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German Pages 562 [564] Year 2019
Katja Fries Poetische Palimpseste
Frühe Neuzeit
Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext
Herausgegeben von Achim Aurnhammer, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller, Martin Mulsow und Friedrich Vollhardt
Band 224
Katja Fries
Poetische Palimpseste Parodie und Satire in den literaturkritischen Dichtungen Johann Jakob Bodmers
ISBN 978-3-11-047134-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-048708-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-048793-0 ISSN 0934-5531 Library of Congress Control Number: 2019934673 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: jürgen ullrich typosatz, Nördlingen Druck: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Dank „Satire is a lesson, parody is a game“ Vladimir Nabokov, in einem Interview – 1966.
Mein Dissertation ist die Frucht einer Cotutelle zwischen der Universität Bern und der Universität Paris IV – der Sorbonne, großzügig vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) sowie der Joséphine de Karman Stiftung finanziert, wofür ich sehr danke. Von ganzem Herzen möchte ich meinen Professoren danken, auf deren Unterstützung ich bei meinen Recherchen immer zählen konnte. Ich danke Frau Prof. Dr. Barbara Mahlmann Bauer (Deutsche Literatur und Komparatistik, Universität Bern), deren umfassendes Wissen zum Zeitalter der Aufklärung sowie ihre präzise Kritik mir mit das Wertvollste waren. Auch danke ich Frau Prof. Dr. Mahlmann Bauer für die Möglichkeit, über deutsche Satire- und Parodietraditionen des 18. Jahrhunderts während meiner Assistenz an der Universität Bern zu unterrichten. Ich danke Herrn Prof. Dr. Jacques Berchtold (Französische Literatur und Komparatistik, Université de Paris IV – La Sorbonne und Direktor der Martin Bodmer Stiftung, Cologny-Genf) sofort die Co-Direktion meiner komparatistisch angelegten Arbeit angenommen zu haben. Dank Prof. Dr. Berchtold, einem exzellenten Kenner Jean-Jacques Rousseaus und der Literatur des 18. Jahrhunderts, konnte ich bis zum Abschluss meiner Arbeit von exzellenten Forschungsbedingungen in Paris profitieren. Ihm und der Fondation Martin Bodmer ist es zu verdanken, dass das folgende Porträt von Johann Jakob Bodmer im Folgenden abgebildet ist, das im Original noch heute im ehemaligen Büro von Martin Bodmer in Cologny hängt, dem Begründer der Bibliotheca Bodmeriana. Während meiner Assistenz am Schweizerischen Literaturarchiv (SLA) in Bern und dank deren Leiterin, PD. Dr. Irmgard Wirtz Eybl, habe ich das Archiv von Jean Starobinski (1920–2019) entdeckt. Starobinskis umfassendes kritisches Werk zum 18. Jahrhundert, insbesondere zu Rousseau sowie die Korrespondenz mit Hans Robert Jauß über die Rezeptionsästhetik und die Konstanzer Schule waren für meine methodischen Ansätze wegweisend. Dank der hervorragenden Kenntnisse von PD. Dr. Annett Lütteken, der Leiterin der Handschriftenabteilung in der Zentralbibliothek Zürich und ihrem Team, hatte ich einen umfassenden Einblick in das Johann Jakob Bodmer-Archiv sowie in dessen Bibliothek. Für das sorgfältige Lektorat möchte ich sehr herzlich Dr. Hannah Berner sowie dem Lektor Peter Heyl des De Gruyter Verlags Berlin danken.
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VI
Dank
2010, anlässlich eines Seminars an der Sorbonne über die Romantheorie von Georg Lukács, geleitet von Prof. Dr. Michel Delon und Prof. Dr. Paul Geyer (Universität Bonn), erfuhr ich, dass Paris IV mit den Universitäten Florenz und Bonn zusammenarbeitet und den Doktoranden eine Cotutelle an drei Universitäten ermöglicht. Es ist zu wünschen, dass diese Öffnung der Wissenschaften allen angehenden Forschenden zur Verfügung steht, denn der kulturelle Transfer entsteht sowohl im nationalen als auch im internationalen Austausch, im Sinne der République des lettres – gestern wie heute. Bern, 14. Oktober 2013 durchgesehen in Lausanne, 14. Juni 2019 Für Christoph und Jana Iris
Inhaltsverzeichnis Präambel
1
1 1.1 1.2 1.3 1.4
Methodik 14 Theorien der Intertextualität und der Dialogizität 14 Rousseaus Kulturkritik und Jean Starobinskis Kritikbegriff 16 Konstanzer Rezeptionsästhetik 25 Der Sokratische Dialog – ein Erziehungsmodell der Aufklärer 27
2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5
Programm einer Zürcher Literaturkritik 37 Die Poetik des Wunderbaren 37 Bodmers Interesse für europäische Literatur 42 44 Die Rezension – eine Kunstform des 18. Jahrhunderts Zürcher Literaturkritik in nuce 46 Bodmers „Ferngläser“ und Lessings „Vergrößerungsgläser“
3 3.1
Parodie und Satire als dialogische Formen der Literaturkritik Geschichte und Schreibformen der Literaturkritik seit dem 65 17. Jahrhundert Die deutsche Rezeption der Querelle des Anciens et des Modernes 71 Satirische Mittel der Kritik 75 Herders allegorischer Dialog: Kritik und Satyre 77 Die „Papageienkrankheit“ Parodie und ihre literarischen Nebenwirkungen 82 Geschichte der Literaturparodie 90 Parodiepraxis in Frankreich 93 Zur Geschichte der Comédie Italienne 101 Geschichte der Literatursatire 106 The fable of the Bees (1705–1732) 122 L’affaire Palissot 131 Les philosophes (1760) 135
3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4 3.2 3.2.1 3.2.2 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 4 4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3
Poetische Palimpseste 151 Gottsched-Polemiken – Gelehrtensatire mit Satyrspiel Rhapsodische Tischreden über das Wunderbare 155 Mit „Philokles“ zur Molkenkur im Appenzell 165 Die Faltenmetapher – Bodmers politisches Erziehungsmodell 171
58 65
151
VIII
4.1.4 4.1.5 4.1.6 4.1.7 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.2.5 4.2.6 4.2.7 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4 4.3.5 4.3.6 4.3.7 4.4 4.4.1 4.4.2 4.4.3 4.4.4 4.4.5 4.4.6 4.4.7 4.5 4.5.1 4.5.2 4.5.3 4.5.4 4.5.5 4.5.6 4.5.7 4.6
Inhaltsverzeichnis
Mythos Schweiz als Werbeslogan für die Poetik der Zürcher 177 Peripetie und romantischer Komödienschluss 184 Satyrspiel Das Banket der Dunse (1758) – eine groteske Gelehrtensatire 189 Fazit 206 Emblematik und Theatrum mundi in den Fabeln 210 Fabeltraditionen nach den Modellen Aesops und Phaedrus’ 211 Im Fabelstreit mit Lessing 215 Capriccio und Plagiat 229 Im Spiegel der Literaturkritik 243 Schauspielkritik à la Rousseau 246 Politische Exempla der Erziehung 253 Fazit 258 Pygmalion – ein pädagogisches Modell 264 Der Pygmalion-Mythos 265 „Piscis hic non est omnium“ 268 Anagnorisis und Peripetie in Pygmalion und Elise (1741–1749) 277 Pygmalion als Künstlermodell 283 Ein empfindsamer und emanzipierter Geschlechterdiskurs 295 Die Theatrum-Metapher im Religionsgespräch 299 Fazit 302 Salonkultur und Kolonialismuskritik 305 Stoffgeschichte zu Inkel und Yariko 306 Inkel und Yariko (1756) 313 Yarikos Klage als metatextuelle Parabase 316 Exkurs: Xaguas Strafrede in der Colombana (1753) 317 Diderot: Supplément de Bougainville (1796) 321 Paradox und Parabase 336 Fazit 338 Gespräche im Elysium oder am Acheron 341 Gattungsgeschichte der Toten- und Göttergespräche 344 Moderne exempla der Zürcher 363 Dialoge der Alten 369 „Und auch Du, Brutus – So falle Cäsar.“ 372 Alte und Moderne im Zwist 399 Politische Gespräche der Modernen 402 Fazit 411 Personalsatirische Pamphlete – Wer legte wen auf die Couch? 415
Inhaltsverzeichnis
4.6.1 4.6.2 4.6.3 4.6.4 4.6.5 4.6.6 4.6.7 4.7 4.7.1 4.7.2 4.7.3 4.7.4 4.7.5 4.7.6 4.7.7
Die Ugolino-Bearbeitungen 416 Der Gerechte Momus (1780) – im Schlagabtausch mit der jüngeren Konkurrenz 421 „Das verschmähte Gedicht, Chriemhilden Rache“ 427 Bogenproben mit Homer 429 Hermes-Faunus 433 Selbstironische Persiflagen des Zürcher Zoilus 434 Fazit 435 Rousseau-Pastiche und Gessner-Karikatur 438 Buch der Richter (19–21) 441 Zur felix culpa in Rousseaus Lévite d’Éphraïm (1781) 442 Bodmers Adaption Der Levite von Ephraim (1782) 471 Stichproben im Vergleich 476 Der Frevel Gibeas und die Beschmutzung des Gastrechts 481 „Unter den Männern zu wählen soll’ jede die Freyheit haben.“ 486 Fazit 494
Schluss und Ausblick Siglen
499
514
Bibliographie 515 1 Ungedruckte Quellen 2 Gedruckte Quellen 3 Forschungsliteratur 4 Nachschlagewerke 5 Online 551
515 515 527 550
IX
Johann Jakob Bodmer, vermutlich zwischen 1770 und 1780 von Anton Graff
Präambel „Breitinguer & Bodmer; ce sont nos Socrates ou Rousseaus“ Leonhard Usteri an Jean-Jacques Rousseau 20. Januar 1763 (CC, S. 2444)1
Der Kritiker, Übersetzer und Dichter Johann Jakob Bodmer (1698–1783) lehrte von 1731 bis 1775 helvetische Geschichte und Politik am Collegium Carolinum, dem Vorläufer der erst 1833 gegründeten Universität Zürich. Die großen poetologischen kunst- und literaturtheoretischen Schriften Bodmers sind zum Teil mit seinem Kollegen Johann Jakob Breitinger (1701–1776), dem Dozenten für Hebräisch und Griechisch, später auch für Logik und Rhetorik, zwischen 1727 und 1746 entstanden. Diese enthalten ein Programm zur ästhetischen Erziehung, zur Schulung in der künstlerischen Erfassung der Wirklichkeit, mit dem die beiden Professoren auf zwei Schülergenerationen am Collegium Carolinum wirkten. Selbst in Bodmers Arbeiten zur Geschichte Zürichs zeigt sich sein didaktischer Impetus, Geschichte als magistra vitae einer jungen Elite zu vermitteln, um diese für die spätere politische Mitwirkung im Gemeinwesen zu rüsten. Seine Schullehrbücher im Oktavformat mit politischen Belehrungen und moralischhistorischen Erzählungen richteten sich an die jüngsten Schüler dieses Pädagogiums, das der Theologenakademie vorgeschaltet war. In der Tradition des Cartesianismus, der Schule von Port Royal und der skeptizistischen Eklektik kämpfte auch Breitinger mit seinem Logiklehrbuch Artis cogitandi principia (1736, 21751) gegen Vorurteile aller Art. Mit Bodmer warnte er davor, sich unkritisch auf die Urteile von Autoritäten zu verlassen und ermunterte seine Studenten zur selbständigen Reflexion, anstatt Sprüche und Formeln auswendig zu lernen.2 Für die politische Bildung der nicht mehr nur geistlichen, sondern vermehrt auch weltlichen Stadtelite setzte sich Bodmer ein. Für den Unterricht in vaterländischer Geschichte und Politik am Collegium Carolinum entstanden seine bislang noch wenig untersuchten literaturkritischen Dichtungen, durch die ästhetisches
1 Correspondance complète de Jean-Jacques Rousseau. Hg. von Ralph A. Leigh. Studies on Voltaire and the 18th century. 52 Bde. Genf, Oxford 1965–1998. Im Folgenden mit der Sigle (CC) abgekürzt. 2 Vgl. Hanspeter Marti: Die Schule des richtigen Denkens. Logikunterricht und Disputation an der Zürcher Hohen Schule und der Einfluss Johann Jakob Breitingers. In: Anett Lütteken und Barbara Mahlmann-Bauer (Hg.): Bodmer und Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung. Göttingen 2009, S. 149–171.
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2
Präambel
Empfinden und politisches Bewusstsein der jungen Erwachsenen sensibilisiert werden sollten. Bodmers politische Schauspiele stellten nicht nur die großen ästhetischen Probleme der Zeit zur Diskussion, wie etwa Fragen zum Autorschaftsverständnis, zur Ästhetik der Nachahmung und Bewunderung sowie zur erzieherischen Funktion von Theateraufführungen, sondern sie projizierten auch die aktuellen staatstheoretischen Diskurse Rousseaus und Montesquieus im Hinblick auf die Problematik des Widerstandsrechts, des Tyrannenmords und der Verteidigung der Republik auf historische Fallbeispiele, wie dies verschiedentlich schon gezeigt wurde.3 Ferner veranschaulichten diese Texte an Beispielen aus der antiken und mittelalterlichen Geschichte staatstheoretische Modelle und dienten dem politischen Bildungs- und Reformprogramm zur Festigung einer republikanischen Souveränität, welche die ständische Ordnung unter Berufung auf naturrechtliche Gleichheit in Frage stellte.4 Mithilfe der modernen Theorien Rousseaus und Montesquieus kritisierte der Geschichtsprofessor hier den übertriebenen Patriotismus der preußischen Monarchie, der den Soldatentod fürs Vaterland pries, wie ich dies schon an Bodmers Lessingparodien, insbesondere an Bodmers Polytimet (1760), zeigen konnte.5 Die Studenten, die von Bodmer in vaterländischer Geschichte unterwiesen wurden, konnten seine poetische Literaturkritik wie politische Lehrstücke lesen.6
3 Vgl. Arnd Beise: „Republikanischer und historischer als unsere Kadaver von Republiken vertragen können.“ Bodmers ungedruckte vaterländische Dramen. In: Ebd., S. 350–364; Simone Zurbuchen: Aufklärung im Dienst der Republik: Bodmers radikal-politischer Patriotismus. In: Ebd., S. 386–409; Barbara Mahlmann-Bauer: Johann Jakob Bodmers Rousseau-Lektüre. In: Les écrivains suisses alémaniques et la culture francophone au XVIIIe siècle. Actes du colloque de Berne. 24–26 novembre 2004. Hg. von Michèle Crogiez Labarthe, Sandrine Battistini und Karl Kürtös. Genève 2008, S. 209–272; Anett Lütteken: Johann Jakob Bodmer, sein Freundeskreis und die französischsprachige Kultur. In: Ebd., S. 273–286. 4 Zur Geschichte des republikanischen Selbstverständnisses in der Schweiz vgl. Thomas Maissen: Die Geburt der Republik. Staatsverständnis und Repräsentation in der frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft. Göttingen 2006, S. 542–592. Rousseaus Theorien wurden auch von den Berlinern rezipiert; so erschien 1756 Moses Mendelssohns deutsche Übersetzung mit einem Kommentar von Rousseaus Discours sur l’inégalité; vgl. Jean-Jacques Rousseau: Abhandlung von dem Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen. Aus dem Französischen von Moses Mendelssohn. Hg. von Ursula Goldenbaum. Weimar 2000. 5 Katja Fries: Bodmers Lessingkritik als Literaturparodie. In: Zürcher Taschenbuch 128 (2007), S. 512–525; dies.: Bodmers Lessingparodien als Literaturkritik. In: Lütteken und MahlmannBauer, 2009, S. 429–458. 6 Albert Meier: „Keine Fesseln von einem König!“ Bodmers Poetik des ,politischen‘ Schauspiels. In: Ebd., S. 314–326.
Präambel
3
Für derartige Lektüren, mit Blick auf die politische Instrumentalisierung, finden sich zwar keine konkreten Belege; aber dass einige Studenten der Theologie von Bodmer in der Schule und wohl auch in den Sozietäten ,politisiert‘ wurden (man denke an den Grebel-Handel), ist aus der Forschung bekannt.7 Seit 1737 war Bodmer Mitglied des Grossen Rats in der Limmatstadt und machte seinen Einfluss in verschiedenen Sozietäten außerhalb des Collegium Carolinum geltend, wo er mit seinen Schülern und Freunden über Patriotismus, Vaterlandsliebe und die politischen Zustände Zürichs und der Schweiz diskutierte.8 Bodmers literarisches Leben umfasst von 1721 bis 1783 gut sechs Jahrzehnte und zudem die wichtigsten des 18. Jahrhunderts, in denen er intensive Kontakte zu Gelehrten und Dichtern pflegte.9 Der Zürcher Aufklärer, der über ein besonderes Sensorium für herausstechende literarische Neuerscheinungen verfügte, mischte sich aktiv in den Literaturbetrieb seiner Zeit ein und kritisierte von 1745 bis 1782 deutsche Dichter nicht nur, wie andere zeitgenössische Schriftsteller, in Literaturzeitschriften und ordentlichen Rezensionen, sondern auch in eigenen literaturkritischen Dichtungen, was Gonzague de Reynold auffiel, der Bodmer als den Begründer der Schweizer Schule10 pries und dessen satirische Ader hervorhob: Bodmer est prolixe, il est diffus, et ce sont toujours des défauts plutôt que des qualités qui le caractérisent. Il n’a de l’élan, de l’esprit, du „witz“ que dans ses polémiques, lorsqu’il ridiculise Gottsched, ou dans le Traité du merveilleux, lorsqu’il réfute avec éloquence
7 Rolf Graber: „Aber sie sagten, dass sie keine Lumières haben wollten. Bodmers Position im Zürcher Aufklärungsdiskurs am Beispiel des „Genfer Geschäfts“ und des „Waser-Handels“. In: Ebd., S. 365–385; ders.: Bürgerliche Öffentlichkeit und spätabsolutistischer Staat. Sozietätenbewegung und Konfliktkonjunktur in Zürich, 1746–1780. Zürich 1993; Daniel Tröhler: Poetik und Politik: Bodmers Lehre der Exempel und die radikal-politische Jugendbewegung in Zürich nach 1760. In: Lütteken und Mahlmann-Bauer, 2009, S. 560–573. 8 Vgl. Rolf Graber: Bürgerliche Öffentlichkeit und spätabsolutistischer Staat. Zürich 1993, S. 54– 57 und S. 186f.; Emil Erne: Die Schweizerischen Sozietäten. Lexikalische Darstellung der Reformgesellschaften des 18. Jahrhunderts in der Schweiz. Zürich 1988, Register sub voce ,Bodmer‘; Leonhard Meister: Ueber Bodmern. Nebst Fragmenten aus seinen Briefen. Zürich 1783, S. 51. Bodmers Arbeiten für die Zürcher Sozietäten sind in seinem handschriftlichen Nachlass überliefert (ZBZ, Bodmer Ms. 37.3 und 4). Vgl. dazu Jesko Reiling: Geschichtsschreibung in patriotischer Absicht. Zu Bodmers moralisch-politischem Erziehungsprogramm. In: Zürcher Taschenbuch 128 (2007), S. 526–541. 9 Anett Lütteken: Lebenslange Neubegierde: Johann Jacob Bodmer und die Physiognomie der Zürcher Aufklärung. 3 Bde. Habilschrift. Bern 2008. 10 Gonzague de Reynold: Histoire littéraire de la Suisse au Dix-huitième siècle, 2. Bd., Bodmer et l’école suisse. Lausanne 1912, S. 6 und S. 58–75.
4
Präambel
Voltaire et Magny. Ses meilleurs pages sont des pages, non de théorie ou de doctrine, mais de satire, de narration historique.11
Er hatte den Anspruch, neben seinen zahlreichen Dramenparodien sämtliche Gattungen zu berücksichtigen, in denen sich ältere und jüngere Schriftsteller in englischer und französischer Sprache übten und mit denen sie experimentierten. Auch dies zeugt davon, wie sehr sich Bodmer als Beiträger zur internationalen Querelle des Anciens et des Modernes verstand. Dieses weitgefächerte Spektrum der Gattungen mit ihren diversen Schreibweisen der Parodie und der Satire, die Bodmer in seinen poetischen Palimpsesten bedient, versucht eine exemplarische Textauswahl zu repräsentieren. Neben seiner Professur befasste sich Bodmer mit seinem Hauptwerk Noah. Ein Heldengedicht (1752), das er immer wieder bearbeitete, bis schließlich 1781 die endgültige Fassung der Noachide erschien, die nach Bodmers Überzeugung Klopstocks Messias (1748) den Rang ablaufen sollte. Auch dieses Bibelepos ist, wie schon Zeitgenossen bemerkten, eine bricolage aus älteren literarischen und theoretischen Texten, die Bodmer zu übertreffen trachtete.12 Der Wettstreit um das beste christliche Epos ist hier jedoch nicht Gegenstand der Untersuchung. Bodmer gilt noch heute als Neuentdecker und Herausgeber mittelalterlicher Dichtung im 18. Jahrhundert wie der Manessischen Liederhandschrift oder der Nibelungen.13 Demgegenüber hatte sein dichterisches Werk lange und zu Unrecht keinen Eingang in die Literaturgeschichte gefunden, wie Bender noch zu Beginn der 1970er Jahre bemerkte.14 Bis 1742 war es Bodmer gewohnt, als Vorreiter der Ästhetik Anerkennung zu genießen, daher kam er seitdem mit dem Urteil jüngerer Dichterkollegen nicht mehr zu Rande, seine Texte seien unzeitgemäß. Diese Situation erscheint aus Leipzig und Berlin betrachtet komisch und grotesk, aus Zürcher Sicht jedoch tragisch und unverständlich.
11 Ebd., S. 423. 12 Vgl. dazu: Barbara Mahlmann-Bauer: Bodmers Noachide, ein unbiblisches Epos? In: Bodmer und Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung. 2009, S. 231–294. 13 Vgl. Volker Mertens: Bodmers Murmeltier. Möglichkeiten und Grenzen der Minnesangrezeption im 18. Jahrhundert. In: LiLi 38 (2008), S. 52–63. Albert M. Debrunner: Das güldene schwäbische Alter. Johann Jakob Bodmer und das Mittelalter als Vorbildzeit im 18. Jahrhundert. Würzburg 1996. 14 Wolfgang Bender: Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger. Stuttgart 1973, S. 85– 94; Christian Geltinger: Johann Jakob Bodmer In: Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon. Hamm 2000, Bd. 17, Sp. 128–138.
Präambel
5
Obschon Johann Georg Sulzer und Leonhard Meister Bodmers literarische Schriften aufgrund des ernsthaften und lehrhaften Inhalts verehrten, stufte noch Jakob Baechtold diese in seiner Geschichte der deutschen Literatur in der Schweiz zum Ende des 19. Jahrhunderts als „ganz unverzeihlich, klägliche, fratzenhafte Machwerke“15 ein. Zu Bodmer als Parodisten lautete sein despektierlicher Kommentar: „Sein krittelnder Hang führte ihn schließlich auf das parodistische Genre.“16 Damit attestierte er dem Zürcher eine schulmeisterliche Attitüde, die, anstatt zu unterhalten, zu stark belehre. Schon Herbert Schöffler rief 1925 dazu auf, das abschlagende Urteil der Literaturgeschichte zu Bodmer zu revidieren, da dieser viel zu sehr „durch die Brille derer [gesehen wurde], die schließlich vielleicht unter ihm gelitten haben“ und fuhr fort: Hat Bodmer, der Kritiker, seine Tat im Anschluss an die Verteidigung seiner Miltonübersetzung in verhältnismäßig jungen Jahren getan, ist uns Bodmers, des Dichters, Lebenswerk heute nur schwer verständlich, so ist Bodmer, der Anreger, der Propagator, der Erzieher zur inneren Selbständigkeit, und schließlich Bodmer, der Forscher, bis zu seinem späten Ende tätig und nicht nur für seine Vaterstadt wichtig geblieben.17
Diesem Desiderat, das Zürcher Doppelgestirn wiederzuentdecken, hat sich die Berner Forschungsgruppe unter der Leitung von Barbara Mahlmann-Bauer und Anett Lütteken verschrieben. Nach der ersten Tagung Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung, begleitet von einer Ausstellung in der Zentralbibliothek Zürich im September 2006, sind neben dem Sammelband neueste Forschungen entstanden.18 Wer die sich in Journalen und neuen Geselligkeitszirkeln entfaltende Dialogkultur als Signum der Aufklärungsepoche ansieht, wird Bodmers spielerische, um poetische aemulatio bemühte Beiträge zur Literaturkritik in eben derjenigen Form, die er zum Gegenstand seiner Kritik machte, als besondere Facette seiner schillernden Persönlichkeit wahrnehmen. Dazu zeigte die Forschungsliteratur, dass trotz der Präsenz Bodmers in den literarischen Zeitschriften seiner Zeit die diversen Konkurrenzverhältnisse bislang noch nicht gründlich erforscht worden
15 Jakob Baechtold: Geschichte der Deutschen Literatur in der Schweiz. Frauenfeld 1892, S. 636. 16 Ebd. 17 Herbert Schöffler: Anruf der Schweizer. In: Deutscher Geist im 18. Jahrhundert. Essays zur Geistes- und Religionsgeschichte. Hg. von Götz von Selle. Göttingen 1956, S. 7–60, hier S. 60. 18 Anett Lütteken und Barbara Mahlmann-Bauer (Hg.): Die Zürcher Aufklärung Johann Jakob Bodmer (1698–1783) und sein Kreis. Zürcher Taschenbuch 128 (2007); dies.: Bodmer und Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung. Göttingen 2009; Jesko Reiling: Die Genese der idealen Gesellschaft. Studien zum literarischen Werk von Johann Jakob Bodmer (1698–1783). Göttingen 2010.
6
Präambel
sind, in denen sich der Zürcher mit seinen Dichterkollegen v. a. in Deutschland sah. Auch Bodmers Position im Netzwerk der europäischen Streitkultur und Literaturkritik, die sich in der Auseinandersetzung zwischen Leipzig, Berlin und Zürich entwickelte, wird anhand der immanenten Textanalyse seiner poetischen Palimpseste neu situiert. Mit einer literarhistorisch systematisierenden Fragestellung werden diese originellen dichterischen Literaturkritiken vor dem Hintergrund des sich zu der Zeit parallel entwickelnden satirischen und humoristischen Romans in den Blick genommen und textimmanent interpretiert. Untersucht Herbert Jaumann in seiner Monographie Critica19 einschlägig Geschichte und Literaturkritik der Frühen Neuzeit zwischen Quintilian (35–96 n. Chr.) und Christian Thomasius (1655–1728), so sind die literaturkritischen Schriften der Satire und Parodie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Allgemeinen erst im Ansatz erforscht. Das Zeitalter der Aufklärung kann aus gattungsgeschichtlicher Perspektive auch als Suche nach neuen Formen zur Diskussion und Vermittlung des Wissens beitragen. Valorisiert die zeitgenössische Gattungspoetik noch die Tragödie und das Epos, so versuchen sich die Aufklärer in ihrer satirischen und parodistischen Schreibpraxis in den sogenannten ‚niederen‘ Gattungen.20 Neben kleinen Einzelstudien zu Bodmers parodistischer Tätigkeit sind die frühen Forschungsergebnisse von Erich Meissners Monographie Bodmer als Parodist zu nennen, der 1904 in seiner historisch angelegten Untersuchung die Elemente der Parodie und des Plagiats an einem guten Dutzend Parodien Bodmers punktuell herausarbeitete.21 Nach Meissner sind Bodmers Parodien „nur noch Gegenstand fachmännischer Forschungen“, mit welchen er „sittliche Tüchtigkeit und guten Geschmack in die heimischen Berge“22 bringen wollte. Auch Friedrich Braitmaier urteilte 1888 noch über Bodmer: „Bei aller Grobheit und Rücksichtslosigkeit in der Wahl der Mittel, wo es galt, dem Gegner eins zu versetzen, war er doch eine edle Natur, dem es mit der Förderung der Dichtkunst heiliger Ernst war.“23 Da der moderne Parodiebegriff auf Bodmers literaturkritische Parodien nicht vollständig zutrifft, und Dirk Niefangers Vorschlag der Metatextualität m. E. nach
19 Herbert Jaumann: Critica. Untersuchungen zur Geschichte der Literaturkritik zwischen Quintilian und Thomasius. Leiden 1995. 20 Vgl. Stefan Trappen. Gattungspoetik: Studien zur Poetik des 16. bis 19. Jahrhunderts und zur Geschichte der triadischen Gattungslehre. Heidelberg 2001. 21 Erich Meissner: Bodmer als Parodist. Naumburg 1904. 22 Ebd., S. 127. 23 Friedrich Braitmaier: Geschichte der poetischen Theorie und Kritik. Frauenfeld 1988, Bd. I, S. 243.
Präambel
7
zu ahistorisch ist, sollen hier die im 18. Jahrhundert üblichen Parodie- und Satiredefinitionen sowie ihre möglichen Nebenformen und Mischformen ihre Beachtung erhalten, die schließlich für die gattungstheoretische Definition der poetischen Palimpseste Bodmers beigezogen werden.24 Denn das Spiel mit dem fremden Stil der Vorlage ist vielseitig und kann, über bloß oberflächliche Wortparodien hinaus, ebenfalls die ganze Textstruktur tangieren und überdies mittels der Kritik neue ethische, politische sowie gesellschaftskritische Maximen transportieren.25 Ausgehend von Daniel Sangsues Skizze zu einer komparatistischen Geschichte der Parodie und des Parodieverständnisses von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert soll hier die polysemantische Deutung des Begriffes parodia berücksichtigt werden, den Verweyen und Witting m. E. zu einseitig auf den „Gegengesang“ und das „Verlachen“ reduzierten26 (3.2). Was die Geschichte der Literatursatire und -parodie in Frankreich betrifft, ist diese poetisch ambitionierte Kritik vor dem Hintergrund der Querelle des Anciens et des Modernes zu setzen. Nicolas Boileaus Chapelain décoiffé (1664) und Charles Palissots Philosophensatire Les philosophes (1760) sind hier bedeutende Schlaglichter (Kapitel 3.3.3). Nicht wegzudenken ist ebenfalls die englische Satiretradition, die mit Bernard de Mandevilles Fable of the Bees (1705ff.) ein kausales Verhältnis eines fingierten Gesellschaftsmodells des Bienenstaates anhand einer felix-culpa-Figur illustriert, die nicht zuletzt auch für Rousseaus Kulturkritik bestimmend sein sollte (Kapitel 1.2). Das Spezifische an Bodmers Literaturparodien und -satiren ist die Art der Verrätselung des verletzenden polemischen Impetus. Indem er nicht nur auf einen Gegner (z. B. nur Lessing) zielt, sondern einen allgemeinen Anspruch vertritt, macht er geltend, dass auch er zumindest ebenso gut dichten könne wie jene von ihm kritisierten Dichter. Diese Texte zeugen von Bodmers Empfänglichkeit für neue Tendenzen der deutschen, französischen und englischen Literatur. Die Liste der Autoren, auf die er intertextuell Bezug nimmt, ist lang: Neben Gottsched kommen Stoppe, Schönaich, Gellert, Lessing, Gerstenberg, Klopstock, Voß und Gessner vor, von französischen Autoren neben Rousseau, Boureau-Deslandes,
24 Dirk Niefanger: Nicht nur Dokumente der Lessing-Rezeption: Bodmers literaturkritische Metadramen Polytimet und Odoardo Galotti. In: Bodmer und Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung. 2009, S. 410–428. 25 Vgl. Michail Bachtin: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Hg. von Alexander Kaempfe. München 1969, S. 119f.; vgl. auch Beate Müller. Komische Intertextualität. Trier 1994, S. 22. 26 Daniel Sangsue: La relation parodique. Paris 2007; ders.: La parodie. Paris 1994; Gérard Genette: Palimpsestes. Paris 1992; Theodor Verweyen, Gunther Witting: Die Parodie in der neueren deutschen Literatur. Eine systematische Einführung. Darmstadt 1979.
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Fontenelle und Fénelon. Die englischen Aufklärer waren Bodmer seit 1720 gut bekannt: Außer an Steele und Addison nahmen Bodmers Erzählungen und Dialoge auch an Samuel Richardson und George Lyttelton Maß. Ebenso hat er die zeitgenössischen englischen Schriften von John Brown, Alexander Pope, Shaftesbury und Jonathan Swift zu Rate gezogen. Wie hier allgemein menschliche Probleme, ästhetische und soziopolitische Fragen anschaulich verhandelt werden, um Urteilskraft und ethische Handlungsmaximen der jungen Leserschaft zu stärken, wird dank der Textanalysen deutlich (Kapitel 4). Mit der Wahl der poetisch ambitionierten Parodie und Satire betritt Bodmer ein neues Feld der deutschen Literaturkritik, wofür sich erst neueste Forschungen zu interessieren beginnen.27 Vor dem Hintergrund der deutschsprachigen und der französischen Kultur erscheinen seine Kritiken wie neue, markante Einsätze im Wettstreit mit den aufgeführten Kontrahenten. Darin demonstrierte der Zürcher, dass er als Dichter – trotz und gerade wegen der Kritiken Jüngerer an ihm – durchaus mit den großen Dichtern mitzuhalten verstand und diese stilgeschichtlich niedrigen Gattungen für seine kulturkritischen und politischen Ideen zu nutzen wusste, was für eine Neupositionierung von Bodmers Autorität als Literaturkritiker und Dichter mitbestimmend ist. Wie Bodmer seine Auseinandersetzung mit Rousseaus Gesellschaftstheorie oder auch seiner Schauspielkritik in seinen literaturkritischen Dichtungen in sein politisches Erziehungs- und Reformprogramm integriert, das sich oft ex negativo in seinen poetischen Texten abzeichnet, war für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit wegweisend. Bodmers aufklärerisches Erziehungs- und Reformprogramm, das sich in diesen innovativen literaturkritischen Dichtungen abzeichnete, berücksichtigte bei weitem nicht nur die „Jünglinge“, die heranwachsenden jungen Bürger aus Zürich und Umgebung, wie es noch Jesko Reiling in seiner historisch angelegten Studie Die Genese der idealen Gesellschaft zu Bodmers natürlichem Menschenbild und dessen übermenschlichen Heldenbildern im Noah-Epos, dem ColumbusEpos Die Colombana, den biblischen Kinderschauspielen Jacob und Joseph sowie ausgewählten politischen Trauerspielen nahelegte.28 Neben dem Programm für Frauenbibliotheken in den Zürcher Zeitschriften und den Plänen für Töchterschulen wird die Rolle der Frau explizit in den Erzäh-
27 Dirk Niefanger: Nicht nur Dokumente der Lessing-Rezeption: Bodmers literaturkritische Metadramen Polytimet und Odoardo Galotti. In: Bodmer und Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung. 2009, S. 410–428; Anett Lütteken: „Feuerbläser in der Kirche und dem Staat.“ Samuel Butlers Hudibras und der Satire-Diskurs der Zürcher Aufklärer. In: Ebd., S. 663–694. 28 Jesko Reiling: Die Genese der idealen Gesellschaft. Studien zum literarischen Werk von Johann Jakob Bodmer (1698–1783). Berlin, New York 2010.
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lungen wie auch im Rousseau-Pastiche hinterfragt. Inwiefern kann Rousseaus Pädagogik, die auf einer éducation négative29 gründet, ebenfalls als Modell für Bodmers politisch-pädagogisches Erziehungsprogramm gelten? Je nach Perspektive und Zielrichtung seiner Polemik wechselte Bodmer die Fronten zwischen anciens und modernes und adaptierte Sokratische Gespräche in polemischen Gelehrten- und Personalsatiren, Fabeln, Erzählungen, Dramenparodien, Totengesprächen und sogar einem biblischen Rousseau-Pastiche. So illustrierte er ästhetische Modelle sowie bildungs- und staatstheoretische Visionen für seine modernen Zwecke der Erziehung seiner Studenten am Carolinum. Diese wurden von der zeitgenössischen Kritik aufgrund der Komplexität missverstanden oder verspottet. Wie diese inhaltlich und formal originelle Dichtung des Zürchers durch den Einsatz parodistischer und satirischer Mittel der Literatur- und Kulturkritik eine neue Gestalt verlieh, wurde von der Forschung bislang kaum angemessen gewürdigt. Denn der Literaturvermittler Bodmer stand zwischen alten und neuen Literaturtraditionen: Der Homerverehrer interessierte sich gleichsam für antike, mittelalterliche sowie zeitgenössische Schriften und war zudem offen für alte und neue Weltmythen, wie sie Dante Alighieri in La divina commedia oder John Milton in Paradise lost mit höchstem ästhetischen Anspruch darstellten, was nicht zuletzt die Zürcher Poetik des Wunderbaren beeinflussen sollte.30 Für das meines Erachtens einseitige Urteil über Bodmers Dichtungen ist seine überlange Abwesenheit auf dem Schauplatz der deutschsprachigen Literaturgeschichte verantwortlich. Als Goethe und Lavater dem älteren Herrn ihre Aufwartung machten, war der Dichter der Patriarchaden selbst schon historisch geworden. Aus Sicht der Jüngeren ging ihm in den 1770er Jahren der Ruf voraus, an veralteten Gattungsnormen – z. B. der Bewunderung in seinen heroischen Schauspielen – festzuhalten. Er selbst sah sich jedoch durchweg, auch und gerade noch in den letzten zehn Lebensjahren, als Neuerer und unermüdlicher Stimulator junger Talente. Da sich die literarhistorischen Wertungen Lessings und Goethes durchsetzten, wurde die Ingeniösität schlichtweg unterschätzt, die sich in Bodmers dialektischer Literaturkritik in den Formen der Parodie und Satire manifestiert und den Kern der folgenden Auseinandersetzung bildet. Zum Gegenstand der vorliegenden Arbeit erhoben, zeugen die hier vorgestellten Textanalysen nicht nur von dem Vorhaben Bodmers, sämtliche sogenannte
29 Christophe Martin: „Educations négatives“. Fictions d’expérimentation pédagogique au dixhuitième siècle. Paris 2010. 30 Johann Jakob Bodmer: Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1740. Stuttgart 1966.
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‚niedrige‘ Gattungen zu berücksichtigen, sondern offenbaren einen dialektischen Kritikbegriff, der pädagogisch und politisch ambitioniert ist. In Bodmers Schriften fallen immer wieder sokratisch-ironische Gesprächsstrukturen auf, die schon früh in seinen satirischen Attacken, bspw. gegen Gottsched, deutlich werden. Aufgrund der Poetik des Wunderbaren, die Bodmer und Breitinger seit 1727 gemeinschaftlich erarbeiteten, kam es zum bekannten Literaturstreit mit dem Leipziger Dichterfürsten Johann Christoph Gottsched (1700– 1766) und dessen Gefolgsleuten, Christoph Otto Freiherr von Schönaich (1725– 1807) und Daniel Stoppe (1679–1747). Von der Milton-Verehrung der Zürcher, die u. a. einen Streitpunkt der Kontroverse mit Leipzig ausmacht, zeugen die beiden Gottsched-Polemiken. Gegen diesen und seine Leipziger Anhänger richtete Bodmer seine Satire Edward Grandisons Geschichte in Görlitz (1755), die er gemeinsam mit dem jungen Christoph Martin Wieland (1733–1813) verfasste, sowie Das Banket der Dunse (1758), die sich nicht zuletzt an den englischen Vorbildern wie Samuel Richardson (1689–1761), Shaftesbury (1671–1713) sowie Alexander Pope (1688–1744) orientierten und mit deren Satiretechniken experimentierten (Kapitel 4.1). Mit seinem zweiten wichtigen Gegner, Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781), stritt sich Bodmer nach der Kontroverse um das politische Trauerspiel31 ebenso um die Aesopische Fabel. Bodmers umfangreicher Sammlung Lessingische unäsopische Fabeln und seinen darin eingeschobenen politischen Exempla sowie seiner Schauspielkritik gilt hier das größere Augenmerk (Kapitel 4.2). In den Erzählungen Pygmalion und Elise (1741, 1749) sowie Inkel und Yariko (1756) zeichneten sich moderne Erziehungskonzepte und Liebeskodierungen sowohl in der bukolischen Inselmetaphorik der Robinsonaden als auch im Rahmen der Kolonialismuskritik, ab. Beide Motive finden in Frankreich ihre Fortsetzung; während das Pygmalion-Motiv bei Rousseau zu einem Mélodrame avanciert, gewinnt das dann von Gessner idyllisch konnotierte Motiv der Inkel-und-YarikoErzählung in Diderots Supplément de Bougainville (1794) eine Fortsetzung (Kapitel 4.4.5). Ironisch-sokratische Unterhaltungen mit pädagogischer Tendenz können gleichsam auch in den Totengesprächen zum Spiegel der modernen Kultur werden. In der Tradition der spielerisch-anmutigen Totengespräche Lukians, die Fontenelle und Fénelon mit französischem Witz noch vor George Lytteltons Dialogues of the Dead aufleben ließen, erhielt Sokrates die Rolle des Moralisten und
31 Vgl. dazu Katja Fries: Bodmers Lessingparodien als Literaturkritik. In: Bodmer und Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung. 2009, S. 429–458; dies.: Bodmers Lessingkritik als Literaturparodie. In: Zürcher Taschenbuch 128 (2007), S. 512–525.
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Kritikers.32 Und trotz des munter durchmischten Personenarsenals wird am moralisch sokratischen Unterton in den Gesprächen im Elysium und am Acheron festgehalten, die in eklektischer Manier assoziative Gedankengänge mit einer erneut pointiert-politischen Tendenz unter Verwendung satirischer Mittel der satira menippea evozieren (Kapitel 4.5). Ferner erhält die Rolle des Publikums im Parterre fast gleichzeitig in Bodmers Gerstenberg-Kontroverse und im Rahmen seiner Ugolino-Bearbeitungen eine gewichtige Bedeutung. Als ein weiteres Beispiel fulminanter Personalsatire aus Zürcher Feder ist das undatierte Manuskript Das Parterre der Tragödie Ugolino aus dem Bodmer-Nachlass zu nennen. Dieses Nachspiel zu Bodmers Der Hungerthurm zu Pisa, einer Literaturparodie auf Gerstenbergs Ugolino (1768), ist höchstwahrscheinlich etwa im gleichen Zeitraum entstanden und wird in diesem Zusammenhang mitberücksichtigt. (Kapitel 4.6.1) Im Kontext der Dante-Rezeption wird hier ganz im Sinne der an Aristophanes anknüpfenden Spiel im Spiel-Tradition die Ironie des Scheiterns verbalisiert, die in der Commedia dell’arte bei Carlo Goldoni und Carlo Gozzi auflebte und mit den italienischen Komödianten im 17. Jahrhundert nach Paris wanderte (Kapitel 3.2.2). Mit Heinrich Wilhelm von Gerstenberg (1737–1834) wetteiferte Bodmer um die adäquate Darstellung des heldenhaften Leidens und Sterbens auf der Bühne. Wie der Titel es bereits ankündigt, wird hier der Zuschauerraum zum Schauplatz des Stückes. Dessen illustre Gäste sind allesamt namensstarke Herren aus der deutschen Kritikerszene, die hier lautstark am Bühnengeschehen teilnehmen, wenn sie in Gerstenbergs Ugolino-Szenen ihre Kommentare einwerfen. Diese Inszenierung einer metatextuellen Theater- und Literaturreflexion erstreckt sich von der Arbeit der Kritiker bis hin zur Persiflage der Kritikerkollegen. Schon hier tritt in Anlehnung an die altattische Komödie die erst für Tieck oder Grabbe kennzeichnende romantische Ironie in der Verkehrung des Theaters oder der Brechung der Illusion, wie es Friedrich Schlegel formulieren wird, schon skizzenhaft in Erscheinung (Kapitel 4.6). Als vorläufiger Höhepunkt der deutschen Homerkontroverse kann schließlich auch Der Gerechte Momus (1780) gelten, der im weiteren Zusammenhang des Wettstreits um den „deutschen Homer“ steht, worin Bodmer in hohem Alter, drei Jahrzehnte nach dem Streit mit Leipzig, in einem ironisch-ernsthaften Austausch nun sämtliche seiner deutschen Kritikerkollegen in seinen anspielungsreichen, travestiegleichen Gedichten versammelt. Nachdem er seine eigene Homerübersetzung in Hexametern 1778 in zwei Bänden publiziert hatte, attackierte Bodmer die ungleich wirkungsmächtigeren Homerübersetzer Johann Heinrich Voß (1751–
32 François de Salignac de La Mothe Fénelon: Dialogues des Morts anciens et modernes. Bruxelles 1843, IX Socrates et Alcibiade, S. 31 ff.; Socrate, Alcibiade et Timon, S. 38 ff.
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1826) und Friedrich Leopold zu Stolberg (1750–1818) in seiner Personalsatire Der Gerechte Momus (1780). Erstaunlich ist hierbei, wie er es dabei zu einer weiteren Buffonerie treibt, sich in der Klaviatur vom körperlich derben Spaß zum sublim Geistigen aufschwingt und in den Allegorien der kritischen Satire eine ironische Pirouette der Selbstpersiflage als Momus vorführt. Dabei ist die selbstironische Einsicht für jene frühromantische Ironie exemplarisch, wenn sich die Grenzen zwischen Spiel und Wirklichkeit zu verwischen beginnen (Kapitel 4.6.2). Eine in jeder Hinsicht zaghafte Überschreibung wählt Bodmer in seinem Rousseau-Pastiche, um nochmals politische Lehren in einem innovativen Erzählstil einzubringen, so auch im hier zuletzt behandelten Text Der Levit von Ephraim. Aus dem Französischen des Rousseau in dem Plane verändert (1782). Das Rousseau-Pastiche lässt zuweilen Züge einer Rückbesinnung auf das Mutterrecht der Alten anklingen und gibt sich ferner als süffisante Gessner-Karikatur zu erkennen (Kapitel 4.7). Dass man seine schriftstellerischen Aktivitäten wahrnahm, war Bodmer bewusst. Gleichwohl fühlte er sich hinsichtlich seiner poetischen Literaturkritiken missverstanden. Das ist seinen Persönlichen Anekdoten (1777/78) zu entnehmen, die sich – wiederum im komischen Genre angesiedelt – als autobiographische Skizze lesen: Noch liegt mir auf dem Herzen, dass man meine Bearbeitung von anderen bearbeiteten Dramen nicht in dem rechten Gesichtspunkt gefasset hat. Man hielt sie für Parodien, und ich irre sehr, wenn es nicht exemplarische und anschauliche Wettstreite waren. Die Deutschen wiesen sich in dieser literarischen Rennbahn mit einander zu laufen den Griechen nicht ähnlich; eine so auffallende, so sprechende Art der Kritik ist nicht in der Denkungsart der Rezensenten.33
Es gilt nun zu prüfen, warum Bodmers „Bearbeitungen“ zu seiner Zeit als Früchte eines „exemplarische[n] und anschauliche[n] Wettstreite[s]“, aber auch noch heute im Sinne der aemulatio als Literaturparodien und Gelehrtensatiren aufgefasst werden können und unter Berücksichtigung sämtlicher Gattungen die Zürcher Literaturkritik und Poetik mitbestimmten, deren Entwicklung in Kapitel 2 das Interesse gilt. Anhand einer exemplarischen Analyse zu Bodmers Demontage der Gegner und der Ridikulisierung seiner selbst, werden die Relationen der Kritik, d. h. Beziehungen und Bewegungen in der Dichtung, sichtbar. In der von Steffen Martus vorgeschlagenen Analyse des Literaturbetriebs im 18. Jahrhundert wird
33 Johann Jakob Bodmer: Persönliche Anekdoten (1777–78). In: Zürcher Taschenbuch (1892), S. 130.
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die unüberbrückbare zeitliche Leerstelle zwischen Aktion und Reaktion als Knackpunkt der kritischen Kommunikation offenbar,34 woran Jean Starobinskis Kritikbegriff anknüpft. Seine Theorie der Bewegung La relation critique (1978) ist zum einen von Newtons mechanistischem Axiom Aktion und Reaktion der Körper inspiriert und zum anderen Rousseaus Kulturkritik verpflichtet. Sie ergänzt die Konzepte der Intertextualität, der Dialogizität sowie der Rezeptionsästhetik der Konstanzer Schule. Diese verschiedenen Ansätze begründen die komparatistische Methode, dank welcher die poetischen Palimpseste Bodmers untersucht und im Folgenden vorgestellt werden.
34 Vgl. Steffen Martus: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert. Mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George. Berlin 2007, S. 126.
1 Methodik 1.1 Theorien der Intertextualität und der Dialogizität Auf die Problematik des universellen Charakters von Michail Bachtins Dialogizitätskonzept sowie auf Julia Kristevas Intertextualitätsbegriff, der dann von Gérard Genette in Palimpsestes. La littérature au second degré (1982)35 weiter differenziert wurde, ist bereits mehrmals hingewiesen worden: Michail Bachtins Dialogizitätskonzept,36 das sich vor allem auf die Mehrstimmigkeit innerhalb eines einzelnen Textes bezieht und gemeinhin auch mit der Intersubjektivität umschrieben wird, unterscheidet sich von Julia Kristevas Konzept der Intertextualität, das die Beziehung zwischen den verschiedenen Einzeltexten betont und den Textbegriff radikal generalisiert.37 Die von Bachtin initiierte Polyphonie im Text erweitert Kristeva im Sinne eines Kampfes gegen die „Abgeschlossenheit von Texten“, so dass die Intertextualität zu einer unmittelbaren Begleiterscheinung der Textualität wird.38 Nicht mehr die Stimmen im Text, sondern die Texte selbst beziehen sich aufeinander, die jeweils „als Mosaik von Zitaten […] Absorption und Transformation eines anderen Textes“39 zu verstehen sind. Unterstreicht Manfred Pfister den geringen heuristischen Wert der Intertextualität für die Textanalyse und deren Interpretation,40 so kritisiert auch Wolfgang Preisendanz die „Schwierigkeit wenn nicht Unmöglichkeit, Dialogizität bzw. Intertextualität als spezifische Möglichkeit literarischer Sinnkonstitution“41
35 Gérard Genette: Palimpsestes. La littérature au second degré. Paris 1982. 36 Michail Bachtin: Die Ästhetik des Wortes. Hg. von Rainer Grübel. Übers. von Rainer Grübel, Sabine Reese. Frankfurt am Main 1979. 37 Julia Kristeva: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman. In: Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven. Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft II. Hg. von Jens Ihwe. Frankfurt am Main 1972, Bd. 3, S. 345–375; vgl. ferner: Karin Hermann: Dialogizität und Intertextualität. Terminologische Fingerübungen im Hinblick auf die Zitatgedichte Ernst Meisters. In: Dies., Sandra Hübenthal (Hg.): Intertextualität. Perspektiven auf ein internationales Arbeitsfeld. Aachen 2007, S. 12–25, hier S. 18. Zur Intertextualität vgl. auch: Bernd Stiegler: Einleitung [Zum Abschnitt Intertextualität]. In: Dorothee Kimmich; Rolf Günter Renner; Bernd Stiegler (Hg.): Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. Stuttgart 1996, S. 327–333. 38 Vgl. Manfred Pfister: Intertextualität. In: Dieter Borchmeyer, Viktor Žmegač (Hg.): Moderne Literatur in Grundbegriffen. Frankfurt am Main 1987, S. 197–200, hier S. 198. 39 Julia Kristeva 1972, S. 348. 40 Vgl. Manfred Pfister: Konzepte der Intertextualität. In: Ulrich Broich, ders. (Hg.): Intertextualität, Formen, Funktionen und anglistische Fallstudien. Tübingen 1985, S. 1–30, hier S. 15. 41 Wolfgang Preisendanz: Zum Beitrag von Renate Lachmann „Dialogizität und poetische Sprache“. In: Renate Lachmann (Hg.): Dialogizität. München 1982, S. 25–28, hier S. 26.
https://doi.org/10.1515/9783110487930-002
Theorien der Intertextualität und der Dialogizität
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zu bezeichnen, wenn ferner das gesamte kulturelle System als Text aufgefasst wird, da mit der Beschränkung auf textuelle Referenzen textexterne Weltbezüge entfallen. Diesbezüglich wirft Ulrich Broich die Frage der Trennschärfe dieses Intertextualitätsbegriffs und seiner wissenschaftlichen Brauchbarkeit für die Textanalyse auf.42 Damit verbunden ist schließlich die Frage nach dem Stellenwert der Markierung intertextueller Bezugnahmen, d. h. danach, ob die Kennzeichnung eines intertextuellen Rekurses als konstitutives Kriterium für Intertextualität gelten soll.43 Pfister stellt dem von Kristeva eingeführten weitgefassten ubiquitären Intertextualitätsterminus einen für die Literaturanalyse und Textinterpretation zweckdienlichen und enger gefassten Begriff gegenüber, der eine prägnante Beziehung zwischen konkreten Texten meint.44 Genettes strukturalistische Überlegungen in Palimpsestes (1982)45 unterscheiden fünf verschiedene Typen der Transtextualität, die in einem Text parallel vorkommen, sich aber auch überschneiden und ergänzen können. Genettes Begriff der Intertextualität ist demnach einer der fünf Typen, der eine „effektive Präsenz eines Textes in einem anderen Text“46 meint. Formen dieser Intertextualität sind z. B. Zitate oder Anspielungen. Hypertextualität bezeichnet jede Beziehung eines Textes B (=Hypertext) zu einem Text A (=Hypotext). Genette unterscheidet zwei Formen der Hypotextualität: die Transformation, zu der beispielsweise eine einfache Verlagerung der Handlung eines Hypotextes in eine andere Zeit oder/und einen anderen Ort gehört, und die Nachahmung, die komplexer, aber auch indirekter ist, da sie den Hypotext stärker verändert. Dabei werden die Qualität und die Struktur eines Hypotextes übernommen, aber im Zusammenhang mit einer anderen Aussage oder Handlung verarbeitet. Der Strukturalist differenziert neben den fünf Modellen der Transtextualität (Intertextualität, Hypertextualität, Metatextualität, Paratextualität und Architextualität) drei Formen intertextueller Textstrate-
42 Ulrich Broich: Zur Einzeltextreferenz. In: Ders., Manfred Pfister (Hg.): Intertextualität. Tübingen 1985, S. 48–52, hier S. 48. 43 Vgl. Karin Herrmann: Dialogizität und Intertextualität. Terminologische Fingerübungen im Hinblick auf die Zitatgedichte Ernst Meisters. In: Dies., Sandra Hübenthal (Hg.): Intertextualität. Perspektiven auf ein interdisziplinäres Arbeitsfeld. Aachen 2007, S. 12–25, hier S. 25. 44 Vgl. Manfred Pfister: Konzepte der Intertextualität. In: Ulrich Broich, ders. (Hg.): Intertextualität. Tübingen 1985, S. 1–39, hier S. 11. In diesem Zusammenhang unterscheidet Tegtmeyer globale und lokale Konzeptionen der Intertextualität. Vgl. Henning Tegtmeyer: Der Begriff der Intertextualität und seine Fassungen. In: Textbeziehungen. Linguistische und literaturwissenschaftliche Beiträge zur Intertextualität. Hg. von Josef Klein, Ulla Fix. Tübingen 1997, S. 49–83, hier S. 50. 45 Gérard Genette: Palimpsestes. La littérature au second degré. Paris 1982, S. 9. 46 Ebd., S. 10f.
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gien der literarischen Schreibpraxis von Text-Text-Bezügen: die spielerische Parodie, die satirische Travestie und die ernsthaft Transposition, die neben dem Pastiche oder der Personalsatire zur Klassierung der hier behandelten literaturkritischen Texte Bodmers dienen.47 (Vgl. Kapitel 3.1.3.) Ingeborg Hoesterey modifiziert das eng abgesteckte Intertextualitätsprinzip und differenziert eine rezeptionsästhetische von einer produktionsästhetischen textimmanenten Intertextualität.48 Hinsichtlich der rezeptionsästhetischen Variante der Intertextualität betont Sabine Holthuis die interaktive Bewegung zwischen Text und Leser, die von den jeweiligen Kenntnismengen und Rezeptionserwartungen abhängt und sich vor allem aus der Relation zwischen Texten im Kontinuum der Rezeption konstituiert.49 Holthuis Vorstellung, Intertextualität werde im Akt des Lesens durch die Assoziationen des Rezipienten dargestellt, korreliert hier mit einem neuen textübergreifenden Zusammenhang, der die traditionellen Instanzen von Autor, Subjekt und Werk auflöst, so dass „auch die Unterscheidung zwischen Autor und Leser zugunsten einer textuellen Produktivität aufgegeben wird“, da jeder Leser „aktiv an der Transformation des Zeichenmaterials“ teilnimmt, wenn er in seiner Lektüre Bezüge zu anderen Texten zieht.50 Die prägnante literarische Bezugnahme lässt sich demnach nicht mehr nur intersubjektiv anhand des Kriteriums der Autor- bzw. Textintention festmachen, sondern ist ebenso abhängig von subjektiven Lektüre-Assoziationen, einem Untersuchungsgegenstand, der vor allem in der Rezeptionsästhetik der Konstanzer Schule erforscht wurde. Inwiefern die Konstanzer Schule und die École de Genève Jean Starobinskis Kritikbegriff mitprägten, der sich insbesondere von Rousseaus Kulturkritik ableitet, wird im Folgenden behandelt.
1.2 Rousseaus Kulturkritik und Jean Starobinskis Kritikbegriff Die Inhaftierung seines Freundes Diderot war der Anlass für Rousseaus Fußmarsch von Paris nach Vincennes in der Oktoberhitze 1749. Die Höflichkeit des Hofes hatte sich wieder einmal als Farce erwiesen, wenn Diderot aufgrund einer Stichelei in den Lettres sur les aveugles inhaftiert wurde, die eine vornehme Dame auf sich bezogen hatte. Rousseau erhielt wohl bei seinem Besuch von Diderot den
47 Vgl. Genette: Palimpsestes. 21982, S. 40 ff. 48 Vgl. Ingeborg Hoesterey: Verschlungene Schriftzeichen. Intertextualität von Literatur und Kunst in der Moderne / Postmoderne. Frankfurt am Main 1988, S. 13. 49 Vgl. Sabine Holthuis: Intertextualität. Aspekte einer rezeptionsorientierten Konzeption. Tübingen 1993, S. 31. 50 Bernd Stiegler u. a. (Hg.): Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. Stuttgart 2000, S. 329.
Rousseaus Kulturkritik und Jean Starobinskis Kritikbegriff
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Wink, man müsse das Gegenteil vom Erwarteten sagen, wenn man Erfolg haben wolle. Die Akademie von Dijon stellte 1750 die kühne Preisfrage, „ob die Erneuerung der Wissenschaften und Künste dazu beigetragen habe, die Sitten zu bessern?“, und zeichnete die noch kühnere Antwort eines bis dahin achtunddreißig jährigen Nobodys aus. Mit Mandeville und Voltaire kritisierte Rousseau in seinem Discours den übermäßigen Luxus, der zwar für einen Teil der Bevölkerung Wohlstand bedeutete, weil die Verschwendung Geld unter die Leute brachte, aber zudem Frankreich ruinierte. Die Konzentration des Reichtums des Landes auf Paris, ein ständiger Abfluss ohne Zufluss, schalt er eine vorsätzliche Verschwendung. Als Komplizen des ruinösen Luxus deutete Rousseau in polemischer Stoßrichtung Künste und Wissenschaften, demnach das Wissen die nötigen Erfindungen und die Künste die Mittel für die Verschwendung lieferten. Angeregt durch Bernard de Mandevilles Fable of the Bees (1705–1714), dessen Paradoxon „private vices – public benefits“ Rousseau sowohl inhaltlich als auch formal weiterdachte, entarten, Rousseaus Gesetz zufolge, die Sitten in dem Masse, in dem Kunst und Wissenschaften fortschreiten. Der Mensch fiel, während er stieg und hielt seinen Verfall für seine Vollendung. Obwohl Rousseau den Fortschritt nicht leugnete, bewertete er ihn neu. Dass seine Fortschrittskritik der Gesellschaft sich zudem als eine erste kritische Erforschung des Selbst zeigte, war neu. In seiner Einleitung zur zweisprachigen Ausgabe der beiden kulturkritischen Abhandlungen über die Künste und Wissenschaften sowie über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen (Discours sur les sciences et les arts. Paris 1750; Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes. Amsterdam 1755) bringt Kurt Weigand Rousseaus Denken mit dem Sündenfall und der felix culpa-Figur in Verbindung: Der Verstand wird vorletztlich zum Grund des Sündenfalls, letztlich zum Grund des eigenen Denkens. Er ist zugleich der Widerstand und der Gegenstand seines Philosophierens. Er sucht ihn zu überwinden, während er seine Unüberwindbarkeit lehrt. Damit sind wir wieder bei der Problematik des ersten Discours. Der Autor verwirft, was er ist. Er ist der Künstler, der die Kunst befehdet, der Philosoph, der die Philosophie verwirft. Entweder widerlegt hier die These den Autor oder der Autor seine These. Dieses Infragestellen seiner selbst war das Amüsement der Gesellschaft. Unter dieser Oberfläche aber zeigt sich mehr: lange bevor Rousseau auf seinen Sündenfall stieß, philosophierte er bereits infolge eben dieses Sündenfalls. Er kehrt in seinen Thesen zu den Motiven seines Denkens zurück. Seine Abgründe wurden seine Gründe.51
51 Vgl. Kurt Weigand: Einleitung: Jean-Jacques Rousseau: Schriften zur Kulturkritik. Hamburg 5 1995, S. VLVII.
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Kritik ist Arbeit am Widerspruch. Rousseaus Kulturkritik zeichnet sich dadurch aus, dass die Antithesen der Thesen immerfort mitbedacht werden. Seine Kulturkritik, die sich unmittelbar an die Querelle des Anciens et des Modernes knüpfte, erhitzte die Gemüter der Zeit, polemisierte und löste sogar einen richtigen Philosophenstreit mit Palissots Satire Les philosophes aus – ein Beispiel für die gelebte Satiretradition Frankreichs.52 Um Rousseaus Position im Zeitalter der Dialektik nachvollziehen zu können, soll vorab der kulturkritische Kontext der parallelen Stoßrichtungen der Alten und der Neuen skizziert werden. Die Naturrechtdebatte der philosophischen und kulturgeschichtlichen Streitkultur in Frankreich, der Querelle des Anciens et des Modernes, nahm ihren Anfang im ausgehenden 17. Jahrhundert und erlebt mit den beiden Diskursen Rousseaus aus den Jahren 1750 und 1755, die verspätet in Deutschland und in der Schweiz aufgenommen wurden, ihren Höhepunkt. Dass und wie sehr der Discours sur les sciences et les arts (1750) und jener sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes (1755) bei den Zeitgenossen einschlugen und welche Breitenwirkung sie seither haben, ist unbestritten. So würdigt Georg Bollenbeck in seiner Geschichte der Kulturkritik Rousseau als ersten modernen Kulturkritiker.53 Dass Rousseaus Diskurse über Wissenschaften und Künste schon seinerzeit als Früchte einer Kritik sozialer, politischer und religiöser Missstände wahrgenommen und dessen aggressive Schreibart der Satire verstanden wurden, bescheinigt schon Albrecht von Haller in seiner Rezension: „Es ist viel Feuer und Wiz in dieser Satyre wieder die Wissenschaften, aber gewiss, ungeachtet man sie gekrönt hat, eben so viel Unbeständigkeit und Widerspruch.“54 Die Abhandlung ist deswegen eine „Satyre“, weil Rousseau Kritikwürdiges erkannte und mit seinen rhetorischen Strichen derart dick auftrug, wenn er die kausale Verknüpfung zwischen der Blüte der Wissenschaft und der Depraviertheit der Sitten hervorhob. Haller verstand Rousseau als Satiriker und der in dessen Schriften deren erbarmungslose Ehrlichkeit und Kunst der Demaskierung der Realität. Denn Satire will die Wahrheit ans Licht ziehen und zielt auf bisher ungesehene, übersehene oder vernachlässigte Defizite, die Rousseau im ersten Discours hinsichtlich des Gegensatzes zwischen der sittlich-politischen Rückständigkeit und dem
52 Daniel Delafargue: La vie et l’oeuvre de Palissot (1912). Paris 1970; Jacques Proust: Diderot et l’Encyclopédie. Paris 1982. 53 Vgl. Georg Bollenbeck: Geschichte der Kulturkritik. Von J.J. Rousseau bis Anders. München 2008. Auch Kurt Weigand betitelt Spenglers Untergang des Abendlandes als modernen Abklatsch Rousseau’schen Gedankenguts. Vgl. Ralf Konersmann: Kulturkritik. Frankfurt am Main 2008. 54 Albrecht von Haller: Tagebuch seiner Beobachtungen. Bd. 1, S. 111, Anm. 1; Karl S. Guthke gibt Hallers Rezension von 1753 nach den Göttingischen Anzeigen von Gelehrten Sachen wieder. Ebd., S. 61 f., Anm. 5.
Rousseaus Kulturkritik und Jean Starobinskis Kritikbegriff
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wissenschaftlich-technischen Fortschritt entwickelte. Nach Hallers Satireverständnis ist es typisch, dass der Satiriker über sein Ziel hinausschießt, dass er sich zu viel vornimmt, sich in Nichtigkeiten verliert und oft an zu vielen disparaten Phänomenen Kritik übt. Wie später bei Friedrich Schiller, so gilt auch für Haller die Satire als Frucht einer speziellen Wirklichkeitssicht, die ein Ungenügen der Wirklichkeit gegenüber einem Ideal schmerzlich postuliert. Typisch für die Satire sei zudem ihr öffentliches Echo. Satire provoziere und die Folgen für ihre Autoren seien oftmals Kritik, Verachtung, aber auch besonderer Ruhm. Dass es sich bei Rousseaus erstem Diskurs um eine Satire handelt, wird auf jenem alten Frontispiz der Erstveröffentlichung offenkundig, worauf eine Satyrfigur neben jener des Prometheus abgebildet ist. Im Sinne der Prosopopöie des Fabricius umschreibt Konersmann Rousseau als „promethischen Revolteur“, der im Grunde nicht wollte, dass der Mensch in den Naturzustand zurückfalle, sondern von der Stufe, auf der er jetzt steht, zurück blicke.55 Mit Rousseaus erstem Diskurs Sur les sciences et les arts (1750) erfuhr die Kulturkritik durch die Verschiebung der Autorposition eine Neupositionierung: Denn Rousseau stellte sich dem Leser nicht mehr als überlegener Gelehrter, sondern vielmehr als unwissender Mann vor, der nur nach seinen natürlichen Einsichten handelte. Diese Neupositionierung des Autors wurde durch den nur bei der Erstveröffentlichung abgedruckten Kupferstich auf dem Frontispiz, eine Variation aus Platons Politikos bekanntem Prometheus-Mythos zeigend, illustriert.56 Die doppeldeutige Emblematik des Feuers, einmal als Energiequelle, aber auch als Mittel der Zerstörung deutete auf die Ambivalenz des aufklärerischen Lichts, womit Rousseau mit Hilfe des Wissens über deren Grenzen und Gefahren aufklärte, und die Lanze in der Wunde stecken bleiben musste.57 In seiner Beschreibung der Szene personifizierte sich Rousseau 1752 mit Prometheus und reagierte auf die kritische Resonanz zu seinem ersten Discours: Ich hätte meine Leser wie Kinder zu behandeln geglaubt, wenn ich ihnen eine so klare Allegorie interpretiert hätte. Ich hätte ihnen sagen müssen, daß die Fackel des Prometheus die Fackel der Wissenschaften ist, wie sie zur Entzündung der großen Genies gedient hat; daß der Satyr, der das Feuer zum ersten Mal sieht, darauf zuläuft und es umarmen will, die gewöhnlichen Menschen darstellt, die vom Ansehen der Literatur geblendet werden und sich unbesonnen auf ihr Studium werfen, dass Prometheus, der Ihnen zuruft und sie vor der
55 Ralf Konersmann: Kulturkritik. 2008, S. 128. Mit Prosopopöie ist eine poetische Figur gemeint, die der Allegorie verwandt, abstrakte Begriffe, leblose Dinge oder Naturerscheinungen mit menschlichen Eigenschaften besetzt. 56 Heinrich Meier: Rousseau über das philosophische Leben. München 2005, S. 11 ff. 57 Vgl. Konersmann: Kulturkritik. 2008, S. 82 f.
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Gefahr warnt, der Genfer Bürger ist. Dieses Sinnbild ist richtig, schön und ich glaube sogar erhaben.58
Die Unterschrift „Satyr, tu ne le connais pas“ verallgemeinerte jene Worte, die Prometheus selbst in der Abhandlung an jenen Satyr richtete und die dann im zweiten Discours zentrale Bedeutung erhielten. Das Wissen der Wissenschaft müsse laut Rousseau auch das Wissen des Nichtwissens umfassen. Demgegenüber findet sich in der Figur des Satyrs die Unwissenheit des traditionell als begriffsstutzig geschilderten homme vulgaire, der ohnehin nicht wisse, dass er nichts wisse. Dabei kritisierte Rousseau den Missbrauch des positiven Wissens ganz unmittelbar und konstatierte, dass die Verbindung der Tugend und zu dem, was dem Menschen zuträglich ist, verloren wäre. Das Modell der konzentrierten Wissens- und Kulturentwicklung ist dreistufig. Nach der Stufe der für immer verlorenen „glücklichen Unwissenheit“ folgt die Stufe des Wissens, die fälschlicherweise ihr eigenes Nichtwissen ausblendet, so dass die dritte Stufe des neuen Wissens der Wissenschaften in dieser verkürzten Form für den Verderb der Menschen mitverantwortlich sei. Auf dieser Stufe, auf der Prometheus mit seiner Fackel die Fatalität der Entwicklung ankündigte, trat der Kulturkritiker diesem, in der Rolle des Störenfrieds, des Widersachers und des Rebellen entgegen. Konersmann betont, dass nicht die Feuerübergabe der entscheidende Schritt sei, sondern der implizite, zunächst unscheinbare bleibende Austritt aus der gesetzten Ordnung. Im ersten Diskurs wurde diese ebenso stillschweigende wie entscheidende Regelverletzung als zeitgemäßes Modell der Kritik aufgegriffen. Diese Szene symbolisierte den Kampf um das Wissen im Zeithalter der Aufklärung und deutete den Machtumsturz der überkommenden Hierarchie an: Rousseaus Rhetorik der Kritik partizipiert an der imago des Göttersohnes und nutzt den Effekt, dass das primordiale Aufbegehren des Sohnes alle Legitimationsforderungen vorgreifend unterläuft. Die Maske und das Recht des Prometheus, der sich, indem er für seine Sache streitet, gegen die väterliche Ordnung stellt, lassen alle Zweifel verstummen, vor allem die Frage nach der Selbstermächtigung der modernen Kulturkritik und ihres Protagonisten Prometheus/Rousseau.59
Wohl in Anlehnung an Sigmund Freuds Theorien über die Kunst deutet Jean Starobinski den kreativen Prozess, der ein künstlerisches bzw. literarisches Werk entstehen lässt, als Ausdruck einer psychischen Bewegung, der Überwindung 58 Zit. nach. Kurt Weigand (Hg.): Rousseau: Schriften zur Kulturkritik. Hamburg 1995, S. 351 (Anm. e). 59 Konersmann: Kulturkritik. 2008, S. 74–83, hier S. 81. Vgl. weiter: Friedrich Wilhelm Josef Schelling: Philosophische Mythologie. Darmstadt 1966, Bd. 1, S. 481.
Rousseaus Kulturkritik und Jean Starobinskis Kritikbegriff
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von Hindernissen und Enttäuschungen, was er im übrigen auch in seiner Promotion Jean-Jacques Rousseau: la transparence et l’obstacle (1957) darstellte und 1971 mit seinen Sept essais sur Rousseau ergänzte. Starobinski dechiffriert hier erstmals Rousseaus Werk als literarische Kompensierung erlittener Verletzungen. Rousseaus Poetik der Paradoxien beginnt schon in seinem ersten Diskurs, dem Discours sur les sciences et les arts (1750). Nach einem pompösen Loblied auf die Kultur wird in erhabenen Sätzen die Fortschrittsgeschichte der Aufklärung beschrieben, bis plötzlich mittels einer Kehrtwendung der Gegensatz von Sein und Schein preisgegeben wird: Tandis que le gouvernement et les lois pourvoient à la sûreté et au bien-être des hommes assemblés, les sciences, les lettres et les arts, moins despotiques et plus puissants peut-être, étendent des guirlandes de fleurs sur les chaînes de fer dont ils sont chargés étouffent en eux le sentiment de cette liberté originelle pour laquelle ils semblaient être nés, leur font aimer leur esclavage et en forment ce qu’on appelle des peuples policés.60
Ein zweiter Redestoß zeigt dann das ganze Ausmaß der Sittenverderbtheit. In Antithesen über Sein und Schein wird postuliert, wie sehr der Menschengeist zwar triumphiere und der Mensch doch gleichsam verdorben sei. Der Bruch zwischen Sein und Schein führt zu weiteren Konflikten, wie eine Reihe sich verstärkender Echos: dem Bruch zwischen Gut und Böse, dem Bruch zwischen Natur und Gesellschaft, dem zwischen dem Menschen und seinen Göttern und schließlich dem neuen Bruch der Moderne im Innern des Menschen selbst. Darauf teilt sich die ganze Geschichte in ein Vorher und ein Nachher: Vorher gab es Vaterländer und Bürger, die nun verschwunden sind. Einmal mehr liefert Rom das Beispiel: Die tugendhafte Republik, faszinierte von der Pracht des Scheins, ging an ihrer Verschwendungssucht und ihren Eroberungen zugrunde. Aufgrund der Scheinhaftigkeit war jede authentische Kommunikation zwischen den Menschen verunmöglicht. In seinem Jahrhundert gehörte Rousseau zu jenen Autoren, die Werte und Strukturen der monarchischen Gesellschaft anfochten. Rousseau wollte das Prinzip des Bösen erfassen und stellte die Gesellschaft, die soziale Ordnung insgesamt in Frage. Dabei verzettelte er sich nicht, auch war er viel zu egozentrisch, um die Rolle des geschäftigen Weltverbesserers anzunehmen. Während Voltaire seine „Affaire Callas“ und zehn weitere der gleichen Art hatte, war Rousseau, wie Starobinski treffend resümiert, voll und ganz von seiner „Affaire Rousseau“ eingenommen und begann die Geschichte seiner Gedanken aufzuzeichnen: Er hatte
60 Rousseau: Discours sur les Sciences et les Arts. In: Weigand: Rousseau. Schriften zur Kulturkritik. 1995, S. 6 f.
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einen Zwiespalt zwischen den Taten und den Worten der Menschen festgestellt, eine Differenz, die er sich durch eine andere – nämlich jene von Sein und Schein – erklärte. In der Tradition der Theodicée-Frage, die Leibniz aufgeworfen hat, bedient sich Rousseau in seiner Interpretation des Ursprungs an Platons Mythos über den Meeresgott Glaukos und zeigt zwei Interpretationen auf. Die eine illustiert die Degeneration der menschlichen Seele, während die zweite daran festhält, dass die Natur nicht verloren gehe, sondern einzig wie hinter einem Schleier versteckt sei.61 Rousseaus Diskurse sind gleichsam als entlastende Anklage und anklagende Entlastung seiner selbst zu lesen. Darin wandte er sich den Menschen zu, um ihnen ihre essentielle Unschuld des Naturmenschen und gleichsam ihr Verschulden aufgrund ihres sozialisierten und zivilisierten Daseins vor Augen zu führen. Starobinski untersucht den dramatischen Dialog zwischen Rousseau und seinen Lesern und zeigt, inwiefern die Denunzierung der Gesellschaft eine Verneinung der verneinten Transparenz bedeute: Émile (1762), Du contrat social ou principes du droit politique (1762) und Julie ou la Nouvelle Héloïse (1761) können als Modelle verstanden werden, die Rousseaus ablehnende Haltung der Gesellschaft begründen und ein pädagogisches, politisches und moralisches Gegenmittel gegen das prognostizierte Übel der Gesellschaft vorschlagen. Ferner erkennt Starobinski einen starken Zusammenhang zwischen den theoretischen und autobiographischen Schriften Rousseaus, dessen Vehemenz und die Unbedingtheit seiner Kritik ihn, trotz seiner öffentlichen Rolle als Schriftsteller und Verfasser einer gesellschaftskritischen Chronik, richtiggehend in die Einsamkeit getrieben haben: Celui qui devient écrivain pour dénoncer le mensonge de la société se met dans une situation paradoxale. En se faisant auteur, et surtout lorsqu’il inaugure sa carrière par un prix d’académie, il entre dans le circuit social de l’opinion, du succès, de la mode. Il est donc, d’entrée de jeu, suspect de duplicité et contaminé par le péché qu’il attaque. A mesure que sa solitude deviendra plus absolue, Rousseau se confirmera de plus en plus dans l’idée que son début littéraire fut le commencement d’une malédiction: „Dès cet instant je fus perdu.“62 Le seul rachat possible consiste à faire acte public de séparation: un arrachement devient nécessaire, et un perpétuel dégagement tiendra lieu de justification. Je vous parle, mais je ne suis pas l’un des vôtres. J’appartiens à un autre monde à une autre patrie. Vous ne savez plus ce que c’est une patrie, et moi, je suis citoyen de Genève. Non, je ne suis même pas citoyen de Genève, car les Genevois ne sont plus ce qu’ils étaient. Vôtre Voltaire est venu les corrompre. Je suis simplement: le citoyen … Devenu homme de lettres, l’accusateur ne sera jamais assez excusé de sa compromission avec le mal, qui se perpétue en lui tant que continue l’acte d’écrire.63
61 Vgl. Jean Starobinski: Transparence et obstacle. Paris 1971, S. 27 f. 62 Rousseau: Confessions. Livre VIII. In: OC, Bd. I, S. 351. 63 Jean Starobinski: La solitude. In: Ders.: Jean-Jacques Rousseau. La transparence et l’obstacle. Suivi de sept essais sur Rousseau. Paris 1971, S. 49–83, hier S. 52 f.
