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German Pages 320 [314] Year 2011
Heinrich von Kleist
Jochen Schmidt
Heinrich von Kleist Die Dramen und Erzählungen in ihrer Epoche 3. Auflage
Einbandgestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart Einbandabbildung: Ansicht des Brandenburger Tors. Zeichnung, aquarelliert, um 1805, F. A. Calau. Berlin, Märkisches Museum. © akg-images
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. 3., durchgesehene Auflage 2011 © 2011 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt 2., unveränderte Auflage 2009 1. Auflage 2003 Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Satz: Janß GmbH, Pfungstadt Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de
ISBN 978-3-534-24475-1 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-72063-7 eBook (epub): 978-3-534-72064-4
Inhalt
I. Der historische Horizont . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kleists Lebensweg bis zum Beginn der dichterischen Arbeit . . . .
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Absage an die Militärlaufbahn S. 7 – Die Inszenierung der ‚Kant-Krise‘: Abwendung von den Wissenschaften und Entscheidung für das „schriftstellerische Fach“ S. 12
2. Die geistige und politische Situation um 1800 . . . . . . . . . . .
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Aufklärung und Romantik S. 17 – Kleists aufklärerische Kritik an Kirche und Religion S. 22
3. Kleist und Rousseau: Naturkult und Zivilisationskritik . . . . . . 4. Patriotisches Engagement und Preußische Reformen . . . . . . . 5. Zur Kleistforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Die Dramen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Familie Schroffenstein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Entstehung und Grundkonstellation S. 49 – Vorurteil und Voreiligkeit als strukturbildende Elemente S. 56 – Die Zerstörung des Menschlich-Natürlichen als zentrales Thema S. 59 – Shakespeare als literarisches Muster S. 62
2. Der zerbrochne Krug
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Der König Ödipus des Sophokles als dramaturgisches Muster und die klassische Komödien-Situation der ‚verkehrten Welt‘ S. 63 – Aristophanische Vital-Komik und Marthes komische Krug-Rede S. 69 – Strukturanalyse S. 74 – Der Mißerfolg der Weimarer Aufführung und die Bedeutung des ursprünglichen Schlusses für das Gesamtverständnis S. 76
3. Amphitryon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Die Dramenhandlung und ihre mythologisch-literarischen Muster. Amphitryon als Tragikomödie S. 84 – Goethes Beurteilung der Amphitryon-Gestaltungen und Molières Amphitryon S. 87 – Interpretationsmodelle zu Kleists Amphitryon: ein Forschungsüberblick S. 91 – Jupiter als Projektion der Alkmene S. 94 – Alkmenes Selbsterkenntnis S. 98 – Amphitryons „Entamphitryonisierung“ S.100 – Die Schlußpartie S. 102
4. Penthesilea
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
Normenbruch und antiklassizistische Wendung S. 105 – Das Vorbild Euripides S. 110 – Tragödienstruktur und szenische Darstellung S. 113 – Problemgehalt und tragischer Konflikt S. 116 – Penthesileas Sakralisierung des Amazonengesetzes S. 119 – Kleists Definition des tragischen Heldentums S. 124 – Penthesilea als Liebestragödie S. 126
5. Robert Guiskard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 Entstehung S. 128 – Legitimation politischer Herrschaft als Grundproblem S. 130
6
Inhalt
6. Das Käthchen von Heilbronn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Entstehungsmotive und Erfolg des ‚Ritterschauspiels‘ S. 137 – Romantische und märchenhafte Elemente S. 138 – Käthchen und Kunigunde: Die Opposition von Natur und Zivilisation S. 140 – Zum Problemgehalt der Schlußpartie S. 141
7. Die Hermannsschlacht
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
Entstehung und Zeitbezug S. 143 – Kleists patriotisches Engagement S. 146 – Arminius und die Entstehung des deutschen Nationalbewußtseins S. 148 – Die Gestalt Hermanns und die Idee der Freiheit S. 151
8. Prinz Friedrich von Homburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Entstehung, Quellen und historischer Hintergrund S. 154 – Die Erneuerung des stoischen Ethos S. 161 – Das Wechselspiel zwischen Kurfürst und Prinz S. 170 – Ein Spiel von Traum und Wirklichkeit S. 175
III. Die Erzählungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kleists dramatische Erzählkunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Erdbeben in Chili. Die Erschütterung aller Gewißheiten . . . . 2. Die Marquise von O… Die Geschichte einer weiblichen Emanzipation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Michael Kohlhaas in der Ära der Preußischen Reformen . . . . . .
180 180 183 197 207
Inhalt und Aufbau S. 208 – Der Erzähler S. 211 – Die politische Dimension: Reform oder Revolution S. 215 – Kritik an der lutherischen Obrigkeitslehre und ethische Problematik S. 234 – Das Ende als pessimistische Scheinlösung S. 243
4. Die Verlobung in St. Domingo: Die Unentrinnbarkeit der Geschichte 5. Das Bettelweib von Locarno. Die Katastrophe einer überlebten Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Der Findling. Identität als aporetisches Projekt . . . . . . . . . . . 7. Die heilige Cäcilie oder Die Gewalt der Musik. Kleists entschiedenste Auseinandersetzung mit der Romantik . . . . . . . . . . . . . . . 8. Der Zweikampf. Die Geschichte als Labyrinth des Sinnlosen . . . .
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Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296
I. Der historische Horizont
1. Kleists Lebensweg bis zum Beginn der dichterischen Arbeit „Mir war es zuweilen auf dieser Reise, als ob ich meinem Abgrunde entgegen gienge.“ (Kleist an seine Braut am 21. Juli 1801)1
Kleists Lebenszeit war kurz bemessen. 1777 wurde er in Frankfurt an der Oder geboren, 1811 ging er in den Freitod. Die Schaffensperiode, in der er seine literarischen Werke und journalistischen Arbeiten verfaßte, fällt in das Jahrzehnt von 1801 bis 1811. Drei epochale Ereignisse haben sein Werk entscheidend geprägt: die Französische Revolution mit ihren politischen und kulturellen Folgen für ganz Europa, Preußens Zusammenbruch im Krieg mit Napoleon sowie die Preußischen Reformen, die nach der Niederlage in Gang kamen. Schon die Familientradition verband Kleist eng mit dem Schicksal Preußens. Zahlreiche hohe Offiziere befanden sich unter seinen Vorfahren, und auch er selbst sollte die militärische Laufbahn einschlagen. Für Angehörige verarmter Adelsfamilien gab es nur wenig Alternativen, so etwa die höhere Verwaltungslaufbahn im königlichen Dienst. Einen bürgerlichen Erwerbsberuf zu wählen, galt als nicht standesgemäß und hatte den Entzug des Adelstitels zur Folge. Absage an die Militärlaufbahn Kleists Jugend liegt wie manches in seiner Biographie2 weitgehend im Dunkel. Sein Vater starb im Jahre 1788, seine Mutter im Jahre 1793, so daß er bereits mit fünfzehn Jahren elternlos war. Nach dem mehrjährigen Besuch eines 1
Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden, hrsg. von Ilse-Marie Barth, Klaus Müller-Salget, Stefan Ormanns und Hinrich C. Seeba, Frankfurt 1987–1997. Bd. 4: Briefe von und an Heinrich von Kleist 1793–1811, hrsg. von Klaus Müller-Salget und Stefan Ormanns, Frankfurt 1997, Nr. 3, S. 27. Diese Ausgabe wird künftig zitiert: SWB mit Bandzahl, der Briefband als „Briefe“ mit Nr. 2 Die für Kleists Leben wichtigste Quelle neben seinen Briefen: Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen, hrsg. von Helmut Sembdner, Bremen 1957. Neuausgabe: München 1996. Den besten Überblick über Kleists Leben gibt Klaus Müller-Salget: Heinrich von Kleist, Stuttgart 2002, S. 18–122. Weitere Biographien im Literaturverzeichnis, darunter die ausführliche von Rudolf Loch (Göttingen 2003), die knappe, gut bebilderte und informierte von Peter Staengle (München 1998) und die weniger zuverlässige Bio-Bibliographie von Thomas Wichmann (Stuttgart 1988).
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Der historische Horizont
Berliner Erziehungsinstituts trat er 1792 in das in Potsdam stationierte Garderegiment ein. Bereits 1793/94 mußte er am Ersten Koalitionskrieg gegen Frankreich teilnehmen. Daran schlossen sich Garnisonsjahre in Potsdam an, in denen er seine besten Freunde gewann; aber sonst war diese Zeit, trotz mancher Studien, die er treiben konnte, öde und eintönig. Der Widerwille Kleists gegen den Militärberuf wuchs, er versuchte aus der vorgezeichneten Laufbahn auszubrechen.3 Angesichts der Familientradition bedurfte es dazu erheblichen Mutes, und außerdem war die materielle Zukunft ganz ungesichert. Aber Kleist tat den Schritt mit Entschlossenheit, um der Kaserne und dem Exerzierplatz zu entkommen. An seinen ehemaligen Lehrer Martini schrieb er am 18. und 19. März 1799: Die größten Wunder militairischer Disciplin […] wurden der Gegenstand meiner herzlichsten Verachtung; die Offiziere hielt ich für so viele Exerciermeister, die Soldaten für so viele Sclaven, und wenn das ganze Regiment seine Künste machte, schien es mir als ein lebendiges Monument der Tyrannei. Dazu kam noch, daß ich den übeln Eindruck, den meine Lage auf meinen Charakter machte, lebhaft zu fühlen anfing. Ich war oft gezwungen, zu strafen, wo ich gern verziehen hätte, oder verzieh, wo ich hätte strafen sollen; und in beiden Fällen hielt ich mich selbst für strafbar. In solchen Augenblicken mußte natürlich der Wunsch in mir entstehen, einen Stand zu verlassen, in welchem ich von zwei durchaus entgegengesetzten Prinzipien unaufhörlich gemartert wurde, immer zweifelhaft war, ob ich als Mensch oder als Offizier handeln mußte; denn die Pflichten Beider zu vereinen, halte ich bei dem jetzigen Zustande der Armeen für unmöglich.4
Diese Entgegensetzung von humanen und militärischen Pflichten läßt das Humanitätsdenken der Aufklärung erkennen. Die Absage an das preußische Militär als das „lebendige Monument der Tyrannei“ erinnert an Lessings Wort, Preußen sei das „sklavischste Land von Europa“ (an Nicolai, 25. August 1769), und an sein Drama Minna von Barnhelm, in dem Major von Tellheim begründet, warum er den Militärdienst quittiert. Allerdings sollte man den großen Brief an Christian Ernst Martini nicht naiv lesen. Kleist verfolgte mit seinen Briefen oft eine bestimmte Absicht, manchmal inszenierte er sogar ein phantasiereiches Rollenspiel. Ein amüsantes Beispiel für solche Selbstinszenierungen gibt der Brief vom 1. Mai 1802 an seine Schwester Ulrike. Zu diesem Zeitpunkt befand er sich in der Schweiz, am Thuner See, am Fuße der Schweizer Zentral-Alpen und glaubte offensichtlich, der im märkischen Sand zurückgebliebenen Schwester mit einer Schweizer Geschichte aufwarten zu müssen. Zuerst erzählt er von einem „Mädeli“, und dann beginnt er auszumalen: „Sonntags zieht sie ihre schöne Schwyzertracht an, ein Geschenk 3
Zum historischen Hintergrund: Peter Baumgart: Die preußische Armee zur Zeit Heinrich von Kleists, in: Kleist-Jahrbuch (künftig: KJb) 1983, S. 43–70. 4 Briefe, Nr. 3, S. 27.
Kleists Lebensweg
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von mir, wir schiffen uns über [über den Thuner See], sie geht in die Kirche nach Thun, ich besteige das Schreckhorn, u nach der Andacht kehren wir beide zurück“.5 Über das Schreckhorn aber, das Kleist während des Gottesdienstes bestiegen haben will, liest man im Konversationslexikon: „Kleines und großes Schreckhorn, zwei Gipfel des Finsteraarhornstocks im Kanton Bern, 3497 und 4080 m“. Auch der erwähnte Brief an Christian Ernst Martini vom 18. und 19. März 1799, der als eines der wichtigsten Zeugnisse des jungen Kleist gilt, ist nicht ohne weiteres als bare Münze zu nehmen. Die Absage an das Militär ist zwar ernstgemeint, die vorgebrachte Begründung mit ihrem auffälligen Humanitätspathos aber wohl weniger. Kleist schreibt ausführlich über seine Neigung zu den Wissenschaften, zu Physik und Mathematik vor allem; sogar dem Griechischen und dem Lateinischen will er sich widmen. Der Brief richtet sich an seinen alten Lehrer, von dem er Fürsprache bei den auf die Familientradition bedachten Verwandten erhofft. Kleist gibt einen Grund an, von dem er weiß, daß er bei dem Lehrer ‚ankommt‘: seine angebliche Neigung zu den Wissenschaften. Was der Brief außerdem enthält, ist die populäre Aufklärungsphilosophie über Tugend, Glück und Humanität. Die vorgeschützte Neigung zu den Wissenschaften hielt nicht lange, denn Kleist bewegte anderes. Zuerst aber ging er von April 1799 bis August 1800 zum Studium in seine Heimatstadt Frankfurt an der Oder. Da er sieben Jahre beim Militär verloren hatte, war er schon wesentlich älter als seine Kommilitonen. Sein eigentliches Studienfach war die Jurisprudenz, daneben widmete er sich auch der Mathematik, Physik und Philosophie; Latein verstand sich bei alledem von selbst. In dieser Zeit lernte er Wilhelmine von Zenge kennen, die Tochter des Frankfurter Regimentskommandanten, mit der er sich Anfang 1800 verlobte. Dieser Beziehung, die man nur unter Vorbehalt als Liebesbeziehung bezeichnen kann, entsprangen die schlimmsten Liebesbriefe der deutschen Literatur.6 Daß es mit der Liebe zu den Wissenschaften, die Kleist als Begründung für den Abschied vom Militär im Brief an den Lehrer Martini angegeben hatte, von Anfang an nicht zum Besten bestellt war, verrät bereits ein Brief, den er am 12. November 1799 an seine Schwester Ulrike schrieb: Wenn man sich so lange mit ernsthaften abstrakten Dingen beschäftigt hat, wobei der Geist zwar seine Nahrung findet, aber das arme Herz leer ausgehen muß, dann ist es eine wahre Freude, sich einmal ganz seinen Ergießungen zu überlassen; ja es ist selbst nöthig, daß man es zuweilen in’s Leben zurückrufe. Bei dem ewigen Beweisen u Folgern verlernt das Herz fast zu fühlen; und doch wohnt das Glück nur im Herzen, nur im Gefühl, nicht im Kopfe, nicht im Verstande. Das Glück kann nicht, wie ein mathematischer Lehrsatz 5
Briefe, Nr. 68, S. 306. Hierzu Hans-Jürgen Schrader: Unsägliche Liebesbriefe. Heinrich von Kleist an Wilhelmine von Zenge, in: KJb 1981/82, S. 86–96. 6
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Der historische Horizont
bewiesen werden, es muß empfunden werden, wenn es da sein soll. Daher ist es wohl gut, es zuweilen durch den Genuß sinnlicher Freuden von neuem zu beleben; u man müßte wenigstens täglich ein gutes Gedicht lesen, ein schönes Gemälde sehen, ein sanftes Lied hören – oder ein herzliches Wort mit einem Freunde reden, um auch den schönern, ich mögte sagen den menschlicheren Theil unseres Wesens zu bilden.7
Aufhorchen läßt hier, daß vor allem die Dichtung, die Kunst als Vermittlerin von Glückserfahrungen genannt wird – im Gegensatz zur Wissenschaft. Und daß Kleist von den „Ergießungen“ des „Herzens“ spricht, denen man sich einmal „ganz überlassen“ möchte, dürfte auf das literarische Gründungsmanifest der Frühromantik hindeuten: auf die von Wackenroder und Tieck im Jahre 1797 veröffentlichten Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders, die auch Spuren in seinem erzählerischen Werk hinterlassen haben. Mit großer Wahrscheinlichkeit kann man annehmen, daß Kleist bereits um 1800 nach Freiräumen suchte, in denen er sein Herzensbedürfnis nach Dichtung und Kunst stillen konnte; aber die Sorge um eine Existenz-Grundlage blieb. Bereits im Frühsommer 1800 siedelte er nach Berlin über, um eine Anstellung bei Hofe zu erhalten. Doch auch in der preußischen Metropole fand er nicht, was er suchte. Man stellte ihm einen Posten in der sogenannten ‚Technischen Deputation‘ in Aussicht, zu deren Aufgaben auch die Industrie-Spionage gehörte. Daß Kleist zur Probe sofort einen Spionage-Auftrag erhielt, dafür spricht ein Brief vom 25. November 1800 an seine Schwester Ulrike: Bei mir ist es inndessen doch schon so gut, wie gewiß, bestimmt, daß ich diese Laufbahn nicht verfolge. Wenn ich aber dieses Amt ausschlage, so giebt es für mich kein besseres, wenigstens kein praktisches. Die Reise war das einzige, was mich reizen konnte, solange ich davon noch nicht genau unterrichtet war. Aber es kommt dabei hauptsächlich auf List und Verschmitztheit an, u darauf verstehe ich mich schlecht. Die Inhaber ausländischer Fabriken führen keinen Kenner in das Innere ihrer Werkstatt. Das einzige Mittel also, doch hinein zu kommen, ist Schmeichelei, Heuchelei, kurz Betrug – Ja, man hat mich in dieser Kunst zu betrügen schon unterrichtet – nein, mein liebes Ulrikchen, das ist nichts für mich.8
Kleists Situation spitzte sich zu: Nach der Absage an den Militärberuf stellte er auch das zivile Amt als Grundlage seiner materiellen Existenz in Frage. Daß er nun überhaupt jedes Amt ablehnte und somit den Gedanken an eine bürgerliche Existenz aufgeben wollte, dafür dürften zwei Gründe entscheidend gewesen sein. Der eine Grund ist in seiner dichterischen Neigung zu sehen, der andere in gesellschaftlichen Erfahrungen und auch in seiner Weigerung, sich den Verhältnissen anzupassen. Am 25. November 1800 schreibt er an die Schwester Ulrike, seine mit Abstand wichtigste Briefpartnerin und engste Vertraute: 7 8
Briefe, Nr. 8, S. 44f. Briefe, Nr. 33, S. 170.
Kleists Lebensweg
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Ich fühle mich nämlich mehr als jemals abgeneigt, ein Amt zu nehmen. Vor meiner Reise war das anders – jetzt hat sich die Sphäre für meinen Geist u für mein Herz ganz unendlich erweitert – das mußt du mir glauben, liebes Mädchen […] Als ich diesmal in Potsdam war, waren zwar die Prinzen, besonders der jüngere, sehr freundlich gegen mich, aber der König war es nicht – u wenn er meiner nicht bedarf, so bedarf ich seiner noch weit weniger. Denn mir mögte es nicht schwer werden, einen andern König zu finden, ihm aber, sich andere Unterthanen aufzusuchen. Am Hofe theilt man die Menschen ein, wie ehemals die Chemiker die Metalle, nämlich in solche, die sich dehnen u strecken lassen, und in solche, die dies nicht thun – Die ersten, werden dann fleißig mit dem Hammer der Willkühr geklopft, die andern aber, wie die Halbmetalle, als unbrauchbar verworfen.9
Dieses Gleichnis von den Metallen, von denen sich die einen strecken und bearbeiten lassen, die anderen nicht, wobei Kleist keinen Zweifel daran läßt, daß er sich selbst nur mit den letzteren vergleichen will, ist eine vollkommene Definition der Nicht-Anpassung. Kleist wollte sich den gesellschaftlichen Verhältnissen nicht fügen und fühlte sich von früh an ganz entschieden als Außenseiter. Das ist für viele seiner Dichtungen von grundlegender Bedeutung: Immer wieder umkreisen sie den Konflikt des einzelnen mit der Gesellschaft, in die er sich nicht zu integrieren vermag. Charakteristischerweise hat Kleist eine Vorliebe für Gestalten, die sich entweder selbst isolieren oder von der Gesellschaft in die Rolle von Außenseitern gedrängt werden. Und immer wieder analysiert er die gesellschaftlichen Gründe dafür und gibt eine Antwort im Sinne Rousseaus. Zum Zeichen, daß er sich keiner Konvention zu beugen und das Wertesystem der höheren Gesellschaft zu ignorieren gedachte, wollte er sogar seinen Adelstitel ablegen, und über Jahre hinweg unterschrieb er seine Briefe nicht mehr mit dem Adelsprädikat „von“, sondern schlicht als „Heinrich Kleist“. Aber das ist ebenso wie die Weigerung, ein Amt zu übernehmen, nur die Oberfläche einer viel tiefer reichenden persönlichen Abneigung, sich in den gesellschaftlichen Umgang einzufügen. Kleist litt in der Wirklichkeit gerade unter dem Rollenspiel, das er später in seiner Dichtung so meisterlich gestaltete. Das wohl wichtigste Zeugnis hierfür ist der lange Brief, den er am 5. Februar 1801 an die Schwester schrieb. Darin heißt es: Ach, liebe Ulrike, ich passe mich nicht unter die Menschen, es ist eine traurige Wahrheit, aber eine Wahrheit; u wenn ich den Grund ohne Umschweif angeben soll, so ist es dieser: sie gefallen mir nicht. Ich weiß wohl, daß es bei dem Menschen, wie bei dem Spiegel, eigentlich auf die eigne Beschaffenheit beider ankommt, wie die äußern Gegenstände darauf einwirken sollen; u mancher würde aufhören über die Verderbtheit der Sitten zu schelten, wenn ihm der Gedanke einfiele, ob nicht vielleicht bloß der Spiegel, in welchen das Bild der Welt fällt, schief u schmutzig ist. Indessen wenn ich mich in Gesellschaften nicht wohl befinde, so geschieht dies weniger, weil Andere, als vielmehr weil ich mich 9
Briefe, Nr. 32, S. 168.
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Der historische Horizont
selbst nicht zeige, wie ich es wünsche. Die Nothwendigkeit, eine Rolle zu spielen, und ein innerer Widerwillen dagegen machen mir jede Gesellschaft lästig, u froh kann ich nur in meiner eignen Gesellschaft sein, weil ich da ganz wahr sein darf. Das darf man unter Menschen nicht sein, u keiner ist es – Ach, es giebt eine traurige Klarheit, mit welcher die Natur viele Menschen, die an dem Dinge nur die Oberfläche sehen, zu ihrem Glücke verschont hat. Sie nennt mir zu jeder Miene den Gedanken, zu jedem Worte den Sinn, zu jeder Handlung den Grund – sie zeigt mir Alles, was mich umgiebt, u mich selbst in seiner ganzen armseeligen Blöße u dem Herzen ekelt zuletzt vor dieser Nacktheit – – Dazu kommt bei mir eine unerklärliche Verlegenheit, die unüberwindlich ist, weil sie wahrscheinlich eine ganz physische Ursache hat. Mit der größten Mühe nur kann ich sie so verstecken, daß sie nicht auffällt – o wie schmerzhaft ist es, in dem Äußern ganz stark u frei zu sein, indessen man im Innern ganz schwach ist, wie ein Kind, ganz gelähmt, als wären uns alle Glieder gebunden, wenn man sich nie zeigen kann, wie man wohl mögte, nie frei handeln kann, u selbst das Große versäumen muß, weil man vorausempfindet, daß man nicht standhalten wird, indem man von jedem äußern Eindrucke abhangt u das albernste Mädchen oder der elendeste Schuft von élégant uns durch die matteste persifflage vernichten kann. – Das Alles verstehst Du vielleicht nicht, liebe Ulrike, es ist wieder kein Gegenstand für die Mittheilung, u der Andere müßte das Alles aus sich selbst kennen, um es zu verstehen.10
Die Inszenierung der ‚Kant-Krise‘: Abwendung von den Wissenschaften und Entscheidung für das „schriftstellerische Fach“ „mir flüstert eine Ahndung zu, daß mir mein Untergang bevorsteht –“ (Kleist an seine Braut, 9. April 1801)11
Die sogenannte Kant-Krise markiert die Schwelle zum dichterischen Schaffen und gehört zu den in der Forschung oft diskutierten Problemen. In dem berühmten Brief an seine Braut vom 22. März 1801 widerruft Kleist sein Interesse an den Wissenschaften, das er erst zwei Jahre zuvor dem Lehrer Christian Ernst Martini als Grund für die Aufgabe der militärischen Laufbahn angegeben hatte; er begründet diese Absage mit dem Hinweis auf Kants philosophische Erkenntniskritik. Durch sie habe er einsehen müssen, daß er sich nicht mehr der wissenschaftlichen Arbeit widmen könne, denn eine sinnvolle wissenschaftliche Arbeit setze die Möglichkeit voraus, sichere Erkenntnis zu gewinnen und damit Wahrheit zu erlangen. Oft sind in der Kleistforschung die Formulierungen des Briefes über die erschütternde Wirkung der sogenannten Kant-Krise wiederholt worden, man glaubte in ihm ein Zeugnis dafür zu besitzen, wie fundamental die Beschäfti10 11
Briefe, Nr. 38, S. 198f. Briefe, Nr. 44, S. 213.
Kleists Lebensweg
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gung mit Philosophie das Leben verändern könne. Eine Folge dieser Lesart war es, daß man Kleists Kant-Lektüre genau und umfassend untersuchte.12 Dieser Aufwand war indes nur begrenzt sinnvoll, denn Kleists Briefe lassen erkennen, daß er sich schon Monate vor der sogenannten Kant-Krise von den Wissenschaften abwandte, und keineswegs, weil er grundsätzlich an den Möglichkeiten sicherer Erkenntnis zweifelte, sondern weil die Beschäftigung mit den Wissenschaften ihren Reiz für ihn verloren hatte. Als Veranlassung seiner bevorstehenden Reise nach Paris meldet er seiner Braut: „Es war im Grunde nichts, als ein innerlicher Ekel vor aller wissenschaftlichen Arbeit“.13 Überdruß ist für die Abkehr von der Wissenschaft maßgebend. Nicht Wissenschaft als Erkenntnisproblem, sondern Wissenschaft als Beschäftigung und als Lebensform veranlaßte Kleist zu seiner radikalen Absage. Wenn er sich dennoch auf Kant bezieht, so versucht er damit seinen aus ganz anderen Motiven gefaßten Entschluß durch Berufung auf eine anerkannte Autorität zu legitimieren. Wenn aber die angeb12 Ludwig Muth, Kleist und Kant. Versuch einer neuen Interpretation. Kantstudien, Ergänzungshefte 68, 1954, versucht Kleists Kant-Krise von der Kritik der Urteilskraft, insbesondere von deren zweitem Teil, der Kritik der teleologischen Urteilskraft her zu erklären, übersieht allerdings sowohl die zeitliche Abfolge von Kleists Aussagen wie seine existentielle Motivation. Hierzu das Folgende. Zur kritischen Würdigung von Muths Quellenforschung vgl. Theodorus C. van Stockum: Heinrich von Kleist und die Kant-Krise [1955], in: Heinrich von Kleist, Aufsätze und Essays, hrsg. von Walter Müller-Seidel, Darmstadt 1967 (Wege der Forschung 147), S. 269–271. Vor Muth hatte schon Ernst Cassirer dieses Thema behandelt: E. C.: Heinrich von Kleist und die Kantische Philosophie, Berlin 1919. Ausgehend von Kleists Beschäftigung „mit der neueren sogenannten Kantischen Philosophie“ (SWB 4, 205), erwog Cassirer die Lektüre eines Werks, das in der Nachfolge Kants steht: Fichtes Schrift Die Bestimmung des Menschen (1800). Inzwischen wurde Kleists Kant-Kenntnis auf seine Beschäftigung mit einem wichtigen Vermittler der Kantischen Philosophie zurückgeführt: auf Karl Leonhard Reinholds Schrift Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens (1789) (Ulrich Gall in seinem auch weit über die Kant-Problematik hinausgehenden ergebnisreichen Werk: Philosophie bei Heinrich von Kleist. Untersuchungen zu Herkunft und Bestimmung des philosophischen Gehalts seiner Schriften, 2. Aufl. Bonn 1985). Unter Vernachlässigung der sich aus der Analyse der Briefe ergebenden Argumente gegen eine ‚Kant-Krise‘ geht einfach „zur Sache selbst“ über Bernhard Greiner: „Die neueste Philosophie in dieses … Land verpflanzen“. Kleists literarische Experimente mit Kant, in: KJb 1998, S. 176–208, vgl. bes. S. 178. Zur grundsätzlichen Kritik an Greiners Methode, auch in anderen Veröffentlichungen, vgl. Peter Ensberg: Das Gefäß des Inhalts. Zum Verhältnis von Philosophie und Literatur am Beispiel der „Kantkrise“ Heinrich von Kleists, in: Beiträge zur Kleistforschung, hrsg. von der Kleist-Gedenk- und Forschungsstätte Frankfurt (Oder), 13 (1999), S. 61–123. Vgl. auch Bernhard Greiners Buch: Kleists Dramen und Erzählungen, Tübingen und Basel 2000, das Muths Ansatz bei der Kritik der Urteilskraft aufnimmt und in dekonstruktivistischer Absicht auf Kleists sämtliche Werke auszuweiten sucht. 13 Briefe, Nr. 44, S. 213.
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Der historische Horizont
lich durch Kant gewonnene theoretische Einsicht nicht der wahre Grund für Kleists neue Lebenswendung ist, dann kann man auch nicht mehr von einer Kant-Krise sprechen. Es handelt sich wieder einmal um eine bloße Inszenierung, wie schon in der phantastischen Geschichte von der Ersteigung des Schreckhorns und in dem Brief an den Lehrer Martini. Bereits im Brief vom 5. Februar 1801 an Ulrike heißt es: „Selbst die Säule, an welcher ich mich sonst in dem Strudel des Lebens hielt, wankt – – Ich meine, die Liebe zu den Wissenschaften. […] Wissen kann unmöglich das Höchste sein […]“: „Mir ist es unmöglich, mich wie ein Maulwurf in ein Loch zu graben u Alles Andere zu vergessen“ (200). Ein ähnliches Bild verwendet Kleist im Hinblick auf die drohende Verbeamtung: „Indessen sehe ich doch immer von Tage zu Tage mehr ein, daß ich ganz unfähig bin, ein Amt zu führen. […] Diese Menschen sitzen sämmtlich wie die Raupe auf einem Blatte, jeder glaubt seines sei das Beßte, u um den Baum bekümmern sie sich nicht“ (197 f.). Schon Monate vorher äußert sich Kleist wiederholt voller Abneigung zu der bevorstehenden Verbeamtung. Nichts von Erkenntniszweifel, nichts von philosophischen Erwägungen, die der Kantbrief dann als die angeblich entscheidenden darzustellen versucht, sondern eine existentielle Unmöglichkeit, sich mit dem Los des beschränkten Spezialisten und der entsprechenden Lebensform abzufinden. Das eigentliche Motiv für die einschneidende Entscheidung gegen Amt und Wissenschaft, wobei man „Wissenschaft“ hier nur als die Aneignung der für die Ausübung eines praktischen Berufs erforderlichen Grundkenntnisse zu verstehen hat, ist demnach die Abneigung gegen einengende und fixierende Spezialisierungszwänge. Die sogenannte „Wissenschaft“14 – das Erlernen der theoretischen Voraussetzungen für die berufliche Praxis – erscheint lediglich als Unterfunktion des Amtes und deshalb auch nur unter dem Aspekt unerwünschter Beschränkung. Die früher immer wieder zum höchsten Ziel der Wissenschaft erklärte „Wahrheit“ wird im selben Brief vom 5. Februar 1801, sechs Wochen vor der sogenannten Kantkrise, gerade nicht in den Bedingungen der Möglichkeit zu ihrer Erkenntnis, nicht transzendentalphilosophisch angezweifelt, vielmehr bezeichnenderweise als Ziel und pragmatisch vollständig abgewertet: „Aber auch selbst dann“, schreibt Kleist, „wenn bloß [!] Wahrheit mein Ziel [!] wäre, – ach, es ist so traurig, weiter nichts, als gelehrt zu sein“ (200). Daraus geht hervor, wie der zu Unrecht berühmt gewordene Zentralsatz der angeblichen Kant-Krise zu bewerten ist: „Mein einziges, mein höchstes Ziel [!] ist gesunken, und ich habe nun keines mehr – Seit diese Überzeugung, nämlich, daß hienieden keine Wahrheit zu finden ist, vor meine Seele trat, habe ich nicht 14 Vgl. Werner Frick: Kleists ‚Wissenschaft‘. Kleiner Versuch über die Gedankenakrobatik eines Un-Disziplinierten, in: KJb 1997, S. 207–240.
Kleists Lebensweg
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wieder ein Buch angerührt“.15 Wenn schon vorher davon die Rede ist, daß es ja „bloß“ um Wahrheit gehe und diese ihm an sich schon als wenig erstrebenswertes „Ziel“ erscheine, dann ist es ganz unglaubwürdig, daß Kleist nun von der „Wahrheit“ als seinem bisher angeblich „höchsten Ziel“ spricht. Die schon gefallene Entscheidung erhält nachträglich eine philosophische Scheinlegitimation. Das zeugt durchaus von innerer Konsequenz, denn wenn die Liebe zu den „Wissenschaften“ und zur „Wahrheit“ kein ernstzunehmender, sondern nur ein vorgeschobener Grund für den Abschied von der militärischen Laufbahn war, dann mußte diese Fassade über kurz oder lang einstürzen – auch ohne die angebliche Kant-Krise. Sie ist ebenso eine inszenierte Scheinkrise wie es sich früher um eine inszenierte Scheinliebe zu den „Wissenschaften“ und zur „Wahrheit“ handelte. Kleist wollte Dichter werden, wagte es aber noch nicht offen zu sagen, denn das galt in Preußen nicht als ehrenhaft. Verächtlich sagte der königliche Flügeladjutant von Köckeritz später zu ihm, er sei ja einer, der „Verschen mache“.16 Kleist selbst war sich der inneren und äußeren Schwellensituation des Jahres 1801 bewußt. Zug um Zug hatte er die gesellschaftlichen Zwänge abgeschüttelt, um sich als Dichter frei entfalten zu können. Unmißverständlich geht das aus einem Brief an Wilhelmine von Zenge vom 13. November 1800 hervor. Den Tenor bilden Aussagen wie: „Ich will kein Amt nehmen“, „ich passe mich für kein Amt“, „ich darf kein Amt wählen“ (150 ff.). Die Entscheidung, eine gesicherte Existenz aufzugeben und auf eine gemeinsame Zukunft mit seiner Braut zu verzichten, der er diesen Brief schreibt, könnte nicht radikaler sein: „[…] das Herkommen will, daß wir ein Haus bilden sollen u unsere Geburt, daß wir mit Anstand leben sollen – o über die unglückseeligen Vorurtheile! Wie viele Menschen genießen mit Wenigem, vielleicht mit einem paar hundert Thalern das Glück der Liebe – u wir sollten es entbehren, weil wir von Adel sind? Da dachte ich, weg mit allen Vorurtheilen, weg mit dem Adel, weg mit dem Stande – gute Menschen wollen wir sein u uns mit der Freude begnügen, die die Natur uns schenkt. Lieben wollen wir uns, u bilden u dazu gehört nicht viel Geld – aber“, so fährt er dann doch etwas bedenklich fort, „aber doch etwas, doch etwas – u ist das, was wir haben, wohl hinreichend? Ja, das ist eben die große Frage“.17
Kleist will dem Brief zufolge diese Frage lösen, indem er sich auf das Schreiben verlegt. Es stehe ihm für die Zukunft das ganze schriftstellerische Fach offen, behauptet er. „Darin fühle ich, daß ich sehr gern arbeiten würde“ (ebd.). Ein paar Seiten später wird er noch deutlicher. Nun spricht er schon nicht mehr vom „schriftstellerischen Fach“, sondern entschieden vom Dichtertum, 15
Briefe, Nr. 39, S. 205. Briefe, Nr. 82, S. 323. 17 Briefe, Nr. 29, S. 153. 16
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und nicht mehr nur um das bißchen Geld geht es nun, sondern um Ehre und Ruhm. „Lächle nicht“, schreibt er der Braut, „u bemühe Dich nur ja, alle Vorurtheile zu bekämpfen. Ich bin sehr fest entschlossen, den ganzen Adel von mir abzuwerfen. Viele Männer haben geringfügig angefangen u königlich ihre Laufbahn beschlossen. Shakespeare war ein Pferdejunge u jetzt ist er die Bewunderung der Nachwelt. Wenn Dir auch die eine Art von Ehre entgeht, so wird Dir doch vielleicht einst eine andere zu Theil werden, die höher ist – Wilhelmine, warte zehen Jahre u Du wirst mich nicht ohne Stolz umarmen“.18 Schon ein halbes Jahr vor der sogenannten Kant-Krise also war Kleist entschlossen, Dichter zu werden, die Berufung auf „Wissenschaft“ und „Bildung“ hat nur noch Deck- und Tarnfunktion. Obwohl der eben zitierte Brief mit einem Bekenntnis zu den „Wissenschaften“, ja zu den „geliebten Wissenschaften“ beginnt, ist in seinem weiteren Verlauf nicht mehr von ihnen die Rede, sondern vom Schriftstellerberuf und dem Wunsch, ein bedeutender Dichter wie Shakespeare zu werden. Auch die Liebesbindung, wenn es überhaupt eine war, beginnt er nun abzuschütteln. Nachdem er der Braut mitgeteilt hat, daß er sich mit ihr zunächst in eine bescheidene, ja arme Existenz zurückziehen möchte, um dort in Abgeschiedenheit seine schriftstellerische Laufbahn zu begründen, fährt er fort, immer noch im selben Brief vom 13. November 1800: „Ist das Alles nicht ausführbar, so bleibt uns, bis zum Tode, Eins gewiß, nämlich meine Liebe Dir, u Deine Liebe mir. Ich wenigstens gebe nie einem andern Mädchen meine Hand, als Dir“ (156). Mit einer Liebesversicherung und dem Versprechen, sich nie einem anderen Mädchen zu verbinden, fängt er an, sich aus der bestehenden Bindung zu lösen! Die letzte Konsequenz aus diesem Streben nach Unabhängigkeit ist der im Kantbrief vom 22. März 1801 geäußerte Wunsch: „Liebe Wilhelmine, laß mich reisen“ (206). Die dichterische Produktion setzt in dem Augenblick ein, in dem er sich auf „Reisen“ begibt: Die Schritt für Schritt vorangetriebene Lösung aus allen Fixierungen ist eine elementare Bedingung seiner schriftstellerischen Tätigkeit. Kleists Dichtung selbst ist eine Dichtung der experimentellen Offenheit, in ihr gibt es keine Sicherheit, weder die Sicherheit einer anerkannten Gesellschaftsordnung, noch die innere Heimat einer fraglos akzeptierten Religion; noch weniger die Sicherheit gültiger Traditionen, und schon gar nicht die Sicherheit einer ihrer selbst gewissen Subjektivität, einer existentialistischen Gefühlssicherheit, wie die ältere Kleistforschung immer wieder behauptete.
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Briefe, Nr. 29, S. 155.
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2. Die geistige und politische Situation um 1800 „Die Zeit scheint eine neue Ordnung der Dinge herbeiführen zu wollen, und wir werden davon nichts, als bloß den Umsturz der alten erleben“. (Kleist an Rühle von Lilienstern, Dezember 1805)19
Aufklärung und Romantik Kleist schrieb in einer historischen Situation, die geprägt ist von der Erschütterung der alteuropäischen Gesellschafts- und Staatenordnung. Das Jahrhundert der Aufklärung und der krisenhafte Umbruch, der seit der Französischen Revolution und den Napoleonischen Kriegen Europa erfaßte, bestimmt seine Fragestellungen. In den Jahren, in denen er seine Werke schuf, brach das Heilige Römische Reich deutscher Nation zusammen, Preußen wurde vernichtend geschlagen und geriet an den Rand seiner staatlichen Existenz20, und dies nicht nur, weil Napoleon die Übermacht hatte, sondern auch, weil die Ordnung im Innern, die gesellschaftliche, militärische, wirtschaftliche und staatliche Verfassung des alten Preußen, rückständig und kraftlos war. Immer wieder setzt sich Kleist mit der Französischen Revolution und ihren enormen Auswirkungen auseinander. Angesichts des Zerfalls der alten Ordnung stellt er sich auch die Frage, wie eine neue Ordnung aussehen könnte. Seit dem Jahre 1807 gerät er in den Bannkreis der preußischen Reformer21, die eine solche neue Ordnung ohne Revolution, ja zur Vermeidung einer Revolution verwirklichen wollten, und natürlich auch, um die innere Stärke zu gewinnen, die zur Abwehr des äußeren Feindes nötig war. Obwohl in der Zeit, in der Kleists Dichtungen entstehen, schon die Roman19
Briefe, Nr. 97, S. 352. Historisch übergreifend hierzu: Brendan Simms: The impact of Napoleon: Prussian high politics, foreign policy and the crisis of the executive, 1797–1806, Cambridge 1997 (umfassendes Quellen- und Literaturverzeichnis S. 344–382); Kurt von Raumer und Manfred Botzenhart: Deutschland um 1800: Krise und Neugestaltung. Von 1789 bis 1815, Wiesbaden 1980; Otto Hintze: Die Hohenzollern und ihr Werk, Berlin 1915 (Neudruck Moers 1979/80), S. 402–489; Karl Theodor von Heigel: Deutsche Geschichte vom Tode Friedrichs des Großen bis zur Auflösung des alten Reiches, 2 Bde, Stuttgart und Berlin 1899/1911. Zu Kleist: Rudolf Vierhaus: Heinrich von Kleist und die Krise des preußischen Staates um 1800, in: KJb 1980, S. 9–23 (infolge nur vager Kleist-Kenntnisse fragwürdig, neigt zu wenig fundierten Pauschalurteilen). 21 Hierzu genauer: S. 37–39, S. 215–234. Vgl. Manfred Botzenhart: Kleist und die preußischen Reformer, in: KJb 1988/89, S. 132–146 (im Hinblick auf Kleist nicht ergiebig); Christiane Schreiber: „Was sind das für Zeiten!“ Heinrich von Kleist und die preußischen Reformen, Frankfurt a.M. 1991 20
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tik floriert, ist Preußen bis um das Jahr 1810 noch von der Spätaufklärung geprägt. Tiefer und weiter als sonst irgendwo in Deutschland hatte in Preußen durch Friedrich den Großen die Aufklärung gewirkt, und obwohl unter seinem Nachfolger eine Reaktion eingesetzt hatte22, war Preußen und speziell Berlin doch ein Zentrum aufgeklärter Geistigkeit geblieben. In seinem kritischen Engagement wandte sich Kleist besonders den französischen Aufklärern zu. Das lag nahe, gehörte doch die französische Aufklärung durch Friedrich den Großen, der sich selbst als Aufklärer verstand, bereits zum Grundbestand des preußischen und insbesondere des Berliner Kulturlebens. Friedrich der Große holte Voltaire als Exponenten der französischen Aufklärung an seinen Hof, ebenso eine Reihe anderer französischer Gelehrter und Philosophen; die Berliner Akademie der Wissenschaften stellte er unter die Leitung eines Franzosen. Mit dem Mittelpunkt Berlin entfaltete sich über Jahrzehnte hinweg eine aufklärerische preußische Kultur, die alle gesellschaftlichen Bereiche durchdrang. Die bedeutendste Aufklärungszeitschrift, die Berlinische Monatsschrift, erschien in der preußischen Hauptstadt, der größte Aufklärungsphilosoph, Immanuel Kant, wirkte im ostpreußischen Königsberg. Zahlreiche populäre Aufklärungsschriftsteller sorgten dafür, daß die geistige Haltung der Aufklärung auch zu allgemeiner Breitenwirkung gelangte. Zusammen mit Lessing und Moses Mendelssohn initiierte der Hauptmatador der Berliner Aufklärung, Friedrich Nicolai, eine Reihe einflußreicher publizistischer Unternehmungen.23 Die drei wichtigsten sind die Bibliothek der schönen Wissenschaften, die Briefe, die neueste Literatur betreffend und schließlich die Allgemeine Deutsche Bibliothek. Auch als Verlagsbuchhändler stellte sich Nicolai ganz in den Dienst seines aufklärerischen Engagements. So gedieh seine große Buchhandlung, die er in Berlin führte, zu einem Mittelpunkt des geistigen Lebens. Die preußische Aufklärung mit Kant als geistiger Autorität und mit Publizisten wie Nicolai wirkte nach dem Tod Friedrichs des Großen im Jahre 1786 und trotz des unter seinem Nachfolger eingeleiteten Richtungswechsels in der Kulturpolitik noch jahrzehntelang außerordentlich intensiv – bis in die Zeit von Kleists geistiger Bildung und bis in die Periode seines literarischen Schaffens. Die Prägung der preußischen Aufklärung durch die französische Literatur und Philosophie machte es zur Selbstverständlichkeit für den jungen Kleist, gerade nach den Leitfiguren der französischen Aufklärung zu greifen. In seinen Briefen nennt er Voltaire, Helvétius und Rousseau. Der tiefe Eindruck ihrer 22 Vgl. Fritz Valjavec: Das Woellnersche Religionsedikt und seine geschichtliche Bedeutung, in: Historisches Jahrbuch 72, 1953, S. 386–400. 23 Vgl. die umfassende Darstellung von Horst Möller: Aufklärung in Preußen. Der Verleger, Publizist und Geschichtsschreiber Friedrich Nicolai (Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin. Band 15). Berlin 1974.
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Schriften läßt sich in einer ganzen Anzahl seiner Werke feststellen. Das gilt vorab für den religiösen Bereich: Auch bei Kleist ist Religions- und Kirchenkritik ein wichtiges Thema. Hinzu kommt die Problematisierung der alten Gesellschaftsordnung, insbesondere ihres ausgeprägten Privilegienwesens. Eine schon bestehende aufklärerische Tradition Preußens, die Justizkritik, die sich in weitreichenden Versuchen zur Reform des korrupten Justizwesens niederschlug, ist Kleists Thema im Michael Kohlhaas. Nicht zuletzt richtet sich sein aufklärerisches Interesse auf die Familie, so wenn er die Rückständigkeit der Gesellschaft am Beispiel der patriarchalisch-autoritär geprägten Familienstruktur thematisiert, wie in der Familie Schroffenstein und in der Erzählung Die Marquise von O… Doch setzt Kleist mit seiner kritischen Durchleuchtung von Familienstruktur, Gesellschaft, Staat, Kirche und Religion nicht einfach die alte Aufklärung fort. Im Bann der Romantik erhält sein Engagement eine neue Tiefendimension, es gerät aber auch in eine Verwerfungszone. Durch die Brechungen von Aufklärung und Romantik, von Auseinandersetzung mit der bestehenden Gesellschaft und vaterländischer Identifikation infolge der Napoleonischen Bedrohung verstärkte sich die schon durch die persönliche Situation gegebene Orientierungsproblematik. Die Verweigerung der gesellschaftlichen Anpassung, die krisenhafte Bindungslosigkeit, die nur im Kampf gegen die Familientradition und den allgemeinen Wertungskodex durchzusetzende Selbstverwirklichung – all das ließ ihn persönlich eine zunächst beinahe anarchistische Position gegenüber den überindividuellen gesellschaftlichen Ordnungen einnehmen. So verbindet sich bei Kleist das aufklärerische preußische Erbe mit dem Bewußtsein der akuten politischen Krise und der radikalen eigenen Ablösung von Autoritäten, Institutionen und Normen. Erst aus dieser Verbindung entstehen die erstaunlichen und oft leidenschaftlichen Intensitäten seiner kritischen Analyse, und erst daraus ergibt sich auch deren komplexe Mehrdimensionalität. Ein für Kleists ganzes Werk zentrales aufklärerisches Thema fällt schon in den frühen Briefen mehrfach auf, wenn auch meistens auf die persönlichen Probleme bezogen: das Vorurteil.24 „– o über die unglückseeligen Vorurtheile! 24 Hierzu umfassend: Werner Schneiders, Aufklärung und Vorurteilskritik, Studien zur Geschichte der Vorurteilstheorie, Stuttgart 1983, bes. S. 335f., wo eine schematisierte Übersicht über zahlreiche Schriften die herausragende Stellung des praeiudicium auctoritatis nachweist. Es erhielt sie schon bei den Leitfiguren der Frühaufklärung, Thomasius und Wolff, und ihren Schulen, und dann noch bis in die Spätaufklärung der Kantianer, unter denen vor allem Johann Gottfried Christian Kiesewetter mit seiner Schrift Über Vorurteil von 1790 zu nennen ist. „[…] das größte dieser Vorurtheile ist“, so heißt es darin (Schneiders, S. 386 f.), „wenn die Vernunft Autoritäten vor ihren eigenen Gesetzen den Vorzug giebt, und daher auf das Ansehn einer Autorität Dinge für wahr hält, die ihren eigenen Gesetzen widerstreiten“ (ebd., S. 315). Kants Nachfolger in Königsberg, Wilhelm Traugott
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[…] Da dachte ich, weg mit allen Vorurtheilen, weg mit dem Adel, weg mit dem Stande […]“ heißt es in dem Brief an Wilhelmine von Zenge vom 13. November 1800 geradezu programmatisch.25 Immer wieder spricht Kleist von der Notwendigkeit einer entschiedenen Absage an alle Vorurteile. Unter Vorurteilen versteht er konventionelle Wertungen und Haltungen, die vom Standpunkt natürlichen menschlichen Empfindens und individueller Selbstverwirklichung nicht zu legitimieren sind. Vorurteile bestimmen viele von Kleists Gestalten in ihren religiösen, gesellschaftlichen und sonstigen Anschauungen und Wertungen; ganze Geschehenszusammenhänge, wie sich bereits in seinem Erstlingswerk Die Familie Schroffenstein zeigt, unterliegen vorurteilshaften Verhaltensweisen.26 Und diese Vorurteile resultieren mehr aus der strukturbildenden Kraft der äußeren Verhältnisse als aus individuellen Defiziten. Kleist analysiert nicht bloß bestehende äußere Mißstände, sondern dringt weiter vor, indem er die im Menschen verhängnisvoll wirkende Macht solcher Mißstände zeigt. Mit psychologischem Scharfsinn sondiert er die Herausbildung von falschen Bewußtseinsstrukturen und zerstörerischen Verhaltensmustern. Die Verwurzelung Kleists im aufklärerischen Denken, die ihn sowohl objektive, geschichtlich gewordene Strukturen in Staat und Kirche, Gesellschaft und Religion, wie auch subjektive Dispositionen im Mentalitäts- und Gefühlshaushalt der Menschen kritisch insbesondere auf ihre Vorurteilsbedingtheit hin hinterfragen läßt, schließt irrationale Absolutsetzungen aus. Jede Absolutsetzung relativiert er, alles scheinbar Fraglose hinterfragt er. Abgesehen von seiner aufklärerischen Intellektualität aber, die kein irrationales Apriori gelten läßt, lag für Kleist doch offensichtlich eine große Faszination in der Frage nach den Möglichkeiten und Qualitäten des Irrationalen – die Faszination der jungen romantischen Generation, die im „Gefühl“, im „Gemüt“ und im Unbewußten entscheidende Werte entdeckte. Zwar ist die Romantik keineswegs auf einen Gefühlskult zu reduzieren, aber die Wendung nach Innen, zur poetischen Innerlichkeit, zum Unbewußten, zum Traum, zur Gemütstiefe ist doch charakteristisch für sie. Kleist hat diese wie andere romantische Faszinationen, so diejenige durch die Musik und die katholische Religion, die bis zu den aufsehenerregenden Konversionen einiger Romantiker führte (Reflexe davon finden sich Krug, den Wilhelmine von Zenge nach der Trennung von Kleist heiratete, bewahrte die Vorurteilskritik der Aufklärung in seinem Allgemeinen Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften (Bd. 4, Leipzig 1829) noch weit ins 19.Jahrhundert hinein. „Man hat übrigens“, so schreibt er rückblickend, „die Vorurtheile auf zwei Hauptclassen zurückgeführt: Vorurtheile des Ansehens (praeiudicia auctoritatis) und Vorurtheile der Zeit (praeiudicia temporis)“ (S. 390). 25 Briefe, Nr. 29, S. 153. 26 Vgl. hierzu besonders S. 56–59, S. 200–207, S. 276–280.
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in seiner hintergründigen Erzählung Die heilige Cäcilie oder Die Gewalt der Musik), nachweisbar an sich selbst erfahren. Wesentlich für seine geistige Physiognomie ist es aber, daß er dieser Faszination durch das Irrationale nicht nachgegeben hat, wie es manche Romantiker taten. Kleist setzte sich mit der romantischen Faszination, gerade weil sie auch ihn selbst ergriff, kritisch auseinander. Er analysierte sie psychologisch und historisch aus aufgeklärtem Geist und kam zu dem Ergebnis, daß sie zwar schön, aber trügerisch und deshalb gefährlich sei. Sie führt zur Verfehlung der Wirklichkeit und damit auch der eigenen Situation. Das prominente Beispiel für eine solche romantische Befangenheit in der eigenen Gefühlssphäre, die Kleist dennoch nicht vom Standpunkt eines pragmatisch-vordergründigen Realismus abwertet, ist der Prinz von Homburg, der durch seinen Traum an den Rand des Grabes gerät, weil er die Ordre für die Schlacht verpaßt, also nicht mehr in der Lage ist, die Wirklichkeit richtig einzuschätzen. Bereits dieses Beispiel zeigt, daß Kleists aufklärerisch desillusionierende Analysen, mit denen er auch gegen seine eigene Illusionsbereitschaft ankämpft, keineswegs epigonale Züge tragen. Weil die Aufklärung durch die Herausforderung der Romantik neue Impulse erhält, ist sie aktuelle Aufklärung und historisch notwendige Aufklärung, nicht bloß ein letzter Ausläufer des 18.Jahrhunderts. Kleist reflektiert, weshalb gerade der Aufklärung des 18. Jahrhunderts eine romantische Reaktion folgen mußte. In seinen kritisch-psychologischen Sondierungen greift er auf das in der Epoche der Aufklärung ausgebildete Instrumentarium zurück, etwa auf die schon genannte Methode der Vorurteilskritik oder auf die systematische Reduktion von scheinbar Übernatürlichem auf Natürliches, auf die Desillusionierung von Illusionen; aber die von ihm entworfenen Problemkonstellationen sind nun insofern komplexer, als sie nicht mehr bloß der Aufklärung traditioneller, der Vergangenheit verhafteter Vorstellungen gelten, sondern der neuen romantischen Strömung, die sich trotz der historischen Leistung der Aufklärung und zum Teil auch gegen diese Leistung durchsetzte. Das erforderte eine differenziertere Strategie. Sie konnte sich nicht damit begnügen, historisch und kritisch reflektierend Vergangenheitsbestände aufzulösen, vielmehr hatte sie auch den in der Gegenwart virulenten Entstehungsbedingungen solcher Vorstellungen nachzufragen. Traditionell ordnet man Kleist wie Hölderlin und Jean Paul unter dem nichtssagenden Etikett „zwischen Klassik und Romantik“ literaturgeschichtlich ein. Das ist aber eine bloße Verlegenheitsformel für diese Dichter, die obendrein nur wenige Gemeinsamkeiten aufweisen. Für Kleist trifft am besten eine andere Formel zu: „Aufklärung und Romantik“. Sie bezeichnet nicht ein zeitliches Dazwischenstehen, vielmehr ein dialektisches Verhältnis von romantischer und aufklärerischer Geistesverfassung. Es macht Kleists Größe und Besonderheit
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aus, daß er in den Jahren romantischer und idealistischer Spekulation, in denen man Märchen und Legenden kultivierte, das Mittelalter wieder in Mode brachte, sich mit Vorliebe auf Traum und Gemüt berief, die Kindheit und das Unbewußte zu höchsten Werten erhob, in denen man nach der großen Entzauberung durch die Aufklärung des 18. Jahrhunderts das Dasein wieder poetisch und religiös, vor allem aber phantastisch zu verzaubern suchte – daß er in diesen Jahren mit Entschiedenheit und preußischer Nüchternheit sich selbst und anderen eine zweite, noch weiterreichende Aufklärung27 zumutete, ohne die romantischen Bedürfnisse des menschlichen Herzens zu verkennen oder gar zu mißachten. Kleists aufklärerische Kritik an Kirche und Religion Während die Mehrheit der Romantiker in den Jahren nach 1800 neureligiösen Tendenzen folgt, verschreibt sich Kleist der Kirchenkritik und einer psychologisch vertieften Religionskritik. Er steht damit in einer unter Friedrich dem Großen begründeten und bis in die preußische Spätaufklärung reichenden Tradition. Wie schon Friedrich der Große selbst greift Kleist auf die großen französischen Aufklärer zurück, vor allem auf Voltaire und Helvétius. Am 15. August 1801 schreibt er an Wilhelmine von Zenge: „Zuweilen, wenn ich die Bibliotheken ansehe, wo in prächtigen Sälen u in prächtigen Bänden die Werke Rousseaus, Helvetius‘, Voltaires stehen, so denke ich, was haben sie genutzt? Hat ein einziges seinen Zweck erreicht?“ (259f.) Die „Zwecke“ der großen Aufklärer also sieht er mit melancholischer Skepsis immer noch als unerfüllt an. Für seine Gesellschaftskritik orientiert sich Kleist an Rousseau, für seine Justizkritik ist eine schon etablierte preußische Aufklärungstradition maßgebend28, für seine Kirchen- und Religionskritik schließlich wählt er als Leitfiguren Voltaire und Helvétius. Daneben wirkte auch schon eine durch Friedrich den Großen repräsentierte eigengewichtige preußische, speziell kirchen- und religionskritisch profilierte Aufklärung weiter. Die Kritik der aufklärerischen Schriftsteller und Philosophen richtete sich gegen Intoleranz, Fanatismus und Dogmatismus, gegen Hexen- und Ketzerprozesse sowie die Verfolgung der Juden, nicht zuletzt gegen den Machtanspruch und die Privilegien der Kirche. Sie kämpften für Toleranz, Humanität, für die genuinen Rechte der menschlichen Natur und für die Freiheit des 27
Anders Ruth K. Angress: Kleists Abkehr von der Aufklärung, in: KJb 1987, S. 98–114. Dagegen betont ebenfalls das aufklärerische Grundmuster: Hans-Jochen Marquardt: Heinrich von Kleist – die Geburt der Moderne aus dem Geiste „neuer Aufklärung“, in: Heinrich von Kleist und die Aufklärung, hrsg. von Tim Mehigan, Rochester, N. Y. 2000, S. 22–45. 28 Hierzu genauer S. 220–228.
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Geistes. An der Religion ließen sie all das nicht mehr gelten, was der Erfahrung und der Vernunft widersprach: den Wunderglauben, den Glauben an das direkte Eingreifen Gottes in das Weltgeschehen sowie die Annahme, der Mensch könne Gott durch Gebete oder irgendwelche Verhaltensweisen beeinflussen. Im Medium des Pantheismus, der zur Weltanschauung der Gebildeten wurde, führte die Aufklärungsbewegung noch weiter: Sie suspendierte das christlichdualistische Weltbild und damit überhaupt die Vorstellung eines transzendenten Gottes. Wer von Gott sprach, meinte oft bloß noch ein einheitstiftendes Prinzip im Weltgeschehen, den ‚Geist der Natur‘. So löste sich das christlichdualistische Weltbild zugunsten eines säkular-monistischen auf. Für die kirchen- und religionskritische Aufklärungsbewegung, in deren Bahn Kleist weiterschritt, waren drei historische Entwicklungen von grundsätzlicher Bedeutung: die negative Erfahrung der auf die Reformation folgenden und im Dreißigjährigen Krieg gipfelnden europäischen Religionskriege sowie die von Dogmatismus und Teufelswahn ausgelösten Ketzer- und Hexenverfolgungen; der rasche Fortschritt der modernen Naturwissenschaften, der eine Erosion des überlieferten Weltbildes zur Folge hatte; schließlich die Entstehung der historischen Bibelkritik, welche die Autorität der Bibel erschütterte, da sie das bisher als „Gotteswort“ Geglaubte in seiner geschichtlichen Entstehung und damit als Menschenwort erklärte. Für Kleist wurde vor allem Voltaire wichtig29, sowohl durch seine publizistischen Feldzüge gegen die von der Kirche begangenen oder angestifteten Verbrechen als auch durch seinen prinzipiellen Kampf gegen die verhängnisvollen Auswirkungen von Vorurteilen, Heuchelei und religiösem Fanatismus. Besonders den Kampf gegen den religiösen Fanatismus konnte Kleist bei Voltaire in eindrucksvoller Weise finden. Immer wieder prangerte Voltaire die Kirche an, weil sie Menschen folterte und auf den Scheiterhaufen brachte. Er evozierte die Prozessionen von Mönchen und frommen Bruderschaften, welche die meist wegen einer menschlich-natürlichen Handlung oder einer harmlosen Abweichung von der Norm zum Tode Verurteilten auf öffentliche Plätze führten, wo sich das fromme Volk an dem grausamen Schauspiel erfreute. Zwar kam dies im 18. Jahrhundert nur noch selten vor, aber fanatische Intoleranz wirkte sich doch überall noch in Verfolgungs- und Unterdrückungsmaßnahmen aus, so daß es sich keineswegs um ein schriftstellerisches Nachhutsgefecht handelt, wenn Lessing im Nathan den Patriarchen als Vertreter der Kirche stereotyp sagen läßt: „Der Jude wird verbrannt“. Den Aufklärern kam es nicht bloß auf die kirchliche Institution an, sondern mindestens ebensosehr 29
Zu Voltaires Wirkung in Deutschland generell vgl. das immer noch grundlegende Werk von Hermann August Korff: Voltaire im literarischen Deutschland des XVIII. Jahrhunderts. 2 Bde Heidelberg 1917. Ein Kapitel zu Voltaire und Kleist fehlt allerdings.
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auf die Vorurteile, die Intoleranz und den Fanatismus der gläubigen Menge, in deren Verhalten die Erziehung durch Kirche und Religion eine fortdauernde Breitenwirkung erzeugte. Auch dies übernimmt Kleist, wie besonders das Erdbeben in Chili zeigt. Durch Voltaires publizistisches Engagement avancierten zwei Beispiele von Intoleranz und Fanatismus zu den berühmtesten Skandalen des 18. Jahrhunderts. Voltaire machte sie zum Grundbestand des aufklärerischen Bewußtseins, ja zum Bewußtsein des Zeitalters. Den ersten der beiden Skandale, den Fall Calas, in dem ein alter, gänzlich unschuldiger Mann aus religiösem Fanatismus zu Tode gefoltert wurde, behandelte er in seiner klassisch gewordenen Abhandlung Über die Toleranz, veranlaßt durch die Hinrichtung des Johann Calas im Jahre 1762 (Traité sur la tolérance). Die Klage gegen religiöse Intoleranz im Fall Calas nahm Voltaire zum Anlaß, Toleranz in allen Bereichen zu fordern, nicht zuletzt verlangte er die Abschaffung der Zensur, die ja auf der Intoleranz gegenüber abweichenden Meinungen beruht. Gewissensfreiheit, Freiheit des Denkens und Meinungsfreiheit waren seine Hauptforderungen, und all dies sah er gerade durch Religion und Kirche am meisten bedroht. Voltaire nutzte jede Gelegenheit, um Kirche und Religion unglaubwürdig zu machen, indem er Märtyrergeschichten und Legenden ins Licht der Vernunft stellte, so daß sie als absurd oder sogar lächerlich erscheinen. Auch Kleist destruiert Wunderglauben und Legenden, so in der Erzählung Die heilige Cäcilie oder Die Gewalt der Musik und in seiner wohl letzten Erzählung, die den Titel Der Zweikampf trägt. Allerdings geht er tiefer, weil ihm nicht mehr bloß an der Kritik liegt, sondern auch an der Antwort auf die Frage, wie sich Legenden überhaupt bilden können. Das andere durch Voltaire berühmt gewordene Beispiel von Fanatismus und Intoleranz ist durch eine seiner eigenen Schriften mitverursacht: durch seinen Dictionnaire philosophique portatif.30 Dieses „philosophische Wörterbuch“ war die erste offene und wirkungsmächtige Kampfansage an die Kirche. Ursprünglich wollte Voltaire, wie er in einem Brief berichtet, sein Wörterbuch nur zum eigenen Gebrauch schreiben, wahrscheinlich aus Sorge vor Verfolgungen. Nach dem aus religiösem Fanatismus begangenen Justizverbrechen an Jean Calas aber gab er jede Rücksicht auf und ging in die Offensive. Der Skandal war ungeheuer. Noch im Erscheinungsjahr 1764 wurde der Dictionnaire philosophique in Genf von der Hand des Henkers verbrannt, im März 1765 folgte die Ver30
Vgl. R. Pomeau: Histoire d’une œuvre de Voltaire Le Dictionnaire philosophique portatif, in: L’information littéraire, 1955, no 2. Die kritische Edition der Original-Ausgabe von 1764: Dictionnaire philosophique, éd. Raymond Naves, Paris 1954. Deutsche AuswahlAusgabe unter Berücksichtigung der späteren Erweiterungen: Voltaire: Philosophisches Wörterbuch. Nach der Textauswahl von Rudolf Noack [Leipzig 1963] herausgegeben und eingeleitet von Karlheinz Stierle, Frankfurt 1985.
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dammung durch das französische Parlament, im Juli wurde er auf den Index gesetzt. Dennoch war der Erfolg nicht aufzuhalten. Bis 1766, also in zwei Jahren, erschienen 17 Auflagen. Im Gegensatz zu der großen und unerschwinglich teuren Enzyklopädie von Diderot und d’Alembert handelte es sich um ein kleines, billiges Buch, das Voltaire bewußt von gelehrtem Ballast frei gehalten und in einem populären Stil geschrieben hatte, mit vielen eingestreuten Anekdoten. Denn er wußte, daß er nur so publizistisch in die Breite wirken konnte. Nach ‚Philosophie‘ sucht man in diesem Büchlein vergebens, obwohl es „philosophisches Wörterbuch“ heißt. Und doch ist dies keine Irreführung. Denn die Aufklärer nannten sich philosophes, ohne damit einen besonderen theoretischen Anspruch zu verbinden. Sich als ‚Philosoph‘ deklarieren hieß nicht mehr und nicht weniger als vom Standpunkt der Erfahrung und der Vernunft aus schreiben, also nicht von einer metaphysischen Voraussetzung aus oder gar in einem theologisch-dogmatischen Horizont. Voltaires vom Anliegen der Toleranz bestimmter Dictionnaire philosophique portatif trug dazu bei, daß zwei Jahre nach seinem Erscheinen, am 1. Juli 1766, der neunzehnjährige Chevalier de la Barre hingerichtet wurde. Sein Verbrechen bestand darin, daß er angeblich respektloses Verhalten bei religiösen Zeremonien an den Tag gelegt und ein paar liederliche Reden geführt hatte, aber auch daß er einige angeblich unsittliche Bücher besaß, darunter Voltaires Philosophisches Wörterbuch. Man zerbrach ihm auf der Folter die Beine, enthauptete ihn, und in den Scheiterhaufen, auf dem sein Leichnam verbrannt wurde, warf man das Exemplar des Philosophischen Wörterbuchs, das man bei ihm gefunden hatte. Voltaire, tief erschüttert über dieses durch das Urteil des höchsten französischen Gerichtshofs gedeckte Verbrechen, verfaßte darauf eine Anklage mit dem Titel Nachricht vom Tod des Chevalier de la Barre, um die Öffentlichkeit zu alarmieren – eine ebenso aufrüttelnde wie aufschlußreiche Schrift. Sie gibt viele Züge aus der gesellschaftlichen und religiösen Wirklichkeit, vor allem aber aus der Welt einer korrupten Justiz wieder, Züge, die das Engagement der aufklärerischen und insbesondere der religionskritischen Literatur in der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts erst verständlich machen. Unter dem Eindruck der Tragödie des Chevalier de la Barre faßte Voltaire den Plan, zusammen mit den Enzyklopädisten nach Kleve im damals zu Preußen gehörenden Rheinland auszuwandern, um dort unter dem Schutz Friedrichs des Großen eine philosophische Kolonie zu begründen. Aber weder Diderot noch d’Alembert wollten sich aus ihren Pariser Verhältnissen lösen. Friedrich der Große selbst, das Zentrum des aufgeklärten Preußen, an den nicht umsonst Kant, der Philosoph einer universellen Aufklärung, noch im Jahre 1784 seine Schrift Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? adressierte, schrieb am 18. Oktober 1770 an d’Alembert: „Erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen, daß unsere heutigen Religionen [gemeint sind die christlichen Konfessionen]
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ebensowenig derjenigen Christi wie der Irokesischen gleichen. Jesus war ein Jude, und wir verbrennen die Juden. Jesus predigte Duldung, und wir verfolgen. Jesus predigte eine gute Sittenlehre, und wir üben sie nicht aus. Jesus hat keine Dogmen aufgestellt, und die Konzile haben reichlich dafür gesorgt“.31 An Voltaire schrieb er im Dezember 1766: „Ich halte die Arbeiten unserer jetzigen Philosophen für sehr nützlich, weil man den Menschen Scham über Fanatismus und Intoleranz vermitteln muß und weil es der Menschheit nutzt, wenn man diese grausamen und schrecklichen Tollheiten bekämpft, die unsere Vorväter zu reißenden Tieren machten“.32 Das große Thema der Vorurteile greift er in einem Brief an d’Alembert vom 25. November 1769 mit Formulierungen auf, die eine theoretische Vorüberlegung zu einer ganzen Reihe von Kleists Werken bilden könnten: „Wie soll man so viele Vorurteile besiegen, die schon mit der Muttermilch eingesogen sind? Wie soll man gegen die Gewohnheit kämpfen, welche die Vernunft der Dummköpfe ist, und wie soll man aus dem menschlichen Herzen den Samen des Aberglaubens reißen, den die Natur hineingelegt hat und den das Gefühl der eigenen Schwäche nährt?“33 Romantik und Idealismus unterbrachen trotz mancher Amalgamierungen die Aufklärungsbewegung, seit etwa 1830 aber setzte sie sich umso entschiedener und mit einer deutlichen Tendenz zur Radikalisierung fort, vor allem bei Heine, Büchner und den Linkshegelianern, die nun schon auf Romantik und Idealismus reagierten. Diese zweite Aufklärungsbewegung ist bis zu einem gewissen Grade bereits bei Kleist zu beobachten, der angesichts der heraufkommenden Romantik nicht einfach die Aufklärung fortsetzte, sondern aus aufklärerischem Geist die Romantik, auch die eigene, kritisch ins Visier nahm. Während sich die Generation von Schriftstellern nach 1830 mit der zurückliegenden Epoche von Romantik und Idealismus auseinandersetzte, bezog Kleist bereits am Beginn dieser Epoche kritisch Stellung, wie dies auch Goethe tat. Und weil Kleist in dieser Zeit steht und romantische Anwandlungen an sich selbst erfuhr, erhält die dennoch aufklärerisch-kritische Auseinandersetzung mit ihr eine existentielle Intensität. Denn es handelt sich ja nicht um eine Aufklärung gewissermaßen von außen gegen das Andere, vielmehr um eine Aufklärung, die er sich selbst gegen die eigenen romantisch-regressiven Neigungen zumutet. Aufschlußreich zeigt dies schon eine frühe Äußerung, die sich auf ein Reise-Erlebnis in Dresden bezieht. „Nirgends“, schreibt Kleist in seinem Brief an Wilhelmine von Zenge vom 21. Mai 1801, 31 Friedrich der Große, hrsg. von Otto Bardong (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte der Neuzeit. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe. Bd. XXII), Darmstadt 1982, Nr. 295, S. 463. 32 A.a.O., Nr. 284, S. 450. 33 A.a.O., Nr. 292, S. 460.
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Nirgends fand ich mich aber tiefer in meinem Innersten gerührt, als in der Katholischen Kirche, wo die größte, erhabenste Musik noch zu den andern Künsten tritt, das Herz gewaltsam zu bewegen. Ach, Wilhelmine, unser Gottesdienst [gemeint ist der protestantische] ist keiner. Er spricht nur zu dem kalten Verstande, aber zu allen Sinnen ein katholisches Fest. Mitten vor dem Altar, an seinen untersten Stufen, kniete jedesmal, ganz isolirt von den Andern, ein gemeiner Mensch, das Haupt auf die höheren Stufen gebückt, betend mit Innbrunst. Ihn quälte kein Zweifel, er glaubt – Ich hatte eine unbeschreibliche Sehnsucht mich neben ihm niederzuwerfen, u zu weinen – Ach, nur einen Tropfen Vergessenheit, und mit Wollust würde ich katholisch werden.34
Aber eben diesen „Tropfen Vergessenheit“ verbietet sich Kleist. Er geht nicht den Weg so vieler anderer Romantiker, die zum Katholizismus konvertieren und ihr Heil im Schoß der Kirche suchen. Gerade weil er die Versuchung zum sacrificium intellectus spürt, mobilisiert er die aufklärerischen Energien umso entschiedener.
3. Kleist und Rousseau: Naturkult und Zivilisationskritik Mit dem Namen Rousseau35 verband sich zunächst eine weitreichende Zivilisationskritik. Rousseau formulierte sie erstmals öffentlich in dem berühmt gewordenen Discours sur les sciences et les arts (1750), später dann in einer ganzen Reihe von anderen Werken, vor allem in seinem Erziehungsroman Émile ou de l’éducation (1762). Neben der Zivilisationskritik war das Bekenntnis zur natürlichen Gleichheit aller Menschen ein Grundelement im Denken Rousseaus. In seinem auf eine antik-stoische Konzeption zurückgreifenden, aber modern wirkungsvollen Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes von 1755 hatte er die Ungleichheit der Menschen und damit die gesellschaftlichen Konflikte auf die Eigentumsbildung zurückgeführt. Eigentum und Besitzgier bezeichnete er als Grundübel der Menschheitsgeschichte. Auch die Eigentumskritik wird zu einem entscheidenden Thema für Kleist, von seinem Erstlingswerk Die Familie Schroffenstein bis zu seiner letzten Erzählung Der Zweikampf. Rousseau formulierte drittens die Lehre vom Gesellschaftsvertrag. Er verkündete sie in seiner zwar schon 1762 erschienenen, aber erst in den Revolutionsjahren zu größerer Bedeutung gelangten Abhandlung Du Contrat so34
Briefe, Nr. 48, S. 225. Nach der ausführlichen, aber schematischen Materialaufbereitung von Oskar Ritter von Xylander: Heinrich von Kleist und J. J. Rousseau, Berlin 1937 (Germanische Studien 193) bezieht einige Werke im Überblick mit ein Siegfried Streller: Heinrich von Kleist und Jean-Jacques Rousseau, in: Weimarer Beiträge 8 (1962), S. 541–566. Auch in: Heinrich von Kleist. Aufsätze und Essays, hrsg. von Walter Müller-Seidel (Wege der Forschung 147), Darmstadt 1967, S. 635–671. 35
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cial. Im Mittelpunkt der Erörterungen stehen die Souveränität des Volkes und der den Individualinteressen übergeordnete Gemeinwille, die „volonté générale“. Dieses abstrakte und zum Teil widersprüchliche Werk blieb für Kleist eher marginal. Über Rousseaus Theorien hinaus wirkte seine Lebenshaltung auf Kleist. Rousseau, der bekanntlich sogar von Verfolgungswahn geplagt wurde, aber aufgrund seiner freimütigen Kritik auch tatsächlichen Verfolgungen ausgesetzt war, hatte durch sein Einsiedler-Leben auf der Peters-Insel im Bieler See einen halb melancholischen, halb idyllischen Rückzug aus der Gesellschaft vorgelebt. Davon zeugen seine Rêveries du promeneur solitaire36, die im Jahre 1782 postum erschienen und wie die ebenfalls erst postum veröffentlichten autobiographischen Confessions großes Aufsehen erregten. Gerade Rousseaus Gesellschaftsscheu und die nicht zuletzt von seinen persönlichen Schwierigkeiten herrührende Gesellschafts- und Zivilisationskritik mußten bei dem unter ähnlichen Problemen leidenden Kleist auch eine existentiell begründete Sympathie für Rousseau zur Folge haben. Er lebte sich für längere Zeit in eine regelrechte Rousseau-Nachfolge hinein. Während seines Schweizer Aufenthalts im Jahr 1802 ging er sogar so weit, wie Rousseau auf einer Insel zu wohnen: auf der Delosea-Insel, die in der Mündung der Aare in den Thuner See liegt. Von dort schrieb er am 1. Mai 1802 den schon zitierten Brief über das „Mädeli“ und das Schreckhorn. Bevor aber Kleist mit seinem idyllisierenden Rückzug aus der Gesellschaft Rousseau imitierte, stilisierte er auch seine Zivilisationskritik am Beispiel der Stadt Paris mit ihrem Luxus und ihrer Sittenverderbnis ganz in der Nachfolge Rousseaus. Im Sommer 1801 war er für mehrere Monate nach Paris gereist. Von dort schrieb er Briefe, die nicht als authentische Reise-Berichte, sondern als Briefpoesie zu werten sind. Kleist bezieht zwar reale Eindrücke von einer durch die langen Jahre der Revolution und die daran anschließenden Revolutionskriege verrohten Gesellschaft ein, sein eigentliches Thema ist aber ganz in Rousseaus Sinn die Negativität der Zivilisation überhaupt. Paris erscheint ihm geradezu als Zivilisationsungeheuer. „Mit allen seinen Greueln und sogenannten Freuden“ habe er Paris kennengelernt, schreibt er in dem langen Brief vom 28. und 29. Juli 1801 an Adolfine von Werdeck: „Es ist kein sinnliches Bedürfniß, das hier nicht bis zum Ekel befriedigt, keine Tugend, die hier nicht mit Frechheit verspottet, keine Infamie, die hier nicht nach Principien begangen würde“ (255) – schwungvolle Antizivilisationsrhetorik, wie sie nicht bloß ihrem Gehalt nach, sondern bis in den rhetorischen Duktus hinein direkt an Rousseaus Vorbild anknüpft. Kleist wird nicht müde, in diesem Ton fortzufahren. In einem Brief aus Paris vom 16. August 1801 an Louise von Zenge, die 36 Auf die Bedeutung dieses Werks hat besonders Bernhard Böschenstein hingewiesen: Kleist und Rousseau, in: KJb 1981/82, S. 145–156.
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Schwester seiner Braut, heißt es über das moderne Babylon: „Verrath, Mord u Diebstahl sind hier ganz unbedeutende Dinge, deren Nachricht niemanden afficiert. Ein Ehebruch des Vaters mit der Tochter, des Sohnes mit der Mutter, ein Todtschlag unter Freunden u Anverwandten sind Dinge, dont on a eu d’exemple, u die der Nachbar kaum des Anhörens würdigt“ (264). In seiner Zivilisationskritik hatte sich Rousseau auch über die vermeintlich negative Wirkung der Künste und insbesondere der Wissenschaften ereifert. Das war schon das Thema seines Erstlingswerks, des Discours sur les sciences et les arts von 1750. Nach Rousseau entfremden Kunst und Wissenschaft den Menschen seiner ursprünglichen Natur, sie verführen ihn zu Luxus und Laster. Vor allem aber deformiert die Wissenschaft und die von der Wissenschaft geprägte Zivilisation den Menschen, da sie ihn einseitig macht und an der Stelle des ganzheitlichen Menschen den kümmerlichen Spezialisten hervorbringt. Genau diesen Gedanken adaptiert Kleist in dem schon zitierten Brief vom 28. und 29. Juli 1801 an Adolfine von Werdeck. „Einseitigkeit“ der Wissenschaften lautet dort das Rousseausche Stichwort. „Ich mögte“, schreibt Kleist, „so gern in einer rein-menschlichen Bildung fortschreiten, aber das Wissen macht uns weder besser, noch glücklicher. Ja, wenn wir den ganzen Zusammenhang der Dinge einsehen könnten! […] Ach, mich ekelt vor dieser Einseitigkeit! Ich glaube, daß Newton an dem Busen eines Mädchens nichts anderes sah, als seine krumme Linie, u daß ihm an ihrem Herzen nichts merkwürdig war, als sein Cubikinhalt. Bei den Küssen seines Weibes denkt ein ächter Chemiker nichts, als daß ihr Athem Stickgas u Kohlenstoffgas ist“ (257). Und weiter heißt es von dem in seiner wissenschaftlichen Einseitigkeit verkümmerten Spezialisten in poetischer Metaphorik: „Er sieht bloß das Insect, nicht die Erde, die es trägt, und wenn der bunte Holzspecht an die Fichte klopft, oder im Wipfel der Eiche die wilde Taube zärtlich girrt, so fällt ihm bloß ein, wie gut sie sich ausnehmen würden, wenn sie ausgestopft wären. Die ganze Erde ist dem Botaniker nur ein großes Herbarium, u an der wehmütigen Trauerbirke, wie an dem Veilchen, das unter ihrem Schatten blüht, ist ihm nichts merkwürdig, als ihr linnéischer Name. Dagegen ist die Gegend dem Mineralogen nur schön, wenn sie steinig ist, und wenn der alpinische Granit von ihm bis in die Wolken strebt, so thut es ihm nur leid, daß er ihn nicht in die Tasche stecken kann, um ihn in den Glasschrank neben die andern Fossile zu setzen“. Schließlich ruft er aus: „O wie traurig ist diese cyklopische Einseitigkeit!“ (ebd.) – ein verballhorntes KantZitat, denn in Anlehnung an Rousseaus Polemik gegen die Einseitigkeit hatte Kant, auf den einäugigen Zyklopen Polyphem in Homers Odyssee anspielend, von der „zyklopischen Einäugigkeit“ gesprochen.37 37 Rousseaus These, daß Wissenschaften, Kunst und Gewerbe, Zivilisation im weitesten Sinn, zu einem korrumpierenden Luxus führen, übernimmt Kleist ebenfalls in seine Brie-
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Wie sehr Kleist auf Rousseau eingeschworen war, zeigt schon ein Brief vom 22. März 1801 an Wilhelmine von Zenge. „Es hätte sich nicht leicht ein Umstand ereignen können“, schreibt er in diesem Brief, „der imstande wäre, Dich so schnell auf eine höhere Stufe zu führen, als Deine Neigung für Rousseau. Ich finde in Deinem ganzen Briefe schon etwas von seinem Geiste – das zweite Geschenk, das ich Dir, von heute an gerechnet, machen werde, wird das Geschenk von Rousseaus sämmtlichen Werken sein. Ich werde Dir dann auch die Ordnung seiner Lesung bezeichnen – für jetzt laß Dich nicht stören, den ‚Emil‘ ganz zu beendigen“ (203). Auf dem Hintergrund dieses vor dem Aufbruch nach Frankreich geschriebenen Briefes läßt sich die Inszenierung Rousseauscher Sicht- und Denkweisen in den Briefen aus Paris als Erfüllung eines ideologischen Programms verstehen, das auch eine ganze Reihe von Dichtungen Kleists strukturiert. Insofern sind diese Briefe bereits dichterische Zeugnisse, nicht bloß biographische im engeren Sinn.38 Zur selben Zeit schreibt Kleist schon an seinen ersten Dramen, ohne darüber allerdings zu berichten. Dichterischer Rousseauismus ist es, wenn er den zitierten Brief an Louise von Zenge vom 16. August 1801 in einen großen Naturhymnus einmünden läßt. In den beiden ersten Partien des kunstvoll komponierten Briefs entwirft Kleist das Bild der Stadt Paris und eine Charakteristik der Bewohner. Wie die Stadt als Unnatur erscheint, so auch die Lebensart ihrer Bewohner, die allen ursprünglichen und wahren Bedürfnissen des menschlichen Wesens entfremdet sind. In einer dritten Partie steigert sich diese Darstellung zivilisierter Unnatur: Sie erreicht für Kleist ihr nur noch pervers zu nennendes Maximum, wo die Stadtbewohner Natur künstlich inszenieren! Von Zeit zu Zeit verläßt man die matte, fade, stinkende Stadt, und geht in die – Vorstadt, die große, einfältige, rührende Natur zu genießen. Man bezahlt (im hameau de Chantilly) am Eingange 20 sols für die Erlaubniß, einen Tag in patriarchalischer Simplicität zu durchleben. Arm in Arm wandert man, so natürlich wie möglich, über Wiesen, an dem Ufer der Seen, unter dem Schatten der Erlen, hundert Schritte lang, bis an die Mauer, wo die Unnatur anfängt – dann kehrt man wieder um. Gegen die Mittagszeit (das heißt um 5 Uhr) sucht jeder sich eine Hütte, der eine die Hütte eines Fischers, der Andere die eines fe aus Paris. In diesem Zusammenhang zitiert er sogar direkt Rousseau (an Wilhelmine von Zenge, 15. August 1801). 38 Wie sehr überdies Kleists Briefe aus den frühen Jahren generell und diejenigen aus Paris speziell durch vorgegebene Wahrnehmungsmuster bestimmt sind, erörtert Gonthier Louis Fink: Zwischen Frankfurt an der Oder und Paris. Variationen des Deutschland- und Frankreichbildes des jungen Kleist, in: KJb 1997, S. 97–125, bes. S. 115–125. Vgl. auch, insbesondere zur „literarisch modellierten Empfindsamkeit“ und zur „Ästhetik der latenten Subjektgefährdung“, die Darstellung von Ingrid Oesterle: Werther in Paris? Heinrich von Kleists Briefe über Paris, in: Heinrich von Kleist. Studien zu Werk und Wirkung, hrsg. von Dirk Grathoff, Opladen 1988, S. 97–116.
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Jägers, Schiffers, Schäfers etc. etc. jede mit den Insignien der Arbeit und einem Namen bezeichnet, welchen der Bewohner führt, so lange er sich darin aufhält. Funfzig Laquaien, aber ganz natürlich gekleidet, springen umher, die Schäfer- oder die Fischerfamilie zu bedienen. Die raffinirtesten Speisen u die feinsten Weine werden aufgetragen, aber in hölzernen Näpfen u in irdenen Gefäßen […].39
Kleist beendet diese eindrucksvolle Darstellung, indem er die Rückkehr in die Stadt mit folgenden Worten schildert: „und jeder eilt nun aus der Natur wieder in die Unnatur hinein“. Die künstlich hergestellte Natur erweist sich als ein Produkt des Entfremdungsleidens in der modernen Zivilisation. „Natürliches“ Dasein ist nur noch als falscher Schein, als Theater in einer Welt möglich, die schon längst nicht mehr Natur, sondern Zivilisation ist. Diese Zivilisation, als deren Inbegriff die Großstadt Paris figuriert, weckt zwar das Bedürfnis, ihr zu entkommen und „Natur“ zu suchen, aber eben deshalb kann sie nicht gefunden und authentisch erlebt, sondern nur noch in der Form einer künstlichen Veranstaltung inszeniert werden. Diesen kunstvoll aufeinander aufbauenden zivilisationskritischen Partien des Briefes, der sich nach und nach als kulturphilosophische Dichtung aus dem Geiste Rousseaus entpuppt, folgt ein hochpoetischer Naturhymnus. Der zivilisatorischen Unnatur setzt Kleist eine Vision der Natur entgegen, die wie kaum ein anderer Text den zeitgenössischen Naturkult zum Ausdruck bringt: Große, stille, feierliche Natur, Du, die Cathedrale der Gottheit, deren Gewölbe der Himmel, deren Säulen die Alpen, deren Kronleuchter die Sterne, deren Chorknaben die Jahreszeiten sind, welche Düfte schwingen in den Rauchfässern der Blumen, gegen die Altäre der Felder, an welchen Gott Messe lieset u Freuden austheilt zum Abendmahl unter der Kirchenmusik, welche die Ströme u die Gewitter rauschen, indessen die Seelen entzückt ihre Genüsse an dem Rosenkranze der Erinnerung zählen – so spielt man mit dir –?40
Dieser Naturkult, der sich in der systematischen Transponierung der ganzen Natur in das kultische Arrangement einer Kathedrale präzise fassen läßt und seine Vorbilder in den pseudoreligiösen Feiern der Natur während der Zeit der Französischen Revolution hat41, ist nicht zuletzt unter dem Aspekt der Säkularisation interessant. Das Jahrhundert der Aufklärung hatte die Offenbarungsreligion und damit die religiös-metaphysische Orientierung mindestens der gebildeten Schicht weitgehend aufgehoben. Soweit man noch von Religion 39
Briefe, Nr. 55, S. 269. Ebd. 41 Vgl. Hans-Christian und Elke Harten: Die Versöhnung mit der Natur. Gärten, Freiheitsbäume, republikanische Wälder, heilige Berge und Tugendparks in der Französischen Revolution. Reinbek bei Hamburg 1989. In der kultischen Verehrung der Natur, ihrer Elemente und Kräfte wollte man die Harmonie und die Versöhnung des nun wieder selbst ‚natürlich‘ gewordenen Menschen mit der Natur zum Ausdruck bringen. 40
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sprach, ließ man sie, wie Kant demonstrierte, nur in den Grenzen der Vernunft und des natürlichen Empfindens gelten. Sie verlor damit ihre transzendente Dimension und wurde mehr oder weniger eine ‚weltliche‘ Religion. Das war der entscheidende Schritt der Säkularisierung. Auch wenn man das Übernatürliche zum Natürlichen depotenzierte, blieb allerdings doch das Bedürfnis, der Immanenz des natürlichen Daseins noch etwas von der Erhabenheit des entschwundenen Übernatürlichen zu erhalten. Mit der Abwertung der jenseitigen Übernatur verband sich eine entschiedene Aufwertung der diesseitigen Natur. So kam es zu einem spezifischen Naturkult. Reiche Nahrung erhielt der Kult der Natur, von dem Kleists Brief ein beredtes Zeugnis ablegt, durch den zeitgenössischen Spinozismus, dessen Kardinalformel „deus sive natura“ Gott mit der Natur gleichsetzte. Infolgedessen löste sich das christlich-dualistische Modell zugunsten eines modern-monistischen Weltbildes auf. Zwar gibt es bei Kleist keinerlei eindeutige Aussagen wie etwa bei Goethe und Hölderlin, die sich dem Spinozismus und damit der pantheistischen Naturvorstellung zuwandten. Aber der zitierte briefliche Naturhymnus scheint doch in diese Richtung zu weisen. Der traditionellen religiösen Haltung und der ihr zugeordneten Kulthandlung entspräche es, wenn der Mensch in der „Kathedrale der Gottheit“ als Priester fungieren würde. Kleist aber läßt Gott in der Kathedrale, welche die Natur ist, Messe lesen. In diesem scheinbar so verunglückten Bild kommt zum Ausdruck, daß nicht etwa Mensch und Natur auf eine transzendente Gottheit bezogen sind, vielmehr daß Gott diesem Raum der Natur immanent ist, der nur insofern „Kathedrale der Gottheit“ heißen kann. Die Gottheit ist nur noch der personifizierte Mittelpunkt des Geschehens in der Natur. Abschließend behauptet Kleist in seiner Briefdichtung, er habe bei seinem Ausflug zum Hameau de Chantilly abseits des perversen, sich in einer erkünstelten „Natur“ abspielenden Treibens der Städter ein Liebespaar beobachtet, das sich der wahren Natur eines echten Liebesgefühls überließ. Das ist das eigentliche, wiederum ganz nach Rousseau entworfene Ziel der Briefdichtung. Rousseau verherrlicht die Natur nicht bloß als äußere Natur, sondern auch als unentstellte Natürlichkeit des Gefühls, die der zivilisatorisch deformierte Mensch zu verlieren droht. So verschmilzt bei ihm der Naturkult mit einem Gefühlskult, den der Liebesroman Julie ou la Nouvelle Héloïse (1761) eindrucksvoll entfaltet. Kleist kommt es vor allem auf das naturhafte Liebesgefühl an, das wahre Humanität ausdrückt, während die denaturierte Gesellschaft für ihn etwas spezifisch Inhumanes hat. Überall, wo in seinen Werken wahre Liebe im Spiele ist, repräsentiert sie die gegengesellschaftliche Sphäre authentischen, natürlichen Menschentums. Wenige Monate nach dieser Briefpoesie treibt Kleist seine Rousseau-Nachfolge auf die Spitze. Er reist aus der Großstadt Paris in die Schweiz, um „im
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eigentlichsten Verstande ein Bauer“ zu werden, wie er im Brief an die Braut vom 10. Oktober 1801 schreibt.42 Er versucht Rousseaus Ideal des homme naturel zu realisieren. Daß er dieses Ideal gerade in der Schweiz verwirklichen will, ist bezeichnend, denn Rousseau, der gebürtige Genfer, der einen großen Teil seines Lebens in der Schweiz verbrachte, begeisterte durch die malerischen Schilderungen der Schweizer Seen- und Gebirgslandschaft in seinem Roman La Nouvelle Héloïse und in seinen autobiographischen Schriften, vor allem in den Rêveries du promeneur solitaire, das Publikum für diese bis dahin kaum beachtete Landschaft. Sein Zeitgenosse Samuel Johnson, ein eingefleischter Großstädter aus London, bezeichnete die Berge noch als „Auswüchse und unnatürliche Beulen auf der Erdoberfläche“. Der sentimentalische Wanderer und Spaziergänger Rousseau dagegen pries die ursprüngliche und wilde Natur. Er wurde damit zum Wegbereiter des Alpinismus und überhaupt des Natur-Tourismus. Kein anderer hat so viel dazu beigetragen, die Schweizer Berge zum Gegenstand der europäischen Naturbegeisterung zu machen, wie Rousseau. In die Alpen reisen, hieß dem berühmten Ruf Rousseaus „zurück zur Natur“ folgen. Goethe, Hölderlin, Kleist und viele andere Zeitgenossen begaben sich in die Schweiz, um sie im Zeichen Rousseaus zu erleben. Zahlreiche rousseauistisch gefärbte Reisebeschreibungen und Landschaftsdarstellungen entstanden, auch Dichtungen, die von diesem Geist beseelt sind und die Schweizer Landschaft mit ihren hohen Bergen, den Seen und dem Rheinstrom als Szenerie benutzen. Zu den bedeutendsten dichterischen Beispielen gehören Hölderlins Ode Unter den Alpen gesungen und seine große, ebenfalls im Jahr 1801 entstandene Hymne Der Rhein, in der er direkt Rousseau nennt. Kleists Rousseau-Nachfolge ist demnach nicht irgendein zufälliger Bestandteil seiner Biographie, vielmehr inszeniert er das Leben bewußt nach einem geistig-literarischen Muster. Rousseau war schon zur Kultfigur geworden. In besonderem Maße diente er der ideologischen Identitätsbildung, wenn – wie bei Hölderlin und Kleist – die individuelle Lage, das Außenseitertum und die Schwierigkeiten der Anpassung an Konvention und Gesellschaft schon entsprechende Affinitäten boten. Der tiefere Grund für die Rousseau-Attitüde, mit der sich Kleist zum homme naturel stilisierte, kommt im Brief vom 10. Oktober 1801 an Wilhelmine von Zenge in einem jähen Geständnis zum Vorschein. Er fühle sich, schreibt Kleist an die Braut, „ganz unfähig“, sich „in irgend ein conventionelles Verhältniß der Welt zu passen“ (272). Im darauffolgenden Brief vom 27. Oktober 1801, wiederum an Wilhelmine, setzt Kleist nach alter literarischer Idyllen-Manier das „Landleben“ dem „Stadtleben“ entgegen. Rousseau hatte diesen Idyllen-Topos zu einem Grundelement seiner Zivilisationskritik gemacht. Immer von neuem kontrastierte er die kor42
Briefe, Nr. 56, S. 275.
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rupte und korrumpierende Zivilisation des Stadtlebens mit dem reinen, natürlichen Landleben, das fern aller Gesellschaft die einzige Möglichkeit wahrhaft menschlicher Erfüllung biete. In seinem Roman Émile, dessen Fernwirkungen bis in die moderne Landschulpädagogik reichen, sieht er es sogar als eine wichtige Aufgabe der Erziehung an, die jungen Menschen aus der Stadt auf das Land zu schicken, wo allein die Segnungen natürlichen Lebens zu erfahren seien. „Die Städte“, schreibt Rousseau, „sind Abgründe für das Menschengeschlecht. Nach Verlauf einiger Generationen gehen die Stämme zu Ende oder sie entarten; man muß sie veredeln, und diese Veredelung geht immer vom Lande aus. Laßt also eure Kinder auf dem Lande die Kraft wieder gewinnen […]“.43 Mit großer Rhetorik gestaltet Rousseau immer wieder den Zivilisationsekel, den er angesichts des korrumpierenden Gesellschaftslebens empfindet, einen Ekel, der die Sehnsucht nach dem Landleben, nach Natur und natürlichem Empfinden übermächtig werden läßt: Ich war so gelangweilt von Salons, Springbrunnen, Bosketts, Gartenbeeten und den noch langweiligeren Besitzern alles dessen; ich war so übersättigt von Broschüren, Klavieren, L’Hombre-Spiel, Theaterverwicklungen, törichten Bonmots, fader Ziererei, kleinen Schwätzern und großen Soupers. Wenn ich einen verstohlenen Seitenblick auf einen einfachen, armseligen Dornbusch, eine Hecke, eine Scheune, eine Wiese warf, wenn ich durch ein Dörfchen kam und den Duft eines Omeletts roch, wenn ich von weitem den ländlichen Kehrreim der Lieder der Ziegenhirtinnen hörte, dann wünschte ich Schminke, Bänder und Ambra zum Teufel […].44
Schon in der deutschen Geniezeit, um 1770, gelangte das Rousseausche Muster des sentimentalisch-melancholischen Rückzugs aufs Land zu literarischer Breitenwirkung. Ein berühmtes Beispiel ist Goethes Werther. „Die Stadt selbst ist unangenehm“, heißt es schon im ersten Brief. Werther geht aufs Land, in den Bereich der Natur und des einfachen Volkes, um möglichst ungebunden sein Ich entfalten zu können und sich ganz seinen Empfindungen und Stimmungen hinzugeben. So verläßt Kleist Paris, das er ganz nach den vorgegebenen Mustern als unangenehm, ja als „ekelhaft“ empfindet, wie er in deutlicher Adaption des Rousseauschen Kulturekels an einer Stelle sagt. In der Schweiz bezieht er, wie schon erwähnt, ein Häuschen auf einer Insel in der Aare-Mündung am Thuner See, um Rousseaus Idylle auf der Peters-Insel im Bieler See nachzuleben. Das ist der Moment, in dem sich Kleist erstmals ganz zum 43 „Les
villes sont le gouffre de l’espèce humaine. Au bout de quelques générations les races périssent ou dégénèrent; il faut les renouveler, et c’est toujours la campagne qui fournit à ce renouvellement. Envoyez donc vos enfants se renouveler, pour ainsi dire, euxmêmes, et reprendre, au milieu des champs, la vigueur […]“ (Jean-Jacques Rousseau: Émile ou de l’éducation, Paris 1961 [Garnier], S. 37). 44 Confessions, 9. Buch.
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Schriftsteller-Beruf bekennt. In demselben Brief (20. Mai 1802), in dem er dies tut, löst er sich endgültig von seiner Braut, mit den Worten: „Liebes Mädchen, schreibe mir nicht mehr“ (309). Rousseaus Bedeutung für Kleists Dichtungen ist oft hervorgehoben worden. Vor der genaueren Analyse im Zusammenhang mit der Darstellung der jeweiligen Werke kann ein vorgreifender Überblick das Koordinatensystem deutlich machen, in dem sie sich bewegen. Wie nicht anders zu erwarten, ist das gleichzeitig mit den brieflichen Rousseau-Bekenntnissen entstandene Erstlingsdrama Die Familie Schroffenstein am intensivsten von der Vorstellungswelt Rousseaus geprägt. Ins Zentrum seines Dramas stellt Kleist die menschliche Ursünde nach Rousseau: die Bildung des Eigentums. Die Fixierung auf das Eigentum führt zu Streit und einem Mißtrauen, das alle menschlichen Verhältnisse zerrüttet: das Verhältnis von Verwandten zueinander, vom Mann zur Frau, vom Vater zu den Kindern, ja das Verhältnis des Menschen zu sich selbst. Auch alle einzelnen Konstellationen des Erstlingswerks sind nach Rousseau konstruiert, und dies bis ins Szenische. Während sich im Bereich des Gesellschaftlichen blutige Greuel ereignen, entfaltet sich die reine Menschlichkeit der Liebe in gesellschaftsferner Gebirgsnatur. Auch Kleists erste Erzählung, Das Erdbeben in Chili (1807), führt die Opposition von gesellschaftlich formierter, inhumaner Welt und einer wahrhaft menschlichen, weil vom Druck gesellschaftlicher Institutionen und Konventionen befreiten Welt vor. Wer gegen die Vorurteile der Gesellschaft verstößt, wie das Liebespaar Jeronimo und Josephe, das die Standesgrenzen überwindet, wird von den Agenturen der gesellschaftlichen Interessen, von Kirche und Staat, verdammt und verurteilt. Unmittelbar vor der Hinrichtung der beiden Liebenden bricht nun aber das Erdbeben los: Die gesamte gesellschaftliche Ordnung löst sich auf, Staat und Kirche verlieren vorübergehend ihre Macht, weil das Erdbeben in buchstäblichem Sinne alles zum Einsturz bringt. Ein sich frei von gesellschaftlichen Institutionen entfaltendes Leben in paradiesischer Natur ermöglicht ein menschliches Zusammensein, in dem nur die natürlichen Gefühle gelten und nur das elementare menschliche Miteinander von Belang ist. Es scheint, als seien die Liebenden nun in eine wahrhafte Gemeinschaft aufgenommen und als habe alle Bedrängnis ein Ende. Aber dieser Zustand erweist sich als Utopie, denn, so gibt Kleist zu verstehen, auf Dauer sind institutionenfreie Räume nicht vorstellbar. Aufgehetzt von einem fanatischen Priester, formiert sich die Gesellschaft wieder zu ihren alten Vorurteilen. Das Ergebnis ist ein Blutbad, dem das Liebespaar zum Opfer fällt. Im großen Maßstab einer heroischen Tragödie bestimmen die Rousseauschen Grundwertungen Kleists Penthesilea. Der Amazonenstaat repräsentiert eine gesellschaftliche Ordnung, die das Individuum seiner natürlichen menschlichen Entfaltungsmöglichkeit beraubt. Er beruht auf einem Gesetz, das es den
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Frauen – und dieser Staat besteht nur aus Frauen – verbietet, in dauernder ehelicher Gemeinschaft zu leben, denn durch Männer hatten die Frauen einst Unterdrückung und Gewalt erfahren. In exzessiver Gegenreaktion erzwingt das Gesetz des Amazonenstaates nunmehr die totale Emanzipation: Männer dürfen nur noch zur Sicherung des Nachwuchses, von dem ja der Bestand des Staates abhängt, ‚verwendet‘ werden. Deshalb ist es den Amazonen untersagt, eine persönliche Liebeswahl zu treffen – sie könnte zum Wunsch nach dauernder Verbindung führen. Wenn wieder Bedarf an Nachwuchs besteht, müssen die Amazonen ausziehen, um Männer für kurze Zeit zum Zweck der Fortpflanzung gefangenzunehmen. Dieser Frauenstaat repräsentiert das Gegenteil von Emanzipation: die organisierte Repression der individuellen Rechte und der natürlichen Gefühle des Menschen. Nur durch die Unterdrückung des Liebesgefühls und das Verbot einer persönlichen Liebesbindung kann das gesellschaftliche System des Amazonenstaates aufrechterhalten werden. Selbstverständlich nahm Kleist die exotische Amazonensage nicht an sich ernst, vielmehr verwendete er den Amazonenstaat als ein extremes Symbol für den von ihm mit Rousseau grundsätzlich als negativ bewerteten gesellschaftlichen Repressionsmechanismus, der im Staat seine übergreifende Organisationsform findet. Krass kommt die Denaturierung durch gesellschaftlichen Zwang in einem anderen Zug zum Ausdruck. Die Amazonen, so berichtet die Sage, mußten als ganz auf sich gestelltes und deshalb auch zum Kriegsdienst gezwungenes Frauenvolk fähig sein, den Bogen zu spannen. Um dies bewerkstelligen zu können, mußten sie sich eine Brust abreißen. Der Name A-mazone heißt wörtlich ins Deutsche übersetzt: die Busenlose. Diese Überlieferung greift Kleist auf, um die Denaturierung, ja Mißhandlung der menschlichen Natur sinnfällig zu machen. Wie im Erdbeben in Chili und schon vorher in der Familie Schroffenstein erhalten auch in der Penthesilea Religion und Kirche die Funktion, gesellschaftliche Interessen und Zwänge ideologisch zu legitimieren. Da das Drama in der vorchristlichen Antike spielt, konnte Kleist nicht christliche Priester als Vertreter einer öffentlichen ‚Moral‘ auftreten lassen. Aber es ist durchsichtig, was er meint, wenn er einer heidnischen Oberpriesterin die Funktion ideologischer Normensetzung und Normenkontrolle überträgt. In der großen, starken und gefühlsechten Menschen-Natur, wie sie Penthesilea repräsentiert, läßt sich das natürliche Gefühl nicht auf Dauer unterdrücken. Deshalb kommt es zum Konflikt, und damit verwandelt sich das Geschehen in ein tragisches. Doppelt tragisch ist es, weil es sich nicht nur um einen äußeren, sondern auch um einen inneren Konflikt handelt. Denn – und das wird die Analyse des Dramas genauer zeigen – Penthesilea hat die gesellschaftlichen Normen unbewußt internalisiert, weil sie mit ihnen aufgewachsen ist, und so liegt sie auch mit sich selbst im Kampfe. Das ist die tiefste und schlimmste Wirkung der gesellschaftlichen Entfremdung, der die ursprüngliche Menschen-
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natur unterworfen wird: Nicht nur äußerlich wirken die gesellschaftlichen Normen zerstörerisch auf sie ein, schlimmer noch ist ihr Zerstörungswerk im Innern. Erst damit wird die Entfremdung zur Selbstentfremdung. Schon diese vorläufige Skizze erlaubt es, eine kurze Synthese zum Thema ‚Kleist und Rousseau‘ zu formulieren. Der gemeinsame Nenner ist eine grundsätzlich negative Wertung des gesellschaftlichen Lebens. Daraus folgt eine radikale Kritik der Institutionen, in denen sich dieses gesellschaftliche Leben am stärksten formiert: Staat und Kirche. Für Kleist sind sie Unnatur und Widernatur. Da aber menschliches Leben nur gesellschaftlich denkbar ist und immer Institutionen wie Staat und Kirche die Macht- und Besitzinteressen sowie die Vorurteile der Gesellschaft organisieren, folglich das Natur-Widrige unaufhebbar bleibt, haben die wenigen Menschen, die wahrhaft human leben wollen und aus innerstem Antrieb leben müssen, notwendigerweise ein tragisches Los. So ergibt sich Kleists Konzeption des Tragischen. Das Tragische ist in dieser Sicht geradezu unvermeidbar.
4. Patriotisches Engagement und Preußische Reformen Bei der nahezu anarchistischen Sicht seiner frühen Jahre ist Kleist nicht stehengeblieben. In seinen letzten Werken, vor allem im Prinzen Friedrich von Homburg, nimmt er zu Staat und Gesellschaft eine zwar nicht affirmative, aber doch kritisch-konstruktive Haltung ein. Das Recht des Individuums auf Selbstverwirklichung gibt er nicht auf, doch mißt er es an den nun auch berechtigt erscheinenden Interessen und Belangen des Staates. Diese neue Entwicklung seines Denkens über den Staat – nicht über Kirche und Religion – hat zwei Gründe: die militärische Katastrophe Preußens in den Napoleonischen Kriegen und die Preußischen Reformen. Nachdem Napoleon am 2. Dezember 1805 in der Schlacht bei Austerlitz einen entscheidenden Sieg über die verbündeten österreichischen und russischen Truppen errungen hatte, nachdem dann am 12. Juli 1806 unter seinem Protektorat der sogenannte Rheinbund errichtet worden war, dem die meisten deutschen Staaten außer Österreich und Preußen beitraten, ließ sich der Zerfall des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation nicht mehr aufhalten. Besiegelt wurde er, als Kaiser Franz II. am 6. August 1806 unter Napoleons Druck die deutsche Kaiserkrone niederlegte. Das war das offizielle und förmliche Ende des alten Reiches, dessen Macht schon seit Jahrhunderten durch die Herausbildung der fürstlichen Landeshoheit in den einzelnen Territorien ausgehöhlt worden war. Napoleons Ziel war die endgültige Auflösung des Reiches in eine Anzahl relativ machtloser und von ihm völlig abhängiger Mittelstaaten: Österreich und Preußen sollten in ihrem Territorium reduziert und aus dem übrigen
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Deutschland verdrängt, der Rest unter französische Führung gestellt werden. Daß dies nur die Vorstufe einer expansiven Annexionspolitik war, darauf deutete die Einverleibung der Hansestädte Bremen, Hamburg und Lübeck in das ‚Grand Empire‘ und der Ausgriff bis nach Erfurt. Von Anfang an bekämpfte Napoleon die sich gegen seine Deutschlandpolitik formierende deutsche Nationalbewegung, wie die brutale Hinrichtung des Buchhändlers Palm am 26. August 1806 demonstrierte. Nach der Konstituierung des Rheinbundes und nach dem Sieg über Österreich standen ihm auf dem Kontinent zunächst nur noch Preußen und Rußland gegenüber. In Preußen aber folgten auf Friedrich den Großen schwache Regenten, die eine miserable Außenpolitik betrieben, und vor allem lähmten innere Mängel des reformbedürftigen Staates und Heeres die Entfaltung eines tatkräftigen Widerstands. Am 14. Oktober 1806 besiegte Napoleon das preußische Heer in der Schlacht bei Jena und Auerstedt, Preußen brach militärisch zusammen. Am 27. Oktober 1806 marschierte der Eroberer in Berlin ein, das Königspaar floh in die alte preußische Krönungsstadt Königsberg. Kleists briefliche Äußerungen, aber auch die politischen Schriften, die er in den nun folgenden Jahren verfaßte, lassen erkennen, daß diese äußerste Bedrohung bei ihm wie auch bei anderen Zeitgenossen das patriotische und politische Engagement weckte, das dann schließlich zu den Befreiungskriegen führte. Die bedeutendsten dichterischen Zeugnisse dieser neuen politischen Leidenschaft sind die Hermannsschlacht und, auf etwas vermitteltere Weise, Prinz Friedrich von Homburg. Die akute Bedrohung, die an den Lebensnerv des Vaterlandes ging, bewog Kleist, der sich bisher unter Berufung auf Rousseau radikal gesellschaftsfeindlich und gegenüber den staatlichen Institutionen prinzipiell ablehnend verhalten hatte, zu einer patriotischen Identifikation. Insofern vollzog er eine grundsätzliche Wende. Allerdings bejahte er Preußen nicht in seiner Staatlichkeit und in seiner gesellschaftlichen Struktur, vielmehr handelte es sich um ein elementares Engagement für die Heimat. Aber dieses Engagement führte Kleist doch zu ganz neuen Reflexionen über den Staat und seine Verfassung. Dabei geriet er in den Bann der Preußischen Reformen. Das Signal gab die Nassauische Denkschrift des Freiherrn vom Stein im Jahr 1807, ein Jahr nach Preußens Zusammenbruch. Mit ihrem Konzept der Mitverantwortung und der Teilnahme des Einzelnen am staatlichen Leben wollten die preußischen Reformer lebendige Identifikation mit dem Staat ermöglichen. Sie versuchten den preußischen Staat von innen her so weit zu stärken, daß er die Kraft zum erfolgreichen Kampf gegen Napoleon gewann. Mit der gleichen Grundtendenz wenden sich Kleists spätere Werke dem Staat und den gesellschaftlichen Problemen zu. Im Bannkreis der Preußischen Reformen kultiviert er nicht etwa bloß einen blindwütigen Patriotismus, wie dies bei isolierter Betrachtung der Hermannsschlacht scheinen könnte, vielmehr reflektiert er kri-
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tisch, aber nun mit konstruktiver Absicht die Mißstände des Staates und der Gesellschaft, um einen neuen, besseren Zustand herbeiführen zu helfen. Seine von Rousseau ausgehende, anfänglich radikal ablehnende Kritik, die wegen ihrer Grundsätzlichkeit auch sehr allgemein geblieben war, wandelt sich in eine Kritik, die mehr auf bestimmte und konkrete und damit auch korrigierbare Mißstände abzielt. Das wird vor allem am Michael Kohlhaas zu sehen sein.45 Als ein im engeren Sinn politischer Hauptmißstand galt ihm allerdings die zögerliche und mutlose Haltung des preußischen Königs gegenüber Napoleon. In den Jahren 1808 und 1809 wandten sich deshalb seine Hoffnungen auf Österreich, das in der Tat am 9. April 1809 die Kriegshandlungen begann. Mit einigen Gesinnungsgenossen wollte Kleist die österreichische Erhebung publizistisch unterstützen. Die Hermannsschlacht und mehrere Gedichte riefen leidenschaftlich zum Krieg gegen die Franzosen auf, die am 13. Mai Wien besetzten. Nach dem Sieg des Erzherzogs Karl über Napoleon in der Schlacht bei Aspern besichtigte Kleist zusammen mit Friedrich Christoph Dahlmann, dem später berühmten Historiker, das Schlachtfeld am 25. Mai. Als Napoleon am 6. Juli 1809 bei Wagram über die Österreicher siegte, versuchte Kleist die in Österreich durchaus noch aktive Kriegspartei zu unterstützen, er verfaßte den Aufruf Über die Rettung von Österreich46, um die österreichische Führung und den Kaiser zur Mobilisierung der letzten Kräfte zu bewegen. Als am 14. Oktober 1809 der Frieden von Schönbrunn geschlossen wurde, sah Kleist seine Hoffnungen gescheitert. Die letzte Lebenszeit, 1810 und 1811, verbrachte er in Berlin, wo er die beiden Bände mit seinen Erzählungen, das Käthchen und den Zerbrochnen Krug herausbrachte und in seinem letzten, nicht mehr zum Druck gelangenden Werk, Prinz Friedrich von Homburg, seine Hoffnungen nochmals auf Preußen richtete, auf eine preußische Erhebung gegen Napoleon, zugleich aber auf ein Preußen, das aus dem Geist der Reform schon beinahe so utopische Züge47 annahm wie die zwischen Wirklichkeit und Traum schwebende Gestalt des Prinzen, in dessen Todesbereitschaft Kleist auch seine eigene, aus verzweifelten Bedrängnissen entschiedene, aber schon lang vorhandene gestaltete.
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S. 215–234. Richard Samuel: Zu Kleists Aufsatz Über die Rettung von Österreich, in: Gratulatio. Festschrift für Christian Wegner, Hamburg 1963, S. 171–189. Vgl. Rudolf Berg: Intention und Rezeption von Kleists politischen Schriften des Jahres 1809, in: Text und Kontext. Quellen und Aufsätze zur Rezeptionsgeschichte der Werke Heinrich von Kleists, hrsg. von Klaus Kanzog, Berlin 1979, S. 193–251. 47 Vgl. Hans Joachim Kreutzer: Die Utopie vom Vaterland. Kleists politische Dramen, in: Oxford German Studies 20/21, 1991/92, S. 69–84. 46
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5. Zur Kleistforschung Die in der älteren Kleistforschung dominierende Absolutsetzung irrationaler Größen wie „Gefühl“ und „Schicksal“ wird Kleists intellektuellem Habitus nicht gerecht. Die 1929 publizierte und das Kleistbild für Jahrzehnte bestimmende Studie von Gerhard Fricke mit dem Titel Gefühl und Schicksal bei Heinrich von Kleist48 geht von solchen irrationalistischen Absolutsetzungen aus. Kleist habe, so Frickes These, das äußere Geschehen zum „Schicksal“ dämonisiert und dagegen in existentialistischer Selbstbehauptung das reine „Gefühl“ gesetzt, das in seiner subjektiven Tiefe eine existentielle Wahrheit enthalte und untrügliche Orientierung verleihe. Für Kleist ist jedoch die äußere Wirklichkeit, obwohl er ihre Zwänge wahrnimmt und auch dem Zufall große Bedeutung beimißt, keineswegs eine unbegreifliche Schicksalsmacht, vielmehr diagnostiziert und problematisiert er sie als das historisch Gewordene und von Menschen Gestaltete. Andererseits erklärt er das „Ich“ und sein „Gefühl“ nicht für unfehlbar, sondern erkennt es oft als Quelle von Irrtümern und Versehen. Er führt es auf historische Formierungen zurück und relativiert es insofern gründlich. Noch über die Mitte des 20.Jahrhunderts hinaus erschienen Bücher, die Frickes Schema folgten und es sogar radikalisierten, so Günter Blöckers Buch Heinrich von Kleist oder Das absolute Ich.49 Gerne sprach man auch vom „Dämonischen“ bei Kleist. Seit Beginn der Sechziger Jahre änderte sich allmählich die Blickrichtung50, indem man nunmehr den geschichtlich interessierten und aufklärerischen Kleist in den Mittelpunkt rückte. Man erkannte jetzt auch den Wert einiger älterer Untersuchungen, die durch genaue philologische Analyse schon auf die richtige Spur geführt hatten, aber durch den irrationalistischen Mode-Trend jahrzehntelang ignoriert worden waren. 48
Gerhard Fricke: Gefühl und Schicksal bei Heinrich von Kleist. Studien über den inneren Vorgang im Leben und Schaffen des Dichters, Berlin 1929. Reprograph. Nachdruck Darmstadt 1975. 49 Günter Blöcker: Heinrich von Kleist oder Das absolute Ich. Berlin 1960. 50 Vgl. Walter Müller-Seidel: Versehen und Erkennen. Eine Studie über Heinrich von Kleist, Köln 1961, 3. Aufl. 1971; Hans Joachim Kreutzer: Die dichterische Entwicklung Heinrichs von Kleist. Untersuchungen zu seinen Briefen und zu Chronologie und Aufbau seiner Werke, Berlin 1968, 2. Aufl. 1976; Jochen Schmidt: Heinrich von Kleist. Studien zu seiner poetischen Verfahrensweise, Tübingen 1974; Ulrich Gall: Philosophie bei Heinrich von Kleist, Bonn 1977. Auch eine Reihe von Aufsätzen, die sich dem kritischen Gehalt und der ironischen Struktur von Kleists Werken zuwandten, gehören zu dieser neuen Wendung in den Sechziger und Siebziger Jahren. Zu nennen sind hier besonders die (in der Bibliographie genauer verzeichneten) Aufsätze von John M. Ellis und Wolfgang Wittkowski zum Erdbeben in Chili sowie ein Aufsatz von Werner Hoffmeister zur Heiligen Cäcilie, ferner ein Aufsatz von Ellis zum Zweikampf.
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In diesem Zusammenhang erhielt die sogenannte Kant-Krise eine forschungsgeschichtliche Schlüsselposition, denn gerade für die irrationalistische Kleist-Interpretation spielte sie eine besondere Rolle. Wenn Kleist, so argumentierte man, durch die Kant-Krise an der Möglichkeit sicherer Erkenntnis durch den Verstand grundsätzlich verzweifelte, dann mußte er sich dem Gefühl als dem einzig Rettenden zuwenden, und das habe er getan, indem er es absolutsetzte. Abgesehen davon, daß die sogenannte Kant-Krise diesen Namen kaum verdient51, hat die Forschung nachgewiesen, daß Kleist dort, wo er das „Gefühl“ verherrlicht, dieses nicht als eine letzte und rettende Instanz begreift, schon gar nicht als intuitiven Erkenntnisgrund, sondern fern aller kognitiven Qualität und haltgewährenden Substanz als unwiderstehliche Lebensmacht, so etwa bei Penthesilea als Macht der Liebesleidenschaft.52 Es geht also nicht um das Gefühl an sich als Anker der Existenz, sondern immer nur um bestimmte Gefühle. In ihrer Intensität können sie eindrucksvoll sein, aber als sicherer intuitiver Erkenntnisgrund und als Mittel zur Bewältigung der Wirklichkeit taugen sie gerade nicht. Oft führen Gefühle bei Kleist zu Irrtümern und Täuschungen, ja in Gefühlen können sich auch Vorurteile und gesellschaftliche Konventionen äußern, die unter die Schwelle des subjektiven Bewußtseins gelangt sind. Noch weniger ist das Gefühl eine verläßliche Gemeinsamkeit der Menschen. Darin zeigt sich die grundsätzliche Relativität und Bedingtheit des Gefühls. Am 15. August 1801 schreibt Kleist an Wilhelmine von Zenge: „Man sage nicht, daß eine Stimme im Innern uns heimlich u deutlich anvertraue, was Recht sei. Dieselbe Stimme, die dem Christen zuruft, seinem Feinde zu vergeben, ruft dem Seeländer zu, ihn zu braten, u mit Andacht ißt er ihn auf“.53 Unzulässig vereinfachend ist es, wenn man aus einem Brief an den Freund Rühle von Lilienstern vom 31. August 1806 den Satz herausreißt: „Folge Deinem Gefühl“, um ihn im Sinne eines absoluten, existentielle Sicherheit gewährenden Gefühls auszulegen. Der spezifische Kontext der Aufforderung „Folge Deinem Gefühl“ führt zu einem anderen Verständnis. Er lautet: Jetzt habe ich ein Trauerspiel unter der Feder. – Ich höre, du, mein lieber Junge, beschäfftigst dich auch mit der Kunst? Es gibt nichts Göttlicheres, als sie! Und nichts Leichteres zugleich; und doch, warum ist es so schwer? Jede erste Bewegung, alles Unwillkürliche, ist schön; und schief und verschroben Alles, sobald es sich selbst begreift. O der Verstand! Der unglückseelige Verstand! Studiere nicht zu viel, mein lieber Junge. Deine Übersetzung des Racine hatte treffliche Stellen. Folge Deinem Gefühl. Was dir schön dünkt, das gib uns, auf gut Glück. Es ist ein Wurf, wie mit dem Würfel; aber es giebt nichts anderes.54 51
Vgl. hierzu genauer S. 12–15. Hans Joachim Kreutzer (wie Anm. 50), S. 84–91 und S. 100–105. 53 Briefe, Nr. 54, S. 261. 54 Briefe, Nr. 103, S. 362. 52
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Es handelt sich hier um das ästhetische „Gefühl“ für das, was „schön“ ist, für das künstlerisch Gelungene – nicht um ein „absolutes“ Gefühl, das existentielle Sicherheit verleiht. Und selbst noch in dieser sehr eingeschränkten ästhetischen Sphäre setzt Kleist die Aufforderung, dem Gefühl zu folgen, einer Aufforderung zum Glücksspiel gleich! Nur ein einziges Mal macht Kleist das Gefühl zum sicheren Leitfaden: im Käthchen von Heilbronn. Aber dort taucht er das Geschehen in das Fluidum des Romantisch-Märchenhaften, ja er läßt die Heldin sogar von einem Engel begleiten – als Zeichen dafür, daß er einen schönen Wunschtraum jenseits der menschlichen Wirklichkeit inszeniert. Hingegen zielen die anderen Werke auf die Ohnmacht des Gefühls, auf die Täuschungen und Illusionen, die es umso mehr hervorruft, je stärker es ist. Penthesilea vermag Achills Scheinherausforderung nicht zu durchschauen, Alkmene erliegt dem Trug des Gottes Jupiter, die Marquise von O… täuscht sich gründlich in dem Grafen, der sie vergewaltigt hat, im Zerbrochnen Krug vermag Ruprecht ganz und gar nicht gegen den täuschenden äußeren Schein ein durch innerste Gefühlssicherheit getragenes Vertrauen zu Eve zu bewahren. Seit etwa 1980 befindet sich die Kleist-Forschung in der Spannung von entschiedener Historisierung und enthistorisierender Dekonstruktion. Die Historisierung steht unter einem doppelten Vorzeichen. Unter dem Eindruck der Konjunktur, welche die Rezeptionsgeschichte allgemein seit den programmatischen Arbeiten von Hans Robert Jauß erfuhr, zog auch die Kleist-Rezeption besondere Aufmerksamkeit auf sich. Zwar waren die Basis-Leistungen in Gestalt vor allem der wertvollen Sammlungen von Zeugnissen, die Helmut Sembdner unter den Titeln Heinrich von Kleists Lebensspuren55 und Heinrich von Kleists Nachruhm56 sowie Peter Goldammer unter dem Titel Schriftsteller über Kleist 57 vorgelegt haben, schon sehr viel früher erschienen. Aber auf dieser Grundlage und unter Heranziehung meist schon älterer Untersuchungen zur Bühnengeschichte sowie neuerer Arbeiten zur Filmgeschichte von Kleists Werken gewann die Kleist-Rezeption ein ausgeprägt eigenes und aktuelles Interesse. Seinen Niederschlag fand es nicht zuletzt in der vierbändigen Kleist-Ausgabe des Deutschen Klassiker-Verlags (1987–1997)58, deren Kommentar in einer für derartige Ausgaben ungewöhnlich ausführlichen Weise Wirkung und Rezeption 55 Helmut Sembdner: Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen, Bremen 1957, Neuausgabe: München 1996. 56 Helmut Sembdner: Heinrich von Kleists Nachruhm. Eine Wirkungsgeschichte in Dokumenten. Bremen 1967, Neuausgabe: München 1996 (Taschenbuchausgabe 1997). 57 Peter Goldammer: Schriftsteller über Kleist. Eine Dokumentation, Berlin/Weimar 1976. 58 Vgl. Anm. 1.
