater-Almanach 23 (1912), S. 70-76; Julius Hart: Heinrich von Kleist. In: Der Tag, 21. November 1911; Erwin Hernried: Heinrich von Kleist. [Gedicht], In: Strom 1 (1911), H. 9, S. 285; Franz Mehrings Notiz in: Die Neue Zeit, 17. November 1911; Muth (wie Anm. 421); Rudolf Steiners Vortrag vom 21. November 1911 (in: ders., Die Evolution vom Gesichtspunkte des Wahrhaftigen. Fünf Vorträge vom 31. Oktober bis 5. Dezember 1911. Dornach 1958); Jakob Wassermanns Notiz in: Neue Freie Presse, 21. November 1911; Ernst von Wolzogen ((wie Anm. 286), 14. April 1912). Herwarth Waiden: Kunst als Spiel und Stil. In: Der Sturm, Juni (1911) [in: Sembdner (1996) II, S. 553f„ Nr. 620c], Fürst von Bülow in: Der Zeitgeist. Beiblatt zum Berliner Tageblatt, 20. November 1911.

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andere ihre Liebe zu Kleist, Brahm forderte ein Denkmal Kleists in Berlin, und Eulenberg676 wie Fulda dichteten zu Ehren Kleists. Fuldas Verse zum Thema seien hier der Anschauung halber angeführt: Ewig werden wir weinen/ Wir Kleinen,/ Um diesen Einen,/ Den Unvergleichbaren,/ Den Unerreichbaren;/ Ewig beschuldigen/ Das blinde Geschick, das ihn erschlug,/ Den Ungeduldigen,/ Mit rauhen Schlossen:/ Nie - nie hat ein zerbrochener Krug/ Edleren Trank vergossen. 677

Waiden nun, sich über diesen »Zeit-Geist-Kleist« mokierend, erklärte daraufhin Fritz Engel, immerhin einen der maßgeblich an der Kleiststiftung Beteiligten zum »Ulkredakteur«, der sich über die Bedeutung Kleists nicht im klaren sei, und daher »an die bedeutendsten Vertreter der deutschen Nation« sich habe wenden müssen; deren Antworten allerdings hätten »kaum witzloser ausfallen können«. 678 Über Bülows Antwort heißt es dort etwa: Körner konnte sein Schlachtlied wenigstens auf den Lippen halten. Es ist nicht gut, wenn ein entflossener Reichskanzler mal eine deutsche Lippe für die Literatur riskiert.679

Ähnlich böse fällt der Spott über Lindau aus, vor allem aber sollte Engel hier angegriffen werden, dem Waiden vorwarf, einem großen Dichter alles angetan [zu haben], was er kleinen Dichtern der Gegenwart antun kann: ihn durch Tagesweltberühmtheiten lieben und loben zu lassen. Die großen Dichter der Gegenwart werden erst nach hundert Jahren von ihm auf diese Weise beleidigt werden. 680

Waiden also versuchte sich wie Wedekind im Angriff, um jegliche >bürgerliche< Behaglichkeit im hergebrachten Umgang mit Dichtern zu zerstören; der 100. Todestag Kleists bot hierzu einen willkommenen Anlaß, und beinahe ist man geneigt, diesen Zerstörungswillen als die eigentliche Signatur einer ganzen Generation von Literaten aufzufassen. Vornehmlich ex negativo nämlich entstand zum 21. November 1911 eine zweite, pointierte und gleichfalls >offiziell< gemeinte Lesart des Dichters von Seiten der Literaten, die ein enormes Konfliktpotential in sich barg. Betonten die einen zu diesem Anlaß die »kraftvollen nationalen Töne« 681 Kleists, und die Tatsache, daß ihn »der Jammer um das Vaterland in den Tod« getrieben habe, 682 postu-

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Vgl. auch seine Erzählung Abend bei Goethe (in: Strom 1 (1911), H. 8, S. 240-243), vgl. ebda., S. 256). Ludwig Fulda: An Heinrich von Kleist. In: Der Zeitgeist. Beiblatt zum Berliner Tageblatt, 20. November 1911. Waiden (wie Anm. 674). Ebda. Ebda. Friedrich Lienhard in: Die Use 2 (1911), Nr. 46, S. 724. Bülow (wie Anm. 675).

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Herten die anderen, daß er und seine Werke »unpreußisch, antipreußisch« seien,683 daß Kleist der »Nichts-als-Künstler [sei], den Nietzsche ersehnte«,684 und daß dagegen »die Klassik eines Tasso [...], die so viel überkommene Würde an sich hat«, 685 nichts ausrichten könne. In dem Moment also, in dem der dionysische, der kranke und der Seelenschilderer Kleist als alternative Lesart in den Gedenkartikeln des Jahres 1911 festgeschrieben werden soll, wird eine sachorientierte Verständigung über Kleist zusehends schwieriger, wenn nicht beinahe unmöglich, da die Notwendigkeit nun vorrangig darin besteht, sich der einen oder der anderen Position zuzuordnen. Dieser anläßlich von Kleists Gedenktag eingeschlagene und so zementierte Konfrontationskurs zweier sich gegenseitig ausschließender literarischer Weltbilder mündete in einen Konflikt um den Dichter, dessen Ursachen lange Zeit latent vorhanden gewesen waren, der aber eines äußeren Anlasses bedurfte, um offen auszubrechen. Diesen Anlaß boten die Pläne zur Gründung der Kleiststiftung und die damit verbundene Auslobung eines Kleist-Preises,686 Der bereits erwähnte Journalist Fritz Engel hatte, nach entsprechenden Vorarbeiten zur finanziellen Absicherung des Vorhabens und grundsätzlicher Klärung der daran geknüpften Ziele,687 am 13. November 1911 im Zeichen des anstehenden Gedenktages »Künstler«, »Poeten« und »Schriftsteller«, die »Vorstände der Theater« wie die »literarischen Vereine« zur Gründung einer Kleiststiftung aufgerufen. 688 Bereits in diesem Aufruf deutete sich das Ungenügen an den bis dahin praktizierten Gedenkformen an: Auch der von anderer Seite angeregte, an sich gewiß sehr schätzenswerte Plan, dem Preußendichter in Preußens Hauptstadt ein Denkmal zu errichten, wurde zugunsten des sozialen und literaturfreundlichen Hilfswerks, wie es in der Kleist-Stiftung zum Ausdruck kommen soll, zurückgestellt. Das Denkmal Heinrichs v. Kleist soll vorerst darin bestehen, daß man seiner Leiden gedenkt und andere nach Möglichkeit davor bewahrt.689

Engel weist hier recht deutlich die Denkmals-Vorschläge für Berlin (etwa von Otto Brahm oder Franz Servaes) als wenig ergiebig für ein im Sinne der Stiftung

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Kurt Eisner: Das Preußentum Heinrich von Kleists. Zum Gedächtnistage seines Untergangs. In: Münchener Post, 22. November 1911, Nr. 271, S. 2f.; 23. November 1911, Nr. 272, S. 2f. Emst Schur: Kleist im Urteile seinerzeit. In: Der Demokrat 3 (1911), H. 28/29, S. 744ff„ H. 30/31, S. 775-778. Vgl. Richard Schaukais Notiz in: Die Lese 2 (1911), Nr. 46, S. 724. Vgl. hierzu grundsätzlich Sembdner (wie Anm. 232); Elisabeth Höpker-Herberg: Noch einmal: Richard Dehmel und der Kleist-Preis 1912. Materialien aus dem Dehmel-Archiv. In: Kleist-Jahrbuch (1986), S. 179-199; Hans Joachim Kreutzer: Der Kleist-Preis 1912 1932 - 1985. Rede zu seiner Wiederbegründung. In: Kleist-Jahrbuch (1986), S. 11-18. Vgl. Felix Stössingers Bemerkungen in der Frankfurter Zeitung vom 23. März 1912; auch die Notizen im Literarischen Echo vom 15. März und 15. August 1913. Fritz Engel: Des Dichters Gedächtnis. In: Berliner Tageblatt, 13. November 1911; parallel hierzu erschien der von zahlreichen Künstlern unterzeichnete Aufruf zur Kleist-Stiftung u. a. im Berliner Tageblatt, in der Vossischen Zeitung und in Die neue Rundschau. Engel (wie Anm. 688).

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geeignetes gegenwartsbezogenes Dichtergedenken zurück und begünstigt stattdessen eine Art >virtuelles< Denkmal für Heinrich von Kleist. Hatte Wedekind in vornehmlich polemischer Absicht den Dichter der Vergangenheit mit den Zeitgenossen verknüpft, so wurde hier der Versuch unternommen, diese gedachte historische Beziehung zu institutionalisieren; ein Novum in dieser speziellen Form sicherlich und zugleich eine hemmungslose Funktionalisierung. Ursprünglich nämlich hatte lediglich ein »Literarischer Jugendpreis« begründet werden sollen, der durch Kleists Namen nun mindestens klangvoller, wahrscheinlich aber auch gewichtiger werden sollte. 690 Die grundlegende Idee einer Stiftung zugunsten notleidender Dichter war jedoch im Jahre 1911 keineswegs neu: schon die Initiatoren der 1859 begründeten Schiller-Stiftung hatten sich schließlich selbst als »Wohltätigkeitsverein« aufgefaßt, der darauf ausgerichtet war, deutschen Schriftstellern und Schriftstellerinnen, die sich um die National-Literatur verdient gemacht hatten, sowie deren Angehörigen in Zeiten von Not und schwerer Lebenssorge beizustehen und durch finanzielle Zuwendungen ihr materielles Elend zu lindern.691

Dieses erfolgreiche Modell sollte nun jedoch entscheidend abgewandelt werden: 692 nicht die verdienten Schriftsteller, deren Erfolge ohnehin manifest waren, sollten durch die Kleiststiftung gefördert werden, sondern diejenigen, auf deren künftige Leistungen man vertraute und deren Talent vor Notlagen wie sie Kleist erlitten hatte, bewahrt werden sollte; ein >Zukunftsfonds< also gewissermaßen, in den historisch-leidvolle Erfahrung und gegenwärtiger Wohlstand eingezahlt werden sollten. 693 Diese charakteristische Modifikation ergab sich natürlich nicht zuletzt daraus, daß die Initiative zur Kleiststiftung maßgeblich vom Schutzverband deutscher Schriftsteller getragen wurde, der Interessenvertretung der schreibenden Zunft, die an allen Möglichkeiten der Existenzsicherung ihrer Mitglieder selbstverständlich stark interessiert sein mußte. 694 Und so wurde in der Satzung der Kleiststiftung folgendes Vereinsziel festgeschrieben: Er ist gegründet anläßlich des hundertsten Todestages Heinrichs von Kleist (1911). Er bezweckt, Ehrengaben aufstrebenden und wenig bemittelten Dichtern deutscher Sprache, Männern und Frauen, zu gewähren.

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Vgl. zur Entstehung des Planes: Sembdner (wie Anm. 232), S. 14ff. Susanne Schwabach-Albrecht: Der Wiener Zweigverein der deutschen Schillerstiftung und sein Mejstrik-Preis. In: Schiller-Jahrbuch 40 (1996), S. 74-83, hier S. 74f. Der § 9 der Satzung der Kleist-Stiftung, in dem bei Vereinsauflösung das Vermögen zu gleichen Teilen an den Weimarer und den Berliner Zweig der Schiller-Stiftung gehen sollte, belegt, daß die »Kleist-Stiftung« sich durchaus nicht als ein Gegenunternehmen verstanden wissen wollte; vgl. Sembdner (wie Anm. 232), S. 18. Vgl. hierzu den Text des Aufrufs: »Wir wollen zum Gedächtnis des Dichters eine KleistStiftung ins Leben rufen, die ringende poetische Talente durch rechtzeitige Hilfe davor bewahren soll, im Lebenskampf unterzugehen« (in: Sembdner (wie Anm. 232), S. 13f.). Vgl. Wolfgang Martens: Lyrik kommerziell. Das Kartell lyrischer Autoren 1902-1933. München 1975.

307

W ä h r e n d sich das G e d e n k e n an Kleist in diesem formaljuristischen Belangen dienenden Text allein auf die Bereitstellung eines G r ü n d u n g s t e r m i n s beschränkte, erscheinen das Ziel generell wie auch das Detail, d a ß die Mittel g e s c h l e c h t e r u n a b h ä n g i g verteilt w e r d e n sollten, als innovativ. D a ß gleichfalls die Vereinsorganisation, die bereits e i n g e h e n d b e h a n d e l t w o r d e n ist, 6 9 5 d u r c h a u s fortschrittlich zu nennen ist, belegen i n s b e s o n d e r e z w e i ihrer Organe: der siebenköpfige Kunstrat, der die preisrichterlichen K o m p e t e n z e n f ü r die E h r e n g a b e n innehatte, 6 9 6 u n d d e r von Richard D e h m e l e i n g e f ü h r t e »Vertrauensmann«, d e r als Mitglied des Kunstrates alleinverantwortlich über die Vergabe des Kleist-Preises zu entscheiden und seinen Vorschlag g e g e n ü b e r d i e s e m G r e m i u m zu b e g r ü n d e n hatte. D e h m e l beharrte auf dieser heftig umstrittenen Instanz, u m j a »nicht das s c h m ä h l i c h e J u r y s y s t e m einreißen« zu lassen, 6 9 7 das seiner A u f f a s s u n g nach die Auswahlkriterien d u r c h den postulierten M e h r h e i t s b e s c h l u ß bis hin zur Unredlichkeit verwässerte. 6 9 8 Wichtiger als die organisatorischen Details erscheinen im Kontext der Institutionalisierung Kleists die personellen der Kleiststiftung, da die Initiatoren, indem sie Kleists N a m e n f ü r ihre Absichten b e a n s p r u c h t e n , h e f t i g e Konflikte auslösten. D i e offensichtliche N ä h e der Stiftung z u m S. Fischer-Verlag nämlich, die sich sowohl in d e r F i n a n z i e r u n g als a u c h in der Z u s a m m e n s e t z u n g des ersten Kunstrates mit S. Fischer selbst, seinem Lektor Moritz H e i m a n n 6 9 9 u n d - als E r s a t z m a n n - mit sein e m Verlagsleiter H a n s K y s e r 7 0 0 manifestierte, w i e auch schon die R e i h e der Unterzeichner des Aufrufs zur Kleiststiftung provozierten auf Seiten der antisemitischen u n d / oder c h a u v i n i s t i s c h e n K l e i s t - D e u t u n g h e f t i g e G e g e n w e h r . 7 0 1 D a ß die E x p o nenten der >modernen< Literatur, die häufig j ü d i s c h e r A b s t a m m u n g waren, sich f ü r Kleist einsetzten u n d sich seiner bedienten, brachte ohnehin v o r h a n d e n e antimodernistische u n d antisemitische Ressentiments ans Tageslicht u n d zeigen den Z ü g e der

695

Vgl. Höpker-Herberg (wie Anm. 686); Kreutzer (wie Anm. 686). 696 Ygj jjg Vereinssatzung §§ 5 und 6 (in: Sembdner (wie Anm. 232), S. 16-18, hier S. 17). 697 Dehmel an Eberhard Baron von Bodenhausen, 5. Juli 1912 (in: Richard Dehmel: Ausgewählte Briefe aus den Jahren 1902-1920. Berlin 1923, S. 273f., Nr. 667). 698 Vgl. den »Entwurf einer Geschäftsordnung für den Kunstrat der Kleist-Stiftung« (bei Höpker-Herberg (wie Anm. 686), S. 188-191). 699 Heimann war beim S. Fischer Verlag zuständig für die Goethe- und Kleist-Ausgaben der Reihe Tempel-Klassiker, vgl. Renate von Heydebrand: Moritz Heimann. Über den Zusammenhang von Weltbild und Literaturkritik. In: Zeit der Moderne Zur deutschen Literatur von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart. Hrsg. von Hans-Henrik Krummacher, Fritz Martini und Walter Müller-Seidel. Stuttgart 1984, S. 171-225, hier S. 222, sowie Jürgen Husen: Moritz Heimann (1868-1925) und Kagel. Frankfurt/Oder 1992. (Frankfurter Buntbücher 8), S. lf.; vgl. auch Heimanns Kleist-Essay Eine moralisch-dramaturgische Frage. In: ders., Prosaische Schriften. Berlin 1918. Bd. II, S. 322-329. 700 Dieser war zugleich der Vorsitzende des Schutzverbandes deutscher Schriftsteller. 701 Zahlreiche (ca. 60) im öffentlichen Kulturleben tätige und häufig sehr berühmte Juden hatten den Aufruf unterzeichnet, darunter auch einige Autoren des S. Fischer-Verlags: Otto Brahm, Max Reinhardt, Maximilian Harden, S. Fischer, Hugo von Hofmannsthal, Wilhelm Herzog, Franz Servaes, Arthur Schnitzler, Felix Hollaender, Walther Rathenau.

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Besitzstandswahrung annehmenden Streit um Kleist zwanzig Jahre vor dem >Dritten Reich< in fahlem Licht. Fragten sich mehr oder weniger sachorientierte Kritiker nach Sinn und Unsinn von »Talentpäppelei« 702 und mahnten zum Verzicht auf eine solche »Brutanstalt des Genius«, 703 so bot sie anderen den stets willkommenen Anlaß zur antisemitischen und bisweilen antisozialdemokratischen Hetze mit dem Anliegen, jeden »nationalen Mann« zu warnen: »Hände weg!«. 704 S. Fischers Engagement in Sachen Kleist als das eines Verlegers erscheint doppelt aufschlußreich, ist es doch erstens typisch für ein von staatlichen Zugriffen weitgehend abgekoppeltes Mäzenatentum, das Kunst im Zuge einer grundsätzlichen Demokratisierung der Öffentlichkeit zu einer bürgerlichen Angelegenheit erklären konnte. Zweitens belegt es das bis heute nachhaltige Interesse des literarischen Marktes an Gedenktagen und -jähren, die zusätzlichen Umsatz beinahe garantierten, bereits zu einem frühen Zeitpunkt. In geringem Umfang stellte sich auch schon der literarische Markt von 1911 durch Casual-Produktionen auf diese Gegebenheiten ein: Brahms Bearbeitung der Kleist-Biographie erschien 1911 ebenso wie Herzogs viel Wirbel verursachende Kleist-Monographie und das Kleist-Buch von Julius Hart (1912). S. Fischer profitierte zudem noch indirekt von der mit dem Kleist-Preis verbundenen Publikationsmöglichkeit der Preisträger, die dafür sorgte, daß sein Verlag gleichsam in einem Atemzug mit dem Preis genannt werden mußte, und ihm sogar - wie im Falle Oskar Loerkes - publizistischen Nachwuchs für seinen Verlag bescherte. 705 Das Jahr 1911 brachte den für Kleists Nachruhm sicherlich langfristig entscheidenden Institutionalisierungsschub, der den Autor in die obersten Ränge des deutschen literarischen Kanons beförderte, auch und gerade, weil in diesem Gedenkjahr »die Wiederkehr alles Gleichen, das solche Anlässe verdrießlich-ennuyant mit sich bringen«, 706 konstatiert wurde. Denn solche Wiederholung ist eben auch Bestand-

702

Vgl. die Notiz in der Welt am Montag vom 20. November 1911. Vgl. Adolf Petrenz in: Tägliche Rundschau, 27. Januar 1912, und Kurt Hiller: Gegen die Kleist-Stiftung. In: Der Sturm, November 1911 (beide in: Sembdner (wie Anm. 232), S. 31f. und 30f.). 704 Yg[ £ r n S ( Kämpfer hierzu in: Deutsche Tageszeitung, 20. November 1911 (in: Sembdner (wie Anm. 232), S. 29), der seinen Artikel einleitete: »Man sieht auf den ersten Blick, daß über die Hälfte der Unterzeichner jüdischer Rasse ist. Wer nun weiß, wie jetzt schon das jüdische Element in unserer deutschen Literatur herrscht und wie eng andererseits das Judentum immer zusammenhängt und seine Vertreter unterstützt, der wird daran zweifeln müssen, daß die Bestrebungen dieser Stiftung für das deutsche Volk und die deutsche Literatur günstig wirken können. Es ist bedauerlich, daß eine an sich so gute Sache wieder einmal ganz von Juden in die Hand genommen worden ist«; mit gleicher, weitere Zitate erübrigender Absicht Bartels (wie Anm. 591); ders., Kleiststiftung und Schillerstiftung. In: Deutsches Schrifttum. Betrachtungen und Bemerkungen von Adolf Bartels. Bogen 14, April 1912, S. 28f.; auch: ders., Der Kaiser und die Kleiststiftung (ebda., April 1913; in: Sembdner (wie Anm. 232), S. 34). 703

705 706

Loerke arbeitete seit Herbst 1917 als Lektor beim S. Fischer-Verlag. Ο. K. (wie Anm. 652), S. 1162.