Rousseaus Kulturkritik und Jean Starobinskis Kritikbegriff
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Begonnen mit den historischen Theorien Rousseaus, der die Gesellschaft als eine kollektive Negation der Natur interpretierte, bezog Rousseau diese in seiner Autobiographie, den Confessions, auf eine individuelle Verneinung seines eigenen Ichs. In der Projektion der spekulativen Analyse der menschlichen Entwicklung der Gesellschaft auf die inneren Probleme seiner Existenz vollzog Rousseau einen gewollt unlogischen Übergang von einer Kategorie zur anderen, von einer Bemühung um objektives Wissen zur subjektiven Erfahrung. Ferner versuchte Rousseau vor dem Hintergrund des kollektiven Verderbens, das er beklagte, sich davon frei zu schreiben.64 Um die ursprüngliche Verfassung des Menschen darzustellen, wandte Rousseau sich seinem eigenen Herzen zu. Für ihn gab es keinen Zweifel, er war selbst ein „Mensch der Natur“ oder doch zumindest ein Mensch, in dem die Erinnerung der Natur nicht ausgelöscht war. Darin bildete er eine Ausnahme, kraft eines jener außerordentlichen Privilegien, die er für sich in Anspruch nahm: er war der einzig Eingeweihte. Da, wo andere Philosophen sich mit trockener Spekulation begnügen würden, stützte sich Rousseau auf die innere und poetische Eingebung. Für ihn war das Ursprüngliche nicht der Ausgangspunkt eines intellektuellen Spiels, sondern vielmehr ein am Ursprung der bewussten Existenz angetroffenes Bild; der Naturzustand war zunächst Erfahrung, eine fortgesetzte Kinderphantasie, und Rousseau sprach davon, als stünde sie ihm vor Augen: „A quoi bon chercher notre bonheur dans l’opinion d’autrui si nous pouvons le trouver en nous-mêmes?“65 Die Betonung der Subjektivität sowie die Hinwendung zum eigenen ist auch im dritten der Dialogues, Rousseau juge de Jean-Jacques zentral, wo die Figur des Franzosen gegenüber jener Rousseaus verlauten lässt: „D’où le peintre et l’apologiste de la nature aujourd’hui si défigurée et calomniée peut-il avoir tiré son modèle, si ce n’est de son propre cœur?“66 Von den temporalen und kollektiven Parametern her und ohne Einmischung einer höheren Vorsehung schuf Rousseau schlagartig etwas, das man später historische Soziologie nennen wird: Man kann den modernen Menschen nur verstehen, wenn man die Gesellschaft kennt, die ihn erzogen hat, und man kann die Gesellschaft nicht verstehen, wenn man nicht weiss, wie sie sich zusammensetzt. Nach Rousseau müsse das Problem vom Prinzip her angegangen werden, d. h. von einem hypothetischen Punkt aus, wo im Zusammentreffen der isolierten Individuen die Gruppen entstehen. 64 Vgl. ebd., S. 60f. 65 Rousseau: Discours sur les sciences et les arts. Seconde Partie. In: Weigand (Hg.): Rousseau: Schriften zur Kulturkritik. 1995, S. 56. 66 Rousseau: Dialogues. Rousseau juge de Jean-Jacques. In: OC, Bd. III, S. 570f.
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Bereits zum Ende der ersten Abhandlung wird die Möglichkeit auf Versöhnung sichtbar. Wenn nur die Menschen und zumal die Fürsten es wollten, könnte die Trennung überwunden werden, könnte sich wieder eine wahrhafte Gemeinschaft herstellen. Das Böse geht nicht eigentlich vom Wissen, von der Kunst oder gar von der Technik aus, sondern von der Zersplitterung der gesellschaftlichen Einheit. Künste und Wissenschaften werden nicht verbannt, sondern sollen mit der Tugend die gesellschaftliche Totalität wiederherstellen: C’est alors seulement qu’on verra ce que peuvent la vertu, la science et l’autorité animées d’une noble émulation et travaillant de concert à la félicité du genre humain. Mais tant que la puissance sera seule d’un coté: les lumières et la sagesse seules d’un autre, les savants penseront rarement de grandes choses, les princes en feront plus rarement de belles, et les peuples continuent d’être vils, corrompus et malheureux.67
Rousseau beklagte ferner, dass die politische Macht und die Kultur unvereinbare Ziele ansteuern, und hoffte auf eine vertrauensvolle Kommunikation. Er war bereit, die Kultur freizusprechen, sofern sie Bestandteil einer harmonischen Totalität sein würde und nicht länger die Menschen zur Jagd nach Vorteilen und Eigenlüsten anhielte. Er träumte also keineswegs davon, die Wissenschaften abzuschaffen. Im Gegenteil, er riet dazu, sie zu erhalten, dergestalt jedoch, dass man den Konflikt zwischen der Noblesse und den Wissenschaften beseitigte, der gegenwärtig die Macht und die Aufklärer zu Gegnern werden ließ. Jean Starobinskis Begriff der Kritik, der bei meiner Textanalyse zum Tragen kommen wird, ist u. a. durch die intensive Erforschung von Rousseaus kulturkritischen Schriften entstanden. Nicht zuletzt war Bodmer ein Rezipient der politischen und pädagogischen Theorien Rousseaus, was sich in den poetischen Palimpsesten niederschlägt. Im Rousseau-Jahr 2012 hat Jean Starobinski zwei Aufsatzbände herausgegeben. In L’Encre de la mélancholie68 kommt jener interdisziplinäre Blick eines Wissenschaftlers zum Ausdruck, der schon in seiner zweiten Doktorarbeit Histoire du traitement de la mélancholie hervortrat, die 1957 an der medizinischen Fakultät der Universität Lausanne eingereicht wurde. Inwiefern diese schwarze Galle (la bile noire) auch für Rousseau zur treibenden Kraft wurde, wird in den ebenfalls neu aufgelegten und teilweise überarbeiteten Aufsätzen im Band Accuser et séduire. Essais sur Jean-Jacques Rousseau69 deutlich. Insbesondere sind darin die Überlegungen zu Rousseaus posthum erschienenen Essai sur l’origine des langues von Bedeutung, die das Kapitel von Jean 67 Rousseau: Discours sur les sciences et les arts. Seconde Partie. In: Weigand (Hg.): Rousseau: Schriften zur Kulturkritik. 1995, S. 56. 68 Starobinski: L’éncre de la mélancholie. Paris 2012. 69 Ders.: Accuser et séduire. Essais sur Jean-Jacques Rousseau. Paris 2012.
Konstanzer Rezeptionsästhetik
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Starobinskis zweiter Promotionsschrift Jean-Jacques Rousseau. La transparence et l’obstacle (1971) ergänzen. Darüber hinaus ist dieser Essai über den Ursprung der Sprachen, der sich als Synthese der beiden frühen Diskurse über die Auswirkungen von Kunst und Wissenschaften 1750 als auch über den Ursprung der Ungleichheit 1755 versteht, für die hier vorgeschlagene Analyse von Rousseaus Le Lévite d’Éphraïm (1781) im Vergleich mit Bodmers Übertragung ins Deutsche richtungsweisend (Kapitel 4.7).
1.3 Konstanzer Rezeptionsästhetik Die Rezeptionsästhetik der Konstanzer Schule, massgeblich von Wolfgang Iser, Hans Robert Jauß, Manfred Fuhrmann und Wolfgang Preisendanz zum Ende der 1960er Jahre begründet, setzte sich von den hermeneutisch geprägten Modellen der Textinterpretation sowie der Autorintention der Strukturalisten ab und konzentrierte sich auf die Rolle des „impliziten“ Lesers, einer im Text angelegten Instanz. Der „Akt des Lesens“, der Prozess der Wahrnehmung wird konstitutiv für den neuen Werk- und Kunstbegriff, da sich das Kunstwerk erst durch die Wahrnehmung und die mögliche Horizontveränderung des Lesers formiert. Diese neue Ästhetik der Rezeption stand in Wechselbeziehungen mit dem Kritikbegriff der École de Genève und genauer mit jenem Ansatz Jean Starobinskis. In dessen Vorwort zu Hans Robert Jauss: Pour une esthétique de la réception (1978) fasst jener die Aufgaben des kritischen Lesers zusammen, der zum einen als „discriminateur“ behält und verwirft und zum anderen als „producteur“ imitiert und polemisch ein vorhergehendes Werk neuinterpretiert: Le lecteur est donc tout ensemble (ou tout à tour) celui qui occupe le rôle du récepteur, du discriminateur (fonction critique fondamentale, qui consiste à retenir ou à rejeter), et, dans certains cas, du producteur, imitant, ou réinterprétant, de façon polémique, une œuvre antécédente. Mais une question se pose aussitôt: comment faire du lecteur un objet d’étude concrète et objective? S’il est aisé de dire que seul l’acte de lecture assume la ,concrétisation‘ des œuvres littéraires, encore faut-il pouvoir dépasser le plan des principes, et accéder à une possibilité de description et de compréhension précise de l’acte de lecture. Ne sommes-nous pas condamnés aux conjectures psychologiques? Ou à la lecture exhaustive des comptes rendus contemporains de la parution des œuvres (pour autant qu’ils existent)? Ou à l’enquête socio-historique sur les couches, classes et catégories de lecteurs? En chaque cas, la réalité risque d’être élusive.70
70 Préface de Jean Starobinski. In: Hans Robert Jauß: Pour une esthétique de la réception. Paris 1978, S. 12.
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Starobinski setzt den „impliziten“ Leser in seinen psychologischen und soziokulturellen Kontext seiner Lektüreerfahrung. Ähnlich wie in der Intertextualitätstheorie wird hier ebenfalls vom normbestimmenden Beziehungsnetz und Abhängigkeitsverhältnis zwischen Texten ausgegangen, worin das subjektive Auswahlverfahren des Lesers für dessen Horizonterweiterung ausschlaggebend ist: Le rapport du texte singulier à la série des textes antécédents qui constituent le genre dépend d’un processus continu d’instauration et de modification d’horizon. Le texte nouveau évoque pour le lecteur (ou l’auditeur) l’horizon des attentes et des règles du jeu avec lequel des textes antérieurs l’ont familiarisé; cet horizon est ensuite, au fil de la lecture, varié, corrigé, modifié, ou simplement reproduit. Variation et correction déterminent les frontières. Lorsqu’elle atteint le niveau de l’interprétation, la réception d’un texte présuppose toujours le contexte vécu de la perception esthétique. La question de la subjectivité ou de l’interprétation, celle du goût de différents lecteurs ou de différentes couches sociales de lecteurs ne peut être posée de façon pertinente que si l’on a préalablement su reconnaître l’horizon transsubjectif de compréhension qui conditionne l’effet (Wirkung) du texte.71
Sich an Husserls Auslegung des Erwartungshorizontes anlehnend, der sich als transsubjektiv, d. h. dem Autor wie auch dem Leser gemein erweisen kann, wird dieser im Idealfall von Gattung, Form oder Stil angesprochen. Einer kritischen Absicht entsprechend, werden darauf die Erwartungen infrage gestellt, was zu einer Quelle poetischer Neuerungen werden kann: La possibilité de formuler objectivement ces systèmes de références à l’histoire littéraire est donnée de manière idéale dans le cas des œuvres qui s’attachent d’abord à provoquer chez leurs lecteurs l’attente résultant d’une convention relative au genre, à la forme ou au style, pour rompre ensuite progressivement cette attente – ce qui peut non seulement servir un dessein critique, mais encore devenir la source d’effets poétiques nouveaux.72
Daneben kann sich dieser Bruch von Erwartungen auch als ein Treffen, oder sogar eine Fusion von unterschiedlichen Horizonten erweisen, eine Durchgangsstation der Tradition.73 Die Konstanzer Schule knüpft zum einen an Ferdinand de Saussures und Roman Jakobsons Zeichentheorien an, die die Beziehungen zwischen Sprache und Rede (langue et parole) untersuchten. Zum andern lehnt sie sich an Starobinski sowie an Leo Spitzers heuristischen Ansatz von Norm und stilistischer Wegweisung an, wegweisend für die sich verändernde Ideengeschichte: 71 Ebd., S. 13 f. 72 Hans Robert Jauß: Pour une esthétique de la réception. Paris 1978, S. 51. 73 Préface de Jean Starobinski. In: Hans Robert Jauß: Pour une esthétique de la réception. Paris 1978, S. 16.
Der Sokratische Dialog – ein Erziehungsmodell der Aufklärer
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L’écart inscrit dans l’œuvre, puis, à mesure, que l’œuvre devient ‚classique‘, homologué par la réception, inscrit dans la tradition, est un facteur de mouvement ‚diachronique‘ qui ne peut être évalué qu’à partir d’une prise en considération d’un système de normes et des valeurs ‚synchroniques‘. Mais alors même qu’une œuvre ne transgresse en rien des règles ‚synchroniques‘ d’un code préexistant, la réception, ‚âge en âge‘, impose des ,concrétisations‘ changeantes, donc met en mouvement une histoire ‚diachronique‘.74
Die fortwährende horizonterweiternde Rezeption erhält Texte am Leben, deren Wert und Sinn im Laufe von Generationen sich bis heute modifiziert. Aufgrund dieser individuell evaluierenden Textverständnisse können neue Texte produziert werden, die sich als einfache Kommentare oder neue Texte gestalten können. Der Akt der Rezeption kann somit eine Eigendynamik entwickeln – die nichts mehr mit der klassischen Wirkungsintention gemein hat – und den Weg für neue literarische Dialoge freigibt.75 Diese Kunst der Kommunikation ist schon im sokratischen Dialog angelegt, dessen Bildungsideal weit ins 18. Jahrhundert reicht und grundlegend für Bodmers pädagogisches Modell war.
1.4 Der Sokratische Dialog – ein Erziehungsmodell der Aufklärer So begleitete Bodmer beispielsweise das didaktische Mittel der „Sokratischen Gespräche“ nach dem Muster des englischen Spectators auch in seinen literaturkritischen Adaptionen, die sich als weitere Spielfelder des Wettstreites um das „deutsche Epos“ verstehen und hier in Auswahl exemplarisch behandelt werden. Der von Bodmer verwendete Briefstil, den die Zürcher schon in den frühen Zeitschriften benutzt hatten, wurde wahrscheinlich durch deren frühe Lektüre des Spectators angeregt. Bereits in den ersten poetologischen Reflexionen der Zürcher in den 1720er Jahren wurde der Einfluss des Spectators, der englischen Tageszeitung von Joseph Addison (1672–1719) und Richard Steele (1672–1729), offenkundig, die auf die Tradition der Alten im Untertitel „Englischer Socrates“ verweist und in der französischen Übersetzung Le spectateur moderne, Le socrate moderne76 hieß. Dass die Engländer eine ihrer Tageszeitungen mit dem Namen des griechischen Philosophen tauften, spricht für die außerordentliche Sonderstellung und zeitlose Aktualität dieses griechischen Weltweisen für die moderne
74 Ebd., S. 15. 75 Vgl. ebd., S. 17. Vgl. auch Jauß: Pour une esthétique de la réception. Paris 1978, S. 246, S. 259. 76 Le spectateur ou le Socrate moderne, traduit de l’Anglais. Amsterdam 1746–1750.
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Kultur und Gesellschaft, der hier Tribut gezollt wurde; ein Titel, der übrigens auch im deutschen Sprachraum viele Nachahmer finden sollte. So ist es nicht verwunderlich, dass Sokrates im 18. Jahrhundert als Repräsentant für viele Bereiche zum Einsatz kam: Sokrates war mit allem bekannt, was das praktische Leben betraf: So trat er als Schutzheiliger unglücklicher Ehemänner auf oder bei Hirzel als „Sokratischer Bauer“, der Ackerbau und Moral glücklich vereinte, nachdem er schon in Rousseaus Werk zu den Leitmotiven zählte.77 Benno Böhm greift das Phänomen des Sokratischen Menschenbildes, das sich aufgrund der Mischung von mystischer und pietistischer Literatur entwickeln konnte, als eine Autonomie der Parodie bzw. mit Betonung des Oxymorons als „eine heteronome Autonomie“ auf, womit ferner eine Kritik der Systembedingtheit, in dem sich autodidaktisch davon ablösenden Einzelnen, umrissen wird.78 Platon schuf mit seinen sokratischen Dialogen einen der vier antiken Grundtypen der Gesprächsliteratur, dessen hervorzuhebendes Merkmal die Mäeutik ist, welche die im Gesprächspartner schlummernde Einsicht in das Wahre und Gute zutage fördern soll. Dabei kommt die platonisch-sokratische Ironie zur Anwendung, wenn komplexe Sachverhalte durch einfache, oft durchsichtig ironisch gemeinte Aussagen zumindest angedeutet oder indirekt impliziert sind, um vom Gegenüber entschlüsselt zu werden.79 Dass der Moralist und Theologe Sokrates (469–399 v. Chr.), der nicht zuletzt der Bildhauerkunst zugetan war, und weniger der spekulative Ästhet Platon als Ausdruck für Glückseligkeit80 empfunden wurde, wird später für den aus Bern stammenden Theologen und Diplomaten Philipp Albert Stapfer (1766–1840) als Leitmotiv in seiner Schrift De philosophia socratis (1786) begriffen.Wie Stapfer hob auch Reimarus die geniale Erzieherrolle der freien Persönlichkeit in „de genio Socratis“81 als das Ursprüngliche und Zeitüberdauernde hervor und weniger den Rationalismus oder die theologische Rivalität gegenüber dem Christentum.
77 Hans Caspar Hirzel: Die Wirtschaft eines philosophischen Bauers. Zürich 1767. 78 Benno Böhm: Sokrates im achtzehnten Jahrhundert. Studien zum Werdegange des modernen Persönlichkeitsbewußtseins. Neumünster 1966, S. 127. 79 Vgl. Roland Mugerauer: Sokratische Pädagogik. Ein Beitrag zur Frage nach dem Proprium des platonisch-sokratischen Dialogs. Marburg 1992. 80 Vgl. Sandra Pott: Reformierte Morallehren und deutsche Literatur von Jean Barbeyrac bis Christoph Martin Wieland. Tübingen 2002, insbes. das Kap.: Vervollkommnungsstreben und Glückseligkeit: die sogenannte „Leibniz-Wolffsche Philosophie“ als umstrittener Konsens, S. 96– 109. 81 Reimarus: De genio Socratis. In: Ders.: Primitiae Wismarienses. 1723. Vgl. dazu: Benno Böhm: Sokrates im achtzehnten Jahrhundert. Studien zum Werdegange des modernen Persönlichkeitsbewußtseins. Neumünster 1966, S. 312f.
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Dieses alte sokratische Bildungsideal, das sich in „Auseinandersetzung mit der Kulturmacht der Theologie“82 einer Theologia naturalis annäherte, um sich dann in der Mystik, im Pietismus und nicht zuletzt im Rationalismus zu einem sokratischen Christentum zu entwickeln, war im 18. Jahrhundert immer auf der Suche nach den allgemeinen Grundlagen der Gesellschaft in Abwendung von Pedanterie und Dogmatismus. Mit Blick auf Martin Opitz oder Johann Christoph Gottsched weist Klaus Garber auf die Bedeutung der Reformierten hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen Konfessionspolemik und Sprachpolitik hin.83 Bereits Herbert Schöffler bemerkt, dass sich Reformierte zusehends von der Dogmatik auf moralische Fragen verlegten,84 und es nicht von ungefähr schien, dass die Pfarrerssöhne und Schüler Johann Jakob Bodmers begannen, sich vermehrt für den Witz eines Pierre Bayle oder Jean Le Clerc zu interessieren.85 Vor dem Hintergrund der reformierten Morallehren, die sich in den modernen Naturrechtsschulen und Schriften des 17. und 18. Jahrhunderts, bspw. in der Encyclopédie d’Yverdon entwickelten und an einer konfessionsübergreifenden Umsetzung einer „allgemeinen Glückseligkeit“86 arbeiteten, gewann die antike Figur des Sokrates an Kontur. Nicht zuletzt faszinierte dieser als Person und Vorbild, zum einen aufgrund seiner vertrauenserweckenden Art eines Vaters, gepaart mit jener sokratischen Ironie, mit der er das Volk lehrte, und zum anderen mit seinem exemplarischen Tod, mit dem er die Moral neu begründen sollte. Diesem praktischen volkserzieherischen Ziel fühlten sich besonders die Pietisten verbunden, die nicht mit den Mystikern zu verwechseln sind. Während in der Mystik vom Fundament der christlichen Kirche ausgegangen wurde und die innere Erleuchtung Anlass zur Grenzüberschreitung bot, war der Pietismus enger begrenzt und strebte, trotz seiner zeitweise tendenziösen Rührseligkeit in seiner Ethik nach einem praktischen volkserzieherischen Ziel.87 Für dieses sozial-päda-
82 Böhm: Sokrates im achtzehnten Jahrhundert. 1966, S. 4. 83 Klaus Garber: Zentraleuropäischer Calvinismus und deutsche „Barock“-Literatur. Zu den konfessionspolitischen Ursprüngen der deutschen Nationalliteratur. In: Heinz Schilling (Hg.): Die reformierte Konfessionalisierung. Das Problem der „Zweiten Reformation“. Wissenschaftliches Symposion des Vereins für Reformationsgeschichte 1985. Gütersloh 1986, S. 317–348, hier S. 348. 84 Herbert Schöffler: Anruf der Schweizer (1925). In: Ders.: Deutscher Geist im 18. Jahrhundert. Essays zur Geistes- und Religionsgeschichte. Göttingen 21967, S. 7–60, hier S. 19. 85 Ebd., S. 15. 86 Ausführlich dazu vgl. Sandra Pott: Reformierte Morallehren und deutsche Literatur von Jean Barbeyrac bis Christoph Martin Wieland. Tübingen 2002, hier S. 5. 87 Vgl. Böhm: Sokrates im achtzehnten Jahrhundert. 1966, S. 20f.; vgl. zum Pietismus die exzellente Studie von Erich Beyreuther: Geschichte des Pietismus. Stuttgart 1978.
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Methodik
gogische Moment im Pietismus, das der Mystik fehle, stehen August Hermann Franckes (1663–1727) Schulgründungen in Halle. Der Anhänger Franckes, Joachim Lange (1670–1744), versuchte in seiner Medicina mentis (1705, 41718) die Philosophie seiner Zeit im Sinne der Lebensklugheit zu reformieren, d. h. exemplarisch als Abkehr von der Bildungsaristokratie der Scholastik.88 Die Auflehnung gegen das „praeiudicium autoritatis“, wie es Lange nannte, setzt sich dann in den Schriften des Christian Thomasius (1655–1728) fort, der als einer der ersten ein weltmännisches Ideal des leidenschaftslosen Gebildeten verkörperte und sich insbesondere in seinen in den Monatsgesprächen (1688–1690) mit einem neuen lebensoffenen Sinn den breiten Massen zuwandte. Parallel zu den geistigen Regungen, die sich in Mystik und Pietismus Luft machten, vertrat er einen weltmännischen Zug und war sich trotz allem seiner gesellschaftlichen Verantwortung bewusst. Wie schon Ulrich Huber (1636–1694),89 so lehnte Thomasius den Gelehrtentyp des „Pedanten“ als gesellschaftliche Karikatur ab.90 Modellcharakter hatten für Thomasius neben Sokrates die Texte des spanischen Jesuiten Balthasar Graciáns (1601–1658), deren Lehren er gekonnt in Verbindung brachte. In Graciáns El Héroe (1639), El político Don Fernando el Católico (1640) sowie El discreto (1646) wird über den praktischen Mann der Weltgestaltung nachgedacht, der sich durch die Vereinigung von Kenntnissen und deren Umsetzung auszeichne.91 Damit knüpfte Thomasius an die Heroenverehrung an, wie sie gerade damals in der Vergötterung des Roi Soleil zum Ausdruck kam. Freilich glaubte Thomasius in Sokrates – dem Ideal des unpedantischen und unsentimentalen Weisen – diesen von Gracián beschriebenen Heroen wiederzufinden, den der Spanier in Königen verkörpert fand. Die Verbürgerlichung des Heldenbegriffs zu einer Art „Juristenideal“ stand in gewissem Einklang mit den Bestrebungen der Zeit, wenn die weiten Kreise Frankreichs auf die kleinen
88 Vgl. Böhm: Sokrates im achtzehnten Jahrhundert. 1966, S. 21, Anm. 1. 89 Ulrich Huber: Freye Rede von der Pedanterey, gehalten 1678, deutsch 1710. Unter den Gegenbeispielen führt Huber auch Sokrates an; das Wort leitet er aus dem „Pädagogismus“ als dessen Verkehrung ab. Vgl. Böhm: Sokrates im achtzehnten Jahrhundert. 1966, S. 26. 90 Über die ausgedehnte Literatur gegen die Eigenheiten des Gelehrten siehe Karl Borinski: Baltasar Gracián und die Hofliteratur in Deutschland. Halle 1894, S. 55f., 101 ff. Vgl. auch Werner Krauss: Graciáns Lebenslehre. Frankfurt am Main 1947. Helmut Jansen: Die Grundbegriffe des Baltasar Graciáns „Criticon“. Genf 1958; Gerhard Schröder: Baltasar Graciáns „Criticon“. München 1966; Theodore L. Kassier: The Thruth Disguised. Allegorical Structure and Technique in Gracián’s Criticon. London 1976; Emilio Hidalgo-Serna: Das ingeniöse Denken bei Baltasar Gracián. München 1985. 91 Vgl. dazu auch Marc Fumaroli: Le sablier renversé. Paris 2013, S. 17–254.
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Verhältnisse Deutschlands übertragen und verengt wurden, wie dies auch Gottsched tat.92 Wegweisend war für Thomasius und für seine Leser Charpantiers Darstellung von Socrates Leben, ein Text, den er verhältnismäßig spät übersetzt hatte.93 Die Beschäftigung mit diesem pädagogischen Vorbild prägte seine Ansicht: Leben und Lehre dürfen nicht auseinanderfallen, auch die Tugend der Geduld, die er dem Spruch „patentia vincit omnia“ verdankte und womit er sein jugendliches Temperament zu zügeln lernte, sollten in seiner Ethik, in der Vorrede zu den Cautelen94 wie auch in seiner Hofphilosophie, die sich als kulturelle Reform gegen die Pedanterie verstanden wissen wollte, ausgeführt werden. Während er sich in den Cautelen kritisch mit den Fürstenbildern auseinandersetzte und vorschlug: „auf die Klugheit seines Fürsten nachzudenken / weil er selbst doch ein Unterthan bleibet“,95 richtete sich sein Reformversuch gegen die pädagogischen Mängel der Zeit. Er kritisierte die tote Gelehrsamkeit der Schulmänner, die vom Katheder und in der Schulstube eine Mechanik des verständnislosen Auswendiglernens propagierten, anstatt wie Socrates zwanglos und wie der Zufall es fügte, seine einfach klingenden Fragen an die Menschen zu richten. Thomasius schlug vor, die Bedürfnisse der Stände mehr zu fokussieren, da „nebst den Academischen Sitten auch sogar die Lehren selbst auf Academien gebräuchlich sind / und an den Höfen gemeiniglich in so üblem Ruff stehen / daß sie auch dieselbe insgemein mit dem Namen Pedanterey zu belegen pflegen“.96 In seinen Monatsgesprächen, die sich durchweg der Ironie bedienten, wurden zeitgenössische Gelehrte in oft satirisch bissigem Spott karikiert. Aufbau, Gestaltung sowie die thematische Profilierung von leicht verständlichen Rezensionsformaten im mehrheitlich dialogischen Stil der Monatsgespräche wurden dann von Wilhelm Ernst Tentzel in den Monatlichen Unterredungen einiger guter Freunde von allerhand Büchern und anderen annehmlichen Geschichten (1689–1698) sowie in der Curieuse[n] Bibliothek (1704) aufgenommen, wenn nicht sogar kopiert und zu einem neuen Rezensionsorgan erweitert. Thomasius und Tentzel
92 Vgl. Borinski, Baltasar Gracián und die Hofliteratur in Deutschland. 1894, S. 77ff.; Johann Christoph Gottsched: Academische Rede. Ein Jurist muß ein Philosoph seyn. 1726. In: Ders.: Schriften. Bd. VI, S. 59ff. 93 Christian Thomasius: Das Ebenbild eines wahren u. ohnpedantischen Philosephi, oder: das Leben Socratis, aus den französischen des Herrn Charpentier ins deutschen übersetzt von Christian Thomas. Halle 21720. 94 Ders.: Höchstnöthige Cautelen welche ein Studiosus Juris, Der sich zu Erlernung Der RechtsGelahrheit auff eine kluge und geschickte Weise vorbereiten will, zu beobachten hat: Nebst einem dreyfachen und vollkommenen Register. Halle 1713. Vorrede. 95 Ebd., Kap. XVI, § 40, S. 419. 96 Christian Thomasius: Einleitung in die Hofphilosophie. Halle 1710, Vorrede.
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waren wichtige Vorbilder für die später folgenden „Moralischen Wochenschriften“, u. a. für die Blätter der stilbildenden Engländer Addison und Steele.97 Daneben waren es die pietistischen Erziehungs- und Bildungskonzeptionen, von denen sowohl Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–1762) sowie dessen Schüler und Freund Georg Friedrich Meier (1718–1777) in ihren Lehren ausgingen, die für die Zürcher richtungsweisend waren. Diese beruhen auf dem Glauben an Gott, der Unsterblichkeit der Seele, der möglichen Freiheit des Denkens und dem Wissen um die Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen. Demnach sei einzig Gott in der Lage, das summum bonum (d. h. das Ziel aller Handlungen, die Glückseligkeit) zu erlangen, und den nach Tugend strebenden Menschen mit Glück zu belohnen. Die Vorstellung von der Unsterblichkeit der Seele ist demnach eine notwendige Voraussetzung für die Hoffnung, Tugend falle tatsächlich mit Glück zusammen, was in diesem Leben nur partiell möglich sei. Ferner ist die Erlangung der Denkfreiheit Voraussetzung dafür, dass sich der natürliche Mensch aus der Knechtschaft seiner eigenen Neigungen und triebhaften Leidenschaften befreien könne, was schließlich die Vorstellung von der Vervollkommnungsfähigkeit und Entfaltung des Menschen möglich werden lasse. Deren Bildungs- und Erziehungsmodell sieht vor, Vermögen und Kräfte der Seele des Individuums im Bereich des Sensitiven (Vernunftähnlichen), d. h. den unteren Begehrungskräften und Erkenntnisvermögen mittels der Theorie von den Gemütsbewegungen und der Ästhetik zu kultivieren. Im Bereich des Vernünftigen, zu dem die oberen Begehrungskräfte als auch das Erkenntnisvermögen gehören, werden diese zu Sittenlehre und Vernunftlehre geformt. Eine evolutionäre Metaphysik bildet die Basis für die Errungenschaften des Menschen: d. h. Wissenschaft, Sprache, Kunst, Literatur und Religion stellen allesamt Möglichkeiten der Vervollkommnung des Menschen dar. Im Diskurs über die Vervollkommnung des Körpers, analog zu derjenigen des Geistes, entfaltete Baumgarten, in Verwandtschaft zur Logik, die Ästhetik. Um dem zu einseitigen Rationalismus seiner Zeit zu begegnen, deckte sein Terminus aisthesis den Gesamtbereich der Wahrnehmung und Empfindung ab, der im Gegensatz zu logos, jenem Bereich des Denkens, steht.
97 Vgl. Jens Brachmann: Der pädagogische Diskurs der Sattelzeit. Eine Kommunikationsgeschichte. Bad Heilbrunn 2008, S. 163. Zu Herkunft, Entwicklung und Geschichte der Moralischen Wochenschriften und der englischen Vorbilder: The Tatler (1709ff.), The Spectator (1711f.) bzw. The Guardian (1713) vgl. Helga Brandes: Moralische Wochenschriften. In: Ernst Fischer u. a. (Hg.): Von Almanach bis Zeitung. Ein Handbuch der Medien in Deutschland 1700–1800. München 1999, S. 225–232. Vgl. zu Christian Thomasius: Herbert Jaumann: Untersuchungen zur Geschichte der Literaturkritik zwischen Quintilian und Thomasius. Leiden 1995, S. 288f.
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In der poetisch-rhetorischen Tradition der triadischen Kommunikationstheorien der Poetik, der Logik und der Rhetorik entwickelte er ferner einen Logikbegriff, der nicht mehr wie noch bei Wolff von der ontologischen, d. h. objektiven Realität des Seins ausging, sondern neu „von der Unterscheidung und Abstufung der subjektiven Erkenntnisvermögen“98, eine später für Georg Friedrich Meier wie für Kant grundlegende Prämisse. Die Ästhetik – als Theorie der freien Künste, als untere Erkenntnislehre, als Kunst des schönen Denkens und als Kunst des der Vernunft analogen Denkens – definiert Baumgarten in seiner Schrift Aesthetica (1750–1758) als Wissenschaft der sensitiven Erkenntnis. Hiermit wird nicht nur erstmals eine Trennung von Materiellem und Immateriellem, d. h. von Ding und Gedanken vollzogen, sondern eine harmonische Verbindung der sensitiven Erkenntnis sowohl am Rationalen wie am Realen versucht. Dem Paradoxon der Vereinigung von logischer und ästhetischer Wahrheit im Sinne der Harmonie ist sich Baumgarten bewusst, wenn er sagt: „Der Begriff veritas aestheticologica, der Versöhnung von logischer und sensitiver Wahrheit, ist ein in sich widersprüchlicher Begriff, der Versuch also, das Unvereinbare zu vereinen.“99 Der Tugendbegriff, der ebenfalls Logik und Ästhetik verbindet, besteht nach Cicero darin, „jeweils genau zu erkennen, was zum unverfälschten Wesen jeder Sache gehört und ihr angemessen ist“.100 Georg Friedrich Meier fasste darauf die Trias „Ästhetik, Logik, Ethik“ als Organon der Instrumentalphilosophie auf und begründete diese drei normativen Wissenschaften im sittlichen Ideal eines pietistischen Menschenbildes, womit gemeint ist, dass die letzte Sinnesorientierung individueller menschlicher Praxis auf eine sittliche Vision, der Erlangung von ideeller und materieller Glückseligkeit, angewiesen ist. In Auseinandersetzung mit Descartes’ Seelenlehre Les passions de l’âme (1650)101 entwickelte Meier die Vorstellung einer „psychologischen Harmonie“, wonach Körper und Seele, auf der Basis eines idealischen Einflusses, in enger Gemeinschaft stehen. Dieses cartesianische Wechselspiel von Körper und Seele, von Handlung und Leiden entwickelte Baumgarten zu einem Verhältnis der Rezeption von Lehrer und Zuhörer, was sich zudem immer noch an der sokratischen Denkweise orientiert. Ein idealischer Einfluss (influxus idealis) endlicher Substanzen erfordert,
98 Friedrich Gaede: Poetik und Logik. Zu den Grundlagen der literarischen Entwicklung im 17. und 18. Jahrhundert. Bern und München 1978, S. 106. 99 Alexander Gottlieb Baumgarten: Texte zur Grundlegung der Ästhetik. Hg. und übers. von Hans Rudolf Schweizer. Hamburg 1983, § 424. 100 Cicero: De Officiis: Lateinisch–Deutsch. Hg. und übers. von Rainer Nickel: Vom pflichtgemäßen Handeln. Düsseldorf 2008, S. 2, S. 18. 101 Vgl. dazu Thibaut Gress: Descartes. Admiration et sensibilité. Paris 2013.
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dass das Leiden einer Substanz zugleich eine Handlung derselben ist. Dieses idealische Leiden (passiones idealis) liegt vor, wenn z. B. ein Lehrer einem Hörer eine Wahrheit vorträgt, um auf diesen einzuwirken. Die Erkenntnis dieser Wahrheit verursacht im Zuhörer ein Leiden. Zur gleichen Zeit denkt aber auch der Zuhörer und reproduziert die Erkenntnis der vermittelten Wahrheit. Dass der Hörer gerade jetzt seinen Verstand benutzt, um die Wahrheit zu erkennen, ist im Tun des Lehrers antizipiert. In diesem idealen Einfluss auf den Zuhörer erkennt Meier die engere Bedeutung der vorherbestimmten Übereinstimmung von Seele und Körper und formuliert eine philosophische Begründung der individuellen Verantwortung für die Freiheit des Denkens in Beweis der vorherbestimmten Uebereinstimmung (1743). Meiers philosophisch-psychologisch geprägte Anthropologie mit einer darin eingebetteten ethisch-religiösen Theorie von der Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen, die nach der Vollendung sittlicher Tugenden sowie nach einer engen Gottverbundenheit strebt, wobei alle Vermögen des Menschen nach Möglichkeit zur Entfaltung gebracht werden müssen, basiert auf der genannten instrumentalen Trias von Ästhetik, Logik und Ethik. Diese Instrumentalwissenschaften sind dreifach bestimmt: neben der reflexiven Gegenstandsbestimmung können sich die Teile der Trias als funktionale Ergänzung aufeinander beziehen. Die deskriptive Komponente erklärt Ästhetik, Logik und Ethik als Bestandteile der Metaphysik und somit zu den Wissenschaften.102 Der Wolffianer Gottsched nahm dann diese „sokratische Bewegung“103 nochmals auf, bemerkte im Gegensatz zu Wolff aber die Einheit der menschlichen Geisteskräfte und vertrat ein typenpsychologisches Moment in seiner Anschauung, dem gemäß Kunst, Wissenschaft sowie Philosophie nur verschiedene Seiten der pädagogischen Einwirkung auf den Menschen besäßen. Mit der Hinwendung zum Volke und der rationalen Fokussierung und einer Ausblendung der unkirchlichen und undogmatischen Seite des Wolff’schen Systems für Deutschland ist laut Böhm Gottscheds Werk beispielgebend. Demnach rettete der unsokratische Regelpoet, an Thomasius anknüpfend, den gesunden Kern der rational gegründeten moralischen Autonomie Wolffs, wenn fortan Sokrates als Exempel einer sittlichen Norm angesehen, als auch dessen Weltweisheit der Religion gegenübergestellt wurde.104 Wie in der Bildsprache Claude Joseph Vernets (1714–1789) wird eine bestimmte Psychologisierung der Person vorgenommen, um sich den Vorzug einer sitt-
102 Vgl. hierzu Alexander Gottlieb Baumgarten, Georg Friedrich Meier: Ethisch-pietistische Prägungen der Logik im 18. Jahrhundert in Halle. Bearbeitet und hg. von Günter Schenk und Regina Meyer. Halle 2006, S. 7–50. 103 Böhm: Sokrates im achtzehnten Jahrhundert. 1966, S. 116. 104 Vgl. ebd., S. 116f.
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lich-vorbildlichen Persönlichkeit zu sichern. Damit die Morallehren nicht nur in ihrer bloß begrifflichen Form bleiben, sollen Ideal und Lehre mit der Person anschaulich verknüpft werden. Maßgebend entwickelte sich ein Reformbewusstsein entgegen der Autoritätskultur der Zeit: Neu sollten Schüler nicht mit Lehren angefüllt, sondern zu Einsichten erweckt werden.105 Idealerweise symbolisiert Sokrates nicht nur den Hausvater, sondern figuriert zudem als Vorbild und Identifikationsfigur für sämtliche patriarchale Rollenbilder, die bspw. Josef Konrad Pfenninger in einer bemerkenswerten Klimax oder bestenfalls Antiklimax in seinen Socratischen Unterhaltungen über das Älteste und Neueste aus der christlichen Welt (1786) umreißt: Nicht anders, als wie ein Vater, ders gar zu gerne sähe, daß sein Sohn ein frommer Sohn würde, ihn Timotheus oder Gottlieb taufen läßt – Nicht anders ist es gemeynt, wenn ich diese Schrift Socratische Unterhaltungen nenne […] In diesem Falle ist der Socratismus, nach dem er riechen soll, freilich so gemeint, daß er nicht nur unterhalten, also doch wohl auch belehren soll, denn jeder kann in Socrates etwas finden. Der Weise wird ohne anders alle, die der Geschmack an Weisheit und das Gefühl für Rechtschaffenheit noch nicht ganz verlassen hat, interessieren, und Vätern, Gatten, Freunden, Bürgern, Staatsmännern, Soldaten, Lehrern, Künstlern, Dichtern das Herz stärker schlagen machen; denn er war Vater – unser Socrates, und Ehemann, Freund, Bürger, Staatsmann, Soldat, Lehrer, Künstler, Dichter; und das anziehendeste ist – bey aller Mannichfaltigkeit von Beziehungen und Fähigkeiten sehr einfach.106
Die sokratische Methode, die bald darauf bei der Lösung von mathematischen, politischen oder anderen Aufgaben vermehrt ihre Anwendung fand, wurde in wolffisch-sokratisch-pietistischen Kreisen im Übergang zur Populärphilosophie mitbegründet und bewegte sich weg von den angestammten Dogmen bzw. bot mit dem wieder entdeckten Fragestil Anlass zur kritischen Hinterfragung. Bald darauf wird Rousseau die naturwissenschaftlichen Fächer Mathematik, Physik und Logik sokratisch lehren wollen.107 Daneben muss der Einfluss der Schriften des englischen Moralisten Anthony Ashley Cooper (1671–1713), des Dritten Earl of Shaftesbury, auf Bodmer berücksichtigt werden. Mit dessen Moral-Sense-Theorie, den Selbstgesprächen im Solilo-
105 Vgl. Jacques Vernet: Dialogues Socratiques ou Entretiens sur divers Sujets de Morale. Paris 1745. 106 Joseph Konrad Pfenninger: Sokratische Unterhaltungen über das Älteste und Neuste aus der christlichen Welt. Ein Versuch. Leipzig: bey Weidmanns Erben und Reich, 1786, S. 11f., zit. nach Böhm: Sokrates im achtzehnten Jahrhundert. 1966, S. 132, Anm. 1. 107 Vgl. Johann Georg Schlosser: Drittes Schreiben über die Philanthropien. Basel: Carl August Serini 1779. Isaak Iselins pädagogischen Schriften. Langensalza 1884, S. 318 f. Vgl. ferner Böhm: Sokrates im achtzehnten Jahrhundert. 1966, S. 134, Anm. 2.
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quy, Advice to an author (1710) sowie den Characteristics of Man, Manners, Opinions, Times (1711) war der Zürcher vertraut, wie es sich bereits in den Zürcher Wochenschriften abzeichnet. Bodmer und Breitinger haben die „Charakteristica, von Shaftsbüry“ in ihre Frauenzimmerbibliothek aufgenommen.108 Die größtenteils von Bodmer herausgegebenen Neuen Critischen Briefe109 zeugen erstmals von einer intensiven Beschäftigung mit Shaftesbury als Moralisten in der Tradition Theophrastes und La Bruyères.110 Bodmer erhielt Spaldings Übersetzung Unterredungen nach Shaftesbury oder vielmehr nach Platons Art von seinem Berliner Korrespondenten Johann Georg Sulzer und berichtete darüber an Hagedorn.111 Wie stark die Zürcher Literaturkritik, sich ganz aufklärerisch, dem antiken Vorbild Sokrates verpflichtend ein Bildungsprogramm beinhaltet, wird im Folgenden thematisiert.
108 Vgl. Bodmer, Breitinger (Hg.): Die Mahler der Sitten. Von neuem übersehen und starck vermehret. 2 Bde. Zürich 21746, S. 2, S. 283. Von einer Abhängigkeit zwischen Shaftesburys Theorie des Selbstgesprächs und zwei Stücken der Discourse der Mahlern (II, 6, und 12) gehen aus: Hans-Gerd Winter: Dialog und Dialogroman in der Aufklärung. Darmstadt 1974, S. 51f.; Thomas Fries: Dialog der Aufklärung. Stuttgart, Bern 1993, S. 26. Ein sokratisches Selbstgespräch wird zum Modell einer genauen und gewissenhaften Lektüre von Schriften umfunktioniert. Zur Gattung Wolfgang Martens: Leserezepte fürs Frauenzimmer. Die Frauenzimmerbibliotheken der deutschen Moralischen Wochenschriften. In: Archiv für die Geschichte des Buchwesens 15 (1975), S. 1143–1200. 109 Bodmer, Breitinger, Heinrich Waser (Hg.): Neue Critische Briefe über ganz verschiedene Sachen, von verschiedenen Verfassern. Zürich 1749. 110 Bodmer, Breitinger: Von dem Einfluß und Gebrauche Der Einbildungs-Krafft; Zur Ausbesserung des Geschmacks [...]. Frankfurt und Leipzig 1727, S. 154. 111 Bodmer an Hagedorn, 12. September 1747. Zit. nach Rebekka Horlacher: Bildungstheorie vor der Bildungstheorie. Die Shaftesbury-Rezeption in Deutschland und in der Schweiz im 18. Jahrhundert. Würzburg 2004, S. 63.
2 Programm einer Zürcher Literaturkritik 2.1 Die Poetik des Wunderbaren Die theoretischen Grundprinzipien der Kunst- und Literaturtheorie der Zürcher Freunde Bodmer und Breitinger waren der von Steele und Addison herausgegebenen moralischen Tageszeitung The Spectator verpflichtet. Von der altprotestantischen Erbauungsliteratur der Frühaufklärer sowie von der dogmatischen Predigtliteratur Abstand nehmend, versuchte der Pfarrerssohn Bodmer, sich ähnlich wie sein Vorbild Addison über die Literatur neue Wege einer moralischen Erziehung zu erarbeiten. Das Programm einer aufklärerischen Moral sollte auf angenehme und ergötzende Weise und auf fliegenden Blättern nach Art der Gazetten den Leser erreichen. Entwicklungsgeschichtlich sollte die Gattung der Diskurse die „Quartbände theologisch-moralischen Inhalts“,112 die, neben den biblisch-exegetischen Erbauungsschriften, den Lesestoff breiter Schichten früherer Generationen gebildet hatte, in zierlichen Oktav- oder Duodezformaten ersetzen. Die moralisierenden Schriften, die wie jene dicken Bücher die Tugenden ‚pflanzen‘, daneben aber die Aufgaben der angebrochenen neuen Zeit erfüllen wollte, zielte darauf ab, die gesunde Vernunft auszubreiten und die Gemüter aufzuklären. Diese englische „strong masculine piety“ vertretend, wurde fälschlicherweise oft als Zeugnis der Seelsorge verstanden. So wurden die Diskurse zuweilen in einem Band mit der alten Erbauungsliteratur des Pater Sonnenberg, bspw. der Christlichen Anleitung zur wahren Beicht (1691) gedruckt, worüber Bodmer sich schon früh in humoristischem Tone beschwert hatte.113 Daneben waren Bodmer und Breitinger die Begründer der École suisse ou zuricoise,114 wie sie Gonzague de Reynold in seiner Schweizer Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts bezeichnete. Bodmer war von Christian Wolffs Prinzipien geprägt, worauf der 1727 anonym erschienene Eingangsband Von dem Einfluß und Gebrauche Der Einbildungs-Krafft anspielte, der die geplante fünfbändige Werkfolge der Literaturkritik beginnen sollte. Auf Wolffs „demonstrativische Art zu philosophieren“115 rückgreifend, plädierten die Zürcher für eine kritische Psycho-
112 Herbert Schöffler: Anruf der Schweizer. In: Deutscher Geist im 18. Jahrhundert. Essays zur Geistes- und Religionsgeschichte. Hg. von Götz von Selle. Göttingen 1956, S. 7–60, hier S. 30. 113 Vgl. ebd., S. 30f. 114 Vgl. Gonzague de Reynold bezeichnet Bodmer als den Begründer der Schweizer Schule. In: Ders.: Histoire littéraire de la Suisse au Dix-huitième siècle. Second volume. Bodmer et l’école suisse. Lausanne 1912, S. 6, S. 58–75. 115 Bodmer, Breitinger: Von dem Einfluß und Gebrauche Der Einbildungs=Kraft [...]. Franckfurt und Leipzig 1727, S. a4vf. Zum Begriff der Einbildungskraft vgl. auch Helmut Holzhey: Befreiung
https://doi.org/10.1515/9783110487930-003
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logie des Dichtens. Diese grenzte sich von der traditionellen Schulrhetorik, im Besonderen von der Elocutio-Lehre ab und begründete eine sich an die Affektrhetorik anlehnende Poetik, welche sich bspw. in Georg Friedrich Meiers ästhetischer Pathologie Theoretische Lehre von den Gemüthsbewegungen überhaupt (Halle 1744) fortsetzen sollte.116 Diese antirhetorische Affektrhetorik im Sinne des Horaz versuchte eine empirisch motivierte Energieübertragung und Entzündung des Enthusiasmus beim Rezipienten durch die ‚Befeuerung‘ der Einbildungskraft vom Dichterproduzenten: „Solche Redner / die von einer Leidenschafft entzündet werden / lassen das Hertze reden / […]: Sie zwingen uns alsdann eben dieselben Affekte anzunehmen / von denen sie gerührt werden.“117 Die „Einbildungs=Krafft“, die genuine Produktivkraft des Dichters, ist hier wolffianisch begriffen, indem Abwesendes als Anwesendes vorstellbar wird, in einer sowohl theologischen und im Sinne Lockes empiristischen Argumentation: Darum hat er [d.i. der Schöpfer] die Seele mit einer besonderen Krafft begabet / dass sie die Begriffe und Empfindungen / so sie einmal von den Sinnen empfangen hat / auch in der Abwesenheit und entferntesten Angelegenheit der Gegenstände nach eigenem Belieben wieder annehmen / hervor holen und aufwecken kann: Diese Krafft der Seelen heissen wir die Einbildungs=Krafft […].118
Hingegen ist die Einbildungskraft nicht nur ein Vermögen, Abwesendes in der Vorstellung präsent werden zu lassen, sondern ermöglicht die zugleich damit verbundenen Intensitätsaffekte wie Entsetzen, Abscheu, Schmerz, Furcht, Freude und Sorge zu „erneuern und gleichsam [zu] verewigen“.119 Daneben durchziehen die Bilder des Enthusiasmus („ausser sich selbst gerathen“, „Traum“, „Wahn“, „Zauber“, „Feuer“ und „Entzündung“) die weitere Argumentation, die, wie Carsten Zelle zeigen konnte, „in wesentlichen Aspekten vom ‚gewalttätigen Erhabenheitsdiskurs‘ und der darin vorgenommenen Zentralstellung der ‚Ekstase‘ (Ps.Longin 1.4) gespurt wird“.120 Ferner wurde der Kunstgenuss als eine Verwechs-
und Bindung der Einbildungskraft im Prozess der Aufklärung. In: Lütteken, Mahlmann-Bauer (Hg.): Bodmer und Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung. 2009, S. 42–59. 116 Vgl. Dieter Kliche: Ästhetische Pathologie: Ein Kapitel aus der Begriffsgeschichte der Ästhetik. In: Archiv für Begriffsgeschichte 42 (2001), S. 197–229. 117 Bodmer, Breitinger: Einbildungs=Kraft. 1727, S. 118. 118 Ebd., S. 9. 119 Ebd. 120 Carsten Zelle: ,Vernünftige Gedanken von der Beredsamkeit‘. Bodmers und Breitingers ästhetische Schriften und Literaturkritik. In: Bodmer und Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung. 2009, S. 25–41, hier S. 31.
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lung von Fiktion und Wirklichkeit beschrieben und glich in seiner subtilsten Form, eine Art Außersichsein, ähnlich dem Wahnsinn oder dem Traum. Das moraldidaktische Dichtungskonzept der Zürcher unterstrich den Geschmack als das Vermögen, die Qualität von Kunst- und Dichtwerken zu beurteilen und ließ in einem Spannungsverhältnis mit der Einbildungskraft eine Regelmäßigkeit entstehen. Dem horazischen Postulat folgend, Dichtungen lustvoll zu unterrichten, verschrieben sich die Deutschen, Gottsched und Gellert, bspw. in den Fabelbeispielen und Fabeltheorien, die ähnlich auf eine eingekleidete und wahrscheinliche Lehre gründeten. Wie schon Gottsched setzten sich die Zürcher von Jean-Baptiste Dubos’ Réflexions critiques (1719) ab und folgten einem rationalistischen Geschmacksbegriff. Pietro Calepios sensualistische Position verwerfend, deutete Bodmer Kunst als „eine scharffsinnige und geübte Fertigkeit […] das wahre von dem falschen / das angenehme von dem eckelhafften und widrigen durch den Verstand zu unterscheiden“.121 Den auf Platon und Aristoteles begründeten dichtungstheoretischen Grundbegriff der Mimesis,122 welcher in der Frühaufklärung üblicherweise als ‚Nachahmung der Natur‘ aufgegriffen wurde, interpretierten die Zürcher ähnlich wie Gottsched als eine dichterische Schöpfung einer möglichen Welt. In Breitingers Critischen Dichtkunst heisst es im Abschnitt Von der Nachahmung der Natur: „Nun ist die Poesie Ars popularis, die das Ergetzen und die Verbesserung des grösseren Haufens der Menschen suchet.“123 Ferner war die Poetik der Schweizer, angefangen mit den Diskursen der Mahlern, einem weiteren horazischen Postulat, der utpictura-poesis-Formel (Hor. ars 361), der bildlichen Darstellung in der Dichtung, verpflichtet. Diese wurde noch von Breitinger traditionell als „gestalterischer Imperativ“ im Untertitel der Critischen Dichtkunst als ,Poetische Mahlerei‘ fehlinterpretiert und darauf erst mit Lessings Unterscheidung der Grenzen von Poesie und Malerei im Laokoon (1766) und der damit ausgelösten Streitfrage: ,Erzählen oder Beschreiben?‘ weiter differenziert. Mit einer intendierten Nivellierung der höfischen bzw. religiös bildenden Künste stellte Dichtung Handlungen in der Zeit, Malerei und Bildhauerkunst dagegen Körper im Raum dar.
121 Bodmer, Breitinger: Einbildungs=Kraft. 1727, Widmungsschreiben, S. b2v. 122 Vgl. Stephen Halliwell: Aristotle’s Poetics. London 1986, bes. S. 109–137. Art. ,Mimesis / Nachahmung‘. In: Ästhetische Grundbegriffe. Hg. von Karlheinz Barck u. a. Bd. 4. Stuttgart, Weimar 2002, S. 84–86 und S. 91–121. 123 Johann Jacob Breitinger: Critische Dichtkunst [...]. Zürich 1740 (ND hg. von Wolfgang Bender. Stuttgart 1966), dritter Abschnitt, „Von der Nachahmung der Natur, S. 52–77, hier S. 59; vgl. den fünften Abschnitt, „Von dem Neuen“, S. 106–127, hier S. 125: Die Poesie „gehöret unter die Artes populares, und muß beflissen seyn, das Ergetzen des grösten Theils der Menschen zuwege zu bringen [...].“
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Programm einer Zürcher Literaturkritik
Malerei sowie das poetische „Mahler-Kunst-Prinzip“ der Naturnachahmung wurden auch in Breitingers Critischer Dichtkunst aufeinander bezogen. Mit Batteux gesprochen, meinte die Malerei die „Nachahmung der sichtbaren Gegenstände“, die auf einer „Aehnlichkeit mit dem Wirklichen“ beruht und wohl deswegen bei den Schweizern gegenüber der Dichtung abfiel. Mit der Differenzierung zwischen wirklicher und möglicher Welt wurde die alte aristotelische Unterscheidung zwischen Historiker und Dichter wolffianisch neu formuliert. Aristoteles begründet die Überlegenheit der Dichtkunst über die Historiographie. Diese Superiorität wiederholte Breitinger mit Leibniz/Wolff: mögliche Welten sind Produkte der poetischen Phantasie.124 Analog zu Gottsched, der die bloße „Schilderey“ als niedrigste Art der Mimesis bewertet hatte, empfahl auch Breitinger eine eher implizite Hierarchisierung von Mimesisarten. Neben einer bloß ,abdrückenden‘ Nachahmung der physisch-metaphysischen Wirklichkeit wurde eine poetische Darstellung des Möglichen, d. h. der erfundenen bzw. fiktionalen Welt plausibel.125 In der Literatur sollte von nun an nicht mehr nur das gelten, was rational nachvollzogen werden konnte, sondern alles, was in der Imagination vorstellbar war, wie es Bodmer in der Critischen Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie (1740) formulierte. Der Erhabenheitsdiskurs in der Zürcher Poetik war schöpfungstheologisch motiviert, erklärte das religiöse Epos als erhabenste Gattung und legitimierte die Dichtung durch ihre moralisch-didaktische Wirkung als ars popularis.126 Wurden die Lesenden im Roman zwischen 1760 und 1775 mittels selbst erarbeiteter Kommunikationsschemata ,zum richtigen Lesen‘127 erzogen, so war auch Bodmer um seine Leser bemüht. Dittmar Till hat auf das in der Forschung als einseitig verstandene Rhetorikverständnis hinsichtlich der Dichtungstheorie Bodmers und Breitingers hingewiesen und demonstriert, dass die Zürcher die traditionelle System-Rhetorik ablehnten und stattdessen eine ‚kunstlose‘ Affekt-Rhetorik propagierten, die in entscheidenden Punkten gerade auf Longin Bezug nahm. Demnach ist für die Schweizer die Frage nach dem „doppelten Erhabenen“ von zentraler Bedeutung, was gerade für die Einschätzung der Modernität der Poetik Bodmers und Breitin-
124 Vgl. Aristoteles: Poetik, § 9. 125 Vgl. Carsten Zelle: ,Vernünftige Gedanken von der Beredsamkeit‘ – Bodmers und Breitingers ästhetische Schriften und Literaturkritik. In: Lütteken, Mahlmann-Bauer (Hg.): Bodmer und Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung. 2009, S. 25–41, hier S. 40. 126 Vgl. ebd., S. 41. 127 Vgl. Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. Frankfurt am Main 41994, S. 316f.
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gers entscheidend ist.128 Abweichend von der rhetorischen Ausrichtung Gottscheds basiere ihr Verständnis von Mimesis auf dem enargeia-Konzept Quintilians. Das Alte schlage in ein Neues um, wobei jedoch „die alten rhetorischen Begriffe in die neuen des Sturm und Drang umgeformt werden“.129 Karl-Heinz Stahl hob dagegen den Publikumsbegriff und das Moment der Wirkung der Affektpoesie der Schweizer im Sinne der antiken Rhetorik in Abgrenzung zur rationalistischen Poetikkonzeption Gottscheds hervor.130 Breitingers Betonung der persuasio als Moment der affektiven Wirkung des Rhetorikbegriffs in seiner Critischen Dichtkunst (1740) identifiziert Uwe Möller als das „Herzrührende“, das mit der Wirkungsfunktion des movere aus der Rhetorik übereinstimme.131 Im Gegensatz zu Gottsched war für Bodmer die das Schöpferische und das Wunderbare erfassende Phantasie die elementare Grundkraft der Poesie, wovon er schließlich auch die deutschen Dichter Friedrich Gottlieb Klopstock und Christoph Martin Wieland überzeugen sollte, die er beide nacheinander bei sich in Zürich 1750 und 1752 als seine Gäste beherbergte.132 Diese sowie die bildenden Künstler Johann Heinrich Füssli, Johann Martin Usteri und Johann Heinrich Wilhelm Tischbein konnte er mit seinen Übersetzungen ins Deutsche von Miltons Paradise lost beeinflussen.133
128 Vgl. Dittmar Till: Das doppelte Erhabene. Eine Argumentationsfigur von der Antike bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Tübingen 2006. 129 Herrmann, ebd., S. 181. 130 Karl-Heinz Stahl: Das Wunderbare als Problem und Gegenstand der deutschen Poetik des 17. und 18. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 1975, S. 134. Vgl. dazu auch Angelika Wetterer: Publikumsbezug und Wahrheitsanspruch. Der Widerspruch zwischen rhetorischem Ansatz und philosophischem Anspruch bei Gottsched und den Schweizern. Tübingen 1981. 131 Vgl. Uwe Möller: Rhetorische Überlieferung und Dichtungstheorie im frühen 18. Jahrhundert. Studien zu Gottsched, Breitinger und G.F. Meier. München 1983, S. 99f.; Klaus Dockhorn: Die Rhetorik als Quelle des vorromantischen Irrationalismus in der Literatur und Geistesgeschichte (1949). In: Ders.: Macht und Wirkung der Rhetorik. Vier Aufsätze zur Ideengeschichte der Vormoderne. Bad Homburg, Berlin, Zürich 1968, S. 49–95. Vgl. auch die Arbeiten von Wolfgang F. Bender: Rhetorische Tradition und Ästhetik im 18. Jahrhundert. Baumgarten, Meier, Breitinger. In: ZfdPh 99 (1980), S. 481–506, hier S. 483; zur persuasio aesthetica als rhetorischem Element in A.G. Baumgartens Aesthetica: Angelika Wetterer: Publikumsbezug und Wahrheitsanspruch. 1981, S. 173, S. 174. 132 Eine neue Einschätzung der Geschmacksreform von Bodmer, Breitinger und Gottsched bietet Lucas Marco Gisi: Einbildungskraft und Mythologie. Die Verschränkung von Anthropologie und Geschichte im 18. Jahrhundert. Berlin 2007, S. 13–79. 133 Vgl. Barbara Mahlmann-Bauer: Bodmers Homerübersetzung und die Homerbegeisterung der Jüngeren. In: Zürcher Taschenbuch 2007, S. 478–511; Daniela Kohler: Der Weg von Bodmers Milton-Übersetzung zu Klopstock und seiner neuen Ästhetik, ebd., S. 441–461; Edgar Bierende: Geschichte malen – Bilder denken: Bodmers Historische Erzählungen als Grundlage für Usteris
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Doch neben der englischen interessierte sich Bodmer insbesondere auch für die französische Literatur, und beschäftigte sich ebenfalls mit Werken spanischer und italienischer Dichter, wie im Folgenden gezeigt werden soll.
2.2 Bodmers Interesse für europäische Literatur Bodmers Frankreich-Orientierung begann in jungen Jahren während seines Aufenthalts in Lyon. Die lebenslange Auseinandersetzung mit französischer, englischer, spanischer oder italienischer Literatur kommt in Bodmers Korrespondenz mit frankophonen Freunden und Kollegen zum Ausdruck, z. B. mit Johann Heinrich Meister und seinem Sohn Jakob Heinrich, dem Mitverfasser der Correspondance littéraire, der sich in Frankreich Jacques Henri Meister nannte, sowie mit Laurenz Zellweger und vielen anderen mehr.134 Seine satirischen oder parodistischen Reaktionen auf literarische Neuerscheinungen deutscher Stürmer und Dränger, wie bspw. auf Gerstenbergs Ugolino (1768) (vgl. Kapitel 4.5), können als Resultate einer außerdeutschen französischenglischen Prägung verstanden werden, denn es ist auffällig, dass Bodmer seine Maßstäbe, was Stil und Gattung seiner Literaturkritik betrifft, meist aus Frankreich und England bezog. Sicherlich ist Bodmers Bewunderung für den Spectator Addisons und Steeles auf dem Weg über dessen französische Rezeption im Le Spectateur ou le Socrate moderne zu erklären, mit der er auf einer seiner Studienreisen nach Lyon bekannt wurde und worüber er in seinen Persönlichen Anekdoten berichtete: „Dieser Englische Spectator hatte meinen ganzen Verstand nach dieser Seite gezogen, ich hatte ihn in der französischen Uebersetzung nach Zürich gebracht, beinahe den einzigen Vortheil, den ich von meinen Reisen empfing.“135 Nach dem englischen Vorbild gründete Bodmer mit Johann Jakob Breitinger und Johann Heinrich Meister, die Cotterie der Gesellschaft der Mahler und ihre erste Wochenschrift Die Discourse der Mahlern (Mai 1721 – Dezember 1722), deren
Zeichnungen, ebd., S. 542–563; Anett Lütteken: „Geschichten der Heimath“ – Bodmer, Tischbein und die Historienmalerei, ebd., S. 564–580. 134 Exemplarische Auswertung von Bodmers Korrespondenz. In: Anett Lütteken: Lebenslange Neubegierde. Johann Jacob Bodmer und die Physiognomie der Zürcher Aufklärung. Habilschrift. Bern 2008; vgl. dies.: Johann Jakob Bodmer, sein Freundeskreis und die französischsprachige Kultur. In: Michèle Crogiez Labarthe, Sandrine Battistini, Karl Kürtös (Hg.): Les écrivains suisses alémaniques et la culture francophone au XVIIIe siècle. Actes du colloque de Berne, 24–26 novembre 2004. Genève 2008, S. 273–286. 135 Theoder Vetter (Hg.): Bodmer’s „Persönliche Anekdoten“. In: Zürcher Taschenbuch 15 (1892), N.F., S. 91–122; ebd.: Mein poetisches Leben, S. 123–131.
Bodmers Interesse für europäische Literatur
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spiritus rectus er war.136 Mit den Diskursen werden nach Herbert Schöffler die drei Hauptetappen des protestantischen Denkens der frühen Aufklärungszeit beschrieben, die eine Bandbreite vom christozentrischen Dogmatisieren ins Moralisieren und darauf ins Ästhetisieren abstecken.137 Das Programm hierfür war dem Spectator entnommen: „Die kleinen Discourse des Engländischen Zuschauers haben aller Orten die gesunde Vernunfft ausgebreitet, die Gemüther aufgekläret, die Tugend gepflanzet.“138 Mit dem Nachweis der lebenslangen Orientierung an französischen und englischen Literaturmodellen rückt eine Gemeinsamkeit Bodmers mit Gottsched in den Blick. Beide kritisierten die materialistische Philosophie aus Sorge, sie könnte das ethische Fundament des Zusammenlebens erschüttern. Was Gottsched mit Hilfe seiner beiden Rezensionszeitschriften zu erreichen suchte, eine Abwehr materialistischer Philosophie, machte Bodmer zum Thema seiner Dichtungen und insbesondere seiner Pygmalion-Erzählung (vgl. Kapitel 4.3). Für sein Erziehungskonzept, das sich in sämtlichen Schriften abzeichnet, holte er sich Anregungen in der zeitgenössischen englischen und französischen Literatur. Dank des Spectators wurde er vermutlich mit der unglücklichen Liebesgeschichte von Inkel und Yariko vertraut, die ihn zu seiner Erzählung anregte (vgl. Kapitel 4.4). Ferner muss bspw. Samuel Richardsons Briefroman Sir Charles Grandison (1753) auf ihn gewirkt haben, den er einerseits für eine Attacke gegen den Leipziger Literaturpapst Johann Christoph Gottsched und dessen Anhänger für seine Kritik heranzog und andererseits als Folie für die Propagierung seiner eigenen modernen pädagogischen Ansichten in dem in Briefen angeordneten Prosatext Edward Grandisons Geschichte in Görlitz (1755) modellierte (vgl. Kapitel 4.1). Dass Bodmer aber nicht nur nach England und Frankreich blickte, sondern sich zudem mit den Klassikern der italienischen oder der spanischen Weltliteratur bestens auskannte, macht sich schon in seinen frühen Zeitschriften bemerkbar. Neben Dantes Divina Commedia und insbesondere dem Anthropophagie-Thema der Ugolino-Szene muss er sich auch eingehend mit den Blüten der spanischen Barockliteratur, d. h. mit Cervantes’ Parodie mittelalterlicher Ritterromane Don Quijote (1605, 1615) oder mit Balthasar Graciáns umfangreichem allegorischen Roman El Criticon (1651, 1653, 1657) beschäftigt haben, welche er neben dessen kleinerem essayistisch gehaltenem Bändchen über die Helden El Heroe (1639) und
136 Vgl. Theodor Vetter: Der Spectator als Quelle der ,Discurse der Maler‘. Frauenfeld 1887. Herbert Schöffler: Anruf der Schweizer. In: Deutscher Geist im 18. Jahrhundert. Essays zur Geistesund Religionsgeschichte. Hg. von Götz von Selle. Göttingen 1956, S. 7–60, hier S. 27–29. 137 Vgl. auch: Schöffler: Anruf der Schweizer. 1956, S. 27. 138 Zit. nach Schöffler, ebd., S. 28.
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über den Geschmack Oraculo manual y arte de prudencia (1647) ferner als Orientierungshilfen für seine poetischen Kritiken heranzog.139 Cervantes’ Don QuijoteRoman wird eine Schlüsselposition in der Wirkungsästhetik des europäischen Romans zugeschrieben. Die überragende Bedeutung dieses ersten „illusionsdurchbrechende[n] Antiromans“ wird dadurch ersichtlich, dass seine Ambivalenz hinsichtlich der mimetischen illusionsbildenen Narrativik als auch der antiillusionistische Erzählmodus mit den Zwischenformen in der Folge für den englischen und französischen Roman bspw. bei Sterne oder Diderot traditionsbildend werden.140
2.3 Die Rezension – eine Kunstform des 18. Jahrhunderts Wie sehr das Konfliktpotential durch Schrift zunahm und der Streit über ein Hemmnis zu einem produktiven kulturellen Faktor umgedeutet und damit über den Zusammenhang von Innovation, Täuschung, Irrtum und Kritik reflektiert wurde, zeichnet sich in jenen Moralischen Wochenschriften ab, die Rezensionen rezensierten. Jene „Fußnoten der Literaturgeschichtsschreibung“141, denen in Ausrichtung auf einen klassischen Werkbegriff ein sekundärer Charakter anhaftete, galten während einer kurzen, aber intensiven Phase im 18. Jahrhundert als Leitgattung und behandelten die zentralen ästhetischen, philosophischen und literaturtheoretischen Probleme der Zeit. Die Etablierung von Negativität bot im literarischen Diskurs der Kritik Anreiz für Variationen, Ablehnungen oder Akzentuierungen. Aufgrund der zahlreichen Angebote, sich positiv oder negativ gegenüber Meinungen zu verhalten, da diese nun über Zeit und Raum hinweg relativ dauerhaft bestehen konnten und Reaktionen provozierten, stieg darauf die Notwendigkeit, Negativität als normales Diskurselement zu verstehen.142 Christian Gottfried Hoffmanns Aufrichtige und Unpartheyische Gedancken, Über Die Journale, Extracte und Monaths-Schrifften, Worinnen Diesselben extrahieret, wann es nützlich suppliret und wo es nöthig emendiret werden (1714) kön-
139 Zur Bedeutung von Graciáns Schriften für Frankreich vgl. Marc Fumaroli: 1684. De l’homme de Cour à l’homme de goût. In: Ders.: Le sablier renversé. Paris 2012, S. 20–254. 140 Werner Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. Tübingen 1993, S. 486–509, hier S. 508f. 141 Astrid Urban: Kunst der Kritik. Die Gattungsgeschichte der Rezension von der Spätaufklärung bis zur Romantik. Heidelberg 2004, S. 7. 142 Martus: Werkpolitik. 2007, S. 112.
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nen als Folge der französischen Kritiktheorien und der Exzerptkultur gelesen werden, die einen Wechsel der Negationssemantik und eine Kritik zweiter Ordnung im deutschen Sprachraum mitbegründen.143 Antwortete in Frankreich Tanneguy Le Fevre 1666 mit dem Journal du Journal, ou Censure de la Censure auf das Journal des Scavants, so thematisierte der Antikritikus in Deutschland Sachliteratur und richtete sich gegen die beiden Rezensionsimperien, die Zeitschriften von Christian Adolph Klotz sowie Friedrich Nicolais Allgemeiner deutschen Bibliothek. Der Streit um den von Christian August Wichmann herausgegebenen Antikritikus fand auf vielen Schauplätzen statt. Neben den zensierten Verteidigungsschriften, die dann in einer kommentierten und revidierten Ausgabe erschienen, wurden öffentliche, zum Teil fingierte Briefwechsel geführt, worauf Polemiken und Spott- und Schmähschriften in Form des Pasquill von allen Seiten entstanden.144 In Anspielung auf Liscow stellte sich die hauptsächlich von Friedrich Justus Riedel anonym veröffentlichte Bibliothek der elenden Scribenten (1768) im Sinne der satirischen Selbstentlarvung als Werk der Verfasser des Antikritikus vor. Ab dem zweiten, vermutlich von Christian Heinrich Wilke verfassten Stück (1769) wurde die Bibliothek jedoch von den „Gegnern“ Riedels weitergeführt, die nun die Selbstentlarvung auf die zweite Stufe der Simulation von Simulation verlegten, bis dann im dritten Stück (1769), vermutlich von Christian August Wichmann, die Widmungsvorrede mit „Riedel und Consorten“ gezeichnet war.145 Mit dem Titelkupfer, auf dem ein Hase seinem Artgenossen einen Spiegel vorhält, um metaphorisch auf jene folgenden Spiegelungen weiterer Literaturhasen anzuspielen, wird der kritische Literaturbetrieb, in dem sich die Autoren schon in Lacans psychologischer Metaphorik, des „Spiegelstadiums der Kritik“146 wähnen, beispielhaft illustriert. Aus historischer Sicht gilt jene geheime handschriftliche Kultur- und Rezensionszeitschrift, die Correspondance littéraire, philosophique et critique, die vom Regensburger Friedrich Melchior Grimm (1723–1807) und unter Mitwirkung von Jacques Henri Meister (1744–1826), Diderot, Voltaire und anderen Philosophen für eine ausgewählte Leserschaft des europäischen Adels von maximal zwölf Abonnenten produziert wurde, als wichtigstes Informationsmittel und ambitiöses
143 Jaumann: Critica. 1995, S. 225f. 144 Vgl. Allgemeine Deutsche Bibliothek 10 (1769), 2. St., S. 121, S. 123f, S. 126ff.; vgl. Otto Daneke: Lichtenbergs Leben. München 1944, S. 88, S. 90. 145 Friedrich Justus Riedel: Bibliothek der elenden Scribenten. Frankfurt und Leipzig 1768. 146 Vgl. dazu Jacques Lacan: Le stade du miroir comme formateur de la fonction du Je: telle qu’elle nous est révélée dans l’expérience psychanalytique. In: Revue française de psychanalyse. Paris 1949.
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Projekt idealer Kommunikation für die europäische République des lettres. Welchen Beitrag diese geheime, handgeschriebene Zeitschrift für den europäischen Kulturtransfer leistete und wie hier ein autonomer, polyperspektivischer und konfliktfreier Dialog unter Abwesenden der europäischen Fürstenhöfe und v. a. der aufgeklärten Nachwelt inszeniert wurde, um neben neuen Erkenntnissen und deren Verbreitung, Reformmöglichkeiten in den Bereichen der Ästhetik sowie der Politik offen, ohne die Zensur zu fürchten, ausgesprochen wurde, hat Maria Moog-Gründewald eingehend untersucht.147 Bodmer korrespondierte mit Johann Heinrich Meister und dessen Sohn Jakob Heinrich bzw. Jacques Henri Meister und erkundigte sich auf diesem Weg über die Inhalte der Correspondance littéraire, um sich so über Neuerscheinungen, Theatervorstellungen und politische Ereignisse Frankreichs aus erster Hand zu informieren. Die vielfältigen Praktiken der englischen und französischen Literaturparodien und -satiren und deren Traditionen in England und Frankreich, die Bodmer beeinflusst haben dürften, stießen auf ein Echo in den Wochenschriften der für Bodmers Literaturkritik entscheidenden Jahre 1745–1781.
2.4 Zürcher Literaturkritik in nuce Schon früh äußerte sich Bodmer als Journalist und Literaturkritiker in eigens dafür gegründeten Literaturorganen; angefangen in den Discoursen der Mahlern (Mai 1721 bis Dezember 1722) über Caliope (1767) bis hinzu den Critischen Briefen (1746) und den Neuen Critischen Briefen (1749), die er jeweils zusammen mit seinem Mitstreiter Johann Jakob Breitinger herausgab. Wie schon ihr englisches Vorbild, der Spectator von Addison und Steele, tendierten die Zürcher mit ihren Zeitschriften nach einer moralisch sittlichen Geschmacksbildung ihrer Leserschaft, Frauen inbegriffen, um sich nicht zuletzt von der Konkurrenz aus Leipzig, d. h. von dem Hamburgischen Patrioten oder Gottscheds Tadlerinnen abzugrenzen. Dass sie sich in den Discoursen der Mahlern mehrheitlich von ihrem englischen Vorbild inspirieren ließen und viele Themen buchstäblich entlehnten, d. h. übernahmen und ausführten, wurde schon früh von Theodor Vetter tabellarisch nachgewiesen.148 Vetter eruierte die englischen und französischen Quellen der Schweizer, die sich in ihrer ersten ästhetischen
147 Vgl. Maria Moog-Gründewald: Jakob Heinrich Meister und die Correspondance littéraire. Berlin, New York 1989. 148 Vgl. Theodor Vetter: Der Spectator als Quelle der ,Discurse der Maler‘. Frauenfeld 1887.
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Schrift neben Steele und Addison an Lockes Erziehungsschrift: Some thoughts concerning education (1693), La Bruyère Les Charactères und insbesondere an Jean-Baptiste Dubos Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture (1719) orientierten. Dass die Zürcher daneben jeweils auch die klassisch-antiken Quellen im Original kannten und zitierten, davon zeugt Bodmers, in der Zentralbibliothek Zürich erhaltene, Bibliothek. Bodmer war „ein Mann des Buches“149, der sich als langjähriger Vizepräsident der Zürcher Stadtbibliothek, dem Vorläufer der heutigen Zentralbibliothek Zürich, dank Neuerwerbungen und zahlreicher Schenkungen für die Buch- und Lesekultur engagierte und somit deren Bestand nicht zuletzt mit seinen eigenen bibliophilen Preziosen bereicherte. Während Steele und Addison sich einer Reihe fingierter Figuren bedienten, die kultiviert, weitgereist, gut belesen als stille Zuschauer in bester Gesellschaft in englischen Kaffeehäusern oder Clubs verkehrten, so verstecken sich die Zürcher hinter den Namen berühmter Maler. Jedoch hat Will. Honeycomb auch als deutscher Zwitter „Will Honigsein“ einige Auftritte bei den Zürcher Mahlern. Mit der Übernahme der Honigwabe wird an die Auseinandersetzung der Querelle erinnert bzw. an jenes metaphorische Streitgespräch zwischen Biene und Spinne aus Swifts berühmten Battle of the Books (1704), mit dem die Zürcher bestens bekannt waren. In der Ecke der Bibliothek attackiert eine Biene eine dicke Spinne und versucht deren Netz zu zerstören. Bei dem nun einsetzenden Streitgespräch zwischen Biene und Spinne wirft diese ihrer Angreiferin vor, sie bediene sich in fremden Feldern und Gärten, während sie sich selbst auf die angeborene Fähigkeit des eigenen Netzwerks berufen könne: Your livelihood is a universal plunder upon nature: a freebooter over fields and gardens: and for the sake of stealing will rob a nettle as readily as a violet; whereas I am a domestic animal, furnished with a native stock within myself.150
Die Biene formuliert darauf einen biologischen Vergleich und fragt, welches der Wesen besser sei, jenes, das auf kleinem Platze sich selbst ernähre, dabei Spinnweben produziere und Gift versprühe, oder dasjenige, das auf langer fleißiger Suche Honig und Wachs heimbrächte:
149 Urs B. Leu: Johann Jakob Bodmers Privatbibliothek. In: Lütteken, Mahlmann-Bauer (Hg.): Bodmer und Breitinger im Netzwerk. 2009, S. 831–846, hier S. 831. 150 Jonathan Swift: Full and True Account of the BATTLE Fought last Friday, Between the Ancient and the Modern BOOKS in St. James’s Library (entstanden um 1697; gedruckt im Anhang von A Tale of a Tub 1704). In: Ders.: Satiren und Streitschriften. Übers. Robert Schneebeli. Zürich 1993, S. 21–28.