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speziell von Kleists Dramen präsentiert. Bis in allerneueste Publikationen und bis hin zu den ‚modernen‘ Kanonisierungsprozessen59 reicht diese rezeptionsgeschichtliche Orientierung. Eine ganz anders motivierte Tendenz der Historisierung zeichnete sich etwa von 1980 bis gegen Ende des Jahrhunderts ab: in zahlreichen Untersuchungen, die ihr Forum besonders im Kleist-Jahrbuch bis zu dessen dekonstruktivistischer Wende fanden, ergriffen Historiker und rechtsgeschichtlich orientierte Juristen das Wort, um den Hintergrund auszuleuchten, vor dem Kleists Werk in den dramatischen Krisenjahren der Napoleonischen Kriege und der Preußischen Reformen entstand. Zwar konnten dabei nicht mehr so substantiell neue Ergebnisse erzielt werden wie etwa in den älteren Forschungen Richard Samuels60, immerhin kam aber eine interdisziplinär ausgerichtete Wahrnehmungsweise zur Geltung. Die Stärke dieser Arbeiten lag weniger in der eher lockeren oder marginalen Verbindung der Fragestellung mit Kleists Werk als vielmehr, der originären Kompetenz der Autoren entsprechend, in der Darstellung der historischen Matrix. Nicht zu vergessen bleibt die fortschreitende Quellenforschung, die eine ganze Reihe von neuen, auch historisch aufschlußreichen Funden zeitigte.61 Im Zuge der sich beinahe gleichzeitig mit dem Bedürfnis nach Rückgewinnung des geschichtlichen Horizonts entwickelnden enthistorisierenden ‚Dekonstruktion‘62 wurde Kleists Werk zum bevorzugten Gegenstand antihermeneutischer Text-Lektüren. Kein anderer deutscher Dichter hat den dekonstruk59 Hierzu: Anett Lütteken: Heinrich von Kleist – eine Dichterrenaissance, Tübingen 2003. 60 Richard Samuel: Heinrich von Kleists Teilnahme an den politischen Bewegungen der Jahre 1805–1809 [engl.: Heinrich von Kleist’s Participation in the Political Movements of the Years 1805 to 1809, Diss. (masch.) Cambridge 1938]. Deutsch von Wolfgang Barthel, Frankfurt (Oder) 1995; R. S.: Kleists Hermannsschlacht und der Freiherr von Stein [1961]. In: Heinrich von Kleist, Aufsätze und Essays, hrsg. von Walter Müller-Seidel, Darmstadt 1967 (Wege der Forschung 147), S. 412–458; vgl. auch: Prinz Friedrich von Homburg. Ein Schauspiel. – Nach der Heidelberger Handschrift hrsg. von Richard Samuel, Berlin 1964. 61 Dirk Grathoff: Die Zensurkonflikte der Berliner Abendblätter. Zur Beziehung von Journalismus und Öffentlichkeit bei Heinrich von Kleist. In: D. G.: Ideologiekritische Studien zur Literatur. Essays I. Frankfurt a.M. 1972, S. 35–168; Hermann F. Weiss: Funde und Studien zu Heinrich von Kleist, Tübingen 1984. Hinzuzufügen wäre noch eine Anzahl von kleineren Detail-Recherchen. 62 Hierzu Jonathan Culler: Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie (engl. 1982), Reinbek bei Hamburg 1988; Peter V. Zima: Die Dekonstruktion. Einführung und Kritik, Tübingen/Basel, 1994; einen informativen Überblick gibt Richard Rorty: Deconstruction, in: The Cambridge History of Literary Criticism, 8, From Formalism to Poststructuralism, hrsg. von R. Selden, Cambridge 1995, S. 166–196.
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tivistischen Impetus so sehr befeuert wie Kleist. Dieser ebenfalls schon rezeptionsgeschichtlich relevante Befund resultiert sowohl aus bestimmten Eigenheiten von Kleists Werk wie aus dem Selbstverständnis der Anhänger der Dekonstruktion. Ansatzpunkte in Kleists Werk bieten seine ironischen und oft auch subversiven Problematisierungen geltender Normen, seine markante Thematisierung von Kontingenz sowie die in den Erzählungen von einer tiefreichenden Skepsis geprägte narrative Strategie, die vom ‚unzuverlässigen Erzähler‘ bis zur Inszenierung von perspektivisch gebrochenen und insofern immer schon relativierten Wertungs- und Deutungsmustern bei den Akteuren des dargestellten Geschehens reicht. Zwar können historische Analysen nachweisen, wie sehr diese Verfahrensweisen Kleists und auch seine entsprechenden thematischen Interessen in den von ihm intensiv rezipierten Denkformen der Aufklärung wurzeln, wie sehr sie aus dem krisenhaften Ordnungs- und Orientierungsverlust der Jahre um 1800 und nicht zuletzt aus den entgrenzenden Faszinationen der Romantik ihren irritierenden Reiz gewinnen. Aber die Analogien zu gegenwärtig aktuellen Vorstellungen, die als solche nicht in ihrer historischen Differenz reflektiert werden, haben – wie schon unter ebenfalls „antilogozentrischen“ Vorzeichen in den Zwanziger Jahren und im Radikalexistentialismus der Fünfziger Jahre – zu dem Eindruck geführt, Kleist sei in einer unmittelbaren Weise und toto modo „unser“. In der Einleitung zu einem Sammelband vorwiegend dekonstruktivistischer Abhandlungen heißt es lapidar: „Kleist ist ein Dichter der Gegenwart.“63 Diese Aktualisierung steht im Zeichen der Dekonstruktion. Man zieht poststrukturalistische Theoriebildungen von Paul de Man und Derrida heran, um sie dem Werk Kleists zu substituieren. Schon Richter Adam ist allem Anschein nach ein Dekonstruktivist. Als der Gerichtsrat Walter ihn fragt: „Habt Ihr ein Urteil schon gefaßt?“, erhält er die Antwort: „Mein Seel! / Wenn ich, da das Gesetz im Stich mich läßt, / Philosophie zu Hülfe nehmen soll, / So war’s – der Leberecht.“ Walter: „Wer?“ Adam: „Oder Ruprecht –“. Walter: „Wer?“ Adam: „Oder Lebrecht, der den Krug zerschlug.“ (V. 1080–1084) Bemerkenswert ist hier das postmoderne Prinzip der Beliebigkeit – auch Richter Adam weiß: anything goes. Während diese Dialogpartie aber noch keine Aufmerksamkeit gefunden hat, ist dem Krug sein Recht in einem Maße widerfahren, wie es sich Frau Marthe nicht einmal erträumen konnte. Denn er ist glücklicherweise ein zerbrochener Krug: Fragmentierung, ein Lieblingsthema der Dekonstruktion, ist angesagt, und da infolge der Krugzertrümmerung dort, wo früher ein Bild zu sehen war, sich nur noch ein Loch befindet, mithin der Signifikant auf der Strecke geblieben ist, hat sich auch das Signifikat verflüchtigt – ein Anlaß für 63 Heinrich von Kleist. Kriegsfall – Rechtsfall – Sündenfall, hrsg. von Gerhard Neumann, Freiburg 1994, S. 11.
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mancherlei Spekulationen, wenn nicht gar für den literaturwissenschaftlichen Bruch mit dem „vierfachen Credo der Orthodoxie“ (Harold Bloom): der Anschauung, das Kunstwerk besitze oder erzeuge „Präsenz“ („the religious illusion“), eine bestimmte Einheit („the organic illusion“), eine bestimmte Form („the rhetorical illusion“) oder „Sinn“ („the metaphysical illusion“).64 Um Mißverständnisse zu vermeiden: Problematisiert werden sollen hier nicht philosophische Theoreme von Nietzsche über Heidegger bis zu Derrida, zu kritisieren sind vielmehr deren vordergründige, epigonale Applikationen auf literarische Texte. In den Achtziger Jahren hatte die Dekonstruktion durch ihren Bruch mit traditionellen Interpretationsmustern noch neue Wahrnehmungsmöglichkeiten eröffnet. Inzwischen aber konstituieren die meisten Dekonstruktivisten selbst eine orthodoxe Gemeinde, und dies besonders auffällig in der Kleistforschung. Dem theoretisch vertretenen Prinzip der Selbstreferentialität huldigt diese Gemeinde praktisch in einem abgehobenen ‚Diskurs‘ für Eingeweihte und in einem dekonstruktivistisch markierten Kartell, nicht zuletzt in einem Zitierkartell. Schon früh, bemerkenswerterweise auch von einem bedeutenden amerikanischen Kleistforscher, wurde der autoritative Gestus als charakteristisch diagnostiziert.65 Zu ihm gehört nicht die Argumentation, sondern die apodiktische Peroration. Das besondere Interesse der dekonstruktivistischen Schule an Kleist wurde durch eine Leitfigur der Dekonstruktion, durch Paul de Man initiiert. Im Gefolge seines einflußreichen dekonstruktivistischen Aufsatzes: ‚Aesthetic Formalization: Kleist’s Über das Marionettentheater‘66 zeichnete sich zunächst die auf64
Vgl. Harold Bloom: Kabbalah and Criticism, New York 1975. Von John M. Ellis: Against Deconstruction, Princeton 1989; vgl. auch Gerald Graff: Literature Against Itself. Literary Ideas in Modern Society, Chicago 1979; Howard Felperin: Beyond Deconstruction. The Uses and Abuses of Literary Theory, Oxford 1985. 66 Paul de Man: Aesthetic Formalization: Kleist’s Über das Marionettentheater, in: Ders.: The Rhetoric of Romanticism, New York 1984, S. 263–290, auch in: P. de M.: Allegorien des Lesens. Aus dem Amerikanischen von Werner Hamacher und Peter Krumme, Frankfurt a. M. 1988, S. 205–233. Vgl. auch: William Ray: Suspended in the Mirror. Language and the Self in Kleist’s Über das Marionettentheater, in: Studies in Romanticism 18 (1979), S. 521–546. Thematisiert wurde der Zusammenhang bereits von Harro Müller: Kleist, Paul de Man und deconstruction, in: Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, hrsg. von Jürgen Fohrmann und Harro Müller, Frankfurt a. M. 1988, S. 81–92. Fundamentale Kritik an de Mans Allegories of Reading übt Gerhard Kurz im Hinblick auf die Verwendung des Zeichenbegriffs und die Berufung auf de Saussure: „Diese [Saussures] These enthält keineswegs die Lizenz, den Signifikanten vom Signifikat lösen zu können. Sprachliche Zeichen ohne Bedeutung sind keine. Die ‚liberating theory of the signifier‘ missversteht, was bei de Saussure als eine epistemologische Trennung gedacht war, als eine ontologische und substantielle“ (Arbitrium 1 [1985], S. 11). 65
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fällige Konzentration auf diese alte Crux interpretum ab.67 Dabei kam es nicht nur zu Adaptionen, sondern auch zu scharfsinnigen Analysen, die dem dekonstruktivistischen Impuls eine neue Tiefenschärfe verdankten.68 Im Zuge solcher Untersuchungen zeigte sich, daß die Dekonstruktion, so lange sie nicht zu einer postmodernen Beliebigkeitspose degeneriert, eine vertiefende Reflexion der Dimensionen von Skepsis, Subversion, Normenbruch, Kritik und Ironie ermöglicht, die bereits frühere Kleist-Forschungen ein Stück weit erschlossen hatten.69 Die vielleicht interessanteste Frage in diesem Zusammenhang ist die nach dem virtuellen Umschlag eines genuin aufklärerischen, „kritischen“ und experimentellen Denkens sowie einer entsprechenden künstlerischen Verfahrensweise in ein suspensives, vielleicht sogar chaotisches Arrangement. Der Grenzwert scheint dort erreicht, wo Kleists Werk durch Inszenierung von widersprüchlichen Konstellationen, perspektivischen Brechungen, provozierend fragwürdigen Wertungen und sogar durch Implementierung von Leerstellen den Leser in Suchbewegungen treibt, die ihr Ziel nicht mehr innerhalb des Werks finden. Um in diese Grenzzone zu gelangen, bedarf es aber zuallererst einer möglichst genauen Text-Analyse, und es sollte auch nicht vergessen werden, daß Kleist mit manifestem Engagement bestimmte Ziele verfolgt hat, seien sie kritischer oder konstruktiver Art. Methodisch bedient sich der literaturwissenschaftliche Dekonstruktivismus eines bereits stereotypisierten Repertoires, wie sich auch in der Kleist-For67 Vgl. Cynthia Chase: Mechanical Doll, Exploding Machine: Kleist’s Models of Narrative, in: Dies.: Decomposing Figures. Rhetorical Readings in the Romantic Tradition, Baltimore 1986; Bernhard Greiner: Der Weg der Seele des Tänzers. Kleists Schrift Über das Marionettentheater, in: Neue Rundschau 98 (1987), S. 112–131; auf hohem Reflexionsniveau: Bernd Fischer: Ironische Metaphysik. Die Erzählungen Heinrich von Kleists, München 1988, darin zum Marionettentheater S. 145–160; später noch: Helmut J. Schneider: Dekonstruktion des hermeneutischen Körpers. Kleists Aufsatz Über das Marionettentheater und der Diskurs der klassischen Ästhetik, in: KJb 1998, S. 153–175; de Mans „Formalization“ wirkt auch noch weiter bei Bianca Theisen: Bogenschluß. Kleists Formalisierung des Lesens, Freiburg 1996. 68 Vgl. die in der vorhergehenden Anmerkung genannte Arbeit von Bernd Fischer. 69 Frühe Arbeiten zu ironischen Strukturen bei Kleist: Wolfgang Binder: Ironischer Idealismus: Kleists unwillige Zeitgenossenschaft, in: Ders.: Aufschlüsse. Studien zur deutschen Literatur, Zürich und München 1976, S. 311–329; Beda Allemann: Sinn und Unsinn von Kleists Gespräch Über das Marionettentheater, in : KJb 1981/82, S. 50–65; vgl. auch Michael Moering: Witz und Ironie in der Prosa Heinrich von Kleists, München 1972. Zum Marionettentheater wichtig: Gerhard Kurz: „Gott befohlen“. Kleists Dialog Über das Marionettentheater und der Mythos vom Sündenfall des Bewußtseins, in: KJb 1981/82, S. 264–277. – Der „Kritik“ bei Kleist und dem Subversiven gelten eine ganze Reihe von Forschungen vor allem aus den Sechziger und Siebziger Jahren.
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schung zeigt. Erstens gibt er Komplexitäten als Inkonsistenzen aus.70 Zweitens dekontextualisiert er einzelne Elemente, um sie entweder werksprengend absolutzusetzen oder sie mittels assoziativ mobilisierter ‚Diskurse‘ dekonstruktivistisch umzukodieren.71 Damit unterliegt der Dekonstruktivismus einer methodisch umgesetzten petitio principii: Er zerreißt Textzusammenhänge, um dann anschließend festzustellen, daß der Text keinen Zusammenhang besitze. Eine dritte Methode läßt sich als hermeneutischer Kurzschluß charakterisieren: Aussagen werden von der Inhaltsebene eines Werkes, sofern sie eine semantische Affinität zu dekonstruktiven Vorstellungen – meist nur zu Vorstellungen von Destruktion – aufweisen, auf die Darstellungsebene kategorisch generalisierend übertragen. Wenn also z. B. im Verlauf einer Handlung etwas zerbricht (Marthes Krug), wenn ein „Körper“ zerrissen wird (Achill in der Penthesilea) oder von Zerstörung die Rede ist (im Erdbeben in Chili), wird dies als Zeichen dafür gewertet, daß auch der Text und sein „Sinn“ immer schon zerbrochen seien. Ein inhaltliches Element wird erst allegorisiert und dann zum Signifikanten für die ihm als Signifikat unterschobene Darstellung deklariert.72 Da nahezu jedes Werk inhaltliche Elemente solcher Art enthält, sind diesem Verfahren kaum Grenzen gesetzt, und nicht zuletzt dies hat zur Expansion des Dekonstruktivismus beigetragen. Zum manipulativen Repertoire des Dekonstruktivismus gehört viertens die Auflösung von Korrelationsgefügen mit der Absicht, relative Differenzen und operationelle Widersprüche zu absoluten Differenzen und prinzipiellen Gegensätzen zu radikalisieren, um davon ausgehend die – in diesem Fall nicht strukturelle, sondern konzeptionelle – Inkohärenz eines Werkes zu behaupten. Abgesehen von derartigen stereotypisierten und manchmal auch unverkennbar mit einer alerten Nonchalance als Trickmuster inszenierten ‚Methoden‘ hat sich der Dekonstruktivismus zu einem eigenen Darstellungsmodus entwickelt, der implizit den wissenschaftlichen Diskurs als einen „logozentrischen“ zu dekonstruieren unternimmt. Auf den Schein fröhlicher Unwissenschaftlichkeit, wenn nicht superiorer Metawissenschaftlichkeit bedacht, bewegt er sich gleichwohl noch auf dem Kothurn beachtlicher Anmerkungsapparate. Im übrigen changiert das denkerische Konzept der Dekonstruktion in ein Verlaufsmuster, das im Gegensatz zur beharrlichen Analyse und zur fixierenden ‚Erörterung‘ als rasch gleitendes Signifikantenspiel den Leser auch um den Preis von Fehlinformationen73 in Atem hält. Bewußt inkonsistent, vorzugsweise
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Hierzu die Forschungsdiskussion zum Zweikampf, S. 284, Anm. 134. Vgl. die kritischen Ausführungen anläßlich der Penthesilea, S. 113, Anm. 84. 72 Vgl. hierzu die Forschungsdiskussion zum Erdbeben in Chili, S. 185, Anm. 10. 73 Vgl. S. 108f., Anm. 75, sowie S. 270f., Anm. 113. 71
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als Collage, durch zahlreiche Theorie-Anschnitte zu souveräner Anspruchs-Attitüde stilisiert, mit permanent wechselnden Assoziationen sowie forciertem name-dropping kaleidoskopisch buntgemacht, theatralisiert diese Abhandlungsform sich selbst als ein eigenes Genre postmoderner ‚Performanz‘.
II. Die Dramen
1. Die Familie Schroffenstein Entstehung und Grundkonstellation Sein dramatisches Erstlingswerk, das 1803 anonym erschien, schrieb Kleist 1802 in der Schweiz, und wie die Briefe aus dieser Zeit steht es ganz im Zeichen Rousseaus. Der erste Entwurf trug den Titel Die Familie Thierrez, darauf folgte eine schon ausgearbeitete Fassung mit dem Titel Die Familie Ghonorez, das Geschehen sollte also ursprünglich in Spanien spielen. Daß Kleist für das Stück, das von despotischer Willkür und bereits am Anfang von einer zu Haß und Fanatismus treibenden Religion bestimmt ist, gerade diesen Schauplatz wählte, entspricht einem Stereotyp der zeitgenössischen Literatur: Spanien galt als Land der Despotie und des religiösen Fanatismus. Zu dieser Vorstellung hatte die in Spanien besonders harte Inquisition beigetragen, noch mehr aber die blutige Unterdrückung der Niederländer, die in einem langen Kampf das spanische Joch abgeworfen hatten. Schiller beschrieb diesen Befreiungskampf im Abfall der Vereinigten Niederlande, und Goethe stellte ihn im Egmont so dar, daß die spanische Tyrannei voll zum Ausdruck kam. Vor allem behandelte Schiller im Don Karlos, den Kleist mit Begeisterung las1, die weltliche und geistliche Despotie am Beispiel Spaniens. Selbst noch im Faust finden sich davon Spuren, denn als Mephisto mit Faust in Auerbachs Keller erscheint, wo er alsbald ein gegen die Monarchie und ihr Höflingswesen gerichtetes Freiheitslied anstimmt, sagt er bezeichnenderweise zur Vorstellung die Worte: „Wir kommen erst aus Spanien zurück“ (V. 2205). Als Land der Tyrannei und des religiösen Fanatismus repräsentierte Spanien zugleich den Fluch eines unaufgeklärten Zustands – die Wahl eines spanischen Schauplatzes hätte eine für die Zeitgenossen sofort erkennbare Bedeutung gehabt. Nach einem Bericht soll Ludwig Wieland, der Sohn Christoph Martin Wielands, Kleist dazu überredet haben, „das Stück nochmals umzuschreiben und die erst in Spanien vorgesehene Handlung nach der Schweiz zu verlegen“.2 Jedenfalls ersetzte Kleist alle ursprünglich spanischen Namen der Personen durch deutsche Namen. Der Schauplatz „Schwaben“ meint das mittelalterliche Schwaben, zu dem noch die erst später selbständige Schweiz gehörte. Statt das Mittelalter romantisch zu verklären, folgte Kleist einer für die Aufklärung typischen 1 2
Vgl. den Brief an Wilhelmine von Zenge, 11. Januar 1801 (Briefe, Nr. 35, S. 181). Lebensspuren, Nr. 69.
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Sicht und setzte es als Chiffre für zurückgebliebene gesellschaftliche Zustände und religiösen Fanatismus ein. Mehrere Äußerungen von Zeitgenossen deuten auf weitgehende Eingriffe von Freunden Kleists in den Text. Er selbst soll das Stück, an dem ihm nicht viel lag – in einem Brief vom 13. Und 14. März 1803 an seine Schwester Ulrike bezeichnete er es zunächst als „elende Scharteke“3 – einfach einigen Freunden zu Veränderungen nach ihrem Gutdünken überlassen haben. In einem Bericht seines Freundes Heinrich Zschokke heißt es: „Als uns Kleist eines Tages sein Trauerspiel Die Familie Schroffenstein vorlas, ward im letzten Akt das allseitige Gelächter der Zuhörerschaft, wie auch des Dichters, so stürmisch und endlos, daß, bis zu seiner letzten Mordszene zu gelangen, Unmöglichkeit wurde“.4 Der Grund hierfür dürfte in der Anhäufung von Schauer-Szenen liegen, die das Ganze schwer erträglich macht. Dennoch bescheinigen mehrere frühe Rezensionen dem Stück dichterische Genialität. Kleists gedankliche Grundpositionen zeichnen sich durch die krassen Übertreibungen überdeutlich ab. Die Basis der Handlung bildet das Zerwürfnis zwischen den beiden Linien des Hauses Schroffenstein. Die Schroffensteiner aus dem Hause Warwand leben mit denen aus dem Hause Rossitz in Feindschaft, weil ein Erbvertrag besteht, demzufolge beim Aussterben der einen Linie die andere den Besitz übernimmt. Daraus entsteht verhängnisvolles Mißtrauen, da jede der beiden Linien glaubt, die andere strebe nach ihrer Vernichtung, vor allem nach der Beseitigung der Erben, um den Besitz übernehmen zu können. Nachdem der jüngste Sohn des Grafen Rupert von Rossitz durch einen unglücklichen Zufall zu Tode gekommen ist, kennt zwar niemand den wahren Sachverhalt, aber da man aufgrund des Erbvertrages im Hause Rossitz den Warwandern mißtraut, werden diese des Mordes verdächtigt. Die Tragödie setzt damit ein, daß die Rossitzer in der Kapelle ihres Schlosses den Angehörigen des Hauses Warwand blutige Rache schwören. Auch Ottokar, der ältere Sohn des Hauses Rossitz, tut diesen Racheschwur, ohne zu wissen, daß Agnes, das Mädchen, das er liebt, eine Tochter aus dem Hause Warwand ist. Offenkundig orientierte sich Kleist an Shakespeares Tragödie Romeo und Julia: Zwei Kinder aus tödlich verfeindeten Vaterhäusern lieben sich. Doch modifizierte Kleist diese Konstellation auf bezeichnende Weise, um seine von Rousseau inspirierte Gesellschaftskritik zu verschärfen: Bei ihm gehören die beiden Liebenden nahe verwandten Häusern einer Adels-„Familie“ an. Als Ottokar entdeckt, wen er liebt, versucht er die verfeindeten Häuser miteinander zu versöhnen, doch scheitert er am blinden Haß seines Vaters, Rupert vom 3
Briefe, Nr. 75, den entsprechenden Passus hat Kleist nachträglich gestrichen, vgl. die Lesarten in SWB 4, S. 811 zu S. 314, 35. 4 Lebensspuren, Nr. 67 a.
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Hause Rossitz. Dieser läßt sogar einen Unterhändler erschlagen, der die Vermittlung übernimmt; und auch daß sich sein Kontrahent, Sylvester vom Hause Warwand, um Ausgleich und Verständigung bemüht, hilft nichts, denn Rupert ist in seinem Haß vollständig unzugänglich geworden. So nimmt das Unheil seinen Lauf. Ottokar und Agnes treffen sich in einer einsamen Höhle, werden dort aber von den Rossitzern überrascht. Um Agnes zu retten, gibt Ottokar ihr seinen Mantel und legt dafür den ihrigen um. Im Glauben, es sei die Tochter des Feindes, ersticht Rupert den eigenen Sohn Ottokar. Als Agnes sich über den Sterbenden wirft, hält Sylvester, der mit den Warwandern hinzukommt, sie für Ottokar, und in der Annahme, er töte den Mörder seiner Tochter, bringt er diese selbst um. Am Ende erkennen beide Familien, daß sie jeweils das eigene einzige Kind ermordet haben, und schließlich stellt sich auch noch heraus, daß der jüngere Sohn aus dem Hause Rossitz, dessen Tod den Warwandern angelastet worden war, keineswegs von diesen erschlagen wurde, sondern ertrunken ist. Eine hinzukommende Frau aus dem Volk sagt, gewissermaßen als Epilog: „Wenn ihr euch totschlagt, ist es ein Versehen“ (V. 2705). Den Satz „Wenn ihr euch totschlagt, ist es ein Versehen“ hat die Kleistforschung lange Zeit zum Anlaß genommen, um Kleists Erstlingswerk als Schicksalsdrama zu interpretieren. Diesem Deutungsmuster zufolge hätte Kleist, der in seinen Briefen immer wieder die Macht des Zufalls und des Schicksals beschwört5, darstellen wollen, daß der Mensch blind den Zufällen, folglich dem Sinnlosen ausgeliefert ist und einer undurchschaubaren Wirklichkeit verfällt – ohne Möglichkeit, durch eigene Erkenntnis und eigenes Verhalten am Lauf der Dinge etwas zu ändern. Sein Drama wäre dann Vorläufer einer Literaturmode, die in den Jahren 1810–1818 in Gestalt der sogenannten ‚Schicksalsdramen‘ große Bedeutung erlangte. Sie gehen von der Grundidee aus, daß der Mensch nicht frei entscheiden und handeln könne, vielmehr schicksalhaften Zwängen unterliege. Das erste und am meisten Aufsehen erregende Stück unter diesen Dramen, Der vierundzwanzigste Februar, stammt von Zacharias Werner und wurde 1810 aufgeführt, 1815 erschien es im Druck. Ein Autor namens Adolf Müllner ließ 1812 ein Stück mit dem Titel Der neunundzwanzigste Februar folgen. Schon diese beiden Titel sind charakteristisch, denn sie deuten auf einen Schicksalstag, an dem das vorherbestimmte Verhängnis unvermeidbar eintrifft. Mit dem bekanntesten dieser Schicksalsdramen, Grillparzers 1817 erschienenem Erstlingswerk Die Ahnfrau, und Houbens Stück Die Heimkehr (1818 aufgeführt, 1821 gedruckt), fand diese Literaturmode ihr Ende.6 Sie ist weniger 5 Briefe, Nr. 7: An Ulrike von Kleist, Mai 1799, S. 40. Briefe, Nr. 44: An Wilhelmine von Zenge, 9. April 1801, S. 214f. 6 Schon bald gab sie zu satirischen Reaktionen Anlaß, so etwa in dem Drama Die verhängnisvolle Gabel (1826) von August Graf von Platen.
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künstlerisch als von der historischen Psychologie her interessant, denn die Verhältnisse ganz vom Schicksal und vom Zufall her bestimmen heißt an der gestalterischen Kraft des Ichs und an der Möglichkeit zur Selbstbestimmung verzweifeln. Gefördert worden war diese fatalistische Haltung durch die Wirrnisse der Revolutionskriege und die Napoleonischen Kriege, in denen sich der einzelne als Spielball fremder Gewalten erfuhr. Mit diesem Gefühl verband sich für Kleist der auch sein ganzes späteres Werk durchziehende Gedanke, daß das Leben oft von sinnlosen Zufällen abhängt. Charakteristisch ist die Art, wie er von einem Unfall erzählt, der ihm und seiner Schwester im Sommer 1801 auf der Fahrt nach Paris zustieß. „Wir hatten ihnen“, so schreibt er in einem Brief vom 18. Juli 1801 über die Pferde seines Reisewagens, die Zügel abnehmen lassen vor einem Wirtshause, sie zu tränken u mit Heu zu futtern. Dabei war Ulrike so wie ich in dem Wagen sitzen geblieben, als mit einemmal ein Esel hinter uns ein so abscheuliches Geschrei erhob, daß wir wirklich grade so vernünftig sein mußten, wie wir sind, um dabei nicht scheu zu werden. Die armen Pferde aber, die das Unglück haben keine Vernunft zu besitzen, hoben sich hoch in die Höhe u giengen spornstreichs mit uns in vollem Carriere über das Steinpflaster der Stadt durch. Ich griff nach den Zügeln, aber die hiengen ihnen, aufgelöset, über der Brust, u ehe ich Zeit hatte, an die Größe der Gefahr zu denken, schlug schon der Wagen mit uns um, u wir stürzten – Und an einem Eselsgeschrei hieng ein Menschenleben? Und wenn es nun in dieser Minute geschlossen gewesen wäre, darum also hätte ich gelebt? Darum? Das hätte der Himmel mit diesem dunkeln, räthselhaften, irrdischen Leben gewollt, und weiter nichts –?7
Dieses Ereignis ist Kleist so wichtig, daß er es noch einmal in einem anderen Brief berichtet.8 Aus den beigefügten Reflexionen, die in polemischer Hypothese vom Willen des „Himmels“ sprechen, ergibt sich, daß solche sinnlosen Zufälle die Annahme einer Vorsehung ad absurdum führen. Wo ein Eselsgeschrei dem Leben ein Ende zu setzen vermag, fällt es schwer, an Vorsehung, ja überhaupt an einen Sinn zu glauben. Wenn Kleist, durchaus an eine schon literarisch und philosophisch thematisierte Krisendiagnose anschließend9, in seinem Werk an Schicksalhaftigkeit grenzende Geschehnisse und Zufälle inszeniert, die jeden Glauben an einen höheren Sinn dementieren, so allerdings nur, um eine höhere Sinngarantie zu bestreiten und andererseits die Grenzen menschlicher Freiheit zu betonen, aber nicht um diese Freiheit grundsätzlich und vollständig zu negieren. Einseitig ist es daher, wenn man das Erstlingswerk und auch man7
An Karoline von Schlieben, Briefe, Nr. 51, S. 243. Im Brief an Wilhelmine von Zenge vom 21. 7. 1801 (Nr. 52, S. 246). 9 Vgl. die aufschlußreiche und weitausgreifende Studie von Werner Frick: Providenz und Kontingenz. Untersuchungen zur Schicksalssemantik im deutschen und europäischen Roman des 17. und 18.Jahrhunderts, 2 Bde, Tübingen 1988. 8
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ches spätere ganz unter den Begriff des Schicksals und des Zufalls stellt, wie Gerhard Fricke in seinem Buch Gefühl und Schicksal bei Heinrich von Kleist und nach ihm viele andere. Zwar ist für Kleist die Schicksals- und Zufallsabhängigkeit wichtig, aber doch nur als ein Faktor. Der andere ist die menschliche Vernunft. Natürlich beginnen hier weitere Fragen. Kann sich die Vernunft und damit die menschliche Freiheit gegenüber den objektiv determinierenden Faktoren durchsetzen? Und unter welchen Bedingungen? Kleist antwortet auf diese Fragen im Sinne eines aufgeklärten Pessimismus. Aufgeklärt und aufklärerisch insofern, als er die historisch entstandenen gesellschaftlichen Strukturen kritisiert. Das historisch Relativierbare und Kritisierbare kann aber kein blind hinzunehmendes „Schicksal“ sein; Fatalismus im strengen Sinn des Wortes ließe keine Kritik mehr zu. Pessimistisch ist seine Kritik insofern, als er die faktische Verfallenheit der Menschen an die Verhältnisse darstellt; die von ihm entworfenen Gestalten sind oft unfrei, weil unfähig, ihre Vernunft walten zu lassen, und daraus ergibt sich ihr tragisches Verhängnis. Auch das rein Irrationale des Zufalls bringt Kleist häufig ins Spiel, doch bestimmen die Zufälle das Geschehen meistens nicht im Sinne eines unentrinnbaren Schicksals, vielmehr werden sie zu Stützpunkten von falschen Verhaltensweisen und Vorurteilen. Der Zufall aktualisiert diese nur, indem er ihnen scheinbar recht gibt. Manchmal, wie in der Familie Schroffenstein, wird ein an sich bedeutungsloser Zufall erst durch die Deutung geschichtsmächtig, die ihm das schon bestehende und seinerseits gesellschaftlich bedingte Vorurteil verleiht. Damit aber erweist sich nicht der Zufall, sondern das Vorurteil, das sich seiner bemächtigt, als eigentlicher Grund des verhängnisvollen Geschehens. Zugleich allerdings spielt auch eine spezifische Orientierungsschwäche der Menschen in das Geschehen hinein. Aus mehreren Dialogpartien geht hervor, daß die äußere Wirklichkeit so scheinhaft und trügerisch sein kann, daß Irrtümer nicht nur aus Vorurteilen entstehen, sondern auch aufgrund der Unfähigkeit der Menschen, die Tatsachen richtig zu erkennen. Selbst das Gefühl, sogar das Rechtsgefühl, kann in die Irre leiten, weil es nicht unabhängig von der nicht zuverlässigen, aber für zuverlässig gehaltenen Wahrnehmung der Tatsachen ist.10 Doch wirkt diese Orientierungsschwäche im Verhältnis zu den vorurteilshaften Einstellungen nicht als ausschlaggebend. In der Familie Schroffenstein gehört der handlungsauslösende, weil das Vorurteil aktualisierende Zufall zur Vorgeschichte. Dem jüngsten Sohn des Hauses Rossitz, der tot aufgefunden wurde, ist der kleine Finger abgeschnitten worden. Man weiß nicht, von wem, aber der aufgrund des Erbvertrags in haßerfüllten 10
Diese Dimension des Geschehens hat Peter Michelsen überzeugend analysiert: P. M.: Die Betrogenen des Rechtgefühls. Zu Kleists Die Familie Schroffenstein, in: KJb 1992, S. 64–80.
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Vorurteilen lebende Rupert von Rossitz nimmt diese Spur der Gewalt sofort zum Anlaß, um Sylvester von Warwand des Mordes zu bezichtigen. Eine unsinnige Verdächtigung, denn warum sollte ein Mörder gerade auf den kleinen Finger seines Opfers Wert legen? Ganz abgesehen davon, daß keine Spur von dem toten Sohn zum Haus Warwand führt. Die Wahrheit kommt erst am Schluß heraus: Eine Frau hat der Leiche des ertrunkenen Knaben aus einem abergläubischen Motiv den kleinen Finger abgeschnitten und mitgenommen. In der Vorstufe zur Familie Schroffenstein, die den Titel Familie Ghonorez trägt, stehen allerdings folgende interessante Randnotizen Kleists: „Das Schicksal ist ein Taschenspieler“11, „Man könnte eine Hexe aufführen, die wirklich das Schicksal gelenkt hätte“12, „Ursula [so der Name der abergläubischen Frau] muß zuletzt, ihr Kind suchend, als Schicksalsleiterinn auftreten“.13 Kleist selbst spielt hier mit dem Begriff eines irrationalen Schicksals. Dennoch ist in dem ausgeführten Drama der durch Zufall abgeschnittene Kindesfinger nur der äußere Anlaß eines Geschehens, dessen eigentliche Ursache tiefer liegt. Schon die erste Szene ist ganz rousseauistisch und zugleich von der antiklerikalen aufklärerischen Tendenz bestimmt, der Kleist auch sonst gerne folgt. In der Kapelle des Schlosses Rossitz schwören die Mitglieder der Familie Rache „auf die Hostie“ (V. 23). Man empfängt das Abendmahl, um den Racheschwur vor Gott bindend zu machen. Und als Ruperts Frau aus einem richtigen Gefühl heraus widerstrebt, gibt er ihr den erbaulichen Rat: „Würge sie betend“ (V. 39), womit er die Warwander meint, denen man Rache wegen des angeblichen Kindesmordes schwört. Das alles ist gewaltsam übertrieben wie vieles in Kleists erstem Stück. Scharf kritisiert er die Religion, die nur zur ideologischen Legitimation dient, und die Kirche, insofern sie den bestehenden, gesellschaftlich bedingten Vorurteilen bis hin zu tödlichem Haß Vorschub leistet. In der Schloßkirche spielt sich ein perverser Exzess ab, der das christliche Gebot der Nächstenliebe in sein Gegenteil verkehrt. In Anbetracht des menschlich-natürlichen Widerstrebens seiner Frau sagt Rupert: „[…] nichts mehr von Natur“ (V. 42). Damit steht alles folgende Geschehen ganz nach Rousseau im Zeichen des Abfalls der Gesellschaft von der Natur. Eine nachgeholte Exposition läßt erkennen, daß dieses Verhalten aus der Festlegung auf das Eigentum resultiert, aus der Bindung an einen Erbvertrag, „kraft dessen nach dem gänzlichen Aussterben / Des einen Stamms, der gänzliche Besitztum/Desselben an den andern fallen sollte“ (V. 180 ff.). Diese Auskunft gibt der Kirchenvogt des Hauses Rossitz einem Verwandten namens Jeronimus, der zwischen den beiden verfeindeten Häusern vermitteln möchte und 11
SWB 1, S. 505 (zu 38, 687). SWB 1, S. 515 (zu 95, 2160). 13 SWB 1, S. 517 (zu 100, 2312). 12
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deshalb den Grund der Verfeindung zu erfahren sucht. Kleist verwendet ein ebenso einfaches wie wirkungsvolles Mittel, um den Leser auf die Schlüsselfunktion des Erbvertrages für das gesamte Geschehen zu stoßen. Zunächst versteht Jeronimus nicht, daß der Erbvertrag die eigentliche Ursache für die schlimme Verfeindung zwischen den beiden Familien ist; die Geschichte vom Erbvertrag hält er nur für beiläufiges Geschwätz des alten Kirchenvogts, und deshalb mahnt er ihn: „Zur Sache, Alter! das gehört zur Sache nicht“. Worauf der Kirchenvogt bedeutungsvoll beharrt: „Ei, Herr, der Erbvertrag gehört zur Sache. / Denn das ist just als sagtest du, der Apfel / Gehöre nicht zum Sündenfall“. Mittels solchen Insistierens erreicht es Kleist, daß der Leser über die Geschichte vom Erbvertrag nicht wie über irgendein Detail hinwegliest, sondern sie als Angelpunkt des gesamten Geschehens wahrnimmt. Nicht also ein blind waltendes Schicksal, sondern ein gesellschaftlicher, nach Rousseau der gesellschaftliche Mißstand in Gestalt der Eigentums-Fixierung bestimmt das Geschehen; er entfesselt eine Hölle von Angst, Verdacht und Aggression, der schließlich beide Häuser, Warwand und Rossitz, zum Opfer fallen – bis es nach dem Tod der Kinder keine Erben mehr gibt. Die von dem Vermittler Jeronimus und Sylvester, dem vernünftiger und innerlich freier gebliebenen Chef des Hauses Warwand, wiederholt angesetzte Analyse führt immer nur zu dem Ergebnis, daß alle Verdächtigungen keinen sachlichen Anhaltspunkt haben, sie beruhen nur auf Gerücht und Gerede. Gerücht und Gerede wuchern überall14, und die meisten Akteure machen sich nicht die Mühe, den Wahrheitsgehalt zu prüfen, weil sich das Vorurteil im Gerücht bestätigt fühlt. 14 Walter Müller-Seidel: Versehen und Erkennen. Eine Studie über Heinrich von Kleist, Köln 1961, 3. Aufl. 1971, S. 57–65. Hinrich C. Seeba: Der Sündenfall des Verdachts [1970], in: Kleists Aktualität. Neue Aufsätze und Essays 1966–1978, hrsg. von Walter Müller-Seidel (Wege der Forschung 586), S. 104–150, wendet das ‚Versehen‘ zu einem ‚Versprechen‘ – einem „Vorbeisprechen“ an der Wirklichkeit und glaubt weiter auf eine prinzipielle „Sprachkrise“ schließen zu können, mit der sich eine Identitätskrise verbinde. Diese Konstruktion wird von einem geschichtsmetaphysischen Modell abgeleitet, in dem es um die „als Erbvertrag gesellschaftlich interpretierte Erbsünde“ gehe (S. 121). Bei Kleist ist allerdings der Erbvertrag keine gesellschaftliche ‚Interpretation‘ der Erbsünde, vielmehr repräsentiert er einen genuin gesellschaftlichen Makel: die Fixierung auf das Eigentum – ganz nach Rousseau. Die an Szondi (Kleists erstes Drama, in: P. S.: Versuch über das Tragische, Frankfurt a.M. 1961, S. 97–103) orientierte These, in der Konstellation der beiden Schroffenstein-Häuser bilde sich „eine in der Familienfehde objektivierte Identitätskrise“ ab (S. 115), bleibt abstrakt in einem dialektischen Begriffsschematismus gefangen, demzufolge Entzweiung Einheit voraussetzt; nicht eine Identitätskrise „objektiviert“ sich in der Familienfehde, vielmehr wirkt sich ein schon objektiv vorhandener gesellschaftlicher Mißstand in dieser Entzweiung bis zu seinen äußersten Konsequenzen aus. Noch schwerer fällt es, eine prinzipielle „Sprachskepsis“ als für den Gang der Handlung entscheidend
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Vorurteil und Voreiligkeit als strukturbildende Elemente Kleist inszeniert das aufklärerische Grundanliegen der Vorurteilskritik in strukturbildender Weise. Aus der gesellschaftlichen Ursünde der Eigentumsfixierung entspringt ein Vorurteil, das alle Verhältnisse zerrüttet – zuerst produziert es falsches Gerücht und Gerede, und schließlich artet es in Mord und Totschlag aus. Zahlreiche aufklärerische Untersuchungen hatten die verschiedenen Arten von Vorurteilen klassifiziert.15 Obenan steht das für Kleists spätere Werke besonders wichtige Vorurteil aus falscher Autoritätsgläubigkeit: praeiudicium auctoritatis; weitere Vorurteilsarten sind das Vorurteil aus zu großer Vertrauensseligkeit (praeiudicium nimiae confidentiae) und das entgegengesetzte Vorurteil aus zu großem Mißtrauen: praeiudicium nimiae diffidentiae, das zu einem Leitmotiv der Familie Schroffenstein wurde. Die „schwarze Sucht des Mißtrauens“, das „Gespenst des Mißtrauens“ (V. 1340) sucht alle heim. Mit sämtlichen Vorurteilsarten verbindet sich, eben weil es sich um Vor-Urteile handelt, die Struktur der Voreiligkeit. Dieses generelle Charakteristikum faßten die Analytiker des achtzehnten Jahrhunderts unter einem eigenen Begriff zusammen, unter dem des ‚Vorurteils aus zu großer Voreiligkeit‘ (praeiudicium nimiae praecipitantiae). Gerade die zeitliche Qualität der Voreiligkeit eignete sich für die dramatische Gestaltung, und Kleists Grundmanöver in der Familie Schroffenstein besteht tatsächlich darin, daß er die Voreiligkeit auf zweifache Weise dramatisch umsetzt: in die Voreiligkeit des Redens, das sich zur wahnhaften Scheinrealität des Gerüchts auswächst, und in die Vor-Eiligkeit des Handelns. Was bisher in den Schriften der Aufklärung gegen die Vorurteile immer nur theoretisch abgehandelt worden war, hat Kleist dramatisch gestaltet. Da das Vorurteil zum voreiligen Reden und Handeln hinreißt, bemächtigt es sich auch der Zufälle, und erst damit – indem es sie falsch ausdeutet oder gar zum Vorwand nimmt – werden die Zufälle zum Verhängnis. Schließlich erhält das Vorurteil die Funktion einer self-fulfilling prophecy, denn es wirkt sich auf den vorurteilshaft Betrachteten negativ aus und verändert sein Verhalten in einer Weise, die das Vorurteil zu bestätigen scheint. Im übrigen zeigt Kleist aber auch in ungemein dramatischer Manier, daß die Tat-Sphäre immer mehr eine autonome Dynamik gewinnt, denn nachdem das Vorurteil zur ersten schlimmen Tat geführt hat, verfällt alles Geschehen dem Mechanismus der Reaktion und der Rache. Das aus der Eigentumsfixierung entstehende und sich immer mehr verfestizu verifizieren. Das handlungsbestimmende Problem liegt nicht darin, daß die Sprache prinzipiell in Zweifel gerät, sondern darin daß die Kommunikation, der gesellschaftlich vermittelnde sprachliche Akt, nicht mehr gelingt, und dies aus Gründen, die nicht mit einer prinzipiellen Infragestellung der Sprache zusammenhängen. 15 Vgl. hierzu genauer S. 19, Anm. 24.
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gende Vorurteil fordert die Frage heraus, wie die Vorurteilsstruktur zu durchbrechen wäre. Kleist entwirft zwei verschiedene Möglichkeiten. Zunächst bietet es sich an, durch Kommunikation das Vorurteil zu beseitigen und damit auch seine negativen Folgen zu vermeiden. Deshalb tritt in der Gestalt des Jeronimus ein Vermittler auf. Doch mißlingt die von ihm geplante Vermittlung zwischen den Häusern Rossitz und Warwand, ja er selbst fällt seiner Vermittlungsbereitschaft zum Opfer, weil das Vorurteil schon so tief eingefressen ist, daß es nicht nur jede Kommunikation und also auch jede Vermittlung vereitelt, sondern sogar denjenigen vernichtet, der zu vermitteln sucht. Dieses Problem der Vermittlung und entsprechend die Mittlerfigur erhält für eine ganze Reihe von Kleists Werken, bis hin zum Michael Kohlhaas und zum Prinzen Friedrich von Homburg, große Bedeutung, ebenso das Problem der gelingenden oder mißlingenden Kommunikation überhaupt. In der Familie Schroffenstein ergibt sich daraus ein weiteres Leitmotiv: Immer wieder wollen diejenigen, die nicht dem Vorurteil verfallen, so vor allem der Vermittler Jeronimus und Sylvester, der Chef des Hauses Warwand, mit der anderen Partei ins Gespräch kommen. In V. 1022 sagt Sylvester: „Wenn ich nur Rupert sprechen könnte“, und fast gleichlautend in V. 1216: „wenn ich Rupert sprechen könnte“, und entsprechend berichtet der Vermittler Jeronimus auf Schloß Rossitz (V. 1718): „Sylvester will dich sprechen“, um dann noch einmal eindringlich zu versichern (V. 1733): „nur ein Gespräch“ wünsche Sylvester. Aber der völlig vom Vorurteil okkupierte Rupert geht gar nicht erst auf das Angebot ein, sondern läßt den Vermittler umbringen. Der Vorurteilsbesessene tut nicht nur nichts, um sein Vorurteil zu überwinden, er hält daran fest, um sich nicht eingestehen zu müssen, daß er im Unrecht ist. So scheitert die prinzipiell bestehende Möglichkeit, das Vorurteil durch Kommunikation aufzulösen, wenn nur einer der Kontrahenten das Gespräch verweigert. Besonderen Rang verleiht Kleist der Liebe als der zweiten Möglichkeit, das Vorurteil zu überwinden. In der zentralen Szene (III, 1)16 treffen sich die bei16
Vgl. Ingeborg Harms: „Wie fliegender Sommer“. Eine Untersuchung der ‚Höhlenszene‘ in Heinrich von Kleists Familie Schroffenstein, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 28 (1984), S. 270–314. So wenig diese Abhandlung die angstbesetzte Atmosphäre der Höhlen-Szene adäquat erfaßt, so wenig tragfähig ist die Gesamt-Interpretation. Das gilt schon für die behauptete strukturbildende Funktion von biblischen Bezügen für das Drama. Daß Ruperts natürlicher Sohn, nur weil er „Johann“ heißt, an Johannes den Täufer erinnern soll, ist kaum überzeugender als die Behauptung, daß Ottokar durch Agnes „zu ‚Jesus‘ (V. 2505) und zum ‚Heiland der Welt‘ (V. 2557) überhöht“ werde (S. 276). Wenn Agnes auf die angsterfüllte Feststellung Ottokars: „Mein Vater kommt“ mit dem Schreckensruf reagiert: „O Jesus!“ (Regie-Anweisung: „Will sinken“) (V. 2505) so überhöht sie damit Ottokar nicht zu „Jesus“, vielmehr handelt es sich um eine Interjektion, wie sie Kleist auch sonst, etwa im Zerbrochnen Krug benutzt (V. 1131
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den Liebenden, Ottokar aus dem Hause Rossitz und Agnes aus dem Hause Warwand, bezeichnenderweise fern von den Orten gesellschaftlicher Entfremdung, in der freien Natur. Als Träger von Namen, die ihre gesellschaftliche Identität signalisieren, sind sie allerdings doch nicht ganz frei – das vorurteilsbedingte Mißtrauen zwischen den beiden Häusern fixiert ihre Namen schon zum voraus negativ. Beide sprechen deshalb zunächst so, als seien ihnen ihre Namen unbekannt. Ottokar nennt Agnes „Maria“, um alles Störende fernzuhalten. Die Spaltung der Identität in eine verdrängte Schicht eigentlichen Wissens und in eine andere des Als-ob führt aber nicht zum Vertrauen und zur gemeinsamen Überwindung des Vorurteils, sondern erzeugt Beklemmung. Von den entfremdenden Zwängen befreien sich die Liebenden erst, als sie sich das Wissen ihrer wahren Namen gegenseitig gestehen. Dieser fundamentale Akt des Vertrauens ermöglicht erst die große Aussprache, in deren Verlauf sich Irrtum und Vorurteil auflösen. Indem Agnes auf Ottokars Namensfrage lapidar antwortet, er sei „Ottokar von Schroffenstein“ (V. 1326), ereignet sich der entscheidende Durchbruch zum Vertrauen. Kleist gestaltete damit ein traditionelles Element des Dramas, die ‚Anagnorisis‘, in neuartiger Weise aus. Als Anagnorisis im engeren Sinn bezeichnet die Aristotelische Poetik (Kap. 11) eine Situation, in der sich zwei Personen, die sich bisher unbekannt gegenüberstanden, aufgrund bestimmter Erkennungszeichen, zu denen auch der Name gehören kann, einander erkennen oder nach langer Trennung wiedererkennen. In der Antike gehört eine solche Anagnorisis-Szene zum feststehenden Dramenrepertoire. Indem Ottokar und Agnes als Kinder aus zwei miteinander verfeindeten Häusern sich zwar kennen, aber ihre Namen verdrängen, bis sie sich dann doch in vorbehaltloser Liebe zu u. ö.). Ebenso willkürlich dekontextualisiert ist der Ausruf „Heiland der Welt“, mit dem Ottokar angeblich zum „Heiland“ überhöht werde. Denn wieder handelt es sich um einen Schreckensausruf. Als Agnes Ottokar tödlich verletzt erblickt, ruft sie entsetzt: „– Ein Schwert – im Busen – Heiland! / Heiland der Welt! Mein Ottokar!“ (Regie-Anweisung: „Sie fällt über ihn) (V. 2556 f.) Ähnlich manipulativ werden die anderen – manchmal nur scheinbaren – Bibelbezüge benutzt, um dem Drama schließlich eine untragische Tendenz zuzuschreiben (S. 311: „In der Familie Schroffenstein wird auf dem Hintergrund der Heiligen Schrift der Tod als tragisches Argument zurückgewiesen“; S. 312: „Tragik ist nicht das Prinzip der Familie Schroffenstein“). Über die christlich-romantisierende Zurichtung stülpt Harms noch das lebensphilosophisch-neuromantische Konzept von Julius Harts unsäglichem Werk Das Kleist-Buch (Berlin 1912). Julius Hart, auf den sich Harms immer wieder beruft, weil er sich auch intensiv der Familie Schroffenstein zuwandte, konfektionierte Kleist nach dem lebensphilosophischen Konzept, das er in seinem Triumph des Lebens und in seinem Weltanschauungsbuch Die neue Welterkenntnis (1902) entwickelt hatte. Von Tragik kann dann in Kleists Erstlingswerk, das voller Mord und Totschlag ist, nichts übrig bleiben, eher schon „heiteres Spiel“ (Harms, S. 277).
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ihnen bekennen, steigert sich die Anagnorisis zu einer neuen Qualität. Liebe und Vertrauen heben die gesellschaftlich negative Festlegung auf. In ihrer großen Aussprache überwinden Ottokar und Agnes dann auch vollständig die wahnhaften Feindbilder ihrer Elternhäuser. Die Liebesszene gipfelt in der Erkenntnis, daß es sich nur um Irrtümer und Vorurteile handelt. Agnes stellt fest (V. 1472 f.): „O / Mein Gott, was ist das für ein Irrtum“, und Ottokar antwortet zuversichtlich (V. 1477 f.): „So wie einer, / Kann auch der andre Irrtum schwinden“. Der nicht mehr von Vorurteilen getrübte Blick läßt ihn auch klar das vermeintliche Indiz als unsinnig erkennen. „Mördern“, so sagt er im Hinblick auf den tot aufgefundenen jüngeren Bruder, „Mördern, denk / Ich, müßte jedes andre Glied fast wichtger / Doch sein, als just der kleine Finger“ (V. 1482–84). Erst das menschlich vollkommene und reine Gefühl der Liebe führt zur Erkenntnis und vollendet die Anagnorisis. Denn Anagnorisis meint nur in engerer Bedeutung ein Sich-Erkennen oder Wieder-Erkennen von Personen, in der weiteren Bedeutung aber, wie sie Aristoteles in seiner Poetik definiert, den Übergang von einem Zustand des Nichtwissens und Nichterkennens in den des Wissens und Erkennens. Kleist gestaltete in der zentralen Szene diese Anagnorisis als Übergang vom Vorurteil, mit dem sich notwendig das NichtErkennen verbindet, in einen vorurteilsfreien Zustand, der erst die Möglichkeit klarer Erkenntnis schafft. Im Handlungsverlauf allerdings vermögen Liebe, Vertrauen und Erkenntnis nichts zu bewirken, weil die Gegenkräfte den Gang der Welt bestimmen, und so kommt es zur tragischen Zuspitzung, daß gerade diejenigen, die sich vom Ungeist frei machen, ihm zum Opfer fallen müssen. Kleist verlieh dem Geschehen in der zentralen Szene das Pathos des Symbolischen. Noch bevor sich die beiden Liebenden einander rückhaltlos offenbaren, reicht Ottokar Agnes eine Schale mit Quellwasser. Indem Agnes die Feindschaft zwischen den beiden Häusern bedenkt, kommt ihr der Verdacht, es könnte Gift sein; dennoch trinkt sie aus der Schale, sie riskiert sich in ihrer Liebe ganz und wird dabei inne, daß es sich nicht um Gift handelt. Der Trank reinen Wassers, den sie von Ottokar entgegennimmt, symbolisiert das natürliche, reine Gefühl, das die beiden Liebenden füreinander hegen. Diese Szene steht in einem markant kontrastiven Bezug zu der Abendmahl-Szene am Beginn des Dramas, wo das kirchliche Abendmahl in der Rossitzer Schloßkapelle den Haß befeuert. Ganz dem Geist der Aufklärung entsprechend wird die befleckte institutionelle Religion, die sich auf Jenseitiges ausrichtet und in dessen Namen das Diesseits mißachtet oder verkennt, durch eine ‚natürliche‘ Religion abgelöst: ein Bekenntnis zur Natur und zum menschlich-natürlichen Gefühl. Die Zerstörung des Menschlich-Natürlichen als zentrales Thema Generell bildet die am Anfang des dritten Aufzugs plazierte naturhafte Liebesszene einen scharfen Kontrast zur Unnatur des gesellschaftlich entfremde-
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ten Zustands. Denn der aus dem Erbvertrag entspringende Zwist ist nur der Nerv des Geschehens, das sich mit zahlreichen Nebenelementen anreichert, mit Herrschafts-, Unterdrückungs- und Entrechtungsverhältnissen. Rupert, der zu Beginn des Stücks „nichts mehr von Natur“ (V. 42) zu hören wünscht, ist ihr Repräsentant. Sie beginnen in seiner Familie. Rupert mißachtet seine Frau, die mit den Worten „ich, dein unterdrücktes Weib“ Position gegen ihn bezieht (V. 1810), nachdem er den Vermittler Jeronimus heimtückisch hat ermorden lassen. Er verhält sich inhuman, indem er seiner Frau keinen Einfluß auf seine Entscheidungen zubilligt, ihr seine wahren Absichten verheimlicht, sie bewußt täuscht und ihr Vertrauen mißbraucht. Er ist ein Familientyrann. Auch in einer Reihe anderer Werke entfaltet Kleist diese modern anmutende Diagnose des autoritären Charakters im Zusammenhang mit seiner Kritik der patriarchalischen Familienstruktur. Noch mehr leidet der Sohn Ottokar unter ihr – aufgrund seiner Liebe zu Agnes läßt ihn der Vater sogar gefangensetzen. Wie seine Familie, so unterdrückt und demütigt Rupert auch seine Untergebenen. Seine Diener behandelt er nicht als Menschen: wie Hunde pfeift er sie heran. Wiederholt hebt Kleist auf dieses Verhalten gegenüber den Dienern ab.17 In besonderer Weise akzentuiert das Schicksal Johanns, der dem Personenregister zufolge „Ruperts natürlicher Sohn“ ist, den widernatürlichen und unmenschlichen Gesamtzustand. Denn in seinem zur Nebenhandlung ausgeweiteten Fall ist das Entrechtungsverhältnis gesellschaftlich sanktioniert. Es besagt, daß der „natürliche“ Sohn Johann im Gegensatz zum ehelichen Sohn Ottokar keinerlei Rechte und Ansprüche hat. Kleist spielt hier mit dem Begriff des Natürlichen. Denn wenn ein uneheliches Kind traditionell ein ‚natürliches‘ Kind heißt, dann ist die Gesellschaft, die ein solches ‚natürliches‘ Kind benachteiligt und entrechtet, notwendigerweise widernatürlich.18 So bringt Kleist seine rousseauistische Gesellschaftskritik auf den Nenner: Die gesellschaftlichen Normen sind pervers und unmenschlich, da sie das Natürliche brandmarken. Der ‚natürliche‘ Sohn Johann muß das Leben eines outcasts führen, im Verhältnis zum ‚legitimen‘, weil ehelichen Sohn Ottokar befindet er sich mit seinen menschlichen und gesellschaftlichen Ansprüchen in einer aussichtslosen Situation. Die letzte Konsequenz des Paria-Daseins sind seine wiederholten Versuche, in den Tod auszubrechen, und sein Ende im Wahnsinn. Erbe, Eigentum, Stand und Herrschaft sowie die daraus entspringenden menschlichen und gesellschaftlichen Deformationen bilden also einen großen Themenkomplex. Wie schon der Zwist zwischen den Häusern Rossitz und Warwand symbolisch die Zerstörung des Menschlich-Natürlichen anzeigt, da es sich um eng Verwandte, um von Natur aus Zusammengehörige handelt, so 17
V. 1518–1524, V. 1822, V. 2009f. Noch in der Erzählung Der Zweikampf, in seinem wohl letzten Werk, greift Kleist in kritischer Absicht auf diese Konstellation zurück. Hierzu S. 285. 18
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signalisieren auch die anderen Mißverhältnisse die Zerstörung des MenschlichNatürlichen. Das Zerstörungsgeschehen gipfelt in der Selbstzerstörung Ruperts. Es ist wohl die größte Leistung Kleists in seinem Erstlingswerk, daß er nicht nur die Zerrüttung aller menschlichen Beziehungen, sondern auch, als äußerste Folge des Abfalls von der Natur, Ruperts zunehmende Selbstentfremdung und Selbstzerstörung gestaltet und ihr eine zwanghafte Eigendynamik verleiht. Rupert selbst bemerkt seinen inneren Niedergang (V. 1918): „selbst ein Eckel bin ich mir“. Auch das Verwechslungsgeschehen des Kindesmords, bei dem jeder der Väter, durch den Kleidertausch der Kinder getäuscht, sein eigenes Kind ermordet, hat seinen tieferen Sinn in der Vernichtung des Eigenen. Ruperts Bosheit gründet in einem geradezu pathologischen Vorurteil und ist verblendeter Eigensinn, der zu keiner menschlichen Öffnung mehr fähig ist und deshalb nur noch unterjochen und zerstören kann. Solcher Eigensinn ist die schlimmste Ausgeburt des Eigentums. Alles in allem waltet kein dämonisch-unerkennbares Schicksal in dem Geschehen, vielmehr liegen ihm klar erkennbare gesellschaftliche Ursachen zugrunde. Allerdings bestimmen diese gesellschaftlichen Ursachen ihrerseits nicht zwanghaft die Haltung des einzelnen, denn obwohl der Erbvertrag für Sylvester von Schroffenstein nicht minder als für seinen Gegner Rupert von Schroffenstein gilt, widersteht er dem Mißtrauen und dem Vorurteil auch in der engsten Umgebung. Sein Wunsch nach einem „Gespräch“ mit Rupert drückt seine Bereitschaft aus, die Vorurteile abzubauen und das Vertrauen wiederherzustellen. „Wenn ich nur Rupert sprechen könnte“, „wenn ich Rupert sprechen könnte“ – so enden die zweite und die dritte Szene des zweiten Aktes in bedeutungsvoller Parallelität mit einem vergeblichen Wunsch, bevor der nicht gesprächsbereite Rupert die Katastrophe einleitet. Diese individuellen Unterschiede im Verhalten der Personen zeigen, daß die gesellschaftlichen Verhältnisse zwar zerstörerisch wirken, aber nicht schlechthin alles und alle zwanghaft festlegen wie später in den Dramen der Naturalisten. Im ganzen stuft sich die Begründung der zur Katastrophe drängenden Handlung dreifach: Bloß äußerer Anlaß ist ein Zufall, der abgeschnittene Kindesfinger; tiefere, gesellschaftliche Ursache ist die Ursünde des Erbvertrages: die Fixierung der Menschen auf das Eigentum und das daraus entstehende Potential von Mißtrauen und Aggression; eine individuelle Schuld liegt in der persönlichen Unzulänglichkeit Ruperts. Das Verhältnis der allgemeinen, gesellschaftlichen Ursache der Katastrophe zur individuell-persönlichen Disposition läßt sich so definieren, daß erst durch individuelle Unzulänglichkeit die im Erbvertrag paradigmatisch repräsentierten Mängel ihre Virulenz erhalten, und daß umgekehrt nur aufgrund der gesellschaftlichen Mängel ein so gravierendes individuelles Versagen möglich ist – möglich, nicht notwendig!
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Shakespeare als literarisches Muster Kleist orientierte sich mit seinem Erstlingswerk sehr weitgehend an Shakespeare.19 Schon die dramatische Grundsituation entspricht derjenigen in Romeo und Julia. Nach Shakespeares Vorbild tritt ein Wahnsinniger auf: Ruperts ‚natürlicher‘ Sohn Johann verkörpert gegen Ende des Dramas in seiner Sinn-Zerrissenheit die widernatürliche Zerrissenheit seines Geschlechts. Seine makabre Lustigkeit mitten in der Katastrophe ist zugleich von der Shakespeareschen Narrenrolle gefärbt. Shakespeare als Muster verrät auch der Auftritt von Hexen, allerdings macht Kleist seine Hexen in der Gestalt der Barnabe und ihrer Tochter zur rationalistischen Karikatur des Volksaberglaubens: Während Shakespeares Hexen noch in die Sphäre magisch-dämonischer Wirkungen gehören, demonstriert Kleist ganz aufklärerisch nur das Absurde des Glaubens an derlei Zauberwesen. Ferner deutet die Gestalt des Jeronimus, der als unparteiisches Mitglied aus einer Nebenlinie des Hauses Schroffenstein an dem Gegensatz der beiden Hauptlinien nicht teilhat und ihn deshalb zu analysieren vermag, auf die Rolle des Bastards in Shakespeares Drama König Johann. Als Außenstehender beobachtet er das Treiben der beiden streitenden Parteien und stellt darüber seine Betrachtungen an. Damit erhält der Leser oder Zuschauer einen Teil der von ihm geforderten distanzierten Erkenntnis schon durch eine Gestalt des Stückes selbst – obwohl Shakespeares Bastard ebenso wie Kleists Jeronimus auch handelnd und leidend in das Geschehen verstrickt bleibt. Endlich ist in der Familie Schroffenstein das blutig-schnelle Abräumen der Bühne im Schlußakt übertriebene Shakespeare-Manier, während Kleist später eine ganz eigene Kunst des Finales entwickelt. Shakespeare-Manier ist überhaupt die etwas vordergründige und krasse Blutrünstigkeit, vom abgeschnittenen Kindesfinger über die schauerlichen Heroldsmorde bis zum Erstechen der eigenen Kinder durch die Väter. Der Darstellung äußeren Greuels fehlt noch die innere Dimension des Leidens. Dennoch ist die Familie Schroffenstein ein markanter konzeptioneller Wurf. Die Grundlinien von Kleists späteren, künstlerisch vollendeten Werken zeichnen sich bereits ab. 19
Grundlegend zur Bedeutung Shakespeares für Kleists Werke generell: Meta Corssen: Kleist und Shakespeare, Weimar 1930 (Forschungen zur neueren Literaturgeschichte 61). Bianca Theisen: Der Bewunderer des Shakespeare. Kleists Skeptizismus, in: KJb 1999, S. 87–108, versucht über eine Anzahl von Shakespeare-Anspielungen Kleists (S. 92f.) hinaus und in Absetzung vom Shakespeare-Interesse etwa Herders und der Romantiker, wenn auch in deutlicher Nähe zur Shakespeare-Auffassung Friedrich Schlegels Kleists Verhältnis zu Shakespeare in eine übergreifende Perspektive zu rücken: in die einer Skepsis, die alle bestimmten Positionen als einseitig suspendiert und insofern ins Ungewisse rückt. Mehr als eine Analogisierung allgemeiner Art kommt allerdings nicht zustande, da sich nicht nachweisen läßt, daß Kleist Shakespeare so verstanden und dichterisch rezipiert hat.
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2. Der zerbrochne Krug Der König Ödipus des Sophokles als dramaturgisches Muster und die klassische Komödien-Situation der ‚verkehrten Welt‘ Am Zerbrochnen Krug begann Kleist wahrscheinlich schon während seines ersten Schweizer Aufenthalts im Jahre 1802 zu arbeiten. Im August 1806 schloß er die erste Fassung ab, aber erst nach einer gründlichen Veränderung der Schlußpartie erschien das Lustspiel 1811 im Druck. Über die Entstehung berichtet Kleist in der nur handschriftlich überlieferten, weil von ihm dann doch nicht in Druck gegebenen Vorrede. Darin führt er ein Bild als thematische Hauptanregung an20, und mit dem Hinweis auf den König Ödipus des Sophokles nennt er auch schon sein wichtigstes dramaturgisches Muster: Diesem Lustspiel liegt wahrscheinlich ein historisches Factum, worüber ich jedoch keine nähere Auskunft habe auffinden können, zum Grunde. Ich nahm die Veranlassung dazu aus einem Kupferstich, den ich vor mehreren Jahren in der Schweiz sah. Man bemerkte darauf – zuerst einen Richter, der gravitätisch auf dem Richterstuhl saß: vor ihm stand eine alte Frau, die einen zerbrochenen Krug hielt, sie schien das Unrecht, das ihm widerfahren war, zu demonstrieren: Beklagter, ein junger Bauerkerl, den der Richter, als überwiesen, andonnerte, vertheidigte sich noch, aber schwach: ein Mädchen, das wahrscheinlich in dieser Sache gezeugt hatte (denn wer weiß, bei welcher Gelegenheit das Delictum geschehen war) spielte sich, in der Mitte zwischen Mutter und Bräutigam, an der Schürze; wer ein falsches Zeugniß abgelegt hätte, könnte nicht zerknirschter dastehn: und der Gerichtsschreiber sah (er hatte vielleicht kurz vorher das Mädchen angesehen) jetzt den Richter mistrauisch zur Seite an, wie Kreon, bei einer ähnlichen Gelegenheit, den Ödip. Darunter stand: der zerbrochene Krug. – Das Original war, wenn ich nicht irre, von einem niederländischen Meister.21 20 Es handelt sich bei dem von Kleist und noch genauer von seinem Freund Zschokke charakterisierten Bild um den von Jean-Jacques Le Veau im Jahr 1782 geschaffenen Kupferstich Le juge ou la cruche cassée. Hierzu, zum Bildtypus und zum symbolischen Motiv des zerbrochnen Kruges E. Theodor Voss: Kleists Zerbrochner Krug im Lichte alter und neuer Quellen, in: Wissen aus Erfahrungen. Festschrift für Herman Meyer, hrsg. von Alexander von Bormann, Tübingen 1976, S. 338–370; Gisela Zick: Der zerbrochene Krug als Bildmotiv des 18. Jahrhunderts, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 31 (1969), S. 149–204. Zu einer weiteren Vorlage, dem Dramolett von Christian Felix Weiße (1746–1804) Der Krug geht so lange zu Wasser, bis er zerbricht; oder der Amtmann (1786) Richard F. Wilkie: A new Source for Kleist’s Der zerbrochne Krug, in: Germanic Review 23 (1948), S. 239– 248. Zusammenfassend: SWB 1, S. 736–740. Abbildung von Le Veaus Kupferstich: SWB 1, nach S. 720 (Abb. 8). Eine gute Dokumentation bietet Helmut Sembdner: Heinrich von Kleist, Der zerbrochne Krug. Erläuterungen und Dokumente, Stuttgart 1973, 2. Aufl. 1982. Daß Kleist in seiner Vorrede an einen „niederländischen Meister“ denkt, trifft zwar auf Le Veau nicht zu, wohl aber auf die von dem Bild repräsentierte und auch von Kleist selbst intendierte „niederländische“ Manier. Vgl. hierzu das Folgende. 21 SWB 1, S. 259.
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Als Kleist 1811 ein Freiexemplar von der Buchausgabe seines Lustspiels an Fouqué schickte, bemerkte er, es sei „nach dem Tenier gearbeitet“22, und er meinte damit den Stil niederländischer Genremalerei, wie ihn David Tenier (1610–1690) repräsentierte. Von ihm kannte Kleist mehrere Bilder, die in der Dresdner Gemäldegalerie hingen. Auch die Zeitgenossen sprachen immer wieder von Kleists „niederländischem Gemälde“ im Zerbrochnen Krug23 und bezeichneten damit keineswegs bloß das niederländische Milieu des Lustspiels, sondern die Art der künstlerischen Darstellung. Umso erstaunlicher ist es, daß sich Kleist zugleich an dem seit der Aristotelischen Poetik zur klassischen Muster-Tragödie erhobenen König Ödipus orientierte und auch schon in der Vorrede beides, die von ihm auf ein „niederländisches“ Original zurückgeführte Kupferstich-Szene und die sophokleischen Elemente vermischte. Denn in einer bereits festgefügten kunsttheoretischen Tradition fungierten die (klassizistisch verstandenen) Griechen samt den italienischen Malern der Renaissance als Vorbilder des hohen, „idealen“ Stils, während die niederländische Malerei als Inbegriff einer abgewerteten realistischen Kunst galt. Winckelmann hatte diese schon etablierte Opposition an prominenter Stelle, in seinen 1755 erschienenen Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, exponiert und bekannte Vertreter des Klassizismus wie Karl Philipp Moritz hatten sie weiter propagiert und von ihrem Stilideal her die niederländisch realistische Manier abschätzig beurteilt. Besonders weit ging Schiller von seinem entschieden idealistischen Standpunkt aus. In seinen Gedanken über den Gebrauch des Gemeinen und Niedrigen in der Kunst rechnete er die niederländische Malerei zum Gemeinen und Niedrigen. Auch Jean Paul nimmt in seiner Vorschule der Ästhetik (§ 72) die typologische Entgegensetzung auf. Nachdem bereits die Romantiker und insbesondere Friedrich Schlegel nicht nur der altdeutschen, sondern auch der niederländischen Malerei einen eigenen Reiz abgewonnen hatten, kam es mit der realistischen Wende im 19. Jahrhundert zu einer entschiedenen Umwertung: Im Kunstgespräch seiner Lenz-Novelle zog Büchner die realistische niederländische Malerei der klassischen Kunst der Griechen und ihrem seit Winckelmann gültigen Ideal-Paradig22
An Fouqué, Berlin, 25. April 1811; Briefe, Nr. 229, S. 483. In seinem Gespräch über die Dichtergabe H. v. Kleists (1816) nahm Fouqué das Stichwort auf, das ihm Kleist selbst in seinem Brief vom 25. April 1811 gegeben hatte: Er bezeichnete den Zerbrochnen Krug als das „kühnste und launigste und glücklichste aller niederländischen Gemälde“ (Nachruhm, Nr. 261 a), Tieck spricht in der Vorrede zu den von ihm herausgegebenen Hinterlassenen Schriften Kleists (Berlin 1821) vom Zerbrochnen Krug als „diesem ächt niederländischen Gemälde“ (S. XLIV), der Literaturhistoriker Franz Horn preist in seinen Umrissen zur Geschichte und Kritik der schönen Literatur (Berlin 1819) den Zerbrochnen Krug als „ein herrlich niederländisches Gemälde“ (Nachruhm, Nr. 264). 23
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ma, dem Apoll von Belvedere, sowie den italienischen Malern der Renaissance, als deren Prototyp Raffael galt24, entschieden vor. Indem Kleist das „niedere“ niederländische Genre gerade für seine Komödie adaptierte, verstärkte er die Gattungstradition, welche die Komödie dem genus humile zurechnete, weil in ihr nur Personen niederen Standes auftreten durften. Der gleichzeitige Rückgriff auf die griechische Tragödie allerdings hätte einen geradezu parodistischen Bruch mit der Gattungstradition bedeutet, wenn Kleist sich nicht primär am analytischen Verfahren des Sophokles orientiert und im übrigen mit den sophokleischen Elementen frei experimentiert hätte. Daß er immerhin so weit ging, zeugt im Horizont des zeitgenössischen Klassizismus von einer Kühnheit, die er nur noch mit dem entschiedenen Antiklassizismus seiner Penthesilea übertraf. Einer Eintragung im Entleihbuch der Dresdner Bibliothek zufolge entlieh Kleist eine Übersetzung des König Ödipus25, dem auch sein Tragödienfragment Robert Guiskard Wesentliches verdankt. Für den Zerbrochnen Krug übernahm er vor allem das dramaturgische Grundschema. Ein Krug ist zerbrochen worden. Wie kam es dazu? ist die Frage, die das Geschehen des Stücks in einem Prozeß der Enthüllung beantwortet, der auf dramatisch spannende Weise aus einem Zustand des Nichtwissens und des Unverständnisses zum Wissen und Verstehen führt. Daraus ergibt sich eine ‚analytische‘ Struktur insofern, als das Rätsel eines zu Beginn der Handlung im Dunkel liegenden Ereignisses seine Auflösung erfährt. Das am Beginn der dramatischen Darstellung bereits vorhandene „zerscherbte Faktum“ ist als Corpus delicti ein Indiz dafür, daß jemand in Evchens Kammer war. Dabei wird sogleich das symbolische Valeur des zerbrochenen Krugs deutlich: Er steht für Eves gefährdete und vielleicht sogar zerstörte Ehre. Die Suche nach dem Eindringling führt zur Analyse des Vorgefallenen. Frau Marthe erzwingt sie, um Evchen vor der Schande zu bewahren. Auch im König Ödipus des Sophokles steht die Suche nach einem unbekannten Täter am Beginn des Dramas. Während das Zerbrechen des Kruges der Dimension des Lustspiels angemessen ist, handelt es sich in der antiken Tragödie um ein schweres Verbrechen: Der Mörder des ehemaligen Königs von Theben muß ausfindig gemacht und bestraft werden, denn nur dann weicht der wegen dieses noch ungesühnten Mordes auf der Stadt lastende Fluch. Damit der Täter 24
Bezeichnenderweise nennt Kleist in dem Brief an Fouqué vom 25. April 1811 nach Tenier alsbald kontrastiv Raphael, dem er sonst den Vorzug gebe (Briefe, Nr. 229, S. 483). 25 In der Dresdner Zeit, während er seinem Freund Pfuel die ersten drei Szenen des Zerbrochnen Krugs diktierte, entlieh Kleist den ersten Band des Tragischen Theaters der Griechen (Zürich 1763). Die Übersetzung von Johann Jakob Steinbrüchel enthält auch den König Ödipus.
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ans Licht kommt, muß alles im Zusammenhang mit dem Königsmord früher Geschehene aufgeklärt werden. Kleist übernahm aber nicht nur diese analytische Struktur, sondern auch das konkrete Verfahren, das die Analyse leistet: eine von einer Anklage eingeleitete gerichtliche Untersuchung.26 Wie im Ödipus-Drama soll sie auf die Spur des Täters führen und den genauen Hergang des im Dunkel liegenden Geschehens erhellen. Auch die Form dieses gerichtlichen Verfahrens, eine Kombination von Zeugenaussagen und Indizienbeweisen, entspricht derjenigen bei Sophokles. Wie im Ödipus werden mehrere Zeugen vernommen: Frau Marthe, Ruprecht, Muhme Brigitte und nicht zuletzt Evchen selbst, die allein weiß, wer der nächtliche Übeltäter war, aber nicht offen sprechen kann, weil sie vom Richter Adam erpreßt wurde. Und wie im König Ödipus verräterische Indizien gesichert werden, vor allen andern die Tatsache, daß der Täter verkrüppelte Füße hat, so auch im Zerbrochnen Krug. Hier überführen schließlich drei Hauptindizien den Richter Adam. Das erste, der Klumpfuß, dessen Spuren man im Schnee verfolgen kann, stammt direkt aus dem Drama des Sophokles, denn Ödipus hat ja verkrüppelte Füße und sein Name selbst, Ödipus, heißt zu deutsch „Schwellfuß“. Als zweites Hauptindiz, daß Richter Adam selbst in Evchens Kammer eingedrungen ist und den Krug zerbrochen hat, erweist sich seine Perücke. Bei der Flucht durch das Fenster blieb sie im Spalierbaum an Evchens Haus hängen und fehlt ihm nun, weshalb er den Gerichtstag von Anfang an kahlköpfig halten muß. Ein drittes Indiz schließlich ergeben die zwei Löcher auf seinem Kahlkopf – sie rühren von Ruprechts Schlägen mit der Türklinke her. Auch die Personenkonstellation bildete Kleist weitgehend der Ödipus-Tragödie nach. Vor allem agiert Adam wie Ödipus als Täter und Richter in einem. Ebenso wie Ödipus setzt er die Fahndung nach sich selbst in Gang. Aber während Ödipus nicht ahnt, daß er selbst der Täter ist, weiß Adam dies sehr wohl. Daraus resultiert der weitere Unterschied, daß Adam die Untersuchung gegen seinen eigenen Willen führen muß, während Ödipus sie freiwillig und energisch vorantreibt. Eine nicht so deutliche, aber immerhin noch greifbare Analogie in der Figurenkonstellation: Der zur Inspektion kommende Gerichtsrat Walter, der den wahren Sachverhalt schon bald durchschaut, erinnert an den Seher Teiresias im Ödipus, der die Wahrheit von Anfang an kennt. Dem profanen Inspektor, der das Gerichtsverfahren beaufsichtigt, entspricht in der religiös grundierten Tragödie des Sophokles der Seher. Wie gelang es Kleist, bei so vielen Analogiebildungen die aus der Tragödie 26 Seit dem 19. Jahrhundert hat man die Analogien immer wieder gesehen. Vgl. Wolfgang Schadewaldt: Der zerbrochne Krug von Heinrich von Kleist und Sophokles‘ König Ödipus [zuerst 1957/58], in: Heinrich von Kleist. Aufsätze und Essays, hrsg. von Walter Müller-Seidel (Wege der Forschung 147), Darmstadt 1967, S. 317–25.
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übernommenen Konstellationen ins Komische zu wenden? Seine vorbereitende Grundoperation ist Depotenzierung. Das entspricht dem traditionellen Gattungsunterschied zwischen der hohen Form, dem genus sublime der Tragödie, und der niederen Form, dem genus humile der Komödie. Der Depotenzierung dient schon der Milieuwechsel. Das Pathos der höchsten gesellschaftlichen Ebene – Ödipus ist ja König von Theben – wird mit der Kleinwelt eines niederländischen Dorfes vertauscht. Die Depotenzierung der Handlung beginnt bereits beim Anlaß der rückwärtsgewandten Analyse, denn im König Ödipus geht es um eine schwere Blutschuld und ihre furchtbaren Folgen, bei Kleist dagegen bloß um einen zerbrochenen Krug, womit trotz der symbolischen, durchaus menschlich ernst zu nehmenden Bedeutung des Krugs das letztlich Harmlose des Geschehens bereits feststeht. Der Held des Geschehens im König Ödipus ist denn auch ein tragischer Held, weil er an einem göttlichen Schicksal scheitern muß; Richter Adam dagegen agiert als komischer Held27, weil er sich mit den Folgen seiner eigenen menschlichen Schwäche herumzuschlagen hat. An die Stelle des vernichtenden göttlichen Schicksals, das zuerst in schwere Blutschuld und dann in den Untergang treibt, tritt das Menschlich-Allzumenschliche einer Verfehlung, aus der es dann doch noch eine leidliche Rettung gibt. Dieser Umorientierung von der Idee eines unentrinnbaren göttlichen Schicksals zum Menschlich-Regulierbaren, vom Absoluten zum Relativen gemäß fungiert an der Systemstelle des Sehers Teiresias bei Kleist der Inspektor Walter. Der Umorientierung vom Göttlichen zum Menschlichen entspricht endlich auch der eigentliche Zweck des dramatischen Geschehens. Die Tragödie des PriesterDichters Sophokles zielt auf die Enthüllung einer Wahrheit, welche die Autorität des Delphischen Orakels sowie die Unanfechtbarkeit des von Teiresias repräsentierten Sehertums erweisen soll – beide Institutionen waren in der Zeit der griechischen Aufklärung bereits Zweifeln ausgesetzt worden. Der Zweck des Geschehens in Kleists Komödie dagegen ist ganz menschlich: Die Wahrheit, die da enthüllt wird, dient der Wiederherstellung des menschlichen Vertrauens zwischen den Liebenden Ruprecht und Eve. Auf der Basis dieser Depotenzierung entwickelte Kleist systematisch die klassische Komödien-Situation der ‚verkehrten Welt‘: Der Richter ist selbst der Übeltäter, in der Gerichtsverhandlung soll er etwas aufdecken, das er, eben weil er selbst der Übeltäter ist, zuzudecken sucht, und Eve als Hauptzeugin, die den Hergang und den Täter genau kennt und also am meisten zum Sprechen berufen ist, schweigt; die anderen hingegen, die nichts wissen, Frau Marthe und Ruprecht, reden drauflos und machen so die Verwirrung nur größer. Diejenige, 27
Friedrich Hebbel schrieb 1850: „Seit dem Falstaff ist im Komischen keine Figur geschaffen worden, die dem Dorfrichter Adam auch nur die Schuhriemen auflösen dürfte […]“ (Nachruhm, Nr. 264).
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die den letzten und ausschlaggebenden Indizienbeweis erbringt, Muhme Brigitte, die Adams Spuren im Schnee von Evchens Haus zu dem des Richters verfolgt hat und also der Wahrheit buchstäblich auf die Spur gekommen ist, gerät in den groteskesten Irrtum. Denn weil Adams Klumpfuß sich entsprechend in den Schnee eingedrückt hat und Muhme Brigitte weiß, daß der Teufel den sprichwörtlichen Pferdefuß hat, glaubt sie nicht etwa dem Richter Adam, sondern dem Teufel auf die Spur gekommen zu sein. So verkehrt sich die Wahrheit in abergläubischen Irrtum, und die Welt scheint vollends verkehrt. Mit dieser grotesken Episode liefert Kleist zugleich ein komisches Musterbeispiel seiner aufklärerischen Religionskritik, indem er demonstriert, auf welchen Wegen sich Natürliches in Übernatürliches verwandelt. Nicht zuletzt dadurch erscheint die Welt als eine „verkehrte Welt“. Auch szenisch zeigt sich die komische Grundsituation der „verkehrten Welt“. Das Durcheinander in Adams Gerichtskanzlei repräsentiert schon von Anfang an die verkehrte Welt im Kleinen. Sie ist auch eine aus der Ordnung geratene Welt. In den Grenzen des Komischen bleibt diese Konzeption nur, solange der Irrtum und das Verkehrte die davon betroffenen Menschen nicht zerstört – sonst schlüge das Geschehen ins Tragische um. Es macht den besonderen Reiz dieses Lustspiels aus, daß es gerade bis an die Grenze des Tragischen reicht, ja das Tragische als Möglichkeit spüren läßt, um es dann noch rechtzeitig abzuwenden. Und von vornherein ist eine Sicherung eingebaut, die garantiert, daß alles gut ausgehen wird: Der Inspektor Walter verhindert die Rechtsbeugung.28 Denn es ist das Bedrohliche dieser verkehrten Welt, daß derjenige, der fürs 28
Es hat verschiedenartige Versuche gegeben, die Figur des Gerichtsrats Walter zu problematisieren. Vgl. Wolfgang Wittkowski: Gaukelspiel der Autorität, oder Kleists Kunst, Autoritätskritik durch Komödie zu verschleiern, in: Sprachkunst XII, 1981, S. 110–130, hier S. 114–118. Dirk Grathoff: Der Fall des Krugs (wie Anm. 38), erklärt Walter zum Vertreter eines Prinzips der „Beliebigkeit“, das auf eine unheilvolle Moderne vorausweise (S. 50 f.). Postmodern wendet David E. Wellbery seine Ausführungen, um im Gegensatz zu der von Adam repräsentierten idyllischen alten Dorfjustiz Walter und die „Aufklärung“ als modernes Übel zu diagnostizieren: „Denn Aufklärung in ihren institutionellen Auswirkungen schließt genau jene Rationalisierung, Zentralisierung und Entpersönlichung der Justiz ein, als deren Agent Walter auftritt“ (David E. Wellbery: Der zerbrochne Krug. Das Spiel der Geschlechterdifferenz, in: Interpretationen. Kleists Dramen, hrsg. von Walter Hinderer, Stuttgart 1997, S. 11–18, hier S. 18). Autoritär – beliebig – entpersönlicht! Muß man daran erinnern, daß Walter seine amtliche „Autorität“ einsetzt, um eine Rechtsbeugung zu verhindern, daß er nicht „beliebig“ eingreift, sondern ein ordnungsgemäßes Verfahren anmahnt, daß er nicht als inhumaner „Vertreter eines abstrakten Gesetzes“ auftritt (Wellbery S. 18), sondern Menschen vor dem Unrecht schützt, das ihnen sehr konkret droht? Es scheint, als setze sich die komische Situation der verkehrten Welt bis in die Kleist-Forschung fort.
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Recht zu sorgen hat, der Richter, gerade Unrecht tut. Schwerer wiegt die Bedrohung des Lustspielcharakters durch die Vertrauenskrise zwischen den beiden Liebesleuten Ruprecht und Eve – ein altes Hauptproblem der Kleist-Forschung. Während manche Interpreten diese Vertrauenskrise verharmlosen, betonen andere sie so stark, daß sie zu der Schlußfolgerung gelangen, Kleist habe die Grenze zum Tragischen überschritten und den Charakter des Lustspiels beeinträchtigt.29 In der Geschichte der Komödie gibt es auch andere Meisterwerke, in die tragische Schatten fallen, so Molières Misanthrope und sein Tartuffe. Es wird noch zu sehen sein, wie Kleist selbst schon das Problem erkannt und gelöst hat. Aristophanische Vital-Komik und Marthes komische Krug-Rede Kleist griff noch zu besonderen Mitteln, um Komik zu erzeugen. Dabei diente ihm die Komödie des Aristophanes zum Vorbild. Im Juni 1803 entlieh er aus der Dresdner Bibliothek die Wolken des Aristophanes in der Übersetzung von Schütz (1798). Nach den Wolken konzipierte er schon den komischen Anfang, denn diese Komödie beginnt, wie dann auch der Zerbrochne Krug, mit einer sogenannten Lever-Szene voll komischen Morgenjammers. Aristophanisch-komisch ist vor allem der Charakter des Richters Adam, denn gerade das Deftige, das ungenierte Ausleben des Sexuellen und überhaupt die Affinität zum Animalischen ist typisch aristophanisch. Nicht nur, daß der Dorfrichter Evchen sexuell attackiert und deren Adam werden möchte, was dann zu einem kräftigen Adamsfall führt. Zur aristophanischen Vital-Komik gehört es auch, daß in seiner Registratur, die eigentlich den Akten vorbehalten sein sollte, Schinken und Würste liegen, die er schleunigst wegzuschaffen sucht, als der Inspektor Walter sein Kommen ankündigt. Und als es in der Gerichtsverhandlung für ihn brenzlig zu werden droht, sucht er dem Inspektor mit Schnäpsen, Limburger Käse und pommerscher Räuchergans beizukommen. Eine geradezu verräterische Rolle spielen generell Tiere in seinen Reden. Als der Schreiber Licht genußvoll durchschaut, was für einen Adamsfall der Richter erstmals aus einem Bett hinaus getan hat, verfällt der in die Bredouille Geratene auf folgende amüsante Ausrede, um seine Kopfwunden zu erklären: Mit dem verfluchten Ziegenbock, Am Ofen focht ich, wenn Ihr wollt. Jetzt weiß ichs. 29 Den Lustspielcharakter betonen: Fritz Martini: Kleists Der Zerbrochne Krug. Bauformen des Lustspiels, in: F. M., Lustspiele und das Lustspiel, Stuttgart 1974, S. 150–197, sowie Karl Ludwig Schneider: Heinrich von Kleists Lustspiel Der zerbrochne Krug, in: Das deutsche Lustspiel. Erster Teil, hrsg. von Hans Steffen, Göttingen 1968, S. 166–180. Eher das Tragische akzentuiert Hans Joachim Schrimpf: Heinrich von Kleists Komödie Der zerbrochne Krug, in: H. J. Schrimpf, der Schriftsteller als öffentliche Person, Berlin 1972, S. 153–182.
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Der Ziegenbock symbolisiert die sexuelle Gier, und so bringt Richter Adam sogleich seine tiefere Identität zum Vorschein. Diese in der Anstrengung des Verhüllens geschehende Enthüllung kennzeichnet sein gesamtes Verhalten und Handeln – und daraus entsteht Komik. Der zweite, nicht weniger amüsante Ausrutscher ins Tierisch-Sexuelle läßt nicht lange auf sich warten. Denn als die Magd Adams Perücke nicht zu finden vermag, hat Adam auch für dieses Fehlen des seiner richterlichen Würde so dringend notwendigen Attributs eine Ausrede parat: Er habe die Perücke vor dem Schlafengehn auf einen Stuhl gehängt, von dem sei sie in der Nacht herabgefallen, darauf habe dann die Katze sie ins Maul genommen, unters Bett getragen und ihre Jungen darin zur Welt gebracht. Nicht zuletzt solches Erfinden immer neuer phantastischer Geschichten macht den Richter Adam zur komischen Figur. Ochs, Esel, Perlhuhn, Schwein und eine ganze Reihe anderer Tiere komplettieren das Spektrum seiner charakteristischen Vital-Komik, und als der Schreiber Licht augenzwinkernd auf Adams nächtliches Abenteuer anspielt, läßt dieser in seiner Replik, ebenso augenzwinkernd, einen Eisbären auftreten: Mein Seel! Es ist kein Grund, warum ein Richter, Wenn er nicht auf dem Richtstuhl sitzt, Soll gravitätisch, wie ein Eisbär, sein. (V. 156ff.)
Für solche Situations- und Charakterkomik also inspirierte sich Kleist bei Aristophanes – besonders für das Vital-Deftige. Aber auch die Wortkomik zeigt ihn immer wieder in der Schule des Aristophanes, der es liebt, groteske Wortungeheuer zusammenzuballen, um Heiterkeit zu erregen. Und prompt erfindet auch Kleist groteske Wortungeheuer wie die „Rhein-Inundations-KollektenKasse“ (V. 348), womit er zugleich die typische Ausgeburt von bürokratischen Wortmonstern karikiert, wie sie ihm als Juristen vertraut waren und wir sie etwa im „Steuervergünstigungsabbaugesetz“ bestaunen. Im übrigen baut er das Spektrum der Wortkomik hauptsächlich durch Wortspiele aus.30 30 Ein erster Haupttyp von Wortspielen besteht in der Amphibolie: in dem sogleich am Beginn sich zeigenden Changieren zwischen eigentlicher und metaphorischer Bedeutung,
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Das komische Glanzstück ist Frau Marthes Preisrede auf den zerbrochenen Krug, der erst dadurch wahrhaft zum Titelhelden aufrückt. Im siebten Auftritt wird die Gerichtsverhandlung eröffnet und nach einigem Vorgeplänkel Frau Marthe aufgefordert, ihre Klage vorzutragen. „Das Reden ist an Euch“ (V. 643) sagt Adam zu ihr, und nun ist sie nicht mehr zu halten. Was in der tragischen Heroen-Welt der Ilias die berühmte Beschreibung von Achills Schild, das ist in der komischen Kleinwelt dieses Geschehens ihre Beschreibung des Krugs und seiner Schicksale. Viel Tiefsinniges ist dazu angemerkt worden, etwa, daß die auf dem Krug ursprünglich repräsentierte alte Ordnung der Dinge als eine zerstörte und buchstäblich in Scherben geratene Welt erscheine. Somit symbolisiere der zerbrochene Krug den geschichtlichen Übergang aus dem heilen in einen heillosen Zustand oder sogar den Verlust der Geschichte.31 Und folglich sollen Adam und Eve zusammen den dazu passenden Sündenfall figurieren, mit dem doch andererseits die Menschheitsgeschichte erst so recht begann. Mit einiger Wahrscheinlichkeit läßt sich sagen, daß Kleist mit dem auf dem Krug einst vorhandenen Historienbild, obwohl es ein Ereignis der niederländischen Geschichte fixierte32, Assoziationen der aktuellen deutschen Geschichte weckte. Beim sogeetwa wenn der Schreiber Licht Adams angeblichen „Fall“ aus seinem Bett mit dem biblischen Adams-„Fall“ assoziiert, den behaupteten physischen Vorgang also ins Moralische hinüberspielt, wo die Wahrheit liegt. Ein zweiter Typus von Wortspielen gehört traditionell zu den beliebtesten: die Paronomasie. Vgl. schon V. 3–6: „Adam: Ja, seht. Zum Straucheln brauchts doch nichts, als Füße. / Auf diesem glatten Boden, ist ein Strauch hier? / Gestrauchelt bin ich hier; denn jeder trägt / Den leidgen Stein zum Anstoß in sich selbst“. Ein dritter Typus kommt durch absurdes Wortwörtlichnehmen vor allem in Marthes Reden zustande, so in V. 417, wo sie das Wort „entscheiden“ im Hinblick auf den zerbrochnen, ‚geschiedenen‘ Krug, der eine ‚Scheidung‘ in verschiedene Teile erlitten hat, im Sinne einer Aufhebung dieser ‚Scheidung‘ durch das Urteil verwendet. Analog „ersetzen“ in V. 424 und „entschädigt“ in V. 432. 31 Exemplarisch für eine derartige Sicht der Kommentar von Hinrich C. Seeba in SWB 1, S. 801: Der zerbrochne Krug symbolisiere „die metaphysische und die theoretische Dimension der Geschichte, sowohl die Geschichte des Verlusts der Unschuld im Sündenfall als auch den Verlust der Geschichte im Versuch ihrer Abbildung“. 32 Den historischen Festakt am 25. Oktober 1555, als Kaiser Karl V. im großen Saal des Brüsseler Schlosses Burgund und die 17 niederländischen Provinzen an seinen Sohn Philipp abtrat. Dieses geschichtliche Ereignis (unabhängig wurden die Niederlande erst 1648) gibt ein Kupferstich von Simon Fokke (1712–1784) wieder. Vgl. Hinrich C. Seeba: Overdragt der Nederlanden in’t jaar 1555: Das historische Faktum und das Loch im Bild der Geschichte bei Kleist, in: Barocker Lust-Spiegel. Studien zur Literatur des Barock. Festschrift für Blake Lee Spahr, hrsg. von Martin Bircher, Jörg-Ulrich Fechner, Gerd Hillen, Amsterdam 1984, S. 409–443, bes. S. 436 f. In einer zeitgenössischen Geschichte der Niederlande findet sich die auf dem Krug einstmals dargestellte Szene detailliert be-
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nannten Reichsdeputationshauptschluß hatte Napoleon im Jahre 1803 alle geistlichen Fürstentümer beseitigt – daran mußten die Verse über den in seiner Pracht verschwundenen Bischof von Arras die Zeitgenossen erinnern. Und wenn auf dem zerbrochenen Krug auch vom Kaiser nur noch die Beine zu sehen sind, so dürften die Zeitgenossen an die Niederlegung der deutschen Kaiserkrone durch Kaiser Franz II. am 6. August 1806 und an das damit offizielle Ende des alten Reichs gedacht haben. Doch erhält das Politische und Historische keinen pathetischen Eigenwert, im Gegenteil, es ist komisch gebrochen, und dies nicht nur, weil die große politische Welt, die schon miniaturisiert auf dem Krug erschien, nun zum komischen Histörchen im Munde der geschwätzigen Frau Marthe gerät. Der Kontext verstärkt die Komik noch in einer geradezu kaskadischen Kadenz, denn der Krug mit der auf ihm präsentierten Staatsaktion ging von der Hand Childerichs des Kesselflickers auf Fürchtegott den Totengräber über, dann auf Zachäus, Schneider in Tirlemont usw. Das Große und Wichtige erscheint in der Froschperspektive des Kleinen und Unwichtigen, indem es auf einem Krug miniaturisiert und zum Erbstück von Kesselflickern, Totengräbern und Schneidern und nun gar am Ende noch zum Streitobjekt in einer dörflichen Zänkerei wird. Die Weltgeschichte wird an der Dorfgeschichte zuschanden. Die gezielte Disproportion dient der Herstellung des Komischen, indem sie sogar Züge des Grotesken und Burlesken zur Geltung bringt. Die Grundoperation ist, wie auch in mehreren anderen Bereichen des Komischen33, Depotenzierung. Daß dennoch Marthes Krugrede so reichlich als Anlaß für die Entfaltung von heilsgeschichtlicher, geschichtsphilosophischer, zeichentheoretischer und nicht zuletzt dekonstruktivistischer Emphase genommen wurde, verkehrt die zur Erzeugung des Komischen so kunstvoll verfolgte Strategie Kleists geradezu ins Gegenteil und wirft die Frage nach dem Angemessenen auf. Ein zweites Element des Komischen entsteht durch die an Frau Marthe ins Werk gesetzte Typenkomik. Denn ihre endlose, auf alle Einzelheiten eingehende Darstellung der Krug-Geschichte ist typisch für einfältige Leute, die das Wesentliche nicht vom Unwesentlichen unterscheiden. So kommt auch hier wieder als Grundelement des Komischen eine sehr exakt konstruierte Disproportion zum Vorschein. Denn das Wesentliche, daß der Krug nach ihrer Meinung von Ruprecht, Evchens Verlobtem, zerbrochen wurde (kein anderer Mann darf ihn zerbrochen haben!), bringt Frau Marthe erst ganz am Schluß mit wenigen dürren Worten zur Sprache. Dem Unwesentlichen, der bildlichen Darstellung auf dem Krug und seiner abenteuerlichen Geschichte in der Abfolge seiner schrieben. Abdruck der im Hinblick auf Kleist wesentlichen Partie und Nachweis aller Entsprechungen in Marthes Schilderung: SWB 1, S. 742–745. 33 Vgl. hierzu S. 66f.
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Eigentümer, widmet sie dagegen ein bunt ausgeschmücktes Epos im Kleinen. Damit erscheint Frau Marthe als Repräsentantin der ins Nebensächliche und Weitschweifige abrutschenden Geschwätzigkeit der Frauen aus dem einfachen Volk. Kleist demonstrierte an ihr ein Musterbeispiel jener Art von umständlicher Erzählfreude, die man umgangssprachlich als Erzählen „vom Stöckchen zum Steinchen“ bezeichnet. Er schrieb damit dem Geschehen einen besonders liebenswürdigen Zug des Komischen ein, der auch sonst für den Zerbrochnen Krug charakteristisch ist. Er verlieh ihm ein spezifisch volkstümliches Kolorit. Und dennoch inszenierte Kleist hier nicht nur ein Musterstück von Komik. Marthes Krug-Rede hat eine psychologische Dimension jenseits des Komischen. Die übermäßig ausführliche Beschreibung des Kruges ist ein verdecktes Reden über Evchens Mädchenehre, die durch das nächtliche Spektakel in ihrer Kammer ebenso gelitten hat wie der Krug, der dabei zerbrochen wurde. Zwar sieht es zunächst so aus, als verliere sich Frau Marthe an die Merkmale und die Geschichte des Kruges.34 Aber das ist nur der äußere Anschein, der in diesem doppelbödigen Spiel der komischen Wirkung dient. Ihre wahren Motive kommen schon vor der Krugbeschreibung zum Vorschein, als Evchen sie von dem öffentlichen Engagement für den Krug abhalten will. Darauf antwortet Frau Marthe (V. 487–497): Du sprichst, wie dus verstehst. Willst du etwa Die Fiedel tragen, Evchen, in der Kirche Am nächsten Sonntag reuig Buße tun? Dein guter Name lag in diesem Topfe, Und vor der Welt mit ihm ward er zerstoßen, Wenn auch vor Gott nicht, und vor mir und dir. Der Richter ist mein Handwerksmann, der Schergen, Der Block ists, Peitschenhiebe, die es braucht, Und auf den Scheiterhaufen das Gesindel, Wenns unsre Ehre weiß zu brennen gilt, Und diesen Krug hier wieder zu glasieren.
Es geht für Marthe also gerade nicht um den Krug als solchen, sondern um Evchens guten Namen und die Wiederherstellung ihrer Ehre. Nur weil sich Eves Ehre und das Schicksal des Kruges so eng verbinden, beschäftigt sie sich mit ihm so einläßlich und hartnäckig. Die Beschreibung des Krugs erhält geradezu metonymische Qualität. Die weltgeschichtliche Totalität der bildlichen Darstellung auf dem Kruge deutet auf Marthes Ein und Alles: auf Evchen und 34 Ilse Graham: Der zerbrochne Krug – Titelheld von Kleists Komödie, in: Heinrich von Kleist, Aufsätze und Essays, hrsg. von Walter Müller-Seidel (Wege der Forschung 147), Darmstadt 1973, S. 272–295, meint S. 290, es gehe um die Darstellung des „geistlosen Festhaltens an dem physischen Faktum, an der sicht- und greifbaren Welt der Sinne“.
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ihren guten Namen. In ähnlicher Weise aufschlußreich ist es, daß sie so ausführlich darstellt, wie der Krug durch alle Fährnisse gerettet wurde, bis er schließlich in der unglückseligen Nacht das Opfer eines Rüpels wurde. Die Rede ist im ganzen eine uneigentliche Rede, in der Terminologie der literarischen Rhetorik: eine oratio figurata. Frau Marthe wählt die Ebene des Uneigentlichen, weil sie sich scheut, über die Ehre ihrer Tochter in offener Gerichtssitzung zu sprechen. Der letzte Auftritt des Lustspiels, in dem sie nach dem glücklichen Ausgang laut Regie-Anweisung „empfindlich“ fragt, wie nun dem Krug sein Recht geschehen könne, zeigt sie als komisch Gefangene ihrer Redefiktion, an der sie bis zum Schluß festhalten zu müssen glaubt. Im ganzen ist demnach für Frau Marthe jenes enthüllende Verhüllen charakteristisch, das auch an Adams Lügenspiel auffällt. Nur sind im Unterschied zu Adam ihre Gründe die allerehrbarsten. Aus der ständig durchschaubaren Spannung zwischen dem Bereich des eigentlich Gemeinten – Evchens Mädchenehre – und dem Bereich des Uneigentlichen, wo es um den Krug geht, erhält Marthes Krug-Rede ihren untergründigen Reiz. Strukturanalyse Auf den ersten Blick wirkt das Stück amorph, da es wie die Penthesilea-Tragödie einfach Auftritte aneinanderreiht. Eine Strukturanalyse vermag indes zu zeigen, daß sich die dreizehn Auftritte in fünf größere, aktähnliche Handlungseinheiten gruppieren. Damit ergibt sich auch eine Basis für die Beurteilung der Weimarer Aufführung des Zerbrochnen Krugs, die zum Zerwürfnis Kleists mit Goethe führte. Die ersten fünf Auftritte (V. 1–413) ordnen sich zur ersten größeren Handlungseinheit zusammen: Auf den klassischen Komödienbeginn der LeverSzene, deren vertrackte Mühsal sich durch die Nachricht von der Ankunft des inspizierenden Gerichtsrats Walter noch verschlimmert, auf Adams vergebliche Bemühungen in der verkehrten Welt seiner Gerichtskanzlei, auf seine dunklen Ahnungen, Walters Erscheinen und Adams schweren Herzens gefaßten Entschluß, den Gerichtstag wegen der abhandengekommenen Perücke kahlköpfig zu halten, folgt endlich der Eintritt der streitenden Parteien in die Gerichtsstube. Bis zu diesem markanten Einschnitt reicht die Exposition, und damit ist die erste aktähnliche Handlungseinheit abgeschlossen. Die zweite größere Handlungseinheit umfaßt den sechsten, siebten und achten Auftritt und schürzt den Knoten, den es dann zu lösen gilt. Der Krug ist zerschlagen und also auch der gute Name Eves. Was das in der Dorfwelt bedeutet, zeigt Marthes Krugbeschreibung: der metonymische Mythos vom Wert der Ehre und ihrem Verlust, woran die ganze gesellschaftliche Existenz hängt. „Wer zerbrach den Krug?“ (V. 506) lautet die entscheidende Frage. Marthes ZeugenAussage verdächtigt Ruprecht, Ruprecht als zweiter Zeuge erzählt das nächt-
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liche Spektakel in Eves Kammer aus seiner Sicht. Als Richter Adam Evchen, die Kronzeugin, zu ihrer Zeugen-Aussage aufrufen muß, fühlt er seine „Zunge […] sehr trocken“ (V. 1069) – die Reihe der Zeugen-Aussagen in der zweiten Handlungseinheit ist kunstvoll auf diesen Höhepunkt hin gestuft. Umsonst versucht Adam das befürchtete Debakel aufzuhalten, indem er dem Gerichtsrat Walter Wein anbietet. Dieser Höhepunkt der Spannung bringt zugleich einen Handlungseinschnitt. Die folgende dritte Handlungseinheit umfaßt den großen neunten Auftritt (V. 1072–1410) und ist, obwohl sie doch zunächst mit der Zeugenvernehmung fortfährt, von ganz anderer Art. Konnten die Zeugen Marthe und Ruprecht, die nur ein vages oder ausschnitthaftes Wissen vom Vorgang in Evchens Kammer besitzen, mit plastischer Ausführlichkeit berichten, so glaubt nun Evchen, die wirklich wissende Hauptzeugin, unter dem Eindruck von Adams Drohungen die Aussage verweigern zu müssen. Die daraus entstehenden Konflikte füllen die dritte Handlungseinheit, den klassischen Konflikt-Akt im Zentrum des fünfaktigen Dramas. Auf Adams einleitende Versuche, Evchen einzuschüchtern, folgt eine Reihe kunstvoll komponierter Streitszenen. Den Kern bildet Eves empfindsam-komischer Konflikt mit Ruprecht, von dem sie unbedingtes Vertrauen fordern zu können meint. Diesen gefühlshaften Kern-Konflikt umgeben derb-komische Randstücke: Am Anfang gerät Eve mit ihrer Mutter in Streit, am Ende kommt zum erneuten Zank von Mutter und Tochter der Parallel-Zwist Ruprechts mit seinem Vater. Jedem der drei Hauptbetroffenen ordnet sich also eine jeweils charakteristisch abgewandelte Beifigur zu: Zum kraftvoll verschlagenen Adam gehört der geschickt denunzierende Licht, zur gefühlvollen Eve die zeternde Mutter Marthe, zum wackeren Ruprecht der polternde Vater Veit. Nicht zuletzt diese Gruppierungsstrategie erzeugt den Eindruck des Figurenhaften, der zum typisierenden Lustspiel gehört. Mit der Ladung der Muhme Brigitte in den Zeugenstand schließt die dritte Handlungseinheit. Die vierte Handlungseinheit umfaßt den zehnten Auftritt (V. 1411–1606), in dem Walter die Zeit bis zum Erscheinen der Muhme Brigitte benützt, um Adam ins Verhör zu nehmen. An die Stelle der öffentlichen Zeugen-Aussagen, die in der zweiten Handlungseinheit in vage und falsche Verdächtigungen münden (Marthe verdächtigt Ruprecht, Ruprecht den Flickschuster Lebrecht), tritt nun, während der Unterbrechung der öffentlichen Gerichtsverhandlung, Walters private Taterhellung durch Indizien. Erstes Indiz, daß Adam der Täter war, ist sein wunder Kopf, zweites Indiz die fehlende Perücke. Als Walter erfährt, daß Ruprecht auf des flüchtenden Missetäters Haupt zweimal mit Evchens Türklinke losgeschlagen hat, und bemerkt, daß Adam gerade zwei Wunden auf seinem Kahlkopf hat, steht er an der Schwelle der Gewißheit. Während also die Beweisführung durch Zeugen-Aussagen ergebnislos endete, scheint nun die Beweisführung durch Indizien zu gelingen. Noch ein letztes Mal wird
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Walter unsicher, als er erfährt, Adam besuche so gut wie nie Marthes Haus. Auf diesen neuen Höhepunkt der Spannung folgt wiederum, nach Kleists vollkommen dramatischer Ökonomie, eine Zäsur. Die fünfte und letzte Handlungseinheit umfaßt den elften, zwölften und dreizehnten Auftritt (V. 1606–1974). Mit dem Erscheinen der in der Zwischenzeit herbeigeholten Muhme Brigitte nimmt die Gerichtsverhandlung wieder öffentlichen Charakter an. Aus einer erneuten Zeugen-Aussage, derjenigen der Muhme Brigitte, ergeben sich zugleich die schlüssigen Indizien: die von Muhme Brigitte in Marthes Spalier aufgefundene Perücke und der „Pferdefuß“, dessen Spuren aus Marthes Haus in Adams Gerichtskanzlei führen. Richter Adam ist nun endgültig als Täter entlarvt. Seine Katastrophe verwandelt sich ganz in Handlung: Ruprecht will den Richter prügeln, erwischt aber nur dessen Mantel, während der seiner letzten Deckung Beraubte entkommt und über das winterliche Feld davonstampft. Dieses physische Entkommen entspricht dem immerhin noch glimpflichen Ausgang, den der Inspektor Walter im Hinblick auf Adams bürgerliche Existenz konstatiert – es handelt sich um eine Komödienkatastrophe. Die letzten beiden Auftritte haben Epilog-Charakter. Das Liebespaar, das durch eine Vertrauenskrise hindurchgegangen ist, versöhnt sich und der Adamsfall wird abgemildert. Marthes komisches Beharren darauf, daß dem Krug „sein Recht“ geschehen müsse, rundet diesen Epilog ab. Der Mißerfolg der Weimarer Aufführung und die Bedeutung des ursprünglichen Schlusses für das Gesamtverständnis Aus der Strukturanalyse ergibt sich eine klare Gliederung in fünf aktartige Handlungseinheiten. Der einzige Grund, warum Kleist das Stück nicht in Akte einteilte, dürfte die dichte Geschlossenheit des Geschehens sein. Sie kommt zustande durch die konkrete Einheit des Ortes – die niederländische Gerichtsstube – und durch die sinnfällige zeitliche Kontinuität der Gerichtsverhandlung. Dennoch resultiert daraus keine dramaturgische Notwendigkeit, das Stück in einem Zuge, ohne Akteinschnitt, im Theater also ohne Vorhang zu spielen, wie immer wieder angesichts eines der berühmtesten Theaterskandale in der deutschen Literaturgeschichte behauptet wurde. Er wirkte sich sowohl auf Kleist wie auch auf die endgültige Gestalt des Zerbrochnen Krugs aus. Goethe inszenierte als Weimarer Theaterdirektor das Drama in Akten, in drei Akten allerdings, nicht in fünf. Aber der Dreiakter komprimiert nur das klassische Fünfaktschema, denn er nimmt die Schürzung des Knotens, die im Fünfakter zum zweiten Akt gehört, in den ersten hinein und plaziert die entscheidende Peripetie, die sich im Fünfakter meistens im vierten Akt befindet, im dritten. Indem Goethe den Zerbrochnen Krug in drei Akte einteilte, verstieß er also nicht gegen die Struktur der sich tatsächlich zu aktähnlichen Einheiten zusammenschließenden Handlung – prinzipiell wenigstens nicht,
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denn wo er die Aktgrenzen tatsächlich zog, läßt sich nicht mehr mit Sicherheit feststellen. Zum Mißerfolg, für den Kleist fälschlicherweise Goethe verantwortlich machte35, geriet die Aufführung des Lustspiels aus einem anderen Grund, der bei Kleist selbst lag. Denn das in Weimar aufgeführte Stück hatte noch eine wesentlich andere Schlußpartie als das heute in den Kleist-Ausgaben abgedruckte. In der Gestalt, die wir kennen, schuf Kleist den Zerbrochnen Krug erst nach der Weimarer Aufführung und höchstwahrscheinlich aufgrund der Kritiken, die diese Aufführung auslöste. In der ursprünglichen Fassung, nach deren Text in Weimar gespielt wurde, stand an der Stelle des späteren, knapp-epiloghaften zwölften Auftritts, der die Versöhnung des Liebespaars enthält und die Folgen für Adam in eine leidlich versöhnliche Perspektive rückt, eine außerordentlich umfangreiche Schlußpartie, der von Kleist später selbst so genannte Variant. Daß dieser Variant in der Weimarer Aufführung gespielt wurde und daß er die eigentliche Ursache des Mißerfolges war, läßt sich anhand eines Berichts über die Aufführung in der Allgemeinen deutschen Theaterzeitung vom 11. März 1808 nachweisen. „Nun müssen wir noch“, so heißt es in diesem Bericht, „den zweiten und den (das ganze Stück verdarb dritthalb Stunden) eine Stunde währenden, dritten Akt, alles ein einziges Verhör, mit anhören“; dabei, so fährt der Kritiker fort, sei die Darstellerin des Evchens „die eigentliche plagende Erzählerin“ gewesen.36 Hier liegt in der Tat die entscheidende Schwäche des ursprünglichen Schlusses. Evchen erzählt darin noch einmal und ausführlich alles, was der Zuschauer aus der vorangehenden Handlung auf wirklich spannende Weise schon erfahren hat. Zu Recht nennt deshalb der zeitgenössische Kritiker Eve eine „plagende Erzählerin“. Auch die von ihm kritisierte Überlänge des dritten Aktes kommt nur durch die ursprüngliche Schlußpartie zustande. Die in Weimar gespielte Fassung hat 2429 Verse, die endgültige nur noch 1974 Verse. Diese Differenz von 455 Versen oder 20% des Gesamtumfangs macht deutlich, wie überschwer allein schon in quantitativer Hinsicht der abschließende Teil war. Wichtiger als diese formale Disproportion ist die dramaturgische Fehlleistung des ursprünglichen Schlusses. Die detaillierte Schilderung des Hergangs in Eves rückblickendem Bericht wirkt so schwerfällig wie überflüssig. Ein charakteristisches Detail: Als Adam zu Beginn der Gerichtsverhandlung (V. 498–549) hört, bei Eve sei ein Krug zerbrochen, sagt er für sich: „Verflucht! 35
Vgl. Helmut Sembdner: Der Zerbrochne Krug in Goethes Inszenierung. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 7 (1963), S. 371–382; Ilse-Marie Barth: Zur Aufführung von Kleists Lustspiel Der zerbrochne Krug am Weimarer Hoftheater 1808, in: Akten des VI. Germanisten-Kongresses Basel 1980, Teil 4, S. 405–411. Auch: Goethe-Jahrbuch, Bd. 100, S. 219–225. 36 Lebensspuren, Nr. 247.
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[…] / – Es klirrte etwas, da ich Abschied nahm –“. Licht schreckt ihn auf: „Herr Richter! Seid ihr –?“ („Seid ihr taub?“ will er fragen, da Adam Walters Anweisungen für den Beginn der Verhandlung überhört). Adam bezieht diesen Frage-Ansatz irrtümlich sofort auf seine nächtliche Übeltat und glaubt sich schon ertappt: „Ich? Auf Ehre nicht! / Ich hatte sie behutsam drauf gehängt, / Und müßt ein Ochs gewesen sein“. Der bereits hellhörige Leser oder Zuschauer bemerkt sehr wohl, daß „sie“ die zuvor schon vermißte Perücke ist und daß das „drauf“ den Krug meint. Solch enthüllendes Versteckspiel macht die direkte und breitangelegte Schilderung in der ursprünglichen Schlußpartie überflüssig, ja die Direktheit und Ausdrücklichkeit dieser Schilderung vernichtet den Reiz des indirekten Erkennens. Es wirkt als beschwerliche Wiederholung, wenn Eve von Richter Adams Gebaren in ihrer Kammer berichtet: „Und nimmt sich die Perücke förmlich ab, / Und hängt, weil der Perückenstock ihm fehlt, / Sie auf den Krug dort […]“ (V. 2209). Endlich fällt der ursprüngliche Schluß gegenüber den früheren Partien des Lustspiels ab, weil nun Adam fehlt – mit seinen ergötzlichen Finten und seiner Vitalkomik war er bisher die Hauptquelle des lustspielhaften Vergnügens. Kein vergleichbares Lustspiel-Element ersetzt sie. So verstärkt sich auch in dieser Hinsicht der Eindruck, es handle sich um einen Appendix eigener Art. Obwohl Kleist das Scheitern der Weimarer Aufführung im Jahre 1808 zunächst Goethe anlastete, zog er dann doch eine konstruktive Konsequenz. Für die Buchausgabe des Zerbrochnen Krugs von 1811 plazierte er an der Stelle des weit und umständlich ausholenden ursprünglichen Schlusses ein kurzes, mit wenigen Strichen hingeworfenes Happy end. Dennoch blieb ihm der ursprüngliche Schluß so wichtig, daß er ihn als Variant im Anhang der Buchausgabe abdruckte. Er muß doch irgendein Defizit darin gesehen haben, daß dieser ursprüngliche Schluß wegfiel. Da wir von Kleist selbst hierzu keinerlei erläuternde Aussage besitzen, muß sich die Erklärung aus dem Variant selbst ergeben. Das Verständnis des in der Forschung heißumstrittenen Variants wirkt entscheidend auf eine adäquate Wahrnehmung des Zerbrochnen Krugs zurück. Vor allem geht es um die angemessene Bewertung der vieldiskutierten Vertrauenskrise zwischen Ruprecht und Evchen. Sie führt auch zu Konsequenzen für die Theater-Aufführung dieses Stückes, das zu den beliebtesten Repertoire-Nummern der deutschen Bühne gehört.37 Das Geschehen des Variants 38 zeigt Evchen in einem Stadium, in dem sie von 37 Zur Bühnengeschichte bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts: Gustav Buchtenkirch: Kleists Lustspiel Der zerbrochne Krug auf der Bühne, Heidelberg 1914. Einen Überblick über die Aufführungsgeschichte (einschließlich der Verfilmung durch Emil Jannings 1937) bis 1990 gibt der Kommentar in SWB 1, S. 757–794. 38 Helmut Sembdner fügt in seiner Ausgabe dem Variant, wie er in der Buchausgabe
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dem entlarvten Richter zwar nichts mehr zu befürchten hat, jedoch noch immer ein Opfer seiner Machenschaften ist. Denn Adam hat nicht nur die nächtliche Attacke auf Evchen unternommen, deren er nun überführt ist; er hat ihr auch eine lügenhafte Geschichte erzählt, derzufolge Ruprecht unter dem betrügerischen Vorgeben, er müsse für die Landmiliz Dienst tun, mit den anderen zum Militärdienst eingezogenen jungen Männern in ferne fieberverseuchte Kolonien verfrachtet werden solle. Mit dieser Lügengeschichte und der darauf aufbauenden Behauptung, nur er könne durch ein Attest Ruprecht vor diesem Los bewahren, suchte Adam Evchen sexuell gefügig zu machen. Entscheidend für das Geschehen im Variant ist es, daß Adam nicht etwa nur von der angeblich bevorstehenden Verschickung Ruprechts in die todbringenden Kolonien gesprochen hat, sondern zugleich auch noch davon, daß die Obrigkeit die zum Militär eingezogenen jungen Männer bewußt hinters Licht führe, indem sie von 1811 steht, noch den Schluß der handschriftlichen Fassung an, die am Ende um 40 Verse über den Text der Buchausgabe hinausgeht. Zu Recht präsentiert die Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlags (SWB) die handschriftlich überlieferte Fassung des Schlusses separat (SWB 1, S. 261–265), da es sich um eine frühere Textstufe handelt, und beschränkt sich beim Abdruck des Variants auf die (kürzere) Form, welche nach Kleists Verfügung die Ausgabe von 1811 bot (SWB 1, S. 361–376). Die Schnittstelle setzte Kleist für den Erstdruck dort an, wo Ruprecht, nachdem klar geworden ist, daß er nicht unter betrügerischem Vorwand in die Kolonien verschickt wird, wohlgemut erklärt, er werde nun nach Utrecht gehen und auf den Wällen Schildwache stehn bis zur Hochzeit mit Eve (nach V. 2381). Nicht überzeugend ist die These, die Dirk Grathoff aufgrund der kürzeren Form des Variants aufstellt (D. G.: Der Fall des Krugs, in: KJb 1981/82, S. 290–313, später in: D. G.: Kleist: Geschichte, Politik, Sprache. Aufsätze zu Leben und Werk Heinrich von Kleists, Wiesbaden 1999, S. 31–53, hier S. 49 f.). Grathoff erklärt das Fehlen der letzten 40 Verse im Variant mit dem Hinweis, Kleist habe die „Scheinversöhnung“, die der Schluß der Handschrift angeblich biete, dem Leser „ersparen“ wollen, „vor allem aber wohl“ habe er die 40 Verse weggelassen, weil er „sich ersparen wollte, zu guter letzt sich mit dem Widerspruch zwischen der echten Versöhnung der Zweitfassung und der Schein-Versöhnung des Variants herumschlagen zu müssen“ (S. 50). Im Folgenden werde ich zeigen, daß es sich auch im Variant um keine „Schein-Versöhnung“ handelt und Kleist folglich auch keine „Textunterdrückung“ (S. 49) vornahm. Vielmehr verzichtete er im Variant auf die Schlußpartie, wie sie die frühere, handschriftliche Fassung bietet, da diese Schlußpartie gegenüber dem Schluß der voranstehenden Zweitfassung nichts inhaltlich Abweichendes enthält: in der einen wie in der andern Partie läuft es auf Versöhnung und die auf „Pfingsten“ geplante Hochzeit hinaus. Deshalb konnte Kleist den Leser mit einem „usw. … …“ einfach auf die in der Buchausgabe von 1811 vorangehende Zweitfassung zurückverweisen – zu „unterdrücken“ gab es nichts. Ruprecht Nach Utrecht geh’ ich Und steh ein Jahrlang auf den Wällen Schildwach, Und wenn ich das getan, u.s.w. …… ist Eve mein! (SWB 1, S. 376, V. 2380–82).