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teil des kollektiven Kulturgedächtnisses. Und wenn auch zu Kleists Gedenken am 21. November 1911 Herbert Eulenbergs Forderungen nicht gänzlich eingelöst wurden: Man sollte ohne Unterschied der Konfession alle Kirchen in Deutschland an diesem Tage öffnen und schwarz ausschlagen. Und es müßte ein Jammer um seinen Tod durch unser Vaterland gehen von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt. [...] Und alle unsere Priester müßten seinen frühen Fall beweinen [...]. Unser ganzes Militär müßte an diesem Tag mit verhängten Fahnen zu einer Leichenparade entboten werden und bei gedämpften Trommelklang und gesenkten Flaggen, Ehrensalven zu seinem Gedächtnis in die Luft feuern. Und von allen Türmen sollten die Glocken dazu läuten, und eine Stunde müßte jede Arbeit ruhen [...]. Unsere Schaubühnen müßten eine Woche lang nichts anderes wie Kleist spielen, und zwar von Staats wegen, und ohne Eintritt zu erheben für das ganze Volk kostenlos!,]707 so wurde doch mit diesem Gedenktag Kleist zum offiziellen Anliegen konkurrierender und einander durchaus mißliebiger Deutungen, die den Umgang mit ihm in den nachfolgenden Jahrzehnten bestimmen sollten.

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Herbert Eulenberg in der Frankfurter Zeitung vom 21. November 1911.

310

V.

Die Sprache der Verehrung

Seit der Jahrhundertwende entstanden zahlreiche Kleist gewidmete Gedichte, Essays und Reden, die eindrucksvoll dessen umfassende Wiederentdeckung durch die Dichter belegen.1 Der Wunsch, die geradezu kultisch gewordene Verehrung in Worte zu fassen, hatte notwendig die Suche nach einer hierfür angemessenen Sprache zur Folge. Der gesteigerten Wertschätzung genügten die herkömmlichen Sprechweisen des Dichterlobes nicht mehr, und so soll der Wandel beim Sprechen über Kleist als ein wichtiger Indikator für die fundamentalen Veränderungen in der Einschätzung dieses Autors verstanden werden. Bis ins 20. Jahrhundert hinein war es üblich, Widmungsgedichte an Dichter mit relativ unspezifischen und daher weitgehend beliebig übertragbaren Gemeinplätzen zu bestücken und somit das literarische Dichterlob zumindest partiell auch als eine rhetorische Übung zu begreifen. Hierdurch wurde der jeweils Gerühmte weniger in seinen individuellen Eigenheiten, denn als Objekt des (bürgerlichen) Geniekultes kenntlich gemacht.2 Auffälligster Bestandteil des traditionellen, in Sprache oder Stein gemeißelten >Denkmals< ist der Lorbeerkranz, das Attribut des Ruhms für den aus dem (fiktiven) Dichterwettstreit als Sieger hervorgegangenen poeta laureatus. Demgemäß finden sich schon in den frühen literarischen Portraits Heinrich von Kleists Elemente aus der antiken, in der frühen Neuzeit wieder aufgenommenen Tradition der Dichterweihe.3 Friedrich de la Motte-Fouque beispielsweise forderte

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Einen Überblick hierzu bietet Richard Lepuschik: Heinrich von Kleist in der Dichtung. Diss. Wien 1949. Zu den Spielarten des >Dichtergedichtes< vgl. Heinz Schlaffer.· Das Dichtergedicht im 19. Jahrhundert. Topos und Ideologie. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 10 (1966), S. 297-335. Grundsätzlich hierzu: Paul Raabe: Lorbeerkranz und Denkmal. Wandlungen der Dichterhuldigung in Deutschland. In: Festschrift für Klaus Ziegler. Hrsg. von Eckehard Catholy und Winfried Hellmann. Tübingen 1968, S. 411-426; ders., Dichterverherrlichung im 19. Jahrhundert. In: Bildende Kunst und Literatur. Beiträge zum Problem ihrer Wechselbeziehungen im neunzehnten Jahrhundert. Hrsg. von Wolfdietrich Rasch. Frankfurt 1970, S. 79-101; Eberhard Lämmert: Der Dichterfürst. In: Dichtung. Sprache. Gesellschaft. Akten des IV. Internationalen Germanisten-Kongresses 1970 in Princeton. Hrsg. von Victor Lange und Hans-Gert Roloff. Frankfurt 1971. (Beihefte zum Jahrbuch für Internationale Germanistik 1), S. 439^455. Auch das erste öffentlich errichtete Kleist-Denkmal, die 1890 entstandene Herme von Karl Pracht, die Kleist im Berliner Viktoriapark als Dichter der Befreiungskriege würdigt, stattet den Dichter mit konventionellen Attributen aus: der nachdenklich blickende Kleist trägt - wie auch die anderen, an gleicher Stelle aufgestell-

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1811: » D i e Sängerkrone muß dir Deutschland flechten,/ die deinem Hügel ziemt«, 4 während Friedrich August von Staegemann, zu dessen Berliner Zirkel Kleist zählte, im selben Jahr anknüpfend an die v o n Hesiods Theogonie

ausgehende Traditions-

linie feststellte: Der innern Saiten stillen Siegespreis Errang er nicht, nicht seines Herzens Frieden, Obwohl der Blütenkranz der Pieriden Um seine Locken wehte, rot und weiß. 5 Substantiell ändert sich an diesen, antiken oder pseudo-antiken Traditionen verbundenen Widmungstexten auch im zwanzigsten Jahrhundert wenig. N o c h einhundert Jahre nach Fouque kann deshalb der dichtende, in bürgerlichen Bildungstraditionen stehende Gymnasiallehrer Reinhold Braun mit ähnlich konventionellen Elementen sein Sonett über Kleists »Dichtergeist« versehen: Heut kränzen wir dein Grab mit frischen Rosen. Was du einst sangst, kann nimmermehr verklingen, Und deine Stim den ew'gen Lorbeer trägt! 6

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ten, aber von verschiedenen Bildhauern gearbeiteten Hermen der Dichter Max von Schenkendorf, Friedrich Rückert, Ludwig Uhland und Ernst Moritz Arndt - ein Manuskript als Ausdruck gelehrter Kreativität in Händen, während das Sockelrelief neben einer Mohnblume und einer züngelnden Schlange durch den traditionellen Lorbeerzweig geschmückt wird; vgl. hierzu Rolf Selbmann: Dichterdenkmäler in Deutschland: Literaturgeschichte in Erz und Stein. Stuttgart 1988, S. 162-165. Friedrich Baron de la Motte-Fouque: Abschied von Heinrich von Kleist [1811]. (zitiert nach Minde-Pouet (1927), S. 5); vgl. die Aufnahme des Motivs bei Ernst von Wildenbruch: Zu Heinrich von Kleist's 100jährigem Geburtstage. In: Minde-Pouet (1927), S. 8ff.: »Keines Lorbeers Zweige rauschten/ Dir vom einst'gen Ruhm die Mär«; Detlev von Liliencron: An Heinrich von Kleist. [1902]. In: Deutsches Literaturblatt 1 (1911), Nr. 9, S. 3: »Ich schwenke vor dir her das Siegesbanner./ Die Hälse recken sich: Er ist's, er ist's!/ Und wo du schreitest, schwirren Lorbeerkränze«; Otto Erler: Am Grabe Kleists [1911]. In: MindePouet (1927), S. 35: »Und wie mein Auge folgt der lichten Fährte,/ Erstrahlt zu Häupten dir ein Stemenkranz«; Heinz Gorrenz: Zu Kleists Gedächtnis [1911], In: Minde-Pouet (1927), S. 41: »Bekränzt mit grünen Lorbeerzweigen/ Des besten Preußen stilles Grab!«; im Gegensatz dazu die signifikante Umdeutung des Motivs bei Georg Hirschfeld: Dämon Kleist. In: Freie Bühne ßr den Entwicklungskampf der Zeit 4 (1893), S. 1104-1130, 11841205, hier S. 1122: »Der Traum kam diesmal später als sonst. Irre, tanzende Nebelgestalten zogen anfangs an seinem Geist vorüber, dann aber ballten sie sich zusammen und im bläulichen Licht erschien die Gestalt mit dem Lorbeerkranz. Sie glich in jedem Zuge dem Bildnis in Wilhelms Buch. >Kleist!< schrie er auf [...] Der Kranz, der ihn hinabzog ins Grab, wo sich die schöne Gestalt in ein Skelett verwandelte, rauschte ihm jetzt beständig vor Augen.« Friedrich August von Staegemann: Bei dem Tode Heinrich von Kleists. Im November 1811 (zitiert nach Minde-Pouet (1927), S. 6); vgl. zu den Pieriden, den Musen, und der Vorstellung, jeder Dichter habe seine Muse, Hesiods Theogonie. R. Braun: Sonett [1911]. In: Minde-Pouet (1927), S. 34.

312

Stilisiert wurde der Dichter Kleist überdies zum »Titanen«7 oder zum »Alkiden« »Herakles«8. Doch mußten solche relativ unspezifischen Sprachkonventionen gerade den Literaten der Moderne - und besonders denen des frühen Expressionismus, die das Individuum und dessen Erleben zur zentralen Kategorie erkoren hatten - verbraucht erscheinen. Diese wollten ihren zur Inkarnation eines Dichters schlechthin erhobenen Kleist fortan nicht mehr mit Epitheta versehen, die für jeden beliebigen Dichter benutzt worden waren und weiterhin benutzt wurden. Diesen Mangel abzugleichen boten sich Formeln an, deren exklusiver Charakter sie bis dahin dem religiösen Sprachgebrauch vorbehalten hatte. Dem hohen Anspruch, die absolute Einzigartigkeit eines Menschen in Chiffren faßbar zu machen, konnte offenbar auch zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts allein die »Strahlungskraft der christlichen Sprache« genügen,9 und so lag es nahe, die bis dahin auf Jesus Christus bezogenen Wendungen in den säkularisierten Kontext der Dichterverehrung zu transformieren. Neu war dieses Modell keineswegs, aber vergleichsweise unverbraucht für die Zwecke des anders verstandenen Dichterlobes. Zwar hatte die imitatio

Christi

bereits die >Dichtergedichte< der nachromantischen Generation geprägt, doch zeichneten sich die dort verwendeten religiösen Bilder durch eine diffuse, unspezifische Vermischung verschiedenster Bereiche aus, während die religiös gefärbte Sprache des Dichterkults der frühen Moderne zur zugespitzten Eindeutigkeit tendiert.10

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Conrad Müller: Zum 21. November 1911 [1911], In: Minde-Pouet (1927), S. 49f„ hier S. 49: »Titanisch Berg' auf Berge übertürmend,/ Durch Schluchten bald und bald auf Gipfeln stürmend,/ Begrub dich eignen Schaffens Last«; Karl Grube-Wien: An Heinrich von Kleist. [1920]. In: Minde-Pouet (1927), S. 77: »Titane Kleist - du bist der Mann der Stunde - . « Vgl. Richard Schaukai: Kleist [1914], In: Minde-Pouet (1927), S. 69: »Auf stieg die Flamme, die sich rasch zum Brande/ verbreitend den Entfesselten verheert./ Wie Herakles am Purpurkleide reißt,/ das an ihm frißt, zerrt er an Deutschlands Schande,/ das, ihn verkennend, ihm den Kranz verwehrt,/ bis Zeus ihn heimholt, den Alkiden Kleist.« Vgl. Albrecht Schöne: Säkularisation als sprachbildende Kraft. Studien zur Dichtung deutscher Pfarrersöhne. Göttingen 2 1968. (Palaestra 226), S. 300; grundsätzlich hierzu das Kapitel »Zur Typologie der Säkularisationsformen«, S. 268-301; zu den neureligiösen Spielarten des Expressionismus in den 10er und 20er Jahren vgl. Expressionismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1910-1920. Mit Einleitungen und Kommentaren hrsg. von Thomas Anz und Michael Stark. Stuttgart 1982, S. 215-218; Christoph Eykman: Denk- und Stilformen des Expressionismus. München 1974; Wolfgang Rothe: Der Expressionismus. Theologische, soziologische und anthropologische Aspekte einer Literatur. Frankfurt 1977. (Das Abendland. Forschungen zur Geschichte des europäischen Geisteslebens N. F. 9); zum Gnostizismus: Klaus Jeziorkowski: Empor ins Licht. Gnostizismus und Licht-Symbolik in Deutschland um 1900. In: The Turn of the Century. German Literature and Art, 1890-1915. The Mc Master Colloquium on German Literature II. Edited by Gerald Chappie and Hans H. Schulte. Bonn 2 1983. (Modern German Studies 5), S. 171-196. Vgl. Schlaffer (wie Anm. 2), S. 303f.: Schon um die Jahrhundertmitte werden dem Künstler sehr verschiedenartige religiöse Existenzformen zugeordnet: »Gläubiger, Priester, Messias und Gott«; das hieraus resultierende recht vage Bild erscheint ähnlich gering differenziert wie der bei Hebbel, Freiligrath oder Droste-Hülshoff bereits angelegte, unauflösbar gedachte Gegensatz >Dichter-Künstlerimitatio Kleisti< abzuleiten sei, wird damit implizit ausgedrückt und in der Praxis der Wiederentdeckung der Jahrhundertwende mit Leben erfüllt. Ein Vorgang, in dessen Verlauf

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Schlaffer (wie Anm. 2), S. 305; zu den Vorstellungen von »Opfertat und Märtyrerschaft« im Expressionismus vgl. Wolfgang Rothe: Tänzer und Täter: Gestalten des Expressionismus. Frankfurt 1979, S. 156ff. Richard Schaukai: An mein Kleist-Bildnis. In: Minde-Pouet (1927), S. 76; vgl. die KleistFigur in Wilhelm von Polenz' Drama Heinrich von Kleist. (Dresden und Leipzig 1891), S. 86: »Wir selber machen uns die Welt zum Jammerthale.«; auch: Friedrich Kirchner: Am Grabe Heinrich von Kleists [1896]. In: Minde-Pouet (1927), S. 15f. Franz Servaes: Heinrich von Kleist. Zu seinem 100jährigen Todestage ( t 21. November 1811). In: Die Lese 2 (1911), S. 725f„ hier S. 725. Vgl. die Rolle der >Jünger< noch bei Robert Hohlbaum (Am Grabe Kleists. [1926]. In: Minde-Pouet (1927), S. 81), der, auf Lukas 24,13ff. (Die Emmausjünger) anspielend, schreibt: »Wenn wir in einer großen Emmaus-Stunde/ Die Narben rühren, die Verblendung schlug,/ Dann steigt aus deines Herzens heil'ger Wunde/ Ein Adler auf zu lichtbeschwingtem Flug.« Franz Servaes: Das Schicksal Heinrich von Kleist. In: Der Merker 2 (1911), H. 28, II, S. 1134-1141, hier S. 1134. Ähnlich auch Felix Braun in einem seiner Drei Gedichte zu Ehren Kleists (Kleist und der Tod): »Du strecktest eine Hand aus - da war Tod./ Du trankest ihn als Wein, brachst ihn als Brot« (In: Der Merker 2 (1911), H. 28, II, S. 1129).

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sich überdies herausstellte, daß eine von Friedrich Nietzsche schon deutlich eher gestellte Diagnose im Kern wenigstens zutraf: »Der Jünger eines Märtyrers leidet mehr, als der Märtyrer.«21 In seinem Kleist-Epilog von 1911 zeigt der dem Friedrichshagener Kreis nahestehende Hans Kyser - Gründungsdirektor des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller und Verlagsleiter S. Fischers - , daß sich dieses Programm auch in ganz konkrete Zielsetzungen wenden läßt. In der polarisierenden Form der Antithese läßt er im zweiten Abschnitt seines Textes die »lebenden Dichter« im christlichen Duktus mit dem gequälten Kleist sich solidarisieren - vornehmlich im Sinne der schon an anderer Stelle ausführlich beschriebenen Ziele des Schutzverbandes. Die »lebenden Dichter« des Jahres 1911 stehen als Kleists »Freunde« seinen Widersachern in Geschichte und Gegenwart gegenüber und halten Gericht über sie: II. Die lebenden Dichter sprechen: Was ruft ihr ihm? Was stört ihr ihn im Grab? Er warf euch hin sein Werk, dann stieg er stolz hinab. Er warf euch hin sein mächtig Herz und schwieg, Den ungeheuren Schmerz warf er euch hin und schwieg. Wir aber, seine Freunde, hätten wir Erzengelstimmen euch zu rühren, hätten wir Die Geißel, die der Herr im Tempel schwang Zu züchtigen, Schacher euch, um euren schnöden Dank! Wir wissen, wer er war und was er ließ. Und wer den Herrlichen ins Grab hinunterstieß. Ihr seid es, die ihr heute jammert: Kleist, Wo gingst du Großer hin? - und morgen Kleist zerreißt.22

Der Text deutet mit nur wenigen Worten (»Grab«, »ungeheuren Schmerz«, »Herr im Tempel«, »Schächer«, »Tag der Schmach«, »Gericht«) zentrale Stationen im Leben Christi an. In Verbindung mit typisch biblischen Sprachelementen wie dem zumindest teilweisen Ersatz des Namens durch das Personalpronomen »er« wird so ein fest konnotiertes semantisches Feld evoziert, das, auf Kleist angewendet, entsprechende Analogien nahelegt. In diesem Sinne läßt sich das zahlensymbolisch anmutende drei-

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Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München; Berlin; New York 1980. Bd. 2, S. 336, Nr. 382. Hans Kyser: Kleist-Epilog [1911]. In: Minde-Pouet (1927), S. 46ff.; Kyser hatte im Blick auf die wirtschaftliche Notlage junger Autoren - wie Franz Servaes im übrigen auch bereits den ersten Aufruf zur Errichtung einer Kleist-Stiftung im Mai 1911 unterzeichnet; vgl. Ernst Fischer: Der >Schutzverband deutscher Schriftsteller< 1909-1933. In: Archiv fir Geschichte des Buchwesens 21 (1980), S. 1-168, hier S. 117.