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[…] whether is the nobler being of the two – that which by a lazy contemplation or four inches round, by an overweening pride, feeding and engendering on itself, turns all into excrement and venom, producing nothing at all but fly-bane and a cobweb: or that which by a universal range, with long search, much study, true judgement, and distinction of things, brings home honey and wax?151
Niemand anders als Aesop, der diesen Streit mitverfolgte, wendete darauf diese Aussagen auf die Querelle des Anciens et des Modernes an: die Spinne wird mit den Modernen gleichgesetzt, die Biene wirkt fortan als Fürsprecherin der Antike, titelgebend für Marc Fumarolis einleitenden Querelle-Essay in dessen Anthologie, die 2013 neu aufgelegt wurde.152 Inwiefern die Gattung der Fabel und insbesondere dieses Gleichnis für Bodmers Poetik Programmcharakter hat, wird in Kapitel 4.2 vertieft. In ihrer Vorrede, die sie an den „Erlauchten Zuschauer der Engeländischen Nation“ richten, lassen die beiden Herausgeber, die hier mit „Les Peintres“ zeichnen, gleich in den ersten Zeilen verlauten, dass sie sich stark an die Vorgänger anlehnen: Dieses Werck hat euch seinen Ursprung, einen Theil seiner Methode, und vielleicht alles dasjenige zu dancken, was es artiges hat. Nachdem das Gerücht von dem Nutzen und der Zierlichkeit, mit welchen ihr eure Entdeckungen über den Punct der Sitten eurer Insel begleitet habet, ganz Europen durchgelauffen, haben sich in einem Winckel desselben Menschen gefunden, welche von der starcken Begierde ihrer Nation zu dienen sich haben verleiten lassen, eben dasselbe zu versuchen, was ihr bey der euern so glücklich ausgeführet habet.153
Auf den geographischen Vergleich folgt ein klimatischer, der sofort mit dem später großen Ästhetik-Thema der Zürcher, der Einbildungskraft, zu oszillieren beginnt: „Ob es je wahr wäre, dass wir dunckel und kaltsinnig mahlen, so dächten wir die Schuld auf unser Clima zu werffen. Man sagt allenthalben, dass die Luft des Schweitzerlandes die Lebhafftigkeit und das Feuer der Imagination nicht einblase.“154 Das Argument, „die Tugend und den guten Geschmack“155 in den heimatlichen Bergen einzuführen, wird dann in jenem in französischer Sprache geschrie-
151 Ebd. 152 Vgl. Marc Fumaroli: Les abeilles et les araignées. In: Ders.: Le sablier renversé. Paris 2013, S. 263–467. 153 Bodmer, Breitinger: Discourse der Mahlern. Vorrede (1721), o. S.; zit. nach Theodor Vetter: Der Spectator als Quelle der ,Discurse der Maler‘. Frauenfeld 1891, S. 7f. 154 Ebd., S. 8. 155 Ebd., S. 9.
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benen und an Steele sich richtenden Brief vom 18. Oktober 1721 aufgenommen, der mit den wohl schon damals bekannten Schweizer Gütern von Natur, Wein und Käse einsetzt: Aparemment vous ne vous êtes pas attendu à trouver des Admirateurs, moins encore des Imitateurs aux pieds des Alpes, et dans les bois de la Suisse. Il doit vous être bien doux d’être loüé par des hommes, qui n’ont accoutumé de loüer que les genisses, le beau tems, le vin et les fromages, et d’être connu dans un Païs, où l’on ne connoit gueres bien Opitz le plus grand Philosophe et Poëte Allemand, pour ne pas vous dire le seul.156
Neben den lobenden Anklängen an Opitz wird die behutsame Themenwahl mit einer Einführung in den Geschmack begründet. Dass die Mahler bei ihrem in Schweizer Kreisen neuen Vorhaben auf Missgunst stießen, wird kurz erwähnt, wenn sich die Herausgeber nach der Höflichkeit der englischen Nation sehnen: „En effet, nous avons éprouvé une terrible foule de jugements deraisonnables, de soupçons malignes, d’attaques tumultueuses, d’applications injustes et contradictoires. En un mot, une Nation aussi polie que la vôtre, est d’un grand avantage pour un Auteur.“157 Der Brief an Steele ist deswegen wichtig, weil er in nuce schon jene Punkte enthält, die die Zürcher zum einen in ihrer Theorie der Critischen Dichtkunst angehen werden, sowie jene, die Bodmer in seiner Poetik verfolgt und die sich ebenso in den hier ausgewählten Parodien und Satiren abzeichnen. Zumal ist es das schon angesprochene große Thema der Einbildungskraft, das sich die Zürcher – wie hier deutlich wird – von den Engländern Steele und Addison abgeschaut haben. Jedoch versuchen sich die Schweizer von den Engländern hinsichtlich des Verständnisses der Einbildungskraft abzusetzen. Das pädagogische Konzept, das Bodmer später in seinen hier zur Untersuchung stehenden poetischen Parodien und Satiren nach dem Modell der sokratischen Gespräche und der sokratischen Ironie weiterentwickelt, findet sich im Ansatz bereits im Brief an die Herausgeber des Spectators. Mit dem von den Engländern plädierten Erziehungsprogramm sind die Schweizer nicht einverstanden, da es sich ihrer Meinung zu wenig an Locke anlehnt, wenn sie widersprechen: L’Education est un autre chapitre, où nous vous trouvons à redire. Vous dites trop peu de choses sur une matière aussi importante, que celle-ci. Nous comprenons bien, que la Traité de Mr. Locke sur l’Education étant recent dans le tems, que vous écriviez, vous étiez dans la necessité de laisser une matière, que ce Philosophe avoit traité amplement, et dont il vous
156 Ebd. 157 Ebd.
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avoit enlevé le meilleur. Cependant nous entrerons dans cette carrière, et nous nous écarterons bien de fois de ces sentiments, qu’on en lit dans vôtre Livre.158
Die Schweizer vertrauen in ihrem Erziehungsprojekt explizit auf das ironischkritische Potenzial der Satire und verwerfen den burlesken Stil der Engländer. Dieser Punkt wird darauf gegenüber dem Berner Professor Laufer auf Deutsch wiederholt, um dessen Mitarbeiterschaft bei den Mahlern sich die Zürcher bemühten: Wir werden darinne sonderbar von ihm abweichen, dass wir die Imagination für etwas halten, das Niemand in einem höheren Grade, und lebhaffter von der Natur empfangen hat, als der andere; dass wir die burlesque Schreibart für kindisch und unvernünftig erklären, und zu nichts brauchen, als den Pöbel zu amusieren; dass wir nicht hoffen viele Leute weiser zu mache, aber jedermann der es nicht ist, also auch uns selbst auszulachen.159
Die lebenswichtigen Themen der Erziehung, der Ernährung und zu guter Letzt der sportlichen Leibesübungen wird Bodmer, der hier mit Holbein zeichnet, im 18. Discours eingehend besprechen. Sich an den Spectator anlehnend, wird an den natürlichen Instinkt des Menschen appelliert, denn der menschliche Organismus wisse, was für ihn am besten sei. Nur eine verkehrte Lebensart und eine verkehrte Erziehung seien Schuld, dass der Mensch das Schlechte vom Guten nicht mehr zu unterscheiden wisse. Für die Wiedererweckung dieses natürlichen Gefühls seien Bewegung und Arbeit von Nutzen, was Addison in der Nummer 195 empfohlen hatte. Sein sportliches Rezept, das Bodmer darauf als eine allmorgendliche Leibesübung empfiehlt, das Ähnlichkeit mit dem Faustkampf aufweise, hat er sich aus dem Spectator abgeschaut: For my own part, when I am in Town, for want of these Opportunities, I exercise myself an Hour every Morning upon a dumb Bell that is placed in a Corner of my Room, and pleases me the more because it does every thing I require of it in the most profound Silence. My Landlady and her Daughters are so well acquainted with my Hours of Exercise, that they never come into my Room to disturb me whilst I am ringing. […] When I was some years younger than I am at present, I used to emplore myself in a more
Recipe: Arbeitet euch alle Tage zweymal in einen Schweiss; Solches wird am allerbesten geschehen, wenn ihr euch alle Morgen eine Stunde lang üben werdet, eine Glocke (die ihr zu dem Ende in einem Winckel eurer Kammer aufhängen könnt) zu ziehen, und der ihr den Schenkel wegnehmen, wenn das Getöhne euch wehe in den Ohren thut; oder, wenn ihr in eine jede Hand, einen kurtzen Stecken nehmen werdet, der an seinen beyden Enden mit einem schweren Stücke Bley beschlagen ist, und
158 Ebd. 159 Chronik, 25. Oktober 1721. Zit. nach Theodor Vetter: Der Spectator als Quelle der ,Discurse der Maler‘. 1891, S. 12.
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laborious Diversion, which I learned from a Latin Treatise of Exercices that is written with the Man’s own Shadow, and consists in the brandishing of two short Sticks grasped in each Hand, and loaden with Plugs of Lead at either End. This opens the Chest, exercises the Limbs, and gives a Man all the Pleasure of Boxing without the Blows. (Spectator, Nr. 115)160
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dieselben wacker auf einander und in die Lufft schlagen, welches man da Gefechte des Menschen mit seinem Schatten nennet. (18. Discours)
Die Discourse der Mahlern waren mehrheitlich noch den Benimm- und Anstandsregeln verschrieben und handelten bspw. über „Kleiderpracht“, „Feinschmeckerei“, „Höflichkeit“, „Kindererziehung“ oder „Lektürelisten für Damen“. Nach dem Beispiel der Engländer richtet sich dergestalt im 19. Discours eine Dame mit der Bitte um neue Lektüreempfehlungen für Frauen an die Mahler. Hier finden sich Anlehnungen an den Spectator Nr. 92, wo ebenfalls schon die Bibliothek für Frauen thematisiert wurde. Im Zusammenhang der Bildung zitiert die fingierte Frauenperson aus Nr. 98 des Spectators. In besagter Nummer beschreibt Addison seine Freude darüber, dass der hohe Kopfschmuck der Damen aus der Mode gekommen sei. Ähnlich schrieb Breitinger, der mit Hans Holbein zeichnete, gegen die Zürcher Mode des hohen Kopfputzes der Frauen im 25. Discours an, was sich fast eins zu eins aus Addisons Feder im Spectator wiederfindet: I would desire the Fair Sex to consider how impossible it is for them to add any thing that can be ornamental to what is already the Mastepiece of Nature. The Head has the most beautiful Appearance, as well as the highest Station, in a human Figure […] Nature seems to have designed the Head as the Cupola to the most glorious of her Works; and when we load it with such a Pile of supernumerary Ornaments, we destroy the Symmetry of the human Figure. (Spectator, Nr. 98)
160 Ebd., S. 21 f.
Was aber die Sorgfald des Frauen-Volckes für die Ausschmückung des Hauptes insbesonder belanget, so muss ich diesem schönen Geschlechte eine Vorstellung machen, die vermutlich dringend seyn wird, ihnen die allzugrosse Einhüllung des Hauptes verächtlich zu machen; wenn ich ihnen zeige, dass die natürlichen Schönheiten des Haupts dadurch verdunckelt werden. Das Haupt ist ja ein majestetischer Theil des menschlichen Leibes […]. Die wundersame Proportion der Theile des Hauptes […] wird zernichtet und destruiert durch die Ansätze, welche dem Haupt eine andere Figur und Symmetrie geben. (25. Discours)
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Ganz ähnlich wird vorgegangen, wenn sich die Zürcher Herren über den Gebrauch der weiblichen Schminke mokieren, was Vetter als „blosse Uebersetzung“161 erwähnt: I have indeed very long observed this Evil, and distinguished those of our Woman who wear their own, from those in borrowed Complexions, by the Picts and the British. There does not need any great Discernement to judge which are which. The British have a lively, animated Aspect; The Picts, tho’ never so Beautiful, have dead, uninformed Countenances. The Muscles or a real Face sometimes swell with soft Passion, sudden Surprize, and are flushed with agreeable Confusions, according to the Objects before them, or the Ideas presented to them, affect their Imagination. But the Picts behold all things with the same Air, whether they are Joyful or Sad; the same fixerd Insensibility appears upon all Occasions. (Spectator, Nr. 41; April 17, 1711)
Ich will diese Mahlerinnen ihrer eigenen Schönheit Ostiackinnen nennen, damit ich sie von denen natürlich schönen Helvetierinnen unterscheide. Wann ihr die eine und die andere von Angesicht wollet kennen, so könnet ihr es leichtlich bey diesen Merckzeichen thun. Erwecket die Passion des Zorns oder des Schreckens in ihnen, und beschämet sie mit der Vorrückung eines Fehlers, so werdet ihr sehen dass bey den Helvetierinnen das blasse und das rote geschwind auf einander folgen, aber die Ostiackinnen erbleichen vor keinem Gespenst und erröthen von keiner Beschuldigung, wann sie gleich so hart erschrocken und so schamhafftig sind als die Helvetierinnen. (Discourse der Mahlern, Bd. III, Disc. 2, 10.)
Das Thema der Schminke wird nochmals von Bodmer in den Lessingischen unäsopischen Fabeln (1760) aufgenommen und kritisiert (vgl. Kapitel 4.2). Über die Besonderheit der Gattung der Fabel äußern sich die Zürcher, an die Engländer anknüpfend, im 19. Discours des dritten Bandes. Sie sind von der didaktischen Poesie der Fabel, die bei den Engländern beliebt war, angetan und loben die Form: Among all the different Ways of giving Council, I think the finest, and that which pleases the most universally, is Fable, in whatsoever shape it appears […] We peruse the Author for the sake of the Story, and consider the Precepts rather as our own Conclusions, than his Instructions.162
Ferner verwenden die Engländer in der Nr. 183 das Beispiel über das Leben des Sokrates, womit bewiesen werden soll, dass auch wirkliche Begebenheiten als Fabel verwendet werden können. Die Zürcher nehmen das Beispiel auf und ergänzen diese Begebenheit mit dem Verweis auf das Original aus Platons Phae-
161 Vgl. ebd., S. 27. 162 Spectator, Nr. 512, Oktober 1712.
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don (§ 10) im zwölften Discours. Hier wird die Lehre der sokratischen Methode thematisiert, womit wiederum dem Spectator, im Untertitel The English Socrates, die Referenz erwiesen wird. Schon Addison lobte die Vorzüge der „catechetical Method of Arguing“ in der Nr. 239 des Spectators. Ein Beispiel, dem die Zürcher in Theorie und Praxis folgen sollten. Auf Nr. 180 Bezug nehmend, wo bei Addison die Anwendung der Lehre einem verstockten Sünder Ludwig XIV. empfohlen wird, streift Bodmer im siebten Discours das Thema der Nutzlosigkeit des Krieges und der Kriegseroberungen, eine Problematik, der er sich mit einigen Fabelbeispielen in den Lessingischen unäsopischen Fabeln (1760) widmen wird (vgl. Kapitel 4.2). Eine Hinwendung zu vermehrt literaturkritischen Themen ist in den Neuen Critischen Briefen (1749) zu beobachten. Sich an Gottscheds Etablierung von Negativität orientierend, benutzte Bodmer die verletzende Kritik in der Konkurrenzsituation des Dichterkriegs zugunsten des Autors, wie Martus unterstreicht. Die folgenden Generationen knüpften in ihren kritischen Reflexionen an die Argumentationsstränge von Gottsched und Bodmer an. Später nahm Friedrich Nicolai den Perspektivismus Bodmers in sein kritisches Konzept auf, der die Position des Autors stützte und den Kritiker an die Spitze der Diskurshierarchie hob. Auf den Zustand mannigfaltiger Standpunkte reagierte Lessing, indem er den Zuständigkeitsbereich des kritischen Perspektivismus sowohl produktions-, als auch werk- und rezeptionsästhetisch in seiner Reflexionspraxis einfing. Diese konzeptionellen Lösungen für die Bewältigung der Virtualität, Potentialität und Perspektivität von Kritik wurden schließlich von Wieland konsequent so weiter entwickelt, dass die kritische Kommunikation im Teutschen Merkur philologische Konturen erhielt.163 Gottsched hielt in der Critischen Dichtkunst die Gedankenfiguren von Autor und Kritiker noch so eng zusammen, dass die Verbindung zur rhetorischen Kultur bestehen blieb, doch gestand er dem Kritischen bereits viel Eigensinn zu, womit er den traditionellen Literaturkurs provozierend herausforderte. Dem korrelierenden Beobachtungsverhältnis des Wolffianischen Weltbildes und der Maxime aus der Leibniz’schen Theodizee, der „besten aller möglichen Welten“ folgend, demnach alles mit allem zusammenhing, war der Poet nicht ohne das Vor- oder Gegenbild anderer Poeten und Kritiker zu begreifen. Gottscheds vier Vorreden zur Critischen Dichtkunst umspannten seinen Wirkungsraum von 1729/30 bis 1751, deren innovative und später katalysierende Funktionen für seine Vorredentopik bestimmend wurden und im aufklärerischen Literaturdiskurs wichtige Etappen der Etablierung von Negativität in der ersten
163 Vgl. Martus: Werkpolitik. 2007, S. 114f.
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Hälfte des 18. Jahrhunderts markieren sollten. Bodmers kritischer Kommentar folgte in der Schrift mit dem barocken Titel: Herren Johann Christoph Gottscheds der Weltweish. U. Dichtk. öffentl. Seltsame Vorrede Zu seinem eigen Drey mahl wiederholten Versuche Einer Critisch. Dichtkunst für die Deutschen. Um weitere Ausbreitung willen absonderlich aufgeleget und mit gründlichen Anmerckungen über die Kunstmittel des Vorredners versehen von Wolfgang Erlenbach (1742). Gottsched denunzierte seine Gegner und entfaltete vor den Lesern einen narrativen Intrigenkosmos, der der Höflingswelt in Sachen Heimtücke in nichts nachstand. 1751 zelebrierte Gottsched narrativ „Grund und Anlass“ der Streitigkeiten in einer Musterfabel über falsche Kritik, wonach er sich Bodmers Zorn durch eine Kritik an dessen Verurteilung der Gelegenheitspoesie zuzog, und – ungeachtet der Gottsched’schen „Gründe“ – beschlossen hatte, die kritische Dichtkunst müsste ausgerottet werden“.164 Seinerseits deckte dann Bodmer die „geheimen Trieb=Federn“ einer Kritik in Gottscheds Critischen Beyträgen auf, demzufolge er den Unmut der Leipziger in seiner Wendung nach Dresden begründet sah und rückte in satirischer Absicht ein fingiertes Verteidigungsschreiben eines in den Critischen Beyträgen getadelten Tragödienschreibers ein, um Gottscheds Praxis der Regelpoetik zu diffamieren.165 Die Critische Dichtkunst bildete die Situation einer konstruierten Kommunikation ab, die, wie Martus erkannte, neben der Virtualisierung gleichsam an einer Verschleierung von Beobachtungsverhältnissen arbeitete.166 In der Critische Dichtkunst begann Gottsched die Bestimmung der Kritik mit deren Verteidigung, laut welcher der Kritiker mit einer Kritik rechnen musste, da Verdoppelungen und Vervielfältigungen zum kritischen Diskurs gehörten: Was hat man nun Ursache, vor einer solchen vernünftigen Critick einen Abscheu zu bezeugen, wenn man nur vor sich sicher ist, und nicht fürchten darf, selbst in ihre Untersuchung zu gerathen? Aber das ist es eben, was viele, die sich ins Bücherschreiben mischen, mit der grösten Unruhe besorgen. Der Zoilus, der Momus, oder die Critici sind die Gespenster, die Riesen, die Zauberer, wie Schafftsbury redet, vor welchen sie zittern und beben.167
Während Gottsched die neuen Kontinuitäten des typographischen Zeitalters herausstellte und mit seinen Tadlerinnen, hinter deren weiblichen Larve sich niemand anders als Gottsched mit seinen männlichen Kritikerkollegen Johann Georg Hamann, Johann Friedrich May, Lucas Geier, Ernst Wilhelm Frick und Gottlob Friedrich Wilhelm Juncker verbargen, eine Kritik forderte, die den Autoren 164 165 166 167
Gottsched: GCD II, S. 408f. Bodmer: Schreiben an die Critickverständige Gesellschaft Zürich, S. 15f., S. 73. Vgl. Martus: Werkpolitik. 2007, S. 129. Gottsched: GCD II, S. 396
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„Furcht und Zittern“ beibrachte, arbeitete Bodmer an der Herstellung einer mehrschichtigen Wahrnehmung. Sowohl die Vereinheitlichung als auch der auf Leibniz zurückgehende Perspektivismus waren in derselben medienhistorischen Wissensordnung der Gutenberg-Galaxis begründet. Laut Bodmers Votum für kritische Gewalt konnte dieses je nach Interesse von Seiten des Kunstrichters wie von Seiten der Autoren verwendet werden, um die eigene Person aufzuwerten. Analog zu Gottscheds philosophischer Kritik war im Rahmen von Bodmers Kritiktheorie das Medium der Komplexitätssteigerung eine neue Form der Sichtbarkeit, die auf Tiefsinn und Perspektivismus basierte.168 Dass die Probleme der Kritik bezeichnenderweise mit dem Legitimationsbedarf der Satire eng zusammenhängen, wurde im 18. Jahrhundert durch Christian Ludwig Liscow augenfällig, der für eine bestimmte Art der kritischen Einstellung nicht nur als Vorbild, sondern auch als Schreckbild diente und für die vernichtende Kritik einstand.169 Bodmer knüpfte an das krude Kritikmodell des Satirikers und Gottsched-Gegners an, wenn er diesem zum Schluss seiner Vorrede zu Breitingers Critischer Dichtkunst beistimmte: Übrigens ist ihm niemals in den Sinn gekommen, jemanden zu beleidigen; wenn es Sachen in seinem Werke giebt, welche einen oder den andern auf ihn verdriessen, so hat er keine Schuld daran, es ist nicht möglich Wercke von diesem Inhalt zu schreiben, ohne dass sich dieser oder jener dadurch verletzt finde; ja dieses ist vielmehr das Wahrzeichen der rechtschaffenen Critick, so wohl als der rechtschaffenen Philosophie.170
Die praktischen Konsequenzen von Bodmers Programm wurden an seiner MiltonApologie, einer Kritik der Kritik, deutlich. Mit den Reaktionen auf Bodmers Milton-Verteidigung des Paradise lost (1667) diversifizierte sich die kritische Landschaft endgültig. Wurde die Milton-Übersetzung Anfang der 1730er Jahre noch bemerkenswert liberal seitens Gottscheds rezipiert, so erschien 1740 eine Kritik zu Bodmers Milton-Verteidigung in den Critischen Beyträgen, deren Schärfe laut der Selbstlegitimation des Kritikers nur eine Reaktion auf den kritischen Ton der Schweizer war.171 Entgegen seiner Programmatik des vernünftigen Konsens blieb Bodmer ein Feind kritischer Relativität, auch wenn er nicht davon abließ, maßgeblich zur Verunsicherung des Urteils beizutragen und somit auf paradoxe Art und Weise, gewissermaßen in einem performativen Selbstwiderspruch, befangen blieb. Noch in den 1770er Jahren gab Bodmer nicht auf, die junge Poeten- und Theoretikerge168 169 170 171
Vgl. Martus: Werkpolitik. 2007, S. 146, S. 133. Vgl. ebd., S. 107. Bodmer: Vorrede zu Breitingers Critischen Dichtkunst, unpag. Vgl. Martus: Werkpolitik. 2007, S. 131.
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neration anzugreifen und plädierte in der Schweitzerischen Vorrede zum Archiv der schweitzerischen Kritik (1768) für einen objektiven Schönheitsbegriff.172 In der Vorrede zu Breitingers Critischen Dichtkunst, von der Geschmacksdebatte ausgehend, wandte sich Bodmer gegen Gottscheds Prinzip, keine lebenden Gegenwartsautoren zu kritisieren. Er unterstrich vielmehr die Notwendigkeit, die angefeindete Kritik zu verteidigen und den Geschmack der Leserschaft hinsichtlich kritischer Schriften zu schärfen. Wie konstruierte Bodmer sein Kritikverständnis und welchen Anlass gab er Autoren, sich vor kritischer Gewalt zu fürchten? Zunächst einmal erging es ihm wie Gottsched ein Jahrzehnt zuvor: Er musste die Kritik verteidigen und richtete sich erneut sowohl gegen Gottsched, also einen Kritiker, der für sich ja die Etablierung der Kritik in Anspruch nahm, als auch gegen furchtsame Autoren. An deren Stelle reklamierte er explizit die Initialfunktion für sich bzw. für die Discourse der Mahlern, worin ihn Gottsched, zumindest in der Vorrede zur ersten Auflage der Critischen Dichtkunst, unterstützte, was Bodmer wiederum anmerkte.173 Dessen Argumente waren dabei, ohne dass er das so deutlich markieren würde, wie jene seines Gegners, noch immer aus der Defensive heraus formuliert. Bemerkenswert ist, dass gerade Bodmers Bestimmung von Poesie und Kritik Anlass dazu gab, die Kritik erneut zu verteidigen.174 Demnach setzte Bodmer wie schon Gottsched das Misstrauen und die Einsicht in die prinzipielle Unvollkommenheit des Menschen voraus und somit in dessen Kritisierbarkeit. Parallel zur Ermächtigung des Kritikers gab Bodmer jedoch den Autoren Ratschläge, wie sie die kritische Instanz entmachten bzw. die Kritik zu ihrem Machtinstrument erheben könnten: Es schreibet nicht mehr, was Hände hat, wie Opitz von seinen Zeiten geklagt hat, sondern was Kopf und Hirn hat. Endlich wird durch die tiefsehende und freye Critick der Eifer nach Ruhm gewetzet, und die Leser überhaupt nach und nach eckler gemachet.175
Laut Bodmer müssten die Autoren die Kritik vorwegnehmen, da sie sich vor ihren Lesern fürchteten, und zwar, wie er später hinzufügte, nicht nur vor den „jetztlebenden“, sondern – was viel höhere Ansprüche stellte – auch vor den künftigen, die immer aufgeklärter und damit kritischer sein würden: „[…] je erleuchteter auch die künftigen Zeiten seyn werden, destomehr Criticos wird er antreffen,
172 Vgl. ebd., S. 147. 173 GCD II, S. 398; Johann Jakob Bodmer: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvoller Schriften, Zur Verbesserung des Urtheils und des Witzes in den Werken der Wohlredenheit und der Poesie. Zürich 1746, 2. St., S. 131f., S. 163, S. 171. Im Folgenden mit der Sigle (SCPS) abgekürzt. 174 Vgl. Martus: Werkpolitik. 2007, S. 150. 175 Bodmer: SCPS, 2. St., S. 134.
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und desto scharfsichtiger und ernsthafter werden solche seyn.“176 Die quasi philosophische Beschaffenheit und damit die Virtualität der Kritik, also die Suche nach den „Gründen“, bedingte nicht nur deren fürchterliche Genauigkeit, wie Bodmer an anderer Stelle der Vorrede erläuterte, sondern deren Berechenbarkeit. Nur durch die unauffällige und permanente „Beunruhigung“ durch Kritisierbarkeit ließe sich die auffällige „Beunruhigung“ vermeiden, die eine tatsächliche Kritik beim Poeten verursache.177 Die Aufgabe des Kritikers bestehe neben dem Hinweis auf Mängel ebenso auf dem Hervorstreichen von Lobenswertem. Wie schon bei Gottsched galt der Umkehrschluss, dass der Kritiker zwar mehr Fehler als der Normalleser sehen könne, aber eben auch mehr „Schönheiten“. Demnach versuchten sowohl Gottsched als auch Bodmer eine Balance zwischen positiven und negativen Momenten der Kritik zu finden, um neben der ausgestandenen „Furcht“ der Schreiberlinge, diesen auch Aufmunterung und Ansporn zu geben. Die komplizierte Einführung von Negativität in den literarischen Diskurs bildete mit der biographischen Entwicklung, Verbesserung, Stilfindung etc. eine Linie und gehörte in den Kontext der Innovation der Negationssemantik. Ferner erklärt sich die explizite Konfrontation von Kritikkultur und Repräsentationskultur aus dem Kontext der Debatte zum Verhältnis von „Höflichkeit“ und „Kritik“, wie Bodmer erläutert: Die Höflichkeit besteht in der Mässigung der Affecten und des Willens nach den Regeln oder Gewohnheiten des äusserlichen Wohlstands; und die Natur der Höflichkeit erfordert, dass man nicht auf Recht und Verdienst, sondern auf das Vergnügen dessen, den man nützlich gewinnen will, sehe. Die Critick hingegen muss ihre Absicht von dem äusserlichen Range, Ansehen und Credit, und andern dergleichen Vorzüge gäntzlich abkehren, sie muss nur auf das innerliche Vermögen des Geistes, Verstandes und Witzes sehen, und ihre Beurtheilung auf die Wahrheit gründen, Geist, Verstand und Witz aber sind nicht an einen gewissen Rang oder an gewisse Ämter in der Welt gebunden; sie werden nicht angeerbt, sie können nicht mit Geld erkauft, noch wie Titel und Ehrenstellen verliehen oder verpachtet werden.178
Aus dieser Perspektive konnte sich die Kritik von einer autoritären Kommunikationsstruktur befreien, insofern sie nicht auf Äußerlichkeiten, d. h. auf die Ausstellung von Macht, reagierte, sondern auf Innerlichkeiten. Gleichsam war die Kritik keine Bedingung für einen herrschaftsfreien Diskurs.179
176 177 178 179
Ebd. Vgl. Martus: Werkpolitik. 2007, S. 151. Bodmer: SCPS, 6. St., S. 39f. Vgl. Martus: Werkpolitik. 2007, S. 156.
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2.5 Bodmers „Ferngläser“ und Lessings „Vergrößerungsgläser“ In Briefe, antiquarischen Inhalts, Resultat des Federkriegs, den Lessing gegen den Hallenser Professor Christian Adolph Klotz führte, ließ jener von der Höflichkeit ab und berief sich auf die antiken Dichter: „Die Alten kannten das Ding nicht, was wir Höflichkeit nennen. Ihre Urbanität war von ihr eben so weit, als von der Grobheit entfernt.“180 An die Stelle des „schleichende[n], süße[n] Komplimentierton[s]“ seiner Kritik, bediente sich Lessing einer breiten Palette stilistischer Farben, die vom süßen Tadel, über den „satyrischen Stil“ bis zum beißenden Spott reichte. Die Höflichkeit ersetzte Lessing mit dem freimütigen Freigeist, auch bediente er sich keines Einheitsstils, sondern einer ganzen kunstrichterlichen Tonleiter im 57. Antiquarischen Brief, die maßgeblich die Tonalität der deutschen Literaturkritik mitbestimmen sollte: Wenn ich Kunstrichter wäre, wenn ich mir getraute, das Kunstrichterschild aushängen zu können: so würde meine Tonleiter dies sein. Gelinde und schmeichelnd gegen den Anfänger; mit Bewunderung zweifelnd, mit Zweifel bewundernd gegen die Meister; abschreckend und positiv gegen die Stümper; höhnisch gegen den Prahler; und so bitter als möglich gegen den Cabalemacher. Der Kunstrichter, der gegen alle nur einen Ton hat, hätte besser gar keinen. Und besonders der, der gegen alle nur höflich ist, ist im Grunde gegen die er höflich sein könnte, grob.181
Lessings Streitschriften übergingen gängige rhetorische Muster und schossen stattdessen mittels der Satire, der Polemik, teilweise sogar mit einem gewissen Gestus der „Frechheit“ gegen die Gegner, einer „kalkulierten Regelverletzung“ – einem „Reiz-Element, das in der traditionellen Argumentations- und Stillehre keinen Platz hat und für das kein Begriff ausgeprägt wurde“.182 Astrid Urban führt aus, dass Lessing nicht um „ein objektivierendes Darstellungsverfahren“ bemüht war, „sondern, ganz im Gegenteil, auf seine sprachliche und kritische Individualität“183 setzte. Während Gottsched den Kritiker an die Hierarchiespitze stellte, wurde bei Bodmer in der Tradition der Erhabenheitsästhetik der Autor aufgewertet und der
180 Gotthold Ephraim Lessing: Briefe, antiquarischen Inhalts. In: Ders.: Werke. Bd. 5/2. Frankfurt am Main 2003, S. 351–618, hier S. 355f. 181 Ebd., S. 581. 182 Wolfram Mauser: Toleranz und Frechheit. Zur Strategie von Lessings Streitschriften. In: Lessing und die Toleranz. Hg. von P. Freimark. Detroit, München 1986, S. 276–290, hier S. 86. 183 Astrid Urban: Kunst der Kritik. Die Gattungsgeschichte der Rezension von der Spätaufklärung bis zur Romantik. Heidelberg 2004, S. 28.
Bodmers „Ferngläser“ und Lessings „Vergrößerungsgläser“
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Leser um „Behutsamkeit“ gebeten, was Martus als Abwertung versteht. Laut Bodmer müsse der Kritiker lernen, seine allgemeinen Kriterien, die sich hier wie gesagt nicht wirklich fundamental von denjenigen Gottscheds unterscheiden, mit dem Besonderen des Werkes zu verbinden. Mit diesen Fragestellungen über die Differenzierung der beiden Parteien im Literaturstreit und über die Ordnung von Autor und Kritiker bzw. Leser setzten sich die Zeitgenossen und die folgende Kritikergeneration auseinander.184 Philosophiegeschichtlich lag der Theorie vom „Gesichts-Punct“ Leibniz’ Möglichkeitstheorie zugrunde, wonach die Differenz zwischen Gott und dem Menschen – dem „petit dieu“ – darin bestand, dass die scheinbaren Unvollkommenheiten aus menschlicher Perspektive sich aus der göttlichen als Maßnahmen zur Vervollkommnung der Welt erwiesen. Zur Illustration zog Leibniz die „inventions de perspective“ heran, bei denen erst aus dem angemessenen „point de vue“ die Ordnung entstand.185 Bodmers Literaturkritik orientierte sich in doppelter Hinsicht neben Leibniz an der Kunsttheorie Christian Wolffs. 1743 verglich Bodmer in der Abhandlung In welcher der Begriff der Critik bestimmt wird die Betrachtung eines Hauses exemplarisch mit der Tätigkeit des Kritikers, was auf Christian Wolffs Architekturtheorie zurückzuführen ist. In Wolffs Anfangs-Gründen der Bau-Kunst als Teil der Anfangs-Gründe aller Mathematischen Wissenschaften wurde am Beispiel eines räumlichen Objekts die „Vollkommenheit“ als „Übereinstimmung“ eines Ganzen und dessen Teilen mit bestimmten „Absichten“ thematisiert. Neben dem subjektiven Empirismus wurde ebenso das „Augen-Maaß“ als relevante Größe und dessen Ungenauigkeit als Maßstab genannt.186 Aufgrund der Möglichkeit des Perspektivenwechsels des Sehens wurde Relativität möglich. Die Literaturkritik des frühen 18. Jahrhunderts, die einer Regelpoetik und einer Beurteilungspraxis folgte, wurde durch Bodmers Perspektivwechsel in seinem frühen der Kritik gewidmeten Text Schreiben eines Schweitzers an einen Franzosen von dem critischen Kriege der witzigen Köpfe in der Schweiz und in Sachsen in Bemühungen (1743) erweitert. Die beiden literaturkritischen Ausrichtungen der Leipziger und der Schweizer unterschieden sich nicht auf der Ebene der Programmatik, bspw. im Umgang mit dem Wahrscheinlichen und dem Möglichen, sondern hinsichtlich ihres Umgangs mit Kritik, der applicatio. Martus verweist auf die Verhältnisbestimmung von
184 Vgl. Martus: Werkpolitik, 2007, S. 157f. 185 Leibniz: Die Theodizee von der Güte Gottes, der Freiheit des Menschen und dem Ursprung des Übels, S. 458ff.; vgl. weiterhin zum „point de vue“ § 57; zur Monadologie ders.: Vernunftsprinzipien der Natur und der Gnade, S. 52f. 186 Vgl. Martus: Werkpolitik. 2007, S. 160.
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Kritiker, Autor und Leser, denn die Etablierung der Kritik in Leipzig als auch in Zürich kann „als Effekt ein und derselben Wissensordnung“ interpretiert werden. Es kann nicht bezweifelt werden, dass auch Gottsched darum bemüht war, die „Tiefen“ des Textes auszuloten, die „Schale“ zu knacken und zum „Kern“ der Sache vorzudringen. Die Wahrnehmungsverhalten bzw. eine je bestimmte Anwendung der kritischen Kriterien auf einen Text waren hingegen unterschiedlich motiviert. Bodmers kritischer Perspektivismus zielte im Sinne der aufklärerischen Hermeneutik auf die Absichten des Autors. Dagegen vermenschlichte Gottsched den Autor radikal mit der Begründung, dass aufgrund der unaufhebbaren menschlichen Unvollkommenheit alle menschlichen Werke kritisierbar waren. Entgegen der ebenfalls angeführten Fehlbarkeitsprämisse vergöttlichte Bodmer den Autor in durchaus rückwärtsgewandter Manier, indem das poetische Werk ähnlich der Offenbarung einer ‚vernünftigen‘ Kritik entzogen wurde. Somit wies Bodmers Theoriebildung und Kritikpraxis eine „restaurative Innovation“ auf.187 Die Schweizer Kritik stützte sich ferner auf eine Erweiterung des Naturbegriffs und damit auf die Nachahmung, wofür Stichworte wie das „Wunderbare“ oder das „Neue“ stehen. Mit diesen Akzentverschiebungen188 haben die Schweizer das Mögliche in ihre Überlegungen miteinbezogen, während Gottsched nur das sinnlich Wahrnehmbare berücksichtigte.189 Es darf nicht vergessen werden, dass Bodmer Wolffianer war und die Hauptsätze der frühaufklärerischen Argumentationsordnung, jener vom zureichenden Grund sowie jener vom Widerspruch, bei ihm zumindest theoretisch Grundlage der Kritik blieben.190 Bodmer begründete den Zentralsatz seiner Wirkungspoetik, dass nämlich die vorzügliche Aufgabe der Poesie darin bestünde, den Leser mit dem Aufruf, durchaus in Gottschedianischer Weise, zu affizieren, die Instrumente des kritischen Blicks, sowie Mikroskope und Teleskope, zu schärfen. Gleichsam wurden die Gottschedianer aber gescholten, denn diese verfügten gemäß Bodmer nicht über die richtigen Sehhilfen, weswegen ihnen der Blick in die ,Tiefen‘ des Milton’schen Textes verwehrt bliebe.
187 Reinhart Meyer: Restaurative Innovation. Theologische Tradition und poetische Freiheit in der Poetik Bodmers und Breitingers. In: Christa Bürger, Peter Bürger und Jochen Schulte-Sasse (Hg.): Aufklärung und literarische Öffentlichkeit. Frankfurt am Main 1980, S. 107–126. 188 Alt: Aufklärung, S. 80 189 Eva Maria de Voss: Die frühe Literaturkritik der Aufklärung. Untersuchungen zu ihrem Selbstverständnis und zu ihrer Funktion im bürgerlichen Emanzipationsprozess. o.O. 1975, S. 23. 190 Vgl. Bodmer: Kritische Betrachtungen über die poetischen Gemälde der Dichter.
Bodmers „Ferngläser“ und Lessings „Vergrößerungsgläser“
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Während Friedrich Nicolai „das Gottschedsche Prinzip der Spitzenleistung des Kritikers mit Bodmers kritischem Perspektivismus“ kombinierte, nahmen Lessings Rezensionen performativ die entsprechenden Reflexionsstufen der Kritik ein. Wieland orientierte sich nach der ,inneren‘ Kohärenz eines Gesamtwerks als Vorgabe für die Beurteilung des Einzelwerks, er schlug instruktive Lösungen vor und leitete somit nach Martus die kritischen Aporien in eine philologische Kommunikation über.191 Ferner sieht Martus Analogien zwischen Bodmers Programm eines kritischen Perspektivismus zugunsten des Autors und Lessings Kritikverständnis. Letzterer formulierte im Beschluß der Kritik über die Gefangenen des Plautus (1750), worin er sich abschließend generell zur Poetologie des Lustspiels äußerte und die „Absicht“, d. h. die moralische Wirkung, zum einzig legitimen Maßstab der Beurteilung erklärte, seine Detailverteidigung mit einem bemerkenswerten Bekenntnis – „Wie vieles läßt sich entschuldigen, wenn man es nur nicht immer auf der schlimmsten Seite ansieht.“192 – schloß. Während Bodmer der Autorperson alle Achtung zollte, war Lessing diesbezüglich weit unverfrorener und fast ungerecht, wenn er die produktiv-konstruktive Kritik oft durch die vernichtende ersetzte. Aber selbst im berühmtesten Beispiel, der Ausradierung Gottscheds aus der Theatergeschichte im 17. Literaturbrief, folgt Lessing allen Ungereimtheiten und eindeutig diffamierenden Behauptungen zum Trotz immerhin rudimentär den Maßgaben des Kausalitätsprinzips, indem er den Geschmack durch eine neue Kontextualisierung zum Nationalgeschmack erklärt und damit den Paradigmenwechsel vom französischen zum englischen Theater im Rahmen des aufklärerischen Argumentationstheaters begründet. Lessings frühe Schriften stehen in der Tradition von Gottscheds verhaltener Kritik und folgen Bodmers Perspektivismus zugunsten des Autors. Erst später formuliert er mit Nicolai die Maxime, ein unverdientes Lob sei jederzeit schlimmer als ein unverdienter Tadel.193 Darauf differenziert Lessing die Kritiktheorie von der Praxis: Was Bodmer noch als „Gesichts-Punct“ einführte und als „Absicht“ des Autors zu kontrollieren versuchte, was Gottsched als Vorurteil denunzierte und was Nicolai als Kontingenz des Perspektivismus unter dem Signum der „Parteilichkeit“ nur verdeckt anführte, benennt Lessing als Problem der applicatio, und zwar als Sonderproblem der Kritik, die Lessing hinsichtlich Herders Erstem Kritischen Wäldchen in seiner Laokoon-Vorrede thematisiert. Hier spielt Lessing mit dem Zustand des „Spiegel-
191 Vgl. Martus: Werkpolitik. 2007, S. 170. 192 Lessing: Werke. Bd. 3. Frankfurt am Main 2003, S. 502. 193 Vgl. Lessing: Hamburgische Dramaturgie. In: Ders.: Werke. Bd. 4. Frankfurt am Main 2003, S. 573.
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stadiums der Kritik“ im Prozess der ,Etablierung von Negativität‘, da er jenseits des rhetorischen Paradigmas einen Weg findet, ,Effekt‘ zu sein, wenn er schließlich die Reflexionsförmigkeit der Kritik auch noch durch eine Überarbeitung von Kritiken für die Sammelpublikation in der Fiktion spiegelt und somit eine kritische Potenzierung aufgrund diverser Perspektiven nicht nur als Prinzip der Urteilsbildung im einzelnen, sondern als Prinzip kritischer Kommunikation in ihrer Schriftlichkeit überhaupt herausstellt. Mittels Bodmers kritischer „Ferngläser“ oder mittels Lessings „Vergrößerungsgläser“ kann das Unsichtbare sichtbar werden, womit sich eine historisch spezifische Form der Aufmerksamkeit als Standard der kritischen Kommunikation etablieren konnte, die auf jene Pflicht der Höflichkeit verzichtete, an der Gottsched noch festgehalten hatte. Damit „in einer Situation der aufs höchste gereizten Aufmerksamkeit und der dadurch erzeugten Bedrohlichkeit durch kritische Gewalt Werkpolitik erfolgreich“ ausgeübt werden könne, müsse man laut Martus „zum Mitspieler werden und eine kritische Persönlichkeit ausbilden“.194 Während Gottsched den Kritiker an die Hierarchiespitze setzte, fuhr Bodmer in der Tradition der Erhabenheitsästhetik fort. Bodmer verteilte im Unterschied zu Gottsched die Gewichte zugunsten des Autors, aber auch bei ihm wurde die Willkürlichkeit dieser Entscheidung offensichtlich. Mehr noch als sein Leipziger Opponent war er dazu bereit, die Gewaltformen der kritischen Kommunikation zu akzeptieren, und die „Verletzung“ zur eigentlichen Signatur gelungener Kritik zu erklären. Wichtig für die kritische Kommunikation, die sich an ihn anschloss, war vor allem, dass Bodmer das Bildfeld der Perspektivität und der Innerlichkeit von „Gegenständen“ weiterentwickelte und damit den Zusammenhang des eingangs genannten Gegensatzes von Stabilität und Wandel einer Analyse zugänglich werden ließ: Das Werk wurde zu einem dreidimensionalen Gebilde mit Tiefenstrukturen, auf das ein Betrachter von verschiedenen Seiten aus seinen Blick werfen konnte, wofür dieser Zeit benötigte. Die Frage nach der richtigen Positionierung des Betrachters stellte für Bodmer kein eigentliches Problem dar, worin er sich an Gottsched annäherte.195 Die objektive Beurteilung besagte, dass der Kritiker sein Urteil frei, unbeeinflusst und ohne Rücksicht auf äußere Gegebenheiten zu fällen habe, was sich aus dem demokratischen Modell der Gelehrtenrepublik ableitete. Dies wurde von dem Theologen und Kantianer Johann Christoph Greiling in seiner Theorie der Recensionen (1797) als wohl erste und einzige Gattungsnorm dieser Art begründet, die
194 Martus: Werkpolitik. 2007, S. 200. 195 Vgl. ebd., S. 202.
Bodmers „Ferngläser“ und Lessings „Vergrößerungsgläser“
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Lessings Allgemeine Literatur-Zeitung als wichtigste Quelle für seine wissenschaftliche Kritik nach Kantischen Prinzipien anführte.196 Der aufklärerische Kritikbegriff wurzelte im ideellen Konstrukt der Gelehrtenrepublik, wofür die Kritik als Korrektiv der Vernunftausübung unerlässlich war. Richtungsweisend wurden darauf Kants Überlegungen zur Kritik, der auf die Modelle der Gelehrtenrepublik und des Gerichtshofs zurückgriff. Durch das Kantische Denken wurde Kritik als Verfahren des Vernunftgebrauchs bewusst objektiviert und radikalisiert, denn die urteilsbildenden Kriterien sind nicht von vornherein gegeben, sondern werden im Prozess des kritischen Denkens erst entwickelt.197 Die Literaturkritik in der Allgemeinen Literatur-Zeitung griff direkt in diese wissenschaftliche Diskussion ein und anstatt einer vormaligen Inhaltsangabe über aktuelle Publikationen „entwickelt sich die Rezension zum Schauplatz einer inhaltlichen Debatte, die ausgehend von den Zeitschriften die gelehrte Welt erfasst“.198 Friedrich Schlegels Athenaeum hat darauf die Darstellungsformen der Kritik ausgebaut, die, angefangen von Anzeige, Glosse und Kommentar über Aphorismus und Brief, auch die kunstvolle Parodie und zur romantischen Prosaform der Kritik gehörend, die Charakteristik, mitberücksichtigte. In der Frühromantik wurde dann jene Sekundärgattung wie die Rezension zur Primärgattung. Präsentieren sich heutige Buchrezensionen in den Feuilletons weitgehend uniform und weichen äußerst selten von tradierten Textmustern ab, so verwendete das 18. Jahrhundert für literarische Werkbesprechungen eine Vielzahl kritischer Ausdrucksweisen. Urban führt aus, wie „detaillierte Analyse, Urteilskompetenz und Formwille“ in den Rezensionen des späten 18. Jahrhunderts zu einer Synthese führten, die „aus der publizistischen Gebrauchsform eine Kunstform“ entstehen ließen.199 Neben wissenschaftlichen Textgattungen existierten publizistische und literarische Formen, die im Gefäß der Wochenschriften ihren Anfang nahmen: Neben
196 Johann Christoph Greiling: Einige vorläufige Gedanken zu einer Theorie der Recensionen. In: Philosophisches Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten. Bd. 6. Heft 6. Jena, Leipzig 1797, S. 119–149; in veränderter Fassung. In: Archiv für die Physiologie. Hg. von J.C. Reil. Bd. 3. Halle 1799, S. 349–385. Vgl. dazu Astrid Urban: Kunst der Kritik. Die Gattungsgeschichte der Rezension von der Spätaufklärung bis zur Romantik. Heidelberg 2004, S. 13–30. 197 Vgl. Art. ,Kritik‘ von H. Holzhey, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von J. Ritter und K. Gründer. Bd. 4. Basel, Stuttgart 1976, Sp. 1249–1282, hier Sp. 1270. 198 Vgl. Astrid Urban: Kunst der Kritik. Die Gattungsgeschichte der Rezension von der Spätaufklärung bis zur Romantik. Heidelberg 2004, S. 40. 199 Ebd., S. 237.
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Programm einer Zürcher Literaturkritik
Abhandlungen und Analysen entstanden darin Anzeigen, Kommentare, aber auch Briefe, Essays, Satiren und Parodien. Inwiefern sich Begriff und Geschichte der Literaturparodie und -satire des 18. Jahrhunderts, d. h. der poetisch ambitionierten Literaturkritik von zeitgenössischen Dichtungen seit dem 17. Jahrhundert im deutsch- und französisch- und englischsprachigen Raum entwickelten, ist im folgenden Kapitel zentral.
3 Parodie und Satire als dialogische Formen der Literaturkritik 3.1 Geschichte und Schreibformen der Literaturkritik seit dem 17. Jahrhundert Kritik greift auf Konzeptionen zurück, die Veränderungen favorisieren, die Entwicklung, Irrtum und Potentialität anerkennen und in denen daher die Infragestellung so wertvoll wird wie die Bestätigung, auf die eine Kultur der Repräsentation, der Präsenz und damit der Positivität fixiert ist. Schon Herbert Jaumann hinterfragt die Geschichte der Literaturkritik, und deckt den Kategorienwechsel der Kritik als gelehrte und soziale Praxis auf. Er untersucht den Ablösungsprozess und Modell-Wechsel von den alten literarisch-kulturellen Bezugskategorien der in antiken und biblischen Texten geltenden Hermeneutik und Textkritik zu neuen Medien und Institutionen, in deren Kontext sich die neuzeitliche Literaturkritik entfaltet und eigene Gattungen und Rollenmuster hervorbringt.200 Momus und Zoilus, die Personifikationen der Kritik und der Satire, waren seit der Antike ständige Begleiter der Dichter, allerdings mit wechselnden Maßstäben und Normenpaletten, so dass sich bei den um Neuerung und Originalität bemühten Autoren eine regelrechte Tradition von Abwehrgesten in Prologen, Epilogen und Zwischenreden ausbildete.201 Vorläufer der Literaturkritik waren bis 1700 Text- und Überlieferungskritik und allegorische Deutungsverfahren; Vorläufer des Literaturkritikers und Rezensenten war der Grammaticus, der in den Personifikationen von Zoilus und Momus fortwirkte. Deren Autoritäten verblassten im 18. Jahrhundert, und die Personifikationen verschwanden in dem Maße, wie die Kritik im Verlauf der ,GutenbergGalaxis‘202 (d. h. der Explosion an Medien, Gattungen und Vervielfältigungsmöglichkeiten von Gedrucktem) an Komplexität gewann. Aktualität und Periodizität
200 Herbert Jaumann: Critica. Untersuchungen zur Geschichte der Literaturkritik zwischen Quintilian und Thomasius. Leiden 1995. 201 Vgl. dazu Anthony Ashley Cooper Earl of Shaftesbury: Soliloquy or, advice to an author. London 1710. 202 Marshall McLuhan: The Gutenberg galaxy. The making of typographic man. London 1960. Deutsche Übersetzung: Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters. Düsseldorf 1968. Vgl. auch: Michael Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Frankfurt am Main 1998; Norbert W. Bolz: Am Ende der Gutenberg-Galaxis. München 1995; Rainer Höltschl: Gutenberg-Galaxis. In: Alexander Roesler, Bernd Stiegler (Hg.): Grundbegriffe der Medientheorie. Paderborn 2005, S. 77–81.
https://doi.org/10.1515/9783110487930-004
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erleichterten der Kritik das Geschäft und stellten neue Anforderungen an die Schriftsteller und ihr Kommunikationsverhalten. Den entscheidenden Umbruch sieht Martus darin, dass sich eine neue Form von medialer Sichtbarkeit durchsetzte, die sich von einer Repräsentationskultur löste. In dem von Kant schlagwortartig betitelten „Zeitalter der Kritik“203 verschob sich die Interaktion zur Distanzkommunikation, deren neue, fast unendlich scheinenden Möglichkeiten der Kritisierbarkeit als Problem wahrgenommen wurden, so dass die „Freyheit“204 der Kritik nicht mehr nur ein friedlicher Austausch aufgeklärter Gedanken meinte, sondern vielmehr jene potentiellen Möglichkeiten der kommunikativen Gewalt mit einschloss. So schien es nicht von ungefähr, wenn Gottscheds erfolgreiche Moralische Wochenschrift die Tadlerinnen vor allem „Furcht und Zittern“ verbreiteten und den Dichtern das Fürchten lernen wollte.205 Zwecks der neuen Möglichkeiten der Kritik sowie der Verschiebung von Bezugspunkten konnte sich diese neu dem „innern Werth einer Schrift“206 widmen und die alte „Buchstäbeley“, die lediglich die „Schale“ betrachtete, disqualifizieren. Der entscheidende Umbruch lag mithin, aus Perspektive der Eigenwahrnehmung, in der Etablierung einer neuen Form von Sichtbarkeit, die sich von einer Repräsentationskultur lossagte. Im 17. Jahrhundert bestimmte Julius Caesar Scaligers Regelpoetik207 im Buch fünf (Criticus) und sechs (Hypercriticus) die dichterische Praxis: Mit den Zentralkategorien „iudicium“ und „imitatio“ wurde im rhetorischen Kreislauf von Lesen und Schreiben eine normative Wendung der Negation ins Positive vollzogen, so dass ein Tadler als bloßer Tadler kaum mehr akzeptiert werden konnte. Versuchten die frühen Konzeptionen von Kommunikation Momente wie Irrtum, Vergänglichkeit oder Unsicherheit positiv zu werten, so lassen sich demgegenüber Verhaltenslehren vom späten 17. bis ins 19. Jahrhundert zugunsten ablehnenden Verhaltens feststellen, die sich an Konzeptionen der Gerichtsverhandlung, der höfischen Intrigenwelt und nicht zuletzt dem Krieg anlehnten. Später verdeutlicht die Form der Negation, wie in der literarischen Kommunikati-
203 Ihrem Selbstverständnis nach ist die Aufklärung das „Zeitalter der Kritik“, wie Immanuel Kant es 1781 als Zeuge einer Selbstkonstruktion der Epoche schlagwortartig formuliert. Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, A XI (Anm.). Zur Literaturkritik unter kantianischem Einfluss vgl. Astrid Urban: Kunst der Kritik. Heidelberg 2004. 204 Vgl. Georg Friedrich Meyer: Abbildung eines wahren Kunstrichters. Halle 1745. 205 Gottsched: GCD II, S. 106f. 206 Johann Jakob Bodmer: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvoller Schriften, Zur Verbesserung des Urtheils und des Witzes in den Werken der Wohlredenheit und der Poesie. Zürich 1746, S. 14. St. 35 f. Im Folgenden im Text mit der Sigle (SCPS) abgekürzt. 207 Julius Caesar Scaliger: Poetices libri septem. Sieben Bücher über die Dichtkunst. Hg. von Luc Deitz u. a. Stuttgart-Bad Cannstatt 1994–2011.
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on Kritisierbarkeit fortlaufend zunahm. Schriftsteller wurden dabei mit dem Problem konfrontiert, die bloße Negierung von Richtigkeit, Schönheit, Angemessenheit u.ä. auf Seiten der Kritiker als durchaus produktiven Beitrag zur literarischen und literaturkritischen Kommunikation anzuerkennen. Schließlich markierte Lessing mit seiner grundlegenden Aussage: „Der Rezensent braucht nicht besser zu machen, was er tadelt“208, eine Zäsur in der Kritikkultur, da er hiermit die in der frühen Neuzeit geltende Maxime an den Kritiker „Mach es besser!“ entwertete. Dieser radikale Paradigmenwechsel meinte nicht die Quantität kritischer Negativität, sondern die Einsicht, dass neuerdings die Negativität an sich schon als Qualität anzuerkennen war, ohne auf eine Verbesserungsmöglichkeit als positives Pendant verweisen zu müssen.209 Demgegenüber mussten sich in der Moderne Schriftsteller und Kritiker auf unbestimmte Negationen einstellen, wobei die Wandelbarkeit nicht einen Mangel signalisierte, sondern Modifikationsmöglichkeiten anbot. Somit wurde Negation allmählich als positives Moment verstanden, insofern als sie wiederum selbst negierbar blieb: Der Kritiker bezog Position, wissend, dass er sich exponierte und somit selbst für Kritik anfällig wurde.210 Martus hat die kritische Lage aufklärerischer Kommunikation des 17. und 18. Jahrhunderts anhand hofpolitischer, juristischer sowie kriegerischer Paradigmen analysiert. Denn der Hof galt schon in La Bruyères Charactères (1688) als Ort allseitiger Bedrohung und erschien, von Feindschaften und Intrigen genährt, als ein „Kriegsschauplatz“, auf dem das Maskenspiel vorherrschte: Der höfische Kosmos der Intrigen und versteckten Gewaltverhältnisse illustriert dabei die verschiedenen Formen von Unsicherheit. Überläufertum, Spionage, Camouflage und Partisanentaktiken gehören zum Standartprogramm des Dichterkriegs im 18. Jahrhundert. […] In der geheimen Kabinettspolitik des Dichterkriegs geht es ständig um die Funktion von Anonymität und um Techniken der Entlarvung (über Stilanalysen und Informanten), um Intrigen, die um mehrere Ecken gesponnen werden, um Spionagetaktiken, um die Bewertung von Gerüchten, um die Verrechnung von Feindschaften, um das Anzetteln von Rebellionen und um Strategien des Lobes.211
Dieser kriegerische Ansatz aus Les Caractères zeigt sich insbesondere im Kapitel La vie de la cour, das das Leben am Hof beschreibt:
208 Lessing: Der Rezensent braucht nicht besser zu machen, was er tadelt (1767–68). Breslau 1799. In: Ders.: Werke. Bd. 5. Hg. von Herbert G. Göpfert, Jörg Schönert. München 1973, S. 331– 333. 209 Vgl. Martus: Werkpolitik. 2007, S. 66. 210 Jaumann: Critica. 1995, S. 203ff. 211 Martus: Werkpolitik. 2007, S. 89.
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64 (IV) La vie de la Cour est un jeu sérieux, mélancholique, qui applique: il faut arranger ses pièces et ses batteries, avoir un dessein, le suivre, parer celui de son adversaire, hasarder quelquefois, et jouer de caprice; et après toutes ses rêveries et toutes ses mesures, on est échec, quelquefois mat; souvent avec des pions qu’on ménage bien, on va à dame, et l’on gagne la partie: le plus habile l’emporte, ou le plus heureux.212
La Bruyères Semantik des Schachspiels ist einer Kriegsmetaphorik verpflichtet, die ebenfalls im deutschsprachigen Kritikerbetrieb zum Einsatz kam, wenn bspw. Samuel König in seinem Brief vom 17. März 1742 an Bodmer schrieb: „[…] die Festung von Regeln ist gemacht, ihre Erbauer liegen auf den Mauern, sie zu beschützen, wer ist so kühn, sie anzugreifen, oder so stark, sie zu verstören“.213 Ebenso hatte die konzeptionelle Funktion des Krieges, der zum kulturellen Paradigma für die kritische Kultur avancierte, ihre Vorgeschichte: Auf den Dichterwettkampf nach den Regeln der imitatio-aemulatio-Lehre folgte eine Verschärfung im Bücherkrieg, wie ihn Jonathan Swift 1704 in seinem Battle of the books, zu Deutsch: Ausführlicher und wahrhaftiger Bericht über die Schlacht zwischen den alten und modernen Büchern, ausgefochten am vergangenen Freitag in der Königlichen Bibliothek, thematisierte.214 Im Zuge der Temporalisierung führte die Abwendung von der imitatio zum Kriege auf dem Parnass, d. h. zu einem „bürgerlichen Krieg in der gelehrten Welt“, wenn in der Querelle des Anciens et des Modernes um die Vorbildhaftigkeit der Antike und die eigengesetzliche Legitimität der Neuzeit gestritten wurde. Vor diesem Hintergrund diskutiert das 18. Jahrhundert zum einen das Problem der Schrift und die mit der Schrift verbundene Gewalt und zum anderen wie die Verzweigung von Abhängigkeitsverhältnissen mit dem Prozess der Modernisierung zusammenhängen.215
212 La Bruyère: Les Caractères. Éd. Antoine Adam. Préface de Marcel Jouhandeau. Paris 1975, S. 176. 213 In: Bodmer: Literarische Pamphlete. Zürich 1781, S. 51f. 214 Vgl. Achim Hölter: Die Bücherschlacht. Ein satirisches Konzept in der europäischen Literatur. Bielefeld 1995. 215 Vgl. Peter K. Kapitza: Ein bürgerlicher Krieg in der gelehrten Welt. Zur Geschichte der Querelle des Anciens et des Modernes in Deutschland. München 1981; Lucas Marco Gisi: Einbildungskraft und Mythologie. Die Verschränkung von Anthropologie und Geschichte im 18. Jahrhundert. Berlin 2007, S. 13–79; Marc Fumaroli: Le sablier renversé. Des Modernes aux Anciens. Paris 2013. Als Fallstudie zum Zusammenhang von Gewaltsteigerung und Kommunikationsverhältnissen vgl. Wilfried Barner: Autorität und Anmaßung. Über Lessings polemische Strategien, vornehmlich im antiquarischen Streit. In: Streitkultur. Strategien des Überzeugens im Werk Lessings. Hg. von Wolfram Mauser und Günter Sasse. Tübingen 1993, S. 15–37; Hans-Dietrich Dahnke: Wandlungen in Wesen und Funktion öffentlicher literarischer Debatten und Kontroversen
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Der Parteigänger Klotzens und Verfasser der Briefe über das Publikum (1768), Friedrich Justus Riedel (1742–1785), fürchtete die Ordnung des Literaturbetriebs von einer völligen Anarchie bedroht, in der es nur noch ums Ausrotten und Töten gehe und in der durch die „geheimen Verbindungen unserer Schriftsteller und Kunstrichter unter einander […] ein Krieg aller wider alle“216 im Gange war. Der Maßstab für die Literaturkritik wurde seit der Querelle des anciens et des modernes (1688) diskutiert. In den Belustigungen des Verstandes und des Witzes (1741) inszenierte der Gottsched-Schüler Johann Joachim Schwabe in parodistischer Manier an Swifts A Tale of a Tub. The Battle of the Books (1694) anlehnend, den Dichterkrieg satirisch, wenn er den ,Kriegsverursacher‘ Merbod alias J. J. Bodmer mit seinem ,Waffenträger‘ Relo alias Bodmers Neffe und Verleger Hans Conrad Orell mit Tinte, Druckerfarbe und Papier in den Krieg ziehen ließ. Dies erinnert daran, dass bereits von Anfang an der Buchdruck als ein militärisches Instrument wahrgenommen und als trojanisches Pferd umschrieben wurde.217 Laut Francis Bacons Novum Organum (1620) begründen die Erfindung von Buchdruck, Schießpulver und Kompass den Beginn einer neuen Zeitrechnung: „denn die Druckschrift als Medium der Distanzkommunikation erhöht die Unübersichtlichkeit ebenso wie die durch Schießpulver ermöglichte Fernwaffentechnik“.218 In den Briefen zur Beförderung der Humanität (1793–97) behandelte auch Johann Gottfried Herder die metaphorische Analogie zwischen Krieg und Wort, wenn er auf die Orientierungslosigkeit der Buchproduzenten und Rezipienten einging: „in Büchern spricht alles zu allem; niemand weiss, zu wem“ – und entsprechend unheroisch fallen die Angriffe der Kritiker aus, gezeichnet von „Hinterlist, Schimpf, niedrige[m] Gewerbe und Feigheit“.219
zwischen 1780 und 1810. In: Formen und Formgeschichte des Streitens. Der Literaturstreit. Hg. von Franz Josef Worstbrock, Helmut Koopmann. Tübingen 1986, S. 172–179. 216 Friedrich Justus Riedel: Briefe über das Publikum. Briefe über das Publikum. Hg. von Eckart Feldmeier. Wien 1973. 217 Vgl. Michael Gieseke: Der Buchdruck der frühen Neuzeit. Frankfurt am Main 1998, S. 168; zum Problem der Unkontrollierbarkeit ebd., S. 185ff. 218 „[…] die Buchdruckerkunst, das Schiesspulver und der Kompass. Diese drei haben […] die Gestalt und das Antlitz der Dinge auf der Erde verändert […], und es scheint, dass kein Wettstreich, keine Sekte, kein Gestirn eine grössere Wirkung und grösseren Einfluss auf die menschlichen Belange ausgeübt haben als diese mechanischen Dinge.“ In: Francis Bacon: Novum Organum (1620). Teilband 1. Hg. von Wolfgang Krohn. Lateinisch, Deutsch. Hamburg 1990, S. 271. 219 Johann Gottfried Herder: Briefe zur Beförderung der Humanität. In: Ders.: Werke. Bd. 7. Hg. von Hans Dietrich Irmscher. Frankfurt am Main 1991, S. 211.
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Die Eposdichter wappneten sich gegen den neuen Krieg, da neu unpersönliche Mächte, wie z. B. jene des Geldes, die Zeit der alten Helden ablösten.220 Dies entging Bodmer nicht, wenn er in seiner Kritik zu Miltons Paradise lost das Schießpulver mit Evas Apfel verglich.221 Ferner sah der neue literaturkritische Kriegsdiskurs von übergeordneten Standpunkten, z. B. dem des Philosophen oder Juristen ab und wurde von einem mehrschichtigen Perspektivismus abgelöst, der gerade durch die Gründung von Rezensionszeitschriften wie dem Journal des Savants oder Le Mercure galant und im deutschen Sprachraum den Acta eruditorum noch unterstützt wurde. In dieser von „List und Gewalt“222 geprägten Lage und in einer auf Distanz ausgetragenen Kritik entfalteten sich nun unzählige Positionen, die mit jeder neuen Position immer auch gegen eine andere Stellung bezogen. Sie folgten ganz der Devise der Geheimnisse der deutschen Kunstrichter (1771) von Johann Friedrich Schwarz: „Lob der eigenen, Kritik der anderen Parteigänger“.223 Laut Martus gewinnt das Kriegsmodell zu dieser Zeit zunehmend paradigmatische Qualitäten, da sich die Kommunikationsverhältnisse in der Rekonstruktion der Beteiligten zeitlich und räumlich derart vervielfältigten, so dass deren Unübersichtlichkeit sogar als Bedrohung wahrgenommen wurde. Die quantitative Expansion der Gutenberg-Galaxis führte zu einer qualitativen Veränderung der Kommunikationsverhältnisse oder zumindest zur Anerkennung der schon zuvor von außen feststellbaren Komplexität. Die Kritik sowie die oftmals folgende Kritik der Kritik favorisierten paradoxerweise das, was sie verhindern wollten: sie öffneten einen Raum der Möglichkeiten, indem Positionen und Negationen immer wieder aufs Neue befragt werden konnten. Hierdurch wurde eine potentiell wachsende und weniger kontrollierbare Meinungsvielfalt zur normalen Situation der Schreibenden, die von den Beteiligten gemäß dem mechanistischen Paradigma wahrgenommen wurde, was dem drittem Axiom von Aktion und Reaktion aus Newtons Philosophiae Naturalis Principia Mathematica (1687) entsprach. Mit den Möglichkeiten des Verstehens stiegen die Möglichkeiten des Missverstehens, d. h. mit den zunehmenden Möglichkeiten zur Negation von Negationen oder Positionen wurde die Negationssemantik von Grund auf verändert.
220 Friedrich II. König von Preußen: Betrachtungen über die militärischen Talente und den Charakter Karls XII. Königs von Schweden. Berlin 1936, S. 553. 221 Bodmer: Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie. Zürich 1740, S. 67f., S. 71. 222 Bodmer: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvoller Schriften. Zürich 1741ff., S. 4, S. 26, S. 28. 223 Martus: Werkpolitik. 2007, S. 84f.
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3.1.1 Die deutsche Rezeption der Querelle des Anciens et des Modernes In seinem Kapitel zu Rousseau und Schiller evoziert Georg Bollenbeck die für die Aufklärung wegbereitende Geschichtsvorstellung aus dem 17. Jahrhundert, die bereits als eine wertende Rückversicherung unterschiedlicher Vergangenheiten zu verstehen sei, wenn in der Gegenwart Möglichkeiten für eine bessere Zukunft formuliert werden: Schon in der Querelle des Anciens et des Modernes, also jener im späten 17. Jahrhundert ausbrechenden Auseinandersetzung über die Vorbildgeltung der griechisch-römischen Antike, bildet sich eine Fortschrittsidee, die trotz der Hindernisse wie Tradition, Vorurteil, Gewohnheit oder Aberglauben ein stetiges Anwachsen der Kenntnisse und Erfahrungen annimmt.224
Die Querelle des Anciens et des Modernes meint die Konfrontation zweier antithetischer Positionen im Zeitraum zwischen 1687 und 1715, in der sich das Bewusstsein für die Moderne abzuzeichnen begann. Das moderne zeitgenössische Zeitalter – das plötzlich mit der Antike als gleichwertig betrachtet wurde oder diese sogar übertraf – erfuhr eine Aufwertung. Zugleich wurde der Gegensatz zwischen Antike und Moderne nicht erst im 17. Jahrhundert erfunden, sondern knüpfte an jene historische Idee der Humanisten der Renaissance an: Gemäß der Zyklentheorie der Geschichte wurde die Antike nach der Dekadenz des Mittelalters in einem zweiten Zyklus der neuen Zeit wiedergeboren. In diesem Schema war die Referenz der Alten äußerst positiv und die Rezeption und die Übersetzung in verschiedene Nationalsprachen konstituierte einen eigentlichen Schaffungsprozess, der – zumindest außerhalb Italiens – der Entwicklung der Nationalkulturen diente. Indem die Alten nachgeahmt wurden, konnte jede Nation ein vergleichbares Niveau der Ehre erlangen. Man ging davon aus, dass die antiken Modelle in der humanistischen Ästhetik einen Punkt der Perfektion erreicht hatten, den die modernen Zivilisationen erst in der Zukunft erlangen würden.225 Es ist kein Zufall, dass sich die Diskussion zwischen den Vertretern der griechisch-römischen Antike, den Anciens und den Anhängern der
224 Georg Bollenbeck: Eine Geschichte der Kulturkritik. Von J.J. Rousseau bis G. Anders. München 2007, S. 22. 225 Für die Aufwertung der eigenen Epoche und der eigenen Sprache plädierten schon Benedetto Accolti: De praestantia virorum sui aevi dialogos (1460) und Sperone Speroni: Dialogo delle Lingue 1530. In direktem Bezug zu Sperone Speroni formuliert Joachim Du Bellay: Défence et Illustration de la langue française (1549). In Frankreich ist der Vergleich zwischen Alten und Modernen ein allgegenwärtiger Prozess seit Henri Etienne: Traité de la conformité du langage français avec le grec (1565). Später löst der Begriff der ,Parallèle‘ jenen der ,Conformité‘ ab. In
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Moderne, den Modernes, in dem Moment entflammte, wo niemand bezweifelte, dass die französische Literatur sowie die französische Zivilisation ihren Höhepunkt in der Klassik erreicht hatte, und es demnach unzureichend schien, Wissenschaft, Künste und Literatur mittels der Prinzipien der Nachahmung zu erklären, die antike Modelle versklavten. Am 27. Januar 1687 stellte Charles Perrault der Académie française seinen Text Le siècle de Louis le Grand vor, in dem er die zeitgenössische Epoche gleichermassen wie die französische Monarchie Ludwig XIV. lobte. Obschon diese Lesung von vielen anwesenden klassischen Autoren als Provokation empfunden wurde, manifestierten sich Form und Inhalt als Programm der Modernes. Ebenso waren Perraults Parallèles des Anciens et des Modernes (1688) richtunggebend, da sie eine moderne Sichtweise auf die Welt und die Geschichte eröffneten. Die Konsequenzen der Querelle lassen sich in zwei Strömungen der Aufklärung erkennen: Zum einen in der historischen Idee, der gemäß die Fortschrittstheorie ein brauchbares Schema für die Zukunft der Menschheit darstellte. Zum anderen wird in der Ästhetik und in der Poetik, nachdem das Dogma der Nachahmung der Alten verworfen wurde, die Idee der Perfektion im Absoluten thematisiert. Laut der zyklischen Geschichtstheorie der Humanisten der Renaissance und des 17. Jahrhunderts, die erstmals die Trias Antike, Mittelalter und Moderne verwendeten, wurde ein aufsteigendes Verständnis der Zeit entwickelt, das sich für Literatur und Kunst vielversprechend zeigte. Jedoch prophezeite dieses Schema die Dekadenz, welche in jedem Fall der Blütezeit folgen musste. In dem Moment, als die Franzosen glaubten, Frankreich sei an diesem Punkt angelangt, stellte sich die Frage nach einer möglichen Unvermeidbarkeit dieses drohenden Verfalls. Schien die Erweiterung des Bewusstseins nicht im Gegenteil einen unendlichen Fortschritt zu garantieren? An diesem Punkt bildeten sich zwei unterschiedliche Denkhaltungen heraus. Während die Anhänger der Anciens dem zyklischen Modell verhaftet blieben und von einem globalen Untergang sowie einer allgemeinen Korruption der Menschheit sprachen, so wehrten sich die Vertreter der Moderne gegen diese Theorie. In seiner Parallèle des Anciens et des Modernes formulierte Perrault eine Variante der Zyklentheorie, der gemäß die verschiedenen Länder unterschiedliche kulturelle Höhepunkte kannten und die modernen Zyklen die antiken überholen würden. Damit wurde eine sensible Progression skizziert, die in der Zivilisation der französischen Monarchie Ludwigs XIV. gipfeln und alle vorhergehenden
Anlehnung an Plutarch entstehen die „Parallèles de César et de Henri le Grand“ (1615) aus der Feder Anthoine de Bandoles.
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Epochen und Zivilisationen an Ruhm und Ehre übertreffen sollte.226 Die Grenzen dieses zyklischen Modells wurden schon von Perrault wahrgenommen, in dem er die kommende Dekadenz ankündigte, die er nicht mehr erleben würde: Je me réjoüis de voir nostre siecle parvenu en quelque sorte au sommet de la perfection. Et comme depuis quelques années le progrez marche d’un pas beaucoup plus lent, & paroist presque imperceptible, de mesme que les jours semblent ne croistre plus lorsqu’ils approchent du solstice; j’ay encore la joye de penser que vraisemblablement nous n’avons pas beaucoup de choses à envier à ceux qui viendront aprés nous.227
Bedingt durch die Zyklentheorie wird die Beschwerde hinsichtlich der Dekadenz im 18. Jahrhundert zum Topos. Darauf lieferte die Querelle ein neues historisches Modell, nämlich die Theorie eines linearen Fortschritts, die erstmals Fontenelle in seiner Digression sur les Anciens et les Modernes (1688) formulierte. Darin widerlegte er die Position der Anciens, die von der erschöpften Natur sprachen, wenn er postulierte, dass der Mensch der Antike von Natur aus nicht besser und nicht schlechter sei als jener der aktuellen Zeit. Die konstante Zunahme der Kenntnisse garantiere einen kontinuierlichen Fortschritt. Indem Fontenelle ferner den traditionellen Vergleich zwischen der Evolution der Menschheit und der Entwicklung des Menschen in Frage stellte, überwandte er die alte Zyklentheorie. Obschon die Menschheit eine Kindheit, eine Adoleszenz und eine Männlichkeit durchlaufe, kenne sie kein Greisenalter: La comparaison […] des hommes de tous les siècles à un seul homme peut s’étendre sur toute notre question des Anciens & des Modernes. […] Cet homme-là n’aura point de vieillesse; il sera toujours également capable des choses auxquelles sa jeunesse était propre, et il le sera toujours de plus en plus […] C’est-à-dire, pour quitter l’allégorie, que les vues saines de tous les bons esprits qui se succéderont, s’ajouteront les unes aux autres.228
Im Gegensatz zu anderen Simplifizierungen der Fortschrittstheorie verzeichnete Fontenelle keinen kontinuierlichen Fortschritt in allen Bereichen. Aufgrund der Zunahme an Kenntnissen schien ihm die Philosophie das Richtmaß für seine Epoche zu sein. In Sur l’Histoire (1691–1699, gedruckt 1758) nuancierte er, dass sich neben der Zunahme von intellektuellen Kenntnissen oder, für ihn gleichbedeutend, der Abnahme von Fehlern, die menschliche Sensibilität sowie Sitten
226 Dubos und Voltaire werden Perraults Schema wieder aufnehmen. 227 Charles Perrault: Parallèle des Anciens et des Modernes en ce qui regarde les arts et les sciences. Nouvelle Edition augmentée de quelques Dialogues. Bd. 1. Paris 1693, S. 67 (1. Dialogue). 228 Bernard Le Bouyer de Fontenelle: Poésies pastorales. Avec un traité sur la nature de l’églogue, et une digression sur les Anciens et les Modernes (1688). Amsterdam 1701, S. 142ff.
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und Bräuche entwickelten, so dass hier erstmals mittels einer globalen Methode die Entwicklung von Wissenschaften und Künsten aus der notwendigen geschichtlichen Verkettung resultierte. Die Vertreter der Anciens, Boileau, Racine, La Fontaine, La Bruyère u. a. widersetzten sich jenem euphorischen Blick ihrer Gegner auf die Gegenwart. Die Querelle setzte sich im 18. Jahrhundert fort; auch hier blieben die Anciens immer noch dem Ideal der Einfachheit und der Integrität verbunden und hörten nicht auf, den ostentativen Prunk des Hofes und der Noblesse zu kritisieren. Im Bezug auf die Ästhetik verzeichnete die Querelle ein indirektes Resultat, beide Parteien anerkannten die normative klassische Ästhetik sowie die Relativität des Schönen (le beau relatif), was das Zeitalter der Aufklärung und die spätere Geniebewegung in Deutschland beeinflussen sollte. In Deutschland wurde die Querelle allein schon dadurch rezipiert, da die französische Sprache und Kultur die aristokratischen Eliten an vielen Höfen Deutschlands im 17. und 18. Jahrhundert als Beispiel eines gelebten Gallotropismus dominierte. So musste sich die deutsche Literatur als neues Modell der modernen Zeit nicht nur gegenüber der Antike, sondern auch gegenüber Frankreich definieren. Gottsched begrüßte Perraults Thesen und lehnte sich in seinem Regelwerk Versuch einer kritischen Dichtkunst 1730 an antiken Modellen an. Mit Winckelmanns Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in Malerei und Bildhauerkunst (1755) folgte die deutsche Kunst der Klassik und seinem von der Antike inspiriertem Ideal der „edlen Einfalt und der stillen Grösse“. Neben der Idealisierung der griechischen Kunst hoffte Preußen mit der Imitation von Ludwig XIV. der deutschen Kultur wieder zu einer Blütezeit zu verhelfen. In den Kritischen Wäldern (1768–1769) widersetzte sich dann Herder den Regeln der Klassik sowie der Idealisierung der Antike. In Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774) wurde der Plan des Fortschritts der Menschheit im Sinne der Modernes entworfen, wobei Herders Idee der Progression, durch signifikante Etappen markiert, keiner Linearität mehr folgte. Auch Kant definierte den Fortschritt als moralischen Anspruch, den er mit der Idee der Freiheit verband: Fortschritte, die die Metaphysik in Deutschland gemacht hat (1791) und Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1786). Ferner begriff auch Isaak Iselin die Geschichte als stufenabhängig aufsteigende, progressive Bewegung in Über die Geschichte im beständigen Fortschreiten zum Besseren (1798). Aufgrund der späten Rezeption der Querelle in Deutschland zum Ende des 18. Jahrhunderts wurde hier die Synthese zwischen den Fortschrittshoffnungen und einer positiven Interpretation der Antike versucht. So unterschied Schiller zwei große Epochen in der Universalgeschichte, die er einmal als naive und dann als sentimentalische Dichtung in seiner gleichnamigen Abhandlung (1795–1796) kennzeichnete. Obwohl er in der Querelle die Position der Modernen unterstützte,
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erkannte Schiller weder im Naturzustand der griechischen Antike noch in der sentimentalischen Kunst seiner Zeit sein Zukunftsideal. Vielmehr zielte die Menschheit im Ideal auf eine Synthese der beiden Zustände. Mit Schillers Geschichtsphilosophie, die reinen ästhetischen Kriterien gehorchte, antwortete die Weimarer Klassik auf die Französische Revolution (1789) und flüchtete sich vor der historischen Realität in die Autonomie der Kunst. Die Tendenz in der deutschen Rezeption der Querelle, die Natur mit der Kultur zu harmonisieren, manifestierte sich in der Interpretation von Rousseaus Kulturkritik, der die These vertrat, Wissenschaften und Künste hätten zur Verschärfung der sozialen Ungleichheit beigetragen. Herder, Kant und Fichte sahen keinen Widerspruch zwischen Rousseaus zentraler These und den Fortschrittstheorien. In der Prüfung der Rousseauschen Behauptungen über den Einfluss der Künste und Wissenschaften auf das Wohl der Menschheit, enthalten in Über die Bestimmung des Gelehrten (1794), lässt Fichte verlauten: Ihm ist Rückkehr Fortgang; ihm ist jener verlassene Naturstand das letzte Ziel, zu welchem die jetzt verdorbene und verbildete Menschheit endlich gelangen muss. Er thut demnach gerade das, was wir thun; er arbeitet, um die Menschheit nach seiner Art weiter zu bringen, und ihr Fortschreiten gegen ihr letztes höchstes Ziel zu befördern.229
Inwiefern die Satire, respektive das Satirische als Mittel der Streitkultur der Kritik dient, sei im Folgenden skizziert.