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vorgebe, es handle sich um normalen Militärdienst im Lande, während in Wahrheit die Einberufenen nach den Kolonien verschickt würden. Damit ist Evchen die Möglichkeit genommen, in irgendeine gegenteilige Versicherung Vertrauen zu setzen und sich zu beruhigen. Denn wenn der Gerichtsrat Walter als Vertreter der Obrigkeit ihr versichert, es treffe nicht zu, daß die jungen Männer in die Kolonie Batavia verschickt werden sollen, muß sie ja annehmen, es handle sich um die betrügerische Strategie der Obrigkeit, welche nach Adams Aussage die Bevölkerung bewußt täusche. Die dialogische Situation ist kompliziert. Den Ausgangspunkt bildet Walters Versicherung, daß die Miliz „nach Batavia nicht eingeschifft“ wird (V. 2309), vielmehr „in Holland“ bleibt (V. 2310) – im Gegensatz zu Adams lügenhafter Darstellung. Da aber Adam zugleich (fälschlich) behauptete, daß die Obrigkeit die Bevölkerung hinters Licht führe, indem sie verbreite, die Miliz bleibe in Holland, glaubt Eve, Walter spiele als Vertreter der Obrigkeit dieses falsche Spiel. Der irreführenden Fährte folgend, auf die sie Adam gesetzt hat, antwortet sie deshalb auf Walters Versicherung bitter abwehrend (V. 2311): „Gut, gut, gut“, um dann Walters Aussage, „ein gemeiner, grober Betrug“ habe sie verführt (V. 2307 f.), abweisend zu parodieren: „Der Brief, den ich gesehen, war verfälscht; / Er las mirs aus dem Stegreif nur so vor“ (V. 2313f.). Eben dies hält sie für Walters obrigkeitlich-lügenhafte Version. Worte, die ja von vornherein im Verdacht der Lüge stehen, können sie nicht vom Gegenteil überzeugen. Deshalb antwortet sie auf Walters Entgegnung „Ja, ich versichr’ es dich“ (V. 2315) in noch bittrerem Ton, indem sie Walter der ihr suggerierten obrigkeitlichen Täuschungsabsicht verdächtigt: „O gnädger Herr! – / O Gott! Wie könnt Ihr mir das tun?“ (V. 2315 f.). Und sie bekräftigt diese Meinung, indem sie zu dem begriffsstutzigen Ruprecht sagt: „Du hörst es, Alles, Alles, / Auch dies, daß sie uns täuschen sollen, Freund“ (V. 2324 f.). In wachsender Hilflosigkeit hält ihr Walter entgegen: „Wenn ich mein Wort dir gebe –“, worauf sie mit nochmals gesteigerter Abwehr reagiert: „O gnädger Herr!“ (V. 2326). Wo Worte von vornherein (infolge von Adams seinerseits lügnerischer, für Eve aber nicht durchschaubarer Machination) als nicht vertrauenswürdig gelten, kann ihnen nicht vertraut werden. Deshalb zeugt Walters Replik: „Sieh da! So arm dein Busen an Vertrauen?“ (V. 2340) nur von seiner eigenen wachsenden Ratlosigkeit – ebenso wie seine alsbaldige Berufung auf Gegenseitigkeit: „Dir glaubt ich Wort vor Wort“ (V. 2342). Das hier so eindringlich beschworene „Wort“ hat ausgedient, weil es an sich die Wahrheit nicht versichern kann. Walter greift daher zu einem Mittel, das die Wahrheit seiner Worte beweist. Er macht sich selbst mit seinem Geld haftbar für den Fall, daß er, wie Eve immer noch glaubt, die Unwahrheit gesagt hat. Mit dem Beutel voller Gulden, den er ihr anbietet, könnte sie Ruprecht vom Militär und damit auch von der gefürchteten Verschickung in die Kolonien freikaufen. Walters Insistieren auf den „vollwichtig neugeprägten“
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Gulden mit dem Antlitz des Spanierkönigs als Prägestempel macht ihr nachdrücklich klar, daß er mit der Echtheit und Gültigkeit der Gulden die Beweiskraft seines Angebots pointiert. Auf seine Nachfrage „So glaubst du jetzt, daß ich dir Wahrheit gab?“ antwortet sie: „Ob ihr mir Wahrheit gabt? O scharfgeprägte, / Und Gottes leuchtend Antlitz drauf. O Himmel39! / Daß ich nicht solche Münze mehr erkenne!“ (V. 2374–2377) Im Überschwang der nun durch einen schlagenden Beweis gewonnenen Einsicht, daß Walters Worte wahr sind, verklärt sie das Konterfei des Spanierkönigs – der den Niederländern verhaßt ist! (vgl. V. 1962–1965) – zu Gottes leuchtendem Antlitz. Dieser Überschwang und die Vorstellungsform, in der er sich artikuliert, entspringt der als geradezu erlösend empfundenen Befreiung von der Angst um Ruprechts Schicksal. Ihre abschließenden Worte in dieser Sache: „O Himmel! / Daß ich nicht solche Münze mehr erkenne!“ zeigen, wie sehr sie nachträglich erschrickt über die verfinsternde Macht des (von Adam verursachten) Mißtrauens, die sie zunächst sogar zögern ließ, die Beweiskraft der Gulden anzuerkennen. Festzuhalten ist, daß ausschließlich Adams lügenhafte Behauptung, die Obrigkeit wolle die Bevölkerung über die wirklichen Absichten bei der Truppenaushebung täuschen, Eve es unmöglich gemacht hat, Walters Worten zu vertrauen. Es handelt sich um eine objektive Unmöglichkeit zu vertrauen, nicht um einen Eve subjektiv anzulastenden Vertrauensmangel.40 39 Diese Interjektion löst in der Druckfassung von 1811 (SWB 1, S. 376, V. 2376) die in der Handschrift überlieferte Interjektion „O Jesus“ ab (SWB 1, S. 264, V. 2376). 40 Anders Peter Michelsen: Die Lügen Adams und Eves Fall, in: Geist und Zeichen. Festschrift für Arthur Henkel, hrsg. von Herbert Anton u.a., Heidelberg 1977, S. 268–304. In der älteren Forschung hat das Bild des „Spanierkönigs“ auf der Münze wegen der Verbindung mit „Gottes leuchtendem Antlitz“ zu theologisch präokkupierten Deutungen geführt (Hansgerd Delbrück: Zur dramentypologischen Funktion von Sündenfall und Rechtfertigung in Kleists Zerbrochnem Krug, in: DVjS 45 [1971], S. 706–756; Ders.: Kleists Weg zur Komödie. Untersuchungen zur Stellung des Zerbrochnen Krugs in einer Typologie des Lustspiels, Tübingen 1974. Zur Kritik vgl. Jochen Schmidt: Heinrich von Kleist, Studien zu seiner poetischen Verfahrensweise, Tübingen 1974, S. 154–156, sowie Klaus Müller-Salget: Das Prinzip der Doppeldeutigkeit in Kleists Erzählungen [1973], in: Kleists Aktualität. Neue Aufsätze und Essays 1966–1978, hrsg. von Walter Müller-Seidel [Wege der Forschung 586], Darmstadt 1981, S. 166–199, hier S. 166 f.). Zu noch weiterführenden Spekulationen veranlaßte die Feststellung, es sei ein Anachronismus, daß Kleist auf niederländischen Gulden das Antlitz des Spanierkönigs statuiere. (Der Anhaltspunkt für diesen „Anachronismus“ ist nicht gerade eindrucksvoll: eine Anspielung des Variants auf den Bantamischen Krieg im Jahre 1685, woraus man geschlossen hat, das Stück spiele gegen Ende des 17.Jahrhunderts – seit 1648 waren die Niederlande unabhängig und hatten eine eigene Münzprägung.) Vgl. H. Sembdner: Erläuterungen und Dokumente. Heinrich von Kleist: Der zerbrochne Krug, Stuttgart 1973, S. 58. Während manche Forscher Kleist einen „Fehler“ ankreiden (H. H. J. de Leeuwe: Heinrich von Kleist und die
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Im Variant geht es um die Schwierigkeit Evchens, durch Walter dennoch wieder Vertrauen zu fassen. Mit großer dialektischer Kunst zeigt Kleist, wie schwierig es ist, ein einmal erschüttertes Vertrauen wiederherzustellen und damit die Basis allen menschlichen Miteinanders zu retten. Dieses Geschehen des Variants hat eine entscheidende psychologische Funktion für das Verständnis des Dramas: Daß Evchen selbst so gründlich dem Mißtrauen verfällt und verfallen muß, befähigt sie erst, Ruprechts Mißtrauen gegen sie zu verstehen. Ruprecht ist ein schlichter Mensch von bäuerlichem Realismus, der gar nicht anders konnte als auf das von Eve geäußerte Verlangen nach unbedingtem Vertrauen zu antworten (V. 1176): „Was ich mit Händen greife, glaub ich gern“. Nun wird Eve im Variant selbst durch eine Krise des Vertrauens geführt, mit Niederlande, in: Duitse Kroniek 13, 1961, S. 123–145, spricht sogar von einer „argen Entgleisung Kleists“), behaupten andere kühn, es handle sich „um eine vom Autor bewußt intendierte Falschprägung mit dem Antlitz des Spanierkönigs“ (Dirk Grathoff [wie Anm. 38], S. 44). Angeblich wird das Problem aufgeworfen, „ob Münzen als konkrete Zeichen für ein abstrakt Bezeichnetes einstehen“ (Grathoff, S. 45). Dieser vermeintlich „weitere Kontext“ zeichentheoretischer Art verfehlt den Kontext der Szene selbst, in dem es ausschließlich darum geht, ob Walter mit Hinweis auf die Vollgewichtigkeit und die Prägung der Gulden Eve endgültig davon zu überzeugen vermag, daß sie mit diesen Gulden Ruprecht vom Militärdienst loskaufen könne, falls er ihr nicht die Wahrheit gesagt habe. Ob das Antlitz des Spanierkönigs auf den niederländischen Gulden anachronistisch ist oder nicht, bleibt irrelevant, solange man nicht annimmt, Dichter hätten die Pflichten von peniblen Geschichtsschreibern und Numismatikern. Wesentlich ist die Erkenntnis, welche Funktion gerade der Inszenierung des enormen Hiats zukommt: Daß Eve sogar das Antlitz des (verhaßten) Spanierkönigs zu „Gottes leuchtendem Antlitz“ verklärt, zeugt von ihrer mit der Erkenntnis der „Wahrheit“ verbundenen Erlösung von der Angst um Ruprecht. Kleist inszeniert die extreme Amplitude zwischen dem Bild des verhaßten Spanierkönigs und „Gottes leuchtendem Antlitz“, um das hyperbolische Übermaß dieses Erlebnisses zur Geltung zu bringen. Auch in seinen anderen Werken weisen religiöse Überhöhungen auf die hyperbolische Vehemenz von Emotionen. Vgl. S. 206 f. – Ausgehend von Dirk Grathoffs Behauptung, bei dem „anachronistischen“ Hinweis auf den Spanierkönig handle es sich „um eine vom Autor bewußt intendierte Falschprägung“ der Münze, hat sich in der Forschung der letzten Jahre ein dekonstruktivistisch inspirierter ‚Diskurs‘ etabliert, der die Verse noch weiter dekontextualisiert. Vgl. u. a. Monika Schmitz-Emans: Das Verschwinden der Bilder als geschichtsphilosophisches Gleichnis. Der zerbrochne Krug im Licht der Beziehung zwischen Bild und Text, in: KJb 2002, S. 42–69. Sie spricht S. 66 umstandslos von der „intrikaten Falschmünzerei Walters“ und sieht generell „angesichts der Unsichtbarkeit der Münze“ (für den Leser!) ihre These vom „Verschwinden der Bilder“ bestätigt. Auf diese Weise läßt sich fast alles zum „Verschwinden“ bringen – a priori der Text. Die Selbstdestruktion derartiger Spekulationen enthüllt sich im sprachlichen Duktus: Wenn „Unsichtbarkeit“ behauptet wird, wie kann dann das Wort „angesichts“ noch Sinn machen („angesichts der Unsichtbarkeit“)?
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nicht minder triftiger Veranlassung als Ruprecht. Und wie sie Ruprecht zugerufen hat (V. 1164.): „Pfui, Ruprecht, pfui, o schäme dich, daß du / Mir nicht in meiner Tat vertrauen kannst“, so sagt nun Walter zu ihr (V. 2340): „Sieh da! So arm dein Busen an Vertrauen?“ Dieser Vorwurf ist im selben, nicht eben hohen Grade begründet wie derjenige Eves gegenüber Ruprecht. Wesentlich aber ist, daß sie, indem sie selbst in Ruprechts innere Lage gerät, Verständnis für sein Verhalten gewinnt. Ja, wie Ruprecht Eve, so muß Eve Walter um Verzeihung bitten: „O lieber, guter, edler Herr, verzeiht mir“ (V. 2372). Sie hat selbst erlebt, daß das Festhalten am Vertrauen in einer undurchsichtigen Welt oft kaum zu leisten ist, daß es Bedingungen unterliegt und deshalb ihre radikale Forderung nach unbedingtem Vertrauen ins Unmögliche ging. Genau besehen, kommt dieses Unmögliche schon in der bis ins „Jenseits“ reichenden Vertrauensforderung mit der Naivität und zugleich Komik unerfahrener Jugend zum Ausdruck, wenn sie zu Ruprecht sagt (V. 1171–1174): „Du hättest denken sollen: Ev ist brav, / Es wird sich alles ihr zum Ruhme lösen, / Und ists im Leben nicht, so ist es jenseits, / Und wenn wir auferstehn ist auch ein Tag“. Wäre dies ihr Anspruch noch am Schluß, so käme keine Versöhnung aus fröhlichem und leichtem Herzen zustande, und das Ende des Lustspiels wäre belastet. Erst die eigene Vertrauenskrise als Gegengewicht zu derjenigen Ruprechts bringt sie in einen höheren Stand menschlicher Erkenntnis. Und diese erst erlaubt ihr die Wiederherstellung der Harmonie mit Ruprecht aus vollem Herzen. So endet die ursprüngliche Fassung des Zerbrochnen Krugs in einer Reifung durch Selbsterkenntnis, und diese Selbsterkenntnis vollendet das Lustspiel, indem sie zu einer Quelle menschlichen Verstehens wird und die Liebe rettet. Die Erkenntnis der Wahrheit, auf die das ganze analytische Spiel angelegt ist, stuft sich demnach dreifach. Erstens wird aufgedeckt, wer in Wahrheit den Krug zerbrochen hat. Zweitens entdeckt die durch Adam um die menschliche Möglichkeit des Vertrauens gebrachte Eve, daß Walter ihr, wie sie wörtlich sagt, „Wahrheit“ gibt, und damit findet sie zur menschlichen Fähigkeit des Vertrauens zurück. Drittens erkennt sie aber durch ihr eigenes lange dauerndes Mißtrauen gegenüber Walter in eben diesem Mißtrauen eine menschliche Schwäche, die sie Ruprecht verzeihen kann und die ihr schließlich eine neue und sogar tiefer reichende Verbindung zu ihm erlaubt. Kleist hat deshalb die neue Liebeserklärung Eves an Ruprecht unmittelbar nach der Erkenntnis der „Wahrheit“ plaziert, die sie von Walter erhält. Zu Beginn des Variants noch hatte Eve Ruprechts Bitte um Vergebung zurückgewiesen (V. 1913, 1919): „Geh, laß mich sein […] Du hörst. Ich will nichts von dir wissen“. Nun aber wendet sie sich Ruprecht herzlich und versöhnt zu. Damit läßt sich abschließend auch die Frage beantworten, warum Kleist den Variant noch als Anhang zur Buchausgabe von 1811 abdrucken ließ. Der Variant enthält die psychologisch genau begründete Möglichkeit zur Versöhnung
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des Liebespaars, während der spätere kurze Schluß diesen Begründungsgang nicht enthält. Zwar ist der spätere Schluß aus den schon erörterten dramaturgischen Gründen erheblich besser, aber nur der frühere, in Gestalt des Variants vorliegende balanciert die Vertrauenskrise der Liebesleute, welche die Atmosphäre des Lustspiels bedroht, psychologisch aus. Hat man sich mit dem Ergebnis zu resignieren, daß die dramaturgisch bessere Fassung die psychologisch unzureichende ist, die psychologisch überzeugende aber die dramaturgisch verfehlte? Viel eher ist aus dem genauen Verständnis der Funktion, welche der Variant hat, die praktische Folgerung für die Bühne zu ziehen, die dramaturgisch bessere endgültige Fassung sei so zu spielen, daß Eves unbedingte Vertrauensforderung an Ruprecht als nicht berechtigt erscheint. Die Zuschauer können des Übertriebenen in Eves Forderung nach absolutem Vertrauen durchaus innewerden, wenn die Darstellerin der Eve den Vertrauensanspruch wider alle Wahrscheinlichkeit und gar mit Jenseitsperspektive, bei aller rührenden Naivität, die sich darin ausdrückt, entschieden komisch spielt – so, daß die Überforderung Ruprechts zum Vorschein kommt. Dann können sich die Liebenden ohne die weiteren Umstände des Variants am Schluß wieder die Hände reichen.
3. Amphitryon Die Dramenhandlung und ihre mythologisch-literarischen Muster. Amphitryon als Tragikomödie Kleists zweites Lustspiel erschien 1807 im Druck, seine Entstehungsgeschichte reicht aber möglicherweise bis auf das Jahr 1803 zurück.41 Die Fabel, die seinen drei Akten zugrunde liegt, ist relativ einfach: Der höchste Gott Jupiter, der auf Liebesabenteuer mit sterblichen Frauen ausgeht, erscheint der jungverheirateten Alkmene in der Gestalt ihres Ehemannes Amphitryon, weil er nur in dieser Gestalt ihre Liebe erlangen kann. Er verbringt eine Liebesnacht mit Alkmene, dann kehrt ihr wirklicher Mann Amphitryon aus dem Kriege zurück. Alkmene gerät in vollständige Verwirrung, und nicht nur äußerlich, weil sie sich mit zwei Amphitryonen konfrontiert sieht, sondern auch innerlich, weil sie ihrem Gefühl nicht mehr trauen zu können glaubt. Ihre Selbstgewißheit 41
Vgl. Helmut Sembdner: Kleist und Falk. Zur Entstehungsgeschichte von Kleists Amphitryon, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 13 (1969), S. 361–396. Vgl. hierzu die vorsichtig abwägende Erörterung des Datierungsproblems in SWB 1, S. 861–863. Zu Kleists Bekanntschaft mit Johann Daniel Falk (1768–1826) und der Bedeutung von dessen Amphitruon, Lustspiel in fünf Akten, Halle 1804, für ihn vgl. Helmut Sembdner: Johann Daniel Falks Bearbeitung des Amphitryon-Stoffes, Berlin 1971.
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wird im selben Maße erschüttert, wie sie über die Identität des wahren Amphitryon in Zweifel gerät. Nicht weniger fühlt sich der heimkehrende Feldherr Amphitryon irritiert, als ihm sein göttliches Double in der Rolle des Ehemanns gegenübertritt. Ähnliches Malheur stößt seinem Diener Sosias zu: Den soeben Heimgekehrten verprügelt ein Doppelgänger, der behauptet, er sei der wahre Sosias und der andere möge gefälligst nicht mehr den Anspruch auf die „Sosiasheit“ erheben. Und Charis, die Frau des Sosias, ist natürlich auf das Double hereingefallen, in dessen Haut der Gott Merkur steckt. Merkur hat sich mit dem höchsten Gott Jupiter zu dessen verliebter Eskapade als Begleiter auf die Erde herabbegeben und mit Charis sein eigenes Liebesabenteuer inszeniert. Den äußeren Höhepunkt der Handlung bildet die Entscheidungsszene, in der Alkmene kundtun muß, welchen von den beiden Amphitryonen sie für den wahren hält. Nachdem sie sich für Jupiter-Amphitryon entschieden hat, beginnt der echte Amphitryon zu verzweifeln, weil ihm nun jeder identitätsichernde Halt fehlt, vor allem aber weil er seine junge Frau verliert. Doch hat die Qual bald ein Ende, denn der göttliche Nebenbuhler verabschiedet sich, um samt Merkur in den Himmel zurückzukehren, nicht ohne Amphitryon und Alkmene über alles aufzuklären. Dabei legt er die Amphitryon-Rolle ab und offenbart sich als Jupiter. Zum Trost für alles erlittene Ungemach verheißt er Alkmene und Amphitryon einen ruhmreichen Sohn: Herakles, den größten aller antiken Helden, den er in der betrügerischen Liebesnacht mit Alkmene gezeugt hat. Daß Jupiter mit Alkmene den Herakles gezeugt hat, gehört als Kernbestand der Fabel schon der ältesten griechischen Überlieferung an. Bereits Homer und Hesiod erzählen davon.42 Vom fünften vorchristlichen Jahrhundert bis in die Gegenwart wurde dann diese Fabel in zahlreichen Dramen traktiert, ähnlich wie die anderen Sagenstoffe. Jean Giraudoux nannte sein im Jahre 1929 in Paris uraufgeführtes Amphitryon-Drama Amphitryon 38, weil er schon 37 Vorgänger zählen konnte (in Wahrheit waren es noch mehr). Inzwischen sind noch eine Anzahl neuerer Bearbeitungen hinzugekommen.43 In der Antike war der Amphitryon-Stoff zunächst Gegenstand der Tragödie. Sophokles schrieb eine nicht überlieferte Amphitryon-Tragödie, Euripides eine Alkmene-Tragödie, von der bildliche Darstellungen auf griechischen Vasen zeugen. Vielleicht ebenfalls schon in Griechenland vollzog sich der entscheidende Umschwung von der Tragödie zur Komödie. Das Doppelgänger-Motiv und die Hahnreischaft Amphitryons, nicht zuletzt Jupiters Liebesabenteuer, boten gute Ansatzpunkte für 42 Vgl. Homer, Odyssee, 11. Gesang, V. 266–268; Hesiod, Der Schild des Herakles (Hesiod zugeschrieben), V. 1–56; ferner Pindars 7. Isthmische Ode. 43 Besonders sind diejenigen von Georg Kaiser (Zweimal Amphitryon, 1944) und Peter Hacks (Amphitryon, 1968) zu nennen.
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eine komödienhafte Umgestaltung. Indes sind griechische Amphitryon-Komödien so wenig erhalten wie die entsprechenden Tragödien des Sophokles und des Euripides44, dessen Drama wie ein ebenfalls verlorenes des Aischylos den Titel Alkmene trug. Erst mit dem Amphitruo des römischen Komödiendichters Plautus (254–184 v. Chr.) ist uns eine antike Amphitryon-Komödie, ja überhaupt das erste Amphitryon-Drama überliefert. Von nun ab geht der Amphitryon-Stoff als Komödien-Stoff in die Weltliteratur ein. Aber auch in den drei wichtigsten Komödien, im Amphitruo des Plautus, in Molières Amphitryon (1668) und in Kleists Amphitryon, bleibt das Erbe der Tragödie wirksam: Nicht nur bei Kleist, auch schon bei Molière und Plautus fallen tragische Schatten in das Lustspielgeschehen. Von allgemein gattungsgeschichtlichem Interesse ist es, daß Plautus im Prolog seines Stücks, den er dem Gott Merkur in den Mund legt, erstmals in der Geschichte der Literatur von einer „tragicomoedia“ spricht. Mit seiner Definition der Tragikomödie verbindet er eine aufschlußreiche Argumentation, wenn er Merkur sagen läßt: Nun hört die Fabel unsres Trauerspiels. Ihr runzelt eure Stirnen, weil ich sagte, Es wird ein Trauerspiel? Ich bin ein Gott, Ich kann es ändern, wenn ihr wollt! Ich mache Sofort ein Lustspiel aus dem Trauerspiel, Und ohne einen einz’gen Vers zu streichen! Was wollt ihr haben? – Doch ich bin ein Tor: Als ob ein Gott nicht wüßte, was ihr wollt! Ich kenne ja die Wahl, die ihr getroffen! Tragikomödie soll dies Stück drum werden. Es ganz ins Komische zu wenden, wäre Nicht recht, da Helden hier und Götter spielen; Doch da auch Sklaven in dem Stück agieren, Will ich’s halb komisch und halb tragisch bringen.
Plautus leitet also das Recht, sein Stück als „tragicomoedia“ zu bezeichnen, aus der Einführung des Sklaven Sosias ab, der dann auch noch bei Molière und Kleist erscheint. Traditionell galt die poetische Konvention, daß in der Tragödie als einer hohen Gattung auch nur hohe Personen, vorzugsweise Götter, Könige 44 Hierzu, mit eindringender Forschungsdiskussion und Fokussierung auf den Amphitruo des Plautus: Eckard Lefèvre: Maccus vortit barbare: vom tragischen Amphitryon zum tragikomischen Amphitruo (Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse der Akademie der Wissenschaften und Literatur, Mainz, Jg. 1982, Nr. 5), Wiesbaden 1982; vgl. auch Ekkehard Stärk: Die Geschichte des Amphitryonstoffes vor Plautus, in: Rheinisches Museum für Philologie, N.F. 125 (1982), S. 275–303 (mit genauer Prüfung aller möglichen Zeugnisse).
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und Helden aufzutreten haben, in der Komödie als einer niederen Gattung hingegen nur Personen niederen Standes. Diese sogenannte ‚Ständeklausel‘ wurde erstmals im ‚bürgerlichen Trauerspiel‘ des 18.Jahrhunderts aufgehoben: Fortan konnten in der Tragödie nicht bloß Personen hohen Standes agieren, sondern auch Bürger. Die Tragikomödie aber, wie sie Plautus mit seinem Amphitruo erfand, ermöglichte schon die Mischung der Stände. Nicht zuletzt aus der Kontrastierung von Herr und Diener, von Amphitryon und Sosias, gewinnt nun bis hin zu Kleist das Amphitryon-Spiel seine spezifisch tragikomischen Möglichkeiten. Das ans Tragische grenzende Geschehen um Amphitryon und Alkmene wird durch das burlesk-realistische Dienerspiel um Sosias dramatisch ausbalanciert.45 Noch aus einem anderen Grund erscheint das Drama als tragikomisch: Je nachdem, ob der Leser oder Zuschauer die Perspektive des gequälten Menschen oder die des Gottes Jupiter einnimmt, der mit den Menschen seine Liebesscherze treibt, gerät das Spiel mehr ins Tragische oder Komische. Die jederzeit mögliche Doppelperspektive macht es grundsätzlich ambivalent. Goethes Beurteilung der Amphitryon-Gestaltungen und Molières Amphitryon Goethes berühmte Unterscheidung der Amphitryon-Dramen von Plautus, Molière und Kleist lautet: Der antike Sinn in Behandlung des Amphitryons ging auf Verwirrung der Sinne, auf den Zwiespalt der Sinne mit der Überzeugung […] Molière läßt den Unterschied zwischen Gemahl und Liebhaber vortreten, also eigentlich nur ein Gegenstand des Geistes, des Witzes und zarter Weltbemerkung […] Der gegenwärtige, Kleist, geht bei den Hauptpersonen auf die Verwirrung des Gefühls hinaus.46
„Sinne“ – „Geist“ – „Gefühl“, so ist Goethes Schema von der Antike bis zur Moderne. In der Tat kommt es bei Plautus hauptsächlich auf die Täuschung der Sinne an, denn sein Jupiter begehrt die schöne Menschenfrau Alkmene nur körperlich. Dennoch geraten Alkmene und vor allem Amphitryon schon bei Plautus durch das Spiel des Gottes in schweres Leid, Amphitryon gerät sogar bis an die Schwelle des Wahnsinns – die Täuschung der Sinne, von der Goethe spricht, bleibt zwar für Jupiter, nicht aber für die davon betroffenen Menschen im Sinnlich-Äußeren. Auch mit seiner Charakterisierung von Molières Amphi45
Zum Aspekt des Tragikomischen vgl. Karl S. Guthke: Heinrich von Kleist. Die Tragikomödie der „gebrechlichen Welt“, in: K. S. G.: Geschichte und Poetik der deutschen Tragikomödie, Göttingen 1961, S. 106–125, sowie Walter Müller-Seidel: Die Vermischung des Komischen mit dem Tragischen in Kleists Lustspiel Amphitryon, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 5 (1961), S. 118–135. 46 Lebensspuren, Nr. 182 a.
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tryon erfaßt Goethe Wesentliches, aber anderes geht verloren. Die Bestimmungen „Geist“, „Witz“ und „zarte Weltbemerkung“ treffen den Charakter der geistreichen, auf das Konversations-Spiel der hohen Gesellschaft ausgehenden Komödie. Als Publikum hat man sich die adlige Gesellschaft am Hofe Ludwigs XIV. vorzustellen, deren Geschmack nicht eine grob-sinnliche Täuschung wie bei Plautus entsprochen hätte, und deshalb gibt es auch keine derben Witze mehr; der „Witz“, von dem Goethe spricht, ist vielmehr der „esprit“ der galanten höfischen Gesellschaft. Er drückt sich in dem von Jupiter an Alkmene herangetragenen Wunsch aus, sie möge zwischen dem Liebhaber (amant) und dem Ehemann (époux) unterscheiden. Indem Jupiter, wenn auch in der Gestalt des Ehemanns Amphitryon, als Liebhaber auftritt, will er Alkmene nicht bloß sinnlich besitzen. Er möchte geliebt werden.47 Diese Unterscheidung zwischen Ehemann und Geliebtem, die dann Kleist auf seine Weise übernimmt, läßt sich nur auf dem historischen Hintergrund verstehen. Es handelt sich um ein etabliertes galantes Thema der sogenannten Preziösen, das Molière durchaus nicht ernst nimmt, vielmehr – und das scheint Goethe entgangen zu sein – lächerlich macht. Molières Stück Les précieuses ridicules (1659) nimmt gerade die exaltierten Finessen und die hohlen Redensarten der Preziösen aufs Korn, und so verfährt er auch in seinem Amphitryon. Er ironisiert den preziösen Gemeinplatz, demzufolge die Liebe sich von der Ehe dadurch unterscheide, daß in ihr alles freie Wahl und pure Herzensneigung ohne Rücksicht auf äußere Verhältnisse wie Vermögen und gesellschaftlichen Rang sei. Alkmene macht diese spitzfindige Unterscheidung nicht mit, denn wie später bei Kleist sind für sie Geliebter und Gemahl eins, weil sie ihren Ehemann Amphitryon wirklich liebt. So wird an Alkmenes Herz Jupiters preziöses Ansinnen zuschanden, auch wenn es ihm gelingt, sie sinnlich zu betrügen. Dieser Betrug bleibt nur ein äußerlicher, und Molière kann den Lustspielton insofern durchhalten, als er Alkmene den Betrug nicht wahrnehmen läßt, so daß sie nicht in die Peinlichkeit und in die innere Zerreißprobe gerät wie dann später bei Kleist. Zu dem von Goethe festgestellten gesellschaftlichen Charakter von Molières Stück trägt in besonderer Weise die Jupiter-Gestalt bei, und dies nicht nur aufgrund des preziösen Gesellschaftsspiels. Jupiter ist bei Molière nicht mehr wie bei Plautus ein Gott, der mit den Menschen sein fragwürdiges Spiel treibt, vielmehr bloß noch eine mythologische Verkleidung des absolutistischen Herrschers, genauer noch: des Sonnenkönigs Ludwigs XIV. mit seinen verliebten Launen gegenüber den Hofdamen. Insofern hält Molière mit seiner Komödie der höfischen Gesellschaft einen Spiegel vor. Aber, und das kommt in Goethes Charakterisierung nicht zum Vorschein, dieser Spiegel sollte nicht bloß die hö47 So muß Jupiter am Ende resigniert feststellen: „Et c’est moi, dans cette aventure, / Qui, tout dieu que je suis, dois être le jaloux.“
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fisch-gesellschaftlichen Verhältnisse amüsant widerspiegeln. Ziemlich unverblümt übt Molière auch Kritik – durch die in seinem Stück entscheidend wichtige Diener-Rolle des Sosias. Als Jupiter am Ende sich in seiner göttlichen Gestalt offenbart und den Menschen und somit auch Alkmene und Amphitryon beizubringen versucht, daß „ein Teilen [der Liebesgunst] mit Jupiter nichts Entehrendes hat“, vielmehr zur Ehre gereiche, bemerkt Sosias sarkastisch: „Der Herr Jupiter weiß die Pille zu vergolden“ („Le Seigneur Jupiter sait dorer la pilule“). Auch Amphitryon, der nicht ausschließlich als lächerlicher Hahnrei erscheint, macht das menschlich Fragwürdige solch herrschaftlichen Handelns deutlich. Der letzte Akt zielt auf den Versailler Jupiter, vor allem auf die herrschaftlichen Demütigungen, die sich noch mit dem Schein der Gnade vergolden. Nicht zufällig legte Molière die einschlägigen Formulierungen in den Mund des Dieners, den er bezeichnenderweise selbst spielte. Die niedrigste Rolle ist die Rolle der Wahrheit. Der immer wieder unternommene Versuch, eine moderne Identitätsproblematik in Molières Stück hineinzulesen48, ist schon vom Ansatz her fragwürdig. Denn bei Molière gründet Jupiters Wunsch, Alkmene möge ihn nicht bloß erhören, weil er ihr in der Gestalt und folglich in der Rolle des Ehemanns erscheint, sondern aus Liebesleidenschaft und als Person lieben (V. 573), vor allem in dem schon erwähnten Gesellschaftsspiel. Bei ihm schlägt der Versuch, die „Rolle“ des Ehemanns von der „Person“ des Liebhabers zu trennen, fehl, weil er von vornherein verfehlt ist. Molière stellt dieses Gesellschaftsspiel als Preziösentum bloß, indem er es an Alkmenes einfacher, nicht sophistisch zu unterminierender Liebe zuschanden werden läßt. Damit entwickelt er gerade nicht eine tiefsinnige Identitätsproblematik, vielmehr ironisiert er die Finasserie der höfischen Gesellschaft. Wenn etwas über diese geistreich „zarte Weltbemerkung“ hinaus interessant ist, dann die Einsicht, daß die höfische Gesellschaft mit ihrem in Rollenspielen aufgehenden Dasein in eine selbstproduzierte Entfremdung zu geraten droht, aus der auszubrechen ihr zum notwendigen, aber vergeblichen Reflex wird. Sie muß ihre auf äußere, rollenhafte Repräsentation ausgerichtete Lebensweise mit einer vergeblichen Sehnsucht nach Herzensunmittelbarkeit bezahlen – vergeblich deshalb, weil sie dazu selbst nicht mehr fähig ist. Paradigmatisch repräsentiert der absolutistische Herrscher in der Gestalt Jupiters mit seinem Verlangen nach einer ganz persönlichen, unmittelbaren Liebeserfahrung diese Fatalität der höfischen Gesellschaft. Demnach geht es nicht um eine prinzipielle Identitätsproblematik, sondern um eine gesellschaftliche Entfremdungsproblematik mit einem spezifischen histori48
Vgl. besonders Hans Robert Jauß: Poetik und Problematik von Identität und Rolle in der Geschichte des Amphitryon, in: Identität, hrsg. von Odo Marquard und Karlheinz Stierle, München 1979 (Poetik und Hermeneutik. 8). S. 213–254.
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schen Hintergrund – all dies hat Molière freilich in seinem poetischen Spiel graziös angedeutet. Nur eine Gestalt leidet nicht an einem entfremdeten Dasein: Amphitryons Diener Sosias. Die Freiheit des Dieners von Ehrbegriffen und Standesrücksichten, nicht zuletzt seine Freiheit von Vorurteilen, disponiert ihn zur Ungeniertheit und auch zu einer amüsanten Wendigkeit und Schlagfertigkeit. Weil er nicht so viel Scheinhaftes und Rollenhaftes zu verlieren hat wie die Vertreter der höheren Stände, muß er bei der Anfechtung durch den Doppelgänger auch nicht um so viel kämpfen und nicht so viel leiden wie sein Herr Amphitryon. Vor allem: Aus dieser inneren Freiheit gerade des nach seiner Standesdefinition als Diener äußerlich nicht freien Sosias ergibt sich etwas, wodurch der Sosias des Plautus noch keineswegs glänzte – der klare Verstand. Da Molières Sosias in keinerlei Standesvorurteilen, Besitzansprüchen und Ehrbegriffen befangen ist, vermag er in der Situation der Anfechtung durch den Doppelgänger eine illusionslose, unbefangene und überlegene Logik zu entfalten, die seinem göttlichen Doppelgänger wie seinem Herrn Amphitryon nur noch die Möglichkeit der blanken Gewalt läßt. Damit sind sie aber blamiert, denn so erscheinen sie bloß als die primitiv Überlegenen, vom Standpunkt der Vernunft aus aber als die Unterlegenen. Mehr und mehr entpuppt sich Sosias als der innerlich Freie und geistig Überlegene. So kehrt Molière in einem intellektuell brillanten Manöver das Verhältnis von Herr und Diener um. Maßgebend ist letztlich die Einsicht in den menschlichen Unwert all dessen, was die Herren-Figuren für wert halten. Molières Stück läuft auf die Unterscheidung von Schein und Sein hinaus, wobei der Schein als solcher ad absurdum geführt, die Frage aber nach dem wahrhaften Sein des Menschen, nach seiner „Identität“, gar nicht erst zum Problem wird. Sie erhält nur eine empirisch-pragmatische Antwort. In der Liebe, wie sie Alkmene bezeugt, und in der klaren Vernunft, wie sie Sosias bewährt, vermag der Mensch allein sein Menschsein gültig zu leben. Nur insofern vermag er sich selbst auch in stärksten Anfechtungen zu bewahren. Schon Kleists Untertitel: Ein Lustspiel nach Molière legt es nahe, zunächst nach den Gemeinsamkeiten und den Unterschieden im Vergleich mit Molières Amphitryon zu fragen. Große Partien übernahm Kleist beinahe wörtlich von Molière. Auch alle wesentlichen Personenkonstellationen gleichen sich: auf der Ebene der Götter Jupiter und Merkur, auf der Ebene der Herrscher Amphitryon und Alkmene, auf der Ebene der Diener Sosias und sein zänkisches Weib Charis, das bei Molière Cléanthis heißt. Auch einige thematische Grundelemente Molières bezog Kleist ein, so die Zumutung Jupiters an Alkmene, Geliebten und Gemahl zu unterscheiden, sowie die generelle und besonders im Ausspielen des Dieners gegen den Herrn vollzogene Differenzierung von Schein und Sein. Markant sind aber auch die Unterschiede. Kleist fügte im zweiten Akt eine neue und eigene Szenensequenz ein: die vierte, fünfte und
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sechste Szene des zweiten Aktes, wobei die fünfte Szene zentral für das Verständnis des ganzen Dramas ist49; außerdem gestaltete er die Schluß-Szene mit der Verkündigung von der Geburt des Herakles neu aus. Entscheidend sind die konzeptionellen Änderungen und Neuerungen: Alkmene, die in Molières Stück von nachgeordneter Bedeutung ist, keine Anfechtung erfährt und im Schlußakt bezeichnenderweise nicht mehr auftritt, machte Kleist zur Hauptgestalt des Stücks. Alles wichtige Geschehen entwickelt sich aus der gefühlshaften Innerlichkeit dieser Frau. In der Konsequenz dieser Neukonzeption liegt es, daß Kleist der Komödie den Charakter des Molièreschen Gesellschaftsstückes nahm. Er löste das Geschehen aus dem gesellschaftlichen Bezugssystem und transponierte es in eine spezifische Innerlichkeit. Überzeugend hat Peter Szondi nachgewiesen, daß Kleist bis in einzelne Redepartien, ja Redewendungen hinein das gesellschaftliche Element Molières eliminierte.50 Interpretationsmodelle zu Kleists Amphitryon: ein Forschungsüberblick Die Rezeption und die Interpretationen bieten ein ganz heterogenes Bild. Schon früh vertreten wurde eine religiöse Deutung, die Jupiter, obwohl er als Verführer auftritt und als solcher scheitert, religiös ernst nimmt, und dies besonders im Hinblick auf die Schlußszene, in der er sich als Gott zu erkennen gibt und verkündet, Alkmene werde den von ihm in der Liebesnacht empfangenen Sohn Herakles gebären. Kleist faßte diese Verkündigung in Worte, die deutlich an die Empfängnis Mariä und an die Verkündigung von Jesu Geburt anklingen. Schon Goethe hat dies erstaunt festgestellt. Adam Müller, der zum Katholizismus konvertierte und für eine konservative Weltanschauung und Politik engagierte Freund Kleists, äußerte sich begeistert gerade über diesen Schluß, weil er darin eine religiöse Überhöhung und Auflösung der gesamten Problematik zu erkennen glaubte. In einem Brief vom 25. Mai 1807 schrieb er an Friedrich Gentz: „Der Amphitryon ist […] gerade aus der hohen, schönen Zeit entsprungen, in der sich endlich die Einheit alles Glaubens, aller Liebe und die große, innere Gemeinschaft aller Religionen aufgetan, aus der Zeit, zu deren echten Genossen Sie und ich gehören“.51 Adam Müller unterstellt Kleist mit seinem Amphitryon-Schluß nicht etwa eine christliche oder gar konfessionelle Lösung, vielmehr deutet er die Transparenz der Herakles-Geburt auf die 49 Arthur Henkel: Erwägungen zur Szene II, 5 in Kleists Amphitryon [1974], in: Kleists Aktualität. Neue Aufsätze und Essays, hrsg. von Walter Müller-Seidel (Wege der Forschung 586), Darmstadt 1981, S. 200–222, charakterisiert diese Szene als ein fünfstufiges Drama im Drama und entwickelt Kleists dialektisches Denkspiel. 50 Peter Szondi: Amphitryon. Kleists ‚Lustspiel nach Molière‘ [zuerst 1961], in: P. S.: Satz und Gegensatz. Sechs Essays, Frankfurt a.M. 1964, S. 44–57. 51 Lebensspuren, Nr. 173.
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Geburt Jesu, die einer alten Typologie entspricht52, im Sinne einer Verschmelzung aller Religionen zu einer Universal-Religion. Trotz dieses universalistisch ausgeweiteten Horizonts, der für die Frühromantik typisch ist und sich etwa auch in Schleiermachers Reden über die Religion abzeichnet, kam es Müller doch auf das vermeintlich religiöse Anliegen Kleists an. Thomas Mann, der in seinem Kleist-Essay Amphitryon. Eine Wiedereroberung Kleists geistreiche und formale Brillanz bewunderte, ließ in einem späteren Brief erkennen, wie sehr die religiös-mystische Interpretation Adam Müllers nachwirkte. Weil ihm aber dessen reaktionäre Erscheinung historisch verdächtig war, wertete er Kleists Amphitryon aufgrund des vermeintlich religiös-mystischen Schlusses negativ. In dem Brief vom 19. Januar 1949 schreibt Thomas Mann, er sei zeitweise wirklich verliebt gewesen in das „höchst geistreiche Amphitryon-Spiel“, aber dann spricht er kritisch einschränkend über „die im Grunde auch verdächtige Sphäre nach- und gegenrevolutionärer Mystik, der es angehört“. Gerade in der Ablehnung des romantischen Publizisten bleibt Thomas Mann dessen fragwürdiger Deutung verhaftet.53 Das zweite Modell setzt auf eine entschieden antireligiöse, aber dafür strikt moralische Deutung. Sie geht von einem Forschungsbericht aus, den Henri Plard unter dem provozierenden Titel Gottes Ehebruch? veröffentlicht hat54, und wird vor allem von Wolfgang Wittkowski vertreten, dem die Kleistforschung mehrere aufschlußreiche Arbeiten zu Kleists Erzählungen verdankt. Wittkowski stellt die allgemeine Überlegung an, der Gott Jupiter könne wohl nicht religiös ernst gemeint sein, da Kleist sonst der Religion doch stets äußerst kritisch und ironisch gegenübergestanden habe. Hinzukommt das ebenfalls treffende Argument, ein vom Autor religiös ernst gemeintes Stück könne nicht einen ehebrecherischen Gott vorführen. Aber dann meint Wittkowski, Kleist habe diesen Gott auftreten lassen, um die göttliche Autorität und die Religion zu destruieren: Indem die Unmoralität Jupiters an der Sittlichkeit dieser Menschenfrau als der Verkörperung liebender Treue scheitere, sei das Göttliche überhaupt und damit auch die Religion sittlich erledigt. Ausdrücklich spricht Wittkowski sogar von „Alkmenes sittlichen Kategorien“.55 Im Text allerdings lassen sich Alkmenes angeblich „sittliche Kategorien“ nicht finden. Sie liebt – liebt Amphitryon, und nichts weiter. Und bei aller aufgeklärt-kritischen Einstellung Kleists gegenüber Kirche und Religion ist doch 52
Vgl. Anm. 64. Hierzu S. 102–105. 54 Henri Plard: Gottes Ehebruch? Sur l’arrière-plan religieux de l’Amphitryon de Kleist, in: Études germaniques 16 (1961), S. 335–374. 55 Wolfgang Wittkowski: Der neue Prometheus, in: Kleist und Frankreich, Berlin 1968, S. 27–82, hier S. 56. 53
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zu fragen, ob es ihm darum gehen konnte, zu Anfang des 19.Jahrhunderts antike Götter wegen ihrer verliebten Eskapaden zu bekämpfen. Denn dieser Jupiter repräsentiert keineswegs „Gottes religiöse Autorität“56 – seine heidnische Liebeslust läßt sich schwerlich in einen Zusammenhang mit christlichen Gottesvorstellungen und christlicher Religiosität bringen, an der Kleist im Gegenteil die Sinnen- und Naturfeindschaft kritisierte. Schon gar nicht kann es Kleist in seinem Amphitryon-Lustspiel darauf angekommen sein, „den Mythos und damit die autoritäre Ideologie ad absurdum zu führen“. Abgesehen davon, daß man den „Mythos“ und vollends einen solchen galanten Mythos kaum mit einer „autoritären Ideologie“ gleichsetzen kann, wäre es doch verwunderlich, wenn Kleist im Jahre 1806 einen Jahrtausende früher entstandenen Mythos „ad absurdum“ hätte führen wollen, der mit den Glaubensvorstellungen seiner Zeitgenossen nicht die geringste Verwandtschaft zeigt. Das dritte, geschichtsphilosophische Interpretationsmodell geht wie schon das religiöse, das Adam Müller vertreten hatte, vor allem von der Verkündigung der Geburt des Herakles in der Schlußszene aus. Herakles als Sohn des Gottes Jupiter und der Menschenfrau Alkmene ist wie Jesus als Sohn Gottes und Marias ein Halbgott: Mensch und Gott zugleich und insofern eine Gestalt, die Menschliches und Göttliches versöhnt. Da nun das Stück, so argumentieren die geschichtsphilosophisch orientierten Interpreten, das Scheitern der Verbindung von Gott und Mensch zeige, denn schließlich verschwinde Jupiter am Ende wieder in seinen Himmel, eröffne die Verkündigung von der Geburt des Halbgottes Herakles die Aussicht auf Versöhnung des bisher Unvereinbaren – auf die Versöhnung von Gott und Mensch, Himmel und Erde. Und da die Geburt des Herakles prophezeit und damit diese Versöhnung als zukünftiges Ereignis vorgestellt werde, handle es sich um die Figuration des Geschichtsprozesses, der aus der dialektischen Spannung der Gegensätze in der Gegenwart zum Vollendungszustand einer zukünftigenVersöhnung führe. Auf diese Zukunftsaussicht sei es dem Autor des Amphitryon letztlich angekommen. Manche dieser an Hegels idealistisch-optimistischer Geschichtsphilosophie orientierten Interpreten versuchen außer dem Begriff der Versöhnung und überhaupt der geschichtsphilosophischen Perspektive auch noch die anderen Hegelschen Grundkategorien miteinzubringen, etwa die Objektivation des Selbstbewußtseins und die Aufhebung der Differenz zur wahren Identität. Obwohl der idealistische Optimismus und speziell die daraus im Sinne Hegels entworfene geschichtsphilosophische Perspektive mit Kleists tragischem und zugleich ironisch aufgeklärtem Pessimismus unvereinbar ist, und obwohl, wie noch zu sehen sein wird, der 56
Wittkowski, S. 57. Später hat Wittkowski seinen Deutungsansatz in Auseinandersetzung mit der Forschung auszubauen versucht: W. W.: Heinrich von Kleists Amphitryon. Materialien zur Rezeption und Interpretation. Berlin/New York 1978.
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Text keinerlei Anhaltspunkte für so viel idealistische Zuversicht bietet, handelt es sich hier doch um einen Deutungsansatz, der in den eigentlichen Problembereich vorstößt.57 Eine Hauptschwierigkeit bleibt das Auftreten eines griechischen Gottes im modernen Lustspiel. Nimmt man Jupiter ernst als Gott, den es in dieser Weise und mit diesen Aktivitäten für unser modernes, aufgeklärtes Bewußtsein nicht geben kann, vermag dann Kleists Lustspiel noch Interesse zu beanspruchen? Alle Verwechslungen, alle Scherze und alle Leiden, alle menschlichen Erkenntnisse wären substanzlos, weil schon in der entscheidenden Voraussetzung – im Erscheinen eines solchen Gottes – nicht nachvollziehbar. Die gelungenste Dramaturgie und der brillanteste Dialog könnten diesen Mangel nicht beheben. Während Thomas Mann 1928 noch von einer „Wiedereroberung“ sprechen konnte58, erschien radikalen Kritikern Kleists Lustspiel aufgrund des Jupiterspiels vom Standpunkt des modernen Bewußtseins aus inakzeptabel. Gottfried Benn schrieb am 18. Mai 1953 an Friedrich Siems aus Anlaß einer Amphitryon-Inszenierung: „[…] mir scheint, Alkmene und ihre Nacht kommen heute nicht mehr ganz bei uns an“.59 Soll man also den Gott und sein Spiel mit den Menschen einfach nicht ernst nehmen, so wie man ein Märchen nicht ernst nimmt und sich doch daran erfreut? Dafür enthält Kleists Tragikomödie zuviel Lebens-Problematik, Seelenpathos und vor allem zu viel Erkenntnisanspruch. Bei Molière ergeben sich keine Schwierigkeiten, weil er mit seinem Jupiter Ludwig XIV. meint – nur dadurch wird das Spiel plausibel und kann es Interesse beanspruchen. Im Folgenden soll gezeigt werden, daß auch Kleist den Amphitryon-Stoff aktualisiert, indem er die Jupiterfigur neu kodiert. Aus einer psychologischen Deutungsperspektive erscheint sie als Projektion der Alkmene, und erst damit erhält sie ihre moderne Plausibilität. Jupiter als Projektion der Alkmene Jupiters Reden und Handeln repräsentiert nicht wie bei Molière die gesellschaftlichen Verhältnisse. Nicht umsonst tilgte Kleist Molières gesellschaftliche Tendenz und nicht umsonst verlieh er der Gestalt der Alkmene so viel mehr Bedeutung als Plautus und Molière: Beides steht in einem Zusammenhang. 57 Zu dieser Forschungsrichtung gehören Peter Szondi (wie Anm. 50); Helmut Arntzen: Kleists Amphitryon, in: H. A.: Die ernste Komödie, München 1968, S. 200–245; Gerhard Jancke: Zum Problem des identischen Selbst in Kleists Lustspiel Amphitryon, in: Colloquia Germanica 3 (1969), S. 87–110. 58 Thomas Mann: Kleists Amphitryon. Eine Wiedereroberung, in: Die neue Rundschau 39 (Juni 1928), Heft 6, S. 574–608, auch in: T. M.: Das essayistische Werk, hrsg. von Hans Bürgin, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1968, S. 281–314. 59 Nachruhm, Nr. 645.
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Jupiter in Amphitryons Gestalt ist im wesentlichen eine Gefühlsprojektion der Alkmene, so daß ihre innere Realität äußerlich in Erscheinung tritt. Von vornherein ergibt sich aus dieser psychologischen Deutungsperspektive60 das Bedenken, daß der Gott Jupiter nicht nur Alkmene, sondern auch anderen Personen, vor allem dem wahren Amphitryon erscheint. Alkmenes Illusionsbildung, so läßt sich dieses Problem beheben, ist nicht nur für sie selbst seelisch relevant. Zwar begründet sich die „Verzeichnung“ des wahren Amphitryon ins Göttliche nur aus ihrer Liebe und damit aus ihrer Subjektivität, aber wie für Alkmene, so muß sich diese Illusionsbildung auch für andere notwendig auswirken, am meisten für den wahren Amphitryon. Deshalb erscheint Jupiter in der Gestalt Amphitryons durchaus auch anderen. Goethe, der im gleichen Jahre 1806, in dem Kleist seinen Amphitryon vollendete, den Faust abschloß, hat Mephisto, der als projektives Alter ego eine seelische Dimension Fausts ausagiert, ebenso in das Wahrnehmungsfeld anderer rücken lassen, und ähnlich verfahren immer wieder romantische Erzähler. ‚Realistische‘ Einwände sind generell verfehlt, weil sie sich vorab auf das Erscheinen eines Gottes richten müßten. Andererseits besteht auch kein illusionistischer Systemzwang. Während auf der Herrschaftsebene Jupiter als projektive Liebesillusion Alkmenes fungiert, die noch in den „Flitterwochen“ (V. 541) lebt, muß Merkur nicht etwa als Liebesillusion der Charis erscheinen, die nach „eilf Ehstandsjahren“ (V. 534) als Frau des Sosias schon gründlich desillusioniert ist – abgesehen davon, daß zur DienerEbene auch sonst ein handfester Realismus gehört. Kleist konnte hier das mythologische Schema, in dem nun einmal der Gott Merkur auftritt, zwanglos ohne psychologische Entmythologisierung beibehalten, weil es sich nur um komisches Beiwerk zur Kontrastbildung handelt. Schon Goethe erkannte die Spannung, die sich aus der Divergenz ergibt, als konstitutiv für Kleists Amphitryon: Mit einem gezeichneten Schema kategorisierte er Sosias als „antik“, „naiv“, „plastisch“, Jupiter hingegen als „modern“, „sentimental“.61 Alkmene, die junge, groß und naiv Liebende, setzt den Geliebten, Amphitryon, absolut. Bezeichnenderweise befindet sie sich noch in den „Flitterwochen“ (V. 541). Die Idealisierung des Geliebten zeugt von der großen Kraft ihrer Liebe, durch die sie indirekt sich selbst verherrlicht, aber sie verrät auch eine auf Selbsttäuschung hinauslaufende Eigenmächtigkeit des Herzens. Schon redensartlich sagt man, daß jemand „abgöttisch“ geliebt, ja „vergöttert“ wird. So „vergöttert“ Alkmene in ihrer Liebe Amphitryon. Sie selbst bringt dies zum Ausdruck, als sie von dem ihr in Amphitryons Gestalt erscheinenden Jupiter 60 Hierzu Helmut Arntzen (wie Anm. 57) sowie Jochen Schmidt: Heinrich von Kleist. Studien zu seiner poetischen Verfahrensweise. Tübingen 1974, S. 161–176 (im Folgenden orientiere ich mich an dieser früheren Argumentation). 61 Lebensspuren, Nr. 182 b.
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sagt, es handle sich um Amphitryon, doch seien dessen Züge „ins Göttliche verzeichnet“ (V. 1191). Ihre eigene, idealisierende Liebe steigert die Züge Amphitryons „ins Göttliche“. Diese Vergötterung des eben nicht göttlichen, sondern bloß menschlichen Geliebten, diese idealisierende Absolutsetzung des bei realistischer Betrachtung doch bloß Beschränkten und Relativen ist eine Illusionsbildung, die zur Abspaltung von der menschlichen Realität Amphitryons führt. Mit dieser Konzeption gibt Kleist wiederum seine tiefe Prägung durch die französische Aufklärung zu erkennen, insbesondere durch die Illusionslehre, wie sie Helvétius in seinem Hauptwerk De l’esprit (1758) entwickelt hatte. Helvétius analysiert gerade die illusionsbildende Kraft starker Gefühle. Alkmene zeigt sich von der Erscheinung Amphitryons in göttlicher Gestalt, die sie doch nur aus ihrer eigenen Liebesintensität hervorbringt, überwältigt und zugleich irritiert. Denn sie empfindet das zwar Identische, zugleich aber auch das für sie undurchschaubar, weil unbewußt selbstproduzierte NichtIdentische der göttlichen Amphitryon-Gestalt. Weil diese Irritation aus ihrer eigenen Psyche hervorgeht, vermag sie selbst zunächst am allerwenigsten aus ihr herauszufinden. Sie ist unfähig zu einer Erkenntnis, denn sie würde realistische Selbsterkenntnis voraussetzen. Die Liebe erzeugt aber gerade nicht eine realistisch-erkenntnishafte, sondern eine idealistisch-illusionäre Sicht. Zu der entscheidenden Erkenntnis, die für Alkmene selbst charakteristischerweise unnachvollziehbar bleibt, gelangt ihre Dienerin Charis, wie sich ja überhaupt die Diener-Rolle zur Formulierung der realistisch-desillusionierenden Sicht der Dinge eignet. Die Dienerin gibt die ins Schwarze treffende Diagnose: „Einbildung, Fürstin, das Gesicht der Liebe“ (V. 1201). Damit kennzeichnet sie die Erscheinung Amphitryons in göttlicher Gestalt, von der Alkmene ihr ganz hingerissen, zugleich aber auch schon irritiert berichtet hat, als Produkt ihrer eigenen illusionsträchtigen Liebe. Doch bleibt es nicht bei dieser einfachen Projektion. Denn das Idealbild ist ja zugleich auch Ausdruck einer psychischen Abspaltung. Zwar trägt das Idealbild alle Züge der menschlichen Wirklichkeit Amphitryons, aber zugleich sind diese Züge überhöht: „ins Göttliche verzeichnet“. Und in dieser Überhöhung beginnt der ideale Amphitryon zum Gegner des realen Amphitryon zu werden. Das Bessere wird der Feind des Guten. Dieser Dissoziationsprozeß findet im Inneren Alkmenes selbst statt. Das ist entscheidend für das Verständnis des ganzen dramatischen Geschehens als eines nach außen gekehrten Innengeschehens. Es zeigt, wie das Idealbild Amphitryons sich verselbständigt und den realen Amphitryon zu bekämpfen, ja zu degradieren anfängt. Das Ideal wird zum Feind der Wirklichkeit. Der „Geliebte“ stellt sich gegen den „Gatten“ – nun in einem ganz anderen Sinn als bei Molière. Alkmene stemmt sich dem Dissoziationsprozeß, der sich in ihr selbst abspielt, mit aller Kraft entgegen. Sie bekämpft die Versuche Jupiters – die Tendenz des von ihr selbst entworfenen Idealbilds –,
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sich von dem realen Amphitryon unterscheidend abzuheben und diesen damit zu degradieren. Was äußerlich bald als Quälerei des Gottes, bald als Widerstand Alkmenes erscheint, ist Metapher für das Seelendrama, das sich in Alkmene selbst abspielt. Indem sie sich weigert, das von ihr selbst entworfene Idealbild Amphitryons, Jupiter, vom realen Amphitryon zu unterscheiden, sträubt sie sich dagegen, ihren realen Amphitryon als eben nicht ideal, als bloßen Menschen zu akzeptieren. Die Liebe will mit illusionierender Kraft das Unbedingte und Ideale, und sie versucht so lange als möglich die Idealität des Realen zu behaupten. Indem Alkmene sich weigert, den Geliebten und den Gatten voneinander zu trennen, versucht sie die selbsterzeugte Spannung zwischen Idealität und Realität auszuhalten, die sich ihrer bemächtigt und sie zu zerrütten droht. Und doch nimmt diese Spannung überhand, die Dissoziation läßt sich nicht aufhalten. Der Verlust der Identität der beiden Gestalten – des Geliebten und des Gatten – im Innern Alkmenes erhält sein Symbol in der vierten Szene des zweiten Aktes, als sie auf dem Diadem plötzlich ein J statt des A sieht. Es handelt sich um die Anfangsbuchstaben der jeweiligen Namen: J für Jupiter, A für Amphitryon. Die Anfangsbuchstaben stehen als Namensabkürzung, als Monogramm für die Identität der durch sie bezeichneten Gestalten. Da Jupiter als der idealisierte Amphitryon auftritt, müßte sein Monogramm, solange Alkmene innerlich noch die Identität des in der Liebe selbsterzeugten Ideals mit dem realen Amphitryon zu behaupten vermag, ein A sein. Wenn nun aber statt dieses A ein J erscheint, so als äußeres Zeichen dafür, daß der Moment gekommen ist, in dem Alkmene trotz aller Anstrengungen diese Identität nicht mehr zu behaupten vermag. Unwiderruflich setzt sich die Dissoziation durch. Das Ideal verselbständigt sich nun als das nicht mehr mit der Realität Identische. Symbolisiert durch das fremde Monogramm, erscheint es als das Andere. Damit ist ein entscheidendes Stadium im psychischen Prozeß Alkmenes ‚buchstäblich‘ markiert. Nachdem die Dissoziation zu einer unabweisbaren inneren Tatsache geworden ist, unterliegt Alkmene einem Erkenntniszwang: Schritt für Schritt muß sie nun zu der Erkenntnis finden, daß sie in der Gestalt des vergötterten Amphitryon einer selbsterzeugten Liebes-Illusion verfallen war. Mit der Vollendung dieser Erkenntnis werden die Flitterwochen zu Ende sein. Die ideale Illusion muß verfliegen, in der mythologischen Metapher: Jupiter muß in den Himmel entschwinden. Was bleibt, ist das Leben mit dem realen Amphitryon, den sie in seiner nicht-idealen menschlichen Realität zu akzeptieren hat, damit eine tragfähige Ehe aus den Flitterwochen hervorgeht. Im ganzen findet also ein durch die Illusionsbildung der Alkmene provozierter Desillusionierungsprozeß statt. So klärt sich auch Jupiters zunächst rätselhafte Strafandrohung auf, die er schließlich in die Worte faßt: „Fürchte nichts. Er straft nicht mehr dich, / Als du verdient“ (V. 1467 f.). Die vollkommene Ange-
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messenheit der „Strafe“ besagt, daß die Desillusionierung nur so weit wie die Illusion reicht. Alkmenes Selbsterkenntnis In Gang kommt der Desillusionierungsprozeß in der fünften Szene des zweiten Akts, die ganz Kleists Werk ist, ohne jedes Vorbild bei Molière. Das auf Alkmene konzentrierte innerseelische Geschehen erscheint in dieser zentralen Szene metaphorisch-projektiv als äußere Handlung. Da sich die Metaphorik wesentlich mythologisch ausprägt, insofern ein Gott auftritt und auch nach seinen Kategorien spricht, ist die hermeneutische Methode der Entmetaphorisierung präziser zu bestimmen als Methode der psychologischen Entmythologisierung. Um eine psychologische Konstellation handelt es sich insofern, als die Vergötterung Amphitryons von der idealisierenden Subjektivität Alkmenes ausgeht. Nur in diesem psychologischen Horizont ist es zu verstehen, daß das durch Alkmene selbst entworfene Idealbild nach einem Übergangsstadium verwirrender Anfechtungen, gegen die sie sich noch heroisch zur Wehr setzt, schließlich einen äußersten Grad von Selbständigkeit erreicht, wo sich ihr die Unterscheidung zwischen dem realen und dem von ihr als Ideal angebeteten Amphitryon zwingend auferlegt. Dieser entscheidende Moment findet seinen Ausdruck in der Konfrontation der beiden Amphitryonen, des realen und des idealen. Amphitryon in zwei nebeneinander zu gleicher Zeit auftretenden Gestalten – das ist der Augenblick, wo die durch Überhöhung entstandene Idealität über die Realität siegt. Jupiters Sieg ist aber zugleich seine Niederlage. Denn in dem Moment, in dem Alkmene deutlich zwischen den beiden Amphitryonen unterscheidet und sich für den von ihr selbst idealisierten und damit zum „Jupiter“ gemachten Amphitryon entscheidet (Szene III, 11), muß dieses nun vollends abgespaltene Ideal entschwinden. Im Moment der Unterscheidung gibt sich das Ideal nicht nur als das Höhere, sondern auch als das überwirklich Unwirkliche zu erkennen. Mit innerer Logik entschwebt deshalb Jupiter, das „göttliche“ Idealbild Amphitryons, unmittelbar nach Alkmenes Unterscheidung zurück zum Olymp: ins Unwirkliche. Alkmenes Unterscheidung der beiden Amphitryonen, die zu diesem Ergebnis führt, ist das Gipfelereignis des Dramas. Daraus resultiert ein kunstvoll gestufter Erkenntnisvorgang. Indem Alkmene Jupiter als den idealen Amphitryon wählt, muß sie erstens erkennen, daß dieser sich als das eben bloß Ideale: als das Über-menschliche der menschlichen Realität entzieht. Der Liebestraum vom Absoluten verfliegt in den Olymp des Unwirklichen. Eng verbindet sich damit die zweite Erkenntnis, die nun schon zur Selbsterkenntnis wird: daß man sich mit der menschlichen Realität als dem Relativen und menschlich Unvollkommenen abfinden muß, auch in der Liebe. Dieser Erkenntnisvorgang ist
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also ein Prozeß der Desillusionierung. Kleist gestaltet ihn als einen existentiell erfahrenen Schock. Als Alkmene erkennen muß, daß der von ihr vorgezogene Amphitryon das Göttlich-Absolute ist, das von der Menge „Jupiter“ genannt wird, fällt sie ohnmächtig „in Amphitryons Arme“, wie es wörtlich heißt. Entmythologisiert ausgedrückt: Sie erleidet den fast vernichtenden Rückstoß vom Ideal zur Wirklichkeit. Als sie wieder zu sich kommt, ist ihr erstes und einziges Wort (V. 2349): „Amphitryon!“ Dieser Ausruf drückt Resignation und Liebe in einem aus: Alkmene erkennt und akzeptiert damit Amphitryon in seiner allein bleibenden und allein gültigen menschlichen Form. Amphitryon seinerseits spricht als erstes und einziges Wort, in ungemein pathetischer Entsprechung, auch nur ihren Namen aus: „Alkmene“ (V. 2362). Dieses sich im Namen-Nennen vollziehende neue gegenseitige Ergreifen und Erkennen der beiden Liebenden ist eine gesteigerte Anagnorisis: von Seiten Alkmenes ein Bekenntnis zu Amphitryons menschlicher Realität, von Seiten des inzwischen völlig „entamphitryonisierten“ Amphitryon, von dem alle äußeren Rollen, einschließlich derjenigen des auf sein Recht pochenden Ehemanns, abgefallen sind, ein neues Liebesbekenntnis. Darauf, und unmittelbar nachdem Amphitryon sie beim Namen gerufen hat, folgt Alkmenes berühmtes „Ach!“. Nach dem bisher Gesagten kann dieses „Ach!“ nicht mehr rätselhaft sein. Mit dem „Ach!“ als dem Ausdruck der Selbsterkenntnis erreicht Alkmenes Erkenntnisprozeß die dritte und höchste Stufe. Ihr „Ach!“ gerade als Antwort auf den Anruf ihres Namens kommt aus der nun vollendeten Einsicht in ihre eigene Illusionsbildung, der sie anheimfiel, indem sie sich dem von ihr selbst „ins Göttliche verzeichneten“ Amphitryon hingab. Alkmene erkennt am Ende, daß das irritierende Jupiterspiel das Spiel ihres eigenen Herzens war. Kleist läßt das Spiel nicht in der Erkenntnis der aus der eigenen Subjektivität hervorgegangenen Illusion enden. Über die Desillusionierung hinaus entwickelt er folgende weiterreichende Reflexion: Wenn das menschliche Herz, wie sich an Alkmene zeigt, zu einer so außerordentlichen Illusionsbildung fähig ist, zum Entwurf von göttlicher Idealität, dann muß dieses objektiv nicht existierende Göttliche und Ideale doch subjektiv vorhanden sein. Zwar läßt sich nicht mehr im eigentlichen Sinn vom ‚Göttlichen‘ sprechen, aber die idealisierende innere Kraft des Menschen selbst, die zur Projektion und Illusion von Göttlichem hinreißt, erweist sich damit als so groß, daß der Mensch eine enorme Aufwertung erfährt. In der Vorstellung von Göttern hat er sich nur eine Vorstellung von dem gemacht, was in ihm selbst lebt. Die einem göttlichen Ideal zugeschriebene Qualität stellt sich als seine eigene menschliche Qualität heraus. Näher an die mythologische Figuration des Amphitryon-Dramas heranformuliert heißt das, daß der Gott, der ja der von Alkmene entworfene Gott ist, sie selbst vergöttlicht. Kleist bringt das exakt zum Ausdruck, indem er in der Schlußszene Jupiter zu Alkmene sagen läßt (V. 2270 f.): „Du Göttliche! Glanz-
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voller als die Sonne! / Dein wartet ein Triumph […]“. Schon am Ende der fünften Szene des zweiten Aktes nennt er sie „so urgemäß, dem göttlichen Gedanken, / In Form und Maß, und Sait und Klang“ (V. 1571 f.). Daß sich der Mensch, indem er göttlich-ideale Vorstellungen entwirft, selbst zur Höhe dieser Vorstellungen erhebt, ist eine Denkfigur der Aufklärung, der Goethe in seinem Gedicht Das Göttliche bündigen Ausdruck verlieh. Alkmenes Desillusionierung könnte allerdings zur Folge haben, daß sie nun, nachdem sich die Illusion des Göttlich-Vollkommenen verflüchtigt hat und sie sich allein auf eine sehr relative menschliche Realität angewiesen sieht, in eine enttäuschte Resignation verfällt. Kleist faßt diese Gefahr in Jupiters Worte, die zu den schwierigsten des ganzen Dramas gehören (V. 2307f.): „O Fluch der Seligkeit, die du mir schenktest, / Müßt ich dir ewig nicht vorhanden sein“. Fluch gebührte der erlebten Liebesvollkommenheit, wenn sie aufgrund der Desillusionierung ins Gegenteil umschlüge: wenn der Desillusionierungsprozeß zu einer Art von niederem Realismus führen würde, in dem alles Große keinen Bestand hätte, nur weil die äußere Realität es nicht bietet. Kleist legt Jupiter die Hoffnung und den Wunsch in den Mund, Alkmene möge trotz der nun notwendigen Herablassung zu einer nicht idealen äußeren Realität dennoch die Kraft zur Bewahrung ihrer inneren idealen Dimension behalten. Das wäre das Äußerste, was der Mensch leisten kann. Er würde sich nicht in romantischem Illusionismus an ein objektiv nicht vorhandenes Ideal verlieren, andererseits aber auch nicht in einen vordergründig-niederen Realismus zurückfallen. Amphitryons „Entamphitryonisierung“ Neben dem Seelendrama der Alkmene gewinnt das Geschehen um Amphitryon ein eigenes Interesse. In der Anfechtung, die Amphitryon durch seinen göttlich-idealen Doppelgänger erfährt, fällt alles Oberflächliche und Äußerliche von ihm ab, weil es sich als das Unwesentliche erweist. So wird er in seine tiefere Identität überhaupt erst eingesetzt. Zwar klingt es zunächst scherzhaft, wenn Kleist eine Prägung Molières übernimmt und seinen Amphitryon durch das Jupiter-Spiel „entamphitryonisiert“ werden läßt. In Wahrheit aber muß Amphitryon eine schmerzhafte Probe durchstehen. Er absolviert sie, indem er alle äußeren, vor der Welt wichtigen Qualitäten verliert und dafür eine neue menschliche Authentizität gewinnt. Denn das eigene Ich, das in hohem Maße gesellschaftlich formiert ist und infolgedessen weitgehend aus Rollenspielen, konventionellen Ehrbegriffen und Vorurteilen besteht, wird ihm bis zu einem Grade streitig gemacht, daß alle solche Äußerlichkeiten nicht mehr ausreichen und sich das bisher für wertvoll Gehaltene als wertlos herausstellt. Insofern erfährt Amphitryon eine kathartische Reduktion. In seinem Verhältnis zu Alkmene kann er sich nur noch als Liebender und nur durch seine Liebe bewähren, ohne alle Beimischung von Ansprüchen der Eigenliebe, ohne Rücksicht auf ge-
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sellschaftliche Stellung, Ruhm und Ehre. Als in der Stunde der Entscheidung Volk, Anhänger, Feldherrn, kurz: alle gesellschaftlichen Sicherungen versagen, und Alkmene sich schon gegen ihn und für den andern Amphitryon, den Jupiter-Amphitryon, entschieden hat, spricht er nur den Namen der Liebe aus, indem er das einzige Wort „Alkmene“ sagt (V. 2234) und noch einmal ausruft: „Geliebte!“ (V. 2236). In den weiteren Zusammenhang dieses auf menschliche Authentizität zielenden Geschehens gehört die Dienerhandlung, der Kleist ein eigenes Valeur verlieh.62 Schon Molière ließ Herr und Diener, Amphitryon und Sosias, aufgrund des gemeinsam erfahrenen Unglücks, das sie durch den jeweiligen Doppelgänger erleiden müssen, einander näherrücken. Offenkundig wollte bereits Molière den Gedanken ausdrücken, daß sich die Menschen im Unglück über die bestehenden Standesgrenzen hinweg solidarisieren und das Unglück insofern eine humanisierende Kraft hat. Kleist vertieft diesen Zug, indem er sogar eine wirkliche menschliche Verbundenheit von Herr und Diener entstehen läßt. Während sie sich früher nur in ihren gesellschaftlich fixierten Rollen gegenüberstanden und den jeweils anderen nur in seinem sozialen Status wahrnehmen konnten, löst sich nun aufgrund der Anfechtung durch die Doppelgänger die gesellschaftliche Identität auf, und das Menschliche kommt zum Vorschein. Kleist folgt hier wieder dem rousseauistischen Grundgedanken, daß die Gesellschaft den Menschen depraviere, Solidarität also nicht im gesellschaftlich bestimmten Raum gedeihen könne. Schon in der Familie Schroffenstein hatte er die Gestalt, die am intensivsten die gesellschaftliche Denaturierung repräsentiert, Rupert von Rossitz, gegenüber den Dienern ein spezifisch inhumanes Verhalten an den Tag legen lassen. Rupert von Rossitz pfeift seine Diener wie Hunde heran. So hat es eine innere Konsequenz, daß im Amphitryon erst die Auflösung der gesellschaftlichen Fixierungen menschliche Solidarität auch im Verhältnis von Herr und Diener möglich macht. Und dies gilt 62 Nachdem schon Robin Clouser dem ersten Auftritt besondere Aufmerksamkeit gewidmet hat (R. C.: „Sosias tritt mit der Laterne auf“: Messenger to Myth in Kleist’s Amphitryon, in: Germanic Review 50 (1975), S. 275–293), vertritt Volker Nölle die These, daß der Beginn des Lustspiels, an dem Sosias wie bei Molière sich selbst eine Theaterprobe zu seinem geplanten Auftritt vor Alkmene liefert, nicht nur die Funktion einer Exposition erfülle: Sosias „verspiele“ seine Identität insofern, als er sich hier auf eine lügenhafte Selbstpräsentation – zur Aufbesserung seiner eigenen „Rolle“ – einstelle. Ihm komme also eine Mitverantwortung für die von Merkur ausgehende Identitätsbedrohung zu, und dies sei mutatis mutandis auch für Amphitryons Identitätsbedrohung durch Jupiter der Fall. Man könnte allerdings auch umgekehrt argumentieren: Sosias „Theaterprobe“ sei von vornherein ein Indiz dafür, daß es keine Identität gibt und alles Rollenspiel ist. Volker Nölle: Verspielte Identität. Eine expositorische „Theaterprobe“ in Kleists Lustspiel Amphitryon, in: KJb 1993, S. 160–180.
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ebenso im Verhältnis des Herrn zum Diener wie umgekehrt im Verhältnis des Dieners zum Herrn, für den Sosias nun plötzlich Sympathie zu empfinden vermag. Als Amphitryon sein Unglück zu ahnen beginnt, rückt er dem Diener Sosias näher und nennt ihn, über Molière hinausgehend, sogar seinen „Freund“ (V. 858 f.). Damit wiederholt sich in der Beziehung zwischen Herr und Diener der gleiche Vermenschlichungs- und Verinnerlichungsprozeß, der sich auch in der Beziehung Amphitryons zu Alkmene beobachten läßt. Denn erst nachdem Amphitryon durch den Doppelgänger „entamphitryonisiert“ worden ist, also erst nachdem alle sekundären, gesellschaftlichen Werte wie Feldherrnrolle und Standesehre, aber auch Besitzanspruch und Ehemanns-„Rolle“ im rechtlichgesellschaftlich definierten Ehe-Verhältnis zu Alkmene hinfällig geworden sind, dringt er ganz zu dem rein menschlichen Ton der Liebe durch, indem er Alkmene verzweifelt zuruft: „Geliebte“! (V. 2236) Auch in anderen Werken inszeniert Kleist immer wieder Ereignisse, die zur Ausnahmesituation eines gesellschaftsfreien Zustands führen, um in diesem die Menschen ihr natürlichspontanes Empfinden wiederentdecken zu lassen. In seiner pessimistischen Weltsicht kann der Mensch nur ausnahmsweise Mensch sein. Es bedürfte, so besagt das Geschehen des Amphitryon-Dramas implizit, einer Total-Ablösung des gesellschaftlich definierten Selbstverständnisses durch ein anderes Ich, um das innere, wahrhaft menschliche Ich hervortreten zu lassen. Der Diener allerdings als Repräsentant des einfachen, nicht so sehr von gesellschaftlichen Normen wie Ehre, Besitzanspruch und Geltungsbedürfnis bestimmten Menschen hat es leichter als sein Herr Amphitryon. Die Schlußpartie Das Amphitryon-Drama schließt mit der Verkündigung von der Geburt eines Halbgottes in der Gestalt des Herakles.
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JUPITER [zu Amphitryon] Zeus hat in deinem Hause sich gefallen, Amphitryon, und seiner göttlichen Zufriedenheit soll dir ein Zeichen werden. Laß deinen schwarzen Kummer jetzt entfliehen, Und öffne dem Triumph dein Herz. Was du, in mir, dir selbst getan, wird dir Bei mir, dem, was ich ewig bin, nicht schaden. Willst du in meiner Schuld den Lohn dir finden, Wohlan, so grüß ich freundlich dich, und scheide. Es wird dein Ruhm fortan, wie meine Welt, In den Gestirnen seine Grenze haben. Bist du mit deinem Dank zufrieden nicht, Auch gut: Dein liebster Wunsch soll sich erfüllen, Und eine Zunge geb ich ihm vor mir.
Amphitryon
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AMPHITRYON Nein, Vater Zeus, zufrieden bin ich nicht! Und meines Herzens Wunsche wächst die Zunge. Was du dem Tyndarus getan, tust du Auch dem Amphitryon: Schenk einen Sohn Groß, wie die Tyndariden, ihm.
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JUPITER Es sei. Dir wird ein Sohn geboren werden, Dess Name Herkules: es wird an Ruhm Kein Heros sich, der Vorwelt, mit ihm messen, Auch meine ewgen Dioskuren nicht. Zwölf ungeheure Werke, wälzt er türmend Ein unvergänglich Denkmal sich zusammen. Und wenn die Pyramide jetzt, vollendet, Den Scheitel bis zum Wolkensaum erhebt, Steigt er auf ihren Stufen himmelan Und im Olymp empfang ich dann, den Gott. […]
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ERSTER FELDHERR Fürwahr! Solch’ ein Triumph – ZWEITER FELDHERR
So vieler Ruhm –
ERSTER OBERSTER Du siehst durchdrungen uns – AMPHITRYON ALKMENE
Alkmene! Ach!
Nachdem sich die Epiphanie des Gottes lediglich als Produkt einer menschlichen Illusion erwiesen hat, drückt Amphitryons Wunsch, es möge ihm ein großer Sohn geboren werden, ein Kompensationsbedürfnis aus. In einem solchen übermenschlich-halbgöttlichen Sohn nach dem Muster der von Zeus mit einer Menschenfrau erzeugten „Tyndariden“ (Kastor und Pollux) würden sich Himmel und Erde, Menschliches und Göttliches, Ideal und Wirklichkeit verbinden. Die Folge der Desillusionierung – die Verflüchtigung des Ideal-Göttlichen – wäre damit überwunden. Ein halbgöttlicher Sohn, dem es wie dem Herakles beschieden wäre, schließlich ganz in die Sphäre des Ewigen und Göttlichen einzugehen (vgl. V. 2335–2344) und der sich schon in seinem irdischen Wirken als eine ins Göttliche hineinreichende Natur bewiese, könnte die menschliche Sehnsucht nach einer dauerhaften Verbindung mit der Sphäre des Idealen und Absoluten erfüllen. Indem nun aber Kleist, und das ist entscheidend, diese Erlösungshoffnung aus einem Desillusionierungsprozeß der Menschen und den daraus entstehenden kompensatorischen Wünschen herleitet, unterlegt er der traditionellen mythologischen oder heilsgeschichtlichen Konstellation eine psychologische Begründung. Damit verliert der Erlösungsglau-
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be, wie schon die Erscheinung des Gottes im Jupiter-Alkmene-Spiel, jede objektive Dignität. Beides, das Auftreten des Gottes wie am Ende der Wunsch nach einem erlösenden Halbgott oder, christlich ausgedrückt, nach einem erlösenden Gott-Menschen, führt auf die menschliche Subjektivität zurück. Dieser Konzeption entsprechend machte Kleist die Verkündigung von der Geburt des Herakles so auffällig wie provozierend auf die Verkündigung der Geburt Christi transparent.63 Die von einem längst etablierten Synkretismus64 63 Die an Joseph gerichtete Verkündigung des Engels lautet: „Und sie wird einen Son geberen / des Namen soltu Jhesus heissen“ (Matth. 1, 21); Maria verkündet er: „Sihe, du wirst schwanger werden im Leibe / und einen Son geberen / des Namen soltu Jhesus heissen“ (Lucas 1, 31). 64 Dieser Synkretismus betrifft seit der Antike alle wesentlichen Lebensstationen und Eigenschaften des „Halbgotts“ oder „Gottmenschen“. Sie vereinigen sich zu einer Typologie des Soter (Heilands). 1) Der Soter ist Sohn einer menschlichen Mutter und eines göttlichen Vaters. Wie Herakles von Zeus und Alkmene, so stammt Jesus von Gottvater und Maria. 2) Als Kind ist der Soter besonderen Gefahren ausgesetzt, die er aber zum Zeichen seiner göttlichen Legitimation wunderbar übersteht: Herakles besiegt die ihm von der eifersüchtigen Hera geschickten Schlangen, Jesus entkommt dem von Herodes veranlaßten bethlehemitischen Kindermord. 3) Im Mannesalter bewährt der Soter sein höheres Wesen durch Taten und Wunder. Die größte dieser Taten ist der Abstieg in die Unterwelt, bei der er den Tod überwindet: Herakles steigt in die Unterwelt hinab und fesselt, zum Zeichen des Sieges über den Tod, den Höllenhund Zerberus; außerkanonische Berichte, vor allem das apokryphe sogenannte Nikodemus-Evangelium, sprechen von der – auch in das Credo eingegangenen – Höllenfahrt Jesu und davon, daß er den Tod besiegt habe. 4) Durch seine übrigen Taten (Wunder) erweist sich der Soter als Wohltäter und Freund der Menschen – Herakles durch seine berühmten „zwölf Taten“, Jesus durch Speisungs-, Heilungs- und Erweckungswunder. Sowohl mit Herakles wie mit Jesus verbindet sich die Funktion des Friedensbringers. 5) Der Soter stirbt einen grausamen Tod: Herakles wird nach furchtbaren Leiden auf dem Ötagebirge verbrannt, Christus nach der Passion gekreuzigt. In Senecas Drama Herkules auf dem Öta spricht Herkules sterbend sogar die gleichen Worte wie der sterbende Christus im Evangelium: „Es ist vollbracht“ („peractum est“, V. 1476). Beim Tod sowohl des Herakles wie Christi geschehen wunderbare Zeichen: Finsternis bricht herein und die Erde bebt. 6) Auf den Tod folgt die Himmelfahrt: Herakles fährt wie Christus zum Himmel auf und wird verewigt (Herakles: „Eine Wolke nahm ihn auf unter Donner und führte ihn zum Himmel empor“, Apollodor II 7, 7; Christus: „Er ward aufgehoben und eine Wolke nahm ihn auf vor ihren Augen“, Apg. 1, 9). – Zur synkretistischen Typologie vgl. Marcel Simon: Hercule et le Christianisme, Paris 1955 (Publications de la Faculté des Lettres de l’Université de Strasbourg); G. Karl Galinsky: The Hercules Theme. The Adaptations of the Hero in Literature from Homer to the Twentieth Century, Oxford 1972; Abraham J. Malherbe, Art. Herakles, in: Reallexikon für Antike und Christentum (RAC), Bd. 14, 1988, Sp. 559–583. Mit der typologischen Zusammenschau von Herakles und Christus entspricht Kleist, wenn auch mit charakteristisch anderer Intention, dem frühromantischen Universalismus, dem gleichzeitig Höl-
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ausgehende Vermengung von Zügen aus dem griechischen Herakles-Mythos mit Zügen des christlichen Heilands zielt auf die Psychologisierung religiöser Vorstellungen und insofern auch auf deren Säkularisierung. Denn wenn die Grundstrukturen der verschiedenen Religionen, so die implizite Argumentation, deckungsgleich sind, dann kann keine Religion für sich eine spezielle und schon gar nicht eine durch Transzendenz legitimierte Verbindlichkeit beanspruchen – vielmehr deuten diese deckungsgleichen Grundstrukturen der Religionen auf Allgemein-Menschliches. Dem zentralen aufklärerischen Denkansatz entsprechend reduziert sich scheinbar Übernatürliches auf Natürliches, scheinbar Göttliches auf Menschliches. Und dieses Menschliche besteht hier in einer aus Verlusterfahrungen entspringenden Hoffnung, die sich, utopisch überhöht, auf eine Selbstüberschreitung des Menschen richtet.
4. Penthesilea Normenbruch und antiklassizistische Wendung Kleists einzige Tragödie großen Stils entstand in den Jahren 1806 und 1807. Im Januar 1808 veröffentlichte er in der von ihm und Adam Müller herausgegebenen Zeitschrift Phöbus einen Teil, den er als Organisches Fragment bezeichnete, weil aus ihm die Gesamtanlage des Werks zu ersehen sein sollte. Im Herbst 1808 folgte die Buchausgabe der Penthesilea. Kleist empfand es als Glück, daß sie überhaupt erscheinen konnte, denn er hatte Schwierigkeiten, einen Verleger für dieses Drama zu finden, das gegen alle klassizistischen Grundsätze in der Behandlung antiker Stoffe verstieß.65 Von Anfang an war ihm auch bewußt, daß er die Geschmacksnormen verletzte, die entscheidend mitbestimmt waren durch die Rücksicht auf die wichtigsten Mitglieder der Leserschaft und des Theaterpublikums, die Frauen. Gerade nach den Tabubrüchen des 20. Jahrhunderts muß man sich vergegenwärtigen, in welch engen Grenzen man noch bis weit ins 19. Jahrhundert hinein Sittlichkeit und Moral für das weibliche Geschlecht66 definierte, um die ganze Ungeheuerlichkeit der derlin Ausdruck gab. Er bezeichnet in der wohl 1802 entstandenen 1. Fassung der Hymne Der Einzige Christus als „Herakles Bruder“ (V. 51). 65 Seit der Archaisierung des Griechenbildes durch Bachofen, Nietzsche und die Kunst des fin de siècle erschien er damit als früher Vertreter der literarischen Moderne. Hierzu die fundierte Studie von Werner Frick: „Ein echter Vorfechter für die Nachwelt“. Kleists agonale Modernität – im Spiegel der Antike, in: KJb 1995, S. 45–96. 66 Auf Kleists Überschreitung der fixierten Geschlechterrollen, insbesondere durch die exzessive Darstellung weiblichen Begehrens, sowie auf die Einordnung in entsprechende Diskurse der Moderne fokussiert Maximilian Nutz seine aufschlußreiche Abhandlung: „Erschrecken Sie nicht, es läßt sich lesen“. Verstörung und Faszination in Diskurskontex-
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Penthesilea zu begreifen. An Marie von Kleist schrieb der Dichter im Herbst 1807: Wenn man es recht untersucht, so sind zuletzt die Frauen an dem ganzen Verfall unsrer Bühne schuld, u sie sollten entweder gar nicht ins Schauspiel gehen, oder es müßten eigne Bühnen für sie, abgesondert von den Männern errichtet werden. Ihre Anforderungen an Sittlichkeit u Moral vernichten das ganze Wesen des Drama, u niemals hätte sich das Wesen des griechischen Theaters entwickelt, wenn sie nicht ganz davon ausgeschloßen gewesen wären.67
Vor allem war es unerhört, Exzesse wie diejenigen Penthesileas auf der zeitgenössischen Bühne darzustellen. „Sie hat ihn wirklich aufgegeßen den Achill vor Liebe“, heißt es in demselben Brief an Marie von Kleist, und bald darauf schrieb er ihr den berühmt gewordenen Satz: „Es ist wahr, mein innerstes Wesen liegt darin, und Sie haben es wie eine Seherin aufgefaßt: der ganze Schmutz zugleich und Glanz meiner Seele“.68 Aus dem Penthesilea-Text geht hervor, daß Kleist das Wort „Schmutz“69 nicht im Sinne des Verwerflichen und Verabscheuungswürdigen, sondern nur des Elementar-Triebhaften gemeint haben kann. Und diese Sphäre des Elementar-Triebhaften galt nach den zeitgenössischen Geschmacksnormen, die Kleist ausdrücklich ablehnte, als anstößig und deshalb als „schmutzig“. Die schon im Brief an Marie von Kleist formulierte Einsicht in den von ihm gewagten Normenbruch hielt Kleist auch in einer Reihe aufschlußreicher Epigramme zur Penthesilea fest. Sie lassen erkennen, wie bewußt er gegen die Konventionen seiner Zeit und gegen den Kanon klassizistischer Humanität verstieß. Das erste dieser ironischen Epigramme trägt die Überschrift Dedikation der Penthesilea: ten – zur Rezeptionsgeschichte von Kleists Penthesilea, in: Gewagte Experimente und kühne Konstellationen. Kleists Werk zwischen Klassizismus und Romantik, hrsg. von Christine Lubkoll und Günter Oesterle, Würzburg 2001, S. 199–222. Vgl. hierzu auch die Sammlung von modernen Rezeptionszeugnissen: Erläuterungen und Dokumente. Heinrich von Kleist. Penthesilea, von Hedwig Appelt und Maximilian Nutz, Stuttgart 1992 (durchgesehene Ausgabe 2001). 67 Briefe, Nr. 124, S. 396. 68 Briefe, Nr. 126, S. 398. 69 Von dem im Original nicht überlieferten Brief existiert nur eine Abschrift, die Wilhelm von Schütz 1817 bei Marie von Kleist für die von Tieck geplante Edition anfertigte. In dieser Abschrift steht eindeutig „Schmutz“, Tieck aber machte daraus „Schmerz“. Zur Diskussion vgl. Helmut Sembdner: „Schmerz“ oder „Schmutz“? Zu Kleists Bemerkung über die ‚Penthesilea‘ [1966], in: Kleists Aktualität. Neue Aufsätze und Essays 1966–1978, hrsg. von Walter Müller-Seidel, Darmstadt 1981 (Wege der Forschung 586), S. 25–40, sowie Fritz Schlawe: „Schmerz“ oder „Schmutz“ [1968], ebd., S. 41–45.
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Zärtlichen Herzen gefühlvoll geweiht! Mit Hunden zerreißt sie, Welchen sie liebet, und ißt, Haut dann und Haare, ihn auf.70
Kleist konzipierte die Penthesilea als Anti-Iphigenie. Dies verraten bereits die auf Goethe und Weimar gemünzten Zeilen, denen er die Überschrift gab: Der Theater-Bearbeiter der Penthesilea: Nur die Meute, fürcht’ ich, die wird in W… mit Glück nicht Heulen, Lieber; den Lärm setz’ ich, vergönn’, in Musik.71
Eine Anspielung also auf die losgelassene Hundemeute, die zusammen mit Penthesilea am Ende den Achill zerreißt: Derartiges, so will Kleist sagen, ist nicht nach dem klassizistischen Geschmack, wie ihn Goethe in Weimar pflegte. Doch fühlte er sich mit seiner eigenen, so ganz anderen künstlerischen Intention keineswegs jenseits jeder Tradition. Schon der Brief an Marie von Kleist zeigt, wie sehr er bei seinem Studium des griechischen Theaters wahrnahm, daß bereits die Griechen das Entsetzliche, Blutige und Grausame in ihrer Tragödie nicht gescheut haben. Bewußt wählte er die griechische Tragödie als Vorbild für die elementaren und furchtbaren Züge seiner Penthesilea. Es handelt sich um eine grundsätzlich andere Art der Antike-Rezeption als bei Goethe und im zeitgenössischen Klassizismus überhaupt. Die von Winckelmann begründete klassizistische Sicht der Antike beruhte auf einer Stilisierung zum Edlen, Schönen und Harmonischen. Dafür steht Winckelmanns berühmte Formulierung von der „edlen Einfalt und stillen Größe“ der antiken Werke.72 Er idealisierte die Griechen zu einer vorbildhaften humanen Norm und bestimmte damit auch das Humanitätsdenken Goethes, wie es seine Iphigenie am deutlichsten repräsentiert. Insbesondere verdrängte oder dämpfte der Klassizismus alles Elementare und Intensive, wie die klassizistischen Interpretationen der Laokoon-Gruppe paradigmatisch zeigen.73 Für Goethe und den von ihm geprägten Weimarer Klassizismus waren neben der von Winckelmann ausgehenden Tradition vor allem zwei Erfahrungen wichtig: das höfische Leben in einer vom Adel geprägten Gesellschaft sowie die Überwindung einer lebensgeschichtlichen Krisensituation. Der sogenannte ‚klassische‘ Goethe reagierte, wie auch Schiller, abwehrend auf den eigenen Sturm und Drang-Subjektivismus, weil er ihn als zerstörerisch erfahren hatte. Im antagonistischen Reflex auf 70
SWB 3, S. 412. SWB 3, S. 413. 72 In der 1755 erschienenen Schrift Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, in: Frühklassizismus, hrsg. von H. Pfotenhauer u.a., Frankfurt a.M. 1995, S. 30. 73 Dies gilt sowohl für Winckelmanns Laokoon-Interpretation in der Schrift Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst wie für Lessings Laokoon. 71
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eigene Bedrohungen und keineswegs aus einer Haltung prästabilierter Harmonie suchte Goethe alles Gefährdend-Elementare zurückzudrängen. Oft führte das klassizistische Kunstbestreben zum Blutleeren und Blassen. Vermischte sich damit eine auf die literaturbeflissene Damenwelt zugeschnittene „Sittlichkeit und Moral“, wie Kleist in seinem Brief an Marie von Kleist schreibt, so kam nur Schwächliches und Oberflächliches zustande. Verband sich mit dem klassizistischen Kunstbestreben hingegen der offiziell-repräsentative Empire-Stil, wie er in der napoleonischen Ära ebenfalls in bewußter Anlehnung an antike Formen gepflegt wurde, dann drohte dieser Klassizismus ins Kalte und Rituelle zu geraten. Einen entsprechenden Reflex enthält der Prinz Friedrich von Homburg, wo der Prinz über den Kurfürsten sagt (V. 786–788): „[…] wenn er mir in diesem Augenblick, / Wie die Antike starr entgegenkömmt, / Tut er mir leid, und ich muß ihn bedauern!“ Kleist wollte diese Gefahren vermeiden, und er berief sich dabei auf die antike Tragödie selbst. Nicht nur zur Penthesilea und zum Guiskard-Drama schrieb er Epigramme, in denen er die Abweichung von der zeitgenössischen klassizistischen Norm aus der ironisch übernommenen Perspektive dieses Normdenkens thematisiert. Bezeichnenderweise verfaßte er mit der gleichen Absicht ein Epigramm zu der antiken Tragödie, die für mehrere seiner eigenen Werke von großer Bedeutung war: zum König Ödipus des Sophokles. Es trägt den Titel Der Ödip des Sophocles und lautet: Greuel, vor dem die Sonne sich birgt! Demselbigen Weibe Sohn zugleich und Gemahl, Bruder den Kindern zu sein!74
Nicht zuletzt kennzeichnet Kleist mit diesem Epigramm die Berufung der zeitgenössischen klassizistischen Geschmackswächter auf die Antike als verfehlt. Die Antike, so die Pointe, war in Wirklichkeit ganz anders. In der Tat gehört zur antiken Tragödie auch die Präsentation abstoßender Krankheit, physischer Schmerzen, psychischer Exzesse, ja Wahnsinn und Raserei. Unerträgliche Qualen hat Sophokles im König Ödipus, in den Trachinierinnen und im Philoktet dargestellt. Zur Raserei und zu blutigen Greueln kommt es im berühmtesten Drama des Euripides, in der Medea, sowie in seinem für die Penthesilea entscheidenden Spätwerk, in den Bakchen. Diese Extremqualitäten der griechischen Tragödie konnten durch ein modernes Werk kaum überboten, sondern nur gegen die klassizistische Reduktion und Glättung revitalisiert werden. 75 74
SWB 3, S. 414. Unzutreffend ist daher die leitende These in der Darstellung der Penthesilea von Gabriele Brandstetter: Penthesilea. „Das Wort des Greuelrätsels“. Die Überschreitung der Tragödie, in: Interpretationen. Kleists Dramen, hrsg. von Walter Hinderer, Stuttgart 1997, S. 75–115. Im Hinblick auf die Kampfszenen und insbesondere auf die blutige Zerreißung Achills durch Penthesilea – beides wird durch Bericht und Teichoskopie sprachlich ver75
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Auf dem Hintergrund einer solchen Kenntnis der griechischen Tragödie ist folgendes Epigramm Kleists über sein Guiskard-Drama zu lesen: Robert Guiskard, Herzog der Normänner Nein, das nenn’ ich zu arg! Kaum weicht mit der Tollwut die Eine Weg vom Gerüst, so erscheint der gar mit Beulen der Pest.76
Wenn sich Kleist mit seiner Tragödienkonzeption auf die griechische Tragödie berief, so nicht mehr im Sinne des Klassizismus, von dem er sich entschiemittelt – statuiert Brandstetter, es handle sich um „eine Dramaturgie der Überbietung der antiken Tragödie“ (S. 82). Man braucht sich nur an die ebenfalls durch Botenberichte vermittelten Greuel der antiken Tragödie zu erinnern, um zu erkennen, daß Kleist sie keineswegs überboten hat. Als eines von zahlreichen Beispielen sei die Szene im König Ödipus des Sophokles angeführt, in welcher der Bote zuerst vom Selbstmord der Iokaste und dann davon berichtet, wie Ödipus angesichts der Erhängten, die zugleich seine eigene Mutter, seine Frau und die Mutter seiner Kinder ist, in der gräßlichsten Weise sich die Augen aussticht und dann mit den leeren Augenhöhlen, aus denen das Blut strömt, hervortritt – und all das stellt der Botenbericht keineswegs dämpfend und distanzierend dar, wie es die klassizistische Ars poetica des Horaz wollte (auf die sich Brandstetter S. 81 zu Unrecht beruft, so als sei sie für die griechische Tragödie maßgebend gewesen), vielmehr krass vergegenwärtigend. Nicht genug damit: Am Ende seines Berichtes kündigt der Bote das Erscheinen des Ödipus selbst an, der aus dem Tor des Königspalasts auf die Bühne tritt (also nicht nach dem vierhundert Jahre später formulierten Rezept des Horaz handelt): „[…] einen Anblick wirst du sehn sogleich, / Derart, daß sich sogar, wer ihn verabscheut, darüber erbarmt! (Aus dem Hause Ödipus, mit ausgestochenen Augen.)“ (V. 1295 f.). Blutend und mit Schmerzensschreien setzt er den Chor und mit ihm die Zuschauer unvermittelt dem Entsetzen aus. Und wie verfährt Kleist? Bei allem Schrecklichen der Tat heißt es in der Szenen-Anweisung des Schlußauftritts: „Die Leiche des Achills, mit einem roten Teppich bedeckt“! Von einer „Überbietung der antiken Tragödie“ kann keine Rede sein. – Auch die Bezüge zur antiken Tragödientheorie sind problematisch, so wenn es S. 102 heißt: „Der erste Teil des 24. Auftritts ist bestimmt durch einen Prozeß, der von der hamartia – dem Nicht-Erkennen Penthesileas – zur Anagnorisis, der schrittweise mit der Erinnerung erlangten Erkenntnis (dianoia) des fürchterlichen Geschehens reicht“. Hier ist zunächst der Aristotelische Grundbegriff der hamartia mißverstanden. Denn hamartia meint in der Tragödientheorie des Aristoteles ein Fehlverhalten des Helden, das die tragische Katastrophe herbeiführt (Poetik, Kap. 13), keineswegs ein Nicht-Erkennen des schon Geschehenen, wie es am Anfang des 24. Auftritts der Penthesilea festzustellen ist. Ebenfalls irreführend ist die Gleichsetzung der dianoia mit der „Erkenntnis“, die Penthesilea in der Erinnerung erlangt, denn Aristoteles definiert die dianoia als das „Vermögen [des Autors], das Sachgemäße und Angemessene auszusprechen“ (Poetik, Kap. 6). Infolgedessen trifft auch die Gleichsetzung der Anagnorisis mit der dianoia nicht zu. – Zu der anderen Form einer angeblichen Überbietung und „Überschreitung“ der antiken Tragödie durch den auf eine moderne dekonstruktive Ästhetik zielenden Affekt des „Ekels“ vgl. Anm. 84. 76 SWB 3, S. 413.
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den abwandte. Das hinderte ihn freilich nicht, seine Penthesilea Goethe zu überreichen, und zwar, wie er in einer berühmten, von ihm selbst schon als Zitat ausgewiesenen Formulierung seines Begleitbriefes am 24. Januar 1808 schrieb, „auf den Knieen meines Herzens“.77 Goethe konnte über dieses Werk nur äußerst befremdet sein.78 Das Vorbild Euripides Aus der antiken Tragödie gewann Kleist sowohl gedankliche als auch psychologische und dramaturgische Anregungen. Eine genaue Analyse der Penthesilea zeigt, daß er sich vor der Niederschrift in die griechische Tragödie vertieft haben muß, so wie er anläßlich seines Erstlingswerks, der Familie Schroffenstein, Shakespeare studiert hatte. Zu diesem Paradigmenwechsel dürfte Wieland beigetragen haben. Im Jahre 1803 hatte Kleist zwei Monate bei Wieland auf dessen Landgut Oßmannstedt in der Nähe von Weimar zugebracht, gerade zu einer Zeit, als sich Wieland mit der Übersetzung des Euripides beschäftigte; wahrscheinlich erhielt Kleist von ihm entsprechende Lektüre-Anregungen. Dem nach Orientierung suchenden jungen Dramatiker dürfte es auch nicht entgangen sein, daß Wieland einige Jahre später, in einem 1806 geschriebenen Aufsatz, den „jungen Dichtern“ besonders Euripides als Muster empfahl. Kleist griff vor allem auf Medea, Hippolytos und Die Bakchen zurück.79 Aus der Medea stammt die für den Anfang der Penthesilea strukturbildende Konstellation des Griechisch-Rationalen mit dem Fremd-Elementaren. Kleist konfrontiert in der ersten Szenen-Sequenz seiner Tragödie die Welt der Griechen, eine rationale Männerwelt, mit der unbegreiflich irrational erscheinenden Welt der Amazonen. Indem sich Achill, als Exponent der griechischen Welt, und Penthesilea, die Exponentin der Amazonen, leidenschaftlich ineinander verlieben, kommt es zu der problematischen Verbindung beider Welten. Ein analoges Grundverhältnis gestaltet Euripides in seiner Medea. Auch hier berühren sich die griechische und eine fremdartig-exotische Welt, und ebenfalls so, daß sich die Exponentin des Barbarenlandes, Medea, mit dem Griechen Jason in Liebe verbindet. Wie Euripides an Medea, so zeigt Kleist an Penthesilea die Bereitschaft der Frau, ihren Herkunftsbereich aufzugeben, ihre Fähigkeit zu rückhaltloser und unbedingter Liebe, die sich gerade dadurch beweist, daß sie in eine ganz fremde Welt mitzugehen bereit ist. Kleist allerdings macht daraus 77
Briefe, Nr. 135, S. 407. Vgl. Walter Müller-Seidel: Penthesilea im Kontext der deutschen Klassik, in: Kleists Dramen. Neue Interpretationen, hrsg. von Walter Hinderer, Stuttgart 1981, S. 144– 179. 79 Im folgenden nehme ich meine – in den Details weitergehende – frühere Darstellung auf (wie Anm. 89), S. 234–241. 78
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einen schmerzhaften Prozeß der Selbstüberwindung. Analog ist dann vor allem aber bei Medea wie bei Penthesilea der Umschlag von unbedingter Liebe in eine ungeheuerliche Rache. Euripides und Kleist gemeinsam ist schließlich auch die Faszination durch die große elementare Leidenschaft. Trotz der zerstörerischen Exzesse verherrlichen sie den empfindungsstarken und nach seinem heroischen Seelenmaß lebenden Einzelnen80, und es ist charakteristisch, daß dies in beiden Fällen Frauengestalten jenseits der Normalzivilisation sind. Daß Kleist als zweites wichtiges Muster die euripideische Tragödie Hippolytos wählte, liegt schon vom Stoff her nahe, denn als Sohn der Amazonenkönigin Hippolyte gehört Hippolytos seiner Herkunft wie seinem Wesen nach in den Bereich des Amazonischen.81 Aus dem Hippolytos übernahm Kleist das psychologische Gesamtschema. Hippolytos führt eine einseitige Existenz. Jagend durchstreift er mit seinen Freunden die Bergwälder, die Sphäre der Liebe schließt er völlig aus. Die verdrängte Erotik holt ihn jedoch in verderblicher Weise ein. Euripides faßt diesen Vorgang in das Bild einer mythologischen Rache: An Hippolytos, dessen Lebenshaltung ihren deutlichsten Ausdruck darin findet, daß ihm das Standbild der jungfräulichen Artemis heilig ist, rächt sich die Liebesgöttin Aphrodite, indem sie ihn zum Opfer von Phädras verbotener Liebesleidenschaft werden läßt. Wie Hippolytos ist auch Penthesilea ganz durch die Jagd charakterisiert, die als Leitmotiv für den Kampf, die Gewalt steht: für die der Liebe entgegengesetzte Sphäre. Das höchste Heiligtum der ebenfalls auf ein Leben ohne Liebe eingeschworenen Amazonen ist das der Diana – Diana ist der römische Name für die griechische Artemis. Wie für Hippolytos das Standbild der Artemis das Heiligste darstellt, so für Penthesilea der Tempel der Diana. Und auch in der Penthesilea repräsentiert Aphrodite die Gegeninstanz. „O Aphrodite!“ läßt Kleist seine Penthesilea auf dem Höhepunkt fassungsloser Liebesbetroffenheit ausrufen (V. 1231). Nach einem ähnlichen psychologischen Grundmuster wie der Hippolytos, doch wesentlich komplexer sind die Bakchen angelegt. Das Geschehen läßt sich folgendermaßen zusammenfassen: Dionysos, der Gott des Rausches, kommt nach Theben, die Stadt verfällt ihm, nur der König Pentheus stellt sich ihm als Vertreter der bestehenden Ordnung entgegen und sucht das rauschhaft Dionysische abzuwehren. Dafür bestraft ihn Dionysos grausam, indem er ihn von den in dionysischen Wahnsinn versetzten Mänaden zerreißen läßt. Den Höhepunkt erreicht das Geschehen, als die Mutter des Pentheus im dionysischen 80 Vgl. auch Kleists Epigramm Vokation: Wärt ihr der Leidenschaft selbst, der gewaltigen, fähig, ich sänge, Daphne, beim Himmel, und was jüngst auf den Triften geschehn. (SWB 3, S. 413) 81 Quellentexte zum Amazonenmythos generell bei Hedwig Appelt und Maximilian Nutz (wie Anm. 66), S. 51–69.
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Wahnsinn ihren Sohn zerfleischt. So rächt sich Dionysos auch an ihr, denn sie hatte sich ebenfalls zuerst ihm, dem Gott, entgegengestellt. Nach Szenen der euripideischen Bakchen gestaltete Kleist nicht zuletzt wichtige Einzelpartien der Penthesilea. In eindrucksvollen Bildern malt der griechische Tragiker aus, wie die von Dionysos in Ekstase versetzten Mänaden in Wäldern und unwegsamen Klüften wild umherschweifen, ja umhertoben: Sie brechen aus der Ordnung des zivilisierten Lebens aus und verschwistern sich mit der elementaren Natur. Besonders fällt die Verschmelzung ihres aus den Grenzen des Menschlichen drängenden Daseins mit dem Tierischen auf. Kleist orientierte sich an diesem Vorbild, um Penthesilea in ihrer Kraft und Leidenschaft ganz als Elementarnatur erscheinen zu lassen.82 Er versah die entsprechenden Partien mit der Szenerie einer urtümlich wilden Berg- und Waldlandschaft, und die entfesselte Leidenschaft zog er beinahe durchgehend ins Tierische: Metaphern für die dahinjagende Penthesilea sind Tiger, Parder, Katze, Hyäne, Wölfin, Sphinx, vor allem aber die „Dogge“, während Achill mit einem Hirsch und, allgemeiner, mit einem „Wild“ verglichen wird. Das alles entspricht sehr genau den Bakchen. In ihnen erscheinen die Mänaden als Raubtiere oder als mordgierige Meute von Hunden – einmal werden sie sogar ausdrücklich als „Hunde“ bezeichnet (V. 731), die das wehrlose Wild jagen und zerreißen. Auch das bestialisch-blutige Ende Achills gestaltete Kleist nach dem Vorbild des Euripides. Wie in den Bakchen Agaue in schäumendem Wahnsinn ihren Sohn Pentheus zerfleischt, so zerreißt Penthesilea den Achill. Sogar einzelne Züge vom Tod des Pentheus übernahm Kleist. Wie Pentheus vor den Mänaden, so versteckt sich Achill vor der heranjagenden Penthesilea und ihrer Meute in einer Fichte, und auch die letzte, ungemein ausdrucksvolle Geste des sterbenden Achill erinnert an das Ende des Pentheus.83 Von Achill heißt es (V. 2662–64): Er, in dem Purpur seines Bluts sich wälzend, Rührt ihre sanfte Wange an, und ruft: Penthesilea! meine Braut! was tust du?
Ebenso versucht Pentheus die eigene Mutter zum Bewußtsein zu bringen, indem er ihre „Wange anrührt“ (V. 1117 f.). Umsonst, denn Agaue handelt im Wahnsinn. Auch dies überträgt Kleist auf Penthesilea, die in ihrer Raserei 82
Gerhard Kaiser: Mythos und Person in Kleists Penthesilea, in: G. K.: Wanderer und Idylle. Goethe und die Phänomenologie der Natur in der deutschen Dichtung von Geßner bis Gottfried Keller, Göttingen 1977, S. 209–239, betont besonders das Dionysische. 83 Darauf wurde schon früh hingewiesen. Vgl. Johannes Niejahr: Heinrich von Kleists Penthesilea, in: Vierteljahresschrift für Litteraturgeschichte 6 (1896), S. 506–553, hier S. 535f.
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Achills Worte nicht hört und weiterwütet. Wie Agaue schließlich nach der Rückkehr zu den Ihren nichts mehr von der Wahnsinnstat weiß und fragt, wer den Pentheus getötet habe, so forscht Penthesilea erschüttert und empört, wer den Achill so furchtbar zugerichtet habe. Endlich: Wie Euripides die durch Dionysos verblendete Agaue vom Wahnsinn zur Erkenntnis führt, so auch Kleist seine Penthesilea. Nur hat Euripides diesen Übergang viel einfacher und rationaler gestaltet. Kleist konzipiert den Übergang vom Wahn zur Erkenntnis als mehrfach gestuften psychischen Prozeß, als ein Drama im kleinen. Penthesilea durchläuft dabei drei innere Zustände: Auf die Starre (V. 2704–2828) folgt die allmähliche Lösung (V. 2860–2873) und endlich die niederschmetternde Erkenntnis und Selbsterkenntnis (V. 2880-Schluß).84 Tragödienstruktur und szenische Darstellung Wie der Zerbrochne Krug, so ist auch die Penthesilea nicht in Akte eingeteilt. Die 24 Auftritte, die an die 24 Gesänge der Ilias erinnern, folgen ohne weiteren Einschnitt aufeinander, ordnen sich aber klar zu fünf größeren Handlungseinheiten zusammen, und zwar so, daß ihre Disposition den Gesetzen des fünfaktigen Dramentypus entspricht. Die erste dieser aktähnlichen Handlungseinheiten besteht aus vier Auftritten und ergibt die Exposition. Die Szene spielt im 84 Gabriele Brandstetter (wie Anm. 75, analog in der späteren Abhandlung: Inszenierte Katharsis in Kleists Penthesilea, in: Gewagte Experimente und kühne Konstellationen. Kleists Werk zwischen Klassizismus und Romantik, hrsg. von Christine Lubkoll und Günter Oesterle, Würzburg 2001, S. 225–248, bes. S. 237–247) widmet der mit den Aristotelischen Tragödien-Affekten verbundenen Katharsis besondere Aufmerksamkeit und vertritt die These, daß die kathartischen Affekte Jammer und Schauder (phobos und eleos) eine „Überbietung“ im (ebenfalls im Text schon „inszenierten“) „Affekt des Ekels“ finden. Die Empfindung des „Ekels“ aber, der mittels eines ‚dekonstruierten‘ Zitats (S. 111 in der früheren, S. 246 in der späteren Abhandlung) irreführend auf Penthesilea bezogen wird, weist Penthesilea gerade von sich. Die Verse lauten im Zusammenhang (V. 2991– 2999): „Wie Manche, die am Hals des Freundes hängt, / Sagt wohl das Wort: sie lieb’ ihn, o so sehr, / Daß sie vor Liebe gleich ihn essen könnte; / Und hinterher, das Wort beprüft, die Närrin! / Gesättigt sein zum Eckel ist sie schon. [Hier bricht Brandstetter das Zitat ab.] / Nun, du Geliebter, so verfuhr ich nicht. [!] / Sieh her: als ich an deinem Halse hing, / Hab’ ich’s wahrhaftig Wort für Wort getan; / Ich war nicht so verrückt, als es wohl schien“. Mit Penthesileas angeblicher „Überschreitung der Grenze zum Ekel“ (S. 247), der sich nicht auf sie, sondern auf „manche“ andere bezieht und lediglich den Überdruß meint (um es französisch auszudrücken: nicht „la nausée“, sondern „l’ennui“) ist auch der ‚Diskurs‘ hinfällig, der über die Ästhetik des Häßlichen bis zum Ekelhaften der Verwesung in Baudelaires Une charogne in den Fleurs du Mal führt (Inszenierte Katharsis, S. 237–247). In Anlehnung an Brandstetter das Penthesilea-Kapitel bei Bernhard Greiner: Kleists Dramen und Erzählungen. Experimente zum ‚Fall‘ der Kunst, Tübingen und Basel 2000, S. 148–173.
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Lager der Griechen, wobei die noch nicht auftretenden beiden Hauptgestalten, Achill und Penthesilea, aus der Sicht anderer konturiert werden. Mit dem Erscheinen Achills geht diese erste Handlungseinheit in die direkte, offene Handlung über. In streng symmetrischer Entsprechung umfaßt die zweite größere Handlungseinheit ebenfalls vier Auftritte, die im Lager der Amazonen spielen (5.–8. Auftritt). Nun kommt es zu dem kunstvoll hinausgezögerten Auftritt Penthesileas. Demnach sind die ersten beiden größeren Handlungseinheiten einander szenisch entgegengesetzt: hier die Sphäre der Griechen – dort die Sphäre der Amazonen. Zur Begegnung beider Welten führt die dritte aktähnliche Handlungseinheit (9.–14. Auftritt). Die gegenseitige Annäherung der beiden Hauptfiguren gipfelt in der Euphorie Penthesileas sowie in einem Hochzeitslied („Hymen“-Lied), das in der Mitte des Dramas auch einen ersten Höhepunkt markiert. Zum vierten größeren Handlungsblock schließen sich der 15.–20. Auftritt zusammen. Der vierte Akt ist der klassische Ort der Peripetie, in der Tragödie also des Umschwungs zur Katastrophe. Von der Liebesszene zwischen Achill und Penthesilea in dem für das ganze Drama zentralen 15. Auftritt, in dem die äußere Handlung still zu stehen scheint, führt er in einem steilen, gestuften Absturz (16.–18. Auftritt) bis hinab zu Penthesileas furchtbarer Reaktion auf Achills Schein-Herausforderung. Wie die dritte Handlungseinheit, so endet die vierte mit einem Schauspiel wahnhafter Verblendung, aber nun handelt es sich nicht mehr um eine positiv-euphorische, vielmehr um eine negativ-zerstörerische Verblendung. Dem glückverheißenden Hymen-Lied am Ende der dritten Handlungseinheit entspricht am Ende der vierten das Rollen des Donners, der das Unheil ankündigt. Der fünfte und abschließende Handlungsblock (21.–24. Auftritt) bringt die Katastrophe: den Untergang Achills und Penthesileas. So klar die Strukturanalyse den klassischen Typus der fünfaktigen Tragödie erkennen läßt, so ungewöhnlich ist die szenische Eigenart großer Partien. Die Verfolgungsjagden im weiten, offenen Gelände, das Geschehen auf dem Schlachtfeld, die Zerfleischung Achills durch Penthesilea und die Hundemeute – das alles ließ sich nicht direkt auf die Bühne bringen. Gerade daran nahm der Weimarer Theaterdirektor Goethe in seinem Antwortbrief auf die Zusendung des Phöbus-Fragments der Penthesilea Anstoß, nachdem Kleist selbst schon in seinem Begleitbrief festgestellt hatte, sein neues Drama sei „so wenig für die Bühne geschrieben“ wie schon der Zerbrochne Krug.85 „Auch erlauben Sie mir zu sagen“, schrieb Goethe am 1. Februar 1808 an Kleist, „daß es mich immer betrübt und bekümmert, wenn ich junge Männer von Geist und Talent sehe, die auf ein Theater warten, welches da kommen soll. Ein Jude der auf den Messias, ein Christ der aufs neue Jerusalem, und ein Portugiese der auf den 85
Briefe, Nr. 135, S. 407.
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Don Sebastian wartet machen mir kein größeres Misbehagen. Vor jedem Brettergerüste möchte ich dem wahrhaft theatralischen Genie sagen: hic Rhodus, hic salta!“86 Weil Kleist vieles nicht auf das „Brettergerüste“ bringen konnte, griff er in außerordentlichem Maße auf Methoden der indirekten Darstellung zurück, sowohl auf retrospektive Mittel wie den Bericht als auch auf solche Mittel, die zur Darstellung einer auf der Bühne unsichtbaren Simultanhandlung dienen. Das schon von den griechischen Tragikern entwickelte Mittel zur indirekten Darstellung eines gleichzeitigen Geschehens, das sich nicht auf die Bühne bringen läßt, ist die Teichoskopie: die Mauerschau. Ein Sprecher oder eine Gruppe von Sprechern schildert von einem noch in das Bühnenbild zu integrierenden Aussichtspunkt aus, etwa von der Stadtmauer, ein jenseits der Bühne im weiten offenen Gelände vorzustellendes Geschehen, meist eine Schlacht. Offenkundig stellt eine solche Sprechersituation wesentlich höhere Anforderungen als ein nachzeitiger Bericht, und er erfordert auch erheblich mehr spezifisch dramatische Gestaltungsmittel. Um Monotonie zu vermeiden, muß der teichoskopische Sprecher den emotionalen Gehalt des gleichzeitigen Geschehens vermitteln, auch das wechselnde Tempo, die Spannung, die eine sich anbahnende Entwicklung erregt, und die Lösung der Spannung, wenn ein Ereignis, das sich abzeichnete, tatsächlich eintritt, oder wenn eine Gefahr gerade noch abgewendet wurde. Er muß Zeitraffer-Effekte einbauen, dramatisch konzentrieren, indem er Nebensächliches ausspart, gleichzeitig muß er die unsichtbaren Hauptakteure möglichst plastisch darstellen. Kurz, er muß den Zuschauer vergessen machen, daß er das, was ihm da durch einen andern vermittelt wird, gar nicht selbst unmittelbar sehen und hören kann. Zur Dramatisierung solch indirekter Darstellungen – sowohl des retrospektiven Berichts wie der simultanen teichoskopischen Reportage – trägt es auch bei, wenn sie auf verschiedene Sprecher-Rollen verteilt oder durch aufgeregte Fragen anderer, durch Ausrufe der Verwunderung usw. unterbrochen werden. All diese Mittel hat Kleist in seiner Penthesilea angewendet, um die Notwendigkeit indirekter Darstellung zu bewältigen. Das gilt schon für die ersten beiden Szenensequenzen. Die Teichoskopie der Griechen im dritten Auftritt vergegenwärtigt den ersten großen Kampf zwischen Achill und Penthesilea, in dem der verfolgte griechische Held durch eine List siegt; die Teichoskopie der Amazonen im siebten Auftritt spiegelt das zweite Treffen wider, in dem Achill nun durch Kraft die Oberhand behält. Beide Teichoskopien dienen dazu, die Helden ganz als Exponenten ihrer Welt darzustellen; sie von beiden Seiten her, von der griechischen und der amazonischen, in intensives Licht zu tauchen; sie zu der Übergröße emporzuheben, die sie, wenn nicht ebenbürtig, so doch als 86
Briefe, Nr. 138, S. 410.