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fache »Er warf euch hin« (bzw. »warf er euch hin«) (Lebenswerk, Persönlichkeit, Martyrium) ebenso deuten wie der eingeschobene Satz »dann stieg er stolz hinab«, das an Evangelientexte und das apostolische Glaubensbekenntnis, an das Hinabsteigen vom Kreuz und das Hinabsteigen in das Reich des Todes zugleich gemahnt.23 Die sich nach »Erzengelstimmen« sehnenden »Freunde« nehmen in dieser Bildlichkeit zwei verschiedenartige, sich ergänzende Aufgaben wahr: sie sind die Jünger, die um die Heilswahrheit wissen (»Wir wissen, wer er war und was er ließ«) sowie die Boten und Verkünder des >Gottes< Kleist. Die Anspielung auf Johannes 2,13ff. - die Reinigung des Tempels von den »Schächera« - setzt den zweckentfremdeten Tempel der Bibel analog zum Musentempel der Dichter mit der impliziten Schlußfolgerung, daß Unverständige wie auch kommerziell Erfolgreiche von dort fernzuhalten seien und der Zugang nur den wenigen wirklich Eingeweihten offenstehen dürfe.24 Die >Jünger< Kleists, die lebenden, aber Not und Spott erleidenden, sich unverstanden fühlenden Dichter (»Was fordern eure Dichter? Brot! - Doch Spott/ Gebt ihr den Lebenden und Steine, wenn sie tot«) schließen mit dem Vorwurf der flachen Banalität und der Schuldzuweisung an das >Establishment< des Kaiserreichs, das »vom Fürsten an ohn' Unterschied/ Das Leere, Eitle kränzt, das Schwere, Große flieht.« Kysers abschließendes Fazit - »Was sind die Toten? Ehrt eure Lebenden« - benennt das für ihn maßgebliche Gebot der Stunde. Die Leiden des verkannten, an verschiedenen Notlagen zugrundegegangenen Kleist dienen hier wiederum als historisches Exempel, aus dem für die Gegenwart des Jahres 1911 vornehmlich soziale Lehren im Hinblick auf die Versorgungssituation der Dichter gezogen werden sollen. Die Nähe zur Bibel eignet also weniger dem privaten Dichter-Kult; sie dient vielmehr, politische Ziele nachdrücklich zu formulieren.

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Vgl. Matth. 27,42; »Ist er der König Israels, so steige er nun vom Kreuz. Dann wollen wir an ihn glauben.«; ähnlich: Markus 15,32; vgl. die ebenfalls dem Glaubensbekenntnis entliehene Passage in Ernst von Wildenbruchs Text: »Du zum finstren Reich der Toten/ Zürnend hingegangner Geist,/ Dieser Gruß sei dir entboten,/ Unglücksel'ger, großer Kleist.« (Wildenbruch (wie Anm. 4)). Vgl. Lukas 19,45ff.; vgl. hierzu auch Eckart von Sydows Aufsatz: Das religiöse Bewußtsein des Expressionismus. In: Neue Blätter für Kunst und Dichtung 1 (1918/19), S. 193f., 199 (zitiert nach Expressionismus (wie Anm. 9), S. 244): »Denn das Wesentliche, was die moderne Kunst aus der christlichen Mythologie übernommen hat, ist nicht der Gedanke des transzendenten, persönlichen Gottes, den eine Kluft vom Menschlichen und Weltlichen trennt, sondern die Konzeption des Erz-Engels. Kaum ein einziger Lyriker wagt den Namen Jehovas zu nennen; wie in alttestamentarischer Scheu hält hier die Sprache und die Vorstellung inne. Nur der Engel tritt im Stahlenglanze seines Lebens auf. Denn der moderne Mensch ist zu selbstbewußt geworden, als daß er eine ewige Wirklichkeit jenseits der Sterne über sich dulden könnte. Auch als religiöser Mensch, - gerade als Religiöser, - steht er zwar der Ewigkeit nahe, aber doch auch wiederum fem; - gerade nämlich in jenem Punkte steht sein innerstes Lebensgefühl und Wollen, wo die Wirklichkeit entspringt aus dem Absoluten, - gerade in jener Schicht, in welcher sich die Schale der Wirklichkeit anschmiegt an den Kern der Ewigkeit, Göttlichkeit. Hierfür ist Symbol der Engel: der ist nicht identisch mit der Ewigkeit Gottes, sondern nur ihr Werkzeug: [...] So ist er rastloser Bote aus dem Jenseits in unsere Welt, Mittler (im eigentlichsten Sinne) zwischen Mensch und Gott, der wahrhafte Übermensch und Untergott.«

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Und um solche Ziele ist es auch Frank Wedekind in seiner anläßlich der KleistFeier des Münchner Schauspielhauses am 20. November 1911 gehaltenen Rede Heinrich von Kleist zu tun gewesen. Polemisch gerichtet gegen die ihn selbst nachhaltig beeinträchtigende Zensurpraxis des Kaiserreichs lautet seine These: Es ist also gar nicht ausgeschlossen, daß es Heinrich von Kleist im heutigen Deutschland noch schlimmer ginge als vor hundert Jahren.25

Zu diesem Schluß kommt er nach einer ernsthaften, aber parodistische Züge durchaus einschließenden Argumentation, die, die Ohnmacht der Zensur angesichts biblischer Texte verspottend, wie selbstverständlich biblische Polaritäten aufgreift, um die von ihm konstatierte Misere der Gegenwart ungefährdet schildern zu können. Den bereits bei Kyser formulierten Gegensatz zwischen denjenigen, die wahrhaft verstehen, und solchen, denen jedes tiefere Verständnis verschlossen bleiben muß, wendet Wedekind ins Grundsätzliche. Bei ihm werden junge (!) Literarhistoriker wie Wilhelm Herzog zum »Apostel und Vorkämpfer« gegen die etablierte Literaturwissenschaft, die von den epochenunabhängig auftretenden »Pharisäern und Schriftgelehrten« aller Art, den »Erfolgsanbeter[n]« und »Autographensammler[n]« behindert werden. Die zum Beleg dieser These vorgetragene Passage aus der Rede Jesu Wider die Schriftgelehrten und Pharisäer in Matthäus 23, 29-32, ermöglicht rhetorische Präzision: die mit der offiziellen Literaturwissenschaft, letztlich also der Öffentlichkeit des Kaiserreichs gleichzusetzenden »Pharisäer« werden »Heuchler« gescholten, weil sie die Nachkommen derjenigen sind, die die »Propheten« und »Gerechten« (hier: Kleist) getötet haben (Matth. 23, 31) und ihnen nun Grabstätten errichten, indem sie behaupten: »Wären wir zu unsrer Väter Zeiten gewesen, so wären wir nicht mit ihnen schuldig geworden an der Propheten Blut!« Jedoch bilden Kysers und Wedekinds Positionen eher die Ausnahme in der Fülle der religiös inspirierten Texte über Kleist, weil sie die Vorlage nutzen, um konkret Stellung in letztlich tagespolitischen Fragen zu beziehen. Typischer erscheinen die Texte Schaukais oder Servaes', die einen stärker privaten Charakter tragen, indem sie eine gleichsam zweckfreie Verehrung für den Dichter in Worte zu fassen suchen. Dieser eher intime Zug eignet den weitaus meisten Widmungsgedichten. In der Absicht, sich seiner selbst zu vergewissern, wird Kleists Gegenwartsbedeutung darin häufig als eine (Wieder-)>Auferstehung< definiert. Diese vermeintliche Rückkehr Kleists zu seinen Adepten wird immer wieder thematisiert26 und nimmt bisweilen geradezu >barocke< Formen an:

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Vgl. Hartmut Vinson: Frank Wedekind. Stuttgart 1987. (Slg. Metzler 230), S. 77f. Vgl. Max Bewer: Heinrich von Kleist. [1911], In: Minde-Pouet (1927), S. 31f.: »Sieh! Mit seiner offnen Wunde/ Hebt er sich aus seinem Grab«; Johannes R. Becher: Der Ringende. [1911], In: Minde-Pouet (1927), S. 26-30, sowie Gorrenz (wie Anm. 4, S. 41): »Entführt aus seines Grabes Nächten/ Des Hohen Geist zum ew'gen Licht,/ Damit ein Werk sei, das in Prächten/ Euch wieder Tatenkränze flicht!«

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Großer! Ewiger! Fürst der Lieder, Stolzer, herrlich hoher Kleist, Komm aus deinen Welten nieder, Sag uns all dein Zürnen wieder, Strahlender Prophetengeist! Sprenge deiner Grabstatt Wände, Brich hervor, frei, wild und kühn, Wie ein Adler durchs Gelände, Dem der Sonne Flammenbrände Sieghaft aus den Augen sprühn!27

In der Eingangsstrophe des von Gustav Schüler 1906 verfaßten Gedichtes An Kleist zeigt sich die im Neuen Testament ebenfalls präfigurierte Kehrseite: an die Stelle der Leidensoptik tritt eine Perspektive, in der Kleists später Sieg über das Vergessensein, sein wörtlich genommenes Auferstehen von den Toten in einer Sprache gefeiert wird, die sich auffällig insbesondere an die österlichen Gesangbuchtexte anlehnt.28 Kleist als Schmerzensmann und »Welterlöser«29: beide Bilder dienen, um verschiedene Aspekte der Dichterverehrung zu betonen; das erste, um jene anzuklagen, die die Begeisterung nicht teilen, letzteres, um die gefundene >Glaubenswahrheit< publik zu machen und so die Gemeinschaft der >Gläubigen< zu erweitern. Ein solches Konzept, das Literatur zur Glaubenssache erklärt und den gefühlsbetonten Zugriff gegenüber dem rationalen so ausdrücklich bevorzugt, zieht emphatische Bekenntnisse beinahe notwendig nach sich. In Kurzform lauten diese: »Wir wollen Deinen Namen heilig halten, Heinrich von Kleist!«30 oder »Heinrich von Kleist, dein heil'ger Name lebt/ Gleich einem Rauch, der über Trümmer schwebt«.31 Der junge Johannes R. Becher, der seine Arminius-Kleist-Apotheose Der Ringende in verwandtem Ton mit der Anrufung »dich, Himmlischer dich!« einleitet, läßt allerdings im Verlauf des Textes die Grenzen zwischen Mythologie, Religion und Moderne zunehmend verschwimmen; nur an wenigen Stellen ist die Anlehnung an die Bibel dabei so deutlich wie bei der Aufnahme des ins Expressionistische gewendeten »Ecce homo«-Satzes des Pilatus (Joh. 19,5):

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Gustav Schüler: Am Grabe Kleists [1906]. In: Minde-Pouet (1927), S. 70; vgl. Roland Marwitz: An Heinrich von Kleist. (Zum 21. November) [1914]. In: Minde-Pouet (1927), S. 68: »Spreng laut des Himmels goldnes Tor,/ Stürm aus der Seligen friedlichem Chor/ Zu uns hernieder«, der die nationalistisch-patriotische Seite Kleists als das neue Credo betont: »Nach schmachvoller Nacht/ Ist ein Morgen erwacht,/ Leuchtend wie deine Hermannsschlacht!« Zu »Sprenge deiner Grabstatt Wände [...]« vgl. Evangelisches Gesangbuch. Ausgabe für die Evangelisch-Lutherischen Kirchen in Niedersachsen und für die Bremische Evangelische Kirche. Hannover 1994, ζ. B. Nr. 112, 2 (Text: Paul Gerhardt); s. auch Nr. 100,3; 103; 105; 109, 1; 111,11; vgl. auch die Baß-Arie: Großer Herr und starker König [...] im 1. Teil des Weihnachtsoratoriums von Johann Sebastian Bach (BWV 248). Paul Zech: An Heinrich von Kleist [1911], In: Minde-Pouet (1927), S. 61. Servaes (wie Anm. 19), S. 1141. Paul Friedrich: Heinrich von Kleist [1906], In: Minde-Pouet (1927), S. 21.

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Ich bin allein. [...] Doch da! ο da! Über den geduckten/ Felsklumpen schimmert weiß,/ zart sich abhebend eine hohe Gestalt, nackt, in siedendem Schweiß/ die Arme ausgestreckt der/ untergehenden Sonne nach .../ oder mir zu, oder mir zu ..../ Ein Mensch!!!/ Ja!/ Ein Mensch im flatternden Haar./ Toll über den Sand in nackter Keuschheit und Klarheit./ Oh Mensch zu Mensch! Oh Herz an Herz!/ Ich trage sein Herz, sein Herz in meinem Pochen./ Ο nicht mehr einsam sein, nicht mehr allein gebrochen/ in Schmerz und Qual??32 Selbst hier, in einem so dezidiert avantgardistisch gemeinten Sprachgebilde, in dem sich Emphase und das Stakkato der Gefühle in Syntax und Wortwahl direkt niederschlagen, selbst hier, bei einem Autor, dem das - gleichfalls >erlösungsbedürftige< Weltproletariat zeitlebens näherstand als die Religion, steht das (biblische) Motiv des zum Leiden verurteilten Menschen noch immer im Zentrum der Gedanken. 33 Nur am Rande erwähnt seien die kaum zu beziffernden freien, aber eindeutigen Anlehnungen an biblische Vorbilder. Sie fassen ganze Episoden zusammen (»Schmerzgebärde«) 34 , paraphrasieren variierend Inhalte und Satzbau (»Wir sind Blut von seinem Blut und Geist von seinem Geist und Nerv von seinem Nerv«) 35 oder wählen sogar den Beginn des Johannes-Evangeliums zum Ausgangspunkt weltlicher Kleist-Reflexionen wie Arthur Kahane in seinem Essay Kleist und das Wort, der anhebt: »Der Dramatiker sitzt im Wort.« 36 Viele der religiös oder pseudo-religiös inspirierten Texte, die Kleist gewidmet wurden, beschreiben >PilgerwallfahrtenGrabgedichte< und Prosaschilderungen sein, die unter dem Eindruck des Besuches als Ausdruck der Verehrung entstanden sind. Da die meisten dieser Texte wiederum Produkte des frühen zwanzigsten Jahrhunderts sind, liegt es nahe, sie im Kontext der dargelegten neureligiösen Aspekte moderner Dichterverehrung zu betrachten. Zu unterscheiden ist hierzu zwischen der traditionellen Pietät gegenüber einem Verstorbenen einerseits und den emphatischen Bekenntnissen zu einem zur Leitfigur der eigenen Gegenwart stilisierten Dichter andererseits. Der substantielle Unterschied beider Entwürfe liegt in der jeweilig eingenommenen Distanz zum Toten; hier: respektvoller Umgang mit jemandem, der der Vergangenheit angehört: ein Grabstein mit Denkmalsfunktion also; dort: die entschiedene Suche nach einem Ort, an dem sich die Nähe, die Aktualität des Verehrten jederzeit aufrufen läßt: eine Kultstätte. Der Umgang mit Kleists Grab entspricht denn auch der jeweilig vorherrschenden Form der Dichterverehrung. 38 So dienen die ersten öffentlichen, etwa mit dem 30. Todestag Kleists u. a. durch den Tieck-Freund Eduard von Bülow einsetzenden Bemühungen vornehmlich dazu, dessen Grabstätte vor dem gänzlichen Verfall zu bewahren. 39 Sei es nicht, so fragt er, angesichts der gegenwärtigen Denkmal-Mode

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Vgl. etwa Rudolf Presbers Bildband Geweihte Stätten (Berlin 1914, S. 5): »Sie sind dem deutschen Volke heilig, die Stätten, an denen die erlesenen Geister gewandelt sind, jene Großen der Literatur, der Wissenschaft, der Kunst, die unser Vaterland mit Stolz zu den Seinen zählt.« Zu den »nationalen Heiligtümer[n]« zählen für Presber, den Chefredakteur der seinerzeit populären Zeitschrift Über Land und Meer neben den Weimarer Gedenkstätten oder dem Marbacher Schiller-Haus u. a. auch gar nicht so traditionelle Gedenkorte wie der Hölderlin-Turm (S. 104), dessen Grab (S. 86), Kleists »Stammhaus« (S. 74), das »Kätchenhaus« in Heilbronn (S. 88) sowie Kleists Grabstätte am Wannsee (S. 83). Zu Geschichte, Gestaltung und der möglichen Verlegung des Kleist-Grabes vgl. Georg Minde-Pouet: Kleists letzte Stunden. Teil I: Das Akten-Material. Berlin 1925. (Schriften der Kleist-Gesellschaft 5); Eberhard Siebert: Zwei unbekannte Quellen zur Geschichte des Kleist-Grabes am Kleinen Wannsee. In: Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz 24 (1987), S. 195-199; Horst Schumacher: Die Begräbnisstätte des Dichters Heinrich von Kleist und seiner Freundin Henriette Vogel am Ufer des Kleinen Wannsees [...]. Berlin 1988; Selbmann (wie Anm. 3), S. 1Τ1 f.; Erika Müller-Lauter: Geschichte des Kleist-Grabes. In: Kleist-Jahrbuch (1991), S. 229-256; Horst Schumacher; Eberhard Siebert: Wurde das Kleist-Grab verlegt? In: Beiträge zur Kleist-Forschung (1992), S. 109-122. Hierbei tat sich neben F. Larcko (vgl. seinen Artikel vom 2. Januar 1841 in Der Gesellschafter oder Blätter für Geist und Herz) auch Eduard Meyen hervor: (1841 in: Athenäum. Zeitschrift für das gebildete Deutschland (zitiert nach Siebert (wie Anm. 38), S. 196f.)): »Es wäre recht schön, wenn man jetzt, wie vorgeschlagen wurde, eine kleine Summe zusammen brächte, um die Gräber neu zu belegen, und mit einem Gitter nebst einer Gedächtnißtafel versehen zu lassen. Heinrich von Kleist hat es wohl verdient, daß man sein Gedächtniß auch äußerlich in Ehren halte, und das tragische Unglück seines Lebens muß uns um so mehr dazu anregen.«

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an der Zeit, »das Grab dieses acht deutschen Mannes wenigstens in einem würdigen Zustande zu erhalten?«40 Trotz seines Selbstmordes sei Kleist so populär, daß er zu aller Zeit Freunde und Verehrer genug in Deutschland haben [werde], die mit Pietät sein Grab und die Stelle besuchen, wo er den Tod fand.41