3.1.2 Satirische Mittel der Kritik In der berühmten Theorie über das Lachen verweist Henri Bergson auf dessen kulturkritische Korrektiv-Funktion, welche im schadenfrohen, demütigen Auslachen Unstimmigkeiten der Gesellschaft mit einem bitteren Beigeschmack signalisiere.230 Das Lachen – bei Horaz (I.4) noch Zeichen der Ablehnung – ist bei den bizarren Kunstwerken des 17. Jahrhunderts als Wirkung beabsichtigt. Gregorio Comanini spricht vom „scherzo“, dem „Witzigen“ der Bilder Archimboldis (auch „ridicolo“); Traiano Boccalini hebt die Allegorien seiner Ragguagli di Parnasso (1615) als „scherzi di favole“ ohne falsche Bescheidenheit hervor. Kunst und Lachen begegneten sich schon in der Literatur und der Malerei des 17. Jahrhun229 Johann Gottlieb Fichte: Prüfung der Rousseauschen Behauptungen über den Einfluss der Künste und Wissenschaften auf das Wohl der Menschheit. In: Ders.: Einige Vorlesungen über die Bestimmung der Gelehrten. Jena, Leipzig 1794, S. 103f. 230 Henri Bergson: Le rire. Essai sur la signification du comique. Paris 1993, S. 152f.
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derts immer wieder: Sei es, dass die Kunst als urbanes Spiel aufgefasst wurde, oder sei es, dass ein Kunstwerk die verschiedensten Ebenen der Wirklichkeit umfasste bzw. die verschiedensten Wirkungen im Zuschauer oder Leser bestenfalls in der Travestie und in der burlesken oder der satirischen Dichtung auslösen sollte. Das Lustmoment der „agudeza“ stehe dem Lachen nahe. Besonders die Verbindung der scherzhaften (grotesken, burlesken, spielenden) Darstellungsform mit einem ernsten Gehalt – „ridendo dicere verum“ – ist eine spezifische Form des 16. und 17. Jahrhunderts. Das Horaz’sche „utile cum dulci“ wird zum „utile cum ridiculo“. Der urbane Scherz und die Ironie, die das 16. Jahrhundert wiederentdeckt hatte und die von Erasmus bis zu Ariost und Cervantes souverän verwendet wurden, finden sich allerdings im 17. Jahrhundert nur noch ganz selten, da Ernst und Scherz nicht mehr in Harmonie zueinander gebracht werden können.231 Der „Witz“ des 17. Jahrhunderts zielt weniger auf Heiterkeit als auf das Lachen, dessen Zwillingsbruder nicht selten das Entsetzen ist. Jene charakteristische Doppelung ist für die Struktur der Parodie bezeichnend, die bereits von Gracián in El Criticon (1651) bedient wird. Die Allegorie ist eine Darstellungsform, deren Möglichkeiten schon in der Antike – besonders im Hellenismus – entdeckt worden sind, aber erst in der Spätantike und im Mittelalter häufige Verwendung gefunden haben. Die Anfänge der Allegorie liegen in der Homer- und Mythenhermeneutik des 6. Jahrhunderts v. Chr. Aus der Deutungsform entstand rasch die Darstellungsform; als solche ist sie von der griechischen Rhetorik entwickelt worden. Es bildeten sich im 16. Jahrhundert allegorische Bildersprachen von unterschiedlicher Herkunft heraus, deren Bedeutung mehr oder weniger festgelegt ist und die ebenso in der Malerei wie von der Dichtung bedient werden. Die beiden halbliterarischen Gattungen, die aus der Hieroglyphik entstehen, die Imprese und das Emblem, verbinden eine Sentenz – ital. „motto“, span. „mote“ – mit deren sinnbildlicher Darstellung – „figura“ oder „cifra“.232 Im 16. und 17. Jahrhundert sind die emblematischen Werke überaus zahlreich, die auf Alciato, den Begründer der Gattung zurückgehen, auf den sich Gracián bezieht. Den Epigrammen der Anthologia Graeca nahe stehend, beschrieb Alciati als figura meist eine Szene, deren Bedeutung dem Betrachter zunächst dunkel ist – eine Zusammenstellung von Dingen, die nicht zueinander zu gehören scheinen.
231 Vgl. Gerhard Schröder: Baltasar Graciáns Criticon. München 1966, S. 160f. 232 Vgl. ebd., S. 165.
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Ihr Reiz liegt in der Anspielung, dem Änigmatischen, der Überraschung, dem entlegenen Vergleich. Die Bildgrotesken des Hieronymos Bosch verstehen sich daneben als allegorische Satiren auf die verkehrte Welt des Menschen bzw. ihrer Laster. Ganz ähnlich wurde daneben in den allegorischen Bildern Pieter Bruegels die verkehrte menschliche Welt aus einer innerweltlichen Perspektive dargestellt. Das Wörtlich-Nehmen bildlicher Redewendungen ist eines der zeitlosen Mittel der Komik, hier ins Ernsthafte gewendet, dient es der Sprachkritik. Graciáns Criticon steht wohl als letztes bedeutendes Werk in der Tradition der mittelalterlichen Allegorie, während sich diese im Italien des 16. und 17. Jahrhunderts überwiegend der antiken Mythologie bedient. Gracián stellt seine Leser vor eine Fülle bizarrer Figuren, bspw. solche mit zwei Gesichtern. Daneben entstehen anthropomorphe Landschaften und Gebäude, die an die Bilder Bruegels, Boschs, Arcimboldos oder Bracellis erinnern. Diese Gleichzeitigkeit des sich Widersprechenden und die Bildinhärenz der Allegorese, die durch die Häufung der Bildlichkeit zutage tritt, zeichnen Graciáns ingeniöse Sprachspiele im Criticon aus; ein Text, der ferner für Bodmers Parodie- und Satiretechniken eine Referenz bildet.233
3.1.3 Herders allegorischer Dialog: Kritik und Satyre Über das sogenannte „Zeitalter der Kritik“ resümiert Johann Gottfried Herder rückblickend in seiner Zeitschrift Adrastea (1801–1803) und zeichnet ganz in der Tradition der Allegorie die Verwandtschaftsverhältnisse in einem allegorischen Dialog Kritik und Satyre nach. Neben einem Essay über das Epos und den Einfluss der englischen Homerübersetzer endet das Kapitel über die Bemühungen des vergangen Jahrhunderts in der Kritik in diesem allegorischen Dialog, der als eine korrigierende Überschreibung eines fingierten Totengesprächs zwischen Swift und Bentley initiiert war. Rückblickend wird ein Paradigmenwechsel beschrieben: Früher habe man unter Kritik verstanden, „Wissenschaft und Kunst, Schriften insbesondere älterer Zeiten und fremder Sprachen genau zu verstehen und zu beurtheilen; denn Kritik heißt Kunst der Beurtheilung.“234 Man beschäftigte sich mit Fragen, in welche Zeiten und zu welchem Verfasser ein Buch gehöre, ob es
233 Vgl. ebd., S. 184. 234 Johann Gottfried Herder: Kritik und Satyre. In: Ders.: Adrastea. Bd. 5. 1. Stück. Leipzig 1803, S. 21. Im Folgenden im Text mit der Sigle (HKS) abgekürzt.
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ganz und richtig zu uns gekommen sei; wie seine Schreibfehler zu verbessern seien, welche der Lesarten zu wählen sei oder welchen Wert das Buch habe?235 Hier wird die Satire als Schwester der Kritik, der „Richterin des Wahren, Guten und Schönen“236 vorgestellt, die kraft ihres Amtes versucht: „Thorheit zu verbessern, Laster zu bestrafen, jede verkehrte Denkart sowohl als Schreibart und Lebensweise dem öffentlichen Spott darzustellen und eben dadurch zu berichtigen, zu bessern.“237 Der Nähe von Kritik und Satire wird dann in einem Streitgespräch auf den Grund gegangen, wenn die Allegorie die Kritik fragt: Wer bürgt Dir, wer dem Publikum dafür, was du verkehrte Denkart, Thorheit, Unziehmenheit nennest, es auch sei? Wo hört das Laster auf, Thorheit zu seyn? Und wo wird die Thorheit Laster? Ueberdem Privatfehler öffentlich rügen, sie zur Schau stellen und verhöhnen – glaubst du, daß dies forme und beßre? Es reizt und bringt auf; Rache bewirkts, nicht Besserung. […] Meine Pfeile treffen und heilen; deine Streiche verwunden und heilen nie. Du verlachst; ich belehre und halte den guten Geschmack aufrecht. (HKS, S. 34f.)
In Herders allegorischem Dialog am Fuße des Berges der Wahrheit, auf dem die Kritik thront, sitzt die Satire, die ihre Geschichte erzählt. Als Kind sei sie ein „leichtsinniges, lustiges Mädchen“ gewesen, das alles Neue erst mal belacht habe – wie es auch die Affen oder die Kinder und „bisweilen vornehme Leute“ tun.238 Neben dem lachenden Affen zeichne sich die Satire durch die Gabe der Nachahmung aus, die Mensch, Affe und Spotvogel verbinde, ein Talent, das Aristoteles sogar „zum Principium aller Kunst und Dichtkunst“ erkor.239 Dass die Nachahmung zuweilen Züge einer „Charikatur“ annehmen könne, bestreiten beide. Die Satyre beschreibt sich selber weder als „die Boshafte“, für die sie oft gehalten werde, noch als „die Verständige“, deren Maske sie oft annehme. Vielmehr sei sie „Talent“, d. h. eine Art „Elasticität der Seele und des Körpers, die in der Schule des Verstandes und der Sittlichkeit erst ihre Anwendung“ gelernt habe. Darauf berichtet sie über ihren Ursprung: „Die Geschöpfe von denen ich leider den Namen trage, die Satyrs und Satyrisken, hatten diese elastischen Organe, und waren nach Art der Affen sehr lustig.“240 Ferner versteht sie sich als Generator der Gesellschaft, zu deren Schutz und Gesundheit sie das Spott- und Schimpfspiel begann, um Anmaßende, Freche, Narren oder verkappte Heuchler zu enttarnen:
235 236 237 238 239 240
Vgl. ebd. Ebd., S. 34. Vgl. ebd. Ebd., S. 36. Vgl. ebd. Ebd., S. 37.
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Der, dem die Ehre der Bemerkung wiederfährt, sitzt in der Mitte des Kreises, sein Gesicht bedeckt oder angenehm maskiert; ein Ziel der Witzespfeile des gesammten Cirkels. Oft muß Einer nach dem Andern an die Reihe; übelnehmen darf er keinen Spott; dieser ist die Freiheit des Festes. Ein Tadelspiel unter der Firma einer Gesellschaft war also mein erster Schauplatz, auf dem jeder Belachte über andre und wenn er wollte, auch über sich selbst mitlachen konnte; jeder Censirte war Mitcensor. (HKS, S. 38)
Daraufhin erinnert die Satyre an die Tradition der alten Komödie, wo das „satyrische Stück“, jeweils den „Heldenspielen“ folgte, um nicht zuletzt dem kühnsten Spott Raum zu geben. Und fährt fort, wie sie von ihrem „Vetter El Gusto“, dem Geschmack aufgenommen wurde, um von ihm zu lernen, „kleinere Fehler zu entdecken“.241 Diese Persiflage oder auch Ironie – wie es bei den Alten hieß – haben schon bei Horaz ihre Anwendung gefunden. Von der Komödie verschmäht, entgegnete diese ihr: „Die Zeit des satyrischen Dramas, der alten Komödie überhaupt sey vorüber, […] komische Darstellungen fordere unsere Kunst, nicht etwa blos satyrischen Witz, satyrische Grimassen und Streiche.“ Nicht nur von der komischen Epopee, sondern selbst vom Epigramm zurückgesetzt, lernte die Satyre „die böse Kunst – parodieren“. Demnach lobt die Kritik die Parodie: „Nun dann! So ganz böse ist diese Kunst nicht. Es gibt Parodieen, die auf die feinste, witzigste Art, meine Stelle, die Kritik vertreten.“242 In dem fingierten Gespräch über den Zusammenhang von Satire, Parodie und Kritik wird Swifts Werk einer beiläufigen wohlwollenden Kritik unterzogen, die Herder der Satyre in den Mund legt: Denn meistens, (du kannst es nicht läugnen) sind die Parodieen ein solcher Hohlspiegel, wie eben meines Swifts Werke. Seinen nahrhaften Engländern zu Gefallen zog er die Linien seiner Caricaturen so lang und queer; er machte seine Umrisse so ausführlich und mahlte sie in der eigensten Sprache der Thoren so aus, daß Blödsinnige einiger Ironieen, seine politen Gespräche z. B. für echte Wahrheit nahmen. Sein Mährchen von der Tonne brachte ihn daher um den Bischofshut; sein satyrisches Vorschlag das Christenthum abzuschaffen, so massiv er ausgeführt ist, brachte ihn, den strengsten Vertheidiger der hohen Kirche und den religösesten Mann in das Gerücht der Irreligiösität. So lohnen darstellende Parodieen, in denen er vielleicht der größeste Meister aller Zeiten war: denn überhaupt ist Ironie eine Würze für wenige Gaumen. (HKS, S. 42f.)
Die Satyre versucht sich von der Parodie zu emanzipieren, um „selbstbestehende Werke“ zu schaffen und entwickelt sich schließlich zur Ironie und stellt ihrem Vater, den Bruder der Kritik, den nüchternen Verstand, Sophron vor. Der Vater entschuldigt die Mutter, die Nymphe Euphrosyne, die die Erziehung der Tochter
241 Ebd., S. 39. 242 Ebd., S. 41f.
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vernachlässigt habe. Vielmehr solle sich die Kritik, um ihre Nichte kümmern, da diese ihr „dienen“ könne. Die Ironie müsse keiner Gattung angehören, sondern sei nur als „eine Art oder Figur“ auszumachen. Sich von den Ausschweifungen der Persiflage oder des Humors erholend und „dem Flitterspiel der Parodieen“ in den „Charicaturen“, der „Olla-Potrida“, den sogenannt „satyrische[n] Charaktere[n]“, stehe die Ironie neu im Dienste der Kritik, die gattungsübergreifend in der „Epopee, wie [in] dem Drama, der Erzählung und Fabel, selbst dem kleinen Sinngedicht [zu] unsichtbare[n] Wendungen oder Materie“ beiträgt (HKS, 45). Die Kritik nimmt die Nichte mit den ironischen Worten „Du bist also mein Ariel“ auf und diese beschreibt ihr neues Aufgabenfeld: „in der Conversation, im Gespräch, im Sermon, in der Erzählung, am liebsten im Roman“.243 Stellvertretend für den Literaturkritiker und Kunstrichter Herder wirbt die Ironie für dessen Favoriten: Meine größten Lieblinge, Sokrates und Lucian, Horaz und Galiani, Cervantes, Addison, Swift, Voltaire, Sterne zeigten sich in dieser Manier; wie viele müßte ich deren noch nennen, wenn ich Aller Namen nennen wollte! Meinen Jean Paul indeß vergesse ich nicht, in dem nebst seinem eigenen, Swifts, Fieldings und Sterne’s Geist mit einander ihre Wirthschaft treiben. (HKS, S. 46)
Und zum Schluss wird nochmals etymologisch dem Ursprung des Namens nachgegangen, der an den „Satyr oder an die Brockenschale (lanx satura)“ erinnere, ist mir fortan zuwider. Von der unsichtbaren und unsterblichen Mutter, der Nymphe Euphrosyne zur Kritik geleitet, mit der sie sich in Verwandtschaft glaubt, erhält die Ironie einen Köcher mit Pfeilen und Bogen, die Amor einst Diana stahl und diese in die „Kastalische Quell“ tauchte, so dass Treffsicherheit für kleine Wunden gewährleistet ist. Schließlich wird die Ironie von der Kritik im Chiasmus entlassen: „bemerke stets im Besonderen das Allgemeine; das Allgemeine führe stets auf das Besondere zurück.“ Die Ironie, deren Name von Knüpfen komme, kann „in Gestalten beiderlei Geschlechts als Iron und als Ironie“ erscheinen.244 Im 18. Jahrhundert bedienten sich die Philosophen und im Besonderen die Enzyklopädisten immer wieder der Ironie, um sich mittels simplen Spottes, des Pasquills oder der Persiflage bis hin zur bissig-sarkastischen Satire kritisch über die Gegebenheiten der Gesellschaft zu mokieren. Mit Persiflage ist schließlich eine geistreiche, nachahmende und oft auch kritische Verspottung eines Genres gemeint, die ähnlich wie die Satire Übertrei-
243 Ebd., S. 46. 244 Ebd., S. 48.
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bungen und Überzeichnungen anwendet. Dabei geht es in den Persiflagen weniger um eine inhaltliche und stilistische Transformation wie in den Parodien, sondern um eine geistreiche satirische Verzerrung von Inhalten, Themen oder Motiven, die oft als Werkzeug der Polemik in Streitgesprächen zum Tragen kommt.245 Dass diese philosophische Waffe im Zeitalter der Aufklärung eine derart wichtige Rolle spielte, ist durch die Säkularisierung und die Gewaltentrennung bedingt und hängt damit zusammen, dass Künste und Literatur gegenüber den moralischen Instanzen immer mehr an Autonomie gewannen. Wenn die Perser Usbeck und Rica in Montesquieus Lettres persanes (1721) sich mit einem distanziert-ironischen Blick kritisch über die französischen Institutionen äußerten, so übte Montesquieu eine allgemeine Kritik an den wesentlichen Gesellschaftsgrundlagen des Ancien Régime. Der relative Gehalt der europäischen Polizeistaaten wird ferner in Jonathan Swifts höchst erfolgreicher utopischen Gesellschaftssatire Gullivers Travels (1726) satirisch-kritisch gespiegelt. Die Ironie bezweckt eine Zerstörung und Demaskierung bestehender Zustände, ohne sich selbst auszuliefern oder konkrete Vorschläge zu formulieren, um dasjenige wieder aufzubauen, was gerade im Begriff ist, zerstört zu werden. Die ganze anarchische Macht der Ironie ist paradox, denn sie hinterfragt Allgemeinplätze, lehnt Autoritäten ab und fordert freie Meinungsäußerungen für jeden ein. Die Ironie findet vor allem Verwendung in Bildungsromanen, wie bspw. in Wielands Agathon (1766–1794), Goethes Wilhelm Meister (1776–1829) oder Voltaires Candide (1759) und L’Ingénu (1767). Im Theater äußert sich die Ironie in Situationen, der Ironie des Schicksals oder wenn Doppeldeutigkeiten vom Protagonisten ausgesprochen werden, welche einzig vom Zuschauer aufgrund der übertriebenen Umkehr der Norm verstanden werden. In jeder Hinsicht ist die Ironie, die einem Überraschungsprinzip folgt, immer auf die Mithilfe des Lesers angewiesen, der diese mittels seines kritischen Verstandes und Mitdenkens erfassen muss. Die Ironie berücksichtigt drei Instanzen: Das von einem Subjekt als ironisch reflektierte Objekt muss von einem Rezipienten als Ironie dekodiert werden, indem der eigentlich beabsichtigte Diskurs mit seinen Vorzeichen versehen und die literarische Illusion durchlöchert wird. In Anlehnung an Delepierres Deutung der Parodie als Untergattung der Satire und im Sinne der Alten sieht Alfred Bernhard, sich auf Richelets Dictionnaire (1728) beziehend, von einer Trennung zwischen Parodie und Satire ab:
245 Vgl. zur Polemik Walther Dieckmann: Streiten über das Streiten. Normative Grundlagen polemischer Metakommunikation. Tübingen 2005.
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Schon in frühester Zeit hatte man in die ursprünglich komischen Parodien reichlich Satire vermengt, und geradezu Satire erwartet. Diesem satirischen Gehalte verdankte sie ihre grösste Beliebtheit. Solche Parodien, voll pikanter Spöttereien, soll besonders Euböus gegen die Athener geschrieben haben. […] Der Chap. déc., der in seiner Art schon im XVII. Jahrhundert zu den Seltenheiten gehörte, zeigt uns also, dass wir uns von einer zu engen Definition der Parodie hüten müssen.246
Die Parodie wie auch die Satire mit ihren verwandten Nebenformen sind Stilübungen, die sich mit bestehenden Texten auseinandersetzen. Als literatursemantische Form der Textualität und unter Berücksichtigung der Rezeptionsästhetik, d. h. einer intertextualen Lektüre, begründen sie, in der Terminologie von Michael Riffaterres Syllepse, eine „Poetik der Abweichung“.247 Demnach funktioniert „der Text als ein literarisches Kunstwerk insofern […], als er einen anderen Text ergänzt“.248 Da jeder Text formale Spuren lege, fordere er zur intertextuellen Lektüre auf, weil er lexikalische, syntaktische oder semantische Brüche hinterlasse, die „als Deformation einer Norm oder als Unverträglichkeit in Bezug auf den Kontext“249 erst durch den Akt des Lesens bemerkt werden können. Wie diese „Poetik der Abweichung“ insbesondere im Bereich der Literaturkritik zum Tragen kommt, wird nun in der Folge unter Berücksichtigung aktueller Forschungspositionen zur „Papageienkrankheit mit Nebenwirkungen“, d. h. der Parodie und ihren literarischen Nebenformen in historischen Enzyklopädien zum Thema erhoben.
3.1.4 Die „Papageienkrankheit“ Parodie und ihre literarischen Nebenwirkungen Von der Vorstellung ausgehend, dass Leben sollte sich nicht wiederholen, wird das Lachen durch jene Wiederholungen hervorgerufen, die etwas Mechanisches, Marionettenhaftes und Objekthaftes haben, welche Henri Bergson in Le rire (1940) als einen Prozess der Parodie hervorhebt.250 Daneben beruht deren Komik oft auf dem Tonwechsel vom Erhabenen zum Familiären. Neben dieser Degradierung gilt die Übertreibung (Hyperbole) als transponierende, ein Lachen evozierende Form.251
246 Alfred Bernhard: Die Parodie „Le Chapelain décoiffé“. Naumburg 1910, S. 46. (Diss.) 247 Frauke Berndt, Lily Tonger-Erk: Typologien. In: Dies.: Intertextualität. Eine Einführung. Berlin 2013, S. 99–155, hier S. 101. 248 Michael Riffaterre: Syllepsis. In: Critical Inquiry 6/4 (1980), S. 625–638, hier S. 627. 249 Ders.: La trace de l’intertexte. In: La Pensée 215 (1990), S. 4–18, hier S. 5. 250 Henri Bergson: Le rire. Paris 71993, S. 26. 251 Ebd., S. 95.
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In seinen Ausführungen zur Romantheorie setzt Michail Bachtin den Begriff und die Funktion der Parodie in einen anthropologischen Zusammenhang und verbindet die Literaturtheorie mit einer Gesellschaftstheorie.252 Obwohl Bachtins Theorie des polyphonen, dialogischen Romans, der sich auf „die Mehrstimmigkeit innerhalb eines Textes“ und „nicht auf das Gespräch zwischen zwei Texten bzw. Autoren“253 bezieht und das Drama explizit ausklammert, ist diese mit den literaturkritischen Ambitionen der deutschen und französischen Theoretiker und Dramatiker des 18. Jahrhunderts vergleichbar, die ebenso eine Parodie als Mittel betrachteten, um sich mit dem Inhalt oder dem Stil einer Vorlage satirisch oder sogar ernsthaft auseinanderzusetzen. Julia Kristeva bezeichnet Bachtins ideologiekritischen Impuls als Instrument für die allgemeine Kulturkritik, da sein Modell die Beschreibung sozial- und ästhetikgeschichtlicher Zusammenhänge zwischen einer mehr oder weniger monologischen (Monarchie) oder dialogischen (Republik) Kultur mittels der parodistischen Verfremdungsstrategie ermöglicht. Die hauptsächliche Eigenschaft des literarischen Parodierens der Neuzeit sieht Bachtin neben einem subversiven, karnevalesken Impuls in der Herstellung eines „profanierenden und dekuvrierenden Doppelgängers“. Jenes berühmte Motiv, das in der Romantik und später auch im bürgerlich-realistischen Roman des 19. Jahrhunderts auftritt und ebenso in Bodmers poetischen Palimpsesten signifikant zum Vorschein kommt, deutet Bachtin als Verneinung und darauffolgende Erneuerung des Helden: „In jedem seiner Doppelgänger stirbt der Held (das heißt, er wird negiert), um sich zu erneuern (das heißt, um sich zu reinigen und über sich hinauszugehen).“254 Dass solche Doppelgänger bereits in Bodmers Parodien auftreten – und dementsprechend eine Verneinung und eine Erneuerung des parodierten Helden in unterschiedlichen Nivellierungen vom komischen Karnevalesken bis hin zu ernsthaften Lehrstücken in der Art eines Brecht’schen V-Effekts avant la lettre aufwei-
252 Vgl. Michail Bachtin: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Hg. von Alexander Kaempfe. München 1969, S. 66. Insbesondere hier: Grundzüge der Lachkultur, S. 32– 46; Der Karneval und die Karnevalisierung der Literatur, S. 47–60; vgl. Renate Lachmann: Dialogisches Denken und Rhetorik bei Michail Bachtin. In: Walter Erhart, Herbert Jaumann: Jahrhundertbücher. Große Theorien von Freud bis Luhmann. München 2000, S. 224–244. 253 Karin Hermann: Dialogizität und Intertextualität. Terminologische Fingerübungen im Hinblick auf die Zitatgedichte Ernst Meisters. In: Dies., Sandra Hübenthal (Hg.): Intertextualität. Perspektiven auf ein internationales Arbeitsfeld. Aachen 2007, S. 12–25, hier S. 17. 254 Bachtin: Literatur und Karneval. 1969, S. 55.
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sen, habe ich in meinen Aufsätzen zu Bodmers Lessingkritiken zu zeigen versucht.255 Beate Müllers Konzept der Komischen Intertextualität,256 das an den von Julia Kristeva entwickelten Allgemeinbegriff der Intertextualität257 und an Gérard Genettes fünfgliedriges Modell der Transtextualität in Palimpsestes: La littérature au second degré258 anknüpft, berücksichtigt bei der Parodieanalyse neben der Parodie auch die Parodievorlage. Die beiden wesentlichen Leitparadigmen in der parodistischen Kommunikation sind Intertextualität und Komik, die beide zur Verfremdung der Parodievorlage beitragen und Korrespondenzen und Differenzen zwischen Parodie und dem Parodierten extrapolieren.259 Schon Marion Steudel erkannte in ihrer Arbeit zur Literaturparodie Ovids, der Ars Amatoria, den Mangel einer einheitlichen Definition der literarischen Parodie und versuchte die Bestimmungsversuche in drei Merkmalen, nämlich der Nachahmung, der Veränderung und der komischen und kritischen Intention zu fassen.260 Damit knüpft sie an eine von Wolfram Ax entwickelte Methode: „Von einer literarischen Parodie spricht man in der Regel dann, wenn es sich um eine Nachahmung literarischer Vorlagen handelt, die in der Weise modifiziert ist, daß gegen das Original oder andere Ziele gerichtete Kontraste mit komischer, komisch-kritischer oder rein kritischer Intention entstehen.“261 Das Kriterium des Umfangs, d. h. einer Vers-, Passagen, Werk- oder Autorenparodie dient zur Unterscheidung der Unterarten der Parodie, wie dies nach Ulrich Broich und Gérard Genette auch Winfried Freund unternahm.262 Marion Steudel hebt ferner auch die Problematik des Begriffes der „adversativen Nachahmung“ bzw. einer adversativen Herabsetzung der Vorlage im Sinne des Philosophenspottes bei Homers Epen
255 Vgl. Katja Fries: Bodmers Lessingparodien als Literaturkritik. In: Lütteken, Mahlmann-Bauer (Hg.): Bodmer und Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung. Göttingen 2009, S. 429– 456; Bodmers Lessingkritik als Literaturparodie. In: Zürcher Taschenbuch 128 (2007), S. 512–525. 256 Beate Müller: Komische Intertextualität. Trier 1994. 257 Julia Kristeva: Semeiotikè. Recherches pour une sémanalyse. Paris 1969, S. 145 f. 258 Gérard Genette: Palimpsestes. Paris 1982, S. 8–12. Bei Genette gehört der Begriff der Intertextualität mit denjenigen der Paratextualität, der Metatextualität, der Architextualität und der Hypertextualität zu den fünf Unterkategorien seiner transtextuellen Beziehungen, die den inhaltlichen bzw. formalen Bezug zwischen den Texten beschreiben. 259 Vgl. auch Ulrich Broich: Formen der Intertextualität. In: Ulrich Broich und Manfred Pfister (Hg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Tübingen 1985, S. 31–47. 260 Vgl. Marion Steudel: Die Literaturparodie in Ovids Ars Amatoria. Hildesheim 1992, S. 21f. 261 Wolfram Ax: Die pseudovergilische Mücke – ein Beispiel römischer Literaturparodie? In: Philologus 128 (1984), S. 230–249, hier S. 236. Vgl. auch ders.: Dimons Gang in die Unterwelt. Ein Beitrag zur Geschichte der antiken Literaturparodie. In: Hermes 119 (1991), H. 2, S. 177–193. 262 Winfried Freund: Die literarische Parodie. Paris 1991, S. 27.
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hervor.263 Vielmehr müsse gefragt werden, ob aus dem Modifikationsprozess Kontraste, Inkongruenzen oder Spannungen zwischen Original und Nachahmung resultieren, die auf eine im weitesten Sinne als „adversativ“ zu bezeichnende, das Original herabsetzende Grundhaltung des Parodisten schließen lassen. Der Terminus „adversativ“ kann auf eine komische, komisch-kritische oder rein kritische Zielsetzung hindeuten.264 Genettes strukturalistisches Gliederungsschema zur Intertextualität in Palimpsestes (1982) bedient sich einer inzwischen etwas verstaubten und teilweise ungenauen Terminologie, was bspw. Isabelle Degauque in Les tragédies de Voltaire au miroir de leurs parodies dramatiques (2007) und Daniel Sangsue in La relation parodique (2007) kritisierten. Die Auseinandersetzung mit der Parodie oder der „Papageienkrankheit“ diente Genette als „Trittleiter für seine Literaturtheorie“, die den Begriff der Parodie aus der Poetik des Aristoteles entlehnt um sie mit seiner eigenen Typologie sechs verschiedener hypertextueller Verfahren zu verbinden, wie dies Frauke Berndt und Lily Tonger-Erk in ihrer prägnanten Einführung zur Intertextualität feststellen.265 Dass Genettes Ausführungen zur Parodie unzureichend seien, hat ferner auch Anni Montaut im Aufsatz „La parodie indéfinie et le discours de l’incroyance“ festgestellt. Genette klassifiziere die Parodie als Ergebnis einer Streichung (la rature) eines anderen Textes und somit als „Unfall“, als zweitrangig, was ebenso eine historisierte Dynamik impliziere, was nach Michel Deguy eine „harassante alternative de l’originalité et de l’imitation“ bezeichnet.266 Montaut erweitert das Parodieverständnis, wenn sie die Parodien als Texte untersucht, die nicht die Geschichte, sondern den Geschichtssinn negieren. Ferner ist nicht nur der Ursprung der Parodie von Interesse, sondern auch deren Originalität. Sich auf Henri Meschonnics Rhythmustheorie und Begriff der offenen „historicité“ berufend, verfügt nicht nur die Sprache, sondern auch die Parodie über einen körperlichen Charakter, wie es schon Wilhelm von Humboldt gemäß der Dialektik des Unbeendeten und Unbeendbaren formuliert hatte. Somit verfügt die Parodie über subtile Möglichkeiten die Frage des Ursprungs – ob Ei oder Huhn zuerst da gewesen seien – zu unterlaufen und sich als Kontingent unterschiedlichster Strömungen zu entfalten: „La parodie moderne en dispose
263 Marion Steudel: Die Literaturparodie in Ovids Ars Amatoria. Hildesheim 1992, S. 22. 264 Winfried Freund: Die literarische Parodie. Paris 1991, S. 14ff.; Wolfram Ax: Die pseudovergilische Mücke. 1984, S. 179. 265 Frauke Berndt, Lily Tonger-Erk: Intertextualität. Eine Einführung. Berlin 2013, S. 126. 266 Anni Montaut: La parodie indéfinie et le discours de l’incroyance. In: Clive Thomson, Alain Pagès (Hg.): Dire la parodie. Colloque de Cerisy. New York 1989.
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aussi en aménageant ses subtiles dispositifs de traversée des langues conjointes à la dénonciation de l’origine comme faux problème: L’OEUF.“267 Die deutsche Slavistin und Forscherin der Konstanzer Gruppe Poetik und Hermeneutik Renate Lachmann trägt entscheidend zur Profilierung der Begriffe von Dialogizität und Intertextualität bei. In ihren Studien zur Mnemotechnik untersucht sie Sinnkonstitutionen literarischer Texte im Hinblick auf ein kulturelles Gedächtnis. Sie schlägt vor, den Intertextualitätsbegriff in einer texttheoretischen, einer textdeskriptiven und einer literatur- und kulturkritischen Perspektive weiterzudenken.268 Mit der Dichotomie von Gedächtnis und Literatur wird eine „wechselseitige Durchdringung“269 beobachtet. In „metaphorischer Abhängigkeit“ bedienen sich Metaphern und Modelle des Gedächtnisses der Literatur als Bildspender sowie Modelle und Metaphern der Literatur (Intertextualität) dem kulturellen Gedächtnis dienen, womit die Intertextualität eine kultursemiotische Bedeutung erhält.270 Der Intertextualtiätsbegriff Lachmanns umfasst eine Sinnkonstituierung literarischer Texte als „Prozeß der Intertextualisierung“.271 Dieser wird dann zuerst von Wolf Schmid und Wolf-Dieter Stempel im Band Dialog der Texte, sodann von den Konstanzer Hermeneutik-Forschern Karl-Heinz Stierle und Rainer Warning im Band Das Gespräch (1984) zur Dialogizität weitergedacht.272 Dem grundsätzlichen Gedanken Lachmanns, dass das „Machen von Literatur […] in erster Linie Machen a u s Literatur“273 sei, kommt dem ursprünglich dialogischen Wesen der Parodie nahe. Denn diese bestehe nach Wido Hempel darin, „dass sie nur dort als solche wahrgenommen [werde], wo die Vorlage, gegen die sie sich abhebt, dem Publikum vertraut274 sei. Zu den literarischen Nebenformen 267 Ebd., S. 178. 268 Renate Lachmann: Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne. Frankfurt am Main 1990, S. 56f. 269 Ebd., S. 34. 270 Vgl. hierzu Berndt, Tonger-Erk: Intertextualität. 2013, S. 132–145, hier S. 133. 271 Lachmann: Gedächtnis und Literatur. 1990, S. 79; vgl. auch dies.: Ebenen des Intertextualitätsbegriffs. In: Karlheinz Stierle und Rainer Warning (Hg.): Das Gespräch. München 21996, S. 133–138; dies.: Intertextualität. In: Ulfert Ricklefs (Hg.): Fischer Lexikon Literatur. Bd. 2. Frankfurt am Main 1989, S. 794–809; dies.: Dialogisches Denken und Rhetorik bei Michail Bachtin. In: Walter Erhart, Herbert Jaumann (Hg.): Jahrhundertbücher. Große Theorien von Freud bis Luhmann. München 2000, S. 224–244. 272 Vgl. Wolf Schmid, Wolf-Dieter Stempel (Hg.): Dialog der Texte. Hamburger Kolloquium zur Intertextualität. Wien 1983; Karlheinz Stierle, Rainer Warning (Hg.): Das Gespräch. München 2 1996. 273 Lachmann: Gedächtnis und Literatur. 1990, S. 67. 274 Wido Hempel: Parodie, Travestie und Pastiche. Zur Geschichte von Wort und Sache. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 46 (1965), S. 150–176, hier S. 152.
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der Parodie gehören nach Theodor Verweyen und Gunther Wittings Typologie der Einfachen Formen der Intertextualität im Wesentlichen die Palinodie, die Contradictio, die Kontrafaktur, die Travestie und das Cento, deren Studie neben einer Zusammenstellung ihrer theoretischen Überlegungen und Einzeluntersuchungen ebenso einige Definitionsvorschläge vorstellt.275 Als Schreibweise bestimmt Friedrich-Wilhelm Hoffmann 1956 die Contradictio, „die in enger Anlehnung an Form und Wortmaterial einer Vorlage der dort vertretenen These explizit widerspricht“.276 Bei Zedler wird dieser aus der Juristensprache stammende Begriff mit „Widerrede, Widersprechung, Widerfechtung, Vereinigung, Widerspruch“ beschrieben. Ferner sei die Contradictio „eine Art der oppositorum, da nemlich ein solcher Widerspruch zwischen zweyen Begriffen“ bestehe, wobei „der eine affirmirt, der andere negirt“ werde.277 Die Kontrafaktur ist zunächst eine in der Musik, später aber auch in der Literatur übliche Verfahrensweise. Wie die Parodie übernimmt die Kontrafaktur charakteristische Merkmale der Vorlage, allerdings nicht, um diese herabzusetzen, sondern um ihr kommunikatives Potential und ihre Struktur für die Formulierung einer eigenen Botschaft zu nutzen.278 Demnach unterscheidet sich die Parodie von der Kontrafaktur in ihrer Funktion. Dient bei der Kontrafaktur die Adaption einer Vorlage der Vermittlung einer eigenständigen Botschaft, ist bei der Parodie die Vorlage zentral. Die Kontrafaktur, die dementsprechend in keinem kritischen Verhältnis zur Vorlage steht, kann ernst oder komisch ausfallen, wobei die satirische Kontrafaktur nicht die Vorlage, sondern textexterne Phänomene kritisiert.279 Der Begriff Pastiche wird für solche Texte verwendet, die auf ihren Imitationscharakter ausdrücklich hinweisen. Das Pastiche ist eine parodistische Nach-
275 Vgl. dazu Theodor Verweyen, Gunther Witting: Einfache Formen der Intertextualität. Theoretische Überlegungen und historische Untersuchungen. Paderborn 2010; Thomas Zabka: Parodie? Kontrafaktur? Travestie? Anlehnung? Zur Klassifikation und Interpretation von Metatexten unter Berücksichtigung ihrer mehrfachen Intertextualität. Überlegungen zu Gedichten von und nach Bertolt Brecht. In: DVjs 78 (2004), H. 2, S. 313–352. 276 Hoffmann: Die Palinodie als Gedichtform in der weltlichen Lyrik des 17. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Klärung des Begriffs „Palinodie“. 1956. Hier zitiert nach Seidel: Parodie in der Frühen Neuzeit. Überlegungen zu Verbreitung und Funktion eines intertextuellen Phänomens zwischen Humanismus und Aufklärung. 2003, S. 112–134, hier S. 114. 277 Art. ,Contradictio‘. In: Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon. Bd. 6. Halle, Leipzig 1733, Sp. 1143. 278 Vgl. Verweyen, Witting: Parodie, Kontrafaktur. In: Literaturlexikon. 1993. Bd. 14, S. 93–196, hier S. 194. Zur Kontrafaktur vgl. dies.: Die Kontrafaktur. Konstanz 1987. 279 Vgl. Seidel: Parodie in der Frühen Neuzeit. Überlegungen zu Verbreitung und Funktion eines intertextuellen Phänomens zwischen Humanismus und Aufklärung. 2003, S. 113.
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ahmung einer textuellen Vorlage ohne eine satirische oder komische Tendenz. Stattdessen verneigt sich das Pastiche respektvoll vor dem Original und nimmt demnach die Funktion einer ehrvollen Hommage ein, ähnlich wie in der Musik das Pasticcio. Die Vorlage wird nicht kritisch angegriffen, sondern in Anlehnung, d. h. „in der Art von“ oder „in der Machart von“ berücksichtigt. Der Begriff Pastiche stammt aus der italienischen Gastronomie und wanderte als Pasticcio (Pastete) in die Kunstgeschichte, wo er als Bezeichnung für Fälschungen eines Individual- oder Epochenstils ab der Blütezeit der italienischen RenaissanceMalerei aufkam, als die Nachfrage nach Originalen der großen Meister ständig zunahm. In der Literatur wird der Begriff ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert für eine Täuschung oder eine Imitation aufgefasst. Seitdem das Pastiche auch eine Nachahmung bezeichnen kann, die nicht als Original ausgegeben wird, sondern ihren Nachahmungscharakter ausdrücklich bekundet, berührt es die Bedeutungssphäre des Wortes Parodie. Parodie und Pastiche ist gemeinsam, dass sie ein literarisches Verfahren bzw. Erzeugnis bezeichnen, dessen ästhetische Wirkung auf dem Verhältnis zu einem Vorbild beruht. Die Parodie unterstreicht dabei die Gegensätzlichkeit, einen Gegengesang; sie beruht auf einer Abweichung zum Original, die auch stofflich-inhaltlicher Natur sein kann. Hingegen versucht das Pastiche eine größtmögliche Ähnlichkeit mit dem Vorbild und ist v. a. eine Stilimitation und unterscheidet sich in stofflicher Hinsicht.280 Das Pastiche ist eine raffinierte Form einer virtuosen Stilimitation, wie sie etwa noch Thomas Mann in Doktor Faustus (1949) oder in Der Erwählte (1951) anwandte. Schon Marcel Proust kopierte oder imitierte den Stil Flauberts oder jenen der Brüder Goncourt. Berühmt ist aus jüngerer Zeit Marcel Prousts Betonung der Emanzipation von der Nachahmung, der zu diesem Zweck bewusst vollbrachten Stilübungen des Pastiche, wenn er wohl nach seinen in Pastiches et Mélanges (1919) gesammelten Stilübungen hinsichtlich der „l’affaire Lemoine“ feststellt: Il faut […] faire un pastiche volontaire, pour pouvoir après cela, redevenir original, ne pas faire toute sa vie du pastiche involontaire. […] je ne saurais trop recommander aux écrivains la vertu purgative, exorcisante du pastiche.281
Bei Nachahmungen der Epen spricht man von den gattungsmäßig beschränkten Travestien; bekanntes und frühes Beispiel ist Vergils Aeneis, jenes Epos, das in der Art von Homers Epen der Odyssee und der Ilias entstand, das die Flucht des
280 Vgl. Wido Hempel: Parodie, Travestie und Pastiche. Zur Geschichte von Wort und Sache. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 46 (1965), S. 150–176, hier S. 174f. 281 Marcel Proust: Chroniques. Paris 1927, S. 204.
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Titelhelden aus dem brennenden Troja nach der Schlacht erzählt.282 In der Folge sind Lallis Eneide travestita (1634) als auch Scarrons Le Virgile travestie (1648) anzusehen. Wolfgang Karrer fasste Parodie, Travestie und Pastiche als Kommunikationsprozesse auf, die in der Literatur als „spezialisierte und vereinseitigte Verfahren der alltäglichen umgangssprachlichen Lebenspraxis von Kommunikatoren“ fungieren.283 Zur Festigung mündlicher und schriftlicher Kommunikationskompetenzen standen die Techniken der Parodierung seit der Antike und des Humanismus auf dem Lehrplan der Rhetorik. Parodie und Travestie waren im 17. und 18. Jahrhundert die literarischen Waffen im weiteren Rahmen des Streits von den „Alten“ und „Modernen“, die zum Werkzeug des Abbé Salliers und Nicolas Boileaus gehörten, die Hof und Kirche nahestanden. Im 18. Jahrhundert wurde die Auflösung klassizistischer Regelsysteme durch psychologische Ansätze vor allem von bürgerlichen Interessen getragen.284 Die Palinodie (griech. palinodia) bedeutet ein Widerruf und ist ein in der Antike entwickeltes dichterisches Verfahren, demnach der Inhalt eines bereits vorliegenden anderen Gedichts unter genauer Beibehaltung dessen formaler Merkmale in sein Gegenteil verkehrt wird. Eine besondere Unterfunktion der Parodie ist die Parabasis (griech. parekbasis), die in der Fachsprache jenen Augenblick in der griechischen Komödie beschreibt, in dem die Schauspieler abtreten und der Chor sich in der Regel mit kritischen Kommentaren zum Zeitgeschehen direkt an die Zuschauer wendet. Die sich hier an den Leser wendende Stimme des Erzählers und die berühmte Anrufe des Dichters an den Leser finden im Rahmen der Parabase ihren Ort, in der Unterbrechung der Parodie, dem Verfahren, das Giorgio Agamben in Anlehnung an Scaligers Ausführungen in der Poetik als „Zwischenwelt“ oder auch mit einem Rollentausch beschreibt, was räumlich mit „prabainei“ skizziert wird. Denn um mit dem Publikum sprechen zu können, verlässt der Chor seinen angestammten Platz und tritt auf das „logeion“, den Ort des Proszeniums. In der Geste der Parabase lässt wie einst der Chor auch später der Schauspieler die Maske fallen, Schauspieler und Zuschauer, Autor und Publikum tauschen für kurze Zeit die Rollen. Und in der Illusionsbrechung, der Brecht später zum VEffekt in seinem epischen und nicht aristotelischen Theater eine Renaissance beschert, lässt die Spannung zwischen Bühne und Wirklichkeit nach, und die
282 Zum Pastiche vgl. ferner Jan Erik Antonsen: ,Pasticcio, Pastiche‘. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. von Klaus Weimar u. a. Berlin 32003, Bd. 3, S. 34–36; Wolfgang Karrer: Parodie, Travestie, Pastiche. München 1977. 283 Vgl. Wolfgang Karrer: Parodie, Travestie und Pastiche. München 1977, S. 204. 284 Vgl. ebd., S. 180.
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Parodie erfährt ihre wohl einzige Auflösung. Die Parabase ist demnach eine Aufhebung – eine Überschreitung und eine Vollendung – der Parodie.285
3.2 Geschichte der Literaturparodie In seinem allgemeinen Überblick zur europäischen Parodiegeschichte, in dem das 18. Jahrhundert und jene wichtigen Ansätze französischer Zeitgenossen Bodmers zum Parodieverständnis gestreift werden, fragt Daniel Sangsue, ob die parodistische Schreibweise nicht deshalb so stark an Konjunktur gewonnen habe und sich im Laufe der Jahrhunderte schließlich zu einer Gattung entwickeln konnte, weil der Begriff seit der Antike so breit und unpräzis aufgefasst wurde und weil eine ähnliche Verwirrung über dessen Verwendung unter Verfassern sowie den Theoretikern der Parodie herrschte: Vor allem seit der Aufklärung wurde der Parodie in der Literaturgeschichtsschreibung Missgunst und Unverständnis entgegengebracht. Ferner wurde sie mit dem Pastiche, der Hommage, d. h. dem nachahmenden Verfahren eines Autors oder eines Korpus von Texten verschiedener Autoren, wie auch dem Plagiat gleichgesetzt.286 So wurden Parodisten im 18. Jahrhundert als Textdiebe und Parasiten denunziert und von der breiten Masse nicht ernst genommen, da sie der gängigen Entwicklung des Geniekults zuwider liefen und dem Verständnis von einzigartiger Literatur, d. h. dem Erschaffen von Originalwerken widersprachen. Demgegenüber galten Parodien schon im Zeitalter der Kritik und weit darüber hinaus als beinahe zwangsläufige Begleiterscheinungen herausragender Werke, deren Wertschätzung und Erfolg sie bezeugten, was auch Sangsue in seiner Poetik der Parodie unterstreicht: En fait, il faut bien voir que, jusqu’à une date récente, la parodie était un élément quasi obligé de la reconnaissance du succès des grandes œuvres. Loin de déprécier son objet, la transformation parodique contribuait au contraire à son éclat, comme une facette de sa consécration.287
An Bachtin anknüpfend, kann die Parodie über die Vorlage hinausgehen, Auslöser für Neues sein und andere Weltvorstellungen – bedingt durch kulturelle und gesellschaftliche Veränderungen – aufzeigen.
285 Vgl. Giorgio Agamben: Profanierungen. Frankfurt am Main 2005, S. 43f. 286 Daniel Sangsue: La relation parodique. Paris 2007; ders.: La parodie. Paris 1994. Zum Pastiche vgl. Jan Erik Antonsen: ,Pasticcio, Pastiche‘. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. von Klaus Weimar u. a. Bd. 3. Berlin 32003, S. 34–36. 287 Sangsue: La relation parodique. 2007, S. 108 f. (Hervorhebung des Autors.)
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Ces rythmes dépendent, bien entendu, des rapports qu’une société donnée entretient avec les catégories du sérieux, du comique, du ludique, etc. (en quoi les analyses de Bakhtine sont incontournables), mais aussi de la perception que cette société a de son histoire et des notions telles que la reproduction ou la répétition. Dans une idéologie de l’histoire cumulative, évolutive, la réécriture sera perçue comme la possibilité d’un renouvellement, tandis que dans une idée entropique de l’histoire (mythologie de l’âge d’or, valorisation des origines, etc.), elle aura tendance à être considérée comme une dégradation […]. C’est donc la reproductibilité des modèles et la valeur qu’on attache à leur répétition, à leur ‘reprise’ qui sont ici en jeu. Le choix de telle ou telle forme de réécriture ressortit ainsi autant au statut qu’une époque ou un individu confèrent à leurs modèles qu’à l’idée qu’ils se font de leur possibilité de les reconduire.288
Dass die Parodie zu denjenigen Formen gehörte, die seit je und bis heute einen kulturkritischen Zweck verfolgen, wird ferner auch von Ralf Konersmann betont.289 Daneben bemerkt er das Experimentieren der Mischformen von Ironie, Parodie und Karikatur, dank der die selbstkritische Kulturkritik eine fortwährende Überprüfung und Begrenzung ihrer selbst versuche, um somit den Raum der modernen Kultur zu bevölkern und lebendig zu halten. Ähnlich wie Jean Starobinskis Kritik-Begriff, die Bewegung von Aktion und Reaktion der Kritik im Begriff „en mouvement“ auffasst, so unterstreicht Ralf Konersmann, dass die Kritik vom absoluten Standpunkt, dem „Standpunkt der Erlösung“290 absehen müsse. Konzentriert sich die jüngere Tradition der Parodieforscher vorzugsweise auf die Analyse satirisch-polemischer Verfahren, welche die jeweilige Textvorlage ins Komische ziehen, wie es Theodor Verweyen und Gunther Witting291 definieren und sich darin auch an die ältere Arbeit zur Intertextualität von Ulrich Broich und Manfred Pfister292 anschließen, hat die ältere historische Literaturgeschichte die Parodie vor allem auch als imitierende Stilübung verstanden, die sich nicht notwendig gegen die Parodievorlage richten muss, was schon im Artikel zur
288 Ebd., S. 131. (Hervorhebung des Autors.) 289 Ralf Konersmann: Kulturkritik. Frankfurt am Main 2008, S. 14. 290 Ebd., S. 126. 291 Theodor Verweyen, Gunther Witting: ,Parodie‘. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. von Klaus Weimar u. a. Berlin 32003, Bd. 3, S. 23–27; dies.: Die Parodie in der neueren deutschen Literatur. Darmstadt 1979; dies.: Parodie, Palinodie, Kontradiktio, Kontrafaktur. Elementare Adaptionsformen im Rahmen der Intertextualitätsdiskussion. In: Dialogizität. Hg. von Renate Lachmann. München 1982, S. 202–236. 292 Vgl. Ulrich Broich und Manfred Pfister: Intertextualität. Tübingen 1985; Ulrich Broich: Intertextualität. In: Werner Fricke u. a. (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 2. Berlin, New York 2000, S. 175–179; Manfred Pfister: How Postmodern is Intertextuality? In: Heinrich F. Plett (Hg.): Intertextuality. Berlin 1994, S. 3–29. Ders.: Intertextualität. In: Dieter Borchmeyer u. a. (Hg.): Moderne Literatur in Grundbegriffen. Frankfurt am Main 1994, S. 215–218.
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Parodie in Johann Georg Sulzers Allgemeinen Theorie der schönen Künste enthalten ist. Die metafiktionale Schreibweise der Parodie wird in der Avantgarde im 19. Jahrhundert bspw. in Jules Laforgues Moralités légendaires bedient. Laforgues Parodien zeichnen sich nach Michele Hannosh durch das Gestaltungsmittel (refashion) der Modernisierung spezifisch mythologischer Texte, Legenden oder einer Textgruppe aus, die der Zeit angepasst, die literarische Bewegung der Avantgarde, die Décadence, mitbegründeten: In particular, he here identifies the controlling principle of the tales – introducing a modern spirit into established stories of literary tradition, a major device of parody. Indeed, the Moralités are parodies that freely modernize major stories of literary history, giving them new meaning according to the spirit, tastes, and characteristics of contemporary life. They take as their model a specific work, myth, legend, or group of works, and refashion it in accordance with the preoccupations of the time, particulary those that Laforgue associated with Decadence in the 1880’s sense, the avant-garde movement of which he felt himself a part.293
Ferner streicht Hannosh das kreative Potential von Laforgues Parodien heraus, da dank der Nähe zum Humor ein neuer Gattungscharakter hervortrete: Laforgue’s stories shed light on such issues as the nature of the parody’s target, the role of humor, the relation of the parody to the work parodied, the function of parody in the avantgarde, the relation between it and an aesthetic of originality and genius, the self-sufficiency of a form customarily considered dependent, and the reflexive action of the parody upon itself. Even more importantly, they bring to light features of the genre that have not previously been identified or formulated, such as the creative implications of parody, its self-critical aspects and its intelligibility in the absence of the original. They thus provide a solid basis for investigating the procedures of parody and for developing a theory sufficiently general and flexible to account for the diversity of its forms over time, but precise enough to have useful meaning in defining a single genre.294
Dank des Humors vollziehe die Parodie einen Brückenschlag zur Ästhetik, d. h. zu Originalität und Genialität. Demnach befreie der doppelte Akt der Selbstreflexivität und Selbstgenügsamkeit die Parodie vom Original, so dass die Parodie in ihrem kreativen Akt der Kunst wieder als eine eigene Gattung „in defining a single genre“ hervortrete.
293 Michele Hannosh: Parody and Decadence: Laforgue’s Moralités légendaires. Ohio 1989, S. 1. 294 Ebd., S. 2.
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3.2.1 Parodiepraxis in Frankreich Vor dem 17. Jahrhundert waren moderne Parodien auch in Frankreich sehr selten, erst der Kritiker und spätere Hofdichter François de Malherbe (1555–1628) bringt die Tradition zum Wiedererwecken mit seinem Stück Merveille des Merveilles, worauf der Satiriker Pierre Berthelot mit Les Soupirs amoureux (1664) antworten sollte.295 Richelets Dictionnaire (Amsterdam 1732) beschreibt die Parodie, sich auf Julius Cesar Scaligers Poetik (Buch I, Kapitel 42) beziehend, folgendermaßen: „Est igitur parodia rhapsodia inversa mutatis vocibus ad ridicula sensum retrahens“,296 woran Littré in seinem Dictionnaire de la langue française (1863–1877) anknüpft, wenn er in seiner Definition der Parodie an die Praxis der Rhapsoden erinnert. Die Rhapsoden sind kleine Gedichte, die den Versen Homers ähnelten aber mittels eines neuen und anderen Sinns die Neugierde des Publikums aufrechtzuhalten suchten: Ce sont des ouvrages en prose ou en vers, où l’on tourne en raillerie d’autres ouvrages, en se servant de leurs expressions et de leurs idées, dans un sens ridicule et malin. La Parodie est la fille de la Rapsodie, c’est à dire, quelle commence par les Grecs, à propos des Rapsodies d’Homère.* *Lorsque les Rapsodes chantaient les vers d’Iliade ou de l’Odyssée, et qu’ils trouvaient que ces récits ne remplissaient pas l’attente ou la curiosité des auditeurs, ils y mêlaient, pour les délasser, et par forme d’intermède, des petits poèmes composés des mêmes vers à peu près, qu’on avait récités, mais dont ils détournaient le sens, pour exprimer une autre chose, propre à divertir le public. C’est ce qu’ils appelaient parodier, de *** et ***, contre-chant.297
Trévoux’ Dictionnaire universel (1771) unterscheidet fünf Arten der Parodie. Diese nennen als Charakteristika die Veränderung eines Wortes im Vers (le changement d’un seul mot d’un vers), die Veränderung eines Buchstabens eines Wortes (le changement d’une seule lettre dans un mot), die Verwendung einiger bekannter Verse (l’application sans changement, mais maligne, de quelques vers connus), das Einsetzen einiger Verse, die dem Stil des Autors nachempfunden sind (des vers dans le goût et le style de l’auteur qu’on veut parodier) und schließlich ein
295 Vgl. Pierre Berthelot: Les Soupirs amoureux. Paris 1646; ders.: Le Cabinet satirique, ou recueil parfait des vers piquants et gaillards de ce temps. 2 Bde. Mont-Parnasse 1660. 296 Die Parodie ist demnach eine umgekehrte Rhapsodie, die durch eine veränderte Ausdrucksweise den Sinn ins Lächerliche zieht. 297 Zit. nach Octave Joseph Delepierre: Essai sur la parodie. La Parodie chez les grecs, chez les romains et chez les modernes. Londres 1868, S. 8, Anm. 1. Vgl. ferner zu Parodie und Pastiche die Zusammenstellung online: 1.7.2018 http://projects.chass.utoronto.ca/langueXIX/saint-gerand/ durham-saint-gerand.htm.
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Stück in Prosa oder gereimt, dessen Thema oder Inhalt mittels einiger Wechsel abgewandelt wird (enfin un morceau, prose ou vers, d’un auteur, qu’on détourne à un autre sujet et à un autre sens, au moyen de quelques changements), was in vielem an die in der Encyclopédie geäußerten Postulate des Abbé Salliers erinnert. Ferner handelt es sich bei Epenparodien Scarrons Virgile travesti (1652) und Louis Charles Fougeret de Monbrons Henriade Travestie en Vers Burlesques (1788) weniger um Parodien, sondern um Travestien.298 Wenn die gleichen Figuren aus den Epen in ihrer Rede im Sinne des niedrigen Stils (le stil bas) trivialisiert werden, geschieht dies im Sinne der Travestie und nicht der Parodie. In Anspielung auf Homers Ilias lässt Boileau in seinen Travestien Ratten und Frösche miteinander kämpfen und wie jene Krieger der Ilias agieren. Ferner parodiert die Frau des Perückenmachers in Boileaus Lutrin (1683) im pathetischen Ton des Epos von Didos Rede. Eine Verschiebung des Krieges der Götter in die Tierwelt sowie die Übernahme der Rede der Königin Dido durch eine Bürgersfrau ist typisch für die Parodie, die mit den unterschiedlichen Tonlagen verschiedener Gattungen spielt. Wenn die Inhalte der hohen Poesie, wie hier des Epos, in die Komödie abwandern, handelt es sich um eine Parodie. Obwohl Boileau ein unerbittlicher Feind Scarrons, Deaffoucys und deren Imitatoren war, konnte er es nicht lassen, Parodien zu schreiben, woraufhin auch seine Schriften parodiert wurden, was zu dieser Zeit schon üblich war.299 Dass Parodien immer auch als Zeugnisse eines Literaturstreits anzusehen sind, wird mit der berühmtesten Parodie Frankreichs des 17. Jahrhunderts, Le Chapelain décoiffé (1664), nachvollziehbar. Deren Autorschaft war lange Zeit unklar und wurde schließlich Boileau zugeschrieben. Obgleich Ton, Stil und Aufbau von Corneilles Cid gewahrt werden, treten neue Personen an die Stelle der entsprechenden Gestalten des Cid, deren Charaktere und Interessen sowie der Gegenstand der Auseinandersetzung unerheblich sind: So ereifern sich niedere Gestalten, die sich zum Schluss in die Haare fahren. Insbesondere ist jene Szene des Cassaigne berühmt, worin Rodrigues Monolog aus I.7 imitiert und parodiert wird. Alfred Bernhard erkennt in dieser Parodie, hier als „keine Parodie gewöhnlicher Art“ tituliert, nicht das zugrundeliegende Kunstwerk, Corneilles Cid, sondern betrachtet es vielmehr als eine „parodistisch geschürzte Satire auf Chapelain“, womit eine Personalsatire gemeint ist.300 Die Karikatur auf Persönlichkeiten der Zeit richtet sich hauptsächlich gegen Jean Chapelain (1595–1674), Hofmeister des Marquis de la Trousse, grand prévôt 298 Heinrich Schneeganz: Geschichte der grotesken Satire. Straßburg 1894, S. 36; Octave Delpierre: Essai sur la parodie. Londres 1868, S. 10. 299 Vgl. Octave Delpierre: Essai sur la parodie. Londres 1868, S. 94. 300 Alfred Bernhard: Die Parodie ,Chapelain décoiffé‘. Naumburg 1910, S. 43.
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de France und Verfasser des Prosaepos Pucelle (1656). Auf Drängen Richelieus kam es durch Chapelain zur Auflösung des zwanglosen literarischen Kreises bei Conrart und zur Gründung der Académie Française, ferner war er maßgeblich für Plan und Anlage des Dictionnaire de l’Académie française verantwortlich, worin jene klassizistischen Ideen der Vernunft und des Altertums zum Ideal erhoben werden.301 Zumal erinnert die Parodie anekdotisch an Chapelains Duellverweigerung von 1628, die aus damaliger Sicht wohl recht unmännlich und feige galt. Hingegen könnte dieses Verhalten heute im Gegenteil als unkonventionell und mutig angesehen werden. Daneben bildet die Streit-Szene des Cid (I.5) eine willkommene Folie für die damalige Auseinandersetzung um die Autorenpensionen. Im Auftrag Colberts verfasste Chapelain 1662 eine Mémoire de quelques gens de lettres, worin jene Kollegen Erwähnung fanden, die den König am lautesten rühmten, was wohl die Auszahlung der Pensionen mitbeeinflusst hatte. Chapelain selbst erhielt zum Dank für sein Epos vom Herzog de Longueville eine Pension, worüber sich sein Gegner Boileau erboste, der darüber ungehalten war, dass seiner Meinung nach völlig unwürdige Schriftsteller bedacht wurden.302 Im Stück tritt ferner der produktive Dichter Jean Pudget de la Serre (1595–1665) auf, dessen Prosatragödie Thomas Morus (1642) ein großer Erfolg war. Aufgrund von Chapelains Einfluss wurde de la Serre von der Liste gestrichen und erhielt keine Pension. Daraufhin trat der Hofprediger, Schüler und Anhänger Chapelains, Jacques Cassagne (1634–1679) auf, der Oden auf Henry le Grand au Roy sowie den Dauphin verfasste, weswegen er von Colbert verehrt wurde und dieser ihm 1664 eine Pension von 1500 Francs zukommen ließ. Dies erboste wiederum Boileau, der sich darüber in seiner Satire III ausließ und bekannte Zeitgenossen verhöhnte. In seiner Dissertation über Boileaus Cid-Parodie deutet Alfred Bernhard diese als „niedrige[n] Parallelgesang (parodia) zu einem erhabenen Werke mit Einführung neuer Personen“. Obschon die Parodie oft als „Verulkung“ des Erhabenen Verwendung fand, „darf diese Verwendung nicht zu dem Schlusse verleiten, als müsse sich die Parodie auf diese Rolle beschränken“.303 Noch in der Pariser Encyclopédie wird im Beitrag zur Parodie aus der Abhandlung des französischen Philologen und Bibliothekars des Königs, des Abbé Claude Sallier (1685–1761) zitiert, der die Parodie als ein nachahmendes imitatives Verfahren ohne notwendige satirische Spitze charakterisiert, woraus ich im Folgenden ausführlich zitiere, da diese Passage für das Verständnis von Bodmers 301 Gustave Lanson: Histoire de la Littérature française. Paris 1906, S. 391. 302 Vgl. Antonin Fabre: Les ennemis de Chapelain. Paris 1888, S. 115, S. 128, S. 294, S. 445, S. 489, S. 664. Zu Boileaus ironischem Lob in der IX. Satire, S. 209–216. 303 Alfred Bernhard: Die Parodie „Le Chapelain décoiffé“. Naumburg 1910, S. 45.
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kritischen und dichterischen Parodien wegweisend ist. Demnach kann sich die Parodie auf ganze Werke beziehen, auch können Abwandlungen einiger Ausdrücke der Vorlage zu einer neuen thematischen Ausrichtung führen, wobei sich die Adaption nicht unbedingt gegen die Vorlage wenden muss, sondern diese weiterdenken kann: Enfin, la derniere & la principale espece de parodie est un ouvrage en vers, composé sur une piece entiere, ou sur une partie considérable d’une piece de poésie connue, qu’on détourne à un autre sujet & à un autre sens par le changement de quelques expressions; c’est de cette espece de parodie que les anciens parlent le plus ordinairement; nous avons en ce genre des pieces qui ne le cedent point à celles des anciens. Henri Etienne qui florissoit vers la neuvieme olympiade, a été le premier inventeur de la parodie, & il nous donne Athenée pour son garant; mais M. l’abbé Sallier ne croit pas qu’on puisse lui attribuer l’invention de toutes les sortes de parodies. Hegémon de Thasos, île de la mer Egée, qui parut vers la quatrevingt-huitieme olympiade, lui paroît incontestablement l’auteur de la parodie dramatique qui étoit à-peu-près dans le goût de celles qu’on donne aujourd’hui sur nos théatres. Nous en avons un grand nombre & quelques-unes excellentes, entr’autres Agnes de Chaillot, parodie de la Tragédie de M. de la Mothe intitulée, Inès de Castro, & le mauvais ménage, parodie de la Marianne de M. de Voltaire. On peut sur nos parodies consulter les réflexions de M. Riccoboni sur la comédie. Les Latins à l’imitation des Grecs se sont aussi exercés à faire des parodies. On peut réduire toutes les especes de parodies à deux especes générales, l’une qu’on peut appeller parodie simple & narrative; l’autre parodie dramatique. Toutes deux doivent avoir pour but l’agréable & l’utile. Les regles de la parodie regardent le choix du sujet & la maniere de le traiter. Le sujet qu’on entreprend de parodier doit être un ouvrage connu, célebre, estimé; nul auteur n’a été autant parodié qu’Homere. Quant à la maniere de parodier, il faut que l’imitation soit fidelle, la plaisanterie bonne, vive & courte, & l’on y doit éviter l’esprit d’aigreur, la bassesse d’expression, & l’obscénité. Il est aisé de voir par cet extrait, que la parodie & le burlesque sont deux genres très-différens, & que le Virgile travesti de Scarron n’est rien moins qu’une parodie de l’Enéide. La bonne parodie est une plaisanterie fine, capable d’amuser & d’instruire les esprits les plus sensés & les plus polis; le burlesque est une boufonnerie misérable qui ne peut plaire qu’à la populace.304
In diesem Artikel wird auf die Schriften des Abbé Sallier eingegangen und dessen Parodiedefinition umrissen: Le sujet que l’on entreprend de parodier doit toujours être un ouvrage connu, célèbre, estimé. La critique d’une pièce médiocre ne peut jamais devenir intéressant, ni piquer la
304 Art. ,Parodie‘. In: Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers. Hg. von Denis Diderot und Jean Le Rond d’Alembert. Bd. 12. Paris 1765, S. 73 f. Vgl. auch Abbé Sallier: Discours sur l’origine et sur le caractère de la parodie. Histoire de l’Académie royale des Inscriptions et Belles Lettres. Bd. 7. o.O. 1733. Vgl. auch Mém. de l’acad. des Belles-Lettres. Bd. VII, S. 398ff.
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curiosité. Il faut que l’imitation soit fidèle, que les plaisanteries naissent du fond des choses, et paraissent s’être présentée d’elles-mêmes, sans avoir coûté aucune peine. Elles ne doivent être ni déplacées ni répandues sans ménagement. L’auteur d’une parodie doit éviter avec soin trois écueils bien dangereux: l’esprit d’aigreur, la bassesse de l’expression et de l’obscénité.305
Die Parodie und insbesondere die Dramenparodie ist als Schreibweise im 18. Jahrhundert vor allem in Frankreich sehr verbreitet. Gustave Lanson attestiert ihr 1895 eine nicht zu unterschätzende literaturkritische Wirkung: Cependant il était impossible que la critique et la satire ne devinssent pas l’assaisonnement ordinaire des parodies. Scarron n’avait pu travestir l’Enéide sans souligner les faiblesses de Virgile. Ainsi en arriva-t-il au théâtre, et plus l’œuvre parodiée eut de renom ou de valeur, plus aussi le parodiste fut homme d’esprit et de goût, comme était au Piron ou un Le Sage, plus naturellement, les bouffonneries prirent air et portée de censure littéraire.306
Houdar de la Motte spricht sich in seinem Discours à l’occasion de la tragédie d’Inès noch gegen die Praxis der Parodie aus, da diese seiner Meinung nach der dramatischen Produktion schade. Neben der Dramenparodie, die bspw. aus einer Inès de Castro eine Agnès de Chaillot werden lässt, findet sich die Parodie auch im Roman wie in dem des Abbé Desfontaines Nouveau Gulliver (1730) oder in Scarrons Le roman comique (1651/57), der das heroische Epos travestiert. Ab 1740 bis 1760 ist das Phänomen der Parodie auch im Märchen zu beobachten. Jean-Paul Sermain spricht hier von einer Erweiterung des kritischen Geistes innerhalb dieser Gattung, dessen Ironie zuweilen selbstzerstörerische Kräfte in extremis auslöse, wenn Galland die geographische und kulturelle Entfernung der Märchen Tausendundeine Nacht für den westlichen Leser als unüberbrückbar einschätzt und diese mittels der Ironie verkehrt wird.307 Auch Crébillon, La Morlière, Diderot, Rousseau (La reine fantasque) oder Duclos (Acajou et Zirphile) benutzen im Märchen selbstironische Erzählerkommentare, welche immer wieder die Erzählung unterbrechen, womit nicht zuletzt mit den Gattungsgrenzen gespielt wird.308 Die Märchenparodie hat kein besonderes Ziel, sie öffnet sich ab 1740 zum einen im Sinne der Libertinage und zum anderen im Phantastischen, was neben einer allgemeinen Desillusionierung zu einem neuen Verständnis des Wunderbaren beiträgt.309
305 Ebd. 306 Gustave Lanson: Méthodes de l’histoire littéraires. Hommes et livres (1895). Genf 1979, hier: La parodie dramatique au XVIIIe siècle, S. 261–293, bes. S. 266f. 307 Vgl. Jean-Paul Sermain: Le conte de fées. Du classicisme aux lumières. Paris 2005, S. 156f. 308 Vgl. ebd., S. 158. 309 Vgl. ebd., S. 159f.
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Das parodistische Märchen orientiert sich ferner an seinem kritischen Modell des Don Quichotte, wenn der Ritter mit dem traurigen Gesicht wörtlich genommen wird und andere Abenteuer erdichtet bekommt, wie in Cazottes Erzählung La Belle par accident (1742) oder auch in Wielands Roman Der Sieg der Natur über die Schwärmerei oder die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva (1764). Wielands Text wurde 1769 und 1770 mit dem unspektakulären Titel Le Nouveau Don Quichotte, Imité de l’allemand de M. Wieland ins Französische übersetzt. Wiederum unter neuem Titel Les Aventures merveilleuses de Don Silvio de Rosalva findet diese Adaptation 1786 in Band 36 vor dem Registerband Eingang in der Märchensammlung Cabinet des Fées. Jean-Paul Sermain erkennt in Wielands Don QuichotteDichtung zwei Parodiemodelle, die den Titelhelden Don Silvio, seine Glaubwürdigkeit infrage stellend, täuschen sollen. Das eine ist dem Subjekt des Don Quichotte konform: Don Silvio, héros de ce roman, est un jeune homme qui n’ayant lu que des contes de fées, a fini par croire à l’existence de ces être chimériques. Son imagination s’est échauffée; il se croit persécuté par une fée ennemie. Un portrait que le hasard fait trouver sur ses pas, est celui d’une princesse infortunée, objet, ainsi que lui, des persécutions et de la haine d’une fée, laide, vieille et maligne.310
Derweil bedient sich das andere im Sinne des Wunderbaren bei der Burlesque: „Un conte épisodique intitulé: le prince Birinbiquer, renferme tout ce que la féerie a enfanté de plus extravagant.“311 Furetière parodiert schließlich in seinem Roman Bourgois jene berühmte Szene aus Molières Bourgois Gentilhomme, in der Hausherr und Diener sich häufig wiederholen, was Effekte der Komik evoziert, wie dies noch Henry Bergson in seiner Theorie des Lachens, einer eingehenden Analyse der Komödien Molières, beschreibt. Die Parodie, die 1745 in Frankreich verboten war, erlebt ab 1752 ein Jahrzehnt des Wiederauflebens. Martine de Rougemont geht in ihrer Theatergeschichte auf die Praxis der Parodie ein und zeigt auf, dass Voltaires Parodisten sich die grundlegenden dramaturgischen Elemente wie Raum, Zeit, Intrige und Personen vornahmen, mit denen die prinzipiellen Kriterien der dramatischen Parodie übereinstimmen: C’est aussi du bas comique et toujours dans le sens de rire qui décape et dérange les conventions sociales que relèvent les centaines de parodies jouées sur toutes les scènes du
310 Zit. aus Wieland: Les Aventures merveilleuses de Don Silvio de Rosalva. Le Cabinet des fées. Bd. 34. Genève 1787, Avertissement. 311 Ebd.
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XVIIIe siècle. […] Cependant, le bas comique reste et restera quoi qu’on fasse un des répertoires les moins connus dans toutes les époques, parce que son texte ouvert à l’improvisation est instable, parce que son statut souvent infra-littéraire a freiné sa publication, parce qu’on a trop facilement perdu et détruit les manuscrits.312
In seinem allgemeinen Artikel zur Parodie zeigt sich Paul Aron sensibel hinsichtlich der Ambiguität der historischen Parodie, die als wichtiges Begleitprodukt herausragender und erfolgreicher Werke verstanden wird, da diese deren Ruhm noch vergrößern: Il faut insister sur l’ambivalence de la parodie. Parce qu’elle présuppose une connaissance et une reconnaissance des modèles initiaux, la parodie peut contribuer auprès d’un public averti, à valoriser ce dont elle s’inspire. […] Alors que certains fustigent la parodie, il faut pourtant souligner le fait qu’elle privilégie le plus souvent les œuvres à succès et consacre par là même la réussite de ces pièces au lieu de les dégrader dans l’esprit des spectateurs.313
Unter Berücksichtigung historischer Spielpläne der Comédie Italienne sowie jener vom König nicht protegierten Théâtres de la Foire, der Loge Foraine, versucht Isabelle Degauques Studie314 über 27 Dramenparodien zu 15 Tragödien Voltaires eine doppelte Rehabilitierung der Gattung. Auch wenn zu der Zeit jene Stücke der offiziellen Bühnen privilegiert und die Parodien als parasitäre und überflüssige Nebenprodukte deklassiert werden, ist die Metareflexion über die Entwicklungen des klassischen Theaters auffällig. Degauque zeigt auf, dass die Parodien auf Voltaires Tragödien, angefangen von Oedipe travesti, die sofort nach der Eröffnung der Comédie Italienne als erste Parodie zu Voltaires Œdipe im November 1718 gespielt wurde, bis zum Tancrède als sogenannte Begleitprodukte auszumachen sind, womit gleichsam alle großen Theatererfolge Voltaires abgedeckt sind. So sei es nicht verwunderlich, dass die neun restlichen Tragödien, die Voltaire nach Tancrède verfasste, alle große Misserfolge darstellten, da diese kein Nachspiel und keine Wertschätzung im Programm der Comédie Italienne oder von der Loge Foraine erhalten hätten. Neben dem Spiel der dramatischen Illusion sowie der Infragestellung der tragischen Beweggründe des Heldentodes entwarfen die Dramenparodien, eine äußerst populäre Gattung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, ständig neue Regeln und bildeten einen kritischen Gegenpol zu der klassischen Tragödie.315
312 Martine de Rougement: La vie théâtrale en France au XVIII. Paris 1988. Genf 1996, S. 27. 313 Paul Aron: ,Parodie‘. In: Le Dictionnaire du littéraire. Hg. von dems. u. a. Paris 22004, S. 20. 314 Isabelle Degauque: Les tragédies de Voltaire au miroir de leurs parodies dramatiques. D’„Œdipe“ (1718) à „Tancrède“ (1760). Paris, Genf 2007. 315 Paul Aron: „En outre, les parodistes jouent avec la donnée tragique de la mort qui leur est pourtant intrinsèquement étrangère: la critique dépasse alors le simple corpus des tragédies de
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Am Beispiel der Voltaire-Parodien zeigt Isabelle Degauque exemplarisch, wie die Dramenparodien Voltaires Karriere und Ruf als großen Dramaturgen des 18. Jahrhunderts maßgeblich mitverantworteten und sogar auch dessen persönlichen Mythos mitbegründet hätten: Accompagnant Voltaire tout au long de sa carrière de dramaturge, elles en soulignent le poids sur la scène française et l’intronise comme auteur majeur du XVIIIè siècle; bien plus, elles participent à la construction de sa mythologie personnelle, puisqu’elles relaient une certaine image de l’homme de théâtre qui finit par s’imposer et par être fixée pour la postérité.316
Dabei nutzten auch die Parodisten die Gesetzmässigkeit des Gerüchts mit Skandalcharakter oder negative Werbung, um die Theater zu füllen: […] les auteurs de parodies jouent sur la susceptibilité bien connu du dramaturge et savent qu’un succès de scandale ne pourra qu’hâter les foules à venir voir la dernière reprise parodique de telle ou telle tragédie voltairienne.317
Ferner dienten die Dramenparodien zu Voltaire dazu, die kreativen Kräfte der Erneuerung um das Theater des 18. Jahrhunderts zu revolutionieren, worin Degauque mit den russischen Formalisten übereinstimmt. Denn schon diese betonen den innovativen Faktor der Parodie, die den kanonischen Charakter literarischer Schulen, sich über Gattungen amüsierend, attackiert, die sich in sterilen Wiederholungen versteifen und nur geschlossen funktionieren. Degauques Studie entfaltet ferner ein Paradox: Die Parodisten, die nicht davor zurückschreckten, einen neuen Bezug zur Bühne zu entwickeln, outeten sich als gewissenhafte Wächter klassischer Normen und beäugten streng all jene reformträchtigen Veränderungen, die Voltaire an der tragischen Gattung vorzunehmen wünschte. Somit offenbart sich die Dramenparodie als überraschende Hüterin einer Theatertradition, die man noch nicht für veränderungswürdig glaubte.318 Inter-
Voltaire pour devenir critique générique, et donner lieu à la formulation des propres valeurs fondatrices de la parodie dramatique.“ In: Le Dictionnaire du littéraire. Hg. von dems. u. a. Paris 2004, S. 21. 316 Isabelle Degauque: Les tragédies de Voltaire au miroir de leurs parodies dramatiques: d’Œdipe (1718) à Tancrède (1760). Paris, Genève 2007, S. 431. 317 Ebd. 318 „L’étude des parodies dramatiques des tragédies de Voltaire aboutit par conséquent au paradoxe suivant: les parodistes, qui ne se départissent pas d’une certaine insolence et qui inventent eux-mêmes un nouveau rapport à la scène, se révèlent les gardiens vigilants des normes classiques à l’aune desquelles ils examinent les transformations que Voltaire fait subir au genre
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pretiert V. Belt Grannis die Praxis der Parodie des Lumières als Spiegel der geistigen Virulenz einer Epoche,319 so formuliert Degauque die These, dass dies vielmehr als ein Vorzeichen für das Verschwinden der Tragödie zu deuten ist. Demnach können die Dramenparodien als Indiz für eine Verlangsamung und sogar als ein Zeichen für den sich vollziehenden Abstieg der Tragödienreform gedeutet werden, die durch die Modelle der Klassik gelähmt erschienen: Les parodies dramatiques seraient-elles alors un indice de ralentissement du renouvellement de la scène tragique paralysée par les modèles du Grand Siècle? Seraient-elles à considérer comme le signe annonciateur du déclin en cours, sinon imminent, de ce genre en France?320
Voltaire zeigte bereits in seinen Tragödien die Grenzen des Dramaturgen auf, weswegen er zum beliebten Ziel der Parodisten wurde. Laut Degauque bezeugt die beachtliche Anzahl der Parodien den Höhepunkt einer Gattung vor ihrem Ende, wobei die Dramenparodie im 18. Jahrhundert über die Funktion der Antidote und des Anti-Theaters hinausging, was nicht zuletzt auf das Erbe des Théâtre de la Foire und des Théâtre Italien zurückgeht, was das Theater Marivaux’ stark beeinflussen sollte.321 Vermutlich waren dem Vielleser Bodmer jene Parodien vertraut, sofern sie aus dem Kreis der Enzyklopädisten stammten, da er sowohl mit der französischen Literatur sowie der Philosophie eines Montesquieu oder Rousseau vertraut war. Ferner schreibt sich die „Proliferation der Parodien“ in jenen erbitterten Theaterstreit ein, den sich zum Ende des 17. Jahrhunderts die Comédie Française mit den Italienern und den Wanderbühnen (Théâtres de la Foire) lieferten, mit dem ich mich nun eingehender befassen werde.