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Gegner erscheinen läßt, die einander einzig würdig sind. Die beiden ParallelSzenen, die Achill als den sowohl durch List wie durch Kraft Überlegenen zeigen, drängen zu der Konsequenz, daß er, der Listige, nur als scheinbar Unterlegener Penthesilea für sich gewinnen kann. So wird zeichenhaft das ganze weitere Geschehen antizipiert. Schon die erste Kampfszene, in der die heftig verfolgende Penthesilea sich mit ihrem Gespann überschlägt, als Achill zur taktischen List Zuflucht nimmt, deutet auf die Katastrophe voraus, die dadurch zustandekommt, daß Penthesilea nicht die List durchschaut, mit der Achill sie nur zum Schein zum Kampf herausfordert. Sie kann die Scheinhaftigkeit dieser Handlung nicht erkennen und reagiert deshalb chaotisch-exzessiv – ein SichÜberschlagen im weiteren Sinn. Der retrospektive Bericht begegnet vor allem im vorletzten, 23. Auftritt, wo Penthesileas Freundin Meroe von ihrer entsetzlichen Blut-Tat berichtet (V. 2605–2674), und im zentralen 15. Auftritt, wo Penthesilea auf Achills Fragen die Geschichte des Amazonenstaates in einem riesigen, mehrere hundert Verse umfassenden Bericht erzählt. Dramatisch aufgelockert wird er durch neugierige und verwunderte Zwischenfragen Achills und durch einige kurze Dialoge. Im ganzen hat dieser Bericht über die Geschichte und das Wesen des Amazonenstaates keineswegs bloß illustrierende oder gar unterhaltende Bedeutung. Er soll Penthesileas Verhalten, ihr Fühlen und Handeln, das in den Anfangsszenen den Griechen insgesamt so rätselhaft erscheinen muß, enträtseln. Dafür bietet die Liebesbegegnung mit Achill im 15. Auftritt den idealen Anlaß. Die Komposition bis hin zu diesem Auftritt ist also kunstvoll angelegt. Nur eine über mehrere Szenen hinweg staunenerregende Penthesilea kann das Interesse hervorrufen, das dann einen so weit ausgreifenden Bericht rechtfertigt und innerlich trägt. Die ersten Szenen-Sequenzen exponieren lediglich die unmittelbare äußere Ausgangslage; darüber hinausgehend entwickelt die zweite, nachgeholte Exposition im 15. Auftritt die grundlegenden geschichtlichen Bedingungen des Geschehens. Erst sie macht den objektiven Grund von Penthesileas Verhalten deutlich. Da dieser objektive Grund geschichtlich weit in die Vergangenheit zurückreicht, kann er nur im retrospektiven Bericht dargestellt werden. Problemgehalt und tragischer Konflikt Manche Interpreten haben die Penthesilea-Tragödie als heterogen kritisiert, weil Kleist zuerst eine bloß subjektive, psychologische Problematik an der Gestalt der Penthesilea entfalte, dann aber in dem großen Bericht von der Geschichte und der Eigenart des Amazonenstaats im 15. Auftritt eine ganz andere, historische Problematik in den Vordergrund rücke.87 Diese Kritik ist unberech87 So vor allem Friedrich Koch: Heinrich von Kleist. Bewußtsein und Wirklichkeit. Stuttgart 1958, S. 168.
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tigt, weil sie die psychologische Problematik Penthesileas als die eines isolierten Individuums betrachtet. Kleist versteht die subjektive Einstellung, Wertung und Verfassung des Menschen jedoch als historisch determiniert und geprägt. Die Psyche ist für ihn kein apriorischer Strukturzusammenhang, vielmehr Produkt der unter geschichtlichen Bedingungen stehenden Sozialisation. Immer wieder, auch in seinen Erzählungen, zeigt er, wie die Menschen bis in ihre unbewußten Regungen hinein von den Konventionen und Wertungen der Gesellschaft bestimmt werden, in der sie aufgewachsen sind. Da Kleist aber in Übereinstimmung mit Rousseau die Gesellschaft sowie die historisch gewordene Zivilisation insgesamt negativ beurteilt, heißt das auch, daß diejenigen Menschen, die nicht mit ihrer Umwelt konform gehen, also gerade die noch zu ursprünglichen Gefühlen und zu naturhaft genuinen Verhaltensweisen fähigen Menschen, nicht nur mit ihrer Umwelt, sondern auch mit sich selbst in Konflikt geraten. Sie brechen zwar mit den Normen der Gesellschaft, weil sie noch zu natürlichen Gefühlen fähig sind, zugleich aber haben sie die Normen der Gesellschaft schon so weit internalisiert, daß es zum Konflikt zwischen diesen internalisierten Normen und dem naturhaften Gefühl kommen muß. Dieser Konflikt ist umso zerstörerischer und unlösbarer, als die von ihm Gequälten seine objektiven Gründe nicht zu erkennen vermögen. Weil sie die gesellschaftlichen Normen im Zuge des Sozialisationsprozesses internalisiert haben, können sie diese nicht als falsche Normen erkennen und abschütteln, oder sie können erst, wenn es zu spät ist, an ihrer eigenen Lebenskatastrophe begreifen, daß es sich um fragwürdige Normen handelte. Dies ist, in abstrakten Kategorien zusammengefaßt, der Fall Penthesileas. Deutlich wird das schon in den Auftritten 5–8, die zum ersten Mal die Amazonen und Penthesilea selbst auf die Bühne bringen. Sie vergegenwärtigen nicht bloß Penthesileas leidenschaftliche Liebe zu Achill; auch schon ihren Konflikt deuten sie an: Penthesilea verstößt gegen die Normen der Amazonengesellschaft. Gegen den Strich gelesen, handelt es sich bei dieser Inszenierung um die Heroisierung des Außenseitertums, das in Kleists Werk einen zentralen Stellenwert besitzt. In ihrer Liebesleidenschaft unterscheidet sich Penthesilea von den anderen Amazonen, die sich aufgrund ihres Durchschnittsmaßes den Normen leichter fügen können. Der große, naturhaft starke Einzelne, so gibt Kleist zu verstehen, überragt notwendig die Gruppe und sprengt ihre Regeln. Wie wichtig ihm dieser Gesichtspunkt ist, läßt sich aus der exakten Analogie in den ersten vier Auftritten erschließen. Dort erscheint Achill von der Liebesleidenschaft zu Penthesilea so okkupiert, daß er aus seiner Gruppe, aus der Gesellschaft der Griechen, ihren Wertungen und Erfordernissen ausbricht. Bezeichnenderweise vermag er für die anderen Griechen gar kein Verständnis mehr aufzubringen. In dieser Analogie wird aber auch die entscheidende Differenz deutlich. Während Achill leichten Herzens alle gesellschaftlichen Rücksichten
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als nur äußere Rücksichten durchbricht, hat Penthesilea die Normen ihres Amazonenstaates so weit verinnerlicht, daß sie diese nicht einfach abschütteln kann. Vor allem aber sind die von ihr internalisierten Normen einschneidender und naturwidriger als die, denen Achill in seiner Griechengesellschaft mit ihrem vergleichsweise humanen Konformitätsdruck unterliegt. Aus diesen beiden Gründen – weil die Normen der Amazonengesellschaft besonders naturwidrig sind und weil sie diese Normen internalisiert hat – gerät Penthesilea in einen schweren inneren Widerspruch: in einen Konflikt mit sich selbst. Einerseits liebt sie Achill, andererseits ist sie so sehr Amazone, daß sie ihn im Kampf besiegen muß. Diesen Widerspruch artikuliert sie selbst, wenn sie beklagt, daß sie Achill „mit Eisen […] umarmen“ (V. 859) müsse. Den wichtigen neunten Auftritt erfüllt ganz diese Spannung. Immer wieder kommt Penthesilea aus der Stärke ihres Gefühls dem Entschluß nahe, die Gebote ihres Amazonenstaates zu durchbrechen, um den Forderungen ihres Herzens zu folgen. Als besonders repressiv erweist sich die vollständige Instrumentalisierung der einzelnen Amazone durch den Amazonenstaat: Weil nach dem Amazonen-Gesetz die Männer nur zur Erzeugung von Nachwuchs erkämpft werden dürfen und nach der Erfüllung dieses Zweckes weggeschickt werden müssen, kann keine persönliche Liebesbindung entstehen und deshalb von Anfang an auch keine persönliche Liebeswahl stattfinden. Es ist den Amazonen von Staats wegen untersagt, den Kampf um die Männer mit einer individuellen Wahl zu verbinden. Schon gegen dieses Verbot verstößt Penthesilea, da sie von Anfang an und ausschließlich Achill gewinnen will. Im Widerspruch zum Gesetz des Amazonenstaats trifft sie eine persönliche Liebeswahl. Allerdings rückt Kleist diese Liebeswahl in eine historische Perspektive, indem er sie im Verhalten der vorausgehenden Generation vorbereitet sein läßt: Die Mutter Otrere schon bestimmte Penthesilea dem Achill. Daß sie damit bereits gegen das Amazonengesetz verstieß, kommt deutlich zum Ausdruck (V. 2141 ff.). Otrere hat durch ihre vorausgreifende Bestimmung bereits in die Richtung gewiesen, in die Penthesilea entschieden geht, wenn sie das volle, individuelle Recht des Herzens in Anspruch nimmt. Insofern kündigt sich in Otreres Verhalten schon die künftige Entwicklung an. Kleist verleiht dem Durchbrechen des Amazonengesetzes eine geschichtliche Logik, die auf seine eigene Zeit hindeutet: auf die Befreiung des Individuums zum Recht auf sein persönliches Gefühl. Seit dem 18. Jahrhundert wurde insbesondere die in älterer Zeit übliche, bloß von überindividuellen Maßgaben bestimmte Eheschließung immer mehr durch eine individuelle Liebeswahl abgelöst. Penthesilea geht einen Weg existentieller Erfahrung, der aus dem Unbewußten und Halbbewußten zum Bewußtsein führt. Zunächst ist ihr der widernatürliche Zustand nicht bewußt, da sie die amazonischen Lebensgesetze internalisiert hat. Zwar faßt sie das Widernatürliche immer wieder in Worte, so wenn
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sie sagt, daß sie den Geliebten „mit Eisen umarmen muß“ (V. 859), oder wenn sie ausruft (V. 1187 f.): „Ists meine Schuld, daß ich im Feld der Schlacht / Um sein Gefühl mich kämpfend muß bewerben?“ Aber trotz des schmerzhaft empfundenen Widerspruchs zur eigenen, in der Liebe erwachenden Gefühlswelt vermag sie sich aus ihrer gesellschaftlich geprägten widernatürlichen Daseinsform noch nicht zu lösen.88 Langsam erreicht der Konflikt die Grenze der bewußten Entscheidung, aber Penthesilea drängt diese Entscheidung wie das Bewußtsein selbst noch einmal zurück. In den wichtigen Versen 1199–1201 sagt sie mit „erzwungener Fassung“ (Regie-Anweisung): „Warum auch wie ein Kind gleich, / Weil sich ein flüchtger Wunsch mir nicht gewährt, / Mit meinen Göttern brechen?“ Ihre „Götter“, von denen sie hier spricht, sind die ideologisierten, absolutgesetzten Normen des Amazonenstaats. Erst am Ende, für sie zu spät, vermag sie sich von ihnen zu emanzipieren. Penthesileas Sakralisierung des Amazonengesetzes Der 15. Auftritt enthält die zentrale Szene des ganzen Dramas. Indem Penthesilea während der Liebesbegegnung mit Achill die Verfassung und die Geschichte des Amazonenstaats schildert, exponiert sie, ohne dies allerdings selbst schon zu erkennen, die objektive Naturwidrigkeit dieses Staates und seiner Normen. Ihren stärksten Ausdruck findet diese Naturwidrigkeit darin, daß sich die Amazonen die linke Brust abreißen müssen, um den Bogen spannen zu können. Die Selbstverstümmelung ist indes nur das krasseste Zeichen der Denaturierung, zu der auch die bereits erwähnte strikte Instrumentalisierung des Menschen zu staatlichen Zwecken gehört, sowie das Gesetz, daß die Amazonen keine individuelle Liebeswahl treffen dürfen. So ist es nur folgerichtig, daß Achill auf Penthesileas Erzählung von der Verfassung des Amazonenstaates antwortet (V. 1902 f.): „Und woher quillt, von wannen ein Gesetz, / Unweiblich, du vergibst mir, unnatürlich […]?“ 88 Die modische Reduktion der Penthesilea zum „Körperdrama“ nimmt dem Werk seine historische Tiefenschärfe und auch seine psychologische Dynamik. Zwar führt Kleist die Entfesselung der Sinne und des weiblichen Begehrens vor, aber das Chaotische der Triebentfesselung ist zwanghaft, es resultiert aus der zivilisatorischen Selbstinstrumentalisierung, die der Amazonenstaat in äußerster Härte repräsentiert. Dementsprechend ist die Übergewalt der Sinne und der Affekte nicht naturhaft, sondern als Extremreaktion eine katastrophenträchtige Folge der Denaturierung. Aus einer Mélange von „Berührungslust“, „weiblichem Begehren“ und „Männerphantasien“ wäre keine monumentale Tragödie entstanden, sondern nur eine „Lektüre der Sinne“ auf Unterhaltungsniveau. Trotz eingestreuter tieferdringender Einsichten folgt dieser Tendenz Maximilian Nutz in seiner Abhandlung: Lektüre der Sinne. Kleists Penthesilea als Körperdrama, in: Heinrich von Kleist. Studien zu Werk und Wirkung, hrsg. von Dirk Grathoff, Opladen 1988, S. 163–185.
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Diese Frage eröffnet nicht bloß mit dem Wort „unnatürlich“ die tiefere Problemdimension des Geschehens. Bisher hat Penthesilea nur von der Bedeutung des Amazonengesetzes für die Gegenwart gesprochen. Wenn nun Achill fragt, „woher“ und „von wannen“ dieses Gesetz komme, dann stellt er die Frage nach der geschichtlichen Herkunft des Amazonengesetzes. Es ist von entscheidender Bedeutung, daß Penthesilea auf Achills Frage nicht lediglich mit einer historischen Erläuterung des gegenwärtig Gültigen antwortet. Vielmehr enthistorisiert sie das unter historischen Bedingungen entstandene Amazonengesetz fälschlicherweise und erhebt es damit in den Rang einer unbedingten, überzeitlich gültigen Norm.89 Ihre Antwort auf Achills Frage nach dem geschichtlichen „Woher“ lautet (V. 1905ff.): Fern aus der Urne alles Heiligen, O Jüngling: von der Zeiten Gipfeln nieder, Den unbetretnen, die der Himmel ewig In Wolkenduft geheimnisvoll verhüllt. Der ersten Mütter Wort entschied es also, Und dem verstummen wir, Neridensohn, Wie deiner ersten Väter Worten du.
Diese Schlüsselstelle des Dramas zeigt, daß Penthesileas Bewußtsein ganz von der Autorität einer absolutgesetzten Tradition bestimmt ist. Nach dem Eindruck der objektiven Naturwidrigkeit des Amazonenstaates vermittelt demnach der 15. Auftritt auch den Einblick in die Befangenheit von Penthesileas Bewußtsein, die es ihr nicht erlaubt, das Amazonengesetz als ein geschichtlich gewordenes zu hinterfragen und damit zu kritisieren. Nicht zu verwechseln ist diese nur scheinbar subjektive Befangenheit mit einer individuellen, persönlich bedingten, denn sie entspricht dem allgemein befangenen Bewußtsein. Die Szene zeigt, daß die Menschen ihre Traditionen und Konventionen oft nur deshalb für gültige Werte halten, weil sie alt sind. An diesem Vorurteil setzte die Aufklärung mit ihrer Kritik an: gerade die Enthistorisierung des historisch Erklärbaren erwies sie als fragwürdig. Aus Penthesileas Worten läßt sich exakt ablesen, wie es zu dieser Enthistorisierung kommt: durch Sakralisierung. Wenn Penthesilea das Gesetz des Amazonenstaates für „heilig“ erklärt, weil es alt, ja uralt ist, sakralisiert sie es und entzieht es damit jeder Kritik. „Fern aus der Urne alles Heiligen“ sieht sie das Gesetz kommen, und weiter ist noch vom „Himmel“ die Rede. Daß aber weder das „Heilige“ noch der „Himmel“ im Spiele sind, geht aus ihrer Feststellung hervor: „Der ersten Mütter Wort entschied es also“. Damit gibt sie, ohne selbst diese Unzulänglichkeit reflektieren zu können, die falsche Absolutsetzung und Sakralisierung von Relativem, weil 89 Im Folgenden greife ich zurück auf die Interpretation in meinem Buch: Heinrich von Kleist. Studien zu seiner poetischen Verfahrensweise, Tübingen 1974 (S. 39–41).
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Historischem zu erkennen. Es handelt sich um pseudoreligiöse Tabuisierungen, mit denen Kleist Penthesileas Bewußtsein als in einem kollektiven Wahn befangen charakterisiert. Von diesem Wahn muß sich die Heldin in einem schmerzlichen Erfahrungsprozeß erst noch befreien. Am Ende zieht sie dann die radikale Konsequenz: die vermeintliche „Urne alles Heiligen“ gibt sie als in Wahrheit unheilige und unheilvolle Reliquie einer verfehlten Ordnung preis. Diese bisher von ihr irrtümlich für heilig gehaltene „Urne alles Heiligen“ ist die Urne mit der Asche der Begründerin des Amazonenstaates Tanaïs. Wenn Penthesilea am Ende den anderen Amazonen zuruft: „Der Tanaïs Asche, streut sie in die Luft!“ (V. 3009), dann will sie das einst – auch von ihr selbst – für heilig und verbindlich Gehaltene nicht mehr geachtet wissen. Es ist „Asche“ im übertragenen Sinn des Wortes, der von Anfang an mitschwingt. In der Konsequenz dieses Ausrufs liegt es, daß sie dann wenige Verse später (V. 3012) verkündet: „Ich sage vom Gesetz der Fraun mich los“. Durch tragische Erfahrung erkennt sie nun, wenn auch zu spät, den Unwert des bisher vermeintlich höchsten Werts. Im 15. Auftritt aber ist sie noch autoritäts- und traditionsgläubig; deshalb übernimmt sie die sakralisierende Absolutsetzung des historisch Überlieferten, statt es als das bloß Zeitbedingte und Relative zu hinterfragen. Indem Kleist die falsche Autorität der Tradition, insbesondere die Mechanismen freilegt, die zu dieser Autoritätsbildung führten, indem er ferner darstellt, wie sehr selbst starke Individuen einem entsprechend befangenen Bewußtsein ausgeliefert sind, zeigt er sich der Aufklärung verpflichtet. Denn eine der Hauptmethoden der Aufklärung war die kritische historische Hinterfragung von scheinbar überhistorisch Gültigem. Das Tragische des Geschehens entspricht aber einem antiken Tragödienmuster. Daß Penthesilea durch leidvolle Erfahrung zur Erkenntnis gelangt, erinnert an das tragische Konzept des Aischylos: „durch Leiden zur Erkenntnis“ (páthei máthos), das Sophokles zum tragischen Prozeß einer Erkenntnis gestaltete, welche die tragische Hauptfigur selbst zu spät erreicht. Ganz im Gegensatz allerdings zur religiös perspektivierten Tragödie des Aischylos und Sophokles machte Kleist seine Penthesilea zu einem Musterstück der von ihm auch in anderen Werken geübten aufklärerischen Religionskritik. Wenn aus einem befangenen Bewußtsein heraus Menschliches, ja sehr fragwürdig Menschliches wie das Amazonengesetz, zu Heiligem erhoben wird, dann zeigt dies auch die Fragwürdigkeit religiöser Vorstellungen überhaupt. Im Zusammenhang der aufklärerischen Religionskritik kommt einer Nebengestalt des Dramas besondere Bedeutung zu: der Oberpriesterin der Diana. Sie trägt keinen individuellen Namen, weil sie nur Funktionsträgerin ist. Als solche wacht sie über die Einhaltung des unmenschlichen, weil widernatürlichen Amazonengesetzes. Ferner beurteilt sie das Geschehen immer wieder vom Standpunkt des Wertesystems aus, das sich in der Amazonengesellschaft eta-
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bliert hat. Indem Kleist sie ausdrücklich als „Oberpriesterin“ bezeichnet, spielt er auf die Rolle der Kirche in der Gesellschaft an, und indem er die Oberpriesterin an mehreren Stellen als völlig verständnislos für Penthesileas Gefühle und Handlungsweise darstellt, zielt er auf die in der Sphäre von Religion und Kirche habituell gewordene Lebensferne. Am Ende steigert er die Tragödie Penthesileas zu einer furchtbaren Anklage gegen die in der Oberpriesterin gestaltgewordene Macht von Religion und Kirche. Denn nach dem blutigen Exzeß, in dem sie den Achill zerrissen hat, befiehlt Penthesilea, die Leiche der „Dianapriesterin“ zu Füßen zu legen. Damit weist sie, die doch selbst in ihrem Wahnsinn den Achill zerrissen hat, die Verantwortung für diese Tat letztlich der „Dianapriesterin“ und dem von ihr repräsentierten amazonischen Wertesystem zu. Daß es Kleist auf diese Zuweisung der letzten Verantwortung an die Oberpriesterin und damit an die kirchlich-religiöse Instanz besonders ankam, verrät ein dramaturgischer Kunstgriff. Um den Leser auf die besondere Bedeutung von Penthesileas Befehl aufmerksam zu machen, läßt er diesen Befehl durch eine andere Amazone wiederholen, ja sogar weitere Amazonen nach dem Sinn dieses Befehls fragen (V. 2724–2727): Die Erste [Amazone]: Den Peleïden sollte man, das wars, Vor der Diana-Priestrin Füßen legen. Die Dritte [Amazone]: Warum just vor der Diana-Priestrin Füßen? Die Vierte [Amazone]: Was meint sie auch damit?
Penthesilea weist die letzte moralische Verantwortung für die von ihr selbst physisch begangene Bluttat der Oberpriesterin zu, weil diese die ideologische und zugleich institutionelle Vertreterin der widernatürlichen Amazonen-Ordnung und des entsprechenden Wertesystems ist, als dessen Opfer sich Penthesilea begreift. Als Opfer insofern, als ihr nun durch ihre und Achills Katastrophe deutlich wird, daß die Internalisierung der falschen Normen sie in das Fehlverhalten getrieben hat, das zu diesem schlimmen Ende führen mußte. Kleist läßt die Oberpriesterin nicht etwa als zynische Dogmatikerin oder bloß als Vertreterin von religiös verbrämten Machtinteressen erscheinen. Vielmehr gibt er zu verstehen, daß sie unreflektiert in der Sphäre lebt, die sie vertritt. Deshalb bleiben ihr die tieferen Ursachen des blutigen Geschehens verborgen. Schon bevor Penthesilea befiehlt, Achills Leiche der Oberpriesterin zu Füßen zu legen, läßt Kleist sie „mit Entsetzen“ ausrufen (V. 2711f.): Diana ruf ich an: Ich bin an dieser Greueltat nicht schuldig!
Als Göttin des Amazonenstaats ist Diana sakrale Letztinstanz des amazonischen Lebensgesetzes sowie der sich daraus ergebenden Gesellschaftsordnung und Religion. Indem die Oberpriesterin zur Beteuerung ihrer Unschuld an dem Geschehen gerade Diana als höchste Repräsentantin der Amazonen-Ord-
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nung anruft, bringt sie zum Ausdruck, wie wenig sie die wahren Zusammenhänge begreift. Subjektiv ist die Oberpriesterin tatsächlich unschuldig, weil sie das von ihr vertretene religiöse und gesellschaftliche Wertesystem selbst nicht als falsch zu durchschauen vermag. Sie isoliert die zerstörerischen Konsequenzen, wenn sie diese moralisch verurteilt, statt nach den Ursachen zu fragen. Als stärkste Waffe moralischer Verurteilung ist der Fluch, den sie über Penthesileas Bluttat ausspricht, letztlich ein Symptom von Erkenntnisverdrängung. Das zeigen die Worte, mit denen sie den Fluch über Penthesilea abschließt. Sie verraten tiefe Beunruhigung (V. 2722): „Du blickst die Ruhe meines Lebens tot“. Für Kleist war der Part der Oberpriesterin so wichtig, daß er sie am Schluß des Stückes noch einmal auftreten ließ. Dort wertet sie rückblickend das gesamte Geschehen aus ihrer Perspektive (V. 3037–3039): Ach! Wie gebrechlich ist der Mensch, ihr Götter! Wie stolz, die hier geknickt liegt, noch vor Kurzem, Hoch auf des Lebens Gipfeln, rauschte sie!
Kleist nimmt hier den Schlußchor des Sophokleischen König Ödipus auf, der die Gebrechlichkeit und Nichtigkeit der Sterblichen thematisiert, – aber nur, um eine Gegenposition zu formulieren. Penthesileas Freundin Prothoe weist diese priesterlich-religiöse Deutung des Geschehens zurück, und Kleist verleiht der Zurückweisung höchste Emphase, indem er sie zum Schlußwort macht (V. 3040–3044): Sie sank, weil sie zu stolz und kräftig blühte! Die abgestorbne Eiche steht im Sturm, Doch die gesunde stürzt er schmetternd nieder, Weil er in ihre Krone greifen kann.
Während die Oberpriesterin um ihrer Theologie willen – nicht umsonst ruft sie die „Götter“ an – den tragischen Sturz Penthesileas als Zeichen menschlicher Gebrechlichkeit wertet, ist er für Prothoe ein Beweis besonderer Stärke. Sie stellt fest, daß gerade das Gebrechliche und Schwache – die „abgestorbne Eiche“ – ohne tragische Katastrophe bleiben muß. Die Formulierung, daß Penthesilea „zu stolz und kräftig blühte“, entspricht nicht, wie man meinen könnte, der antiken Vorstellung von der Hybris und einer dadurch heraufbeschworenen Rache der Götter. Penthesilea ist nicht übermütig, sondern „gesund“ gewesen, wie Prothoe alsbald betont. Als gesunde Natur, die sich nicht so leicht wie die anderen dem widernatürlichen Zustand anpassen konnte, war sie „zu stolz und kräftig“ in der verdorbenen gesellschaftlichen Ordnung. Daraus ist ihre Katastrophe erwachsen. Die Oberpriesterin erhebt Penthesileas Untergang zum Paradigma menschlicher Gebrechlichkeit, um diese an sich zutreffende Feststellung sofort priesterlich zu instrumentalisieren. Wie ihr Anruf an die Götter zeigt, imaginiert sie
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kontrastiv zur realen und gebrechlichen Menschenwelt eine ideale und vollkommene Welt des Göttlichen. Penthesileas Freundin Prothoe – und durch ihren Mund Kleist – stellt dieser priesterlich auf das Jenseits ausgerichteten Deutung ihre innerweltliche Deutung entgegen. Sie führt das tragische Geschehen darauf zurück, daß der Mensch in einer Welt der geschichtlich bedingten widernatürlichen Deformation lebt, und daß er, gerade wenn er noch naturhafte Energien besitzt, daran zerbrechen muß. Der Ausnahme-Mensch vermag sich den herrschenden widernatürlichen Normen nicht anzupassen. Kleists Definition des tragischen Heldentums Prothoes Schlußwort enthält eine eindrucksvolle Bestimmung des tragischen Helden, der in einen Widerspruch zur Welt gerät, weil er noch die elementare Substanz ursprünglicher Natur bewahrt hat. Das macht nicht nur seine Tragik aus, sondern auch seine Individualität. Mit großer Kunst gestaltet Kleist seine Penthesilea zur unverwechselbaren Individualität aus, während alle anderen Figuren des Stücks bloß typenhaft bleiben. Sie sollen so angepaßt und typenhaft erscheinen, damit sich Penthesilea um so mehr von ihnen abhebt. Aus der Gesamtinterpretation des Stücks geht aber auch hervor, daß die Bestimmung des tragischen Heldentums in Prothoes Schlußworten nicht auf eine einfache äußerliche Opposition von unnatürlich gewordener Gesellschaft und starkem, unentfremdetem Individuum hinausläuft. Es zeigte sich ja, daß dieser Gegensatz auch im Innern der Penthesilea besteht, weil sie nicht bloß starke Natur ist, sondern zugleich auch die widernatürlichen Normen der Gesellschaft durch ihren Sozialisationsprozeß unbewußt verinnerlicht hat. An diesem inneren Widerspruch zwischen ursprünglich eigener naturhafter Grundtendenz und sekundär angeeigneter Widernatur, die als solche zulange unerkannt bleibt, muß sie tragisch zerbrechen. Es ist aufschlußreich, diese Form tragischen Heldentums mit anderen Formen zu kontrastieren und auf ihre psychologischen und ideologischen Grundlagen hin zu befragen. Oft sind Helden in der Geschichte wie in der konventionellen Literatur Identifikationsfiguren. Sie verkörpern in ungewöhnlicher Weise die kollektiven Werte der Gesellschaft und werden deshalb zu Helden erhoben. Die Gesellschaft will sich in ihnen wiedererkennen und bestätigt finden, allerdings in einer über das Normalmaß hinausreichenden Intensität. Umgekehrt entwirft Kleist ein Heldentum, das dem Leiden an den allgemeingültigen Normen entspringt und seinen Gipfel dort erreicht, wo es zur klaren Absage an das etablierte Wertesystem führt. „Ich sage vom Gesetz der Fraun mich los“ (V. 3012), verkündet am Ende Penthesilea. Diese Auseinandersetzung mit den gesellschaftlich etablierten Normen strukturiert Kleists gesamtes Werk. Seine Dramen und Erzählungen sind von Außenseitern, Paria-Figuren, Rebellen, Verstoßenen und Geächteten bevölkert, die entweder bewußt oder unbewußt
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gegen die Gesetze verstoßen und sich damit selbst aus der Gesellschaft ausschließen oder aber von der Gesellschaft wegen ihres Normenbruchs ausgegrenzt und verfolgt werden. Vor dem Michael Kohlhaas ist Penthesilea indes das einzige Beispiel einer Stilisierung des Normenbruchs ins Heroische. Und nur in der Penthesilea erhält diese Stilisierung ein besonderes Pathos. Aus drei Gründen: Erstens befördert der mythische Stoff die archetypische Monumentalität des Heroischen, wobei diese Monumentalität noch zusätzlich durch die Konfrontation Penthesileas mit Achill, dem Sagenhelden schlechthin, profiliert wird; zweitens hat Kleist hier den Widerspruch zwischen gesellschaftlich geltender Norm und zum Normenbruch drängender menschlicher Natur aufs äußerste verschärft, indem er gerade die Königin des Amazonenstaats, also diejenige, die in besonderer Weise berufen ist, den Gesetzen ihres Staates Geltung zu verschaffen, gegen diese Gesetze verstoßen läßt; und drittens trägt die hohe Sprache der Tragödie, die Kleist sehr bewußt durch kühne Metaphern ausformt, zur Stilisierung ins Monumental-Heroische bei. Zur besonderen Art des Heldentums in der Penthesilea gehört schließlich ein Merkmal der Hauptgestalt, das Kleist immer wieder betont: ihr Übermaß. Da er die griechische Tragödie intensiv studierte und aus ihr wesentliche Strukturelemente übernahm, liegt es nahe, daß er auch diese Vorstellung adaptierte. Denn alle großen Heldinnen und Helden der griechischen Tragödie, von Prometheus bis zu Ödipus und Herakles, von Antigone bis zu Medea, sind durch ein heroisches Übermaß ausgezeichnet, aber auch geschlagen. Wie schon in mehreren griechischen Tragödien ist das Übermaß der Penthesilea psychologisch dimensioniert. Es resultiert aus der widernatürlichen Vergewaltigung und Zurückstauung des Gefühls, das schließlich alle Dämme durchbricht. Bezeichnenderweise ist einmal vom „Donnersturz“ der Seele die Rede (V. 637). Es handelt sich um ein exzentrisches Geschehensmuster: Die Verletzung des humannatürlichen Maßes durch das Amazonengesetz führt per reactionem zu Penthesileas Verletzung des Maßes. Und nicht zuletzt dieses Gefühlsübermaß macht sie tragisch blind und treibt sie in zerstörerische Exzesse. Allerdings konstruiert Kleist auch das Bedingungsgefüge, in dem sich die höchste Intensität der Leidenschaft erst zu bilden vermag. Von Anfang an verwendet er Elementar-Metaphern.90 Es kam ihm nicht zuletzt auf das „Wesen der Leidenschaft selbst“ an, wie Max Kommerell in einer treffenden Formulierung bemerkt hat.91 Nur die ins Mythische gesteigerte Ausnahme-Konstellation eines archaischen Helden90 V. 35: „Sturmwind“; V. 120: „Mit eines Waldstroms wütendem Erguß“; V. 249: „Wassersturz“; V. 496: „Gewitterstürm“. 91 Max Kommerell: Die Sprache und das Unaussprechliche. Eine Betrachtung über Heinrich von Kleist, in: Ders.: Geist und Buchstabe der Dichtung, 5. Aufl., Frankfurt a.M. 1962, S. 243–317, hier S. 269.
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paares, noch dazu in einer Ausnahme-Situation, erlaubte es, die Leidenschaft bis an die äußersten Grenzen zu treiben – in die Paroxysmen des Geschlechterkampfs und eines ins Chaotische umschlagenden Eros. Der radikale Tabubruch, der sich dabei ereignet, ist die Kehrseite einer als erstickend empfundenen Sozialdisziplin, es ist aber doch auch der Psychologe Kleist, der sich die Gelegenheit erobert, das Reich der Affekte und insbesondere der Sexualität zu inszenieren. Das ganze Stück ist von einer intensiven Affekt-Dramaturgie gesteuert92, und wenn am Ende Penthesilea als tödliche Waffe gegen sich selbst „ein vernichtendes Gefühl“ (V. 3027) wendet93, so ist dies die Demonstration der schlechthin existenzbestimmenden – und daher auch zur Aufhebung der Existenz – fähigen Macht des „Gefühls“ in diesem Gemälde der Leidenschaft, das Kleist mit den grellsten und den düstersten Farben ausgemalt hat. Penthesilea als Liebestragödie Kleist hat seine Penthesilea-Tragödie auch als eine tragische Liebesgeschichte konzipiert. Nach ihrer Liebesbegegnung im 15. Auftritt stehen Achill und Penthesilea vor der Entscheidung, wer von ihnen dem anderen in dessen Heimat folgen soll. Es stellt sich die Frage, ob einer von den beiden aus Liebe zum andern den eigenen Herkunftsbereich aufzugeben vermag. Penthesilea, die fälschlicherweise glaubt, sie habe Achill im Kampf besiegt, möchte Achill in ihre Heimat Themiscyra mitnehmen, Achill dagegen, in dessen Gefangenschaft sich Penthesilea in Wahrheit befindet, will sie in seine Heimat Phtya fortführen (V. 2234f.): Doch nicht nach Themiscyra folg ich dir, Vielmehr du, nach der blühenden Phtya, mir.
Obwohl sich Penthesilea und Achill ihre Liebe gegenseitig gestanden haben, kann zunächst weder sie noch er die Fixierung auf das Eigene überwinden. Kleist gestaltet nun ein psychologisches Drama im kleinen, indem er vorführt, wie beide erst langsam die Bereitschaft dazu entwickeln. Er faßt die vollkom92
Hierzu aufschlußreich Ulrich Port: „In unbegriffner Leidenschaft empört“? Zur Diskursivierung der (tragischen) Affekte in Kleists Penthesilea, in: KJb 2002, S. 94–108. 93 Gabriele Brandstetter (Das Wort des Greuelrätsels, wie Anm. 75) versucht ihr dekonstruktivistisches Konzept für Kleists Tragödie am Ende mit deutlichen Verweisen auf Derrida abzuschließen, indem sie die Verse 3025–34 zur „Performanz des Sprechakts als Todesakts“ erklärt und von der Aufhebung der „Differenz von ‚eigentlicher‘ und ‚uneigentlicher‘ Rede“ spricht (S. 112 f.). Gerade die Differenz jedoch tritt hier in exzeptioneller Weise hervor, denn es ist nicht der Redeakt, mit dem sie sich tötet, sondern – wie aus dem Wortlaut klar hervorgeht – „ein vernichtendes Gefühl“, dessen Wirkung sie extrem metaphorisch in Rede überträgt. Nicht mit ihrem Wort tötet sie sich, sondern mit ihrem Gefühl, dessen Unaussprechliches sie in Sprache zu fassen unternimmt und dabei umso stärker hervortreibt.
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mene Liebe als eine Kraft auf, die den Menschen befähigt, alles Eigene, vor allem die Bindung an den Herkunftsbereich und damit auch an die durch die soziale Prägung entstandene Daseinsform und Daseinswertung zu suspendieren. Die Festlegung auf das letztlich gesellschaftlich bedingte Eigene zeigt sich vor allem in dem früheren Bestreben sowohl Penthesileas wie Achills, den jeweils anderen im Kampfe zu besiegen. Insofern ist also dieses in der Penthesilea-Tragödie auffallende Motiv des Kampfes und des Sieges über den andern als Metapher für den Wunsch nach der Dominanz des eigenen Ichs über den andern zu verstehen. Nach der Liebesaussprache im 15. Auftritt ist diese extreme Form nicht mehr aktuell. Aber indem nun doch noch beide versuchen, den anderen in die jeweils eigene Heimat mitzuziehen, wird deutlich, wie schwierig es ist, das Eigene aufzugeben. Kleist war dieser Gedanke so wichtig, daß er die beiden kurzen Auftritte 17 und 18 ganz auf ihn konzentrierte. Im 17. Auftritt schon wird der Dialog zu einem verbalen Fortzerren in die jeweils eigene Sphäre (V. 2280–2292): PENTHESILEA O Neridensohn! Du willst mir nicht nach Themiscyra folgen? Du willst mir nicht zu jenem Tempel folgen, Der aus den fernen Eichenwipfeln ragt? Komm her, ich sagte dir noch Alles nicht – ACHILLES, nun völlig gerüstet, tritt vor sie und reicht ihr die Hand. Nach Phtya, Kön’gin. PENTHESILEA O! – Nach Themiscyra! O! Freund! Nach Themiscyra, sag ich dir, Wo Dianas Tempel aus den Eichen ragt! Und wenn der Sel’gen Sitz in Phtya wäre, Doch, doch, o Freund! nach Themiscyra noch, Wo Dianas Tempel aus den Wipfeln ragt! ACHILLES indem er sie aufhebt: So mußt du mir vergeben, Teuerste; Ich bau dir solchen Tempel bei mir auf.
Der 18. Auftritt bringt eine pantomimische Steigerung dieses Konflikts. Von Achill heißt es in der Regie-Anweisung (nach V. 2294): „Er will die Königin mit sich fortziehen“, von Penthesilea: „ihn nach sich ziehend“. Und noch ein letztes Mal versucht sie es, mit den Worten (V. 2295): „Du folgst mir nicht? Folgst nicht?“ Nun aber führt Kleist dieses Seelendrama der Liebe in entscheidender Weise weiter. Beide, Achill und Penthesilea, überwinden schließlich ihre Fixierung auf das Eigene. Erst dadurch erweisen sie sich als wahrhaft Liebende. Im 19. Auftritt verflucht die inzwischen vom Amazonenheer aus griechischer Gefangenschaft befreite Penthesilea ihre Befreiung und wünscht sich in griechi-
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sche, also in Achills Gefangenschaft zurück. Damit tut sie innerlich den Schritt, der ihr kurz zuvor noch unmöglich schien. Ebenso wandelt sich Achill, der zuerst nur auf Erjagen und Besiegen der geliebten Beute ausging. Im 21. Auftritt beschließt er, sich selbst besiegen zu lassen. Hätten sich Penthesilea oder Achill zu dieser Aufgabe des Eigenen früher entschließen können, dann hätte das Geschehen zu einem glücklichen Ende geführt. Weil der Entschluß zu spät erst möglich wird, muß es tragisch enden. Doch erscheint dieses ‚Zu spät‘ als kein bloß äußerliches. Ausschlaggebend für die tragische Verspätung ist vielmehr die Zeit, die der seelische Prozeß bis zum Stadium der selbstlosen Liebe notwendig braucht – bis das Ich mit all seinen Ansprüchen sich selbst aufzugeben vermag, um dem anderen zu gehören. Aber daß es eben doch noch zu einer inneren Lösung vom Eigenen kommt, zeigt auch, daß die beiden letztlich zur bedingungslosen Liebe finden. Über die Reduktionen zum Geschlechterkampf oder zum „Körperdrama“ hinaus reicht Kleists Penthesilea nicht nur in ihrer gesellschafts- und ideologiekritischen Dimension, sondern auch als Liebestragödie.
5. Robert Guiskard Entstehung Wie die Penthesilea sollte das Guiskard-Drama eine Tragödie werden. Es blieb Fragment, vorsichtiger ausgedrückt: nur das in den Jahren 1807/1808 gedruckte Phöbus-Fragment blieb erhalten. Mehrere Zeugnisse sprechen dafür, daß Kleist wesentlich mehr schrieb. Eine deutliche Verwandtschaft zu der zeitlich benachbarten Penthesilea-Tragödie zeigt der monumentalisierende Stil, vor allem die ins Monumentale gehende Konzeption des Helden selbst. Die Amazonenkönigin ist überragend groß durch die Kraft ihrer Leidenschaft, Guiskard durch seine Willenskraft. Kühne Metaphern charakterisieren beide in ihrer Außerordentlichkeit. Und Kleist wendet in beiden Tragödien auch den gleichen kompositorischen Kunstgriff an, um den Effekt des Monumentalen zu erzielen. Penthesilea selbst erscheint erst im fünften Auftritt, nachdem sie zuvor ausschließlich in den staunenden und die Erwartung zum Höchsten spannenden Berichten der Griechen wie ein Fabelwesen von kaum faßbarer Natur evoziert und Wesenszug um Wesenszug immer mehr vergegenwärtigt wurde. Durch ein ähnlich vom Indirekten zum Direkten fortschreitendes Verfahren vollzieht sich der Aufbau der Guiskard-Gestalt: Erst im zehnten Auftritt zeigt sich der Normannenherzog selbst. Trotz dieser Übereinstimmungen mit der Penthesilea und der bis in eine Fülle von einzelnen sprachlichen Wendungen hinein reichenden Affinität ist das entstehungsgeschichtliche Verhältnis der beiden Dramen kompliziert.
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Denn Kleist konzipierte seinen Guiskard nicht etwa ganz neu nach der Niederschrift der Penthesilea. Die Ursprünge liegen erheblich früher. Schon am 5. Oktober 1803 schrieb Kleist aus Genf an seine Schwester Ulrike, er habe nun „ein Halbtausend hinter einander folgender Tage, die Nächte der meisten mit eingerechnet“94, an der Guiskard-Tragödie gearbeitet. Es besteht kein Grund, diese Angabe zu bezweifeln. Folglich wären die Anfänge des Guiskard in das Frühjahr 1802 zu datieren, in die zeitliche Nachbarschaft der Familie Schroffenstein und in die Zeit vor der Arbeit am Zerbrochnen Krug, mit dem das Guiskard-Fragment die intensive Rezeption des sophokleischen Ödipus gemeinsam hat. Nach seinem eigenen brieflichen Zeugnis verbrannte Kleist das in den Jahren 1802/1803 Niedergeschriebene, weil er damit unzufrieden war. Und er empfand dieses Scheitern als eine persönliche Katastrophe. Wenn die spätere Niederschrift des Guiskard-Fragments aus den Jahren 1807/1808 dem entspräche, was Kleist im Oktober 1803 in Paris verbrannte, dann hätte er die Penthesilea, die im monumentalisierenden Stil wie im monumentalisierenden Aufbau dem erhaltenen Guiskard-Fragment erstaunlich gleicht, nach dem Modell des vier Jahre zuvor vernichteten Guiskard-Fragments geformt und nach Vollendung der Penthesilea das alte Guiskard-Modell ein zweites Mal zu Papier gebracht. Daß dies in wesentlicher Hinsicht zutrifft, läßt eine Äußerung Wielands vermuten. Zu Anfang des Jahres 1803 hatte Kleist einige Zeit auf Wielands Gut Oßmannstedt in der Nähe von Weimar verbracht und dabei seinem Gastgeber Teile des Guiskard vorgetragen. Wieland schreibt darüber Folgendes: „Wenn die Geister des Äschylus, Sophokles und Shakespear sich vereinigten eine Tragödie zu schaffen, so würde das sein was Kleists Tod Guiscards des Normanns, sofern das Ganze demjenigen entspräche, was er mich damals hören ließ“.95 Der Hinweis auf Äschylus gilt dem monumentalen Stil des Guiskard, derjenige auf Sophokles der Übernahme des Pestmotivs aus dem sophokleischen König Ödipus; mit dem Hinweis auf Shakespeare schließlich dürfte Wieland, der die erste deutsche Shakespeare-Übersetzung geschaffen hatte und also ein Kenner ersten Ranges war, die Problematik des Usurpators gemeint haben. Shakespeare verlieh ihr in seinem Werk zentrale Bedeutung, indem er das Renaissance-Problem des sich aus allen traditionellen Ordnungen lösenden Individuums reflektierte, das sich selbst für autonom erklärt und entsprechend handelt. So setzt sich auch Kleists Guiskard als neuer Herrscher über die alte dynastische Ordnung hinweg, indem er sich auf seine individuelle Ausnahmefähigkeit beruft: auf sein Charisma. Unter diesem Aspekt also trifft Wielands Charakterisierung Kleists Guiskard recht gut. Dennoch ist die Annahme problematisch, Kleist habe 1807 den Guiskard exakt in der Form von 1803 94 95
Briefe, Nr. 80, S. 320. Lebensspuren, Nr. 89.
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niedergeschrieben, auf die sich Wielands Äußerung bezieht. Fest steht nur, daß wesentliche Züge der ursprünglichen, in Paris verbrannten Fassung von 1803, wie sie sich in Wielands Charakterisierung spiegeln, bewahrt blieben und daß sich Kleist bei der Ausarbeitung der Penthesilea von mancher Erinnerung an die vernichtete Guiskard-Niederschrift leiten ließ, wie dann auch umgekehrt die eben gelungene Tragödie, die Penthesilea, auf die alsbald folgende Niederschrift des Guiskard-Fragments ausgestrahlt haben dürfte. Im ganzen ergibt sich folgendes Bild der Entstehungsgeschichte: Kleist schreibt vom Frühjahr 1802 bis Herbst 1803 am Guiskard und versucht damit seine erste große Tragödie; er scheitert, wirft das Geschriebene ins Feuer, und unter dem Schock dieses Scheiterns, den die Briefe dieser Zeit eindringlich wiedergeben, wendet er sich überhaupt von der Tragödie ab, um seine beiden Lustspiele zu schreiben. Nachdem ihm diese gelungen sind, faßt er auch wieder Mut zur Tragödie. Er dichtet zuerst die Penthesilea und nimmt dabei sprachlich und in der Komposition wesentliche Züge des gescheiterten Guiskard auf. Erst nachdem er die Penthesilea vollendet hat, wagt er sich von neuem an den Guiskard. Legitimation politischer Herrschaft als Grundproblem Die allein erhaltenen zehn ersten Auftritte des Guiskard umreißen die Ausgangssituation und lassen auch das zentrale Problem erkennen. Robert Guiskard, der Normannenherzog, steht mit seinem Heer vor Konstantinopel, das er erobern will. In seinem Heer ist die Pest ausgebrochen, ihn selbst hat die tödliche Seuche befallen, was er aber zu verbergen sucht. Das Volk – damit beginnt das Drama – schickt einen Sprecher zu Guiskard, um ihn zu bitten, den Feldzug abzubrechen und damit auch auf sein großes Ziel, die Eroberung Konstantinopels, zu verzichten und heimzukehren. Doch bleibt Guiskard für den Abgesandten des Volkes zunächst unerreichbar, und so verstärken sich die Gerüchte, er selbst sei krank. An seiner Statt agieren zwei miteinander um die künftige Herrschaft konkurrierende Gestalten, Prinz Abälard, der übergangene Thronerbe, der sich um die Gunst des Volks bemüht, und Robert, der Sohn Guiskards, der den Abgesandten des Volks herrisch begegnet. Endlich erscheint Guiskard selbst, und der Sprecher des Volks trägt ihm sein Anliegen vor, während Guiskard sich bemüht, einen von der Seuche herrührenden Schwächeanfall zu verbergen. Dann bricht das Fragment ab. Schon die Personenkonstellation ist auf die politische Problematik des Stücks hin entworfen.96 Guiskard selbst verkörpert den Typus des charismati96
Vgl. zum Folgenden: Lawrence Ryan: Kleists ‚Entdeckung im Gebiete der Kunst‘: Robert Guiskard und die Folgen, in: Gestaltungsgeschichte und Gesellschaftsgeschichte, Festschrift für Fritz Martini, hrsg. von Helmut Kreuzer, Stuttgart 1969, S. 242–264; Iris Den-
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schen Herrschers, der aufgrund seiner individuellen Fähigkeiten zur Herrschaft gelangt ist. Abälard, der nach dynastischen Traditionen die Herrschaft auszuüben hätte, kam nicht mehr zum Zuge, weil Guiskard mit seinen überragenden Fähigkeiten sich die Herrschaft zueigen machen konnte und in dieser Herrschaft aufgrund der persönlichen Qualitäten und nicht zuletzt aufgrund einer eindrucksvollen Volksnähe hohe Popularität genießt. Die dynastisch-traditionale Herrschaftslegitimation wurde also durch die persönlich-charismatische zurückgedrängt. Guiskards Sohn Robert endlich müßte, wenn sich das dynastische Prinzip der Erbfolge in der Herrschaft erneut durchsetzen würde, eine Chance haben, Guiskards Nachfolger zu werden. Gerade aber die erneute Durchsetzung des dynastischen Prinzips würde auch wieder Abälard ins Spiel um die Macht bringen, zumal er ältere dynastische Ansprüche hat. Außerdem erscheint es widersinnig, daß Robert aus dynastischen Gründen Guiskards Nachfolger werden soll, denn Guiskard selbst hat seine Herrschaft aufgrund persönlicher Eigenschaften und aufgrund seiner Popularität gegen dynastische Ansprüche gewonnen. Eine weitere Dimension der politischen Problematik inszenierte Kleist durch die markante Präsenz des Volkes in der von ihm entworfenen Handlung. Mit der chorähnlichen Verwendung des Volks lehnte er sich zunächst eng an die griechische Tragödie an. Bekanntlich versuchten auch Schiller und die Brüder Schlegel um die gleiche Zeit den griechischen Chor wiederzubeleben: Friedrich Schlegel in seinem Alarcos (1802) und August Wilhelm Schlegel in seinem Ion (1802), Schiller in seiner Braut von Messina (1803). Kleist allerdings brachte das Volk nicht um des klassizistischen Kunsteffekts willen, sondern als selbständige politische Größe mit eigenen, durch einen besonderen Sprecher artikulierten Interessen auf die Bühne. Er zielte auf eine aktuelle politische Problemkonstellation, indem er das historische Geschehen der Normannenzeit entsprechend formierte. Die Artikulation von politischen Ansprüchen des Volkes deutet auf die moderne geschichtliche Entwicklung, die in der Amerikanischen Revolution und in der Französischen Revolution bis zum Grundsatz der Selbstbestimmung des Volkes geführt hatte. Und Guiskard als charismatischer, seine Legitimation nur aus seinen individuellen Fähigkeiten herleitender Herrscher ist im neler: Legitimation und Charisma. Zu Robert Guiskard, in: Kleists Dramen. Neue Interpretationen, hrsg. von Walter Hinderer, Stuttgart 1981, S. 73–92 (geht auf die aktuellen historischen Elemente, vor allem auf die Widerspiegelung der Reformtendenzen ein); Jochen Schmidt: „Subjektive Prinzen“: Der politische Reflex des Genie-Denkens in der nachrevolutionären Legitimationsproblematik (zu Kleists Robert Guiskard im Vergleich mit Schillers Wallenstein und Demetrius), in: J. S.: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945, Bd. 1: Von der Aufklärung bis zum Idealismus, 2. Aufl. Darmstadt 1988, S. 451–466.
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Hinblick auf Napoleon ein überaus aktueller Herrschertypus. Die Figuration der dynastisch-traditionalen Legitimation in der Gestalt des von der Herrschaft verdrängten Abälard deutet auf die Ablösung des in einer dynastischen Erbfolge stehenden Herrschertypus durch diesen neuen, von Guiskard verkörperten charismatischen Typus. Daß endlich Guiskards Sohn Robert Anspruch auf künftige Herrschaft anmeldet, weist auf das ebenfalls bei Bonaparte nachweisbare Bestreben, seine zunächst nur persönliche Herrschaft wiederum in dynastische Herrschaft zu überführen. Insgesamt also entwirft Kleist eine in seiner Zeit zentrale politische Problematik: die der Legitimation politischer Herrschaft. Eine genauere Erörterung des Guiskard-Fragments erfordert daher die historische und begriffliche Analyse der Legitimationsproblematik.97 Sie hat vom Gebrauch des Wortes ‚legitim‘ im Unterschied zu dem des Wortes ‚legal‘ auszugehen: Legal ist, was dem positiv verfaßten Recht, also den bestehenden Gesetzen entspricht, legitim, was mit dem allgemeinen Rechtsempfinden übereinstimmt. Nicht immer allerdings koinzidiert das bestehende Recht mit dem allgemeinen Rechtsempfinden. Vor allem in vorrevolutionären Zeiten wird das Legale nicht mehr als legitim empfunden. Da das allgemeine Rechtsempfinden keineswegs zeitlos ist, sondern sich historisch wandelt, erhalten die Worte ‚legitim‘ und ‚Legitimität‘ zu verschiedenen Zeiten auch eine verschiedene inhaltliche Füllung. Im Absolutismus meint das Wort ‚legitim‘ das Gottesgnadentum und die Uneingeschränktheit der dynastischen Staatsgewalt. Mit dem Vordringen der modernen Naturrechtslehre seit dem 17. Jahrhundert hängt die Legitimität der an sich noch nicht angefochtenen dynastischen Herrschaft bereits von der Wahrung des Naturrechts ab. Die aufklärerische Publizistik definiert ‚Legitimität‘ immer mehr vom öffentlichen Wohl her. Nur wenn die Staatsgewalt dem öffentlichen Wohl und nicht bloß den Interessen des Monarchen dient, gilt sie als ‚legitim‘. Einen entscheidenden Schritt tat dann die revolutionäre französische Staatsversammlung von 1789, als sie die Volkssouveränität an die Stelle der königlichen Souveränität rückte. Daß die revolutionäre Nationalversammlung sich ‚légitime‘ nannte, zeigt deutlich, wie sehr sich das Rechtsempfinden verändert hatte. Die nach dem Wiener Kongreß 1815 einsetzende Restauration versuchte dann den alten vorrevolutionären Zustand wiederherzustellen. In diesem historischen Spannungsfeld steht Kleists Guiskard-Fragment ebenso wie Schillers ungefähr gleichzeitig entstandenes Demetrius-Fragment. Systematisch ausgedrückt ist die durch Napoleon aktuelle charismatischindividuelle ebenso wie die auf Erbfolge beruhende dynastisch-traditionale 97 Umfassende Orientierung zum Problemfeld ‚Legitimität, Legalität‘ bietet der unter diesen Stichworten stehende Artikel von Thomas Würtenberger in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. von Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck, Bd. 3, Stuttgart 1982, S. 677–740.
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Legitimation autokratisch. Gegenüber diesen beiden autokratischen Varianten hatte sich in der Aufklärung und in der Französischen Revolution ein dritter Legitimationstyp herausgebildet: die Legitimation der staatlichen Autorität durch die verschiedenen Stände und Schichten, also eine annähernd demokratische Legitimität. Überlagert werden diese drei Legitimationsformen, die beiden autokratischen und die demokratische, durch Leistungserwartungen, die ihre Basis nicht in der politischen Verfassung eines Staates haben. Werden bestimmte Leistungen, z. B. Wohlstand und Friede, von einem wie auch immer gearteten Herrschaftssystem erbracht, so legitimiert es sich von selbst. In Kleists Guiskard erscheint die Einbeziehung des Volkes in die politischen Entscheidungsprozesse sowie das politische Handeln um des Volkes willen als die eigentliche Legitimationsbasis der Herrschaft. Kleist richtet den Gang der Handlung so ein, daß sich die beiden autokratischen Legitimationstypen als hinfällig erweisen. Sie heben sich gegenseitig auf, um der neuen Legitimation Raum zu geben. Zwar kann man sie noch nicht als demokratische Legitimation bezeichnen, denn nirgends im Guiskard-Fragment läßt sich erkennen, daß es auf grundsätzliche Selbstbestimmung des Volkes hinauslaufen soll. Aber es zielt auf Mitbestimmung und Mitberücksichtigung des Volkes. Kein revolutionäres Konzept also, wie es ein strikt demokratisches Konzept gewesen wäre, aber doch ein aufgeklärt-reformerisches, das zwischen der alten autokratischen und der durch die Virginia Bill of Rights erstmals etablierten demokratischen Herrschaftsform zu vermitteln sucht. Guiskard selbst repräsentiert den genial-charismatischen Typus der Legitimation: Eindringlich kommt die von ihm ausgehende Faszination zum Ausdruck, und übermenschliche Kräfte schreibt er sich zu, indem er sich als einen gegen die Pest Gefeiten darzustellen versucht. Seine charismatische Legitimität tritt in Opposition zur traditional-dynastischen. Wie ‚illegitim‘ das traditionaldynastische Legitimationsprinzip ist, zeigt sich an der paradoxerweise durch Guiskard selbst begründeten neuen Erbfolge: Sein zur Nachfolge in der Herrschaft bestimmter Sohn Robert erweist sich als ungeeignet, vor allem aufgrund seines tyrannisch-kurzsichtigen Gebarens gegenüber dem Volke. Indem nun aber die charismatisch begründete und am augenblicklichen Erfolg orientierte Legitimität dazu tendiert, in eine dynastische überzugehen – Bonaparte hatte dies in großem Stil der europäischen Öffentlichkeit vorgeführt –, wird sie ihrer eigenen Basis untreu. Sie führt sich geschichtlich selbst ad absurdum. Schon prinzipiell ist sie problematisch: Kleist gestaltet seinen Guiskard trotz aller charismatischen Größe als einen menschlich Anfälligen – er wird Opfer der Pest. Zwar ist die Pest in der Forschung anders gedeutet worden. Die noch im Zeichen von Frickes existentialistischem Interpretations-Schema ‚Gefühl und Schicksal‘ stehende frühe Kleistforschung sah in der Pest das irrational hereinbrechende ‚Schicksal‘, dem sich der Einzelne, heroisch kämpfend und nur auf
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sich selbst zurückgeworfen, zu stellen hat. Nachdem die neuere Kleistforschung Frickes gesamtes Erklärungsschema weitgehend widerlegt hatte, versuchte man die bei Guiskard ausbrechende Krankheit als Symbol des in ihm selbst vorhandenen Widerspruchs zwischen charismatischer Begründung und traditionaldynastischer Fixierung seiner Herrschaft zu nehmen. Doch legt der Text ein anderes, weniger abstrakt-symbolisches Verständnis nahe, denn es dürfte kaum an der Legitimationsproblematik des Herrscherhauses liegen, daß die todbringende Seuche nicht nur Guiskard, sondern auch das Volk heimsucht. Daß Guiskard von der gleichen Krankheit wie das Volk befallen wird, deutet einfach darauf hin, daß er ebenso wie alle anderen menschlich hinfällig ist. Indem er gerade dies abzuleugnen sucht und sich als einen charismatisch Gefeiten ausgibt, beansprucht er eine mehr als menschliche Stellung: Er möchte sein Charisma und damit seine Legitimationsbasis als absolut und unzerstörbar verstanden wissen. „Wärst du unsterblich doch, o Herr! unsterblich, / Unsterblich, wie es deine Taten sind!“ (V. 452 f.) – mit diesen eindringlich auf die Sterblichkeit hinweisenden Worten pointiert der Sprecher des Volkes seine Sorge und zugleich die unaufhebbare Grenze jeder charismatisch begründeten Herrschaft. Die Pesterkrankung wird zum existentiellen Argument gegen jeden absoluten Machtanspruch. Nicht zuletzt müssen Krankheit und Tod Guiskards, den der Sprecher des Volkes als „Einzige[n]“ und „Ewig-Unersetzliche[n]“ apostrophiert (V. 471 f.), das Chaos heraufbeschwören, weil alles nur auf ihn persönlich zugeschnitten ist – ein entscheidendes Argument gegen jede politische Herrschaft, die sich nur auf individuelle Unfehlbarkeit beruft. Eine dritte Bedenklichkeit tritt hinzu. Weil der charismatische Herrscher übermenschliche Qualitäten beansprucht, tendiert er dazu, seine politischen Aktivitäten nach seinen eigenen großen Ambitionen zu bemessen. Das zeigt Guiskards Feldzug gegen Konstantinopel – eine Vorausnahme von Napoleons Rußlandfeldzug. So droht er in Konflikt mit den Interessen des Volkes und folglich mit den ideell-inhaltlich legitimierenden Werten seiner Herrschaft zu geraten. Kleist hat hier die Tragik seiner Guiskard-Gestalt angesiedelt, denn ‚tragisch‘ im Sinne der von Goethe gegebenen Definition, daß tragisch nur unauflösbare Gegensätze mit einem echten „Naturgrund“ seien, erscheint die Situation des Normannenherzogs. Er ist ja keineswegs ein ehrgeiziger Tyrann, der ohne Rücksicht auf das Volk nur seine großen Absichten zu verwirklichen gedenkt. Seine Pläne okkupieren ihn zwar, aber zugleich zeigt er sich in eindrucksvoller Weise seinem Volk verbunden – und in aufrichtiger, nicht etwa in egoistisch berechnender oder demagogischer Weise. Er pflegt die Pestkranken des Heeres und steckt sich dabei mit der mörderischen Krankheit an. Der Vertreter des Volkes beschwört ihn deshalb, von der Krankenpflege abzulassen. Mehr als alles andere macht sie deutlich, daß Guiskards Herrschaft nicht allein auf seiner charismatisch-genialen
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Führungsstärke beruht und das Volk ihn nicht bloß in fragwürdiger Weise als seinen Abgott verehrt. Es besteht eine menschlich fundierte gegenseitige Bindung zwischen Herrscher und Volk. „O du geliebter Fürst!“ – diese Anrede des vom Volk gesandten Sprechers (V. 449) ist ebenso aufschlußreich wie die tadelnde Bemerkung Abälards gegenüber dem tyrannisch auftretenden Guiskard-Sohn Robert (V. 243–247): Meinst du, es könne dir die Normannskrone Nicht fehlen, daß du dich so trotzig zeigst? Durch Liebe, hör es, mußt du sie erwerben, Das Recht gibt sie dir nicht, die Liebe kanns! Allein von Guiskard ruht kein Funk auf dir […]
Zu dieser als „Liebe“ bezeichneten Herzensbindung Guiskards an sein Volk kommt noch die Respektierung der „Freiheit“ (V. 236), an der das Normannenvolk hängt. Wenn demnach von der charismatischen Herrschaft Guiskards die Rede ist, so nicht im Sinne einer absolutistischen oder diktatorischen Herrschaftspraxis, wie sie sich oft gerade mit dem charismatischen Typus verbindet. Guiskard ist „ein Freund des Volks“ (V. 294), der „rettet“ und „tröstet“ (V. 520, V. 423). Deshalb tut sich für ihn der tragische Zwiespalt auf zwischen der Verwirklichung seiner großen politischen Absichten, die sich nach dem Format seiner starken Persönlichkeit bemessen, und dem Wohl des Volkes, das ihm am Herzen liegt. Das Fragment bricht mit dem Augenblick ab, in dem das Volk Guiskard durch einen Abgesandten anflehen läßt, wegen der Pest den Feldzug gegen Konstantinopel aufzugeben. Jede Rekonstruktion von Kleists weiteren Absichten bleibt schwierig. Es muß mit einer von ihm selbst wahrgenommenen Aporie der Konzeption gerechnet werden, vielleicht auch nur mit dem dramaturgischen Problem, wie sich aus dem dargestellten Zwiespalt noch genügend Handlung entwickeln ließ. Immerhin läßt das Vorhandene den Schluß zu, daß Guiskards Pesterkrankung, die er vor dem Volk zu verheimlichen sucht, mehrere Funktionen hat: Erstens, wie schon erörtert, macht seine Erkrankung sinnfällig, daß er ebenso wie alle andern menschlich gebrechlich ist – die „Gebrechlichkeit“ ist ein Grundthema in Kleists Werk – und insofern sein wie überhaupt jedes Charisma durch „Sterblichkeit“ in Frage gestellt wird; zweitens, daß in dem Maße, wie das Charisma relativiert wird, nur noch die Verbundenheit mit dem Volk und das Handeln zu dessen Wohl als Legitimationsbasis bleibt. Dies war Kleists Hauptidee. Welche Funktion Abälard mit seiner traditional-dynastischen Legitimation innerhalb der Gesamtkonzeption erhalten sollte, läßt sich kaum abschätzen. Daß Abälard trotz der wiederholten Berufung auf das dynastische „Recht“ (V. 246 f., V. 279) und das „Erbgesetz“ (V. 281) doch die Herrschaft Guiskards anerkennt, sofern sie auf der „Liebe“ zum Volk und der Re-
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spektierung seiner „Freiheit“ gründet, und daß er selbst sich seine Option auf künftige Herrschaft offenzuhalten sucht, indem er sich gleich Guiskard als „Freund des Volks“ zeigt (V. 294), deutet auf einen Abbau auch des traditionaldynastischen Legitimitätsprinzips zugunsten einer von der Idee des Gemeinwohls her bestimmten Legitimität. Demnach hätte Kleist die beiden autokratischen Legitimationen, die charismatisch-geniale und die traditional-dynastische, systematisch zugunsten der modernen, am Wohl des „Volkes“ orientierten Legitimität reduziert. Er steht damit voll in der historischen Bewegung seiner Zeit. Was an geschichtlichem Überwindungsgeschehen im Übergang vom Alten zum Neuen stattfinden mußte, hat er dramatisch als Problem einer menschlichen Selbstüberwindung gestaltet. Sie ist Guiskard auferlegt. Das Ausnahmerecht seiner großen Persönlichkeit, das er aufrechtzuerhalten sucht, indem er die Ansteckung verleugnet und weiterhin die Eroberung Konstantinopels plant, müßte er zugunsten des ihm ohnehin am Herzen liegenden Gemeinwohles ganz zurücknehmen; ferner, so darf man wohl aus einigen Indizien ablesen, müßte er sich dazu überwinden, das dynastische Prinzip zu suspendieren und den eigenen – unfähigen und dem Gemeinwohl nicht verpflichteten – Sohn von der Nachfolge in der Herrschaft ausschließen. In dem erhaltenen Stück versucht er noch dem Neffen Abälard, dem die Vertreter des Volkes als einem „Freund des Volks“ zugetan sind, den Weg zur politischen Macht zu verbauen. Es spricht einiges dafür, daß er diese Haltung ebenso wie die Pläne zur Eroberung Konstantinopels aufgegeben hätte – um des Gemeinwohls willen. Es wäre allerdings fragwürdig, aus diesen ideellen Perspektiven, wie sie sich aus den vorhandenen Ansätzen ergeben, den fehlenden Hauptteil des Dramas abzuleiten; im Gegenteil, einleuchtender scheint es, daraus auf eine Aporie zu schließen, denn ein tragisches Geschehen ließ sich aus der so weit gediehenen Gesamtkonstellation kaum noch entwickeln. Alles in allem zeichnet sich das Wohlergehen des Volkes als die einzig tragende Legitimationsbasis ab. Daß Guiskards Herrschaft selbst wesentlich von der „Liebe“ des Volkes und seiner Liebe zum Volk bestimmt wird, daß sogar die potentiellen Nachfolger Abälard und Robert aus Überzeugung oder Berechnung ihre künftige Herrschaft im Hinblick auf den Willen und die Zustimmung des Volkes anstreben und sich um die Gunst des Volkes bewerben, deutet auf die De-facto-Ablösung alter Legitimationsmodelle durch ein neues. Nicht umsonst zeigt Kleists Fragment das „Volk“ und die Volksvertretung ganz im Vordergrund und in permanenter Aktion und Reaktion.
Das Käthchen von Heilbronn
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6. Das Käthchen von Heilbronn Entstehungsmotive und Erfolg des ‚Ritterschauspiels‘ Bald nachdem Kleist die Penthesilea abgeschlossen und das Guiskard-Fragment niedergeschrieben hatte, begann er am Käthchen von Heilbronn zu arbeiten. Das geht aus einer brieflichen Äußerung an Marie von Kleist im Spätherbst 1807 hervor. Kleist schrieb seiner Vertrauten: „Jetzt bin ich […] neugierig was Sie zu dem Kätchen von Heilbronn sagen werden denn das ist die Kehrseite der Penthesilea ihr andrer Pol, ein Wesen das ebenso mächtig ist durch gänzliche Hingebung als jene durch Handeln“.98 Aber die Arbeit am Käthchen zog sich über Jahre hin. Zwar bot Kleist das Stück schon 1808 dem Berliner Nationaltheater an, wahrscheinlich eine erheblich andere Fassung als diejenige, die wir heute kennen, doch erst im Jahre 1810 brachte er es zum Druck, nachdem es bereits im Frühjahr des gleichen Jahres in Wien aufgeführt worden war. Der vollständige Titel der 1810 in Berlin erschienenen Erstausgabe, ein überaus aufschlußreicher Titel, lautet: Das Käthchen von Heilbronn oder Die Feuerprobe. Ein großes historisches Ritterschauspiel von Heinrich von Kleist. Aufgeführt auf dem Theater an der Wien den 17., 18. und 19. März 1810. Die Ritterromantik war damals große Mode. Mit Vorliebe wandten sich die romantischen Dichter dem Mittelalter zu, das sie ins Märchenhafte stilisierten.99 Immer wieder hat man dies als romantische Regression, als Flucht vor den Problemen der Zeit in eine scheinbar heile Welt kritisiert. Zu bedenken ist aber auch, daß gerade in diesen Jahren, in denen Deutschlands Existenz durch die napoleonischen Kriege bedroht war, die Erinnerung an die große deutsche Vergangenheit und die romantische Deutschtümelei der nationalen Identitätssicherung galten. Jedenfalls schloß sich Kleist dieser Mode an, und man kann seinen Äußerungen entnehmen, daß er es tat, um nach dem Mißerfolg seiner bisherigen Werke endlich einmal als Dramenautor zu reüssieren. Prompt stellte sich der Erfolg ein, denn zahlreiche Theater spielten das Stück, zum Teil in noch weiter trivialisierten Bühnenbearbeitungen, und lange Zeit war von Kleists Dramen einzig das Käthchen von Heilbronn beliebt.100 Das 19. Jahrhun98
Briefe, Nr. 126, S. 398. Zu diesem Aspekt besonders: Gonthier-Louis Fink: Das Käthchen von Heilbronn „oder das Weib, wie es seyn sollte“. Ein Rittermärchenspiel, in: Käthchen und seine Schwestern. Frauenfiguren im Drama um 1800. Internationales Kolloquium des KleistArchivs Sembdner. 12. bis 13. Juni 1997. Heilbronner Kleist-Kolloquien 1. Im Auftrag der Stadt Heilbronn hrsg. von Günther Emig und Anton Philipp Knittel, Heilbronn 2000, S. 9–37. 100 Vgl. Reinhold Stolze: Kleists Käthchen von Heilbronn auf der deutschen Bühne, Berlin 1923, reprogr. Nachdruck Nendeln 1967. 99
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dert mit seiner Neigung zur deutschen Vergangenheit, seiner historisierenden Kultur und seinem von der nationalen Bewegung getragenen Interesse am Volkstümlichen fand gerade an einem solchen Stück Gefallen. Kleist dagegen dürfte die Herablassung zum trivialen Zeitgeschmack schwergefallen sein, lebte doch sein ganzes bisheriges Werk aus starken Problemspannungen und aus der Entfaltung kritischer Energien. In einem Brief an Marie von Kleist stellte er rückblickend bedauernd fest: „Das Urtheil der Menschen hat mich bisher viel zu sehr beherrscht; besonders das Kätchen von Heilbron ist voll Spuren davon Es war von Anfang herein eine ganz treffliche Erfindung, und nur die Absicht, es für die Bühne paßend zu machen, hat mich zu Mißgriffen verführt, die ich jetzt beweinen mögte“.101 Romantische und märchenhafte Elemente Daß Kleist selbst das Käthchen im Unterschied zu seinen anderen Werken spezifisch romantisch konzipierte, geht aus einem Brief vom 7. Juni 1808 an den Verleger Cotta hervor. Darin nennt er das Käthchen „ein Stück, das mehr in die romantische Gattung schlägt, als die übrigen“.102 Der Begriff ‚romantisch‘ ist zu dieser Zeit noch kein festgefügter Stilbegriff, sondern meint bestimmte Eigenheiten. Dazu gehört vorab die Ansiedlung des Stücks in der mittelalterlichen Ritterzeit, die als ‚romantische‘ Zeit galt. Und typisch romantisch bezieht Kleist im Käthchen Traumszenen und Somnambulismus ein, denn die Romantik kultivierte alles, was jenseits der bloßen Verstandeswelt liegt – vom Traum bis zum Wahnsinn. Gerade wegen der Träume und der somnambulischen Elemente103 erweckte das Käthchen bei den romantischen Zeitgenossen Begeisterung. Aufschlußreich äußerte sich E. T. A. Hoffmann in einem Brief vom 28. April 1812 an seinen Verleger Eduard Hitzig: „Sie können denken, wie mich das Käthchen begeistert hat; nur drei Stücke haben auf mich einen gleich tiefen Eindruck gemacht – das Käthchen, Die Andacht zum Kreuze (von Calderon) und Romeo und Julie –, sie versetzten mich in eine Art poetischen Somnambulismus, in dem ich das Wesen der Romantik in mancherley herrlichen leuchtenden Gestaltungen deutlich wahrzunehmen und zu erkennen glaubte!“104 Ferner 101
Briefe, Nr. 231, S. 484. Briefe, Nr. 145, S. 417. 103 Hierzu: Uwe Henrik Peters: Somnambulismus und andere Nachtseiten der menschlichen Natur, in: KJb 1990, S. 135–152; Heinz Schott: Erotik und Sexualität im Mesmerismus. Anmerkungen zum Käthchen von Heilbronn, in: Erotik und Sexualität im Werk Heinrich von Kleists. Internationales Kolloquium des Kleist-Archivs Sembdner. 22. bis 24. April 1999. Heilbronner Kleist-Kolloquien 2. Im Auftrag der Stadt Heilbronn hrsg. von Günther Emig, Heilbronn 2000, S. 152–174. 104 E. T. A. Hoffmann: Briefwechsel, hrsg. von Friedrich Schnapp, Bd. 1, München 1967, S. 335. 102
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sind für das Käthchen romantische Szenerien charakteristisch, so die Höhlenszene am Anfang, wo das Femegericht tagt, später dann die Grottenszene, in der Käthchen die badende Kunigunde in ihrer wahren Gestalt erblickt, schließlich romantische Natur-Impressionen wie etwa die Szene mit Käthchen unter dem Holunderbaum und die Szene bei dem Köhler im Walde. Romantisch muten nicht zuletzt die wunderbaren und märchenhaften Elemente an. Die Romantik war die große Zeit der Märchendichtung und auch des Märchensammelns. Nicht zufällig erschienen die Märchen der Brüder Grimm, das berühmteste und in der Welt am meisten verbreitete Werk deutscher Sprache, in dieser Zeit – 1812 der erste und 1815 der zweite Band. Viele romantische Dichter schrieben Märchen, von den Frühromantikern bis zu den Spätromantikern: Tieck, Novalis, E. T. A. Hoffmann, Brentano, Hauff. So stand also Kleist auch mit der Einbeziehung von Märchenmotiven und Märchensituationen in sein Käthchen ganz im Zusammenhang der Romantik, er, der von seinem dramatischen und kritischen Temperament her zu nichts weniger als zum Märchendichter berufen war. Käthchen selbst ist eine typische Märchenheldin. Sie geht von Hause fort, irrt durch die Welt, besteht wunderbar die härtesten Prüfungen und wird am Ende dafür auch wunderbar belohnt. Einem Märchentopos entspricht es auch, daß sich das einfache Mädchen als Prinzessin entpuppt. Die ständische Beglaubigung des menschlich Gültigen widerspräche denkbar scharf Kleists anderen Werken, die nach dem Muster Rousseaus Stand und Besitz als nicht naturgemäß abwerten. Aber in der Welt des Märchens gilt ausschließlich der Einzelne, dessen Wünsche und Träume – und Käthchen träumt einen weissagenden Traum – nach Überwindung vieler Hindernisse herrlich in Erfüllung gehen. Märchenhaft erscheint ferner die schlichte Antithese von Kunigunde als böser Hexe und Käthchen als guter Fee.105 In der realistischen und psychologisch anspruchsvollen Literatur wäre sie eine klischeehafte Vereinfachung. Das volkstümliche Märchen dagegen verzichtet auf Nuancen und Differenzierungen zugunsten derartig einfacher Antithesen. Es liebt den extremen Kontrast von Hoch und Niedrig, Schön und Häßlich, Gut und Böse, engelhafter Rettertat und mörderischem Gift. Auch die Stellung des Grafen vom Strahl zwischen Käthchen und Kunigunde, die Situation des ‚Mannes zwischen zwei Frauen‘, in der er jugendlich unreif zwischen beiden schwankt, erinnert an Märchenstrukturen. Denn gerade diese psychologisch durchsichtige Konstellation gehört als fester Bestandteil zum Volksmärchen, in dem es immer wieder auf die Wahl zwischen der richtigen und der falschen Braut ankommt. Der Märchenforscher Max Lüthi schreibt in 105
Zu diesem Aspekt vgl. Sabine Doering: Himmelstochter, Höllenbraut. Bilder des Weiblichen bei Schiller und Kleist, in: Käthchen und seine Schwestern. Frauenfiguren im Drama um 1800 (wie Anm. 99), S. 105–120.
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seinem Buch Es war einmal … Vom Wesen des Volksmärchens: „Wenn der Prinz statt der echten Braut die häßliche Tochter der Hexe heiratet, so verfehlt er den Zugang zur eigenen Seele und verschreibt sich einem fremden Dämon“.106 Nicht nur ist Käthchen durch einen Traum auf den Grafen vom Strahl fixiert. Auch den Grafen bestimmt ein Traum von vornherein für Käthchen (V. 1200– 1236). Kunigunde verkörpert die Abweichung von seinem besseren und eigentlichen Ich. Daher hat es tieferen Sinn, wenn sich die ganze Handlung in eine Kunigunden- und eine Käthchenhandlung aufspaltet. Käthchen und Kunigunde: Die Opposition von Natur und Zivilisation Wie die Gegenüberstellung von Käthchen und Kunigunde eine psychologische Funktion im Hinblick auf die innere Entscheidungssituation des Grafen vom Strahl erhält, so kommt ihr auch eine wichtige ideelle Funktion zu. Käthchen lebt in einer gefühlshaft und stimmungshaft aufgeladenen Natur-Sphäre, Kunigunde dagegen agiert in der Welt künstlicher und kalt berechnender Zivilisation. Die Käthchenhandlung konzentriert sich weitgehend auf Naturszenen, die Kunigunden-Handlung dagegen auf Schloßszenen und damit auf den Bereich zivilisatorischer Künstlichkeit und menschlich defizitärer Herrschaftsverhältnisse. Käthchen vor dem Schloß unter dem Holunderbusch träumend (IV, 2), Kunigunde im Schloß bei der raffinierten Montage ihrer falschen Reize – das ist der Gegensatz in seiner eindringlichsten Form. Mehrere Szenen stellen Käthchen in der reinen Natur dar. Nach dem Abschied vom Grafen befindet sie sich auf dem Weg in die Weltabgeschiedenheit eines Klosters, die entsprechende Szenen-Anweisung lautet (III, 1): „Gebirg und Wald. Eine Einsiedelei“. In der Szene IV, 1 eilt sie dem Grafen vom Strahl durch eine „Gegend im Gebirg“ nach. In der Familie Schroffenstein fand die entscheidende Liebesbegegnung zwischen Ottokar und Agnes ebenfalls in einer „Gegend im Gebirge“ statt (III, 1), in einer Höhle und vor allem an einer Quelle. Es handelt sich um Reflexe des zeitgenössischen, rousseauistisch gefärbten Kults der Schweiz als eines natürlichen Ursprungsbereichs. In der Familie Schroffenstein wie im Käthchen von Heilbronn gehören die reine Natur und die reine Liebe zusammen. Charakteristischerweise flüchtet Käthchen noch kurz vor dem glücklich erlösenden Ende vor den Nachstellungen der Giftmischerin Kunigunde aus deren Zivilisationskulisse in das „Innere einer Höhle mit der Aussicht auf eine Landschaft“ (Szenen-Anweisung zu V, 10). So überträgt sich die ideelle Grundkonstruktion, derzufolge die Natur für das menschlich Gute und Wahre, die Zivilisation für das Verderbte und Falsche steht, immer wieder auch in die szenische Struktur. 106 Max Lüthi: Es war einmal … Vom Wesen des Volksmärchens, Göttingen 8. Aufl. 1998, S. 106.
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Kleist entwirft sogar charakteristische Umkehrkonstellationen. Wenn Kunigunde im Naturbereich auftritt, so nur, um ihre Unnatur zu verraten: In der Grottenszene (Garten – Grotte, IV, 5 und IV, 6) enthüllt sie ihre ganze Häßlichkeit. Umgekehrt erleidet Käthchen auf Schloß Thurneck das Schlimmste (III, 6). Vollends rousseauistisch verbindet sich die Zivilisationskarikatur Kunigunde mit dem Motiv der Habsucht, also der Eigentumsfixierung, während Käthchen selbstlos liebt. Noch in seinem bewußt auf eine Fülle romantischer Klischees zurückgreifenden und sich ganz der neuen Mode anpassenden Stück also bleibt Kleist doch seinen alten kritischen Grundpositionen treu. Zum Problemgehalt der Schlußpartie Käthchen erfährt von seiten des Grafen viele Demütigungen und bleibt dennoch in ihrer Liebe unbeirrbar. Am Ende braucht der Graf nur eine rasche Wendung zu vollziehen – und alles löst sich in Harmonie auf. Von einem realistisch-psychologischen Standpunkt aus wäre dies inakzeptabel. Als märchenhaftes Drama kann das Käthchen von Heilbronn allerdings unkomplizierter verfahren, denn Märchen kennen kaum psychologische Motivationen. Dennoch bleibt angesichts der problemlosen Glätte des Schlusses ein Unbehagen. Fontane faßte es 1872 in folgende Worte: So gewiß nichts Rührenderes gedacht werden kann als eine solche plötzlich vom Himmel in ein Menschenherz niederfallende, selbstsuchtslose, opferbereite Liebe, so gewiß ist es doch auch, daß die Opfer, die die Liebe jeden Augenblick zu bringen bereit ist, gewisse ästhetische Grenzen innehalten müssen. Eine Liebe, die, wenn ihr ein Paar Hosen mit der absichtlich-zynischen Forderung hingeworfen werden: ‚Näh mir die Knöppe an‘, um nicht noch schlimmere Beispiele zu wählen, sich dieser Forderung glückselig unterwirft, ist keine Liebe mehr, die noch unsre besondre Teilnahme wecken kann. Das Märchen darf hier freilich viel weiter gehn als die Wirklichkeit, muß aber doch auch sehr vorsichtig operieren. Das eine geht noch, und etwas dicht daneben Liegendes geht bereits nicht mehr. Mannigfaches von dem, was Käthchen ruhig hinnimmt, trägt diesen Stempel und macht uns nicht bloß ärgerlich gegen den Beleidiger, sondern auch gegen diejenige, die sich das Unwürdige gefallen läßt.107
Allerdings fügt Fontane dann noch hinzu: „Große Schönheiten reißen das Ganze aber doch siegreich heraus“. Nach einem Bericht von Franz Horn, einem Bekannten Kleists, scheint dieser selbst das psychologische Ungleichgewicht empfunden zu haben. Aus dem Jahre 1819 rückblickend schreibt er: Zweitens fühlte der mit sich selbst sehr strenge Dichter gar wohl das Ungenügende in dem letzten Dritteil des Stückes, und hatte den Plan gefaßt, es umzuarbeiten. Dann sollte auch noch zur gänzlichen Beruhigung gewissermaßen ein zweiter Teil folgen. Hier sollte endlich der Graf, durch irgendein – vielleicht nur leises – Wort, Käthchen dergestalt ver107
Nachruhm, 537 a.
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letzen, daß sie nun ihn fliehen müßte. Kaum aber flieht sie ihn, so fühlt er mit unendlicher Gewalt, wie sehr er an ihr gesündigt und was er in ihr verloren habe.108
Durch eine Art von Leidensausgleich und die daraus resultierende Wiedergutmachung sollte Käthchen dem Grafen vom Strahl dann am Ende vergeben können, so daß das Ganze auch psychologisch ins Lot gekommen wäre. Manches an diesem Bericht scheint zweifelhaft, so vor allem die Angabe, Kleist habe einen zweiten Teil geplant, denn für eine entsprechend weit ausladende Handlung war nun wirklich kein Raum mehr. Ernster zu nehmen ist der Hinweis auf den Plan, das psychologische Problem durch eine Um- und Ausgestaltung der Schlußpartie zu beheben. Nicht ganz zu Unrecht hat das Käthchen in zahlreichen Bühnenaufführungen immer wieder Anlaß zur Parodie und zu bewußt grotesken Inszenierungen gegeben.109 Immer wieder haben einläßliche Untersuchungen aber auch zu der Einsicht geführt, daß Kleist selbst schon mit den Versatzstücken der Ritter-, Zauber-, Traum- und Märchenromantik parodistisch spielte110 und daß er ‚Nummern‘, wie die Wasser- und die Feuerprobe, die Tieck bereits im Gestiefelten Kater (1797) parodiert hatte, aus Mozarts ungemein populärer Zauberflöte als Genre-Zitate einmontierte. In Wien, wo sein Stück uraufgeführt wurde, konnte man es sogleich als Huldigung an den genius loci bejubeln. In psychologisch tiefgehender Analyse hatte bereits Max Kommerell betont, daß das Käthchen von Heilbronn „nicht wegen des ritterlichen Klischees romantisch ist, sondern weil es sich mit den Mitteln des Dichters zum unterirdischen Seelenvorgang bekennt“ und insofern eine utopische „Probe auf die Welt“ sei.111 Seit den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts, in der Generation, die das utopische Denken kultivierte, nahm man vollends das utopische Potential wahr, das sich in der bunten Scheinwelt der Bilder und in der traumhaft unwirklichen Märchenlösung verbirgt. 112 108
Lebensspuren, 393. Vgl. Dirk Grathoff: Beerben oder Enterben? Probleme der gegenwärtigen Aneignung von Kleists Käthchen von Heilbronn, in: Der alte Kanon neu: Zur Revision des literarischen Kanons in Wissenschaft und Unterricht, hrsg. von Walter Raitz und Erhard Schütz, Opladen 1976, S. 136–175; Ders.: Erläuterungen und Dokumente: Heinrich von Kleist, Das Käthchen von Heilbronn oder die Feuerprobe, Stuttgart 1977. Bibliograph. erg. Ausg. 1994. Eine weitausgreifende Dokumentation zur Wirkung und insbesondere zur Theatergeschichte bietet der Kommentar in SWB 2, S. 874–942. 110 Fritz Martini: Das Käthchen von Heilbronn – Heinrich von Kleists drittes Lustspiel?, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 20 (1976), S. 420–447. 111 Max Kommerell: Die Sprache und das Unaussprechliche. Eine Betrachtung über Heinrich von Kleist, in: M. K.: Geist und Buchstabe der Dichtung, 5. Aufl. Frankfurt 1962, S. 243–317, hier S. 246f. und S. 249. 112 Gert Ueding: Zweideutige Bilderwelt: Das Käthchen von Heilbronn, in: Kleists Dramen. Neue Interpretationen, hrsg. von Walter Hinderer, Stuttgart 1981, S. 172–187. 109
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7. Die Hermannsschlacht Entstehung und Zeitbezug Aus mehreren brieflichen Äußerungen Kleists geht hervor, daß die Hermannsschlacht im Jahre 1808 entstand.113 Am 1. Januar 1809 schrieb er an Altenstein, das Drama ziele „in die Mitte der Zeit“114, am 22. Februar 1809 an den österreichischen Dichter Heinrich Joseph von Collin, der sich poetisch ebenfalls für den Freiheitskampf gegen Napoleon engagierte, es sei „für den Augenblick berechnet“115, und am 20. April 1809, wiederum in einem Brief an Collin, es sei „einzig und allein auf diesen Augenblick berechnet“.116 Kleist verfaßte sein Drama also im Hinblick auf eine ganz bestimmte politische Situation. 1806 hatte Napoleon die schlecht geführte und miserabel ausgerüstete preußische Armee in der Schlacht von Jena und Auerstedt vernichtend geschlagen. Damit begann der politische Zusammenbruch Preußens. Bereits im Dezember 1806 zog Bonaparte in Berlin ein, das preußische Königspaar floh nach Ostpreußen, in die alte preußische Krönungsstadt Königsberg. 1807 besiegelte der demütigende Frieden von Tilsit Preußens Katastrophe. Unter dem Eindruck dieser Katastrophe begannen die preußischen Reformer um den Freiherrn vom Stein, später dann um Hardenberg ihr Reformwerk, das auf innere Reorganisation zielte. Durch Abbau der Privilegien sollte es nationale Solidarität bewirken und das Nationalbewußtsein erwecken. Damit wollten die Reformer eine wichtige Voraussetzung für den Befreiungskampf gegen Napoleon schaffen. Außerdem entwickelten Gneisenau, Scharnhorst und vor allem der Freiherr vom Stein seit Juli 1808 politische Pläne für einen gesamtdeutschen Aufstand – genau in der Zeit, in der Kleist seine Hermannsschlacht schrieb. Es gibt Indizien dafür, daß Kleist selbst in die politische Geheimtätigkeit verwickelt war, die diesen gesamtdeutschen Aufstand vorbereiten sollte.117 Unter anderem deutet ein im August 1808 geschriebener Brief Kleists an die Schwester Ulrike darauf hin. Eine Denkschrift des Freiherrn vom Stein vom 11. August 1808 zeigt am besten die politische Stimmung, in der die um die gleiche Zeit konzipierte Her113 Vgl. Hans D. Schlosser: Zur Entstehungsgeschichte von Kleists Hermannsschlacht, in: Euphorion 61 (1967), S. 170–174. 114 Briefe, Nr. 156, S. 427. 115 Briefe, Nr. 157, S. 432. 116 Briefe, Nr. 161, S. 432. 117 Vgl. Hermann F. Weiss: Kleists politisches Wirken in den Jahren 1808 und 1809, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 25 (1981), S. 9–40. Ders.: Studien und Funde zu Heinrich von Kleists politischem Wirken 1808 bis 1809, in: Ders.: Funde und Studien zu Heinrich von Kleist, Tübingen 1984, S. 187–340.
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mannsschlacht entstand118 – eine Stimmung, die zum Aufstand drängte. Der Freiherr vom Stein schreibt: Es muß daher in der Nation das Gefühl des Unwillens erhalten werden über den Druck und die Abhängigkeit von einem fremden, übermütigen, täglich gehaltloser werdenden Volke – man muß sie mit dem Gedanken der Selbsthilfe, der Aufopferung des Lebens und des Eigentums, das ohnehin bald ein Mittel und ein Raub der herrschenden Nation wird, vertraut erhalten, man muß gewisse Ideen über die Art, wie eine Insurrektion zu erregen und zu leiten, verbreiten und beleben.119
Alle diese Gedanken finden bis ins Detail ihre dramatische Gestaltung in Kleists Hermannsschlacht. In einer dem zögernden preußischen König am 21. August 1808 durch den Freiherrn vom Stein übermittelten Denkschrift Scharnhorsts heißt es: „Der Krieg muß geführt werden zur Befreiung von Deutschland durch Deutsche“.120 Und in einem Geheimbrief des Freiherrn vom Stein vom 15. August 1808, der von den Franzosen abgefangen wurde, worauf Napoleon den Rücktritt des Freiherrn verlangte – in diesem Geheimbrief an Fürst Wittgenstein, den Bevollmächtigten des nach Prag geflohenen Kurfürsten von Hessen, stehen folgende aufschlußreiche Sätze: „Die Erbitterung nimmt in Deutschland täglich zu, und es ist ratsam, sie zu nähren und auf die Menschen zu wirken“.121 Genau das tut die Titelfigur in Kleists Hermannsschlacht: Hermann, der „Fürst der Cherusker“, nährt durch geschickte Propaganda die Erbitterung gegen den Feind. Weiter heißt es in dem Geheimbrief: „Die spanischen Angelegenheiten machen einen sehr lebhaften Eindruck und beweisen handgreiflich, was wir längst hatten vermuten sollen. Es wird sehr nützlich sein, sie möglichst auf eine vorsichtige Art zu verbreiten“. Mit den „spanischen Angelegenheiten“ sind die ebenfalls im Jahre 1808 tobenden spanischen Aufstände gegen Napoleon gemeint. Für diese Aufstände war die Taktik der ‚Guerilla‘ erfunden worden: des vom Volk getragenen weitverzweigten Kleinkriegs statt des unter einem Zentralkommando und mit Armeen geführten großen Krieges.122 Endlich betrieb der Freiherr vom Stein eine Geheimmis118 Vgl. Richard Samuel: Kleists Hermannsschlacht und der Freiherr vom Stein [1961], in: Heinrich von Kleist, Aufsätze und Essays, hrsg. von Walter Müller-Seidel, Darmstadt 1967 (Wege der Forschung 147), S. 412–458. 119 Freiherr vom Stein: Briefe und amtliche Schriften, bearbeitet von Erich Botzenhart, neu herausgegeben von Walther Hubatsch, Bd. II, 2: Das Reformministerium (1807– 1808), neu bearbeitet von Peter G. Thielen, Stuttgart 1960, Nr. 776, S. 810. 120 Freiherr vom Stein (wie Anm. 88), Nr. 785, S. 823. 121 Freiherr vom Stein (wie Anm. 88), Nr. 780, S. 817. 122 Vgl. Peter Rassow: Die Wirkung der Erhebung Spaniens auf die deutsche Erhebung gegen Napoleon I., in: Historische Zeitschrift 167 (1943), S. 310–355. Hierzu auch Richard Samuel (wie Anm. 118), S. 424–427.
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sion, durch die Österreich, damals noch eine Großmacht, dazu bewogen werden sollte, sich mit Preußen im Kampf gegen Bonaparte zu verbünden. Wieweit Kleist direkte Kenntnis von all diesen Plänen zur Entfesselung des Befreiungskampfes hatte, läßt sich nicht feststellen. Aber die Übereinstimmungen mit Strategie und Taktik Hermanns in seinem Stück sind eklatant. Die Hermannsschlacht ist Propaganda für den Befreiungskampf. In ihr spiegelt sich auch die politische Kräftekonstellation. Das gilt nicht nur für den Kampf Hermanns gegen das römische Invasionsheer, der als Modell für den erhofften Befreiungskampf gegen das französische Invasionsheer erscheint. Es gilt auch für die politische Zerfallenheit und Uneinigkeit der deutschen Fürsten, welche die Organisation eines gemeinsamen Kampfes behinderte. Es gab ja sogar ein Bündnis deutscher Fürsten mit Bonaparte in Gestalt des Rheinbunds. Kleist spiegelt dies in seiner Hermannsschlacht wider, indem er die Sonderinteressen und teilweise auch die Rom-Sympathie der germanischen Stammesfürsten hervortreten läßt. Zur Kräftekonstellation gehört nicht zuletzt das Verhältnis Preußens zu Österreich, denn nur das Zusammenwirken beider bot eine Chance gegen Napoleon. Der Freiherr vom Stein suchte es in seiner schon erwähnten Geheimmission anzubahnen. Das Zusammenwirken Preußens und Österreichs war keineswegs selbstverständlich, denn erst ein halbes Jahrhundert lagen die kriegerischen Auseinandersetzungen der beiden Staaten zurück: Friedrich der Große hatte das früher zu Österreich gehörende Schlesien erobert und Preußen einverleibt. In der Hermannsschlacht spiegelt sich die nun aktuelle neue Kooperation zwischen den konkurrierenden Mächten Preußen und Österreich in den komplizierten, schließlich vom Erfolg gekrönten Versuchen Hermanns, seinen Kontrahenten Marbod für den gemeinsamen Kampf gegen die Truppen des Varus zu gewinnen. Dabei thematisiert Kleist gerade das Konkurrenzverhältnis und das Vormachtstreben, das die Stellung Preußens und Österreichs zueinander bestimmte und eine Kooperation erschwerte. Indem am Ende Hermann und Marbod in edelmütigem Wettstreit dem jeweils anderen den Vortritt in der Oberherrschaft über Germanien anbieten, kommt zum Ausdruck, wie die eigenen Machtinteressen ganz zugunsten der gemeinsamen nationalen Sache in den Hintergrund treten sollten. Schließlich entwarf Kleist die Gestalt Hermanns als Gegenbild zum preußischen König Friedrich Wilhelm III.123, der keineswegs so entschlossen wie der Freiherr vom Stein war, den Befreiungskampf gegen Napoleon zu organisieren. Zu seinem Zögern trug nicht nur das prekäre militärische Kräfteverhältnis und die Furcht vor der Entfesselung einer notwendigerweise von breiten Volksschichten getragenen nationalen Dynamik bei, die das System der absoluti123 Vgl. Thomas Stamm-Kuhlmann: König in Preußens großer Zeit. Friedrich Wilhelm III., der Melancholiker auf dem Thron, Berlin 1992.
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stisch geprägten Monarchie unterspülen konnte. Er war auch ein persönlich schwacher und unentschlossener Monarch. Immer wieder kritisierte Kleist in seinen Briefen diese Unentschlossenheit und den Mangel an persönlichem Mut. Hermann dagegen zeichnet sich gerade durch Mut und rücksichtslose Entschlossenheit aus, nicht zuletzt durch Hintanstellung aller nur persönlichen Interessen. Nicht um Besitz, Macht und persönliche Vorrangstellung geht es ihm, sondern einzig und allein um die Freiheit für Germanien. Freiheit ist der zentrale Wert.124 Kleists patriotisches Engagement Kleists patriotisches Engagement zeichnet sich schon längst vor dem Jahre 1808 und den konkreten politischen Planungen für den Freiheitskampf ab, und ebenfalls schon früh verbindet sich die Vorstellung des Freiheitskampfes mit der Gestalt des Arminius. Am Ende seines Pariser Aufenthaltes im Jahre 1801 schrieb er an Adolfine von Werdeck: Also an dem Arminiusberge standen Sie, an jener Wiege der deutschen Freiheit, die nun ihr Grab gefunden hat? Ach, wie ungleich sind zwei Augenblicke, die ein Jahrtausend trennt! Ordentlich ist heute die Welt; sagen Sie mir, ist sie noch schön? Die armen lechzenden Herzen! Schönes u Großes mögten sie thun, aber niemand bedarf ihrer, Alles geschieht jetzt ohne ihr Zuthun. Denn seitdem man die Ordnung erfunden hat, sind alle großen Tugenden unnöthig geworden […] Wenn ein Jüngling gegen den Feind, der sein Vaterland bedroht, muthig zu den Waffen greifen will, so belehrt man ihn, daß der König ein Heer besolde, welches für Geld den Staat beschützt. – Wohl dem Arminius, daß er einen großen Augenblick fand. Denn was bliebe ihm heut zu Tage übrig, als etwa Lieutenant zu werden in einem preußischen Regiment?125
Diese Briefzeilen stehen vor dem Hintergrund des Umbruchs in der Kriegsauffassung und Kriegsgeschichte, der sich seit der Französischen Revolution vollzog – eines Umbruchs, der auch manche Elemente der Hermannsschlacht erst verständlich macht. Traditionell bestanden die Heere weitgehend aus Söldnern. Die Kampfesleistung wurde, soweit nicht ohnehin eine Zwangsrekrutierung stattfand, für den Sold erbracht, wobei natürlich immer auch, wenn es sich um einheimische Truppen handelte, ein gewisses Engagement möglich war. Aber oft kämpften fremde Söldner im Bewußtsein, einem Monarchen und dessen Ambitionen und nicht etwa einem nationalen Interesse zu dienen. Der Gedanke der Nation entwickelte sich voll erst im Zeitalter der Französischen Revolution und mit ihm auch ein spezifisches Nationalbewußtsein. Nun war aber kurz nach dem Ausbruch der Französischen Revolution eine neue Situa124
Historisch übergreifend zu diesem Aspekt: Christoph Prignitz: Vaterlandsliebe und Freiheit. Deutscher Patriotismus von 1750 bis 1850, Wiesbaden 1981. 125 Briefe, Nr. 58, S. 279.
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tion im Militärwesen entstanden. Die Intervention der verbündeten Monarchen, die durch die revolutionäre Bewegung in Frankreich auch ihr Herrschaftssystem in Frage gestellt sahen, hatte in Frankreich zur Levée en masse geführt: zur Bildung eines Volksheeres. Eine ganz neuartige nationale Propaganda hatte eine bis dahin unbekannte Identifikation mit der Sache des bedrohten Vaterlandes bewirkt und so dem französischen Revolutionsheer besondere Durchschlagskraft verliehen. Was Kleist an Adolfine von Werdeck schreibt, läßt sich erst auf diesem Hintergrund und vielleicht sogar als Anspielung auf die Marseillaise verstehen, die den „Schlachtreihen der Söldner“ (den „phalanges mercenaires“) die „Kinder des Vaterlands“ (die „enfants de la patrie“) entgegenstellt. Die befreiende Tat, so betont Kleist, kann nicht von Söldnern des Staates „für Geld“, sondern nur von innerlich beteiligten Kämpfern für das Vaterland erhofft werden. Deshalb kommt es ihm, wie er einige Jahre später, aber noch lange vor der Entstehung der Hermannsschlacht schreibt, auf die Erweckung des „Nationalgeists“ an. Als Napoleon während des dritten Koalitionskrieges, der am 2. Dezember 1805 mit seinem Sieg über die Russen und Österreicher in der Schlacht bei Austerlitz endete, die Neutralität Preußens verletzte und ungestraft durch preußisches Gebiet marschieren konnte, entwickelte Kleist in einem Brief vom Dezember 1805 an Otto Rühle von Lilienstern aus der grundsätzlichen Kritik an der Untätigkeit des Königs zum erstenmal ein Plädoyer für die Weckung eines über alle bloß dynastischen Bindungen hinausgehenden „Nationalgeists“, ein Plädoyer für eine entschlossene nationale Propaganda und für ein rücksichtslos entschlossenes Handeln von seiten des Königs, kurz: ein Plädoyer für all das, was er dann drei Jahre später seinen Hermann in der Hermannsschlacht vorbildhaft tun läßt: Warum hat der König nicht gleich, bei Gelegenheit des Durchbruchs der Franzosen durch das Fränkische, seine Stände zusammenberufen, warum ihnen nicht […] seine Lage eröffnet? Wenn er es bloß ihrem eignen Ehrgefühl anheim gestellt hätte, ob sie von einem gemißhandelten Könige regiert sein wollen, oder nicht, würde sich nicht etwas von Nationalgeist bei ihnen geregt haben. Und wenn sich diese Regung gezeigt hätte, wäre dies nicht die Gelegenheit gewesen, ihnen zu erklären, daß es hier gar nicht auf einen gemeinen Krieg ankomme. Es gelte Sein, oder Nichtsein; und wenn er seine Armee nicht um 300 000 Mann vermehren könne, so bliebe ihm nichts übrig, als bloß ehrenvoll zu sterben. Meinst Du nicht, daß eine solche Erschaffung hätte zu Stande kommen können? Wenn er alle seine goldnen und silbernen Geschirre hätte prägen lassen, seine Kammerherrn und seine Pferde abgeschafft hätte, seine ganze Familie ihm darin gefolgt wäre, und er, nach diesem Beispiel, gefragt hätte, was die Nation zu thun willens sei?126
Nachdem Preußen ein Jahr später in der Schlacht von Jena und Auerstedt am 14. Oktober 1806 eine schwere Niederlage durch Napoleon erlitten hatte, 126
Briefe, Nr. 97, S. 351f.
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schrieb Kleist an seine Schwester Ulrike einen Brief (24. Oktober 1806), in dem er zum ersten Mal die Franzosen mit den Römern verglich und damit die Idee formulierte, die er später der Hermannsschlacht zugrundelegte. „Wie schrecklich sind diese Zeiten!“, heißt es in diesem Brief zehn Tage nach der Schlacht, „Vierzig tausend Mann auf dem Schlachtfelde, und doch kein Sieg! Es ist entsetzlich […] Wir sind die unterjochten Völker der Römer. Es ist auf eine Ausplünderung von Europa abgesehen, um Frankreich reich zu machen“.127 Die Schlacht von Jena und Auerstedt, die Preußens Katastrophe einleitete, wird also zu einer wichtigen Station auf dem Weg zur Konzeption der Hermannsschlacht, nachdem Kleist bereits 1801 von dem „Arminiusberge“ als der „Wiege der deutschen Freiheit“ gesprochen hatte. Arminius und die Entstehung des deutschen Nationalbewußtseins Seit dem Humanismus ist Arminius die Identifikationsfigur des deutschen Nationalbewußtseins.128 Die Quellen der langen Tradition, auf die Kleist zurückblicken konnte, waren die Germania und die Annalen des Tacitus sowie die Römische Geschichte des Velleius Paterculus. Die Annalen geben Auskunft vor allem über die spätere Lebensgeschichte und den gewaltsamen Tod des Arminius (II, 88), aus dem Werk des Velleius Paterculus verbreitete sich die Kenntnis der im Jahr 9 n.Chr. gewonnenen Hermannsschlacht. Im Jahre 1455 wurde die Germania des Tacitus im Kloster Hersfeld gefunden, 1470 wurde sie in Venedig, 1473 in Nürnberg gedruckt, 1497 hielt der Humanist Conrad Celtis über sie die erste Vorlesung an der Wiener Universität. Zusammen mit den im Kloster Corvey gefundenen Annalen erschien die Germania 1515 in dem von Papst Leo X. veranlaßten Erstdruck einer Tacitus-Gesamtausgabe. Mit diesen Entdeckungen und Veröffentlichungen begann die nationale Besinnung auf die Anfänge der deutschen Geschichte, allerdings nicht lediglich aus philologisch-humanistischem Interesse. Denn an der Schwelle der Reformationszeit wurde Arminius erstmals zur Identifikationsgestalt in einem aktuellen Konflikt: Man machte seine kriegerische Auseinandersetzung mit dem Rom des Augustus zum Vorbild des lutherisch-deutschen Kampfes gegen die römisch-katholische Kirche. Ein erstes, wichtiges Zeugnis dafür ist Huttens Dialog Arminius, der 1529 erschien. Im Jahre 1535 folgte eine Schrift des Georg Spalatinus, Luthers Freund und Kanzler des Kurfürsten von Sachsen. Sie trug den Titel: Von dem thewern Deudschen Fürsten Arminio. Ein kurtzer auszug aus glaubwirdigen latinischen Historien. Mit dieser Einreihung in die Front der deutschen Reformation gegen Rom war die Rolle des Arminius als Identifikationsfigur des nationalen Selbstbewußtseins für Jahrhunderte festgelegt. 127
Briefe, Nr. 104, S. 364. Vgl. Richard Kuehnemund: Arminius or the rise of a national symbol in literature (from Hutten to Grabbe), Chapel Hill 1953. 128
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Die zahlreichen Arminius- oder Hermanns-Dichtungen, die seit dem Ausgang des 17. Jahrhunderts entstanden, verwandelten den ursprünglichen Gegensatz von Deutsch und Römisch meistens in den von Deutsch und Französisch. Den geschichtlichen Hintergrund bildeten die kriegerischen Auseinandersetzungen mit Frankreich im Dreißigjährigen Krieg, vor allem aber die Raubzüge Ludwigs XIV., die zur Annexion von Elsaß und Lothringen und zur Besetzung Südbadens geführt hatten, ferner zu einem mit schweren Verwüstungen verbundenen Versuch, die Pfalz zu erobern und zu annektieren. Dabei wurden auch Heidelberg und das Heidelberger Schloß zerstört. Zu diesen politischen Erfahrungen kam eine kulturelle Motivation: Das Gefühl der Überfremdung durch die höfische französische Kultur rief nationale Abwehrreaktionen hervor. Daniel Caspar von Lohenstein veröffentlichte 1689/90 einen großen Arminius-Roman, Johann Elias Schlegel im Jahr 1737 seine Alexandriner-Tragödie Hermann als ein Werk patriotischer Pflicht und nationaler Unabhängigkeit, 1749 folgte Justus Mösers Alexandriner-Tragödie Hermann, und Wieland schrieb 1751 sein Hexameter-Epos Hermann, in dem es um die Abwehr der Franzosen geht. Vor allem aber erhob Klopstock in mehreren Oden und in nicht weniger als drei Dramen die Gestalt Herrmanns zur politischen wie kulturellen Identifikationsfigur, indem er einen religiös gestimmten Patriotismus zur Geltung brachte. 1769 erschien Klopstocks Drama Hermanns Schlacht, 1784 sein Drama Hermann und die Fürsten, 1787 das Drama Hermanns Tod. Kleist fand demnach schon ein reiches literarisches Repertoire vor, als er 1808 seine Hermannsschlacht schrieb. Da sie in der Stunde höchster Bedrohung entstand, die mit dem Beginn der zu den Befreiungskriegen führenden Aktivitäten zusammenfiel, und im Vergleich zu den älteren Arminius-Dramen die mit Abstand größte poetische Kraft, aber auch die größte Radikalität hat, wurde sie zu einem Standardstück des sich während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und dann vor allem im 20. Jahrhundert bis zum Ende des Dritten Reichs auswachsenden Nationalismus.129 Wie in anderen Ländern, so in Griechenland, Italien und Polen, die Befreiungskämpfe gegen fremde Unterdrückung im 19. Jahrhundert den Patriotismus und den Nationalismus per reactionem beförderten, und wie schon im revolutionären Frankreich die anfängliche Bedrohung von außen die nationalen Leidenschaften entfesselte, so in 129
Übergreifend: Otto Dann: Nation und Nationalismus in Deutschland 1770–1990, München 1993; Harold James: A German Identity, 1770–1990, London 1989; Helmuth Plessner: Die verspätete Nation, 4. Aufl. Stuttgart 1966; Christoph Prignitz: Vaterlandsliebe und Freiheit. Deutscher Patriotismus von 1750 bis 1850, Wiesbaden 1981; Hagen Schulze: Der Weg zum Nationalstaat. Die deutsche Nationalbewegung vom 18. Jahrhundert bis zur Reichsgründung, München 1985.
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den Jahren 1806–1815 auch in Deutschland. Kleists Hermannsschlacht wurde bald zum Bestandteil eines nationalen und schließlich nationalistischen Mythos130, der immer zweifelhaftere Formen annahm und den Haß gegen Frankreich zum Grundelement eines stark preußisch geprägten Patriotismus machte. Nachdem aus dem deutsch-französischen Krieg von 1870/1871 erneut ein Deutsches Kaiserreich, das Zweite Reich, hervorgegangen war, kam es am 16. August 1875 zur Einweihung des Hermann-Denkmals bei Detmold – ein Höhepunkt der historisierend-musealen und zugleich heroisierend-nationalen Denkmalsbewegung des 19. Jahrhunderts. Das Hermanns-Denkmal wurde bezeichnenderweise in Gegenwart Kaiser Wilhelms I. eingeweiht. In Gegenwart Kaiser Wilhelms II. feierte man den hundertsten Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig am 18. Oktober 1913 mit einer Aufführung der Hermannsschlacht. Zur Reichstagswahl 1932 hielten Hitler und Göring monumentale Wahlkundgebungen am Hermanns-Denkmal ab. Nach 1945 war Kleists Hermannsschlacht begreiflicherweise für Jahrzehnte verpönt. Man sah sie als einen Fehltritt an, jedenfalls als einen verhängnisvollen Schritt auf dem Weg in einen zerstörerischen Nationalismus und schließlich in den Nationalsozialismus. Diese kausal-lineare Betrachtung ist historisch unangemessen, und so geht man seit einiger Zeit mit Recht zu einer gelasseneren Betrachtung und Bewertung über. Bereits am 21. August 1953 formuliert die Kleist-Würdigung im Londoner Times Literary Supplement die bedenkenswerten Sätze: „to read this play without the prejudices of one who has seen its barbaric heroes rise again in the flesh, one should remember that in Kleist’s time German nationalism had all the glamour of a hopeless cause – how hopeless is clear from Kleist’s last years, his failure to get this play performed, and all the petty frustrations that helped to break his spirit“. Rezeptionsgeschichtlich gehört das Stück zwar weitgehend in die Perspektive eines fatalen Nationalismus, entstehungsgeschichtlich und auf Kleists eigene historische sowie persönliche Situation bezogen ist es aber Ausdruck einer verzweifelten Notlage. Daß es schwer erträgliche Exzesse enthält, vor allem in der berüchtigten Bären-Szene, in der Thusnelda den römischen Legaten Ventidius in eine tödliche Falle lockt und von dem Raubtier zerfleischen läßt (V, 18), ist primär nicht einem wilden Nationalismus zuzuschreiben, sondern Kleists Grundtendenz zum Extremen, die 130 Zur ersten Phase vgl. Otto Fraude: Heinrich von Kleists Hermannsschlacht auf der deutschen Bühne, Kiel 1919. Über die Aufführungsgeschichte bis zu Claus Peymanns Inszenierung am Bochumer Schauspielhaus 1982 informiert gut der Kommentar in SWB 2, S. 1093–1100. Die erste Aufführung der Hermannsschlacht fand am 18.10.1860 in Breslau statt. Seit dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 steigerte sich die Theaterkonjunktur des Stücks bis zum Höhepunkt im Dritten Reich: Allein in der Spielzeit 1933/34 kam es zu 146 Aufführungen.
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sich auch in anderen Werken, nicht zuletzt in der Penthesilea – ganz unpolitisch – gerade in Rache-Exzessen Bahn bricht. Die Gestalt Hermanns und die Idee der Freiheit Hermann erscheint nicht als Held im traditionellen Sinne, weder als kraftvolle Ausnahmenatur noch als draufgängerischer Haudegen. Kleist hielt ihn frei von allen Merkmalen eines urtümlich-germanischen Heldentums, wie es vom Stoff her nahegelegen hätte. Zu einer ‚Hermannsschlacht‘, wie sie der Titel ankündigt, kommt es gar nicht, alles dient der Vorbereitung und der Darstellung der für den Befreiungskampf notwendigen inneren Haltung – dem Vorstadium entsprechend, in dem sich der Befreiungskampf gegen Napoleon erst abzuzeichnen begann. Ganz auf die aktuelle Situation bezogen, machte Kleist seinen Hermann zu einem modernen Strategen und Taktiker, vor allem aber, und das mutet noch moderner an, zu einem genialen Propagandisten psychologischer Kriegsführung. Nicht heroische Kraft, sondern Klugheit und List zeichnen Hermann aus, allerdings auch ein unbeirrbarer politischer Wille, den Befreiungskampf zu organisieren. Er setzt dafür alle Mittel ein und folgt offensichtlich der Devise: der Zweck heiligt die Mittel. Er greift zu Trug und Täuschung, weiß dem Feinde Fallen zu stellen und schreckt auch vor der Propagandalüge nicht zurück. Wenn es ihm notwendig erscheint, bedient er sich sogar des Mittels, das man in der modernen psychologischen Kriegsführung Greuelpropaganda nennt. Kleist legte auf diesen Zug besonderen Wert. Manche Literaturwissenschaftler finden deshalb Kleists Hermannsschlacht im höchsten Grad bedenklich und sind mit moralischen Verurteilungen rasch bei der Hand. Kleist kommt es aber in seinem Drama gerade darauf an zu zeigen, wie alles individuelle Interesse um des übergeordneten politischen Ziels willen hintangestellt werden muß. Und zu diesem individuellen Interesse gehört in seiner Konzeption nicht nur der Besitz, die persönliche Ehrenstellung, die persönliche Sicherheit, die Familie, das eigene Leben, sondern auch die Moralität, insofern sie vor allem auf individuelle Integrität zielt. Das ist ein radikaler, aber nicht so leicht aus Sorge um die Humanität zu kritisierender Ansatz, wenn man auch Freiheit als fundamentalen humanen Wert anerkennt.131 Kleist hat große Energie darauf verwendet, an Hermann dem Cherusker eine vollständige Opferbereitschaft zu zeigen. In völlig selbstloser Weise, ohne Rücksicht auf persönliche Interessen und deshalb auch unter Hintanstellung von persönlichen Ansprüchen auf künftige Herrschaft über das befreite Germanien handelt Hermann – und deshalb ist er auch bereit, die 131
Hierzu und zur Problematik des Werkes insgesamt: Lawrence Ryan: Die ‚vaterländische Umkehr‘ in der Hermannsschlacht, in: Kleists Dramen. Neue Interpretationen, hrsg. von Walter Hinderer, Stuttgart 1981, S. 188–212.
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Moral, sofern sie lediglich der Selbstbewahrung oder der Legitimation individueller Handlungen dient, zu opfern, um das übergeordnete allgemeine Ideal der Freiheit und damit eine Grundvoraussetzung der humanen Selbstverwirklichung zu erreichen. Damit befindet sich Kleist in eklatantem Gegensatz zu Schiller. In Schillers Tragödien opfert oder verliert der Held zwar seine physische Existenz, die moralische aber hält er trotz mancher pathosfördernder Anfechtungen durch eine transzendierende Verbindung zum Ideal fest. Kleists Hermann dagegen siegt nur für seine Sache, nicht für sich selbst und seine moralische Integrität, indem er zwar überlebt, aber sich selbst innerlich aufs Spiel setzt. Kleists Ideal in der Situation einer äußersten Bedrohung durch Unfreiheit ist ganz konkret die Freiheit von der napoleonischen Unterdrückung und Ausbeutung, die sich in ruinösen Kontributionen zeigte. Diesem Ziel ordnet er alles Individuelle unter. Daß dies nur für die Not- und Ausnahme-Situation gilt, hat er selbst betont, indem er brieflich sein Stück ausdrücklich nur für den historischen „Augenblick“ berechnete. Dem Drama selbst schrieb er in auffallender Weise Strukturen einer Reaktion ein, die ans Selbstzerstörerische grenzt. Diese aus einer kompromißlos-strikten Realpolitik resultierende Gesamtproblematik hat niemand psychologisch durchdringender diagnostiziert als der Österreicher Hermann Bahr. Nachdem viele Zeitgenossen Kleists Hermann in plumper national-preußischer Vordergründigkeit auf Bismarck projiziert hatten, notierte er am 13. März 1918 in sein Tagebuch: Wenn ein Cherusker ist, so jedenfalls einer, der seinen Macchiavell gelesen hat. Gar kein Ideologe. Seine Kraft beruht auf List, genauer Kenntnis der menschlichen Gemeinheit, Selbstbeherrschung, Verstellung, Geduld und der wunderbarsten Unerschrockenheit in den Mitteln, auch gegen sich selbst. Ein kluger Rechner; und eine Spielernatur dabei. Er kann so, kann aber auch anders, doch will er immer dasselbe. Er kann alles und will damit nur eins, das macht ihn so groß! Und fast unheimlich ist es, welchen bösen Blick Kleist für seinen Liebling hat, er gibt uns ein Ideal und gibt es zugleich preis. An grausamer Wahrhaftigkeit hat kein deutscher Dichter diesen Preußen erreicht. Wahrhaftigkeit bis zur Selbstzersetzung.132
Die nationalistische Vereinnahmung der Hermannsschlacht hat immer übersehen, daß das Stück zwar eine große nationale Erhebung gegen die Unterdrückung propagiert und daß es entschieden für Selbstbestimmung, keineswegs aber für einen blindwütigen Nationalismus plädiert, wie er sich dann im 20. Jahrhundert herausbildete – einen Nationalismus, der die Nation an sich zum höchsten Wert erhebt.133 Der höchste Wert in der Hermannsschlacht ist 132
Nachruhm, Nr. 434 In diesem Sinn pointiert Bernd Fischer das Geschehen und auch die Gestalt Hermanns, den er zum „philosophischen und intellektuellen Fundamentalisten“ erklärt, wie ihn die moderne Terror-Szene kennt. Bernd Fischer: Das Eigene und das Eigentliche: 133
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nicht die Nation, sondern die Freiheit. Ja, aus dem Drama geht hervor, daß Kleist in paradoxer Verschränkung mit dem Radikalismus seines Stücks ein Humanitätsideal hochhält, das auch politisch über alle nationalen Grenzen hinausreicht. Mit Emphase läßt er seinen Hermann erklären (V. 307–314): Wenn sich der Barden Lied erfüllt, Und, unter einem Königsszepter, Jemals die ganze Menschheit sich vereint, So läßt, daß es ein Deutscher führt, sich denken, Ein Britt’, ein Gallier, oder wer Ihr wollt; Doch nimmer jener Latier, beim Himmel! Der keine andre Volksnatur Verstehen kann und ehren, als nur seine.
Der Protagonist lehnt in diesen Versen gerade den Nationalismus ab; im Bild der politisch vereinten „ganzen Menschheit“ beschwört er das entgegengesetzte Ideal, wie es zahlreiche Schriften der Aufklärung zur Geltung brachten. Indem Kleist durch Hermanns Mund Vertreter verschiedener Nationalitäten für würdig erklärt, das Königsszepter über die politisch geeinte Menschheit zu tragen, pointiert er, daß das politische Ziel nicht eine nationale Hegemonie sein kann. Bonaparte, den „Latier“, verabscheut er, weil er nur die eigene Nation und daher „keine andere Volksnatur“ gelten läßt. Den französischen Imperialismus lehnt Kleist als Ausdruck eines nationalistischen Hegemoniestrebens ab. Offenkundig kann er sich durchaus die politisch geeinte „ganze Menschheit“ vorstellen, was nach damaligen Maßstäben heißt: ein politisch geeintes Europa, aber kein Europa, das von einer Nation auf Kosten aller anderen Nationen dominiert wird, sondern einen Staatenbund, in dem sich die einzelnen Nationen frei entfalten können. Schon die Aufklärung kultivierte solche Europa- und zugleich Friedensvisionen, und niemand anderer als Kant hatte in seiner wirkungsreichen Schrift Zum ewigen Frieden zum ersten Mal den Begriff „Völkerbund“ geprägt. Auch wenn die hier analysierte Passage nicht absolut zu setzen ist, gehört sie zu einem angemessenen Gesamtverständnis. Im wesentlichen geht es um freie Selbstbehauptung und überhaupt um die Freiheit. Der erste Akt mündet programmatisch in eine Verkündigung der Freiheitsidee aus. Später zeichnet sich Klopstock, Herder, Fichte, Kleist. Episoden aus der Konstruktionsgeschichte nationaler Intentionalitäten, Berlin 1995, S. 303. Fischer sieht in der Hermannsschlacht „Momente einer Moderne, die mit dem philosophischen Totalitarismus Persönlichkeitsstrukturen einer Avantgarde hervorgebracht hat, die im missionarischen Befreiungskampf – von was, für was und im Auftrag welcher Philosophie auch immer – eine absolute Identität und Sinnerfahrung erlaubt, von der Fichte sagt, daß sie vorher nur den Märtyrern und Helden der christlichen Missionierung vorbehalten gewesen sei“ (S. 303f.).
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durchaus auch ein Programm nationaler Selbstkonstitution ab, aber nicht unabhängig von dieser Idee der Freiheit und vor allem nicht unabhängig von der erfahrenen Bedrohung der eigenen Freiheit. Im übrigen fehlt gerade die für den späteren Nationalismus charakteristische Verklärung der eigenen Nation und das hohle Pathos des kollektiven Dünkels.
8. Prinz Friedrich von Homburg Entstehung, Quellen und historischer Hintergrund Die Entstehungsgeschichte des Prinzen von Homburg134 ist weniger gut bezeugt als die der anderen Dramen. Einen ersten Anhaltspunkt bietet Kleists Interesse für die historische Hauptquelle, das Lesebuch von Karl Heinrich Krause: Mein Vaterland unter den hohenzollerischen Regenten (1803). Kleist entlieh dieses Buch vom 9. Januar bis zum 1. März 1809 aus der Dresdner Königlichen Bibliothek135, nachdem er, wie aus zwei Briefen vom 1. Januar 1809 hervorgeht, zu diesem Zeitpunkt die Hermannsschlacht vollendet hatte. Er begann also sofort nach deren Abschluß mit den Vorarbeiten für sein neues Drama. Aus dem Titel des entliehenen Buches ergibt sich, daß Kleist von vornherein ein Werk mit einem engen Bezug zur vaterländischen Geschichte plante. Wie schon die Hermannsschlacht, so entstand auch das neue Drama aus dem patriotischen Impuls, der sein Schaffen nach der existenzbedrohenden Niederlage Preußens im Jahre 1806 bestimmte, in einer Zeit, die zugleich der psychologischen und politischen Vorbereitung des Freiheitskampfes diente. Wie groß Kleists patriotisches Engagement war, geht auch aus seinen im Jahre 1809 verfaßten politischen Kampf- und Propaganda-Schriften hervor, von denen die wohl wichtigste den Titel trägt Was gilt es in diesem Kriege.136 Im Mai 1809 reiste Kleist mit einem Freund zum Schlachtfeld von Aspern – drei Tage nach dem Sieg der Österreicher über das französische Heer am 22. Mai. Zwar besieg134 Einen Überblick über die ältere Forschung bietet Fritz Hackert: Kleists Prinz Friedrich von Homburg in der Nachkriegs-Interpretation 1947–1972. Ein Literaturbericht, in: Lili 3, 1972, H. 12, S. 53–80; eine souverän diagnostizierende und das gesamte Spektrum entfaltende Darstellung der neueren Forschung gibt Bernd Hamacher: „Darf ichs mir deuten, wie es mir gefällt?“ 25 Jahre Homburg-Forschung zwischen Rehistorisierung und Dekonstruktion (1973–1998), in: Heilbronner Kleist-Blätter 6 (1999), S. 9–67. Vgl. Bernd Hamacher: Erläuterungen und Dokumente: Heinrich von Kleist, Prinz Friedrich von Homburg, Stuttgart 1999. 135 Belegt im Entleihbuch der Dresdner Königlichen Bibliothek, vgl. Nachruhm, Nr. 307. 136 Hierzu: Hermann F. Weiss: Heinrich von Kleists Was gilt es in diesem Kriege? Eine Interpretation, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 101 (1982), S. 161–172.