Da das »politische Unglück seines Vaterlandes« diesen ebenso herbeigeführt habe, wie die Kleist »ungerechterweise vorenthaltene Anerkennung«, sei es nun eine gewissermaßen patriotische Pflicht, all dies durch eine würdige Grabstätte wiedergutzumachen. 42 Der Vorwurf an die »Nation«, Kleist den ihm gemäßen Ruhm versagt zu haben, entsteht also zunächst in den Reihen durchaus patriotisch Gesinnter, und keineswegs in denen der literarischen Avantgarden, die den kritischen Umgang mit der Öffentlichkeit später zunehmend für sich allein in Anspruch nahmen. Demgemäß schlug Bülow, der Kleist für einen der »edelsten und vaterländischsten deutschen Dichter« hielt, 1846 vor, »einen schlichten Granitwürfel mit Kleists Namen« zu errichten und forderte »die Freunde des Dichters« auf, sich hieran mit Spenden zu beteiligen.43 Dieser Grabstein sollte ein Kleist-Denkmal durchaus ersetzen, daß Bülow angesichts des »betrübten Endes« des Dichters offenbar für nur bedingt konsensfähig hielt.44 Der 1848 enthüllte »Denkstein« kann somit als das Stein gewordene Resultat pietätvoller Dichterverehrung und zugleich als die gedankliche Vorstufe zu einem Kleist-Denkmal gelten.45 Die im Kontext des dreißigsten Todestages entstandenen, 1842 unter dem Titel Den Wallfahrern[\] zu Kleists Grabe veröffentlichten Gedichte spiegeln das Bemühen, einen Ort zu schaffen, der dem öffentlichen Totengedenken, nicht aber einem privaten Dichter-Kult dient.46 Ganz pragmatisch verstandene Grabpflege47 geht fortan einher mit der zu einem >nationalen< Desiderat erkorenen Aufgabe, »ein prachtvoll Monument« für Kleist zu errichten 48

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Eduard von Bülow: [Brief aus Berlin]. In: Allgemeine Zeitung (1841), Nr. 104, 14. April, S. 830; vgl. auch Meyen (wie Anm. 39), Larcko (wie Anm. 39) sowie die Notiz in: Athenäum (in: Sieben (wie Anm. 38), S. 197). Bülow (wie Anm. 40), S. 830. Ebda. Eduard von Bülow: Ueber Heinrich von Kleists Leben. In: Monatsblätter zur Ergänzung der Allgemeinen Zeitung (1846), November, S. 512-530, hier S. 512. Bülow (wie Anm. 40), 830. Vgl. Eduard von Bülow: Heinrich von Kleist's Leben und Briefe. Mit einem Anhange herausgegeben von Eduard von Bülow. Berlin 1848, S. XIII und 79. Zuerst im Berliner Figaro Nr. 95 vom 16. April 1842, auszugsweise zitiert bei Sigismund Rahmer: Heinrich von Kleist als Mensch und Dichter. Nach neuen Quellenforschungen von S. Rahmer. Berlin 1909, S. 410f. »Aber sieh, Da kamen Zweie,/ Wanderten den rauhen Weg,/ Bahnten sich durch das Gestrüppe/ Dorthin, wo er ruht, 'nen Steg. // Nahmen Hacke dreist und Schippe/ In die treue deutsche Hand,/ Hielten betend erst das Auge/ Zu dem Himmel hingewandt. // Stachen dann vom schönsten Moose/ Das nur grünet weit und breit/ Legten's liebend auf die Hügel,/ Deren Formen sie erneut. // Haben dann die beiden Namen/ In die Eiche eingeprägt,/ Daß die Stelle Jeder finde,/ Dem ein Herz im Busen schlägt.« (Verfasser unbekannt, Zitat nach Rahmer (wie Anm. 46), S. 410); vgl. Herman Grimms Aufruf vom 23. Februar

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In den folgenden Jahrzehnten stieg Kleists öffentlich wahrnehmbare Popularität immerhin so, daß in den siebziger Jahren an den Sonn- und Festtagen die Stätte ein Wallfahrtsort für viele Berliner [wurde]. Nicht mehr Disteln wachsen auf der Stelle, sondern Kränze schmücken jetzt das Grab eines unserer größten Dichter.49 Das Kleist-Grab wandelt sich demnach also nach der Jahrhundertmitte zu einer touristischen Attraktion. 50 Daß der Autor des 1877 in der Illustrierten Zeitung erschienenen Artikels von Kleist als einem »unserer« herausragendsten Dichter spricht, läßt aufhorchen: wenn dessen Popularität bereits im frühen Kaiserreich mit einiger Selbstverständlichkeit öffentlich festgestellt werden konnte, worin bestünde dann noch die Wiederentdeckung Kleists um die Jahrhundertwende? Ein Teil der Antwort findet sich im selben Artikel. Die »Berliner« nämlich besuchen einen gänzlich anderen Kleist als die Literaten und Künstler der frühen Moderne; der Sonn- und Feiertagsausflug gilt dem »Schöpfer des Kätchens von Heilbronn« und der Hermanns-

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1862 in der Vossischen Zeitung um Unterstützung bei der »Errichtung eines eisernen Gitters um sein Grab und eines neuen Steines darauf mit beschränkter Inschrift«; vgl. die entsprechenden Bemühungen des literarischen Vereins Klause um die Jahrhundertwende (hierzu: Müller-Lauter (wie Anm. 38), S. 248ff.). Vgl. Rahmer (wie Anm. 46), S. 411, das Gedicht von »Gr. v. B.« aus dem Gesellschafter, 30. Blatt (1842), sowie das des unbekannten Verfassers aus dem Berliner Figaro. Vgl. die Notiz zum Kleist-Grab in Illustrierte Zeitung, Nr. 1766, 5. Mai 1877, S. 374; vgl. auch den Briefwechsel zwischen dem »Touristen-Club für die Mark Brandenburg« und dem Hofmarschallamt des Prinzen Friedrich Leopold von 1886 (zitiert nach Müller-Lauter (wie Anm. 38), S. 246f.): Hofmarschall Kanitz entgegnet der Beschwerde, der Weg zur und die Grabstelle selbst seien vernachlässigt: »Leider ist der Erfolg dieser Arbeiten [Bepflanzung des Grabes, Reparatur der Umgatterung; Markierung des Weges] immer nach kurzer Zeit dadurch wieder verwischt, daß das besonders an Sonntagen sehr zahlreich dorthin strömende Berliner Publikum nach diesem wohlbekannten Punkte, ohne Rücksicht auf bebaute Felder, sich einen Weg bahnt, außer den leicht erkennbaren Fußweg zu verfolgen, durch Übersteigen des Gitters dieses und die Marmorpfosten beschädigt, auch die Epheu-Pflanzen auf den Gräbern selbst ruiniert und die Umgebung des Platzes in unliebsamer Weise verunreinigt.« Nicht zuletzt wegen der Unwahrscheinlichkeit der Vermutung, daß Kleists Popularität nach 1880 abgenommen haben sollte, stehen der Artikel von 1877, der Briefwechsel des Touristen-Clubs und ein Brief Detlev von Liliencrons vom 7. Mai 1897 (in: Detlev von Liliencron: Ausgewählte Briefe. 2 Bde. Berlin 1910. II, S. 94), der den guten Zustand des Grabes betont, in eigenartiger Diskrepanz zu der 1907 von Paul Hoffmann gemachten Feststellung: »Wer vor einem Jahrzehnt oder früher das Grab Heinrichs von Kleist besuchen wollte, hatte einige Mühe, es an dem düstern Ufer des kleinen Wannsees, einem Gestade der Vergessenheit zu finden. Im tiefsten Waldfrieden blieben die Pfade der Kultur dem geweihten Orte fem. Hier trat nichts dem Walten der Natur hindernd entgegen, und Schaffen und Vernichten, Werden und Vergehen umwoben die Stätte mit der Heiligkeit ihres Geheimnisses« (Hoffmann (wie Anm. 36), S. 416); vgl. zum Kleist-Grab auch die Volkszeitung vom 4. August 1892.

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schlacht51, die >Pilgerreise< der um 1880 geborenen Generation hingegen dient der persönlich verstandenen >NachfolgeHermann-ModePilger< der Moderne, die sich vom Gestus der öffentlichen Bekundungen ausdrücklich abgestoßen zeigten, 57 zum Kleist-Grab? Es ist auffällig,

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21. und 22. März 1904; Arthur Eloesser: Kleists Grab. In: Vossische Zeitung, Sonntagsausgabe, 13. März 1904, 1. Beilage; Ernst Detleff in: Der Kunstwart, 17 (1904), 1. Aprilheft, Nr. 13, S. 27f.; Karl Strecker in: Tägliche Rundschau, 19. März 1904, Unterhaltungsbeilage; 29. März 1904, Unterhaltungsbeilage sowie ders. in: Düsseldorfer Nachrichten, 18. Oktober 1927, Morgenausgabe (Beilage); A. Trinius: Ein verlorenes Dichtergrab. In: Berliner Lokal-Anzeiger, 20. März 1904, Sonntagsausgabe, 2. Beiblatt; das in den Versen »Deutsche! Einen Dichter gilt's zu ehren - Duldet nicht den frevlen Gräberraub« kulminierende Gedicht der Lili du Bois-Reymond (zitiert nach Minde-Pouet (1927), S. 20) erzeugten so starken öffentlichen Druck, daß Leopold auf den Verkauf verzichtete; vgl. auch den diese öffentliche Diskussion karikierenden Text Christian Morgensterns Aus einer (noch ungehaltenen) Reichstagsrede als Antwort auf eine Interpellation über die geplante Durchquerung von Kleists Grab: »Meine Herren! Der Kanal der preußischen Kultur wird sich den Weg durch alle lebenden und toten Dichter der Welt hindurch zu bahnen wissen. (Bravo und Zwischenrufe!) Wir haben uns von diesen Geistern nie beirren lassen und werden die uns von Gott anvertraute Zivilisationsarbeit unentwegt weiter - und auch noch bis zum Griebnitzsee - (Heiterkeit) verrichten, getreu unserm angestammten Wahlspruch: Fiat linea, abeat genius. (Dröhnender Beifall auf allen Linien.).« (in: Christian Morgenstern: Werke und Briefe. Kommentierte Ausgabe. Stuttgart 1987. Bd. VI: Kritische Schriften, S. 241f., vgl. ebda., S. 662-665; zuerst in: Das Theater 1 (1904), H. 10, S. 143). Vgl. hierzu ζ. B. Max Rosenfelds Sonett Am Grabe Kleists von 1912: »Über deinem Grabmal schwarze Schatten rollten,/ Blitze blendeten und Donner furchtbar grollten./ Stürme peitschten Wellen rasend an das Land. - / Doch ich blieb, die Augen auf dein Grab gewandt.« Karl Heigel: Heinrich von Kleists Grab [1911], In: Minde-Pouet (1927), S. 42. Vgl. etwa Georg Heyms Unbehagen an der Masse (Tagebucheintrag vom 16. April 1908 in: Heym (wie Anm. 52), 3, S. 106): »Ich würde Christus lieben, wenn er nicht der Gott der Masse wäre. Sein Leben, Dichtung, und Tod sind sehr schön. Da ist keine Lücke, durch die man das Häßliche sieht. Aber er wird befleckt, da er in vieler Herz wohnt.« Heym hielt Kleist offenbar noch 1909 für einen von der Masse gering geachteten Autor, was zumindest für bestimmte Teile seines Werkes sowie angesichts der Denkmalsbestrebungen keineswegs mehr zutraf: »20.7.09. Ich liebe alle, die in sich ein zerrissenes Herz

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daß sie in demselben historischen M o m e n t , in d e m der Dichter öffentlich-offizielle Wertschätzung zu erfahren beginnt, ihren sehr individuell gedeuteten und einer größeren Öffentlichkeit ziemlich unbekannten Kleist zu besuchen beginnen, nicht den Autor des Käthchen,

sondern den des Robert

Guiscard

und der Penthesilea.

Und

diese >Pilger< v o n H u g o Wolf, 5 8 Rainer Maria Rilke 5 9 bis Georg H e y m , 6 0 von D e t l e v von Liliencron, 6 1 Richard D e h m e l 6 2 und Theodor Fontane bis zu Julius Bab, Franz Kafka 6 3 und Christian Morgenstern 6 4 besuchen allein, allenfalls zu zweit oder dritt ein ihnen >heiliges GrabWir sind keiner klarer oder blinder,/ wir sind alle Suchende, du weißt, - / und so wurdest du vielleicht der Finder,/ ungeduldiger und dunkler Kleist...establishment< unverstanden fühlenden Generation junger Literaten seiner Altersstufe, indem er mit überwiegend naturalistischen Mitteln den unglücklichen Werdegang eines Gymnasiasten schildert, kulminierend im geradezu notwendig werdenden Freitod am Kleist-Grab als Ausdruck höchster Dichter-Verehrung. Nach dem Selbstmord des hochverschuldeten Vaters und dem daraufhin innerhalb weniger Tage eintretenden Tod der Mutter, 66 wird der Primaner Wilhelm Arnold in die vielköpfige Familie seines Onkels, des Berliner Gymnasialrektors Arnold aufgenommen, um dort zur Ruhe zu kommen, das Abitur zu bestehen und eine gutbürgerliche Laufbahn einzuschlagen. Die christlichen Prinzipien und bürgerlichen Bildungstraditionen streng verpflichtete Familie versucht, den von Anbeginn als Fremdkörper erscheinenden Wilhelm zu integrieren, dieser jedoch hat nur ein einziges, seine gesamten Vitalkräfte bündelndes Interesse: seine Leidenschaft zu Heinrich von Kleist, dessen Bildnis er heimlich, einem Andachtsbild gleich kultisch verehrt. 67

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Hirschfeld (wie Anm. 4); Otto Brahms Kleist-Biographie (Berlin 1884), die Hirschfeld bei einem Besuch vom Verfasser selbst erhalten hatte, hatte den Text angeregt (s. Otto Brahm. Briefe und Erinnerungen, mitgeteilt von Georg Hirschfeld. Berlin 1925, S. 21, 34ff.); vgl. auch Georg Kaisers Parodie zu Hirschfelds Erzählung: die seit 1903 entstandene »Tragikomödie in vier Akten« Rektor Kleist (1903ff.) (in: Georg Kaiser: Werke. Hrsg. von Walter Huder. Bd. 5: Stücke 1896-1922. Frankfurt; Berlin; Wien 1972, S. 223-273). Hirschfeld (wie Anm. 4), S. 1109. Hirschfeld (wie Anm. 4), S. 1114: »Als Wilhelm allein war, warf er erst einen flüchtigen Blick auf seine Umgebung, trat dann schnell zu seinem Koffer hin, öffnete ihn, und entnahm ihm einen in Seidenpapier eingeschlagenen Kartonbogen. Er entfernte die leichte Hülle, und während er ihn betrachtete, fielen seine während des Suchens gespannten Züge wieder in die alte Schlaffheit zurück. Seine Augen schlossen sich halb, und seine Lippen bewegten sich wie im Traum. Der Karton zeigte eine farbige Kreidezeichnung von kindlicher Schülerhand, doch alles in kühnen überschwänglichen Strichen. Ein Halbkreis schwarzer Wetterwolken war dargestellt von züngelnden Strahlen durchschossen, und aus all der Nacht und Furchtbarkeit blickte unbefangen und mild ein blonder Jünglingskopf heraus. - Unter dieser sonderbaren Zeichnung stand in schön gemalten Buchstaben ihr Titel: Kleist.«·, S. 1122: »Als Wilhelm am Abend seines Geburtstages den ersten Band öffnete, fand er am Anfang des Buches ein Bildnis Kleists, den hübschen, unbefangenen Mädchenkopf. Wilhelm war glücklich seinen Gott im Bilde sehen zu können [...]«; vgl. auch Felix Brauns Gedicht Vor einem Bildnis Kleists (Braun (wie Anm. 20, S. 1129)) sowie Schaukai (wie Anm. 16) An mein Kleist-Bildnis.

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Nach dem kläglichen Scheitern seines Planes, Kleists Nachfolge als Dichter mit dessen »Lebensbild« anzutreten68 - ihm ist es unmöglich auch nur eine Zeile zu schreiben - , 6 9 spitzt sich die Krise Wilhelms immer weiter zu; sie kulminiert anläßlich eines Familienausfluges zum Wannsee. Nach Seespaziergang und gemeinsamem Kaffeetrinken besucht die Familie schließlich ein wenig hastig, mit eher beiläufigem touristischem Interesse und ohne tiefere Gefühle das Grab, während Wilhelm den Ort augenblicklich als für ihn selbst schicksalsentscheidend wahrnimmt: Als endlich auch noch der mitgebrachte Kuchen verzehrt war, erhob sich der Direktor. >Es ist spät geworden, wir müssen uns beeilen, wenn wir noch ein wenig Umschau halten wollen. Das Denkmal[!] Kleists wollt Ihr doch alle gern sehen - nicht wahr?< >Ia, Papa!< rief Walter. Herr Arnold wandte sich nun an den Kellner um Auskunft, wo sich das Grabmal befände. >Thut mir leid, mein Herr, weiß ich nicht - ich bin Saisonkellner.< Da rief ein kleiner Junge, der dabei stand. >Ach, Sie meinen wol das Jrab mit's Eisenjitter rum? Ja kommen Se man - ich wer' Ihnen Bescheid zeigen.< [...] Bald standen sie oben. Da lag ein epheuumsponnener Grabhügel, und eine Marmortafel darauf meldete: »Heinrich von Kleist. Geboren 18. Oktober 1776, gestorben 21. November 1811.« 70

Angesichts des Grabes sind allein Wilhelms Gedanken dem Erzähler noch wichtig, Familie Arnold wird - bis auf einen belanglosen Kommentar des jüngsten Sohnes gänzlich ausgeblendet. Der Besuch beeindruckt die Familie offenkundig wenig, nicht zuletzt wohl, weil deren Oberhaupt ganz im Sinne der offiziellen und klassikerzentrierten Literaturgeschichtsschreibung seiner Zeit Kleist bereits im Vorfeld zu einem »Talent ohne Gott« erklärt hatte,71 dessen Werke im Vergleich zu denen Schillers ebenso unreif wie unvollendet wirkten; Wilhelm jedoch erschüttert er im Innersten so sehr, daß er in geradezu expressionistischer Weise eine »That« nach sich zieht: Nun kannte er seine Bestimmung: er sollte Kleist empfinden, nie geben. Während er noch einmal zurücksah nach dem Hügel mit den vier Steinen dachte er an Tod. 72

Am Ende bringt sich der Primaner am 21. November an Kleists Grabstelle um, nachdem die schwindsüchtige und somit ohnehin totgeweihte, durch den Glauben aber dennoch in sich gefestigte Martha Arnold Wilhelms Angebot zu einem gemeinsamen Tod abgelehnt hat: Er bestieg den Zug und war in einer halben Stunde am Ziel. Es hatte zu schneien aufgehört. Wilhelm betrat die mit knirschendem Schnee bedeckte Landstraße. Drüben lag der See - er war zugefroren. Einsamkeit herrschte ringsum, nur das häßliche Kreischen der Krähen tönte an sein Ohr. Der Mond trat aus den Wolken und warf sein gespenstisches Licht auf die knarrende, grüne Eisfläche. Wilhelm bog links in den Waldweg ein. Einen Augenblick griff er in seine Rocktasche - die Waffe war darin. Den kleinen Wildpfad,

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Hirschfeld (wie Anm. 4), S. 1186. Ebda., S. 1186ff„ 1191f. Ebda., S. 1197. Ebda., S. 1195; ähnlich bei Heigel (wie Anm. 56) (in: Minde-Pouet (1927), S. 42). Hirschfeld (wie Anm. 4), S. 1198.