3.2.2 Zur Geschichte der Comédie Italienne A la Musique, à la Danse Les Nouveautés d’aujourd’hui Doivent leur succès, je pense
tragique. La parodie dramatique se révèlent en définitive la gardienne très surprenante d’une tradition qu’on ,attendait prête à désavouer‘.“ Ebd., S. 128. 319 „There was prelevant a spirit of irony, a tendency to let a keen intelligency play over the surface of things, to criticise lightly many ideas or forms of art previously held inviolate.“ In: Valeria Belt Grannis: Dramatic Parody in the Eighteenth Century France. New York 1931, S. 13. 320 Degauque: Les tragédies de Voltaire au miroir de leurs parodies dramatiques. D’Œdipe (1718) à Tancrède (1760). 2007, S. 128. 321 Vgl. Jacques Scherer: Théâtre et anti-théâtre au XVIIIe siècle. An inaugural lecture delivered before the University of Oxford on 13 February 1975. Oxford 1975, S. 17f.
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Tout Paris en parle ainsi, Un Menuet, un Vaudeville, Font passer une vétille. C’est ce qui soutient si bien Le Théâtre Italien Bailly
Die drei Bände Parodies du Nouveau Théâtre 1731 von Briasson in der Rue St. Jacques à la Science in Paris ediert, enthalten die gesungenen Melodien, Volkslieder, und Vaudevilles, beispielsweise des aus Avignon stammenden Komponisten Jean-Joseph Mouret (1682–1738). Mouret, der später auch unter dem Namen „Musicien des Grâces“ bekannt wurde, komponierte zuerst beim Maréchal de Noailles, später am Hof von Sceaux in den Diensten der Duchesse du Maine, wo er 1714 mit Bernier, Marchand und Colin de Blamont die Nuits de Sceaux schuf. Im gleichen Jahr wurde Mouret Kapellmeister und Komponist der Académie royale de Musique, übernahm 1717–1737 die Leitung des Théâtre Italien und wurde 1728 Direktor des Concert Spirituel. Mouret verlor ab 1734 an Ruhm und wurde langsam vom aufsteigenden Stern Jean-Philippe Rameau (1683–1764) abgelöst und starb schließlich verarmt und verwirrt 1738 in Charenton. Neben Opern, Balletten und Motetten schuf Mouret auch Werke für das Théâtre Italien. Auf seine Oper Pirithous reagierte die Truppe der Italiener mit Serdeau des théâtres sowie einer Parodie-tragicomédie. Unter den Parodien finden sich viele Vaudevilles, beispielsweise Le Cahos, das erste Werk dieser Gattung.322 Vor 1550, als noch eine gewisse Heterogenität innerhalb der karnevalesken Gattungen, bspw. mit der Farce, erlaubt war und die Zensur mittels der Parodie „qui par définition cherche la confrontation“323 unterlaufen werden konnte, gewannen die kulturellen Formen an Vielfalt, weil Bekanntes immer auch durch das andere herausgefordert und infrage gestellt wurde. Je nach Heterogenität der Theaterproduktionen variierten die kritischen Intentionen in den Parodien.324
322 Das Vaudeville ist ein Spottlied, eine Vorform des Chansons, bestehend aus einer bekannten Melodie, zu der laufend neue Texte gedichtet wurden. Nicolas Boileau beschrieb das Vaudeville als ein satirisches Lied, das von Mund zu Mund geht, eine Art französische Nationalgattung (Chant II, 1674). Ferner steht das Vaudeville für eine Theatergattung, dessen Ursprung im Pariser Jahrmarktstheater zu finden ist. 323 Manfred Schmelling: Métathéâtre et intertexte. Aspects du théâtre dans le théâtre. Paris 1982, S. 9. 324 „dans la France des Lumières, les intentions critiques des auteurs de parodies varient [...] en fonction de l’hétérogénéité de la production théâtrale“. In: Ebd., S. 28.
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Seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts haben die Italiener ohne Unterbruch in Frankreich Theater gespielt und die Bühnenkunst mitbestimmt, bis es dann 1697 zur Katastrophe kam. Die Italiener pflegten neben der Commedia dell’arte die Parodie und sie spielten, ohne etwaige Konsequenzen vorauszusehen, das Stück La Fausse Prude, eine Verhöhnung von Madame de Maintenon, der zweiten Gemahlin des Sonnenkönigs. Dies war eine kecke Unverfrorenheit, die zum Verbot und zur Ausweisung der Italiener führte.325 Mit der Ausweisung der Italiener, die darauf oft an den Bühnen der Provinz engagiert wurden, verschwand die Konkurrenz der Comédie Française sowie der Opéra. Diese Monopolisierung und ideologische Vereinheitlichung der Theaterkünste vollzog sich analog zur kirchlich-religiösen. Denn der Edit de Nantes, jene berühmte Toleranzschrift Heinrichs IV. vom 13. April 1589, erlaubte erstmals die öffentliche Religionsausübung der an Calvin und Beza orientierten Protestanten und wurde erstmals von Kardinal Richelieu 1629 zum Teil außer Kraft gesetzt. Richelieu fürchtete um die Einheit des absolutistischen Staates und widerrief das Edikt stellenweise im Frieden von Alès im Edit de Fontainebleau, was die erneute Verfolgung nicht nur der Protestanten, sondern auch der Reformer innerhalb der römisch-katholischen Kirche, der Jansenisten, zur Folge hatte. 1685 zog Louis XIV. nach; er annullierte die Toleranzschrift endgültig und sprach den französischen Protestanten alle religiösen und bürgerlichen Rechte wieder ab, worauf innerhalb weniger Monate Hunderttausende Hugenotten in die Niederlande, in die Schweiz und nach Preußen flohen, wo sie, mit Blick auf den gemeinen Nutzen sowie die wirtschaftliche Prosperität, willkommen waren. Es erscheint also nicht verwunderlich, dass neben diesem politischen Rückschritt die neuen strengen ästhetischen und ideologischen Ideen des Sonnenkönigs jegliche kritische Auseinandersetzung auf künstlerischer Ebene zu unterbinden suchten und somit Parodien auf der Bühne nicht duldeten. Es sei hier an die ernste Atmosphäre der letzten Jahre des Sonnenkönigs erinnert: Der Einfluss von Madame de Maintenons pietistischem und striktem Moralverständnis bedeutete erstmal das Ende des einst so fröhlichen und spontanen Lebens. Aber die Künstler ertrugen keine aufgezwungene Stille, schon vor dem Tod des Königs bildete sich mit Campra, Destouches und Colasse eine neue junge Generation von Komponisten, die, weniger klassisch und streng als jene von Lully, Couperin und der Diktatur Florentins, mit melodiösen leichtfüßigen Kom-
325 Vgl. Pierre Gobin: La susceptibilité du „parodie“: Fausses parodies et mystifications idéologiques. In: Dire la Parodie. Colloque de Cerisy. Hg. von Clive Thomson und Alain Pagès. New York 1989, S. 107–130, hier S. 114.
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positionen das Publikum zu unterhalten suchten. Nach ihren ersten Stücken begannen die Italiener wieder damit, auch Parodien aufzuführen, womit sie ganz den Wünschen des Publikums entsprachen. Im Discours sur l’origine et sur le caractère de la parodie des Abbé Sallier wird statuiert: „Ordinairement le Parodiste n’est que l’écho du Parterre, c’est du Parterre lui-même qu’il emprunte de quoi les divertir.“326 Marguerite Falk zufolge wurden neben den Tragödien jene Opern parodiert, die von der Académie Royale de Musique aufgeführt wurden. Dabei hatten die Komödianten eher Grund, ihren alten Landsmann Lully zu parodieren, da dieser den italienischen Einfluss in Frankreich eingrenzen, wenn nicht sogar ganz unterbinden wollte.327 1716 ließ der Duc de Bourgogne eine neue Truppe aus Italien kommen, deren Theaterdirektor Riccoboni (kurz Lélio) war, der die Parodie neben der Commedia dell’arte in sein französisches und italienisches Repertoire mit aufnahm. Vor einem begeisterten Publikum gaben die Italiener neue Parodien zu Lullys Werk und zu zeitgenössischen Komponisten der Epoche. Die Librettisten vieler dieser Werke waren Dominique und Romagnesi, jedoch haben sich auch Bailly, de Ponteau und Louis Fuzelier mit dieser Gattung beschäftigt. Letzterer hat für das Théâtre de la Foire, die Comédie Italienne, die Opéra sowie die Comédie Française geschrieben und auf all diesen Bühnen Momus auftreten lassen. Erwähnenswert sind hier sicherlich die Werke von Alexis Piron oder die Histoire de la Calotte.328 Während der Abwesenheit der Italiener haben die Opéra und das Théâtre français sich einen erbitterten Kampf gegen die Forains geliefert, da man ihnen verboten hatte, weder Musik noch Sprache zu verwenden. Darauf probierten sich die Forains in der Pantomime und präsentierten dem Publikum die großen Texte mit einer bekannten Melodie, die oft vom Publikum lauthals mitgesungen wurde. Die verwendeten Melodien wurden oft mehrmals während der Aufführung wiederholt, was die Komik nur noch steigerte. Diese gehörten bei den Aufführungen der Forains sowie der Italiener bald zur Tradition. Dass bekannte Opernarien sich sehr leicht für Parodien eigneten und geradezu anboten, die Académie Royale de musique zu verspotten, die diesen Komödianten häufig höchstens Verachtung zollte, erkennt auch Falk.329 Als äußerst begabte und witzige Schauspieler brachten die Italiener dem französischen Publi-
326 Abbé Claude Sallier: Discours sur l’origine et sur le caractère de la parodie. Paris 1726. 327 Marguerite Falk: Les parodies du Nouveau théâtre italien (1731). Répertoire systématique des timbres. Bilthoven 1974, S. 10. 328 Vgl. http://cethefi.org/index.php. 329 Falk: Les parodies du Nouveau théâtre italien (1731). 1974, S. 10.
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kum das südliche Klima und leichtfüßige Temperament ihrer Heimat nahe, was der französischen Mentalität zu Gute kam und zur ersehnten Zerstreuung beitrug. Auf ihre Art haben die Italiener zur Verbreitung und zur Bekanntheit des Liedes, ob nun gelehrt oder populär, beigetragen. Wie sehr Parodien die Gemüter erhitzten, zeigt sich später am Beispiel Marmontels, des Herausgebers des Mercure de France, der wohl fälschlicherweise als Urheber einer ominösen Corneille-Parodie verstanden wurde und aus diesem Grund zwei Wochen im Pariser Gefängnis La Bastille verbringen musste, wie dies die Correspondance littéraire berichtete: Mais ce qui a fait le plus de bruit cet hiver, c’est la parodie de la célèbre scène du grand Corneille, où Auguste délibère avec Cinna et Maxime s’il doit conserver ou abdiquer l’empire. Je vous l’envoie telle qu’elle a couru dans le public. On la dit l’ouvrage d’une coterie; on prétend qu’elle a été faite de gaieté et de folie dans un souper; M. Marmontel en était. Il est inutile d’entrer dans tous les détails de cette tracasserie, il suffit de dire que M. Marmontel à été mis à la Bastille pendant quinze jours, et qu’au sortir de la prison, on lui a déclaré que le roi lui ôtait le brevet du Mercure.330
Ferner wird unter Verwendung politischer Chiffren im gleichen Artikel vom Niedergang der Comédie Française berichtet: Der neue Intendant, M. le duc d’Aumant, wird ein „despote sans goût et sans lumière“ genannt, dem jegliche künstlerische Finessen fehlten und der die freiheitliche Republik des Theaters in eine Tyrannie verwandelt habe, nachdem er willkürlich die Glanzlichter wie Sarrazin, Mlle de la Mothe, Mlle Grandval, Mlle Dumesnil vor die Tür gesetzt hatte, deren Nachfolger darauf von Grimm in der Correspondance als „sujets […] détestables“ skizziert wurden: „On a renversé toute la police intérieure de la Comédie, qui s’était gouvernée jusqu’à ce moment en république et l’envie de plaire au public guidaient mieux que des règlements despotiques.“331 Schließlich musste Marmontel, der trotz seiner Proteste und Unschuldsbezeugungen bei namenhaften Autoritäten die Direktion seiner Wochenschrift, die Grimm mit Rousseaus Theaterkritik vergleicht, Herrn de la Place überlassen, der hier alles andere als gut wegkommt: Cet écrivain [Marmontel] proteste, de son côté, n’être point auteur de la parodie, et il prétend en avoir convaincu Mme de Pompadour, M. le duc de Choiseul et M. le comte de SaintFlorentin. […] Quoi qu’il en soit, on a donné le Mercure à M. de la Place, traducteur du théâtre anglais et de quelques romans du même idiome, en réservant néanmoins une
330 Friedrich Melchior Grimm: Correspondance littéraire. Lettres choisie et présentées par Verena von der Heyden-Rynsch. Paris 2001, S. 38 (15 février 1760). 331 Ebd., S. 37.
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pension de mille écus à M. Marmontel. Le public regrettera ce dernier; il paraissait tout à fait propre à cette sorte de travail qu’exige le Mercure. Il a supérieurement l’esprit de discussion: ses extraits étaient très-bien faits, et celui du livre de M. Rousseau contre la comédie peut être regardé comme un modèle en ce genre. M. de La Place n’a point de style, et je ne crois pas que dans aucun point il puisse soutenir la parallèle avec son prédécesseur.332
3.3 Geschichte der Literatursatire Difficile est, saturam non scribere Juvenal
Darüber, dass es sich bei der Satire um keine Gattung, sondern im Wesentlichen um eine „Haltung des Satirischen“ handelt, ist sich die Literaturwissenschaft mehrheitlich einig.333 Die Satire zeichnet sich durch Regellosigkeit, Formlosigkeit bzw. durch Gattungslosigkeit aus und okkupiert – ähnlich wie die Bukolik – andere Gattungen.334 Die historische Forschung unterscheidet zwei Formen der satirischen Kunst. Dem Begriff der „Satyre“ ist bei Zedler335 ein längerer Artikel gewidmet, dessen wichtigste Punkte hier aufgenommen werden: So wird zwischen dem römischen Gedicht oder „Stachelgedicht“, das „die gemeinen Laster und Thorheiten durchziehet“, und der griechischen Tragödie, „worinnen ausser den Helden und Fürsten, auch Satyren und Waldgötter aufgeführet wurden, um die Zuschauer durch ihre seltsame Gestalt und Geberden zu ergötzen, und ihre durch die traurige[n] Vorstellungen eingenommene und niedergeschlagene Gemüther wieder ein wenig aufzumuntern“.336 Bei den Römern werden Lucilius, Seneca, Horaz, Juvenal und Persius genannt, die sich in der Satire hervorgetan haben. Dabei wird ihnen zugeschrieben, dass sie in ihren Satiren „alle den Fehler“ gemacht hätten,
332 Ebd., S. 38. 333 Jürgen Brummack: Art. ,Satire‘. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 3. Berlin New York 1977, S. 601–614; ders.: Zu Begriff und Theorie der Satire. In: DVjs 45 (1971), Sonderheft, S. 275–377; „wir sprechen, von der Satire sprechend, immer vom Satirischen.“ In: Helmut Arntzen: Satire – Satirisches. In: Ders.: Satire in der deutschen Literatur. Geschichte und Theorie. Bd. 1: Vom 12. bis zum 17. Jahrhundert. Darmstadt 1989, S. 1–17, hier S. 13; Stefan Trappen: Grimmelshausen und die menippeische Satire. Eine Studie zu den historischen Voraussetzungen der Prosasatire im Barock. Tübingen 1994, S. 111, Anm. 105, S. 113f. 334 Trappen: Grimmelshausen und die menippeische Satire. 1994, S. 87. 335 Art. ,Satyre‘. In: Johann Heinrich Zedler (Hg.): Grosses vollständiges Universal-Lexicon. Bd. 34. Halle, Leipzig 1742, Sp. 235–239. 336 Ebd., Sp. 235.
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„den man an den Satyrischen Comödien des Aristophanes aussetzet, nehmlich, daß die Personen, so sie durch die Hechel gezogen, mit Namen genennet“.337 Dann werden schon die Franzosen Regnier, Scarron und Boileau noch vor den Deutschen Baron von Canitz und Neukirch erwähnt. Zur „Moralität der Satyren“ fragt der Verfasser, „ob es erlaubt sei, Satyrische Schriften zu verfertigen und die Laster der Menschen auf eine zwar sinnreiche, aber doch beissende Art durchzuhecheln“.338 Da sich der satyrische Schreiber nach Thomasius Feinde mache, „seine eigene heimliche Ehr- und Rachgierde“ stärke, den Leser nicht bessere, und deshalb „eher schade als fruchte“, sei ihm von dieser Beschäftigung doch eher abzuraten. Dass das nachdrückliche Spotten aber auch positive Auswirkungen habe und ein dadurch ausgelöstes Gelächter zu Lernschritten führen könnte, wird auch überlegt: Dannenhero, da nicht alle Leute mit raisoniren; wohl aber alle über einen ausgespotteten Irrthum mit lachen können, so ist es solchenfalls gar vernünfftig und nützlich gewesen, daß dann und wann eine eingewurtzelte und schädliche Thorheit nicht allein gründlich widerleget, sondern auch soviel möglich, zu einem allgemeinen Spott und Gelächter gemacht worden.339
Weiter wird zwischen Sache und Person, über die man spottet und lacht, differenziert, weil Personen geschont werden sollten. Wie es in diese Zeit des aufklärerischen Anspruchs passt, fällt die Satire eher negativ auf, da vernünftige Absichten eher selten seien, sie zu „Zänckerey, Verbitterung“ einlade und „indem sich allezeit Leute finden, die sich damit kitzeln sollen, […] darüber in einer Republick grosse Unruhe entstehen“ könne. Aus diesen Gründen schließt der Artikel moralisierend: „[…] so ist doch auch nach der Vernunfft so viel gewiß, daß es viel besser sey, wenn man sich dergleichen Schreib-Art enthält.“340 In einem gleichnamigen Artikel wird in der Enzyklopädie zu Yverdon gut drei Jahrzehnte später weitaus differenzierter über den Ursprung der Satire im Satyrspiel unterrichtet. Dieses hat sich zu Ehren des Weingottes Bacchus in einer Art ländlichem Festspiel abgespielt, woraus sich schließlich die Tragödie entwickelt hat, die zu Beginn noch oft komische und burleske Züge aufwies. Die „Satyren“ wurden in den Pausen der Tragödie oder zum Schluss gespielt und sind als Gattung zwischen der Tragödie und der alten Komödie angesiedelt.341 Auch wird
337 Ebd. 338 Ebd. 339 Ebd., Sp. 237. 340 Ebd., Sp. 239. 341 Vgl. Art. ,Satyre‘. In: Encyclopédie où dictionnaire universel raisonné des connaissances humaines. Bd. 37. 1774, S. 646–652, hier S. 647.
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die Satire hier im Unterschied zu den Ausführungen bei Zedler als eine Gattung definiert, welche die Laster der Menschen im Gegensatz zur eher allgemein gehaltenen Komödie beim Namen nennt: On peut donc définir la satyre d’après son caractère fixé par les Romains, une espece de poëme dans lequel on attaque directement les vices ou les ridicules des hommes […] qu’elle nomme sans détour, appellant un chat un chat, & Néron un tyran. C’est une des différences de la satyre avec la comédie. […] Elle [la comédie] montre aux hommes des portraits généraux, dont les traits sont empruntés de différens [!] modèles; c’est au spectateur à prendre la leçon lui-même […] La satyre au contraire va droit à l’homme. Elle dit, c’est vous, c’est Crispin, un monstre, dont les vices ne sont rachetés par aucun vertu.342
Weiter wird hier zwischen Satire und Kritik unterschieden, wobei erstere hier deutlich besser wegkommt als noch bei Zedler: C’est même cet esprit qui est une des principales différences qu’il y a entre la satyre et la critique. Celle-ci n’a pour objet que de conserver pures les idées du bon et du vrai dans les ouvrages d’esprit & des goût, sans aucun rapport à l’auteur, sans toucher ni à ses talens, ni à rien de ce qui est personnel. La satyre au contraire, cherche à piquer l’homme même; & si elle enveloppe le trait dans un tour ingénieux, c’est pour procurer au lecteur le plaisir de paraître n’approuver que l’esprit. Quoique ces fortes d’ouvrages soient d’un caractere condamnable, on peut cependant les lire avec beaucoup de profit. Ils font le contrepoison des ouvrages où règne la mollesse. On y trouve des principes excellens pour les mœurs, des peintures frappantes qui réveillent. On y rencontre des ces avis durs, dont nous avons besoin quelquefois […].343
Während man bei Zedler vor der „Satyre“ fast warnte, wird hier zum Schluss von ihrem Nutzen für die Aufklärung gesprochen, deren Form im Übrigen zumeist als didaktisch verstanden wird. Die Satire nahm ihren Ursprung in den lateinischen Verssatiren des Lucilius (170–102 v. Chr.) und des Quintilian (35–96 n. Chr.), worin Mängel, Lügen und Missstände im öffentlichen Leben und Alltag Roms lautstark beschimpft wurden. Darauf begründeten Horaz (65–8 v. Chr.), Persius (34–62 n.Ch.) und Juvenal (58– 104 n. Chr.) eine Apologie des Satirikers, die über die Gattungsgrenzen hinaus in der europäischen Literatur auch als Schreibweise344 traditionsbildend werden konnte. Neben der Verssatire wurde die Satura Menippea (Menippeische Satire) im Sinne des Kynikers Menipp von Gadara (330–260 v. Chr.) von Varro eingeführt, die sich durch eine Mischung von Prosa und Vers sowie eine kritisch-polemische 342 Ebd., S. 650. 343 Ebd., S. 651f. 344 Die Begriffe ‚Schreibweise‘, ‚Typ‘, ‚Gattung‘ und ‚Untergattung‘ gehen auf Jean Piagets genetischen Strukturalismus zurück. Vgl. Mahler: Moderne Satireforschung. 1992, S. 24.
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Note auszeichnete und neben Lukian Seneca (Apocolocyntosis), Petron (Satyricon) und Apuleius (Metamorphoses) zu ihren Verfechtern zählte.345 Der etymologische Ursprung des Lexems ,Satire‘ geht auf lateinisch satur, satura (satt, voll) zurück und bedeutet im gastronomischen Sinn ,satt‘, ,gesättigt‘ bzw. ,ein Mischgericht‘ oder ,eine Füllung‘ und ist mit satis ,genug‘ verwandt. Mit satura lanx war ursprünglich eine Schüssel gemeint, die, gefüllt mit sämtlichen Erstlingsfrüchten des Jahres, den Göttern als Opfergabe dargeboten wurde und ihren Namen der sättigenden Wirkung der Gaben verdankte. Mit satura ,Allerlei‘ wird schließlich jene Schreibart gekennzeichnet, die im Sinne des Mischgedichts unterschiedliche Formen annehmen konnte.346 Gilt die etymologische Herleitung der Satire von Satyr, Satyrspiel heute als falsch, so war diese im 18. Jahrhundert noch üblich. Man denke bspw. an das Frontispiz von Samuel Butlers Hudibras (1726), wo Maske und Spiegel als ikonographische Symbole der Satire erscheinen.347 Im Prinzip wird das Satirische als eine gattungsunabhängige Kommunikationsmodalität verstanden, das zwar nicht gattungsbildend, jedoch auf Gattungen angewiesen ist, die einen kommunikativen Umgang ermöglichen.348 Denn in der Regel weist das Satirische weder eine ihm eigene generische Struktur auf, noch repräsentiert oder inszeniert es eigene Diskurstypen; es nimmt vielmehr bei anderen Diskursen im parasitären Sinn Anleihen, um die dort bereits artikulierten Interessen, Zwecke und Ziele zu befragen und neu zu funktionalisieren.349 Dabei verfügt das Satirische über einen doppelten Konnex, wenn es sich sowohl auf das Fiktionale sowie auf das Nicht-Fiktionale bezieht. Ambivalent ist das Satirische, weil es aus den gegebenen generischen Strukturen die konventionell zugeordneten Kommunikationsmodalitäten umpolt, um deren ideologische Gebundenheit sichtbar zu machen.350 Ulrich Klein vermutet, dass eine staatlich-absolutis-
345 Vgl. ebd. Jürgen Brummack: ,Satire‘. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. von Klaus Weimar u. a. Bd. 3. Berlin 32003, S. 355–360. Vgl. auch ders.: Satire. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 3. Berlin, New York 1977, S. 601–614, hier S. 601f. 346 Die Relativierung aufgrund der etymologisch begründeten Differenzierung des Begriffes wurde systematisch von Günter Hess: Deutsch-lateinische Narrenzunft. Studien zum Verhältnis von Volkssprache und Latinität in der satirischen Literatur des 16. Jahrhunderts. München 1971, S. 17 ff. Darauf folgte Jörg Schönert: Roman und Satire im 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Poetik. Stuttgart 1969. Mit dem Begriff ,Satyra‘ operiert Udo Kindermann: Satyra. Die Theorie der Satire im Mittelalter. Vorstudie zu einer Gattungsgeschichte. München 1978. 347 Vgl. Jürgen Brummack: ,Satire‘. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. von Klaus Weimar u. a. Berlin 32003, Bd. 3, S. 355–360. 348 Vgl. Andreas Mahler: Moderne Satireforschung. 1992, S. 18. 349 Vgl. ebd., S. 64. 350 Ebd., S. 65.
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tisch bestimmte Verfassung in den Duodez-Fürstentümern mit verantwortlich dafür war, dass „der Bürger mit erbaulichen Traktaten auch in einer Satire überschwemmt“ werde.351 Ferner habe die Satire oft utopischen Charakter: Indirekter spricht keine Dichtung von Utopie als die Satire, denn sie spricht nur von der verkehrten Zeit. Aber auch keine eindringlicher. Denn sie spricht gegen diese Zeit, damit sie richtig gestellt werde. Satire ist Utopie ex negativo.352 Dass Satiren Laster tadeln, ist eine alte Gattungsbestimmung, die von der Antike bis ins 18. Jahrhundert gilt. Zum Ende des 18. Jahrhunderts legitimiert Friedrich Schiller die Satire, wenn er 1795/96 in seiner Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung verlauten lässt: Satirisch ist der Dichter, wenn er die Entfernung von der Natur und den Widerspruch der Wirklichkeit mit dem Ideale (in der Wirkung auf das Gemüt kommt beides auf eins hinaus) zu seinem Gegenstande macht. Dies kann er aber sowohl ernsthaft und mit Affekt als scherzhaft und mit Heiterkeit ausführen. […] In der Satire wird die Wirklichkeit als Mangel, dem Ideal als der höchsten Realität gegenüber gestellt. Es ist übrigens gar nicht nötig, dass das letztere ausgesprochen werde, wenn der Dichter es nur im Gemüthe zu erwecken weiss, dies muss er aber schlechterdings, oder er wird gar nicht poetisch wirken.353
Während Schillers Satirebegriff zum einen unter dem Aspekt der künstlerischen Autonomie steht, betont er ferner den psychologischen Aspekt des Satirischen, wenn er von der „Empfindungsweise“ der Intention spricht. Der gesamte Bereich der „sentimentalischen“, also der modernen, von Kontrasten und Widersprüchen erfüllten Dichtung wird in die satirische und die elegische Dichtung eingeteilt; wobei letzterer schließlich noch als Utopie der Dichtung die Idylle folgt. Die zum Satirischen gehörende Normbindung, die sich jeweils auf Wahrheit und Tugend beruft, impliziert laut Mahler immer auch „die Idee einer im Prinzip als ,richtiger‘ empfundenen alternativen Kontingenzbewältigung und ist von daher nur für einen, den reduktiven Typus von Satire bedeutsam“.354 Demgegenüber mache der andere sinnoffene Typus mittels der ihm eigenen Doppelung davon Gebrauch, die bestehenden Normen gegeneinander auszuspielen, ohne eine neue autoritäre Verbindlichkeit zu begründen. Denn, was die Satire bestimme, sei nicht der genaue Abstand zwischen Ideal und Wirklichkeit, sondern „das
351 Ulrich Klein: Die deutschsprachige Reisesatire des 18. Jahrhunderts. Heidelberg 1997, S. 257. 352 Ebd., S. 193. 353 Friedrich Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. von Wolfgang Riedel u. a. München 2004, Bd. 5, S. 694–780, S. 721f. 354 Mahler: Moderne Satireforschung. 1992, S. 65.
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Gefälle selbst, das zwischen ihnen lieg[e]“.355 Somit wird die Satire nicht durch die Norm geprägt, sondern durch eine negativ wertende Tendenz.356 Die Satire-Forschung setzt sich durchwegs mehr oder minder explizit mit der Wertung der Satire auseinander und versucht, eine Beschäftigung mit satirischen Texten unter ästhetischen Gesichtspunkten zu rechtfertigen. Dabei werden jeweils die literarhistorischen Gegebenheiten berücksichtigt, da die sentimentale Weltflucht immer im Zusammenhang mit sozialkritischen Motiven zu sehen sei.357 Jörg Schönert weist auf die Schwierigkeit hin, die oft indirekten satirischen Aussagen im Roman des 18. Jahrhunderts genau zu normieren, da die Leseerfahrungen des neuen bürgerlichen Publikums noch gering seien. Deswegen wurde jeweils im Vorwort der pragmatischen Romane „der satirische Zweck fixiert und gegebenenfalls die Norm als Grundlage der Wertungen beschrieben“.358 Mittels einer neu eingeführten Erzähler- und wertenden Normfigur bemühte man sich, wie bspw. in Nicolais Freuden des jungen Werthers (1775) um eine durchgehend fiktionalisierte Einkleidung kritischer Aussagen, womit direkte Äußerungen des Satyra-Autors vermieden werden konnten. Zudem plädiert Schönert für eine Aufwertung des satirischen Romans der Aufklärung, der nicht als deren triviales Nebenprodukt zu verstehen sei; vielmehr werden in den sozialkritischen Texten wie Wezels Belphegor (1776) oder Klingers Romanzyklus (1791–98) der englische Empirismus, der französische Materialismus sowie Voltaires Skepsis wirksam.359 In den Satirediskursen der Neuzeit geht es bei der Satire um ihren Zweck (Strafe, Heilung, Abschreckung), ihre Form (Indirektheit, Mischung, Sprunghaftigkeit), ihre Einteilung (strafende und scherzende Satire) sowie ihr Objekt (Laster und Torheit). Ähnlich wie für die Parodie sind für die Satire besonders geschichtliche Umbrüche und Krisen konstitutiv, so registriert Flögel eine Konjunktur satirischer Schreibweisen besonders in krisenhaften Zeiten:
355 Ebd. 356 Zum Normbegriff der Satire siehe allg. “Norms, Moral and Other”. In: Satire Newsletter 2 (1964/65), S. 2–25, jetzt in B. Fabian (Hg.): Satura. Ein Kompendium moderner Studien zur Satire. Hildesheim 1975, S. 386–409; Jörg Schönert: Roman und Satire im 18. Jahrhundert. Stuttgart 1969, S. 28 f. Die bei Schönert explizit am Norm-Begriff orientierte Satiretheorie kritisiert Hempfer, der den Normbegriff einleuchtend mit dem der Tendenz ersetzt. Vgl. Klaus Willy Hempfer: Tendenz und Ästhetik. München 1972, S. 32ff. 357 Vgl. Klaus Lazarowicz: Verkehrte Welt. Vorstudien zu einer Geschichte der deutschen Satire. Tübingen 1963. 358 Vgl. Schönert: Roman und Satire im 18. Jahrhundert. 1969, S. 159 f. 359 Vgl. ebd., S. 165.
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[…] wenn durch wichtige Revolutionen im Staat und in der Kirche die Geister in eine allgemeine Gährung gerathen, und wenn Abänderung alter Meinungen und Sitten bevorsteht. Denn ergreift der Satyr seine Geissel, und stürtzet alte Götzen […] vom Thron in den Koth.360
Zur karnevalesken Tradition der Sakralparodie gehören ebenso die satirischen Verhandlungen des theologischen Satireverbots. Nach Christoph Deupmann kann die Satire in der Auseinandersetzung mit der geistlichen Predigt vorgegebene Gattungsmuster und Stile adaptieren.361 Die poetische Ausarbeitung der Satire fand ihren Höhepunkt in Frankreich mit François Villon. Laut Delpierre dürfe man nicht erstaunen, dass die beißende Satire die Parodie bis in die Zeit der Reformation verdrängt hatte, bedingt durch den nahenden sozialen und religiösen Wandel.362 In der Aufklärung wird die Satire, die in den Moralischen Wochenschriften als Kleinform Verwendung fand, vor allem noch als „soziales Korrektiv“ verstanden. Deupmann führt aus, wie sich „ psychologische Rekonstruktionen der sozialen Vorgänge um aggressive Texte“ bis zum Ende des 18. Jahrhunderts an einem Modell literarischer Kommunikation orientierten, das den Rezeptionsvorgang Leser-Text strikt analog zur unterbrochenen, persönlichen Kommunikation Leser-Autor denkt. Der aggressive Akt des Schreibens und der rezeptive Akt der Lektüre sind dergestalt als verzahnte Räder eines Transmissionssystems zu verstehen, welche die Dynamik von Feindschaft und Bosheit von der produzierenden auf die rezipierende Instanz übertragen. Möglich wird diese sozial riskante Transmission erst durch die rhetorischen Regeln der literarischen Diskurse des 17. und 18. Jahrhunderts, die das psychologische Interesse am Autor- oder Satiriker-Charakter virulent mitbegründen.363 Zur Satire werden im Allgemeinen jene Texte gezählt, deren Aggressivitätsradius vom spöttischen Scherz bis hin zur pathetischen Übertreibung reicht. Da die Zeichen satirischer Rede – im Sinne des Bühlerschen Organon-Modells – zugleich ,Signal‘, ,Symbol‘ und ,Symptom‘ sind, sich gleichzeitig appellativ auf ein Publikum, referentiell auf das „satirisierte“ Objekt und expressiv auf das schreibende Subjekt beziehen, kündet das aggressiv-satirische Sprechen keineswegs bloß von der moralischen Negativität des ,weltlichen‘ Referenten, sondern
360 Karl Friedrich Flögel: Geschichte der Komischen Litteratur. Hildesheim 1976. Band III, S. 1 f. Hierzu auch Stefan Hulfeld: Theatergeschichtsschreibung als kulturelle Praxis. Wie Wissen über Theater entsteht. Zürich 2007. 361 Vgl. Christoph Deupmann: Furor satiricus. Verhandlungen über literarische Aggression im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2002, S. 298f. 362 Vgl. Delepierre: Essai sur la parodie. 1868, S. 56. 363 Vgl. Deupmann: Furor satiricus. 2002, S. 181f.
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potentiell auch von der moralisch nicht minder fragwürdigen Natur des Sprechers. Der poetologische Diskurs wählt genau diesen Zugang zur psychischen Natur des literarischen Aggressors, wenn er dessen Motivation analysieren will.364 Ferner kreuzt sich der Diskurs des aggressiven Schreibens mit den Kontrasttheorien über das Komische und das Lachen: Die Ambivalenz des Lachens provoziert solche klassifizierenden Vereindeutigungen in derselben Weise, wie sie bezüglich der Zweideutigkeit von ,horazischer‘ Heiterkeit und ,juvenalischer‘ Aggressivität von Seiten der normativen Satire-Poetik unternommen werden. Demgegenüber scheint der Lachasket Cato als advocatus diaboli der Satire wohl erfolglos durch das ganze 17. und 18. Jahrhundert hindurch gegen Legitimität und Nutzen satirischer Komik anzukämpfen. Denn unermüdlich hebt der Satiriker die sittliche Schöpfungsordnung aus den Angeln und bringt zugleich jeden Widerspruch gegen die Wahrheit zum Schweigen. Somit vergleicht sich der Satiriker als alter deus mit der göttlichen Macht. Der Abstand zwischen zornigem Gott und sündigem Menschen, den die protestantische Theologie allein durch ihre Gnade ausgleicht, stellt sich im Verhältnis des satirischen Schreibers zum satirisiertem Objekt wieder her. Tendenziell ersetzt die frühaufklärerische Ethik der Satire den moraltheologischen Dualismus von Demut und Sünde durch den ethisch-rationalistischen von ,Tugend‘ und ,Untugend‘, ,Vernunft‘ und ,Unvernunft‘. Damit wird bei den europäischen Humanisten angeknüpft, die ausgehend von den römischen Verssatirikern die Satireapologie ins christliche Denken überführen, wobei sich jeweils aggressive Komik der Satire und Theologie wechselseitig ausschließen.365 Im Zeitalter der Aufklärung wächst im deutschsprachigen Raum die Bedeutung des Satirischen und im Laufe des Sturm und Drang werden vermehrt religiöse oder juristische Themen aufgegriffen, die bisher von der Satire verschont geblieben sind. Zum Ende des 18. Jahrhunderts wird der Vorstoß der Satire im deutschsprachigen Raum wieder gebremst. Mit der Entwicklung eines klassischromantischen Literaturverständnisses wird die Satire als zweitrangige Form eingestuft und vieles, was bislang Satire hieß, wird unter den Stichworten ,Humor‘, , Witz‘ und ,Komödie‘ subsumiert. Humor und Ironie werden von Henri Bergson als gegenseitige Formen der Satire beschrieben.366 Ganz ähnlich verfährt die Satire im viktorianischen England eine Deklassierung im low style, so dass plötzlich die Errungenschaften eines John Dryden oder Alexander Pope der light poetry zugeordnet werden.367 Sich auf Heinsius bezie364 365 366 367
Vgl. Karl Bühler: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Stuttgart 1999, S. 28. Vgl. ebd., S. 289ff. Vgl. Bergson: Le rire. 71993, S. 97. Vgl. John Heath-Stubbs: The Verse Satire. London 1969, S. 97.
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hend, schrieb John Dryden 1693 in seinem berühmten Essay über die Satire in der deutschen Übersetzung: Die Satire ist eine Art der Poesie ohne eine zusammenhängende Handlung, und zur Besserung unserer Herzen erfunden; worinn die menschlichen Laster, Unwissenheit und Irrthühmer, nebst allem, was daraus entspringt, an jedem Menschen strenge bestraft werden; sie ist theils dramatisch, theils einfach, manchmal auch in beyderley Art des Vortrags; meistentheils aber figürlich und verdeckt; und bestehet in einer niedrigen, vertrauten, hauptsächlich in einer scharfen und beissenden Art zu sprechen; doch aber auch in einer listigen und höflichen Art zu scherzen, wodurch entweder Haß, oder Unwillen, oder Gelächter erregt wird.368
Nach der Glorious Revolution von 1688 gelangte England zu politischer Stabilität. 1694 wurde dann jenes Gesetz, das der Regierung bislang die Vorzensur für jegliche Druckwerke eingeräumt hatte, abgeschafft, was sicherlich zum Ruhm der englischen Satire ab Mitte des 18. Jahrhunderts beitrug.369 Denn Jonathan Swift (1667–1745) und Alexander Pope (1688–1744) benutzten für ihre politischen und moralischen Attacken literarische und nicht literarische Gattungen wie den Reisebericht, den Essay und die Reportage. Daneben etablierten sich satirische Zeitschriften, beginnend mit Daniel Defoes Review (1704–1713) über Steeles Tatler (1709–1711) sowie The Spectator (1711– 1712, 1714). Dass die Entwicklung des satirischen Schauspiels in England gleichzeitig stagnierte, hing damit zusammen, dass Dramenmanuskripte jeweils zwei Wochen vor der Premiere dem Zensor zur Begutachtung vorgelegt werden mussten, so dass die Autoren von den Dramengattungen abließen und sich vermehrt dem Roman zuwandten.370 Die Verssatiren des aus Dublin stammenden Jonathan Swifts (1667–1745) richteten sich häufig gegen Politiker und Gestalten des öffentlichen Lebens. Swift praktizierte die humorvoll-ironische Kunst der raillery, die kleine persönliche Schwächen mit einem wohlwollenden Augenzwinkern taxierte. Neben spöttischen Analysen der ästhetischen Konventionen und des literarischen Betriebs der Zeit wurden die teils vermeintlich autobiographischen Verses on the Death of Dr Swift (1731) kontrovers diskutiert. In dieser bitteren Satire auf die Eigenliebe, den Ehrgeiz, den Neid und den Stolz der Menschen stellte sich Swift in der Maske
368 John Dryden: Discourse concerning the Origin and Progress of Satire, 1693, S. 77. Dt. Übersetzung von Friedrich Nicolai: Abhandlung vom Ursprung und Fortgang der Satire. 1762, S. 374. 369 Vgl. Katja Kassing: Ehrverletzende Personalsatire in Deutschland, Österreich, der Schweiz und England. 2004, S. 9, Anm. 47. 370 Vgl. Wolfgang Weiß: Swift und die Satire des 18. Jahrhunderts. Epoche, Werke. München 1992, S. 230 ff.
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eines eitlen Schreiberlings mit sarkastischem Humor vor, wie seine Freunde und andere Zeitgenossen hämisch oder gleichgültig auf seine zunehmende Senilität oder gar seinen Tod reagieren würden, und lieferte am Schluss des Gedichts einen panegyrischen Nachruf auf sich selbst. Diese bitteren Satiren resultierten aus einem tief empfundenen Gefühl von Frustration und Zorn angesichts der fehlenden Einflussmöglichkeiten des Satirikers im öffentlichen Leben, wovon er sich in zynischer Heiterkeit und grimmigem Spott Luft machte, wenn er seine Leser aus ihrer geistigen Lethargie zu weckend, provozierte, verunsicherte und irritierte. Bereits in A tale of a tub. Written for the Universal Improvement of Mankind (1704) und im gleichen Jahr anonym erschienenen A true and full account of the battle fought last Friday between the ancient and the modern books in St. James Library schildert Swift eine Schlacht von Bibliotheksfolianten, in der der junge Charles Boyle schließlich mit einem einzigen Lanzenwurf den Kritiker William Wotten und den Klassizisten Richard Bentley durchbohrte. Mittels der Technik des mock-heroic ließ Swift, sich der Travestie des Epos bedienend und mit den Motiven und Erzähltechniken homerischer Epik (Musenanrufe, göttliche Interventionen, Beschreibungen von Waffen etc.) spielend, eine grotesk triviale Gelehrtensatire entstehen.371 Auch Frankreichs Monarchie verfügte über eine doppelte Zensur, die die politische Satire fast verunmöglichte, so dass Montesquieu in seiner anonymen und orientalischen Travestie der Lettres persanes (1721) auf die Fehlfunktionen des französischen Staates hinwies. Denn der Streit um die Bewahrung alter Traditionen in Kunst und Literatur oder deren Erneuerung war in Frankreich präsent. In seiner Anthologie La Querelle des Anciens et des Modernes unterstreicht Marc Fumaroli im Vorwort die besondere Funktion der Ironie und der Satire im Rahmen der Kritik: L’ironie mélancolique, et l’optique qu’elle commande, est au principe de plusieurs genres littéraires majeurs: l’épopée (qui évoque pour un présent diminué de hauts faits héroïques du passé), la tragédie (qui représente les grands malheurs qui attendent les grandes âmes), l’élégie (qui ne connaît de bonheur que dans l’autrefois), la satire (qui oppose aux vices actuels les vertus oubliées).372
371 Harald Kämmerer: Nur um Himmels willen keine Satyren ... Deutsche Satire und Satiretheorie des 18. Jahrhunderts im Kontext von Anglophilie, Swift-Rezeption und ästhetischer Theorie. Heidelberg 1999; Werner von Koppenfels: Swifts Tale of a Tub und die Tradition satirischer Metaphorik (1977). In: Wolfgang Weiß (Hg.): Die englische Satire. Darmstadt 1982, S. 352–390; ders.: Swift und die Satire des 18. Jahrhunderts. Epoche, Werke, Wirkung. München 1992; Dustin Griffin: Swift and Pope. Satirists in Dialogue. Cambridge 2010.
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Neben der Gelehrten- oder Personalsatire der Antiphilosophen, die gegen die Enzyklopädisten anschrieben, gilt Voltaire als bedeutendster Satiriker des 18. Jahrhunderts. In Frankreich ist ebenfalls eine Gelehrtensatire zu erkennen, die sich gegen die Enzyklopädisten richtete, was Palissots Satire illustriert (vgl. III, 2.3). In der Allgemeinen Theorie der Schönen Künste (1787) unterscheidet Johann Georg Sulzer zwischen altem und neuem Satirebegriff. Der Ursprung der Komödie wird von den Schimpf- und Spottreden des Chors bei Festlichkeiten (bspw. Bacchusfest) abgeleitet, wovon noch die Komödien des Aristophanes zeugen, deren politische Aussagen bereits hier wesentlich waren. Gérard Laudin zufolge verursacht der Literaturstreit zwischen Gottsched und den Zürchern geradezu eine richtige Welle literarischer Satiren, die als Literaturkritiken zu verstehen seien: […] une évolution initiée dans les années 1740 par les querelles qui opposent Gottsched à Bodmer et Breitinger conduit en Allemagne aux satires littéraires des années 1770 qui sont une forme de critique littéraire.373
In diesem Frontenkrieg versuchen sich beide Seiten voneinander abzugrenzen und beschuldigen sich jeweils gegenseitig der Dummheit und der Barbarei. An Jakob Immanuel Pyra schreibt Bodmer, dass dieser Streit mit den Leipzigern ein Kampf gegen „Barberei und Unverstand“374 sei. In den Bodmerias bläst der Gottsched-Anhänger Christoph Carl Reichel zum Angriff gegen die Schweizer: O folge Deutschland doch nur seinen Weisen Lehren / Und ließe sich den Schwulst der Schweizer nicht bethören / O Schweitzer! glaubet mir ein Saty waffnet sich, / Er schwingt die Geißel schon , sein Peitschen rächet mich […] Dass bey der Grymsel doch mein Fluch bald sichtbar sey! / Sie sey und bleibe stets der Sitz der Barberey!375
In diesem historischen kulturkritischen Kontext rückt Bodmers Auseinandersetzung mit dem deutschen Boileau, Christian Ludwig Liscow (1701–1760), ins
372 Marc Fumaroli: Les abeilles et les araignées. In: Anne-Marie Lecoq (Hg.): La querelle des Anciens et des Modernes. XVIIe–XVIIIe siècles. Paris 2001, S. 84. 373 Gerard Laudin: La Satire. In: L’aube de la modernité, 1680–1760. Hg. von Peter-Eckhard Knabe u. a. Amsterdam 2002, S. 493–528, S. 495. 374 Wilhelm Körte (Hg.): Briefe der Schweizer Bodmer, Sulzer, Gessner. Aus Gleims litterarischem Nachlasse. Zürich 1804, 2, undatiert. Auch Gleim und dessen Freunde werden von Bodmer am 11. Juli 1745 aufgefordert, endlich den Harnisch anzulegen, und den Schweitzern im Kampf gegen die „Dummheit“ zu helfen. 375 Christoph Carl Reichel: Bodmerias in fünf Gesängen. o.O. [Kassel] 1755, S. 92.
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Interesse, dessen Satire Vortrefflichkeit und Nohtwendigkeit der elenden Scribenten (1734) als Vorbild für den Zürcher diente: Wo wollten aber so viele Satyren herkommen, wenn unsere Feinde niemand hätten, über den sie spotten könnten? […] Und unsere Schriften, wie elend sie auch sind, geben doch Anlass zu vielen gründlichen Widerlegungen und sinnreichen Spottschriften, deren die gelehrte Welt nohtwendig entbehren müsste, wenn niemand wäre, der elend und lächerlich schriebe.376
Inwiefern das Schreiben von Satiren im berühmten Literaturstreit eine Rolle spielte und in der Streitkultur der Aufklärung als Ventil für den empfundenen Unmut oder Zorn fungierte, wenn sich die Kontrahenten nach dem Beispiel Pufendorfs einander das „Maul zu stopfen“377 suchten, zeigt Detlef Döring, die unterschiedlichen auch kulturell-sprachlich motivierten Orientierungen der beiden Parteien im Literaturstreit herausstreichend.378 In Anlehnung an geistliche Streitereien erinnert das Verfahren an jene theologischen Kontroversen der gelehrten Polemik, die nach den Konfessionsspaltungen alle Kirchen des Christentums intensiv austrugen.379 Wie die Frage nach der wahren bzw. irrigen Lehre jeweils in der Öffentlichkeit ausgetragen wurde, so herrschte ein ähnlicher unerbittlicher Kampf in der Dichtung. Falls die jeweils zu den Gegnern gehörenden Irrenden ihrer falschen Auffassung nicht abzuschwören gedachten, so wurden diese mittels der Satire verleumdet, verdammt und verurteilt: [d]as schärfste zur Verfügung stehende Mittel im literarischen Kampf ist die Satire, die im 18. Jahrhundert eine Blütezeit ihrer Entwicklung erlebt. Ihr Ziel besteht darin, Torheiten der Lächerlichkeit anheimzugeben und damit auf wirksame Art zu strafen.380
Der Theoretiker des Naturrechts sowie äußerst geübte Satiriker Samuel von Pufendorf (1632–1694) erkannte seinerzeit schon: „[d]anach so ist wohl die
376 Christian Ludwig Liscow: Vortrefflichkeit und Nohtwendigkeit der elenden Scribenten und andere Schriften. Hg. von Jürgen Manthey. Frankfurt am Main 1968, S. 142. 377 Diese Formulierung entstammt aus dem Matthäus-Evangelium (22:34). 378 Detlef Döring: Der Literaturstreit zwischen Leipzig und Zürich in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Neue Untersuchungen zu einem alten Thema. In: Lütteken, Mahlmann-Bauer (Hg.): Bodmer und Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung. 2009, S. 60–104. 379 Vgl. Walther Dieckmann: Streiten über das Streiten. Normative Grundlagen polemischer Metakommunikation. Tübingen 2005. 380 Detlef Döring: Der Literaturstreit zwischen Leipzig und Zürich in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Neue Untersuchungen zu einem alten Thema. In: Lütteken, Mahlmann-Bauer (Hg.): Bodmer und Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung. 2009, S. 60–104, hier S. 101. Vgl. auch: Gunter Grimm (Hg.): Satiren der Aufklärung. Stuttgart 1979, S. 325–398.
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schertzhafte art zu schreiben dem Leser sehr angenehm, aber beißet den, so getroffen wird, viel schärfer, als seria censura“.381 Inwiefern die Schweizer als auch die Gottschedianer sich als virtuose Meister der satirischen Schreibart profilierten, dokumentierte bereits Gottscheds Jugendfreund Johann Georg Bock: Sollte ich mir die freÿheit nehmen dürffen etwas hierbeÿ zu erinnern, so wäre ohnmaßgeblich besser, dass obgleich Deine Satÿrische Schriften gar fürtrefflich gerathen, doch man viel lieber mit dieser Art Gedichte es so lange anstehen ließ biß man seinen völligen Entzweck und den Ihm vorgesetzten Stand erreichet hätte, weil man sich dadurch, wenn sie gleich unpartheÿsch verfertigt worden dennoch nur Feinde auf den Halß ziehet, worunter der geringste uns offt mehr hinderlich seÿn kann, alß wir es vermuthen.382
Der Autor der Bodmerias, der Meißner Arzt Christoph Carl Reichel, äußerte sich über seine Bodmerias gegenüber Gottsched in einem Brief: Habe ich das Kind bey seinem Namen genennet, und vielleicht zu hart gescholten: so kann ich betheuern, dass ich aus Eifer für das Gute nicht anders habe schreiben können. In gewißen Stellen hat mein ganzes Herz geschrieben. Zornig, und recht sehr zornig, bin ich freylich gewesen: aber ich bin nur ein schwacher Wiederhall auf die Grobheiten der Schweitzer.383
Bodmer hingegen arbeitete seinen Gegnern entgegen und bastelte mit den gleichen scharfen Werkzeugen der Satire, um den Sachsen öffentlich zu entblößen und der Lächerlichkeit preis zu geben. Sulzer eröffnete er seinen Plan einer Gottschediana: Man müßte aus Gottscheds Schriften, vornehmlich seinen Lehrschriften, die sonderbarsten und seltsamsten Oberservationen aus Lehrsätzen ausziehen, die ihm eigen und de son crû sind […]. Eine Sammlung von solchen kleinen und närrischen Observationen, welche man für große und neue Entdeckungen des Herrn Professors anweisen müsste, wäre eine sanglante Satire. Auch diese Arbeit dürfte man einem Jüngling auszuführen geben.384
In einer der antigottschedischen Satiren ließ Bodmer Gottsched all seine bisherigen Lehren abschwören. Mit der immer gleichen Formel: „Ich bekenne“ sollte er seine sogenannten Irrtümer aufzählen, welche er dann in reuiger Busse sogar
381 Pufendorf an Christian Thomasius, 14. März 1688. Vgl. Samuel Pufendorf: Briefwechsel. Hg. von Detlef Döring. Berlin 1996, S. 185. 382 J.G. Bock an Gottsched, 6. April 1728. In: Johann Christoph Gottsched: Briefwechsel. Bd. 1. Hg. von Detlef Döring u. a. Berlin 2007, S. 113–119, hier S. 116. 383 S. [Christoph Carl] Reichel an Gottsched, 22. Juni 1754 (UBL, Ms 0342 XIX, Bl. 315). 384 J.J. Bodmer an J.G. Sulzer, September 1746 (ZBZ, Ms. Bodmer 12).
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dem Feuer zu übergeben hatte. Gottscheds Anhänger wurden derweil in die Irrenanstalt Waldheim oder auf den Blocksberg abgeschoben.385 An seiner Parisischen Bluthochzeit hielt Gottsched fest, der sich bewusst war, für die gute Sache auf der richtigen Seite zu stehen: „Der Tag erscheint noch wohl, daran die Wahrheit siegt, / Wenn durch des Himmels Schutz der Irrthum unterliegt!“386 Auch Bodmer meint sich in diesem Lehrstreit um Wahrheit und Irrtum im Recht und in der moralischen Pflicht, den Gegner lautstark zurechtweisen zu dürfen. So schreibt er an Friedrich von Hagedorn: […] den Schweitzern schuld gegeben, dass sie Triller und Gottscheden schimpfen gelehrt haben; sagen sie mir mein wehrtester, als mein Gewissensrath, ob dem also sey? Ich wollte Kirchenbuße thun, wann ich mich dieser that schuldig wüste. Oder ist den geschimpft, wann man Fehler entdeckt und nach ihrem Nahmen nennet, die da sind? Wäre das so so könne ich wohl schuldig seyn, aber das verdient eben keine Kirchenbusse.387
In diesem Streit um Gut und Böse, richtig oder falsch vermisst man die in der Schweiz sonst übliche Suche nach einem Kompromiss, die Partei der Zwischentöne. Hagedorn schien den Schweizern unsicher und vorsichtig, dem Sachsen öffentlich die Schulter zu zeigen, über die S.G. Lange in einem Brief an Bodmer urteilte: […] ich traue weder Hagedorn noch Schlegeln, sie flattieren den Priester der Dummheit dennoch […] Sie formieren eine dritte parthey, und wollen eine union unter der Dummheit und dem guten Geschmack stifften. Ich traue ihnen nicht.388
Gottsched hielt dezidiert an der Vernunft fest und war davon überzeugt, dass jedermann auch ohne jegliches Wissen um die Offenbarung ein glückseliges und tugendhaftes Leben führen könne. Seiner Meinung nach stifteten deren Geheimnisse nur Verwirrung, wenn diese nicht durch die Vernunft bestätigt würden. Für ihn waren all jene Phänomene der Religion, die den Charakter des Wunderbaren aufwiesen, Elemente des Aberglaubens. Deswegen deklarierte er Teufel, Hexen und ähnliche übernatürliche Wesen als Auswüchse der Phantasie, die seinem Vernunftprinzip zuwiderliefen. Seiner Meinung nach bedingten eine vernünftige
385 Strukaras oder die Bekehrung. Eine historische Erzehlung aus dem Französischen. In: Sammlung der Zürcherischen Streitschriften zur Verbesserung des deutschen Geschmackes, wider die Gottschedische Schule, von 1741 bis 1744. Vollständig in XI Stücken. Neue Ausgabe. Zürich 1753, I. Bd., S. 54–82, hier S. 76–81. 386 Gottsched: Parisische Bluthochzeit. In: Ders.: Die Deutsche Schaubühne. V. 6, S. 271. 387 Bodmer an Friedrich von Hagedorn, 30. November 1751 (Universitätsbibliothek Leipzig. Autographensammlung Kästner. Ms. II C IX, 8, Nr. 20). 388 S.G. Lange an Bodmer, 27. Dezember 1745 (Zentralbibliothek Zürich, Ms Bodmer 4.2).
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Religion und eine vernünftige Dichtkunst einander. Als dessen Gegenteil empfand er den Pietismus, dem so viele seiner literarischen Gegner, auch die Hallenser, vorneweg der Graf Zinzendorf, nahestanden. Dieser Abwehrhaltung gegenüber vernunftloser Schwärmerei, Aberglauben oder Mystizismus entsprach auch jene berühmteste Satire der Gottschedin, Die Pietisterey im Fischbein-Rocke, die 1736 anonym erschien. Über die Gottscheds erfährt Bodmer anonym (d.i. Johann Adolf Schlegel) im November 1742: Er, seine Victoria und der gantze Anhang dieses erbitterten Paars wafnen sich indessen itzo zu der stärcksten Gegenwehr. Die Belustiger werben zum Deutschen Dichter Kriege. Die vertrauten Redner-Gesellschaften schwätzen und sinnen auf neue Philippicas. Diese Ungewitter wird sich in einen critischen Platzregen auflösen, der die Zürchischen und sächischen Feinde der Pleiß-Atnenienser überschwemmen soll. Vielleicht arbeitet schon die unermüdete Victoria an einem Gedichte voller Rache oder singt, als eine andere Laura, ihrem Petrarch ein Trost-Lied.389
Im Streit um den Platz des Wunderbaren in der Dichtkunst schieden sich die Geister. „Miltons Erfindungen“ von Hölle, Sünde, Hexen, Teufel und Gespenstern, welche die Zürcher Ästhetik mitbeeinflussten, hieß Gottsched abgeschmackte Hirngespinste und Aberglauben, die nicht in die rationale Welt der Aufklärung gehörten.390 In seinen Satiren ließ er Bodmer nachts erwachen und seltsame Lufterscheinungen erblicken, die sein Freund Breitinger mit einem Nordschein in Verbindung brachte, einen Rationalismus, den Bodmer ablehnte: Du bist itzo fast eben so, wie die Deutschen, welche durch ihre Neigung zu philosophischen Wissenschaften abgezogenen Wahrheiten, seit einiger Zeit so vernünftig und so schließend geworden sind, dass ihr Verstand die Einbildungskraft unterdrückt. Sie wollen nichts Wunderbares haben; es soll alles natürlich seyn.391
Darauf folgt eine Beschreibung von Bodmers Gespensterglauben und dessen schlechtem Einfluss auf andere Schweizer, worauf ein „ansehnlicher Hirte“ die
389 Anonymus (d.i. Johann Adolf Schlegel) an J.J. Bodmer, 12. November 1742 (ZBZ, Ms. Bodmer 21.2). 390 Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst. Leipzig 1751. Nachdruck Darmstadt 1962, S. 182 f. Zum Thema des Aberglauben vgl. allgemein: Martin Pott: Aufklärung und Aberglaube. Die deutsche Frühaufklärung im Spiegel ihrer Aberglaubenskritik. Tübingen 1992. 391 „Nachrichten von einer Begebenheit aus dem Canton Zürich“. In: Belustigungen des Verstandes und des Witzes, 1742, I. Halbjahr, S. 571. Im Text werden für die Zürcher die Pseudonyme Erlenbach und Eiffiger verwendet.
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Abtrünnigen wissenschaftlich aufklärte, dass es sich hierbei um das Naturphänomen der Milchstrasse handle. Auch Reichel thematisierte Bodmers Geisterglauben, wenn er diesen in seiner Satire des Nachts auf Geister stoßen ließ: „Der Feinde reiche Menge / Bringt auch den Tapfersten in tödliches Gedränge. / Allein mein Nachtgesicht macht mir den stärksten Muth, / Der Geister Beystand treibt die Flammen in das Bluth.“392 In einer gegen Gottsched gerichteten Satire legte Bodmer diesem in den Mund, „den Erweis für seine Lehrsätze nicht in dem Verstande, sondern bloß in dem Willen gesucht“393 zu haben. Zedler zufolge wurde hinsichtlich des satirischen Schlagabtauschs bei solchen Meinungsverschiedenheiten gemäß der Theorie der Zeit zwischen Person und Sache unterschieden. Da aber viele Irrtümer „durch das Vorurtheil menschlicher Autorität“ aufrechterhalten wurden, fühlte sich neben der „groben Narrheit“ auch „der grobe Narr“ angegriffen.394 Bodmer und Breitinger schlossen bei der Kenntnisnahme falscher Auffassungen auf einen von Grund auf verdorbenen Charakter und ließen keine Gelegenheit ungenutzt vergehen, den Gegner persönlich zu treffen: Wenn die Schrift elend ist, so ist die Ursache, weil der Skribent elend ist. Man muß sehr subtil seyn, wenn man im Urtheile von dem Menschen abstrahiren, und nur auf die Sache oder Schrift zielen will. Wenn das Schmähschriften sind, dann gute Nacht Satire, Affekt, Nachdruck und Wahrheit!395
„Le fou des rois, le roi des fous“ ist oft der andere, und so verstanden die Schweizer Gottsched als den Widersacher und kürten ihn zum „König der Dummheit“ und verglichen ihn in ihren Briefen – wohl aufgrund dessen eindrücklicher Körpergröße – mit dem „König Teutobock“ oder „Teutobach“. Jener Teutobock zog mit seinem Volk von der Ostsee bis nach Italien, wo er von den Römern besiegt wurde. Einen ähnlichen Triumph der Kultur über die Barbaren erhofften sich die Schweizer gegenüber Leipzig.
392 Christoph Carl Reichel: Bodmerias in fünf Gesängen. o.O. [Kassel] 1755, S. 31. 393 „Strukaras oder die Bekehrung. Eine historische Erzehlung aus dem Französischen.“ In: Sammlung der Zürcher Streitschriften zur Verbesserung des deutschen Geschmackes, wider die Gottschedische Schule, von 1741 bis 1744. Vollständig in XI. Stücken. Neue Ausgabe. Zürich 1753, I. Bd., S. 63. 394 Art. ‚Satyre‘. In: Johann Heinrich Zedler (Hg.): Grosses vollständiges Universal-Lexicon. Bd. 34, Halle, Leipzig, Sp. 235–239. 395 J.J. Bodmer an Friedrich von Hagedorn, 6. September 1744. In: Friedrich von Hagedorn: Poetische Werke. Hg. von Johann Joachim Eschenburg. 5. Theil: Auszüge des von Hagedornischen Briefwechsels. Hamburg 1800, S. 167–178, hier S. 173 f.
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Um Verachtung zu demonstrieren, hielt man es auch schon in diesen Zeiten manchmal für ratsam, sich schweigend einer Antwort zu enthalten, was als ein Mittel der Widerlegung ausgelegt werden konnte, wenn beispielsweise G.F. Meier gegenüber Bodmer hinsichtlich seiner Gottschedkritik konstatierte: „Es scheint er werde eine Großmuth affectiren und mir gar nicht antworten.“396 Wie die Streitkultur in Frankreich und England gelebt und ausgetragen wurde, veranschaulicht zum einen Palissots Philosophensatire Les philosophes (1760), die mit der skandalösen affaire Palissot Theatergeschichte schrieb (vgl. Kapitel 3.2 und 3.3). Zum anderen ist Mandevilles Fable of the Bees für die englische Satiretradition berühmt, der im Folgenden die Beachtung gilt.
3.3.1 The fable of the Bees (1705–1732) Bernard de Mandevilles (1670–1733) kulturkritische Hauptschrift: The fable of the Bees, private vices, public benefits (1705–1732) hat den für die englische Literatur besonders aufgeschlossenen und kritikfreudigen Bodmer beeinflusst. Dessen Gesellschaftstheorie wie seine Neigung zur Mischung von Gattungen und Stilen fand in Mandevilles mixtum compositum eine wichtige Quelle. Wahrscheinlich erfuhr Bodmer von den Kontroversen über Mandevilles Anthropologie und Gesellschaftstheorie auf dem Weg über französische und englische Journale. Der gebürtige Niederländer Bernard de Mandeville entstammte einer vornehmen Hugenottenfamilie, die aufgrund der Verfolgungen in Frankreich Ende des 16. Jahrhunderts in die Niederlande geflohen war. Nach einem Philosophie- und Medizinstudium in Leiden praktizierte Mandeville als Arzt für Nerven- und Magenleiden zunächst in den Niederlanden, später in London. In England lernte er Benjamin Franklin kennen und befreundete sich n.a. mit Anthony Ashley-Cooper, III. Earl of Shaftesbury (1671–1713). Mandeville schrieb aus Lust an der geistreichen Unterhaltung und der Provokation, er verfasste Fabeln nach den Vorbildern Aesops und La Fontaines sowie Gedichte und moralisch-politische Schriften. Shaftesbury und seine oft in rhapsodischem Ton vorgetragene Lehre von einer in Schönheit und Harmonie geschaffenen Welt, fand nicht nur weite Verbreitung, sondern stieß ebenso auf Widerspruch. Zu den schärfsten Kritikern Shaftesburys gehörte Mandeville, der
396 G.F. Meier an J.J. Bodmer, 6. Oktober 1747 (ZBZ, Ms. Bodmer 22.7). Vgl. zum Mittel des Schweigens auch: Detlef Döring: Der Literaturstreit zwischen Leipzig und Zürich in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Neue Untersuchungen zu einem alten Thema. In: Bodmer und Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung. 2009, S. 60–104, hier S. 103.
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mit seiner Bienenfabel zu beweisen suchte, dass nicht Tugenden, sondern private Laster allein das allgemeine Wohl förderten. Und deshalb widersprach er Shaftesbury hinsichtlich des angeborenen „moral sense“, des moralischen Gefühls, moralische Normen seien nur nach ihrem Nutzen zu beurteilen. In A Search into the Nature of Society (1723) griff er Shaftesbury und dessen eudämonistische Lehre heftig an. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts herrschte in England, das sich nach der Glorious Revolution397 von 1688/89 in einem ökonomischen Aufschwung befand, allgemeiner Konsens darüber, dass ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem Verhalten des Einzelnen im Privatleben und demjenigen in der Gesellschaft bestehe. Soziale und moralische Normen, die für den einzelnen Menschen akzeptabel seien, können von der Gesellschaft gutgeheissen werden. Denn das moralisch und religiös tadellose Verhalten des Einzelnen ist die Voraussetzung für ein funktionierendes Sozialwesen. Nach diesem Verständnis sind private Laster und öffentliche Korruption vom Prinzip her ähnlich und stehen in gegenseitiger Abhängigkeit, womit die Gesellschaft als Spiegel des individuellen Verhaltens ihrer Mitglieder funktionierte. Ebenso dominierte zu Beginn des 18. Jahrhunderts das puritanische Denken, wonach im Sinne des christlichen Ideals der Entsagung, die Vorstellung von Konsum als das Gegenteil von sowohl privater wie öffentlicher Wohlfahrt zu verstehen sei. Denn Konsum sei der Ausdruck vom ungebremsten Ausleben der Individualinteressen, die egoistisch, selbstzentriert und deswegen gemeinschaftsschädigend seien. In der provozierenden Satire The Gambling Hive: or Knaves turn’d Honest (1705), zu Deutsch: Der murrende Bienenstock, oder wie Schurken ehrlich wurden, deckte Mandeville scheinbar schlüssig die wahren Triebfedern menschlichen Verhaltens und die verschleierten ökonomischen Funktionsmechanismen der prosperierenden Gesellschaft auf. Denn er sah einen Zusammenhang und eine Abhängigkeit zwischen dem Einzelverhalten und der Entwicklung der Gesellschaft. Allerdings schlug Mandeville eine radikale, provozierende Erklärung für die Ursachen von Fortschritt und Prosperität vor: In seiner Satire wurde der Einzelne als oberflächlicher Egoist dargestellt, der um Anerkennung buhlte, nach Konsum und Luxus gierte, was die tatsächlichen Mechanismen sozialer Interaktion und – im Besonderen der prosperierenden Bürgerschichten Englands – in beißender Schärfe bloßlegte und damit die wah-
397 Die Glorious Revolution beendete die Herrschaft des königlichen Absolutismus in England. Mit den Bill of Rights konnte sich die heutige parlamentarische Regierungsform in Großbritannien durchsetzen. Somit ist seit der Revolution das Parlament und nicht mehr die Monarchie Staatssouverän.
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ren Triebfedern des Unternehmertums, das bigotte Verhalten entlarvend, aufdeckte. Mit Mandevilles ungemein populärem satirischen Gedicht The Fable of the Bees; or Private Vices, Publick Benefits (1705) konnte eine breite Öffentlichkeit an der Diskussion über die Legitimation der zunehmend wirtschaftlich erfolgreichen bürgerlichen Mittelschicht aufgrund des Selbstinteresses und der Verteilung von Wohlstand partizipieren. Seine provozierende Aussage, dass das zügellose Selbstinteresse zwar moralisch verwerflich, ökonomisch aber notwendig sei und das wirtschaftliche Funktionieren einer Gesellschaft geradezu fördere, wurde in den nachfolgenden siebzig Jahren immer wieder bis zur Veröffentlichung des Wealth of Nations (1776) kritisiert und modifiziert. In dieser Theorie formulierte Adam Smith geläuterte, nicht mehr sozialfeindliche, sondern produktiv umgewertete menschliche Impulse, womit das Handeln des homo oeconomicus im 18. Jahrhundert schließlich als positiver und wirtschaftlich unabdingbarer Beitrag zum Wohlstand der Nation deklariert wurde. Die reduktionistischen Thesen des in London praktizierenden Arztes für Nerven und Magenleiden wurden von politisch und gesellschaftlich einflussreichen Kreisen mit Sorge aufgenommen, da man darauf eine Zunahme der moralischen Korruption und eine Destabilisierung der Gesellschaft fürchtete. Mandevilles satirisches Können, das derartig prägnant formulierte, überspitzt argumentierte und das etablierte Denken radikal umkehrte, offenbarte sich in dem ursprünglich anonym veröffentlichtem Gedicht aus jenem Sixpenny-Bändchen von 1705. 1714 erschien in zwei Auflagen unter dem Titel The Fable of the Bees: or Private Vices, Public Benefits eine erweiterte Fassung mit zwanzig „Remarks“ (A-Y) in Prosa zu Passagen der Fable of the Bees sowie Essays und Erörterungen, darunter „An enquiry into the Origin of Moral Virtue“, womit Mandeville auf die Vehemenz der Reaktionen der ersten Fassung reagierte. Dieser persönlichen Rechtfertigung folgend, entstanden weitere Neufassungen von 1724 bis 1732. 1728 folgte der 2. Teil als Ergänzung in Form von Dialogen der Kontrahenten Fulvia, Cleomenes und Horatio, worin wiederum die moralischgesellschaftlichen und ökonomischen Implikationen der in der Bienenfabel entwickelten Gesellschaftsanalyse thematisiert wurden. Cleomenes fungierte hier als Mandevilles Sprachrohr, wenn er hartnäckig an seinem negativen Verständnis des Menschen und des homo oeconomicus festhielt und dessen ausgeprägten Egoismus als Selbsterhaltungstrieb unterstrich, dem schon Thomas Hobbes im Leviathan (engl. 1651, lat. 1670) Ausdruck verliehen hatte. Bei Mandeville kann der Mensch seine Selbsterhaltung in der Gesellschaft nur dann optimal sicherstellen, wenn er sich der Umwelt gegenüber betrügerisch und schädigend verhält. Lug und Trug sind hier die entscheidenden Faktoren beim Kampf um das gesellschaftliche Überleben und die Demon-
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stration des sozialen Aufstiegs sowie Bedingung für die Prosperität der Gesellschaft. Als Gegenentwurf zu Shaftesburys Konzept der im Grunde wohlwollenden Natur des Menschen sprach Mandeville dem Menschen das Verlangen nach Geselligkeit in der Gemeinschaft sowie das Grundbedürfnis nach Harmonie und Altruismus als moralische Grundkonstante ab. Die Bienenfabel stieß in England und später auf dem Kontinent auf mehrheitlich ablehnende Kritik. Über jenen, den man schon zu Lebzeiten „man-devil“ nannte und juristisch verfolgte, schrieb Samuel Johnson (1709–1784) anerkennend: „I read Mandeville forty, or, I believe, fifty years ago. He did not puzzle me; he opened my views into real life very much.“398 Während Johann Gottfried Herders Kommentar dagegen eher missbilligend ausfiel: „Mandevilles Bienenrepublik dagegen, was ist sie? Ein Nest voll Spinnen, deren eine die andere auffrisst; kein Haus gesunder Industrie, sondern ein Krankenhospital, ein Bedlam.“399 Moses Mendelssohn versuchte hingegen, das Interesse erneut auf Mandeville zu lenken, wenn er das Unverständnis seiner Landsleute auf die schlechte deutsche Übersetzung schob.400 Schon im Vorwort der Bienenfabel wird der Mediziner Mandeville erkennbar, wenn die ökonomischen Mechanismen mit anatomischem Blick erörtert werden und eine Parallele vom menschlichen Körper zu den anscheinend nebensächlichen und unauffälligen Membranen, die in der Tiefe des Körpers agieren und ganz im Gegensatz zur weißen, makellosen Haut stehen, gezogen wird. Die Negation des idealen Sozialwesens wird anhand der Metapher des wohlhabenden Bienenstocks illustriert, dessen ökonomische und gesellschaftliche Dynamik sich als das genaue Gegenteil einer altruistisch ausgerichteten Gesellschaft abzeichnet. Denn das Bienenvolk, das einem Matriarchat gehorcht, prosperiert, weil es sich selbstsüchtig, betrügerisch und dekadent verhält. Die psychologisch arrangierte Konstruktion zeigt auf, wie die Bienen die wahren Motive ihres Handelns nach menschlichem Vorbild verschleiern. Zudem ist die Bienenfabel als eine Analyse nach dem Beispiel von Genesis 3, dem Sündenfall, konzipiert: Als die Klage der Bienen über die unhaltbaren moralischen Zustände von dem um Hilfe gerufenen Gott Jupiter plötzlich wörtlich genommen und umgesetzt wird, führt die göttliche Intervention und die damit verbundene moralische Besserung
398 James Boswell: Life of Johnson. Hg. von R.W. Chapman. London 1970, S. 89. 399 Johann Gottfried Herder: Adrastea. Begebenheiten und Charaktere des achtzehnten Jahrhunderts. Hg. von Johann von Müller. Wien 1813, S. 364. 400 Hans-Jürgen Schings: Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch. Poetik des Mitleids von Lessing bis Büchner. München 1980, S. 23.