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te bald darauf Napoleon die Österreicher in der Schlacht von Wagram, aber Erzherzog Karl hatte in der Schlacht bei Aspern Napoleons Nimbus der Unbesiegbarkeit zerstört und damit die Hoffnungen auf einen Befreiungskampf gestärkt. Kleist widmete dem „Überwinder des Unüberwindlichen“ eine Ode.137 Wie mit seinen anderen politischen Schriften aus dem Jahre 1809 schwamm er auf einer Woge patriotischer Propaganda: Sein Briefpartner Heinrich Joseph von Collin appellierte an den österreichischen Stolz, Friedrich Schlegel, Ernst Moritz Arndt und er selbst suchten das deutsche Ehrgefühl zu wecken. Ihren Höhepunkt erreichte diese patriotische Propaganda in dem von Friedrich Gentz redigierten österreichischen Kriegsmanifest und in dem von Friedrich Stadion und Friedrich Schlegel verfaßten Aufruf, den der zum Generalissimus ernannte Erzherzog Karl an die deutsche Nation richtete. Abgeschlossen wurde Prinz Friedrich von Homburg vielleicht schon im Jahre 1809, spätestens aber in den ersten Monaten des Jahres 1810, nachdem sich Kleist in Berlin niedergelassen hatte. Am 19. März 1810 schrieb er an die Schwester Ulrike, das neue Schauspiel solle, „wenn es gedruckt ist, der Königinn übergeben werden“.138 Offensichtlich verband sich Kleists patriotisches Engagement mit der Hoffnung, durch sein neues „vaterländisches“ Stück zugleich die Unterstützung des Hofes zu finden. Aber erst am 21. Juni 1811 bot er es einem Berliner Verleger zum Druck an, mit folgenden aufschlußreich charakterisierenden Worten: „Wollen Sie ein Drama von mir drucken, ein vaterländisches (mit mancherlei Beziehungen) namens der Prinz von Homburg […]?“139 Die Antwort des Verlegers kann nur ablehnend gewesen sein, denn die Verwandte Marie von Kleist, die sich Kleist immer helfend zur Seite stellte, schrieb am 3. September 1811, also etwa zwei Monate, bevor sich Kleist das Leben nahm, an den Prinzen Wilhelm von Preußen in der Hoffnung, mit ihrer Empfehlung des neuen Dramas eine finanzielle Unterstützung für den verarmten Dichter zu erlangen: Die Verleger belasten sich in diesen zweifelhaften und unsicheren Zeiten mit keinem Werk […] Ich wage zu gleicher Zeit, Ihrer Königl. Hoheit der Frau Prinzessin ein Stück zu Füßen zu legen, welches der Verfasser ihr gewidmet hat und das sicher große Schönheiten enthält, auf das man jedoch, wenn ich nach der Wirkung urteile, die es auf mich gemacht hat, die Frau Prinzessin vorbereiten müßte, und vor allem wäre es nötig, daß sie den Dichter und all seine aus Shakespeare geschöpften Ideen über das Drama kennenlernte. Aber ich verspreche der Frau Prinzessin viel Befriedigung, wenn sie das Stück bis zuende liest.140 137 An den Erzherzog Carl. Nach der Schlacht bei Aspern. Den 21sten und 22sten Mai 1809. In: SWB 3, S. 439f. 138 Briefe, Nr. 171, S. 443. 139 Briefe, Nr. 237, S. 496. 140 Lebensspuren, Nr. 506.
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Die Ängstlichkeit, die dieser Brief im Hinblick auf die Wirkung des Stücks bei Hofe erkennen läßt, dürfte darauf zurückzuführen sein, daß Kleists Meisterwerk mit dem starren preußischen Offiziers- und Heldenklischee bricht, indem es den Prinzen von Homburg, immerhin einen kommandierenden General, zuerst romantisch träumend und dann im Angesicht des offenen Grabes von Todesfurcht überwältigt darstellt. Das kam in Preußen einem Tabubruch gleich. Daß weder die Hermannsschlacht noch das Homburg-Drama gedruckt wurden, gehörte zu den letzten schweren Enttäuschungen Kleists vor seinem Freitod, als er sich schon in einer verzweifelten materiellen Lage befand und als Herausgeber der Berliner Abendblätter existenzbedrohenden Drangsalen ausgesetzt sah.141 Erst 1821 beförderte Tieck Kleists letztes Drama zum Druck. Alsbald wurde es heftig diskutiert. Heinrich Heine schrieb im zweiten seiner Briefe aus Berlin unter dem Datum „Berlin, 16. März 1822“: „Es ist jetzt bestimmt, daß das Kleistische Schauspiel ‚Der Prinz von Homburg oder die Schlacht bei Fehrbellin‘ nicht auf unserer Bühne erscheinen wird, und zwar, wie ich höre, weil eine edle Dame142 glaubt, daß ihr Ahnherr in einer unedeln Gestalt darin erscheine. Dieses Stück ist noch immer ein Erisapfel in unsern ästhetischen Gesellschaften. Was mich betrifft, so stimme ich dafür, daß es gleichsam vom Genius der Poesie selbst geschrieben ist […]“.143 Willibald Alexis schrieb im Berliner Conversations-Blatt am 11. August 1828: „Auf allen deutschen Theatern, hinab bis zu denen, die umherziehend in den Winkeln ihr Dasein zu fristen suchen, war Kleists Prinz von Homburg gespielt worden […] Nur in der Stadt, für die es des Dichters glühende Vaterlandsliebe geschrieben, hatte man von Jahr zu Jahr gezaudert. Nur in Berlin wurde nicht das Drama gegeben […]“.144 Nachdem es am 25. Juli 1828 doch erstmals in Berlin zur Aufführung gelangt war, befahl der König nach der dritten Vorstellung, daß das „Stück niemals wieder gegeben werden soll“!145 Der historische Hintergrund des Stücks ist ein doppelter. Er ergibt sich einerseits aus den geschichtlichen Ereignissen des 17. Jahrhunderts, andererseits aus den aktuellen Zeitbezügen, die Kleist in einem der schon zitierten 141 Hierzu grundlegend Helmut Sembdner: Die Berliner Abendblätter Heinrich von Kleists, ihre Quellen und ihre Redaktion, Berlin 1939, sowie Dirk Grathoff: Die Zensurkonflikte der Berliner Abendblätter. Zur Beziehung von Journalismus und Öffentlichkeit bei Heinrich von Kleist, in: Ideologiekritische Studien zur Literatur. Essays I, Frankfurt a.M. 1972, S. 35–168. 142 Gemeint ist Amalie Marie Anne, eine geborene Prinzessin von Hessen-Homburg, die Schwägerin des Königs, der Kleist das Stück 1811 gewidmet hatte. 143 Nachruhm, Nr. 553. 144 Nachruhm, Nr. 557. 145 Vgl. Nachruhm, S. 530.
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Briefe seinem „vaterländischen“ Drama selbst zuschrieb. Die dem Stück zugrundeliegende Schlacht von Fehrbellin hatte im Jahre 1675 stattgefunden und markierte einen historischen Wendepunkt, an dem Preußens Aufstieg zur Großmacht begann. Indem Kleist diesen Stoff in einer Zeit aufgriff, in der er auf den Beginn des Befreiungskampfes gegen die französische Besatzungsmacht hoffte, wollte er ein politisches Signal setzen. Am deutlichsten zeigt dies der letzte Vers des Dramas: „In Staub mit allen Feinden Brandenburgs!“ Zwar wurde die Schlacht von Fehrbellin gegen die Schweden ausgefochten, aber sie gehörte in den Zusammenhang der von Ludwig XIV. gegen Deutschland geführten Raubkriege. Damit mußte der aktuelle Zeitbezug besonders deutlich hervortreten. Als Friedrich Wilhelm von Brandenburg, der große Kurfürst (1620–1688), in dem gegen Ludwig XIV. geführten Reichskrieg die französischen Truppen ins Elsaß zurückzudrängen versuchte, zog er nach einer Niederlage bei Sinzheim (1674) und einer unentschiedenen Schlacht bei Türkheim (Januar 1675) seine Truppen vom Oberrhein ab, um seine Mark Brandenburg gegen die von Frankreich finanzierten Schweden zu verteidigen, die inzwischen aus dem schon während des Dreißigjährigen Krieges annektierten Pommern eingefallen waren. In der Schlacht von Fehrbellin im Juni 1675 schlug er die Schweden so entscheidend, daß sie schließlich auch Pommern, Stettin und Stralsund freigeben mußten. Zwei Elemente in Kleists Stück, das befehlswidrige Losschlagen des Prinzen und der Opfertod des Stallmeisters Froben, entsprechen nicht den historischen Fakten, sondern gehen auf spätere Legendenbildung zurück. Der historische Prinz von Homburg führte als General der Kavallerie in der Schlacht von Fehrbellin zwar den Angriff, ohne einen neuen Befehl des Kurfürsten abzuwarten, aber nicht gegen einen ausdrücklichen Befehl, wie es die von Kleist übernommene spätere Legende wollte. Und Froben fiel zwar in der Schlacht, aber er opferte sich nicht für den Kurfürsten. Die noch für Kleist wesentliche Legendenbildung um den Prinzen von Homburg begann durch niemand Geringeren als Friedrich den Großen. In seinem Werk Mémoires pour servir à l’histoire de la Maison de Brandenbourg (Berlin 1751) schrieb er, der Prinz von Homburg habe sich gegen den ausdrücklichen Befehl des Kurfürsten in den Kampf gestürzt, und die Schlacht wäre verloren gegangen, wenn nicht der Kurfürst die Situation gerettet hätte. In noch hellerem Lichte ließ Friedrich der Große seinen Vorfahren, den großen Kurfürsten erscheinen, indem er hinzufügte, der Kurfürst habe dem Prinzen von Homburg großmütig verziehen, „daß er so leichtherzig das Schicksal des ganzen Staates aufs Spiel gesetzt hatte. Er sprach zu ihm: ‚Wenn ich Euch nach der Strenge der Kriegsgesetze richtete, hättet Ihr das Leben verwirkt. Aber verhüte Gott, daß ich den Glanz eines solchen Glückstages beflecke, indem ich das Blut eines Fürsten vergieße, der ein Hauptwerkzeug meines Sieges war!‘“ Den angeblichen Opfertod des Stallmeisters Froben
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erfand Friedrich der Große für seine Geschichtslegende, um ein Beispiel bedingungslos-aufopfernder Gefolgschaftstreue vor Augen zu stellen. Seine noch in Kleists Übernahme erkennbare Intention bestand darin, dem aus persönlichem Ehrgeiz entspringenden Ungehorsam des Prinzen von Homburg die bis zum Opfertod reichende Selbstaufgabe Frobens gegenüberzustellen – einer Tat der Eigenmächtigkeit eine Tat unbedingten Dienens.146 Die Legende war äußerst populär und wurde oft auch bildlich dargestellt. Im Jahre 1790 erschien in einer Zeitschrift ein Kupferstich des berühmtesten Kupferstechers und Buchillustrators der damaligen Zeit, Daniel Chodowiecki, der den Großen Kurfürsten zeigt, wie er – so lautet der erklärende Beitext – „nach der Schlacht von Fehrbellin dem Prinzen von Homburg, der durch die unzeitige Hitze beinahe das ganze Glück Brandenburgs aufs Spiel gesetzt hätte, verzeiht“. Darauf folgten viele andere Darstellungen der gleichen Szene, so daß sie im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert eine gewisse Berühmtheit erlangte. Am bedeutendsten ist wohl ein Gemälde des Malers Johann Karl Heinrich Kretschmar aus dem Jahre 1808 mit dem Titel Friedrich Wilhelm der Große, Kurfürst von Brandenburg, und der Prinz von Hessen-Homburg nach der Schlacht von Fehrbellin. Es zeigt den beschämten Prinzen mit gesenktem Haupt und den Kurfürsten mit erhobenem Zeigefinger im Augenblick der von Friedrich dem Großen erfundenen Belehrung.147 Kleists wichtigste Quelle für den historischen Hintergrund, das schon erwähnte Werk des Feldpredigers Karl Heinrich Krause mit dem Titel Mein Vaterland unter den hohenzollerischen Regenten, beseitigt zwar die Froben-Legende, reproduziert aber die für Kleists Stück grundlegende Legende vom befehlswidrigen Handeln des Prinzen von Homburg, um dann die huldvolle Ermahnung des Großen Kurfürsten darzustellen. In den folgenden Jahren, und das kann Kleist kaum entgangen sein, widerlegten Vorträge und Veröffentlichungen die gesamte Legende, auch diejenige vom angeblichen Verstoß des Prinzen von Homburg gegen die Ordre. Zu den allgemeineren historischen Voraussetzungen in Kleists eigener Zeit gehörte ein strenges preußisches Offiziersethos und ein entsprechendes Heldenbild. Daß Kleist dagegen verstieß, indem er den Prinzen von Homburg so sehr mit menschlichen Regungen ausstattete, kam einem Verstoß gegen ein Grundelement der herrschenden Staatsideologie gleich, denn Preußen definierte sich sehr weitgehend über die Leistungen der militärischen Disziplin. 146 Das französische Original in: Œuvres de Fréderic II roi de Prusse, Tome I, Berlin 1789, S. 127–130. Dokumentation in deutscher Übersetzung: SWB 2, S. 1164–1166. 147 Der nach diesem Gemälde gefertigte Kupferstich von Joseph Freidhoff ist abgebildet bei Fritz Hackert: Kleists Prinz Friedrich von Homburg. Erläuterungen und Dokumente, Stuttgart 1979, S. 65, sowie in SWB 2, vor S. 1089.
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Kleist muß bewußt gewesen sein, was er mit seinem Drama riskierte, denn er entstammte ja selbst dem preußischen Militäradel. Wie sehr das Verhalten des Prinzen von Homburg irritierte, zeigte sich noch Generationen später. So vermerkte selbst der doch sonst eher unkonventionelle Fontane in seinen Aufzeichnungen von 1872, Figuren wie der Prinz von Homburg seien eitle, krankhafte, prätentiöse Waschlappen, aber keine Helden, Kerle, die in Familie, bürgerlicher Gesellschaft, staatlichem Leben immer nur Unheil gestiftet haben und die immer nur in kranker Zeit oder von kranken Gemütern gefeiert worden sind. Ein Prinz, ein Reiterführer, ein Held, wenn das Vaterland einem übermächtigen Feinde gegenübersteht, der 50 Jahre lang Europa mit seinem Kriegsruhm gefüllt hat, und der nächste Tag die blutige Entscheidung bringen soll, ein solcher Prinz und Held knöpft die Ohren auf, wenn der Feldmarschall die Dispositionen für den Angriff gibt, und steht nicht schlafwandelnd, geistesabwesend daneben, bloß weil eine Prinzessin, für die er eine Neigung empfindet, in der Nähe steht und einen verlorengegangenen Handschuh sucht.148
Bismarck nannte im Jahre 1889, fünf Monate vor seiner Entlassung, Kleists Drama ein „schwächliches Stück“. „Denn“, so fuhr er fort, „dieser Prinz ist doch ein schwaches Rohr – mit seiner Todesfurcht“.149 Kaiser Wilhelm II. schätzte zwar den Prinzen von Homburg als eines seiner Lieblingsstücke; auf den Einwand eines seiner Generaladjutanten: „Wenn nur die fatale Feigheitsszene nicht wäre“, antwortete er allerdings: „Aber dieser Auftritt kann ja einfach gestrichen werden“!150 Schon im Jahre 1850 bemerkte Hebbel sarkastisch: Kleist stieß mit dem Prinzen von Homburg nun noch obendrein gegen einen Fleck, der zu seiner Zeit, wo Theodor Körner die Leute in seinen Trauerspielen ordentlich darum um die Wette laufen ließ, wer zuerst sterben soll, zu den allerempfindlichsten gehört. Todesfurcht und ein Held! Was zu viel ist, ist zu viel! Es war eine Beleidigung für jeden Fähnrich. ‚Ein Butterbrot verlangen Sie von mir? Das geb’ ich Ihnen nicht! Aber mein Leben mit Vergnügen!‘151
Der andere Stein des Anstoßes, die Insubordination des Prinzen, war nicht nur in der seit Friedrich dem Großen etablierten Legende von Bedeutung. Schon in der Schlacht bei Saalfeld 1806, vier Tage vor der Schlacht bei Jena und Auerstedt, hatte Prinz Louis Ferdinand von Preußen ein Beispiel verderblicher Übereilung geboten.152 Noch aktuellere Analogien gab es im Jahre 1809. Darin 148
Nachruhm, Nr. 575. Nachruhm, Nr. 360. 150 Nachruhm, Nr. 584. 151 Nachruhm, Nr. 565. 152 Vgl. hierzu die grundlegende Darstellung bei Richard Samuel: Prinz Friedrich von Homburg. Ein Schauspiel. Nach der Heidelberger Handschrift hrsg. von Richard Samuel unter Mitwirkung von Dorothea Coverlid, Berlin 1964. Vgl. jetzt auch den Abdruck der historischen Zeugnisse bei Bernd Hamacher, Erläuterungen und Dokumente (wie Anm. 134), S. 85–88. 149
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dürfte der Grund liegen, warum Kleist die Legende von der Befehlsübertretung des Prinzen von Homburg wieder aufgriff, obwohl sie bereits widerlegt worden war. Im Frühjahr 1809, also gerade in der Zeit, in der er sich schon mit dem Homburg-Drama beschäftigte, unternahmen preußische Freikorps spontane militärische Aktionen gegen die Franzosen, während der preußische König sich vorsichtig zurückhielt. Die unkontrollierten Aktivitäten erregten seinen Unwillen, denn er wollte sich die Zügel nicht aus der Hand nehmen lassen. Am 12. März 1809 richtete er ein aufschlußreiches Schreiben an den Gouverneur von Schlesien, Friedrich Wilhelm Graf von Götzen. „Kommt es also zum Kriege zwischen Oesterreich und Frankreich“, schrieb der König, so verlange ich, daß außer den Vorsichtsmaßregeln, das Militär und die Erhaltung der Festungen betreffend, worüber ich meine Befehle bereits ertheilt, durchaus Ruhe und Ordnung erhalten, und kein Eclat aus unzeitigem Eifer, an dem Kriege gegen Frankreich theilzunehmen, ausbreche. Ich gebe Ihnen hierzu den gemessensten und genauesten Befehl, und sind Sie mir mit Ihrem Kopf dafür verantwortlich, denn ich kann und werde keine Anarchie in meinem Lande dulden, so lange ich an der Spitze desselben stehe. Sie haben diese meine feste Willensmeinung aller Orten directe oder indirecte wissen zu lassen, da, wo es, um meiner Absicht zu entsprechen, von Ihnen wird nöthig befunden werden. Kraft, Muth und aber ebenso wesentlich Gehorsam bezeichnen den wahren Patrioten, der seine Privatmeinung und Ansicht stets dem letzteren aufzuopfern gewillt sein muß.153
Vor diesem aktuellen Hintergrund gewann die fiktive Insubordination des Prinzen von Homburg ihr besonderes Interesse. Der König versuchte der Freikorps-Bewegung einen Riegel vorzuschieben, indem er die Verletzung der Gehorsamspflicht mit der Todesstrafe bedrohte. Dennoch kam es zu spontanen Aktionen, es ereignete sich also genau das, was Kleist gestaltete, indem er den Prinzen von Homburg gegen die Ordre losschlagen ließ. Im April 1809, kurz nachdem Österreich den Krieg gegen Frankreich begonnen hatte, rückte Major Ferdinand von Schill gegen die königliche Ordre mit seinem Regiment aus der Berliner Garnison aus. In der Hoffnung, dadurch den zögernden preußischen König endlich zum Handeln zu bewegen, wollte er auf eigene Faust den Kampf gegen die französische Besatzung beginnen. Vom gleichen Tatendrang wie Schill waren viele andere beseelt. Zu ihnen gehörte Kleist, aber auch der Leiter des preußischen Kriegsministeriums, General von Scharnhorst. Er bereitete Schill schon Anfang 1809 auf den baldigen Aufstand vor, warnte aber vor Übereilung und Eigenmächtigkeit. Scharnhorsts Schreiben an den Major von Schill lautete: Sie sind […] auf einem guten Posten, und die Zeit ist nahe, wo wir auf kräftige Handlungen rechnen müssen. Haben Sie ein gutes Auge auf die Dinge in Oesterreich; der Krieg 153 Vgl. SWB 2, S. 1171 f. (zitiert nach Richard Samuels englischer Einzelausgabe von 1962, S. 194).
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wird dort ganz wahrscheinlich in diesem Jahre noch ausbrechen, vielleicht schon im Frühjahr. Wir müssen alsdann überall fertig seyn, um den kleinen Krieg [‚Guerilla‘!] zu übernehmen, und auf Sie rechne ich dabei am meisten. Es wäre gut, wenn Sie sich alsdann Magdeburgs zu bemächtigen suchten und Mitteldeutschland insurgirten. An Theilnahme wird es Ihnen unter der dortigen Bevölkerung nicht fehlen. Doch warten Sie das Zeichen ab und übereilen Sie nichts.154
Major von Schill wartete nicht das Zeichen ab, sondern schlug eigenmächtig los. Am 25. Mai 1809, am selben Tage, an dem Kleist das Schlachtfeld von Aspern besuchte und voller Hoffnung an Joseph Baron von Buol-Mühlingen schrieb: „Nun zweifle ich keinen Augenblick mehr daß der König v. Preußen und mit ihm das ganze Norddeutschland losbricht, und so ein Krieg entsteht, wie er der großen Sache, die es gilt, würdig ist“155 –wurde Schill in Stralsund von feindlicher Übermacht gestellt. Nachdem er am 31. Mai 1809 im Straßenkampf gegen die eindringenden französischen Truppen gefallen war, wurden 11 Offiziere sowie 14 Unteroffiziere und Soldaten seines Regiments am 26. September 1809 standrechtlich erschossen. Wie sehr Kleist, der von Schills Tod erst später erfuhr, mit dem kampfbegierigen Major sympathisierte und auf seine Rettung hoffte, zeigt ein Brief, den er am 13. Juni 1809 an Friedrich Schlegel schrieb. Darin heißt es im Hinblick auf die braunschweigischen und österreichischen Truppenbewegungen gegen die Franzosen: „Diese Bewegungen können Schill vielleicht retten“.156 Die gesamte Konstellation veranlaßte Kleist, das Verhältnis von persönlichem Engagement und „Ordre“ im preußischen Staat zu reflektieren. Erst dieser Horizont macht ein genaueres Verständnis seines Dramas möglich, weil nur so die Appellstrukturen und die Anspielungsfülle faßbar werden. Allerdings griff Kleist mit seiner Konzeption weiter aus. Die Erneuerung des stoischen Ethos Eine tiefere historische Dimension gewann Kleist für sein Werk, indem er ihm einen Grundzug der preußischen Staatsideologie einschrieb: ein stoisches Ethos, das im Verlauf des 17. Jahrhunderts als offizielles preußisches Staatsethos etabliert worden war.157 Es beruhte auf zentralen stoischen Idealen – auf dem der Standhaftigkeit (constantia) und auf dem der Bewährung in schweren Situationen (probatio). Maßgebend war auch der stoische Gedanke, daß der 154 Zitiert nach: Georg Heinrich Klippel, Das Leben des Generals von Scharnhorst. Dritter Theil. Fünftes und sechstes Buch 1801 bis 1813, Leipzig 1871, S. 473. Vgl. SWB 2, S. 1173. 155 Briefe, Nr. 163, S. 434. 156 Briefe, Nr. 164, S. 436. 157 Im Folgenden greife ich teilweise auf meinen Aufsatz zurück: Stoisches Ethos in Brandenburg-Preußen und Kleists Prinz Friedrich von Homburg, in: KJb 1993, S. 89–102.
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Mensch lernen müsse, dem Tod furchtlos entgegenzusehen. Um den Schicksalsfällen widerstehen zu können, müsse man lernen, sich von Glücksgütern unabhängig zu machen – „fortunae resistere“. Der entscheidende antike Gewährsmann für diese heroisch geprägte Form der Stoa war Seneca mit zahlreichen Schriften und so auch mit seinem bedeutendsten Werk, den Briefen an Lucilius (Epistulae morales ad Lucilium). Der historische und biographische Hintergrund ist klar faßbar: Während der Willkürherrschaft des Kaisers Nero lebte Seneca im Schatten der Todesdrohung, die von dem Despoten ausging und der er schließlich zum Opfer fiel. Anderthalb Jahrtausende später, im Zeitalter der Religionskriege und des Dreißigjährigen Krieges, zeichneten sich analoge Ursachen für das Wiedererstarken des stoischen Ethos ab. In einer Zeit endloser Greuel, in der sich alle äußeren Ordnungen auflösten, war die stoische Philosophie geeignet, Trost und inneren Halt zu gewähren. Sie sollte zur Unabhängigkeit von allem Äußeren und zur Standhaftigkeit formieren. Hauptrepräsentant dieses Neustoizismus war der Niederländer Justus Lipsius mit seinen auf Seneca und Epiktet zurückgreifenden Hauptwerken158 De constantia libri tres (1584), Manuductio ad Stoicam philosophiam (1604) und Physiologia Stoicorum (ebenfalls 1604).159 Mit Lipsius setzte sich die neustoische Bewegung voll durch, die das europäische Geistesleben, nicht zuletzt das juristische und staatliche Denken prägte. Weil Lipsius Niederländer war, sprach man geradezu von einer „niederländischen Bewegung“. Und es ist charakteristisch, daß die bedeutendste Ethik dieser Zeit von dem Niederländer Spinoza stammt und ebenfalls vom stoischen Anliegen der Affektbesiegung und der inneren Unabhängigkeit getragen ist. Ein Blick über den philosophisch-literarischen Horizont hinaus eröffnet eine weite politische Perspektive auf die neustoischen Ursprünge des modernen preußischen Pflicht- und Staatsbewußtseins – eine Perspektive, die schließlich bis zu Kleists letztem Drama führt. Im Brandenburg des Großen Kurfürsten, also desselben Kurfürsten, der bei Kleist als Gegenspieler des Prinzen auftritt, war die niederländische Bewegung von fundamentaler Bedeutung. Der große Kurfürst selbst war in seiner Jugend zum Studium an die Universität Leiden gegangen – der in V. 235 des Homburg-Dramas genannte (Johann Friedrich) Kalkhuhn, der seit 1627 sein Erzieher war, hatte ihn im Jahre 1634 dorthin be158 Vgl. Gerhard Oestreich: Antiker Geist und moderner Staat bei Justus Lipsius (1547–1606). Der Neustoizismus als politische Bewegung. Göttingen 1989 (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 38). 159 Der Traktat De constantia erfuhr schon bis 1705 mehr als 41 lateinische Editionen und wurde außerdem in alle wichtigen europäischen Sprachen übersetzt, mehrmals ins Deutsche – bezeichnenderweise erschien auch im Jahre 1802, wiederum „in publicis malis“, eine Neuübersetzung.
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gleitet. Nicht zufällig auch ist Natalie eine Prinzessin von Oranien.160 Der niederländische Einfluß, von dem heute noch das ‚holländische Viertel‘ in Berlin und die vielen auf -Damm endenden Straßennamen zeugen, prägte Hof, Adel, Beamtentum und wissenschaftliches Leben und setzte sich bis weit ins 18. Jahrhundert hinein fort.161 Im Medium des Neustoizismus entwickelte sich auch die niederländische Naturrechtslehre, die der Niederländer Hugo Grotius seit 1685 begründete und dann der in Sachsen geborene Samuel Freiherr von Pufendorf ebenfalls weitgehend auf stoischer Basis ausgestaltete. Pufendorf, ein führender Kopf der niederländischen Bewegung, verbrachte seine letzten Lebensjahre in Berlin als Hofhistoriograph und Geheimer Rat. Er ist indes nur einer von vielen Vertretern der „Niederländischen Bewegung“ in Preußen. Denn zahlreiche hohe preußische Beamte besuchten die Universität in den Niederlanden, die als das modernste und effizienteste Staatswesen der damaligen Zeit anerkannt waren. Als besonders weitreichend erwies sich neben der allgemeinen Verbreitung der Werke von Lipsius in Preußen die Transformation seiner neustoischen Wertlehre ins Politische und Militärische. Lipsius selbst hatte schon 1589 eine sofort ungemein erfolgreiche Politica veröffentlicht, ein Handbuch der Regierungs- und Verwaltungskunst im Geiste einer durch die römisch-stoische Morallehre disziplinierten Staatsräson. Die Tugenden der Standhaftigkeit und Mäßigkeit – constantia und temperantia –, die Lehren von Autorität und Disziplin – auctoritas und disciplina – avancierten zu integralen Bestandteilen der preußischen Pflichtenlehre und Arbeitsethik. Im Hinblick auf Kleists Homburg-Drama ist es von besonderer Bedeutung, daß für die geistig-moralische Bildung des preußischen Offiziers die Literatur der römischen Stoa kanonisiert wurde. Das geht aus den militär- und staatswissenschaftlichen Lexika des 17. und 18.Jahrhunderts hervor. So entwickelte der Herausgeber des preußischen Militärrechts, des Corpus iuris militaris von 1732, den Plan einer ‚Universalbibliothek vor einen gelehrten Offizier‘, in dem er die Werke der römischen Stoiker besonders empfahl: die Werke Ciceros, Senecas und Epiktets. Sie galten als Grundlage der Weltanschauung und Lebensführung eines Offiziers. Das Ethos des preußischen Militärs war also durch und durch stoisch geprägt: als ein Ethos der strengen Verantwortung und des Pflichtbewußtseins, 160 Es gab eine enge dynastische Verbindung zwischen dem Haus Oranien und dem Haus Brandenburg, denn Kurfürst Friedrich Wilhelm war ein Enkel des Statthalters Wilhelm von Oranien und in erster Ehe mit einer Oranierin verheiratet. 161 Vgl. Gerhard Oestreich: Justus Lipsius als Theoretiker des neuzeitlichen Machtstaates, in: Historische Zeitschrift 181, 1956, S. 31–78; ders.: Der römische Stoizismus und die Oranische Heeresreform, in: Historische Zeitschrift 176, 1953, S. 17–43; ders.: Calvinismus, Neustoizismus und Preußentum, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 5, 1956, S. 157–181.
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der Selbstbeherrschung und der Askese, vor allem aber eines ausgeprägten Staatsbewußtseins. Friedrich der Große selbst bezeichnete sich als „philosophe stoïcien“. Kleist griff in seinem letzten Drama auf die stoische Tradition und ihre Bedeutung für das preußische Offizierskorps zurück. Der Kurfürst verkörpert darin die stoische Tugend der constantia mit programmatischer Deutlichkeit. Besonders eindringlich zeigt sich dies, als auf Nataliens eigenmächtige Ordre nachts vor dem Schloß die Regimenter aufmarschieren und sich die Generalität ebenfalls ohne Wissen und Willen des Kurfürsten versammelt (V, 2). Alles ist in Aufruhr, weil man glaubt, der Kurfürst wolle den Prinzen von Homburg hinrichten lassen. Das entscheidende Stichwort gibt der Feldmarschall Dörfling (V. 1428): „Rebellion, mein Kurfürst!“, worauf der Kurfürst in stoischer Gelassenheit, geradezu als Verkörperung der stoischen tranquillitas animi, die Worte spricht: „Ruhig, ruhig!“ Schon vorher, nach ersten alarmierenden Nachrichten, hält er einen Monolog, der ganz von stoischer Fassung zeugt – weder Furcht noch Zorn erregen ihn (V. 1412–1424): Seltsam! – Wenn ich der Dei von Tunis wäre, Schlüg ich bei so zweideutgem Vorfall, Lärm; Die seidne Schnur, legt ich auf meinen Tisch, Und vor das Tor, verrammt mit Palisaden, Führt ich Kanonen und Haubitzen auf. Doch weils Hans Kottwitz aus der Priegnitz ist, Der sich mir naht, willkürlich, eigenmächtig, So will ich mich auf märksche Weise fassen: Von den drei Locken, die man silberglänzig, Auf seinem Schädel sieht, fass ich die Eine, Und führ ihn still, mit seinen zwölf Schwadronen, Nach Arnstein, in sein Hauptquartier, zurück. Wozu die Stadt aus ihrem Schlafe wecken?
Vor allem aber der Entwicklungsgang des Prinzen von Homburg selbst entspricht den stoischen Postulaten bis hin zu einer stoischen Haltung gegenüber dem Tod. Am Ende beherrscht der Prinz die stoische ‚Kunst des Sterbens‘, indem er das Notwendige akzeptiert. Sein innerer Weg von der Erschütterung im Anblick des offenen Grabes bis zu seinen stoischen Monologen im Schlußakt des Dramas läßt sich mit Senecas Formel mortem condiscere umschreiben, die der vom stoischen Denken geprägte Montaigne ins Französische übersetzt hatte: apprendre à mourir – „sterben lernen“. Die stoische Bewährungsprobe, die probatio, leistet der Prinz, als ihn der Kurfürst selbst zur Entscheidung darüber aufruft, ob ihm Unrecht geschehen sei (IV, 4). Schon die Anfangspartie des Dramas ist stoisch perspektiviert, denn der Prinz huldigt wiederholt der Fortuna – jener Fortuna, von der unabhängig zu sein, ja der zu widerstehen –
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fortunae resistere – insbesondere Seneca gefordert hatte. Kleist macht aus dem Fortuna-Motiv geradezu das Leitmotiv der ersten beiden Aufzüge, um anzuzeigen, welch weiten Weg der Prinz noch zurückzulegen hat.162 Am Schluß des ersten Aktes ruft der Prinz Fortuna in ihrem alten emblematischen Bild auf der rollenden Kugel an, das seit je, ähnlich wie die Allegorie der Glücksgöttin auf dem Glücksrad, ihre Unbeständigkeit zum Ausdruck bringt (V. 355–365): Nun denn, auf Deiner Kugel, Ungeheures, Du, der der Windeshauch den Schleier heut, Gleich einem Segel, lüftet, roll heran! Du hast mir, Glück, die Locken schon gestreift: Ein Pfand schon warfst Du, im Vorüberschweben, Aus Deinem Füllhorn lächelnd mir herab: Heut, Kind der Götter, such ich, Flüchtiges, Ich hasche Dich im Feld der Schlacht und stürze Ganz Deinen Segen mir zu Füßen um: Wärst Du auch siebenfach, mit Eisenketten, Am schwedschen Siegeswagen festgebunden!
Im zweiten Akt glaubt der Prinz die Erfüllung seines höchsten Wunsches, die Verbindung mit Natalie, in unmittelbarer Nähe: „O Cäsar Divus! / Die Leiter setz ich an, an deinen Stern!“ (V. 713). Die hybride Vorstellung vom Ansetzen der Leiter an Cäsars Stern – die Fortuna Caesaris war sprichwörtlich – antizipiert bereits das Scheitern des Prinzen im Bilde. Er wird stürzen, wie es bereits vor dem Beginn der Schlacht ein böses Omen ankündigt, als er sich mit dem Pferd überschlägt. Nach der Verhaftung des Prinzen erscheint das Motiv des inzwischen mit dem Bild des Sterns verbundenen Glücks zum dritten Mal. Diesmal handelt es sich um die Losung auf einer der erbeuteten schwedischen Fahnen: „Per aspera ad astra“ (V. 757). Lakonisch kommentiert der Kurfürst: „Das hat sie nicht bei Fehrbellin gehalten“, und spielt damit auf die schwedische Niederlage an. Danach entsteht eine Pause, so daß die Losung nachhallt und aufgrund der unmittelbar vorausgehenden Verhaftung des Prinzen noch einen zweiten Sinn gewinnt: Die Fahnen-Losung und der Kommentar des Kurfürsten verbinden sich mit dem Schicksal des Prinzen. Auch er kann zu seinem Glück nur „per aspera“ gelangen, nur durch Prüfungen und Überwindungen, die in 162 Arthur Henkel pointiert treffend: „[…] die Bilder, in denen Fortuna evoziert wird, sind die des Flüchtigen: Hauch, Schleier, Segel, suchen, haschen, lüften, rollen, streifen, lächeln, schweben – sie meinen die Seinsweise der momentanen, aber vergänglichen Daseinssteigerung […] ‚Ich nehms auf meine Kappe‘, damit greift er zu früh in die Schlacht ein – ein leichtkarätiges Wort des Fortunajüngers!“ (Arthur Henkel: Traum und Gesetz in Kleists Prinz von Homburg [1962], in: Heinrich von Kleist. Aufsätze und Essays, hrsg. von Walter Müller-Seidel [Wege der Forschung 147], Darmstadt 1967, S. 576–604).
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diesem Falle Selbstüberwindungen sein werden. Sie beginnen mit der Verhaftung und steigern sich bis zu extremen Belastungsproben. Der schwersten Belastungsprobe ist der zum Tode verurteilte Prinz ausgesetzt, als er in sein schon ausgehobenes Grab blickt. Noch einmal erscheint das Glücksmotiv, nun aber im Horizont einer totalen Entwertung (V. 1003 f. und 1022ff.): Seit ich mein Grab sah, will ich nichts, als leben, Und frage nichts mehr, ob es rühmlich sei! […] Ich gebe jeden Anspruch auf an Glück. Nataliens, das vergiss nicht, ihm zu melden, Begehr ich gar nicht mehr […]
Auf seine beiden höchsten Glückswerte, Ruhm und Liebe, verzichtet er, um das nackte Leben zu retten. Nicht auf einen unanfechtbaren, in seinem Ethos von vornherein gefestigten Helden also kommt es Kleist an, sondern im Gegenteil auf einen schwer anfechtbaren, ja in Fassungslosigkeit geratenden, der sich seine stoische Haltung erst allmählich erringen muß. Teilweise entspricht er damit der Affektregie, die Schiller in seiner Abhandlung Über das Pathetische theoretisch entworfen und in mehreren seiner Dramen, am markantesten in Maria Stuart, poetisch verwirklicht hat. Allerdings löst Kleist dieses Konzept aus der ‚moralischen‘ Abstraktheit Schillers, indem er es historisch konkretisiert und als Absage an die Starrheit des preußischen Heldenklischees perspektiviert.163 Kleist gibt das preußisch-stoische Ideal einer sogar im Angesicht des Todes zu bewahrenden inneren Fassung als Ziel nicht auf, aber er fordert die Möglichkeit ein, sich zu diesem Ziel hin erst zu entwickeln: Eine wesentliche innere Dimension des Stücks ist der Reifungsprozeß des Prinzen. Mehrfach betont Natalie in ihrem späteren Bericht an den Kurfürsten den psychischen Zusammenbruch des Prinzen, der alles Heldische verloren hat: „– Ach, welch ein Heldenherz hast du geknickt!“ (V. 1155); „Zu solchem Elend, glaubt ich, sänke keiner, / Den die Geschicht als ihren Helden preist“ (V. 1167 f.); „[…] so fassungslos, so ganz / Unheldenmütig […]“ (V. 1171 f.). Dieser Zusammenbruch hat eine doppelte Funktion. Er zeigt zunächst, daß Fassung und Haltung nicht natürlich vorgegeben sind, wie es das Heldenklischee will, und dann, welch weiten Weg der Prinz bis zum Gewinn innerer Fassung164 163 Diese Absage hat bereits Achim von Arnim festgestellt. Am 27. August 1828 schrieb er an Bettina: „Kleist’s Prinz von Homburg wurde recht gut gegeben, das Stück hat unleugbar eine herrliche Seite, es tritt kühn der angenommenen Heldenmaske entgegen, reißt sie ab und zeigt, daß unter der Maske doch noch ein wirklicher Held leben kann“ (Achim und Bettina in ihren Briefen, hrsg. von Werner Vordtriede, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1961, S. 757). 164 Kleist verleiht dem Begriff der „Fassung“ besonderes Gewicht, und gerade in der
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noch zurücklegen muß. Kleist klagt einen größeren Spielraum des Menschlichen ein, indem er das preußische Ethos durchaus anerkennt, aber nicht als ein schlechthin vorauszusetzendes, sondern als ein vom Einzelnen immer erst lebendig zu verwirklichendes Ethos. Der Prinz verhält sich angesichts seines offenen Grabes zuerst einmal als Mensch mit seinem kreatürlichen Überlebensdrang165, und nur deshalb erhält seine weitere Entwicklung ihre seelische Dimension, nur deshalb ist seine Haltung am Ende von innerem Wert. Das Drama stellt nicht psychologisch analysierend und Stufe um Stufe differenzierend dar, wie sich der innere Prozeß des Prinzen vollzieht. Es markiert diese Stufen lediglich. Zuerst in der Szene IV, 3, deren besondere Bedeutung schon daraus hervorgeht, daß sie einem Monolog des Prinzen vorbehalten ist, der im Gefängnis zu einer anderen inneren Haltung gefunden hat. Nicht mehr Aufregung wie nach der Verhaftung, nicht mehr Fassungslosigkeit und Panik wie im Angesicht des offenen Grabes kennzeichnen seinen Zustand, vielmehr Gefaßtheit, ja Gelassenheit: die stoische tranquillitas animi. Die Regie-Anweisung zu Beginn der Szene lautet: „Der Prinz von Homburg hängt seinen Hut an die Wand und läßt sich nachlässig auf ein auf der Erde ausgebreitetes Kissen entscheidenden Situation der probatio, als der Prinz auf das Schreiben des Kurfürsten zu antworten hat. In einem ersten Impuls folgt er dem Lebenstrieb, doch sofort verwirft er die entsprechende Antwort und stellt fest: „Pah! – Eines Schuftes Fassung, keines Prinzen“ (V. 1334). Der zweideutige Gebrauch des Wortes „Fassung“, das auch die stoische Fassung meint, setzt sich fort, als der Prinz sagt: „Ich will nur sehn, wie ich mich fassen soll“ (V. 1338), und er erreicht den Höhepunkt nach dem Bestehen der probatio: „Recht wacker“, bemerkt nun der Prinz, „in der Tat, recht würdig! / Recht, wie ein großes Herz sich fassen muß!“ (V. 1343 f.). Man erkennt das Programmatische der Wortwahl, wenn man sich an den Kurfürsten erinnert, der ein Beispiel seiner stoischen Gemütsruhe gibt, als er auf die Kunde von den nächtlich vor seinem Schloß aufmarschierten Truppen sagt: „So will ich mich auf märksche Weise fassen […]“ (V. 1419). Kleist hat den entscheidenden Moment mit einem weiteren stoischen Akzent versehen, indem er einen Grundbegriff der stoischen Ethik, den der magnanimitas, miteinbringt. „Recht, wie ein großes Herz sich fassen muß!“ (V. 1344) konstatiert der Prinz in der Zufriedenheit über seine eigene Entscheidung. Magnanimitas und magnitudo animi sind Leitbegriffe in der ganz vom stoischen Denken geprägten und für die Begründung der preußischen Pflichtethik wichtigen Schrift Ciceros De officiis. Vgl. De officiis 6, 4; 22, 17; 22, 19; 23, 1; 24, 7; 25, 24; 30, 10. Auch in einer ganzen Reihe von Senecas philosophischen Schriften kennzeichnet die magnitudo animi die stoische Schicksalsüberlegenheit. 165 Heinrich Heine schrieb im 2. Teil der Reisebilder (Ideen. Das Buch Le Grand. 1827): „Mögen berlinische Gardeleutnants immerhin spötteln und es Feigheit nennen, daß der Prinz von Homburg zurückschaudert, wenn er sein offnes Grab erblickt – Heinrich Kleist hatte dennoch ebensoviel Courage wie seine hochbrüstigen, wohlgeschnürten Kollegen, und er hat es leider bewiesen. Aber alle kräftigen Menschen lieben das Leben […]“. Vgl. Nachruhm, Nr. 555.
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nieder.“ Wie von seiner eigenen orientalischen Sitzhaltung inspiriert, spricht er seinen Monolog (V. 1286–1296): Das Leben nennt der Derwisch eine Reise, Und eine kurze. Freilich! Von zwei Spannen Diesseits der Erde nach zwei Spannen drunter. Ich will auf halbem Weg mich niederlassen! Wer heut sein Haupt noch auf der Schulter trägt, Hängt es schon morgen zitternd auf den Leib, Und übermorgen liegts bei seiner Ferse. Zwar, eine Sonne, sagt man, scheint dort auch, Und über buntre Felder noch, als hier: Ich glaubs; nur Schade, daß das Auge modert, Das diese Herrlichkeit erblicken soll.
Die neugewonnene stoische Haltung ist noch ganz fatalistisch, sie verharrt auf dem Niveau des bloßen Sich-Abfindens. Das entspricht sehr genau, wenn auch in resignativ-bedauernder Tonart, der Anerkennung des Fatums, die zu den fundamentalen stoischen Postulaten gehört. Deshalb läßt Kleist den Prinzen sentenzenhaft verallgemeinernd sprechen: „Das Leben nennt der Derwisch eine Reise“, „Wer heut sein Haupt noch auf den Schultern trägt […]“, „Zwar, eine Sonne, sagt man, scheint dort auch […]“. Den Tod begreift der Prinz als ein notwendiges Ereignis, mit dem man sich abzufinden hat. Zur innerlichen Aneignung des Todes führt erst die folgende Szene (IV, 4). Kleist gestaltete sie als Bewährungsprobe, in der Sprache der Stoa: als probatio. Der Prinz akzeptiert nun den Tod nicht mehr bloß als unausweichliches Fatum, sondern auch aus ethischen Gründen. Deshalb verbindet sich die neue Haltung gegenüber dem Tod mit der Annahme des Todesurteils. Wenn Kleist den Monolog „Das Leben nennt der Derwisch eine Reise […]“ der Bewährungsszene unmittelbar voranstellt, so weil der Prinz erst auf dem psychischen Grund einer schon erreichten stoischen Gelassenheit angesichts des Todes fähig wird, Recht oder Unrecht des Urteils abzuwägen und sich innerlich frei zu entscheiden. Das ergibt sich aus der Szene IV, 4 selbst. Die Botschaft, die der Kurfürst durch Natalie dem Prinzen zukommen läßt, lautet (V. 1307–1313): Mein Prinz von Homburg, als ich Euch gefangen setzte, Um Eures Angriffs, allzufrüh vollbracht, Da glaubt ich nichts, als meine Pflicht zu tun. Auf Euren eignen Beifall rechnet ich. Meint Ihr, ein Unrecht sei Euch widerfahren, So bitt ich, sagts mir mit zwei Worten – Und gleich den Degen schick ich euch zurück.
Nachdem der Prinz diese Botschaft gelesen hat, deren Schlüsselbegriff „Pflicht“ ist, drängt ihn Natalie, schnell die entscheidenden „zwei Worte“ an
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den Kurfürsten zu schreiben, denn sie befürchtet, daß er bei genauerem Überlegen dem Urteil zustimmen könnte. Als sie ihn auf die bereits geöffnete Gruft hinweist, gibt der Prinz eine sehr bezeichnende, weil von der inzwischen gewonnenen stoischen Fassung zeugende Antwort (V. 1328f.): Wahrhaftig, tut Ihr doch, als würde sie [die Gruft] Mir, wie ein Panther, übern Nacken kommen.
Ebenso charakteristisch wie diese Antwort ist die mit ihr verbundene RegieAnweisung. „Lächelnd“, so heißt es, antwortet der Prinz auf Nataliens drängende Aufforderung. Schließlich erkennt er, daß der Kurfürst ihn selbst zur Entscheidung auffordert, und er entscheidet sich für eine Antwort, die das Todesurteil als gerechten Richterspruch akzeptiert. Kleist vertritt kein starres stoisches Ethos, das sogar der am strengen Begriff der ‚Pflicht‘ (officium) orientierte Kant als unnatürlich kritisiert hatte.166 Vielmehr läßt er die stoische Tugend der Gemütsruhe aus einem menschlichen Entwicklungsprozeß hervorgehen; er sieht die Gewinnung stoischer Gelassenheit gegenüber dem Tode zwar als wesentlich an, aber doch nur als Voraussetzung für eine freie ethische Entscheidung. Die ausdrückliche Bejahung des Todesurteils bezieht Homburg auf Rechtsnormen, deren Anerkennung den Tod zu einer politischen Handlung werden läßt. So nimmt Kleist das traditionell stoisch geprägte preußische Ethos zwar auf, zugleich aber widerspricht er seinen rigoristischen Verengungen. Daß der Prinz eine positive, weil nicht allein am Tod orientierte, sondern auf allgemeine Rechtsnormen und damit auf eine allgemeinere Verantwortung für das Staatswesen bezogene Entscheidung trifft, entspricht allerdings ganz dem stoischen Denken. Schon die antike Stoa entwickelte ein ausgeprägtes Gemeinschafts- und Staatsdenken. Ihm zufolge ist der Mensch wesentlich auf die Gemeinschaft bezogen, und dementsprechend trägt er auch Verantwortung für Gemeinschaft und Staat. Aus diesem Grunde 166
Insbesondere im ersten, fundamentalen Abschnitt der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten stand Kant ein Haupttext stoischer Ethik, Ciceros Schrift De officiis vor Augen. Vgl. hierzu Klaus Reich: Kant und die Ethik der Griechen, Tübingen 1935, S. 27 ff. Kant besaß auch Ciceros De officiis in der Übersetzung von Christian Garve, dazu den dreibändigen Kommentar Garves: Philosophische Anmerkungen und Abhandlungen zu Cicero’s Büchern von den Pflichten (1783). Vgl. Arthur Warda: Immanuel Kants Bücher, Berlin 1922, S. 46 (X. 21). Bei allen Übereinstimmungen zwischen der Ethik der Stoiker und derjenigen Kants besteht ein wesentlicher Unterschied darin, daß die Stoiker ausschließlich die Vernunft gelten lassen, Kant aber doch auch das „Interesse der Neigungen“ betont (Grundlegung, AA IV, 406) und deshalb auch nicht die Überzeugung der Stoiker teilt, ‚Tugend‘ und ‚Glück‘ seien identisch. In seiner praktischen Philosophie lehnt er die stoische These von der Möglichkeit menschlicher Autarkie ab (vgl. Kritik der praktischen Vernunft, AA V, 127, Anm.).
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war die stoische Philosophie schon in der römischen Kaiserzeit zu einer offiziellen Staatsideologie erhoben worden, und deshalb eignete sie sich auch zur Fundierung des preußischen Staatsbewußtseins. So läßt sich zusammenfassend sagen, daß das stoische Ethos in seinen beiden Grunddimensionen Kleists letztes Drama bestimmt: in der individuellen Dimension der stoischen Gemütsruhe und Standhaftigkeit, die ihre höchste Bewährung angesichts des Todes erfährt, und in der überindividuell-allgemeinen Dimension einer Verantwortung für das Ganze des Staates. Allerdings verbindet sich mit Kleists Erneuerung des stoischen Ethos ein doppelter Funktionswandel, durch den sich für ihn die geschichtliche Aktualität erst herstellt. Im Hinblick auf den preußischen Staat zu Beginn des 19. Jahrhunderts ist der Rückgriff auf die Stoa keineswegs affirmativ. Verherrlicht wird nicht Preußen, wie es faktisch ist oder war. Vielmehr handelt es sich um einen Appell im Namen eines zwar zu Preußen gehörenden, aber doch im Obrigkeitsstaat und in der Militärmaschinerie auch weitgehend deformierten Ethos. Insofern appelliert Kleist an Preußens tiefere, ideale Identität, aus der sich für die geschichtliche Gegenwart erneuernde Energien entbinden sollen. Zweitens entdeckt er für seine, die romantische Generation, eine ganz neue Faszination durch diese tiefere, ideale Identität Preußens. Von Anfang an reflektiert die Romantik ihre eigenen Gefährdungen – die Gefährdungen einer zwar glanzvoll poetischen, aber doch selbstverfallenen, traumverlorenen Subjektivität.167 Sie ist vom Welt- und Wirklichkeitsverlust ebenso bedroht wie von der Destabilisierung des orientierungslos, weil haltlos gewordenen Ichs. Angesichts dieser romantischen Problematik, die der träumende Prinz so deutlich verkörpert, gewinnt ein Ethos, das den Einzelnen wieder mit den Bedingungen der Realität zu vermitteln vermag, eine neuartige, dialektische Attraktion. In der Schlußszene ist ja der träumende Prinz nicht bloß zum Stoiker geworden. Es gibt einen romantischen Überschuß, der den Traum des Einzelnen, während dieser sich mit der Notwendigkeit des Wirklichen versöhnt, doch auch über alle Wirklichkeit hinaushebt. Das Wechselspiel zwischen Kurfürst und Prinz Das Homburg-Drama hat zwei Handlungspole: den Prinzen und den Kurfürsten. Die innere Entwicklung des Prinzen zeichnet sich auf dem Hinter167 Der Somnambulismus des Prinzen, der das Medium dieser tieferreichenden Problematik ist, zeugt von dem Eindruck, den Gotthilf Heinrich Schuberts Schriften und Vorträge (die Kleist in Dresden hörte) über solche parapsychologischen Phänomene machten. Vgl. hierzu Lebensspuren, Nr. 196, sowie die Vorlesungen Schuberts, die 1808 im April- und Maiheft des von Adam Müller und Kleist herausgegebenen Phöbus in Ausschnitten und dann noch im selben Jahr unter dem Titel Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft (Dresden 1808) erschienen. Die 13. Vorlesung traktiert den Somnambulismus. Vgl. Hackert, Homburg, 1979, S. 87f. sowie SWB 2, S. 1247f.
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grund der stoisch-preußischen Tradition klar ab. Über die Frage aber, welche Funktion dem Kurfürsten zukommt, gehen die Meinungen weit auseinander. Einer verbreiteten These zufolge will der Kurfürst den Prinzen von Anfang an nur erziehen. Wäre dies so, dann ließe er das Todesurteil notwendigerweise nur zum Schein verkünden, das Grab nur zum Schein ausheben, ja er ließe das Regiment zur Totenfeier des Prinzen nur zum Schein kommandieren. Er wäre ein Erzieher von makabrer Brutalität. Gegen diese These sprechen vorab äußere Gründe. Ein erster und allein schon entscheidender Grund ist der, daß der Kurfürst anfangs glaubt, ein anderer als der Prinz habe die Reiterei geführt – und auch diesen vermeintlich anderen fordert er vor das Kriegsgericht. Folglich ist die Anklage auf Leben und Tod ohne Ansehen der Person ernst gemeint. Ein zweiter äußerer Grund: Der Prinz kommt auf eine vom Kurfürsten nicht geplante und überhaupt unvorhergesehene Weise an sein offenes Grab. Das offene Grab deutet ebenso wie die Tatsache, daß das Regiment für die Totenfeier bereits kommandiert ist, auf den tödlichen Ernst. Eine anderer Erklärungsversuch besagt, der Kurfürst wolle den Prinzen hinrichten lassen, ganz am Ende aber werde er durch die Plädoyers des Obersten Kottwitz und des Grafen von Hohenzollern für den Prinzen umgestimmt.168 Auch diese These hält nicht stand, denn der Kurfürst setzt schon vor den Plädoyers und folglich unabhängig von diesen die längst entschiedene Begnadigung des Prinzen in Gang, als er dem Adjutanten befiehlt (V. 1479–1481): „Prittwitz! – Das Todesurteil bring mir her!“ Daß er das Todesurteil kassiert, setzt den Beschluß zur Begnadigung voraus. Schon nachdem ihm Natalie von der Verzweiflung des Prinzen und von seinem Unverständnis für das Todesurteil berichtet hat, ruft er aus: „Er ist begnadigt!“ (V. 1177). Durch Nataliens Bericht hat der Kurfürst erfahren, was er nicht für möglich hielt, weshalb zwei wichtige Regie-Anweisungen ihn in völliger Überraschung zeigen. Die erste dieser Regie-Anweisungen nach Nataliens Bericht lautet (zu V. 1156): „DER KURFÜRST im äußersten Erstaunen“, die zweite (zu V. 1175 f.): „DER KURFÜRST verwirrt“. Bisher konnte er nur die isolierte Tat sehen. Nun erhält er jedoch neue, ihn überraschende Einblicke in die Wesensverfassung des Prinzen. Die vieldiskutierte Verwirrung des Kurfürsten unter dem ersten Eindruck von Nataliens Bericht läßt sich demnach exakt bestimmen. Es handelt sich nicht um eine „Verwirrung des Gefühls“, um eine persönliche Unsicherheit, vielmehr um die verwirrend-überraschende Erkenntnis, daß die Voraussetzungen des 168 So Siegfried Streller: Das dramatische Werk Heinrich von Kleists, Berlin 1966, S. 218 f., S. 224. Vgl. aber schon Gerhard Fricke: Kleists Prinz von Homburg, in: Fricke, Studien und Interpretationen, Frankfurt a.M. 1956, S. 239–263, hier S. 258f., sowie Walter Müller-Seidel: Versehen und Erkennen. Eine Studie über Heinrich von Kleist, Köln und Graz 1961, 3. Aufl. 1971, S. 180f.
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Urteils hinfällig sind. Denn zu ihnen gehört nicht nur der Tatbestand, sondern auch die Verfassung des Täters. Nataliens Bericht vermittelt dem Kurfürsten die Erkenntnis, daß der Prinz das Todesurteil nicht verdient, weil er sich – überspitzt ausgedrückt – seiner ganzen subjektiven Verfassung nach nicht zurechnungsfähig zeigt. Darauf deutet ja schon seine Traumverlorenheit in der ersten Szene. Wie er dort erst aus dem Traum wachgerufen werden mußte, so muß ihn nun der Kurfürst erst zum Gefühl eigener Verantwortung wecken, von dem er bisher irrigerweise als einer Selbstverständlichkeit ausgegangen war. Der Kurfürst nimmt die sich aus der neuen Erkenntnis ergebende Möglichkeit sofort wahr, indem er den Prinzen selbst zur Entscheidung auffordert (V. 1185f.): Wenn er den Spruch für ungerecht kann halten Kassier ich die Artikel; er ist frei! –.
Die Bedingung: „Wenn er den Spruch für ungerecht kann halten […]“ besagt allerdings nicht, daß der Kurfürst noch die Hinrichtung für den ja von ihm nun erhofften Fall erwägt, daß der Prinz das Urteil anerkennt. Vielmehr will er ihm damit eine würdevolle statt der sonst schmählichen Begnadigung zukommen lassen. Diese aus dem Gesamtzusammenhang sich ergebende Folgerung wird bestätigt durch die Worte, mit denen der Kurfürst Natalie zum Prinzen schickt (V. 1198): „So kann er, für sein Leben, gleich dir danken“. Es ist undenkbar, daß der Kurfürst dies sagt, wenn er noch für den Fall, daß der Prinz das Todesurteil für gerecht erklärt, die Vollstreckung dieses Urteils erwägt. Die Formulierung: „So kann er, für sein Leben, gleich dir danken“ hat aber noch einen Hintersinn. Er ergibt sich aus der ausdrucksvoll einschränkenden Position des Passus „für sein Leben“ zwischen zwei Kommata. Damit ist etwas anderes gesagt, als wenn bloß dastünde: „So kann er für sein Leben gleich dir danken“. Für sein Leben kann der Prinz zwar gleich danken – aber es wird sich zeigen müssen, ob zu diesem Dank für das gerettete Leben noch derjenige für ein neues, durch die Bejahung der Rechtsnorm erhöhtes Dasein kommt. Nach alldem handelt es sich um eine souveräne Sinnesänderung des Kurfürsten aufgrund neuer Erkenntnisse, nicht um die Revision einer falschen Haltung, wie manche Interpreten meinen, die im Kurfürsten zuerst einen grausamen Despoten sehen, der sich dann aber doch zum Besseren bekehre.169 Der Kurfürst durchläuft keine Entwicklung wie der jugendliche Prinz. So wenig sich aber der Kurfürst ändern muß, so wenig agiert er, wie andere Interpreten glauben, als gottähnlicher Souverän.170 Gerade die bis zur Verwirrung reichende Wirkung von Nataliens Bericht auf ihn zeigt, wie sehr er auf die 169
So etwa Richard Samuel in seiner Ausgabe des Dramas (Berlin 1964), S. 198. Walter Müller-Seidel: Versehen und Erkennen. Eine Studie über Heinrich von Kleist, Köln und Graz 1961, 3. Aufl. 1971, S. 183–186. 170
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Vermittlung von Informationen angewiesen bleibt, um richtig entscheiden zu können. Dramaturgisch in Szene gesetzt wird die Vermittlung durch Nataliens Botendienste zwischen dem Prinzen im Gefängnis und dem Kurfürsten im Schloß. Nataliens Vermittlerrolle ist „Rolle“ in einem doppelten Sinn: Sie steht ihrer Trägerin, die ja aus Liebe den Prinzen retten will, vollkommen an und wird von dem Vermittlung fordernden Verhältnis zwischen Prinz und Kurfürst funktional geradezu hervorgebracht. Der eigentümlich schlüssige Verlauf des Geschehens beruht auf dem Gelingen dieser Vermittlung. Keine Untersuchung hätte dem Kurfürsten den Einblick in die Verfassung des Prinzen verschaffen können, den ihm Nataliens Bericht gewährt; und nur der volle Ernst der Verurteilung konnte den Prinzen in der Verfassung zeigen, von der Natalie dem Kurfürsten berichtet und deren Kenntnis für die Begnadigung entscheidend ist. Nachdem der Prinz das Urteil angenommen hat, zeugen seine Worte über die bevorstehende Entscheidung des Kurfürsten (V. 1374): „Er handle, wie er darf“ von seiner nun gewonnenen Einsicht, daß die Begnadigung nicht eine frei und beliebig verfügbare Option ist. Er hat verstanden, daß sich der Kurfürst nicht einfach über das rechtskräftige Urteil des Kriegsgerichts hinwegsetzen darf, weil er sonst seinerseits die Rechtsnormen mißachten würde, nach denen das Gericht urteilt. Ein historisch angemessenes Verständnis hat die Stellung des Herrschers zum Gesetz zu berücksichtigen. Ein absolutistischer Souverän konnte ohne Rücksicht auf die nur für die Untertanen geltenden Gesetze regieren und entscheiden – folglich auch begnadigen. So waren Gnade und Begnadigung häufig Symptome absolutistischer Willkür und deshalb kritisierten Kant und andere Aufklärer gerade auch die absolutistische Begnadigungspraxis.171 Im Zeitalter der Aufklärung erhoben sich immer stärker die Forderungen nach verfassungsmäßigen Einschränkungen der absolutistischen Herrschaft, insbesondere nach einer weitgehenden Bindung auch des Herrschers an die Gesetze. Aufgeklärte Monarchen wie Friedrich der Große entsprachen wenigstens zum Teil diesen Forderungen – so entstand der ‚aufgeklärte Absolutismus‘. Kleist gestaltet den Kurfürsten im Sinne eines entschieden aufgeklärten Absolutismus, indem er ihn an Gesetz und Rechtsprechung bindet. Deshalb kann er auch nicht einfach gegen das Urteil des Kriegsgerichts begnadigen. Er muß erwägen, welche Spielräume für eine Begnadigung trotz des rechtskräftigen Todesurteils bestehen. Während der Prinz früher glaubte, trotz der bestehenden Ordre sich selbst nach seinem Gutdünken verhalten zu dürfen, und auch der Meinung war, der Kurfürst könne beliebig verfahren und werde ihn also doch wohl ohne weiteres 171
Vgl. hierzu S. 226f.
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begnadigen, gelangt er im Moment der Entscheidung für sich selbst wie für den Kurfürsten zur Einsicht in eine übergeordnete Verbindlichkeit, und das heißt auch: zur Anerkennung einer allgemeineren, jenseits des Persönlich-Beliebigen liegenden Verantwortung. Dies alles drückt sich in den beiden Versen aus (V. 1374f.): Er handle, wie er darf; Mir ziemts hier zu verfahren, wie ich soll!
Zugleich allerdings lehnt Kleist eine rigoristisch-abstrakte Fixierung auf das Gesetz ab. Er plädiert für einen Freiraum des Menschlichen, in dem es möglich bleibt, den Einzelnen in seinen persönlichen Voraussetzungen wahrzunehmen und entsprechend zu behandeln. Diese Möglichkeit aber besteht nur, wenn sich die Kluft zwischen Regierung und Regierten überbrücken läßt. Kleist entwirft ein modellhaftes Geschehen der Vermittlung. Und dies nicht bloß, damit die Obrigkeit menschlicher regieren kann. Mindestens ebenso wichtig ist die umgekehrte Perspektive: Nur wenn sich die Regierten lebendig miteinbezogen wissen in die Entscheidungsprozesse, vermögen sie sich mit dem Staat, der dann nicht mehr ein Obrigkeitsstaat, sondern ein Gemeinwesen ist, zu identifizieren und ihrerseits aus dem Gefühl der Verantwortung für das Ganze zu handeln. Darin liegt die paradigmatische Bedeutung der Szene IV, 4. Es geht nicht bloß um das individuelle Problem des Prinzen und nicht nur um das persönliche Verhalten des Kurfürsten. Ihr Wechselspiel ist vielmehr ein dichterisches Modell für das Funktionieren eines idealen Gemeinwesens. Das in eine vollendete dichterische Konfiguration übertragene politische Engagement Kleists stimmt mit dem Grundanliegen der preußischen Reformer überein.172 Den Reformern kam es gerade auf die Aufhebung der alten obrigkeitlichen Strukturen an. Sie erstrebten ein Gemeinwesen, mit dem man sich zu identifizieren vermag, weil man darin die eigenen Interessen artikulieren und zur Geltung bringen kann und in dem man deshalb auch solidarische Verantwortung zu übernehmen bereit ist. Das war das Ziel des Freiherrn vom Stein. In der Nassauischen Denkschrift (1807) forderte er deshalb die entsprechenden Maßnahmen zur Umgestaltung der politischen Praxis. Das Ziel sei die Belebung des Gemeingeistes und Bürgersinns […] der Einklang zwischen dem Geist der Nation, ihren Ansichten und Bedürfnissen, und denen der Staatsbehörden, die Wiederbelebung der Gefühle für Vaterland, Selbständigkeit und Nationalehre.173 172
Schon Heinrich Meyer-Benfey erkannte: „Der Prinz von Homburg streift diese Reformen mit keinem Wort, setzt sie aber deutlich voraus“ (Das Drama Heinrich von Kleists. Bd. 2: Kleist als vaterländischer Dichter, Göttingen 1913, S. 484). 173 Freiherr vom Stein. Briefe und amtliche Schriften, bearbeitet von Erich Botzenhart, neu herausgegeben von Walther Hubatsch, Bd. II, 1 (1804–1807), neu bearbeitet von Peter G. Thielen, Stuttgart 1959, S. 394.
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Die preußischen Reformer wollten, das lassen diese Formulierungen paradigmatisch erkennen, durch lebendige Mitwirkung und entsprechende Mitverantwortung der Bürger eine neuartige Identifikation mit dem Staat erzeugen, um die Energie zur Abwehr des äußeren Feindes zu gewinnen. Die Preußischen Reformen als zunächst innere Reformen sollten auch den Befreiungskampf gegen Napoleon befördern. Daß Kleist dieses Ziel vor Augen hatte, geht aus dem Schlußvers seines „vaterländischen“ Dramas deutlich hervor: „In Staub mit allen Feinden Brandenburgs!“ Dennoch erstrebte er die neue Struktur des staatlichen Lebens nicht bloß für den Zweck des Befreiungskampfes. Es ging ihm auch um die innere Reform an sich. Schon das Guiskard-Fragment legte er auf die Ablösung eines autokratischen Herrschaftssystems durch eine von der Mitwirkung des Volkes bestimmte Regierungsform an.174 Und die entschiedene Kritik an den inneren Mißständen des Staates im Michael Kohlhaas läßt ebenfalls auf ein genuines Engagement im Sinne der Preußischen Reformen schließen.175 Im Homburg-Drama bleibt allerdings das Konzept von Mitwirkung und Einbeziehung, das Streben nach Vermittlung und Konsens ganz auf eine Konfiguration innerhalb der höchsten Gesellschaftsschicht beschränkt. Sie hat dort persönliche, manchmal familienhafte Züge, und Natalie, die Vermittlerin, handelt aus Liebe. Auch wenn Natalie keineswegs bloß die allegorische Figuration eines im bestehenden System nicht vorhandenen politischen Vermittlungspotentials ist, wird doch deutlich, daß das, was hier einer Frau in einer familienähnlichen Konstellation176 gelingt, Postulat dessen ist, was im Staat allgemein, wahrhaft politisch geleistet werden müßte. Ein Spiel von Traum und Wirklichkeit Es hieße Kleists letztes Drama um seine volle Dimension bringen, wollte man es auf die politische und im engeren Sinn historische Lesart einschränken. So wesentlich es vom „vaterländischen“ Gedanken ausgeht und so entschieden Kleist das poetische Unternehmen schon von seinen Quellenstudien her patriotisch intendierte – über all dem spannt sich doch ein weiterer Horizont. Die Anfangsszene und die ihr in genauer Entsprechung respondierende Schlußszene entwerfen eine Dialektik177 von Traum und Wirklichkeit, die das Glücks174
Vgl. hierzu S. 133–136. Vgl. S. 215–234. 176 Klaus Peter: Für ein anderes Preußen. Romantik und Politik in Kleists Prinz Friedrich von Homburg, in: KJb 1992, S. 96–125, erörtert die Bedeutung des Familienmodells und stellt interessante Verbindungen zur Staatstheorie Adam Müllers her (S. 113–116). 177 Vgl. Jochen Schmidt: Heinrich von Kleist. Studien zu seiner poetischen Verfahrensweise, Tübingen 1974, S. 94; Roland Heine: „Ein Traum, was sonst?“ Zum Verhältnis von 175
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verlangen des Einzelnen nach Liebe, nach Aufgehobenheit in einer harmonischen Gemeinschaft und nach Ruhm über alles Historische hinaus emphatisch exponiert. Diese keineswegs bloß randständigen, sondern konturbildenden Szenen sind zugleich in eine romantische Atmosphäre getaucht, die sich im zentralen Traum-Motiv verdichtet und in der für die Romantik ebenfalls typischen Nacht-Stimmung – „Es ist Nacht“ heißt es in der ersten Szenen-Anweisung, und in der letzten: „Es ist wieder Nacht“ – mit einem ganzen Fluidum romantischer Elemente anreichert. Somnambulisch wandelt der Prinz im „Mondschein“ (V. 26); am Ende glaubt er den Duft der Blumen in einer schon wirklichkeitsenthobenen Todestrunkenheit zu atmen. Und es ist Todesromantik, die Kleist in höchster atmosphärischer Intensität entfaltet: Nach der Todesfurchtszene angesichts des offenen Grabes und nach der stoischen Annahme des Todesurteils erlebt der Prinz nun den Tod antizipatorisch als rauschhafte Entwirklichung und Entgrenzung, die ihn über alles Irdische emporträgt. Nach einer Anspielung auf Klopstock und Schiller178 hat sich Kleist dafür durch Goethes Gestaltung von Fausts entgrenzendem Todesverlangen inspirieren lassen, das beim Anblick der „einzigen Phiole“ in euphorische Jenseitsvisionen übergeht. „Ins hohe Meer“ (V. 699) einer grenzenlosen Freiheit sieht sich Faust hinausgewiesen, der Prinz fühlt sich „wie ein Schiff, vom Hauch des Winds entführt“ (V. 1835); und wie sich Faust bereit macht, „auf leichten Schwingen […] den Äther zu durchdringen“ (V. 704), so entschwebt auch der Prinz in entmaterialisierte Sphären: „Es wachsen Flügel mir an beiden Schultern, / Durch stille Ätherräume schwingt mein Geist“ (V. 1833f.). Antizipiert in der Anfangsszene der Traum des Prinzen ein von Liebe und Ruhm erfülltes Dasein, so diffundiert in der Schlußszene das nun in der Wirklichkeit Erreichte ins Traumhafte, als der aus der Ohnmacht erwachende Prinz in seinen letzten Worten fragt: „Nein, sagt! Ist es ein Traum?“ (V. 1855) und von Kottwitz die Antwort erhält: „Ein Traum, was sonst?“ In dieser Perspektive gewinnt der „Traum“, der die gesamte Handlung übergreift, ohne ihr doch ihren Ernst, ihre Hoffnung und ihren beschwörenden Appell zu rauben, die Qualität der Utopie.179 Darauf weist, wenngleich vom sogenannten ‚Neuen Traum und Wirklichkeit in Kleists Prinz Friedrich von Homburg, in: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Festschrift für Richard Brinkmann, hrsg. von Jürgen Brummack u.a., Tübingen 1981, S. 283–313. 178 Der Anfangsvers „Nun, o Unsterblichkeit, bist du ganz mein!“ klingt an Klopstocks Ode An Fanny an: „Dann, o Unsterblichkeit, / gehörst Du ganz uns“, der Anruf einer „tausendfachen Sonne“ an Wallensteins Tod III, 18: „das Unglück braucht, / Das hoffnungslose, keinen Schleier mehr, / Frei unter tausend Sonnen kann es handeln“ (V. 2052– 2054). Vgl. die Nachweise in SWB 2, S. 1304. 179 Inwiefern die seit langem auf das Ende des Dramas angewandte Kategorie des Uto-
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Subjektivismus‘ eingefärbt, die mit Abstand bedeutendste moderne Inszenierung durch Peter Stein und Botho Strauß. Zu der erstmaligen Aufführung am 4. November 1972, die unter dem Titel Kleists Traum vom Prinzen Homburg stand, schrieb Botho Strauß im Programmheft: „… alles Traum in diesem Schauspiel. Der Traum des armen Heinrich Kleist vom glücklichen Prinzen Homburg, der, zart und mächtig, unter der Gefahr des Todes, seine großen Sehnsüchte und Wunschbilder gegen die herrschenden engen Lebensbedingungen durchsetzt und schließlich, wie im Wunder, ihre paradiesische Erfüllung erlebt. Und gleichzeitig verwandelt sich die kalte, schwache, weil nurmehr formal funktionierende Staatsordnung in eine lebenskräftige, menschenwürdige politische Gemeinschaft, in der der Außenseiter, Verurteilte, gesellschaftlich ‚Kranke‘ zum ersten Helden aufsteigt. Kein Traum aus dem tiefen Nachtschlaf – auch keine Dramaturgie der ‚entstellten‘ Visionen des Unbewußten –, sondern eine helle, logische, schwebend-stabilisierte Traum-Konstruktion, die alle Bezeichnungen von Realität – der historischen Situation der Kurmark Brandenburg von 1675 ebenso wie jener des Preußenstaats von 1810 – entwirklicht und transformiert in Bezeichnungen der Wunsch- und Projektions-Fantasie des Autors Kleist […] Der Traum des Prinzen Homburg nimmt also auch die Gestalt einer politischen Legende an: einer prospektiven Legende, die nicht nacherzählt, sondern verheißt und danach drängt, sich zu bewahrheiten“.180
Der ebenfalls zum Finale gehörende Schluß des vorletzten Auftritts endet nach dem Aufschwung des Prinzen zu seiner Unsterblichkeitsvision mit einer alle Dramatik ins Lyrische aufhebenden Blumensymbolik. Sie verleiht dem Geschehen höchste atmosphärische Intensität und vergegenwärtigt zugleich sinnbildhaft die innere Dimension des zwischen Wirklichkeit und Traum schwebenden Geschehens. DER PRINZ VON HOMBURG 1840 Ach, wie die Nachtviole lieblich duftet! – Spürst Du es nicht? Stranz kommt wieder zu ihm zurück. STRANZ Es sind Levkoyn und Nelken. DER PRINZ VON HOMBURG Levkoyn? – Wie kommen die hierher? STRANZ Ich weiß nicht. – Es scheint, ein Mädchen hat sie hier gepflanzt. – Kann ich Dir eine Nelke reichen? DER PRINZ VON HOMBURG Lieber! – 1845 Ich will zu Hause sie in Wasser setzen. pischen immer wieder auch fragwürdige Ideologeme transportiert, erörtert Klaus Peter: Für ein anderes Preußen (wie Anm. 176), S. 121f. 180 Zitiert nach: SWB 2, S. 1220f.
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Die Nachtviole, deren lieblichen Duft der Prinz einzuatmen glaubt, gehört der Sphäre der Nacht zu, in der die Szene spielt und die in der Erwartung des Prinzen zugleich die Nacht des Todes ist. Mit der Entgegnung des Rittmeisters Stranz „Es sind Levkojn und Nelken“ deutet sich schon die Wendung von der „Nacht“ zur Freude des Tages an: die Wende zum Guten. Die Rede von dem „Mädchen“, das die Blumen gepflanzt hat, birgt eine naheliegende Assoziation. Allerdings ist die abschließende Bemerkung des Prinzen, er wolle die Nelke, die Stranz ihm anbietet, „zu Hause“ in Wasser setzen, so ambivalent wie das ganze Geschehen des Schlusses. Das „zu Hause“ nimmt den Euphemismus auf, der den Tod als ein ‚Heimgehn‘ bezeichnet, und man denkt an die bekannte Frage und Antwort des Novalis: „Wo gehn wir denn hin? Immer nach Hause“.181 Das Traumreich des Todes, der letzten Entwirklichung, wird hier ebenso assoziiert wie die „Unsterblichkeit“, von welcher der Prinz im vorausgehenden Monolog gesprochen hat. Kleist schuf eine eigentümliche Symmetrie in der Beziehung der Anfangsszene zur Schlußszene, in der szenischen Anordnung der Akte182 und schließlich sogar noch in der Disposition der beiden Auftritte der Schlußszene. Diese beiden letzten Auftritte, der zehnte und der elfte des fünften Aktes, sind in sich jeweils zweigeteilt, wie sich schon aus der jeweils in der Mitte plazierten ausführlichen Regie-Anweisung ergibt. Der auch sonst von Kleist oft favorisierten gegenszenischen Regie entsprechend, ordnet diese Architektur den zweiten Teil der vorletzten und den zweiten Teil der letzten Szene antithetisch einander zu und umspannt damit die volle Amplitude des zwischen Traum und Wirklichkeit dialektisch schwebenden Spiels. Dem traumverlorenen, tief versonnenen Dialog über Blumen und Blumenduft am Ende des vorletzten Auftritts antwortet das Ende des letzten: mit der Ordre des Kurfürsten, den in Ohnmacht gefallenen Prinzen mit „Kanonendonner“ zu wecken, mit den Heilrufen der Offiziere und dem Aufruf zur Schlacht gegen die „Feinde Brandenburgs“. Der Gegensatz könnte kaum größer sein. Er läßt sich nicht in einer linear-prozessualen Lektüre auflösen, die vom „Traum“ zur „Wirklichkeit“ führt, obwohl dies eine 181 Heinrich von Ofterdingen. Zweiter Teil, in: Novalis: Werke, herausgegeben und kommentiert von Gerhard Schulz, 3. Aufl. München 1987, S. 267. 182 Mit Ausnahme des zweiten Akts, der eine Sonderstellung einnimmt, weil er allein nicht in Fehrbellin spielt, fast ganz auf indirekter Darbietung durch Bericht und Teichoskopie beruht und keine Entwicklung des Prinzen bringt, bilden die Akte ein symmetrisches szenisches System. Die Szenenfolge des ersten Aktes: „Garten“, „Schloß“ kehrt sich im fünften Akt um: „Schloß“, „Garten“, und analog die Szenenfolge des dritten Akts: „Gefängnis“, „Schloß“ im vierten Akt: „Schloß“, „Gefängnis“. Zur genaueren Analyse im Hinblick auf das Verhältnis dieser Symmetrien zum Verlauf der Handlung und des inneren Geschehens vgl. Jochen Schmidt: Heinrich von Kleist. Studien zu seiner poetischen Verfahrensweise, Tübingen 1974, S. 137–142.
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Lektüre-Dimension ist; die andere bewahrt die in der Konstellation der Szenen gegebene Entgegensetzung in ihrer unaufhebbaren Dialektik, die sich am Ende auch zwischen „Kanonendonner“ und Schlachtruf in der Frage des Prinzen: „Ist es ein Traum?“ und Kottwitzens Antwort: „Ein Traum, was sonst?“ durchhält. Aus dem Traum der Anfangsszene ist Wirklichkeit geworden, aber zugleich hat das Spiel zu einem anderen Wirklichkeitsverhältnis geführt, das die Realität, ohne sie objektiv zu verkennen oder zu versäumen, subjektiv aufhebt zum Traum einer schon über alle Wirklichkeitsfixierung hinausreichenden „Unsterblichkeit“. Der tief zweideutig zwischen Wirklichkeitszuwendung und Entwirklichung dialektisch schwebende Schluß scheint zu signalisieren, daß der Prinz wie in der somnambulischen Szene des Anfangs, wenn auch nun auf einer höheren Ebene, in zwei voneinander ebenso geschiedenen183 wie aufeinander bezogenen Welten lebt, und daß sich im Schein der Koinzidenz und der Versöhnung das Asymptotische zweier Linien abzeichnet, die sich erst in einem imaginären Unendlichen treffen. Liest man das Ruhmverlangen und die Traumverlorenheit des Prinzen als ein metonymisches Geschehen, in dem Kleist dem Ruhmestraum des Prinzen sein eigenes Verlangen nach dem ihm nie zuteilgewordenen Kranz des DichterRuhmes einschreibt, an den gerade das Bekränzungsmotiv erinnert, dann läßt sich sein letztes Werk auch als eine großangelegte Antwort auf Goethes Torquato Tasso verstehen. Hier wie dort treffen die beiden Welten, die idealische des seinem „Traum“ Hingegebenen, und die der Wirklichkeit aufeinander, sie verfehlen sich, um sich nach schmerzhaften Auseinandersetzungen in einem prekären Schwebezustand gegen- und aneinander zu halten. Aber während Goethe am Ende allenfalls ein kompensatorisches Verhältnis der beiden von Tasso und Antonio repräsentierten Gegensphären zuläßt und insofern, wie schon in der vom Gedanken der Entsagung bestimmten Sphäre der Liebe, eher resignativ eine unaufhebbare Differenz andeutet, unternimmt Kleist ein mit allen Künsten der Dialektik operierendes Experiment der Engführung, um es am Ende ins Offene münden zu lassen.
183 Diesen Aspekt betont in einer undialektischen Lektüre Gerhard Kluge: Die mißlungene Apotheose des Prinzen von Homburg, in: Neophilologus 82 (1998), S. 279–290. Vgl. auch Bernd Leistner: Dissonante Utopie. Zu Heinrich von Kleists Prinz Friedrich von Homburg, in: B. L.: Spielraum des Poetischen. Goethe, Schiller, Kleist, Heine, Berlin/Weimar 1985, 2. Aufl. 1989, S. 142–190.
III. Die Erzählungen
Kleists dramatische Erzählkunst „Ich sitze, wie an einem Abgrund […] das Gemüth immer starr über die Tiefe geneigt […]“. (Kleist an Karl von Stein zum Altenstein, Königsberg, 30. Juni 1806).1
Der Erzähler Kleist beginnt später als der Dramatiker. Seine früheste Erzählung, das Erdbeben in Chili, erschien erst im Jahre 1807, als die Arbeit am Amphitryon und an der Penthesilea bereits weit gediehen oder schon vollendet war. Forciertes Erzähltempo, viel Handlung auf engem Raum, durchgehend hohe Spannung, eine Fülle von dramatischen Situationen mit ausgeprägt szenischem Charakter, eine dichte Abfolge von krisenhaften Konflikten, jähen Peripetien, beklemmenden Retardationen, überraschenden Lösungen oder grandiosen Katastrophen – das sind die Merkmale eines mitreißend dramatischen Erzählens, wie es die deutsche Literatur nie vorher gekannt hat. Die meisten Erzählungen lassen den Aufbau eines fünfaktigen Dramas erkennen: von der Exposition über die Schürzung des Knotens und den Höhepunkt der Krisis bis zur Peripetie, Retardation und Katastrophe. Bis in die Infrastrukturen hinein verfährt Kleist dramatisch. Er fügt zahlreiche Dialoge ein, versieht die auftretenden Gestalten mit einer ausdrucksstarken Mimik und Gestik, arbeitet mit Signalen und vielen anderen erregungshaltigen Mitteln. In den weiteren Horizont des dramatischen Erzählens gehört Kleists Vorliebe für Extremsituationen und Grenzerfahrungen. Das Katastrophische, Abgründige faszinierte ihn. Alle seine Erzählungen, mit Ausnahme der Marquise von O…, zielen auf Hinrichtung, tödlichen Irrtum oder Wahnsinn. Mit einer besonderen Sensibilität für das Chaotische begabt und mit einem ausgeprägten Interesse für die aus dem Chaos entstehenden existentiellen Herausforderungen, gestaltete er Ausbrüche blinder Gewalt, verzweiflungsvolle Situationen der Desorientierung, des Ausgeliefertseins an sinnlose Zufälle ebenso wie an elementare Eruptionen von Leidenschaften, die er bis in ihre Perversionen hinein verfolgt. Er reißt die Figuren seiner Geschichten in Abnormitäten und Exzesse. Das Außerordentliche und Ungeheuerliche interessiert den Erzähler Kleist, er stürzt den Leser in ein Wechselbad der Gefühle – Neugier, Angst, Hoffnung, Schrecken und ein durch Paradoxien erzeugtes Staunen mischen sich mit der intellektuellen Faszination durch ein Erzählen, das zugleich die Distanz des 1
Briefe, Nr. 99, S. 355.
Kleists dramatische Erzählkunst
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Analytikers verspüren läßt. Dem erzählerischen Extremismus entspricht eine expressive Stärke der bildhaften Vorstellungen, mit denen Kleist immer wieder ins Hyberbolische ausgreift und, um der zeichenhaften „Wahrheit“ willen, bewußt gegen die Wahrscheinlichkeit verstößt. Schon Das Erdbeben in Chili enthält markante Beispiele. „Man trug die Dächer der Häuser ab“ (191), bemerkt der Erzähler mit einer sarkastischen Bibelanspielung, um die mörderische Schaulust zu charakterisieren, welche die „frommen Töchter der Stadt“ in Erwartung des Hinrichtungszugs überkommt. Der aus dem Gefängnis befreite Jeronimo begegnet einer Frau, „die auf einem fast zur Erde gedrückten Nacken eine ungeheure Last von Gerätschaften und zwei Kinder, an der Brust hängend, trug“! (195) Schon daß Josephe gerade am Fronleichnamsfeste, in einer feierlichen Prozession, „bei dem Anklange der Glocken“, und nicht genug damit, auch noch „auf den Stufen der Kathedrale“ in Mutterwehen niedersinkt, entspricht dieser Strategie stärkster Ausdrucksintensivierung. Auch syntaktisch prägt sich der dramatische Stil aus. In seinem Vortrag Heinrich von Kleist und seine Erzählungen aus dem Jahre 1954 charakterisierte Thomas Mann Kleists Sätze als „verwickelt“ und zugleich „von atemlosem Tempo gejagt“.2 Oft fällt ihre entschieden finale Spannung auf, die sich dadurch erhöht, daß sich zwischen den Anfangsteil des Hauptsatzes und sein Ende stauende und damit spannungerzeugende Zwischenglieder, etwa Appositionen und Nebensätze, einschieben. „Er weiß auf die Folter zu spannen“, schrieb Thomas Mann.3 Schließlich verstärkt Kleists eigenwillige, von den heutigen Regeln der Zeichengebung abweichende Interpunktion diese dramatischen Stauungen und Spannungen, denn häufig setzt er seine Zeichen nicht nach syntaktischlogischen, sondern nach rhythmisch-expressiven Kriterien – den authentischen Eindruck seiner Texte vermitteln daher nicht ältere Ausgaben mit normalisierter Interpunktion, sondern nur die modernen, welche die ursprüngliche Interpunktion bewahren.4 Ein charakteristisches Beispiel für die starke finale Spannung und zugleich die spannungerhöhenden syntaktischen Zwischenglieder bietet folgende Partie aus der Erzählung Die heilige Cäcilie oder Die Gewalt der Musik (303f.): Jetzt plötzlich schlägt die Stunde der Mitternacht; Eure vier Söhne, nachdem sie einen Augenblick gegen den dumpfen Klang der Glocke aufgehorcht, heben sich plötzlich in 2 Thomas Mann: Heinrich von Kleist und seine Erzählungen, in: Th. Mann: Nachlese, Prosa 1951–1955, Frankfurt 1967 (Stockholmer Gesamtausgabe der Werke von Thomas Mann), S. 9–28, hier S. 19. 3 Ebd. S. 28. 4 Vgl. Helmut Sembdner: Kleists Interpunktion. Zur Neuausgabe seiner Werke [1962], in: Walter Müller-Seidel (Hrsg.): Heinrich von Kleist. Aufsätze und Essays, Darmstadt 1967 (Wege der Forschung 147), S. 605–634.
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Die Erzählungen
gleichzeitiger Bewegung, von ihren Sitzen empor; und während wir, mit niedergelegten Tischtüchern, zu ihnen hinüberschauen, ängstlicher Erwartung voll, was auf so seltsames und befremdendes Beginnen erfolgen werde: fangen sie, mit einer entsetzlichen und gräßlichen Stimme, das gloria in excelsis zu intonieren an. So mögen sich Leoparden und Wölfe anhören lassen, wenn sie zur eisigen Winterzeit, das Firmament anbrüllen: die Pfeiler des Hauses, versichere ich Euch, erschütterten, und die Fenster, von ihrer Lungen sichtbarem Atem getroffen, drohten klirrend, als ob man Hände voll schweren Sandes gegen ihre Flächen würfe, zusammen zu brechen. Bei diesem grausenhaften Auftritt stürzen wir besinnungslos, mit sträubenden Haaren aus einander; wir zerstreuen uns, Mäntel und Hüte zurücklassend, durch die umliegenden Straßen, welche in kurzer Zeit, statt unsrer, von mehr denn hundert, aus dem Schlaf geschreckter Menschen, angefüllt waren; das Volk drängt sich, die Haustüre sprengend, über die Stiege dem Saale zu, um die Quelle dieses schauderhaften und empörenden Gebrülls, das, wie von den Lippen ewig verdammter Sünder, aus dem tiefsten Grund der flammenvollen Hölle, jammervoll um Erbarmung zu Gottes Ohren heraufdrang, aufzusuchen. Endlich, mit dem Schlage der Glocke Eins, ohne auf das Zürnen des Wirts, noch auf die erschütterten Ausrufungen des sie umringenden Volks gehört zu haben, schließen sie den Mund; sie wischen sich mit einem Tuch den Schweiß von der Stirn, der ihnen, in großen Tropfen, auf Kinn und Brust niederträuft; und breiten ihre Mäntel aus, und legen sich, um eine Stunde von so qualvollen Geschäften auszuruhen, auf das Getäfel des Bodens nieder.
Auf besonderen Höhepunkten benutzt Kleist gerne auch hämmernde, gleichsam atemlos Schlag auf Schlag folgende Parallelismen, um dramatisches Ungestüm zu erzeugen. Ein Glanzbeispiel ist die Werbung des russischen Grafen in der Marquise von O…. Er wirbt so vehement um die Hand der Marquise, daß die Familie darin übereinkommt, „daß er Damenherzen durch Anlauf, wie Festungen, zu erobern gewohnt scheine“ (154). Kleist gestaltet dies in einem einzigen Satz (150f.): Der Graf setzte sich, indem er die Hand der Dame fahren ließ, nieder, und sagte, daß er, durch die Umstände gezwungen, sich sehr kurz fassen müsse; daß er, tödlich durch die Brust geschossen, nach P… gebracht worden wäre; daß er mehrere Monate daselbst an seinem Leben verzweifelt hätte; daß während dessen die Frau Marquise sein einziger Gedanke gewesen wäre; daß er die Lust und den Schmerz nicht beschreiben könnte, die sich in dieser Vorstellung umarmt hätten; daß er endlich, nach seiner Wiederherstellung, wieder zur Armee gegangen wäre; daß er daselbst die lebhafteste Unruhe empfunden hätte; daß er mehrere Male die Feder ergriffen, um in einem Briefe, an den Herrn Obristen und die Frau Marquise, seinem Herzen Luft zu machen; daß er plötzlich mit Depeschen nach Neapel geschickt worden wäre; daß er nicht wisse, ob er nicht von dort weiter nach Konstantinopel werde abgeordert werden; daß er vielleicht gar nach St. Petersburg werde gehen müssen; daß ihm inzwischen unmöglich wäre, länger zu leben, ohne über eine notwendige Forderung seiner Seele ins Reine zu sein; daß er dem Drang bei seiner Durchreise durch M…, einige Schritte zu diesem Zweck zu tun, nicht habe widerstehen können; kurz, daß er den Wunsch hege, mit der Hand der Frau Marquise beglückt zu werden, und daß er auf das ehrfurchtsvollste, inständigste und dringendste bitte, sich ihm hierüber gütig zu erklären.
Das Erdbeben in Chili
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Einen denkbar entschiedenen Kontrast zu solchen Fortissimo- und FuriosoEffekten in Kleists dramatischer Erzählkunst bilden scheinbar beiläufige, bei genauerem Lesen aber zu entlarvenden Einsichten führende Textsignale, etwa wenn ein bloßes „schien“ oder ein „Als ob“ das Dargestellte als lediglich scheinhaft oder als Selbsttäuschung der in das Geschehen verstrickten Personen kenntlich macht, wenn ein physiognomisches Merkmal Verdacht erregt, wenn eine in einer Aussage versteckte Widersprüchlichkeit den Leser irritiert, wenn eine paradoxe oder ambivalente Konstellation oder eine im Hinblick auf das Geschehen unangemessene Wertung ihn zur kritischen Hinterfragung aufreizt. Zu Recht hat man immer wieder festgestellt, daß Kleists narrative Strategie mit Widersprüchen arbeitet, und auf die theoretische Begründung im „Gesetz des Widerspruchs“ hingewiesen, das Kleist in seinem Allerneuesten Erziehungsplan von 1810 entwickelte. Am meisten irritiert das Phänomen des ‚unzuverlässigen Erzählers‘, der sich mit seinen Wertungen nicht auf der Höhe des von ihm erzählten Geschehens befindet, weil er durch – vom Leser zu entdeckende – Vorurteile abirrt, sich an eine erregende Situation verliert oder sich durch emotionale Identifikation mit den Figuren in deren subjektive Erlebnisperspektive hineinreißen läßt, also selbst keinen sicheren Standpunkt gewinnt.5 Provoziert fühlt sich der Leser endlich durch die gezielte Erzeugung von Leerstellen, die schlüssig auszufüllen ihm überlassen bleibt – wenn sie sich überhaupt ausfüllen lassen und nicht ins Offene weisen. Diese oft nicht leicht erkennbaren Denkanstöße fungieren als Untiefen im reißenden Strom dramatischen Erzählens. Sie stimulieren eine Lektüre, die sich auf selbständiges Navigieren versteht, und verwandeln das dramatische Erzählen in ein Drama des Lesens.
1. Das Erdbeben in Chili. Die Erschütterung aller Gewißheiten Kleists erste Erzählung entstand wahrscheinlich im Jahre 1806, gedruckt erschien sie 1807. Geradezu idealtypisch entspricht sie Goethes Definition der Novelle, denn das Erdbeben, das alles Geschehen bestimmt, ist in der Tat eine 5
Wesentliches hat hierzu schon Wolfgang Kayser gesagt: Kleist als Erzähler [1954/55], in: Heinrich von Kleist. Aufsätze und Essays, hrsg. von Walter Müller-Seidel, Darmstadt 1967 (Wege der Forschung 147), S. 230–243. In der Narratologie ist der ‚unzuverlässige Erzähler‘, der ‚unreliable narrator‘, seit Wayne C. Booths ‚Rhetoric‘ (1961) zu einem generellen Forschungsgegenstand geworden. Vgl. jetzt: Ansgar Nünning: Unreliable Narration zur Einführung. Grundzüge einer kognitiv-narratologischen Theorie und Analyse unglaubwürdigen Erzählens, in: Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Literatur, hrsg. von Ansgar Nünning, Trier 1998, S. 3–39.
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Die Erzählungen
„unerhörte Begebenheit“. Den historischen Hintergrund bildet das Erdbeben, das im Jahr 1647 die chilenische Hauptstadt Santiago di Chile in Schutt und Asche legte. Als Kleist dieses Sujet wählte, war ihm die große zeitgenössische Debatte gegenwärtig, die sich an das Erdbeben von Lissabon im Jahre 1755 anschloß. Theologen und Philosophen nahmen es zum Anlaß, das Problem der Theodizee zu erörtern: das Problem einer „Rechtfertigung Gottes, obwohl er das Übel in der Welt zuläßt“. Später, im 19. Jahrhundert, zog Büchner die radikale Konsequenz aus der Erfahrung von Leiden und Übel, indem er eine Figur in seinem Danton die Theodizee-Frage folgendermaßen beantworten ließ: „[…] Warum leide ich? Das Leiden ist der Fels des Atheismus“ (III, 1). Nicht nur das Theodizee-Problem im engeren Sinn wurde durch das Erdbeben von Lissabon virulent. Nicht mehr plausibel schien auch die von Leibniz in seiner Theodizee 1710 aufgestellte Behauptung, diese Welt sei die beste aller möglichen Welten. Sie war zur weltanschaulichen Grundlage eines im 18. Jahrhundert weitverbreiteten Optimismus geworden und prägte eines der wichtigsten Weltanschauungsbücher der Zeit: Alexander Popes Essay on man (1732– 1734), in dem der oft zitierte Satz steht: „Whatever is, is right“. Derartiger Optimismus mußte angesichts großer Katastrophen seine Glaubwürdigkeit verlieren.6 Den Widerspruch formulierte Voltaire in seinem berühmten Poème sur le désastre de Lisbonne (1756) und in seinem 1759 veröffentlichten satirischen Roman Candide ou l’optimisme, in dem er das Konzept von der besten aller Welten verspottete.7 Neben diesen Angriffen auf die optimistische Weltsicht 6 Vgl. die grundlegende Darstellung von Wilhelm Lütgert: Die Erschütterung des Optimismus durch das Erdbeben von Lissabon 1755, Gütersloh 1901. Davon ausgehend: Harald Weinrich: Literaturgeschichte eines Weltereignisses: Das Erdbeben von Lissabon, in: H. W.: Literatur für Leser, Stuttgart 1971. Vgl. Berthold Rohrer: Das Erdbeben von Lissabon in der französischen Literatur des achtzehnten Jahrhunderts, Heidelberg 1933; Artur Kemmerer: Das Erdbeben von Lissabon in seiner Beziehung zum Problem des Übels in der Welt, Frankfurt a.M. 1958; Wolfgang Breidert: Die Erschütterung der vollkommenen Welt, Darmstadt 1994 (gute und kommentierte Text-Auswahl sowie Bibliographie zur Erdbebenkatastrophe von Lissabon); Horst Günther: Das Erdbeben von Lissabon erschüttert die Meinungen und setzt das Denken in Bewegung, Berlin 1994. Hervorzuheben sind Thomas D. Kendrick: The Lisbon Earthquake, London 1956, und Ulrich Löffler: Lissabons Fall – Europas Schrecken: Die Deutung des Erdbebens von Lissabon im deutschsprachigen Protestantismus des 18. Jahrhunderts, Berlin [u. a.] 1999 (mit umfassender Bibliographie [S. 649–711], einschließlich einer Quellen-Bibliographie). Dieses Werk charakterisiert und diskutiert auch die gesamte frühere Forschung. 7 Zu diesem Aspekt: Thomas E. Bourke: Vorsehung und Katastrophe. Voltaires Poème sur le désastre de Lisbonne und Kleists Erdbeben in Chili, in: Klassik und Moderne. Walter Müller-Seidel zum 65. Geburtstag, hrsg. von Karl Richter und Jörg Schönert, Stuttgart 1983, S. 228–253; Susanne Ledanff: Kleist und die „beste aller Welten“. Das Erdbeben in
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angesichts der Katastrophe und neben den Problematisierungen der Theodizee gab es Stellungnahmen, die entweder überhaupt den Zusammenhang von Naturereignissen mit den Absichten Gottes bestritten oder aber argumentierten, daß, wenn es einen solchen Zusammenhang gebe, er für die Menschen nicht erkennbar sei. Rousseau plädierte in seinem Brief an Herrn von Voltaire gegen die Annahme, Naturereignisse seien von bestimmten Absichten Gottes abhängig. Kant wandte sich 1756 in einer Schrift, die er eigens über das Erdbeben von Lissabon verfaßte, gegen den „sträflichen Vorwitz, der sich anmaßt, die Absichten der göttlichen Rathschlüsse einzusehen, und nach seinen Einsichten auszulegen […] So ist der Mensch im Dunkeln, wenn er die Absichten errathen will, die Gott in der Regierung der Welt vor Augen hat“.8 Kleists Meistererzählung, die eine bisher unbekannte Vorgängerin in der 1795 erschienenen Erzählung Alonzo und Elvira, oder Das Erdbeben von Lissabon hat9, spiegelt diese große zeitgenössische Debatte in mehrfacher Weise. Das Erdbeben trifft Gute und Böse, Schuldige und Unschuldige gleichermaßen, widerspricht also dem Glauben an eine moralische Weltregierung Gottes und damit der Annahme eines übergeordneten Sinns. Schon gar nicht gibt das sinnlos zerstörerische Geschehen Anlaß zu einer optimistischen Weltanschauung. Auch zeigt sich, daß die Menschen mit ihren Auslegungen des Geschehens, wenn sie es mit dem angeblichen Willen Gottes begründen, immer in ihrer subjektiven Interessenlage oder Erlebnisperspektive befangen bleiben. Indem Kleist einander widersprechende Auslegungen inszeniert, führt er jede Auslegung ad absurdum.10 So deutet ein Priester aus seinem theologischen Horizont Chili – gesehen im Spiegel der philosophischen und literarischen Stellungnahmen zur Theodizee im 18.Jahrhundert, in: KJb 1986, S. 125–155. 8 Immanuel Kant: Geschichte und Naturbeschreibung der merkwürdigen Vorfälle des Erdbebens, welches an dem Ende des 1755sten Jahres einen großen Theil der Erde erschüttert hat. In: Immanuel Kants frühere noch nicht gesammelte kleine Schriften, Lintz 1795, S. 84f. 9 Friedrich Theodor Nevermann: Alonzo und Elvira, oder Das Erdbeben von Lissabon, Hamburg: Wörmer 1795. Schon an den Titel dieser dramatisierten Erzählung erinnert Kleists ursprüngliche Titelformulierung Jeronimo und Josephe. 10 Auf diese Problematik hat John M. Ellis in seinem grundlegenden Aufsatz hingewiesen: Kleist’s Das Erdbeben in Chili, in: Publications of the English Goethe Society. N. S., Vol. XXXIII (1963), S. 10–55. Problematisch sind demgegenüber dekonstruktivistisch inspirierte Versuche, die ironische Dementierung aller von den Personen in der Erzählung unternommenen Auslegungen des Geschehens auf die Ebene der narrativen Darstellung sowie auf das Verhalten des Lesers zum Text zu übertragen. Denn daraus, daß die Figuren der Erzählung das Geschehen, das über sie hereinbricht, aus ihrer jeweiligen subjektiven Perspektive auslegen und ihm einen entsprechend fragwürdigen „Sinn“ zusprechen, folgt nicht, daß die erzählerische Darstellung ebenfalls ohne plausiblen „Sinn“ bleibt. Ebenso-
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Die Erzählungen
das Erdbeben als Strafe für die Sünden11; das zum Tode verurteilte Liebespaar hingegen, das dem unmittelbar vor der Hinrichtung hereingebrochenen Erdbeben seine Rettung verdankt, deutet das Geschehen als wunderbare Gnade Gottes. Ja, Kleist geht noch weiter, indem er gelegentlich dieselbe Person, wenn ihre Situation sich ändert, auch ihre Auslegung des Geschehens ändern läßt. So heißt es von Jeronimo, als er sich aus dem zusammenstürzenden Gefängnis befreit sieht: „Er senkte sich so tief, daß seine Stirn den Boden berührte, Gott für seine wunderbare Errettung zu danken“ (195). Wenig später aber, als er daran denkt, daß seine Braut Josephe der Hinrichtung wohl nicht entgangen ist, schlägt seine Stimmung und damit auch seine Vorstellung von Gott um: „sein Gebet fing ihn zu reuen an, und fürchterlich schien ihm das Wesen, das über den Wolken waltet“ (ebd.). Als er kurz darauf Josephe findet, wechselt er wieder die Meinung und ruft in glücklichem Entzücken: „O Mutter Gottes, du Heilige!“ (197) Der Erzähler selbst läßt sich vom Wiedersehensglück des Liebespaares so überwältigen, daß er dessen Erlebnisperspektive übernimmt: „Mit welcher Seligkeit umarmten sie sich, die Unglücklichen, die ein Wunder des Himmels gerettet hatte!“ (ebd.) Daß dieses „Wunder des Himmels“ nur eine aus dem augenblicklichen Gefühlsüberschwang entspringende Illusion ist, erweist spätestens das schreckliche Ende der beiden Liebenden. wenig ergibt sich daraus, Auslegungen der Erzählung (und damit überhaupt Versuche des Verstehens) seien nicht statthaft. Es ist gerade der „Sinn“ der Erzählung, daß das Erdbeben ein „sinnloses“ Geschehen repräsentiert, und es ist bereits Ergebnis einer „Auslegung“ der Erzählung, daß darin alle durch die Betroffenen unternommenen „Auslegungen“ nicht zutreffen. Die Dekonstruktion gerät nicht bloß in einen performativen Widerspruch, wenn sie aufgrund hermeneutischer Aussagen über den Text die hermeneutische Methode glaubt suspendieren zu können. Sie ist eine Hermeneutik des generalisierenden Kurzschlusses, insofern sie von inhaltlichen Momenten per analogiam zwingend auf narrative Qualitäten des Textes schließen zu können glaubt und – wiederum per analogiam – sogar das Verhältnis des Lesers zum Text determiniert. Diese Tendenz verfolgt Werner Hamacher in seinem Aufsatz zum Erdbeben in Chili: W. H.: Das Beben der Darstellung, in: David Wellbery: Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists Das Erdbeben in Chili, München 1985 u. ö., S. 149–173, besonders in seinen konklusiven Ausführungen S. 172f. 11 Sowohl mit dieser theologischen Deutung wie mit ihrer Inszenierung durch eine Predigt entspricht Kleist einem ganzen Genre von Schriften und Predigten, die sich an das Erdbeben von Lissabon in Europa und so auch in Deutschland anschlossen. Vgl. Ulrich Löffler (wie Anm. 6), insbesondere die Bibliographie zeitgenössischer Predigten zu diesem Thema, S. 631 ff. Eine besondere Rolle spielten Predigten, die das Erdbeben – wie bei Kleist – als göttliches Strafgericht in apokalyptischer Perspektive deuteten und mitunter zur konkreten Aufhetzung benutzten. Hierzu besonders Kendrick, Earthquake (wie Anm. 6), S. 72ff., S. 93ff.
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Das Erdbeben ist auch eine Revolutionsmetapher. Kleist schrieb seine Erzählung anderthalb Jahrzehnte nach dem Ausbruch der Französischen Revolution. Immer wieder verglichen die Zeitgenossen die epochale Erschütterung der bestehenden Ordnung mit einem Erdbeben, und daß Kleist die Naturkatastrophe ebenfalls als Revolutionsmetapher verwendet, geht aus der pauschalen Bezeichnung als „Umsturz aller Verhältnisse“ (209) und der entsprechenden Anlage der Erzählung hervor. An ihrem Beginn bringt das Erdbeben nicht nur in vager Allgemeinheit die Gebäude der Stadt zum Einsturz; besonders markiert wird die Zerstörung der staatlichen und kirchlichen Institutionen: Der Regierungssitz und der Bischofssitz, der Gerichtshof, die Gefängnisse und die Klöster gehen unter. Das Erdbeben vernichtet auch die Repräsentanten der staatlichen und kirchlichen Ordnung, ja alle Autoritäten bis hin zu der des Vaterhauses. „Sie hatte“, so heißt es von Josephe, „noch wenig Schritte getan, als ihr auch schon die Leiche des Erzbischofs begegnete, die man soeben zerschmettert aus dem Schutt der Kathedrale hervorgezogen hatte. Der Palast des Vizekönigs war versunken, der Gerichtshof, in welchem ihr das Urteil gesprochen worden war, stand in Flammen, und an die Stelle, wo sich ihr väterliches Haus befunden hatte, war ein See getreten, und kochte rötliche Dämpfe aus“ (199). Die Überlebenden ziehen vor die Stadt ins Freie; nach dem Zusammenbruch der gesellschaftlichen Ordnung finden sie sich in einem beinahe utopischen Rousseauschen Naturzustand vereint. Die Trennwände der gesellschaftlichen Ungleichheit sind gefallen, der Unterschied der Stände ist aufgehoben, das revolutionäre Ideal der „égalité“ wird ebenso sinnfällig wie die revolutionäre Hoffnung auf die Verwirklichung solidarischer Menschlichkeit, der „humanité“ (207): Auf den Feldern, so weit das Auge reichte, sah man Menschen von allen Ständen durcheinander liegen, Fürsten und Bettler, Matronen und Bäuerinnen, Staatsbeamten und Taglöhner, Klosterherren und Klosterfrauen, einander bemitleiden, sich wechselseitig Hülfe reichen, von dem, was sie zur Erhaltung ihres Lebens gerettet haben mochten, freudig mitteilen, als ob das allgemeine Unglück Alles, was ihm entronnen war, zu einer Familie gemacht hätte.
Allerdings, und das ist entscheidend, schreibt Kleist nicht aus einer Perspektive revolutionärer Hoffnungen, vielmehr im Jahre 1806 – nach dem Scheitern der Französischen Revolution. Deshalb gestaltet er die Szene naturhaft-harmonischer Menschlichkeit nur zu einem kurzen Zwischenspiel, nach dem sich die gesellschaftlichen Strukturen mitsamt den Vorurteilen und unmenschlichen Verhaltensweisen der Vergangenheit neu formieren. Die Menschen gehen aus der Natur in die einzige vom Erdbeben nicht zerstörte Kirche, um dort einen Gottesdienst zu feiern. Eine der zentralen alten Institutionen hat also überdauert, ein fanatischer Priester hetzt die Gläubigen gegen das Liebespaar auf, und das Ganze endet in Mord und Totschlag. Nur für kurze Zeit und um den Preis großer Zerstörungen und zahlreicher Menschenleben hat der Zusammen-
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bruch der alten Ordnung die Utopie einer wahrhaft humanen Gesellschaft aufscheinen lassen, denn auf Dauer in einen ursprünglich-naturhaften Zustand zurückzukehren ist unmöglich. Rasch gewinnen die alten Mächte, allen voran die Kirche, wieder ihren Einfluß, und die Menschen fallen in ihre inhumanen Verhaltensweisen zurück. Kleist transformiert seine rousseauistische Grundposition, derzufolge die Zivilisation den ursprünglich naturhaft-guten Menschen verdorben, ja unmenschlich gemacht hat, in einen nachrevolutionären Geschichtspessimismus. In den revolutionären Horizont gehört die intensive Inszenierung von Gesellschaftskritik, Moralkritik und Religionskritik. Kleist entwickelt eine durchdringende Gesellschaftskritik, indem er die wichtigsten gesellschaftlichen Institutionen, Staat und Kirche, negativ charakterisiert. Noch weiter und tiefer geht er, indem er die ‚Moral‘ als Produkt materieller Interessen und gesellschaftlicher Vorurteile entlarvt.12 Wie noch in der letzten Erzählung, im Zweikampf , liegt die Wurzel des gesellschaftlichen Übels in der Fixierung auf Eigentum und sozialen Rang. Die Erzählung beginnt mit einer epischen Rückwendung in die Vorgeschichte, die diese Wurzel des Geschehens freilegt: Josephe, die Tochter eines der „reichsten“ Edelleute der Stadt (189), liebt den armen Hauslehrer Jeronimo und erregt damit in ihrer Familie Anstoß. Ihr „stolzer“ Bruder verrät das Liebesverhältnis. Nach der scheinbar beiläufigen Bemerkung, der Vater sei einer der reichsten Edelleute gewesen und er habe nach dem Hinweis des Sohnes die Tochter ins Kloster gezwungen, ergibt sich die unausgesprochene Folgerung, daß Besitzdenken und Standesdünkel die Verbindung der beiden Liebenden nicht erlauben. Jeronimo allerdings weiß auch über die Klostermauern hinweg die Liebesbeziehung fortzusetzen, und Josephe wird schwanger. Da sie inzwischen Klosterfrau ist, führt dies zu einem moralischen Skandal: Auf Befehl des Erzbischofs macht man ihr den schärfsten Prozeß und verurteilt sie zum Feuertod. Mit keinem Wort gibt Kleist eine Wertung zu erkennen. Der Leser muß selbst auf den Gedanken kommen, daß Josephens Klosterfrauen-Dasein nur ein erzwungenes 12 Der Text ist also nicht eine „Mimesis der Rätselhaftigkeit des Lebens, der Undurchschaubarkeit der Welt“ (Norbert Altenhofer: Der erschütterte Sinn. Hermeneutische Überlegungen zu Kleists Das Erdbeben in Chili, in: David Wellbery [Hrsg.]: Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists Das Erdbeben in Chili, München 1985 u. ö., S. 39–53, hier S. 52); im Gegenteil vermittelt er dem Leser die kritische und historische Erkenntnis von der verderblichen Wirkung gesellschaftlicher und ‚moralischer‘ Vorurteile sowie religiöser Illusionen. Weder als Naturereignis noch als Revolutionsmetapher ist das Erdbeben „rätselhaft“, ebensowenig das Verhalten der Menschen oder gar der Text (Altenhofer, S. 53: „Der Text als Rätsel, das Leben als unverständliches Buch […]“).
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ist, daß damit die menschliche Natur, zu der auch die Sexualität gehört, unterdrückt wurde, daß schließlich diese Unterdrückung der menschlichen Natur aus materiellem Interesse und Standesvorurteilen, also aus höchst profanen Gründen geschah. Nicht zuletzt entlarvt Kleist die unmenschliche Scheinmoral am Verhalten der von der Kirche ‚moralisch‘ formierten Öffentlichkeit, insbesondere an den zu Frömmigkeit und Tugend erzogenen Frauen (191): Alles, was geschehen konnte, war, daß der Feuertod, zu dem sie [gemeint ist Josephe] verurteilt wurde, zur großen Entrüstung der Matronen und Jungfrauen von St. Jago, durch einen Machtspruch des Vizekönigs, in eine Enthauptung verwandelt ward. Man vermietete in den Straßen, durch welche der Hinrichtungszug gehen sollte, die Fenster, man trug die Dächer der Häuser ab, und die frommen Töchter der Stadt luden ihre Freundinnen ein, um dem Schauspiele, das der göttlichen Rache gegeben wurde, an ihrer schwesterlichen Seite beizuwohnen.
Vernichtend kritisiert demnach schon der Beginn der Erzählung die gesellschaftliche Unnatur. Sie zerstört die engsten Familienbande, mißachtet die natürliche Liebe und artet bis zu tödlicher Grausamkeit aus. Der ‚Moral‘ kommt die Funktion zu, diese Unnatur ideologisch zu legitimieren, insbesondere bedient sie Besitzinteressen und Unterdrückungsinstinkte, und die Kirche, das arbeitet Kleist schon hier und später noch schärfer heraus, ist die Indoktrinationsanstalt solcher Moral. In der Konstellation seiner Erzählung bildet die Moral bloß den ideologischen Überbau einer der Natur entfremdeten und sie deshalb mißachtenden Gesellschaft. Ins Psychologische dringt Kleists Religionskritik vor, die auf der aufklärerischen, letztlich bis auf Francis Bacons Theorie von den Idolen zurückreichenden Illusionslehre basiert. Besonders der von ihm in zwei Briefen gerühmte Helvétius erklärte religiöse Vorstellungen als Illusionsbildungen. Sie kommen durch starke Gefühlsintensitäten zustande, die zu Absolutsetzungen verführen.13 So richtet sich das Gefühl des Danks, das die Liebenden nach der Errettung durch das Erdbeben überströmt, auf Gott. Zwar können religiöse Vorstellungen niederen Motiven entspringen, wie bei dem fanatisch predigenden Priester, der seine eigene Unmenschlichkeit auf das Schreckbild eines wütenden Strafgottes überträgt. Aber sie gehen auch, davon zeugt der Dankesüberschwang der beiden Liebenden, aus edlen Herzensregungen hervor. Schon Helvétius hatte dargetan, wie der Glaube an das Wirken eines höheren Wesens aus 13
In seinem 1758 erschienenen und 1760 mit einer Vorrede Gottscheds in deutscher Übersetzung vorgelegten Hauptwerk De l’esprit erklärte Helvétius alle leidenschaftlichen Gefühle zu illusionären Kräften, die eine angemessene Erkenntnis der Wirklichkeit unmöglich machen. Das Kapitel über die durch unsere Leidenschaften verursachten Irrtümer enthält folgenden Kernsatz: „L’illusion est un effet necessaire des passions […]“ (Helvétius, Œuvres complètes, 1784. Tome II, chapitre II, p. 25–28; Zitat S. 26).
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dem Dankesgefühl entsteht.14 Doch bleiben auch derart positiv grundierte religiöse Vorstellungen illusionär. Und Kleist führt drastisch vor, daß gerade solche Illusionsbildungen zu einer verderblichen Fehleinschätzung der Wirklichkeit führen. Aufgrund der Illusionen, zu denen sich die beiden Liebenden hinreißen lassen, geraten sie ins Verderben. Jeronimos Illusionsbereitschaft entsteht bezeichnenderweise aus einer völligen Suspendierung der Rationalität. Leitmotivisch wird pointiert, wie er unter der Wucht des ungeheuren Geschehens die Besinnung verliert15: er „wollte die Besinnung verlieren“ (191), es ist ihm „gleich als ob sein ganzes Bewußtsein zerschmettert worden wäre“ (193); „besinnungslos, wie er sich aus diesem allgemeinen Verderben retten würde“ (193), eilt er davon; vor der Stadt sinkt er „ohnmächtig“ nieder (195); er erwacht aus der „tiefsten Bewußtlosigkeit“ (195), „unwissend, was er aus seinem Zustande machen sollte“ (195); „er begriff nicht, was ihn und sie hiehergeführt haben konnte“ (195). In aufschlußreichem Kontrast kann die von ihrem Mutterinstinkt geleitete Josephe besser eine wenigstens primäre Orientierung gewinnen: „[…] die Besinnung kehrte ihr bald wieder, und sie wandte sich, um nach dem Kloster zu eilen, wo ihr kleiner, hülfloser Knabe zurückgeblieben war“ (197f.), und obwohl sie „besinnungslos an einer Ecke niedersinken“ wollte (199) in der Stadt, rettet sie das Kind entschlossen ins Freie. Und nicht wie Jeronimo wendet sie sich bei jedem neuen erschütternden Eindruck an den Himmel, an Gott oder die Mutter Gottes – nur dem selbst vom Geschehen überwältigten Erzähler ist es „gleich als ob alle Engel des Himmels sie umschirmten“ (199), und er spricht von dem „Knaben, den ihr der Himmel wieder geschenkt hatte“ (199). Aber dann verliert sie doch ihre Besonnenheit, „mit einiger Begeisterung“ (211) stimmt sie dem Kirchgang zu, „weil sie den Drang, ihr Antlitz vor dem Schöpfer in den Staub zu legen, niemals lebhafter empfunden habe, als eben jetzt, wo er seine unbegreifliche [!] und erhabene Macht so entwickle“. Wie bei der Marquise von O… führt gerade das für sie Unbegreifliche des Geschehens zur falschen Annahme, der Himmel habe seine Hand im Spiele. Das Gefühl des Dankes und zugleich des Unbegreiflichen überwältigen ihr rationales Vermögen, und dieser „Drang“ ist so stark, daß er die in den Bedenken und Warnungen Donna Elisabeths zum Ausdruck kommenden rationalen Erwägungen überspielt und sich zu religiösen Vorstellungen steigert, die sich als desaströse Illusionen erweisen. 14
Helvétius, Tome III, p. 54: „C’est l’enthousiasme de la reconnaissance […] qui inventa les fausses religions et les superstitions“. 15 Darauf weist besonders Karlheinz Stierle hin: Das Beben des Bewußtseins. Die narrative Struktur von Kleists Das Erdbeben in Chili, in: David E. Wellbery (Hrsg.): Positionen der Literaturwissenschaft, Acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists Das Erdbeben in Chili, München 1985 u.ö., S. 55–68, hier S. 60f.
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Bei so viel aufklärerisch-kritischer Subversion, die noch durch die beiläufige Einspielung zahlreicher Bibelzitate verstärkt wird16, verwundert es nicht, daß die k.u.k. Zensur in Wien Kleists Erzählung als „im höchsten Grade gefährlich“ bewertete und wegen ihrer zahlreichen „unmoralischen Stellen“ verurteilte.17 Und doch hat sie noch eine andere Dimension. Die Schlußpartie zeigt, daß es möglich ist, durch außerordentliche Herausforderungen auch zu einer außerordentlichen menschlichen Größe zu finden.18 An Don Fernando, der die Liebenden aus der tödlichen Bedrohung tapfer zu retten versucht, offenbart sich paradigmatisch, wie ein Mensch, wenn er in eine Extremsituation gerät, überhaupt erst zu Möglichkeiten seines Wesens gelangt, die er sonst nie wahrgenommen hätte. Dieser experimentelle Zug findet sich auch in anderen Werken Kleists. Statt fertiger Charaktere entwirft er immer wieder Menschen, die in einer extremen Herausforderung erst sie selbst werden. In eklatanter Weise gilt dies für die Marquise von O…. Erst durch den Skandal ihrer Schwangerschaft und die daraus resultierenden familiären Bedrohungen findet die Marquise zu einer mutig-entschlossenen Haltung. Sie emanzipiert sich als Frau aus den bisherigen Abhängigkeiten zu einer Persönlichkeit, die ihr Schicksal selbst in die Hand nimmt und sich selbst bestimmt. Im Erdbeben in Chili erscheint die Bewährungssituation, in der Don Fernando erst seine volle Statur gewinnt, besonders eindrucksvoll durch den Kontrast zu der amorphen Masse: Aus der fanatisierten Menge im Dom ertönt bloß ein Gewirr anonymer „Stimmen“. Diese Szene ist die erste Gestaltung einer Massenhysterie in der modernen Literatur.19 Während der entfesselte Mob ins Untermenschliche gerät, erhebt sich Don Fernando ins Übermenschliche. Der selbst hingerissene Erzähler sieht ihn in Bildern, welche die traditionelle Darstellung des Schutzengels und des kriegerischen Erzengels Michael übereinanderblenden: „Don Fernando, dieser göttliche Held, stand jetzt, den Rücken an die Kirche gelehnt; in der Linken hielt er die Kinder, in der Rechten das Schwert. Mit jedem Hiebe wetterstrahlte er Einen zu Boden […]“ (221). Die Extremsituation fordert zu einer Bewährung heraus, in der sich nicht bloß die schon bisher wahrnehmbare menschliche 16 Nachweise bei Hans-Jürgen Schrader: Spuren Gottes in den Trümmern der Welt. Zur Bedeutung biblischer Bilder in Kleists Erdbeben, in: KJb 1991, S. 34–52, sowie Norbert Oellers: Das Erdbeben in Chili, in: Interpretationen. Kleists Erzählungen, hrsg. von Walter Hinderer, Stuttgart 1998, S. 85–110, hier S. 99–101, wobei zu Recht die subversive Funktion der Bibel-Anspielungen betont wird. 17 Nachruhm, Nr. 646. 18 Zu diesem Aspekt vgl. besonders Wolfgang Wittkowski: Skepsis, Noblesse, Ironie. Formen des Als-ob in Kleists Erdbeben, in: Euphorion 63 (1969), S. 247–283. 19 Theoretisch waren das Phänomen der Massenhysterie und die Bedingungen, unter denen es entsteht, schon von Shaftesbury diagnostiziert worden. Vgl. hierzu Anm. 22.