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welcher zum Grabe führt, konnte er nicht finden, er war verschneit. Er durchschritt nach Gutdünken das Gehölz und näherte sich der Rückseite des vom Mondlicht beschienenen Grabes. Er stand oben. >Kleist< flüsterte er. Die Fichten gaben säuselnde Antwort. Er lehnte sein Haupt auf das Eisengitter. Gab das Gitter nach, oder was geschah ihm? Er mußte es wohl durchschritten haben, fühlte er doch, wie er den Lorbeerkranz an der Eiche ergriff, wie er ihn festhielt... Ein eisiger Windstoß brachte ihn zur Besinnung. Er zog den Revolver aus der Tasche und setzte ihn an die Stirn.73 Die Verehrung des mit den Leiden Kleists so untrennbar verbundenen Ortes nimmt jedoch nur in Ausnahmefällen solch dramatische Formen an. Viel eher knüpft man an die Schilderung der Eindrücke vom Besuch des Grabes mehr oder weniger konkrete Absichten oder ist bestrebt, die oft emphatische Neigung zu Kleist in Worte zu fassen. So beschreibt etwa Detlev von Liliencron, dem Kleist ein »Abgott« 74 war und dessen Werke er als »Heiligtum« 75 verehrte, seinen Besuch am Kleinen Wannsee im Mai 1897: Gestern besuchte ich bei Wannsee das einsame Grab Kleists. Es sah sehr conventionell aus. Ein eisernes Gitter zu vielleicht 50 M. (ohne jede künstlerische Arbeit.). Ein kleiner weißer Sandstein mit Namen u. Datum und einem Vers, den ich nicht lesen konnte. Und um das Grab, innerhalb des Gitters, zahlreiche blühende Topfgewächse. Das Ganze war gut erhalten. Aber das Grab machte mir den Eindruck als das eines im Leben gut situiert gewesenen Schneiders oder Schusters. Weßhalb hat das Deutsche Volk nicht für ein würdiges Denkmal an Ort und Stelle gesorgt?76 Der wie Hirschfeld aus einem jüdischen Elternhaus stammende Theaterkritiker und Dramaturg Julius Bab, der sich in gleich zwei Gedichten mit dem Dichter-Grab auseinandersetzt, versucht ihm hingegen einen jeweils deutlich anders akzentuierten Verweis- und Symbolcharakter zuzuweisen. Hierbei repräsentiert er zunächst die typisch >avantgardistischen< Positionen seiner Generation. Das Gedicht 21. November 1900, das die offenbar in dieses Jahr fallende Koinzidenz von Büß- und Bettag und dem Todestag Kleists zum Ausgangspunkt einer dichotomisch angelegten Meditation über wahre und heuchlerische, verinnerlichte und rein äußerliche Formen der Buße nimmt, ist geprägt vom Vorwurf, daß der Tod Kleists auch zur Jahrhundertwende nicht gesühnt sei, daß er sich weiterhin zwischen unglücklichem Tod und noch nicht erfolgter Erlösung befinde und so eine gleichsam >offene< Wunde am Körper des offiziellen Preußen darstelle:

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Ebda., S. 1202. Liliencron an Theobald Nöthig (24. November 1884) (zitiert nach Goldammer (1976), S. 97). Liliencron an Georg Minde-Pouet (16. Dezember 1906, zitiert nach Sembdner (1996) II, S. 325, Nr. 369b) in seiner Danksagung nach einer Vortragsreise nach Bromberg, zu der ihn Minde-Pouet eingeladen hatte: »Die Kleistausgabe, die Sie mir in so gütiger Weise schenkten, ist mir ein Heiligtum.« Lilliencron an Carl Gutmann (7. Mai 1897 (wie Anm. 50, S. 94)).

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Wir standen still am Grabe Kleists./ Der preuß'sche Staat hielt einen Büß- und Bettag/ Zur sanften Sühne aller sünd'gen Seelen,/ Und in den Kirchen predigte man viel. Wir waren nachmittags hinausgefahren,/ Als schon das Dunkel auf die Häuser sank./ Nun stiegen graue Nebel aus dem Wasser,/Auf dem von Villenschlössern andern Ufers/ Blaßgelbe Lichter mild und müde bebten./ Die schwarzen Fichten rauschten durch die Nacht. Hier war kein Mensch gestanden,/ Seit vielen Stunden, ja vielleicht seit Tagen. — / Und war doch heut sein Todestag gewesen,/ Tag seines furchtbar, ungesühnten Todes - / Und keine Blume lag auf diesem Stein./ Wir standen still am Grab des großen Dichters./ Die Fichten rauschten einsam durch die Luft./ Der preuß'sche Staat hielt einen Büß- und Bettag. 77 Der B e s u c h am »Grab des großen Dichters« ersetzt den Kirchgang, so läßt sich resümieren. U n d wird - als Stätte wahrhafter B u ß e - zur neuen >KircheWir< - >Sie< modifiziert zugunsten einer Lyrik, die Kleist z u m Gewährsmann preußischer Tugenden, z u m Vorbild im Krieg, z u m nationalen Autor erklärt. D i e innere Kehrtwende - v o m Vorwurf, Preußen verkenne seine großen Dichter, zur Feier des Krieges mit all seinen furchtbaren Konsequenzen - scheint extrem und geradezu utopisch, denn: w o in der Realität lassen sich schon die »Kriegsgesetze« und die »lieblichen Gefühle« friedlich vereint denken? 7 8 In seinem Gedicht An Kleist.

(21. November

1914) heißt

es dementsprechend: Genius der Stunde! Da dein Tag erschien,/ dein Todestag im Jahr, da viele sterben,/ und viel erzeugt wird, sprechen wir, die Erben/ am Amt, das du geschaffen hast: ich dien! Wie schmolzest du mit Preußens hartem Erz/ der deutschen Seele schweres Gold zusammen; aufglühend flöß bei deines Geistes Flammen/ der reinste Kern in stärkste Form. Dein Herz, Dein großes Herz verzehrte sich im Brand,/ daran so kostbar Werk zuerst geschmiedet./ Es liegt dein Grab so kriegerisch umfriedet,/ das deutsche Grab am See in märkschem Sand. Und aus dem Scheiterhaufen dieser Gruft/ muß heute, heute sich der Phönix heben:/ Was zahlt ihr Leiber, soviel tausend Leben,/ wenn nicht für Seelen groß wie Himmelsluft?! Auf starkem Klang von kriegerischen Märschen/ schwebt strahlend einer Flöte Geisterhauch:/ >Das Kriegsgesetz, ich weiß es wohl, soll herrschen,/ jedoch die lieblichen Gefühle auch!< A u c h in dieser chauvinistischen, v o m aktuellen Kriegsgeschehen geprägten Lesart spielt die nun z u m »deutschen Grab« stilisierte Grabstätte Kleists eine maßgebliche Rolle, nicht zuletzt durch den Rückgriff auf die bewährte Terminologie christlicher Prägung. D i e zur N a c h f o l g e Kleists berufenen >JüngerWallfahrerKleistKult-Texte< erscheint symptomatisch für eine Form des Umgangs mit Dichtern, die eigentlich nur im Kontext der Nietzsche-Verehrung überhaupt verständlich wird. Ob infolge der von dessen Werk ausgelösten Erschütterungen in Glaubensfragen entstanden oder parallel zu den Bemühungen exponierter Nietzscheaner, in Weimar eine Kultstätte mitsamt >Nietzsche-Kirche< für den Philosophen zu errichten,82 - der in den vorgestellten Texten sich niederschlagende >Kleist-KultKleist-Mythos< mündet, läßt sich ohne die Nietzsche-Rezeption der beginnenden Moderne kaum denken. Und so hat man letzlich wohl das Phänomen der profanisierten Wallfahrt, das der emphatischen literarisierten Dichterverehrung als ein Nebenprodukt des in dieser Zeit gleichfalls propagierten >Nietzsche-Kultes< aufzufassen. Die von Nietzsche gedanklich vorangetriebene Relativierung der christlichen Kirchen hatte eben vor allem zur Folge, daß man sich auf die Suche nach Ersatz

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Kirchner (wie Anm. 16, S. 15): Am Grabe Heinrich von Kleists·, ähnlich Paul Stefans Grab am Wannsee (wie Anm. 52, S. 1141): »Wir wähnten damals uns dem Leid verwandt,/ Dem heiligen, das diese Stelle weihte.« Am Grabe Kleists [1911] (Erler (wie Anm. 4), S. 35). Karl Strecker: Kleist-Sonette. Die Eiche auf dem Grabe des Dichters flüstert im Nachtwind. In: Minde-Pouet (1927), S. 54-57, hier S. 56f.: »Das Mondlicht spielt an Grabesgitterstäben,/ Als ob ihr Eisen hell von Zähren glänze,/ Es flicht sein Silber in die Totenkränze,/ Die leis im Nachtwind flüstern und erbeben. // Seht ihr ums Grabmal lichte Geister schweben?/ Im Dämmer zur Musik der Sphärentänze? Das sind des Dichters ungelebte Lenze,/ Die ihm ein grausam Schicksal nicht gegeben. // Sein unvollendet Träumen Hoffen - Lieben/ Ist nicht in meiner Wurzelfaust vermodert,/ Oh: das ist treu bei seinem Volk geblieben;/ Zu stark von seiner Herzensglut durchlodert,/ Als daß es würgen könnt' der Henker Tod - / Still! Über'm Wannsee glimmt das Morgenrot.« Vgl. Canzik (wie Anm. 11); Steven E. Aschheim: Nietzsche und die Deutschen: Karriere eines Kults. Stuttgart; Weimar 1996, S. 219.

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für den häufig schmerzlichen Verlust begab und sich Ersatzkulten zuwandte. Den in diesem Kontext entstehenden >Kleist-Mythos< sollte man - wie den gedanklich verwandten Dichterkult um Hölderlin - demgemäß auch verstehen als den Versuch einer neuen und grundsätzlichen Sinnstiftung.

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VI.

Kleist-Kitsch - das Triviale und die Popularität

Abschließend nun soll die Rede sein vom »Rankenwerk um die Säulen großer Meister« (Hildesheimer),1 von den Dokumenten der Huldigung und der Devotion. Die im Kapitel »Die Sprache der Verehrung« beschriebenen Formen der verbalen Dichtereloge haben - bei all ihrer tiefen Ernsthaftigkeit - bisweilen eine Kehrseite: der Versuch, sich weihe- und würdevoll dem Objekt der Verehrung anzunähern, birgt in sich rhetorische Hürden, die das erklärte Ziel in weite Ferne rücken lassen können. Allzu häufig nämlich stehen hierbei Inhalt und Form des Gesagten in krassem Mißverhältnis, über Gebühr wird da simplifiziert und banalisiert, Bilder wirken überfrachtet oder >schief< - und all dies in der Absicht, überaus hehre Empfindungen auszudrücken.2 Solcher Dichter-Kitsch aber signalisiert zu allererst eine weit verbreitete Popularität, und mag die Art und Weise der Huldigung heute auch noch so fragwürdig, peinlich oder grotesk anmuten. Verstanden werden kann er nämlich nur von denen, die den Dichter oder seine Werke (in welcher Form auch immer) kennen. Im Gegenteil sogar: solche Trivialisierung des Autors kann zugleich pädagogischem Zwecken dienen, indem das komplexe Erscheinungsbild von kreativer Persönlichkeit und Werk so weit reduziert wird, daß es leichter zugänglich scheint und so problemloser ein größeres Publikum erreichen kann. Kitsch sei daher im konkreten Fall ganz pragmatisch verstanden als eine Textsorte, die Triviales zum Autor auf triviale Art und Weise vermittelt: durch Klischees, durch Verklärung, Idyllik und Süßlichkeiten an Stellen, an denen sie nicht angebracht erscheinen, durch einen hohen Anspruch an das Auszusagende, der durch die hierfür gebrauchte Form nicht eingelöst wird. Im Falle Kleists entstanden solche Texte in größerem Umfang seit Beginn des 20. Jahrhunderts, insbesondere aber im Kontext des Gedenkjahres 1911, um auf Dichterfeiern oder als Prolog zu Aufführungen zu dienen. Daher überrascht die relativ große Zahl an Gedichten in diesem Zusammenhang kaum. Jedoch ist >DichterKitsch< keineswegs an gereimte oder in Verse gefaßte Sprache gebunden, genauso kann er - als ein strukturelles Merkmal gewissermaßen - auch in Essays oder Reden zutage treten, und dies weitgehend unabhängig von Weltanschauungen. Wenn im folgenden einige Texte beispielhaft herangezogen werden, soll damit weder über

Wolfgang Hildesheimer: Meine Erlebnisse im Zeitalter der Ausrufe. In: ders., Lieblose Legenden. Frankfurt 1989, S. 110. Vgl. Walther Killy: Deutscher Kitsch. Ein Versuch mit Beispielen. Göttingen 81978. (Kleine Vandenhoeck-Reihe 1125), S. 9-33.

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>gute< und >schlechte< Dichterverehrung gerichtet noch soll ein Beitrag zur Theorie des Kitsches geleistet werden, der den Rahmen dieser Arbeit per se sprengen würde. 3 Notwendig hingegen erscheint es, phänomenologisch gleichsam die Spielarten solchen Kitsches bzw. die ihm zugrundeliegenden und Sprache gewordenen Denkmuster zu klassifizieren. Sie nämlich legen, nicht zuletzt durch ihre gehäufte Verwendung, das Bild vom Dichter zumeist öffentlich fest, konstituieren es damit substantiell und werden so zum elementaren Bestandteil auch von dessen >WiederentdeckungÜberfrachtung< der gewählten Bilder und 4. die Tendenz, Analogien zu historischen und/oder mythischen Figuren zu entwickeln. Das sicherlich krasseste Beispiel in der Geschichte des Kleist-Kitsches hat der schlesische Bergrat, Lyriker, Epiker und Dramatiker Hermann von Festenberg der Nachwelt in seinem 1911 veröffentlichten Vers-Opus Ein Dichterleben hinterlassen, einem »Gedenkblatt zum hundertjährigen Todestage des Vaterländischen Dichters Heinrich v. Kleist«, in dem die genannten Merkmale geradezu exemplarisch vereinigt werden. Auf 147 Seiten schildert er, eingeteilt in »Prolog« und zwölf Abschnitte, die Biographie Kleists in vierhebigen trochäischen Versen, deren jeweils zweite sich miteinander reimen. Die solcher Formgebung ohnehin eignende Tendenz zur Glättung und Harmonisierung spiegelt jedoch in ihrem antiquierten Erscheinungsbild im Jahr 1911 nicht nur die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, sondern verstößt überdies gegen das (rhetorische) Gebot, einen Stoff angemessen zu behandeln - denn was entzöge sich wohl mehr einer Darbietung in leichten Reimen und gleichförmigem Versmaß als das von Kleist selbst so heftig und häufig empfundene Unglück, das ihn im Leben rastlos machte und bis in den Tod trieb? Die Form jedoch spiegelt den dargebotenen Inhalt nur allzu sehr. Alle wesentlichen biographischen Stationen werden da aus dem Blickwinkel einer preußischpatriotisch orientierten Weltsicht und unter dem Eindruck des um Königin Luise entstandenen Mythos geschildert: 4 Kleists Jugend im Umfeld des preußischen Militärs, seine Freundschaften, 5 sein Abschied vom Heer zugunsten der Universitäts-

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Vgl. Uwe Baur: Prozesse der Kanonisierung österreichischer Literatur. In: W. SchmidtDengler (Hrsg.): Die einen raus - die anderen rein: Kanon und Literatur: Vorüberlegungen zu einer Literaturgeschichte Österreichs. Berlin 1994. (Philologische Studien und Quellen 128), S. 204-207; Helmut Kreuzer: Trivialliteratur als Forschungsproblem. Zur Kritik des deutschen Trivialromans seit der Aufklärung. In: Deutsche Vierteljahrsschrift 41 (1967), S. 173-191. Vgl. Wulf Wülfing; Karin Bruns; Rolf Parr: Historische Mythologie der Deutschen. 17981918. München 1991, S. 59-111. Ein Dichterleben, erzählendes Gedicht von Hermann von Festenberg. Ein Gedenkblatt zum hundertjährigen Todestage des Vaterländischen Dichters Heinrich v. Kleist. LeipzigGohlis 1911, S. 9: »Ernst von Pfuel und Hans von Rühle,/ Der genannt von Lilienstern/ Hatten beide Heinrichs Wesen/ Trotz gar mancher Schrullen gern!« Ebda., S. 5-17.

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ausbildung, 6 die Probleme, seinen Lebensentwurf in die Tat umzusetzen, die Kontakte zu Wieland und Goethe, 7 die stets alerte Sorge ums Vaterland8 ebenso wie seine Kontakte zur romantischen Schule, 9 der Mißerfolg 10 und schließlich sein Tod. Daß sich Festenbergs Entwurf jedoch eher als eine Moritat liest, denn als ein ernsthafter biographischer Versuch, als der er durchaus gemeint war, mag vornehmlich in der grundsätzlichen Schwierigkeit liegen, eine komplexe Persönlichkeit wie die Kleists, derart formelhaft reduziert schildern zu wollen. Daß die Banalisierung des Dichters hier zudem in ungeahnte Höhen bzw. Tiefen vorangetrieben, sein Leben und Werk verharmlost, verniedlicht, harmonisiert und so zugleich reduziert werden, mögen einige, beinahe beliebig dem Werk zu entnehmende Passagen belegen. Zum gefällig-unterhaltsamem sujet, zum Episodischen mit Neigung zur Redundanz etwa wird das Leben Kleists reduziert, wenn akute Notlagen und private Katastrophen wie die Trennung von Wilhelmine von Zenge, 11 die Kant-Krise 12 oder der krankheitsbedingte Aufenthalt bei Wedekind harmlos-leicht und geradezu idyllisch dargeboten werden. 13 Naturgemäß beinahe kulminiert die biographische Schilderung in der Selbstmord-Episode, in der Henriette Vögel als die eigentliche Initiatorin der gemeinsamen Tat beschrieben wird, auf deren Vorschlag Heinrich reagiert, als handele es sich um einen Sonntagsausflug bei schönem Wetter: Die Novemberstürme brausten/ Durch das deutsche Vaterland/ Als bei Henriette Vogel/ Abends Kleist im Zimmer stand,/ Das auf's Beste ausgestattet/ Und behaglich ward durchheizt,/ Auch an Speis' und edlem Tranke/ Wurd' im Hause nicht gegeizt./ Und da saß in tiefem Sinnen/ Kleist bei seiner Freundin jetzt,/ Die, entsprechend seiner Bitte,/ Sich an das Klavier gesetzt./ Ihrer Stimme Wohllaut tönte/ Weit hinaus in dunkle Nacht,/ Bis die wundersamen Klänge/ Sich verloren wieder sacht!/ Heinrich sprach zu seiner Freundin:/ >Wie ein Sang aus lichten Höhn/ Klang Ihr Lied! Ich kann nur sagen:/ Das war