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schnurstracks zum unaufhaltsamen Niedergang des Bienenvolks. Die Klage der Bienen, man möchte doch ihr korrumpiertes, aber prosperierendes Gemeinwesen nach moralisch einwandfreien und unbedenklichen Kriterien ausrichten, führt zum finanziellen Ruin, zum kulturellen Kollaps und zur Desintegration der Gesellschaft. Die ungewöhnlich lange Fabel in Knittelversen, dem Schema des Paarreims folgend, beginnt mit dem sowohl metrisch- als auch semantisch-harmonisch dargestellten Bild einer von Wohlstand, Sicherheit, sozialer Gerechtigkeit strotzenden und ideal prosperierenden Gesellschaft. Der Bienenstock wird hier zum Vorzeigeobjekt im quasi experimentell angelegten Schaukasten für den externen Beobachter. Allerdings wird dieser zuerst mit dem Adjektiv „grumbling“ bzw. „murrend“ vermenschlicht und sodann mit dem im Original kursiv gesetzten barocken Titelzusatz „OR, knaves turn’d honest“ bzw. „Wie Schurken redlich wurden“, personifiziert und verglichen, so dass die Bienen, wie in Tierfabeln üblich, stellvertretend für die Menschen zu verstehen sind. In der dritten Strophe wird dann verdeutlicht, wie der gesellschaftliche Aufschwung dem Zyklus von Produktion und Verbrauch unterliegt. Die Mechanismen, welche die Produktionsund Kaufanreize unterhalten, gehorchen einem Ungleichgewicht. Denn die Gemeinschaft kann nur bestehen, weil große Bevölkerungsschichten klaglos für Luxus und Wohlergehen der übrigen sorgen: „Millionen waren dienstbereit“.401 Dann werden die unsozialen, kontraproduktiven Elemente benannt, wenn „Manch arbeitsscheuer Wicht, der klug Profit aus fremder Arbeit schlug, als Kuppler, Spieler, Parasit, Quacksalber, Dieb, kurz als Bandit arglose Nachbarn listig narrte und sich viel Mühe so ersparte.“402 Dass dieses verbrecherische egoistische Handeln in allen Berufszweigen anzutreffen sei, da gleichermaßen „seriöse Strolche“ so handeln, denn: „in jedem Amt war Mauschelei und kein Beruf von Arglist frei“403, wird genüsslich ausgeführt. Bewusst wird hier satirisch verzehrt und einseitig dargestellt, dass all jene, die ihr täglich Brot nicht mit körperlicher Schwerstarbeit verdienen, d. h. Juristen, Mediziner, Kirchenvertreter, Militär und Politiker zu den „knaves“, den Schurken der Gesellschaft gehören. Ohne darauf näher einzugehen, wird Konsum mit kriminellem Verhalten gleichgesetzt, was charakteristisch für die Klasse der Reichen sei. Dass auch die Armen profitieren, wird hier noch ausgeklammert, wenn vormals das parasitäre Verhalten der wohlhabenden Schicht aufgedeckt wird. Trotz Geißelung des Konsums
401 Bernard Mandeville: Die Bienenfabel oder Private Laster, öffentliche Vorteile. Hg. von Walter Euchner. Frankfurt am Main 1968, S. 14. Im Folgenden wird mit der Sigle (MF) im Text auf diese Ausgabe verwiesen. 402 Ebd. 403 Ebd.
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wird suggeriert, dass nur moralische Korruption den Wohlstand des Bienenvolks fördere. Und hier setzt das Paradox ein, wenn die ausführlich dargestellten „private vices“, die privaten Laster, wie betrügerisches Verhalten und Konsumlust sowie exzessiver Egoismus in einem provozierenden Umkehrschluss zu den „public benefits“, den gesellschaftlichen Vorteilen stilisiert werden: In jedem Teile sündig zwar, Ein Paradies das Ganze war. Im Krieg gefürchtet, sonst begehrt, Von aller Welt gerühmt, geehrt, Verschwenderisch mit Gut und Leben: Der Bienenvölker Zierde eben. Das Heil des Staats war zweifellos: Geballter Frevel macht ihn gross. [F] Die Tugend sah der Politik Bald ab manch ausgepichten Trick, Schloss Freundschaft mit dem Laster gar, Was dann bewirkte, dass fürwahr [G] Der grösste Schurke selbst zum Schluss Doch dem Gemeinwohl dienen muss. (MF, S. 17f.)
Das Ergebnis des unsozialen Verhaltens ist der Wohlstand. Die moralischen Kategorien Tugend und Laster sind personifiziert und werden durch die korrumpierende Politik freundschaftlich vereint. Anhand einer Luxusdebatte und der durch starke Geltungsbedürfnisse geprägten Gesellschaft erklärt Mandeville darauf stark vereinfacht das Prinzip von Angebot und Nachfrage: [I] Das Laster Geist, die Schmach, die Pein, Des Bösen Quell, musst Sklave sein [K] Der noblen Sünde, der Verschwendung [L] Indem des Luxus Prachtaufwendung Millionen Armen Arbeit schuf, [M] Desgleichen Stolz, trotz üblem Ruf. [N] Die Eitelkeit selbst und der Neid Warn Diener der Geschäftigkeit; Ihr Hang zur Abwechslung indessen Bei Kleidern, Mobiliar und Essen War töricht, und doch trieb er wie Ein Schwungrad an die Industrie. Auch das Gesetzwerk unterlag, Ganz wie die Tracht, dem Zeitgeschmack. (MF, S. 18)
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Die moralische Abwertung erfolgt hier in den Adjektiven und die personifizierten Laster Geiz, Habsucht und Verschwendungslust sind die eigentlichen Triebfedern des gesellschaftlichen Handelns. Die Feststellung, dass nur exzessiver Luxus die Wirtschaft ankurbele „The very wheel that turned the trade“, steht im Kontext des mechanischen Denkens des 18. Jahrhunderts und umschreibt die Funktionsweise der Wirtschaft in nuce. Mandeville verkürzt das wirtschaftliche Argument auf Luxus und blendet die ökonomische Bedeutung der Existenzerhaltung, d. h. der notwendigen lebenserhaltenden Dienstleistungen wie der Basisgüter Nahrung und Kleidung aus. In der Bienenfabel wird nicht gesagt, wie genau der Betrug durch die Schurken geschieht, einzig wird der Wohlstand mit dem vom Sozialneid geschürten Laster assoziiert. Wenn der Rezipient von der Verwerflichkeit des Wohlstands überzeugt wird, geht die Polemik der Bienenfabel auf und somit bedingt der Reichtum des einen die Armut des anderen. Die sozioökonomischen Mechanismen werden verzerrt dargestellt. David Hume wird später auf die positiven gesellschaftserhaltenden Motive von Konsum und Luxus in Enquiry Concerning the Principles of Morals hinweisen und diese der paradoxen Argumentation der Bienenfabel entgegenhalten, denn Mandevilles Polemik präsentiere nur einen Ausschnitt des komplexen Wirtschaftsmodells. Trotz seiner pessimistischen Bewertung werden darin Konsum und Luxus als treibende Kräfte einer prosperierenden Gesellschaft interpretiert. Aus Lust an der Provokation wird diese Erkenntnis auf die plakative Formel ,Verschwendung schaffe Wohlstand‘ reduziert. Dieses ,Mandeville-Dilemma‘ kann nur dann schockieren, wenn alles, was nicht unmittelbar zum Überleben notwendig ist, als Luxus definiert wird. Gehören die Laster Verschwendung, Luxus und Eitelkeit zum Bereich der Geltungssucht, von Mandeville als die wichtigen Wirtschaftsfaktoren interpretiert, so sind die im zweiten Teil der Bienenfabel dargestellten Tugenden ,Verzicht‘ und ,Genügsamkeit‘ keine Tugenden mehr, sondern sozialschädigende Faktoren. In der zweiten Hälfte des Gedichts wird Jupiter für die Umkehrung der moralischen Werte verantwortlich gemacht, wenn er auf die Anrufung der Bienen reagiert. Zunächst sind die Laster von Konsumsucht und Reichtum sozial nicht schädlich, sondern fördern das wirtschaftliche Gedeihen. Ketzerisch werden Unmoral und kriminelle Aktivitäten einer verschwenderisch lebenden Gruppe umgedeutet. Dabei ist das Laster wohlstandsförderlich. Erst hier zeigt Mandeville, wie sehr der hemmungslose Konsum der einen – einer Umverteilung entsprechend – nicht nur Not und Verzicht der anderen bedeuten kann, sondern gleichsam einen Aufschwung für die weniger begünstigten Schichten nach sich ziehen kann: „the very Poor / liv’d better than the Rich before“. Nachdem Mandeville den Wohlstand zuerst dermaßen diabolisiert hatte, Arme wie Reiche durch den wachsenden Wohlstand gleichsam verdorben darstellte und zu Schurken abstempelte,
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lässt er einen inhaltlichen wie formalen Bruch im Gedicht entstehen, der mit einem seltenen Dreifachreim zum Ende von Strophe siebzehn metrisch untermalt wird: So nährt Laster den Verstand, Der sich mit Fleiss und Zeit verband, Und schuf des Lebens Überfluss, [O] Komfort, Vergnügen und Genuss, [P] So reich, dass heut die Armen eben Viel besser als einst Reiche leben. Nichts fehlt, wonach sich lohnt zu streben. (MF, S. 19)
Wie in Satiren üblich verzichtet Mandeville darauf, den ökonomischen Zusammenhang seiner apodiktischen Aussage, „private vices“ hätten zu „publick benefits“ geführt, zu begründen. Nach dem emphatischen Ausruf „How vain is Mortal Happiness“: „Glück ist auf Erden Eitel.“ (MF, S. 19), wird der unaufhaltsame Niedergang des Bienenvolks ausgeführt, da Jupiter als deus ex machina die scheinheiligen Beschwerden der bigotten Verschwender ernstnimmt und diese von Lug und Betrug befreit. Diese durch die göttliche Intervention vollzogene moralische Läuterung führt nach spöttischen Seitenhieben auf einzelne Berufsgruppen und den Altruismus zum absehbaren wirtschaftlichen Ruin des Bienenstocks, der nach einem „Entweder-oder-Prinzip“ funktioniert. Nun zeigen sich Armut, Not und Arbeitslosigkeit im Bienenvolk, das im Krieg mit seinen Nachbarstaaten steht. Dessen wirtschaftlicher Niedergang gibt Anlass zu Spott und Verachtung, denn mit dem Altruismus stellte sich der soziale, kulturelle und finanzielle Ruin ein. Später konstatierte Adam Smith einen Kausalzusammenhang von Wohlstand und Kultur, obwohl Smith Mandeville dahingehend kritisierte, wenn Prosperität in Form von Verschwendung und Luxus als einzige Garanten der Kunst auftreten und somit deren moralische Abwertung suggerieren. „Arts and Crafts“ dienen im Bienenstaat einzig der Befriedigung der Eitelkeit, wonach das geläuterte Gemeinwesen auch ohne sie auszukommen weiß. Die Ambivalenz der Bienenfabel wird bis zum Schluss durchgehalten, wenn in der Moral folgender politischer Rat in metaphorischem Rahmen geäußert wird: Die menschliche Lasterhaftigkeit könne als wuchernde Weinrebe verstanden werden, die sich modifizieren und bessern könne, wie jene fruchtende Pflanze, nachdem diese erst richtig zurückgeschnitten würde: „So kann auch Laster nützlich sein, / schränkt das Gesetz so weise ein.“ Damit wird an die notwendige Aufgabe der Staatsführung appelliert, die das lasterhafte Verhalten der Gesellschaft gut kennen müsse, um es zu kontrollieren, einzudämmen und zu lenken. Demnach propagiert Mandeville einen Staat, der einschränkt und kontrolliert. Der Motor der Gesellschaft sind die Laster, die von
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der Regierung und kompetenten Politikern geschickt funktionalisiert werden müssen. Wie sich die Rolle erfolgreicher Sozialtechnik genau gestaltet, wie die Metapher vom Politiker als Winzer, der die Rebe schneidet und zurückbindet, politisch umzusetzen ist, wird nicht ausgeführt. Mandevilles konservatives Denken äußert sich in seinen Umverteilungsüberlegungen, die einen höheren Stellenwert einnehmen als dynamische Wirtschafts- und Gesellschaftsbilder. Der staatliche Dirigismus als bewusste Einflussnahme auf die Wirtschaft wie im Merkantilismus widerspricht dem klassischen ökonomischen Liberalismus, wie er sich in der Zeit nach Mandeville durchzusetzen begann. Die Aussage, die zeitgenössische Gesellschaft sei tugendlos und Prosperität sei die Folge persönlicher Bereicherung, ist eine scharfe Kritik. Ferner verwischt die Bienenfabel Gesellschaftskritik und Fortschrittspessimismus und sieht von einer analytischen Argumentation ab. Neben der ironischen Brechung und der satirischen Verzerrung der zeitgenössischen Gesellschaft wird in diesem Text von einem lenkenden Gott sowie von einem puritanischen Hintergrund abgesehen, der wirtschaftlichen Erfolg als Zeichen göttlicher Gnade versteht. Da zu dieser Zeit mehrheitlich das satirische Ich fiktiver Texte mit dem real existierenden Autor gleichgesetzt wurde, fand sich Mandeville lautstarken Angriffen und Anfeindungen ausgesetzt.404 Voltaires Freundin und Lebensgefährtin, die Physikerin und Mathematikerin Emilie du Châtelet (1706–1769), übersetzte nicht nur Newtons Physicalia, sondern auch Mandevilles Fable of the Bees erstmals ins Französische. In ihrem Vorwort unterstreicht sie eine feministische Haltung, die in den Schriften Olympe de Gouges noch lauter hervortreten wird: Pour moi j’avoue que si j’étais roi, je voudrais faire cette expérience de physique. Je réformerais un abus qui retranche, pour ainsi dire la moitié du genre humain. Je ferais participer les femmes à tous les droits de l’humanité, et surtout à ceux de l’esprit.405
404 Vgl. ferner Philipp Farwick: Bernard Mandeville in seiner Zeit – Ideen- und wirkungsgeschichtliche Einordnung Mandevilles in die Entwicklungslinien der Bürgerlichen Aufklärung; Thomas Rommel: Das Selbstinteresse von Mandeville bis Smith. Heidelberg 2006; Filadelfo Linares: Bernard Mandeville, Denker in der Fremde. Hildesheim 1998; Hubertus Busche: Von der Bedürfnisbegrenzungsmoral zur Bedürfniskultivierungsmoral. Alte Ethik und neue Ökonomie bei Bernard Mandeville: In: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 87 (2001), S. 338–362. 405 Bernard Mandeville: La fable des abeilles, ou, Les fripons devenus honnetes gens. Avec le commentaire, où l’on prouve que les vices des particuliers tendent à l’avantage du public. Traduit de l’anglois sur la sixième édition par Émilie du Châtelet. Londres 61750, Vorwort, unpaginiert.
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3.3.2 L’affaire Palissot Voltaires berühmter Brief vom 30. August 1755, der schon im Oktober im Mercure de France veröffentlicht wurde, führte mittels einer kontrastreichen Gegenüberstellung hochgebildeter Persönlichkeiten mit republikanischer Gesinnung einerseits und gewalttätiger und ungebildeter Machthaber der Antike andererseits die Hauptthese Rousseaus in ihrer Unsinnigkeit vor.406 Vermutlich kannte der aus Nancy stammende Historiker, Dramatiker und Literaturkritiker Charles Palissot de Montenoy (1730–1814) diesen Brief und nahm ihn zum Anlass seines Stückes Les philosophes, das am 2. Mai 1760 im Théâtre Français in Paris Premiere feierte und als äußerst brisanter Skandal Theatergeschichte schreiben und damit nicht zuletzt den Philosophenstreit einläuten sollte. Im Vorbericht seiner ersten Komödie Les Tuteurs (1754) berief sich Palissot auf das Vorbild Molières, bedauerte die Dekadenz der französischen Comédie und insistierte: „ce sont surtout les moeurs bourgeoises que l’on doit peindre au théâtre“.407 In der Komödie Le cercle ou les originaux (1755) war Rousseau erstmals das hauptsächliche Opfer der Satire. Von der Kritik wurde das Stück nicht goutiert, was fast zum Ausschluss Palissots aus der Akademie geführt hätte, wenn nicht Rousseau höchstpersönlich, sich für Palissot einsetzend, interveniert hätte, obschon er das Ziel der satirischen Spitze war. Aufgrund Palissots unberechtigtem Vorwurf, Diderot hätte in seinen beiden bürgerlichen Dramen: Le fils naturel und Le père de famille Goldoni plagiiert, waren 1758 zwei Übersetzungen zu Goldoni: Le père de famille und Le véritable ami erschienen. Diese wurden vermutlich von Grimm in der Correspondance littéraire mit satirischen Sticheleien versehen. Neben der fingierten Herausgeberschaft auf den Titelseiten „Avignon 1758, Et se rend à Liège chez Etienne Bleichnarr“ enthielten beide Texte falsche Widmungszuschreibungen, die sich zum einen an die Prinzessin de Robecq und zum zweiten an die Comtesse de la Marck richteten, was als l’Affaire des dédicaces in die Literaturgeschichte einging. Beide Damen waren Palissots Gönnerinnen, denen er, der angebliche Übersetzer, diese Werke gewidmet haben sollte. Trotz des deutschen Schimpfwortes „Bleichnarr“ wurde Palissot nicht hellhörig und wähnte weniger den Deutschen Friedrich Melchior Grimm, sondern Denis Diderot als den Urheber der Schmähschrift. Deswegen wurde wohl später neben Rousseau Diderot und nicht Grimm das hauptsächliche Opfer von Palissots Philosophenschelte. Im Père de famille ist die gefälschte Widmung deutlich länger und von schmach406 Vgl. Voltaire an Rousseau, 30. August 1755. In: Rousseau: Schriften zur Kulturkritik. Über Kunst und Wissenschaft (1750). Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen (1755). Französisch, Deutsch. Hg. von Kurt Weigand. Hamburg 1995, S. 300–309. 407 Palissot: Œuvres. Lièges 1777, Bd. 1, S. 77.
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vollerem Gehalt, die dem Übersetzer, M. Huit-Étoiles d’Anjou im Auftrag der Prinzessin de Robecq angedichtet wurde, womit nicht allein der Dichter, sondern gleichermaßen seine Gönnerin mit ins Schussfeld der Anfeindungen geriet, was beim vermeintlichen Urheber, Palissot, nachvollziehende Rachegelüste schuf. Im Nachwort zur Dunciade ou la guerre des sots (1764), einer Satire auf die Schrift Friedrichs II. über Mme de Pompadour und Louis XV (1797)408 nach Popes Vorbild, nahm Palissot Stellung zu dieser kuriosen Widmung. Aufgrund seiner Herausgebertätigkeit bei der Gazette étrangère (1759–1769 mit David) und bei der Gazette anglaise (1759–1761) erlitt Palissot einen finanziellen Bankrott, von dem er sich 1760 gerade wieder erholt hatte, protegiert vom mit der Princesse de Robecq liierten Duc de Choiseul d’Amboise (1719–1790), dem Staatsmann und späteren Außenminister Frankreichs. Der ironisch-polemisch überzogene Charakter der Komödie, in dem vier Enzyklopädisten der Lächerlichkeit preisgegeben werden, war bereits im Voraus bekannt und man wusste, dass dieses Stück den Einfluss der Philosophen und Religionskritiker kritisierte, was vor allem von der Geistlichkeit goutiert wurde. Den Erfolg verdankte sich Palissots Satire nicht zuletzt dadurch, dass viele Zeitgenossen mit deren Aussagen übereinstimmten. Trotz des großen Interesses, die Komödie zählte immerhin 1500 Zuschauer, teilte diese die Gemüter. Palissots Satire wurde von der Prinzessin Robecq protegiert und akklamiert, die schließlich brustkrank, Blut spuckend und wohl tuberkulös schon dem Tode nahe, unbedingt ins Theater wollte, um sich dieses Stück anzusehen; worauf sie dann kurz darauf im Juli 1760 verstarb. Während das Stück sogar bei den Vertretern der Geistlichkeit großen Gefallen fand, reagierten die Philosophen mit Wut. Unter den Gegnern fand sich die berühmte Tragödiendarstellerin Mlle Clairon. In der Nacht nach der Premiere verfasste der Abbé Morellet die Préface de la comédie des Philosophes, mit dem Titel La Vision. Diese ebenfalls beißende, satirische Replik von seltener literarischer Qualität attackierte schamlos Palissots Sittlichkeit. In seinen Memoiren gestand Morellet später ein, dass er mit seiner Vision die Grenze des literarischen Scherzens wahrlich bei weitem überschritten hätte.409 Dass Palissots Philosophes im vom Staat finanzierten Théâtre français, der späteren Comédie française, aufgeführt wurde und einen ganzen Monat auf dem
408 Friedrich II. König von Preußen: Totengespräch zwischen Madame de Pompadour und der Jungfrau Maria. Hg., übers. und kommentiert von Gerhard Knoll. Berlin 2000. 409 „J’en dois ici faire ma confession: dans cet écrit, je passe de beaucoup de limites d’une plaisantrie littéraire envers le sieur Palissot, et je ne suis pas aujourd’hui même sans remords de ce péché; mais j’ai pourtant de quoi excuser ma faute.“ In: André Morellet: Mémoires de l’abbé Morelet sur le XVIII è siècle et sur la révolution. Paris 1821, Bd. 1, Kap. IV, S. 87.
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Spielplan410 stand, fand Grimm bedenklich und ließ in seiner Correspondance littéraire verlauten: C’est en effet une chose assez indifférente que Palissot ait fait une mauvaise comédie contre des gens respectables par leurs mœurs et par leurs talents: mais que cette farce ait été jouée sur le théâtre des Corneille, sous l’autorité du gouvernement; que la police, qui poursuit en ce pays ci avec tant de sévérité tous les ouvrages satiriques, se soit écartée de ses principes et ait permis que plusieurs citoyens fussent insultés publiquement par une satire atroce, voilà ce qui n’est pas indifférent et ce qui marque, outre en renversement de tout ordre et de toute justice, la faveur et la protection que les lettres et la philosophie ont à attendre de la part du gouvernement.411
Im Briefwechsel Voltaires (1694–1778) mit Marie de Vichy de Chamrond, der Marquise du Deffand (1696–1780) fand der Skandal um Palissots Satire auch Erwähnung, wenn Voltaire am 14. Juli 1760 an seine Freundin schrieb: Pendant ce temps-là est arrivé le scandale de la comédie des Philosophes. Mme de Robecq a eu le malheur de protéger cette pièce et de la faire jouer. Cette malheureuse démarche a empoisonné ses derniers jours. On m’a mandé* que vous étiez jointe à elle; cette nouvelle m’a fort affligé. Si vous êtes coupable, avouez-le moi et je vous donnerai l’absolution.412
Die Marquise fühlte sich darauf zuerst von d’Alembert zu Unrecht beschuldigt und ferner von Voltaire falsch verstanden. Neun Tage später rückte sie die Verhältnisse wieder richtig, ihre Unzufriedenheit über die Satire äußernd, die sie gelesen und gesehen hatte, räumte sie mit den Gerüchten auf. Dass die Satire einen Theaterskandal provozierte und die Gemüter teilte, bezeugte die Marquise, die diplomatisch für die Philosophen Partei ergriff und an den Werten der Freundschaft festhielt und den aktuellen Streit der Götter und Giganten darauf in den für die Kritik üblichen literarischen Anspielungen, vorzugsweise mit der auf Aesop zurückgehenden Fabel La Fontaines Die Ratte und der Frosch, verglich:
410 Nachdem der Theatererfolg den ganzen Monat Mai 1760 auf dem Spielplan des Théâtre Français, der heutigen Comédie Française, stand, erfolgt die erste Edition. Die Vignette zeigt einen Satyr in der ersten Edition. Öfter ist hingegen jene mit einer eine Fackel anzündenden Dame abgebildet. 411 Zitiert nach Charles Palissot de Montenoy: Les Philosophes. Édition critique avec Introduction et Notes par T.J. Barling. Exeter 1975, S. XX. 412 On m’a mandé: c’est d’Alembert qui, en date du 1erer juillet, a adressé à Voltaire une dénonciation fielleuse: „Mme du Deffand est à la tête des partisans de la pièce […] Elle protège et goûte beaucoup les feuilles de Fréron […] elle trouve L’Ecossaise une bien mauvaise pièce […] elle applaudit fort à une mauvaise critique qu’on dit que Fréron en a faite […].“ In: Cher Voltaire. La correspondance de Madame du Deffand avec Voltaire. Présentée par Isabelle & Jean-Louis Vissière. Paris 1987, S. 76 (14 juillet 1760). Vgl. die Anm., ebd., S. 541.
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On vous a donc bien dit du mal de moi? Je passe donc dans votre esprit pour l’admiratrice des Fréron et des Palissot, et pour l’ennemie déclarée des encyclopédistes? Je ne mérite ni cet excès d’honneurs ni cette indignité. Vous me demandez ma confession, et vous me promettez votre absolution. Apprenez donc que je ne me suis point jointe à Mme de Robecq, qu’à peine je la connaissais, et que je n’ai jamais eu le désir de la connaître davantage; j’ai fort blâmé sa vengeance, et le choix de ses vengeurs. J’ai été bien aise du peu de succès de sa comédie, et de la maladresse de son auteur; il n’a pas su rendre ridicules les gens qu’il voulait peindre, il a manqué son objet; en les attaquant sur l’honneur et la probité, il ne leur a pas effleuré l’épiderme. J’ai été à une représentation de cette pièce, je l’ai lue une fois; j’ai dit très naturellement que je n’en étais pas contente, et qu’à la place des philosophes j’aurais beaucoup plus de mépris que d’indignation contre un tel ouvrage; si cela ne paraît pas suffisant, et s’il faut crier tollé contre leurs ennemis, j’avoue que je n’ai point pris de parti, et que je me trouverais très ridicule d’élever ma voix pour ou contre aucun parti; il n’y a que d’amitié qui puisse engager dans ces sortes de querelles. Il y a quelques années, j’en conviens, que l’amitié m’aurait peut-être fait faire beaucoup d’impudences, mais pour aujourd’hui, je verrais avec indifférence la guerre des dieux et des géants; à plus forte raison celle des rats et des grenouilles; je lis ce qui s’écrit pour ou contre. Il y a quelques articles de Fréron qui m’ont assez divertie; le mot „Encyclopédie“, par exemple, qui est, je crois, dans sa quinzième feuille, m’a paru assez plaisant; j’aime mieux son style, que celui de l’abbé Desfontaines. Voilà l’aveu de tous mes crimes, j’attends votre ego te absolvo.413
Die Marquise stellte hier richtig, dass sie weder mit dem Kritiker Elie Catherine Fréron (1718–1776) noch mit der Geistlichkeit gleicher Meinung war und unterstrich in ihrem eleganten kritischen Kommentar zum missglückten Stück ihre Sympathie für Voltaire und die Enzyklopädisten, die in dem Stück zu Unrecht durch den Kakao gezogen wurden. In La Fontaines Fabel La Grenouille et le rat versucht ein Frosch eine Ratte mit dem Vorwand, diese in die Unterwasserwelt einzuführen, zu ködern und zu vertilgen, was ein in den Lüften kreisender Milan bemerkt, der sich als der glückliche Dritte nun auf ein doppeltes Mahl stürzen kann. Die Fabel, die mit den folgenden Kreuzreimen schließt, La ruse la mieux ourdie Peut nuire à son inventeur; Et souvent la perfidie Retourne sur son auteur,414
413 23 juillet 1760, ebd., S. 78f. 414 Jean de La Fontaine: La Grenouille et le Rat. Livre IV. Fable 11, vgl. 1.7.2018 http://www. lafontaine.net/lesFables/afficheFable.php?id=73
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kann sich als Parabel auf jene Hochstapler lesen, die sich zuerst selbst maßlos überschätzen, bevor sie tief fallen, womit der Anlass zu Palissots Philosophenschelte umrissen ist, der nun das Interesse gilt.
3.3.3 Les philosophes (1760) Berühmte Beispiele für die Tradition der Philosophenkarikatur sind bspw. die Sokrates-Satire, Die Wolken des Aristophanes oder Lukians Götter- und Totengespräche. Diesen Vorbildern folgen Molières Hochzeitskomödien, bspw. Les femmes savantes, L’école des femmes oder Tartuffe. Auch Marivauxs Komödien geben oft die Figur des Philosophen der Lächerlichkeit preis, man denke an Le triomphe de l’amour. Hier ist als weitere Philosophensatire Palissots erste Komödie Le Cercle ou les Originaux (1755) einzureihen. In dieser Parodie auf Molières Les Fâcheux werden Voltaire als Monsieur Le Volcan, seine Freundin, die Physikerin und Mathematikerin Emilie du Châtelet (1706–1769), als Araminte und Jean-Jacques Rousseau als Blaise-Nicodème karikiert.415 Wie schon mit Les petites Lettres sur de grands philosophes wird wiederum Position auf den Rängen der Antiphilosophen bezogen. Hilde Freud weist darauf hin, dass Palissot diese Helden als ideale Subjekte für zeitgenössische Satiren in seinem nächsten Angriff als falsche Philosophen diskreditierte, ähnlich wie schon jener heuchlerische Hypokrit Tartuffe. An seine Gönnerin schrieb Palissot, sich auf Molières Karikatur eines Geistigen beziehend: Le faux philosophe; l’homme singulier, manqué par Destouches: le tartuffe de société, comme on a fait celui de religion: voilà, ce me semble, des sujets qui n’attendent que des hommes, et qui valent bien le frère, la sœur, l’époux etc. Ce sont eux, madame, que je proposerais modestement, et non comme des découvertes.416
Palissot pfiff mit seinen Petites Lettres zum Angriff auf die Enzyklopädisten, die sich bald einer Zunahme von aggressiven Pamphleten der Anti-Philosophen, die Anwälte, Journalisten, Dichter, Lehrer, reformierte Franziskaner, Jansenisten und Jesuiten umfassten, ausgesetzt sahen, was nicht nur die Fortsetzung ihrer Arbeit an der Encyclopédie stark beeinträchtigen, sondern deren Veröffentlichung gefährden sollte.
415 Abbé Coyer weist im Discours sur la Satyre par les philosophes auf Parallelen zwischen dem Athen des Aristophanes und dem Paris des Palissot hin. Vgl. dazu Correspondance Littéraire, Bd. IV, S. 277. 416 Palissot: Œuvres, Bd. II, S. 147.
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Dies beklagte d’Alembert in seinem Brief an Voltaire Ende Januar 1758 lautstark, an die gängige Praxis des Autodafés erinnernd, dem die Zensur der Geistlichkeit selbst noch in diesen Zeiten Streitbares zu übergeben pflegte: „Cela s’appelle amasser les fagots au 7e volume pour nous jeter dans le feu au huitième.“417 Sogleich folgte, eine weitere Satire aus der Feder Jacob-Nicolas Moreaus: Nouveau Mémoire pour servir à l’histoire des Cacouacs (Amsterdam [Paris] 1757), wiederum in Anspielung auf eine altattische Komödie des Aristophanes, diesmal Die Frösche evozierend. Zu dieser Zeit erhitzte bereits d’Alemberts Artikel „Genève“ die Gemüter. Zum einen provozierte d’Alemberts Verteidigung des Stadttheaters Rousseau zu dessen berühmter Theaterkritik im Lettre à d’Alembert sur les spectacles, was den Bruch mit den Enzyklopädisten endgültig besiegeln sollte. Zum anderen erzürnte d’Alemberts Vergleich der deistischen Lehren des reformierten Genfer Klerus mit dem Socianismus die Geistlichkeit, die sich hier als Ketzer karikiert sah.418 Als bald darauf Abbé Giry de Saint-Cyrs Catéchism et décisions de cas de conscience, à l’usage des Cacouac (Paris 1758) erschien, worin d’Alembert als quakender Geometriker der Lächerlichkeit preisgegeben wurde, erschwerte die Zensur die Arbeit der Encyclopédie wiederum durch schärfere Kontrollen. Darauf zog d’Alembert die Konsequenzen und legte seine Mitherausgeberschaft an der Encyclopédie nieder. Als eine Erweiterung von Palissots Le Cercle folgte 1760 die Satire Les philosophes, eine Parodie auf Molières Femmes savantes, die ferner an Gressets Komödie Le Méchant (1745) erinnerte, die zu dieser Zeit noch in den Köpfen der Zuschauer präsent war. Frédéric-Melchior Grimm bezeichnete Les philosophes als eine unglückliche Kopie berühmter Vorfahren.419 Dem Modell der klassischen Hochzeitskomödie folgend, wandte sich Palissot mit dem philosophischen Vierergespann Diderot, Rousseau, Helvétius und Duclos gegen die Enzyklopädisten, die er als Theoretiker Dortidius, Théophraste, Valère und Frontin verlachte und als heuchlerische Tartuffes hinstellte. Im Stück
417 D’Alembert an Voltaire, 28. Januar 1758. In: Voltaire: Correspondance. Hg. von Theodore Besterman. Bd. 5: 1758–1760. Paris 1980; VOC, XXXIII, S. 83. 418 Der Socianismus (abgeleitet von lat. socius = der Begleiter) ist eine besondere Form des Arianismus, die besagt, Jesus sei ein außergewöhnlicher Mensch gewesen. Als Arianismus wird eine christliche theologische Lehre bezeichnet, die nach einem ihrer frühen Vertreter mit dem Namen Arius benannt ist. Auf dem Ersten Konzil von Nizäa im Jahre 325 wurde Arius verurteilt, weil er die Gottheit von Jesus Christus leugnete und stattdessen die Lehre von der wesensmäßigen Verschiedenheit von Gottvater und Gottsohn durchsetzen wollte. Hier liegt der Kern des Arianismus begründet. Der Arianismus war eine sehr einflussreiche Theologie der Antike. Vgl. https://www.kathweb.de (1.7.2018) 419 Vgl. Correspondance littéraire. Bd. II, S. 399.
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schmeichelt sich dieses Vierergespann bei Cydalise, einer leichtgläubigen, koketten und prüden Dame aus besten Kreisen ein, um dieser unter dem Deckmantel der Philosophie auf der Tasche zu liegen. Cydalise weigert sich, ihre Tochter Rosalie mit ihrem Verlobten, dem Offizier Damis, zu verheiraten, stattdessen sähe sie viel lieber einen großartigen Philosophen als Schwiegersohn. Die Buchautorin wird als femme savante der Lächerlichkeit preisgegeben. Denn von ihren vier neuen Freunden wird sie aufs Schändlichste ausgenutzt. Marton, die Soubrette, sowie Crispin, der eingeschleuste Diener des geprellten Bräutigams Damis, haben sich gegen die Philosophen verschrieben. Schließlich erkennt Cidalise doch den Schwindel an und jagt das Philosophengespann davon, so dass zum Ende ihre Tochter Rosalie von ihrem geliebten Offizier Damis zum Traualter geführt wird. Mit seinen Philosophes leitete Palissot den antiphilosophischen Literaturstreit ein. Duclos, Helvétius und Valère scheinen hierbei die ganze „Philosophensekte“ darzustellen. In der Komödie werden viele brisante Texte zitiert: Neben den materialistischen Schriften von Helvétius De l’Esprit (1758), Duclos’ Considérations sur les mœurs de ce siècle (1751) sowie den Réflexions sur l’âme des bêtes. En forme d’amusemens philosophiques (1740) von Guillaume-Hyacinthe Bougeant wird eine weiteres berühmtes philosophisches Pamphlet im Krieg der Buffons mit Grimms Le Petit Prophète de Boehmischbroda (1752) zitiert. Die beiden hauptsächlichen Opfer in Palissots beißender Personalsatire sind jedoch Diderot und Rousseau. Der Discours sur l’inégalité (1751) wird erstmals in den Szenen I, 6 und II, 2 erwähnt. Bekannt und berühmt ist dann aber die III, 8, da hier Rousseau auf die Schippe genommen und satirisch verunglimpft wird, indem Crispin in Anlehnung an den zweiten Discours sur l’inégalité wie die Tiere auf allen Vieren kriechend Salat kauen muss. Wie gemeinhin vermutet wurde, hatte sich Palissot wohl vom oben zitierten Brief Voltaires vom 30. August 1755 inspirieren lassen. In Crispin sah man eine klare Anspielung auf Rousseau, schrieb doch d’Alembert an Voltaire: „Préville doit y marcher à quatre pattes pour représenter Rousseau.“420 Dass Palissot hier nicht nur Rousseaus Werk angriff, sondern auch dessen Persönlichkeit karikierte, indem er diesen, auf die Komödie Die Ritter des Aristophanes anspielend, auf allen Vieren darstellte, wurde als Skandalon empfunden. Um seine Satire zu rechtfertigen, differenzierte Palissot zwischen „richtigen“ und „falschen“ Philosophen in den Schlussversen der Satire: „Des sages de nos jours nous distinguons les traits: / Nous démasquons les faux, et respectons les vrais.“421
420 D’Alembert an Voltaire, 4. April 1760. In: Voltaire: Correspondance. Hg. von Theodore Besterman. Bd. 5: 1758–1760. Paris 1980. 421 Palissot: Les Philosophes, Comédie. Œuvres complètes. Bd. II. Londres 1779, S. 260.
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In den Augen Voltaires hatte sich Palissot nicht nur in seiner Komödie, sondern auch in seiner Préface kompromittiert. Ebenso endete die Freundschaft zwischen Fréron und Palissot nach dem Stück im Streit, worüber seine Dunciade handelt. In seinen Theateranekdoten hielt Jean Marie Bernard Clément die Theaterpremiere der Philosophes treffend fest: Depuis la fondation du Théâtre, on n’avait peut-être jamais vu, à la Comédie Françoise, un cours de monde aussi prodigieux. C’étoit une presse, une foule, une fureur dont il n’y a point d’exemples. Les ouvrages des Corneille, des Racine, des Molière, des Crébillon, des Voltaire, n’ont jamais fait autant de bruit, attiré autant de Spectateurs, armé autant de cabales. Le sujet de la Pièce avoit excité dans Paris une fermentation générale de curiosité etc.422
Auch im Journal historique et anecdotique von J.F. Barbier wurden folgende Eindrücke zur dieser Premiere preisgegeben: Cette pièce n’est pas regardé comme une pièce de théâtre; il n’y a ni intrigue, ni intérêt, mais elle est écrite très légèrement. Elle est en récompense d’une méchanceté au-dessus de tout, jusqu’à la personnalité. On y reconnaît chacun de ceux qu’on a voulu jouer, et on y traite ces philosophes et ces savants comme des coquins, qui n’ont cherché qu’à pervertir les mœurs, et à détruire tous les préjugés nécessaires pour maintenir le bon ordre dans la société. Comme cette pièce était connue et qu’elle avait fait du bruit avant d’être représentée, l’empressement et le concours du public ont été jusqu’à l’extrême le jour de la première représentation. On n’a point vu un pareil tumulte: j’y assisté aux premières places. Elle a été applaudie et critiquée tout à la fois. Elle a eu, jusqu’au 15 de ce mois, sept représentations. La curiosité et la critique y ont toujours attiré beaucoup de monde, d’autant que cela fait une pièce de parti; mais, en général, elle est critiquée quant à la pièce et fort condamnée pour la méchanceté. 423
Hilde Freud resümiert den großen Theatererfolg beim breiten Publikum aus feministischer Sicht. In Anlehnung an Molières Femmes savantes (1672) war die Vorstellung einer gebildeten und emanzipierten Frau noch derart neu und unkonventionell, so dass sich darüber die breite Masse nur amüsieren konnte: Nevertheless, the depiction of an allegedly typical salon philosophique of the Enlightenment – the pendant to Philaminte’s salon littéraire in Molière’s play and the social salon of Gresset’s Le Méchant – furnished enough stimulation for the broad public to make the comedy one of the great theatrical successes of the day. It exposed the riddiculous pretences of an intellectually giddy, ambitious woman in pursuit of fame in the field of philosophy, science and letters.424
422 Jean Marie Bernard Clément: Anecdotes dramatiques. Bd. II. Paris 1775, S. 67f. 423 J.F. Barbier (Hg.): Journal historique et anecdotique. Bd. IV. Paris 1847, 2. Mai 1760, S. 346f. 424 Hilde H. Freud: Palissot and Les Philosophes. Genève 1967, S. 139.
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Mit seiner Personalsatire: Le Café ou l’Ecossaise, die im August 1760 in Paris aufgeführt wurde, rächte sich Voltaire an Palissots Philosophes, wenn es programmatisch im Titelzusatz heisst: „J’ai vengé l’univers autant que j’ai pu.“ Voltaires Komödie wurde zuerst David Hume zugeschrieben, angeblich von Jérôme Carré ins Französische übersetzt. Ebenso scheint der angegebene Publikationsort London – die französische Zensur umgehend – fingiert zu sein. Sodann wird der Dichter und Kritiker Frélon in 1.2. diskreditiert: Frélon, écrivant, Cela n’est pas vrai: la pièce ne vaut rien, l’auteur est un sot, & ses protecteurs aussi. Les affaires publiques n’ont jamais été plus mauvaises; tous renchérir: l’Etat est anéanti; & je le prouve par mes feuilles.425
Nach dem englischen Vorbild von Popes Dunciade, einer Eneas-Parodie, verfasste Palissot darauf eine nächste gesalzene Satire, ein Spottgedicht in drei Gesängen und Paarreimen: La Dunciade ou la guerre des sots, worin er den Streit der Philosophen in Frankreich, den er mit seiner Satire Les philosophes angezettelt hatte, mit jenem der Engländer verglich: Egayez-vous, messieurs les Beaux-esprits. Vous qui craigniez le sel de la satyre, Sel qui jamais n’anima vos écrits, Egayez-vous; voici l’instant de rire.426
An seinen ersten Text Le Cercle erinnernd, worin er Rousseau erstmals bloßstellte, der trotz Opferrolle immer seine schützenden Hände über den jungen Dichter hielt, fuhr er alles andere als dankbar und souverän fort: Mes ennemis cimentent ma puissance: Qui l’aurait cru? Ce ROUSSEAU que je hais, Ce Génevois dont le nom seul m’offense, Lui qui pouvait arrêter mes progrès, Il me seconde ! et son inconséquence En ma faveur arme son éloquence. (PD, S. 42)
In diesem Text werden kurz darauf einige der bedeutensten Enzyklopädisten und Philosophen namentlich zitiert, deren ambitiöses Encyclopédie-Projekt die konservativen Gemüter erhitzte.
425 Voltaire: Le café ou l’Ecossaise. Londres 1782, II, S. 156. 426 Palissot: La Dunciade ou La guerre des sots. Poëme. Chelsea 1764, S. 17 f. Im Folgenden im Text mit der Sigle (PD) abgekürzt.
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Mais que me font ces frêles avantages? VOLTAIRE encore unit tous les suffrages: Et MONTESQUIEU, de la nuit du trépas, Menace encore mes timides états. Un D’ALEMBERT retarde mes conquêtes; A m’attaquer leurs mains sont toujours prêtes. L’Europe entière à les yeux sur BUFFON, La Renommée est fidèle à leur nom, Et va partout publiant mes outrages. (PD, S. 43)
Ebenso reagierte jener weit weniger akklamierte Schreiberling Palissot erzürnt, der sich zu Unrecht verletzt und um seinen Platz im Dichterparnass betrogen fühlte: Ce souvenir a r’ouvert mes blessures. Ah ! c’est enfin dévorer trop injures. Venez, mes fils, venez venger l’affront Dont votre reine a vu rougir son front. Dans vos regards je vois briller l’audace: Votre dépit a peine à se cacher: Vous aspirez à régner au Parnasse, C’est la, mes fils, que je prétens marcher. (PD, S. 45)
Zum Ende glaubte sich Palissot mit den Philosophen quitt, wenn er in diesem Streit der aufgeklärten Geister, der immer mehr einem Rachefeldzug zu ähneln schien, wiederum mit spitzen Federn zurückschoss: Messieurs les Sots, nous voilà quitte à quitte: Chacun de nous a le lot qu’il mérite. Dans vos écrits vous m’avez outragé: J’en suis content; ma gloire est votre ouvrage. Par son Sifflet Apollon m’a vengé, Et les regrets seront votre partage. Je goûte enfin le repos du vrai Sage Pour le troubler vos cris sont impuissans. Vivons en paix désormais, j’y consens; Mais respectez mon tranquille hermitage: Ou je reviens terrible à l’abordage. N’espérez pas éviter mon coup d’œil, Messieurs les Sots, je vous voie d’Argenteuil. (PD, S. 76)
Mit seinem Stück entfachte Palissot ein Autodafé, das von den größtenteils konservativen Pariser Theatergängern akklamiert wurde, die den wissenschaftlichen Erkenntnissen, welche die gewohnten Weltwahrheiten infrage stellten, mit Skep-
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sis begegneten. Hilde Freud urteilt scharf über Palissots Versuch, es dem großen Pope gleichmachen zu wollen, dem der allzu humorlose Franzose mitnichten das Wasser reichen könne: Devoid of both Pope’s talent and brillant wit, his own Dunciade was, upon its appearance, held to be for what it was, a humorless piece of invective where, once aigain, Diderot – now mentioned by name – was one of the principal objects of Palissots hate.427
Das letzte Wort ist in diesem Philosophenstreit jedoch noch nicht gesprochen. Als hauptsächliches Opfer der Satire versteht Hilde Freud nicht Rousseau, sondern Diderot, auf den mit dem latinisierten Anagramm Dortidius und auf dessen Dramen Le fils naturel (1757) und Le père de famille (1758) explizit angespielt wird.428 Ferner wird mit „une gaillardise assez philosophique“ III, 5 an jene pornographischen Spitzen aus Diderots Roman Les Bijoux indiscrets (1748) erinnert. Daneben boten der Lettre sur les sourds et les muets (1751) sowie die Pensées sur l’interprétation de la nature (1754) weiteren Stoff für diese Philosophensatire. Wohl nicht ganz zufällig an ihren Namensvetter und den Begründer der Psychologie erinnernd, betont Hilde Freud in ihrer Analyse, dass hier eine psychische Verletzung als Katalysator für ein weiteres künstlerisches Meisterwerk ausschlaggebend war, wenn Diderot, dessen satirische Messer häufig äußerst scharf geschliffen waren, in seinem Neveu de Rameau zum Schluss verlauten ließ: „Rira bien qui rira le dernier.“429 H. Freud fragt sich, warum sich Diderot von einem solchen kleinen Schreiberling so hat provozieren lassen: „[…] why Diderot expended so much vitality, wrath and, indeed talent on opponents presumably as unworthy as Palissot and his breed.“430 Nach der Veröffentlichung der Petites Lettres (1757) wurde Diderot neben Rousseau zum weiteren persönlichen Feind Palissots, der nun mit einem Doppelangriff dessen Achillesferse zu treffen suchte. Nicht nur schmälerte er Diderots Arbeit als Enzyklopädist, auch attackierte er seine Stücke und Abhandlungen mit dem Vorwurf des Plagiats. Le fils naturel wäre alles andere als ein bahnbrechender Erfolg, vielmehr hätte Diderot damit seine eigene Familie gegen sich aufgebracht, die sich am unreligiösen Ton störte. Mit seinem zweiten Stück Le Père de famille erging es ihm nicht viel besser. Diesmal legte ihm die Zensurbehörde
427 Hilde H. Freud: Palissot and Les Philosophes. 1967, S. 215. 428 Berühmt ist die Szene V. l, die vom Zensor Crébillon gestrichen wurde und erst wieder in der Ausgabe von 1777 erscheint. 429 Hilde H. Freud: Palissot and Les Philosophes. 1967, S. 24. 430 Ebd., S. 30.
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Ketten an: Malesherbes fürchte die öffentliche Kritik aufgrund des Gebets im zweiten Akt.431 Allein schon wegen der zunehmenden Publikationsschwierigkeiten der Encyclopédie, verbunden mit jenem durch Helvétius De l’Esprit provozierten Skandal, hielt sich Diderot, ohnehin schon in einer unvorteilhaften Position, was seine Ansprüche auf Richtigstellung bei der Zensur anging, stillschweigend zurück. Zu diesem Zeitpunkt lud ein gewisser Abraham Chaumeix seine Waffen mit gewaltiger antiphilosophischer Munition, so dass dessen Préjugés légitimes (1756) die schon geschwächten Enzyklopädisten nochmals empfindlich treffen sollten. Wiederum schien es dem schon zur Genüge schikanierten Verleger angebracht, ruhig die Nerven zu bewahren. Als dann noch die Mémoire pour Abraham Chaumeix als erneute schriftliche Verleumdung Diderot anschwärzten, protestierte dieser, auf seine Unschuld pochend, gegenüber Grimm und Malesherbes.432 Trotz der Bitten seiner Freude, das gefährlich brodelnde Pariser Pflaster zu verlassen, entschied Diderot sich dafür, in der Stadt zu bleiben. Mit seinem Bleiben demonstrierte er sein reines Gewissen und seine Unschuld. Schließlich wollte er die Encyclopédie zu einem erfolgreichen Abschluss bringen, wie er dies in einem Brief an Grimm beteuerte.433 Auch seiner Freundin Sophie Volland gegenüber ließ er verlauten, dass er seinen Intellekt weiterhin dafür einsetzte, um den bestehenden Feindseligkeiten die Stirn zu bieten.434 Wie prekär es um die Encyclopédie stand und welchen Anfeindungen Diderot in dieser Kabale ausgesetzt war, lässt sich nur erahnen, wenn Voltaire an d’Alembert im April 1760 schreibt: „Oported Diderot mori pro populo.“435 Diderot sollte als goldenes Kalb fürs Volk sterben. Morellets Versuch, seinem Freund mit seinem Conseil de Lanternes, Ou La véritable Vision de Charles Palissot (1760), einem satirischen Post-Scriptum, zu Hilfe zu eilen, missglückte, da man Diderot selbst als den vermeintlichen Autor hielt. Seine Freunde mussten sich wundern, warum er all jene Kränkungen professioneller oder persönlicher Art so ruhig hinzunehmen schien, ohne auf die Barrikaden zu gehen oder lautstark zu protestieren. Eine mögliche Antwort findet sich in einem Schreiben an Malesherbes, worin er explizit seine Auffassung darlegt:
431 Vgl. Diderot à Malesherbes, 20 octobre 1758. In: Denis Diderot: Correspondance. Hg. von Georges Roth. Paris 1955–1970, Bd. II, S. 68. Sigle (DC). 432 Vgl. Diderot à Malesherbes, 7 avril 1759, DC II, S. 117; vgl. Diderot à Grimm, 1 mai 1759. In: DC II, S. 129. 433 Vgl. ebd. In: DC II, S. 120. 434 Vgl. Diderot à Sophie Volland, 18 august 1759. In: DC II, S. 232. 435 Vgl. Voltaire à d’Alembert, 25 avril 1760. In: VOC, XLV, S. 229.
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Je n’ai point été à la pièce des Philosophes. Je ne l’ai point lue. Je n’ai point lu la Préface de Palissot, et je me suis interdit tout ce qui a trait à cette indignité. Loin de ces injures attroces, je ne serai point tenté de manquer à la promesse que je me suis faite et que je me suis tenue jusqu’à présent de ne pas écrire un mot de représailles. Quand les honnêtes gens veulent bien s’indigner pour nous, nous sommes dispensés de l’être.436
Dass Diderot hingegen bei Voltaires Premiere der Ecossaise, worin der Publizist und hauptsächliche Voltaire-Kritiker Elie Catherine Fréron (1718–1776) in der Figur Wasp als widerlicher Klatschkolumnist karikiert wurde, Präsenz markierte, um seinen Groll öffentlich zu zeigen, ist überliefert. Voltaire, der sich wohl auch über Diderots Ruhe zu wundern schien, die so ganz und gar nicht zu dessen sonstigem, leicht reizbaren Temperament passen wollte, erhielt bald darauf folgendes Schreiben: Vous vous êtes plaint, à ce qu’on m’a dit, que vous n’aviez pas entendu parler de moi au milieu de l’aventure scandaleuse qui a tant avili les gens de lettres et tant amusé les gens du monde. C’est, mon cher maître, que j’ai pensé qu’il me convenoit de me tenir tout à fait à l’écart; c’est que ce parti s’accordait également avec la décence et la sécurité; c’est qu’en pareil cas il faut laisser au public le soin de la vengeance; c’est que je n’ai jamais lu ni les Petites Lettres sur les grands philosophes, ni cette satire dramatique où l’on me traduit comme un sot et comme un fripon; ni ces préfaces où l’on s’excuse d’une infamie qu’on a commise, et m’imputant de prétendues méchancetés que je n’ai pas faites et des sentiments absurdes que je n’eus jamais.437
Obwohl Diderot gegenüber Malesherbes und Voltaire eine offensichtliche Gleichgültigkeit gegenüber Palissots Attacken verlauten ließ, mussten ihn die persönlichen Anfeindungen trotz allem tief getroffen und verletzt haben. In seinem für den zehnten Band der Encyclopédie vorgesehenen Artikel „Menace“, der in der Zeit des Philosophenstreits entstanden ist und hier in Auszügen wiedergegeben werde soll, findet sich Diderots Stellungnahme: MENACE, s.f. (Gram. Et Morale) c’est le signe extérieur de la colère ou du ressentiment. Il y en a de permises; ce sont celles qui précèdent l’injure, & qui peuvent intimider l’agresseur & l’arrêter. Il y en a d’illicites; ce sont celles qui suivent le mal. Si la vengeance n’est permise qu’à Dieu, la menace qui l’annonce est ridicule dans l’homme. Licite ou illicite, elle est toujours indécente. Les termes menace et menacer ont été employés métaphoriquement en ce cent manières diverses. On dira très bien, par exemple, lorsque le gouvernement d’un peuple se déclare contre la philosophie, c’est qu’il est mauvais: il menace le peuple d’une stupidité prochaine. Lorsque les honnêtes gens sont traduits sur la scène, c’est qu’ils sont
436 Vgl. Diderot an Malesherbes, 1.6.1760. In: DC. III, S. 34. 437 Diderot an Voltaire, 28.11.1760. In: Roth, Corr. III, S. 275.
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menacés d’une persécution plus violente; on cherche d’abord à les avilir aux yeux du peuple […].438
Ebenso war die für den Setzer bestimmte Anmerkung Diderots von Interesse, die vom Zensor Le Breton geschwärzt wurde, aber dank neuester Forschungsmöglichkeiten wiedergegeben werden kann: Je pris très instamme[nt] qu’on ne s’avise pas de toucher à cette article [sic]. Il n’y a rien qui mérite admira[tion] et je suis bien à plaind[re] s’il ne m’est pas perm[is] de me venger d’un faquin lorsque l’occasion se présent[e]. Je ne veux pas ici de correcteur […] Je ne suis pas en état de mener ma besogne. [Il] faut que je la laisse […] Corrigez et tirez, faisant très sérieuse attention à ma note.439
Bald hatte Diderot wieder den Kopf frei für seine literarischen Schriften. Seine Freude über die Premiere seines Le Père de famille in der Comédie Française war groß, wenn er an Voltaire schrieb: „[…] j’aurais le succès qu’il faut pour contrister mes ennemis. Il s’est élevé du parterre des voix qui ont dit: Quelle réplique à la satire des Philosophes! Voilà le mot que je voulois entendre.“440 Seine angenehme Überraschung über diesen glücklichen Schachzug von Diderots Premiere und deren positiven Aufnahme beim Publikum ließ Voltaire gegenüber Etienne Noël Damilaville (1723–1768) verlauten. Je regarde le jour du succès du Père de famille comme une victoire que la vertu a remporté, et comme une amende honorable que le public a faite d’avoir souffert l’infâme satire intitulée la Comédie des Philosophes.441
Wie Diderot in diesem Streit der Philosophen zumute war und dass ihm das Lachen reichlich vergangen war, kann aus jener Replik aus dem Gespräch Cinq Mars et Derville (1760) herausgehört werden, was für die Auseinandersetzung der Satire und der Rolle des Lachens im Kontext dieser Arbeit nicht irrelevant ist. Darin umschrieb Diderot den ungenannten Palissot höchstwahrscheinlich als jenen „méchant“, der aufgrund seines Ressentiments immer auf Verletzungen aus war: Est-ce que vous ne voyez pas que le nuisible est toujours l’idée principale et permanente du méchant? Il blesse, et il le sait; mais non-seulement il est occupé de nuire, il faut encore qu’il
438 Gordon/Torrey: The censoring of Diderots Encyclopédie and the Re-established Text. New York 1947, 36, A.-T, XVI, S. 115. 439 Ebd., S. 70. 440 Diderot an Voltaire im Februar 1761. In: Roth: Corr., Bd. III, S. 292. 441 Voltaire an Damilaville, 3.3.1761. In: Roth: Corr., Bd. III, S. 292.
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travaille en même temps à prévoir et à parer la vengeance et le ressentiment toujours prêts à fondre sur sa tête. L’importance du mystère et du secret redouble encore en lui la tension d’esprit; il travaille en même temps à prévoir et à parer la vengeance et le ressentiment toujours prêts à fondre sur sa tête. L’importance du mystère et du secret redouble encore en lui la tension d’esprit; il travaille sourdement lorsque les autres se délassent. Pour être accessible au rire, il faut que l’âme soit dans un état de calme et d’égalité; et le méchant est perpétuellement en action et en guerre avec lui-même et avec les autres: voilà pourquoi il ne rit point.442
Mit seinem satirischen Dialog zwischen (Rameau) Lui und (Diderot) Moi rächte sich Diderot post mortem an Palissots unrechtmäßiger Verunglimpfung, sich über die Fantasielosigkeit dieses Verfassers von platten Plagiaten aufs Köstlichste amüsierend, was Jean Fabre folgendermassen kommentierte: Charles Palissot de Montenoi (1730–1814), nommé en tête, restera sa victime de prédilection: il en fait le cynique par excellence, prince des fourbes et des parasites, mais sans fantaisie, sans génie, d’une servilité si basse qu’elle donne la nausée à Rameau lui-même. Du reste plagiaire et plat écrivain.443
Der philosophische Dialog Le Neveau de Rameau oder auch Satire seconde entstand während Diderots Arbeit an der Encyclopédie und liest sich wie ein Who is who aus dieser Zeit. Diderot spiegelt den Philosophenstreit der 1760er Jahre mit einer ähnlichen Auseinandersetzung, die sich rund zehn Jahre früher abgespielt hatte, der Querelle des Bouffons. Damals stritten sich die Vertreter der traditionellen französischen Musik, vorneweg von Jean-Philippe Rameau vertreten, mit den Modernen unter Leitung von Jean-Jacques Rousseau, über die Modernisierung der französischen Oper mittels der italienischen Opera buffa. Letztere ist nicht nur als eine Parodie der tragischen Oper zu verstehen, sondern entwickelte sich darüber hinaus zu einer neuen komischen Gattung. Die Comédie Italienne und im Besonderen das Théâtre de la Foire begannen die während dieser Querelle entstandenen Konzepte umzusetzen, so dass die Tragödie der Musik mit einer neuen natürlichen Leichtigkeit versehen werden konnte. Nicht nur Diderots Text selbst, sondern auch dessen Publikationsgeschichte ist äußerst abenteuerlich: Das Manuskript kursierte wohl vorerst handschriftlich und gelangte dann im Nachlass des Dichters mit seiner schon zu Lebzeiten an Katharina die Große überschriebenen Bibliothek nach Russland. Hier stieß der deutsche Offizier und Dichter Friedrich Maximilian Klinger auf das Manuskript
442 Gordon, Torrey: The censoring of Diderots Encyclopédie and the Re-established Text. 1947, Bd. IV, S. 472. 443 Denis Diderot: Le Neveu de Rameau. Hg. von John Fabre. Genève 1950, S. 145.
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und schickte es zuerst an Friedrich Schiller, von dem es in Goethes Hände gelangte. Dieser hatte sich schon als Elfjähriger im Juli 1760 die deutsche Version von Palissots Satire, Die Weltweisen, in seiner Geburtsstadt Frankfurt am Main angesehen. Gut ein Jahr später folgte ein weiteres Stück aus der französischen Hauptstadt, diesmal aus der Feder jenes zuvor noch ridikulisierten Dortidius, aus Diderots bürgerlichem Trauerspiel Le Père de famille. Mit Diderots Ideen wurde Goethe in Strassbourg bekannt, initiiert durch seinen Freund und Lehrer, Johann Gottfried Herder, der den französischen Philosophen selbst persönlich in Paris (1769) getroffen hatte. Dass der dialogische Charakter des Entretien d’un père beim jungen Goethe einen prägenden Eindruck hinterlassen sollte, reflektiert dieser später in Buch XI seiner Autobiographie Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit (1811). In Weimar wurde der französische Philosoph und Dramatiker bewundert, dessen Dramen schon vorab von Lessing ins Deutsche übersetzt wurden und später die Hamburgischen Dramaturgie (1767) und im Speziellen jene des bürgerlichen Trauerspiels beeinflussen sollten. Als Schiller, der selbst schon die berühmte Episode von Madame de Pommeraye aus Jacques le Fataliste ins Deutsche übersetzt hatte, seinem Freund Goethe Klingers Fund übergab, erkannte dieser sofort den außergewöhnlichen Charakter des Textes. Goethe erstellte darauf eine deutsche Übersetzung, die er 1805 publizierte. Rameaus Neffe wurde darauf zuerst im deutschen Sprachraum gefeiert, bevor er in Frankreich lange nach Diderots Tod, nämlich erst 1820 dank einer Rückübersetzung ins Französische, zugänglich wurde, worauf schließlich 1890 das französische Original Diderots wiederentdeckt und publiziert werden konnte. In seinen Anmerkungen zu Rameaus Neffen erkannte Goethe, dass diese rachsüchtige Satire „unstreitig […] durch den Angriff Palissots auf die Philosophen“444 entstanden sei. Hilde Freud führt den Gedanken weiter und folgert, dass sich ohne Diderots Chef-d’œuvre heute wohl kaum jemand mehr für Palissot interessieren würde. Bei Diderots Satire handele sich dergestalt um eine satura im lateinischen Sinn: „[…] which allows for comment and discussion on a wide range of topics, and in which traditional moral problems are developed with considerable freedom of expression.“445 Im Neveau de Rameau, diesem Dialogue qua Dialogues, der nach einem Schachspiel einsetzt, werden unterschiedliche Themen berührt und wieder fallen gelassen, begonnen von moralischen Betrachtungen bis hin zu literaturästhetischen Fragen. Da werden Fragen zur Artenvielfalt, zur Missbildung, über Normalität und Verrücktheit formuliert. Daneben werden soziale Themen berührt, die
444 Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke. Bd. II. Stuttgart 1840, S. 106. 445 Hilde H. Freud: Palissot and Les Philosophes. 1967, S. 208.
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beispielsweise den Menschen in der zeitgenössischen Gesellschaft situieren und dessen Selbstbestimmung skizzieren. Wohl in ihrer ausgeprägtesten und fein zilisiertesten Form greift hier eine Verlachung von individuellen Schwächen, die sich manchmal behutsam und manchmal gewaltsam vollzieht. Neben der Gruppe der berühmten Maler, Dichter, Philosophen und Naturwissenschaftler, Geuze, Voltaire, Jean Racine, Marivaux, d’Alembert und Buffon, folgen in einer zweiten Wirtschaftsvertreter und Politiker, die, ihre Beziehungen nutzend, sich in der Welt der Künste zu verewigen suchen. In einer dritten Gruppe werden sodann jene Parasiten und Trittbrettfahrer, wie jene Antiphilosophen – wie z. B. La Morlière, Poinsinet, Fréron, La Porte, Robbé und vornehmlich Palissot – versammelt. Ferner kommen auch illustre Aristokraten, Schauspielerinnen oder Kleriker dran, die eine eher mondäne Moral der Metropole repräsentieren. Die Porträts, zum einen jenes des untauglichen Neffen, einem unkonventionellen Musiker und zum anderen jenes des berühmten Komponisten, Jean-François Rameau, spiegeln treffend Diderots Missgunst gegenüber Palissots Komödie. Der Gegensatz zwischen den beiden Protagonisten könnte nicht größer sein, stoßen doch hier zwei unterschiedliche Temperamente, zwei divergierende Ideale, aufeinander. Eine enorme Distanz trennt die beiden Gesprächspartner, die unterschiedliche Positionen des Materialismus vertreten: Da ist einerseits der philosophische Materialist des Moi-Diderot, der dem alten Griechen, Lukretz die Referenz erweist und ganz das philosophische Ideal der Aufklärer verkörpert. Andererseits vertritt Lui-Rameau jenen mittelmäßigen Materialismus von der Stange, der sich selbstbezogen mit materiellen Dingen umgibt und so auch dem Gegenteil jenes vom Moi-Diderot verkörperten philosophischen Ideals entspricht. Der Neffe ist musisch talentiert, was er aber aufgrund der Gesellschaft der Bankiers, vorneweg Bertin, nicht entwickeln kann, stattdessen hat diese korrumpierte Gesellschaft Leuten wie Palissot, der vom Neffen dauernd erwähnt und zitiert wird, zu Ruhm und Erfolg verholfen! In seinem Paradoxe sur le Comédien schreibt Diderot diesbezüglich: „La satire poursuit un vicieux, la comédie poursuit un vice.“446 Nach Abbé Morellets La Vision und dessen Théorie du paradoxe (1775) reagierte sodann Voltaire gegen Palissot mit drei satirischen Gegenschlägen Le Pauvre Diable, Le Russe à Paris sowie La Vanité. Auf die Vision des Abbé Morellet erschien kurz darauf anonym im gleichen Stil dieser biblischen Prophezeiungen
446 Denis Diderot: Œuvres esthétiques. Hg. von Paul Vernière. Paris 1959, S. 338.
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Le conseil des lanternes ou la véritable vision, dessen Autorschaft von Grimm in der Correspondance littéraire aufgedeckt und Palissot zugeschrieben wurde.447 Im Discours sur la satyre (Athènes 1760) fragte der Abbé Coyer noch, warum Palissots ironische Behandlung und persönliche Diffamierung erhabener Gelehrter die Öffentlichkeit derart erzürnten. Es wird an die verleumdende Darstellung der sokratischen Gesprächsführung in Aristophanes’ Komödie Die Wolken erinnert, die als gottlose Verführung der Jugend interpretiert wurde und selbst zwanzig Jahre nach der Erstaufführung im Prozess gegen die Person Sokrates als Beweismittel in der Anklageschrift Verwendung fand, worauf dessen Verurteilung zum Tode durch den Schierlingsbecher ausgesprochen wurde. Coyers Appell, das Porträtieren öffentlicher Persönlichkeiten als allgemeine Charaktere auf der Theaterbühne zu unterlassen, wurde von den Philosophen begrüßt. Voltaires Recueil des facéties parisiennes pour les six premières mois de l’an 1760 umfasste einige kritische Stimmen, die hinsichtlich Palissots Satire für die Philosophen Stellung bezogen. Ferner wurde darin Palissots Satire mit Voltaires bissigen Kommentaren in annotierten Fußnoten wiedergegeben, womit er seine Position als „spiritual godfather of the philosophic movement in France“448 zurückerobert hatte. Voltaire sowie anderen Freunden der Philosophen war unverständlich, dass ein solch hohes Tier wie Choiseul einen Dichter wie Palissot protegierte. Voltaire betonte hinsichtlich Palissots Dunciade, dass Diderot von dieser „Palissotise“ nichts zu befürchten hätte.449 Dazu war Palissot ein schlechter Verlierer, dessen Kreis von Feinden mit den Jahren zunahm; schließlich kehrten sich Choiseul und Madame de Pompadour von ihm ab. In zunehmender Bitterkeit beschuldigte Palissot sogar seinen früheren Freund Antoine-AlexandreHenri Poinsinet (1735–1769) aufgrund dessen Einakters Le Cercle, ou la Soirée à la Mode450 (1764) des Plagiats. Seinerzeit war dieser für seine zahlreichen Opernlibretti sowie Theaterparodien bekannt, die Opernparodien Gilles Garçon peintre z’amoureux et rival (1758) und Sancho Pança dans son île (1762), die Komödie Le Sorcier (1764) und schließlich die Fielding-Parodie Tom Jones (1765) waren beachtliche Erfolge. Poinsinets Einakter Le Cercle, ou la Soirée à la Mode, in Prosa gehalten, kommt ohne dramatische Handlung aus und beschränkt sich auf eine pikante Sittenmalerei der Salonkultur. Im Salon der koketten Araminte erscheinen so
447 Correspondance littéraire. Bd. IV, S. 269; Delafarge: La vie et l’œuvre de Palissot (1912). Paris 1970, S. 232. 448 Hilde H. Freud: Palissot and Les Philosophes. 1967, S. 188. 449 Voltaire à Damilavill, 14 mars 1764. In: VOC, LIV, S. 188. 450 Poinsinet: Le cercle ou la Soirée à la Mode. Comédie en un acte. Hg. von Georges d’Heylli. Paris 1887.
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allerlei illustre Gestalten der Gesellschaft, die immer wieder mit banalen Nichtigkeiten jenen schon anwesenden Dichter unterbrechen, der endlich aus seinem Dramenmanuskript vortragen möchte und im ganzen Stück gerade mal in der 8. Szene seinen Eingangsvers zitieren kann: „Du centre des déserts de l’inculte Arménie …“ – worauf jenem wieder das Wort abgeschnitten wird, und man sich in dieser mondänen Gesellschaft weiterhin mit allerlei amüsiert, unterhält und vergnügt.451 Palissots agressive Personalsatire Le Cercle ou les Originaux hatte am 26. November 1755 vor dem König Stanislas in Nancy Premiere, worauf sich Poinsinets Parodie größtenteils bezog. Welchen negativen Eindruck diese beim Literaturkritiker La Harpe hinterließ, bekundet dieser in seinem Cours de littérature: Je l’ai rencontré deux ou trois fois, dit-il; il était fort ennuyeux, fort plat, et ne pouvait être supporté que comme jouet de ceux qui n’avaient rien de mieux à faire qu de s’en amuser… Son Cercle est un centon dialogué où rien n’est à lui, si ce n’est les inepties qu’il y a semées. La plus jolie scène est prise tout entière des ORIGINAUX de Palissot […].452
Hingegen urteilte Grimm über Poinsinets Erfolg seiner treffenden Gesellschaftssatire wohlwollend in der Correspondance littéraire: Ce Cercle, dit-il, a beaucoup réussi; ce n’est point là une comédie: il n’y a point d’intrigue, point de scène, et surtout point de dialogue; mais c’est un tableau assez frappant des sociétés de Paris. Le ton de tous ces gens-là n’est pas trop mauvais, et c’est là le principal mérite des pièces de ce genre. Vous trouverez dans celle-ci de la vivacité et un grand nombre de traits… Pour tout dire enfin, le nom de l’auteur a aussi beaucoup contribué au succès de la pièce. On en attendait si peu, qu’il n’y avait personne à la première représentation, et l’on été d’autant plus émerveillé qu’on était moins préparé à voir quelque chose de supportable.453
In der zweiten Szene äußert sich Lucile gegenüber Lisidor hinsichtlich der Aufgabe der Frauen in dieser Zeit äußerst luzide und scharfsinnig: Vous me le répétez sans cesse, et, d’après vos discours et mes livres, je suis quelquefois bien tentée de croire qu’une obéissance aveugle tient un peu du préjugé; mais quand la réflexion me ramène à moi-même, ce que je crois plus fermement encore, c’est que l’exacte observation des bienséances est un des premiers devoirs de mon sexe, et qu’entre le vice et la vertu il n’y souvent qu’un préjugé de différence.454
451 Auf diesen Vers spielt Edouard Pailleron im zweiten Akt seiner Komödie Le Monde où l’on s’ennuie (1881) an. 452 Jean François de La Harpe: Lycée ou Cours de littérature. Bd. XII. Paris 21825, S. 504f. 453 Grimm: Correspondance littéraire. Hg. von Maurice Tourneux. Bd. VI, 1878.
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Als Poinsinet von seiner Spanienreise 1769 nicht mehr zurückkehrte, da er beim Schwimmen im Fluss ertrunken war, konnte sich wohl Grimm einen bissigen Nachruf in seiner Literaturzeitschrift nicht verkneifen: Je recommande l’âme du grand Poinsinet, dit-il en terminant, au dieu Guadalquivir, et je ne me noierai jamais dans ce fleuve de peur de l’y rencontrer. Il avait en son vivant un secret qui me désolait: il excellait dans le genre ennuyeux, mais il savait filtrer l’ennui à travers ses pièces si artistement et d’une manière si imperceptible qu’on en était suffoqué sans savoir de quel endroit sortaient de si mortelles exhalaisons.455
Ein letztes Mal versuchte sich Palissot mit den Philosophen anzulegen: 1770 erschien L’homme dangereux, ou le Satirique anonym, dessen Geheimnis um die Autorschaft hingegen bald gelüftet wurde. Aber dieser Anschlag verfehlte seine Wirkung, so dass sich Palissot geschlagen geben musste. Ein Jahr später wurden immerhin seine Mémoires sur la littérature (1771) wahrgenommen. Offensichtlich bildet eine tief empfundene Erfahrung eine Matrix, woraus herausragende Werke geschaffen werden. Voltaires tief empfundene Depression nach dem Erdbeben von Lissabon war ausschlaggebend für das gleichnamige berühmte Gedicht sowie für seinen Candide (1759). Palissots Satire muss auch Diderot tief getroffen haben. Zu jener Zeit, als Diderot mit der Publikation der Encyclopédie beschäftigt war, hätte ein sofortiger Gegenanschlag dieses große Unternehmen gefährdet. So musste er seine großartige Personalsatire in der Schublade, kommende Zeiten abwartend, ruhen lassen, da der Text allein schon aufgrund der Evokation vieler noch lebender Zeitgenossen nicht an der Zensur vorbeigekommen wäre, wie Hilde Freud unterstreicht. His belated reply took the form of strictly personal satire. Since many of its victims lived on through the Revolution and into the following century, publication during his lifetime would, wherefore, have been unthinkable. The acclaim of posterity, however, has amply justified his faith in the slow march of progress and in the ultimate triumph of truth.456
Und an kommende Zeiten denkend, könnte Diderot mit dem Marquis aus Schillers Don Carlos gedacht haben: „Das Jahrhundert ist meinem Ideal nicht reif. Ich lebe, ein Bürger derer, welche kommen werden.“457
454 Poinsinet: Le cercle ou la Soirée à la Mode. Comédie en un acte. Hg. von Georges d’Heylli. Paris 1887, S. 14. 455 Grimm: Correspondance. Hg. von Maurice Tourneux. Bd. VI, 1878. 456 Hilde H. Freud: Palissot and Les Philosophes. 1967, S. 220. 457 Friedrich Schiller: Don Carlos. III.10. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. II. Hg. von Peter-André Alt. München, Wien 2004, S. 121.
4 Poetische Palimpseste 4.1 Gottsched-Polemiken – Gelehrtensatire mit Satyrspiel Nach dem Modell von Samuel Richardsons drittem berühmten Briefroman in sieben Bänden The History of Sir Charles Grandison (1753) über jenes beispielhafte männliche Vorbild der Religion und Tugend458 schrieben Bodmer und Wieland zwei Jahre später eine kurze scharfzüngige Personalsatire, worin Sir Charles zweiter Sohn, eine signifikante Rolle spielt. Die Görlitzer Geschichte richtet sich gegen Gottsched und seine Anhänger und attackiert in scharfer Polemik die Critische Dichtkunst (1730) des Sachsen. Wie von Dieter Martin bemerkt, ist der in Kooperation mit Wieland entstandene Text Edward Grandisons Geschichte in Görlitz eine Polemik gegen die Adaption des Arminius-Epos Hermann oder das befreite Deutschland (1751) des von Gottsched protegierten Christoph Otto Freiherr von Schönaich (1725–1807). Neben der Ausschlachtung von Wielands eigenem Manuskript, dem Epenfragment Herrmann (1751), mit welchem dieser seine Karriere als blutjunger Dichter begann und sofort auf die Unterstützung des begeisterten Bodmer in Zürich zählen konnte, antwortet der polemische Text zudem auf Schönaichs Attacke gegen die Schweizer in seinem Werk Die ganze Aesthetik in einer Nuß oder neologisches Wörterbuch aus dem Jahre 1754. Neben der Ankündigung einer Dunciade für die Deutschen, die Wieland seinem Verbesserten Herrmann beifügte,459 verfasste ebenso Bodmer in der Tradition altattischer und englischer Satiretechniken ein ähnliches Pamphlet, Das Banket der Dunse (1758), womit Bodmer nach dem Leipziger Literaturstreit und vor seiner Personalsatire Gottsched. Ein Trauerspiel in Versen, oder, Der parodirte Cato (1765) nochmals gegen den literarischen Feind aus Sachsen die satirisch-parodistischen Messer wetzte.460 In medias res setzt der fingierte Briefroman ein und zieht nicht ohne Selbstironie eine kritische Bilanz des Leipziger Literaturstreits, wenn er den Leser
458 „The example of a man acting uniformly well trough a variety of trying scenes, because all his actions are regulated by one steady principle: A man of religion and virtue; of liveliness and spirit; accomplished and agreable; happy in himself, and a blessing to others.“ In: Samuel Richardson: The History of Sir Charles Grandison in a series of letters. Bd. 1. London 1754. Preface, unpaginiert. 459 Vgl. Dieter Martin: Das deutsche Versepos im 18. Jahrhundert. Studien und kommentierte Gattungsbibliographie. Berlin, New York 1993, S. 150; vgl. auch Fritz Budde: Wieland und Bodmer. Berlin 1910. 460 In: Johannes Crüger (Hg.): Joh. Christoph Gottsched und die Schweizer J.J. Bodmer und J. J. Breitinger. Berlin 1880, S. 127–152.
https://doi.org/10.1515/9783110487930-005
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mitten in die scharfzüngigen Gefechte der Poetikdiskussion über das Wunderbare sowie über die literarische Kontroverse über das biblische Epos im Hexameter einführt, der zwischen Leipzig und Zürich, als deutsche Fortsetzung der französischen Querelle d’Homère (1714–1716) geführt wurde. Darin werden Schönaichs Hermann-Epos, das Bodmer als unerträglich lang und zu pedantisch moralisierend beurteilte sowie der Zugang Gottscheds und derjenige seiner Anhänger zum Hermann-Stoff kritisch aufgespießt. Inhaltlich wird in den sieben Briefen ein Zusammentreffen des Schweizers Martin Kreuzner, in realiter Bodmers Freund Martin Künzli aus Winterthur, mit dem Engländer Edward Grandison, dem fingierten ältesten Sohn von Carl Grandison, und mit dem Gottschedianer, dem Freiherr von Schönaich in einem Gasthaus in Görlitz geschildert. Dieser Gruppe, die sich sofort intensiv in ein Gespräch über den Stand der anmutigen Wissenschaften in Deutschland zu vertiefen beginnt, gesellt sich der Rhapsode Fridolin aus dem Appenzellerland zu, der zum Ärger Schönaichs Wieland, Klopstock, Bodmer und sogar Gottsched zitiert. Fünf der sieben fingierten Briefe richtete Martin Kreuzner an Heinrich Fischer in der Zeitspanne vom 10. April bis zum 12. Mai aus Görlitz, dem Wohn- und Arbeitsort des Mystikers und Radikalpietisten, Jakob Böhme.461 Neben einem Brief Fischers aus Trogen, dem Kurort der Zürcher und Wohnort des befreundeten Arztes Laurenz Zellwegers, erfolgt ferner ein Brief von Sir Edward Grandison an den Doctor Patridge Sawnders. In den Briefen entwickelt sich ein rhapsodisches Gespräch zwischen dem Freiherrn von Schönaich, der treu zu Gottsched hält und sich herablassend über die Ästhetik der Schweizer, besonders deren Milton-Verehrung sowie deren Poetik des Wunderbaren äußert, und dem fingierten Edward, Charles Grandisons Bruder und ältestem Sohn von Carl Grandison und Henriette Byron, der in einer kongenialen Argumentationsweise für die Schweizer Partei ergreift. Dieser fingierte Briefwechsel handelt von dem Engländer Edward, der in Görlitz, wohl absichtlich in der schlesischen Provinz und in unmittelbarer Nähe des berühmten barocken Lesesaals Deutsch lernte, um den Charakter und den Geschmack der Deutschen in deren „witzigen Schriften“ nachzuempfinden.462 Schönaich empfiehlt ihm wärmstens die Lektüre Gottscheds. Im spielerischen Dialog werden literarische Wirkungstendenzen der Zürcher im Gegensatz zu jenen der Leipziger zu einem frühen Zeitpunkt der Wissenschafts- und Wertungsgeschichte in einer unterhaltsamen Personalsatire inszeniert. In Gegenrede und
461 Vgl. hierzu Erich Beyreuther: Geschichte des Pietismus. Stuttgart 1978. 462 [Bodmer, Wieland]: Edward Grandisons Geschichte in Görlitz. Berlin 1755, S. 5. Im Folgenden im Text mit der Sigle (EGG) abgekürzt.