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Qualität bestätigt – sie steigert sich ins Heroische und erfüllt denjenigen, der sie an sich erlebt, mitten im Unglück mit der Glücksempfindung einer sich in der edlen Tat vollendenden Selbsterfahrung. Darauf zielt der letzte Satz der Erzählung: „Don Fernando und Donna Elvire nahmen hierauf den kleinen Fremdling zum Pflegesohn an; und wenn Don Fernando Philippen mit Juan verglich, und wie er beide erworben hatte, so war es ihm fast, als müßt er sich freuen“. In noch helleres Licht tritt die Tat Don Fernandos durch das Gegenbeispiel menschlichen Versagens: „ein Marine-Offizier von bedeutendem Rang“ (217) ist in der Entscheidungssituation zwar gegenwärtig, bleibt aber passiv. Er kann nur nachträglich seine „Untätigkeit“ bedauern. Wahrhafter „Rang“ erweist sich jenseits des gesellschaftlich definierten Rangs, und nur in der Tat. Obwohl auf dieser Tat der Glanz des Spontanen liegt, ist sie nicht unvorbereitet. Leitmotivisch durchzieht das Geschehen eine Geste nobler Schutzbereitschaft von seiten Don Fernandos gegenüber der mit knapper Not der Hinrichtung entronnenen Josephe: Allen gesellschaftlichen Vorurteilen und vor allem der Brandmarkung durch das Todesurteil trotzend, bietet er ihr immer wieder den Arm, und so führt er sie auch in die Kirche, in der das Verhängnis hereinbricht. Dort, in der Situation äußerster Bedrohung, wird die bisherige Geste humaner Solidarität zum elementaren Reflex des Schutzes (215): „Seid ihr wahnsinnig? rief der Jüngling, und schlug den Arm um Josephen […]“, und schließlich erklärt er, „er wolle eher umkommen, als zugeben, daß seiner Gesellschaft etwas zu Leide geschehe. Er bot Josephen, nachdem er sich den Degen des Marine-Offiziers ausgebeten hatte, den Arm […]“ (219). Mit dieser ausdrucksvollen Demonstration menschlicher Hilfsbereitschaft kontrastiert Kleist, der Meister mimischer und gestischer Regie, einen ebenso konsequent markierten Gestus der Hinwendung zum Göttlichen – und dieser geht ins Leere. Angesichts der vom Erdbeben angerichteten Verwüstungen streckt ein Unbekannter „sprachlos zitternde Hände zum Himmel“ (193); am Ende, nach der Katastrophe im Dominikanerdom, hebt Don Fernando voll namenlosen Schmerzes „seine Augen gen Himmel“ (221). Bezeichnenderweise nicht „sprachlos“ und von „namenlosem“ Schmerz ergriffen, sondern „im Flusse priesterlicher Beredsamkeit“ seine „zitternden, vom Chorhemd weit umflossenen Hände hoch zum Himmel erhebend“, nennt der fanatisch predigende Prälat die Verschonung des unglücklichen Liebespaares nach dem Erdbeben „gottlos“ und wünscht es zur „Hölle“ – worauf die Hölle in der Kirche losbricht. So grundverschieden diese Hinwendungen zum „Himmel“ motiviert sind, so deutlich haben sie doch Eines gemeinsam: Der „Himmel“ ist für nichts zuständig, was auf der Erde geschieht. Durch die motivische Kontrastbildung zur hilfsbereiten Geste Don Fernandos scheint Kleist zu signalisieren, daß in einer gottverlassenen Welt nur noch engagierte Menschlichkeit zählt. Indem er diese aber an den gesellschaftlichen Institutionen sowie an den Moral- und Ideolo-
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giebildungen letztlich doch zuschanden werden läßt, ist Menschlichkeit nur noch als augenblickshaftes Ausnahme-Ereignis denkbar. Es bleibt ohne geschichtliche Tragweite. Schon im dreiteiligen Aufbau der Erzählung zeichnet sich die pessimistische Gesamtsicht der Geschichte ab. Anfangs- und Schlußteil zeigen die geschichtliche Wirklichkeit: das durch Staat und Kirche, ‚Moral‘ und Religion tödlich bedrohte Dasein von Menschen, die doch bloß ihren natürlichen Empfindungen leben; und am Ende die Entfesselung mörderischer Widernatur, die in der Tötung des Kindes ihren krassesten Ausdruck findet. Dagegen führt der Mittelteil des Triptychons einen gleichsam ungeschichtlichen, weil aus der vorübergehenden Aufhebung aller gesellschaftlichen Fixierungen resultierenden Naturzustand vor, der geradezu paradiesisch anmutet: „als ob es das Tal von Eden gewesen wäre“ (201). Das „Als ob“ und die konjunktivische Formulierung markieren das Wunschbildhafte des Ausnahme-Augenblicks. Vollends ins Unwirkliche entrückt ihn die Nacht „voll wundermilden Duftes, so silberglänzend und still, wie nur ein Dichter davon träumen mag“ (201). Das nach all den Drangsalen umso intensiver erfahrene Glück der kleinen Familie ist zugleich Modell einer utopischen Menschheitsfamilie. Die den Schrecken des Erdbebens Entkommenen lagern ohne Unterschied der Stände in der freien Natur, „als ob das allgemeine Unglück Alles, was ihm entronnen war, zu einer Familie gemacht hätte“ (207). Die Familie repräsentiert die einzig naturgewachsene Form von Gesellschaft, aber schon das neuerliche „Als ob“ läßt erkennen, daß die Übertragung auf die Gesellschaft im ganzen höchstens die Illusion eines Ausnahmezustands sein kann. Ja, wie schon der Anfang der Erzählung dem zerstörerischen Übergreifen der gesellschaftlichen Deformation auf die Familie gilt – der standesstolze Bruder stürzt die Schwester ins Unglück –, so zeigt auch das Ende die verhängnisvolle Wirkung gesellschaftlich entstellten Verhaltens in der Familie selbst. Jeronimo Rugera wird von seinem eigenen Vater erschlagen. In der aufgehetzten Masse, der niedrigsten Art uniformierter und enthumanisierter Gesellschaft, und unter dem Einfluß eines ideologischen Fanatismus, der gerade in der Masse gedeiht, pervertieren sich selbst die primären menschlichen Bindungen. Vor diesem Hintergrund erhält der Schlußsatz eine eigentümliche Faszination. Daß nun an der Stelle einer naturgewachsenen Familie sich um den „kleinen Fremdling“ eine neue Familie bildet, die durch den gesellschaftlichen Zerstörungsprozeß hindurchgegangen ist, deutet auf die seltene Möglichkeit höherer Humanität jenseits naturhaft bestehender Bindungen. Die Schlußwendung der Erzählung – „und wenn Don Fernando Philippen mit Juan verglich, und wie er beide erworben hatte, so war ihm fast, als müßt er sich freuen“ – entspricht der Überzeugung, die Kleist schon in dem großen Brief an Martini vom 18. und 19. März 1799 zum Ausdruck gebracht hatte, daß das größte Glück die Zufriedenheit des moralischen Individuums mit sich
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selbst sei: „[…] die Zufriedenheit unsrer selbst, das Bewußtsein guter Handlungen, das Gefühl unsrer durch alle Augenblicke unsres Lebens, vielleicht gegen tausend Anfechtungen und Verführungen standhaft behaupteten Würde sind fähig, unter allen Umständen des Lebens, selbst unter den scheinbar traurigsten, ein sicheres, tiefgefühltes, unzerstörbares Glück zu gründen“.20 Die Forschung hat nachgewiesen, daß diese Formulierung und viele andere in diesem Brief wie auch in Kleists Aufsatz, den sichern Weg des Glücks zu finden, nahezu wörtlich von Shaftesbury stammen.21 Im Erdbeben in Chili knüpft Kleist schon vor seiner Schlußwendung mit der Gestaltung der Massenhysterie im Dom an Shaftesbury an22; darüberhinaus entwirft er eine zentrale Konstellation nach 20
Briefe, Nr. 3, S. 24. Umfassende Nachweise bei Ulrich Gall: Philosophie bei Heinrich von Kleist, Bonn 1977, 2. Aufl. 1985, S. 15–32, hier besonders S. 24. Zugrunde liegt Shaftesburys Inquiry concerning virtue and merit. 22 Vgl. Shaftesbury: A Letter concerning Enthusiasm (1707), 2. Abschnitt: „Mit gutem Grund kann man jede Leidenschaft, die in einer Menge entsteht und durch Anblick oder, wie bereits vorgeführt, gleichsam durch Berührung oder Mit-Leidenschaft vermittelt wird, Panik nennen. Demzufolge kann allgemeine Raserei Panik genannt werden, wenn die Wut das Volk, wie wir es manchmal erfahren mußten, ganz außer sich geraten ließ; insbesondere, wenn die Religion mit im Spiele war. Und in diesem Zustande sind ihre bloßen Blicke ansteckend. Die Wut fliegt von Angesicht zu Angesicht; und kaum hat man die Krankheit gesehen, hat man sie schon. Diejenigen, die in einer besseren Geistesverfassung eine Menge gesehen haben, die der Macht dieser Leidenschaft unterworfen war, haben bekannt, daß sie in den Zügen der Männer sogar noch etwas Gräßlicheres und Schrecklicheres erblickt haben, als sich sonst bei den heftigsten Ausbrüchen der Leidenschaften zeigt. Solch eine Gewalt zeitigt das Zusammensein in schlechten wie auch in guten Leidenschaften: und so viel stärker ist jedes Gefühl, wenn es nur allgemein und mitteilbar ist. So seht Ihr, Mylord, daß es unter Menschen viele Erscheinungsformen der Panik neben jener der Furcht gibt. Und dergestalt ist auch die Religion eine Art Panik; wenn Enthusiasmus [Enthusiasm], wie so häufig, bei schwermütigen Gelegenheiten aufkommt, erscheint sie genau als solche. Denn Dünste steigen von Natur aus nach oben; und besonders in schlechten Zeiten, wenn die Menschen in gedrückter Stimmung sind, sei es aufgrund allgemeinen Elends oder durch die Unbekömmlichkeit von Luft und Nahrung, oder wenn sich Erschütterungen in der Natur ereignen, wie Stürme, Erdbeben [!] oder andere wundersame Phänomene: in solchen Zeiten muß die Panik notwendigerweise hohe Wellen schlagen und die Obrigkeit ihr notgedrungen freien Lauf lassen“. (Anthony Ashley Cooper, Third Earl of Shaftesbury. Standard Edition. Sämtliche Werke, ausgewählte Briefe und nachgelassene Schriften. In englischer Sprache mit paralleler deutscher Übersetzung herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Gerd Hemmerich & Wolfram Benda, Bd. I, 1: Ästhetik, Stuttgart-Bad Cannstatt 1981, S. 325f.) Volksaufklärerische Schriften hatten, ganz in Kleists Sinn, bereits eine „religious hysteria“ nach dem Erdbeben von Lissabon festgestellt (Kendrick [wie Anm. 6], S. 60). 21
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Shaftesburys Konzept des „Enthusiasmus“, und erst auf diesem Hintergrund wird die Affekt-Regie der Erzählung und ihre ethische Reflexion voll erkennbar. Den Enthusiasmus, den Kant später in der Kritik der Urteilskraft als erhabenen Gemütszustand, als „Idee des Guten mit Affekt“ definierte, bezeichnete Shaftesbury als „noble enthusiasm“ und „honest passion“. Diesem Enthusiasmus entspricht die „Begeisterung“ (211), mit der Josephe, die von der „erhabenen“ Macht des Schöpfers spricht, sich dafür entscheidet, in den Dom zum Gottesdienst zu gehen, und von diesem „noblen“ Enthusiasmus lassen sich trotz der Bedenken Donna Elisabeths sowohl Donna Elvire wie Don Fernando mitreißen. Shaftesbury kennt aber auch einen negativen „Enthusiasmus“, der sich als Fanatismus äußert.23 Kleist inszeniert beide Formen des Enthusiasmus, und in 23 Vgl. den Shaftesbury-Text in Anm. 22, in dem Massenhysterie („Panik“) ausdrücklich zum „Enthusiasmus“ der negativen Art gerechnet wird, sowie folgende Ausführungen des 7. Abschnitts, mit denen Shaftesbury die Doppelvalenz des Enthusiasmus abschließend charakterisiert und den negativen Enthusiasmus als „Fanatismus“ bezeichnet: „Das einzige, Mylord, das ich aus all dem schließen möchte, ist, daß der Enthusiasmus wunderbar mächtig und weitreichend ist; daß er eines subtilen Urteilsvermögens bedarf und daß es die schwierigste Sache der Welt ist, ihn vollends und klar zu erkennen; da nicht einmal der Atheismus seiner ledig ist. Denn, wie einige treffend bemerkt haben, hat es enthusiastische Atheisten gegeben. Noch kann göttliche Inspiration, ihren äußeren Anzeichen nach, leicht vom Enthusiasmus unterschieden werden. Denn Inspiration ist ein wahres Empfinden der göttlichen Gegenwart und Enthusiasmus ein falsches. Doch ist die Leidenschaft, die sie erwecken, nahezu die gleiche. Denn wenn der Geist von einer Vision ergriffen ist und seinen Blick entweder auf irgendeinen wirklichen Gegenstand oder auf ein bloßes Phantom der Göttlichkeit richtet; wenn er irgend etwas Ungeheuerliches und mehr als Menschliches sieht oder zu sehen glaubt; so wird sein Entsetzen, seine Entzückung, Verwirrung, Furcht, Bewunderung oder welche Leidenschaft auch immer dazugehört oder bei dieser Gelegenheit am stärksten hervortritt, etwas Ungeheures, ungezähmt Furchtbares an sich haben und (wie die Maler es ausdrücken) etwas, das über das Leben selbst hinausgeht. Und dies ist es, was Veranlassung gab zur Schaffung der Bezeichnung Fanatismus [Fanaticism], wie sie von den Alten in ihrem ursprünglichen Sinne gebraucht wurde, nämlich für eine Erscheinung, die den Geist mit sich fortreißt. Wenn die empfangenen Ideen oder Bilder zu groß für das enge menschliche Gefäß sind, wird etwas wie Zügellosigkeit oder Raserei [Extravagance and Fury] entstehen. Deshalb kann man mit Recht die Inspiration göttlichen Enthusiasmus nennen; denn das Wort selbst bezeichnet göttliche Gegenwart und wurde von jenem Philosophen gebraucht, den die ältesten Kirchenväter göttlich nannten, um alles auszudrücken, was an menschlichen Leidenschaften erhaben [sublime] war. Dies war der Geist, den er Helden, Staatsmännern, Dichtern, Rednern, Musikern und sogar Philosophen selbst zumaß. Noch auch können wir umhin, aus eigenem Antrieb einem edlen Enthusiasmus zuzuschreiben, was immer von einem dieser Menschen Großes vollbracht wird. So daß wir fast alle etwas von diesem Prinzip verstehen. Es aber zu verstehen, wie wir sollten, und es in seinen verschiedenen Arten zu unterscheiden, sowohl in uns selbst als auch bei anderen; dies ist die
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der Mitte situiert er die erst aus solcher ‚Mitte‘ ganz verständliche Figur der Donna Elisabeth. Am Vortag weigerte sie sich, an dem Schauspiel der Hinrichtung Josephes teilzunehmen, jetzt warnt sie, von einer „unglücklichen Ahndung“ erfüllt (211), vor dem Kirchgang. Es handelt sich nicht etwa um eine bloß berechnend pragmatische, sondern um eine besonnene Haltung, die Ethos, Erfahrung und Intuition verbindet, jedenfalls sich von den ‚Enthusiasmen‘ fanatischer wie nobler Art – beide erweisen sich als verderblich – freizuhalten vermag. Damit setzt Kleist den ‚Enthusiasmus‘, gleich welcher Art, der Skepsis aus24, ohne doch dem „noblen“ Enthusiasmus, dem sogar der Erzähler in seiner Bewunderung für Don Fernando verfällt („Don Fernando, dieser göttliche Held“, S. 221), seinen menschlichen Glanz zu nehmen.25 Kant bemerkt, „daß wahrer Enthusiasm nur immer aufs Ideale und zwar rein Moralische geht“.26 Es ist nicht ohne Belang, daß Don Fernando als „Jüngling“ bezeichnet wird (215). Anders als das ungebrochen idealistische Denken bringt Kleist ein durchaus ambivalentes Moment des Überschusses zur Geltung. Er spielt zwei ethische Konzepte gegeneinander aus, das vernünftig-aristotelische, das auf Maß und Mitte zwischen den – von den ‚Enthusiasmen‘ repräsentierten – Extremen beruht, und das einer heroischen virtus, die er ins Subjektive verschiebt und einem der Extreme zuordnet. Das eigentümlich Irritierende, daß große Aufgabe, und nur dadurch können wir Täuschung zu vermeiden hoffen. Denn um die Geister zu beurteilen [judge], ob sie von Gott sind, müssen wir zuvörderst unseren eigenen Geist beurteilen [judge], ob er von Vernunft und gesundem Verstand ist; ob er überhaupt fähig ist zu urteilen [judge], und das heißt, ob er gelassen, kühl und unvoreingenommen ist [sedate, cool, and impartial], frei von jeder Leidenschaft, die zu Vorurteilen verführt […]“. 24 Dies entspricht auch Reflexionen, die Friedrich Schlegel in seiner im Jahre 1800 gehaltenen Jenaer Vorlesung über Transcendentalphilosophie entwickelte. Er bezeichnet darin den Enthusiasmus als den positiven Faktor der Philosophie, die Skepsis als den negativen, und betont, daß die Skepsis ein notwendiges Pendant sei und es insgesamt auf ein Wechselspiel ankomme. In dieser Perspektive formuliert er: „Unsere Philosophie hat dem Enthusiasmus ein unendliches Feld eröffnet, und der Skepsis wird weit mehr Recht eingeräumt, als in jeder andern Philosophie“ (Kritische Friedrich Schlegel-Ausgabe, hrsg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner, Paderborn [u. a.], 1958 ff., Bd. XII, S. 42). Vgl. Birgit Rehme-Iffert: Skepsis und Enthusiasmus. Friedrich Schlegels philosophischer Grundgedanke zwischen 1796 und 1805, Würzburg 2001. 25 Bernd Fischer: Ironische Metaphysik. Die Erzählungen Heinrich von Kleists, München 1988, wertet in seinen sonst kritisch-anregungsreichen Ausführungen zum Erdbeben in Chili (S. 17–37) Don Fernando einseitig ab, indem er pragmatisch argumentiert (S. 29–33). 26 Kant, AA VII, S. 86f.
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Donna Elisabeth in dem Moment, wo sie aus Verantwortungsgefühl als Warnerin auftritt, „mit verstörtem Gesicht“ Don Fernando ins Ohr zischelt (213), könnte auf den schon ‚enthusiastisch‘ sich mit Don Fernando identifizierenden Erzähler (der, anders als Donna Elisabeth, nicht „sedate, cool, and impartial“ bleibt, wie Shaftesbury fordert) und seine entsprechend ins Negative geratende Wahrnehmung Donna Elisabeths zurückzuführen sein, eher aber ist es der prekären Situation zuzurechnen, in der die in ihrer Art edle Donna Elisabeth sich gegen den edelmütig-begeisterten Aufbruch zum Gottesdienst aussprechen muß.
2. Die Marquise von O… Die Geschichte einer weiblichen Emanzipation I Diese Erzählung war spätestens Ende 1807 abgeschlossen, denn sie erschien im Februar 1808 im 2. Stück des Phöbus. Ein dramatisierender Paukenschlag eröffnet die anekdotisch in Montaignes Essais (II, 2) vorgegebene Skandalgeschichte27, die zu Anfang des 19.Jahrhunderts „kein Frauenzimmer ohne Erröten lesen“ konnte, wie eine mit Kleist befreundete Malerin feststellte.28 „In M…, einer bedeutenden Stadt im oberen Italien“, so beginnt sie, „ließ die verwitwete Marquise von O…, eine Dame von vortrefflichem Ruf, und Mutter von mehreren wohlerzogenen Kindern, durch die Zeitungen bekannt machen: daß sie, ohne ihr Wissen, in andre Umstände gekommen sei, daß der Vater zu dem Kinde, das sie gebären würde, sich melden solle; und daß sie, aus FamilienRücksichten, entschlossen wäre, ihn zu heiraten“ (143). Sofort ist die Neugier zum Höchsten gereizt: die sexuelle Neugier, wie es zu dieser unwissentlichen Schwangerschaft kam; die kriminalistische Neugier: wer war der Täter; und schließlich die psychologische Neugier: wie und unter welchen Voraussetzungen wird die Marquise den Mann, der sie vergewaltigt hat, dennoch heiraten können? Wie im Zerbrochnen Krug folgt die Handlung, welche die Spannung des neugierig gemachten Lesers löst, dem analytischen Schema29: Eine zeitlich vor dem Beginn der Darstellung begangene Tat wird in ihrem Hergang aufgedeckt, der unbekannte Täter kommt zum Vorschein. Das ‚analytische Drama‘, dessen 27 Im Folgenden übernehme ich weitgehend meine Ausführungen in: Interpretationen. Kleists Erzählungen, hrsg. von Walter Hinderer, Stuttgart 1998, S. 67–84. 28 Dora Stock an F. B. Weber, 11. April 1808 (Heinrich von Kleists Lebensspuren, hrsg. von Helmut Sembdner, München 1969, Nr. 261, S. 194). 29 Zum analytischen Verfahren in Kleists Erzählungen generell vgl. Helmut Koopmann: Das ‚rätselhafte Faktum‘ und seine Vorgeschichte. Zum analytischen Charakter der Novellen Heinrich von Kleists, in: ZfdPh 83 (1965), S. 508–550.
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Musterstück der König Ödipus des Sophokles ist, wird deshalb auch als Enthüllungsdrama bezeichnet. Im Zerbrochnen Krug übernimmt Kleist aus dem antiken Modell mit dem analytischen Schema sogar die spezifische Prozeßform, die er bis in deren einzelne Elemente hinein nachvollzieht: Verhör, Zeugenaussage, Indizienbeweis. Das entscheidende, schon am Beginn der Darstellung feststehende Faktum, das dann seine aufklärende „Analyse“ erfährt, entspricht in der Erzählung demjenigen im Lustspiel, denn dort erregt die Tatsache, daß der Krug zerbrochen wurde, schweren Verdacht gegen Evchens Mädchenehre. Der zerbrochne Krug, schon längst ein metaphorischer Topos für die verlorene Jungfräulichkeit, ist als Corpus delicti ja nur deshalb von Bedeutung, weil an ihm Evchens guter Name hängt. Die Marquise, „eine Dame von vortrefflichem Ruf“, muß infolge einer Vergewaltigung ebenfalls um ihre Reputation, nicht zuletzt um die Familienehre fürchten. Aber das Corpus delicti ist nun ihr eigener Körper. Und die „Analyse“ wird nicht wie im Zerbrochnen Krug durch einen Täter erschwert, der seine Tat zu vertuschen sucht, sondern dadurch, daß der offenbarungswillige Täter trotz seiner Bemühungen lange nicht zum Ziele kommen kann. Auch daraus jedoch ergibt sich – wie im Zerbrochnen Krug – eine Struktur der Retardation, welche die gesamte Handlung bestimmt und die dramatische Spannung erzeugt. Kleist klärt den Leser zunächst auf einzigartige Weise darüber auf, wie es zu der unwissentlichen Schwangerschaft30 gekommen ist. Er erzählt den Hergang, und zugleich verschweigt er ihn. Dabei setzt er den berühmtesten Gedankenstrich der deutschen Literatur. Er ist weder ein syntaktisch gliedernder noch ein rhythmisch pausierender Gedankenstrich, vielmehr zeigt er in der Darstellung des Geschehens eine Lücke an, die der Leser in seiner Vorstellung ausfüllen muß. Daß er sie erst im Nachhinein auszufüllen vermag, macht die nachträgliche erzählerische Aufdeckung der Tat und des Täters zur lebendig-unmittelbaren Lese-Erfahrung des Lesers mit sich selbst. Die syntaktische Diskretion bezeichnet exakt den Moment der Vergewaltigung. Sie findet in einer zeichenhaft aufgeladenen Situation statt: Russische Truppen stürmen die Festung, in der sich die Marquise befindet. Ihr Anführer wehrt die Soldateska von der Marquise ab und führt sie, „die von allen solchen Auftritten sprachlos war, in den anderen, von der Flamme noch nicht ergriffenen, Flügel des Palastes, wo sie auch völlig bewußtlos niedersank. Hier – traf er, da bald darauf ihre erschrockenen Frauen erschienen, Anstalten, einen Arzt zu rufen; versicherte, indem er sich den Hut aufsetzte, daß sie sich bald erholen würde; und kehrte in den Kampf zurück“ (145). 30
Zu den Quellen, aus denen Kleist dieses Motiv nahm: Heinrich von Kleist, Die Marquise von O… . Die Dichtung und ihre Quellen. Mit einem Begleitwort hrsg. von Alfred Klaar, Berlin 1922; zusammenfassend Klaus Müller-Salget in: SWB 3, S. 770–772.
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Sowenig Kleist die Vergewaltigung darstellt, sowenig kommentiert er aus auktorialer Erzählerperspektive die innere Verfassung und den Charakter des Täters. Mit einer meisterhaften Verhaltensstudie aber ermöglicht er es dem Leser, selbst Rückschlüsse zu ziehen. Ja, der Verzicht auf auktoriales Eingreifen fordert den Leser geradezu heraus, das Zeichensystem der Erzählung selbständig zu entschlüsseln und zu deuten, da er sonst die Zusammenhänge gar nicht verstehen könnte. Das Zeichensystem, das der Leser zu beobachten und zu deuten hat, ist, wie in Kleists Erzählungen insgesamt, so auch in der Szene, in welcher er den Täter nach seinem Vergehen darstellt, vorzugsweise dasjenige der Mimik und Gestik. Die Verhaltensstudie erhält ihren Reiz dadurch, daß sie alle begründenden Aussagen über die Ursache des dargestellten sonderbaren Verhaltens ausspart. Die gesamte Aufführung des russischen Grafen, auch wo sie nicht Mimik und Gestik im engeren Sinn ist, gerät zum physiognomisch entlarvenden Ausdruck. Der Graf stürzt sich, so heißt es in einer oft bemerkten Anspielungsfülle31, „mit einiger Eilfertigkeit“ in den Kampf, dämmt in dem brennenden Schloß der Marquise die Feuersbrunst ein – man ahnt, daß es seine eigene ist und spürt zugleich den unbeholfenen Drang zum Wiedergutmachen – und leistet „hierbei Wunder der Anstrengung […]. Bald kletterte er, den Schlauch in der Hand, mitten unter brennenden Giebeln umher, und regierte den Wasserstrahl; bald steckte er, die Naturen der Asiaten mit Schaudern erfüllend, in den Arsenälen, und wälzte Pulverfässer und gefüllte Bomben heraus“ (145). In dramatisch ausgearbeiteter Eskalation heißt es dann, daß er „über das ganze Gesicht rot“ wird, als man ihn nach den Namen von Marodeuren fragt, die der Marquise Gewalt antun wollten, und daß er „in einer verwirrten Rede“ sie nicht erkannt zu haben behauptet. Schließlich werden die verräterischen Worte berichtet, die er spricht, als er sich im Kampf tödlich verwundet glaubt: „Julietta! Diese Kugel rächt dich!“ (148) Diese Darstellung bringt nicht nur die Tat des russischen Grafen ans Licht, ohne sie zu nennen. Sie charakterisiert zugleich auch den Täter: als Draufgänger, der sich zwar schuldig gemacht hat, aber darunter leidet, sich schämt, wiedergutzumachen sucht und in all diesen Reaktionen das gleiche leidenschaftliche, bis zur völligen Selbstvergessenheit gehende Wesen an den Tag legt. Damit steht die grundsätzliche Unterscheidung vom gemeinen Verbrecher von Anfang an fest, und in der Erwartung des Lesers öffnet sich der Horizont der Versöhnung. Kleist bündelt also zwei Funktionen: die indirekte Offenlegung der Tat und die ebenso indirekte Charakterisierung des Täters. Dies unterscheidet sein analytisches Verfahren, sooft es sich auch der Kriminalfälle als Ausgangspunkt bedient, von der engen Mechanik der bloßen Detektivgeschichte, 31 Vgl. etwa Erika Swales: The Beleaguered Citadel: A Study of Kleist’s Die Marquise von O…, in: DVjS 51 (1977), S. 129–147.
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die alles auf die Frage reduziert: wer ist der Täter? – und dabei gerade nur die polizeiliche Identifizierung anstrebt. In der gängigen Detektivgeschichte erwächst die Spannung aus den Schwierigkeiten dieser Identifizierung. Kleist dagegen erhebt das vielschichtige Verhältnis des Täters zu seiner Tat, zu den von der Tat Betroffenen und zur beurteilenden Umwelt zum eigentlichen Interesse des Geschehens. Es ist nicht bloß ein äußeres, sondern wesentlich ein inneres Geschehen, obwohl es an der spannenden äußeren Handlung wahrhaftig nicht fehlt. II Das innere Geschehen wird durch die kritische Subversion konventioneller Wertungen, Vorstellungen und Haltungen bestimmt. Sie richtet sich am Beispiel des russischen Grafen gegen das Helden-Klischee, am Beispiel des Vaters der Marquise gegen eine fragwürdige väterliche Autorität, und schließlich am Beispiel der Marquise selbst gegen Unmündigkeit und religiöse Vorurteile. Mit diesem Generalangriff auf die Konvention erweist sich Kleist als Erbe der Aufklärung, als den ihn auch seine sonstigen Werke und seine Briefe zeigen. Denn trotz mancherlei romantischer Einfärbungen gehört er in die noch bis 1810 andauernde preußische Spätaufklärung, von der bereits die Rede war. Und im Zentrum aufklärerischen kritischen Denkens stand schon seit langem die Kritik an Vorurteilen32, insbesondere die Kritik an vorurteilshaft fixierten Autoritäten – die einschlägigen Aufklärungsschriften sprachen geradezu terminologisch vom „praeiudicium auctoritatis“ – sowie die kritische Entlarvung von gesellschaftlichen und religiösen Vorstellungen, die bloß unreflektierten Gewohnheiten oder vordergründigen Interessen entspringen. Die kritische Subversion des Helden-Klischees hat Kleist nicht nur dieser Erzählung eingeschrieben. Den Prinzen von Homburg – einen preußischen Reitergeneral! – führt er gegen alle Erwartung als träumenden und verliebten Jüngling ein, der in seiner Geistesabwesenheit die Parole vor der Entscheidungsschlacht verpaßt; und vor allem läßt er ihn später angesichts des offenen Grabes in panische Todesfurcht geraten. Das war gegen jedes preußische comme il faut. Gerade dieses mutige Zerbrechen des preußischen Heldenklischees ließ das Drama am Königshof in Berlin scheitern und verursachte bis in die Bismarckzeit hinein Unbehagen.33 Was Kleist in der Marquise von O… den russischen Grafen tun läßt, geht noch entschieden weiter. Ein Militärkommandeur, ein Mann von Adel, begeht ein Verbrechen an einer Frau, für das nach dem Militärreglement der Tod durch Erschießen steht! Tatsächlich werden die gewöhnlichen Soldaten, welche die Marquise vergewaltigen wollten und die er 32 33
Hierzu genauer S. 19f. Anm. 24. Vgl. S. 159.
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selbst von ihr abwehrte, für ihren bloßen Versuch erschossen. Kleist hat diese extreme Situation inszeniert, um auf ebenso wagemutige wie provokant tabubrechende Weise das aus dem Standesvorurteil abgeleitete Klischee zu zerstören. Bei Montaigne spielt die schwankhafte Geschichte einer unwissentlich zustandegekommenen Schwangerschaft in einem bäuerlichen Milieu. Kleist überträgt sie in die adelige Schicht und verleiht ihr damit eine ganz neue Funktion. Erst durch den Wechsel des sozialen Niveaus kam die Brisanz zustande, an der ihm lag. Andererseits wagte er es, den russischen Grafen nicht als gemeinen Triebverbrecher darzustellen, vielmehr als edlen Mann mit durchaus auch heldenhaften Zügen, den die Marquise schließlich doch mit innerer Zuneigung und nicht bloß aus Opportunität heiraten kann. Insgesamt zielt die Darstellung des Grafen auf eine Problematisierung der landläufigen Wertungsmaßstäbe, sowohl der gesellschaftlichen wie der moralischen. Alle konventionellen Vorstellungen werden außer Kraft gesetzt, so daß die Novelle auch in dieser Hinsicht eine „unerhörte Begebenheit“ ist. Ähnlich irritierend und zum Nachdenken anreizend verfährt Kleist mit dem Vater der Marquise. An ihm stellt er die Vater-Autorität in Frage. Die historische Tragweite dieser Subversion ist außerordentlich, da bis ins 19.Jahrhundert die väterliche Autorität sowohl in der Familie wie rechtlich nahezu absolut war. Die Aufklärung ging auf die kritische Hinterfragung und Erschütterung aller Autoritäten aus: der Autorität des Monarchen und des Adels, der Autorität der Kirche und der Religion mit ihren Dogmen und so auch der väterlichen Autorität in der Familie. Allerdings war die Hinterfragung der väterlichen Autorität meistens weniger radikal. In einer Reihe von Dramen wurde die Figur des Familienvaters vom Status der patriarchalischen Autorität abgelöst und, vor allem in der Beziehung zu Töchtern, in eine emotionale Vaterfigur transformiert. In Kleists Erzählung trifft beides zusammen. Als der Vater der Marquise von ihrer Schwangerschaft erfährt, tritt er als ein auf die Familienehre fixierter Haus-Tyrann auf: Er nötigt sie, das Haus zu verlassen, er weigert sich, mit ihr überhaupt noch zu sprechen, und als sie sich daraufhin zu ihm drängt und „zitternd seine Knie“ umfaßt, reißt er eine Pistole von der Wand. Schließlich befiehlt er seiner Tochter, ihre Kinder zurückzulassen. Ein Vater also, der seine Autorität bis zur schweren Gewaltdrohung ausspielt und dem alles bedingungslos zu gehorchen hat. Ein besonderes Profil erhält der autoritäre Charakter durch die Verweigerung der Kommunikation. Als die Marquise sich in das Zimmer des Vaters drängt, um mit ihm zu sprechen, verweigert er die Aussprache, indem er das Zimmer verläßt; als sie ihm nacheilt, will er die Türe zuwerfen; als sie ihn doch erreicht, kehrt er ihr den Rücken zu und greift schließlich sogar nach der Pistole. In dieser kunstvoll inszenierten Verweigerung von Kommunikation offenbart sich am auffallendsten das autoritäre Verhalten als ein menschlich unzu-
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längliches. Daß sich schließlich ein Schuß aus der Pistole löst und schmetternd in die Decke fährt, ist das Menetekel der katastrophenträchtigen Disposition, die das Vertrauen auf die Sprache durch die Sprache der Gewalt ersetzt. Die Aufklärung hatte ihr Humanitätsideal mit einem besonderen Vertrauen auf Sprache und zwischenmenschliche Kommunikation verbunden. Größtes Beispiel solch aufgeklärter Humanität ist Goethes Iphigenie. Für Kleist selbst ist schon in seinem Erstlingswerk, in der Familie Schroffenstein, und später noch in der Erzählung Der Findling die Verweigerung oder das Absterben von Kommunikation ein Zeichen inhuman gestörter und deshalb auf Selbstzerstörung angelegter Verhältnisse. Ebenso aufschlußreich ist die Reaktion des Vaters34, als sich herausstellt, daß die Marquise tatsächlich ohne ihr Wissen schwanger geworden ist. Zum Vorschein kommt nun die Kehrseite autoritärer Brutalität: die haltlose Sentimentalität. In einer bewußt ins Kitschige stilisierten Rührszene, die ihr Vorbild in Rousseaus Nouvelle Héloïse (I, 63) hat, heult der Vater vor Reue und Zerknirschung, ja er gerät in eine inzestuös besetzte zärtliche Versöhnungsszene mit der Tochter. Das eine wie das andere Mal verletzt er das Maß. So erscheint er gerade als das Gegenteil wahrhafter Autorität, die besonnen und maßvoll in sich ruht und deshalb auch Ausnahmesituationen zu bestehen vermag. Unter der destabilisierenden Einwirkung einer Extremsituation verfällt dieser Vater in polar entgegengesetzte Verhaltensweisen. Damit führt Kleist eine Autorität, die sich lediglich aus der Vater-Rolle herleitet, ad absurdum. Mit Abstand am wichtigsten ist natürlich das Verhalten der Hauptgestalt. Kleists Ziel war es, die Geschichte einer weiblichen Emanzipation zu erzählen. Er entfaltet sie in kunstvoller Stufenfolge. Nach dem Tod ihres Mannes, so heißt es am Beginn, kehrt die Marquise auf den Wunsch ihrer Mutter ins Elternhaus, genauer: „zu ihrem Vater“ zurück. „Hier hatte sie“, so fährt der Erzähler fort, „die nächsten Jahre mit Kunst, Lektüre, mit Erziehung, und ihrer Eltern Pflege beschäftigt, in der größten Eingezogenheit zugebracht“. Eine Frau also in der Obhut des Elternhauses und besonders des Vaters, ganz im häuslichen Wirkungskreis aufgehend. Nachdem sich der russische Graf um sie beworben hat, sagt sie: „er gefällt und mißfällt mir“; und sie beruft sich „auf das Gefühl der Anderen“ (157). Nicht einmal in der entscheidenden Herzensangelegenheit verhält sie sich selbständig! Erst als ihr der Vater befiehlt, beim Verlassen des Hauses, aus dem er sie verstößt, ihre Kinder zurückzulassen, kommt es zu einer abrupten Wende. Sie weist diesen Befehl zurück und nimmt die Kinder mit. Darauf folgt der wichtige Satz: „Durch diese schöne Anstrengung mit sich 34
Vgl. Hermann F. Weiss: Precarious Idylls. The Relationship between Father and Daughter in Heinrich von Kleist’s Die Marquise von O…, in: Modern Language Notes 91 (1976), S. 538–542.
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selbst bekannt gemacht, hob sie sich plötzlich, wie an ihrer eigenen Hand, aus der ganzen Tiefe, in welche das Schicksal sie herabgestürzt hatte, empor“ (167). In der existentiellen Bedrohung der Extremsituation, die sie ganz auf sich selbst zurückwirft, erfährt sich die Marquise als zum selbständigen Handeln befähigt, und diese Selbsterfahrung führt sie zum Bewußtsein der Selbständigkeit. Aus dem neugewonnenen Bewußtsein der Selbständigkeit, das auch ein ganz neues Selbstbewußtsein zur Folge hat, setzt sie mutig entschlossen die Anzeige in die Zeitung, mit der Kleist die Erzählung so fulminant eröffnet. Diese Anzeige, so erkennt man im nachhinein, ist ein Ausdruck ihrer neugewonnenen Unabhängigkeit von der Meinung anderer. Sie wagt es ja sogar, mit ihrer Anzeige die Welt zu schockieren. Damit erreicht ihre Emanzipation einen vorläufigen Höhepunkt. Kleist hebt diese Schlüsselstelle kompositorisch hervor. Den großen Erzählabschnitt, in dem die Marquise durch die Auseinandersetzung mit dem Vater so weit gelangt, schließt er mit dem zyklisch auf den Anfang der Erzählung zurückweisenden Satz: „Doch da das Gefühl ihrer Selbstständigkeit immer lebhafter in ihr ward […] so griff sie eines Morgens, da sich das junge Leben wieder in ihr regte, ein Herz, und ließ jene sonderbare Aufforderung in die Intelligenzblätter von M… rücken, die man am Eingang dieser Erzählung gelesen hat“ (168).35 Die Geschichte vom Gelingen einer weiblichen Emanzipation, die Kants aufklärerisches Mündigkeitspostulat erfüllt, führt allerdings nicht in Kants Sinn vom Bewußtsein zum Handeln hin. Umgekehrt, aus der – spontanen – Handlung entwickelt sich ein Bewußtsein. Nicht theoretische Einsicht führt zur Emanzipation, sondern eine existentielle Betroffenheit, hier diejenige der Mutter, der man ihre Kinder nehmen will und die sich dem in einem instinktiven Akt widersetzt. Erst durch diesen spontanen Akt, der sie „mit sich selbst bekannt gemacht“ hat, gelangt sie zum Selbstbewußtsein. Dann allerdings, auf einer zweiten Stufe des Emanzipationsprozesses, gelingt ihr von diesem nun schon erreichten und sich immer mehr festigenden Selbstbewußtsein her auch 35
Schon diese kunstvolle Komposition widerspricht der These von Bianca Theisen: „Was als Novelle erscheint, ist Rahmen, während die Zeitungsanzeige, die auf den ersten Blick fast wie ein Rahmen positioniert wird, die eigentliche, in die Reduktion hineingetriebene Novelle ist“ (B. T.: Kommunikation und Metakommunikation in Kleists Marquise von O…, in: Heinrich von Kleist und die Aufklärung, hrsg. von Tim Mehigan, Rochester/NY [u. a.]: Camden House 2000 (Studies in German Literature, Linguistics and Culture), S. 162. Die Zeitungsanzeige erhält ihren Stellenwert als Zwischenresultat eines Emanzipationsgeschehens, wird also von diesem Geschehen nicht ‚gerahmt‘, sondern geht daraus als geschehenslogisch integriertes Element erst hervor – abgesehen davon, daß die Erzählung das Geschehen nach dem Erscheinen der Zeitungsanzeige noch erheblich weiterführt.
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das selbstbewußte Handeln: Sie setzt die Annonce in die Zeitung. Die in der konkreten Lebenssituation sich ereignende und von dieser Lebenssituation geradezu erzwungene Selbstfindung ist die Voraussetzung des Selbstbewußtseins. Immer wieder in Kleists Dramen und Erzählungen ereignen sich solche Prozesse der Selbstfindung durch existentielle Herausforderungen – und das erst verleiht ihnen ihre lebendige Wahrheit. Der andere Aspekt, unter dem Kleist die Geschichte der Marquise darstellt, ist derjenige einer aufklärerischen Kritik an religiösen Vorstellungen. Nicht als direkte Kritik äußert sie sich, sondern im Medium ironischer Subversion. Diese zeigt sich in der Inkongruenz oder Unangemessenheit der Aussagen. Die Vorstellungen, denen die Marquise aus ihrer Erlebnisperspektive oder der aus ihrer Erlebnisperspektive berichtende Erzähler Ausdruck verleiht, entsprechen nicht der Meinung des Autors, vielmehr ironisiert er sie. Als die Marquise sich mit ihrer unerklärlichen Schwangerschaft abfindet, heißt es von ihr: „Ihr Verstand, stark genug, in ihrer sonderbaren Lage nicht zu reißen, gab sich ganz unter der großen, heiligen und unerklärlichen Einrichtung der Welt gefangen“ (167). Die Tatsache jedoch, daß ein Mann die Marquise in ihrer Ohnmacht vergewaltigt hat, deutet keineswegs auf eine „große, heilige und unerklärliche Einrichtung der Welt“ hin. Groß und heilig ist eine Welt, in der so etwas geschieht, doch gerade nicht, auch nicht, wenn der genaue Hergang für die Betroffenen vorläufig unerklärlich ist.36 Der Mensch, der sich in der Wirklichkeit nicht mehr zurechtfindet, so lautet die Botschaft hier wie in anderen Erzählungen, flüchtet in religiöse Vorstellungen. Indem Kleist dies ironisch deutlich macht, betreibt er die psychologische Subversion religiöser Vorstellungen. Kurz vor dem Ende der Erzählung heißt es, man habe dem russischen Grafen „um der gebrechlichen Einrichtung der Welt willen“ (186) verziehen. Nachdem also das bisher Unerklärliche seine Erklärung gefunden hat, tritt an die Stelle der vermeintlich „großen, heiligen und unerklärlichen Einrichtung der Welt“ die „gebrechliche Einrichtung der Welt“. Ironisch unterminiert ist auch die Aussage, daß die Marquise „beschloß, sich ganz in ihr Innerstes zurückzuziehen, sich, mit ausschließendem Eifer, der Erziehung ihrer beiden Kinder zu widmen, und des Geschenks, das ihr Gott mit dem dritten gemacht hatte, mit voller mütterlichen Liebe zu pflegen“ (167). 36 Anders als die hier entwickelte Interpretation akzentuiert Walter Müller-Seidel die „im Schein verrätselte Welt“, den „Widerspruch als Resultat der zuvor verrätselten Welt“ und die „Sprachlosigkeit“, die aus der auf eine Grundgegebenheit deutenden „Undurchschaubarkeit“ der Welt resultiere und eine Existenzkrise heraufbeschwöre. (W. M.-S.: Die Struktur des Widerspruchs in Kleists Marquise von O… [1954], in: Heinrich von Kleist, Aufsätze und Essays, hrsg. von Walter Müller-Seidel, Darmstadt 1967 (Wege der Forschung 147), S. 244–268, hier S. 250).
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Gerade die Frucht der Vergewaltigung soll ein göttliches Geschenk sein! Indem der Erzähler eine konventionelle, vorurteilshaft fixierte Vorstellung übernimmt, dekuvriert er sich selbst unfreiwillig als konventionell befangen. Offenkundig nimmt Kleist die Redensart aufs Korn, derzufolge ein Kind von Gott geschenkt ist. Am Beispiel der Marquise entlarvt er sie drastisch als schönfärberischen Nonsense. Ihren Höhepunkt erreicht die Ironie, wenn es heißt, daß der „Ursprung“ des jungen Wesens für die Marquise, „eben weil er geheimnisvoller war, auch göttlicher zu sein schien, als der anderer Menschen“ (168). Das Wort „schien“ deutet für einen Augenblick auf die Fragwürdigkeit der Annahme und der unmögliche Komparativ „göttlicher“ allein wirkt schon ironisch. Der Ursprung des Kindes, mit dem sie schwanger geht, kann nicht „göttlich“ sein, im Gegenteil: Er liegt in einer höchst profanen Gewalttat. Die Tendenz der Menschen, das ihnen nicht Verständliche in den Bereich religiöser Vorstellungen zu erheben oder das schwer Erträgliche kompensatorisch zu verklären, wird so mitsamt den religiösen Vorstellungen selbst ad absurdum geführt. Nach dem bedeutungsvollen „schien“, das den aufmerksamen Leser für einen Augenblick stutzig macht, fällt der Erzähler nicht bloß in die Perspektive der Marquise zurück37; mit verstärkter Ironie läßt Kleist ihn sogar versichern, daß „sie sehr richtig [!] schloß, daß derselbe [der Vater des Kindes] doch, ohne alle Rettung, zum Auswurf seiner Gattung gehören müsse, und, auf welchem Platz der Welt man ihn auch denken wolle, nur aus dem zertretensten und unflätigsten Schlamm derselben, hervorgegangen sein könne“ (168). Dies ist das Gegenteil zum vorher von ihr vermuteten göttlichen Ursprung des jungen Wesens: ein grotesker Widerspruch. Wenn der Vater des Kindes nach Meinung der Marquise und sogar des Erzählers, der sich damit als unzuverlässiger Erzähler erweist, zum „Auswurf seiner Gattung“ gehört, kann das Kind eben nicht, wie sie kurz vorher glaubt, geheimnisvoll-„göttlichen“ Ursprungs sein. Aber zum „Auswurf seiner Gattung“ gehört er auch nicht, und erst recht nicht ist er, wie sie – und der Erzähler – meint, „aus dem zertretensten und unflätigsten Schlamm“ der Welt hervorgegangen, denn er ist ja ein russischer Graf und hat trotz der Tat, zu der er sich hat hinreißen lassen, durchaus noble Züge. Indem Kleist nicht nur die Marquise mit ihren Wertungen, sondern auch den Erzähler in so weitgehende Widersprüche verstrickt, fordert er vom Leser eine selbständige kritische Leistung, durch die letztlich auch er zur Mündigkeit finden soll: zur Unabhängigkeit von Meinungen und Wertungen. Indem er die zentrale aufklärerische Forderung des Selbstdenkens erfüllt, muß er sogar die Autorität des Erzählers suspendieren. Alle Wertungen, sowohl die religiösen wie die moralischen, treffen nicht zu. Der Mensch, so erkennt der kritische Leser, tendiert 37 Dorrith Cohn hebt auf das Problem des Erkennens ab: D. C.: Kleist’s Marquise von O… The Problem of Knowledge, in: Monatshefte 67 (1975), S. 129–142.
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aus seinen augenblicklichen Erfahrungen und Stimmungen, aber auch aufgrund konventioneller Denkmuster und aus dem immer vorhandenen kompensatorischen Hang zum Selbstbetrug zu unhaltbaren Projektionen, und je extremer, desto illusionärer sind sie. Dies gilt besonders für religiöse Vorstellungen. Für Kleist beruhen sie nicht zuletzt auf der Verabsolutierung des doch bloß Menschlich-Relativen. In einer ganzen Reihe seiner Werke und so auch in der Marquise von O… folgt er diesem Erklärungsmuster. Als sich auf die Zeitungsannonce hin der Vater des von der Marquise erwarteten Kindes meldet, wehrt sie ihn ab wie einen Teufel: „gehn Sie! gehn Sie! gehn Sie! rief sie, indem sie aufstand; auf einen Lasterhaften war ich gefaßt, aber auf keinen – – – Teufel!“ (183) Schließlich versteigt sie sich zum Exorzismus und besprengt nach dem Auftritt des Grafen ihre Umgebung mit Weihwasser. Am Schluß der Erzählung formuliert der Erzähler ihre Einsicht: „Er würde ihr damals nicht wie ein Teufel erschienen sein, wenn er ihr nicht, bei seiner ersten Erscheinung, wie ein Engel vorgekommen wäre“. Der Graf ist weder Engel noch Teufel, auch nicht beides zugleich, sondern ein Mensch. Der Gang der Geschichte korrigiert die aus der Erregung des Gefühls entstandenen hyperbolischen Projektionen. Die Vorstellung von Übernatürlichem gerinnt zum Phantasma des Übermaßes. Aus den hyperbolischen Projektionen ins Absolute, in die wahnhafte Vorstellung von Engeln und Teufeln, wird alles zurückgeholt in die natürliche Realität des Menschlichen. Mit der Rückführung des scheinbar Übernatürlichen auf Natürliches – einem Grundverfahren der Aufklärung – verbindet sich die psychologische Analyse von Wahnbildungen, denn erst durch die Aufdeckung ihrer Genese sind sie zu überwinden. Mit solch psychologisch vertiefter Aufklärung übernimmt Kleist nicht bloß das Erbe französischer Aufklärer wie Hélvétius, den er nachweislich hoch schätzte. Er aktualisiert und modernisiert es angesichts einer Romantik, die wieder das „Wunderbare“ und „Geheimnisvolle“ kultivierte und nur allzugern ihre Poesie mit einer neureligiösen Aura umkleidete. Am deutlichsten verrät die ironische „Legende“ Die heilige Cäcilie oder Die Gewalt der Musik diesen kritisch-antiromantischen Impuls. Zwar haben in der Marquise von O… die Engels- und Teufelsvorstellungen letztlich keinen ernstzunehmenden religiösen, sondern einen metaphorisch-redensartlichen Status. Aber indem Kleist ihre Entstehung in emotionsgeladenen Situationen vorführt, zielt er auf die aufklärerische Entlarvung der Genese religiöser Vorstellungen überhaupt. Wie die Marquise selbst, so gerät auch ihre Mutter im Überschwang der Gefühle in hyperbolische Projektionen religiöser Art. Nachdem sie sich von der Unschuld der Marquise überzeugt hat, ruft sie aus: „[…] o du Reinere als Engel sind, […] du Herrliche, Überirdische“ (177). Nur weil sie die Tochter zu Unrecht moralisch verurteilt hat, folgt nun diese Überhöhung ins Absolute – psychologisch handelt es sich um eine Ausgleichshandlung des exzentrisch er-
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regten Muttergefühls. Es sagt nichts objektiv Gültiges über die Marquise aus, sondern charakterisiert lediglich die Verfassung der Mutter. In seinem ganzen Werk verwendet Kleist auf diese Weise religiöse Motive in keineswegs religiöser, sondern ironisch-desillusionierender Absicht. Entweder finden die Personen seiner Werke selbst zur aufklärenden Erkenntnis und damit zur Regulierung ihrer Vorstellungs- und Verhaltensweisen oder mindestens der Leser gelangt so weit. Den Vorgang, an dem ihm liegt, formulierte Kleist theoretisch selbst in einer Reflexion, der er den Titel Von der Überlegung. Eine Paradoxe gab. „Wenn die Handlung abgetan ist“, so heißt es darin, lasse sich von ihr der Gebrauch machen, „zu welchem sie dem Menschen eigentlich gegeben ist, nämlich sich dessen, was in dem Verfahren fehlerhaft und gebrechlich war, bewußt zu werden, und das Gefühl für andere künftige Fälle zu regulieren“ (554).
3. Michael Kohlhaas in der Ära der Preußischen Reformen Kleists größte Erzählung erschien vollständig erst im Jahre 1810, er begann sie allerdings wesentlich früher, vielleicht schon 1805/06 in Königsberg.38 Das erste Viertel veröffentlichte er als Fragment 1808 in der von ihm gemeinsam mit Adam Müller herausgegebenen Zeitschrift Phöbus. Die Konzeption ist sehr weitgehend von Kleists politischem Engagement im Zusammenhang mit den Preußischen Reformen bestimmt, so daß sich ein angemessenes Verständnis erst aus einer vertieften historischen Wahrnehmung erschließt, die bis in juristische und wirtschaftliche Probleme der Zeit reicht. Zuerst soll das außerordentlich komplexe und vielfältig abgestufte Geschehen in einem strukturierenden Überblick über die insgesamt fünf aktähnlichen Handlungseinheiten39 faßbar werden.
38 Einen aufschlußreich problemorientierten Forschungsbericht vorwiegend zur wissenschaftlichen Literatur seit den 1980er Jahren, teilweise auch weiter zurückgreifend, gibt Bernd Hamacher: Schrift, Recht und Moral: Kontroversen um Kleists Erzählen anhand der neueren Forschung zu Michael Kohlhaas, in: Heinrich von Kleist. Neue Wege der Forschung, hrsg. von Inka Kording und Anton Philipp Knittel, Darmstadt 2003, S. 254–278. 39 Charles E. Passage: Michael Kohlhaas: Form Analysis, in: The Germanic Review 30 (1955), S. 181–197, stellt ebenfalls, wenn auch z. T. mit etwas anderen Einschnitten, fünf Handlungseinheiten fest. Eine Gliederung in drei Abschnitte schlägt Klaus Müller-Salget in SWB 3, S. 719 vor: 1. Teil: Veranlassung und Durchführung des Rachefeldzugs bis zum Luther-Gespräch. 2. Teil: In Dresden, von der Amnestierung bis zur schimpflichen Verurteilung. 3. Teil: Von der erzwungenen Auslieferung an Brandenburg bis zur Hinrichtung in Berlin.
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Inhalt und Aufbau Der erste Teil gilt der Geschichte des auf der Tronkenburg verübten Unrechts und der anschließenden Rechtssuche. Michael Kohlhaas, ein wohlhabender Roßhändler, wird auf dem Territorium eines Junkers von Tronka an der Weiterreise gehindert und widerrechtlich aufgefordert, Zollgeld für die Durchreise zu bezahlen sowie einen Paßschein vorzuzeigen. Da er diesen Paßschein nicht besitzt, zwingt man ihn, seine zwei Pferde als Pfand bis zur Lösung des Paßscheines auf der Tronkenburg einzustellen. Zur Aufsicht und Pflege der Pferde läßt Kohlhaas auch seinen Knecht Herse zurück. Während seines Aufenthalts auf der Tronkenburg erleidet dieser schwere Mißhandlungen, und die wertvollen Pferde werden so rücksichtslos behandelt, daß sie zu Schindmähren verkommen. Wichtig ist es, daß ein gewalttätiger Junker40 an einem Pferdehändler das Unrecht verübt: an einem auf die freie Ausübung eines Gewerbes angewiesenen Bürger, der dadurch außerdem noch in seinen Eigentumsrechten verletzt wird. Die schwere Mißhandlung des Knechtes Herse zeugt obendrein von der menschenverachtenden Willkür der junkerlichen Herrschaft. Darauf folgt die vergebliche Rechtssuche Kohlhaasens. Sie scheitert an den bis zu den höchsten Gerichtsinstanzen reichenden Beziehungen der Junkersippe. Kohlhaas erfährt nur beleidigende Zurückweisungen. Als dann seine Frau Lisbeth dem Kurfürsten persönlich eine Bittschrift zu überbringen versucht, um auf diese Weise das von der korrupten Justiz verweigerte Recht zu erlangen, wird sie von der Wache des Kurfürsten niedergestoßen und stirbt an der Verletzung. Während der Beerdigung seiner Frau erhält Kohlhaas als obrigkeitliche Antwort auf die Bittschrift den Bescheid, wenn er noch einmal in seinem Anliegen einkomme, werde er mit Gefängnis bestraft. Damit ist das Maß voll, und er beschließt nun, da er keinerlei Recht findet und die legale Rechtssuche lediglich zu Demütigungen geführt und ihn sogar das Leben seiner Frau gekostet hat, den Junker von Tronka selbst zu bestrafen. Im zweiten Teil der Erzählung unternimmt Kohlhaas seinen Rache- und Straffeldzug. Zuerst brennt er die Tronkenburg nieder, dann zieht er gegen alle Orte zu Felde, die dem bei der Vernichtung der Tronkenburg entflohenen Junker von Tronka Schutz gewähren. Dabei kommt es zu schweren Verwüstungen, denn Kohlhaas ist es gelungen, einen großen Trupp um sich zu versammeln. Von kleinen Anfängen wächst sich sein Feldzug immer mehr zu einer großen Herausforderung der Staatsmacht aus, die seiner vergeblich Herr zu werden versucht. Die Aktionen des Roßhändlers, und das ist von großer Bedeutung, sind begleitet und legitimiert durch Rechtsschlüsse, die er erläßt. In einer rechtlosen Welt sieht er sich gezwungen, selbst Recht zu setzen und folglich auch Unrecht zu bestrafen. So gewinnt das Unternehmen des Kohlhaas die Di40
Zum Junkertum im historischen Kontext vgl. S. 229f.
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mension eines eigenen Herrschaftsanspruchs mit Jurisdiktion und Exekutive. Obwohl mehrere Städte unter seinen Rachefeldzügen zu leiden haben, weil die städtischen Obrigkeiten dem von Kohlhaas verfolgten Junker Schutz gewähren, ergreift das Volk dennoch für Kohlhaas und gegen die Junkersippe Partei. Auch damit wird klar, daß es sich nicht bloß um einen einmaligen Fall von Unrecht handelt: Ein allgemeines, mit dem Junkerwesen überhaupt verbundenes Unrechtssystem ist gemeint. Kohlhaas kann auf die Solidarität des Volkes rechnen, und deshalb erläßt er auf dem Höhepunkt seiner Machtentfaltung, als er schon mit seinen Truppen vor den Toren der sächsischen Hauptstadt Dresden steht, um das Zentrum des korrupten Systems anzugreifen, einen Revolutionsaufruf an das „Volk“. Der entscheidende Passus lautet: „Dabei rief er, von dem Lützner Schloß aus, das er überrumpelt, und worin er sich festgesetzt hatte, das Volk auf, sich, zur Errichtung einer besseren Ordnung der Dinge, an ihn anzuschließen“ (73). Auf diesen dramatischen Höhepunkt folgt mit Beginn des dritten Teils der stärkste Einschnitt in der ganzen Erzählung: Luther greift ein. Schon die alte Chronik, in der Kleist die Geschichte des Kohlhaas fand, überliefert Luthers Intervention als historisches Faktum. In einem öffentlichen Sendschreiben verdammt der Reformator Kohlhaasens Aktivitäten, worauf ihn Kohlhaas selbst aufsucht. Sein Gespräch mit Luther ist der gedankliche Höhepunkt der Erzählung, weil darin Kohlhaasens naturrechtliches und Luthers obrigkeitliches Denken aufeinanderstoßen und außerdem die christlich-religiöse Forderung nach Vergebung alles Unrechts und andererseits der von Kohlhaas vertretene elementare menschliche Anspruch auf Recht sich als unvereinbar erweisen. Obwohl sich die beiden Kontrahenten nicht einigen können, verspricht Luther dafür zu sorgen, daß Kohlhaas zu seinem Recht kommt. Er vermittelt zwischen ihm und dem sächsischen Kurfürsten, worauf dieser dem Roßhändler in aller Form freies Geleit zusichert, wenn er nach Dresden komme, um dort das ihm hiermit zugesagte ordentliche Rechtsverfahren wiederaufzunehmen. Im Vertrauen auf diese Zusage des Souveräns beendet Kohlhaas sofort seinen Feldzug, entläßt seine bewaffnete Schar und begibt sich in die sächsische Hauptstadt. Der vierte Teil der Erzählung handelt zunächst von Kohlhaasens Aufenthalt in Dresden. Er versucht sein Recht zu erlangen, aber die Sippschaft des Junkers von Tronka beherrscht auch den sächsischen Hof und hat, wie sich später noch genauer zeigt, über die Mätresse des sächsischen Kurfürsten auch diesen selbst fest in der Hand. Der intrigierenden Junkersippschaft gelingt es, Kohlhaasens Rechtssuche soweit zu hintertreiben, daß der Kurfürst sogar die Zusage des freien Geleits bricht, Kohlhaas gefangensetzen und zu einer qualvollen Hinrichtung verurteilen läßt. Auf diesem Tiefpunkt des Geschehens ereignet sich eine klassische Peripetie: Der Kurfürst von Brandenburg greift ein, um Kohlhaas „aus den Händen der
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Übermacht und Willkür“ (113) zu retten. Die Rechtsgrundlage für das Verlangen des brandenburgischen Kurfürsten auf Herausgabe des Kohlhaas besteht darin, daß dieser zwar auf sächsischem Gebiet in Konflikt mit dem Junker von Tronka geriet, aber doch „brandenburgischer Untertan“ ist. Nun kompliziert sich die Handlung außerordentlich. Durch einen Zufall begegnen sich der mit einem Wagen nach Brandenburg abtransportierte Kohlhaas und der sächsische Kurfürst, der sich im Lande draußen auf Jagd befindet. Kohlhaas, der den Kurfürsten nicht persönlich kennt, erzählt diesem, der inkognito auftritt, er habe einst in Jüterbock eine merkwürdige Szene erlebt. Dort habe eine Zigeunerin dem brandenburgischen Kurfürsten eine große Zukunft vorausgesagt, und diese Prophezeiung sei durch die unmittelbare Erfüllung einer anderen Weissagung in ihrem Wert eindrucksvoll bekräftigt worden. Der ebenfalls anwesende sächsische Kurfürst habe seinerseits um eine Weissagung der Zukunft gebeten. Die Zigeunerin habe diese Weissagung zwar auf einen Zettel geschrieben, aber diesen nicht dem sächsischen Kurfürsten, sondern ihm, dem Kohlhaas, gegeben. Später erfährt man noch, die Zigeunerin habe dem sächsischen Kurfürsten lediglich mitgeteilt, sie könne ihm im Gegensatz zum brandenburgischen Kurfürsten nichts Gutes prophezeien, und auf dem Zettel habe sie dreierlei notiert: den Namen des letzten Regenten aus seinem Hause, die Jahreszahl, da er sein Reich verlieren, und den Namen dessen, der es mit Waffengewalt an sich reißen werde. Begreiflicherweise liegt dem sächsischen Kurfürsten alles daran, in den Besitz dieses Zettels zu kommen. Als er nun erfährt, daß Kohlhaas ihn bei sich hat, versucht er ihn durch Abgesandte aus dem inzwischen auf brandenburgischem Gebiet angelangten Transport wieder ins Sächsische zurückzulocken, indem er Kohlhaas Freiheit und Leben für die Aushändigung des Zettels anbietet. Aus all dem ergibt sich, daß die von der Tronka-Sippe beherrschte Umgebung des Kurfürsten korrupt ist, denn sie manipuliert das Rechtswesen nach ihren Interessen; daß ferner der Kurfürst selbst die Korruption zum Gipfel treibt, indem er seiner mit dem Hause Tronka verbundenen Mätresse zuliebe die dem Kohlhaas gegebenen Zusicherungen bricht und Kohlhaas in einem unredlichen Gerichtsverfahren zu einem grausamen Tode verurteilen läßt; daß er endlich wiederum aus persönlich-privatem Interesse – um den Zettel zu erhalten – bereit ist, dieses Todesurteil aufzuheben. Die Rechtsprechung wird beliebig manipuliert. Es handelt sich um einen chaotisch rechtlosen Staat. So erhält Kohlhaasens Feldzug gegen die Junkersippe derer von Tronka und überhaupt gegen die Obrigkeit noch nachträglich eine zusätzliche Legitimation. Abschließend, im fünften Teil, der in Berlin spielt, bekommt Kohlhaas vor dem Gericht des Kurfürsten von Brandenburg recht mit seiner Klage gegen den Junker von Tronka, und dieser wird zu einer Strafe sowie zur Ersetzung des Schadens verurteilt. Kohlhaas selbst aber wird zum Tode verurteilt, weil er zur
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Gewalt gegriffen hat. Entgegen den Hoffnungen des Volkes begnadigt ihn der Kurfürst von Brandenburg nicht. Merkwürdigerweise läßt ihm Luther durch einen Sendboten die Kommunion überbringen, obwohl Kohlhaas seinem Erzfeind, dem sächsischen Kurfürsten, nicht vergeben hat und damit nicht dem christlichen Gebot gefolgt ist. Im Gegenteil, als Kohlhaas von der geheimnisvollen Zigeunerin erfährt, der sächsische Kurfürst wolle verkleidet seiner Hinrichtung beiwohnen, um dann den Zettel an sich zu nehmen, beschließt er sogar, sich noch im letzten Moment zu rächen. Unmittelbar vor der Hinrichtung verschluckt er den Zettel, woraufhin der sächsische Kurfürst ohnmächtig zusammenbricht: eine zeichenhafte Hinrichtung. Der Erzähler Als Quelle benutzte Kleist eine alte Chronik, welche die Geschichte von einem Rebellen namens Hans Kohlhase berichtet.41 Die Grundzüge der äußeren Handlung stimmen mit dieser Quelle überein, aber Kleist verwendete sie nur, um daraus eine eigene Konzeption mit wesentlichen Beziehungen zu seiner Zeit zu entwickeln. Dabei verlieh er dem Geschehen eine unvergleichlich größere Komplexität. Sie beginnt schon damit, daß sich der Verfasser der alten Chronik in einen unzuverlässigen Erzähler verwandelt.42 Ob Kleist den in den meisten Ausgaben des Michael Kohlhaas hinzugefügten Untertitel Aus einer alten Chronik selbst autorisierte, läßt sich nicht mit Sicherheit feststellen, denn dieser Untertitel findet sich lediglich auf dem Titelblatt des ersten Bandes der Erzählungen von 1810, nicht aber in der Überschrift zum Kohlhaas selbst. Ob 41 Die Nachricht von Hans Kohlhasen / einem Befehder derer Chur-Sächsischen Lande aus der im 16. Jahrhundert entstandenen Märckischen Chronic von Peter Hafftitz entnahm Kleist dem Werk Diplomatische und curieuse Nachlese der Historie von Ober-Sachsen, und angrentzenden Ländern / Zu einiger Erläuterung derselben, gehalten von Christian Schöttgen und George Christoph Kreysig. Dritter Theil / Nebst einer in Kupffer gestochenen Land-Charte. Dreßden und Leipzig 1731. Abdruck dieser Hauptquelle sowie weiterer Zeugnisse in dem aufschlußreichen Band von Bernd Hamacher: Erläuterungen und Dokumente [zu] Heinrich von Kleist, Michael Kohlhaas, Stuttgart 2003. – Vgl. Carl A. H. Burckhardt: Der historische Hans Kohlhase und Heinrich von Kleist’s Michael Kohlhaas. Nach neu aufgefundenen Quellen dargestellt, Leipzig 1864; Malte Dießelhorst: Hans Kohlhase/Michael Kohlhaas, in: KJb 1988/89, S. 334–356; Malte Dießelhorst/Arne Duncker: Hans Kohlhase. Die Geschichte einer Fehde in Sachsen und Brandenburg zur Zeit der Reformation, Frankfurt a. M. [u. a.] 1999. Klaus Müller-Salget in: SWB 3, S. 709–713. Kleist veränderte seinen Kohlhaas weitgehend ins Positive, um ihn als „rechtschaffen“ erscheinen zu lassen. Diese Veränderungen beginnen schon damit, daß er seinem Kohlhaas den Namen des Erzengels Michael gibt. 42 Zum Begriff des ‚unzuverlässigen Erzählers‘ und zu dessen Bedeutung in Kleists Erzählungen insgesamt vgl. S. 183.
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der Erzähler der Geschichte als „Chronist“ im engeren Sinne zu verstehen ist, verrät ohnehin auch nicht der fragliche Untertitel, denn dessen Formulierung – „Aus einer alten Chronik“ – kann ebensogut bedeuten, daß hier der (fiktionale) Anspruch erhoben wird, es handle sich um einen Auszug aus einer alten Chronik, wie sie bedeuten kann, daß sich hier ein moderner Erzähler „aus“ einer alten Chronik frei bedient. Für die zweite Lesart sprechen zahlreiche Textsignale, in denen der Erzähler zu erkennen gibt, daß er aus großem historischen Abstand spricht. Schon im ersten Abschnitt sagt er aus einem solchen Abstand über Kohlhaas, „die Welt würde sein Andenken haben segnen müssen“ (13), und auch der historisierende Fernblick auf „die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts“ bereits im ersten Satz erweist den Erzähler als einen modern distanzierten. Er verfügt sogar über Informationen, die aus einer viel späteren Zeit stammen, und dies bis in konkrete Einzelheiten – so, wenn er berichtet, daß Kohlhaas für seinen aufgrund schwerer Mißhandlungen erkrankten Knecht in einem „mineralischen Quell“ Heilung suchte, „von dessen Heilkräften man sich mehr, als die Zukunft nachher bewährte, versprach“ (41). Für die Einschätzung eines ‚unzuverlässigen Erzählers‘ sind solche Überlegungen vollends ohne Belang, denn diese Rolle ist nicht an diejenige eines Chronisten im engeren Sinn gebunden, wie analog unzuverlässige Erzähler in anderen Erzählungen Kleists zeigen. Trotz der historisierend-chronikalischen Einfärbung ist vieles von dem, was der Erzähler schreibt, vor allem seine Art des Wertens, fragwürdig. Kleist setzt dieses Kunstmittel ähnlich wie schon in der Marquise von O… ein, um den Leser, wenn er einmal stutzig geworden ist, zu einer selbständigen, kritisch hinterfragenden Lektüre herauszufordern. Er muß eine besondere Erkenntnisleistung vollbringen, um nicht den Vorurteilen und situativen Befangenheiten des Erzählers zu verfallen. Schon an der Basis des Erzählprozesses verfolgt Kleist demnach eines seiner aufklärerischen Ziele, nämlich falsche Autoritäten zu entlarven. Wie er die staatliche Autorität des sächsischen Kurfürsten und die geistliche Autorität Luthers erschüttert, so unterminiert er auch die scheinbar fraglose Autorität des sich gerade in seinem chronikalischen Habitus objektiv gebenden Erzählers. Die Forschung ist sich weitgehend darin einig, daß die Meinungen und Wertungen des Erzählers inkonsistent sind. Dabei ist immer auch mitzubedenken, daß es sich um eine polyperspektivische Ausfaltung der schon am Ende des ersten Erzählabschnitts exponierten Paradoxie handeln kann: „Das Rechtgefühl aber machte ihn zum Räuber und Mörder“ (13). Doch überschreitet der Erzähler immer wieder den Horizont dieser paradoxen Grundkonstellation. Trotz seines Mitgefühls mit dem Schicksal des Kohlhaas und trotz seinen mißbilligenden Urteilen über die Machenschaften der Junkersippe befindet er sich nicht immer auf der Höhe der von ihm selbst berichteten Tatsachen. Sein Systemkonformismus, verbunden mit einer schläfrigen Durchschnittlichkeit und
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Unselbständigkeit des Urteils, zeigt sich besonders deutlich in seiner obrigkeitsfrommen Anteilnahme am Los des sächsischen Kurfürsten sowie in einer Reihe von unzutreffend negativ wertenden Aussagen über Kohlhaas, dem er andererseits dann doch auch wieder Gerechtigkeit widerfahren läßt. Zunächst urteilt der Erzähler in seinem Bericht von Kohlhaasens Rachefeldzug gegen die Obrigkeit nicht nach den Ursachen und Motiven, sondern nach den Folgen. Obwohl er von Anfang an Kohlhaasens Besonnenheit und Geduld, seine Redlichkeit und Gerechtigkeit lobt, nennt er ihn nach dem Beginn des Rachefeldzugs einen „entsetzlichen Wüterich“ (68), er spricht von seinem „unerhörten Frevel“ (68), vom „Mordbrenner“ (70, 71, 74) und sogar vom „Drachen, der das Land verwüstete“ (69). Dabei übernimmt der Erzähler meistens die Erlebnisperspektive der unmittelbar Betroffenen. Auch die Legitimation, die Kohlhaas seinem Rachefeldzug verleiht, veranlaßt den Erzähler zu fragwürdigen Urteilen. So, wenn er es als „eine Schwärmerei krankhafter und mißgeschaffener Art“ bezeichnet, als sich Kohlhaas „einen Reichs- und Weltfreien, Gott allein unterworfenen Herrn“ (68) nennt. Darin drückt sich doch nur, im Vorstellungsmuster einer vergangenen Epoche, der Anspruch auf die Freiheit und Unabhängigkeit von der konkreten Obrigkeit aus, die Kohlhaas aufgrund des von ihr etablierten oder jedenfalls geduldeten Unrechtssystems nicht mehr anzuerkennen vermag.43 Allerdings gestaltet Kleist eine gerade aus der Stärke des Rechtsgefühls kommende Radikalisierung, die zerstörerisch und selbstzerstörerisch wirkt.44 Seinem insgesamt aufklärerischen Programm folgend, provoziert er den mündigen, selbstdenkenden Leser durch die Fiktion eines orientierungslosen Erzählers. Ihren Höhepunkt erreichen dessen Fehlurteile, als er feststellen zu können glaubt, Kohlhaas werde hingerichtet „wegen des allzuraschen Versuchs, sich selbst in ihr [der Welt] Recht verschaffen zu wollen“ (138 f.) – und dies, nachdem er, der Erzähler, doch selbst demonstriert hat, mit welch unendlicher Geduld Kohlhaas alle Mittel der legalen Rechtssuche ausgeschöpft hat. Besonderes Interesse verdient die Stellung des Erzählers zum sächsischen 43
Hierzu genauer S. 231–233. Hartmut Reinhardt: Das Unrecht des Rechtskämpfers. Zum Problem des Widerstandes in Kleists Erzählung Michael Kohlhaas, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 31 (1987), S. 199–226, kritisiert treffend die immer wieder versuchte strikte Unterscheidung zwischen Rechtsstreben und Rache – eine Dichotomie, die weder psychologisch noch historisch adäquat ist und „ohne den Schimmer rechtsgeschichtlicher Kenntnisse“ bleibt (S. 214 f. sowie Anm. 31, insbesondere gegen Falk Horst: Kleists Michael Kohlhaas, in: Wirkendes Wort 33 [1983], S. 275–285; auch gegen Lilian Hoverland, die wiederholt von Kohlhaasens angeblichem „Rechtsfanatismus“ spricht – L. H.: Heinrich von Kleists Michael Kohlhaas jenseits der Gerechtigkeit, in: Colloquia Germanica 9 [1975], S. 269–290, hier S. 280, 282 u. 287). 44
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Kurfürsten, also zur Obrigkeit. Obwohl er die obrigkeitliche Korruption nicht verschweigt, stellt er sie doch auf eine seltsam diffuse Art dar, so als ob er nicht recht durchschaue, was er da berichtet, und manchmal findet er für die Obrigkeit eher günstige Kommentare. Er verharmlost, gelegentlich bemitleidet er sogar den sächsischen Kurfürsten als einen „unglücklichen Herrn“ (126, 137). Als ein Mitglied des sächsischen Staatsrats mit rechtlichen Argumenten für die gewaltsame Niederwerfung des von Kohlhaas geführten Aufstands, zugleich aber für die Verhaftung des kurfürstlichen Kämmerers plädiert, welcher der Junkersippe der Tronkas angehört und deshalb Kohlhaasens Petition unterschlagen hat, wird der Kurfürst, wie der Erzähler objektiv berichtet, „über das ganze Gesicht rot“, in seiner Verlegenheit tritt er „ans Fenster“ (85). Aber dann gibt der Erzähler eine verharmlosende Beurteilung des Vorgangs. „Es schien“, so schreibt er, „die Präliminar-Maßregel, deren der Prinz gedacht [nämlich die Verhaftung des korrupten Kämmerers aus der Tronka-Sippe], hatte seinem für Freundschaft sehr empfänglichen Herzen die Lust benommen, den Heereszug gegen den Kohlhaas, zu welchem schon Alles vorbereitet war, auszuführen“ (86). Was der Erzähler „Freundschaft“ nennt, ist in Wahrheit – wie sich dann später erst genauer herausstellt – die Liaison des Kurfürsten mit der Frau des Kämmerers. Vordergründig berichtet der Erzähler die Fakten, doch scheint er die Zusammenhänge nicht ganz zu durchdringen oder nicht entschieden aufdecken zu wollen. Der Kurfürst samt seiner Umgebung ist korrupt, mit dem einzigen Unterschied, daß die Höflinge offen und aktiv ihr Spiel treiben, während der Kurfürst mit schlechtem Gewissen, vor allem aber auf die Wahrung des Scheins bedacht, sich treiben läßt. Das Räderwerk, in das Kohlhaas in Dresden gerät, ist nicht dasjenige des „Zufalls“, des „Schicksals“ oder gar dämonisch-undurchschaubarer „Mächte“, wie die ältere Forschung gemeint hat.45 Vielmehr gerät Kohlhaas in das Räderwerk eines korrupten Hofes, der vom Beziehungssystem der Junker beherrscht wird. Zwar gibt es „Zufälle“, aber sie werden für Kohlhaas nicht auf irrational-schicksalhafte Weise zum Verhängnis, sondern nur, weil die Junkersippe diese Zufälle, deren markantester der Auftritt des Abdeckers von Döbbeln ist, planvoll benutzt, um Kohlhaas zu vernichten.46 Vollends obrigkeitlich befangen zeigt sich die Mentalität des Erzählers in seinem beurteilenden Verhältnis zum Volk. Während er über die weltliche und geistliche Autorität, über den sächsischen Kurfürsten und Luther, keinerlei re45
Repräsentativ: Benno von Wiese: Heinrich von Kleist. Michael Kohlhaas, in: Die deutsche Novelle von Goethe bis Kafka, Düsseldorf 1956, S. 47–63. 46 Genau analysiert das sogar über die Landesgrenzen hinausreichende Netzwerk einer korrupten Vetternwirtschaft Paul Michael Lützeler: Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas, in: Interpretationen: Erzählungen und Novellen des 19. Jahrhunderts. Bd. 1. Stuttgart 1988, S. 133–180.
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spektwidriges Urteil wagt, spricht er vom Volk gern mit einer moralisierenden Schreiberdistanz. Als der Junker Wenzel von Tronka aus der von Kohlhaas mehrfach angezündeten Stadt Wittenberg abgeführt wird, steigen, wie der Erzähler mit frommem Schauder zu berichten weiß, „gotteslästerliche und entsetzliche Verwünschungen gegen ihn [den Junker] zum Himmel auf. Das Volk […] nannte ihn einen Blutigel, einen elenden Landplager und Menschenquäler, den Fluch der Stadt Wittenberg, und das Verderben von Sachsen“ (71). Kleist fordert den Leser durch Wahrnehmung der problematischen Erzählerperspektive zum kritischen Selbstdenken heraus. Er aktiviert ihn zur Erkenntnis der tatsächlichen Verhältnisse sowie einer Mentalität, die diese Verhältnisse zu verschleiern droht. Indem der Leser sie beim Erzähler als eine nicht permanent, aber doch immer wieder aus dem Vorurteil der Autoritätsgläubigkeit (praeiudicium auctoritatis)47 entspringende Mentalität diagnostiziert und zunächst selbst der Gefahr der Beeinflussung durch sie unterliegt, erkennt er, daß sowohl die dargestellte Wirklichkeit als auch das unzulängliche Bewußtsein reformbedürftig ist. Demnach steht nicht nur das Erzählte zur Debatte; zur Debatte steht auch der Erzähler und damit der Schriftsteller, sofern er seine kritische Funktion in der Zeit nicht angemessen erfüllt. Darüberhinausgehend stellt sich die Frage, ob selbst ein vollkommenes Verstehen von Kohlhaasens Handlungsweise nicht in Aporien grundsätzlicher Art führt, so daß es weder um Kohlhaasens ‚Charakter‘ noch letztlich um die Wertungen des Erzählers, sondern überhaupt um die Schwierigkeit geht, einen letzten, außerhalb des Beobachtungsfeldes liegenden (Rechts-)Standpunkt zu gewinnen. Nicht so prinzipieller Art ist allerdings Kleists historisch-politische Diagnose, die weite Teile der Erzählung bestimmt und Ausdruck seines kritischen Engagements in der Zeit ist. Die Erzählung hat eine Doppelfunktion: Einerseits macht sie das Handeln und Leiden Kohlhaasens zum Medium, das die politischen und sozialen, insbesondere die existenzbedrohenden wirtschaftlichen und rechtlichen Mißstände zum Vorschein bringt; andererseits kann sich nur im Medium dieser Mißstände der Radikalisierungsprozeß vollziehen, der auch den Leser bis an eine äußerste Grenze treibt. Die politische Dimension: Reform oder Revolution Im Michael Kohlhaas wirkt die große zeitgeschichtliche Erschütterung nach: die Französische Revolution. Einer der entscheidenden Antriebe der preußischen Reformer war das Streben nach einer politischen Herrschaft, die in einem solchen Grade vom allgemeinen Rechtsempfinden und vom Gemeinwohl her legitimiert sein sollte, daß sich gewaltsame Revolutionen erübrigten. Auf dieser Bahn der preußischen Reformer bewegt sich Kleist im Michael Kohl47
Zum Kontext der Aufklärung vgl. S. 19, Anm. 24.
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haas, indem er gerade auf das revolutionäre Potential des bestehenden Unrechtssystems hinweist. Als Protest gegen die illegitime Herrschaft stellt er nicht etwa eine bloße Rebellion, sondern mit einer bis ins Terminologische reichenden Konsequenz die Revolution dar.48 Dennoch gestaltet er den Aufstand des Kohlhaas nicht zu einem Plädoyer für einen revolutionären Umsturz. Er verfolgt das Konzept, das der reformerisch gesinnte Minister Struensee, mit dem er in engem Kontakt stand49, schon 1799 dem französischen Geschäftsträger in Berlin mit folgenden Worten erläutert hatte: Die heilsame Revolution, die ihr von unten nach oben gemacht habt, wird sich in Preußen langsam von oben nach unten vollziehen. Der König ist Demokrat auf seine Weise: er arbeitet unablässig an der Beschränkung der Adelsprivilegien […] In wenig Jahren wird es in Preußen keine privilegierte Klasse mehr geben.50
Und doch erachtet Kleist den revolutionären Impuls als geschichtlich notwendig – weil sonst alles beim Alten bliebe, wie zunächst Kohlhaasens intensive, aber vergebliche Bemühungen zeigen, auf normalem Wege zu seinem Recht zu gelangen. Wenn es Kleist um Reform und nicht um Revolution geht, so sieht er in der Entfaltung revolutionärer Energien doch eine Voraussetzung für die Durchsetzung reformerischer Maßnahmen: Er reflektiert die geschichtliche Bedeutung der Französischen Revolution für die Preußischen Reformen. Demnach ist die Kohlhaas-Erzählung nicht bloß die Geschichte eines individuellen Charakters, vielmehr setzt sie eine historische Problematik in Szene. Dies zu betonen scheint um so wichtiger, als die Gestalt des Kohlhaas geradezu sprichwörtlich geworden ist für individuell-charakterlich bedingte Rechthaberei. Zu dieser individualpsychologischen Reduktion der Erzählung trug nicht zuletzt auch Goethe bei. Er vermochte im Michael Kohlhaas nur „gründliche Hypochondrie“ am Werk zu sehen.51 Aus der Erzählung jedoch geht immer wieder hervor, wie sehr das Unrecht, das Kohlhaas widerfährt, symptomatisch für das allgemeine Unrechtssystem ist.52 Auch wandte sich Kleist keineswegs mit 48
Hierzu genauer S. 231–233. Vgl. seinen Brief an ihn vom 1. November 1800 (Nr. 28, S. 149), sowie die Briefe Nr. 13, S. 67; Nr. 14, S. 70 u. S. 74; Nr. 15, S. 79; Nr. 17, S. 83; Nr. 19, S. 89; Nr. 31, S. 166; Nr. 32, S. 170. 50 Zitiert nach der klassischen Darstellung von Otto Hintze: Die Hohenzollern und ihr Werk (Nachdruck der Ausgabe von 1915), Moers 1979/80, S. 427. 51 Lebensspuren, Nr. 384. 52 Dies gilt schon für das Unrecht, das Kohlhaas zu Beginn auf der Tronkenburg erleidet. Es heißt, daß er „überall, wo er einkehrte, von den Ungerechtigkeiten hörte, die täglich auf der Tronkenburg gegen die Reisenden verübt wurden“, weshalb er sich „mit seinen Kräften der Welt in der Pflicht verfallen“ sieht, „sich Genugtuung für die erlittene Kränkung, und Sicherheit für zukünftige seinen Mitbürgern zu verschaffen“ (27). Seine 49
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historisierender Absicht der Chronik aus dem 16.Jahrhundert zu. Zwar benutzte er diese alte Chronik, aber er verkleidete mit ihrer Hilfe lediglich die Zustände seiner eigenen Zeit. Die Inszenierung einer schon zweihundert Jahre zurückliegenden Geschichte war geeignet, die an der Gegenwart beobachteten wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen Probleme schärfer ins Profil zu heben, und sie erlaubte eine entschiedenere kritische Kontur. Im Spiegel chronikalischen Erzählens mußte der zeitgenössische Leser die Probleme der Gegenwart als dringend zu beseitigende Überbleibsel der Mißstände aus alter Zeit empfinden. Die in der Kohlhaas-Erzählung aktuellen Elemente der preußischen Reformbewegung betreffen vor allem die Wirtschaft und das Rechtswesen. Kohlhaasens Konflikt beginnt damit, daß ihn der Junker Wenzel von Tronka zwingt, einen Binnenzoll zu entrichten. Drastisch führt Kleist vor, wie Kohlhaas plötzlich vor einem geschlossenen Schlagbaum steht und tributpflichtig gemacht wird. Dieses System der Binnenzölle gehörte zu den zahlreichen junkerlichen Privilegien, welche den wirtschaftlichen Fortschritt schwer behinderten, weil sie die Gewerbe schädigten. Deshalb setzte sich der Freiherr vom Stein im Jahre 1805 für die Aufhebung der Binnenzölle ein. Wie sehr Kleist an solchen Entwicklungen unmittelbar teilnahm, zeigt ein Brief, den er als Angestellter der Kriegsund Domänenkammer in Königsberg am 10. Februar 1806 an den Freiherrn vom Stein zum Altenstein schrieb. Die „Wiederherstellung der natürlichen Gewerbsfreiheit“, so Kleist, sei sein „Lieblings-Gegenstand“.53 Überhaupt dürfte die Zeit, die er als Diätar bei der Domänenkammer in Königsberg verbrachte, von entscheidender Bedeutung für die Aufnahme liberaler Reformideen gewesen sein. Galt Schlesien als Hort adliger Opposition, so erwies sich Ostpreußen als Zentrum der Reformbewegung. Der entscheidende Anstoß der Reformbewegung, schreibt Gerhard Ritter in seiner immer noch lesenswerten Biographie des Freiherrn vom Stein, ging von Königsberg aus: von der Stadt Kants und seiner Universität, dem Schauplatz einer eben damals blühenden, geistig angeregten Geselligkeit, in der sich adlige und bürgerliche Elemente, höhere Frau sagt zu ihm, „daß noch mancher Reisende, vielleicht minder duldsam, als er, über jene Burg ziehen würde; daß es ein Werk Gottes wäre, Unordnungen, gleich diesen, Einhalt zu tun“ (39). Später nennt das „Volk“ den Junker, der pars pro toto für das Junkertum steht, welches das Land mit seinem Beziehungsnetz und seiner Korruption überzieht, „einen Blutigel, einen elenden Landplager und Menschenquäler“ (71). Als sich Kohlhaas in Dresden aufhält, verbreitet sich die Kunde, „daß der Würgengel da sei, der die Volksbedrücker [!] mit Feuer und Schwert verfolge“ (87). Die immer wieder und sogar noch am Ende betonte Solidarisierung und Sympathie des „Volks“ mit Kohlhaas läßt ihn als Vorkämpfer gegen ein von allen erlittenes Unrechts- und Mißbrauchs-System erscheinen. Zum Motiv des „Volks“ vgl. genauer S. 233f. 53 Briefe, Nr. 98, S. 354.
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Beamte, Gelehrte, Kaufleute in unbefangenem Austausch mischten […] Diese Königsberger Gesellschaft lebte und webte, ohne viel Unterschied des Standes, in den Ideen einer politischen Aufklärung, die sich philosophisch an Kant und wirtschaftstheoretisch an Adam Smith, dem großen, eben aufgegangenen Gestirn des wirtschaftlichen Liberalismus, orientierte. Für Freiheit und Menschenwürde, gegen die Fesseln des Feudalismus und der Despotie zu kämpfen, Spielraum zu schaffen für die moralische, intellektuelle und wirtschaftliche Selbstentwicklung des Individuums – das galt hier als die große Aufgabe der Epoche. In erstaunlichem Maße wurde vor allem das höhere Beamtentum der Provinz, großenteils dem einheimischen Adel entstammend, mit den an der Universität gepredigten neuen Ideen durchdrungen. Christian Jakob Kraus, der eifrigste Verkünder Smithscher Lehren auf deutschem Boden, galt als das ökonomische Orakel der Provinz. Der feurige Kammerpräsident Hans von Auerswald bekannte sich ganz als sein Schüler […] Der Provinzialminister Friedrich Leopold Reichsfreiherr von Schrötter machte es allen Anwärtern für den Finanzdienst seines Departements zur Pflicht, sich durch Zeugnisse von Kraus zu legitimieren […].54
Zu diesen Anwärtern gehörte Kleist, und schon eine Woche nach seiner Ankunft in Königsberg, am 13. Mai 1805, meldete er den Besuch von Vorlesungen bei Kraus, einem Schüler und Freund Kants. Mit den anderen Persönlichkeiten, die sich für liberale Reformen einsetzten, nicht zuletzt mit Auerswald, aber auch mit dem Vordenker der Steinschen Reformen, dem Finanzrat Theodor von Schön, stand er in Kontakt. Ein im August 1805 geschriebener Brief Kleists an den Freund Ernst von Pfuel endet mit dem Satz: „Adieu, den Smith brauche ich selbst“.55 Offensichtlich hatte der Freund ihn um die Werke des liberalen Wirtschaftstheoretikers gebeten, aber Kleist studierte sie selbst und konnte sie deshalb nicht aus der Hand geben. Es fällt auf, wie sehr Kleist immer wieder auf den Wohlstand und die Freude Kohlhaasens an seinem „Gewerbe“ hinweist. Er stellt es als eine wichtige Angelegenheit dar, daß Kohlhaas sein Gewerbe, den Pferdehandel, frei ausüben kann. Aus diesem einfachen Grunde zunächst sind die Pferde ein zentrales Motiv der Erzählung. Nur wenige Monate nach Erscheinen der Kohlhaas-Erzählung, am 2. November 1810, ließ Hardenberg durch ein Edikt die Gewerbefreiheit proklamieren, und einen Tag später nahm Kleist einen Grundsatzartikel unter dem Titel Gewerbefreiheit in die Berliner Abendblätter auf. Den Hintergrund der preußischen Reformbestrebungen und auch des Kleistschen Engagements bildet ein Konzept, das sich schon im Zusammenhang mit dem Allgemeinen Landrecht von 1794 in Preußen Bahn gebrochen hatte. Die Verfasser dieses wichtigen Gesetzeswerkes56 hatten damit eine Kodifi54 Gerhard Ritter: Stein. Eine politische Biographie. 4. Aufl. Frankfurt a. Main 1981, S. 215. 55 Briefe, Nr. 95, S. 348. 56 Vgl. die Neu-Ausgabe: Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794.
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kation der fortschrittlichen Errungenschaften aus der Zeit Friedrichs des Großen und eine Art grundgesetzlicher Festlegung schaffen wollen. Zugleich aber kamen angesichts der inzwischen ausgebrochenen Französischen Revolution noch weitergehende aufklärerische Gedanken zum Tragen, und zwar nicht, weil man mit der Revolution sympathisierte, sondern weil man ebendiese revolutionären Konsequenzen durch eine Reform von oben vermeiden wollte. In den sogenannten Kronprinzenvorträgen, die der geistige Vater des Allgemeinen Landrechts, Carl Gottlieb Svarez, im Jahre 1791/92 dem preußischen Kronprinzen und späteren König Friedrich Wilhelm III. (1797–1840) hielt57, heißt es: Sicherheit des Eigentums und der Rechte für jeden einzelnen durch die vereinigten Kräfte aller, ungestörter Gebrauch der natürlichen Freiheit eines jeden, soweit damit die Sicherheit und Freiheit der übrigen bestehen kann, Erleichterung der Mittel und Gelegenheiten zur Beförderung des Privatwohlstandes […] das sind die großen und wichtigen Zwecke der bürgerlichen58 Gesellschaft, zu deren Erreichung sie dem Regenten ihr zu befehlen, übertragen und die Disposition über ihre vereinigten Kräfte seinen Händen anvertraut hat.
Die Verbindung des Rechtsbewußtseins mit dem Schutz des Eigentums bestimmt schon John Lockes Second Treatise of Government (1690), eine Grundschrift des ganzen Aufklärungszeitalters.59 Locke erklärt es für die oberste Textausgabe, mit einer Einführung von Hans Hattenhauer und einer Bibliographie von Günther Bernert, Frankfurt und Berlin 1970. 57 Hierzu: Gerd Kleinheyer: Staat und Bürger im Recht. Die Vorträge des Carl Gottlieb Svarez vor dem preußischen Kronprinzen (1791–92), Bonn 1959 (= Bonner rechtswissenschaftliche Abhandlungen 47). 58 Der Terminus ‚bürgerlich‘ ist im 17. und 18.Jahrhundert noch nicht sozialständisch definiert. Er meint bloß die Mitgliedschaft in einem organisierten Staatswesen, in der societas civilis, in Gegensatz zu einem fiktiven natürlichen Zustand. Daneben kamen noch zwei engere Bedeutungen in Betracht: Als Bürger wurden die Inhaber stadtbürgerlicher Rechte sowie alle nicht zum Adel und Bauernstand gehörenden Einwohner eines Staates bezeichnet. 59 Vgl. die maßgebliche Ausgabe der „Two Treatises“: John Locke: Two Treatises of Government. A Critical Edition with an Introduction and Apparatus Criticus by Peter E. Laslett, Cambridge 1964 (1. Aufl. 1960; Paperback 1988). Eine vorzüglich eingeleitete Übersetzung: John Locke: Zwei Abhandlungen über die Regierung, übersetzt von Hans Jörn Hoffmann, hrsg. und eingeleitet von Walter Euchner, Frankfurt a. M. 1977 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 213). Vgl. auch C. B. Macpherson: Die politische Theorie des Besitzindividualismus. Von Hobbes bis Locke. Aus dem Englischen von Arno Wittekind, Frankfurt 1967 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 41); Reinhardt Brandt: Eigentumstheorien von Grotius bis Kant. Stuttgart-Bad Canstatt 1974 (problemata frommannholzboog 31); ferner: Klaus P. Fischer: John Locke in the German Enlightenment: An Interpretation, in: Journal of the History of Ideas, XXXVI (1975), S. 431–446.
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Pflicht der Staatsgewalt, Leben und Eigentum der Bürger zu schützen. Unter Eigentum versteht er „Leben, Freiheit und Vermögen“, häufig aber nur im engeren Sinn das Privateigentum. Ausdrücklich behauptet Locke ein Widerstandsrecht des Bürgers, wenn der Staat nicht sein Grundrecht der Selbsterhaltung respektiert – und das Eigentum als ein Naturrecht deduziert Locke aus dem Prinzip der Selbsterhaltung. Damit erhebt er das Eigentumsrecht zu einem Grundrecht. In diesen, über das aktuelle Anliegen der Gewerbefreiheit hinausreichenden sozial- und ideengeschichtlichen Zusammenhang gehört Kleists Michael Kohlhaas. Indem Kohlhaas sein Widerstandsrecht vertritt und revolutionäre Aktivitäten entfaltet, bringt er ein entsprechendes Selbstverständnis zum Ausdruck. Gerade mit dieser Perspektivierung auf das Eigentum, das Eigentumsrecht und die damit im Zusammenhang stehende Gewerbefreiheit gerät Kleist in eine bemerkenswerte Spannung zu seiner rousseauistischen Grundposition, die er in anderen Werken vertritt und derzufolge das Eigentum Ursache allen Übels ist. Weder im Michael Kohlhaas selbst noch in anderen Dichtungen bringt er die konträren Positionen in ihrer Widersprüchlichkeit zum Austrag. Vielleicht zeichnet sich im Michael Kohlhaas unter dem Eindruck des aktuellen reformerischen Engagements eine ähnliche Revision ab wie in der Wendung von den nahezu anarchistisch gesellschaftskritischen Positionen des früheren Werks zu einer zwar nicht unkritischen oder gar affirmativen, aber doch patriotisch inspirierten staatlich-„vaterländischen“ Orientierung. Wie im Bereich der Wirtschaft, so verficht Kohlhaas seine Ansprüche auch im Bereich des Rechts. Im Gespräch mit Luther behauptet er sein Widerstandsrecht gegen einen ungerechten Herrscher und eine ungerechte Ordnung als ein fundamentales Menschenrecht. Kleist benutzt dieses Gespräch, um die bisher erzählten Handlungen des Kohlhaas vom Standpunkt der Menschenrechte und des Naturrechts zu begründen. Das Widerstandsrecht ist wesentlich im Naturrecht begründet, und auf dieser Basis argumentiert Kohlhaas. Daß er seine Argumentation gerade gegenüber Luther entwickelt, hat zwar seinen äußerlichen Grund in der von der alten Chronik tatsächlich vorgegebenen Zusammenkunft Luthers mit Kohlhaas. Der tiefere historische Sinn aber liegt darin, daß Kleist das überlieferte Faktum benutzt, um die traditionelle und überaus geschichtsmächtige lutherische Obrigkeitslehre mit den modernen naturrechtlichen Ideen zusammenstoßen zu lassen, wie sie sich in der Zeit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der Französischen Revolution ausgebildet hatten. Das an sich schon in älteren Zeiten verwurzelte Widerstandsrecht60 erfuhr 60
Vgl. Arthur Kaufmann (Hrsg.): Widerstandsrecht, Darmstadt 1972 (Wege der Forschung CLXXIII). Hartmut Reinhardt: Das Unrecht des Rechtskämpfers. Zum Problem des Widerstandes in Kleists Erzählung Michael Kohlhaas (wie Anm. 44), vertritt die
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im Zusammenhang mit der Natur- und Menschenrechts-Diskussion des 18.Jahrhunderts eine entschiedene Aktualisierung und, im Vorfeld der Französischen Revolution, auch eine vom revolutionären Geist bestimmte Verschärfung. Rousseau räumte in seinem Gesellschaftsvertrag (Buch 3, Kapitel 10) dem Volk ein Widerstandsrecht für den Fall ein, daß der Fürst zum Tyrannen wird, also aufhört, nach den Gesetzen zu regieren. Die amerikanischen Staaten zählten, als sie die Menschenrechte konstituierten, das Widerstandsrecht zu diesen Menschenrechten. In Massachusetts beispielsweise bekannte man sich zu folgender Formulierung: „Widerstand ist weit davon entfernt, verbrecherisch zu sein. Er ist christliche und soziale Pflicht eines jeden“. In der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789, Artikel 2, heißt es: Der Zweck jeder Vereinigung ist die Bewahrung der natürlichen und ungeschriebenen Menschenrechte. Diese Rechte sind die Freiheit, das Eigentum, die Sicherheit und der Widerstand gegen die Unterdrückung [la résistance à l’oppression].
Auch die französische Verfassung vom Juni 1793 legt auf das Widerstandsrecht großen Wert. Lapidar formuliert der Artikel 23: „Der Widerstand gegen Unterdrückung ist die Folge der anderen Menschenrechte“ („La résistance à l’oppression est la conséquence des autres droits de l’homme“). Schillers Wilhelm Tell, das Widerstandsdrama wie Kleists Michael Kohlhaas die Widerstandserzählung der deutschen Literatur, enthält in der Rütli-Szene die entscheidenden, ganz von der Idee des Naturrechts ausgehenden Worte, die exakt auch für Kohlhaas zutreffen (V. 1274ff.): Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht, Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden, Wenn unerträglich wird die Last – greift er Hinauf getrosten Mutes in den Himmel Und holt herunter seine ewgen Rechte, These, Kohlhaas verfechte „das Widerstandsrecht des germanischen Mittelalters“ (S. 216). Im Anschluß an Hartmut Boockmann: Mittelalterliches Recht bei Kleist. Ein Beitrag zum Verständnis des Michael Kohlhaas, in: KJb 1985, S. 84–108, stellt er fest: „Er [Kohlhaas] bewegt sich, rechtsgeschichtlich gesehen, in der Grauzone des Übergangs zwischen dem Mittelalter (Lizenz der gewaltsamen Selbsthilfe!) und der Neuzeit mit dem Prinzip des staatlichen Gewaltmonopols“ (S. 216). Allein schon Kohlhaasens Berufungen auf das Naturrecht im Gespräch mit Luther deuten auf die zeitgenössische Aktualität als das eigentlich Gemeinte. Auch wenn Boockmanns in der Kohlhaas-Forschung breit rezipierte Abhandlung mit einiger Evidenz gewisse Elemente des mittelalterlichen Fehde-Rechts im Kohlhaas nachweist, so konnte er damit doch nur deutlich machen, daß Kleist eine historisierende Einfärbung vornahm. Auf die Darstellung des Mittelalters zielte er sowenig wie in der Hermannsschlacht auf urgermanische Begebenheiten.
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Die Erzählungen Die droben hangen unveräußerlich Und unzerbrechlich wie die Sterne selbst – Der alte Urstand der Natur kehrt wieder, Wo Mensch dem Menschen gegenübersteht – Zum letzten Mittel, wenn kein andres mehr Verfangen will, ist ihm das Schwert gegeben […]
Kleist, der schon am Anfang seiner Erzählung eine wichtige Tell-Reminiszenz einfügt61, nimmt den letzten von diesen Versen wörtlich auf, wenn er die höchste und untadelig rechtmäßig denkende Autorität am Hof des sächsischen Kurfürsten, den Großkanzler des Tribunals, Graf Wrede, nicht nur statuieren läßt, daß Kohlhaasens Sache „sehr gerecht“ sei, sondern darüberhinausgehend sogar, daß man ihm „das Schwert, das er führe, selbst in die Hand gegeben“ habe (85). Daß sich Kohlhaas im Kampf um sein Recht in einen regelrechten Kriegszustand mit der ihn rechtlos machenden Staatsgewalt begibt und dies später im Gespräch mit Luther auch mit naturrechtlichen Argumenten62 begründet, erinnert sehr deutlich an John Lockes Second Treatise of Government, wo ausdrücklich ein solcher Kriegszustand als notwendige Konsequenz erörtert wird. „Das Fehlen eines gemeinsamen, mit Autorität ausgestatteten Richters versetzt alle Menschen in einen Naturzustand: Gewalt ohne Recht, gegen die Person eines andern gerichtet, erzeugt einen Kriegszustand“, schreibt Locke (II, § 19), indem er gerade diesen Passus besonders hervorhebt, und er fährt mit einer Überlegung fort, die sogar Kohlhaasens Unterbrechung des Kriegszustands nach dem vermittelnden Eingreifen Luthers in ihrem theoretischen Begründungszusammenhang erkennen läßt: „Wenn aber die unmittelbare Gewalt nicht mehr besteht, so ist der Kriegszustand unter denen, die in einer Gesell61 Wie bei Schiller handelt es sich um ein Signal, das als Grund-Intention des Werkes nicht die Revolution markiert, zu der sich dann Kohlhaasens Aktivitäten notgedrungen auswachsen. Im Wilhelm Tell liegt großer Nachdruck auf der Feststellung, daß es primär um die Wiederherstellung der alten Schweizer „Freiheiten“ geht, die der tyrannische Geßler mit Füßen tritt – nicht um die Erringung einer neuen revolutionär definierten Freiheit. In deutlicher Analogie läßt Kleist seinen Kohlhaas angesichts des neuangebrachten Schlagbaums auf dem Territorium der Tronkenburg fragen: „Ist der alte Herr tot?“, und nach der Auskunft, daß er in der Tat gestorben sei, bemerken: „Hm! Schade! […] Ein würdiger alter Herr, der seine Freude am Verkehr der Menschen hatte, Handel und Wandel, wo er nur vermogte, forthalf […]“ (15). 62 Inwiefern Kleists Michael Kohlhaas durch die Rezeption von Kants rechtsphilosophischen Schriften mitbestimmt ist, erörtert Ulrich Gall: Philosophie bei Heinrich von Kleist. Untersuchungen zu Herkunft und Bestimmung des philosophischen Gehalts seiner Schriften, Bonn 1977, 2. Aufl. 1985, S. 164–229, besonders S. 205–207, wo Kants Verbindung der naturrechtlichen Argumentation mit der Eigentumsfrage in der Metaphysik der Sitten (AA VI, S. 256/57) dargestellt wird.
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schaft leben, beendet, und beide Parteien müssen sich gleichermaßen der gerechten Entscheidung des Gesetzes unterwerfen, denn dann steht es einem offen, als Mittel für begangenes Unrecht, und um zukünftigem Schaden vorzubeugen, den Gerichtsweg zu wählen“. Das tut Kohlhaas auf Luthers Vermittlung hin in Dresden – ohne Erfolg, und damit ergibt sich die von Locke sofort anschließend gezogene neuerliche Konsequenz: „Wo aber, wie im Naturzustand, eine solche Möglichkeit mangels positiver Gesetze und mit der nötigen Autorität versehener Richter, an die man sich wenden könnte, nicht besteht, dauert der einmal begonnene Kriegszustand fort“. Und nun folgt ein Satz, der vollends Kleists konsequente Übertragung dieses Konzepts deutlich macht: „Die unschuldige Partei hat dann solange das Recht, den anderen, wo immer sie kann, zu vernichten […]“ (II, § 20). Als Kohlhaas erkennt, welche Macht ihm der geheimnisvolle Zettel der Zigeunerin über den sächsischen Kurfürsten gibt, der Recht und Gesetz ihm gegenüber so schmählich gebrochen hat, erklärt er, daß er den Zettel behalten wolle, um den sächsischen Kurfürsten zu „vernichten“, und Kleist exponiert dieses Wort gleich zweimal: „[…] vernichten – vernichten, versteht ihr, welches allerdings der größeste Wunsch ist, den meine Seele hegt […]“ (123). Er kann dann diese Vernichtung nur symbolisch ins Werk setzen, indem er am Ende den Zettel verschluckt, woraufhin der sächsische Kurfürst ohnmächtig zusammenbricht. Was dem Kohlhaas in Dresden widerfahren ist und ihn zu dieser Konsequenz treibt, entspricht exakt dem Argument Lockes, dessen Konzept alle im Folgenden darzustellenden Elemente der historischen Konstellation übergreift. Bevor sich Kohlhaas zum gewaltsamen Widerstand entschließt und zum Revolutionär wird, bemüht er sich bei der Wahrnehmung seines vitalen Interesses am Schutz des Eigentums und an der Gewerbefreiheit um das Recht. Daß er nicht zu seinem Recht kommt und sich ihm so große Hindernisse auf dem Weg der Rechtsfindung entgegenstellen, hat man nicht als die Geschichte einer einmalig unglückseligen oder gar von der Dämonie des Zufalls bestimmten Konstellation zu lesen. Vielmehr greift Kleist hier aus genauer Kenntnis die für den einfachen Bürger nachteilige Organisation des Justizwesens auf, wie sie noch im 18. Jahrhundert und z. T. über die Preußischen Reformen hinweg bis weit ins 19. Jahrhundert hinein bestand.63 Die privilegierten Stände, allen voran der Adel, d. h. die Junker, die im Kohlhaas eine so große Rolle spielen, bestimmten das Justizwesen durch Stellenbesetzungen direkt und auf vielerlei Weise indirekt. Sie konnten damit ihren Interessen vor denen der einfachen Bevölkerung Geltung verschaffen. Ferner gab es eine ausgeprägte rechtliche Ungleichheit 63
Hierzu Reinhart Koselleck: Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848, 3. Auflage, Stuttgart 1981, S. 88–93.
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zwischen den privilegierten und den nichtprivilegierten Schichten. Das ganze 18. Jahrhundert hindurch arbeitete man in Preußen auf eine Verbesserung der Gerichtsverfassung hin. Die Rechtspflege war ein Problem ersten Ranges, und diese Rechtsproblematik kommt im Kohlhaas über weite Strecken zum Tragen. Es ist also nicht der ‚hypochondrische‘ Kleist, der gerade solche Fälle mit Vorliebe traktiert. Der politisch entschieden Stellung beziehende Zeitgenosse Kleist verfaßt hier engagierte Dichtung. Noch das Allgemeine Landrecht von 179464, dessen Hauptinspirator Svarez bereits aufklärerische Ziele verfolgte, kam keineswegs den grundlegenden Forderungen seiner Zeit nach Freiheit und Gleichheit aller Staatsbürger entgegen, wie sie die Virginia Bill of Rights vom 12. Juni 1776 und die Déclaration des droits de l’homme et du citoyen vom 26. August 1789 geprägt hatten. Zwar war Svarez überzeugt, daß im Stande der Natur alle Menschen gleich seien; mit dem Eintritt in die bürgerliche Gesellschaft aber, so meinte er, trete der Mensch unter die staatlichen Gesetze, die keine Gleichheit kennen. Die auf Geburt und Stand beruhenden Unterschiede in der rechtlichen Stellung des Menschen, wie sie das Allgemeine Landrecht von 1794 fixiert, haben ihren Ursprung im staatlichen Recht und nicht im Naturrecht. So konnten persönliche Unfreiheit und bürgerliche Ungleichheit im Allgemeinen Landrecht bestehenbleiben, obwohl 64 Ludwig Gottfried Madihn, bei dem Kleist an der Universität Frankfurt an der Oder Vorlesungen hörte, traktierte auch das Allgemeine Landrecht. „Der Director Madihn erklärt Institutionen und Pandekten des gemeinen Rechts nach seinen Lehrbüchern; außerdem den Text des allgemeinen Preußischen Landrechts […]“ (zitiert nach dem zeitgenössischen Universitätschronisten Hausen [wie Anm. 65], S. 110, vgl. Dietmar Willoweit [wie Anm. 65], S. 62). 65 Vgl. Henri Brunschwig: Aufklärung in Preußen. In: Moderne Preußische Geschichte 1648–1947, hrsg. von Otto Büsch und Wolfgang Neugebauer, Bd. 3, Berlin/New York 1981, S. 1307–1327, hier S. 1325. Kleist hörte selbst eine Vorlesung über Naturrecht bei Madihn an der Universität Frankfurt/Oder. Vgl. den Brief an Wilhelmine von Zenge vom Mai/Juni 1800, Nr. 10, S. 55, sowie besonders den Brief an Ulrike vom 26. August 1800, Nr. 18, S. 88. Madihns Hauptwerk erschien 1795 unter dem Titel: Grundsätze des Naturrechts zum Gebrauch seiner Vorlesungen. Vgl. Gerd Heinrich: Die Geisteswissenschaften an der brandenburgischen Landesuniversität Frankfurt/Oder von 1800. Bemerkungen zu Studienangebot und Gelehrtenbestand der Hochschule Heinrich von Kleists vor ihrer Auflösung, in: KJb 1983, S. 71–97, hier besonders S. 80 f.; Dietmar Willoweit: Heinrich von Kleist und die Universität Frankfurt an der Oder. Rückblick eines Rechtshistorikers, in: KJb 1997, S. 57–71 (zu weiteren Vorlesungen, die u. a. das Naturrecht behandelten: S. 63 f.). Die wichtigste Quelle ist die Darstellung des Professors der Geschichte und Universitätsbibliothekars Carl Renatus Hausen, der im Jahr 1800 ein Werk mit dem Titel publizierte: Geschichte der Universität und Stadt Frankfurt an der Oder, seit ihrer Stiftung und Erbauung, bis zum Schluß des 18. Jahrhunderts, größtenteils nach Urkunden und ArchivNachrichten bearbeitet.
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nach Ansicht von Svarez die aus dem Naturzustand der Freiheit in den bürgerlichen Zustand freiwillig herübertretenden Menschen die staatliche Ordnung selbst geschaffen haben. Diese Spannung zwischen fortschrittlichem naturrechtlichem Denken, das um 1800 bereits die Bildungseinrichtungen in Preußen erobert hatte65, und rückständigen staatsrechtlichen Fixierungen bringt Kleist im Kohlhaas an entscheidender Stelle zur Sprache. Im großen Streitgespräch zwischen Luther und Kohlhaas läßt er die beiden Positionen unvermittelt aufeinanderprallen: die naturrechtliche Position des Kohlhaas und die religiös verbrämte staatsrechtliche Position Luthers. Wie in anderen Werken gibt er dabei zu verstehen, daß die kirchlichen Instanzen zunächst immer die rückständige Position vertreten und sich auf die Seite der Obrigkeit und der Privilegierten schlagen, um sich dann höchstens sekundär und halbherzig um die Milderung der Härten zu bemühen, welche die Unterprivilegierten treffen. Weil die ständische Gliederung des Gerichtswesens den Privilegierten, insbesondere dem Adel, deutlich zum Vorteil gereichte, ergab sich das Problem der Justizaufsicht.66 Sie sollte eine ordnungsgemäße Rechtspflege sichern. So wurden Visitationen eingeführt – einen Reflex davon bietet der Auftritt des Gerichtsrats Walter im Zerbrochnen Krug. Da die Rechtsprechung zu den anerkannten Hoheitsrechten des absoluten Herrschers gehörte, konnte dieser auch an Stelle der Gerichte selbst Recht sprechen – eine durchaus zweischneidige Angelegenheit. Zwar vermochte der Herrscher damit offenbares Unrecht im Staatswesen zu korrigieren, wenn es ihm zu Ohren kam. Aber erfahren konnte er davon nur durch die doch mehr oder weniger zufällige Form der Supplik von Betroffenen.67 Eine solche Supplik versucht Kohlhaasens Frau Elisabeth an den brandenburgischen Kurfürsten heranzutragen, nachdem die normale Rechtspflege versagt hat. Durch die Umstände, unter denen sich Kohlhaasens Frau Chancen für ihre Petition glaubt ausrechnen zu können, und andererseits durch die Art, wie sie dann doch scheitert, hat Kleist dieses Supplikenwesen als Symptom eines defekten Rechtswesens charakterisiert. Wenn aber den Herrscher als den obersten Gerichtsherrn eine solche Supplik tatsächlich erreichte oder er aus eigenem Antrieb eine Rechtssache an sich 66
Vgl. den vorzüglichen Überblick bei Eberhard Schmidt: Rechtsentwicklung in Preußen. Mit einem Nachwort zum unveränderten Neudruck der 2. Aufl., Berlin 1929, Darmstadt 1961. Vgl. auch Eberhard Schmidt: Kammergericht und Rechtsstaat. Eine Erinnerungsschrift, in: Moderne preußische Geschichte 1648–1947, hrsg. von Otto Büsch und Wolfgang Neugebauer, Bd. 2, Berlin/New York 1981, S. 622–648, besonders S. 635 f. Als Informationsgrundlage immer noch nützlich ist das Werk von Adolf Stölzel: Brandenburg-Preußens Rechtsverwaltung und Rechtsverfassung dargestellt im Wirken seiner Landesfürsten und obersten Justizbeamten, Bd. 1 und 2, Berlin 1888. 67 Vgl. hierzu die in Anm. 66 genannten Werke.
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zog, um gegen den Spruch des Gerichts seinen sogenannten ‚Machtspruch‘68 zu setzen – dieser Fall spielt im Kohlhaas eine große Rolle, und Kleist gebraucht sogar den juristischen Terminus ‚Machtspruch‘ –, dann bestanden zwei große Gefahren. Erstens konnte es geschehen, daß der Herrscher in der besten Absicht, dem Schwächeren zu helfen, aus juristischer Unkenntnis sich falsch entschied. So verursachte Friedrich der Große im Jahr 1779 eine Justizkatastrophe, als er einem Wassermüller gegen einen Adligen recht gab und dazu noch eine Reihe der höchsten Juristen schwer desavouierte. Zweitens aber konnte, wenn der Herrscher auf Seiten der Privilegierten stand oder schlicht eigensüchtige Ziele verfolgte wie der sächsische Kurfürst im Kohlhaas, die Ausübung der obersten Gerichtshoheit gegen Recht und Gesetz verstoßen und zu offener Willkür ausarten. All dies gilt sowohl für eine Verurteilung wie für einen Freispruch und nicht zuletzt auch für die Begnadigung. Diese juristischen Probleme spielen gerade im Hinblick auf die Möglichkeiten des Herrschers im Kohlhaas wie im Homburg-Drama eine bedeutende Rolle. Der Kurfürst im Homburg-Drama mit seiner Stellung zum Kriegsgericht, zum bestehenden Gesetz und seinem Entschluß zur Begnadigung sowie die beiden Kurfürsten im Kohlhaas mit ihrer unterschiedlichen Haltung – das sind Reflexe der großen zeitgenössischen Grundsatzdebatte, wie das Verhältnis des Herrschers zum Gesetz zu definieren sei. In diesem Horizont war für Kleist ein Hauptproblem die Frage der Begnadigung. Wie Kant und andere aufgeklärte Zeitgenossen reflektiert er die Begnadigung als eine das Rechtssystem meistens schädigende Maßnahme.69 Im Kohlhaas zeigt sich das an der durch bloßen Eigennutz und durch Korruption motivierten Begnadigungsbereitschaft des sächsischen Kurfürsten. Johann Gottfried Seume schrieb in seinem Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802: Wir haben Billigkeit, Großmut, Menschenliebe, Gnade und Erbarmung genug im Einzelnen, bloß weil wir im Allgemeinen keine Gerechtigkeit haben. Die Gnade verderbt alles, im Staate und in der Kirche. Wir wollen keine Gnade, wir wollen Gerechtigkeit; Gnade gehört bloß für Verbrecher; und meistens sind die Könige ungerecht, wo sie gnädig sind. 68 Vgl. Eberhard Schmidt: Rechtssprüche und Machtsprüche der preußischen Könige des 18. Jahrhunderts, Leipzig 1943 (= Berichte über die Verhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften 95, Heft 3). 69 Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten, Theil 2, Abschnitt 1, § II: „Das Begnadigungsrecht (ius aggratiandi) für den Verbrecher, entweder der Milderung oder gänzlichen Erlassung der Strafe, ist wohl unter allen Rechten des Souveräns das schlüpfrigste, um den Glanz seiner Hoheit zu beweisen und dadurch doch im hohen Grade unrecht zu thun. – In Ansehung der Verbrechen der Unterthanen gegen einander steht es schlechterdings ihm nicht zu, es auszuüben; denn hier ist Straflosigkeit (impunitas criminis) das größte Unrecht gegen die letztern. Also nur bei einer Läsion, die ihm selbst widerfährt, (crimen laesae maiestatis) kann er davon Gebrauch machen.“
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Wer den Begriff der Gnade zuerst ins bürgerliche Leben und an die Stühle der Fürsten getragen hat, soll verdammt sein von bloßer Gnade zu leben: vermutlich war er ein Mensch, der mit Gerechtigkeit nichts fordern konnte.70
Vieles an den von Kleist im Kohlhaas vorgeführten Justizskandalen hängt eng mit der noch von Friedrich dem Großen aus aufgeklärtem Geist unternommenen Revision des preußischen Gerichtswesens zusammen.71 Als besonders wichtige Prinzipien für sein Justizwesen hatte der König die unbedingte Gleichbehandlung von Reich und Arm und die größtmögliche Beschleunigung aller Prozesse statuiert. Besonders die Prozeßverschleppungen waren berüchtigt, weil sie sich immer zum Nachteil der sozial Schwächeren auswirkten. Und Kleist führt im Kohlhaas in der Tat eine ungeheuerliche Prozeßverschleppung vor, die durch Schikanen und Intrigen schließlich in einer schweren Rechtsbeugung endet.72 Kleists Justizkritik ist demnach charakteristisch ‚preußisch‘ in einem doppelten Sinn: als Hinweis auf Mißstände, aber auch als aufgeklärte Kritik und als Kampf gegen diese Mißstände, wie er sich schon durch das ganze 18. Jahrhundert hindurch gezogen hatte und teilweise vom König selbst, aber auch von höchsten Justizbeamten geführt wurde. Kritik an den preußischen Zuständen also, aber aus einem schon historisch nachweisbaren preußischen Ethos heraus und auch schon vor dem Hintergrund eines gewissen Erfolges: das ist Kleists Signatur auf diesem Felde. Der Gerichtsrat Walter im Zerbrochnen Krug, der scharfe Visitation hält und die drohende Rechtsbeugung verhindert, und der brandenburgische Kurfürst im Kohlhaas, der dem Unrechtsverfahren in Sachsen ein Ende bereitet – diese beiden Gestalten gehören ebenso zur Szene wie auf der anderen Seite Richter Adam und der sächsische Kurfürst mit ihrer Korruption. Im Kohlhaas fällt auf, daß sich die Mißstände auf Sachsen und den sächsi70 Johann Gottfried Seume: Werke, hrsg. von Jörg Drews, Bd. 1: Mein Leben. Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Mein Sommer 1805, Frankfurt 1993, S. 205f. 71 Vgl. Eberhard Schmidt: Staat und Recht in Theorie und Praxis Friedrichs des Großen, Leipzig 1936 (= Leipziger rechtswissenschaftliche Studien). 72 Bereits in der ersten Phase von Kohlhaasens Rechtssuche wird die von der korrupten Junkersippschaft verfolgte Taktik der Verschleppung ebenso wie die darauf folgende Rechtsbeugung manifest. „Gleichwohl vergingen Monate“, so heißt es, „und das Jahr war daran, abzuschließen, bevor er, von Sachsen aus, auch nur eine Erklärung über die Klage, die er daselbst anhängig gemacht hatte, geschweige denn die Resolution selbst, erhielt. Er fragte, nachdem er mehrere Male von neuem bei dem Tribunal eingekommen war, seinen Rechtsgehülfen, in einem vertrauten Briefe, was eine so übergroße Verzögerung verursache; und erfuhr, daß die Klage, auf eine höhere Insinuation, bei dem Dresdner Gerichtshofe, gänzlich niedergeschlagen worden sei“ (39 f.). Den Höhepunkt erreicht die Prozeßverschleppung und die Rechtsbeugung, als Kohlhaas im Vertrauen auf das ihm zugesagte freie Geleit in Dresden auf ein ordentliches Rechtsverfahren wartet.