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Ebda., S. 57. Ebda., S. 12, 89ff., 114. Ebda., S. 118. Ebda., S. 135. Ebda., S. 50f.: »Eine von des Fischers Töchtern,/ >Mädeli< ward sie genannt,/ Führte Heinrichs kleine Wirtschaft/ Und es Schloß der Neigung Band/ Rasch sich um die jungen Herzen,/ So daß Heinrich ganz vergaß/ Wilhelminens zu gedenken,/ Die daheim in Tränen saß./ Aber der getreuen Schwester/ Schrieb er jetzt im Monat Mai,/ Daß ein Häuschen er gemietet / Und vollkommen glücklich sei!« Ebda., S. 31f. passim, u. a.: »Aber ach, er fand die Wahrheit,/ Der sein ganzes Forschen galt/ Nicht in Kants Erkenntnislehre/ Und das trieb ihn mit Gewalt/ Fort von seinem Arbeitstische,/ Jeder Halt ward ihm geraubt,/ Seit das Ideal entschwunden,/ Dem er treu bisher geglaubt!« Ebda., S. 78f.: »Ostwärts schritt er, noch befangen/ Wie in einem bösen Traum,/ Glücklich bis ans Ziel zu kommen,/ Daran glaubt' er selber kaum./ Denn tagtäglich wurd' er matter/ Und das Wandern macht' ihm Pein:/ Eine schwere Nervenkrankheit/ Schien dem Ausbruch nah zu sein!/ Bis nach Mainz, in jenen Tagen/ Schon in der Franzosen Hand,/ Schleppt' er sich, wo endlich Pflege/ Er im Krankenhause fand./ Und ein Arzt, ihm wohl gewogen/ Pflegt' ihn wie das eigne Kind!/ Dieser Wackre trug den Namen/ Hofrat Doktor Wedekind.«

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zum Erschießen schön!Von »Erschießen« sprachen Sie?/ Dieses Wort klingt in den Ohren/ Mir wie süße Melodie!/ Denn von meinen Leiden wünscht' ich/ Gern für immer auszuruhn!/ Doch wo ist der Freund zu finden,/ Der bereit, mir das zu tun?AbschiedsbriefeBlutige< und so zutiefst >Unharmonische< der Tat kollidiert zu sehr mit dem von Festenberg verfolgten Prinzip eines pädagogisch inspirierten delectare, als daß es in voller Heftigkeit zugelassen werden könnte. Entschuldigend und zugleich in Schutz nehmend wird daher am Ende des Textes eine fiktive Dichtergedenkfeier am Wannsee geschildert: Sein Geburtstag war ja heute/ Und gedacht ward seiner viel,/ Der in geistiger Umnachtung/ Seinem Leben setzt ein Ziel!17

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Ebda., S. 142f.; vgl. S. 3, den Prolog: »Verzweifelnd am Erfolge deiner Dichtung/ Beschrittest du den Pfad zur Selbstvernichtung!« Ebda., S. 143. Vgl. Kleist und Henriette Vogel an Sophie Müller (20. November 1811; in: Briefe von und an Heinrich von Kleist. 1793-1811. Hrsg. von Klaus Müller-Salget und Stefan Ormanns. Frankfurt 1997. (Bibliothek deutscher Klassiker; 122), S. 511f„ Nr. 253): »Der Himmel weiß, meine liebe treffliche Freundin, was für sonderbare Gefühle halb wehmüthig halb ausgelassen, uns bewegen, in dieser Stunde, da unsre Seelen sich, wie zwei fröhlige Luftschiffer, über die Welt erheben [...] wir unsrer Seits wollen nichts von den Freuden dieser Welt wissen, und träumen lauter himmlische Fluren und Sonnen, in deren Schimmer wir, mit langen Flügeln an den Schultern, umher wandeln werden« und Heinrich an Ulrike (21. November 1811; ebda., S. 513, Nr. 255): »[...] wirklich, du hast an mir gethan, ich sage nicht, was in Kräften einer Schwester, sondern in Kräften eines Menschen stand, um mich zu retten: die Wahrheit ist, daß mir auf Erden nicht zu helfen war. Und nun lebe wohl; möge dir der Himmel einen Tod schenken, nur halb an Freude und unaussprechlicher Heiterkeit, dem meinigen gleich: das ist der herzlichste und innigste Wunsch, den ich für dich aufzubringen weiß.« Ebda., S. 146.

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Festenberg fällt es schwer, (wie im übrigen den meisten von der Nützlichkeit des Dichters für die preußisch-deutsche >Sache< überzeugten Kleist-Exegeten) mit dessen Selbsttötung umzugehen. Ein >gesunderNicht so vieles Federlesen!/ Laß mich immer nur herein,/ Denn ich bin ein Mensch gewesen/ Und das heißt ein Kämpfer sein!Schwundstufe< präsentiert: der erste Robert Guiscard-Entwurf hat vor dem nüchternen Dichter keinen Bestand (»Und das Werk, was ihm gelungen/ Mit dramatischem Geschick,/ Wies er nach der Prüfung von sich/ Nun mit kalter Selbstkritik!«);19 Die Familie Schroffenstein dient eher dem Broterwerb als der künstlerischen Selbstverwirklichung;20 das Schreiben selbst, mit dem sich Kleist nachweislich so unendlich schwer tat, wird bei Festenberg zur Erledigung alltäglicher Arbeit.21 Und beinahe lakonisch wird festgestellt: Und mit Heilbronns holdem Kätchen/ Hatte der Verfasser Glück,/ Im Geschmack der Zeit geschrieben,/ Wurde aufgeführt das Stück. 22

Als künstlerische Mißerfolge Kleist schließlich doch in größte Nöte bringen,23 naht die Errettung - de us ex machina - durch das projektierte Eingreifen der Königin Luise: Bei verschiedenen Verlegern/ Klopft' er jetzt vergeblich an,/ Denn der Mißerfolg in Weimar/ Lag auf ihm als schwerer Bann./ Und so kam mit seinen Mitteln/ Er sogar in solche

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Der Dichter zur Huri im Gedicht Einlaß (Buch des Paradieses) aus dem West-östlichen Divan. Festenberg (wie Anm. 5), S. 40; vgl. 58f., 74f. Ebda., S. 50: »Sollte doch in kurzem Heinrichs/ Trauerspiel vollendet sein,/ Dem den Namen er gegeben:/ Die Familie Schroffenstein./ Und da würd' ihm ja von Geßner/ Klingend ausgezahlt der Lohn/ Seiner Arbeit. Bei bescheidnem Leben reicht's ein Jährchen schon!« Ebda., S. 93: »Und so nahm er alte Pläne,/ Halb schon fertig, wieder auf./ Sein zerbrochner Krug vollendet/ Ward in raschem Siegeslauf,/ Auch Amphytrion, des Meisters/ Moliere Lustspiel reizte ihn/ In der Weise umzumodeln,/ Daß es deutscher Art erschien«; ebenso en passant entsteht auch Penthesilea (ebda.). Ebda., S. 118.

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Not,/ Daß er oft verzichten mußte/ Auf ein warmes Mittagbrot!/ >Aber Hoffnung*, sagt' auch jetzt er/ Muß bei den Lebend'gen sein!/ Ja gewiß! Sein Prinz von Hornburg! Würd' ihn von der Not befrein!/ Denn der gute König liebe/ Ja die edle Schauspielkunst/ Und er käme drob bei Hofe/ Sicherlich in neue Gunst,/ Schaute dies im Schauspielhause/ Das verehrte Herrscherpaar,/ Auch die Königin Luise,/ Die so hold geneigt ihm war!24

Die in Festenbergs Dichterleben inhaltlich manifest werdende Trivialisierung des Dichters korrespondiert mit der hierfür verwendeten Sprache. Z u m Formelhaften neigende Redewendungen, überfrachtete Bilder wie Typisierungen von Personen und Gefühlen begegnen häufig im Text. Schwester Ulrike etwa wird immer wieder mit dem Epitheton »treu« versehen, 2 5 Königin Luise agiert stets »huldvoll«, hat als »Landesmutter« ein »holde [s] Antlitz« 26 und ist durch »Anmut« gekennzeichnet, 2 7 die ihre »wackern Bürger« freudig zur Kenntnis nehmen. 2 8 Daß nicht nur sie sich dieses (offenkundig beliebig übertragbaren) Attributes erfreuen, belegen der »wackre« 2 9 Rühle von Lilienstern und der »wackere Gardereiter« 3 0 Fouque, die gemeinsam mit Ernst von Pfuel 3 1 zudem den Part der (soldatisch) »treuefn] Kameradschaft« übernehmen. 3 2 Kleist selbst wird entsprechend als liebenswert-schrullig, 33 edel 3 4 und ein wenig lebensfremd, weil vergeistigt geschildert, 35 gleichwohl aber stets dem schönen Geschlecht zugeneigt. 36 Seine auch von Festenberg nicht zu leugnenden psychischen Krisen wirken demgemäß geradezu harmlos, 37 wie auch das >Krankhafte< an ihm unmaßgeblich ist: »Doch da kam ihm die Erinnrung,/ Die ihn riß aus trübem Wahn:/ Daß das Wandern in die Ferne/ Ihm des öftern wohlgetan!« 3 8 Ein nicht ganz, aber doch ziemlich >normales< Leben wird hier geschildert, eines, das bürgerlichen Maßstäben zwar nur bedingt standzuhalten vermag, aber doch zu entschuldigen ist ob der schwierigen Umstände und angesichts des guten Willens, den man Kleist ungefragt unterstellte. Der Dichter wird so weitestgehend reduziert auf das (spieß-bürgerliche Weltbild, mit seinen Koordinaten: Vaterlandsliebe, Exi-

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Ebda., S. 114fr. Ebda., S. 135. Ebda., S. 4, 19, 35, 43, 51; vgl. S. 57, 80, 86, 109f. Ebda., S . 6 ; v g l . S. 8, 10, 135f. Ebda., S. 7; vgl. S. 125, 129. Ebda., S. 7; vgl. S. 37, 79. Ebda., S. 13. Ebda., S. 13; vgl. der »wackre Brokes« zählt zu dieser Garde ebenso (S. 14). Ebda., S. 67f., wird auch er als der »wackre Pfuel« geschildert. Ebda., S. 9; vgl. das Epitheton »treu« im Zusammenhang mit Freundschaft in allen Varianten etwa S. 13, 16 (»Emst von Pfuel, der Vielgetreue«), 26, 28, 32, 67ff., 72, 92, 96f. Ebda., S. 9; vgl. S. 32 (»Und verstanden das verschrobne/ Wesen ihres Freundes nicht./ Also blieb mit seinen Schrullen/ Heinrich wiederum allein«), Ebda., S. 9; vgl. S. 23 (»sein innrer Seelenadel«). Ebda., S. 14, 21f„ 27, 87, 93, 111. Ebda., S. 23, 60f„ 79, 104f„ 117, 132f. Ebda., S. 30, 40f„ 43, 62, 71, 80. Ebda., S. 33, 74f„ 82.

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stenzsicherung und privates Glück. Die Frage nach den Merkmalen des kreativen Genies, die zur gleichen Zeit zahlreiche Psychoanalytiker beschäftigte, stellte sich aus dieser Sicht überhaupt nicht, denn Kleist war danach im Grunde ein >Bürgerrechts< und >linksPreußen< mit dem Kleists, wobei er noch zusätzlich den Mythos >Schweiz< ins Spiel bringt, als er Kleist sich auf Wilhelm Teil, den Protagonisten Schweizer Freiheit (und somit indirekt auch auf Friedrich Schiller) berufen und die Szene in einem preußischen Rütli-Schwur kulminieren läßt: HEINRICH VON KLEIST FASST FUSS NEBEN STEIN, JAHN U N D SCHARNHORST.

H. v. Kleist Wer mich auf Teilens Armbrust weist,/ der hat erkannt mein tiefstes Sinnen,/ mein heimlich-düstres Gedankenspinnen./ Ich bin der Dichter Heinrich von Kleist./ Des Teilen Tat, des Geßlers Tod,/ war wohl am Ende ein Ende der Not./ Von Geburt bin ich preußischer Kriegs-Aristokrat./ Unser König ist ein Kunktator, ich will die Tat./ Zwar schrieb ich ein Stück: die Herrmannsschlacht./ Das war eine Tat: aber nur gedacht./ Damit kann ich mich nicht begnügen./ Meine Schläfen glühn, meine Pulse fliegen./ Ich liege in einem brennenden Bette./ Nachts wecken mich Stimmen: rette, rette!/ Rette uns vor dem Weltenknechter,/ dem unbarmherzigen Menschenverächter./ Aber da ist kein Widerstand,/ außer das Messer in meiner Hand./ Mein Tag würde anbrechen,/ könnt ich den Korsen niederstechen. Erster Bürger Ins Karzer mit allen Narren und Schwärmern,/ malkontenten, gefährlichen Lärmern!/ Erst Verseschmied, dann Attentäter!/ Erst Winsler und Dusler, dann Hochverräter! Turnvater Jahn Unsrethalben erstickt in eurer Verblendung:/ wir aber, wir schwören zu unserer Sendung. JAHN, SCHARNHORST, STEIN, G N E I S E N A U UND KLEIST ERHEBEN DIE H Ä N D E ZUM S C H W U R . 5 2

Und selbst in dieser Gemengelage von Mythen fand sich noch Platz für einen Seitenblick auf die zeitgenössischen kulturpolitischen Diskussionen des Kaiserreichs, denn, was der »Erste Bürger« gegen »Kleist« vorbringt, sind die Argumente, die Zensur und restriktive Maßnahmen gegen die Künstler der Moderne letztlich rechtfertigen sollten. Daß hierbei wiederum das Schwarz-Weiß-Schema von den Kleist gegenüber verständnislosen Zeitgenossen aus dem bürgerlichen Lager auf eine aktuelle Gegenwart übertragen wird, Hauptmann also hier gewissermaßen in eigener Sache agiert, liegt nahe angesichts von dessen Selbstverständnis als eines der zumindest in der Frühzeit maßgeblichen Protagonisten eben dieser Moderne.

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Karl Strecker: Kleist-Sonette [1911]. In: Minde-Pouet (1927), S. 54-57. Gerhart Hauptmann: Festspiel in deutschen Reimen. Berlin 1913, S. 61. Ebda., S. 61.

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Daß der Dichter insbesondere bei Texten aus dem weltanschaulich konservativen und/oder chauvinistischen Lager, in denen er und sein Schaffen beinahe ausschließlich im Hinblick auf ihre Eignung für die deutsche Nation und gegen den Feind Frankreich untersucht wurden, allenfalls als ein Schatten seiner selbst erscheint, verwundert nicht; reduziert wird er hier durch die Ausblendung dessen, was seine Kunst eigentlich ausmacht, auf wenige prägnante, aber gleichwohl gänzlich leere Formeln: Stummer Sänger, deine Lieder/ Ruten durch das deutsche Land./ Denn das Lied, das du gesungen,/ Starb nicht mit des Sängers Tod,/ Und noch ist er nicht verklungen/ Hermanns Kampf für Deutschlands Not [Wildenbruch];53 Ich starb an Deutschland. Seine Schmach und Schande/ Trieb mich zuerst hinaus in fremde Lande [Friedrich];54 Was er ahnte ist vollendet - / Wenn die Parze wieder wendet/ Über Deutschlands Schmach und Nacht,/ Schwört dem Feind mit ernstem Munde,/ Deutsche auf dem Erdenrunde,/ Wieder eine Hermannsschlacht [Bewer];55 Er starb verkannt. Zum lyrischen Geschwätze/ Von damals stimmte nicht sein herber Ton./ Doch jetzt gesundet >deutsches VolkDu bist ein Preuße, besser als sie:/ Doch du paßt nicht in ihre Monarchie./ Auf einem Stern ist, nach Gottes Rat,/ Vielleicht der volkommene Preußenstaat./ Vielleicht, daß da König Friedrich ermißt,/ Daß Heinrich von Kleist kein Fremdling ist./ Ich sterbe in völliger Heiterkeit.]Wohlan! Du bist bereit, ich seh es wohl./ Gott möge uns die Eigenmacht vergeben !deutsch< und >fremdGesundheitReinheitWahrheitKampfbereitschaft und >Kraft< zu Kleists und damit zu deutschen Tugenden stilisiert werden, die trügerischen Schein und >welsche< Schwächlichkeit besiegen sollen. Die hierzu verwendeten Bilder wirken häufig ein wenig >windschiefflüssig< anzunehmen imstande ist, signalisiert das Stichwort »fluten« und weckt - wohl unbeabsichtigt - die eher pejorative Assoziation »Schwall« als »Klang«; dieser flüssige und zugleich aus dem Munde eines Stummen zu vernehmende Gesang verebbt aber nicht etwa wie eine Welle, sondern kann sterben wie der dazugehörige Sänger, also wie eine Person; am Ende dann löst Wildenbruch das Rätsel: das, was da durch deutsche Lande klingt bzw. flutet, ist nicht das Lied des inzwischen offenbar tatsächlich verstorbenen stummen Sängers, sondern der Kampf Hermanns - allerdings wohl gegen und.nicht »für« »Deutschlands Not«. Wildenbruch, berühmt für diese Art von Sprachkunst,59 ist gleichwohl keineswegs ihr einziger Vertreter.60 In diesem, hier nur knapp umrissenen politischen Spektrum war es üblich, unter dem >Dach< des Nationalgedankens die verschiedensten Mythen mehr oder weniger beliebig zu kombinieren. Kleist war hiervon auf zweierlei Weise betroffen, als Person und als Autor. Der Mensch Kleist wurde verklärt durch Attribute, die ihm >deutsche< bzw. preußische Tugenden beilegten: Steig' hernieder, Geist der Treue,/ Kleist, du Bruder, frei und stark,/ Alter brandenburger Leue,/ Deutschlands Eckart, stark in Treue,/ Großer Sohn der sandigen Mark!61

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einer: fahre wohl, ο Leben!«; dieses Gedicht ist ursprünglich Karl Siegen gewidmet gewesen (vgl. DLA Marbach: A: Minde-Pouet 71.1421). Vgl. Theodor Fontane an Georg Friedländer (26. Juni 1885; in: Theodor Fontane: Briefe. Hrsg. von Walter Keitel. Bd. 3: 1879-1889. Darmstadt 1980. [...], S. 400f., Nr. 380): »Ich las dann noch Zeitung und Nord und Süd bis nach Mitternacht. Wildenbruch hat wieder einen furchtbaren Vers gesündigt, der helle Blödsinn, und dieser Mann behauptet, der wiedererstandene Heinrich v. Kleist zu sein. Wenn Kleist nieste, fiel im Verhältniß zu W., ein himmlischer Regen auf die Erde. Das Tollste ist, daß das Publikum ihm gläubig folgt«; vgl. auch Fontanes Tagebucheintrag vom 9. Dezember 1882: »Armer Stümper, der sich einbildet, in Heinrich von Kleists Sattel weiter reiten zu können. Den Sattel hat er vielleicht, aber nicht das Pferd.« (in: Theodor Fontane: Tagebücher. 1866-1882. 1884-1898. Hrsg. von Gotthard Erler unter Mitarbeit von Therese Erler. Berlin 1994. (Theodor Fontane. Große Brandenburger Ausgabe; Tage- und Reisetagebücher 2), S. 189). Vgl. Gustav Schüler: An Kleist [1906], In: Minde-Pouet (1927), S. 22f., hier S. 22: »Hilf uns, wenn der Väter Ehre/ Wanken will im Weltgebraus,/ Schaff uns eine scharfe Wehre,/ Daß der deutsche Geist, der hehre,/ Herrlich schirme Herd und Haus«; diese Passage zeichnet sich u.a. durch die penetrante Verwendung der als >deutsche< Reime geltenden Stabreime aus, der »Väter Ehre« wirkt etwa so kräftig wie ein Strohhalm, der »deutsche Geist« hingegen scheint eng mit den römischen Penaten verwandt zu sein. Ebda.