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Rede, Thesen und Antithesen konkurrieren ästhetische Ansätze, die dialogisch verhandelt, die Überlegenheit der Zürcher Poetik des Wunderbaren demonstrieren sollen. Im Folgenden wird skizziert, wie hinter den Masken dieser unterhaltsamen Personalsatire, im Zweifrontenkrieg zwischen Zürich und Leipzig, eine verspielte und literarische Plattform geboten wird, um nicht zuletzt Bodmers dialogisches Erziehungsprogramm zu entfalten. Demnach ist dieser fingierte Briefroman, worin ein Engländer über seine Erfahrungen mit dem Erlernen der deutschen Sprache berichtet, eine weitere Spielform der Literaturkritik des Zürchers. Zudem bietet Bodmer das Referat zeitgenössischer gegnerischer Positionen Gelegenheit zur Aristie der Schweizer, sie seien die besseren Antikennachahmer. Ferner stilisiert sich die Figurenrede der Gottschedianer zur Karikatur der rationalistischen Nachahmungsästhetik. Um die ästhetischen Maximen der Zürcher in ein positives Licht zu rücken, holt sich der anglophile Bodmer Schützenhilfe aus England, wenn er Edward sagen lässt: „Sie werden doch mit den Poeten der Alpen darinnen einstimmig seyn, daß Religion, Tugend und Sitten der vornehmste Gegenstand der Poesie sind.“ (EGG, S. 58f.) Diese fingierte Gottsched-Polemik arbeitet mit der Technik der Argumentation von Gegenrede und Rede, Thesen und Antithesen, um konkurrierende ästhetische Ansätze dialogisch zu verhandeln, mit der Absicht, die Überlegenheit der Zürcher Poetik des Wunderbaren zu demonstrieren. So werden auf den ersten Seiten Gottscheds Verdienste für die deutsche Sprache vom „Freyherr[n]“ in allen Farben beschrieben und sein Wirken für die deutsche Literatur in den höchsten Tönen gelobt: Die Sprache war noch mit vieler Barbarey, mit einem Mischmasch von fremden Wörtern beflecket; Die Scribenten, die sich der reinen Sprache beflissen, waren in geringer Anzahl, und die Critik kaum dem Nahmen nach bekannt. […] Der muß kein Deutscher seyn, der die Verdienste des grossen Gottscheds nicht kennt […]. Von ihm haben wir eine Sprachlehre, […] die dreyhundert Meilen in die Länge und fast eben so viel in die Breite herrschet. Er hat zu seiner Richtschnur angenommen, der Mundart des grösten Hofes in dem Mittel des Landes […]. Dieser Hof ist der Dresdnische, und diese Stadt ist Leipzig. Durch diesen Mann hat Deutschland zuerst gelernt, daß es eine vollkommnere Art von Theatralischen Stücken giebt, […] in welchen die Harlekine und die Polichinellen die einnehmendsten Personen sind; Er hat zuerst von den drey Einheiten geredet, und die Schaubühne nicht allein mit guten übersetzten Stücken versehen, sondern Originalstücke geschrieben, vornehmlich den s t e r b e n d e n C a t o , der in allen Sprachen der Welt schön seyn würde, und die Schönheiten des Addisonischen Cato ohne desselben Fehler hat. Diesem vortreflichen Muster sind wir für eine Menge nachfolgender guter Trauerspiele verbunden, in welchem die deutschen Köpfe erwiesen haben, daß es ihnen gar nicht an Erfindungsvermögen fehlt. Herr Gottsched ist der erste gewesen, der uns eine critische Dichtkunst zu liefern die Kühnheit gehabt, […]. Es ist unglaublich, mit welchem durchgängigen Beyfall der Universitäten und Gymnasien die
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Werke des Herrn Gottscheds aufgenommen, und wie sie in kurtzer Zeit den Geist der Nation erhoben, und ihren Geschmak gereiniget haben. Nachdem man seine Lehrbücher hatte, fand man die Kunst zu schreiben nicht mehr versiegelt, und Leute, die es sich zuvor nimmer zugetrauet hatten, sahen sich im Stande den Beyfall der Leser mit reinen und regelmäßigen Stücken zu erhalten. (EGG, S. 6–8)
Die Regelpoetik des Konkurrenten, die hier mit einigen Sätzen aus der Poetik Gottscheds kurz umrissen wird, erscheint auf den ersten Blick zuerst noch in einem fast idealen, makellosen Licht. Jedoch wird genau somit die Karikatur skizziert, da die Regelhaftigkeit der Critischen Dichtkunst, die hier gegen Ende umrissen wird, eine etwas gar starke Betonung erfährt. Schon das Bestreben um die Vereinheitlichung der deutschen Sprache nach dem sächsischen Dialekt zu Beginn der Passage kann als Spitze gelesen werden. Gottscheds hier angesprochenen Theaterreformen versagten den Erben der Commedia dell’arte, nämlich den Harlekinen sowie der Polichinelle, das Recht auf deutschen Bühnen zu spielen und suchten den Schuldramen seines Vorgängers Christian Weise (1642– 1708) entgegen zu wirken. Insider wissen, dass gerade Gottscheds Sterbender Cato (1731), der größtenteils auf einer Übersetzung der Vorlage John Addisons beruht und eigentlich fälschlicherweise als erstes deutsches Originaldrama betitelt ist, von Bodmer mit einem kritischen Totalverriss bedacht wurde.463 Trotz des beachtlichen Theatererfolgs, der v. a. der Theatertruppe der Neuberin in Leipzig zu verdanken war, stieß das Stück auch sonst bei der Kritik weniger auf Wohlwollen, als vielmehr auf Spott. Noch Lessing lässt später im 17. Literaturbrief verlauten, dieser „Cato der dritte“ sei größtenteils mit „Kleister und Schere“464 verfertigt worden. Damit wird nicht zuletzt auf Bodmer referiert, der in der Zürcher Sammlung (1743) diesbezüglich schrieb: Gottsched habe bereits des „wohlschneidenden Messers“ und „einer Pappe von magischen Pulvers“ gedacht, womit jener sein angebliches Originaldrama aus Deschamps und Addison fabriziert habe.465 In der gleichen Sammlung kommt Bodmer nochmals ein Jahr später auf den Cato Gottscheds
463 Vgl. Bodmer: Critische Betrachtungen und freye Untersuchungen zum Aufnehmen und zur Verbesserung der deutschen Schau-Bühne. Mit einer Zuschrift an die Frau Neuberin. Bern 1743; vgl. auch Bodmer (Mitherausgeber): Anklagung Des verderbten Geschmackes, Oder Critische Anmerkungen Über Den Hamburgischen Patrioten, Und Die Hallischen Tadlerinnen. Frankfurt und Leipzig 1728; vgl. auch ders.: Gottsched, ein Trauerspiel, oder: Der parodierte Cato. Zürich 1765. 464 Lessing: 17. Literaturbrief. In: Ders.: Werke und Briefe. Hg. von Wilfried Barner u. a. Bd. 4. Frankfurt am Main, S. 499. 465 Vgl. Bodmer: Zürcher Sammlung. 1743. Bd. 8, S. 84f.
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zurück, wenn er schreibt: „Er hat mittelst einer Scheer und eines Topfes voll Pappe ein Trauerspiel verfertigt.“466 Gottsched wollte mit seinem strengen Originalstück den Nachahmern eine Mustervorlage für regelmäßige deutschsprachige Tragödien bieten, das die drei Einheiten von Ort, Zeit und Handlung sowie die zu dieser Zeit bereits umstrittene Ständeklausel befolgt und des Weiteren im etwas starren Alexandriner in Paarreimen gehalten ist. Die Tragödie berichtet von den letzten Stunden des römischen Republikaners und Tugendrigoristen Cato. Dieser nimmt sich auf seiner Burg im afrikanischen Utica als letzter Gegner Cäsars das Leben, weil seine Truppen dem Diktator keinen Widerstand leisten können und er von seiner verschollen geglaubten Tochter Porcia, der Königin der Parther, als auch von Cäsar jegliche Hilfestellungen ablehnt. Es steht außer Frage, dass Gottscheds Critische Dichtkunst (1730) wichtige Leitlinien für die deutsche Literatur und deren Gattungen formulierte und somit ein grundlegendes theoretisches Regelwerk als Orientierungshilfe für angehende Dichter vorstellte. Jedoch boten die hier festgesetzten Regeln der Poetik nicht zuletzt auch Zunder für den Literaturstreit mit den Zürchern, die in vielen Punkten zunehmend entgegengesetzte Haltungen vertraten. Sei es, was das Lob der Vielfalt der Mundarten oder was die poetische Auffassung des Wunderbaren betraf, was die Expositio in dieser Görlitzer Geschichte darstellt. Nach der Darstellung einer Antiklimax, laut welcher nach dem vermeintlichen Sachsenlob nun ein vermeintlicher Verriss der Schweizer Poetik erfolgt, kommt es zur Peripetie und zur dramatischen Katastrophe der zu Beginn hochgelobten „Reinigkeit“ und „Regelmäßigkeit“ der Sachsen, die den Ansichten der Schweizer diametral gegenüber stehen. Dabei sind die literarästhetischen Kritikpunkte jeweils im Zusammenhang mit den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen besonders in Zürich und den benachbarten deutschen Monarchien zu verstehen. Hier fällt wiederum auf, wie die miteinander konkurrierenden ästhetischen Positionen, etwa zur Frage der Nachahmung, des Wunderbaren und der Gattungswahl, immer auch vor dem Hintergrund der jeweiligen politischen, gesellschaftlichen und nicht zuletzt räumlichen Rahmenbedingungen diskutiert werden.
4.1.1 Rhapsodische Tischreden über das Wunderbare Im Wechsel von Rede und Gegenrede der ersten Briefe werden ästhetische Spielweisen und poetologische Grundpositionen der Schweizer, ihre Ependichtungen
466 Vgl. Bodmer: Zürcher Sammlung. 1744. Bd. 12, S. 58.
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sowie ihre Poetik im Allgemeinen erörtert. Mit Bavius, der diffamierenden Bezeichnung für schlechte oder anmaßende Dichter, wird hier ganz traditionsbewusst an jenen Kritiker erinnert, der in der Antike mit seinem Schriftstellerkollegen Mavius gegen die Werke des Vergil und Horaz voll Neid und Missgunst angeschrieben hatte. Der Technik der negativen argumentatio gehorchend, stellt der Freiherr von Schönaich die Poetik der Schweizer im negativen Licht dar und charakterisiert diese schon zu Beginn mit drastisch übertriebenen Strichen: Die Schweitz hatte einen gedankenschweren, kopfbrechenden, unergründlichen Poeten; diesen machten die Schweizer zu ihrem Helden, zu dem einzigen, der, nach Opitzen, die wahre poetische Schreibart in seiner Gewalt gehabt hätte. Damit nicht zufrieden, boten sie alle ihre Kräfte auf, daß sie einen der schwülstigsten Poeten der Ausländer, der sehr geschickt ist durch eine schweitzerisch-mystische Schreibart ein Blendwerk zu machen, über alle andere, Alte und Neuere, hinaufsetzten. Ueber das schimpfeten sie in einer Menge kleiner brochures, etliche Jahre lang, als ob das ihre Bestimmung sey, die Person des Herrn Gottscheds und seine Schriften; es ist kaum eine Dichtungsart, in welcher sie ihn nicht aufgeführt, und sich nicht beflißen hätten, seinen und des Bavius Nahmen gleichgültig zu machen. Ihr unglükseliges Unternehmen fand selbst in dem Herzen Deutschlandes einigen Beyfall; es waren auch da Leute, denen der grosse Ruhm des Herrn Gottscheds ein Dorn in den Augen war, oder denen das Neue, darum, weil es neu war, schmeckete. […] Sie überschwemten die Buchläden mit Gedichten von nicht geringerm Inhalt, als von dem Erlösungswerke, der Sündflut, der Aufopfrung Isaacs, dem Weltgerichte. – Denn sie hatten die Verwegenheit, sich an die heiligsten Materien zu machen, ihre träumerischen Zusätze unter die anbetenswürdigsten Wahrheiten zu mischen, den Himmel, die Erde und die Hölle mit abendtheuerlichen Geschichten, Hexenmährchen und Gespensterhistörchen anzufüllen. Es wimmelt in ihren Gedichten von Engeln und Teufeln, von Welten und Sonnen und Mitternächten und Aether und Aeonen und Chaos. Alles ist darinn mahlerisch, schöpferisch, ätherisch; Non-Sense, Schwulst, Meteore sind die Materialien, woraus ihre Epopeen gebaut sind. Was für eine andere Würkung konnte man davon bey einer so gesetzten und vernünftigen Nation erwarten, als daß sie sich selbst zum Gelächter und Abscheu machen würden, insonderheit bey denenjenigen, welchen die Religion in ihrer Reinigkeit angelegen ist, und die eine aufrichtige Ehrfurcht für die geoffenbarten Wahrheiten haben. (EGG, S. 9–11)
Die Frage der Hexameter-Verwendung, die aus der Querelle d’Homère (1714– 1716)467 bekannt ist, wird auch im Streitgespräch zwischen den Leipzigern und Zürchern diskutiert, wenn der Freiherr von Schönaich fortfährt:
467 Vgl. dazu John George Robertson: Studies in the Genesis of Romantic Theory in the Eighteenth Century. Cambridge 1923, S. 256; vgl. Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne. Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart, Weimar 1995, S. 134–142; vgl. ders.: ,Vernünftige Gedanken von der Beredsamkeit‘ – Bodmers und Breitingers ästhetische Schriften und Literaturkritik. In: Lütteken, Mahlmann-Bauer (Hg.): Bodmer und Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung. 2009, S. 25–41.
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Mit welcher Blindheit sie der Neuerungsgeist geschlagen habe, können sie daraus abnehmen, daß sie den Reim aus dem Verse vertrieben, und dafür einen knarrenden lahmen Hexameter eingeführt haben. […] Ich kan mir nicht vorstellen, sagte er, was sie eigentlich durch das mahlerische und das S c h ö p f e r i s c h e verstehen. (EGG, S. 11f.)
Schönaich beginnt sein Bekenntnis zur Poetik Gottscheds mit einer verdrehten Auslegung des horazischen Dictum „ut pictura poesis“ und blamiert sich damit als Banause, der die gediegene Auslegungstradition von De arte poetica nicht kennt: Sie sind Schöpfer wie sie Maler sind, und sind Maler wie der, in Horazens Kunst der Poesie. Ihre Züge und Bilder sind Unsinn, Lustgestalten, Hirngeburten. […] Darum will ich ihnen nur sagen, es ist leider an dem, daß der Saamen zu den monströsen Schöpfungen unsrer dummkühnen Poeten aus ihrer Insel zu uns herüber gekommen ist. Unsre Witzlinge haben sich in dem verlohrnen Paradiese des blinden Miltons mit ihm verlohren. (EGG, S. 13)
Dem Unverständnis Schönaichs entgegnet Edward Grandison darauf, dass England Milton „für einen classischen Autor“ halte, dessen Gedicht, „die Wollust und die Ehre Englands“ sei. Er selbst empfinde es als „das erhabenste unter allen neuern Gedichten, und für nicht geringer […] als das Beste der Alten“ (EGG, S. 19). Die hier aus der Biologie entlehnte Metaphorik findet bei Bodmer häufig dort Verwendung, wenn es um die Darlegung kausaler Prozesse geht. Wie bspw. auch hinsichtlich der Terminologie zum Thema Bildung (vgl. Kapitel 4.1.3). Schönaichs scharfe Kritik und Verleumdung der Schweizer provoziert Edwards Parteigeist, der nun zu einer herzhaften Verteidigung der Schweizer ausholt und große Sympathie für jene Zürcher hegt, die […] die Kühnheit haben, den Engeln und Teufeln auf die Spur ihrer Gedanken und Unternehmungen zu gehen, und davon neue Züge und Geschichten zu entdecken, welche den Geist nothwendig erheben, und die süssesten Empfindungen erwecken müssen, wenn ein Genie, wie des unsterblichen Miltons war, daran gearbeitet hat. (EGG, S. 19)
Schon Addison lobte Miltons Erfindungsgeist und Vorstellungskraft in dessen Paradise lost (1667). In mehr als zwanzig Artikeln des Spectators verglich er Milton mit Vergil und Homer. Hingegen sei es falsch anzunehmen, Bodmer habe den englischen Dichter erst aus dem Spectator kennengelernt, wie Wolfgang Bender (1967) bemerkte.468 Den Quellen zufolge begann der Zürcher erst im Jahr 1720 mit dem autodidaktischen Studium des Englischen und rezipiert bis dahin Addisons 468 In seiner Anklage des verderbten Geschmacks erwähnt Bodmer das Fehlen besagter Nummern, worauf Bender verweist. Vgl. Wolfgang Bender: Johann Jacob Bodmer und John Miltons Verlohrnes Paradies. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 11 (1967), S. 225–261, hier S. 231, Anm. 25.
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und Steeles Journal in französischer Übersetzung: Le spectateur, ou le Socrate moderne. Wohlgemerkt fehlten Bodmer bis 1724 die sich mit Milton beschäftigenden Ausgaben. Bodmers Trogener Freund, der Arzt Laurenz Zellweger (1692– 1764), schenkte Bodmer ein damals nur schwer erhältliches Exemplar von Miltons Paradise lost.469 Die originelle Ausgestaltung des biblischen Stoffes sowie die Darstellung der transzendentalen Wesen und deren Handlungen müssen Bodmer von der Neuartigkeit des poetischen Potentials Miltons sofort überzeugt und ihn zu seinen Übersetzungen motiviert haben. Inwiefern Milton Bodmers Poetik beeinflussen sollte, äußert sich in seiner Vorrede zu seiner Abhandlung über das Wunderbare, worin er die Genialität des Werkes lobt und Milton selbst zu jenen Dichtern auf den höchsten Rang setzt, „welche auf der Leiter der Wesen zu oberst unter den Menschen stehen, und gleich über sich diejenigen Geister haben, die zu erst vom Cörper frey sind“.470 Aus der Begeisterung erwuchs bald darauf der Wunsch, Milton in einer verbesserten Übersetzung einem deutschen Publikum nahe zu bringen, denn nach Bodmers Geschmack war jene von Gottlieb von Berge ungenügend.471 Seinem Freund Zellweger bekundete er brieflich, dass er bereits im Oktober damit begonnen hatte, „die und diese beschreibung aus dem Milton zu verdeutschen, deren endlich so viel worden, dass ich plötzlich den Endschluss fassete, das gantze werck zu übersetzen“.472 Zügig und in nur gut vier Wochen stand Bodmers erste Übersetzung der zwölf Bücher, worüber Breitinger und Bodmer in Briefen Zellweger berichten. Dieser beglückwünscht Letzteren auf Französisch zur Fertigstellung der ersten Fassung: Le project à traduire Milton, le zele, avec lequel Vous y avez travaillé, jusqu’à Vous rendre presque aveugle, me surprend, je l’avoue; & si Vous y avez reussi, comme je n’en doute nullement, je Vous tiendrois pour un grand maitre, & pour tout aussi grand, & plus grand même que Milton.473
469 Das in der Zentralbibliothek Zürich erhaltene Exemplar einer Milton-Ausgabe von 1711 von Jacob Tonson ediert, weist Zellwegers Besitzernamen „L. Zellweger“ in schwarzer Tinte auf. Sign. 25.626. 470 Johann Jacob Bodmer: Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1740. Stuttgart 1966, S. 11. 471 Vgl. zur Publikationsgeschichte von Bodmers Übersetzung zu Paradise lost und deren eingehenden Analyse von Daniela Kohler: Der Weg von Bodmers Milton-Übersetzungen zu Klopstock und einer neuen Ästhetik. In: Zürcher Taschenbuch 128 (2007), S. 441–461, hier S. 444. 472 Hans Bodmer: Die Anfänge des zürcherischen Milton. Übersetzung des Verlorenen Paradieses von J.J. Bodmer. Zürich 1732. In: Studien zur Literaturgeschichte. Michael Bernays gewidmet von Schülern und Freunden. Hamburg, Leipzig 1893, S. 191. 473 Neues Schweitzerisches Museum 1 (1794), S. 815 (Brief vom 9. Juli 1724).
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Aufgrund von Komplikationen bei den Zürcher Zensoren konnte die 1724 abgeschlossene Übersetzung erst 1732 in Druck gehen, denn wie Moritz Füssli an Michel Huber schrieb: „Die geistlichen Censores [sahen] es für eine allzu Romantische Schrifft an in einem so heiligen themate.“474 Während Gottsched Bodmers präzise Ausdrucksweise und die daraus resultierende sprachliche Klarheit der ersten Übersetzung im zweiten Stück seiner Beyträge zur Critischen Historie (1732) noch lobte und dem Übersetzer sogar zu seiner das Original überragenden Sprachintensität gratulierte, verhärtet sich das Verhältnis zu Gottsched zusehends nach der Publikation der zweiten Fassung von 1742, worauf beide Parteien begannen, unterschiedliche poetologische Wege einzuschlagen. Auch im zweiten undatierten Brief an Heinrich Fischer holt Martin Kreuzner, der sich als Landsmann und Freund der Zürcher vorstellt, aus, um diese und v. a. deren literarisches Programm vorzustellen: Die Schweitzer, mit denen der Herr Baron so übel zufrieden ist, als mit dem Milton und mit unsern miltonischen Dichtern, sind eigentlich Züricher, welche vor und nach der Gottschedischen Dichtkunst einige dogmatische Werke an das Licht stellten, wo sie dasjenige, was zu dem Wesen der Poesie gehört, in so fern sie eine Nachahmung der Natur ist, aus festgesetzten Gründen hervorsuchten. Sie thaten das, was Muratori empfohlen: applicavano con accuratezza gl’ insegnamenti universali a i lavori particolari, e andavano minutamente offervando il tutto e le parti, per iscoprire i proporzioni, la novità e l’altre virtú della materia e del artifizio. Die Freyheit, mit welcher sie einige Werke der lebenden Poeten beurtheilten, schien diesen eine Beschimpfung zu seyn. Herr Triller und Herr Gottsched fanden sich am meisten beleidiget. Damals bestand die deutsche Poesie aus einer ängstlichen Reimerey von alltäglichen Gedanken und prosaischen Ausdrücken, ohne Genie, ohne Erfindung; die Gegenstände waren klein, der Witz mager; man kannte weder die Alten, noch die guten unter den Neuern, unter den Franzosen, Italiänern und Engländern. Wie konnte man mit ihnen bekannt seyn, da man ihre Sprachen nicht verstand? (EGG, S. 22f.)
Die Zürcher sind den Schriften des italienischen Jesuiten, Historikers, Bibliothekars und Archivars des Hauses Rinaldo d’Este, des Herzogs von Modena, Ludovico Antonio Muratori (1672–1750), verpflichtet, woraus hier offensichtlich zitiert wird.475
474 Moritz Füssli an Huber, Zürich, 25. Juni 1725, zitiert von Theodor Vetter: J.J. Bodmer und die englische Literatur. In: Johann Jakob Bodmer Denkschrift zum CC. Geburtstag (19. Juli 1898). Hg. von der Stiftung von Schnyder von Wartensee. Zürich 1900, S. 313–386, hier S. 349; Bender: Nachwort zur Milton-Übersetzung von 1742, S. 5 (Anm. 8). 475 Vgl. hierzu Lucas Marco Gisi: „Ein geraubtes Siegel“? Die Bedeutung von Bodmers und Breitingers Rezeption italienischer Poetiken und Poesie für den Literaturstreit mit den ,Gottsche-
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Muratori stand in engem Kontakt und brieflichem Austausch mit Leibniz in Hannover, der dort seinerzeit am Hof der Familie Este ebenfalls als Archivar und Bibliothekar wirkte. Deswegen ist es nicht verwunderlich, das mathematische Begriffe in Muratoris Vokabular auftreten, wie jener der „Proportion“, der hier im auf Italienisch eingefügten Zitat ein Flüchtigkeitsfehler unterliegt. In den fingierten Briefen der Görlitzer Geschichte, die natürlich der Untermauerung der Poetik der Zürcher dienen sollten, sind immer wieder neben den gegen die Gottschedianer gerichteten Spitzen deren eigene Dichtungsideale eingeschoben. So finden sich Postulate zur Stellung der Zürcher im „Stellvertreterkrieg“ der französischen Querellen, die sowohl die Alten als auch „die guten unter den Neuern“ schätzten und in ihr literarisches Programm aufnahmen und dabei von einer Rezeption der Franzosen, Italiener und Engländer mehrheitlich im Original ausgingen. Diese späten Nachwehen der französischen Querelle des Anciens et des Modernes (1687–1700), die in Frankreich hinsichtlich der Vorzüge der Künste und Wissenschaften der Antike bzw. der Moderne von Fontenelle und Perrault angestoßen wurde, als auch jener gut ein Jahr später einsetzenden Querelle de’Homère (1714–1716) sind zum Teil noch Thema im Literaturstreit zwischen den Zürchern und den Gottschedianern. Erstere heben jetzt weniger die jeweiligen Vorteile der einen oder anderen Partei hervor, sondern suchen nach Möglichkeiten, Texte und idealtypische Positionen, sowohl von den Alten als auch von den Neuen, fruchtbar zu machen bzw. weiterzugeben. Die Forschung attestiert den Zürchern, v. a. Breitinger, einen weit großzügigeren Umgang mit der literaturkritischen Beurteilung in der Querelle, was die Frage einer idealtypischen Versöhnung der Positionen angehe: „Denn“, so Lucas Marco Gisi, gehen „beide Seiten […] von einer gleichbleibenden „Natur“ des Menschen aus, versuchen aber diese Position der Modernes mit dem historischen Relativismus der Anciens zu koppeln.“476 In Auseinandersetzung mit den Schriften Charles de Saint-Évremonds Sur les poèmes des anciens (1685) oder Du merveilleux qui se trouve dans les poèmes des anciens (1685) sowie Thomas Blackwells Enquiry into the Life and Writings of Homer (1735), die einen historischen Relativismus in ihrer Betrachtung der Antike propagieren, konkurrieren die Zürcher mit Leipzig, was
dianern‘. In: Lütteken, Mahlmann-Bauer (Hg.): Bodmer und Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung. 2009, S. 105–126. 476 Vgl. Lucas Marco Gisi: Einbildungskraft und Mythologie. Die Verschränkung von Anthropologie und Geschichte im 18. Jahrhundert. Berlin: 2007, S. 13–79, hier S. 41 f. Vgl. auch ders.: Querelen um die Wahrscheinlichkeit. Historischer Relativismus und „allgemeiner Wahn“ als Argumente im Literaturstreit zwischen Zürchern und Leipzigern. In: Zürcher Taschenbuch (2008), S. 410–422. Vgl. auch allgemein zu den literarischen und kunsthistorischen Querellen im 17. und 18. Jahrhundert: Marc Fumaroli: Le sablier renversé. Des Modernes aux Anciens. Paris 2013.
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die Ansichten hinsichtlich der Kategorien der Wahrscheinlichkeit und des „allgemeinen Wahns“ anbelangt. Der Gräzist aus dem schottischen Aberdeen nähert sich in seiner Schrift der Frage, warum es bislang niemandem gelungen sei, Homer in seiner epischen Poesie zu übertreffen. Blackwell arbeitet mit der, vor ihm bereits von William Wotton oder von Dubos verwendeten Milieutheorie und erklärt, dass Homer in seiner Zeit, begünstigt von den positiven Umständen hinsichtlich des Klimas, seiner persönlichen Bildung sowie des gesellschaftlich-politischen Kontextes zwischen Barbarei und ziviler Staatlichkeit, für seine Dichtkunst profitierte. Daneben wird Homer dem Leser als weitgereister blinder Barde vorgestellt, der sein Publikum im freien Vortrag zur Leier unterhielt. Dank dieses engen Kontakts mit seinen Zuhörern erfuhr Homers Dichtung ihre lebendige Gestaltung. Blackwells Ideen wurden im deutschen Sprachraum schon 1743 durch zwei Aufsätze Bodmers bekannt, den gut vier Jahrzehnte vor der Blackwell-Übersetzung von Johann Heinrich Voß verfassten Untersuchungen über Homers Leben und Schriften. Aus dem Englischen des Blackwells übersetzt (Leipzig 1776). In Von dem wichtigen Antheil, den das Glück beytragen muß, einen Epischen Poeten zu formieren. Nach den Grundsätzen der Inquiry into the live and the Writings of Homer477 als auch Von den vortrefflichen Umständen für die Poesie unter den Kaisern aus dem schwäbischen Hause478 baut Bodmer Blackwells Theorie über die klimatischen, sozialen und individuellen Faktoren aus und überträgt diese auf die mittelhochdeutsche Literatur, wie es Annegret Pfalzgraf in ihrer Dissertation ausführt.479 Dem ist hinzuzufügen, dass Bodmer neben der englischen Tradition der Klimatheorie auch als Rezipient von Montesquieus Esprit des lois (1748) zutage tritt. Während in der Querelle über die Rangordnung der Moderne hinsichtlich der Antike gestritten wurde, suchte Bodmer die Vorzüge ausgesuchter Schriften der Antike als auch der Moderne in seinen größtenteils noch unerforschten poetischen Literaturkritiken immer wieder zu propagieren. In der Querelle du merveilleux (1653–1674) wird über die Frage gestritten, ob die antike Mythologie durch eine christliche zu ersetzen sei. In diesem Kontext stehen auch Klopstocks Messias-Dichtungen sowie Bodmers Bibelepen und Patri-
477 Bodmer, Breitinger u. a.: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvoller Schriften, zur Verbesserung des Urtheils und des Witzes in den Wercken der Wohlredenheit und der Poesie 12 Stücke (1741–1744), hier St. 7 (1743), S. 1–24. 478 Ebd., S. 25–53. 479 Annegret Pfalzgraf: Eine Deutsche Ilias? Homer und das Nibelungenlied bei Johann Jakob Bodmer. Zu den Anfängen der nationalen Nibelungenrezeption im 18. Jahrhundert. Marburg 2003, S. 68–83.
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archaden: die Noahdichtungen,480 Jacob und Joseph, Die Sündflut, Der geprüfte Abraham, die Colombana und andere epische Texte, die dem Baronet zur Lektüre empfohlen werden (vgl. EGG, S. 27). Daneben zeigt Edward Grandison explizit Interesse für die „critischen und satyrischen Schriften“ (EGG, S. 29) der Zürcher.481 Zur Rechtfertigung ihrer Satiren gegen die Gottschedianer, bei denen die Zürcher nicht mit dem „Satyrische[n] Salz“ (EGG, S. 24) sparten, werden ferner ebenfalls Vorbilder genannt. So versetzte Christian Ludwig Liscow (1701–1760) diesen „etliche Streiche mit seiner satyrischen Peitsche“, aber auch „der Conrector Pyra“ soll geschrieben haben, dass die „Gottschedische Secte den Geschmack verderbe“ (EGG, S. 26). Bei der Erörterung des Dichtungsprinzips der Schweizer wird dann im dritten und vierten Brief sogar davon erzählt, wie Gottsched höchstpersönlich Baron Edward aus England in Görlitz seine Aufwartung gemacht haben soll, um im literaturkritischen Gespräch über Schönaichs Hermann-Epos, über die Übertragung des Hexameters ins Deutsche als auch über die biblischen Epen der Schweizer zu diskutieren. Hierbei differieren die Diskutanten in ihren Meinungen, was die literarischen Ansätze anbelangt. Noch vor Eintreffen des neuen stadtbekannten Gastes werden die Rhapsodisten und Sokrates herbeizitiert: Worte […], welche Sokrates zu dem Rhapsodisten Ion gesagt hat: Ich habe auf eure Kunst, sprach er, allemal recht viel gehalten, theils darum, daß ihr, wie es sich zu euren Absichten schickt, für den äusserlichen Putz besorgt seyd, und eure Person in ihrem schönsten Glanze zeigt; theils daß ihr die guten Poeten, und den Homer, den göttlichsten unter allen, beständig in Gedanken habt, und euch nicht mit seinem Metro allein, sondern vornemlich mit seiner Denkungsart bekannt macht. Denn niemals wird einer, wie Sokrates ferner sagt, zu einem geschickten Rhapsodisten werden, wenn er nicht eine deutliche Einsicht in die Sachen, die der Poet sagt, haben wird. (EGG, S. 52f.)
Darauf schildert Martin Kreuzner, der Verfasser des vierten Briefes, den Verlauf der Abendmahlzeit und des Tischgesprächs, an welchem sich auch „der Hr. Pro-
480 Vgl. dazu Jan Loop: Der Noah. Bodmers Bibelepos im wissenschafts- und wirkungsgeschichtlichen Kontext. In: Lütteken, Mahlmann-Bauer (Hg.): Die Zürcher Aufklärung Johann Jakob Bodmer (1698–1783) und sein Kreis. Zürcher Taschenbuch (2008), S. 202–230; Barbara Mahlmann-Bauer: Bodmers Noachide, ein unbiblisches Epos? In: Lütteken, dies. (Hg.): Bodmer und Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung. 2009, S. 231–296. 481 Hier ist sicherlich die Sammlung Bodmers gemeint: Nachrichten von dem Ursprung und Wachsthum der Critik bey den Deutschen (1741). Vgl. dazu Stefan Martus: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert. Berlin 2007, S. 145–160, hier S. 154f.
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fessor Gottsched“ lebhaft beteiligt hatte. Die konturenreiche Karikatur seiner imposanten Erscheinung gehört spätestens seit Goethes komödiantischem Porträt aus Dichtung und Wahrheit zu den literarischen Blüten deutscher Literatur.482 Dieses bei Goethe den Traditionen der barocken Lustspieltradition folgende Gottsched-Bild ist schon bei Bodmer nicht in den vorteilhaftesten Strichen gezeichnet: Man hat Ihnen sein Portrait gemacht; es ist ein langer weitgespaltener Mann, von hohem Ansehen, wenn es die niaise Mine nicht verderbete, und diese scheint noch niaiser bey seiner silbernen Weste. Man aß die Suppe, trank einmal und fragte etliche gleichgültige Dinge, die man vorher eben so gut wuste. (EGG, S. 56)
Wie sich auch im 18. Jahrhundert aus Smalltalk Konversation über Literatur bei Tisch entwickeln konnte, wird darauf deutlich, wenn Herr Kreuzner fortfährt und das Gespräch auf die letzten Neuerscheinungen der Schweizer lenkt, die im Rahmen einer Geschmacksdebatte als literarische Leckerbissen angepriesen werden:
482 Goethes Autobiographie, die in den Jahren 1808–1831 entstanden ist und über die Jahre 1749–1775 handelt, malt das imposante Porträt des Leipziger Literaturpapstes: „Unsern Besuch bei Gottsched darf ich nicht übergehen, indem die Sinnes- und Sittenweise dieses Mannes daraus hervortritt. Er wohnte sehr anständig in dem ersten Stock des ‚Goldenen Bären‘, wo ihm der ältere Breitkopf, wegen des großen Vorteils, den die Gottschedischen Schriften, Übersetzungen und sonstigen Assistenzen der Handlung gebracht, eine lebenslängliche Wohnung zugesagt hatte. Wir ließen uns melden. Der Bediente führte uns in ein großes Zimmer, indem er sagte, der Herr werde gleich kommen. Ob wir nun eine Gebärde, die er machte, nicht recht verstanden, wüßte ich nicht zu sagen; genug, wir glaubten, er habe uns in das anstoßende Zimmer gewiesen. Wir traten hinein zu einer sonderbaren Szene: denn in dem Augenblick trat Gottsched, der große, breite, riesenhafte Mann, in einem gründamastnen, mit rotem Taft gefütterten Schlafrock zur entgegengesetzten Türe herein; aber sein ungeheures Haupt war kahl und ohne Bedeckung. Dafür sollte jedoch sogleich gesorgt sein: denn der Bediente sprang mit einer großen Allongeperücke auf der Hand (die Locken fielen bis an den Ellenbogen) zu einer Seitentüre herein und reichte den Hauptschmuck seinem Herrn mit erschrockner Gebärde. Gottsched, ohne den mindesten Verdruß zu äußern, hob mit der linken Hand die Perücke von dem Arme des Dieners, und indem er sie sehr geschickt auf den Kopf schwang, gab er mit seiner rechten Tatze dem armen Menschen eine Ohrfeige, so daß dieser, wie es im Lustspiel zu geschehen pflegt, sich zur Türe hinaus wirbelte, worauf der ansehnliche Altvater uns ganz gravitätisch zu sitzen nötigte und einen ziemlich langen Diskurs mit gutem Anstand durchführte.“ In: Johann Wolfgang von Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. In: Ders.: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bdn. Hg. von Erich Trunz. Sonderausgabe. Bd. 9. München 1998, S. 268. Das Bild des schwerfällige[n] Gelehrten, was Gottsched seit jener Karikatur Goethes, wenn nicht auch schon von Bodmer anhaftet, wirkt bis in den historischen Roman Renate Feyls, wo Gottsched mit Allongeperücke Jupiter zu gleichen beginnt und die Anwesenden mit „steifer Würde überragt“. In: Dies.: Idylle mit Professor. Roman. Köln 1989, S. 136; vgl. hierzu auch Thomas Küpper: Das inszenierte Alter. Seniorität als literarisches Programm von 1750–1850. Würzburg 2004, S. 25.
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Damit ich dem Professor den Mund öfnete, wandte ich mich zu ihm und fragte: was für neue Gedichte die Messe gebracht hätte, hat man nichts von den epischen Stücken aus den Alpen, sagte ich, von welchen man uns im vorigen Jahre ein so drohendes Cartell zugeschickt hat. Der Hr. Professor haben diese Waaren von der ersten Hand; für Sie zwar wird es wol Mäuseund Ratzengift seyn, aber für mich sind es Leckerbissen. Ich hoffe, der Hr. Professor ertragen einen Menschen, der im figürlichen Geschmack von Ihnen abweichet, mit der Grosmuth, mit welcher Sie einen andern dulden, der in dem Geschmack der Zunge und der Kehle von Ihnen unterschieden ist. (EGG, S. 56f.)
Abschließend wird gemäß der hier verwendeten Verweistechnik der Argumentation aus den Episteln des Horaz zitiert: „Tres mihi convivae prope dissentire videntur.“483 (EGG, S. 57) In der folgenden argumentativen Gradation, wo die Sachsen zu einer regelrechten Schelte der Schweizer anheben und sich despektierlich über deren biblischen Epen äußern, verteidigt der Engländer die Maxime der Schweizer, was man als Höhepunkt der Görlitzer Begebenheit einstufen könnte: „Sie werden doch mit den Poeten der Alpen darinnen einstimmig seyn, daß Religion, Tugend und Sitten der vornehmste Gegenstand der Poesie sind.“ (EGG, S. 58f.) Auf Gottscheds Erwiderung: „Wer hat diesen Schwärmern das Recht gegeben, die Bibel mit Träumen anzufüllen und die Wahrheit mit Lügen zu verbrämen?“ (EGG, S. 59), entbrennt ein Streit mit Herrn Kreuzner. Dieser bricht ein Lanze für Milton und dessen epischen Gedicht in Blankversen Paradise lost (1667) und geht hart mit den Ansichten und der Gottsched’schen Regelpoetik ins Gericht. Im Zusammenhang mit Miltons Meisterwerk, mit dessen Übertragungen ins Deutsche (1732, 1759, 1769, 1780) Bodmer neben anderen484 half, die Romantik vorzubereiten, wird das Thema des Plagiats gestreift: Sie haben Sich, ist es nicht wahr? in der Aufrichtigkeit Ihres Herzens, das allemal schwer daran geht von andern Menschen Boßheit und Falschheit zu glauben, durch die Aussagen eines berühmten geistlichen Herren, mit Namen Lauder, verführen lassen, daß Sie den ehrlichen Verfasser des verlohrnen Paradieses für einen Erz-Plagiarius gehalten, und ihn als einen solchen in öffentlichen Schriften allen gelehrten Deutschen, die den schönsten Schatz ihrer Wissenschaft in Ihren Büchern schöpfen, zum Abscheu und zur Verspottung dargestellt. Nun bringt der Herr Baronet die unerwartete Nachricht, daß L a u d e r der schändlichste Betrüger wäre, der seine Bezüchtigungen auf lauter Verfälschungen und unterge-
483 „Auch drei Gäste sind meist wohl, denk’ ich, verschiedenen Sinnes.“ (2.2, V. 61) In: Quintus Horatius Flaccus: Episteln. Über das Leben und Zeitalter des Dichters. Critisch berichtigter Urtext. Hg. von Friedrich Rudolf Carl Passow. Leipzig 1833, S. 92f. 484 Aleida Assmann: Vom verlustigten Paradeiss zum Verlorenen Paradies. 300 Jahre deutsche Milton-Übersetzungen. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 211 (1974), S. 309–319.
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schobene Stücke gebauet hätte. Er wäre davon öffentlich überwiesen worden, und hätte noch so viel Redlichkeit übrig gehabt, daß er seine Schandthat mit scheinbarer Reue öffentlich bekannt und sich im Staube herumgewälzet, als ob er Kirchenbusse thun wollte. Der Herr Professor, ob Sie gleich in ihrem Herzen und in Ihrem Geschmacke finden, daß das verlohrne Paradies ein elendes Geschmiere, und sein erworbner Ruhm das Werk einer gewissen Rotte in England ist, werden es nicht auf Ihrem zärtlichen Gewissen behalten können, daß Sie nicht Ihren Irrthum, den Sie auf so viel tausend von ihren unwissenden Lesern verbreitet haben, bekennen, und dem verlästerten Milton seine Ehre wiedergeben sollten. Ihr Widerruf wird desto mehr Verdienst haben, weil Sie wegen der Zürcher, der geschwornen Freunde und gedungenen Lobredner des blinden Poeten, tausend Ursachen haben, ihn zu hassen, und über dieses, weil diese es erschrecklich mißbrauchen könnten, wenn Sie dem wackern Milton niemals Recht widerfahren lassen. (EGG, S. 61f.)
Doch Gottsched lässt sich in seiner Meinung nicht beirren und beschimpft Milton weiter einen „Plagiarius“ (EGG, S. 62), was den Streit sowie die Streitbarkeit der Argumente hochkochen lässt, so dass die Parteien nach Gottscheds Schweifreimen zum Schluss ohne Einigung auseinandergehen: Wenn man der Alten Lehren lehret, Homere nebst Virgilen ehret, Das ist nur Kleinigkeit, Doch wenn man funfzig Thoren plündert, Wie Milton stiehlt, wie Bodmer kindert, Das führt zur Ewigkeit. (EGG, S. 65)
Daneben fällt auf, wie immer wieder während des Tischgesprächs Gottscheds eindrückliche Statur beschrieben wird, wenn zuerst davon die Rede ist, Gottsched habe mit „Gravität“ (EGG, S. 62) dagesessen und lächelnd auf Kreuzner heruntergeblickt oder zum Schluss „eine ernsthaft plumpe Mine“ (EGG, S. 64) gemacht, um seine Kritik an Milton und den Zürchern noch ein deutlicheres Gewicht zu geben. Für eine weitere Gottsched-Karikatur nach dem Beispiel von Popes Dunciad wird dann nochmals eine ganz ähnliche Situation eines Tischgesprächs in Bodmers Banket der Dunse dargeboten, worauf zum Schluss noch eingegangen wird (vgl. Kapitel 4.1.6).
4.1.2 Mit „Philokles“ zur Molkenkur im Appenzell Gut zehn Tage später, am 24. April, schreibt Kreuzner erneut an Heinrich Fischer und berichtet von der Fortsetzung der Geschmacksdebatte, in der es um Bodmers biblische Epen, Klopstocks Messias (1748) und Miltons Paradise lost geht: „Neukirch, Pietsch, Günther, ziehen mit heftigen Invectiven auf die Meßiade, den
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Noah, den Abraham loß. Das verlohrne Paradies wird nicht geschont.“ (EGG, S. 69) Im Gespräch mit dem Engländer Grandison wird dann eine Diskussion über Geschmack geführt, die als retardierendes Moment zu bezeichnen ist. Nicht nur wiederholt der Engländer in wohlwollendem Ton die Dichtungsmaximen der Schweizer, ebenso wird eine Parallele von Ästhetik und Politik gezogen: Der Aufstand der Barbarey wider den Geschmack ist nicht weniger verderblich als ein Aufstand wider die Regierung und die Gesetze. Die Barbarey bahnet den Weg zum Verderben der Sitten und Manieren, und wenn diese einmal im Verfall sind, so wird man ganz geschickt, die ärgste Sclaverey des Leibes und Gemüths zu ertragen. Wer für den Geschmack arbeitet, befördert die Sitten und befestigt durch die Sitten die Freyheit und die Gesetze. Wie kann man Geschmack haben, und doch zwischen Geschmack und Barbarey neutral bleiben; oder, was noch ärger ist, oder doch ärgere Folgen hat, sich des Geschmacks nur mit frostigem Gemüth, kaltsinnig und ohne Munterkeit annehmen? Solons Gesetz, welches diejenigen für unredlich erklärte, die in einem Aufstande keine Parthey nehmen, mag wol einigen Leuten ausserordentlich scheinen. Nichts desto weniger hat er es aus triftigen Ursachen gegeben. Er fürchtete in einer Republick, welche von einheimischer Uneinigkeit geplagt würde, möchten die vorsichtigen Männer, die man alsdann am nöthigsten hat, sich in Sicherheit begeben, und nach ihrer Entfernung würde alles drunter und drüber gehen. Dem Cicero kann man zwar nicht vorwerfen, daß er neutral geblieben sey: sein Fehler ist, daß er, nachdem er die Parthey des Pompejus genommen, sie so schwach genommen, und sichs reuen lassen, daß er sie genommen hatte. Sein Betragen wäre weniger schädlich gewesen, wenn er sich weder für die eine noch für die andere Parthey erkläret hätte. Es ist an ihm nichts weniger als großmüthig, daß er seine Freunde anklagt, sie hätten ihm nicht erlaubt, daß er unter den beyden Concurrenten [hat] neutral bleiben dürfen. (EGG, S. 72f.)
Daneben erfährt Laurenz Zellweger (1692–1764), der Arzt und enge Freund der Zürcher, der in seiner Korrespondenz mit Bodmer mehrheitlich als „Philokles“ zeichnete, hier eine wohlwollende Erwähnung. Dass sich die Freunde um Zellweger mit den Namen berühmter Maler schmückten, war nicht unüblich in dieser Zeit und entspricht dem Poetikbegriff der Zürcher, der Horazens Dictum „ut pictura poesis“ verpflichtet ist. So signierten Bodmer und Breitinger ihre oftmals in Briefform gehaltenen Beiträge in ihren Zeitschriften, bspw. in den Discoursen der Mahlern, jeweils mit fingierten Namen. „Hans Holbein“ wird hier von Breitinger verwendet, während Bodmer mit „Albrecht Dürer“, „Raphael von Urbin“, „Michael Angelo“ oder „Rubens“ zeichnete.485 Mit Philokles ist jener gottesfürchtige und redliche Krieger Athens sowie aufrechte Freund des Königs der Kreter, Idomeneus gemeint, über dessen mora-
485 Vgl. Theodor Heinsius: Geschichte der Deutschen Litteratur oder der Sprach-, Dicht- und Redkunst der Deutschen, bis auf die neuesten Zeiten. Berlin 1829, S. 323f.
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lische Heldentat hinsichtlich der ihm entgegengebrachten Missgunst von Protesilaus und Timokrates in Fénelons Bildungsroman Les aventures de Télémaque (1699), dem Fürstenspiegel für den Dauphin, im 13. Buch berichtet. Die Verräter Protesilaus und Timokrates schmiedeten ein Komplott, in das sie Idomeneus verwickelten, um Philokles nach dem geglückten Angriff auf die Karpathier zu ermorden. Als dieser den Mordversuch des Timokrates überlebt, zeigt sich sein milder und gemäßigter Charakter, wenn er seinen Feind vor der wütenden Masse seines Heeres schützt, diesen sogar für unschuldig erklärt und als Heeresführer nach Kreta schickt. Philokles, von der Menschheit enttäuscht, tauscht darauf selbst die Kriegswaffen gegen das Kunsthandwerk ein, besteigt eine Barke gen Samos, wo er ähnlich wie Pygmalion in „ruhiger Stille arm und einsam lebt, und sich mit der Verfertigung von Bildsäulen beschäftigt, die ihm seinen Unterhalt gewähren“.486 Der Hellenist Georg Heinrich Bode bemerkte später über die historische Person des Philokles, einen Neffen des Tragikers Aischylos, wie sich dieser neben seiner Bildhauerkunst auch als Vermittler der Theaterkunst seines Onkels, den die Athener für den Vater der Tragödie hielten, verdient gemacht und sich für dessen Verbreitung eingesetzt hatte.487 An die rege Rezeption zeitgenössischer englischer Literatur von Bodmers Freundeskreis erinnert Heidi Eisenhut: Philocles heißt nämlich auch jener Protagonist und IchErzähler aus Shaftesburys Briefroman The Moralists. A Philosophical Rhapsody (1737), wo dieser mit seinen beiden Freunden Palemon und Theocles philosophische Dialoge unterhält.488 Somit ist Bodmers Satire ein Zeugnis für das neu erwachte Interesse an der Shaftesbury-Rezeption.489 Daneben wurde Christoph
486 François De Salignac de La Mothe Fenelon: Les Avantures De Telemaque, Fils D’Ulysse ou suite du quatrième livre de l’Odyssée d’Homere. La Haye 1706, S. 170; ders.: Die Begebenheiten des Prinzen von Ithaca. oder der seinen Vater Ulysses suchende Telemach. Aus dem Französischen des Herrn von Fenelon in deutsche Verse gebracht und mit mythologisch- geographischhistorisch- und moralischen Anmerckungen erläutert von Benjamin Neukirch. Onolzbach 1727– 1739. Telemach. In das Deutsche übersetzt nach Fenelon. Ludwigsburg 1829, S. 159–164, hier S. 164. Bodmer verfasste in Anlehnung an Fénelon ebenfalls eine gleichnamiges kurzes Versepos, das anonym erschienen ist, vergl. ders.: Telemach. o.O. 1777. 487 Georg Heinrich Bode: Hellenische Dichtkunst. Dramatik. Bd. 3. Leipzig 1839, S. 227ff.; vgl. Peter Faessler: Die Zürcher in Arkadien. Der Kreis um J.J. Bodmer und der Appenzeller Laurenz Zellweger. In: Appenzellische Jahrbücher 107 (1979), S. 3–49, hier S. 4, Anm. 3. 488 Vgl. Heidi Eisenhut: Gelehrte auf Molkenkur: Laurenz Zellweger und sein Kreis in Trogen. In: Heilkunst und schöne Künste. Wechselwirkungen von Medizin, Literatur und bildender Kunst im 18. Jahrhundert. Hg. von ders. u. a. Göttingen 2011, S. 271–302, hier S. 290; vgl. dazu Paulfritz Kellenberger: Laurenz Zellweger von Trogen: 1692–1764. Affoltern am Albis 1951, S. 93, Anm. 2. 489 Vgl. Mark-Georg Dehrmann: Das Orakel der Deisten. Shaftesbury und die deutsche Aufklärung. Göttingen 2008, S. 278–287.
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Martin Wieland, der ab 1751 in Bodmers Umfeld tritt, von Goethe als Shaftesburys „Zwillingsbruder“ bezeichnet.490 In Anspielung an Shaftesburys The Moralists fungiert Fridolin als Einheimischer und Bekannter Laurenz Zellwegers, der von diesem in die Poetik der Zürcher eingewiesen wird: Ich hatte lange gemerkt, daß Fridolin seine Poesie von unsern beyden Poeten in Zürich haben müßte; aber ich konnte nicht errathen, durch was für einen Canal er sie bekäme, ob er sie gerade von einem derselben oder von einem ihrer Freunde erhielt. Er affectirte daraus ein Geheimniß zu machen. Seit ein paar Tagen hat er mir sein ganzes Leben entdeckt. Wir redeten von dem P h i l o k l e s , diesem einsiedlerischen Weisen und Arzte, von welchem im Eingange des 11ten Gesanges des N o a h 491 eine so ruhmvolle Schilderey gemacht wird. Ich verschwieg nicht, daß ich dem Mann kennete, Den, dem der Himmel Kunst und Weisheit verliehen Daß er durch Kräuter und Päonische Künste Die Kranken, welche schon am Acheron stehen, Ins Leben zurückzieht; daß ich auch den P a u l i n gekannt hätte, des b e s t e n S o h n e s w ü r d i g e n V a t e r , und daß ich die gebirgige Rode kennte, des alten Gallus Aufenthalt. Fridolin machte grosse Augen, die mich stillschweigend weiter fragten. Ich erzählte ihm, daß ich vor etlichen Jahren mit dem Verfasser des Noah einen goldenen Monath in des Philokles förener Hütte gelebt, daß wir alle Morgen auf des Gaberius Höhe gestiegen wären und da in einer rußigen Cabane Molken getrunken hätten, die ein eißgrauer Senne uns eingeschenkt hätte. Fridolin ward darüber ganz aufgeweckt, er küssete mir die Hand, und entdeckte mir, daß diese Cabane auf dem Gaberius sein Geburtsort wäre, daß der Senne, bey dem wir die Molken getrunken, sein Vater wäre, und er dem Philokles seine itzige Lebensart und seine ganze Erkenntniß zu verdanken hätte. (EGG, S. 74f.)
Nach einer kurzen Lektüreanleitung Zellwegers für Fridolin von Bodmers biblischen Epen Jacob und Joseph (1751), Jakob und Rachel (1752)492 kommt wieder die Rede auf die hermeneutische Rolle der Rhapsodisten, welche die Texte Homers auslegten, sowie auf deren Lebenssituation, die mit jener des Bergjungen Fridolin aus Trogen verglichen wird:
490 Friedrich Schoenemann: Review of Wieland and Shaftesbury by Charles Elson. Shaftesburys Einfluss auf Chr. M. Wieland by H. Grudzinski. In: Modern Language Notes 30 (1915), H. 8, S. 261– 263. Wieland rezipiert Shaftesbury frühestens 1752 und intensiv ab 1758. 491 Gemeint ist Bodmers gleichnamiges biblisches Epos, aus welchem auch zitiert wird. Ders.: Der Noah. In 12 Gesängen. Zürich 1752. 492 Vgl. dazu Jesko Reiling: Die Genese der idealen Gesellschaft. Studien zum literarischen Werk von Johann Jakob Bodmer (1698–1783). Göttingen 2010.
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Das Schicksal hat ihm sehr wenig von den Glücksgütern zugeworfen, und wiewol er von einer alten bürgerlichen Familie ist, so hat doch diese Lebensart nichts Knechtisches, mit welcher der Ion von Athen, der Glaukon, der Metrodor von Lampsacus, der Stesimbrotus von Thasos, goldene Kronen erworben haben, die ihnen von zahlreichen Versammlungen der geistreichsten Griechen zuerkannt worden. Und kann eine Profeßion schimpflich seyn, von welcher Sokrates gesagt hat, ob sie gelernet, oder durch eine unmittelbare Begünstigung des Himmels erhalten werde. Jene alten Rhapsodisten waren zwar nicht blosse Sprecher der Homerischen Gedichte, sondern zugleich Ausleger und Erklärer derselben: Aber auch Fridolin vermehrt täglich seine Einsichten in die Quellen des Angenehmen und in das menschliche Gemüth, auf welches die Dinge beständige und übereinstimmende Eindrücke, der Natur desselben gemäß, machen; also daß er von vielen poetischen Kunstreichen und Hülfsmitteln bessern Grund und Ursache anzugeben weiß, als man in einer Menge Lehrschriften findet, die für die Gymnasien und die poetischen Gesellschaften geschrieben werden. Die Kunst der Rhapsodisten wäre schon vorzüglich schätzbar, wenn sie auch nichts anders thäte, als den Sitten und Empfindungen in einem Gedichte durch die laute Aussprache, durch die Inflexionen der Stimme, durch die Bewegungen des Körpers, durch die Veränderungen der Gesichtszüge ein Licht mitzutheilen, gegen welches das Leben, das von dem blossen Lesen im Cabinet noch entstehen kann, nur ein embryonisches Leben ist. (EGG, S. 81f.)
Die Sklaverei und das „knechtsche Dasein“ werden hier bereits vor der Kulisse jener berühmten Alten wie „der Ion von Athen, der Glaukon, der Metrodor von Lampsacus, der Stesimbrotus von Thasos“ mitbedacht, die sich alle dadurch auszeichneten, dass sie im alten Griechenland einmal in ihrem Leben gedient hatten. Der mythische Stammvater Athens und Eponym aller Ionier war einst Tempeldiener in Delphi und ist titelgebend in Platons Dialog Ion. Glaukon war einer der Brüder Platons, der laut Diogenes Laertios sich auch als philosophischer Schriftsteller betätigt haben soll, dessen Werke aber nicht überliefert sind. Daneben trat Glaukon in einigen Werken als Dialogpartner des Sokrates in Platons Dialogen auf, wie bspw. in der Politeia oder in der Rahmenhandlung des Symposion. Der griechische Philosoph und Schüler des Anaxagoras, Metrodor von Lampsacus, sowie der Stesimbrotus von Thasos sind Homer-Exegeten, die durch ihre sinnreichen und zuweilen allegorischen Deutungen der Homerischen Poesie sowie charakteristischen, mitunter tendenziösen Einschätzungen athenischer Staatsmänner Berühmtheit erlangten und bei Platon, Plutarch und Xenophon Erwähnung finden.493
493 Vgl. Art. ,Metrodor von Lampsakos‘. In: Der Kleine Pauly. München 1979, Bd. 3, Sp. 1280; Hans Gärtner: Art. ,Stesimbrotos‘. In: Ebd., Bd. 5, Sp. 368–369.
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Das Thema der Knechtschaft und der Sklaverei wird später von Bodmer in dieser Brieferzählung noch deutlicher ausgeführt werden (vgl. Kapitel 4.1.4). Im siebten und letzten Brief, den Heinrich Fischer am 12. Mai aus Trogen an Martin Kreuzner richtet, wird die Molkenkur nochmals eingehend anhand des Besuches in Zellwegers Hütte vorgeführt: Das artigste war, daß ich sie hier auf den väterlichen Bergen ihres Fridolins empfing; wo ich seit etlichen Tagen mit unsern Freunden von Z... und W... bin, uns der Molkencur zu bedienen. Alle Morgen führt unser Philokles uns vor dem Aufgange der Sonne auf den Berg Gaberius, wo der eisgraue Vater des Rhapsodisten eine Sennhütte bewohnet und uns aus dem sanftsiedenden Kessel dünne, süsse, bluterfrischende Molken mit mildem Herzen einschenket. Wir trinken stark; hier ist kein Rausch zu besorgen. Nichts unterbricht die langen strömenden Züge, Als eine Pfeife von wohlriechendem Knaster, Und süssere Reden. (EGG, S. 104f.)
Offensichtlich gehörte zur Molkenkur in Trogen, deren gesundheitsfördernde Wirkung für Blut und Herz hier ausdrücklich gepriesen wird, immer auch die Auseinandersetzung mit literarischen Texten, die wohl die „süssere[n] Reden“ evozieren, wie dies Heidi Eisenhut in der Zellweger-Bodmer-Korrespondenz erforscht hat.494 Neben den Erzählungen werden in der Satire Briefe und Fragmente erwähnt, die im intimen Kreis von Z[ellweger] und W[ieland] in Trogen vorgelesen und diskutiert werden: Philokles hatte uns die Verwandlung in einen poetischen Sänger, die er mit Fridolin vorgenommen, an dem ersten Morgen erzählet, da wir in der rußigen Geburtscabane desselben, bey seinem weißhaarigten Vater sassen und Molken tranken. Er zeigte uns auch etliche Briefe von ihm, in welchen er ihm von dem Fortgange seiner rhapsodistischen Wanderschaft verschiedene seltsame Nachrichten ertheilt. B. und sein Gast, der schwäbische Poet, hatten die Gefälligkeit für uns, daß sie uns etliche grosse Fragmente lasen, welche sie vor diesem ihrem Philokles zu Fridolins Gebrauch übergeben hatten, unter denselben die Hymne auf die Sonne, und das Stück von dem Weltgerichte. In den nächsten Tagen wird er ihm Cidli und Lazarus von W. zufertigen.495 (EGG, S. 105f.)
1709 begleitete Zellweger seinen Lehrer, den Arzt und Naturforscher Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733) auf seiner siebten Alpenreise, wo naturwissenschaftliche und meteorologische Forschungen unternommen wurden. 1710 ließ er sich an der medizinischen Fakultät in Leiden immatrikulieren und besuchte Vorlesungen bei
494 Vgl. hierzu Eisenhut: Gelehrte auf Molkenkur. 2011, S. 271–302. 495 Die hier erwähnten Fragmente beziehen sich auf Bodmers Gedichtband: Fragmente in der erzählenden Dichtart. Von verschiedenen Innhalten. Mit einigen andern Gedichten. Zürich 1755.
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Herman Boerhaave (1668–1738).496 Zellweger, der u. a. auch in den Diskursen der Mahlern publizierte, pries in Briefen die Molke als Heilmittel und ergriff ab den 1740er Jahren im Kreis um Bodmer und Breitinger die Initiative, regelmäßig Sulzer, Gessner, Hirzel, Klopstock oder Wieland im Sommer zur Molken- oder Schottenkur in seine „förene Hütte“ im freien Appenzellerland, dem arkadischen Gegenpol zum Limmat-Athen, einzuladen. Auf den Molken-Kult wurde in der Ode an Philokles (1747) und im Noah (1752) referiert. Ferner wird im weiteren Gespräch in der Berghütte über den aktuellen Literaturstreit debattiert und für die Dichtungen der Schweizer geworben, womit die Abendunterhaltungen der Landleute, bekannt aus Hallers „Alpen“, fortgesetzt werden. Nach dem Bergaufstieg eine thematische Klimax der poetologischen Parteinahme für die Schweizer, wo Bodmer einen Bezug zwischen der Homerbegeisterung, dem Bibelepos und einer rousseauschen Alpenlandschaft herstellt, da dieser Ort das einfache Leben am besten illustriere, sowohl bei Homer als in der Bibelepik. Das Wandern in der freien Natur, das Innehalten auf dem Gipfel oder der Genuss der „petit lait“ war im Appenzellerland immer mit Gesprächen über Politik, Theologie, Philosophie und Literatur verbunden, die, neben der Grandison-Satire auf Gottsched ebenso in der Ode an Philocles literarisch verdichtet, ihre Fortsetzung in der Zellweger-Bodmer-Korrespondenz fanden.497 Im Folgenden wird gezeigt, wie der Zürcher Kritikbegriff als komparatistische Vorgehensweise fungiert. Dieser zeichnet sich nicht nur durch seine politischen Parameter aus, sondern spitzt sich ebenfalls zu einer pointiert pädagogischen Stellungnahme zu und orientiert sich dabei eng an der Leibniz-Wolff’schen Philosophie.
4.1.3 Die Faltenmetapher – Bodmers politisches Erziehungsmodell Nach Ansicht des Zürchers ist die mangelnde Kritikfähigkeit der Untertanen in Monarchien mit der unfreien Erziehungsmethode zu erklären, die den Menschen zu Hörigkeit und knechtischer Abhängigkeit abrichtet. Dagegen kann sich nach Bodmers Ansicht eine Atmosphäre des freien Denkens nur in republikanisch organisierten Gemeinwesen entwickeln, in denen die Souveränität im Volk verankert ist. Programmatisch wird zum Schluss des Briefromans, d. h. zum Ende des sechsten Briefes, ein klosterähnliches Bildungswesen beklagt, das einzig zum
496 Vgl. Eisenhut: Gelehrte auf Molkenkur. 2011, S. 271–302, hier S. 274. 497 Vgl. ebd., S. 272, Anm. 6, sowie S. 291 f.
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Gehorsam erzieht, anstatt Fähigkeiten des selbständigen und kritischen Denkens zu fördern: Wie es der Engländer Edward exemplarisch vorführt, hängt Bildung mit einem ästhetischen Empfinden zusammen, was die Intention der Bibelepen umschreibt. Sodann wird der Adel kritisiert, der sich einzig auf die Pflege des Körpers und dessen sportliche Betätigungen konzentriert und die Arbeit des Geistes gänzlich unterschlägt bzw. anderen überlässt, die weniger gut bemittelt sind. Ein vernünftiger Mann, den ich hier angetroffen habe, der von der Nation ist, von welcher ich gesaget habe, daß die Sachsen ihr die Ehre des deutschen Namens mit einigem Unwillen zugestehen, ein Compatriot derer Kunstlehrer, die sich so viel Mühe gegeben haben, Deutschland auf die Schönheiten des verlohrnen Paradieses aufmercksam zu machen, eben derjenige […] hat mir einige Züge von dem Charakter der Nation gegeben, von welchen er behauptet, daß sie der Schlüssel zu demselben seyn. Die Standespersonen, sagte er, der Adel, und, nach ihrem Beyspiele, die starckbemittelten Leute, wenden ihre meisten Sorgen auf den Körper, den sie von der Natur groß und wohlgestaltet empfangen haben. Sie sind beflissen, ihm durch starcke Bewegungen, und Militairübungen alle Vortheile zu geben, die er haben kann; Schiessen, Reiten, Fahren, Jagen sind ihre täglichen Geschäfte. Die Arbeiten des Geistes, die gelehrten und schönen Wissenschaften überlassen sie anderen, die wegen ihrer schlechten Umstände nöthig haben, sich damit abzugeben. Diese bemühen sich damit nicht weiter, als sie es nöthig haben. Sie glauben, daß sie den Geist schon genug angebauet haben, wenn sie ihm zu der Gelehrsamkeit geholfen, die man in den Schulen bekommen kann; von der sie aus der Erfahrung wissen, daß man sein Glück damit machen kann. (EGG, S. 97f.)
Die pazifistische Kritik am Militär und an der Idiotie jeglicher Kriegsführung, die auf dem mechanisch-primitiven Akt des Tötens beruht, impliziert ein Bildungskonzept, das sich an jenem – an gewissen Bildungsstätten, Klosterschulen oder Militärakademien durchaus üblichen – Ton stößt und dahinter auch ein Menschenbild einer Klassengesellschaft vermutet, das politisch begründet ist: Man schätzet die Wissenschaft zu viel um ihrer selbst, und zu wenig um ihres Nutzens willen; […] daß man sie ohne Untersuchung nachspreche, und die Nation, die Ehre der Obern, der Vorsteher und Lehrer, der Eltern und Voreltern beleidiget hält, wenn man Zweifel darüber hegete. Die beste Auferziehung bekommt man in gewissen klostermäßig eingerichteten Collegien, wo Wachen und Schlafen, Arbeiten und Ruhen, Essen und Fasten, alle Bewegungen, alle Tritte den jungen Leuten aufs pünktlichste abgemessen werden; von dem geringsten eingeführten Gebrauche abzuweichen, wird für ein Verbrechen angerechnet; da werden die Gedancken selbst vorgezählet, der Stoff, worüber man dencken darf, wird vorgeleget, die Worte, in welchen man dencken darf, werden eingepräget; es wird ein Anathema darauf gesetzet, wer sich erkühnen wollte, weiter oder anders zu dencken. (EGG, S. 99)
Die hier artikulierte Kritik richtet sich womöglich gegen jene Pädagogik, die Wieland in der Klosterschule St. Johannes der Täufer auf dem Berge (kurz: Kloster
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Berge) in Magdeburg kennenlernte. Eine ganz ähnliche Kritik wird später Friedrich Schiller über das Erziehungssystem der Hohen Karlsschule verlauten lassen. Er formuliert in einer feinfühlenden Psychologie mit seinen Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1793) einen Kunstbegriff der Schönheit, dank welcher Freiheit in der Ästhetik möglich wird. Schillers Ästhetische Briefe, die sich als Reflexion über die Terreurs der Französischen Revolution – des katastrophalen Endes der Aufklärung – verstehen, sind zudem eine kritische Abrechnung mit der Willkür eines aristokratisch-absolutistischen Staates. Schon Bodmer führt die Konsequenzen der schulischen Tretmühle vor Augen, die den Menschen zum autoritätsgläubigen Kriecher domestiziert, anstatt ihn auf die Aufgaben vorzubereiten, die mit der politischen Willensbekundung und Mitbestimmung im aristokratisch organisierten Gemeinwesen einhergehen. Dass in einem gegen Gottsched gerichteten literaturkritischen Text ästhetische Fragen mit pädagogischen Überlegungen verquickt werden und das altehrwürdige Recht auf Denkfreiheit betont wird, ist für Bodmers literaturkritische Dichtungen signifikant und zeichnet Bodmers Kritikbegriff aus: Das Gemüth empfängt davon eine Falte, die ihm Lebenslang bleibet; sie behalten diese als Lehrer, Hofmeister, Secretäre, Richter, Räthe, Prediger, Professoren – – und pflantzen sie ferner auf ihre Söhne und auf ihre Untergebenen fort. Das knechtische Gemüth, das lange gekrochen ist, und noch kriecht, fodert ein gleiches Kriechen von andern. Der Obere zählt es unter seine Amtsrechte, daß er wegen seiner Titel, seines Ansehens, seines Ranges von dem Untern Glauben ohne Beweis fodern dürfe. Das älteste Recht der Menschen, die Freyheit durch seinen eigenen Verstand zu denken, wird darüber verabsäumet; alle Großmuth, Kühnheit, hohe Gedancken, die natürlichsten Empfindungen, die Eindrücke des Schönsten und Besten gehen durch diese falsche Richtung zu Grunde. (EGG, S. 99f.)
Während in Monarchien der Mensch zur funktionierenden Maschine und zum kriechenden Tier abgerichtet wird, was sich ebenso fatal auf die folgenden Generationen auswirken kann, die dann ebenfalls zu unselbständigen Herdentieren dressiert werden, so können sich nach Bodmers Idealvorstellung Menschen bzw. mehrheitlich Männer in Republiken zu selbstbewussten, verantwortlichen Bürgern entwickeln.498 Die gesellschaftstheoretischen Positionen werden im Stil
498 Mit der Helvetischen Gesellschaft entwickelte Bodmer Modelle für Töchterschulen, die von Leonhard Usteri (1799–1833), der 1774 die erste Zürcher Töchterschule gründete, berücksichtigt wurden. Vgl. Yvonne Leimgruber: In pädagogischer Mission. Die Pädagogin Rosette Niederer Kasthofer (1779–1857) und ihr Wirken für ein „frauengerechtes“ Leben in Familie und Gesellschaft. Bad Heilbrunn 2006, S. 25, Anm. 27. Zudem hatte Bodmer sein Haus, seine Manuskripte und seine Bibliothek der Zürcher Töchterschule vermacht. Vgl. Alfred Messerli: Lesen und Schreiben 1700 bis 1900. Untersuchung der Durchsetzung. Tübingen 2002, S. 145, Anm. 356.
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des sokratischen Gesprächs erörtert. In Anlehnung an das frühaufklärerische binäre Leib-Seele-Konzept wird einem abstrakten Hergang der Bildung seine konkrete Bildlichkeit gegeben. Abgeleitet von den philosophischen Ideen von Leibniz werden zwei Ebenen beschrieben, eine materielle, die unendlich ist, sowie eine einfache, jene der Seele. Bodmer benutzte ebendieses Bild, wenn er sagt, dass der Vorgang der Perzeption Falten in der Seele bilde, die Menschen aller Berufssparten fürs Leben prägen. Ob sich Bildungsprozesse an einer von Titeln und Autoritäten bestimmten Gesellschaftsordnung orientieren oder eher eine Kultur der freien Gedankengänge postulieren, hängt von den jeweiligen politischen Konditionen ab. Das für die Abläufe benutzte Vokabular kommt wiederum aus der Pflanzen- und Tierwelt, wenn die Spätfolgen von postulierten Haltungen schon implizit mitbedacht werden und an das Verantwortungsgefühl von Lehrpersonen sowie von sozialen Autoritäten („Lehrer, Hofmeister, Secretäre, Richter, Räthe, Prediger, Professoren“) in einer Klimax appelliert wird, die ihr Wissen, ihre Gesichtspunkte bzw. ihre Lebenshaltungen dem hier wiederum stark männlich betonten Nachwuchs oder den Untergebenen „[ein]pflanzen“ respektive weitergeben. Die Gefahr der sklavischen Lebenshaltung des Kriechens, die von bornierten Autoritäten, die nach Edward der Aristokratie angehören, lange als Bildungsideal hochgehalten wurde, erfährt hier eine scharfe, politisch motivierte Kritik, da sich die mit Privilegien bestückten Autoritäten vor der sozialen Verantwortung scheuen: Deutschland, sagte er [der Herr von M., tiefsinnigster Kenner der Menschen und der Nationen], besteht aus einer Menge Provintzen, die so vielen Herren unterworfen sind, welche sich miteinander verbunden haben, daß sie eine Nation von Sclaven beherrschen wollen. Diese kleinen Printzen erkennen einen von ihnen für ihr Haupt, und bezeugen für ihn eben so viele Ehrfurcht als wenigen Gehorsam. Die Mine und das Naturell dieser Nation gleichen den Früchten, von welchen sie sich ernähren. Säfte mit salzigen Theilen durchfahren, die sich sehr schwer auflösen, machen, daß das Blut mit einer Langsamkeit fließt, welche den Geist so stark nieder drückt, als die Last des sclavischen Joches. Dieses Volk ist arbeitsam, fleißig, erfindsam, weil die meisten elend sind; aber die Werke eines Kopfes, der immer kriechet, sind allemal roh und ungeschliffen. Wenn sich einige von ihnen auf die Wissenschaften legen, so läßt sich der Zwang einer nicht sehr erhabenen Seele in dem gezwungenen und weitläuftigen Ausdrucke, womit sie ihre Gedanken hervorgeben, wahrnehmen. Da hier niemand empor kommen kann, der sich nicht bey einem trotzigen, herrschsüchtigen, in seine adeliche Herkunft verliebten Herren angenehm machen kann, so ist die vornehmste Bemühung der Gelehrten, daß sie ohne Aufhören über die Rechte, Titel, Herrlichkeiten und Ansprüche des Fürsten zanken, dem einer unterworfen ist. Man kann ermeßen, was das für ein unermeßlicher Haufen nichtswürdiger Kleinigkeiten seyn müsse, mit welchen hier der menschliche Verstand sich beschäfftigt. (EGG, S. 102f.)
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Dass diese Kritik wiederum von dem Engländer, der hier als Anhänger einer konstitutionellen Monarchie fungieren könnte, postuliert wird, spricht für die selbstkritische Haltung in politisch verstandenen Bildungsfragen, die diesem hier zugesprochen wird, der zudem ein ausgesprochener Kenner von Montesquieus Esprit des lois (1758) ist. Während Rousseau in Émile (1762) davon spricht, wie die Menschen sich zu unangenehmen, unabweisbaren sowie unbändigen Tyrannen entwickeln, zählt Bodmer Berufssparten auf: „Lehrer, Hofmeister, Secretäre, Richter, Räthe, Prediger, Professoren“ (EGG, S. 99), die den Menschen prägen. In ihren pädagogischen Ideen folgen Bodmer wie auch Rousseau Locke und Montesquieu. In Lockes Some Thoughts Concerning Education (1693) kommt die Metaphorik des Faltens im Zusammenhang der Kindererziehung erstmals zum Zuge, wenn dabei eine Nachlässigkeit der Aufmerksamkeit seitens der Erzieher von Locke beobachtet wird: The great mistake I have observed in people’s breeding their children has been, that this has not been taken care enough of in its due season; that the mind has not been made obedient to rules, and pliant to reason, when at first it was most tender, most easy to be bowed.499
Im Essai sur les causes qui peuvent affecter les esprits et les caractères, einer Skizze zum Esprit des lois, versucht darauf Montesquieu einen drastischen anthropologisch-ethnographischen Vergleich, indem er eine Inflexibilität bei den „Gehirnfasern“ der Wilden festzustellen meint, die mangels Möglichkeiten zur Entwicklung die Kapazität des Lernens ganz verloren hätten: „Les fibres de leur cerveau, peu accoutumées à être pliées, sont devenues inflexibles. Il faut comparer les hommes qui vivent chez ces peuples aux vieilles gens qui, parmi nous, n’ont jamais rien appris.“500 Darauf findet sich weiter hinten das Beispiel von den Wilden und den Alten, für die aufgrund der unterentwickelten Fasern Montesquieu keine Entwicklungschancen mehr sähe: „leur cerveau n’a pas, si je l’ose dire, travaillé, et leurs fibres ne sont pas rompues aux mouvements requis. Ils sont incapables d’ajouter des idées nouvelles au peu qu’ils en ont“.501 Das Urteil über die Wilden Amerikas ist dann noch brutaler: Als undiziplinierbar, unkorrigierbar sowie unfähig zu jeglicher Vernunft und Anleitung werden diese deklassiert. Und der Aufwand, die Wilden belehren zu wollen, käme dem unmöglichen Versuch gleich, Lahme wieder zum Laufen zu bringen:
499 John Locke: Some Thoughts Concerning Education (1693). Of the Conduct of Understanding. Hg. von Ruth W. Grant, Nathan Tarcov. 1996, § 34, S. 26. 500 Montesquieu: Essai sur les causes qui peuvent affecter les esprits et les caractères. In: Charles de Secondat baron de Montesquieu: Mélanges inédits de Montesquieu. Bordeaux, Paris 1892. 501 Ebd., S. 53.