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schen Kurfürsten konzentrieren, während der Kurfürst von Brandenburg das Recht hochhält. Diese Opposition der beiden Kurfürsten dient zur kontrastiven Profilierung der schriftstellerischen Absicht nach dem alten Schema rex iustus – rex iniustus. Sie entspricht der zeitgenössischen Einschätzung von der besonderen Qualität des preußischen Rechtswesens und der Losung „Il y a des juges à Berlin“. Sie reflektiert aber auch die tatsächlich bestehenden, historisch begründeten Unterschiede zwischen Preußen und Sachsen. Kleist charakterisiert exakt die sächsischen Verhältnisse in ihrer Differenz zu den preußischen.73 In Sachsen hatte der Landesherr nicht eine so absolutistische Herrscherstellung wie in Preußen erreicht. Der Adel konnte daher wesentlich mehr Einfluß nehmen. Er bewahrte sich sogar entscheidenden Einfluß auf die Zentralverwaltung, in der er sich durch den sogenannten ‚Geheimen Rat‘ Geltung verschaffte. Dieses Instrument des Geheimen Rats mit seinen Einflußmöglichkeiten zur Wahrung adliger Interessen und als Medium der Korruption scheint Kleist, der längere Zeit in Dresden verbrachte und mit den sächsischen Zuständen gut vertraut war, genau gekannt zu haben. Denn die zentrale Partie, in der er vorführt, wie die Junkersippe derer von Tronka beim sächsischen Kurfürsten gegen Kohlhaas intrigiert, hat er als eine Sitzung des Geheimen Staatsrats gekennzeichnet. Es handelt sich um die zum redensartlichen Begriff gewordene ‚Kamarilla‘. Wichtiger aber als derartige institutionelle Formen der Mitwirkung, in denen der Adel seine Interessen durchsetzen konnte, war die Tatsache, daß in Sachsen die Kontrolle der ebenfalls weitgehend von Adligen besetzten Behörden wesentlich schwächer ausgeprägt war als in Preußen. Bezeichnenderweise entließ August der Starke im Jahre 1700 das Generalrevisionskollegium, das die im Lande herrschende Korruption aufgedeckt hatte, auf Verlangen der privilegierten Stände und gegen Bewilligung einer Million Gulden. Nepotismus, Bestechlichkeit und Beamtenuntreue herrschten in Sachsen. Die historische Forschung hat die fundamentale Korruption selbst der hohen Hof- und Staatsbeamten in Sachsen exakt nachweisen können. All dies findet in Kleists Kohlhaas eine erstaunlich zutreffende Darstellung. Noch ein weiteres Element der sächsischen Korruption hat Kleist historisch getreu aufgenommen: die höfische Günstlings- und Mätressenwirtschaft, die schon unter August dem Starken ein wahrhaft barockes Ausmaß erreicht hatte. Schwäche und innere Haltlosigkeit, die Kleist nicht zuletzt durch die wiederholten Ohnmachten des sächsischen Kurfürsten in seiner Erzählung symbolisiert, waren Kennzeichen der Nachfolger Augusts des Starken; sie ließen sich völlig durch den Grafen Brühl beherr73 Zum Folgenden vgl. Wolfgang Neugebauer: Zur neueren Deutung der preußischen Verwaltung im 17. und 18. Jahrhundert in vergleichender Sicht, in: Moderne Preußische Geschichte 1648–1947, hrsg. von Otto Büsch und Wolfgang Neugebauer, Bd. 2, Berlin/ New York 1981, S. 541–597, hier die Darstellung der Zustände in Sachsen S. 579–592.
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schen, der sogar sämtliche Kontakte zwischen dem Kurfürsten und den höchsten Beamten kontrollierte und selbst der Korruption den Gipfel aufsetzte, indem er sich in Sachsen und Polen hemmungslos bereicherte. Erst nach Brühls Abgang, im letzten Drittel des Jahrhunderts, gab es Versuche, Abhilfe zu schaffen. Dennoch gilt Kleists Kritik am Junkertum nicht nur den Zuständen in Sachsen. Auch in Preußen, wo die Junkerkaste, soweit sie Beamtenstellen im Rechtswesen innehatte, im Gegensatz zu Sachsen durch scharfe Aufsichtsmaßnahmen diszipliniert worden war, blieben doch die Privilegien der Junker draußen im Lande zum Schaden der übrigen Bevölkerung bestehen. Das zerstörte den Gemeingeist und war deshalb in einer Zeit akuter äußerer Bedrohung doppelt gefährlich. Hier setzte der Freiherr vom Stein mit seiner aus dem Jahre 1807 stammenden Nassauischen Denkschrift an, von der schon im Zusammenhang mit dem Homburg-Drama die Rede war.74 Nach der Reform der zentralen Staatsverwaltung und der Städteverordnung, in der die Selbstverwaltung eingeführt wurde, bestand die dritte große Tat des Freiherrn vom Stein in der Befreiung der Bauern von der Erbuntertänigkeit. Der am 4. Juni 1810 an die Spitze der Regierung berufene Freiherr von Hardenberg setzte die damit verbundene Agrarreform fort. Diese Reformen schränkten auch die junkerlichen Privilegien ein, obwohl gerade eines der schlimmsten Justizprobleme, die gutsherrliche Gerichtsobrigkeit, die der Freiherr vom Stein 1808 aufzuheben versucht hatte, bis zur Revolution von 1848 bestehen blieb. Nach der von Hardenberg schon in der Rigaer Denkschrift von 1807 niedergelegten Auffassung galt es, dem Geist der Zeit zu entsprechen: eine Revolution im ‚guten‘ Sinne durchzuführen, d. h. liberale Grundsätze in einer monarchischen Regierung zu verwirklichen – ein Programm, mit dem Kleists politische Anschauungen weitgehend übereinstimmten. Dieses Programm zielte nicht eigentlich auf die Übertragung politischer Rechte an das Volk. Denn obwohl Hardenberg von den Ideen der Französischen Revolution und der Gesetzgebung des Napoleonischen Frankreich beeindruckt war, wurzelte er im aufgeklärten Absolutismus des Ancien régime. Aber schon die Einführung der rechtlichen Gleichheit im Wirtschaftsleben und die Etablierung der freien Konkurrenz – eine Entwicklung, die bis zur bürgerlichen und wirtschaftlichen Gleichberechtigung der Juden im Jahre 1812 führte – stieß auf den Widerstand des Adels.75 Deshalb formierte sich gegen die Preußischen Reformen eine junkerliche Opposition, die sich mit wachsender Erbitterung gegen die Tendenzen der liberalen Bürokratie wandte, der man vorwarf, „aus dem ehrlichen brandenburgischen Preußen einen neumodischen Judenstaat zu machen“. Der Füh74
Vgl. hierzu besonders S. 174f. Vgl. Klaus Vetter: Kurmärkischer Adel und preußische Reformen, Weimar 1979 (= Veröffentlichungen des Staatsarchivs Potsdam 15). 75
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rer dieses junkerlichen Widerstands war Ludwig von der Marwitz.76 Daß Kleist genau zur gleichen Zeit in seiner Erzählung das Junkertum77 als korrupt darstellt, es als brutal, ausbeuterisch und seine Privilegien zum Schaden des Volkes benutzend vorführt, die Hauptvertreter dieses Junkertums ironisch „Hinz“ und „Kunz“ nennt und damit als die Allerweltsjunker kennzeichnet, endlich als Konsequenz ihres verantwortungslosen Verhaltens revolutionäre Unruhen nach Art Kohlhaasens an die Wand malt – das kann nur als ein kaum verhüllter Angriff auf die junkerliche Opposition und als Unterstützung der Reformer verstanden werden.78 Um Reform geht es Kleist, nicht um Revolution. Aber er inszeniert im Kohlhaas die Revolutionsgefahr als Menetekel für den Fall, daß die Reform ausbleibt. Er will reformerisch alarmieren. Die von Kohlhaas erzeugte revolutionäre Unruhe hat indessen nicht nur die Französische Revolution zum Hintergrund; in mehreren ländlichen Gebieten Deutschlands war es zu revolutionären Unruhen gekommen, nicht zuletzt im Herrschaftsbereich des sächsischen Kurfürsten, in dem Kohlhaas operiert. Schon im Jahre 1790 sah sich der Geheime Legationsrat Goethe als Mitglied des Ministeriums im benachbarten 76 Vgl. Gerhard Ramlow: Ludwig von der Marwitz und die Anfänge konservativer Politik und Staatsanschauung in Preußen, Berlin 1930; Madelaine von Buttlar: Die politischen Vorstellungen des Generals Friedrich August Ludwig von der Marwitz. Ein Beitrag zu Genesis und Gehalt konservativen Denkens in Preußen, Frankfurt a. M., Bern 1980; Karl Erich Born, Ludwig von der Marwitz, in: NDB 16, S. 318–320. 77 Zum Junkertum vgl. Hanna Schissler: Die Junker. Zur Sozialgeschichte und historischen Bedeutung der agrarischen Elite in Preußen, in: Preußen im Rückblick, hrsg. von Hans-Jürgen Puhle und Ulrich Wehler, Göttingen 1980, S. 89–122; Walter Görlitz: Die Junker. Adel und Bauer im deutschen Osten. Geschichtliche Bilanz von 7 Jahrhunderten, 2. erw. Aufl. Glücksburg 1957; Hans Rosenberg: Die Ausprägung der Junkerherrschaft in Brandenburg-Preußen 1410–1618, in: Preußen in der deutschen Geschichte, hrsg. von Dirk Blasius, Königstein/Ts. 1980, S. 95–142; Francis L. Carsten: Geschichte der preußischen Junker, Frankfurt 1988. 78 Der Freiherr vom Stein selbst, der durchaus den Adel nicht abschaffen, aber seine für das Gemeinwesen schädliche Stellung aufheben wollte, schrieb in seinem Memorandum zur „Beurteilung des Rehdiger’schen Entwurfs über Reichsstände“ (Königsberg, 8. September 1808): „Das Übergewicht eines Standes über seine Mitbürger ist nachteilig, ist eine Störung der gesellschaftlichen Ordnung, und man schaffe es ab. Der Adel im Preußischen ist der Nation lästig, weil er zahlreich, größtenteils arm und anspruchsvoll auf Gehälter, Ämter, Privilegien und Vorzüge jeder Art ist […] Diese große Zahl halbgebildeter Menschen übt nun seine Anmaßungen zur großen Last seiner Mitbürger in ihrer doppelten Eigenschaft als Edelleute und Beamte aus […]“ (Freiherr vom Stein. Briefe und amtliche Schriften. Bearbeitet von Erich Botzenhart, neu herausgegeben von Walther Hubatsch, Bd. II, 2: Das Reformministerium [1807–1808], neu bearbeitet von Peter G. Thielen, Stuttgart 1960, S. 853).
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Sachsen-Weimar veranlaßt, eine von ernsthafter Besorgnis zeugende Akte anzulegen. Sie trägt die Überschrift: Acta. Die Empörung mehrerer Chur-Sächsischer Dorfschaften wider ihre Gutsherrn betrf. und deswegen von S. Weimar getroffene Vorkehrungen. 1790.79 Auch in den Jahren 1807 bis 1810, in der Entstehungszeit des Michael Kohlhaas, brachen in Preußen, besonders in dem seit dem schlesischen Krieg zu Preußen gehörenden Schlesien immer wieder Unruhen aus. Beides, die Darstellung der Mißstände und die sich dagegen richtende Revolution, soll in Kleists Kohlhaas die Dringlichkeit der Reformen dartun. Um das Mißverständnis einer nur auf individuellem Querulantentum oder hypochondrischer Rechthaberei basierenden Handlungsweise auszuschalten und die zur Revolution drängende Situation deutlich zu machen, hat Kleist zuallererst Kohlhaasens Rechtssuche bis zum restlosen Scheitern, ja bis zur Beseitigung auch der allerletzten Chance einer Rechtsfindung durchgestaltet. Er stellt dar, mit welch unendlicher Geduld und Sorgfalt, mit welch außerordentlichem Aufwand sich Kohlhaas um das Recht bemüht. Erst als er, bei einer letzten Bemühung, durch die Supplik seine Frau verliert und im Moment des Begräbnisses auch noch mit Gefängnis bedroht wird für den Fall, daß er weitere Schritte in seiner Rechtssuche unternimmt, greift er zur Gewalt. Demnach läßt Kleist keinen Zweifel, daß Gewalt die einzige Möglichkeit ist, Recht zu verwirklichen, wenn die bestehende Rechtsordnung versagt. Und es kommt entscheidend darauf an, daß Kohlhaas nicht etwa bloß chaotische Gewalttätigkeiten verübt und zerstörerisch wirkt, daß er also nicht bloß gegen das bestehende Unrecht rebelliert, sondern daß er von Anfang an neues Recht setzt und die Gewalt ihm auch zur Durchsetzung dieses neuen Rechts dient. In der selbständigen Setzung und Ausübung von Recht ist die Gewalt, die er dafür braucht, eine revolutionäre Gewalt. Mit entschiedener Konsequenz und beträchtlichem staatsrechtlichem Wissen hat Kleist diesen Charakter der revolutionären Rechtssetzung herausgearbeitet. Dabei zeigt er, wie ein durch Unrecht desavouiertes System ein Vakuum schafft, in dem sich eine neue revolutionäre Legitimität und eine neue Souveränität Zug um Zug ihren Platz erobern und Anerkennung finden. Unmittelbar nach dem Begräbnis seiner Frau und der Bedrohung mit Gefängnis schreitet Kohlhaas zum ersten Akt revolutionärer Rechtssetzung. „Er setzte sich nieder“, 79
Einen Überblick über die Bauernrevolten, die schon vor der Französischen Revolution begannen und sich im Gefolge der Revolution verschärften, gibt Francis L. Carsten: Geschichte der preußischen Junker, Frankfurt 1988, S. 69–73. Vgl. außerdem E. Weise: Der Bauernaufstand in Preußen, Elbing 1935; Soziale Unruhen in Deutschland während der Französischen Revolution, hrsg. von Helmut Berding (= Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 12, 1988), S. 237–258.
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heißt es, „und verfaßte einen Rechtsschluß […]“ (61). Im Verfolg seiner Sache verfaßt er immer neue Rechtsschlüsse, sogenannte „Kohlhaasische Mandate“, das erste sogleich nach dem vergeblichen Versuch, den Junker auf der Tronkenburg aufzuspüren, weitere dann als sich der Junker in verschiedenen Städten versteckt. In einem dieser Mandate nennt er sich einen „Reichs- und Weltfreien, Gott allein unterworfenen Herrn“ (68). Die aus dem eigenen Rechtsgefühl abgeleitete Souveränität ist hier zunächst als persönliche „Freiheit“ von aller Herrschaft und folglich als Auflösung jeder Obrigkeitsbindung bestimmt. Die Uneingeschränktheit und Vollkommenheit der souveränen „Freiheit“ drückt sich in den Begriffen „Reich“ und „Welt“ aus („reichs- und weltfrei“). Dieses Postulat vollkommener Unabhängigkeit, wie sie für jede Souveränität konstitutiv ist, bedeutet kein Bekenntnis zu anarchistischer Willkür, denn es bezieht sich nicht prinzipiell auf Herrschaft und Obrigkeit, sondern nur auf die konkret bestehenden Herrschaftsverhältnisse, die ihrerseits durch anarchische Rechtsunsicherheit und Korruption gekennzeichnet sind. Indem Kohlhaas sich endlich einen „Herrn“ nennt, steigert er seinen Souveränitätsanspruch zum Anspruch auf Herrschaft über andere. Als der sich auf sein Rechtsgefühl berufende „Herr“ ist Kohlhaas der Repräsentant legitimer revolutionärer Herrschaft. Indem Kohlhaas eine revolutionäre Herrschaft etabliert, muß er konsequenterweise sowohl zur Ausübung eigener Herrschaft schreiten, eine ‚Regierung‘ bilden, wie auch die bestehende Herrschaft als eine illegitime revolutionär umzustürzen versuchen. Deshalb ruft er in seinem letzten Mandat „von dem Lützner Schloß aus, das er überrumpelt, und worin er sich festgesetzt hatte, das Volk auf, sich, zur Errichtung einer besseren Ordnung der Dinge, an ihn anzuschließen“; und dieses Mandat unterzeichnet Kohlhaas mit den Worten: „Gegeben auf dem Sitz unserer provisorischen Weltregierung, dem Erzschlosse zu Lützen“ (73). Die zur revolutionären Begründung einer neuen Ordnung führende Entwicklung erreicht nicht nur ihr Ende, sondern auch einen besonderen Höhepunkt unmittelbar bevor Luther eingreift. Denn als Kohlhaas Luthers Aufruf zum Einlenken wahrnimmt, übt er die revolutionär begründete neue Herrschaft bereits aus, mit allen Attributen der Gerichtshoheit und einer schon funktionierenden Exekutive. „Eben kam er“, so heißt es (76), „während das Volk von beiden Seiten schüchtern auswich, in dem Aufzuge, der ihm, seit seinem letzten Mandat, gewöhnlich war, von dem Richtplatz zurück: ein großes Cherubsschwert, auf einem rotledernen Kissen, mit Quasten von Gold verziert, ward ihm vorangetragen, und zwölf Knechte, mit brennenden Fackeln folgten ihm“.
Die Szene ist nicht etwa bloß genrehaft ausgemalt, vielmehr dient die auffällige Demonstration der Hoheitsattribute dazu, den bereits institutionellen Charak-
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ter der nun etablierten revolutionären Gewalt zu unterstreichen. Der bloße Widerstand oder die Rebellion könnten nicht zu einer solchen Konsequenz führen. Erst mit dieser letzten Phase ist der neuzeitliche Revolutionsbegriff80 exakt erfüllt, demzufolge Revolution der sozial motivierte und vom Volk getragene gewaltsame Übergang zu einer neuen Ordnung ist. Auch die Bestimmung, daß die Revolution vom Volk getragen sein muß, erfüllt die Kohlhaas-Erzählung in vollkommener Weise. In einer konsequent aufgebauten Reihe von Szenen erscheint Kohlhaas als Exponent des Volkes, und immer wieder solidarisiert sich das Volk mit ihm.81 Schon vor der erwähnten zentralen Stelle, in der er ausdrücklich „das Volk“ zur Errichtung einer besseren Ordnung der Dinge aufruft, solidarisiert sich das Volk der Stadt Wittenberg, die doch gerade zur Strafe für die Nichtauslieferung des Junkers von Kohlhaas in Brand gesteckt wurde, mit ihm gegen den Junker. Zugleich bietet diese Partie die schärfste und grundsätzlichste Kritik an der Junkerherrschaft und nennt den objektiven Grund der Revolution. „Das Volk“, so weiß der obrigkeitsfromme Erzähler nicht ohne Schauder zu berichten (71), das Volk, von den Landsknechten nur mühsam zurückgehalten, nannte ihn [den Junker Wenzel von Tronka] einen Blutigel, einen elenden Landplager und Menschenquäler, den Fluch der Stadt Wittenberg, und das Verderben von Sachsen.
Spätestens daraus ergibt sich, daß Kohlhaasens Konflikt nichts individuell Beschränktes ist. Er hat repräsentative Bedeutung. Auch Luther, der sich doch eher auf die Seite der Obrigkeit schlägt, sieht deutlich die revolutionäre Gefahr. „Die öffentliche Meinung“, bemerkt er in seinem warnenden Schreiben an den Kurfürsten von Sachsen (82), „sei auf eine höchst gefährliche Weise, auf dieses Mannes [Kohlhaasens] Seite, dergestalt, daß selbst in dem dreimal von ihm eingeäscherten Wittenberg, eine Stimme zu seinem Vorteil spreche“ (d. h., daß man einstimmig zugunsten Kohlhaasens spreche). Und er fährt fort, daß Kohlhaas sein Anliegen ohne Zweifel „zur Wissenschaft des Volks bringen würde“, und so könne „dasselbe leicht in dem Grade verführt werden, daß mit der Staatsgewalt gar nichts mehr gegen ihn auszurichten sei“. Vollends tritt die Popularität des Kohlhaas zu Tage, als er in Dresden ankommt, und der Grund dieser Popularität bleibt nicht im Zweifel. „Die Nachricht“, so heißt es, „daß der Würgengel da sei, der die Volksbedrücker [!] mit Feuer und Schwert verfolge, hatte ganz Dresden, Stadt und Vorstadt, auf die Beine gebracht“ (87). Einen komplexen Höhepunkt dieser revolutionären Verbindung von Kohlhaas und Volk bildet die Szene auf dem Marktplatz zu Jüter80
Vgl. Karl Griewank: Der neuzeitliche Revolutionsbegriff, Frankfurt a.M. 1969. Darauf hat Richard Matthias Müller, Kleists Michael Kohlhaas, in: DVjS 1970, S. 101–119, aufmerksam gemacht. 81
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bock, wo die beiden Kurfürsten ihre Zukunft von der geheimnisvollen Zigeunerin erfragen. In auffälliger Weise wird sie zusammen mit Kohlhaas dem Volk zugeordnet. Das Volk umringt die Zigeunerin, Kohlhaas steht „hinter allem Volk“ (119), und schließlich wendet sich „alles Volk“ zu Kohlhaas um. Und ganz am Ende, nach der Hinrichtung Kohlhaasens, heißt es (142): „Man legte die Leiche unter einer allgemeinen Klage des Volks in einen Sarg“. Kritik an der lutherischen Obrigkeitslehre und ethische Problematik Nach dem entscheidenden Einschnitt durch Luthers Intervention kommt es nicht nur zur Demaskierung des Unrechtssystems, das sein Zentrum am Dresdner Hofe hat. Markant tritt nun eine ethisch-religiöse Problematik hervor, zugleich auch eine sehr weittragende Kirchenkritik. Um das Wesentliche thesenhaft vorwegzunehmen: Indem Kleist zeigt, wie sehr Luther in einem autoritären Denken befangen ist, zielt er kritisch auf die lutherische Obrigkeitslehre und das daraus abgeleitete kirchliche Verhalten; sogar die christliche Lehre erscheint fragwürdig, insofern sie durch das Gebot der Vergebung denjenigen, der Unrecht erlitten hat, faktisch zum passiven Hinnehmen des Unrechts auffordert und damit auch zur Stabilisierung von Unrechtssystemen beiträgt. Demgegenüber vertritt Kleist, wenn auch in vorsichtiger Verhüllung, ein anderes Ethos, das er für menschenwürdiger und politisch brauchbarer hält. Aus seiner Quelle wußte Kleist, daß Luther den historischen Hans Kohlhase durch einen Brief zum Einlenken bewegen wollte. Der Wortlaut dieses Briefes ist überliefert.82 Kleist hat ihn aber keineswegs authentisch wiedergegeben, viel82 Der historische Luther-Brief: Luther an Hans Kohlhase, Bürger zu Cölln an der Spree. Aus: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Briefwechsel Bd. 7, Weimar 1937, S. 124f.: (Wittenberg,) 8. Dezember 1534 Gnad und Fried in Christo! Mein guter Freund! Es ist mir furwahr Euer Unfall leid gewesen, und noch, das weiß Gott; und wäre wohl besser gewesen, die Rache nicht furzunehmen, dieweil dieselbe ohne Beschwerung des Gewissens nicht furgenommen werden mag, weil sie ein selbs eigen Rache ist, welche von Gott verboten ist, Deut. 32. Röm 12: Die Rach ist mein, spricht der Herr, ich will vergelten etc., und nicht anders sein kann; denn wer sich darein begibt, der muß sich in die Schanz geben, viel wider Gott und Menschen zu tun, welches ein christlich Gewissen nicht kann billigen. Und ist ja wahr, daß Euch Euer Schaden und infamia billig wehe tun soll, und schuldig seid, dieselbige zu retten und zu erhalten, aber nicht mit Sunden oder Unrecht. Quod iustum est, iuste persequeris, sagt Moses; Unrecht wird durch ander Unrecht nicht zurecht bracht. Nu ist Selbsrichter sein und Selbsrichten gewißlich Unrecht, und Gottes Zorn läßt es nicht ungestraft. Was Ihr mit Recht ausführen moget, da tut Ihr wohl; könnt Ihr das Recht nicht erlangen, so ist kein ander Rat da, denn Unrecht leiden. Und Gott, der Euch also läßt Unrecht leiden, hat wohl Ursach zu Euch. Er meinet es auch nicht ubel
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mehr einen von ihm erfundenen Lutherbrief in seine Erzählung eingefügt, offenkundig, um so noch deutlicher zu markieren, was ihm an Luther und der lutherischen Kirche kritisierenswert erschien: Kohlhaas, der du dich gesandt zu sein vorgibst, das Schwert der Gerechtigkeit zu handhaben, was unterfängst du dich, Vermessener, im Wahnsinn stockblinder Leidenschaft, du, den Ungerechtigkeit selbst, vom Wirbel bis zur Sohle erfüllt? Weil der Landesherr dir, dem du untertan bist, dein Recht verweigert hat, dein Recht in dem Streit um ein nichtiges Gut, erhebst du dich, Heilloser, mit Feuer und Schwert, und brichst, wie der Wolf der Wüste, in die friedliche Gemeinheit [= Gemeinschaft], die er beschirmt. Du, der die Menschen mit dieser Angabe, voll Unwahrhaftigkeit und Arglist, verführt: meinst du, Sünder, vor Gott dereinst, an dem Tage, der in die Falten aller Herzen scheinen wird, damit auszukommen? Wie kannst du sagen, daß dir dein Recht verweigert worden ist, du, dessen grimmige Brust, vom Kitzel schnöder Selbstrache gereizt, nach den ersten, leichtfertigen Versuchen, die dir gescheitert, die Bemühung gänzlich aufgegeben hat, es dir zu verschaffen? Ist eine Bank voll Gerichtsdienern und Schergen, die einen Brief, der gebracht wird, unterschlagen, oder ein Erkenntnis, das sie abliefern sollen, zurückhalten, deine Obrigkeit? Und muß ich dir sagen, Gottvergessener, daß deine Obrigkeit von deiner Sache nichts weiß – was sag ich? daß der Landesherr, gegen den du dich auflehnst, auch deinen Namen nicht kennt, dergestalt, daß wenn dereinst du vor Gottes Thron trittst, in der Meinung, ihn anzuklagen, er, heiteren Antlitzes, wird sprechen können: diesem Mann, Herr, tat ich kein Unrecht, denn sein Dasein ist meiner Seele fremd? Das Schwert, wisse, das du führst, ist das Schwert des Raubes und der Mordlust, ein Renoch böse mit Euch, kann auch solchs wohl redlich wieder erstatten in einem andern, und seid drumb unverlassen. Und was wollt Ihr tun, wenn er wohl anders wollt strafen, an Weib, Kind, Leib und Leben? Hie musset Ihr dennoch, so Ihr ein Christ sein wollt, sagen: Mein lieber Herr Gott, ich hab’s wohl verdienet, du bist gerecht, und tust nur allzuwenig nach meinen Sunden. Und was ist unser aller Leiden gegen seins Sohns unsers Herrn Christi Leiden? Demnach, so Ihr meines Rats begehret (wie Ihr schreibet), so rate ich, nehmet Friede an, wo er Euch werden kann, und leidet lieber an Gut und Ehre Schaden, denn daß Ihr Euch weiter sollt begeben in solch Führnehmen, darin Ihr müsset aller der Sünden und Büberei auf Euch nehmen, so Euch dienen würden zur Fehde; die sind doch nicht fromm, und meinen Euch mit keinen Treuen, suchen ihren Nutz; zuletzt werden sie Euch selbs verraten, so habt Ihr denn wohl gefischet. Malet Ihr ja nicht den Teufel uber die Tür und bittet ihn nicht zu Gevattern, er kömmet dennoch wohl; denn solche Gesellen sind des Teufels Gesindlin, nehmen auch gemeiniglich ihr Ende nach ihren Werken. Aber Euch ist zu bedenken, wie schwerlich Euer Gewissen ertragen will, so Ihr wissentlich sollet so viel Leute verderben, da Ihr kein Recht zu habet. Setzt Ihr Euch zufrieden, Gott zu Ehren, und lasset Euch Euern Schaden von Gott zugefüget sein und verbeißet’s umb seinetwillen, so werdet Ihr sehen, er wird wiederumb Euch segenen und Euer Erbeit reichlich belohnen, daß Euch lieb sei Euer Geduld, so Ihr getragen habt. Dazu helfe Euch Christus unser Herr, Lehrer und Exempel aller Geduld und Helfer in Not, Amen. Dienstag nach Nicolai 1534.
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bell bist du und kein Krieger des gerechten Gottes, und dein Ziel auf Erden ist Rad und Galgen, und jenseits die Verdammnis, die über die Missetat und die Gottlosigkeit verhängt ist. Wittenberg, u. s. w. Martin Luther.
Die Stilisierung, ja Rhetorisierung dieses Sendschreibens ist ein Meisterwerk indirekter Entlarvung. Mit einer Fülle stereotyper Redensarten verfehlt Luther die innere Situation Kohlhaasens wie seine äußere. Zu diesen Stereotypen gehören die Wendungen „Schwert der Gerechtigkeit“, „vom Wirbel bis zur Sohle“, „mit Feuer und Schwert“, „wie der Wolf der Wüste“, „Krieger des gerechten Gottes“, „Rad und Galgen“. Und wie Luthers Sprache ein Denken in vorgefertigten Formeln verrät, so sind auch seine Urteile bloße Vor-Urteile. Bis ins einzelne läßt sich nachweisen, daß die urteilenden und verurteilenden Aussagen in Luthers Sendschreiben fehlgehen.83 So wirft er Kohlhaas vor, er habe einen „Streit um ein nichtiges Gut“ begonnen, während Kohlhaas in Wahrheit nicht um ein nichtiges Gut streitet, vielmehr sich um Recht und Gerechtigkeit bemüht. Kohlhaas hat sogar seine Frau beim vergeblichen Bemühen um Recht verloren, und vorher ist schon sein Knecht Herse halbtotgeschlagen worden. Ganz verfehlt ist auch Luthers Vorwurf, Kohlhaas sei „nach den ersten leichtfertigen Versuchen“ zu seinen Rachefeldzügen aufgebrochen. Aus dem gesamten Anfangsteil der Erzählung ergibt sich, daß Kohlhaas im Gegenteil nichts unversucht gelassen und mit äußerster Geduld alle Möglichkeiten der Rechtssuche bis zum Letzten ausgeschöpft hat. Wie sich Luther durch sein Sendschreiben als im Sinne der Obrigkeit vorurteilshaft befangen entlarvt (praeiudicium auctoritatis)84, so erscheint er auch als Persönlichkeit in einem ungünstigen Licht. Kleist charakterisiert ihn bei der Begegnung mit Kohlhaas als unwirschen Stubengelehrten; in seine Papiere vergraben und ohne menschliche Offenheit für den existentiell betroffenen Kohlhaas, läßt er sich nur widerwillig auf ihn ein. Wie sehr Kleist die Gestalt Luthers im Sinne seiner aufklärerisch antikirchlichen Grundtendenz stilisierte, ergibt sich aus dem Vergleich mit der Originalüberlieferung. Das Sendschreiben des historischen Luther (von dem wir nicht sicher wissen, ob Kleist es im Wortlaut kannte) enthält nur maßvolle Ermahnungen an Kohlhaas, nicht die unzutreffenden Anklagen und Vorwürfe des von Kleist erfundenen Sendschreibens. Und die historische Chronik, die Kleist benutzte, zeigt Luther freundlich entgegenkommend in seiner Unterredung mit dem historischen Hans Kohlhase85, 83 Bereits Gerhard Fricke: Kleists Michael Kohlhaas, in: G. F.: Studien und Interpretationen, Frankfurt a.M. 1956, S. 214–238, charakterisiert die Unrichtigkeiten und falschen Anschuldigungen in Luthers Brief (S. 228f.). 84 Zur Bedeutung der aufklärerischen Vorurteilslehre für Kleist vgl. S. 19f. 85 Allerdings lehnt auch der historische Luther das Widerstandsrecht gegenüber Kohl-
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ja er unterhält sich mit ihm in Gesellschaft anderer Theologen stundenlang, ganz anders als bei Kleist. In der alten Chronik erteilt Luther dem Hans Kohlhase sogar die Absolution, und er reicht ihm das Abendmahl, ohne ihm den Verzicht auf sein Rechtsbegehren zuzumuten. Bei Kleist dagegen verweigert Luther Absolution und Abendmahl, weil Kohlhaas dem sächsischen Kurfürsten nicht vergeben und folglich auch seine Rechtssuche nicht beenden will. Aus all diesen weitreichenden Änderungen gegenüber der historischen Quelle läßt sich erschließen, daß Kleist den Repräsentanten der religiös-kirchlichen Sphäre desavouieren wollte. Insbesondere formiert er ihn, und das verleiht seiner Darstellung dann doch eine tieferreichende historische Wahrheit, im Sinne der lutherischen Obrigkeitslehre. Sie hat ihren Ursprung im Brief des Paulus an die Römer und in Luthers Vorlesung über den Römerbrief. Die berühmt-berüchtigten Verse im Römerbrief (13,1 f.) lauten: „Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit ohne von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet“. Die aus diesen Bibelversen abgeleitete Lehre besagt, daß jede Obrigkeit, auch eine ungerechte und korrupte, als von Gott gewollt zu akzeptieren ist. Die geschichtlichen Auswirkungen dieser Lehre waren enorm, denn Widerstand gegen die Staatsgewalt ließ sie nicht zu. Aber auch wo sie nicht so strikt verstanden wurde, förderte sie eine obrigkeitliche Tendenz. Nicht umsonst exponiert Kleist in dem von ihm entworfenen Sendschreiben Luthers zweimal den zentralen Begriff „Obrigkeit“. Zugleich hat dieser Brief eine weit über die Kritik an der lutherischen Obrigkeitslehre hinausreichende Funktion im Ganzen der Kohlhaas-Erzählung. Denn auch der Erzähler zeigt sich ja trotz seiner Anteilnahme an Kohlhaas und trotz seiner chronikalisch beflissenen Faktennähe so befangen im obrigkeitlichen Denken, daß er zwar nicht durchgehend, aber immer wieder unzulänglich wertet.86 Demnach zielte Kleist in übergreifender Weise auf das praeiudicium auctoritatis, auf eine vorurteilshaft fehlleitende oder sogar entstellende Bewußtseins-Struktur, deren historisch formierender Grund in Luthers Sendschreiben offen zum Vorschein kommt, während sie sich im Urteil des Erzählers schon als feste Kodierung zeigt. Ein zweites Anliegen in Kleists Kritik an Kirche und christlicher Religion betrifft das Gebot der Vergebung, das ebenfalls eine allgemeine, weil mentalitätsbildende und politisch-soziale Bedeutung erhält. Kleist markiert es an zwei weit auseinanderliegenden Angelpunkten seiner Erzählung. Zuerst, als Kohlhaasens Frau auf dem Sterbebett ihn, den zum Widerstand und zur Rache Entschlossenen, auf das christliche Vergebungsgebot hinweist. Sterbend und also hase ab: „Was Ihr mit Recht ausführen moget, da tut Ihr wohl; könnt Ihr das Recht nicht erlangen, so ist kein ander Rat da, denn Unrecht leiden“. Vgl. Anm. 82. 86 Hierzu genauer S. 212–215.
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mit dem Pathos des Vermächtnisses zeigt sie auf die Bibelstelle: „Vergib deinen Feinden; tue wohl auch denen, die dich hassen“, und dabei, so heißt es, drückte sie ihm „mit einem überaus seelenvollen Blick die Hand, und starb“ (59).87 Bei aller Liebe zu seiner Frau lehnt Kohlhaas die Mahnung, seinen Feinden zu vergeben, im Stillen sofort ab. „So möge mir Gott nie vergeben, wie ich dem Junker vergebe!“ (ebd.), denkt er voller Ingrimm, um alsbald das „Geschäft der Rache“ (61) zu übernehmen. Als er später, in der Unterredung mit Luther, aus alter Verwurzelung in der Religion, deren Grenzen er nun zu durchbrechen im Begriffe ist, die „Wohltat des heiligen Sakraments“ (81) zu empfangen wünscht, stellt Luther die Vorbedingung, er müsse dem Junker zuerst vergeben. Kohlhaas antwortet ihm: „der Herr auch vergab allen seinen Feinden nicht“. Damit ist das zum erstenmal am Sterbebett seiner Frau aufgeworfene Problem der Vergebung zu höchstem Rang erhoben. Kohlhaas muß fortgehen, ohne die „Wohltat versöhnt zu werden“. Mit der tyrannischen Geste des selbstsicheren Heilsverwalters kehrt ihm Luther den Rücken, zieht die Klingel und läßt den Knieenden von einem Famulus aus dem Zimmer befördern. Viel später, am Ende der Erzählung, als Kohlhaas unmittelbar vor der Hinrichtung steht, geschieht nun aber das Merkwürdige, daß Luther ihm doch die Kommunion überbringen läßt. Warum? Kohlhaas hat ja dem Junker nicht vergeben. Vielmehr nimmt er mit höchster Genugtuung zur Kenntnis, daß der Junker für das ihm angetane Unrecht eine zweijährige Gefängnisstrafe verbüßen muß und daß die Rappen, Symbol der geschundenen Gerechtigkeit, wieder hergestellt sind. Eindringlich wird die Wiedergutmachung auf Heller und Pfennig vorgeführt. Sogar der Knecht Herse erhält die auf der Tronkenburg zurückgelassenen Habseligkeiten postum zurückerstattet. All das klingt nicht nach Vergebung, sondern nach endlich und voll durchgesetztem Recht. Und nicht nur das Recht wird durchgesetzt. Kohlhaas nimmt auch im letzten Moment Rache am sächsischen Kurfürsten, indem er den schicksalsträchtigen Zettel unmittelbar vor der Hinrichtung verschluckt. Die Wirkung dieses Racheakts ist außerordentlich: „ohnmächtig, in Krämpfen“ (141) sinkt der sächsische Kurfürst nieder. Am allerwenigsten zu dieser Rachehandlung, die einer symbolischen Hinrichtung gleichkommt, paßt die Überbringung der Kommunion. Denn die Kommunion setzt ja nach Luthers eigener früherer Aussage die Vergebung voraus. Von Luther selbst heißt es mit hintergründiger Ironie, sein Abgesandter, der dem Kohlhaas die Kommunion überbringt, sei „mit einem eigenhändigen, ohne Zweifel sehr merkwürdigen Brief, der aber verloren ge87 Außer diesem direkten Hinweis auf die Bibel enthält die Erzählung zahlreiche Bibelanspielungen. Hierzu die Nachweise von Henrik Lange: Säkularisierte Bibelreminiszenzen in Kleist’s Michael Kohlhaas, in: Kopenhagener germanistische Studien 1 (1969), S. 213–226.
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gangen ist“ (138), zu Kohlhaas gekommen. Da Kohlhaas mit seiner Rache am sächsischen Kurfürsten entschieden gegen das christliche Gebot der Vergebung handelt, provoziert Kleist mit dieser Konstellation den Leser mindestens dazu, den eingeschränkten Geltungsanspruch des Gebotes zu reflektieren. Der verlorengegangene Lutherbrief ist eine der von Kleist so gern inszenierten Leerstellen88; sie stimuliert diese Reflexion. Denn der in der erzählerischen Fiktion verlorengegangene Lutherbrief muß eine Begründung dafür enthalten haben, daß Luther, der Kohlhaas früher wegen dessen fehlender Vergebungsbereitschaft die Kommunion verweigerte, sie ihm nun überbringen läßt, obwohl er immer noch nicht bereit ist, seinem „Feinde“, dem sächsischen Kurfürsten, zu vergeben. Diesem Abrücken Luthers von seiner früheren Position entspricht – und das unterstreicht die Problematik – das Verhalten von Kohlhaasens Frau, die als gespenstische Wiedergängerin in der Gestalt der Zigeunerin ebenfalls von ihrer ursprünglichen Forderung abrückt. Während die Sterbende Kohlhaas vermächtnishaft auf die Bibelstelle hinwies, die Vergebung fordert, verschafft sie ihm nun als Wiedergängerin sogar die Möglichkeit, sich zu rächen. Indirekt öffnet sich auch hier eine Leerstelle insofern, als diese Suspendierung der früher bezogenen Position erneut unbegründet bleibt. Auch wenn jedwede Explikation fehlt, wird die christliche Ethik mit einem ihrer zentralen Postulate mindestens ihrer strikten Verbindlichkeit beraubt. Es bleibt dem Leser überlassen, ob er über diese Einsicht hinaus die Leerstelle zu füllen vermag, etwa indem er das schon am Anfang der Erzählung beschworene Rechtsgefühl als Absolutum in sie einfügt oder auf die Stabilisierung von Unrechtssystemen für den Fall reflektiert, daß das christliche Vergebungsgebot unbedingt gelten soll. Für beides ergeben sich Anhaltspunkte im Kontext. Eine plausible Lösung des Problems dürfte aus der Überlegung resultieren, daß das christliche Gebot der Vergebung nur auf der persönlich-menschlichen Beziehungsebene seine heilende und befriedende Kraft entfaltet; daß aber die Ausweitung seines Geltungsanspruchs auf die politisch-gesellschaftliche Ebene im Gegenteil Unheil bringt. Ein besonderes Problem bildet in der Schlußpartie die Ineinssetzung der mit der Eigenschaft magischer Präsenz ausgestatteten Zigeunerin und der ebenfalls magischen Präsenz von Kohlhaasens doch längst verstorbener Frau Elisabeth, die nun – in der Gestalt der Zigeunerin – als Wiedergängerin erscheint. Wäre es Kleist nur darauf angekommen, dem Kohlhaas die Möglichkeit zur Rache am sächsischen Kurfürsten zu verschaffen, so hätte er sich mit der Zigeunerin begnügen können. Und die Relativierung des christlichen Vergebungsgebotes hätte nicht der gespenstischen Wiedererscheinung von Kohlhaasens Frau bedurft, umso weniger, als schon Luther vom unbedingten Vergebungsgebot abrückt. Kleist muß also einen spezifischen Grund für die gespenstische Synthese 88
Vgl. S. 183.
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von Kohlhaasens Frau mit der Zigeunerin gehabt haben. Er liegt in der Verbindung von Rechtsgefühl und Verantwortungsbewußtsein. Schon in der Anfangspartie zeichnet sich ab, daß Kohlhaas nicht nur persönlich zu seinem Recht kommen will, sondern aus dem Bewußtsein einer allgemeineren Verantwortung handelt: Das Unrecht, das er erleidet, begreift er als einen Teil des allgemeinen Unrechts, so daß er sich als Vorkämpfer gegen ein auch das Leben seiner Mitmenschen bedrohendes System verstehen kann. Er kämpft gegen die „Volksbedrücker“ (87). Durch die Zigeunerin, die ihm in der – gealterten – Gestalt seiner Frau Elisabeth am Ende erscheint, widerfährt ihm aber eine letzte Anfechtung, die nicht umsonst aus der Sphäre weiblichen Empfindens kommt. Durch die Verschmelzung der beiden Frauengestalten ist sie zeichenhaft intensiv markiert. Es gibt nicht nur eine Verantwortung für die Allgemeinheit, wie sie Kohlhaas wahrnimmt, indem er gegen das Unrechtssystem zu Felde zieht. Verantwortung trägt er auch für seine Kinder – sein Eintreten für das persönliche und das allgemeine Recht wäre problematisch, wenn er dabei die unmittelbare Verantwortung für das Leben der Seinen vernachlässigen würde. Die beiden zu einer Gestalt verschmolzenen Frauen bringen diesen primär-kreatürlichen Anspruch auf Verantwortung zur Geltung. Nicht umsonst tritt die Sorge um die Kinder am Ende dominant hervor. In der entscheidenden Begegnung gibt die Zigeunerin dem Kohlhaas zu bedenken, daß er den geheimnisvollen Zettel, an welchem dem sächsischen Kurfürsten soviel liege, diesem „für Freiheit und Leben“ (135) geben solle. Kohlhaas ergreift aber die Möglichkeit der Rache, die ihm der Zettel verschafft, und antwortet deshalb: „nicht um die Welt, Mütterchen, nicht um die Welt!“ (135) – eine Formulierung, die unverkennbar auf die Wendung „fiat iustitia, pereat mundus“ anspielt. Die Zigeunerin reagiert darauf, indem sie das jüngste von Kohlhaasens Kindern „auf den Schoß“ nimmt und erwidert: „nicht um die Welt, Kohlhaas, der Roßhändler; aber um diesen hübschen, kleinen, blonden Jungen“, und damit, so heißt es, „lachte sie ihn an, herzte und küßte ihn, der sie mit großen Augen ansah, und reichte ihm, mit ihren dürren Händen, einen Apfel, den sie in ihrer Tasche trug, dar“ (135 f.). In diesem entscheidenden Moment der Anfechtung zeigt sich Kohlhaas „verwirrt“, aber nur, um alsbald festzustellen, „daß die Kinder selbst, wenn sie groß wären, ihn, um seines Verfahrens loben würden, und daß er, für sie und ihre Enkel nichts Heilsameres tun könne, als den Zettel behalten“. Er läßt die Zigeunerin wissen, daß nur ihre „Forderung, bestimmt und unzweideutig“, ihn von seinem Vorhaben abbringen könne. Damit wird vollends deutlich, daß die magisch präsente, seiner verstorbenen Frau so geheimnisvoll gleichende Zigeunerin eine letzte Rechtfertigungsinstanz, eine Repräsentanz seines eigenen Gewissens ist – und dieses Gewissen rät ihm keineswegs „unzweideutig“, was er zu tun habe. „Die Frau“, so heißt es, „indem sie das Kind auf den Boden setzte“, das sie vorher „auf den Schoß“ genommen hatte, „sagte: daß er
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in mancherlei Hinsicht recht hätte, und daß er tun und lassen könnte, was er wollte!“ (136). Damit gerät Kohlhaas nicht in ein Dilemma, vielmehr eröffnet sich ihm ein von der Gewissensinstanz freigegebener Spielraum der Entscheidung – und er entscheidet im Sinne seiner bereits kundgetanen Einsicht, daß die „Kinder“ selbst einst sein Verfahren loben würden, ja daß er für die „Enkel“ nichts Heilsameres tun könne. Schon die Fernperspektivierung auf die „Enkel“ läßt erkennen, daß die für die Integrität von Kohlhaasens „Rechtsgefühl“ wichtige Einbeziehung seiner Verantwortung für die Kinder eine geschichtliche Dimension gewinnt. Dies bestätigen die letzten Sätze der Erzählung, die man allzuleicht als bloßen Epilog liest. Bezeichnenderweise konzentrieren sie sich auf die Kinder des Kohlhaas und auf seine noch lange Zeit später froh und rüstig lebenden „Nachkommen“ (142). Dies und die unmittelbar auf die Hinrichtung folgende Entschließung des brandenburgischen Kurfürsten, Kohlhaasens Söhne seien in seiner Pagenschule zu erziehen, woraufhin er sie sogar schon „zu Rittern“ schlägt, ist das Siegel darauf, daß Kohlhaas sowohl seine Verantwortung für die Kinder in gültiger Weise wahrgenommen als auch zukunftweisend, folglich geschichtlich angemessen gehandelt hat. Vom Kurfürsten von Sachsen dagegen, den Kohlhaas zeichenhaft hinrichtete, als er ihm durch Verschlucken des Zettels die Zukunftsorientierung raubte, heißt es in der gleichen Schlußpartie, daß man von ihm „das Weitere in der Geschichte nachlesen muß“ (142): ein Hinweis, daß diese „Geschichte“ so unheilvoll ist, wie es der Zettel der geheimnisvollen Zigeunerin weissagte. Daß Kohlhaas unmittelbar vor der Hinrichtung diesen Zettel liest (141) und damit ein genaueres Wissen vom schlimmen Ende der kurfürstlich-sächsischen Herrschaft erhält, verleiht ihm im letzten Moment das Bewußtsein der geschichtlichen Überlegenheit. Er, der soviel erlitten hat und noch das Letzte erleiden muß, repräsentiert, wie Prometheus mit seinem Wissen über das Ende der Herrschaft des Zeus, ein geschichtliches und zugleich übergeschichtliches Wissen. Damit setzt Kleist, um mit seinem eigenen berühmten Gleichnis zu sprechen, den „Schlußstein“ der Erzählung. Das „Rechtsgefühl“ hat seine geschichtliche Rechtfertigung gefunden und zugleich über die Geschichte gesiegt. Es ist ein kunstvoll utopischer und deshalb von Elementen des Unwahrscheinlichen wesentlich mitbestimmter Schluß. Mit dem Utopischen verbindet sich das Apokalyptische89 zu einem schmerz89
Hans Joachim Kreutzer und Klaus Müller-Salget weisen auf Kleists Interesse am Apokalyptischen in seiner letzten Lebenszeit hin. Es wird seine Äußerung überliefert, „der tiefe Sinn der Apokalypse scheine dem Zeitgeist zu entsprechen“ (Friedrich v. Cölln, Briefe aus Berlin, Frühjahr 1811; Lebensspuren Nr. 470); in den Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft schreibt Kleist: „Das Bild liegt, mit seinen zwei oder drei geheimnisvollen Gegenständen, wie die Apokalypse da“ (SWB 3, S. 543). Vgl. H. J. Kreutzer: Kleist
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lich gebrochenen Pathos. Die auf dem Zettel befindliche Prophezeiung der Zigeunerin, die sie auf dem Marktplatz von Jüterbock dem sächsischen Kurfürsten angedeutet hat, enthält „den Namen des letzten Regenten“ seines Hauses, „die Jahrszahl, da er sein Reich verlieren, und den Namen dessen, der es, durch die Gewalt der Waffen, an sich reißen wird“ (129 f.). Diese Prophezeiung ist doppelt apokalyptisch kodiert, denn Kohlhaas verschluckt sie am Ende mit dem Zettel, was an das Essen der Schrift in der Apokalypse erinnert (Apok. 10, 8–10), und zugleich verweist sie auf das apokalyptische Buch Daniel, wo der jüdische Prophet dem König Belsazar das „Menetekel“ erklärt. Belsazar, der Unrecht und Frevel begangen hat, erblickt eine unheilvolle „Schrift“ an der Wand seines Thronsaals: Es „gingen hervor Finger wie einer Menschenhand, die schrieben, gegenüber dem Leuchter, auf die getünchte Wand in dem königlichen Saal; und der König ward gewahr der Hand, die da schrieb. Da entfärbte sich der König, und seine Gedanken erschreckten ihn, daß ihm die Lenden schütterten und die Beine zitterten“ (Daniel 5, 5 f.). Er fragt nach einem Weisen, der „diese Schrift liest und sagen kann, was sie bedeute“ (Daniel 5, 7). Man bringt den in der babylonischen Gefangenschaft festgehaltenen Propheten Daniel zu ihm, dem König von Babel, und er liest und deutet die Schrift als Untergangsprophezeiung für den Herrscher und seine ganze Herrschaft: Das aber ist die Schrift, allda verzeichnet: Mene, Mene, Tekel, Upharsin. Und sie bedeutet dies: Mene, das ist: Gott hat dein Königreich gezählt und vollendet. Tekel, das ist: man hat dich in einer Waage gewogen und zu leicht gefunden. Peres, das ist: dein Königreich ist zerteilt und den Medern und Persern gegeben (Daniel 5, 25–27).
Sowohl die Dreiteiligkeit des „Menetekels“ wie seine einzelnen Hauptbestandteile bilden sich in der Unheilsprophezeiung der Zigeunerin genau ab, und auch die physische Extremreaktion Belsazars, der sich „entfärbt“ und körperlich zusammenbricht – so „daß ihm die Lenden schütterten und die Beine zitterten“ – findet ihre Entsprechung in den physischen Reaktionen des sächsischen Kurfürsten, der bei der ersten Wahrnehmung, daß sich der Zettel in Kohlhaasens Besitz befindet, „ohnmächtig“ wird (120), dann schwer erkrankt (123 f.) und am Ende, nachdem Kohlhaas den Zettel verschluckt hat, „ohnmächtig, in Krämpfen“ niedersinkt (141). Und wie Belsazar in der Nacht nach Daniels Deutung des Menetekels umgebracht wird, so erfährt der Kurfürst die – symbolische – Auslöschung seiner Existenz. in der Nähe der Romantik. Ein neugefundener Brief an Georg Andreas Reimer, in: KJb 1990, S. 153–156, hier S. 156; Klaus Müller-Salget: Auferstehung, Apokalypse, Widerstand: Zur Artikulation des Politischen bei Heinrich von Kleist in den Jahren 1808 bis 1811, in: Kleists Beitrag zur Ästhetik der Moderne, hrsg. von Peter Ensberg und Hans-Jochen Marquardt, Stuttgart 2002, S. 83–96.
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Das Ende als pessimistische Scheinlösung Am Ende erhält Kohlhaas sein Recht. Der Junker wird verurteilt, er muß sogar den Schaden ersetzen, und am sächsischen Kurfürsten kann sich Kohlhaas durch Verschlucken des schicksalhaften Zettels so schwer rächen, daß es auch in dieser Hinsicht zu einer gerechten Strafe kommt. Doch kommt es dazu nur, weil die geheimnisvolle Zigeunerin ihm den wirkungsmächtigen Zettel zugesteckt hat, ferner weil sie vor Kohlhaasens Hinrichtung durch einen ungeheuren Zufall erfährt, daß der sächsische Kurfürst ihm den Zettel nehmen will, und schließlich, weil sie sogar noch die Möglichkeit findet, Kohlhaas davon in Kenntnis zu setzen und ihm damit die Gelegenheit der Rache zu geben. Eine Häufung also von wunderbaren Fügungen und außerordentlichen Zufällen. Auch wird der Zettel selbst zu einer Art von Zaubermittel. An all diesem Wunderbar-Geheimnisvollen nahmen schon die zeitgenössischen Leser Anstoß. Daß Kleist sich im Obskurantismus verlor, ist aber von vornherein unwahrscheinlich, weil er in seinen Werken immer wieder einem kritischen und aufklärerischen Grundimpuls folgt. Bereits im Erdbeben in Chili und in der Marquise von O… führt er den Glauben an Wunderbares ad absurdum. Ebenso verfährt er in zwei späteren Erzählungen: in der Heiligen Cäcilie und im Zweikampf. Demnach widerspräche es den eigenen Grundintentionen, wenn er im Kohlhaas das Wunderbare und Geheimnisvolle als eigentliches Ziel der Darstellung exponiert hätte. Warum aber hat er es dann so auffallend inszeniert? Wie immer zielt Kleist nicht auf die Abdankung, sondern auf die Herausforderung des Erkenntnisvermögens. Erkenntnis aber wird geradezu provoziert, wenn ein Geschehen sich ganz und gar unwahrscheinlich ausnimmt. Das Wunderbare, das der Zigeunerin, ihrem magisch wirkenden Zettel und den ganz unglaubwürdigen Zufallsfügungen bei ihrem Erscheinen vor der Hinrichtung Kohlhaasens anhaftet, soll gerade nicht akzeptiert, sondern als das ganz und gar Unwahrscheinliche empfunden werden. Kleist inszeniert eine Schein-Lösung; sie soll das Nachdenken darüber fördern, wie das Ende wohl bei einem im Rahmen des Wahrscheinlichen und eben nicht des Wunderbaren sich abspielenden Geschehen aussehen würde. Das Ergebnis kann nur lauten: Wenn sich alles nicht unter den Bedingungen des Wunderbaren, sondern des Wahrscheinlichen ereignen würde, dann wäre das Ende ein ganz anderes, ein für Kohlhaas und auch für unser Gerechtigkeitsbedürfnis katastrophales. Kleists Verfahren entspricht der von ihm selbst im Allerneuesten Erziehungsplan entwickelten Strategie, Widerspruch zu erregen. Die Scheinlösung, mit der dies hier geschieht, geht auf ein berühmtes Muster zurück: auf den deus ex machina der griechischen Tragödie. Der Terminus leitet sich von einer kranartigen Vorrichtung der antiken Bühne her, die das Herabschweben einer Gottheit von oben ermöglichte. Erst der dritte der drei großen griechischen Tragiker, Euripides, der schon für die Penthesilea wichtige Anregungen gab, führte den deus ex
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machina ein. Seine dramaturgische Funktion besteht darin, das Ende eines Stücks durch unerwartetes Eingreifen zum Guten zu wenden. Nicht das in der menschlichen Realität angesiedelte dramatische Geschehen selbst also führt zur Lösung – sie kommt nur auf übernatürliche und wunderbare, gänzlich unwahrscheinliche Weise zustande: durch einen Gott, der das sonst katastrophale Ende gerade noch abwendet. Euripides, der Dramatiker der griechischen Aufklärung, setzt dieses Kunstmittel gerne in ironisch-pessimistischer Absicht ein, er gibt zu verstehen, daß schon ein Wunder geschehen müßte, um noch einen guten Ausgang zu ermöglichen. Das ist auch Kleists Absicht. Sein deus ex machina ist die Zigeunerin. Nur weil sie eingreift, kommt Kohlhaas zu seiner Genugtuung. Man muß wohl auch die Rolle des brandenburgischen Kurfürsten, der im letzten Moment den Rechtsstreit an sich zieht, in die Nähe eines deus ex machina rücken. Ohne ihn würde Kohlhaas in völliger Rechtlosigkeit untergehen. Umso mehr stößt der Leser auf die düstere Alternative, die sich für Kohlhaas unter realistischen Voraussetzungen ergeben hätte: Ohne den Aufstand wäre er zwar am Leben geblieben, aber er hätte das nicht lebenswerte Leben eines Entrechteten führen müssen; nach dem Aufstand wäre er am sächsischen Kurfürsten gescheitert und elend zugrundegegangen. Kleists ironischer Pessimismus reicht noch weiter. Denn was würde es bedeuten, wenn die als unwahrscheinlicher Glücksfall dargestellte Lösung naiv akzeptiert würde? Doch nur, daß einer, um Gerechtigkeit in der Welt zu finden, wider Willen zum „Räuber und Mörder“ (13) werden und sein eigenes Leben verlieren muß. Um zu seinem Recht zu gelangen, mußte Kohlhaas den Aufstand unternehmen, für dessen Folgen er hingerichtet wird. Das ist ein tief pessimistisches Paradox. Man versteht, warum gerade Michael Kohlhaas Kafkas Lieblingserzählung war.
4. Die Verlobung in St. Domingo: Die Unentrinnbarkeit der Geschichte Am 6. Dezember 1492 landete Kolumbus an der Nordwestküste von Haiti, das seine spanischen Seefahrer zunächst Hispaniola nannten. Das Bordbuch des Kolumbus beschreibt diese große Karibik-Insel südlich von Kuba als ein fruchtbares und friedliches Paradies. Sie sollte es nicht lange bleiben. Als zehn Jahre später der spanische Gouverneur Ovando in der inzwischen gegründeten Niederlassung Santo Domingo ankam, begann die systematische Ausrottung der von der modernen Forschung auf etwa eine Million geschätzten Indios. Ovando verfuhr nicht weniger grausam als die spanischen Eroberer Mittelund Südamerikas, Cortez und Pizarro. Die Eingeborenen ließ er mit Hunden hetzen und auf Feuern lebendig rösten. Bei einer friedlichen Zusammenkunft wurde ihre Königin Anacoana in Ketten gelegt und samt den Stammeshäupt-
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lingen massakriert. Nachdem die einheimische Bevölkerung in kurzer Zeit beinahe ausgelöscht war und auch weil für die Zwangsarbeit in den Gold- und Silberminen Neger körperlich geeigneter schienen, begannen die Spanier schon bald Negersklaven aus Afrika einzuführen. Bereits 1503 gelangte die erste Schiffsladung mit Negersklaven nach Santo Domingo. Wenige Jahrzehnte später verließen die spanischen Siedler die von ihnen ausgeplünderte Insel und folgten den Konquistadoren in die neueroberten Reiche der Azteken und Inkas. Zu Anfang des 17. Jahrhunderts landeten französische Seeräuber, die den auf dem Weg von Mittel- und Südamerika nach Europa vorbeifahrenden, mit Silber und Gold beladenen spanischen Beuteschiffen auflauerten. Diese französischen Seeräuber verwandelten die spanische Kolonie Santo Domingo in eine französische Niederlassung, die fortan Saint Domingue hieß. Um die Bevölkerung zu vermehren, schickte die französische Regierung Auswanderer und deportierte auch Kriminelle auf die ferne Insel. Als im Jahr 1644 das Zuckerrohr aus Java eingeführt wurde, begann ein enormer ökonomischer Aufschwung. Es entstanden riesige Zuckerrohrplantagen, aber auch Kaffee-, Kakao- und Baumwollpflanzungen. 1697 trat Spanien im Frieden von Ryswijk den Westteil von Hispaniola an Frankreich ab. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war St. Domingue die reichste Kolonie Frankreichs, die nicht weniger als ein Viertel des französischen Handelsvolumens bestritt. Für ihre ausgedehnte Plantagenwirtschaft führten die Franzosen jährlich 30 000 Negersklaven ein. Am Vorabend der Französischen Revolution betrug das Zahlenverhältnis der Rassen, die in Kleists Erzählung so wichtig sind, 450 000 Schwarze zu 40 000 Weißen und 30 000 Mulatten. Über die Behandlung der Schwarzen durch die Weißen gibt das französische Sklavengesetz, der Code noir von 1685 Auskunft. Die häufigste Strafe waren Peitschenhiebe, die mit schweren geknoteten Riemen ausgeführt wurden und von denen jeder das blutige Fleisch bloßlegte. In die Wunden wurden Salz und Pfeffer gestreut oder sogar glühende Kohlen gelegt. Der Spezialausdruck der französischen Pflanzer für diese Art der Strafe war „tailler un nègre“ – „einen Neger schnitzen“. In Kleists Erzählung wird Babekan Opfer einer solchen Strafaktion. Schlimmere und ebenfalls häufige Strafen waren Brandmarkung mit glühendem Eisen, Abschneiden der Ohren und der Zunge, Rädern, Verbrennen bei lebendigem Leibe usw. Von einer Million Schwarzer, die eingeführt worden waren und die sich natürlich auch fortpflanzten, lebte 1789 unter diesen Umständen weniger als die Hälfte. Immer wieder kam es zu Sklavenaufständen, von denen Kleist den zeitlich besonders naheliegenden und mit Abstand größten zum äußeren Anlaß seiner Erzählung nahm. Vom Beginn der Französischen Revolution bis zur Diktatur Bonapartes tobten fast ununterbrochen Sklavenaufstände. Es zeichnen sich zwei Phasen ab. In der ersten entfalteten sich aufgrund der revolutionären Verkündigung der
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Menschenrechte Bestrebungen, auch das Los der Sklaven zu verbessern. Sie gipfelten 1794 im Beschluß des Pariser Nationalkonvents, die Sklaverei in den Kolonien abzuschaffen. Auf diesen Beschluß spielt Kleist am Anfang seiner Erzählung an. Die weißen Pflanzer widersetzten sich, die Sklavenaufstände gingen weiter. Die zweite Phase fällt in die Zeit der Herrschaft Bonapartes. Er entsandte eine französische Invasionsarmee, die am 1. Februar 1802 in St. Domingue landete. Am 20. Mai 1802 verkündete er das Dekret über die Wiedereinführung der Sklaverei in den Kolonien. Auch den Sklavenhandel und die neuerliche Einfuhr von Schwarzen setzte das Dekret ausdrücklich wieder in Gang. Darauf steigerten sich die Sklavenaufstände. Wie Bonapartes Invasionsarmee vorging, zeigt ein Schreiben eines ihrer Anführer, des Generals Rochambeau an General Ramel vom 5. April 1803: „Ich sende Ihnen, verehrter Kommandant, eine Abteilung von 150 Mann der Nationalgarde unter dem Befehl des Herrn Bari sowie 28 englische Bulldoggen. Diese Verstärkungen werden ihnen erlauben, Ihre Operationen ohne weitere Hilfe zu beenden. Ich mache sie pflichtgemäß darauf aufmerksam, daß Ihnen keinerlei Futter- oder Geldmittel für die Ernährung dieser Hunde zur Verfügung gestellt werden. Geben Sie ihnen Neger zu fressen. Ich grüße Sie herzlichst. Rochambeau.“90
Viele tausende von Schwarzen wurden gefoltert, ersäuft und verbrannt, und es kam sogar zu den ersten Vergasungsaktionen in der Geschichte – Rochambeau ließ haufenweise Schwarze durch Schwefeldampf ersticken. Aufgrund dieser Entwicklungen vereinigten sich die Heere der aufständischen Mulatten und Schwarzen und besiegten die durch eine Fieberepidemie schon dezimierte französische Invasionsarmee. Nach dem Sieg proklamierten die Führer des Aufstands die Unabhängigkeit. Am 1. Januar 1804 folgte die Gründung der Republik Haiti. Alle im Land noch verbliebenen Franzosen wurden ermordet. Für Kleist lag dieses Geschehen nicht nur zeitgeschichtlich, sondern auch biographisch nahe, denn 1807 mußte er als französischer Kriegsgefangener mehrere Monate in Fort Joux verbringen, wo 1803 Toussaint l’Ouverture gestorben war, der schwarze Führer des Aufstands, den Napoleons Invasionsarmee deportiert hatte. Ihm war als Oberbefehlshaber sein ehemaliger Adjutant Dessalines gefolgt, welcher der französischen Herrschaft ein Ende machte. 90
Zitiert nach: Hans Christoph Buch: Die Scheidung von San Domingo. Berlin 1976, S. 166. Dieser Darstellung und der beigefügten umfangreichen Dokumentation verdanke ich wertvolle Informationen. Standardwerke der neueren historischen Forschung zum Unabhängigkeitskrieg von St. Domingue: Robin Blackburn: The Overthrow of Colonial Slavery 1776–1848, London und New York 1988; C. L. R. James: The Black Jacobins. Toussaint l’Ouverture and the San Domingo Revolution, New York 1989.
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Kleist erwähnt ihn in seiner Erzählung. Genauere Nachrichten konnte er aus zeitgenössischen historischen Darstellungen entnehmen, von denen aber keine mit Sicherheit als seine Quelle zu identifizieren ist. Je nach der Tendenz der Verfasser weichen diese zeitgenössischen Berichte erheblich voneinander ab.91 Kleist setzte die geschichtlichen Vorgänge als allgemein bekannt voraus, wie der zweite Abschnitt seiner im Jahr 1811 erstmals gedruckten Erzählung zeigt. Er beginnt mit dem Satz (223): „Nun weiß jedermann, daß im Jahr 1803, als der General Dessalines mit 30 000 Negern gegen Port au Prince vorrückte, Alles, was die weiße Farbe trug, sich in diesen Platz warf, um ihn zu verteidigen“. Die Frage ist, ob er in seiner Erzählung die geschichtlichen Vorgänge nur als Folie eines individuellen Schicksals – der tragisch endenden Geschichte des Liebespaars Toni und Gustav – nimmt, oder ob er auch das geschichtliche Geschehen mitreflektiert, und in welchem Sinn. Die ältere Forschung konzentrierte sich auf die auch in in der Familie Schroffenstein und im Zerbrochnen Krug wesentliche Problematik des menschlichen Vertrauens, indem sie das Hauptaugenmerk auf das Geschehen zwischen den beiden Liebenden richtete, das mit dem tödlichen Schuß Gustavs auf Toni und deren letzten Worten endet: „du hättest mir nicht mißtrauen sollen!“ (259). Die neuere Forschung wendet sich vor allem dem Rassenkonflikt und dem Geschlechterdiskurs zu, indem sie aktuelle politische und soziale Interessen 91 In die Berliner Abendblätter nahm Kleist einen Bericht Über den Zustand der Schwarzen in Amerika auf (SWB, Bd. 3, S. 636–639), der aus der Feder des ultrakonservativen Autors Louis de Sevelinges im Mercure de France im Dezember 1810 erschienen war und die Sklavenhaltung in Englisch Guyana schönfärberisch darstellt. Sein Freund Heinrich Zschokke schrieb 1807 einen Artikel über die Geschehnisse in Haiti, in dem es heißt, daß die Insel „durch die Freierklärung der Neger eine Mördergrube“ wurde; er bewertet die Aktionen der Schwarzen extrem negativ (Hinweis von Bernd Fischer: Zur politischen Dimension der Ethik in Kleists Die Verlobung in St. Domingo, in: Heinrich von Kleist. Studien zu Werk und Wirkung, hrsg. von Dirk Grathoff, Opladen 1988, S. 248–262, hier S. 249). Übergreifend: Karin Schüller: Die deutsche Rezeption haitianischer Geschichte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ein Beitrag zum deutschen Bild des Schwarzen, Köln u. a. 1992, bes. S. 22–38. Vgl. auch: Urs Bitterli: Die ‚Wilden‘ und die ‚Zivilisierten‘. Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Bewegung, München 1976; Beverly Harris-Schenz: Black Images in Eighteenth-Century German Literature, Stuttgart 1981; Sander L. Gilman: On Blackness without Blacks. Essays on the Image of the Black in Germany, Boston 1982; Peter Martin: Schwarze Teufel, edle Mohren, Hamburg 1993; Susanne Zantop: Verlobung, Hochzeit und Scheidung in St. Domingo: Die Haitianische Revolution in zeitgenössischer deutscher Literatur (1792–1817), in: „Neue Welt“ / „Dritte Welt“. Interkulturelle Beziehungen Deutschlands zu Lateinamerika und der Karibik, hrsg. von Sigrid Bauschinger und Susan Cocalis, Tübingen und Basel 1994, S. 29–52.
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– Postkolonialismus und ‚Gender‘ – an den Text heranträgt.92 Zum Verständnis der Erzählung konnten derartige Erörterungen bisher nur partiell beitragen, weil trotz aller Bemühungen sich der Text nicht in einem kohärenten ‚Diskurs‘ unterbringen ließ und auch die Kreuzung unterschiedlicher ‚Diskurse‘ eher zum spekulativen Konstrukt eines Paratextes führte: zur Vorstellung eines Textes, wie er sich dargeboten hätte, wenn Kleist eine diskursanalytisch inspirierte Montage durchgeführt hätte. Die Ratlosigkeit erhellt aus einem kritisch musternden Überblick, der auf die Schlußfolgerung hinausläuft, Kleist sei das, was er in dieser Erzählung tut, „sehr bewußt“ gewesen: „erzählen“.93 Kompliziert aber wird gerade das Erzählen, wie man zu Recht immer wieder hervorgehoben hat, durch einen Erzähler, dessen Wertungen als unzulänglich erscheinen, so daß sich der Leser nicht nur zur Hinterfragung der Figurenperspektiven, sondern auch der Sicht des Erzählers herausgefordert sieht.94 Im Folgenden soll der konzeptionelle Zusammenhang aus der strukturellen Integration der in der Geschichte selbst erzählten Vorgeschichten und ihrer narrativen Funktionalisierung erschlossen werden.95 Dabei wird sich herausstellen, daß Kolonialismus 92
Vgl. Herbert Uerlings: Preussen in Haiti? Zur interkulturellen Begegnung in Kleists Verlobung in St. Domingo, in: KJb 1991, S. 185–201; ders.: Poetiken der Interkulturalität. Haiti bei Kleist, Seghers, Müller, Buch und Fichte, Tübingen 1997; Sigrid Weigel: Der Körper am Kreuzpunkt von Liebesgeschichte und Rassendiskurs in Heinrich von Kleists Erzählung Die Verlobung in St. Domingo, in: KJb 1991, S. 202–217; Hans Jakob Werlen: Seduction and Betrayal: Race and Gender in Kleist’s Verlobung in St. Domingo, in: Monatshefte 84, Nr. 4 (1992), S. 459–471; Hansjörg Bay: „Als die Schwarzen die Weißen ermordeten“. Nachbeben einer Erschütterung des europäischen Diskurses in Kleists Verlobung in St. Domingo, in: KJb 1998, S. 80–108; Paul Michael Lützeler: Verführung und Missionierung. Zu den Exempeln in Die Verlobung in St. Domingo, in: Kleists Erzählungen und Dramen. Neue Studien, hrsg. von Paul Michael Lützeler und David Pan, Würzburg 2001, S. 35–48. 93 Hans Peter Herrmann: Die Verlobung in St. Domingo. In: Kleists Erzählungen, hrsg. v. Walter Hinderer, Stuttgart 1998, S. 111–137. 94 Nach älteren Arbeiten, die bereits die Wertungen Gustavs kritisch relativieren (Peter Horn: Hatte Kleist Rassenvorurteile? Eine kritische Auseinandersetzung mit der Literatur zur Verlobung in St. Domingo, in: Ders., Heinrich von Kleists Erzählungen. Eine Einführung, Königstein 1978, S. 134–144; Sander L. Gilman: The Aesthetics of Blackness in Heinrich von Kleist’s Die Verlobung in St. Domingo, in: Gilman [wie Anm. 91], S. 82–92), problematisiert den Erzähler besonders Bernd Fischer (wie Anm. 91). Vgl. auch Ray Fleming: Race and the Difference It Makes in Kleist’s Die Verlobung in St. Domingo, in: The German Quarterly 65 (1992), H. 3–4, S. 306–317, sowie Herrmann (wie Anm. 93), S. 130f. Anders Uerlings (wie Anm. 92). 95 Der Nachweis einer integrierenden und funktionalisierenden Erzählstrategie, die den konzeptionellen Zusammenhang stiftet, steht im Gegensatz zu der dekonstruktivistischen Abhandlung Gerhard Neumanns zur Verlobung in St. Domingo: Anekdote und No-
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und Geschlechterproblematik nur Medien einer übergeordneten Geschichtsreflexion sind. Da Kleist in der Hermannsschlacht und im Homburg-Drama zum Befreiungskampf in Deutschland aufrief, hätte es für ihn nahegelegen, den Aufstand der Schwarzen auf St. Domingo und ihren siegreichen Befreiungskampf gegen die blutige Unterdrückungspolitik Bonapartes zum Vorbild zu erheben. Wäre dies seine Absicht gewesen, dann hätte er die Aktionen der Schwarzen in seiner Erzählung nicht auf die grauenerregende Szenerie von Congo Hoangos und Babekans Mördergrube konzentriert, mit der sich keinerlei positiver Appellcharakter verbindet – im Gegenteil. Sein Hauptinteresse richtete sich auf eine geschichtliche Problematik, die sich auch in mehreren anderen Werken erkennen läßt, in denen sich das Geschehen aus weit in die Vergangenheit zurück gehenden, aber die Gegenwart immer noch entscheidend bestimmenden Verhältnissen entwickelt. Da diese in seiner konsequent pessimistischen Geschichtsvelle: Zum Problem literarischer Mimesis im Werk Heinrich von Kleists [2000], in: Heinrich von Kleist. Neue Wege der Forschung, hrsg. von Inka Kording und Anton Philipp Knittel, Darmstadt 2003, S. 177–202. Neumann beruft sich (S. 196) zunächst auf eine dekonstruktivistische Deutung der literarischen Form der Anekdote durch den amerikanischen Historiker Joel Fineman (Joel Fineman: The History of the Anecdote: Fiction and Fiction, in: The New Historicism, hrsg. von H. Aram Veeser, New York/London: Routledge 1989, S. 49–76). Fineman behauptet, in einer Erzählung (Geschichte) präsentierte Anekdoten seien kontingent. Während die übergreifende Narration Anfang, Mitte und Ende habe und insofern teleologisch formiert sei, repräsentierten Anekdoten den Einbruch der Kontingenz in Gestalt eines sich nicht in den Zusammenhang fügenden „event“. Diese These ist schon deshalb unzutreffend, weil Anekdoten in übergreifenden Erzählzusammenhängen (‚Geschichten‘) sehr wohl völlig integriert sein können und dabei insbesondere zur Illustration oder Pointierung der übergreifenden ‚Historie‘, manchmal auch zur Charakterisierung von Akteuren dienen – man denke nur an die in Fontanes Romane eingestreuten Anekdoten. Abgesehen von der unhaltbaren dekonstruktivistischen Deutung des Anekdotischen durch Fineman ist Neumanns Übertragung der an sich schon verfehlten These auf Die Verlobung in St. Domingo nicht schlüssig. Er versucht die Geschichten von dem pestkranken Mädchen und von Mariane Congrève überhaupt erst zu „Anekdoten“ (im Sinne Finemans) zu deklarieren, und dies, obwohl sie offenkundig nicht sprengende „events“ im Erzählzusammenhang sind, sondern ganz im Gegenteil von dem diesem Erzählzusammenhang zugrundeliegenden Geschehen selbst in der Erinnerung wachgerufen und in die Geschichte als Vor-Geschichten und Orientierungsmuster geradezu hereingeholt und dementsprechend narrativ integriert werden. Demnach handelt es sich nicht um ein „poetologisches Konzept“, mit dem Kleist „die Friktion zwischen Anekdote und Novelle in Geltung setzt“ (Neumann, S. 197); ebensowenig findet der „Einbruch des Kontingenten in die Teleologie des Erzählens“ (S. 199) oder ein konstruktivistisch-dekonstruktivistisches Wechselspiel „zwischen Kontingenz und Providenz“ statt (S. 198).
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auffassung stets Mißstände sind, wirkt die Vergangenheit in die Gegenwart zerstörerisch hinein: so schon im Erstlingsdrama Die Familie Schroffenstein der auf die geschichtliche Ursünde der Eigentumsbildung zurückweisende Erbvertrag, so in der Penthesilea das in ferne Zeiten zurückreichende widernatürliche Amazonengesetz, und so hier die schon seit Jahrhunderten bestehende Versklavung der Schwarzen durch die Weißen. Alles gegenwärtige Geschehen steht im Bann der Vergangenheit. Nicht bloß in den konkreten Zuständen der Gegenwart, sondern mindestens ebensosehr in den Verhaltensweisen und Bewußtseinsstrukturen der Menschen wirkt sie fort. Sie werden zu Gefangenen und zu Opfern der Vergangenheit. Ringen sie um eine eigene, selbstbestimmte Gegenwart, so müssen sie tragisch scheitern, weil sich die Vergangenheit als übermächtig erweist. Nicht nur äußerlich, auch innerlich werden sie von ihr eingeholt, denn sie sind entsprechend sozialisiert und geprägt. Ihr Leben droht deshalb zur krisenhaften Aktualisierung von Vergangenem zu werden. Damit steht auch der Status des Individuellen und seines Spielraums in der jeweiligen Gegenwart zur Debatte. Wie sehr Vergangenes das gegenwärtige Geschehen bestimmt, zeigt sich schon an den beiden Hauptakteuren der mörderischen Anschläge auf flüchtige Weiße. Congo Hoango und Babekan handeln aus dem Bewußtsein des Unrechts, das ihnen in früherer Zeit von den Weißen angetan wurde: Congo Hoango, dessen Name noch die afrikanische Herkunft verrät, gedenkt „der Tyrannei, die ihn seinem Vaterlande entrissen hatte“ (222), Babekan macht ihr Haus zur Mördergrube für Weiße, weil ein weißer Mann sie wegen ihrer Hautfarbe im Stich ließ und durch einen Meineid ins Unglück stieß. Aber auch Gustav, der schutzsuchende Weiße, beschwört in der gefahrvollen Situation, in der sich seine Liebe zu Babekans Tochter Toni mit der Angst um sein Leben mischt, zwei frühere Geschichten herauf, die in ihrer konträren Konstellation seine schlimmsten Befürchtungen wie seine höchsten Hoffnungen spiegeln. Zunächst erzählt er von einem schwarzen Mädchen, das der erlittenen „Mißhandlungen eingedenk“ (223) ihren weißen Herrn in ihr Bett lockte, um ihn dort mit einer tödlichen Krankheit anzustecken. Die Gegengeschichte ist die von Mariane Congreve, seiner früheren Braut, die ihr Leben opferte, um ihn in den Wirren der Französischen Revolution vor der Guillotine zu retten. Vorgeschichten können also die Lebensschicksale und Verhaltensweisen der Menschen nicht nur faktisch in Ursache-Wirkungszusammenhängen bestimmen, wie dies an Congo Hoango und Babekan exemplarisch deutlich wird; sie können auch als Vorstellungen die Wahrnehmung der späteren Lebensrealität kodieren. Jede nicht durchschaubare Situation, wie diejenige, in der sich Gustav zunächst mit Toni befindet, ruft die verschiedenartigsten Erinnerungen wach, von denen keine eine sichere Orientierung für die Bewältigung der gegenwärti-
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gen Situation bietet.96 Zugleich aber besetzt die Erinnerung an Vorgeschichten die Vorstellungskraft der Menschen geradezu obsessiv. Alles Gegenwärtige beziehen sie auf Früheres, und umgekehrt übertragen sie Früheres auf die aktuelle Gegenwart. Dies zeigt sich besonders nach der Liebesnacht Gustavs mit Toni. „Er nahm sich“, so heißt es, „das kleine goldene Kreuz, ein Geschenk der treuen Mariane, seiner abgeschiedenen Braut, von der Brust; und, indem er sich unter unendlichen Liebkosungen über sie neigte, hing er es ihr als ein Brautgeschenk, wie er es nannte, um den Hals“ (238). Indem er ihr dieses Geschenk der Liebe macht, versucht er zugleich eine der beiden Vorgeschichten, die positive mit Mariane Congreve, auf das gegenwärtige Geschehen zu übertragen und es damit in einen positiven Deutungszusammenhang zu überführen. Umgekehrt hatte seine erste Erfahrung von Liebesnähe und Vertrauen mit Toni die Erinnerung an Mariane Congreve überhaupt erst wachgerufen und ihn dazu bewogen, die Geschichte ihrer Aufopferung zu erzählen. Gustav stellt sogar, und dies ist ein zentrales Textsignal jenseits aller äußeren Wahrscheinlichkeit, „eine wunderbare Ähnlichkeit“ (237) zwischen Toni und Mariane Congreve fest. So strömt Vergangenes in die Gegenwart ein, bis diese, über alle äußeren Unterschiede hinweg, zum Déjà vu gerät. Schon hier scheint jedwede gegenwärtige Identität in den Bann der Vergangenheit zu geraten. Noch mehr ist dies der Fall, als Toni selbst sich eine neue Identität zu geben sucht. Mit seiner eigentümlichen Vorliebe für das Kalkulatorische läßt Kleist die „Mestizin“97 Toni, die zu drei Viertel „weißes“ und zu einem Viertel „schwarzes“ Erbgut besitzt, den Wechsel zu 96 Hansjörg Bay: „Als die Schwarzen die Weißen ermordeten“, in: KJb 1998, S. 80–108, glaubt für den „Orientierungsverlust des Protagonisten“ „nur eine einzige Erklärung“ zu finden: „den Umsturz der ‚Rassenverhältnisse‘ in den haitianischen Befreiungskämpfen“ (S. 107), nachdem er von der Hypothese ausgegangen ist, daß die bisher bestehenden Rassenverhältnisse „für die Konstruktion der europäischen Identität“ „grundlegend“ gewesen seien (S. 80), folglich auch für die identitätstiftende Orientierung Gustavs. Insgesamt handelt es sich um eine Verselbständigung von Thesen, wie sie für vorgängig schon ideologisierte ‚Diskursanalysen‘ charakteristisch ist. Aus dem Text geht nur hervor, daß Gustav in eine konkrete Situation völliger Ungewißheit gerät, in der er orientierungslos nach Halt sucht, um sein Leben zu retten – nicht um sich seiner – angeblich vom kulturellen ‚Diskurs‘ erzeugten – Identität zu versichern. Kaum weniger spekulativ ist die Behauptung, der Umsturz der Rassenverhältnisse (der doch eigentlich nur ein Umsturz der Machtverhältnisse ist) sei „zusätzlich aufgeladen mit dem Umsturz der Geschlechterordnung“ (S. 107). Wo und inwiefern zeichnet sich in Kleists Erzählung ein „Umsturz der Geschlechterordnung“ ab? 97 Der über das spanische mestizo auf lateinisch mixtus zurückgehende Begriff ‚Mestize‘ bedeutet ursprünglich ganz allgemein ‚Mischling‘, später nimmt er die spezielle Bedeutung ‚Mischling zwischen Weißen und Indianern‘ an.
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einer neuen Identität als Weiße mit dem Übergewicht des entsprechenden Rassen-Erbes begründen. Als Mischling konnte sie zwar einige Zeit unter dem übermächtigen Einfluß des sie umgebenden Milieus für die Schwarzen agieren, aber die Liebe zu Gustav veranlaßt sie, nach ihrem weißen Vater zu forschen und sich schließlich sogar zur „Weißen“ zu erklären. Nicht nur in Handlungen, Entscheidungen, Erlebnissen und Vorstellungen, auch in Wertungen holt die Vergangenheit die Gegenwart ein. Zwar möchte Gustav die Versklavung der Schwarzen durch die Weißen nicht gutheißen, aber da dieses Verhältnis von Herrschaft und Knechtschaft „schon seit vielen Jahrhunderten auf diese Weise“ besteht, verurteilt er doch den Freiheitskampf der Schwarzen als „Wahnsinn der Freiheit“ (233). Weil das Unrecht alt ist, verwandelt es sich gewissermaßen in ein Gewohnheitsrecht, gegen das sich aufzulehnen verwerflich erscheint. So stark erweist sich die Kraft der Geschichte, daß sie Gustavs Wertung sogar bis in den offenkundigen Widersinn treibt: „Der Wahnsinn der Freiheit, der alle diese Pflanzungen ergriffen hat, trieb die Negern und Kreolen, die Ketten, die sie drückten, zu brechen […]“. Wenn „Ketten“ die Schwarzen drückten, so war ihr Freiheitsstreben nur natürlich und gerechtfertigt, nicht ein „Wahnsinn“. Zum „Wahnsinn“ wird es aus der Wertungsperspektive dessen, der die Verhältnisse, nur weil sie seit langem so bestehen, auch für legitim, akzeptabel und vielleicht sogar für notwendig hält. Am eindrucksvollsten gestaltete Kleist diese Befangenheit im 15. Auftritt der Penthesilea (V. 1902–1911), in dem Penthesilea den geliebten Gegner über die ihm rätselhafte Verfassung des Amazonen-Staats aufklärt. Als Achill erstaunt fragt, woher das „unnatürliche“ Gesetz des Amazonenstaats stammt, das die gesamte Lebensweise der Amazonen bestimmt, beruft sich die Königin auf seine seit langer Zeit bestehende Gültigkeit – und allein diese Länge der Zeit genügt ihr, um es unhinterfragt zu akzeptieren, ja es für „heilig“ zu halten. Kleists Reflexion der Geschichtsverfallenheit, die den Menschen in seinen Handlungen, Erfahrungen, Vorstellungen und Wertungen als unfrei erscheinen läßt, reicht noch weiter. Die Vergangenheit selbst ist nicht homogen, in sich abgeschlossen, vielmehr eine gestufte Zeitdimension, in der hinter einer Vergangenheit immer noch eine andere fortwirkt. Am Anfang steht eine Art Urverfehlung, die durch alles hindurchschlägt, so daß „jüngere“ Vergangenheiten, auch wenn sie ganz anders zu sein scheinen, doch letztlich von der Urverfehlung zeugen und von ihr eingeholt werden. Dieses Denkmuster entspricht, wie schon die Familie Schroffenstein erkennen läßt, Rousseaus Geschichtsphilosophie, die das Übel des gesellschaftlichen Daseins mit seinen Unrechtsverhältnissen auf die vom Ursprung entfremdende Eigentumsfixierung zurückführt.98 98 Vgl. Rousseau: Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes. Ed. Jacques Roger. Paris 1971, S. 205ff.
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In der Verlobung in St. Domingo repräsentiert die Verschleppung der Schwarzen aus ihrer ursprünglichen Heimat die zerstörerische Entfremdung vom Ursprung. Ihren krassen Ausdruck findet sie in der Versklavung: darin, daß Menschen zum Eigentum anderer werden. Und bezeichnenderweise ist Tonis Suche nach dem Ursprung, die sich im Nachforschen nach ihrem Vater, einem „reichen Marseiller“ Kaufmann (231) kundtut, vergeblich – er hat ihre Mutter um „einer jungen reichen Braut“ (232) willen im Stich gelassen. Daß der Verlust des Ursprungs alle späteren Übel verursacht und bis in die Gegenwart hinein mit unentrinnbarer Konsequenz nachwirkt, erhellt aus der Vorgeschichte Congo Hoangos, mit der die Erzählung beginnt. Sie mutet paradox an und soll gerade dadurch zu einem Nachdenken reizen, das die Oberfläche des Geschehens samt den Wertungen, mit denen der Erzähler seine Darstellung begleitet, durchstößt. Paradox ist zunächst vor allem, daß Congo Hoango seinem weißen Herrn einst das Leben rettete, später aber eine Kugel durch den Kopf jagt, ohne hierfür einen persönlichen Anlaß zu haben – ganz im Gegenteil, sein Herr hat ihn zum Dank für die Rettung des Lebens mit „Wohltaten“ überhäuft. Wie konnte er, „der in seiner Jugend von treuer und rechtschaffener Gemütsart schien“, zu dem „fürchterlichen“ Menschen werden, als der er sich nach Ausbruch des Aufstands gegen die Kolonialherrschaft erweist? Und warum stellte Kleist so eindringlich die „Wohltaten“ dar, die er erfahren hat? Hätte er nur eine perverse Undankbarkeit demonstrieren und das Rassenvorurteil gegen die Schwarzen bestätigen wollen, dann würde Congo Hoango nicht in einer früheren Situation als Lebensretter auftreten und Babekan wäre nicht durch die einst erfahrene unmenschliche Behandlung traumatisiert. Prangert er umgekehrt die Kolonialherrschaft der Weißen an, um im Sinne der – vom Erzähler als „unbesonnen“ bezeichneten – „Schritte des Nationalkonvents“ für die Verwirklichung der Menschenrechte zu plädieren? Warum aber malt er dann das Verhalten Congo Hoangos und seiner Gehilfin so gräßlich aus, daß kein gefühlshafter Appell zustandekommt? Pessimistisch diagnostiziert Kleist das Aporetische der gegenwärtigen Situation. Der „Anfang dieses Jahrhunderts“ (222), der gleich zu Beginn die Aktualität des Geschehens markiert, läßt keinen Raum für Hoffnungen und Lösungen, weil die schon „seit vielen Jahrhunderten“ (233) bestehenden Verhältnisse nicht bloß die soziale Realität, sondern auch die Verhaltensweisen, das Empfinden und das Bewußtsein der Menschen in verhängnisvoller Weise geprägt haben. Diese Aporie zeigt sich schon in der Vorgeschichte Congo Hoangos, die insofern nicht bloß den äußeren Handlungszusammenhang exponiert. Denn in ihr überlagert die kollektive Urgeschichte, die Verschleppung in die Sklaverei, das spätere Geschehen so sehr, daß sie jede individuelle Tat entwertet. Dies gilt sowohl für Congo Hoango selbst wie für seinen weißen Herrn. Individuell und gleichsam noch geschichtslos-menschlich handelt Congo Hoango bezeichnen-
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derweise nur in seiner Jugend, als er seinem Herrn das Leben rettet. Später aber macht ihn das geschichtlich kollektive Los seiner Rasse zum heimtückischen Mörder. Es stachelt ihn zu einer Rache an, die sich ins Exzeßhafte der „Rachsucht“ (223) auswächst, weil die lange geschichtliche Fortdauer des Unrechts zu einer Deformation geführt hat, deren negatives Potential sich nun entlädt. Auch die „Wohltaten“, die ihm sein Herr aus Dankbarkeit für die Rettung des Lebens erwiesen hat, vermögen daran nichts zu ändern. Schon die Darstellung dieser Wohltaten, die als individuell gute Handlungen seines Herrn keinem Zweifel unterliegen, rückt diese doch in ein geschichtliches Zwielicht, denn sie erscheinen nur als partielle und sekundäre Wiedergutmachungen einer generellen primären Unmenschlichkeit, die sie keineswegs ungeschehen machen können. Wenn Congo Hoango von seinem Herrn aus Dankbarkeit sofort „seine Freiheit“ geschenkt erhält, so ist dies bloß ein Ersatz für die Freiheit, die ihm aufgrund des kollektiven Sklavenstatus vorenthalten blieb. Das natürlich zustehende Menschenrecht wird „geschenkt“. Und daß er ihm, der als Sklave eigentumslos war, bald darauf „Haus und Hof anwies“, erscheint ebenso als sekundärer Ersatz. Die afrikanische Heimat erhält er damit nicht wieder. Dieses Moment einer bloßen Kompensation aus zweiter Hand scheint Kleist noch zu pointieren, indem er den Erzähler in eigentümlich technischer Ausdrucksweise berichten läßt, Herr von Villeneuve habe dem Congo Hoango, weil dieser nicht wieder heiraten wollte, „an Weibes Statt eine alte Mulattin, namens Babekan, aus seiner Pflanzung“ „beigelegt“ (222). Alles wird von einem andern entschieden, und selbst wenn es gut gemeint ist, so handelt es sich doch um Erfahrungen, die Abhängigkeit spüren lassen, mit Entfremdung verbunden sind und untergründig demütigend wirken. Kleist scheint gerade den psychischen Folgen von „Wohltaten“ und insbesondere von kompensatorischen Akten seine besondere Aufmerksamkeit zugewandt zu haben, denn in der zeitlich benachbarten Erzählung Der Findling spitzte er diese Problematik noch zu.99 Babekans Vorgeschichte ist einfacher. Sie rächt sich nicht trotz empfangener Wohltaten, sondern im Gegenteil aufgrund schwerer, ihr ganzes Leben stigmatisierender Mißhandlungen. Was sie erlitten hat, führt in linearer Konsequenz zur Gegenwart, und so handelt sie haßerfüllt aus dem unmittelbaren Bewußtsein eines zerstörten Lebens. Sowohl ihr wie Congo Hoangos reaktives Handeln zeugt von unaufhebbarer Verfallenheit an die Vergangenheit. Indirekt erscheint damit die Französische Revolution selbst, die den Hintergrund der Geschehnisse in St. Domingo bildet, als reaktives, weil im Banne einer schlechten Vergangenheit stehendes und nicht als ein in eine bessere, menschlichere Zukunft führendes Geschehen. Diese Perspektivierung verrät die geschichtliche Naher99
Vgl. hierzu S. 266.
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fahrung des revolutionären Terrors, den die Binnenerzählung von Mariane Congreve einblendet und der in den mörderischen Aktionen Congo Hoangos und Babekans seinen kolonialen Ableger erhält. Bekräftigt wird diese pessimistische Sicht der Geschichte durch Ereignisse, die den Teufelskreis zu durchbrechen scheinen. Denn als augenblickshafte Ausnahme-Ereignisse bewirken sie nur einen kurzen Hiat in der fatalen Kontinuität des reaktiven Geschehens. Es sind Momente der Menschlichkeit in einer unmenschlichen Gesamtgeschichte.100 In dieser Hinsicht entspricht die Liebesgeschichte zwischen Toni und Gustav derjenigen zwischen Agnes und Ottokar in der Familie Schroffenstein, aber nun psychologisch vertieft und ins Tragische gesteigert. Die ganze Grundkonstellation des Erstlingsdramas wiederholt sich: Dort manifestiert sich die haßerfüllte Trennung der eigentlich zu einer „Familie“ gehörenden Menschen in der tödlichen Verfeindung der beiden Zweige der Schroffensteiner, des Hauses Rossitz und des Hauses Warwand; hier im mörderischen Kampf zwischen „Weißen“ und „Schwarzen“; und wie im Erstlingsdrama vermögen nur die Liebenden für einen Augenblick den Abgrund zu überbrücken, der sie dann doch verschlingt. Ins Extreme steigert Kleist das Moment tragischer Täuschung, das schon im Erstlingsdrama und dann in der Penthesilea das Geschehen bestimmt. Denn in einer von Haß und Kampf schon entstellten Welt kann es Schutz oder Rettung paradoxerweise nur durch Verstellung (in der Familie Schroffenstein: Verkleidung) geben – die dann ihrerseits aber auf die Liebenden verderblich zurückschlägt. Sogar die äußerste Gefühlsgewißheit wird an den Zwängen der Realität zuschanden. Es ist ja nicht nur die Liebesnacht, welche Toni und Gustav vereinigt; nach jener für Kleist so typischen Frage am Anfang: „Wer bist du?“ (225), die auch in der Anagnorisis zwischen Achill und Penthesilea von wesentlicher Bedeutung ist, kommt es nun zu einer untrüglichen Anagnorisis, als Toni sich über den in einem tiefen „Traum“ liegenden Geliebten neigt und ihn „beim Namen“ ruft, worauf er in seinem Traum, „von dem sie der Gegenstand zu sein 100
Der in der Kleist-Literatur oft wiederholte Hinweis auf den sogenannten „Inkle und Yariko“-Stoff als Vorbild für die Verlobung in St. Domingo ist auch unter diesem Aspekt wenig überzeugend. Nachdem im Jahre 1711 Richard Steele diese Geschichte von der edlen Wilden Yariko und ihrem ungetreuen englischen Liebhaber Inkle populär gemacht hatte, folgten zahlreiche ähnliche Versionen, auch in deutscher Sprache, so diejenigen von Gellert (1746) und Bodmer (1756). In dieser Geschichte rettet die Indianerin Yariko den schiffbrüchigen englischen Kaufmann, der sich in sie verliebt, ihr die Ehe verspricht und sie in seine Heimat mitnimmt. Dort aber verkauft er sie in die Sklaverei. Mit der Menschlichkeit der edlen Wilden kontrastiert die unmenschliche schnöde Gewinnsucht des Zivilisationsmenschen. Gerade dieses Schema paßt nicht zu Kleists Erzählung, denn weder verkörpert die zunächst noch als mörderischer Lockvogel dienende Toni den Typus der edlen Wilden noch ist Gustav gewinnsüchtig und untreu.
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schien“, ihren Namen „Toni!“ flüstert (248).101 Aber das Täuschungsmanöver, zu dem sie dann Zuflucht nehmen muß, um ihn zu retten, ist für ihn selbst so undurchschaubar, daß er den tödlichen Schuß auf sie abfeuert. In aufschlußreicher Analogie richtet Penthesilea, nachdem sie Achills ebenfalls aus Liebe unternommenes Scheinmanöver nicht zu durchschauen vermochte, den Geliebten im Furor einer sich getäuscht fühlenden Liebe zugrunde. Allerdings entsprechen Tonis letzte Worte: „du hättest mir nicht mißtrauen sollen!“ (259) nicht, wie man immer wieder gemeint hat, dem „Mißtrauen“ in der Familie Schroffenstein, denn dort entsteht das Unheil aus einem schon von vornherein alles vergiftenden Mißtrauen; Toni dagegen beruft sich auf die untrügliche Liebeserfahrung als letzten Vertrauensgrund gegen eine Realität, die so trügerisch ist, daß ihr kein menschliches Ermessen standzuhalten vermag. Daran zeigt sich die Unentrinnbarkeit geschichtlicher Verhältnisse. In ihnen, so lautet die düstere Botschaft dieser Erzählung, erhält das wahrhaft Menschliche nur einen engen, tödlich angstbesetzten Spielraum, und auch diesen nur, um schließlich doch zu scheitern.
5. Das Bettelweib von Locarno. Die Katastrophe einer überlebten Ordnung Dem aufklärenden Licht der Vernunft stellten die Romantiker gerne das Dunkel des Geheimnisvollen entgegen, der Helle des Bewußtseins die rätselvolle Tiefe unbewußten Erlebens. Gerade damit aber vertieften sie den Prozeß der Aufklärung, sofern sie sich nicht dem Obskurantismus verschrieben, sondern in bisher unerschlossene Schichten der Psyche vordrangen. Der Normierungsdruck aufgeklärt-rationalen Denkens weckte nicht zuletzt ihr Interesse am Abnormen und nicht Geheuren. Da Kleist wie kaum ein anderer in der Verwerfungszone von Aufklärung und Romantik stand und sowohl die Antagonismen wie den dialektischen Zusammenhang empfand, gestaltete er mit der gesteigerten Wachheit des Grenzgängers die Ambivalenz des historischen Umbruchs. Seine kürzeste Erzählung, deren Erstdruck am 11. Oktober 1810 in den Berliner Abendblättern stand, umfaßt kaum drei Seiten und erinnert mit ihrem aufs äußerste gerafften Duktus an einige seiner Anekdoten. Während er aber als Anekdotenerzähler mit Vorliebe den Kontrast zwischen der historischen ‚Wahrheit‘ eines Ereignisses und seiner Unwahrscheinlichkeit exponiert, um den Leser dem Reiz des Paradoxen auszusetzen, entwirft er hier eine Gespen101 Die Funktion des Traumhaft-Unbewußten übergeht Bay (Anm. 96) in seiner diskursanalytischen Darstellung, wenn er Gustavs Liebe zu Toni zum bloßen Liebes-„Programm“ reduziert (S. 106) und gar von „enormen Affektbeträgen“ spricht, die er in seine „Liebeskonzeption“ „investiert“ (S. 107).
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stergeschichte, die Zweifel an ihrem prinzipiellen Realitätsbezug erregt.102 Vordergründig folgt Kleist der besonders von der ‚Gothic Novel‘ ausgehenden romantischen Mode der Gespenstergeschichten, um mit den Schauern des Unheimlichen Wirkung zu erzielen. Bekanntlich eigneten sich für derartige literarische Inszenierungen am besten die Kulissen alter Schlösser, wie schon im Urmuster der Gattung, in Horace Walpoles The Castle of Otranto (1764) und dann in Ann Radcliffes 1794 erschienenem Erfolgsroman The Mysteries of Udolpho. Nachdem bereits Jean Paul in der Unsichtbaren Loge (1793) und im Siebenkäs (1796/97) Gespenster-Episoden präsentiert hatte, wurden sofort mit Beginn der Romantik ganze Sammlungen von Gespenstergeschichten populär, so Samuel Christian Wagners Sammlung Die Gespenster, die 1797/98 in zwei Bänden erschien. Ihr Erfolg veranlaßte den Herausgeber alsbald zu einer ebenfalls zweibändigen Folge-Kollektion unter dem Titel Neue Gespenster (1801/ 1802). Von 1811 bis 1817 kam gar ein siebenbändiges Gespensterbuch heraus.103 E. T. A. Hoffmann, den manche „Gespenster-Hoffmann“ nannten und der nicht umsonst in einem Brief Kleists Bettelweib von Locarno nennt104, griff besonders in seiner Erzählung Das Majorat dieses Genre auf, Grillparzer hielt sich daran in seinem romantisch inspirierten Erstlingswerk Die Ahnfrau (1817); als ferner Wiedergänger mutet das Gespenst an, dem Fontane in Effi Briest eine prominente Rolle zuweist – dem realistisch konzipierten Gesamtgeschehen entsprechend psychologisiert er es konsequent. Wie fast alle Erzähler von Gespenstergeschichten taucht Kleist seine Erzählung nicht nur in das Fluidum des Unheimlichen, sondern auch des Verhängnisvollen. Eine schicksalhafte Konsequenz treibt den Schloßbesitzer in die Katastrophe. Die ganz auf Rapidität angelegte narrative Sequenzierung markiert den unaufhaltsam schicksalhaften Zug des Geschehens. Nach der Anfangsszene gehorcht es bezeichnenderweise 102
Deshalb beschränkte sich Emil Staiger auf eine strikt formale, dem dramatischen Stil gewidmete Studie: E. S.: Heinrich von Kleist, Das Bettelweib von Locarno. Zum Problem des dramatischen Stils [1942], in: Heinrich von Kleist. Aufsätze und Essays, hrsg. von Walter Müller-Seidel, Darmstadt 1967 (Wege der Forschung 147), S. 113–129. Dagegen: Christian Grawe, Das Bettelweib von Locarno: Eine Geschichte, die „eines tiefren ideellen Gehalts entbehrt“?, in: Ch. G.: Sprache im Prosawerk, Bonn 1974, S. 89–97. Vgl. auch Jürgen Kreft: Kleists Bettelweib von Locarno. Naiver oder kritischer Geisterdiskurs?, in: KJb 1997, S. 185–201. 103 Gespensterbuch, hrsg. von August Apel und Friedrich Laun. [7 Bde.] Leipzig 1810–1817. Bd. 1–4 enthalten Gespenstergeschichten im engeren Sinn, Bd. 5–7 unter dem Titel Wunderbuch, hrsg. von Friedrich de la Motte Fouqué und Friedrich Laun, ‚wunderbare‘ Geschichten. 104 E. T. A. Hoffmanns Briefwechsel, gesammelt und erläutert von Hans von Müller und Friedrich Schnapp, hrsg. von Friedrich Schnapp, Bd. 2, Berlin 1814–1822, München 1968, S. 250 (Brief vom 1. Mai 1820 an Speyer in Bamberg).
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nur noch obsessiven Wiederholungszwängen. Und indem der Erzähler sogleich am Beginn mit der Erwähnung des jetzt „in Schutt und Trümmern“ liegenden Schlosses auf das katastrophale Ende vorausweist, perspektiviert er von vornherein das gesamte Geschehen als zerstörerisch. In der Draperie der romantischen Gespenster-Mode scheint sich zunächst nur das einfache moralische Fabula docet zu verbergen: Begangenes Unrecht findet seine Strafe. Dann wäre das unheilbringende Gespenst nur die Ausgeburt eines wohltuenden Glaubens an die in der Welt waltende höhere Gerechtigkeit. Eine solche Lesart stünde in eklatantem Widerspruch zu Kleists anderen Werken, die weder eine moralische Weltordnung kennen noch das Wirken der Vorsehung in Szene setzen – ganz im Gegenteil. Eine sozialkritische Perspektive ergibt sich aus der Überlegung, daß der durch die gespenstische Wiedererscheinung des Bettelweibs verursachte Ruin des Marchese das über alles bloß Individuelle hinausreichende Schicksal einer – historisch immer noch führenden – Adelsschicht prophezeit, welche ihre soziale Verantwortung nicht wahrnimmt und davon verhängnisvoll-gespenstisch eingeholt wird. Die ominöse Behandlung eines Bettlers durch einen adligen Schloßherrn in Goethes gleichzeitig entstandenen Wahlverwandtschaften bietet eine aufschlußreiche Analogie, auch wenn es Goethe bei einer bloßen Andeutung beläßt. In Kleists Werk selbst ist der Michael Kohlhaas das markanteste Zeugnis sozialer Anklage gegen einen Adel, der sich im hybriden Bewußtsein seiner Privilegien menschenverachtend über die Nicht-Privilegierten glaubt hinwegsetzen zu können. Das Geschehen am Ende des Michael Kohlhaas entspricht in bemerkenswerter Weise dem der Kurzerzählung. Wie hier das durch den Marchese zu Tode gekommene Bettelweib gespenstisch wiedererscheint, so im Michael Kohlhaas die durch eine Palastwache tödlich verletzte Frau des Kohlhaas. Sie verschmilzt mit der Gestalt der geheimnisvollen Zigeunerin, die früher schon den Untergang des in das Unrecht verstrickten Herrscherhauses prophezeit hat und am Schluß die Rache des Kohlhaas am sächsischen Kurfürsten vollenden hilft. Über die sozialkritische Unheilsprophezeiung hinaus gewinnt die Gespenstergeschichte eine psychologische Dimension. Der florentinische Ritter, der dem Marchese das Schloß abkaufen wollte und dort eine Nacht zubrachte, erzählt entsetzt von der Gespenster-Erscheinung. Dabei stellt er den Vorgang in allen Details so dar, wie er sich in Wirklichkeit ereignete, nachdem der Marchese das Bettelweib unwillig in einen Winkel des Zimmers verwiesen hatte. Dies ist der ‚erregende Moment‘. „Der Marchese“, so heißt es, „erschrocken, er wußte selbst nicht warum, lachte den Ritter mit erkünstelter Heiterkeit aus […]“. Der Schloßherr wird nicht nur von seinem Fehlverhalten eingeholt und schon gar nicht erschrickt er bloß im Hinblick auf den nun schwierig werdenden Verkauf seines Schlosses. Vielmehr ereignet sich ein psychischer Durchbruch jenseits der erkennbaren Kausalzusammenhänge. Das Erschrecken des Marchese setzt
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eine perniziöse Eigendynamik in Gang. Die immer neuen Wiederholungen der Gespenstererscheinung, die ihrerseits nur die reale ‚Urszene‘ mit dem Bettelweib von Locarno wiederholen105, deuten auf eine obsessive Verfallenheit an das Vergangene. Unaufhaltsam und vermittlungslos zerstört die gespenstisch wiederkehrende Vergangenheit die Gegenwart und jedwede Lebensmöglichkeit. Nur vordergründig liegt das Problem darin, daß der in wirtschaftliche Schwierigkeiten geratene Marchese keinen Käufer mehr für sein Spukschloß findet. Er selbst verfällt, indem er den Spuk kontrollieren will, dem Unheimlichen. „Erschüttert“ stellt er fest, daß es „mit dem Spuk seine Richtigkeit habe“, und nun greift der Schrecken auf alles im Schloß über. Von der Marquise heißt es, daß sie „erschrak“, und zwar „wie sie in ihrem Leben nicht getan“, selbst der Hund weicht vor dem Gespenst aus, die Marquise stürzt „mit sträubenden Haaren“ aus dem Zimmer und verläßt das Schloß, der Marchese, „von Entsetzen überreizt“, zündet das Schloß an und geht selbst in den Flammen unter. Kataraktisch beschleunigt sich das Geschehen bis zu der für Kleist so charakteristischen Selbstzerstörung. Eine lediglich moralische Selbstsubversion kann nicht so weit gehen. Es handelt sich um eine zwanghaft verlaufende Totalisierung und Radikalisierung. Das Treiben des Gespenstes repräsentiert ein Geschehen, das den Schloßherrn und die Seinen ‚gespenstisch‘, weil undurchschaubar und unbeherrschbar ergreift. Es radikalisiert sich von dem „Wunsch, das Schloß, es koste, was es wolle, los zu werden“ bis zum Anzünden des Schlosses und zum selbstgewollten Tod in den Flammen. Kleist gestaltet hier einen Prozeß, der nicht nur auf seinen äußeren Anlaß zurückweist. Das erstmalige Erscheinen des Gespenstes markiert den Moment, in dem jäh eine katastrophische Disposition aus dem Stadium der Latenz heraustritt. Es handelt sich nicht bloß um eine individualpsychologisch zu verstehende Entfesselung des Triebes zur Selbstzerstörung, sondern um eine psychohistorische Diagnose, insofern die innere Verfassung einer Gesellschaftsschicht zum Vorschein kommt, die sich selbst überlebt hat – nicht zufällig ist der Marchese am Ende „müde seines Lebens“. Deshalb erliegt diese Gesellschaftsschicht einem unheimlichen Sog zur Selbstzerstörung. Vor dem Ausbruch der Französischen Revolution hatte sich diese Tendenz weithin erkennbar gezeigt. Und in den Jahren, in denen Kleist schrieb, verstärkte sich der Eindruck von der Überlebtheit der Adelswelt, ja von ihrem trotz aller Reformversuche letztlich besiegelten Schicksal. Goethe gestaltete, nachdem er noch in seinem 1796 erschienenen Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre Hoffnungen auf 105 Als Inszenierung eines Geschlechterkampfs deutet die Konstellation Gerhard Schulz: Kleists Bettelweib von Locarno – Eine Ehegeschichte?, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 18 (1974), S. 431–440. Vgl. auch Gero von Wilpert: Der Ausrutscher des Bettelweibs von Locarno. ‚Capriccio con fuoco‘, in: Seminar 26 (1990), S. 283–293.
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einen reformfähigen Adel gesetzt hatte, in den gleichzeitig mit Kleists Kurzerzählung erschienenen Wahlverwandtschaften sowohl die Stagnation und Überlebtheit wie die daraus resultierenden selbstzerstörerischen Tendenzen der Adelsgesellschaft bis hin zu einem düster-tödlichen, allenfalls noch einbalsamierten Ende. Hundert Jahre später führte Arthur Schnitzler in seinem Stück Der grüne Kakadu vor, wie der Adel am Vorabend der Französischen Revolution seinen eigenen Untergang „spielt“ und damit seine dekadente Bereitschaft zur Selbstaufgabe inszeniert. Kleist steigerte die Auswirkungen des selbstzerstörerischen Potentials ins Gespenstische, nicht ohne die äußerlich-ökonomische Komponente miteinzubeziehen: die Verarmung vieler Adelsfamilien, die er am eigenen Leibe erfuhr. In der Kurzerzählung ist der Marchese „durch Krieg und Mißwachs“ in „bedenkliche Vermögensumstände“ geraten. Daß er deshalb sein Schloß verkaufen muß, erscheint als das ökonomische Menetekel der übergreifenden Untergangsverfallenheit, die ihn gespenstisch ergreift. Daher versucht er das Schloß, „es koste, was es wolle, los zu werden“. Das Gespenst, „jemand, den kein Mensch mit Augen sehen kann“, ist die unsichtbare, aber gerade darum unheimliche und unwiderstehliche Furie des eigenen Verschwindens. Einige Jahrzehnte später eröffnete Marx das Kommunistische Manifest mit dem Satz: „Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus“. Kleist hat noch nicht dieses Gespenst beschworen. Aber der Ruin des Schlosses und seines Besitzers, dessen von den „Landleuten“ zusammengetragene „weiße Gebeine in dem Winkel des Zimmers, von welchem er das Bettelweib von Locarno hatte aufstehen heißen“, „noch jetzt liegen“, signalisieren den Untergang einer alten Welt und zugleich dessen gesellschaftliche Hauptursache. Sie verbindet sich mit der inneren Katastrophendisposition einer überlebten Ordnung. So überlebt ist sie, daß der Marchese und seine Frau in die tödliche Schlußbegegnung ihren Hund mit sich nehmen – wie in der „unwillkürlichen Absicht“, noch etwas „Lebendiges“ bei sich zu haben (263).
6. Der Findling. Identität als aporetisches Projekt Das Problem der Identität steht schon im Zentrum des Amphitryon: Alkmenes innere Gefühlsgewißheit wird erschüttert, und Amphitryon fühlt sich durch seinen göttlichen Doppelgänger „entamphitryonisiert“, wie es in Anlehnung an Molières scherzhafte Prägung heißt. Die Unverwechselbarkeit des Individuums, das seine existentielle Selbstgewißheit nur gewinnt, indem es sich als singuläre und konsistente Person erfährt, gerät in Zweifel, und dies in einer Zeit, die sich dem Kult des Individuums und des ‚Subjekts‘ verschrieb. Das Geschehen des Amphitryon konzipierte Kleist so, daß an der Titelgestalt selbst eine mehrfach
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geschichtete Identität, die des siegreichen thebanischen Feldherrn, die des stolzen Ehemanns und die des Herrn, der im Vollgefühl der Autorität mit seinen Dienern verkehrt, so gründlich und so lange angefochten wird, bis am Ende alle diese Schichten abgetragen sind. Alles, woraus Amphitryon bisher sein Selbstbewußtsein ableitete und worauf er seine Identität gegründet glaubte, verflüchtigt sich. Schließlich erscheint er als ein „Mann ohne Eigenschaften“ avant la lettre. Nachdem sich alle „Eigenschaften“, samt denjenigen, die er in der Rolle des Ehemanns beanspruchte, aufgelöst haben, stellt sich am Ende des Stücks immer mehr heraus, daß sein letzter und einziger Halt Alkmenes Liebe ist. Identität, so läßt das Geschehen erkennen, kann es nur in der gefühlshaft vollkommenen Selbsterfahrung durch die Liebe eines anderen Menschen und in der Liebe zu einem anderen Menschen geben. „Eigenes“ gibt es nur scheinbar. Deshalb glaubt Amphitryon ins Bodenlose zu stürzen, als er gegen Ende befürchten muß, daß er Alkmenes Liebe verliert, indem sie sich für seinen göttlichen Doppelgänger entscheidet. Seine innere Balance gewinnt er erst zurück, als er erkennt, daß sie in Jupiter letztlich doch ihn selbst liebt, allerdings seine von ihr „ins Göttliche verzeichneten“ Züge – bei pessimistischer Lektüre: ihre eigene Liebesillusion. Im Findling, der lediglich im zweiten Band der Erzählungen von 1811 überliefert ist, entwirft Kleist die entgegengesetzte literarische Versuchsanordnung. Hier geht er nicht von einer schon fixierten und gesellschaftlich-rollenhaft konfektionierten Identität aus, um sie Stück für Stück zu demontieren, vielmehr setzt er umgekehrt bei der Leerstelle einer identitätslosen Existenz an, wie sie später die Phantasie der Dichter in der Gestalt Kaspar Hausers herausforderte. Der Findling ist aus allen Lebenszusammenhängen herausgefallen, ohne Eltern, ohne Heimat, dem bloßen Zufall überlassen – „Gottes Sohn“, wie man dem Güterhändler Piacchi sagt, als er sich näher erkundigt, bevor er ihn mit auf die Reise und dann in sein Haus nimmt. Indem man ihm noch versichert, daß „niemand ihn vermissen würde“, erscheint der Findling selbst als ein Niemand. Wie wird sich die Gesellschaft in dieses personale Neutrum einschreiben? Kann sich dabei Identität herausbilden? Wie um die vom Naivitätskult des 18. Jahrhunderts grundierte zeitgenössische Verherrlichung des Kindes und seiner „grenzenlosen Bestimmbarkeit“106 zu widerrufen, präsentiert Kleist den Findling Nicolo in einer rätselhaft „starren Schönheit“, wobei er „seine Mienen niemals veränderte“ (266 f.); „ungesprächig und in sich gekehrt“, vermag er sich nur auf sich selbst zu beziehen; während der alte Piacchi um seinen gestorbenen Sohn weint, knackt er Nüsse. 106
Über naive und sentimentalische Dichtung, in: Friedrich Schiller: Sämtliche Werke und Briefe, hrsg. von Otto Dann u. a., Bd. 6: Theoretische Schriften, hrsg. von Rolf Peter Janz, Frankfurt 1992, S. 709.
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Hypothetisch käme es darauf an, durch Einordnung dieser bezugslosen und beziehungsunfähigen Existenz in ein authentisches Familien- und Gesellschaftsleben – ob es dies überhaupt gibt, bleibt bei Kleist allerdings grundsätzlich zweifelhaft – aufgrund genuiner Identifikations- und Beziehungserfahrungen Identität zu bilden. Das Gegenteil geschieht. In einem Abschnitt von kaum mehr als einer Seite (267 f.) führt Kleist vor, wie der Findling Nicolo in das System der familiären und gesellschaftlichen Normen eingewiesen wird. Man bietet ihm das Bett des verstorbenen Sohns „zum Lager“ an; man schenkt ihm „sämtliche Kleider desselben“; man schickt ihn „in die Schule, wo er Schreiben, Lesen und Rechnen lernte“; man stellt ihn im Kontor an, wo er alsbald die „Geschäfte“ auf „das tätigste und vorteilhafteste verwaltete“; man verheiratet ihn mit einer Nichte der Stiefmutter, damit das „Übel“ einer fehlgeleiteten Sexualität „an der Quelle verstopft“ wird. Schließlich erklärt ihn Piacchi zum Erben seines „Vermögens“. Nicht umsonst stellt Kleist diesen Sozialisationsprozeß als beinahe mechanisch-rasche Abfolge von Maßnahmen dar, die lediglich der Rollenzuweisung dienen. Der Grundzug des Unauthentischen verschärft sich, indem schon in der Sphäre der Primärsozialisation alles das Stigma des Sekundären trägt:107 Nicolo schlüpft in das Bett und in die Kleider des verstorbenen Sohnes, und die gefühlsmäßige Zuwendung, die er erfährt, ist ein kompensatorischer Übertragungsvorgang: Der alte Piacchi, so heißt es, hatte „den Jungen in dem Maße lieb gewonnen, als er ihm teuer zu stehen gekommen war“. So ist Nicolo von Anfang an nie er selbst, er kann keine eigene Identität gewinnen, und dies nicht etwa, weil ihn die Menschen schlecht behandeln, sondern weil die Verhältnisse alles schon fixiert haben. Wie um den Zug des Sekundären oder jedenfalls Austauschbaren noch zu pointieren , ist davon die Rede, daß der alte Piacchi mit einem Handelsgehilfen unzufrieden ist und „statt seiner“ Nicolo in dem Kontor anstellt. In diesem Horizont eines unauthentischen Daseins inszeniert Kleist nicht bloß eine einmalig verhängnisvolle Extremsituation. Gleichsam unter Laborbedingungen holt er zerstörerische Potentiale des menschlichen Daseins ans Licht. Im Vorfeld seiner destruktiven Aktivitäten zeigt der Findling sowohl eine 107
Auf die bloßen Stellvertreterfunktionen des Findlings macht Jürgen Schröder in seinem wegweisenden Aufsatz: Kleists Novelle Der Findling. Ein Plädoyer für Nicolo, in: KJb 1985, S. 109–127 aufmerksam. Im Unterschied zu Schröders Ausführungen versuche ich allerdings das Geschehen nicht als Automatik einer „Erzählmaschine“, vielmehr durchgehend psychologisch und historisch zu verstehen. Trotz zahlreicher Beiträge zum Findling hat die Forschung seit Schröders Abhandlung keinen nennenswerten Fortschritt erzielt. Zu den Spuren, die der zeitgenössische Schauerroman von Matthew G. Lewis The Monk im Findling (wie schon im Erdbeben) hinterlassen hat, vgl. Peter K. Jansen: „Monk Lewis“ und Heinrich von Kleist, in: KJb 1984, S. 25–84.
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Tendenz zur „Bigotterie“ wie auch einen früh sich auswirkenden „Hang für das weibliche Geschlecht“. Wenn in seinem Leben alles unauthentisch und sekundär ist, dann liegt es nahe, daß er seine Defizite im Bereich des Imaginativen und Emotionalen kompensiert. In dieser Perspektive erscheint die „Bigotterie“ als unbewußter Versuch Nicolos, in der Religion einen Ersatz für das ihm in der Realität Vorenthaltene zu gewinnen, und in seinem „früh“ sich verratenden „Hang zum weiblichen Geschlecht“ bricht nicht bloß sein Sexualtrieb durch – er weicht auch dem emotionalen Vakuum des Hauses Piacchi aus. Drastisch gibt Kleist zu erkennen, daß der Findling selbst bei solchen Fluchtversuchen in einen festgelegten Interessen- und sogar Mißbrauchszusammenhang gerät: Die Karmeliter-Mönche beziehen ihn in ihren Umgang ein, weil sie es auf sein Erbe abgesehen haben, und „schon in seinem fünfzehnten Jahre“ wird er „bei Gelegenheit dieser Mönchsbesuche, die Beute der Verführung einer gewissen Xaviera Tartini, Beischläferin ihres Bischofs“ (267f.). Nach der Verheiratung Nicolos und nachdem er das Erbe des alten Piacchi angetreten hat, ist die Schwelle zwischen dem nunmehr abgeschlossenen Sozialisationsprozeß108 und der Entladung der zerstörerischen Energien erreicht, die sich in ihm herausgebildet haben. Das katalysatorische Medium hierfür sind die häuslich-familiären Verhältnisse, in denen Nicolo lebt. Denn nicht nur er selbst bleibt darin von Anfang an ohne eigene Identität; ohne Substanz ist auch die Ehe zwischen dem alten Piacchi und seiner jungen Frau Elvire. Die Unerfülltheit dieser Ehe, die bloß eine äußere Form bürgerlichen Zusammenlebens ist, führt dazu, daß Elvire einen jungen Genueser namens Colino, der ihr im Alter von dreizehn Jahren das Leben rettete und dabei selbst ums Leben kam, „in heimlicher Ergebung vergöttert“ (276) – eine Idolatrie im Wortsinn, denn sie betet in ihrem Schlafgemach das von ihr hinter einem Vorhang verborgene 108 Nachdem schon Albert Heubi: Heinrich von Kleists Novelle Der Findling. Motivuntersuchungen und Erklärungen im Rahmen des Gesamtwerks, Zürich 1948, Nicolos verhängnisvolles Handeln auf die problematische familiäre Situation im Hause Piacchi bezogen hatte und dann Jürgen Schröder (wie Anm. 107) die verderbliche Wirkung des Sozialisationsprozesses analysierte, vertritt Günter Oesterle die These, Kleists Findling sei „ideengeschichtlich in den Rahmen einer Debatte um das von Immanuel Kant behauptete ‚radikal Böse‘ des Menschen zu stellen“ und „sozialgeschichtlich in einer brisanten Konstellation unterschiedlicher Lebenshaltungen nach 1800 anzusiedeln“ (G. Oesterle: Redlichkeit versus Verstellung – oder zwei Arten, böse zu werden, in: Interpretationen: Kleists Erzählungen, hrsg. von Walter Hinderer, Stuttgart 1998, S. 157–180, vgl. S. 165). Inspiriert durch das Buch von Christoph Schulte: Radikal böse. Die Karriere des Bösen von Kant bis Nietzsche, München 1988, sieht Oesterle in Nicolo einen Repräsentanten des „radikal Bösen“ (gemäß der von Kant so genannten „Verderbtheit der Gesinnung“), ohne dies allerdings aus dem Text näher zu begründen und gegen andere Erklärungsmodelle argumentativ zur Geltung zu bringen.