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Vom getreuen Eckhart, dem sprichwörtlichen Warner und Rater schon in der Nibelungensage, stammen die Eigenschaften, die Kleist der Nachwelt verkörpern soll: Treue, Freiheit, Kraft. Verstärkt wird dies noch durch das entsprechende >WappentierHermann - Karl der Große - Barbarossa - Luther - Friedrich II. - Goethe - Bismarck< vermag er zwar keineswegs Goethes Stelle einzunehmen, 64 wird aber doch wegen der ungeheuren Popularität der Mythen um Hermann, Preußen und den Reichseiniger immer häufiger auch in deren Dienste gestellt, nicht zuletzt, weil postuliert wurde, daß in Kleist Weimar und Potsdam, das dichterische und politische Deutschland, sich vorbildlich und unauflöslich in oder zu einander fanden und verbanden.65 Daß zum Nachweis dieser These keine Konstruktion zu abwegig erschien, führt zurück zum Kitsch, denn auch das sicherlich unpolitischste Stück Kleists - Käthchen von Heilbronn - ließ sich nun kurzerhand als »Prophezeiung auf das Deutsche Reich« lesen. 66 Auf die Frage, ob sich im Drama »auch sonst noch Persönlichkeiten erkennen lassen, die von dem werdenden Deutschen Reiche nicht zu trennen sind«, wird der Verfasser - natürlich - fündig: Wenn mit der Bejahung dieser Frage, die selbstverständlich eine Verneinung nicht ausschließt [!], sich die Auffassung bestätigt, daß der namenlose Kaiser in dem Kätchen von Heilbronn uns als Doppelgestalt mit den so wohl vertrauten Zügen Barbarossas und Kaiser Wilhelms I. anschaut, dann kommt es wie eine tiefe Beruhigung über uns, daß in dem protestantischen Geschlecht der Hohenzollern - durch einen allwissenden Geist dem deutschen Volke zum Führer bestimmt - auch alle die Eigenschaften zu Tage treten müssen, die dem jungen Reiche und der Nation zu Heil und Segen werden. Aus der Welt- und Friedenspolitik unseres Kaisers Wilhelm II., die um den Erdball die Fäden deutscher Beziehungen schlingt und dessen Friedensliebe dem Flug des deutschen Adlers die Richtung zur Sonne gibt, ist das Ziel, das dieser Hohenzoller anstrebt, leicht zu erkennen.67

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Detlev von Liliencron: Prolog zu Kleists Herrmannsschlacht. An Bismarcks zehnjährigem Todestag [1908]. In: ders., Gute Nacht. Hinterlassene Gedichte von Detlev von Liliencron. Berlin 1909, S. 15f.; vgl. Karl Strecker: Heinrich von Kleist. Bielefeld, Leipzig 1912. (Volksbücher der Literatur 40), S. 14f.; Wülfing/ Bruns/ Parr (wie Anm. 4), S. 112-153. Vgl. Adalbert Wiehert.· Bismarck und Goethe. Klassikrezeption der deutschen Geschichtswissenschaft zwischen Kaiserreich und Drittem Reich. In: Klassik und Moderne: die Weimarer Klassik als historisches Ereignis und Herausforderung im kulturgeschichtlichen Prozeß. W. Müller-Seidel zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Karl Richter und Jörg Schönert. Stuttgart 1983, S. 321-339. Philipp Witkop: Heinrich von Kleist. (1777-1811), unser vaterländischer Dichter. In: Beilage zur Kriegszeitung der 7. Armee, Nr. 323, 17. März 1918. F. Mirjam: Das Kätchen von Heilbronn. Eine Prophezeiung auf das Deutsche Reich. Leipzig 1908. Mirjam (wie Anm. 66), S. 19f. (zitiert nach Rolf Busch: Imperialistische und faschistische Kleist-Rezeption 1890-1945. Eine ideologiekritische Untersuchung. Frankfurt 1974, Anhang, S. 17).

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Am Ende kommt also heraus, was heraus kommen sollte, wobei Dichtung und Geschichte beinahe beliebig kombinierbar sind und einander gegenseitig belegen. Wie überhaupt das Käthchen für süßliche Trivialdeutungen prädestiniert zu sein scheint. So konnte schon zu Beginn des Jahrhunderts Robert Kohlrausch feststellen, daß sich am Dufte des >kleinen Veilchensneutralen< Kleist-Kitsch nicht darüber hinwegtäuschen, daß auch die literarischen Avantgarden hiervor keineswegs gefeit waren. Es soll hier nicht auf die bereits ausführlich erläuterten Profanisierungen christlicher Symbolik und biblischer Geschichten eingegangen werden, bei denen die Grenzziehung zwischen ernster und tiefer Verehrung und süßlichem Religionsersatz mit Neigung zu unfreiwilliger Komik überaus schwerfällt, und bei denen sich zudem die Vertreter der Avantgarden besonders hervortaten. Denn im großen Eifer, einen >neuen< Kleist zu entdecken, wurde der Dichter gleichfalls reduziert. Auf eine Kurzformel gebracht, war er der »outsider«, ein »Zufrühgekommener«, dem man nicht zuletzt die heroische Glut seiner Leidenschaft und den hohen Märtyrermuth seiner allzeit tapferen Gesinnung [dankte.] Wir wissen, dass wir ihm auch darin nachleben müssen, und dass das Feuer, das er in unsere Herzen gesäet hat, angefacht bleiben muss, um als reine, unauslöschbare Flamme weiterzubrennen im Kampf um die Gewinnung neuer Ideale. So lebt Kleist als Held und Bruder in unseren Herzen. 74

Der hier beschriebenen Kleist-Nachfolge nach dem Modell der Nachfolge Christi eignen eben auch banale Züge, weil wiederum verschiedenste Sphären - die des Kampfes und des Heldentums, die des Religionsstifters und die der leidenschaftlichen Dichterverehrung - vermischt werden. Dieser Entwurf vom Dichter neigt zum Dramatisieren und damit auch zu einem >Zuviel< der verwendeten Mittel, was zugleich überhöht und trivialisiert:75 Kleist erscheint darin stets als Rastloser und Gehetzter (der »Sänger, der nicht Heim noch Lorbeer fand«), 76 Einsamer (»den einsamsten Gestalter«),77 mit dem Schicksal Ringender (ein »Heros [...] im Kampf um die Befreiung seines Dichterdämons«)78 oder als Der Ringende schlechthin (wie bei Johannes R. Becher);79 permanent als ein Abkömmling der Originalgenies geschildert, durfte es für ihn keine Normalität geben. Und selbst sein Tod erhielt eine neue Qualität, weil er nicht länger als unehrenvoller Abgang tabuisiert und möglichst

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Franz Servaes: Heinrich von Kleist. Leipzig; Berlin; Wien 1902. (Dichter und Darsteller IX), S. 156, 159, 160; vgl. Wilhelm Schmidtbonn: Prolog zur Kleistfeier der Berliner Freien Studentenschaft. In: Blätter des Deutschen Theaters (1911), Nr. 8, 18. November, S. 113f. (»Wir wollen einen Toten feiern, den/ der Tod zu früh aus unserm bunten Garten ausriß [...] Er war zu uns/ hinabgeboren als ein Fremdling«). Vgl. etwa Kleist der Überlebende. Ein Epilog von Berthold Viertel. In: Der Merker 2 (1911), H. 28, II, S. 1151f., hier S. 1152: »Sein Dasein war eine Folge von Katastrophen, sein Werk ist eine Folge von Siegen. Sein Leben blieb ein Fragment, ein merkwürdiger Torso, aber sein Werk wurde Vollendung, monumentale Ganzheit.« Herbert Eulenberg: Zum 21. November 1911. In: Die Lese 2 (1911), Nr. 46, S. 721. Bruno Frank: Kleist. Zum 21. November. In: Minde-Pouet (1927), S. 37. Viertel (wie Anm. 75), S. 1151. Vgl. Wilhelm Herzog: Heinrich von Kleist. In: Die Schaubuhne 4 (1908), Nr. 38, II, S. 2 5 0 253 und 279-285, hier S. 250: »Das Leben Heinrichs von Kleist ist die Tragödie des großen idealistischen Menschen, in dem es gärt und tobt, [...] der mit dem Leben ringt und in diesem Kampf zugrunde geht.«

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kunstvoll kaschiert werden mußte: im Kontext der modernen Ästhetik ließ er sich im Gegenteil preisen und feiern, s o pathetisch und übersteigert allerdings, daß es ans K o m i s c h e grenzt, w e n n Kleist und Henriette Vogel dann am Ende, einen Passus aus e i n e m der Abschiedsbriefe aufnehmend, 8 0 und in e i n e m verklärten Liebestod zu Engeln werden: Da geschah das Wunderbare seines Lebens, als diese kleine, stille, unbeachtete Frau bereit war, mit ihm zu sterben. Aber das Wunderbarste dieses Wunderbaren war die Gnade, die ihm noch zuteil wurde, bevor er sein körperliches Sein mordete: er durfte das Lastende seines Lebens, sein Wesen, von sich abtun. Er durfte den Heinrich von Kleist, der ihn zermürbt hatte mit wahnwitziger Zerfahrenheit, mit nie erlöschenden und nie sich erfüllenden Zielen und mit diesem Jammer um eine verlorene Existenz - diesen Heinrich von Kleist durfte er von sich abtun. [...] Was wissen wir, wie diese letzten Stunden durch ihre Herzen gegangen sind? Nur das Große aus ihnen wissen wir: daß sie von der Erde abschwebten, nicht starben wie Menschen sterben, sondern gleichsam hinübergingen. [...] Und es geschah keine Kälte mehr, keine Jahreszeit, kein Winter. Draußen im Freien nahmen sie das Frühstück. Sie wußten nicht mehr, warum sie fortgingen. Dämmernd ging alles Leben unter. Nur himmlische Fluren waren. Lange Flügel an den Schultern. 81 Allein anerkannte Größe zieht Kitsch nach sich, s o läßt sich resümieren. Schon aus diesem Grund war es nötig, das Spektrum der trivialisierenden Dichterdeutungen genauer auszuleuchten, die sehr anschaulich die große Popularität Kleists insbesondere nach der Jahrhundertwende belegen. Nicht zuletzt auch, weil der so häufig angeführte >Kleist-Mythos< mit seinen weltanschaulich j e w e i l s unterschiedlichen Auslegungen seine Wurzeln gerade in diesem Bereich hat, ja, erst durch diese Abkunft überhaupt so große Verbreitung erlangen konnte. D e n n nur ein auf den >Kern< reduzierter und so letztlich u m seine Komplexität gebrachter Dichter kann - mit allen hierzu gehörigen Verfälschungen, Verzerrungen und Trivialisierungen - einem großen Publikum präsent sein.

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An Sophie Müller (20. November 1811; (wie Anm. 16)). Otto Zoff: Kleists Tod. In: Der Merker 2 (1911), H. 28, II, S. 1154-1157, hier S. 1156f.; vgl. Felix Braun: Kleist und der Tod. In: Der Merker 2 (1911), H. 28, II, S. 1129; Franz Servaes: Das Schicksal Heinrich von Kleist. In: Der Merker 2 (1911), H. 28, II, S. 11341141, hier S. 1140f.: »Und doch wurde dann dieses Ende so reich an Glück und an Schönheit, daß es die verzweiflungsvolle Tragik [...] beinahe vergessen machen könnte. [...] Aber doch, ist diese letzte blumengeschmückte Seeligkeit, mag sie auch aus nächtigen Abgründen emporgestiegen sein, diesem ewigen Opfer finsterer Eumeniden nicht zu gönnen? War sie nicht der einzige karge Lohn für die Wonnen, die er selbst in der Welt gestreut hat und die ein Jahrhundert später, uns, den Nachgeborenen, in ihrer vollen Üppigkeit jetzt aufgeblüht sind?!«

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VII. Ausblick: »kleistisch [...] - was aber wohl nur heißen will: modern.«

Die >Wiederentdeckung< Kleists wurde seit ihren Anfängen als ein außergewöhnlicher Vorgang im Literaturbetrieb wahrgenommen, als ein Ereignis, das eine Stellungnahme geradezu herausforderte. Daß der Schwerpunkt dieser >Wiederentdekkung< sich veränderte und so mit der Zeit auch qualitativ wandelte, daß also unter diesem Begriff in den achtziger Jahren etwas anderes verstanden werden konnte als 1920, mögen abschließend drei zeitgenössische Analysen belegen, die diesen Wandel in der Wahrnehmung Kleists nicht zuletzt als den seines Publikums in der Umbruchszeit zwischen spätem neunzehnten und frühem zwanzigsten Jahrhundert beschrieben haben. Danach lassen sich im wesentlichen drei Stationen dieses Prozesses festhalten: aus dem anfänglich >modischen< wurde recht schnell der institutionalisierte, der >klassische< National-Autor, der schließlich - in einer Art Quantensprung - zum Inbegriff der Moderne sich stilisieren ließ. Die erste dieser jeweils signifikant zeitbezogenen wie -gemäßen Diagnosen stellte Theodor Fontane bereits im Jahre 1884 im Blick auf Otto Brahms KleistBiographie: >Kleist und wieder Kleist< wird es im großen Publikum und vielleicht auch in manchem literarischen Kreise heißen. Und wirklich, nachdem der Dichter des Käthchens von Heilbronn, mit Ausnahme dieses einen Werkes, ein Menschenalter hindurch fast schon zu den Toten geworfen war, hat er in der darauffolgenden Epoche, der unsrigen, nicht nur eine Wiederbelebung erfahren, sondern ist mit seinen Dichtungen und seiner Person geradezu Modesache geworden. 1

Schon Mitte der achtziger Jahre also - und keineswegs erst nach der Jahrhundertwende - konnten aufmerksame Betrachter den entscheidenden Wandel im Umgang mit dem Dichter erkennen, der darin lag, das bis dahin weitgehend auf ein einziges

Theodor Fontane: Otto Brahm, Heinrich von Kleist. In: Vossische Zeitung, 14. Oktober 1884 (zitiert nach Theodor Fontane: Literarische Essays und Studien. Zweiter Teil. Unter Heranziehung der von Kurt Schreinert gesammelten Materialien hrsg. von Rainer Bachmann und Peter Bramböck. München 1974, S. 423-426, hier S. 423); ähnlich auch Emst von Wildenbruch: Lukrezia. Ein Roman. Berlin 1907, S. 87: [Frau Mergentheimer zu Lukrezia] »>Damals, zu meiner Zeit, war Kleist nicht so in der Mode, wie heute. Höchstens, daß man hier und da mal das Käthchen von Heilbronn zu sehn bekam. Und dann wußte man kaum, von wem das eigentlich war; fragte auch nicht danach. Er war so gut wie vergessene - >Wie schrecklich/ seufzte Lukrezia [...] >So ausgeblasen und in den Winkel geworfen zu werden, wie ein ausgepustetes Licht. Institution< geworden und mit den >Insignien< eines nationalen Eigentums ausgestattet worden war: Im letzten Menschenalter schien ja dann Kleists Ruhm und Wirkung gewachsen: zum mindesten mit dem Prinz von Homburg drang er in die Schulen ein, die Bühnen spielten ihn mit der sparsamen Regelmäßigkeit eines Klassikers, die Kleistliteratur schwoll an. Als das Dezimalsystem die übliche Begeisterung für Kleists 100. Todestag entfachte, erlebte man viele dicke Bücher, Festaufführungen und sogar eine Kleiststiftung. Es schien überhaupt etwas wie eine Kleistmode im letzten Jahrzehnt umzugehen. Aber mit eben dieser Mode war die Zeit dem wahren Leben Kleists viel fremder und ferner als irgend eine vorher. Denn diese Mode heftete sich an Symptome, an Aeußerlichkeiten seines Werkes [...].2

Bab beschreibt gleichfalls vor allem eine enorme quantitative Steigerung als den substantiellen Bestandteil der >Wiederentdeckung< Kleists um 1910; die Mehrzahl der kulturellen Institutionen widmete sich ihm nun, die Verlage, die Theater, ein Denkmalskomitee, eine Stiftung. Als Schulbuchautor galt bereits damals ein Dichter am Höhepunkt seiner Popularität, offizieller Akzeptanz und größtmöglicher Reputation angekommen. Und doch sind die dieser zutreffenden Beobachtung zugrundeliegenden tatsächlichen Quantitäten sehr relativ zu sehen: Ein Blick auf die Annalen des Jahres 1910, dem Jahr der Denkmalsenthüllung also, zeigt, daß Kleist keineswegs der einzige aufwendig gefeierte Dichter war. Im selben Jahr beging man in öffentlichen Feierstunden etwa Reuters, Schillers, Benedix' und Mussets Geburtstage sowie

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Julius Bab: Preußen und der deutsche Geist. (Heinrich von Kleist). Konstanz 1915. (Die Zeitbücher 9), S. 15ff.

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Liscows und Scheffels Todestage, errichtete ein Schiller-Denkmal in Königsberg, machte Pläne für ein Wildenbruch-Denkmal, feierte im Stuttgarter »Literarischen Klub« Friedrich Hölderlin, verlieh der »Frauenbund zur Ehrung rheinischer Dichter« Benno Rüttenauer einen Preis in Höhe von 1800 Mark etc.;3 die bessere Gesellschaft gefiel sich im repräsentativen Feiern ihrer Geistesgrößen, in Dichterehrungen jeder Art - auch dies kam Kleists Nachruhm sichtlich zugute. Die Theaterstatistik scheint Babs Diagnose gleichfalls zu relativieren: 214 mal waren seine Werke in der Saison 1909/10 auf deutschen Bühnen gegeben worden, nicht allzu häufig, wenn man berücksichtigt, daß andere Autoren dort wesentlich präsenter waren:4 Schiller (1909 mal), Sudermann (1026), Shakespeare (961), Ibsen (725), Goethe (589), Hauptmann (579) und Lessing (317). Den Rang lief Kleist so lediglich Shaw, Hofmannsthal, Halbe und Nestroy ab, während die Erfolge aller Autoren des >gehobenen< literarischen Theaters verblassen mußten neben denen der >OperettenkönigeKanons< und so zu Repertoirestücken wurden, die allerdings weiterhin eher Probestücke der ambitionierten Avantgarde-Theater blieben und kaum je volkstümliche >Kassenschlager< waren. Von zwei Richtungen her näherte man sich seit den achtziger Jahren Kleist: hatte Fontane die Annäherung vom >Zentrum< her beschrieben, das nach Meinung des »großen Publikums« im überaus populären Käthchen von Heilbronn lag, so benannte Bab die seit der Jahrhundertwende sich durchsetzenden Tendenzen, Kleist von den >Rändern< seines Werkes her zu erobern, denjenigen Arbeiten also, die bis dahin weder Bühnenpräsenz noch allzu große Leserschaft hatten erringen können. In diesem Zusammenhang sollte die Rolle der kulturellen und geistigen Leitfiguren dieser Zeit - Gerhart Hauptmann, Otto Brahm oder Max Reinhardt wären hier zu nennen - nicht unterschätzt werden, weil sie wesentlich dazu beitrugen, ein neues Bild vom Autor für eine größere Öffentlichkeit zu entwerfen. Schließlich kam Kleist eine publizistische Mode der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg zugute, die im Kontext der sich konstituierenden >Gedenkindustrie< stets auf der Suche nach vermeintlich verkannten, verschollenen und frühverstorbenen und dadurch >unvollendeten< Autoren war, an deren >Entdeckung< sich sowohl das Unbehagen gegenüber dem >establishment< ausdrücken wie feuilletonistische Meriten verdienen ließen. Als ein Tasten entlang der Ränder des noch weitgehend unerschütterten Kanons lassen sich diese Arbeiten begreifen, in denen Kleist eine zentrale Rolle zukam. Die hartnäckigen wie erfolgreichen Versuche, ihn zu institutionalisieren und so zum Teil des >KanonsKlassiker< zu erheben, zeitigten so schließlich auch die übergreifende Konsequenz, daß Literaturgeschichte seither differenzierter gesehen

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Vgl. Literarisches Echo (1911), Sp. 392, ebda, und 346, 723f„ 512f.; 346f„ 1177, 346, 469, 546, 920. Vgl. die Theaterstatistik in: Literarisches Echo (1911), Sp. 841f.