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lebensgroße Bild des Toten an. Daß der Tote in Elvirens Imagination verklärt wiederauflebt und ihre sonst nirgends Erfüllung findenden Gefühle auf sich zieht, hat etwas tief Zerstörerisches. Kleist diagnostiziert damit auch eine romantische Grundgefahr: die Flucht aus dem Ungenügen an einer – tatsächlich defizienten – Wirklichkeit in die Imagination, die sich dann bis zu dem Grade verselbständigt, daß sie auf die Wirklichkeit zerstörerisch zurückschlägt. Durch eine Konfiguration, die weit jenseits realistischen Erzählens geradezu Merkmale eines Chiffren-Spiels aufweist und über die Grenzen des Wahrscheinlichen hinaus geht, setzt Kleist das psychische Drama in Gang, als Nicolo in diese phantasmatisch zerrütteten Verhältnisse tiefer hineingerät. Das erste, jedes realistische Erzählkonzept sprengende Element ist die Ähnlichkeit seiner äußeren Erscheinung mit Colino. Als er eines Nachts in der Maske eines genuesischen Ritters vom Karneval zurückkehrt, sieht er dem genuesischen Lebensretter so ähnlich, daß er Elvires Phantasma auf sich zieht; aber auch für andere und ohne Verkleidung gleicht er ihm verblüffend. „Signor Nicolo, wer ist das anders, als Sie?“, ruft die kleine Klara aus, als sie das Bild des genuesischen Ritters erblickt. Und von Xaviera heißt es: „Das Bild, in der Tat, je länger sie es ansah, hatte eine auffallende Ähnlichkeit mit ihm“ (275). Das zweite Element ist die untergründige Identität seines Namens – Nicolo – mit dem des genuesischen Ritters: Colino. Ebenfalls in einer zufälligen Situation wird Nicolo dieser, wie Kleist sagt, „logogriphischen“ Eigenschaft seines Namens inne. Sowohl Erscheinung wie Name also deuten in dieser Konfiguration auf eine geheimnisvolle Identität des Nichtidentischen. Indem Kleist damit bewußt gegen das realistische Gebot der Wahrscheinlichkeit verstößt, überbietet er, wie mit einer ähnlichen Doppelgänger-Konstellation im Michael Kohlhaas, Boileaus Diktum „Le vrai peut quelque fois n’être pas vraisemblable“.109 Diesem gezielten Verstoß gegen das Gesetz der äußeren Wahrscheinlichkeit kommt die Aufgabe zu, die innere, psychologische Wahrheit in gleichsam reiner Form herauszukristallisieren. Ähnlich experimentell und ‚logogriphisch‘ verfuhr genau zur gleichen Zeit Goethe in den Wahlverwandtschaften, indem er sogar alle vier in das Geschehen verstrickten Personen in dem einen Namen „Otto“ konvergieren ließ: Eduard hat seinen ursprünglichen Namen „Otto“ nur seinem Freund, dem Hauptmann zuliebe ersetzt, der ebenfalls Otto heißt, Ottilie und Charlotte tragen in ihren Namen das gleiche Grundelement. Damit kommt nicht nur die 109
„[…] wie denn die Wahrscheinlichkeit nicht immer auf Seiten der Wahrheit ist“, heißt es im Michael Kohlhaas (134). E.T.A. Hoffmann setzt immer wieder programmatisch die innere „Wahrheit“ gegen die äußere „Wahrscheinlichkeit“. Explizit zitiert er Boileaus Ausspruch im Fräulein von Scuderi (E. T. A. Hoffmann, Sämtliche Werke, hrsg. von Hartmut Steinecke und Wulf Segebrecht, Bd. 4: Die Serapionsbrüder, hrsg. von Wulf Segebrecht unter Mitarbeit von Ursula Segebrecht, Frankfurt a.M. 2001, S. 842).
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(Wahl-)Verwandtschaft und die erotische Kombinationsfähigkeit und Rekombinationsmöglichkeit, sondern auch der fragwürdige Status von Identität zum Ausdruck. Goethes und Kleists logogriphisches Zeichenspiel mit den Namen läßt aber eine aufschlußreiche Differenz erkennen: Der Name Otto hat eine symmetrische Buchstaben-Kombination und ist ein Palindrom – insofern deutet er auf eine dichte Beziehungs-Konstellation und auf eine immer noch identische Umkehr-Konstellation; bei Kleist aber signalisiert das anagrammatische Verhältnis der beiden Namen Colino und Nicolo einen Vorgang der Pervertierung. Mit schon pervertierter „Begierde“ legt es Nicolo darauf an, Elvire zu verführen. Als seine Hoffnungen scheitern, dies in seiner eigenen Person zu erreichen, schlüpft er unter Ausnutzung seiner Ähnlichkeit mit dem von ihr heimlich vergötterten Colino in dessen Identität, um sie in ihrem Schlafzimmer zu überwältigen. Als figurative Projektion eines inneren Vorgangs gewinnt das schon im Amphitryon verwendete und in der ganzen Romantik beliebte Doppelgänger-Motiv eine geradezu abstrakt-zeichenhafte Qualität. Sie kommt im Begriff des „Logogriphischen“ zum Ausdruck. Von Elvires Liebesproblematik her gelesen, signalisiert die logogriphische Identität der beiden Namen Colino-Nicolo, daß die aus der Unerfülltheit der Ehe resultierende „Vergötterung“ Colinos in das „satanische“ (279) Unternehmen Nicolos umschlägt. Der reale Liebes- und Lebensmangel läßt sich durch die kompensatorische Projektion eines Ideal-Geliebten nicht ausgleichen, vielmehr führt er im Zuge eines psychischen Polarisationsprozesses vollends ins Zerstörerische. Von Nicolos Identitätsproblematik her gelesen ergibt sich, daß er, der Identitätslose und deshalb Liebesunfähige, der von Anfang an immer nur Rollen zu übernehmen hatte, nun die Rolle eines anderen usurpiert, der die Ideal-Version seiner selbst ist (daher die doppelgängerhafte Ähnlichkeit), um in dieser Rolle „Liebe“ zu erzwingen. Der äußere Eindruck des moralisch und individuell zurechenbaren Bösen erweist sich als trügerisch, denn der doppelten Untat Nicolos, der sich zuerst der Frau Piacchis und dann, „eines Tartuffe völlig würdig“ (280), seines Besitzes bemächtigt, liegt eine psychisch transformierte, aber schon depravierend wirkende Realität zugrunde: Nicolo spielt als Besitzer der Frau und des Eigentums die beiden Hauptrollen, welche die Gesellschaft zu bieten hat, bis zum zerstörerischen Exzeß. Seinem generellen Interesse für pathologische Deformationen der menschlichen Psyche folgend, entwirft Kleist hier mit dem analytischen Scharfsinn des Vivisekteurs eine Anatomie des „Bösen“ jenseits von Gut und Böse. Wenige Jahre zuvor hatte Jean Paul dies im Titan an der Figur des Roquairol vorgeführt, den ebenfalls das Verhängnis des Unauthentischen und der Rollenfixierung in zerstörerische Perversionen treibt. Immer wieder macht Kleist nicht nur religiöse, sondern auch moralische Wertungen zum Ziel seiner Vorurteilskritik. In der Marquise von O… führt er
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alle moralischen Urteile aus Anlaß einer im landläufigen Sinn ‚unmoralischen‘ Tat ad absurdum. Dies gilt auch für die sich mit ihnen verbindenden religiösen Absolutsetzungen durch die Marquise, die den Grafen bald für einen „Engel“, bald für einen „Teufel“ hält. Auch im Findling verbindet sich die moralische Wertung mit der religiös-metaphysischen Dimension. Deren Fragwürdigkeit liegt ebenfalls in Extremurteilen, die Erkenntnisflucht oder Erkenntnisunfähigkeit signalisieren. Der Erzähler nennt Nicolo einen „höllischen Bösewicht“ (281) – und nur zu gerne stimmt man ihm zu, denn im Vergleich mit der schweren Verfehlung, deren sich der russische Graf in der Marquise von O… schuldig macht, handelt es sich hier um eine „Bosheit“. Den spezifischen Charakter des Perversen erhält sie dadurch, daß der Findling die Wohltaten, die er von der existentiellen Rettung über die Adoption bis zur Einsetzung als Erbe empfangen hat, und die eigentlich größten Dank verdienen, mit abscheulichem Undank vergilt. Aber gerade darin wirkt sich ein psychischer Rückschlagsmechanismus aus, wie schon in der Verlobung in St. Domingo, wo der „fürchterliche“ alte Neger Congo Hoango die „Wohltaten“, mit denen ihn sein weißer Herr überhäuft, schließlich damit vergilt, daß er ihn ermordet. Der Mensch, der Wohltaten empfängt, die seine ganze Existenz bestimmen, wird dadurch zum Geschöpf eines anderen und vermag keine eigene Identität auszubilden, da er sich selbst nichts zurechnen kann. In einem Akt radikaler Zerstörung, der sich nicht moralisch auf „Bosheit“ reduzieren läßt, kann er das AbhängigSekundäre seines eigenen Daseins bloß negieren, indem er das Dasein dessen, dem er alles verdankt, auslöscht. Den Akteuren selbst bleibt der psychische Untergrund des destruktiven Geschehens verborgen. Wie Marionetten sind sie ihm deshalb ausgeliefert. Die Unfähigkeit zur Selbstregulierung und zur gegenseitigen Regulierung zeigt sich in markanten Symptomen. Alle Bewohner des Hauses Piacchi leben ihr Leben für sich, isoliert und ohne menschlichen Zugang zueinander. Bezeichnenderweise bleiben die Türen der Zimmer meist verschlossen;110 was dahinter vorgeht, kann nur in Ausnahmesituationen wie etwas Fremdes und Rätselhaftes beobachtet werden – am deutlichsten im Fall Elvirens. Man lebt gespenstischmonadisch nebeneinander her in einem entfremdeten, durch Verdrängung, Kompensation und Eskapismus bestimmten, im übrigen steril bloß organisierten Dasein, dessen Arrangement schließlich chaotisch zusammenbricht. Schon in Kleists Erstlingsdrama gehört die Zerstörung kommunikativer Zusammenhänge zur Symptomatik einer katastrophischen Disposition. In den Findling spielt noch eine romantische Gefahr herein, denn das Erliegen der Kommunikation ist, wie Elvirens Verhalten zeigt, Folge einer sich wahnhaft entfaltenden 110 Zum Motiv der Verschlossenheit und zu der entsprechenden Schlüsselsymbolik, welche die Novelle auffällig durchzieht, vgl. Jürgen Schröder (wie Anm. 107), S. 125.
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Imagination; diese selbst aber erscheint als Symptom der verfahrenen realen Situation. Anstelle eines positiven, regulierenden oder sogar heilenden Miteinanders entsteht ein in Heimlichkeiten, Absonderungen und kommunikationsloser Verschlossenheit sich immer gefährlicher aufstauendes Potential des Gegeneinanders. Es kommt zu einer pervertierten, radikal negativen Art der Kommunikation: Nach bezeichnenderweise „sprachlosen“ Konfrontationen und reaktiven Zerstörungsimpulsen findet das Geschehen schließlich in ungeheuerlichen Racheakten sein desaströses Ende. Dabei hat Kleist das vom Erstlingsdrama bis zum Michael Kohlhaas charakteristische Moment der Selbstzerstörung pointiert. In der an Dante erinnernden Inszenierung des Finales strebt der alte Piacchi, nachdem er dem Findling „das Gehirn an der Wand“ eingedrückt hat, in unersättlicher Wut zum „untersten Grund der Hölle“, um dort in alle Ewigkeit „Rache“ zu nehmen. Dabei verfällt er einem pathologisch-selbstzerstörerischen Reaktionsmechanismus, der nicht mehr beherrschbar ist. Schon Nicolo wurde nicht nur durch „Beschämung“ und „Wollust“ zur Ausführung seines „satanischen Plans“ an Elvire getrieben, sondern auch vom Verlangen nach „Rache“. Wie in der Verlobung in St. Domingo kommt eine eigenartige Gefühls- und Triebmischung zustande. Sie läßt eine irrational-explosive Psychodynamik entstehen, welche die Betroffenen weder zu durchschauen noch zu regulieren vermögen. In der Erzählung Die Verlobung in St. Domingo treibt eine Mischung von äußerster Angst, von Verlangen nach Rettung und zugleich eine dadurch stimulierte erotische Gefühlswallung den Protagonisten zu einer Liebesnacht mit dem jungen Mädchen, die ihm anschließend unverantwortlich erscheint: „Er schwor ihr […] daß nur, im Taumel wunderbar verwirrter Sinne, eine Mischung von Begierde und Angst, die sie ihm eingeflößt, ihn zu einer solchen Tat habe verführen können“ (239). Er selbst erscheint hier nicht etwa als Verführer, sondern als der von der „Mischung“ der Gefühle Verführte! Von Nicolo heißt es: „Beschämung, Wollust und Rache vereinigten sich jetzt, um die abscheulichste Tat, die je verübt worden ist, auszubrüten“ (279). Grammatikalisch genau genommen sagt dieser Satz, daß nicht Nicolo, vielmehr die Vereinigung seiner Gefühle die Tat „ausbrütet“. Unkontrollierbare Reaktionsbildungen, die ihr Extrem in Rachehandlungen erreichen, und das Zusammenschießen heterogener Gefühls- und Triebintensitäten stürzen die Menschen in chaotische Verhaltensweisen, die sie als völlig unfrei, ja sogar als selbstzerstörerisch erweisen. Daß der alte Piacchi die Absolution verweigert, daß er in die Hölle hinabzufahren wünscht, um sich dort an Nicolo bis ins Unendliche fort zu rächen, daß er die „ganze Schar der Teufel“ herbeiruft – das alles signalisiert in den Vorstellungsformen religiöser Mythologie eine rettungslose Verfallenheit. Ihre destruktive Binnenlogik liegt in der Unmöglichkeit begründet, sich von den Erfahrungsund Handlungsbedingungen zu lösen, die den Menschen nicht bloß existentiell
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bestimmen, sondern ihn geradezu überwältigen, so sehr, daß er sich entstellen und in der Selbstvernichtung enden muß. Damit konfrontiert dieses Werk den Leser radikal mit dem Problem menschlicher Freiheit. Wie in manchen seiner anderen Dichtungen erscheint Kleist als Antipode von Schillers idealistischen Freiheits- und Moral-Konzepten. Zwar geht er nirgends so weit wie später Büchner, der in der für die Jahre nach 1830 typischen Weltschmerz-Stimmung den „gräßlichen Fatalismus der Geschichte“ mit der Erfahrung ausweglosen Leidens verbindet. Aber auch Kleist bringt einen extremen Pessimismus zum Ausdruck, indem er einen Menschen zuerst in unaufhebbarer Abhängigkeit von Vorgeschichten zeigt, die ihn an der Identitätsfindung hindern und ihn dann in einem unaufhaltsamen Depravierungs- und Zerstörungsprozeß untergehen lassen. Wenn sich im Findling Identität allenfalls negativ, im Akt der Zerstörung manifestiert, so ist im Rückblick auch nach der historischen Grundierung dieser Konzeption zu fragen. Identität wird ja gerade nicht als synthetisches Ergebnis eines auf Anpassung angelegten Sozialisationsprozesses begriffen, sie ist nicht durch die normierende Einfügung in vorgegebene Rollenangebote zu erlangen. Sie entschwindet ins Utopische, und Kleist übersteigt damit das Naturund Ursprünglichkeitspostulat Rousseaus, aus dessen Perspektive er alles gesellschaftlich Vermittelte als entfremdet und depraviert wertet. Allerdings besteht die experimentelle Eigenwilligkeit der Findlings-Erzählung auch darin, daß sie auf den von Rousseau in seinem Émile vertretenen Ansatz einer ursprungshaften „guten“ Natur ganz verzichtet, indem sie den Knaben Nicolo am Anfang lediglich als beziehungsloses und eigenschaftsloses Neutrum einführt. Ohne Identität und auch ohne Kennzeichen von Authentizität, markiert die Figur des Findlings eine anthropologische Leerstelle, welche die Familie als Sozialisationsmedium der Gesellschaft mit Rollenmustern besetzt, die vor dem Hintergrund des Authentizitätspostulats immer schon entfremdet erscheinen. Mit anderen Worten: Das Authentizitätspostulat gelangt hier nur per negationem zur Geltung. Daher ist es konsequent, daß Identität sich allein in destruktiven Handlungen kundtut und die menschliche Realität unter den extremen Bedingungen dieser erzählerischen Versuchsanordnung in der „Hölle“ endet. Historisch gesehen annulliert Kleist damit das optimistische aufklärerische Denkmuster, in dem der Mensch als anfängliche „tabula rasa“ alle Chancen der Erziehung zum Höheren bietet. In seiner weit über Rousseau hinausgehenden pessimistischen Perspektive sind auch die Erziehungs- und Sozialisationsinstanzen immer schon gesellschaftlich korrumpiert, und dies mit geschichtlicher Notwendigkeit.
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7. Die heilige Cäcilie oder Die Gewalt der Musik. Kleists entschiedenste Auseinandersetzung mit der Romantik Zu den Hauptangriffszielen der aufklärerischen Religionskritik im 18. Jahrhundert gehörte der katholische Wunderglaube. Zahlreiche Philosophen reduzierten das scheinbar Übernatürliche auf Natürliches, und die historische Bibelkritik führte sogar zentrale Dogmen ad absurdum, sofern sie auf Wundern beruhten. Am markantesten bezeugen dies die von Lessing zwischen 1774 und 1778 herausgegebenen Fragmente des Freidenkers Reimarus, die sich insbesondere mit dem biblischen Bericht von der Auferstehung Christi auseinandersetzten. Eher sekundäre, etwa in Legenden verbreitete Wundergeschichten verfielen einer Ironie, die sie ins Abseits des Aberglaubens verbannte. Prinzipiell galt der Wunderglaube als Inbegriff einer unmündigen oder sogar obskurantistischen Geisteshaltung, die überwunden werden sollte. Kants im Jahre 1784 publizierte Abhandlung Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? erklärte ein freies, von dogmatisch fixierten Autoritäten unabhängiges Denken und ein entsprechend gewonnenes Wissen – „Sapere aude“ lautet die Devise – als die probaten Mittel, um solche geistige Unmündigkeit zu überwinden. Die Kirche, ohnehin schon wegen ihres bis zu tödlichen Verfolgungsmaßnahmen reichenden Machtanspruchs im Kreuzfeuer von Angriffen, denen Voltaire ihre größte Schärfe verlieh111, geriet als Bastion des Autoritätsprinzips, des Dogmatismus und des sacrificium intellectus zur Zielscheibe aufklärerisch engagierter Kritik. Um so erstaunlicher und für die noch von der Aufklärung geprägten Geister geradezu provozierend mußte sich die neue Religiosität der Romantiker ausnehmen: die Verklärung der mittelalterlichen Glaubenswelt, wie sie sich schon bei Novalis zeigte; die Regression in eine „kindliche“ und damit gerade nicht mehr „mündige“ Gemütsverfassung; schließlich die Vorliebe für Wunder, die sich in einer neuen Konjunktur von Wundergeschichten aller Art niederschlug und sich bei manchen, wie das Beispiel Brentanos lehrt, zur Wundersucht auswuchs. Hatte nicht die deutsche Aufklärung soeben ihren Höhepunkt erreicht in dem Jahrzehnt zwischen 1780 und 1790? Lessing hatte seinen Nathan den Weisen auf die aufklärerische Zentralidee der Toleranz gegründet und Goethes Iphigenie war ganz von der Humanitätsidee der Aufklärung inspiriert. Mozarts Aufklärungsopern Die Entführung aus dem Serail und Die Zauberflöte beschwingte der gleiche Geist. Und waren nicht Kants drei große Kritiken in diesem Jahrzehnt zwischen 1780 und 1790 erschienen? Hatte nicht die Volksaufklärung mit einer Flut von Schriften von 1780 bis 1800 ihre volle Breitenwirkung entfaltet? Der plötzlichen Konversion des Zeitgeists entsprachen reale Konversionen zur katholischen Kirche. 111
Vgl. hierzu S. 23–25.
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Am meisten provoziert fühlte sich Goethe. Er reagierte vielfältig: Mit seinem Bekenntnis zur sinnenhaften und naturwissenschaftlichen Erfahrung verlieh er der aufgeklärten Empirie eine geradezu existentielle Dimension, mit seiner bewußt „heidnischen“ Stilisierung der Antike baute er eine kulturelle Gegenposition auf112, und noch in den Jahren nach 1810 formierte er seine Italienische Reise zu einem Antäus-Erlebnis gegen romantisch-bodenlose Imagination und Spekulation. Schließlich wandte er sich mit der 1817 erschienenen Schrift über Neu-deutsch-religios-patriotische Kunst auch gegen die neureligiöse Mode. Kleist, als Angehöriger der jüngeren Generation den Faszinationen der Romantik näher ausgesetzt, aber zugleich doch tief geprägt von der französischen und der mit ihr eng verbundenen preußischen Aufklärung, erfuhr die Herausforderung weniger als Konfrontation und mehr im Sinne einer Betroffenheit, die zur Klärung reizte. Während er im Käthchen von Heilbronn ein romantisches Ritterschauspiel präsentierte, um sich endlich einmal eines Bühnen-Erfolges zu versichern, der sich dann auch prompt einstellte, ironisierte er in der CäcilienErzählung den romantischen Kult des Wunderbaren. Kritik und Ironie indes artikulieren sich, wie auch sonst bei Kleist, nicht offen. Nirgends meldet sich der Erzähler kommentierend und bewertend zu Wort. Im Erzählten selbst, in verdächtigen Konstellationen und zweifelerregenden Aussagen der Akteure liegt die ironische Provokation. Der Leser muß sich in eine Hermeneutik des Verdachts einüben. Bereits im Untertitel bezeichnete Kleist die Erzählung als Legende, und der Schlußabschnitt beginnt mit der Feststellung: „Hier endigt diese Legende“. Konzipiert war sie als „Taufangebinde“ für die am 27. Oktober 1810 geborene und am 16. November getaufte Tochter des Freundes Adam Müller. Die erste Fassung erschien in den Berliner Abendblättern vom 15. bis zum 17. November 1810, die wesentlich umfangreichere zweite Fassung 1811 im zweiten Band der Erzählungen. Schon der Anlaß, die Taufe, mußte ambivalent erscheinen, da der fünf Jahre zuvor zum Katholizismus konvertierte Adam Müller seine Tochter – sie erhielt den Taufnamen Cäcilie – nunmehr protestantisch taufen ließ.113 112 Dies gilt in besonderem Maße für seine 1805 erschienene Winckelmann-Schrift, in der er einen Abschnitt programmatisch mit dem Wort „Heidnisches“ überschrieb. 113 Cäcilie Müller wurde von dem zu Adam Müllers und Kleists Berliner Bekanntenkreis gehörenden reformierten Geistlichen Franz Theremin protestantisch getauft. Gerhard Neumann nimmt fälschlich an, Cäcilie Müller sei katholisch getauft worden, und macht dies zu einem Angelpunkt seiner Deutung (G. Neumann: Eselsgeschrei und Sphärenklang. Zeichensystem der Musik und Legitimation der Legende in Kleists Novelle Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik, in: Heinrich von Kleist. Kriegsfall – Rechtsfall – Sündenfall, hrsg. von Gerhard Neumann, Freiburg 1994, S. 365–389, hier S. 383). Neumann bezeichnet die reale (übrigens nicht ohne Opportunismus vollzogene) Konversion Adam Müllers als „Bekehrungswunder des Vaters“ (S. 383), um dann in völliger Verkeh-
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Dieser Konstellation entsprechend steht die Problematik der Konversion sowie das Verhältnis zwischen Protestantismus und Katholizismus im Zentrum der Erzählung. Die im Jahrhundert der Reformation angesiedelte Handlung kommt durch ‚Protestantismus‘ im Wortsinn in Gang: Studenten aus dem Ursprungsort der Reformation, aus Wittenberg, wollen im katholischen Aachen das Kloster der heiligen Cäcilie mit einem Bildersturm verwüsten. Doch wird der kämpferische Protestantismus der „mit Äxten und Zerstörungswerkzeugen aller Art“ bewaffneten Eindringlinge an der in der Kirche aufgeführten Musik zuschanden. Die „Gewalt“ der Musik erfahren die vier Brüder, die das Unternehmen anführen, sogar so sehr, daß sie eine Art von Zwangskonversion erleiden und ihr künftiges Leben hindurch ver-rückt und zugleich automatenhaft um Mitternacht das „Gloria in excelsis“ absingen müssen. Am Ende der Erzählung heißt es, daß die Mutter der vier Söhne ihrerseits „in den Schoß der katholischen Kirche zurückkehrte“. Offenkundig setzt sich Kleist mit der neureligiösen Tendenz vieler Romantiker und mit der romantischen Konversionswelle auseinander. Daß er sich selbst von solchen romantisch-religiösen Anwandlungen keineswegs frei wußte, geht aus einer brieflichen Äußerung nach dem Besuch einer katholischen Messe hervor. „Ach, nur einen Tropfen Vergessenheit, und mit Wollust würde ich katholisch werden“, schreibt Kleist114 – und markiert damit zugleich die für ihn unüberschreitbare Grenze, nicht ohne zu bemerken, daß gerade die KirchenMusik dazu angetan war, „das Herz gewaltsam zu bewegen“. rung der Konstellation die (vermeintlich katholische) Taufe der Tochter – den realen Anlaß der Erzählung – „als die Frucht jenes Wunders, von dem die Legende zeugt“, also als Frucht der fiktionalen Erzählung zu bezeichnen: des „Wunders“, durch das die vier Brüder in der Erzählung zum Katholizismus zwangskonvertiert werden. Die Frage, ob es sich überhaupt um ein „Wunder“ und eine ernstgemeinte „Legende“ oder nicht vielmehr um die ironische Subversion von Wunder und Legende handelt, wird gar nicht mehr gestellt. Neumanns Lektüre führt zu der Behauptung, es enthülle sich „das Spiel zweier einander wechselseitig dekonstruierender Prozesse: der Bekehrung zum Ordnungsprinzip der Zeichen und der diese Bekehrung unterlaufenden Exilierung der lesenden Subjekte aus dieser so geordneten Welt“ (S. 388). Selbst wenn man die Musik, welche die „Bekehrung“ der vier Brüder bewirkt, als ein „Ordnungsprinzip der Zeichen“ und die vier Brüder als „lesende Subjekte“ dieses Ordnungssystems aufzufassen bereit wäre (mindestens letzteres ist nicht mehr nachvollziehbar), ergäbe sich keineswegs eine „Exilierung“ der „Subjekte“ aus der „so geordneten Welt“ – erstens weil sie ihren Subjektstatus schon verloren haben und zweitens weil die „so geordnete Welt“ sie überwältigt und verschlungen, also gerade nicht „exiliert“ hat. Methodisch scheitert damit die aus Paul de Mans Allegories of Reading übernommene, dekonstruktivistisch schematisierte Allegorese der Konstellation. In ihr kommt exemplarisch die Totalisierung des methodologischen Konzepts als eine Gewaltsamkeit zum Vorschein, die der „Gewalt der Musik“ fatal gleicht. 114 An Wilhelmine von Zenge, den 21. Mai 1801 (Briefe, Nr. 48, S. 225).
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Kleist interessierte sich für ein zweites Charakteristikum der Romantik: Seit Wackenroders Schriften, die er kannte und die gerade über das Cäcilien-Motiv zu seiner doppelbödigen Legende führen,115 propagierten die Romantiker die Verschmelzung von Kunst und Religion, insbesondere von Musik und Religion.116 In seinen gemeinsam mit Ludwig Tieck verfaßten Phantasien über die Kunst pries Wackenroder die „unwandelbare Heiligkeit, die dieser Kunst vor allen andern eigen ist“,117 und E. T. A. Hoffmann stilisierte sie zur „romantischsten“ aller Künste, da sie ins Unendliche reiche.118 Speziell der Kirchenmusik verlieh Wackenroder wie dann auch E. T. A. Hoffmann in seinem Aufsatz Alte und neue Kirchenmusik einen besonderen Rang, weil sich in ihr die Verschmelzung der Kunst mit der Religion und dem Göttlichen am reinsten ausdrücke. Auch indem Kleist die Musik mit dem Konversionsgeschehen verbindet, folgt er Wackenroder, genauer: dem in die Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders eingefügten, wohl aus der Feder Tiecks stammenden Brief eines jungen deutschen Mahlers in Rom an seinen Freund in Nürnberg. Darin berichtet der junge Maler über sein ins Ekstatische reichendes Musikerlebnis in einer römischen Kirche, und in diesem Bericht überträgt er das traditionell Gott zugeordnete Attribut „allmächtig“ auf die Musik,119 die schließlich zu seiner Konversion führt: „Ich konnte der Gewalt in mir nicht widerstehen: – ich bin nun […] zu jenem Glauben hinübergetreten […]“.120 Gerade diese „Gewalt der Musik“, die Kleist schon im Titel seiner Erzählung exponiert, war bereits ein Topos seit Händels Oratorium Alexander’s Feast or the Power of Musick (1736) – und dies in Verbindung mit der Cäcilien-Legende, denn Händel legte seinem 115
Vgl. Rosemarie Puschmann: Heinrich von Kleists Cäcilien-Erzählung, Bielefeld
1988. 116 Vgl. Walter Hinderer: Literarisch-ästhetische Auftakte zur romantischen Musik, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 41 (1997), S. 210–235. 117 Wilhelm Heinrich Wackenroder: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, hrsg. von Silvio Vietta, Richard Littlejohns. Bd. 1: Werke, hrsg. von Silvio Vietta, Heidelberg 1991, S. 218. 118 E. T. A. Hoffmann: Kreisleriana Nr. 3, in: E.T.A. Hoffmann: Sämtliche Werke, hrsg. von Hartmut Steinecke u. a., Bd. 2/1: Fantasiestücke in Callots Manier, Frankfurt a. M. 1993, S. 49. 119 Wilhelm Heinrich Wackenroder: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, hrsg. von Silvio Vietta, Richard Littlejohns. Bd. 1: Werke, hrsg. von Silvio Vietta, Heidelberg 1991, S. 115: „Auf einmal ward alles stiller, und über uns hub die allmächtige Musik, in langsamen, vollen, gedehnten Zügen an, als wenn ein unsichtbarer Wind über unsern Häuptern wehte: sie wälzte sich in immer größeren Wogen fort, wie ein Meer, und die Töne zogen meine Seele ganz aus ihrem Körper heraus“; S. 116: „[…] und ich weiß selbst nicht was für allmächtige Töne, schmetterten und dröhnten eine erhabene Andacht durch alles Gebein“. (Hervorhebungen: J. S.) 120 Wackenroder (wie Anm. 117), S. 112.
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Oratorium Drydens Ode zum Cäcilientag zugrunde. Ramler übersetzte 1770 den Titel Power of Musick als Gewalt der Musik.121 Für die Romantik charakteristisch, wenn auch nicht gänzlich neu ist ferner die gefühlshafte Steigerung des musikalischen Erlebnisses, die Kleist in seiner Erzählung zum Extrem treibt. Leitmotivisch verknüpfen schon Wackenroders Phantasien über die Kunst die Musik mit „Gefühlen“ und „Empfindungen“.122 Und in der Berglinger-Erzählung, mit der die Herzensergießungen enden, vermitteln Musikerlebnisse ekstatische Gefühlsintensitäten – Kleist zitiert Wackenroder wörtlich, wenn die Mutter der vier von der Kirchenmusik in den Wahnsinn ver-rückten Söhne die „Gewalt der Töne“ als Ursache ahnt und es ihr beim Anblick der Partitur so vorkommt, „als ob das ganze Schrecken der Tonkunst, das ihre Söhne verderbt hatte, über ihrem Haupte rauschend daherzöge“ (311).123 Selbst die dem Wirken der heiligen Cäcilie zugeschriebene Verrückung der vier Söhne geht auf Wackenroder zurück. In einem Gedicht auf die heilige Cäcilie, das der junge Berglinger verfaßt, heißt es: „Heilige Cäcilia! […] Deine wunderbaren Töne […] haben mein Gemüth verrückt“.124 Kleists schauerliche Steigerung des Verrückungsprozesses entspricht dem auch von E. T. A. Hoffmann intensiv aufgenommenen romantischen Interesse an Grenzzuständen der menschlichen Psyche, insbesondere am Wahnsinn. Vom Taufnamen „Cäcilie“ und der entsprechenden Erinnerung an die Heilige der Tonkunst ließ sich Kleist dazu anregen, die romantische Verfallenheit an die Musik sowie ihre psychischen Konsequenzen erzählerisch zu erkunden. Im Titel Die heilige Cäcilie oder Die Gewalt der Musik bleibt zunächst noch die Möglichkeit offen, daß der zweite Teil den ersten nur näher erläutert, nach vollendeter Lektüre aber gibt er sich als eine alternative Titelformulierung zu erkennen. Diese provoziert die Entscheidungsfrage, ob das dargestellte Geschehen auf das wunderbare Eingreifen der heiligen Cäcilie im Medium der Töne oder auf die zwar ans Wunderbare grenzende, aber letztlich doch natürliche Wirkung der Musik zurückzuführen sei. Auch indem Kleist seine Erzählung als „Legende“ bezeichnete, bezog er sich auf eine romantische Modeerscheinung. Im 18. Jahrhundert dominierten des121 Vgl. Puschmann (Anm. 115), S. 65 f.; auch Hans Maier: Cäcilia unter den Deutschen. Herder, Goethe, Wackenroder, Kleist, in: Kleist-Jahrbuch 1994, S. 67–82. Vgl. auch Walter Hinderer: Die heilige Cäcilie oder Die Gewalt der Musik, in: Interpretationen: Kleists Erzählungen, Stuttgart 1998, S. 181–215. 122 Zur „Empfindungssprache“ der romantischen Musik vgl. Carl Dahlhaus: Klassische und romantische Musikästhetik, Laaber 1988, S. 149–160. 123 Von Berglingers Erlebnis einer völlig überwältigenden Kirchenmusik heißt es, daß „die ganze Gewalt der Töne über seinem Haupte daherzog“. Wackenroder (wie Anm. 117), S. 132. 124 Wackenroder (wie Anm. 117), S. 136.
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illusionierende, den Wunderglauben ad absurdum führende Legendenparodien wie Wielands Clelia und Sinibald. War die aufgeklärte Geisteshaltung ausnahmsweise nicht entschieden kritisch, so sparten die im Bann der Aufklärung stehenden Legenden-Erzähler doch zumindest das Religiös-Wunderbare aus. Herder verfaßte eine entsprechende Abhandlung Über die Legende und schrieb auch selbst mehrere Legenden, die sich auf empfindsam-rationale Deutung, vor allem aber auf moralische Exempelhaftigkeit beschränken. Mit seinem in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts entstandenen Gespräch Die heilige Cäcilie oder wie man zu Ruhm kommt125 lieferte er allerdings sogar schon eine Subversion der Cäcilien-Legende126, indem er wie später Kleist ironisch den Prozeß der Legendenbildung darstellte, wenn auch noch ganz auf die historische Entstehung der Cäcilien-Legende beschränkt. Schon kurz nach der Jahrhundertwende dagegen kultivierte man das Wunderbare. „In eine kindliche Vergangenheit flüchtend, wo der Glaube Berge versetzte“127, publizierte Kosegarten seit 1804 Legenden-Sammlungen, und besonders die Berliner Romantiker, mit denen Kleist in enger Verbindung stand, wandten sich der Legendendichtung zu. Der mit Kleist befreundete Fouqué schrieb Legendendramen und wirkte an einem von 1812 bis 1817 erscheinenden Taschenbuch der Sagen und Legenden mit. Auch Achim von Arnim verfaßte Legendendichtungen. Die Brüder Grimm fügten in ihre 1812 und 1815 erstmals herausgegebenen Kinderund Hausmärchen immer wieder legendenhafte Erzählungen ein, und schon 1806 und 1808 hatten Arnim und Brentano in die zwei Bände der Sammlung Des Knaben Wunderhorn Gedichte mit legendenhaftem Inhalt aufgenommen, so Die Gottesmauer, die Fontane noch in Effi Briest zitiert. Wenn Kleist seinerseits eine „Legende“ schrieb, so muß er sich der romantischen Aktualität des Unternehmens bewußt gewesen sein. Allerdings ließ er sich nur darauf ein, um in dem für seine aufklärerische Grundhaltung typischen subversiv-ironischen Geist die romantische Mode in Frage zu stellen. Nicht zufällig mündet genau zur gleichen Zeit in Goethes Wahlverwandtschaften das Ende Ottiliens mit hintergründiger Ironie ins Legendenhafte ein, und ebenfalls so, daß sich ein Prozeß der Legendenbildung abzeichnet. Schon die kurze Erstfassung, die Kleist in den von ihm selbst herausgegebenen Berliner Abendblättern plazierte, weckt Zweifel am „Wunderbaren“ des Geschehens. Die angeblich vom Himmel gewollte Rettung des Klosters ereignet sich am Ende des sechzehnten Jahrhunderts, aber schon ein halbes Jahrhundert später hebt ein Säkularisationsakt das Kloster auf: „bis am Schluß des dreißig125 Herders Sämmtliche Werke, hrsg. von Bernhard Suphan, Bd. 15, Berlin 1988, S. 160–164. 126 Vgl. Puschmann (Anm. 115), S. 65ff. 127 Nach H. Rosenfeld, Legende, Stuttgart 3. Aufl. 1972, S. 77.
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jährigen Krieges“, so heißt es, habe das Kloster bestanden, „wo man es, vermöge eines Artikels im westfälischen Frieden, gleichwohl säkularisierte“ (292). Hat der Himmel also mit dem Wunder einen vergeblichen Aufwand getrieben, wenn wenig später die Rettung des Klosters an der geschichtlichen Entwicklung zuschanden wird? Zweifel erregt auch das Ende der ersten Fassung, wo der Erzbischof von Trier, der selbst nicht Zeuge des Geschehens war, auf bloße Berichte hin verlautbaren läßt, „die heilige Cäcilie selbst“ habe das Wunder vollbracht, was der Papst, der noch weniger Gewißheit darüber haben kann, „mehrere Jahre darauf“ bestätigt – während die Äbtissin des Klosters, die dem Geschehen am nächsten gewesen ist, „aus mancherlei Gründen“ gerade „nicht laut zu werden wagte“ mit der Ansicht, es handle sich um ein Wunder der heiligen Cäcilie (312). Gegenüber diesem knappen „Taufangebinde“, wie es Kleist selbst nennt, ist die spätere Fassung in doppelter Hinsicht ausgestaltet: künstlerisch, indem sie das Geschehen dramatisch stuft und szenisch sowohl anreichert wie auch intensiviert; konzeptionell, indem sie den in der ersten Fassung nur knapp angedeuteten Prozeß der Legendenbildung systematisch entfaltet.128 Zu diesem 128 Hierzu grundlegend: Werner Hoffmeister: Die Doppeldeutigkeit der Erzählweise in Heinrich von Kleists Die heilige Cäcilie, in: Festschrift für Werner Neuse, hrsg. von Herbert Lederer und Joachim Seyppel, Berlin 1967, S. 44–56; vgl. auch meine Ausführungen in: Jochen Schmidt: Heinrich von Kleist, Studien zu seiner poetischen Verfahrensweise, Tübingen 1974, S. 206–214, sowie Wolfgang Wittkowski: Die Heilige Cäcilie und Der Zweikampf. Kleists Legenden und die romantische Ironie, in: Colloquia Germanica 1972, S. 17–58. Die in diesen Beiträgen analysierte perspektivische Stufung der zweiten Fassung führt den Prozeß der Legendenbildung vor. Im Anschluß an Donald P. Haase/Rachel Freudenberg: Power, Truth, and Interpretation: The Hermeneutic Act and Kleist’s Die heilige Cäcilie, in: DVjS 60 (1986), S. 88–103, versucht Christine Lubkoll eine ‚postmodern‘dekonstruktivistische Lektüre (C. L.: Die heilige Musik oder die Gewalt der Zeichen. Zur musikalischen Poetik in Heinrich von Kleists Cäcilien-Novelle, in: Heinrich von Kleist. Kriegsfall – Rechtsfall – Sündenfall, hrsg. von Gerhard Neumann, Freiburg 1994, S. 337–364). Ihre These lautet (S. 362): „[…] auf der Ebene der Erzählstruktur dokumentiert und inszeniert der Text zugleich selbst die Nicht-Auffindbarkeit der Wahrheit [vgl. Haase/Freudenberg, S. 90]. Und zwar geschieht dies in erster Linie durch die Aufsplitterung der Erzählinstanzen: anhand der gleich dreifachen Einkreisung des Geschehens durch die Berichte des Erzählers, Veit Gotthelfs und der Äbtissin. Durch diese drei Anläufe wird die Möglichkeit einer Garantie der Wahrheit verabschiedet zugunsten verschiedener denkbarer Versionen, die einander zwar ähneln, sich aber auch gegenseitig relativieren. Gemeinsam ist ihnen jedenfalls, daß sie alle auf bloßen Setzungen beruhen, daß sie alle das Rätsel nicht lösen“. Lubkoll übersieht, daß es sich nicht um eine beliebige „Aufsplitterung“ der Erzählinstanzen, auch nicht um eine vage „Einkreisung“, vielmehr um eine mit systematischer konzeptioneller Konsequenz angelegte Aufeinanderfolge von Erzähl- und Deutungsinstanzen handelt, die nicht ein disparates (‚aufgesplittertes‘), son-
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Zweck führte Kleist den Erkundungsgang der Mutter neu ein, die dem Schicksal ihrer unglücklichen Söhne nachforscht. Auf jeder ihrer drei Stationen hört sie einen Bericht von dem bereits Jahre zurückliegenden Geschehen. Die erste Station ist das Irrenhaus, in dem die Mutter selbst das gespenstische Treiben ihrer Söhne beobachten kann und der Vorsteher sie näher unterrichtet; dann besucht sie den Tuchhändler Veit Gotthelf, der als Teilnehmer an dem geplanten Bildersturm aus eigenem Erleben das Geschehen in der Kirche, die Verrückung der Söhne sowie die anschließenden Ereignisse bis zur Aufnahme in das Irrenhaus erzählt und schon ein Eingreifen des Himmels vermutet; der Besuch der Mutter bei der Äbtissin endlich konfrontiert sie mit einer autoritativen Deutung des Geschehens im Sinne des kirchlichen Wunderglaubens. Zunächst faßt der Erzähler das Geschehen nüchtern und knapp zusammen, ohne jede religiöse Deutung. Auf den entscheidenden Stationen der Nachforschung aber, als die Mutter den Tuchhändler Veit Gotthelf und die Äbtissin aufsucht, deuten diese beiden das Geschehen legendenhaft-religiös. Außerdem modellieren sie ihren Bericht von den Ereignissen so, daß diese zur Deutung passen. Die Wahrnehmung der Wirklichkeit, so ergibt sich, resultiert immer schon aus einer vorgängigen Interpretation, und diese hängt von Voreinstellundern ein prozessuales Deutungsgeschehen durch verschiedene „Instanzen“ hindurch entfaltet: den Prozeß der Legendenbildung. Bezeichnenderweise spart Lubkoll dessen perspektivischen Endpunkt aus – den Abschluß der Legendenbildung durch das Machtwort des Bischofs und das „Breve“ des Papstes, die den Vorgang definitiv zum Wunder erklären und damit den Prozeß der Legendenbildung abschließen, nachdem er sich durch die vorausgehenden Erzähl- und Deutungsinstanzen anbahnte (Gotthelf) und steigerte (Äbtissin). Insofern ist auch die Behauptung unzutreffend, daß sich die verschiedenen Versionen „gegenseitig relativieren“; sie stehen vielmehr in einem linearen Verhältnis der Steigerung und Intensivierung, die von Gotthelfs Vermutung, der Himmel scheine seine Hand im Spiele gehabt zu haben, bis zur autoritativen Statuierung eines Wunders durch die kirchlichen Machtinstanzen führt (hierzu meine genaueren Ausführungen oben). Während Lubkoll trotz ihrer These von der desorganisierenden und den Leser desorientierenden „Aufsplitterung“ der Erzählinstanzen noch eine am Modell der „Partitur“ orientierte Polyphonie annehmen möchte, verabschiedet Anthony Stephens sämtliche Ordnungen (A.S.: Stimmengewebe: Antithetik und Verschiebung in Die heilige Cäcilie oder Die Gewalt der Musik, in: Kleists Erzählungen und Dramen. Neue Studien, hrsg. von Paul Michael Lützeler und David Pan, Würzburg 2001, S. 77–91). Ohne sich genauer auf den Text zu beziehen, behauptet er eine auf Diskrepanz und Dissonanz zielende Strategie der Verdoppelung und Verschiebung und negiert argumentlos jede „Entelechie“ der Erzählung. Weil die „entelechischen“ Interpretationen nicht einmal zur Kenntnis genommen, geschweige denn diskutiert werden, fehlt bei Stephens jeder historische Bezug auf die Romantik – weder der von Kleist selbst schon in der Überschrift exponierte Begriff der Legende noch die Problematik der Legendenbildung werden auch nur als Möglichkeiten des Zugangs und einer entsprechenden „Entelechie“ erwogen.
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gen und interessengeleiteten Vorurteilen ab. Wie aber vermag der Leser das wirkliche Geschehen von den vorurteilshaften Deutungen zu unterscheiden, wenn diese die Darstellung des Geschehens selbst schon bestimmen? Daß der Tuchhändler nicht bloß seinem Namen nach ein „Gotthelf“ ist, stellt sich alsbald heraus. Er, „der sich inzwischen verheiratet, mehrere Kinder gezeugt, und die beträchtliche Handlung seines Vaters übernommen“ hat (297), ist nicht nur bürgerlich etabliert, er hat sich auch die konventionellen religiösen Denkweisen angeeignet. „Der Himmel selbst“‚ vermutet er in seiner Rückschau auf das Scheitern des bilderstürmerischen Vorhabens, „scheint das Kloster der frommen Frauen in seinen heiligen Schutz genommen zu haben“ (299). Immerhin wahrt Veit Gotthelf noch eine gewisse Zurückhaltung, indem er seiner Meinung, es sei ein Wunder geschehen, ein „scheint“ hinzufügt. Nicht so die Äbtissin. „Gott selbst“, konstatiert sie (311) im Ton der Gewißheit, als die Mutter der Bilderstürmer bei ihr eintritt, habe das Kloster gegen den Anschlag beschirmt, und sie bekräftigt ihre Aussage mit der Feststellung: „Auch hat der Erzbischof von Trier, an den dieser Vorfall berichtet ward, bereits das Wort ausgesprochen, das ihn allein erklärt, nämlich daß die heilige Cäcilie selbst dieses zu gleicher Zeit schreckliche und herrliche Wunder vollbracht habe; und von dem Papst habe ich soeben ein Breve erhalten, wodurch er dies bestätigt“ (313). Damit ist der ganze Prozeß der Legendenbildung von der bloßen Vermutung über die feste Behauptung eines Wunders bis zur kirchlichen Sanktionierung durchschritten. Ironischerweise treffen die höchsten kirchlichen Autoritäten, die von dem ganzen Vorgang keinerlei authentische Kenntnis besitzen, die bestimmtesten Aussagen über ihn. Und daß sich die Äbtissin, über deren autoritative Erscheinung der Erzähler die vornehme Kühle eines Vermeerschen Damenbildnisses ausbreitet, ihrerseits auf die höchsten kirchlichen Autoritäten beruft, läßt erkennen, wie sehr Kleist hier seinem aufklärerischen Impuls folgt, Vorurteile und entsprechende Deutungsmuster gerade im Bereich der Autoritätsgläubigkeit aufzudecken, wo sich das Vorurteil als praeiudicium auctoritatis manifestiert.129 Mit einer subversiven Kunst, die auf erzählerische Hintergründigkeiten Kafkas vorausweist, läßt Kleist das angebliche „Wunder“ selbst als Konstrukt interessengeleiteter, also vorurteilshafter Interpretation erscheinen. Denn es geht nicht nur um ein „Wunder“ an sich, vielmehr um eine Pseudo-„Erklärung“ des scheinbar Unerklärlichen. Mit der Feststellung, die heilige Cäcilie habe anstelle der erkrankten Schwester Antonia und als deren Doppelgängerin die Aufführung der Kirchenmusik geleitet, „erklärt“, wie die Äbtissin wörtlich bemerkt, der Erzbischof von Trier, daß trotz der Krankheit der Schwester Antonia eine 129 Zur Bedeutung der aufklärerischen Vorurteils-Kritik für Kleist vgl. S. 19 f., ferner S. 56–59, S. 200–207.
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Person ihres Aussehens die Kirchenmusik dirigierte. Schon in der Marquise von O… dekuvriert Kleist solche Scheinerklärungen. Dort sieht sich die Marquise mit der ihr unerklärlichen Tatsache der Schwangerschaft konfrontiert und flüchtet deshalb in sakralisierende Vorstellungen. Ihr Verstand gibt sich „ganz unter der großen, heiligen und unerklärlichen Einrichtung der Welt gefangen“ (167), und je „geheimnisvoller“, also unerklärlicher ihr der Ursprung ihres Kindes scheint, desto „göttlicher“ (168) dünkt ihr die Frucht der Vergewaltigung. Auch hier erhalten Vorgänge, die zunächst unerklärlich erscheinen, ihre „Erklärung“ durch Suggestionen eines übernatürlichen Geschehenszusammenhangs: sei es, daß nun gleich die ganze „Einrichtung der Welt“ als „heilig“ erscheint oder daß der Ursprung des Kindes – in einem grotesken Komparativ – „göttlicher“ anmutet. In die Cäcilien-Erzählung zeichnet Kleist noch schärfere Profile ein. Denn hier handelt es sich nicht mehr wie bei der Marquise um einen verzweifelten mentalen Ausweg aus einer bedrohlichen Situation, sondern um die interessengeleitete Instrumentalisierung eines Vorfalls: Deshalb dient den kirchlichen Instanzen zur Erklärung dieses Vorfalls das Unerklärliche, zur Rationalisierung das ganz und gar Irrationale des „Wunders“. Das Paradoxale dieses Verfahrens entlarvt die dogmatische Voreingenommenheit, aus der es entspringt. Schließlich untergraben virtuose Subversionsstrategien die von der Äbtissin lancierte Beglaubigung des angeblichen Wunders. Hier muß man genau lesen: „Durch ein Zeugnis, das am Morgen des folgenden Tages, in Gegenwart des Klostervogts und mehrerer anderen Männer aufgenommen und im Archiv niedergelegt ward, ist erwiesen, daß Schwester Antonia, die einzige, die das Werk dirigieren konnte, während des ganzen Zeitraums seiner Aufführung, krank, bewußtlos, ihrer Glieder schlechthin unmächtig, im Winkel ihrer Klosterzelle darniedergelegen habe; eine Klosterschwester, die ihr als leibliche Verwandte zur Pflege ihres Körpers beigeordnet war, ist während des ganzen Vormittags, da das Fronleichnamsfest in der Kathedrale gefeiert worden, nicht von ihrem Bette gewichen. Ja, Schwester Antonia würde ohnfehlbar selbst den Umstand, daß sie es nicht gewesen sei, die, auf so seltsame und befremdende Weise, auf dem Altan der Orgel erschien, bestätigt und bewahrheitet haben: wenn ihr gänzlich sinnberaubter Zustand erlaubt hätte, sie darum zu befragen, und die Kranke nicht noch am Abend desselben Tages, an dem Nervenfieber, an dem sie danieder lag, und welches früherhin gar nicht lebensgefährlich schien, verschieden wäre“ (311f.).
Wer hat das entscheidende „Zeugnis“ abgelegt, das zu der „Erklärung“ durch ein Wunder führt? Wieder inszeniert Kleist eine Leerstelle. Bezeichnenderweise ist von keinem Zeugen, sondern nur von einem Zeugnis die Rede, das am Morgen des folgenden Tages „in Gegenwart des Klostervogts und mehrerer anderen Männer“ niedergelegt worden sei. Zeugen sind also nicht diese Männer oder der Klostervogt selbst, der ohnehin nicht am Krankenbett der bewußtlosen Schwester Antonia weilen konnte, da er in den entscheidenden Stunden seiner
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Pflicht folgte, den Gottesdienst im Dom gegen die Bilderstürmer „mit Leib und Leben zu beschirmen“ (291). Der Hinweis auf die Gegenwart des Klostervogts bei der angeblichen Bezeugung des Vorfalls dient wiederum nur der Stützung durch eine sekundäre Autorität, während die primäre Instanz, der entscheidende Zeuge selbst, unbekannt bleibt. Ein Zeugnis aber, von dem man nicht einmal erfährt, auf wen es zurückgeht, und von dem nur, in einem weiteren Verschiebungsakt, eine dritte Instanz – die Äbtissin – behauptet, daß es „niedergelegt“ worden sei, ist kaum mehr als ein Gerücht. Zwar wäre es denkbar, daß das Zeugnis von der Klosterschwester stammt, die sich dem nachträglichen Bericht der Äbtissin zufolge angeblich die ganze Zeit über am Krankenbett der – angeblich – bewußtlosen Antonia befand. Aber gerade dies sagt die Äbtissin nicht. Und warum betont sie trotz des von ihr genannten Zeugnisses so angelegentlich, Schwester Antonia würde „ohnfehlbar“ selbst bewahrheitet haben, daß nicht sie das Kirchenkonzert geleitet habe, wenn sie nicht schon am Abend desselben Tages gestorben wäre? Zu Kleists subversivem Erzählen gehört auch die Erregung und Lenkung des Leserverdachts – in diesem Falle des Verdachts, daß sich die kirchlichen Instanzen den Tod der Schwester Antonia zu Nutze machen. Nicht genug damit: Wenn das Nervenfieber, an dem Antonia litt, nach der Aussage der Äbtissin „früherhin gar nicht gefährlich schien“, konnte sie dann nicht doch die Musik dirigieren? Und wenn sie gerade am Abend des Tages verstarb, an dem die Kirchenmusik aufgeführt wurde, regt sich dann nicht der Verdacht, daß sich das Nervenfieber erst durch die ungewöhnliche Anstrengung bei der Aufführung der Kirchenmusik, noch dazu in der hochprekären Situation eines erwarteten Bildersturms, bis zur tödlichen Krise verschärfte? Den Ausgangspunkt dieser subversiven Darstellung bildet die nur in der ersten Fassung stehende Bemerkung des Erzählers, mit dem „Wort“, das der Erzbischof von Trier zuerst aussprach, daß nämlich die heilige Cäcilie ein Wunder vollbrachte, habe die Äbtissin ihrerseits „aus mancherlei Gründen“ nicht laut zu werden gewagt (312) – ein ebenso diskreter wie unübersehbarer Hinweis darauf, daß die Äbtissin, die es besser wissen muß als der Erzbischof, „Gründe“ besitzt, nicht an ein Wunder der heiligen Cäcilie zu glauben. In der zweiten Fassung zeigt Kleist die Äbtissin nicht mehr so zurückhaltend. Statt dessen macht er die „Gründe“, die sie in der ersten Fassung an einem Wunder der heiligen Cäcilie zweifeln lassen, durch eine verdachterregende Begründung in ihrem nun neu eingeführten affirmativen Bericht zum Gegenstand leserischen Spürsinns. Das in der ersten Fassung erzählerisch vermittelte Wissen der Äbtissin um die „mancherlei Gründe“ verschiebt sich damit in einen Erkenntnisprozeß, den der Leser zu leisten hat. Indem er nicht mehr bloß die Rolle des passiven Rezipienten von schon explizit Geklärtem erhält, vielmehr sich selbst zum klärenden Denken herausgefordert sieht, steigert sich das dramatische Erzählen zu einem
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Drama des Lesens. Fakten sind zu erhellen und Meinungen, ja „Zeugnisse“ zu hinterfragen, darüberhinaus Interessen und Vorurteile zu dekuvrieren. So erzeugen die Schwierigkeiten und Irritationen der Lektüre ein Bewußtsein von der Notwendigkeit kritischer Skepsis angesichts der von Desorientierung bedrohten Welt. Hohe szenische Qualität und eine provozierende Intensität gewinnen die Gefahren der Desorientierung im Bericht des Tuchhändlers Veit Gotthelf. Kleist fügte ihn in die zweite Fassung neu ein, um der Erzählung mehr Fülle, mehr Kolorit und lebendige Dramatik zu verleihen. Vor allem aber sollte er zur psychologischen Analyse herausfordern. Während die spätere Verlautbarung der Äbtissin ein längst vorurteilshaft deformiertes Bewußtsein verrät, kommt in Veit Gotthelfs Erzählung der Prozeß der Deformierung selbst zum Ausdruck. Denn seine Darstellung des Geschehens entspringt nicht objektiven Beobachtungen, sondern einer tiefreichenden Verzerrung der Wahrnehmung. Was in E. T. A. Hoffmanns Serapionsbrüdern positiv als generatives poetisches Prinzip diskutiert wird, daß nämlich der „Hebel“ der Wirklichkeit die Phantasie in Gang setze und sie schließlich ein buntes Eigenleben gewinnen lasse, erscheint hier als Form der Wirklichkeitsverfehlung. Dies gilt besonders für die Erzählung von dem unheimlichen Treiben der vier „gotteslästerlichen Brüder“ bei Beginn der Geisterstunde. Daß dieser Erzählung zufolge der gräßliche Gesang die Pfeiler des Hauses erschütterte und die Fenster klirrend „zusammen zu brechen“ drohten, zeugt von entfesselter Phantasie, und daß Veit Gotthelf sogar ein „versichere ich Euch“ (303) einfügt, beweist, wie weit sich seine Vorstellungen unreflektiert verfestigt haben. Phantasmatisch entstellt wirkt auch sein abschließend in religiöse Vorstellungen ausufernder Vergleich, demzufolge das „schauderhafte und empörende Gebrüll“ „wie von den Lippen ewig verdammter Sünder, aus dem tiefsten Grund der flammenvollen Hölle, jammervoll um Erbarmung zu Gottes Ohren heraufdrang“ (303). Implizit diagnostiziert Kleist eine bis an die Grenze der Wahnbildung reichende psychische Deformation. Sie vollzieht sich unter dem Eindruck des Außerordentlichen. Zwar befriedigt er, wie dies später auch E. T. A. Hoffmann gerne tat, die romantische Lust am Exzentrischen und Gespenstischen – bewußt inszeniert er hier ein Stück Schauerromantik. Aber das ist nur die Oberfläche. Zugleich unterläuft Kleist die Romantik, indem er ihre aberranten Züge hervortreten läßt. Die schon im Erdbeben in Chili und in der Marquise von O… auf Desillusionierung zielende Darstellung von Illusionsbildungen folgt in dieser Pseudo-Legende einem romantikkritischen Impuls. Im ganzen hat die Erzählung eine gegenläufige Struktur: Während die „Gewalt der Musik“ bei den unmittelbar erlebenden Personen eine gefühlshafte Konversion zum Katholizismus bewirkt, erregt die Darstellung beim mitdenkenden Leser einen „protestantischen“ Widerspruch gegen das Dargestellte. So hat Kleist die schon vom Anlaß der Erzählung her
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ambivalente Disposition des Geschehens auch wirkungsästhetisch zur Geltung gebracht. Analog zur psychologischen Hinterfragung der Romantik entwickelt sich eine hintergründige Konfessionspsychologie, die dem Anlaß der „Legende“ entspricht. Gerade die reaktive Einseitigkeit des Protests gegen die Dominanz des Sinnlichen im katholischen Ritus disponiert die protestantischen Bilderstürmer zum dialektischen Umschlag und liefert sie einer Psychodynamik aus, deren Ergebnis ihre unfreiwillige „Konversion“ ist. In dieser Perspektive repräsentiert die „Gewalt der Musik“ eine äußerste Steigerung jener sinnenhaften Seite der Religion, die sie radikal bekämpften. Das eine Extrem ruft das andere hervor. Denn die Musik, in deren unwiderstehlichen Bann die vier Brüder geraten, besitzt gegenüber der Bilderwelt, die sie zerstören wollten, ein ungleich stärkeres Potential sinnlich-gefühlshafter Faszination und „Gewalt“. Darüber hinaus kommt zum Ausdruck, daß der Protest, sofern er nur zerstört, destabilisierende Rückwirkungen auf diejenigen hat, von denen er ausgeht. Selbstzerstörerische Reaktionsbildungen gehören immer wieder zum Grundmuster des Geschehens in Kleists Werken. Die vier Brüder, deren auffallend unpersönliches Gruppenverhalten schon von vorneherein Züge eines zur Depersonalisierung tendierenden Kollektivzwangs und insofern eine verräterische Prädisposition erkennen läßt, verlieren jede individuelle Autonomie und verfallen einer vollständigen Heteronomie. Sie werden zu Musik-Automaten. Der Selbstverlust geht so weit, daß sie nicht einmal mehr an ihm leiden – mit knappen Strichen ist dies als das Endstadium eines psychischen Prozesses skizziert. Am Beginn, nachdem das Ungeheure über die vier Brüder hereingebrochen ist, intonieren sie „mit einer entsetzlichen und gräßlichen Stimme“ das Gloria in excelsis. In ihrem „schauderhaften und empörenden Gebrüll“ verrät sich noch die Gewalt, die ihnen widerfährt. Es handelt sich um „qualvolle Geschäfte“ (305). Später aber verschwinden die Spuren der Gewalt, die vier Brüder stabilisieren sich in einem Habitus der Selbstaufgabe, der ihnen so sehr zur Selbstverständlichkeit wird, daß sie „im späten Alter“ sterben, und zwar „eines heitern und vergnügten Todes, nachdem sie noch einmal, ihrer Gewohnheit gemäß, das Gloria in excelsis abgesungen“ (313) haben. Sie sind, in der Terminologie von Kleists berühmtem Aufsatz, zu Marionetten geworden, worauf noch besonders das mechanische „Absingen“ weist. Die Gewalt, die sie zu Beginn des Geschehens in zerstörerischer Weise ausüben wollten, ist umgeschlagen in eine Gewalt, die sie selbst zerstört hat, und dies so vollständig, daß sie nicht einmal mehr als Gewalt zum Ausdruck kommt. Eine radikalere Religionskritik ist kaum denkbar, denn was hier als religiöser Wahn erscheint, trifft zugleich die Religion als eine totalisierte Welt des Wahns, in der die Menschen „heiter“, weil von aller Last des Selbstseins befreit ihr kaum noch menschlich zu nennendes kollektives Wesen treiben.
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8. Der Zweikampf. Die Geschichte als Labyrinth des Sinnlosen Das Thema des Zweikampfs behandelte Kleist bereits in seiner Geschichte eines merkwürdigen Zweikampfs. Sie knüpfte an eine Anekdote in Jean Froissarts (1338–1405) Chroniques an und erschien im Februar 1811 in den Berliner Abendblättern. Darin geht es allerdings nur um die verletzte Ehre einer Dame. Den Brudermord machte Kleist erst in seiner wohl letzten Erzählung, die lediglich im zweiten Band der Erzählungen von 1811 überliefert ist, zum Ausgangspunkt des gesamten Geschehens. Neu erfand er auch das Alibi als Handlungselement, das die beiden Geschehenskomplexe – den Brudermord und die Geschichte von der verletzten Ehre einer Frau – miteinander verklammert.130 Ebenfalls neu ist die doppelte Verrätselung durch die Täuschung des Grafen Rotbart in der Liebesnacht und durch den trügerischen Ausgang des Gottesgerichts, den Cervantes in seiner Erzählung Die Drangsale des Persiles und der Sigismunda bot. Der zu Kleists Berliner Umkreis gehörende Franz Theremin hatte sie 1808 in deutscher Übersetzung vorgelegt. Schwer abzuschätzen bleibt, inwiefern Kleist den Zweikampf in Gestalt des zeitgenössischen Duell-Brauchs als säkularisiertes Gottesurteil mitreflektierte. Immerhin geriet er selbst mehrere Male in Situationen, die ihn zum Duell reizten. Analog zum Zerbrochnen Krug und zur Marquise von O… wählte Kleist für seine Erzählung, deren Struktur dem fünfaktigen Drama entspricht131, das analytische Handlungs-Schema. Am Beginn steht eine Tat, die Aufklärung fordert und nach einer Reihe von spannungserzeugenden Hindernissen und Komplikationen auch Aufklärung findet. Und wie im Zerbrochnen Krug und in der Marquise von O… führen die Versuche der unmittelbar Beteiligten, den Geschehenszusammenhang zu verstehen, in die Irre. In dieser Hinsicht aber geht Kleist erheblich weiter als in seinen früheren Werken. Er verrätselt den Handlungszusammenhang für die Betroffenen, und mit der Möglichkeit des Verstehens nimmt er ihnen auch die des Urteilens. Deshalb rufen sie das Gottes-Urteil an. Irrational und dezisionistisch delegieren sie die ihnen selbst nicht mögliche Lösung des Problems an eine vermeintlich absolute und allwissende Autorität – an eine außermenschliche Letztinstanz. Der Rückgriff auf die am Beginn des 19.Jahrhunderts schon seit mehr als einem halben Jahrtausend ob130 Zu Kleists konzeptioneller Strategie vgl. Klaus Müller-Salget: Das Prinzip der Doppeldeutigkeit in Kleists Erzählungen [1973], in: Kleists Aktualität. Neue Aufsätze und Essays 1966–1978, hrsg. von Walter Müller-Seidel (Wege der Forschung 586), Darmstadt 1981, S. 166–199, hier S. 184–186. Vgl. auch Müller-Salget in SWB 3, S. 896f. 131 Auf die Gliederung in fünf Handlungsabschnitte hat schon Karl Otto Conrady hingewiesen: K. O. C.: Der Zweikampf. Zur Aussageweise Heinrich von Kleists, in: Der Deutschunterricht (1951), H. 6, S. 85–96.
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solete Institution des Gottesgerichts erzeugt einen aufreizenden Verfremdungseffekt. Im Horizont des modernen Bewußtseins provoziert er die Frage, ob das vermeintliche Gottesurteil nicht bloß der dämonisierte Zufall ist, der gerade keinen Sinn des Geschehens verbürgt, sondern dessen sinnlose Beliebigkeit anzeigt. In Schillers Wallenstein huldigt Gräfin Terzky der puren Opportunität des Faktischen mit den Worten: „… aller Ausgang ist ein Gottes Urteil“.132 Daß Kleist in der Maske des historisierenden Erzählers die Möglichkeit geschichtlichen Verstehens und Wertens problematisiert, erscheint im Kontext seiner Zeit als symptomatisch. Die Französische Revolution und die Napoleonischen Kriege erschütterten die alte Ordnung und bewirkten einen weitreichenden Orientierungsverlust. Vielfach lösten sie mentale Fluchtbewegungen aus. Goethe und Schiller zogen sich aus einer von ihnen als chaotisch und sinnlos empfundenen Geschichte in eine vermeintlich autonome Kunstwelt zurück. Goethe vertrat lebenslang diese Position. „Die Weltgeschichte sei eigentlich nur ein Gewebe von Unsinn für den höhern Denker, wenig aus ihr zu lernen“, bemerkte er am 11. Oktober 1824 im Gespräch zu Kanzler von Müller mit einem ironischen Seitenhieb auf die zeitgenössischen Geschichtsphilosophen. Wiederum in einer seiner Unterhaltungen mit Kanzler von Müller äußerte er am 6. März 1828: „Ich bin nicht so alt geworden, um mich um die Weltgeschichte zu kümmern, die das Absurdeste ist, was es gibt“.133 Nicht zuletzt wandte sich Goethe einer enthistorisierten Antike sowie dem von zeitlos gültigen Gesetzen bestimmten und daher allem Geschichtlichen enthobenen Reich der Natur zu. Einen gegenteiligen Reflex auf die Erfahrung des geschichtlichen Chaos der Gegenwart verraten die bezeichnenderweise gerade in diesen Jahren unternommenen Versuche geschichtsphilosophischer Sinngebung. Hölderlin und Novalis entwickelten ein Denken, das die Geschichte als einen sinnvoll verlaufenden Gesamtprozeß zu erfassen versucht. Dessen Erkenntnis sollte die krisenhaftamorphe Gegenwart als bloßes Übergangsgeschehen auf ein schon am Horizont aufleuchtendes utopisches Vollendungsziel hin orientieren. Hegel entwarf in seiner Phänomenologie des Geistes, die 1807 erschien, ein für den gleichzeitig schreibenden Kleist noch ferner liegendes Bewältigungsmodell, indem er Geschichte nicht nur als Vollendungsprozeß, sondern auch als Vergeistigungsgeschehen und insofern als sinnvoll zu begreifen suchte. Kleist gestaltete die implizite Geschichtsreflexion im Zweikampf ganz konträr. Pessimistisch und ironisch dementiert er jedweden Sinn. Nicht die Hegelsche „List der Vernunft“ sieht er am Werk, sondern die List einer Kammerzofe. Vor allem hat das Ge132
Wallensteins Tod, V. 473. Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. II. Abteilung: Briefe, Tagebücher und Gespräche, hrsg. von Karl Eibl u. a., Bd. 10 (37), hrsg. von Horst Fleig, Frankfurt 1993, S. 207 und S. 596. 133
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schehen von Anfang an keinen Richtungssinn. Es erschöpft sich im schwer entwirrbaren Geflecht von Standes-, Macht- und Besitz-Interessen sowie in zufälligen Trieb-Fixierungen. Schließlich zeigen die den Betroffenen nahezu unauflösbaren Schwierigkeiten des Verstehens und die daraus resultierende Unmöglichkeit einer Urteilsfindung, wie orientierungslos sich die Menschen in die Vorgänge verstricken. Der in der Konstruktion eines Gottes-Urteils vermeintlich providentiell waltende Gott gerät selbst zu einer Hypothese, die sich sowohl in der Kontingenz des Geschehens wie in der Unabschließbarkeit geschichtlichen Verstehens verflüchtigt.134 Während der entteleologisierten Geschichte keinerlei übergeordneter Richtungssinn zukommt, läßt die Erzählung die Interessen der in ihr handelnden Menschen als die eigentlichen Triebkräfte der Geschichte hervortreten: die von Kleist seit jeher als gesellschaftliche Ursünde im Sinne Rousseaus begriffene Fixierung der Menschen auf das Eigentum und die damit sich verbindenden Rang- und Machtansprüche. Es handelt sich um eine Analyse ab inferiori, die nur noch profane Kausalität statt einer höheren Finalität diagnostiziert. Aus Besitzgier läßt Graf Jacob der Rotbart seinen Bruder ermorden und ebenfalls aus Besitzgier wird Littegarde von ihren Brüdern verstoßen. Schon der Beginn der Erzählung lenkt die Aufmerksamkeit auf die mörderischen Folgen des Eigentums- und Machtstrebens sowie auf den falschen Schein, hinter dem es sich verbirgt. Wie bereits im Erstlingswerk, in der Familie Schroffenstein, zerreißt ein Familien-Erbe die nächsten verwandtschaftlichen Bande. Selbst die Rede von Rang und Stand erweist sich nur als Vorwand zur Tarnung materieller Interessen, wenn es heißt, daß Herzog Wilhelm von Breysach „seit seiner heimlichen Verbindung mit einer Gräfin, namens Katharina von Heersbruck, aus dem Hause Alt-Hüningen, die unter seinem Range zu sein schien, mit seinem Halbbruder, dem Grafen Jacob dem Rotbart, in Feindschaft lebte“ (314). Warum sollte gerade der „Graf“ Jacob der Rotbart einen Anlaß zur Feindschaft darin sehen, daß der herzogliche Bruder eine „Gräfin“ heiratet, und warum sollte gerade er um die „Rang“-Ordnung besorgt sein? Das „schien“ signalisiert den 134 Gerade daraus ergibt sich der übergeordnete Zusammenhang der Erzählung, der auch das Erzählmuster strukturell bestimmt. Vgl. dagegen Gerhard Neumann: Der Zweikampf. Kleists „einrückendes“ Erzählen, in: Interpretationen: Kleists Erzählungen, hrsg. von Walter Hinderer, Stuttgart 1998, S. 216–246. Er vertritt die dekonstruktivistisch inspirierte These, es handle sich um eine „Serie aufeinandergepfropfter, im Grunde nicht integrierbarer ‚Geschichten‘“ (S. 226), Kleist habe eine Reihung von „Teilsystemen des Erzählens“ vorgenommen, die „nicht mehr integrierbar“ seien (S. 234). Dagegen spricht schon der durch das Alibi zustandekommende äußerlich-kausale Konnex der Brudermord-Geschichte und der Littegarde-Geschichte, aber auch die gerade in der Sprunghaftigkeit des Geschehens markant sich abzeichnende Konstanz der Motivation: die Habgier der Akteure (hierzu das Folgende).
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falschen Schein. In Wahrheit will der Rotbart seinen Bruder beerben – dessen Heirat stört ihn wegen der daraus zu erwartenden erbfähigen Nachkommen. Kleist verschärft seine Kritik an der Gesellschaft, indem er sie auf ihre Gesetze ausweitet. „In Ermangelung ehelicher Kinder, die ihm gestorben waren“, so heißt es, habe der Herzog beim Kaiser „die Legitimation eines, mit seiner Gemahlin vor der Ehe erzeugten, natürlichen Sohnes, des Grafen Philipp von Hüningen, ausgewirkt“ (314). Schon in der Familie Schroffenstein spielt ein ‚natürlicher‘ Sohn eine wichtige Rolle. Seine entrechtete und marginalisierte Existenz ist die lebende Anklage gegen eine Gesellschaft, welche die ‚Natur‘ des Menschen diskriminiert. In seiner letzten Erzählung greift Kleist nochmals auf die Figur des natürlichen Sohns zurück, um die Gesellschaft und ihre Gesetze durch diese Inkarnation des mißachteten Naturrechts bloßzustellen – in aufschlußreichem Kontrast zu der Konzeption, die Goethe seinem Drama Die natürliche Tochter zugrundelegt. Würde der Herzog seinen natürlichen Sohn vom Kaiser nicht eigens legitimieren lassen, bliebe dieser „in Folge des Gesetzes“ (314) rechtlos und ohne Erbe. Mit seiner Mordtat versucht Graf Jacob der Rotbart, der seine beiden Söhne „in der bestimmten Hoffnung der Thronfolge erzogen“ hatte (315), im letzten Moment die offizielle Übertragung des Erbanspruchs auf den natürlichen Sohn zu verhindern. Daß er schließlich doch noch auf seinen Erbanspruch verzichtet, ist lediglich ein kluger Schachzug, der den Tatverdacht von ihm ablenken soll. Bezeichnenderweise legt Kleist auch dem zweiten Handlungskomplex, der Geschichte Littegardes, das Motiv der Besitzgier zugrunde. Daraus ergibt sich die konzeptionelle Konsistenz des Geschehens im Bereich der Ursachen. Littegardes Brüder nehmen das zu Lasten ihrer Schwester gehende Alibi des Grafen zum Anlaß, um in gespielter moralischer Entrüstung ihre Schwester zu verstoßen und zu enterben – und wie es schon dem Grafen Rotbart angeblich um den „Rang“ bei der Heirat des herzoglichen Halbbruders ging, so sorgen sich Littegardes Brüder nun angeblich um die „Ehre“ der Familie. Mit unerbittlicher Konsequenz entlarvt Kleist alle Berufung auf Moral, Rang, Stand und Ehre als falschen Schein, hinter dem sich immer nur Habgier verbirgt. Er demonstriert, wie sogar das Recht und die Gesetze zugunsten des Besitzstrebens instrumentalisiert werden. „Dabei trugen sie“, heißt es von Littegardes Brüdern, „zur Ehrenrettung der durch sie beleidigten Familie, darauf an, ihren Namen aus der Geschlechtstafel des Bredaschen Hauses auszustreichen, und begehrten, unter weitläufigen Rechtsdeduktionen, sie, zur Strafe wegen so unerhörter Vergehungen, aller Ansprüche auf die Verlassenschaft des edlen Vaters, den ihre Schande ins Grab gestürzt, für verlustig zu erklären“ (327f.). Bereits in Kleists erster Erzählung, im Erdbeben in Chili, stößt ein „stolzer“ Bruder, Sohn eines der „reichsten Edelleute der Stadt“ (189), seine Schwester ins Unglück – angeblich nur aus moralischer Entrüstung über ein Liebesabenteuer.
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Faßt man als eigentliche Ursache des gesamten unheilvollen Geschehens im Zweikampf die menschliche Besitzgier ins Auge, dann zeugt die Anrufung des Gottesurteils von einer tiefreichenden strukturellen Ironie. Denn das Gottesurteil soll Schuld oder Unschuld Littegardes erweisen, nachdem sie ins Elend geraten ist. Dieser Erweis ist aber letztlich nur notwendig, weil Graf Jacob der Rotbart ein Alibi im Hinblick auf seinen aus Besitzgier begangenen Brudermord brauchte und weil Littegarde durch ihre Brüder aus Besitzgier preisgegeben wurde. In ironischer Verkehrung der theologischen Annahme von einer göttlichen ‚Vorsehung‘ bliebe für Gott, wenn es ihn gäbe und er sich mit den Menschen befassen würde, hier nur noch das Nachsehen. Doch hat Gott nicht einmal das Nachsehen, denn nicht das vermeintliche Gottesurteil, sondern der Fortschritt normaler gerichtlicher Untersuchungen bringt Licht ins Dunkel. Wie in anderen Werken verfolgt Kleist vom Standpunkt aufgeklärter Religionspsychologie aus das Ziel, die mentalen und psychischen Dispositionen freizulegen, die religiöse Vorstellungen erzeugen oder begünstigen. Paradigmatisch repräsentiert das institutionell verankerte „Gottesurteil“ derartige Vorstellungen. Kleists vielfach nachweisbares, aus der französischen und preußischen Aufklärung stammendes religionskritisches Engagement gewann seine besondere Aktualität durch die auch von Goethe abgelehnte neureligiöse Tendenz der Romantik. Indem Kleist seine Zweikampf-Erzählung im Mittelalter ansiedelt, folgt er der gerade aus solchen neureligiösen Tendenzen entspringenden MittelalterMode der Romantiker. Doch greift er sie mit entgegengesetzter Absicht auf: Während die Romantiker die mittelalterlich-ungebrochene Glaubenswelt sympathisierend heraufbeschwören (die Schrift des Novalis über Die Christenheit oder Europa bezeugt dies besonders eindringlich), bedient sich Kleist ihrer als eines Szenarios, das die romantisch-identifikatorische Hinwendung zum Mittelalter indirekt als anachronistische Regression bloßstellt. Seine Erzählung ist eine mit allen Raffinessen der Camouflage arbeitende Kontrafaktur. Die neureligiöse Strömung der Romantik erzeugte auch eine neue Bereitschaft zum Wunderglauben; dessen bevorzugter literarischer Ausdruck war traditionell die Legende. Mit Vorliebe wandten sich die romantischen Schriftsteller der Legendendichtung zu, so wie die romantische Malerschule der Nazarener die bildhafte Darstellung legendenhaft-‚wunderbarer‘ Begebenheiten pflegte. Mit seiner Cäcilien-Erzählung, die sich schon im Untertitel als „eine Legende“ ausgibt, und mit dem Zweikampf, der zahlreiche legendenhafte Elemente enthält, adaptiert Kleist dieses romantische Mode-Genre, aber nicht affirmativ, sondern subversiv: Er stellt das Geschehen als ein nur scheinbar legendenhaft-wunderbares, in Wahrheit aber rational auflösbares dar. Allerdings reißt zunächst ein geradezu kataraktisches Erzählverfahren den Leser über die zahlreichen Untiefen fort, die ihn zu einer kritisch denkenden Lektüre herausfordern.
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An der Strategie des dramatischen Erzählers fällt vorab die Zuspitzung auf extreme Ereignisse auf: Von dem nächtlichen Mordanschlag am Beginn über die Verstoßung Littegardes und den verhängnisvollen Zweikampf reichen sie bis zu dem Tag, an dem das Basler Gericht die Hinrichtung Littegardes und ihres Freundes spektakulär inszeniert. Kleist markiert solche entscheidenden Augenblicke, indem er sie mit einem historisierenden Kolorit versieht: Der Mordanschlag des Grafen Rotbart auf seinen herzoglichen Halbbruder ereignet sich in der „Nacht des heiligen Remigius“, sein öffentlicher Auftritt vor dem Gericht in Basel am „Montag nach Trinitatis“, der Zweikampf in Basel findet am „Tag der heiligen Margarethe“ statt. Zur dramatisierenden Regie des Augenblicks gehören neben der Zuspitzung auf derartige Höhepunkte auch auffällig viele Wendepunkte. Die erste Peripetie ereignet sich in Littegardes „Sturz, von der Höhe eines heiteren und fast ungetrübten Glücks, in die Tiefe eines unabsehbaren und gänzlich hülflosen Elends“ (324). Kleist läßt sich hier von der Theorie der ‚Fallhöhe‘ und von seiner Dramatisierungslust so weit hinreißen, daß er sogar gegen die bisherige Erzählung von Littegardes Leben eklatant verstößt. Denn Littegarde befand sich vor dem „Sturz“ keineswegs auf der „Höhe eines heiteren und fast ungetrübten Glücks“. Ganz im Gegenteil: Früh verwitwet, wollte sie ihren beiden „auf die Hinterlassenschaft ihres Vermögens rechnenden Brüdern“ nicht „mißfallen“ und verzichtete deshalb „in einem unter vielen Tränen abgefaßten Schreiben“ auf die Vermählung mit Friedrich von Trota, der ihr der „Teuerste und Liebste“ war (321). Zu einer neuerlichen Peripetie kommt es nach dem Zweikampf, denn während der nur geringfügig verletzte Graf Rotbart in perniziöses Siechtum verfällt, gesundet sein scheinbar tödlich verwundeter Herausforderer gegen alle Erwartung. Und als Friedrich von Trota und Littegarde auf dem Scheiterhaufen schon dem Tod in den Flammen entgegensehen, bewirkt das Geständnis der Kammerzofe im letzten Augenblick die rettende Peripetie. So weit geht Kleist in seiner Vorliebe für dramatisierende Umschwünge, daß er sie sogar ins Binnengeschehen einzelner Szenen einfügt. Als Friedrich von Trota die eingekerkerte Littegarde besucht, gibt sie unter dem Eindruck des vermeintlichen Gottesurteils zunächst ihr eigenes Bewußtsein von ihrer Unschuld auf und bezeichnet sich verzweifelt als „schuldig, überwiesen, verworfen, in Zeitlichkeit und Ewigkeit verdammt und verurteilt“ (338). Bei diesen Worten fällt ihr Besucher in Ohnmacht, während seine Mutter die Gefangene verflucht. „Gereizt“ von den Worten der Mutter – sie bewirken die Peripetie – durchbricht Littegarde die blockierende Obsession durch das Gottesurteil und vermag ihre Unschuld zu versichern. Der Dramatisierung dient auch die intensive szenische Gestaltung, mit der Kleist vordergründig dem romantischen Bedürfnis nach Mittelalterlichem entgegenzukommen scheint. Durch die gesamte Handlung ziehen sich große öffentliche Schau-Szenen. Von „einem glänzenden Gefolge von Rittern“ begleitet,
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tritt Graf Jacob der Rotbart vor Gericht auf, der Zweikampf ist eine öffentliche Sensation, und die Vorbereitung zur Hinrichtung am Ende erregt das Interesse einer großen Menschenmenge, an deren Spitze sich sogar der kaiserliche Hofstaat befindet. Zwischen und vor diesen Schau-Szenen, die allesamt im mittelalterlichen Basel spielen, entfalten sich dramatisch bewegte Szenen auf verschiedenen Schlössern, zuerst auf dem des tödlich getroffenen Herzogs von Breysach, dann auf Littegardes Burg und schließlich auf derjenigen Friedrichs von Trota, auf der die von ihren niederträchtigen Brüdern Vertriebene Zuflucht findet. Die mit Abstand wichtigste Szene spielt allerdings in Littegardes Gefängnis. Dramatisch wirkt sie schon durch ihre hohe dialogische Dichte, und der Dramatiker Kleist legt in die Dialoge auch die größte Problemspannung. Vor allem aber gestaltet er in dieser Szene eine dramatische Extremsituation an der Grenze zum Wahnsinn, ähnlich wie Goethe in Gretchens Kerkerszene am Ende des Faust. Dramatisierend wirkt auch die analytische Handlungsstruktur. Zwar gibt der Erzähler von Anfang an genügend Signale, die auf den Täter hinweisen – in Atem halten aber den Leser die Intrigen und unerwarteten Wendungen, die schließlich doch die Enthüllung der Wahrheit nicht verhindern können. Sie liegt zum Greifen nahe, wird aber immer wieder verdunkelt. Wie im Zerbrochnen Krug ergibt sich das Grundmuster der analytischen Handlung aus einem Gerichtsverfahren, in dessen Verlauf Zeugenaussagen und Indizienbeweise eine entscheidende Rolle spielen. Neu kommt ein Alibi hinzu: Der Hinweis auf die vermeintliche Liebesnacht mit Littegarde erlaubt es dem Grafen Rotbart, sich selbst zumindest als unmittelbaren Mörder seines Bruders zu entlasten, obwohl er die Herkunft des tödlichen Pfeils aus seiner Rüstkammer und damit den primären Indizienbeweis nicht aus der Welt zu schaffen vermag. Man braucht nur die Probe aufs Exempel zu machen, um den Irrtum des Täters in seiner Tragweite zu ermessen. Hätte er gewußt, daß er nicht mit Littegarde, sondern mit deren Kammerzofe die ihm vor Gericht als Alibi dienende Nacht verbrachte, so hätte er statt Littegarde die Kammerzofe preisgegeben. Dann wäre nicht nur Littegarde großes Leid erspart geblieben, auch ihr Beschützer Friedrich von Trota wäre nicht auf den Plan getreten, folglich wäre das Gottesurteil nicht angerufen worden und hätte der Zweikampf nicht stattgefunden … kurz: Die gesamte dramatische Konstellation wäre nicht zustandegekommen. Der Irrtum des Grafen bei seinem nächtlichen Liebesabenteuer erweist sich damit als Angelpunkt alles Geschehens! Die entscheidende Bedeutung, die dieses zunächst nebensächlich erscheinende Detail erhält, zielt auf die ans Absurde grenzende Kontingenz, der das menschliche Leben ausgeliefert ist. Das erinnert an den berühmten Brief vom 18. Juli 1801, in dem Kleist von einem Reiseabenteuer berichtet, bei dem seine Kutschpferde, aufgescheucht durch einen schreienden Esel, durchgingen und die Kutsche umwarfen, in der er mit seiner Schwester
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saß: Demnach, gibt Kleist zu bedenken, kann unser Leben von einem Eselsgeschrei abhängen.135 Noch absurder verketten sich die Umstände insofern, als der Irrtum des Grafen Rotbart Littegarde zwar zunächst in schwere Bedrängnis bringt, ihr letztlich aber zu ihrem Lebensglück mit Friedrich von Trota verhilft. Denn ohne das Alibi des Grafen hätte sie wegen ihrer habgierigen Brüder auch weiterhin auf die Verbindung mit dem geliebten Mann verzichtet und ihr Leben in einem „Frauenstift“ beschlossen. Das gute Ende für sie und Friedrich von Trota ist teuer erkauft durch die Konsequenzen, die das Alibi für sie hat; es kommt aber paradoxerweise durch dieses Alibi überhaupt erst zustande. Glück wie Unglück des menschlichen Lebens, so signalisiert Kleists letzte Erzählung, sind unberechenbaren Fremdbestimmungen ausgeliefert. Denn es fällt ja auch auf, daß der Brudermord die Handlung zwar in Gang setzt, daß sich dann aber die Littegarde-Handlung samt dem Gottesurteil zum Hauptgeschehen auswächst. Diese überraschende Verschiebung des Handlungsschwerpunkts spiegelt strukturell die Kontingenz menschlicher Schicksale. Dem widerspricht nicht, daß Kleist, getreu seinem rousseauistischen Grundansatz, die aus der Eigentumsfixierung resultierende Habgier der Menschen zur tieferen Ursache der Vorgänge macht. Sobald jedoch das Geschehen diesen Bereich primärer Handlungsmotive verläßt, gewinnt es eine beliebige Dynamik, die ursprünglich ganz unbeteiligte Menschen tödlich gefährdet. Die konzeptionelle Pointe liegt darin, daß Kleist zwar eine weitgehende Kontingenz menschlicher Schicksale entwirft, aber mit der Subversion des Gottesurteils auch die moderne Versuchung zur Verabsolutierung der Kontingenz und damit jedweden irrationalen Dezisionismus problematisiert. Wie sehr ihn dieses Thema reizte, bezeugt auch seine Anekdote Helgoländisches Gottesgericht: „Die Helgoländer haben eine sonderbare Art, ihre Streitigkeiten in zweifelhaften Fällen, zu entscheiden; und wie die Parteien, bei anderen Völkerschaften, zu den Waffen greifen, und das Blut entscheiden lassen, so werfen sie ihre Lotsenzeichen (Medaillen von Messing, mit einer Nummer, die einem jeden von ihnen zugehört) in einen Hut, und lassen durch einen Schiedsrichter, Eine derselben herausziehn. Der Eigentümer der Nummer bekommt alsdann Recht“.136 Trotz der spektakulären Inszenierung des Zweikampfs ist es keineswegs das vermeintliche Gottesurteil, das die für die Betroffenen und auch für das kaiserliche Gericht in Basel rätselhaften Geschehnisse aufklärt. Aufgeklärt wird es einzig und allein durch das Geständnis der Kammerzofe, die im letzten Moment zugibt, daß sie mit dem nächtlichen Liebesabenteuer den Grafen Rotbart so täuschte, daß er an ein Stelldichein mit Littegarde glauben mußte. Aus135 136
Briefe, Nr. 51, S. 242f. SWB 3, S. 367f.
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drücklich bezeichnet der Erzähler die Aufdeckung dieser Affäre als den entscheidenden Beitrag „zur Auflösung des fürchterlichen Rätsels“ (346). Nicht bloß als Mittel zur Wahrheitsfindung verliert das Gottesgericht die ihm zugeschriebene Bedeutung. Auch als Institution erscheint es fragwürdig. Denn seinen institutionellen Charakter erhält das Gottesgericht durch seine Bindung an die ganz und gar menschliche Veranstaltung des Zweikampfs. Er verläuft nach pragmatisch festgesetzten Regeln, „Gesetzen“ und „Statuten“. Mithin ist das vermeintliche Gottesurteil bereits vollständig präjudiziert. Umgekehrt bedeutet dies: Menschliche „Gesetze“ und „Statuten“ werden fälschlich verabsolutiert. Kleist hat diese Erkenntnis nicht direkt formuliert und auch nicht dem Nachdenken des Lesers anheimgestellt, sondern in den Erkenntnisprozeß Friedrichs von Trota verlegt. Er entwickelt sich in der zentralen Gefängnisszene, im Dialog mit Littegarde und seiner Mutter, und ist ein Musterstück jenes Vorganges, den Kleist in seiner Abhandlung Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden theoretisch beschrieb, indem er gerade dem dialogischen Reden ein besonderes Erkenntnis-Potential zuerkannte. Inmitten einer schon hochdramatischen äußeren Handlung erreicht die Erzählung hier den dramatischen Höhepunkt ihres inneren Geschehens. Gerade weil Littegarde und Friedrichs Mutter das Gottesurteil bedingungslos anerkennen, beginnt Friedrich es zu hinterfragen. Kleists besondere Leistung besteht darin, daß er Friedrich von Trota nicht etwa abstrakt zu seiner Erkenntnis gelangen läßt. Erst die tödliche Gefahr und die von Angst erfüllte Liebe zu Littegarde treiben ihn im Gespräch mit den Frauen über die Grenzen des bisher Denkbaren hinaus. Nicht in kritischer Absicht erlangt er seine Erkenntnis, etwa derart, daß er wie der moderne Leser das Gottesurteil als eine menschliche Fiktion ad absurdum zu führen vermöchte. Vielmehr bleibt er im prinzipiellen Glauben seiner Zeit an das Gottesurteil befangen, paralysiert jedoch, ohne davon selbst ein Bewußtsein zu gewinnen, das Gottesurteil gewissermaßen immanent, indem er erkennt, daß es durch menschliche Gesetze formiert ist und den Bedingungen der Zeit unterliegt. Der (wie so oft bei Kleist) nicht auktorial distanzierte und souverän wissende Erzähler ist ebenfalls noch im Glauben befangen – er spricht davon, daß Friedrichs Verwundungen „durch eine besondere Fügung des Himmels nicht tödlich waren“ (334) und stimmt demnach mit Friedrich selbst überein, der Littegarde vor seinem Besuch bei ihr wissen läßt, daß er sich „durch eine sonderbare Schickung des Himmels“ wiederhergestellt finde (336). Das Gespräch Friedrichs mit seiner Mutter, das dem Besuch in Littegardes Gefängnis vorangeht, entzündet sich an der Überlegung des schon fast Genesenen, er sei im Zweikampf nur „auf einen Augenblick“ unterlegen. Die Mutter erwidert, es bestehe „ein Gesetz“, nach welchem ein Zweikampf, der „nach dem Ausspruch der Kampfrichter abgeschlossen ist“, nicht wieder vor den Schranken „des göttlichen Gerichts“ aufgenommen werden dürfe (335). Wenn aber
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laut Gesetz der Ausspruch der Kampfrichter entscheidet, kann es sich dann um ein „göttliches“ Gericht handeln? Das „Gesetz“ ist von Menschen gemacht, und es bezieht sich allein auf menschliche Entscheidungsträger. Friedrich antwortet denn auch: „Was kümmern mich diese willkürlichen Gesetze der Menschen?“ (335). Nicht umsonst spielen in diesem Gespräch die „Gesetze“ eine entscheidende Rolle. Sie sind Inbegriff des bloß menschlich Gesetzten. Vollends tritt die Problematik in der Entgegnung der Mutter zutage: „Gleichwohl […] sind diese Gesetze, um welche du dich nicht zu bekümmern vorgibst, die waltenden und herrschenden; sie üben, verständig oder nicht, die Kraft göttlicher Satzungen aus“ (336). Alles an dieser Aussage provoziert zur kritischen Nachfrage. Erstens verrät sie, daß die Autorität der „Gesetze“ allein aus deren Existenz abgeleitet wird. Zweitens, daß ihre Gültigkeit nicht rational begründet ist („verständig oder nicht“). Drittens leuchtet es nicht ein, daß menschliche Gesetze „die Kraft göttlicher Satzungen ausüben“, es sei denn, sie würden fälschlich absolut gesetzt. Kleist radikalisiert hier die sich durch sein ganzes Werk ziehende aufklärerische Skepsis gegen das Prinzip der Autorität. Daß aus den geschichtlich bedingten menschlichen Gesetzen ein enthistorisiertes göttliches Apriori konstruiert wird, erscheint als die falsche Grundoperation. Deren Aufdeckung führt das vermeintliche Gottesurteil ad absurdum und weist die Bereitschaft, daran zu glauben, der Sphäre unreflektierter Autoritätsgläubigkeit zu. Das nun folgende Gespräch im Gefängnis eröffnet eine weitere Dimension. Trotz ihrer Unschuld verzweiflungsvoll in der Vorstellung von der Wahrhaftigkeit des Gottesgerichts befangen, spricht Littegarde vom „geheiligten Urteil Gottes“, wogegen Friedrich sie auffordert: „türme das Gefühl, das in deiner Brust lebt, wie einen Felsen empor“ (341). Indem er so dem Unschuldsbewußtsein vertraut, beabsichtigt er nicht etwa eine Relativierung des Gottesurteils. Erst „allmählig“ und ohne es sich selbst bewußt zu machen, verfertigt er beim Reden Gedanken, die das vermeintliche Gottesurteil paralysieren. Denn zunächst versucht er, den Glauben an das Gottesurteil mit dem Wissen um die Unschuld zu vereinen. In einer äußersten Anstrengung – „Gott, Herr meines Lebens […] bewahre meine Seele selbst vor Verwirrung!“, ruft er aus (241) – scheint ihm dies durch eine die Grenzen der Endlichkeit überschreitende Spekulation zu gelingen. Es handelt sich zugleich um einen hintergründigen Angriff Kleists auf den ‚Infinitismus‘ der Romantik. Friedrich löst das Gottesurteil aus seiner Fixierung auf den bestimmten, entscheidenden Augenblick des Zweikampfs und setzt seine Hoffnungen auf die unendliche Zeitdimension der „Ewigkeit“. „Wo liegt die Verpflichtung der höchsten göttlichen Weisheit“, argumentiert er, „die Wahrheit im Augenblick der glaubensvollen Anrufung selbst, anzuzeigen und auszusprechen? O Littegarde, beschloß er, indem er ihre Hand zwischen die seinigen drückte: im Leben laß uns auf den Tod, und im Tode auf die Ewigkeit hinaus sehen, und des festen, unerschütterlichen Glaubens sein:
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deine Unschuld wird, und wird durch den Zweikampf, den ich für dich gefochten, zum heitern, hellen Licht der Sonne gebracht werden!“ (341). In dieser Perspektive, welche die Aufdeckung der Wahrheit durch den Zweikampf sogar über den „Tod“ hinaus in die „Ewigkeit“ projiziert, erweist sich das dem Zweikampf zugeschriebene Gottesurteil als dem menschlichen Leben unangemessen. Denn da dieses endlich ist, hilft ihm das Unendliche der Ewigkeit nichts. Demnach demonstriert die Versuchsanordnung „Gottesurteil“ die prinzipielle Sinnlosigkeit aller Versuche, „Gott“ mit dem menschlichen Leben in Beziehung zu setzen. Das Infinite der Zeitdimension, das Friedrich in seiner ausweglosen Bedrängnis als einzige Möglichkeit zur Vereinigung des Unvereinbaren anvisiert, erzeugt eine asymptotische Konstellation, in der sich ein solches Denken als verfehlt erweist. Kleist hat dessen Absurdität aus dem im Glaubenshorizont befangenen Bewußtsein Friedrichs entwickelt, um auch die historische Unausweichlichkeit einer Selbstauflösung von Vorstellungen zu inszenieren, die an ihre Plausibilitätsgrenze stoßen. Nicht um „Aufklärung“ aus der Distanz eines schon aufgeklärten Denkens handelt es sich, vielmehr um eine Aufklärungsdynamik, die das geschichtliche Geschehen zwangsläufig selbst entbindet, auch wenn sie bei den in das Geschehen Involvierten noch nicht die Schwelle des kritischen Bewußtseins erreicht. Prägnant kommt dies am Ende der Erzählung zum Ausdruck. Der Kaiser, so heißt es, ließ „in die Statuten des geheiligten göttlichen Zweikampfs, überall wo vorausgesetzt wird, daß die Schuld dadurch unmittelbar ans Tageslicht komme, die Worte einrücken: ‚wenn es Gottes Wille ist‘“ (349). Wie aber können die Menschen wissen, ob es Gottes Wille ist? Und wenn es, um dieser Logik zu folgen, nicht Gottes Wille ist, dann kann sich die Aufdeckung der Wahrheit bis in alle Ewigkeit verschieben – und dann kommt sie für das Leben zu spät. Wird demnach nicht, so Kleists implizite Schlußpointe, die Berufung auf Gott für den Menschen grundsätzlich sinnlos, insofern sie jede menschliche Erfahrungsrealität übergeht? Das Asymptotische in dem erzählerischen Experiment mit dem Gottesurteil erhellt auch aus anderen Elementen des Schlußsatzes. Der maskierte Erzähler spricht von den „Statuten des geheiligten göttlichen Zweikampfs“ und provoziert damit den denkenden Leser in mehrfacher Hinsicht. Indem der Kaiser das vermeintliche Gottesurteil durch eine von ihm selbst mit kaiserlicher Autorität veranlaßte Änderung der „Statuten“ der aus dem Zweikampf resultierenden Erfahrung anzupassen sucht, wird zunächst klar, daß die „Statuten“ und das durch sie definierte Gottesurteil bloß das variable Produkt einer selbst schon im geschichtlichen Prozeß fluktuierenden Deutungsmacht sind. Und daß der kaiserliche Definitionsakt im Wesentlichen aus einer Berufung auf das nun gänzlich Infinite besteht, treibt den Versuch, das Gottesurteil zu retten, ins Paradoxe. Die „Statuten“ gehören in jedem Fall zu den „willkürlichen Gesetzen der Menschen“, von denen Friedrich von Trota mit der Hellsicht des Verzwei-
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felten gesprochen hat. Sodann verrät die Rede vom „geheiligten göttlichen Zweikampf“ eine Forcierung, die durch das ihr innewohnende Moment der Überanstrengung das Stadium markiert, in dem das „Gottesurteil“ als bloße Konstruktion bereits zu zerbrechen beginnt. Denn den Zweikampf fechten zwei Menschen aus und daher ist die Bezeichnung „göttlich“ keinesfalls gerechtfertigt. Die Rückverschiebung des Adjektivs „göttlich“ von dem Urteil, das vom Ausgang des Zweikampfs abgeleitet wird, auf den Zweikampf selbst spitzt das Moment der Unangemessenheit bis zur offenkundigen Unstimmigkeit zu. Eine Herausforderung besonderer Art liegt darin, daß der Ausgang des Zweikampfs zwar „unmittelbar“ einem Gottesurteil Hohn spricht, später jedoch insofern dessen tieferer „Wahrheit“ angemessen scheint, als Friedrich von Trota von seiner schweren Verwundung gesundet, während die leichte Verletzung des Grafen Rotbart tödliche Folgen zeitigt. Scheint Gott nicht doch allen Komplikationen des Geschehens gerecht zu werden? Entspricht er mit dem „unmittelbaren“ Ausgang des Zweikampfs nicht sogar der subjektiv wahren Neben-Aussage des Grafen, der durch die Kammerzofe getäuscht wurde? Und trägt er dann nicht der objektiven Schuld, dem Brudermord, durch die längerfristigen tödlichen Folgen des Zweikampfs für den Grafen Rechnung? Kleist hat diese hybride Konstruktion mit der ihm eigenen kalkulatorischen Konsequenz entworfen, um das Geschehen und die menschlichen Anstrengungen, Gott mit der Erkenntnis der tatsächlichen „Wahrheit“ in Verbindung zu setzen, noch weiter zu ironisieren. Denn es ist ja der Gang der Dinge, der die Wahrheit an den Tag bringt: vor allem die buchstäbliche Hintertreppengeschichte von der Liebesnacht des Grafen mit der Kammerzofe. Nicht Gott hat sie ans Licht gebracht, sondern ein anderes Gericht, das sie dem Basler Gericht mitteilt, in dessen Verantwortung das Hauptverfahren fällt. Wieder inszeniert Kleist eine Verschiebung, um die bis zur Verrätselung reichende Komplexität, Undurchschaubarkeit und auch Zufälligkeit des Geschehens sinnfällig zu machen. Demnach führt die menschliche Unfähigkeit, die Vorgänge im Ganzen zu durchschauen und zu beurteilen, und dies rechtzeitig, zu der Verschiebung auf eine außermenschliche Instanz: auf Gott. Er wird zum asylum ignorantiae in einer gänzlich von Desorientierung bedrohten Situation. Man braucht nur die Gegenprobe zu machen, zu der Kleist mit der von ihm entworfenen Konstellation provoziert: Hat sich Gott etwa mit Kammerzofen-Abenteuern zu befassen? Er hat es sowenig wie mit der Weltgeschichte insgesamt, von der gleichzeitig Hegel glaubte, sie werde vom Weltgeist regiert. Sie ist von Machtgier, Habgier und Trieberuptionen bestimmt, im übrigen aber sinnlos. Und was wäre das für ein Gott, der Unschuldige wie Friedrich von Trota und Littegarde in die entsetzlichsten Ängste und schließlich auf den Scheiterhaufen geraten ließe, nur um die „Wahrheit“ ans Licht zu bringen, die sie dann gerade noch im allerletzten Moment rettet? Daß der auf seine eigene wie auf Gottes Autorität so bedachte
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und mit autoritativer Deutungsmacht auftretende Kaiser zu der knapp dem Feuertod entronnenen Littegarde sagt: „Nun, jedes Haar auf eurem Haupt bewacht ein Engel!“ (347), ist Kleists äußerste Ironie. Nicht mehr ferne liegt jene Vision Büchners, in der Danton und seine im Gefängnis auf die Hinrichtung wartenden Leidensgenossen die „Götter“ sich daran ergötzen sehen, wie die Menschen gequält werden.137 Wenn Geschichte für Kleist einen Sinn hat, dann nur den, daß sich in ihrer chaotischen Sinnlosigkeit Einzelne finden, die sich gerade dadurch zu menschlicher Bewährung aufgerufen fühlen. Schon im Erdbeben in Chili verfolgt er dieses Ziel. Im Zweikampf führt die Standhaftigkeit Friedrichs von Trota, die sich einer unbeirrbaren Liebe verdankt, zu dieser menschlichen Bewährung. Und man darf wohl den eigenartigen Verlauf des Zweikampfs zeichenhaft verstehen. Friedrich unterliegt dem Grafen Rotbart, weil er, durch die Ungeduld des Publikums irritiert, die seinem Wesen entsprechende Kampfesweise aufgibt. Kleist scheint zu signalisieren, daß es auf die Unbeirrbarkeit im Verhalten des Einzelnen ankommt und daß ihn gesellschaftliche Rücksichten nur zum Straucheln bringen können. Im Spektrum von Kleists radikaler Gesellschaftskritik, die sich auch in dieser Erzählung aus dem Grundmotiv von Macht- und Besitzgier entwickelt, ist dies eine besondere Facette. Die Gesellschaft, hier repräsentiert durch das Publikum, wirkt auf den Einzelnen dezentrierend. Sie läßt ihn in Gefahren geraten, aus denen er sich nur in der Gefühlsgewißheit der Liebe und mit viel Glück wieder emporzuarbeiten vermag. Paradoxerweise ist er dennoch auf gesellschaftliche Integration und Legitimation angewiesen. Geradezu betäubend inszeniert sie der Erzähler im hintergründig ironischen happy end: Der vom Scheiterhaufen herabgeholten Littegarde legt der Kaiser den Hermelin der Kaiserin um die Schultern, und er führt sie am Arm in sein kaiserliches Schloß. Friedrich von Trota ist „statt des Sünderkleids, das ihn deckte, mit Federhut und ritterlichem Mantel geschmückt“ (348). Mit der fragwürdigen Projektion menschlicher „Gesetze“ auf ein „Gottesurteil“ stellte Kleist nicht nur religiöse Institutionen und den Glauben an sie paradigmatisch in Frage. Das Junktim von Gesetz und Gottesurteil ist eine Umkehrkonstellation, die auch die Gesetze in Zweifel zieht, sofern das Gottesurteil auf die ihm zugrundeliegenden Gesetze sanktionierend zurückwirkt. Wie schon in der Penthesilea-Tragödie, die von der desaströsen Wirkung des Amazonen-Gesetzes handelt und schließlich zur Absage Penthesileas an dieses seit grauer Vorzeit bestehende „Gesetz der Fraun“ (V. 3012) führt, problematisiert Kleist prinzipiell die ‚Gesetze‘. Damit entspricht er der großen historischen 137
Dantons Tod, 4. Akt, 5. Szene: Conciergerie, in: Georg Büchner: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zwei Bänden, hrsg. von Henri Poschmann, Bd. 1: Dichtungen, Frankfurt 1992, S. 85f.
Der Zweikampf
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Umbruchserfahrung in den Jahrzehnten nach der Französischen Revolution und der aus ihr resultierenden Legitimationskrise. Goethe hatte ihr in seinem kurz zuvor, im Jahre 1808 erschienenen Faust durch Mephisto Ausdruck verliehen (V. 1972–1979): „Es erben sich Gesetz‘ und Rechte / Wie eine ew’ge Krankheit fort, […] / Weh dir, daß du ein Enkel bist! / Vom Rechte, das mit uns geboren ist, / Von dem ist leider! nie die Frage“. Analog hatte schon 1799 Hölderlin im Tod des Empedokles den Helden die Suspendierung der bestehenden Gesetze empfehlen lassen: „[…] wie aus krankem Körper sehnt der Geist / Von Agrigent sich aus dem alten Gleise. / So wagts! was ihr geerbt, was ihr erworben, […] Gesetz und Brauch, der alten Götter Namen / Vergeßt es kühn […]“.138 Auf die Problematisierung von ererbten Gesetzen weisen bei Kleist nicht bloß die fälschlich mit dem vermeintlichen Gottesurteil verquickten Gesetze und „Satzungen“ und deren abschließende Manipulation durch den Kaiser. Fragwürdig erscheinen die Gesetze schon durch das Bemühen des Herzogs von Breysach, das seinen „natürlichen“ Sohn diskriminierende, folglich widernatürliche „Gesetz“ durch einen kaiserlichen Legitimationsakt zu revidieren. Entsprechendes gilt für die mit „weitläufigen Rechtsdeduktionen“ begründete Enterbung Littegardes durch ihre habgierigen Brüder. Demnach zieht sich durch die ganze Erzählung eine kritische Relativierung des positiv geltenden Rechts. Die kodifizierten Gesetze sind kaum mehr als Sedimente geschichtlich überholter Vorurteile und illegitim gewordener Macht- und Besitzinteressen. In der Schlußpartie reflektiert Kleist gerade den Zusammenhang von Macht und Gesetz: Die „Statuten“ des vermeintlichen Gottesurteils sind Sache des Kaisers, der zuerst als Traditionswahrer auftritt und dann aus seiner kaiserlichen Machtbefugnis die Statuten so ändert, daß sich ein unendlicher Auslegungsspielraum eröffnet. Hundert Jahre später wird Kafka in seinem Kurztext Zur Frage der Gesetze schreiben: „Die Gesetze sind ja so alt, Jahrhunderte haben an ihrer Auslegung gearbeitet, auch diese Auslegung ist wohl schon Gesetz geworden […]“. Und er fährt in der Charakterisierung der Gesetze fort: „Es ist eine Tradition, daß sie bestehn und dem Adel als Geheimnis anvertraut sind“; schließlich identifiziert er die Gesetze als Ausdruck des Willens zur Macht mit der setzenden und auslegenden Machtinstanz selbst, die bei ihm der Adel, bei Kleist der „Kaiser“ repräsentiert.139
138 Friedrich Hölderlin: Der Tod des Empedokles, V. 1504–1509, in: F. H.: Sämtliche Werke und Briefe, hrsg. von Jochen Schmidt, Bd. 2, Frankfurt 1994, S. 340. 139 Franz Kafka: Schriften, Tagebücher. Kritische Ausgabe, hrsg. von Jürgen Born u. a., Nachgelassene Schriften und Fragmente II, hrsg. von Jost Schillemeit, Frankfurt 1992, S. 270 und S. 271.
Bibliographie
Die folgende Auswahl aus der kaum noch überschaubaren Kleist-Literatur verzichtet auch auf manche nennenswerte Detail-Untersuchung. Literarische, philosophische, historische und juristische Werke, die sich nicht speziell auf Kleist beziehen, werden nur im Text oder in den Anmerkungen des vorliegenden Buches genannt.
1. Ausgaben Sämtliche Werke und Briefe, hrsg. von Helmut Sembdner, 2 Bde., 2., verm. und auf Grund der Erstdrucke und Handschriften völlig rev. Aufl. München 1961, 9., verm. und rev. Aufl. 1993. Werke und Briefe in vier Bänden, hrsg. von Siegfried Streller in Zusammenarbeit mit Peter Goldammer und Wolfgang Barthel, Anita Golz und Rudolf Loch, Berlin/Weimar 1978, 4., erg. Aufl. 1996, Lizenzausg.: Frankfurt a. M. 1986. Sämtliche Werke und Briefe, hrsg. von Ilse-Marie Barth, Klaus Müller-Salget, Stefan Ormanns und Hinrich C. Seeba, 4 Bde., Frankfurt a. M. 1987–97 (zitiert als SWB). Sämtliche Werke. Brandenburger [1988–91: Berliner] Ausgabe, hrsg. von Roland Reuß und Peter Staengle, Basel/Frankfurt a. M. 1988 ff. [noch nicht abgeschlossen].
2. Dokumentationen Phöbus. Ein Journal für die Kunst, hrsg. von Heinrich von Kleist und Adam H. Müller. Nachwort und Kommentar von Helmut Sembdner, Reprogr. Nachdr. Darmstadt 1961. Berliner Abendblätter, hrsg. von Heinrich von Kleist. Nachwort und Quellenregister von Helmut Sembdner, Reprogr. Nachdr. Darmstadt 1982. Sembdner, Helmut (Hrsg.): Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen, Bremen 1957. 7. vermehrte u. revidierte Aufl.: München 1996. Sembdner, Helmut (Hrsg.): Heinrich von Kleists Nachruhm. Eine Wirkungsgeschichte in Dokumenten, Bremen 1967. 4. vermehrte Aufl.: München 1996 bzw. (Taschenbuchausgabe) 1997. Sembdner, Helmut (Hrsg.): Dichter über ihre Dichtungen. Heinrich von Kleist, München 1969. Goldammer, Peter (Hrsg.): Schriftsteller über Kleist. Eine Dokumentation, Berlin/Weimar 1976.
Bibliographie
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3. Überlieferung und Edition Kanzog, Klaus: Prolegomena zu einer historisch-kritischen Ausgabe der Werke Heinrich von Kleists. Theorie und Praxis einer modernen Klassiker-Edition, München 1970. Kanzog, Klaus: Edition und Engagement. 150 Jahre Editionsgeschichte der Werke und Briefe Heinrich von Kleists, 2 Bde., Berlin/New York 1979. Kreutzer, Hans Joachim: Überlieferung und Edition. Textkritische und editorische Probleme, dargestellt am Beispiel einer historisch-kritischen Kleist-Ausgabe. Mit einem Beitrag von Klaus Kanzog, Heidelberg 1976. [Beiheft zu Euphorion, 7. Heft] Rothe, Eva/Sembdner, Helmut: Die Kleist-Handschriften und ihr Verbleib, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 8 (1964), S. 324–343. Sembdner, Helmut: Kleists Interpunktion, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 6 (1962), S. 229–252. Staengle, Peter: Kleist bei Varnhagen in Kraków. Eine Bestandsaufnahme mit Anhang, in: Brandenburger Kleist-Blätter 7 (1994), S. 53–103.
4. Bibliographien (chronologisch) Eine laufend aktualisierte Kleist-Bibliographie ist auf den Internet-Seiten des KleistArchivs Sembdner der Stadtbücherei Heilbronn abrufbar: http://www.kleist.org/ bibl. Sembdner, Helmut: Kleist-Bibliographie 1803–1862. Heinrich von Kleists Schriften in frühen Drucken und Erstveröffentlichungen, Stuttgart 1966. Minde-Pouet, Georg: Kleist-Bibliographie 1914–1921, in: Jahrbuch der Kleist-Gesellschaft 1921, S. 89–162; Kleist-Bibliographie 1922 mit Nachträgen zu 1914–1921, in: Jahrbuch der Kleist-Gesellschaft 1922, S. 112–163; Kleist-Bibliographie 1923 und 1924 mit Nachträgen, in: Jahrbuch der Kleist-Gesellschaft 1923/24, S. 181–239; Kleist-Bibliographie 1925–1930 mit Nachträgen, in: Jahrbuch der Kleist-Gesellschaft 1929/30, S. 60–193; Kleist-Bibliographie 1931 bis 1937 mit Nachträgen zu früheren Jahren, in: Jahrbuch der Kleist-Gesellschaft 1933/37, S. 186–263. Rothe, Eva: Kleist-Bibliographie 1945–1960, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 5 (1961), S. 414–547. Hermann, Helmut G.: Der Dramatiker Heinrich von Kleist. Eine Bibliographie, in: Walter Hinderer (Hrsg.): Kleists Dramen. Neue Interpretationen, Stuttgart 1981, S. 238–289. Reuß, Roland, Peter Staengle: Auswahlbibliographie, in: Heinz-Ludwig Arnold, in Zusammenarbeit mit Roland Reuß und Peter Staengle (Hrsg.): Heinrich von Kleist, München 1993, S. 224–234. Kleist-Archiv Sembdner der Stadt Heilbronn, Bestandsverzeichnis. Bearbeitet von Brigitte Schillbach, Heilbronn 1994. Kleist-Archiv Sembdner, Bestandsergänzungen. Erscheinungsjahr 1990–1995, Heilbronn 1996.
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Bibliographie 5. Indices und Register
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6. Periodica Jahrbuch der Kleist-Gesellschaft, hrsg. von Georg Minde-Pouet und Julius Petersen, 9 Bde., 1921 (Berlin 1922) bis 1938 (Berlin 1938/41). Beiträge zur Kleist-Forschung, hrsg. von Wolfgang Barthel und Rudolf Loch, Frankfurt/ Oder 1974–1996; hrsg. von Wolfgang Barthel und Hans-Jochen Marquardt, Frankfurt/ Oder 1997–2000; hrsg. von Wolfgang Barthel, Frankfurt/Oder 2001–2002. Kleist-Jahrbuch. Im Auftrage des Vorstandes der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft, hrsg. von Hans Joachim Kreutzer, Berlin 1980–1990; hrsg. von Hans Joachim Kreutzer, Stuttgart 1991–1996; hrsg. von Sabine Doering, Stuttgart, Weimar 1997; seit 1998 hrsg. von Günter Blamberger, Stuttgart, Weimar. Brandenburger [1988–1991: Berliner] Kleist-Blätter, Basel, Frankfurt a.M. 1988ff. Heilbronner Kleist-Blätter, Heilbronn 1996ff.
7. Rezeption Kanzog, Klaus/Kreutzer, Hans Joachim (Hrsg.): Werke Kleists auf dem modernen Musiktheater, Berlin 1977. Kanzog, Klaus (Hrsg.): Text und Kontext. Quellen und Aufsätze zur Rezeptionsgeschichte der Werke Heinrich von Kleists, Berlin 1979. Busch, Rolf: Imperialistische und faschistische Kleist-Rezeption 1890–1945. Eine ideologiekritische Untersuchung, Frankfurt a.M. 1974. Emrich, Wilhelm: Fortschritt und Reaktion im Werk Kleists [irreführender Titel. Gemeint ist: in der Kleist-Rezeption], in: KJb 1986, S. 98–124. Lütteken, Anett: Heinrich von Kleist – eine Dichterrenaissance, Tübingen 2003. Richardson, F[rank] C.: Kleist in France, Chapel Hill [1962]. Howard, Mary: Vom Sonderling zum Klassiker. Hundert Jahre Kleist-Rezeption in Großbritannien, Berlin 1990.
Bibliographie
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8. Biographien und Chroniken a) Gesamtbiographien (chronologisch) Birkenhauer, Klaus: Kleist, Tübingen 1977. Horn, Peter: Kleist-Chronik, Königstein (Ts.) 1980. Zimmermann, Hans Dieter: Heinrich von Kleist. Eine Biographie, Hamburg 1991. Schmidt, Joël; Heinrich von Kleist. Biographie, Paris 1995. Staengle, Peter: Heinrich von Kleist, München 1998. Heinrich von Kleist 1777–1811. Chronik seines Lebens und Schaffens auf Grund von Selbstaussagen, Dokumenten und Aussagen Dritter, bearbeitet von Wolfgang Barthel, Frankfurt/Oder 2001. Müller-Salget, Klaus: Heinrich von Kleist, Stuttgart 2002, S. 18–122. Loch, Rudolf: Kleist: Eine Biographie, Göttingen 2003. Bisky, Jens: Kleist. Eine Biographie, Berlin 2007. Kraft, Herbert: Kleist. Leben und Werk, München 2007. Blamberger, Günter: Heinrich von Kleist. Biographie, Frankfurt a.M. 2011. Michalzik, Peter: Kleist. Dichter, Krieger, Seelensucher. Biographie, Berlin 2011. b) Einzelne Lebensstationen, biographische Einzelaspekte Brown, Hilda M.: Kleist in Paris, 1804, in: Seminar 13 (1977), S. 88–98. Hoffmann, Paul: Ulrike von Kleist über ihren Bruder Heinrich. Ein Beitrag zur Biographie des Dichters, in: Euphorion 10 (1903), S. 105–152. Hoffmann, Paul: Kleist in Paris, Berlin 1924. Hoffmann, Paul: Heinrich von Kleist und die Seinen, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 84 (1929), Bd. 155, S. 161–185. Loch, Rudolf/Pruns, Herbert: Zu Kleists Ansiedlungsvorhaben in der Schweiz, in: BKF 7 (1993), S. 58–79. Minde-Pouet, Georg: Kleists letzte Stunden. T. 1: Das Aktenmaterial. [Mehr nicht erschienen.] Berlin 1925 (Schriften der Kleist-Gesellschaft 5). Reske, Hermann: Heinrich von Kleist in Thun, Bern 1972. Rothe, Eva: Die Bildnisse Heinrich von Kleists. Mit neuen Dokumenten zu Kleists Kriegsgefangenschaft, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 5 (1961), S. 136–186. Samuel, Richard: Heinrich von Kleist und Karl Baron von Altenstein. Eine Miszelle zu Kleists Biographie [1955], in: R. H. S.: Selected Writings, Melbourne 1965, S. 85– 91. Weigel, Sigrid: Ulrike von Kleist (1774–1849). Lebensspuren hinter dem Bild der DichterSchwester, in: Schwestern berühmter Männer. Zwölf biographische Portraits, hrsg. von Luise F. Pusch, Frankfurt a. M. 1985, S. 235–287. Weiss, Hermann F.: Zu Heinrich von Kleists Reise nach Paris im Jahre 1801, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 142 (1990), Bd. 227, S. 1–12. Zolling, Theophil: Heinrich v. Kleist in der Schweiz, Stuttgart 1882.
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Bibliographie 9. Gesamtdarstellungen
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14. Philosophische und kunsttheoretische Schriften Allemann, Beda: Sinn und Unsinn von Kleists Gespräch Über das Marionettentheater, in: KJb 1981/82, S. 50–65. Kurz, Gerhard: „Gott befohlen“. Kleists Dialog Über das Marionettentheater und der Mythos vom Sündenfall des Bewußtseins, in: KJb 1981/82, S. 264–277. Man, Paul de: Ästhetische Formalisierung: Kleists Über das Marionettentheater [1984], in: P. de M.: Allegorien des Lesens. Aus dem Amerik. von Werner Hamacher und Peter Krumme, Frankfurt a. M. 1988, S. 205–233. Wölfel, Kurt: Über das Marionettentheater, in: Hinderer (Hrsg.): Interpretationen: Kleists Erzählungen (B 10: 1998), S. 17–42. 15. Briefe Hoffmann, Paul: Zu den Briefen Heinrichs von Kleist, in: Studien zur vergleichenden Literaturgeschichte 3 (1903), S. 332–366. Oesterle, Ingrid: Werther in Paris? Heinrich von Kleists Briefe über Paris, in: Dirk Grathoff (Hrsg.): Heinrich von Kleist. Studien zu Werk und Wirkung, Opladen 1988, S. 97–116. Schrader, Hans-Jürgen: Unsägliche Liebesbriefe. Heinrich von Kleist an Wilhelmine von Zenge, in: KJb 1981/82, S. 86–96. Schrader, Hans-Jürgen: „Denke Du wärest in das Schiff meines Glückes gestiegen“. Widerrufene Rollenentwürfe in Kleists Briefen an die Braut, in: KJb 1983, S. 122–179.