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werden konnte: nicht länger galt nun der gewissermaßen >eingleisige< Entwurf der deutschen Literaturgeschichte, dessen Ziel und Höhepunkt in der Weimarer Klassik lag. Ein wesentlich komplexerer Ansatz wurde nun möglich, in dem die >Gipfelliteratur< relativiert bzw. neu gefaßt wurde mit bis heute andauernden Folgen. Im zitierten Text Julius Babs jedoch deutete sich bereits ein neues Unbehagen im Umgang mit Kleist an, eines, das die inzwischen unübersehbare Breitenwirkung des Dichters in Frage stellte, weil diese allein durch die Oberflächlichkeit der Deutung entstehen konnte - so jedenfalls die Position der Leser Kleists aus den Reihen der zahlreichen avantgardistischen Zirkel der Zeit. Deutlich wird dieser Standort vor allem in einer Formel: der eigentliche Kleist< war nun zu entdecken, der niemals der der Massen sein konnte. Dieser Kleist aber wurde unter den Vorzeichen der Moderne in den darauffolgenden Jahren allein von den >Rändern< her entdeckt - es ist derjenige der Familie Schroffenstein, des Robert Guiscard und der Penthesilea. Und so konnte Thomas Mann über Goethes Plan zu Achilleis 1919 festhalten: Das psychologische oder pathologische Motiv: Achill, der weiß, daß er sterben soll, sich in die Trojanerin verliebt und darüber sein Fatum >rein vergißt Wiederentdeckung< als ein von der frühen Moderne statuiertes, gewissermaßen Maßstäbe setzendes Exempel gelten, so daß es naheliegt, die weiteren >Entdeckungen< der frühen Moderne von Grabbe bis Lenz, von Jean Paul und Büchner bis Hölderlin aus diesem konkreten geistesgeschichtlichen Kontext heraus zu verstehen: der >Wiederentdeckung< Kleists nämlich kommt im Gefüge der >Dichterrenaissancen< der frühen Moderne ein zentraler Stellenwert zu, der sich nicht nur chronologisch begründen läßt, sondern vornehmlich auch im Hinblick auf die bewußtseinsklärenden Funktionen, die ihr bei ihren Urhebern zukommen. Bei den späteren >Anwendungen< ändern sich allenfalls Nuancen, nicht mehr aber die grundsätzliche Stoßrichtung der Argumentation, die einen sich vollziehenden Wertwandel zu personalisieren sucht. Die offenkundige Signalwirkung der >Wiederentdeckung< Kleists, die sich in der wohl erstmaligen grundsätzlichen Infragestellung des Kanons >klassischer< Prägung ebenso manifestiert wie in der kultähnlichen Glorifizierung und Überhöhung seiner Person, verweist zurück auch auf den durchaus charakteristischen Kanonisierungsprozeß dieses Autors und auf seine Urheber. Vor allen anderen denkbaren Vermittlern von Literatur sind die Dichter im weitesten Sinne als die eigentlichen Urheber von >Dichterrenaissancen< namhaft zu machen. Dieser Urheberschaft eignen

Vgl. hierzu die Prosaskizze Das Gespräch in Saleh von Hugo von Hofmannsthal (in: ders., Prosa IV. Frankfurt 1955. (Hugo von Hofmannsthal. Gesammelte Werke in Einzelausgaben), S. 252-262, hier S. 261): »Aber die deutsche Sprache ist ein großes Geheimnis. Sie ist euer Schicksal, das des ganzen Volkes und das jedes einzelnen. [...] So gebietet sie euch die Form eures Lebens: euer geistiges Leben ist immer erneute schmerzvolle Neugeburt. Eure Toten sind nicht beständig bei euch, sie sind nicht in einem Saal mit euch, wie die unseren. Aber sie werden euch in wilden Stürmen neugeboren. Heinrich von Kleist, Büchner, Hölderlin: ich sehe diese vor hundert Jahren Verstorbenen stärker in euer Leben eingreifen, als wen immer von den Lebenden.«

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durchaus auch problematische Züge, weil sie häufig genug gekoppelt ist an recht konkrete (und manchmal sogar banale) Interessenlagen. Dennoch fällt auf, daß die >Wiederentdeckungen< im Gefolge der frühen Moderne recht eindeutig rückführbar sind auf die literarischen Zirkel Berlins, später auch auf die anderer geistiger Metropolen wie München oder Wien. In bisweilen geradezu frappierender Personalunion und stets geknüpft an - wie auch immer geartete - avantgardistische Positionen, beginnt die >Wiederentdeckung< Kleists (wie etwa auch diejenige Büchners) im näheren und weiteren Umfeld des Friedrichshagener Dichterkreises, dort also, wo die literarische >Modeme< deutscher Ausprägung ihren Einzug hält. Wie überhaupt sich die Anfänge der >Dichterrenaissancen< noch deutlich darüber hinaus personalisieren lassen: ohne Otto Brahm und Max Reinhardt, ohne Hugo von Hofmannsthal, Frank Wedekind und Gerhart Hauptmann, ohne die vielen, heute unbekannt gewordenen Dichter, Publizisten und Regisseure wären diese frühen >Dichterrenaissancen< undenkbar, die, von überschaubaren avantgardistischen Gruppierungen ausgehend und konzentrisch um diese kreisend, verzögert erst auch eine größere Öffentlichkeit erreichten, der es dann allerdings zukam, die eigentliche Kanonisierung dieser Dichter als Theater- oder Schulautoren zu vollziehen. Undenkbar wären sie allerdings auch ohne die gerade um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert sich wechselseitig durchdringenden geistigen, gesellschaftlichen und politischen Strömungen, denn ohne die Entstehung des Sozialismus, ohne Psychoanalyse, ohne Nietzsches Philosophie wären die sich in den >Wiederentdeckungen< verdichtenden ästhetischen Positionen der Moderne ihrer bahnbrechenden Grundlagen beraubt. Die frühen >Wiederentdeckungen< sind so vor allem als Klärungsprozesse zu verstehen, die über geistige Befindlichkeiten wie Identifikations- und Projektionsbedürfnisse der Dichtergeneration um die Jahrhundertwende Auskunft geben. Sie dienen zu allererst der Selbstverständigung dieses Personenkreises, auch wenn dabei von historischen Personen die Rede ist. Womit ein weiteres charakteristisches Merkmal angesprochen wäre: keine >Dichterrenaissance< ist frei von gewollt manipulatorischen Zügen, vom Bedürfnis nach Kompensation für vermeintliche historische Ungerechtigkeit, das immer auch als ein sehr gegenwärtiges sich zu erkennen gibt. In diesem Zusammenhang ist zu beobachten, daß sich ein mit der Zeit immer stärker werdendes Bewußtsein auch für die Möglichkeiten einstellt, in die Mechanismen des Literaturbetriebes einzugreifen, sie in eine bestimmte Richtung zu lenken und sie so als Instrumentarium eigener Interessenlagen in Anspruch zu nehmen. Wenn auch dieses Wissen um diese Möglichkeiten inzwischen zur Trivialweisheit geworden ist, so mußten deren Mechanismen dennoch zuerst einmal entdeckt werden. Daß an der späten Würdigung verstorbener Dichter von Anbeginn Publizisten und Verleger - wie etwa S. Fischer - beteiligt waren, ist hierbei natürlich nicht unwichtig, wenn man sich auch deren Aktivitäten, wie etwa die Einrichtung der Kleist-Stiftung, zumindest in der Frühzeit kaum als konzertierte Marketing-Strategien aus vorwiegend finanziellem Interesse vorstellen darf. Gerade die Literaturvermittler jedoch lernten durch die >Dichterrenaissancen< die enormen Potentiale der Publizistik, ihre geistige Macht über das Bewußtsein anderer und so auch die eigenen Einflußmöglichkeiten kennen - ein Instrumentarium, dessen sie sich gleichfalls

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mit stetig wachsender Bewußtheit bedienten. Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang auch und gerade die >BrotWiederentdeckungenDichterrenaissancen< begreifen, die die Erneuerung traditioneller Einrichtungen beschleunigten. So veränderten sich die Techniken des Dichtergedenkens - was ein geeignetes >Dichterdenkmal< sei, wurde nun gänzlich anders definiert. Insbesondere aber das Regietheater Reinhardtscher Prägung mit seiner Leitfunktion für zahlreiche Bühnen erhielt erst durch die Inszenierung der bis dahin als unspielbar geltenden Stücke Kleists (wie auch Büchners) seine emphatisch moderne Ausprägung, die sich in innovativer Massen- und Lichtregie ebenso manifestierte wie durch die gleichfalls innovative Bereitschaft, psychische Abgründe, das Häßliche und die Gewalt zur Gestaltungsaufgabe der Bühne zu erklären. Die >Entdeckung< Kleists vollzieht sich in hohem Maße auf der Bühne, was ein gut Teil der ihr eignenden spektakulären Facetten zu erklären vermag; denn die Bühne allein, als ein Medium, deren wichtigstes Charakteristikum Unmittelbarkeit ist, vermag den öffentlichen Diskurs über Literatur gleichsam zuzuspitzen und so auch die Berührung von Publikum und Autor zu erzwingen. Für das Verständnis der Wirkungsgeschichte von Dichtern zeitigen - wie das Beispiel Kleist anschaulich belegt - die >Dichterrenaissancen< überaus problematische Konsequenzen, die zusammenzufassen wären am ehesten wohl in der Formel: die historische Person des Dichters gerät durch seine >Wiederentdeckung< zusehends stärker in Vergessenheit. In diesem Zusammenhang ist namentlich der politische Mißbrauch von Dichtern zu erwähnen, der von allen politischen Lagern exzessiv betrieben wurde. Anders als bei Georg Büchner, an dessen >Wiederentdeckung< namentlich die Kontinuität der Einseitigkeit der auf ihn projizierten politischen Ideen signifikant erscheint - Büchner wird von Anbeginn seiner >Wiederentdeckung< durch die politische und kulturelle >Linke< in Beschlag genommen - , wurde Kleist zeitweilig wenigstens vom >rechten< politischen und >linken< kulturellen Lager zugleich umkämpft, ein Kampf um geistige Besitzstandswahrung, der durch Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg sich eindeutig zugunsten der linksintellektuellen Inanspruchnahme des Dichters verschoben hat, ohne deswegen eine weniger mißbräuchliche Tendenz zu verfolgen. Außerhalb der politischen Sphäre zeitigten die >Dichterrenaissancen< hochkomplexe Resultate, die zudem von einer ganz erstaunlichen Eigendynamik geprägt sind. Ihre verheerenden Wirkungen auf den Kanon, der durch sie als historisch bedingtes Konstrukt gekennzeichnet, relativiert und letztlich aufgelöst wurde, wurden bereits ausführlich geschildert. Überdies setzten sie erhebliche Verklärungspotenti-

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ale frei: das immer wieder postulierte Geheimnisvolle und Plötzliche der >Dichterrenaissancen< nämlich läßt sich auch verstehen als Teil der von den Protagonisten der literarischen Moderne unternommenen Anstrengungen zur Verklärung der eigenen Anfänge: je stärker diese glorifiziert wurden, desto plötzlicher ereignete sich die Rückbesinnung auf verkannte Autoren. Ein reizvoller Entwurf gewiß, der auch in der Literaturwissenschaft viele überzeugte Anhänger fand, die dem eben doch auch der Selbststilisierung dienenden Paradigma >Moderne< gutgläubig vertrauten, nicht zuletzt wohl, weil kein anderes sich in geistig-kulturellen Belangen so überzeugend darzustellen wußte. Die Nähe der >Dichterrenaissancen< zur literarischen Moderne und deren beiderseitige Beeinflussung zeitigte als vielleicht wirksamste Folge ein Phänomen, das sich am treffendsten wohl als literarhistorischer Realitätsverlust bezeichnen ließe, als eine Überlagerung der Geschichte durch den Mythos. Ein typisches Beispiel mag diese Einschätzung verdeutlichen: Gibt es Literatur, wo die Besten, so viele der Auserwählten im Wahnsinn erst, im Tod Erlösung fanden? Gibt es nicht die unsterblichen Namen, den unsterblichsten: Hölderlin? Ging darum nicht Georg Büchner in so frühen Tod, weil sein ungeheurer Ausbruch vorbeizuckte an der Zeit? Verkam darum nicht Grabbe, verreckte nicht Lenz? Stand nicht Hebbel wüst kämpfend gegen die Epoche, schoß Kleist die Kugel nicht durch sein unauslöschliches Leben? Ist nicht solches Schicksal, das ich anrufe, das Tragischste und Panische, die Tragik, die ich beschwöre, wenn ich Nietzsches heiligen Namen nenne?2

2

Kasimir Edschmid: Über die dichterische neue Jugend [1918]. In: ders., Über den Expressionismus in der Literatur und die neue Dichtung. Berlin 1919 (zitiert nach: Nietzsche und die deutsche Literatur. Mit einer Einführung hrsg. von Bruno Hillebrand. Bd. 1: Texte zur Nietzsche-Rezeption: 1873-1963. München 1978, S. 182, Nr. 120); einer der Väter solcher literarhistorischer Gruppenbildungen dürfte wohl Friedrich Nietzsche gewesen sein, der etwa in Schopenhauer als Erzieher eine inzwischen beinahe klassische Formel für diese Problematik fand: »Unsere Hölderlin und Kleist und wer nicht sonst verdarben an dieser ihrer Ungewöhnlichkeit und hielten das Klima der sogenannten deutschen Bildung nicht aus; und nur Naturen von Erz wie Beethoven, Goethe, Schopenhauer und Wagner vermögen standzuhalten« (Friedrich Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen. Drittes Stück: Schopenhauer als Erzieher. In: ders., Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I-IV. Nachgelassene Schriften. 1870-1873. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München 1988, S. 335^27, hier S. 352); ähnlich: Klabund: Literaturgeschichte. Die deutsche und die fremde Dichtung von den Anfängen bis zur Gegenwart. Wien 1929, S. 210: »Wie Schiller Hölderlin fallen ließ, so hat Goethe Kleist in schlimmster Weise vor den Kopf gestoßen«; Florens Rang: Der Wert Heinrichs von Kleist. Eine Rhapsodie. In: Preußische Jahrbücher 124 (1906), S. 401^24, hier S. 405: »Kleist aber ist der Vorgänger Richard Wagners [...] Aber zugleich der Bruder Beethovens«; Wilhelm Herzog: Heinrich von Kleist. Sein Leben und sein Werk. München 1911, S. 8; Alfred Kerr: Torquato Tasso (Johann Wolfgang Goethe) [1913]. In: ders., Theaterkritiken. Hrsg. von Jürgen Behrens. Stuttgart 1971, S. 94: »Stark bleibt für uns die große ... soll man sagen: pathologische? ... Linie: Tasso - Penthesilea - Hebbel.«

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In seinen Gedanken Über die dichterische deutsche Jugend von 1918 gruppiert Kasimir Edschmid keineswegs als erster und einziger historische Geistesgrößen, um damit von ihnen weitgehend losgelöste Sachverhalte zur Sprache zu bringen. Solche literarhistorische Gruppenbildung, in der formelhaft und nur noch scheinbar von den Personen die Rede ist, deren Namen sie verwendet, dient recht eigenlich dazu, durch den ähnlich wie bei der Anrufung der Muse verwendeten Namen, Episoden und Bruchstücke aus dem Leben der Dichter zu evozieren. Aufrufen ließ und läßt sich so das Problem von Verkannt- und Anerkanntsein - auch das von der Trivialität des Scheiterns - in seinen dramatischsten Ausprägungen; ein Problem, das zwischenzeitlich zu einer zentralen Kategorie bei der Bewertung von Literatur avancierte und dadurch, daß es beständig thematisiert wurde, eben auch immer als Signatur der Moderne verstanden werden konnte, die hierdurch die von ihr entdeckten Dichter reduzierte zu Projektionsfiguren der eigenen Weltsicht. Problematisch erscheint dies insbesondere dann, wenn - wie dies der Fall ist - solche, zumeist topisch verwendeten feuilletonistischen Versatzstücke beginnen, auch die literaturwissenschaftliche Wahrnehmung zu lenken und dazu zu verführen, ursprünglich gezielt eingesetzte und historisch gebundene geistige Konstrukte wie das der großen verkannten Dichter, die angeblich ihrer Zeit voraus waren, zu verwechseln mit dem tatsächlichen Hergang ihrer Wirkungsgeschichte und zu verwechseln auch die historischen Personen mit den Fiktionen ihrer späteren Betrachter. Die Einsicht also, daß die nach der Jahrhundertwende forciert betriebenen >Wiederentdeckungen< vor allem eine veränderte Wahrnehmung literaturgeschichtlicher Phänomene nach sich zogen, hat durchaus auch eine Kehrseite: zwar lassen sie sich einerseits als Bereicherung durch die entschlossene Erweiterung des literarischen Horizontes verstehen, andererseits aber eignet diesem solchermaßen erweiterten Bewußtseinsraum zugleich das Merkmal der hemmungslosen Beliebigkeit, mit der Phänomene der Literaturgeschichte seither zunehmend behandelt werden. Hugo von Hofmannsthal schließlich sei es vorbehalten, das Schlußwort und zugleich die Diagnose auszusprechen über das Phänomen der >DichterrenaissancenBuchdramasDantonWeltDer zerbrochne KrugGöchhausen-MythologieDie ganze Welt ist eine Manifestation: die europäische Avantgarde und ihre Manifeste. Herausgegeben von Wolfgang Asholt. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1997. Aspetsberger, Friedbert: Langandauernder Ausschluß aus dem Kanon. Eine wirkungsgeschichtliche Studie zu Arnolt Bronnen. In: Wendelin Schmidt-Dengler (Hrsg.): Die einen raus die anderen rein: Kanon und Literatur: Vorüberlegungen zu einer Literaturgeschichte Österreichs. Berlin: Erich Schmidt 1994. (Philologische Studien und Quellen H. 128), S. 52-70. Assmann, Aleida; Assmann, Jan: Kanon und Zensur. Archäologie der literarischen Kommunikation. II. München: Fink 1987. Baravelle, Robert: Unbekannte Erst- und Frühaufführungen Kleistscher Dramen. In: Jahrbuch der Kleist-Gesellschaft (1929/30), S. 14-26. Bark, Joachim: Zwischen Hochschätzung und Obskurität. Die Rolle der Anthologien in der Kanonbildung des 19. Jahrhunderts. In: Autoren damals und heute. Literaturgeschichtli-

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