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On éprouvé que les sauvages de l’Amérique sont indisciplinables, incorrigibles, incapables de toute lumière et de toute instruction; et en effet, vouloir leur apprendre quelque chose, vouloir plier les fibres de leur cerveau, c’est comme si on entreprenait de faire marcher des gens perclus de tous leurs membres.502
Im Vorwort zum Hauptwerk Montesquieus, dem Esprit des lois, wird über den Menschen als flexibles Wesen in der Gesellschaft reflektiert, der sich den Gesetzen der Gesellschaft, d. h. den Gedanken und Eindrücken der anderen beugen muss. Dadurch lernt er seine eigene Natur kennen, die er verlieren kann, wenn man diese ihm wegnimmt: C’est en cherchant à instruire les hommes, que l’on peut pratiquer cette vertu générale qui comprend l’amour de tous. L’homme, cet être flexible, se pliant dans la société aux pensées et aux impressions des autres, est également capable de connaître sa propre nature lorsqu’on la lui montre, et d’en perdre jusqu’au sentiment lorsqu’on la lui dérobe.503
Der sozialen Verantwortung des Einzelnen gegenüber allen und aller gegenüber der sie tragenden Gesellschaft ist Rousseau verpflichtet, der sich lange mit Montesquieus Klimatheorie auseinandergesetzt hatte, um daraufhin seine Theorie über den pacte social zu entwickeln. Ähnlich wie Montesquieu über die Formbarkeit der Fasern nachdenkt, beschreibt Rousseau in Émile den pädagogischen Vorgang, Falten zu werfen als einen, der bei Kindern besser funktioniere als bei älteren Menschen. Da die Fasern beim Kind noch weich und flexibel sind und dieses somit leichter lerne. Avant que l’habitude du corps soit acquise, on lui donne celle qu’on veut, sans danger; mais, quand une fois il est dans sa consistance, toute altération lui devient périlleuse. Un enfant supportera des changements que ne supporterait pas un homme: les fibres du premier, molles et flexibles, prennent sans effort le pli qu’on leur donne; celles de l’homme, plus endurcies, ne changent plus qu’avec violence le pli qu’elles ont reçu. On peut donc rendre un enfant robuste sans exposer sa vie et sa santé; […].504
Dieser Gedanke über die frühe Formbarkeit von Kindern findet sich so schon bei Malebranche, der bereits Ähnliches erklärte: „les fibres du cerveau dans l’enfance sont molles, flexibles et délicates, avec l’âge elles deviennent plus sèches, plus dures, et plus fortes“.505
502 Ebd. 503 Montesquieu: L’esprit des lois. Introduction, chronologie, bibliographie, relevé de variantes et notes par Robert Derathé. Paris 2011. 504 Rousseau: Émile. In: OC, Bd. IV, S. 260. 505 Malbranche: Recherche de la vérité. In: Ders.: Œuvres. Bd. II. Paris 1848, Kap. 5.
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Dass Bildungsmodelle von politischen Kontexten abhängen und diametral einander gegenübergestellt werden, ist bei Bodmer ein immanenter Gedanke, der immer wieder in seinen literaturkritischen Schriften in seinen kausalen Zusammenhängen dargelegt wird. Neben Leibniz und Wolff orientiert er sich in der Faltenmetaphorik an der von Locke, Montesquieu und Rousseau geführten Diskussion.
4.1.4 Mythos Schweiz als Werbeslogan für die Poetik der Zürcher Die hier beobachtete Klimax nimmt ihren Anlauf bereits im sechsten Brief, den Sir Edward Grandison aus Görlitz „an den ehrwürdigen Doctor Patridge Sawnders, gegenwärtig in Verona“ am 20. Juni richtet. Hier berichtet Edward von seiner Reise, die ihn nach einem längeren Aufenthalt in „Breßlau“, von dort nach Dresden führen sollte, ihn aber dank eines Zwischenhalts in Görlitz verweilen ließ, wo ihm zum Geschmack und zur Literatur der Deutschen eine Einführung geboten wird. Sogleich kommt die Rede auf die epischen biblischen Gedichte, die in der Tradition der Alten aber auch mit der Moderne Miltons verglichen werden: Diese Nation hat seit wenigen Jahren epische Gedichte, in welchen derselbe grosse Geist herrschet, der das v e r l o r n e P a r a d i e s erdichtet hat; wir finden darinnen dieselbe Dichtungsart ohne daß es Nachahmungen sind; oder sind hie und da Nachahmungen, so sind es nur solche, die mitten in der Nachahmung den freyen Geist beweisen, der sich des Stoffes Meister gemacht hat. Es ist bey diesen Poeten, die durch eine gleich heftige Neigung zu einerley Bemühung angetrieben worden, eine so genaue Gleichheit der Seelenkräfte, welche oftmals eine Nachahmung vermuthen läßt, wo keine gewesen war. Es sind keine Früchte der arbeitsamen Gelahrtheit, welche von dem Genie, oder der natürlichen angebohrnen Kraft so sehr unterschieden ist; sondern aufs höchste eine anmuthige Tinctur, welche der Ausdruck von dem täglichen Umgange mit den Alten und von ihrem Geschmacke an sich genommen hat. Die Titel und der Stoff dieser Gedichte sind: die Meßiade, oder die Erlösung durch den Gottmenschen; die Noachide, oder die erhaltene Welt; die Sündflut, oder die zerstörte Welt; die Abrahamide, oder die Prüfung Abrahams durch den Befehl, seinen Sohn zu opfern; die Colombona, oder die Entdeckung der neuen Welt. Ausser diesen haben sie einige epische Erzählungen von kleinerm Umfange, zu welchen man ferner etliche Hymnen auf Gott, die Sonne, das Gesicht von dem Weltgerichte, und vornehmlich Briefe der Abgestorbnen an die hinterlassenen Freunde zählen kann. All diese Stücke haben zum vornehmsten Gegenstande das Lob unsers Schöpfers und Erhalters; und den Menschen, nach seinen vornehmsten Gesichtspunkten, folglich die Religion, die Sitten und die Tugend. Die Verfasser sind Sittenlehrer, sie erwecken Empfindungen der Religion, und Liebe zur Tugend; sie legen uns Beyspiele vor, wie wir uns in allerley Stande, in den verschiedensten Verhältnissen des Lebens, auch in ungewöhnlichen Führungen der Vorsehung zu verhalten haben. Wir haben darinnen eine genau entwickelte biblische Mythologie, welche die Meinung des Grafen Shaftsbüry auf allen Blättern widerleget, daß die rechtgläubige Muse zu schwach sey, die
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Helden und die Heldinnen aus dem erwählten Samen auf einem hohen und liebenswürdigen Grade aufzuführen. (EGG, S. 84–86)
Mit der Schützenhilfe des Engländers wird in einem belletristisch-literarischen Text im zusätzlich ergänzten Dekor der pittoresken Alpenwelt für die Poetik der Schweizer geworben. Die theoretischen Ausführungen mit den kurz und fast stichwortartig gehaltenen einführenden Erklärungen der Werke werden immer wieder von Beschreibungen alltäglicher Beschäftigungen durchbrochen, was dem englischen Konversationsstil entspricht, den Richardson in seinen Romanen beanspruchte. Dabei ist selbstverständlich, dass der Umgang mit Literatur zum Alltag gehört, wenn „von dem täglichen Umgang mit den Alten“ die Rede ist. Fast nebenbei und en passant wird regelrecht eine Leseliste ausformuliert, die mehrheitlich aus den Werken Klopstocks und Bodmers besteht: „die Meßiade, oder die Erlösung durch den Gottmenschen; die Noachide, oder die erhaltene Welt; die Sündflut, oder die zerstörte Welt; die Abrahamide, oder die Prüfung Abrahams durch den Befehl, seinen Sohn zu opfern; die Colombona [Colombana], oder die Entdeckung der neuen Welt“. Daneben wird ebenso auf epische Erzählungen sowie auf die Korrespondenz Verstorbener hingewiesen, die neben den erwähnten Epen desgleichen zur biblischen Mythologie zählen. Dass hier ein Engländer gegen den Landsmann Anthony Ashley-Cooper, 3. Earl of Shaftesbury (1671–1713) wettert, ist ein besonderer Schachzug des Zürcher Sitten- und Tugendlehrers nach dem Vorbilde biblischer exempla, der sich hier in einem Nebensatz vom Heldenbild und Literaturverständnis des englischen Sensualisten zu distanzieren sucht. Trotz der Kritik schimmert hier die Kenntnis der moralischen Schriften Shaftesburys durch, nota bene des Essays The Moralists, a Philosophical Rhapsody (1711). Von Shaftesbury differiert Bodmer in seiner Auffassung von Moral, wenn er Beispiele für moralische Vorbilder vorzugsweise aus der Bibel anbringt und in seinen Dichtungen ausführt. Shaftesbury dagegen unterschied noch klar zwischen Theologie und Moral, deren Qualitäten unabhängig von der Willkür Gottes zu verstehen seien. Als religiöser Denker und Vertreter einer natürlichen Theologie kritisierte er in seinem Verständnis der Harmonie jegliches Autoritätsverhalten einer Staatsmacht, die Strafen als rechtliche Maßregelung benutzte. Seine religiösen Ansichten wurden mehrheitlich von Alexander Pope popularisiert, dessen Essay on Man (1732–1734) zum Teil auf einer in Versen gesetzten Fassung von Shaftesburys Religionsphilosophie basiert. Für Klopstocks Messias wird regelrecht eine Lanze gebrochen, wenn dessen Gesänge sogar um Weiten Miltons Hauptwerk übertreffen sollen, was sichtlich der gewieften Werbestrategie des Zürchers zuzuschreiben ist, der seiner beachtlichen Übersetzungsarbeit das nötige Rampenlicht besorgt:
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Unter den Verfassern unterscheidet sich das Originalgenie, die Stärke der Erfindung, die vivida vis animi, oder das poetische Feuer, bey keinem so durchgehend, so rein, so unwiderstehlich, wie bey dem Verfasser der Meßiade. Bey ihm ist auch diese edelste Art der Nachahmung, diese Tinctur, die von dem Umgange mit den Alten entsteht, unmerklich, oder nur den scharfsichtigsten merklich. Hierinn übertrifft er Milton nach jedermanns Geständnisse; Ich habe zwar allemal gefunden, daß Pope dem Verfasser des v e r l o r n e n P a r a d i e s e s unrecht gethan habe, als er ihn einem glühenden Ofen verglichen, der durch die Macht der Kunst in einer ungemeinen Hitze unterhalten wird: Aber man kann doch nicht leugnen, daß Milton die Nahrung seiner Muse oftmals in den Poesien Homers und der andern Alten gefunden hat, wiewol er sie gewust hat in seinen eigenthümlichen Geist zu verwandeln. Bey Klopstocken, so heißt der Verfasser der Meßiade, kann man auch diese fremde Nahrung nicht wahrnehmen. Das Feuer seiner Erfindung zeigt sich ohne die geringste Hülfe der Kunst auf eine Art, welche dem Feuer aller andern Poeten, wo nicht überlegen ist, doch nicht in dem mindesten Stücke desselben benöthiget ist. Die Erhebung zu den höchsten Sphären der Himmel, und zu den göttlichen Personen in denselben, sind eines der merklichsten Kennzeichen dieses feurigen Geistes. (EGG, S. 86f.)
Das geflügelte Wort in einer Alliteration auf ‚v‘ „vivida vis animi [pervicit]“ aus De rerum nature des Lukrez506 ist hier mit Bedacht gesetzt. Der Vers um jene berühmte und rare Stelle zu evozieren, wo Beziehungen zwischen Mensch und Religion vorgestellt werden, wenn der Mensch in seiner Kreatürlichkeit von Epikur befreit, hier als göttlicher, insbesondere sich durch seine Intelligenz charakterisierende Held, d. h. als epische Figur eingeführt wird. Mit keinem Niedrigeren wird darauf das poetische Feuer Klopstocks verglichen, der hier nicht nur in Superlativen und Lorbeeren des Lobes von seinem literarischen Mentor Bodmer bekränzt wird, sondern zudem Milton bei Weitem überträfe, weil die Dichtung des Deutschen näher bei den Alten sei, eine Schreibweise, die – metonymisch umschrieben – sich durch ihre besondere „Tinctur“ auszeichne. Nach Klopstock kommt die Rede wieder auf die Schweizer, an deren vorrangige Leistungen angeknüpft wird. Denn es steht außer Frage, dass Bodmer sich verantwortlich für das Fahrwasser Klopstocks sah, worin dieser seine poetischen Segel setzen konnte: Diese Wercke kamen nicht unangekündigt, nicht ohne Vorbereitung zu den Deutschen. Einige geschickte Männer hatten ihnen Lehrschriften geliefert, in welchen die Regeln, worauf die Erfahrungen vom Aristoteles bis zum Muratori geführt haben, durch den Weg der Untersuchung geprüfet, und damit die Ursachen dessen, was nach der Natur des menschlichen Gemüthes und der Harmonie zwischen dem Gemüthe und den Vorstellungen gefallen muß, sorgfältig verglichen worden. Ueberdis gaben sie ihnen die Uebersetzung vom Miltons
506 Lucretius: De rerum natura. Welt aus Atomen. Lateinisch, Deutsch. Übers. und hg. von Karl Büchner. Stuttgart 2008. B. 1.V., S. 72–77.
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verlohrnem Paradiese, die sie mit einer Abhandlung vom Wunderbaren und der Verbindung desselben mit dem Wahrscheinlichen vereinigten. In diesem Werke wird allen Einwürfen des Magni und des Voltaire begegnet. Sie setzten auch Anmerkungen unter den Text, in welchen vieles gesagt wird, den innerlichen Werth des Gedichtes, und die Kunst des Poeten in absonderlichen Stücken in das gehörige Licht zu setzen. Doch thaten diese Arbeiten die Würckung nicht, die man doch billig davon erwartet hätte. (EGG, S. 88f.)
Gegen Gottsched werden ferner die Messer gewetzt, dessen einschlägige Errungenschaften der Kritik – wenn auch in einem etwas verächtlichen Ton – kurz umrissen werden. Der hauptsächliche Streitpunkt liegt in der Milton-Rezeption, welche die Poetik der Zürcher maßgeblich betreffend des Wunderbaren und der Rolle der Phantasie in der Dichtung prägen sollte, während Gottsched dem Engländer hier mit weit weniger Enthusiasmus begegnete, und diesen vielmehr des Plagiats beschuldigte: Ein Mann, der auf einer vornehmen Universität ein Amt bekleidete, hatte auch von der Dichtkunst geschrieben, doch gröstentheils von dem mechanischen in derselben; er hatte die Einmischung der lateinischen und der frantzösi[s]chen Wörter unter das Deutsche aus der Sprache verbannt; er hatte die Rechte des edlen D u , den Mißbrauch des I h r in der Poesie behauptet, er hatte die drey Einheiten des Trauerspieles entdecket, et hatte den Harlekin aus demselben ausgemustert, und sich damit einen grossen Nahmen erworben. Er war insbesondere ein muthiger Verfechter des Reimes, auf welchen jene andern Kunstlehrer nicht viel halten. Dieser berühmte Mann widersetzte sich dem miltonischen Gedichte mit grossem Eifer. Er nahm alle französischen Beschuldigungen für erwiesen an, er setzte die Erdichtungen von den Engeln und bösen Geistern in eine Linie mit den Feenmährchen, und fand die Gelehrsamkeit darinn so ungereimt angebracht, und die Metaphern und Figuren so schwülstig und so überspannet, als es jemals von Lycophron, oder Nonnus, oder Marino geschehen wäre. Ich habe diesen Menschen mit einem seiner liebsten Jünger zufälliger Weise hier angetroffen, und habe aus ihrem eigenen Munde gehöret, Milton hätte allen seinen Ruhm der Cabale einiger vornehmen Herren zu danken, denen es in den Sinn gekommen wäre, daß sie ihrer Nation einen epischen Dichter geben wollten; alles, was man durch die Ausschweiffung der Phantasie schwärmendes machen könne, sey in dem Gedichte auf einen Haufen gesammelt; Böhme und Pordätsche hätten es nicht ärger gemachet; die Ausbildung sey von Meteoren und Sprachfehlern zusammengesetzet. Zu dem sey er ein ewiger Ausschreiber; Lauder habe die Schande desselben der ganzen Welt aufgedecket, es sey nicht gewiß, daß er seine Beschuldigung zurück genommen habe, man wisse dieses allein von Miltons Freunden; aber gesetzt, daß Lauder seine Anklage nicht hätte ausführen können, so sey das die Schuld seiner schlechten Belesenheit, ein gelehrterer Mann würde den Beweis schon zu führen wissen. (EGG, S. 89f.)
Im Schachzug gegen Gottsched wird gleichsam gegen dessen Schützling Schönaich und insbesondere gegen dessen Heldenepos Hermann oder das befreyte Deutschland (1752) polemisiert, wenn hier exemplarisch am Text eine scharfe Literaturkritik vorgeführt wird, die darauf abzielt, den Gegner der Lächerlichkeit preiszugeben:
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Wenn Blackmor weder diese Einfälle, noch jene Aufwallungen von Freude und Stolze gehabt hat, was mag der Verfasser der Hermannias, von solchen gehabt haben, die zehnmal unter Arthurs Feuer und Neuigkeit herunter bleibt? Eine alltägliche Moral, zweydeutige Handlungen, unüberlegte und unnöthige Entschlüsse, noch zweydeutigere, unbestimmtere, und wenn der Verfasser poetisch reden will, kostbare oder steiffe Ausdrücke, die allen Personen gleich in den Mund gelegt werden, sind in zwölf Bücher ausgedehnet. Thusnelda, Hermanns Gemahlin, ist eine Penthesilea, sie streitet auf der Seite ihres Gemahls gegen ihren Vater; sie bedecket lange den Vater desselben gegen ihren eigenen, – – – Ihr tapfrer Arm schmettert seinen Helm in Stücken, Brüllend fällt er, seine Glieder zittern, und der Mund erblaßt, Und Thusnelda kennt die Stimme; sinket und wird sich zur Last. Ihrer Hand entfällt das Schwerdt, das sie, sich zur Pein geschwungen; Und das zarte Herz erstirbt, das erst in den Feind gedrungen. Der Poet dünkt sich recht groß mit dieser Vorstellung: Ein Gefecht, das keine Muse jemals noch besungen hat; Keine singt von solchen Dingen, keine ja von einer Schlacht, Die der Tochter Schwerdt und Blute ihres Vaters naß gemacht. (EGG, S. 91f.)
Die Idee der „Vorstellung“, d. h. der Einbildungskraft, ist eines jener Themen, die Grund zum Streit mit Leipzig boten. Dass Schönaichs Epos gerade vom Dichter der Henriade (1728) großes Lob erfuhr, muss Bodmer besonders gewurmt haben, ebenso der Umstand, dass Voltaire Milton abgeneigt war und mit Klopstocks Messias nicht gerade nachsichtig umging: Für dieses Gedicht hat der grosse Mann, sein poetischer Rath und Anweiser, ihm mit eigener Hand in einer feyerlichen Handlung den Lorbeerkranz aufgesezet, und der Herr von Voltäre hat die höchste Poesie und die tugendhaftesten Gesinnungen darinnen entdecket, und gesagt, die ausländischen Poeten, die in der Poesie etwas wissen wollten, würden sich künftig genöthiget sehen, die Sprache dieses Poeten zu lernen. Vermuthlich war damals Voltäre in Umständen, die es ihm nöthig machten, dem deutschen Professor zu schmeicheln. Das ist doch gewiß, daß Voltäre so wenig als der Professor, Geschmack an der biblischen Epopee findet; als man ihm ein paar Gesänge der Meßiade ins Französische übersetzet zeigte, gab er sie mit einem profanen Gespötte zurück. Sie wissen, wie unehrerbietig und ruchlos er vielmehr von dem Innhalt und den göttlichen Personen des verlornen Paradieses, als den poetischen Vorstellungen geredet, wiewol er auch diese ungeschickt genug getadelt hat. (EGG, S. 92)
Wieland verfasste 1751 ebenfalls ein Epenfragment Hermann in fünf Gesängen, das er Bodmer sandte und welches von diesem mit großem Applaus aufgenommen und gefeiert wurde. Das Epos oder in der deutschsprachigen Gattungsbezeichnung: das Heldengedicht bezeichnet laut Dieter Martin eine […] Handlung erzählende Versdichtung gehobenen Anspruchs und größeren Umfangs. […] Als Dichtung gehobenen Anspruchs unterscheidet sich das hohe Epos von parodistischen, satirischen, komischen und ähnlichen Varianten der Gattung. Der gehobene Anspruch
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artikuliert sich explizit durch die ernsthafte Verwendung einer Gattungsbezeichnung in Titel oder Vorrede und implizit durch ein Thema von nationaler, religiöser oder sonstiger Wichtigkeit sowie in der ernsthaften stilistischen Anknüpfung an die Tradition der Gattung durch Übernahme typischer Merkmale (zum Beispiel Prooimion, katalogartige Aufzählungen).507
Gottsched und Bodmer, „von der Sonderstellung der Epik überzeugt“ und unzufrieden mit den deutschen Beiträgern, engagierten sich beide für ein repräsentatives Epos. Während Gottsched noch Johann Christoph Schwarz’ (1742–1744) Vergil-Übersetzungen oder Johann Friedrich Kopps (1744) Tasso-Übersetzung förderte, übertrug Bodmer selbst Homer und Milton ins Deutsche. Im Kampf um die darauf einsetzende Vorreiterrolle im deutschen Literaturstreit verhärteten sich die Positionen zunehmend und Gottscheds Absage an Milton wurde immer wieder von den Zürchern aufgegriffen. Daneben versuchten sich Bodmer wie Gottsched vom Barock abzugrenzen und wehrten sich immer vehement, wenn ihnen Manierismus oder barocker Schwulst vorgehalten wurde: Weder eine Menge critischer Untersuchungen, in welchen man die magern Erfindungen, die unedeln Charackter, die alltägliche Denkungsart, die Affecten leere Ausbildung, die unpoetische Schreibart dieser antimiltonischen Schule in den absonderlichsten Beyspielen gerüget, also daß man den Grund von jedem kleinsten Lobe und jedem kleinsten Tadel angegeben hat; noch etliche nicht weniger nervigte als wohlgewürzte, und artig erfundene satyrische Vorstellungen haben diesem verkehrten und schülerischen Geschmacke viel abzugewinnen vermocht. Die kleinen Geister, die Halbgelehrten, die Schulgelehrten, die Witzlinge, die Wochenschreiber, die Kunstrichter von Profeßion, die Verleger sind alle auf dieser Seite; und diese machen bey einer Nation, die einer unglaublichen Menge Pressen zu arbeiten giebet, den grösten Haufen. Alle diese beschweren sich über die gedankenschwere, ätherische, mahlerische Dichtungsart der biblischen Epopee, und machen aus diesen Beywörtern gewöhnliche Schimpfnahmen, die sie mit marinisch, schwülstig, meteorisch für gleichbedeutende nehmen. (EGG, S. 93f.)
Nach einer eindringlichen Verteidigung des biblischen Epos und des Hexameters, der als der „bequemste Vers“ (EGG, S. 94) gepriesen wird, kommt die Rede wieder auf die Schweizer, die sich hier in der Tradition Albrecht von Hallers und dessen satirischer Schriften sehen. Beynahe zwanzig Jahre zuvor, ehe die biblischen Epopeen und der reimfreye Hexameter erschienen, erhielt diese Nation die philosophische Poesie des Hrn. von Haller, die wir in Geneve in der Französischen Uebersetzung gelesen haben. Diese Gedichte sind in Reimen geschrieben, mehr in der philosophischen und nachdrücklichen, als der poetischen Schreibart; gestalt es gröstentheils satyrische Stücke sind. Nichts desto weniger ward dem Verfasser
507 Vgl. Dieter Martin: Das deutsche Versepos im 18. Jahrhundert. Studien und kommentierte Gattungsbibliographie. Berlin 1993, S. 3f.
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schuld gegeben er schriebe so sinnreich tief, und so erhaben dunkel, daß man ihn ohne Kopfzerbrechen nicht erreichen könnte: insgemein verurtheilten sie die Gedancken, die ihnen zu fein und zu starck waren, die Bilder, die ihnen fremd und unbekannt waren, als Schnitzer wider das Genie der deutschen Sprache. Ich bin weit entfernet dieser berühmten Nation508 so unrecht zu thun, daß ich verschweigen sollte, daß hie und da Männer sind, welche die biblischen Epopeen sowohl unsers Miltons, als ihrer eigenen Poeten mit dem Geschmacke und denen Empfindungen lesen, welche der Innhalt, die Dichtungsart und die Ausbildung verdienen. Das sind die besten Köpfe der Nation, und sie sind eben nicht in so starker Anzahl, daß sie sich nicht unter der Menge der andern verlöhren. Es ist auch schwer zu sagen, ob Friedfertigkeit, oder Blödigkeit, oder Gemächlichkeit, oder Mangel an Munterkeit Schuld sey, daß sie ihre Empfindungen, und ihren Beyfall bey sich behalten, und ihre Nation dem verkehrten Geschmacke geduldig überlassen. Die wackern Männer die sich demselben mit dem größten Eifer und Ernste widersetzt haben, wohnen in einem Winkel von Deutschlande, in einem Staate, der mit dem deutschen Kaiserthum nichts zu schaffen hat, ihre Nation stehet in dem Herzen Deutschlandes, in Gegenden, die man für den Sitz der Höflichkeit und der Sitten hält, in solcher Verachtung, daß man ihnen ungern die Ehre anthut, sie unter die Deutschen zu zählen. (EGG, S. 95f.)
Der Mythos Schweiz wird bereits hier filigran als Argument zur Verteidigung des Epos und der Literaturkritik Bodmers eingewoben. Die klimatheoretischen Begründungen für Hochkulturen in Politik und den Künsten, an welche Bodmer hier knüpft, gab es seit Dubos und Montesquieu.509 Deren Besonderheit zeichnet sich darin ab, dass mit der Literaturkritik gleichsam eine Gesellschaftskritik als auch eine politische Kritik formuliert wird. Bodmers literaturkritische Attacken verfolgen jeweils einen dialektischen Zweck. Denn seine literaturästhetischen Kritikpunkte sind oft im Zusammenhang mit der zeitgenössischen politischen und gesellschaftlichen Realität zu lesen. Bodmers dialektischer Kritikbegriff, der neben der politischen Kritik auch ein Bildungsmodell anhand der Falten-Metapher entwickelt, ist stark von Locke, Montesquieu und Rousseau beeinflusst.
508 Hiermit ist die Schweiz gemeint. 509 Montesquieu arbeitet den Geist der Gesetze heraus; in seiner Nachfolge erschienen Werke, die den Geist ebenfalls im Titel haben. Vgl. zum Einfluss der Klimatheorie Montesquieus auf Bodmer im Zusammenhang mit dem Epos Die Colombana: Jesko Reiling: Die Genese der idealen Gesellschaft. Studien zum literarischen Werk von Johann Jakob Bodmer (1698–1783). Göttingen 2010, S. 215–236.
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4.1.5 Peripetie und romantischer Komödienschluss Zum Schluss des siebten Briefes wird eine fast friedliche Lösung des Literaturstreits mit Leipzig in Erwägung gezogen, was sich zu einer kleinen Peripetie im Redeverlauf entwickelt, wenn Hirschgärtner, einer der Beteiligten der Konversation, verlauten lässt: „Er wünschte in der Aufrichtigkeit seines Herzens die Beylegung des Streites und die Aussöhnung der darinn verwickelten Partheyen, zumal da einer jeden derselben Männer von unläugbaren Talenten und Verdiensten zugethan seyn, deren vereinigte Beschäftigung auch bey aller Verschiedenheit der Meinungen dem Geschmacke mehr Ehre und Vortheil bringen würde, als die künstliche Fortsetzung der Mißhelligkeiten.“ (EGG, S. 106f.)
Am satirischen Vorhaben weiter festhaltend, ruft Philokles alias Zellweger erneut zur Verteidigung der Zürcher Literatur auf, wenn er die Intention der biblischen Epen hervorhebt: P h i l o k l e s sagte: Man muß gestehen, daß die Feinde der biblischen Epopee mehr Eifer bezeigen, mehr Munterkeit, das, was sie für Geschmack und Wahrheit halten, zu verfechten, ihr Muth ist noch nicht niedergeschlagen, ungeachtet sie so oft und so gewaltig auf das Haupt geklopfet worden. (EGG, S. 112)
Dabei wird die Haltung der Gegner mit einem Ovid-Zitat aus den Metamorphosen untermalt, was einer Autoritäts-Zitatentechnik entspricht: „Et genus & proavos et quae non fecimus ipsi / Vix ea nostra puto –“510 (EGG, S. 115). Das Streitgespräch über Ehre, Stolz und Schande entwickelt sich zu einer Geschmacksdebatte über den Vergleich sämtlicher Epen der Sachsen mit denen der Zürcher, die sich alle an Klopstocks Messias messen. Für das schlechte Image der Schweizer im Ausland wird zum einen die unvorteilhafte Presse der Leipziger verantwortlich gemacht, auch stellt Edward daneben die Schwierigkeit der deutschen Sprache als ebenfalls ernstzunehmende Hürde dar: […] wenn wir ihnen gleich folgen, und den schwachen Geschmack der Nation den Fremden verschweigen wollten, glauben sie, daß sie ihn nicht ohne unsere Hülfe entdecken werden? Wir haben es freylich der Schwierigkeit, unsere Sprache zu lernen, zu danken, daß die absonderlichen Documente von der Schwäche unserer Poesie und dem starken Geschmacke, den die Nation daran hat, den Ausländern versiegelt sind; wenn sie den Cato, die Elysie, den Hermann, die Bluthochzeit, den Nimrod, den Agis, lesen könnten, was würden die Bouhours, die d’Argens, die Le Blancs nicht für ein Gericht üben den Witz der Deutschen
510 „Ahnen und edles Geschlecht und was nicht selbst wir erworben / Nenn ich das Unsrige kaum.“ In: Ovidius: Metamorphosen. Lateinisch, Deutsch. Übers. und hg. von Michael von Albrecht. Stuttgart 2012. Hopolonkrisis: Rede des Odysseus, Buch XIII, V., S. 140 f.
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anstellen? Was sie von unserm Geschmacke wissen, das haben sie aus dem Umgange mit den Witzlingen und leeren Köpfen, die zu ihnen kommen, oder die sie bey uns antreffen; die sind die Herolde unserer Barbarey, die Chame der väterlichen Schande. Man sollte diesen den Mund schliessen können. […] Wie wollten wir ihm dann unsern kranken Geschmack verbergen? Wir müsten ihm die Hermanniade und Friedericiade, den Printzenraub und die Nimrodiade verbergen können. Wo liegen stärkere Zeugnisse unserer Schande, als in den Schriften unserer berühmten Dichter? Wie stünde es dann um die gute Meinung von unserm Geschmacke, wenn er nicht zugleich die Meßiade, die Noachide bey uns fände? Man hat die Sammlung der Zürchischen Streitschriften über den Geschmack für Documente gegeben, welche man bey der Nachwelt nöthig haben würde, den Beweis zu führen, daß unsere unglaublichen Dunse würklich gewesen wären; […]. (EGG, S. 116f.)
Die Geschmacksdebatte, den kulinarischen Kontext („ein Gericht“) konnotierend, versucht mit einer negativen Argumentationstechnik zuerst den Gegner bloßzustellen, um dann erneut auf die eigenen weniger bekannten Werke und die Prinzipien der Zürcher Kritik hinzuweisen: B[odmer] erklärete sich folgender gestalt: Ich halte es so wenig für ein Verbrechen, die Fehler der Nation zu entdecken, als es keiner ist, ihre Vorzüge bekannt zu machen. Wir sind gleich schuldig, dem Uebel, wo wir es antreffen Zeugniß zu geben, als den Vollkommenheiten. Man muß Ehrfurcht für die Nation haben; es ist ihr recht: aber ist das einerley, Ehrfurcht für die Nation haben, und Ehrfurcht für Fehler haben; für Fehler die gleichwol Fehler der Nation sind? Sie verschweigen, ist nicht viel besser, als leugnen, daß sie da sind. Wer Unvollkommenheiten in einem Gegenstande leugnen darf, der darf hingegen Vollkommenheiten darinnen erdichten, und so machet er das schönste Lob, das er ertheilet, der Falschheit verdächtig, und verliehrt allen Glauben. (EGG, S. 118f.)
Die Haltung des Kritikers, der Lob und Tadel verteilt, wird später in Bodmers Lessing-Kritik in den Fabeln wiederholt, worauf jenes dort verwendete lateinische Zitat aus dem komischen Heldengedicht Puer Jesu (1690) des Jesuiten Tommaso Ceva (1648–1736) hinweist, das bereits hier auftaucht: Wir gebrauchten uns des Rechtes, das wir behauptet hatten, von den Vorzügen und den Fehlern der deutschen Nation zu reden, ohne das geringste Zurückhalten. Der Geist der Freyheit war gedoppelt über uns gekommen: wie konnte es anders seyn in dem Vaterlande des Philokles? – – Hier schämt sich der Mensch noch nicht vor den Menschen, Und hat noch nicht gelernt, sein Herz zu verbergen – – Aber wir sind nicht allemal so ernsthaft; bisweilen rufet die Freyheit einen andern Geist, der gerne zu ihr kömmt, von welchen Ceva gesungen hat. – – ille ciens animos & pectora versans Spiritus, à capreis montanis nomen adeptus, Jgnotum Latio nomen; pictoribus ille Interdum assistens operi, nec segnius instans Vatibus, ante alios Musis gratissimus hospes. (EGG, S. 119f.)
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Dieses Lob der Natur und der Freiheit in der Schweiz, dem Vaterlande Zellwegers, evoziert jener Berggeist Capriccio, der dann in „Die neue Fabeltheorie“ aus Bodmers Lessingischen unäsopischen Fabeln (1760) in einem leicht adaptierten Musenanruf und im etwas gekürzten Cevo-Zitat wieder auftritt. Somit hat Bodmer erstmals den Capriccio-Begriff in die deutsche Literatur eingeführt.511 Die ausbleibende Muse wird hier von einer „mit seltsamen Bocksprüngen“ herbeieilenden Gestalt vertreten: Die Muse hört Dich nicht […] Ich will statt ihrer Dir bei deiner Geburt helfen. Ich bin von dem Gefolge der Musen, und diene den Poeten und Mahlern nicht selten bey ihrer Arbeit; sie nennen mich Capriccio, ich bin jener Geist – ille ciens animos et pectora versans Spiritus a capreis montanis nomen adeptus.512
Ebendieses Ceva-Zitat wird wiederum im komödiantischen Rahmen des Scherzes, des Lachens und des Rollentauschs in Bodmers Personalsatire gegen Gottsched und seine Mitstreiter eingeschoben. Beim „Doctor Triller“ handelt es sich darauf um den Hofrat Daniel Wilhelm Triller, einen Gefolgsmann Gottscheds: Dann scherzen, dann lachen wir; dann messen wir unsere Scherze nicht immer nach den strengsten Regeln, wir nehmen fremde Personen an, wir erscheinen in allerley Gestalten, wir erlauben uns jeux d’esprits und jeux de mots durch einander; wenn der Doctor Triller, der so viel auf diese übel berüchtigte Waare hält, uns zuhörete, würde er gewiß eine gute Meinung von unsrer Scharfsinnigkeit bekommen, und uns sehr lieb gewinnen. (EGG, S. 120f.)
Bei dem abschließend erwähnten Spaziergang, der Züge einer romantischen Wanderung über einem Nebelmeer annimmt, zitieren die Protagonisten aus Bodmers Noah (1752). Wie hier im Freien, vor dem pittoresken Hintergrund der Schweizer Bergwelt, in die Dichtung und die Hexameter aus Bodmers berühmten Bibelepos eingeführt wird, soll im folgenden, längeren Zitat plausibel werden, jenem poetischen Schluss, der gleichsam als Klimax der Brieferzählung fungiert. Gestern haben wir einen Spatziergang in die Gegenden gemachet, welche B[odmer] unter dem bequemen Nahmen des Landbusens besungen hat; wir betraten alle die Lagen der
511 Reinhold Grimm: Die Formbezeichnung Capriccio in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts. In Studien zur Trivialliteratur. Hg. von Heinz Otto Burger. Frankfurt am Main 1968, S. 104. (Mit Verweis: Neue Critische Briefe. Zürich 1749.) 512 Bodmer: Lessingische unäsopische Fabeln. Zürich 1767, S. 2; vgl. Günther Oesterle: Das Capriccio in der Literatur. In: Das Capriccio als Kunstprinzip. Zur Vorgeschichte der Moderne von Arcimboldo und Callot bis Tiepolo und Goya. Malerei – Zeichnung – Graphik. Ausstellungskatalog. Hg. von Ekkehard Mai und Joachim Rees. Mailand 1996, S. 187–190. Ders.: Skizze einer ästhetischen Theorie des Capriccio. In: Kunstform Capriccio. Hg. von Ekkehard Mai und Joachim Rees. Köln 1998, S. 179–198.
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Höhen, die er beschreibt, und genossen diese seltenen Gesichtspunkte. Auf dem halben Wege dahin hatten wir das Urbild der prächtigen Aussicht, welche der Poet in dem schönen Gleichnisse angebracht hat: Wie ein liebliches Schauern den Wanderer plözlich ergreifet, Der, mit gethürmten Gebürgen umringt, vom blauen Gewölbe, Lange nur wenige Spannen gesehn. Noah. I. V. S. 130–135. Uns überfiel darüber ein Schauer, der noch überaus süß und festlich war, ungeachtet er dieses in geringerem Grade war, als des Japhets gewesen, da er zum erstenmal und unvorbereitet – die göttliche Pracht der weiblichen Schönheit erblickte. Damals entdeckten wir die Geschicklichkeit des Gleichnisses in seinem ganzen Nachdrucke und fühleten mit dem Jünglinge. Wir waren schon zuvor auf dieser Spitze der Berge gewesen, aber damals bekamen wir nichts zu sehen; für die unvergleichliche Aussicht, die sich mittelst ein paar kurzer Schritte vorwärts vor der Stirne eröffnet, hatten wir das Original von einer andern Situation in demselben Gedichte: Undurchsichtige Nebel, die Hintertheile verbreitet, Hatten sich auf die Brust geleget, und über der Erde Ebnen und Hügel bedeckt, indem die hohen Gebürge In dem hellesten Licht zum hohen Himmel glänzten. Es ist gewiß, daß die beynahe alljährlichen Besuche des Dichters, die er dem heiligen Gallus in seinen Gebürgen abgestattet, ihn mit seltsamen Scenen bereichert haben; würden seine Leser gewisse Stellen im Noah auf diesen Bergen lesen; so bin ich versichert, daß sie darinnen mehr sehen und mehr davon empfinden würden. Als wir eine Weile in dieses Nebelmeer aussahen, jagte ein Nordwind die Nebel von den Ebnen, worauf sie lagen, empor, und an den allgauischen Bergen vorüber. B— sah ihnen mit denkenden Augen nach, und sagte: diese Scene könnte mir mein Gedicht mit etlichen Zeilen bereichern; im zwölften Gesange, wo ich sage, daß ein Nordwind die säumenden Nebel verjaget, Die sich über die Ebnen des Lands zu ruhen geleget, könnte ich nach diesem Verse fortfahren: Wie wenn ein feindliches Heer in der mitternächtlichen Stunde Aufbricht, ein ruhiges Volck zu bekriegen; der nächtliche Wandrer, Der ihm begegnet, sieht ein schwärzeres Dunckel heran ziehn, Siehet die Nacht von Fahnen und Schilden izt dunckler gefärbet; Fürchterlich wirbelt die finstre Gestalt der Männer und Spiesse: Also zogen die Nebel sich auf in schwarzem Gefieder, Finster auf finster, ein tieferes in dem sichtbarern Dunkel, Stemmten sich an die Seiten der Berg’ und zogen bey ihnen Brausend vorüber; die Gipfel, vom Lichte der Sonne bestralet, Schauten auf ihren Zug nicht ohne Grauen hinunter. Schnell war ihr Gang; von dem stürmenden Wind’ am Rücken verfolget Eilten sie stark und räumten in wenig Minuten die Erde. (EGG, S. 121–124)
Die Klimax der Schlusspassage dieses kleinen epistolären Prosastückes, das im Hexameter endet, beschreibt ein Naturbild, gepaart mit einer subtilen Erotik bzw. einer doppelt evozierten Körperlichkeit, wenn zum einen vom Gebirgsgleichnis,
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d. h. dem „Landbusen“ oder den „Hintertheile[n]“ die Rede ist, die mit „der weiblichen Schönheit“ konnotiert werden und auf welche sich der Nebel legt. Diese sich ankündigende Kopulation der Natur, zwischen der Bergwelt und dem Nebel, liest sich wie ein Liebesspiel von Licht und Dunkelheit. Ein Eindruck, der zum anderen sofort mittels der kriegerischen Männlichkeit eines militärischen Heeres gebrochen wird, dessen „Männer und Spiesse“ dann wiederum in einer Synekdoche des pars pro toto in der „finstere[n] Gestalt“ zusammen erfasst werden. Daneben besticht das Spiel des Moduswechsels von Singular zum Plural, wenn sowohl von einer Gestalt des Wanderers als auch von jener des Heeres gesprochen wird. Diese Personalisierung des Berges, der auf seinen Rücken hinunterblickt, wie jene des Nebels, der sich in seiner mehrmals untermalten nachtblauen Schwärze oder im „schwarzen Gefieder“ dem nächtlichen Wanderer zeigt, bildet ein Tableau der Bewegung und der Zeit. Die als lebendig erlebte Landschaft zu mitternächtlicher Stunde malt ein Bild des Mysteriösen in einer mannigfaltigen Palette schwarzer Töne, welche zuerst mit weiblichen und männlichen Attributen personalisiert, sodann wiederum mit Gefieder bestückt, animalisiert wird, um sich darauf neben der Räumlichkeit gleichsam ebenso in einer Zeitlichkeit zu bewegen. Dann beginnen diese männlich-animalischen Nebelschwaden, sich wie ein Tanz schwarzer Vögel oder aggressiver Krieger in schnellem und stürmenden Gange den Berg „in wenigen Minuten“ der Erde entgegen hinunter zu eilen, als ob sie sich auf ein friedliches Volk stürzen wollten. Dieses Ballett der Kontraste spart nicht mit farblichen Nuancen hinsichtlich der Kostümierung der Beteiligten: Das Gebirge im Nebelmeer präsentiert sich dergestalt nicht nur in unterschiedlichen Farbtönen als „undurchsichtig“ und hell glänzend[e] Berg[e]“, sondern zudem im Stabreim, wenn es heißt: „mit gethürmten Gebürgen umringt, vom blauen Gewölbe“. Das Oxymoron des romantischen Grauens des „lieblichen Schauers“ wird in jener Klimax in der Erstürmung des Berges, als auch in einer folgenden Antiklimax, im Niedergang auf die Erde doppelt bzw. dreimal, wenn nicht viermal erfahren: nämlich zuerst vom „nächtlichen Wanderer“, darauf von den Gebirgsspitzen und ferner von jenen Nachtwanderern, die den Erzähler begleiten, sowie schließlich den Rezipienten des Noah im Text wie jenen initiierten und intendierten nachfolgenden Lesern, was einer inszenierten Mise en abyme des Leseaktes nahekommt! Als „antizipierendes Plagiat“, der Begrifflichkeit Pierre Bayards513 folgend, wird hier auf jenes erst viel später Epoche machende Gemälde Caspar David Friedrichs (1774–1840) – den Inbegriff und Sinnbild deutscher Romantik voraus
513 Vgl. Pierre Bayard: Le plagiat par anticipation. Paris 2009.
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gewiesen, den Wanderer über dem Nebelmeer von 1818. Naturerlebnisse solcher Art, die zu Gefühlsausbrüchen führen können und ästhetisch erfasst werden wie der hier evozierte „Schauer“, sind in diesem relativ frühen literaturkritischen Text des Zürchers schon in nuce erfasst, wenn wie in dieser Textstelle ein ganzes Arsenal literarischer Mittel aufgeboten wird, um eine romantische Szenerie avant la lettre in Poesie zu kleiden. Die Beschreibung der Natur als Spiegelbild einer inneren menschlichen Natur begegnet schließlich immer wieder bei Rousseau, einem weitern wichtigen Vorbild Bodmers. Nicht nur hat Bodmer Miltons Hauptwerk ins Deutsche übertragen, womit er maßgeblich die Romantikbewegung im deutschen Sprachraum mitbeeinflussen sollte,514 daneben war der Zürcher äußerst offen für die englische Satiretradition. Denn neben dem leichten Konversationsstil in den Briefen, der an Richardson und Shaftesbury erinnert, ist nicht zuletzt Alexander Popes Modell für die satirischen Schriften Bodmers ausschlaggebend, der dessen Dunciad (1728) in seinem Banket der Dunse (1758) folgt, wie abschließend aufgezeigt wird.
4.1.6 Satyrspiel Das Banket der Dunse (1758) – eine groteske Gelehrtensatire Die gegen Gottsched und dessen Mitstreiter gerichtete Personalsatire Das Banket der Dunse (1758) spielt schon im Titel mit der antiken Referenz auf Platon an und orientierte sich daneben stark an Alexander Pope und der englischen Satiretradition. Popes The Dunciad. An Heroic Poem (1728) gefolgt von The Dunciad Variorum (1729) wird später auch von Palissot aufgegriffen, der sich mit seiner französischen Adaptation La Dunciade (1764) in den Krieg der französischen Philosophen einmischte, um erstmals gegen die Enzyklopädisten anzukämpfen, bevor er dann, zwei Jahre später, nochmals mit der Komödie Les philosophes zuschlug (vgl. Kapitel 3.3.3). Für die Entwicklung der englischen Satire während der Restauration und des 18. Jahrhunderts waren die englischen Übersetzungen der Arbeiten André Daciers (1651–1722) zu Horaz und Aristoteles ausschlaggebend, wie Howard D. Weinbrot zeigte.515 Neben Daciers Horaz-Edition der Satiren und Episteln (1681–1689) und der Übersetzung der aristotelischen Poetik La Poétique d’Aristote traduite en français avec des remarques (1692) war auch der Essay Sur les satires d’Horace, où
514 Vgl. Daniela Kohler: Der Weg von Bodmers Milton-Übersetzungen zu Klopstock und einer neuen Ästhetik. In: Zürcher Taschenbuch (2008), S. 441–461. 515 Howard D. Weinbrot: The Pattern of Formal Verse Satire in the Restoration and the Eighteenth Century (1965). In: Wolfgang Weiß (Hg.): Die englische Satire. Darmstadt 1982, S. 265– 284.
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l’on explique l’origine & le progrès de la Satire des Romains (1687) grundlegend für die Auseinandersetzung in England. In seiner Abhandlung über die Satiren des Juvenal und Persius, unter Berücksichtigung der Kommentatoren der Renaissance als auch Boileau und Dacier, entwarf John Dryden der englischen Satire ein adrettes Gewand.516 Der neue moderne Schnitt und Drydens Diskussion des Komisch-Heroischen in Discourse concerning the Original and Progress of Satyr trafen sofort den Geschmack der literarischen Branche und galten fortan bei vielen aufsteigenden Autoren wie bspw. bei Richard Blackmore, John Dennis, Edward Young oder Samuel Johnson als angesagtes Modell oder besser gesagt als „the design of a proper satire“, wie es ein Buchhändler in John Ozells englischer Übersetzung der Werke Boileaus vermerkte.517 Nach dem Muster der Alten wurde hier eine Balance zwischen Lob und Tadel in einer Kombination von Juvenalischer Bissigkeit und Horazischer Leichtigkeit versucht. Diese Bipolarität oder Janusköpfigkeit der Satire, wie es der anonyme Autor von The Tears of the Muse (1738) einst auszudrücken wusste: „a poetical Janus; of whose Opposite two Faces, the fairest and best drawn you will find to be Panegyric“, wurde ferner mit den aus der Malerei bekannten Kontrasttechniken verglichen: „who, by opposin [!] their Shades against Lights, call out Darkness into open Distinction“, die vielen bekannt waren und nicht zuletzt bei Young und Pope ihre Anwendung fanden, um bspw. schlechten Geschmack zu brandmarken.518 Diese zweiteilige Struktur, die Laster attackiere und Tugenden lobe, ist schon bei Dryden in Absalom and Achitophel (1681) politisch motiviert, wenn neben einer Absage an Shaftesbury die offensichtlich extremen politischen Innovationen der Whigs einer harschen Kritik unterzogen werden, während die moderate Haltung der Torries Lob erfährt.519 Ferner bot der Scriblerus Club, der hauptsächlich aus den Mitgliedern Alexander Pope, John Gay, Jonathan Swift und John Arbuthnot bestand und in der ersten Hälfte des Jahrhunderts florierte, einen wichtigen Kontext. Dieser Club der Dichter wollte ursprünglich eine moderne Biographie des fingierten Intellektuellen Martinus Scriblerus erstellen. Zu Gunsten drei individueller neuer Projekt der Satiren (parodic & personal satires) von Swifts Gullivers Travels (1726), Gays The
516 John Dryden u. a.: The Satires of Decimus Junius Juvenalis ... Together with the Satires of Aulus Persius Flaccus. London 1693. 517 Vgl. Howard D. Weinbrot: The Pattern of Formal Verse Satire in the Restoration and the Eighteenth Century (1965). In: Wolfgang Weiß (Hg.): Die englische Satire. Darmstadt 1982, S. 265– 284, hier S. 274. 518 Vgl. ebd., S. 278f. 519 Ebd., S. 281, Anm. 49.
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Beggar’s Opera (1728) und Popes Dunciad (1728) wurde diese Idee erst einmal auf die lange Bank geschoben. Eine wichtige Zäsur in der Fortsetzung der französischen Querelle des Anciens et des Modernes und der Querelle d’Homère wurde von Alexander Pope bestritten. Schon in seinem Essay on Criticism (1711) formulierte er in heroic couplets den Grundsatz der Alten, der imitatio naturae, mit „First follow Nature“ (V. 68) und rief ferner zur intensiven Beschäftigung mit Homer auf: „Be Homer’s works your study, and delight, / Read them by day, and meditate by night“ (V. 124f.). Für das Homer-Verständnis werden Vergils Aeneis und die antike Poetik (Aristoteles, Horaz, Quintilian) gemäß der Interpretationen Vidas und Boileau-Despréaux’ genannt. Popes Essay wurde von Addison im Spectator (Nr. 253) goutiert. Mit seiner eher frei gehaltenen Übersetzung der Ilias, die zwischen 1715 und 1720 erschien, knüpfte Pope an Addisons Vergleich von Homers „wild paradise“ und Vergils „ordered garden“ an und wiederholt dessen Aufwertung Homers als dem größeren Genie gegenüber dem besseren Künstler Vergil.520 Popes Iliad im eleganten Englisch wurde von namhaften Gelehrten als die klassische Fassung, die das Original sogar überträfe, begrüßt. In seiner anonym herausgegebenen literarischen Satire The Dunciad. An heroic poem (1728) und dessen folgenden autorisierten Überarbeitung The Dunciad Variorum (1729), angereichert mit zahlreichen parodistischen Anspielungen auf die Werke Homers und Vergils, wurden zeitgenössische Autoren, die zum karnevalsähnlichen Fest der Göttin der Dummheit geladen wurden, den neuen König der Dummen zu wählen, kritisch aufgespießt. In der gleichzeitig politisch ausgetragenen Kontroverse gegen den derzeitigen in England herrschenden König George II. – gespickt mit süffisant verfassten Anmerkungen zur europäischen Literaturgeschichte – wurden die einzig in ihren Initialen erwähnten Schreiberlinge mehrheitlich angeklagt, dass sie des Geldes wegen und nicht um der Kunst willen schrieben.521 Popes Literatursatire, die sich gleichsam als ein Lehrbuch der Kritik und somit als Fortsetzung zu An Essay on Criticism (1711) versteht, wird, noch bevor sie Modellcharakter bspw. bei Palissot erhalten wird, schon von Bodmer zitiert. Nicht zuletzt reiht sich Pope mit seiner Dunciad in die Aristophanes-Rezeption der Frösche sowie Aesops Fabel Die Frösche und die Schlange ein, wenn hier zum Schluss von Buch I, V. 259 f. von The Dunciad Variorum (1729) in leichter Abwandlung von The Dunciad die dummen Frösche nach einem neuen König rufen und
520 “Homer was the greater genius, Virgil the better artist.” In: Alexander Pope: The Works of Alexander Pope I: The Iliad of Homer. Ballantyne 1903, Bd. XVII, S. VIII. 521 Vgl. hierzu die exzellent kommentierte historisch-kritische Edition von Valerie Rumbold (Hg.): The poems of Alexander Pope. Bd. III: The Dunciad (1728) & The Dunciad Variorum (1729). London 2007.
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einen Holzklotz als ebensolchen erhalten: „Loud thunder to its bottom shook the bog, / And the hoarse nation croak’d, God save King Log!“522 Im dritten Buch, V. 13–18 wird der antike Homerkritiker Bavius herbeizitiert, der im Totenreich auf die Seelen der Toten wartet, um deren Sinne abzustumpfen und in Schädel zu drücken.523 Dieses allegorisch umschriebene Sterben im Gang zum Hades ist nicht zuletzt eine Anspielung an jenen Wettstreit der Dichter in der Komödie des Aristophanes Die Frösche, dem Starobinski in seiner poststrukturalistischen Theorie der Relation critique die Initialzündung zuschreibt. Dionysos Fahrt in die Unterwelt soll Euripides wieder ins Diesseits führen, um am Streit der Dichter mit Aischylos teilzunehmen, dem er unterliegt, um darauf wieder ins Jenseits zurückzukehren. Popes Satire zeichnet sich weniger durch einen konkreten Handlungsstrang, als vielmehr durch rhapsodisch zusammengewürfelte Assoziationen aus. So wird beispielsweise an die Geburt des Dionysos nach dem Flammentod der Mutter Semele erinnert, die ihren Liebhaber, von der eifersüchtigen Juno angestachelt, nach dessen wirklichen Gestalt fragen musste, um darauf von den Flammen der Göttlichkeit erfasst zu werden. Im Kontext von Hölle und Dunkelheit, dem Dekor des dritten Buches, werden die aktuelle Theaterrealität und die sich abzeichnende Entwicklung der Oper in der Tradition der antiken Tragikomödie gespiegelt, die im alten Griechenland oftmals nach den Tragödien den Theaterabend beschlossen: And from each show rise duller than the last: Till rais’d from Booths to Theatre, to Court, Her seat imperial, Dullness shall transport. Already, Opera prepares the way, The sure fore-runner of her gently sway. To aid her caus, if heav’n thou can’st not bend, Hell thou shalt move: for Faustus is thy friend: Pluto with Cato thou for her shalt join, and link the Mournin-Bride to Proserpine. Grubstreet! Thy fall should men and Gods conspire, Thy stage shall stand, ensure it but from Fire. Another Aeschylus appears! Prepare For new Abortions, all ye pregnant Fair! In flames, like Semeles, be brought to bed, While opening Hell spouts wild-fire at your head. (V. 300–314)
522 Ebd. 523 „And now, on Fancy’s easy wing convey’d, The King descended to th’Elyzian shade. / There, in a dusky vale where Lethe rolls, / Old Bavius sits, to dip poetic souls, / And blunt the sense, and fit it for a scull / Of solid proof, impenetrably dull.“ Zit. nach Rumbold: The poems of Alexander Pope. 2007, S. 267f.
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Pope appellierte in seiner breit angelegten Polemik, historisch rückblickend, an jenes schon in Vergils Aeneis gefeierte goldene Zeitalter Saturns, das Augustus, als Sohn Caesars wieder nach Latium bringen sollte, wenn er fortfährt: „Now Bavius take the poppy from thy brow, / And place it here! Here all ye Heroes bow! / This is He, foretold by ancient rhymes / Th’Augustus, born to bring Saturnian Times!524 In der Literatursatire nimmt, diagonal verkehrt, Tibbald Augustus’ Platz ein, eine kühn gesetzte Finte, die nicht zuletzt gegen George II. gerichtet war, dessen zweiter Vornamen Augustus war. Der Abstieg der Allegorie der Künste als Antiklimax, die zum Ende als Vision durch das Elfenbeintor entflieht, wird wie ein Theaterspiel inszeniert, wenn zum Schluss der Vorhang fällt und wieder universale Dunkelheit regiert, die antithetisch und bildlich betont das Licht der Vernunft löscht: Light dies before her unreating word: As one by one, at dread Medea’s strain, The sick’ning Stars fade off the aethereal plain; As Argus’s eyes, by Hermes wand opprest, Clos’d one by one to everlasting rest; Thus at her felt approach, and secret might, Art after Art goes out, and all is Night. See sculking Truth in her old cavern lye, Secur’d by mountains of heap’d casuistry: Philosophy, that, touch’d the Heavens before, Shrinks to her hidden cause, and is no more: See Physic beg the Stagyrite’s defence! See Metaphysic call for aid on Sence! See Mystery to Mathematicks fly! In vain! They gaze, turn giddy, rave, and die. Thy hand great Dulness! lets the curtain fall, And universal Darkness covers all. Enough! enough! the raptur’d Monarch cries; And thro’ the Ivory Gate the Vision flies. (Book III, V. 340–358)
Dieser Schluss erinnert an eine Passage aus dem XIX. Buch der Odyssee (V. 559– 567) und rekurriert gleichsam auf das sechste Buch der Aeneis, in dem der Titelheld ebenfalls durch ein elfenbeinernes Tor geschickt wird und womit seither 524 The Dunciad. An heroic Poem. 1728, V. 267–270 verweist auf Vergil: „This is the man, this is he! You often hear him promised to you; he is Augustus Caesar, son of God; he will found an age of gold again in Latium, in the fields once ruledby Saturn.“ (Aeneis VI, V. 791–796), Zit. nach Rumbold (2007), S. 107, Anm. V. 269–270.
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über die prophetische Kraft von Träumen gerätselt wird: „Sunt geminae somni portae; quarum altera fertur / Cornea, qua veris facilis datur exitus umbris; / Altera, candenti perfecta nitens elephanto, / Sed falsa as coelum mittunt insomnia manes.“ Offensichtlich fungieren Hermes und Medea hier als Vertreter von Dunkelheit und Blindheit, den Paten der Dummheit. Medea, da sie in Senecas Tragödie die Götter beschwor (V. 694–700) und nach ihrem Racheakt im Kindsmord, ihren untreuen Mann Jason im Glauben ließ, es gäbe keine Götter, da sie zum Schluss in einem von Drachen gezogenen Wagen gen Himmel entfliehen konnte, worauf Popes Dunciad anspielt (V. 1022–1027). Und Hermes wusste die Augen des Argus zu schließen, der wiederum im Auftrag der eifersüchtigen Hero diesmal über Io wachen musste.525 Wie Martin Blocksidge bemerkt, sei die Odyssee die Geschichte des Odysseus; die Aeneis jene des Aeneis, und die Dunciade jene der Dunse.526 Ferner gehe die Titelgebung des Banket der Dunse auf einen aus dem Mittelalter bekannten Philosophen, Duns Scotus zurück, der aufgrund seiner pedantischen Haarspalterei auf sich aufmerksam gemacht hatte und schon in John Drydens Gedicht über Mack Flecknoe (1682) für das Porträt des zeitgenössischen Thomas Shadwell sowie jenes der „Duncehood“ herhalten musste, bevor dieses von Pope bedient wurde.527 Die Scriblerian-Satire war eine kooperative Aktivität, deren größter und streitlustigster Part von Jonathan Swift bestritten wurde, der seinen Gulliver verfasste, nicht um die Welt zu unterhalten, sondern im Gegenteil zu verärgern: „to vex the world rahter then to divert it.“ Zudem war das Lexem „dullness“ bzw. in der häufigen Schreibweise Popes „dulness“ nicht einfach mit platter Dummheit oder Langeweile gleichzusetzen, wie man es vielleicht heute versteht, sondern es stand wohl eher für fehlenden Esprit oder eine allegorische Figur ähnlich einer Gottheit in einem mythologischen Königreich.528 Elkanah Settle war der city-poet, bevor er 1724 verstarb. Als dessen Thronfolger im Königreich der Dummen wird Theobald (im Text Tibbald genannt) erkoren, den Pope als einen zu pedantisch klassierten Shakespeare-Kommentator im 1. Buch beim Studium und bei der Verbrennung von Büchern vorstellt. Im Sinne des im kooperativ verfassten Textes des Sciblerus Clubs The Art of Sinking in Poetry und des hier inaugurierten Begriffs „Bathos“ bestand die Aufgabe moderner Kritiker darin, sich selbst mit „bathos“ und dem 525 Ovidius: Metamorphosen. Lateinisch, Deutsch. Übers. und hg. von Michael von Albrecht. Stuttgart 2012, B. I, V. 686f. 526 Martin Blocksidge: The sacred weapon. An introduction to Pope’s Satire. Sussex 1993, S. 60. 527 Ebd., S. 61. 528 Ebd.
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Hintergründigen zu beschäftigen, wie einst die klassischen Kritiker sich am Erhabenen oder Hohen (hypsos) orientiert hatten. Pope, der, gemischt mit Insiderwitzen, viele Exempel suchte, um schließlich ein ironisches Bild der Mittelmäßigkeit zeitgenössischer Poesie zu geben, ernannte Theobald im 2. Buch zum König der Dummen, der neu teuflische Züge erhält. Im Variorum nahm Pope ferner die literarische Tradition der Annotationen auf die Schippe, wenn der Text neu Fußnoten erhält, die der gleichen satirischen Stoßrichtung wie der Haupttext unterliegen. In der Vorrede zu La Dunciade gibt Palissot eine kurze Einführung in die englische Satiretradition, die maßgeblich von Pope, Swift und Dryden bestritten wurde, um dann – im Vergleich – an die aktuellen Schnittstellen des literarischen Geschmacks in Frankreich und die Abneigung gegenüber der Satire zu erinnern. In seiner Satire, von der zu dieser Zeit noch keine angemessene Übersetzung ins Französische existierte, verlachte Pope seine Gegner Dennys, Ralph, Theobold, Norton, Cibber oder Blackmore in ständiger Anspielung auf Vergils Aeneis und Miltons Paradise lost und kritisierte im Vergleich mit den großen Vorbildern einen kulturellen und spirituellen Niedergang. Dies diente Palissot als Vorbild, wenn er über die Vorgänger Bossuet, Pascal, Boileau, La Fontaine berichtete und mit seinen aktuellen Gegnern wie Rousseau, Montesquieu, Voltaire, Buffon abrechnete, um diese ebenfalls der Lächerlichkeit preiszugeben und nicht zuletzt, um jene neue skandalwürdige Querelle des philosophes loszutreten (vgl. Kapitel 3.3.2. L’affaire Palissot). Dass sich Entscheidungen der Kritiker, was ihre Dichterwahl anbelangte, als schicksalsträchtig und fast kanonisch erwies, zeigt bspw. Charles Le Marquetel de Saint-Denis Saint-Évremond und insbesondere dessen Vorliebe für Racine.529 Der gelehrte Libertin und Skeptiker Saint-Évremond ging 1661 über die Niederlande ins englische Exil, wo er am Hof verkehrte und über die französische Querelle berichtete und darüber in England die Diskussion anstieß. Als Vertreter der Modernen entwickelte er in seiner Schrift Réflexions sur la Tragédie Ancienne et Moderne (1672) eine historische Sicht auf die verschiedenen Zeitalter und deren sich jeweils relativierenden Kunstgeschmack und die sich revidierende Ästhetik, weswegen er nach Hans Robert Jauß als „frühester Exponent dieser Stufe historischen Denkens“ gelten kann.530
529 „Le bel esprit, Saint-Evremond avait introduit à Racine, sous prétexte de l’admiration exclusive qu’il avait vouée à Corneille: comme si l’on ne pouvait louer un homme célèbre qu’au préjudice de ses émules. Assurement, l’ennemi de Racine n’était pas digne d’admirer Corneille.“ In: Palissot: La Dunciade. Londres 1776, S. 207. 530 Hans Robert Jauss: Antiqui, Moderni. Querelles des Anciens et des Modernes. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Joachim Ritter u. a. Bd. I. Stuttgart 1971, Sp. 410–414.
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Das destruktive Element der Literaturkritik, dessen bestes Werkzeug nicht zuletzt die Satire ist, wurde gemäß Palissot mit Boileau traditionsbildend, wenn dieser seinerzeit den Zustand der französischen Literaturkritik als desolat bezeichnete: Boileau fut obligé de commencer par détruire. L’usage courageux qu’il fit des traits du ridicule, sauva le goût de la Nation incertaine encore de ce qu’elle devait applaudir, & flottant entre le génie et la médiocrité. L’académie Française avait perdu de la gloire par des choix indignes d’elle. Chapelain, l’oracle de M. Colbert & de la maison de Longueville; Perrault, chargé du rôle des pensions, Cotin, tant admiré à l’Hôtel Rambouillet; Pradon soutenu par une cabale puissante; une foule d’Ecrivains pareils, dont les noms sont presque oubliés, mais qui faisaient alors le grand nombre, menaçaient la Littérature à peine naissante d’une destruction qui semblait inévitable: Boileau se dévoua pour l’intérêt des arts, & fixa la gloire de la Nation.531
Der Dunciad Popes attestiert Palissot großes Potential zu, da diese eine vorteilhafte Revolution für die Literatur bewirkt habe und im Sinne Voltaires die Waffen des Wortes im Vers richtig einzusetzen wusste: „Le vrai talent des vers est une arme qu’il faut employer pour venger le genre humain.“ (PD, S. 54) Ferner müssen sich Satiriker zu ihren Namen bekennen und mutig ihre Spottschriften signieren, forderte Palissot, der sich nicht zuletzt im Recht und von der Natur mit Talent bedacht glaubte, wenn er seine zehn Gesänge in Hexametern nicht anonym, sondern unter seinem Namen publizierte, pour „berner les Sots de [s]a patrie“ (PD, S. 1). Und schon hier stichelte Palissot gewaltig gegen Diderot, wie einige Jahre später nochmals in der Komödie Les philosophes, wenn er sagt: L’oracle enfin de la stupidité, ce fut l’auteur du Père de Famille; Piéce où le goût n’est pas moins immolé Que les poumons du malheureux Molé. Quand à Paris la Critique maligne Se déchaînait contre ce Drame insigne, Par la Sottise il était protégé. L’ami Fréron, pour l’avoir outragé, De camouflets & de coups d’étriviières Vit en un jour tripler les horaires. Mais Diderot, suffisamment vengé Intercéda pour le pauvre affligé. Depuis ce tems, chacun rendit hommage Au rare Auteur de ce Drame immortel. Même on prétend que ce grand personnage
531 Palissot: La Dunciade. 1776, S. VII. Im Folgenden wird mit der Sigle (PD) im Text auf diese Ausgabe verwiesen.
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De la Deesse eut un Fils Naturel. Qui sa mère est sa vivante image. (PD, S. 9f.)
Über die hier genannten innovativen Texte Diderots: Le Père de Famille als auch Le Fils naturel, die beide einen wichtigen Einfluss auf das Theater Lessings haben sollten, urteilt Palissot mit Häme, wahrscheinlich aus blankem Neid, wenn es in der Fußnote heisst: „Allusion à un autre Roman dramatique de M. Diderot, intitulé le Fils Naturel, essayé au Théâtre sans aucun succès, quoiqu’il ne soit gueres plus ennuyeux que le Père de Famille.“ (PD, S. 9r) Neben diesem heute antiquiert scheinendem Diderot-Urteil bietet Palissots Text einen lebhaften Einblick in die französische Literaturkritik der Zeit. Im vierten, mit „Le bûcher“ (der Scheiterhaufen) titulierten Gesang der späteren Ausgabe rechnet Palissot dann nochmals mit Diderot sowie mit Voltaire ab. Letzterer hatte sich in seiner Komödie L’Écossaise (1760) gegen seinen früheren Schützling gestellt, als Reaktion auf Palissots übertriebene Schachzüge gegen Diderot. Zuerst wird Voltaire noch in etwas überzogener Manier gelobt: O de Ferney sublime Solitaire, Honneur des arts, Virgile des Français; C’est toi, sur-tout, à qui je voudrais plaire: Tu le sais bien. Ton suffrage, ô Voltaire, Dans tous les tems fut mon plus beau succès. Ma muse ici te choisit pour modèle: C’est en lisant ta joyeuse Pucelle, En me’échauffant du feu de tes bons mots, Que j’entrepris d’humilier les Sots. (PD, S. 36)
Darauf wird Voltaire aufgerufen, zur Tat zu schreiten und das Autodafé zu veranstalten: Sois sans pitié, sacrifie à ma cendre Boileau, Racine & Molière & Rousseau; Que leurs écrits brûlés sur mon tombeau Me tiennent lieu d’une heureuse hécatombe. (PD, S. 38)
Diesem zynisch formulierten Blutbad oder Massensterben folgen darauf Werke bzw. deren metonymisch genannte Autoren, die den „gefräßigen Flammen“ übergeben werden, was mit einem religiösen Akt der Reinigung verglichen wird: En un moment le bûcher se prépare. Chacun accourt; & sans plus différer Le feu s’allume. Il allait dévorer
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Ce que la France a produit de plus rare. Quel doux plaisir se promettaient les Sots! Ils comptaient voir Racine, Despréaux, Le grand Corneille & le divin Molière, Buffon, Pascal, Montesquieu, la Bruyère, L’aigle de Meaux, le cygne de Cambray, Et notre Phèdre, & Rousseau notre Horace; Et même aussi l’Apollon de Ferney, Servir de proie à la flamme vorace. (PD, S. 40)
Der im 18. Jahrhundert oft übliche direkte Bezug zum Leser und dessen direkte Evokation, die bei Pope so noch nicht vorkamen, werden von Palissot im vierten Gesang mehrmals verwendet: Mes chers Lecteurs, soyez bien attentifs / A ce tableau / Vous concevez sans peine Le désespoir, les transports convulsifs Des courtisans de l’imbécille Reine Qui frémissaient de se voir brûlés vifs. Tel un Hibou, dont l’oiseau du Tonnerre, Au bec tranchant, à la robuste serre A dérobé les monstrueux enfans, pousse dans l’air d’affreux gémissemens. […] Muse, dis-moi comment le Général Sut prévenir ce désastre fatal? Ah! Cet effort mérite qu’on le loue! Au bien public lui seul il se dévoue. (PD, S. 42f.)
Der literarischen Pope-Rezeption Palissots ist Bodmers Etüde in Hexametern etwas früher vorausgegangen. Die aktuellen Streitigkeiten mit Leipzig nochmals poetisch zusammenfassend, steht Bodmers Banket der Dunse in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Wolffianer Georg Friedrich Meier (1718–1777) und dessen Verurtheilung der Baumgartschen Anmerkungen zu der Allgemeinen Welthistorie. Eine Erzählung vom Blocksberge. Mitgetheilt von Hans Erlenbach dem jüngeren, Subrector zu Kiphausen unweit des Blocksberges (Halle 1748). Die beiden Hallenser Gelehrten, Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–1762) und dessen Schüler und Freund Georg Friedrich Meier, verfolgten ein wissenschaftliches Leitbild nach ethisch-pietistischen Grundsätzen, deren normative Fassung sich in der Trias von Vernunftlehre (Logik), Sittenlehre (Ethik) und Lehre von dem Schönen (Ästhetik) ausdrückt. Ihre instrumentale oder organische Philosophie versteht sich als eine Wissenschaft der Ausbildung der Erkenntnisvermögen sowie in einem zweiten Grad als eine Verbesserung der Erkenntnisse.
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Aufgrund der Unendlichkeit der Erkenntnisse konzentrieren sich die Hallenser auf die Funktion des Vernunftähnlichen (der Sinnlichkeit) und des Vernunftübersteigenden (des Glaubens), was die Vernunft, wie Ernst Cassirer ausführte, weniger als einen „Besitz, [sondern] als eine bestimmte Form des Erwerbs“532 beschreibe. Baumgarten, der „Pionier der ästhetischen Richtung“,533 fragte nach der rezeptiven und produktiven Haltung des ästhetischen Subjekts, indem er die bisher eher implizite Beziehung zwischen Logik und Literaturtheorie explizit offen legte, wenn er die Geburt der Ästhetik aus dem Geiste der Logik in seiner Hauptschrift in einem verwandtschaftlichen Verhältnis beschrieb: „Wir nennen die Logik die ältere Schwester der Ästhetik in Ansehung der Theorie […] Nach den Ideen, nach welchen wir die Logik eingeteilt, werden wir auch die Ästhetik einteilen.“534 Damit wird die Kunsttheorie, der Vernunfttheorie entsprechend, zum „analogon rationis“ und „oppositum rationis“ und somit als paradoxe Analogie begriffen. Die inhaltliche Übereinstimmung mit Meiers Verurtheilung lässt vermuten, dass Bodmer Meiers Text, der sich auf Popes Vorlage The Dunciad bezieht, als unmittelbare Folie für seine Gottsched-Karikatur benutzt hatte. Meier zeichnet hier in abgewandelter Form eines Toten- und Göttergesprächs ein Lob Baumgartens, der von Apoll in den Parnass der Dichter aufgenommen werden soll und von den Musen besungen wird. Schon hier liegen die deutschen Dichter mit den Franzosen und Engländern über den begehrten ersten Platz auf dem Parnass im Streit, die als Kriegsparteien auf dem Blocksberg – dem kontrastreichen „Gegenparnass“ – Stellung beziehen, um diesen nicht nur mit Worten, sondern auch handgreiflich mit den eigenen Fäusten zu verteidigen: Als die beyden Heere sich einander gegen über gestellt hatten, so fieng man an einander zu schimpfen, ein jeder lobte seine Nation, und verachtete dagegen alle übrige. Die Gemüther wurden endlich so erbittert, daß man vom Schimpfen zu Schlägen kam. Man stritte erst von ferne, indem man Steine, Erdenklösser und Koth aufeinander warf. Endlich gerieth man einander in die Haare, man fiel übereinander her, und es entstand ein solches Geschrey und Blöken der Ueberwinder und Ueberwundenen, daß alle Eulen und Raben des Blocksbergs auffuhren, und die Luft mit gräßlichen Stimmen anfülten.535
532 Ernst Cassirer: Philosophie der Aufklärung. Tübingen 31973, S. 16. 533 Friedrich Gaede: Poetik und Logik. Zu den Grundlagen der literarischen Entwicklung im 17. und 18. Jahrhundert. Bern 1978, S. 106. 534 Alexander Gottlieb Baumgarten: Ästhetik. Handschrift der deutschen Vorlesung. Hg. von Bernhard Poppe. Leipzig 1907, § 13. 535 Georg Friedrich Meier: Verurtheilung der Baumgartischen Anmerkung zur Allgemeinen Welthistorie. Eine Erzählung vom Blocksberge. Halle 1748, S. 92.
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Bei Meier hat Momus, der Gott der Kritik einen größeren Auftritt! Bodmer, der sich stark mit der Tradition der Kritik auseinandersetzte, wird sogar nicht davor zurückschrecken, sich später mit dieser göttlichen Figur des Momus in Der Gerechte Momus (1780) höchstpersönlich zu identifizieren (vgl. Kapitel 4.5.2). Mit Baumgarten begründete der Hallenser Georg Friedrich Meier eine Ästhetik des glücklichen Menschen (felix aestheticus), unter deren Einfluss nicht zuletzt noch die Zürcher stehen. Bodmers Exemplar der Pope-Replik aus dem Jahre 1758 weist handschriftliche Streichungen und Korrekturen auf, vermutlich von Bodmer persönlich. Wiederum stellt sich hier ein Erzähler vor, der seine Reise ins alte Griechenland zum Berg des Midas – und dem Sitze des Apollo beschreibt, wo er den Einfluss der Musen der Onocrene genossen habe. Von Clio habe er dort von einer Feier des Helden bzw. Antihelden erfahren, der „für den Eifer Unsinn der Deutschen Recht wie ein Bock gestritten und beyde Hörner zerstoßen“536 habe. Der Erzähler sucht nach einem Namen des Helden, den er zuerst mit „Teutobock“537 tituliert, dann auf „Strukaras“ ausweicht, den metonymischen „Ganskiel“, das für jene Zeiten übliche Schreibutensil, in Erwägung zieht, um schließlich auf „Stentor“ zurückzukommen, den Homer-Verleumder, der schon in Edward Grandisons Geschichte in Görlitz (1755) Erwähnung fand. Schon der Titel Das Banket der Dunse assoziiert Platons Gastmahl und erinnert daneben an antike Satyrspiele, den mittelalterlichen Karneval, der in Burlesken und Parodien die Laster der Obrigkeit belächelte, oder an barocke Bankette. Letztere waren vor allem visuelle Unternehmen der „Augenlust“, nicht nur wegen der dekorativen Pracht der prunkvollen Säle und der bombastischen Speisen, die oft nicht zuletzt auch als regelrechtes „Schauessen“ inszeniert wurden, sondern Anlass für schauspielerische oder artistische Darbietungen boten. Die Beziehung von Zuschauenden und Zur-Schau-Stellenden war in vielerlei Hinsicht gegeben, ebenso wie die Rollen von Betrachter und Betrachteten zuweilen wechselten. Diese bspw. von Adam Olearius beschriebene „Augenlust“538 wurde noch durch die Spiegelsäle gesteigert, die es erlaubten, dass beide Rollen von derselben Person eingenommen werden konnten. Die Provokation der Augenlust im barocken Spiegelsaal gab Walter Benjamin Anlass zu seiner ge-
536 Bodmer: Das Banket der Dunse. o.O. 1758. Im Folgenden im Text mit der Sigle (BD) abgekürzt. 537 Vgl. dazu auch Steffen Martus: Werkpolitik. Berlin 2007, S. 113–201 (Kap. 3: Das Zeitalter der Kritik). 538 Adam Olearius: Offt begehrte Beschreibung der Newen ORIENTALischen REISE. In: Albrecht Schöne: Das Zeitalter des Barock. München 21968, S. 780–791, hier S. 790.
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schichtsphilosophischen These, dass sich im barocken Trauerspiel „die Geschichte zum Schauplatz säkularisier[e]“.539 Meier versucht in seiner Schrift Betrachtungen über den ersten Grundsatz aller schönen Künste und Wissenschaften zu zeigen, dass nicht die Nachahmung der erste Grundsatz der Natur sei, sondern die „Schönheit der sinnlichen Erkenntnis“ diesen Rang bestreite.540 Mit aller nur denkbaren Häme wird nun bei Bodmer das Tableau des Festessens dieses deutschen Stentors (alias Gottsched) geschildert, der als mythologische Figur aufgrund seiner lauten Stimme im Trojanischen Krieg von sich reden machte und hier einleitend zusätzlich mit den Attributen der Unwissenheit und der Gier charakterisiert wird: Stentor begieng mit seinen Getreuen die jährliche Feyer Seiner Weihung zum Priester des Midas; sie sassen zu Tische, Assen vom fettesten Speck und tranken vom dickesten Biere; Nur er allein trank Wein von Naumburgs Traubengebürge. Unter dem Schmausen erzählten sie seine großen Geschichten, Was er gethan und gelitten, die dummen noch dummer zu machen; Wie er den Witz des Blocksbergs in einen Kalender gesammelt, Wie er die böse Critik in ein Dintenfäßel gebannet, Wie er den Milton gelästert, als Laster es zaghaft verschworen, Wie er in Gemmingens Briefe das Lob in Schande verkehret, Wie er die Nuß geknackt, und es doch aus Demuth geleugnet, Wie er mit seiner jungsten Eroberung, dem sittsamen Freyherrn, Adramelech gerufen, sie auf die Grimsel zu tragen, Und fur den Teufel sein eigener Geist ihn nach Waldheim getragen, Wie er die Haller und Bodmer nicht schlug und doch triumphirte Alles das und noch mehr, erzählten sie, einer dem andern, Und durchwürzten die Reden mit schlüpfrigen Zoten von Grubstreet, Wie die Dummheit sie liebt, und ihre Söhne sie lehrt; Aber vergaßen nicht unter den Reden den Speck, und das Bier nicht, (BD, S. 1f.)
In dieser in Speck und Bier getauchten Kritikerschelte, die, wie im Text und gemäß der Vorlage, mehrmals der Dummheit geweiht ist, wird der Gegner mittels einer parodistischen Nachahmung der Figur und seines Kreises entwickelt, dem die riesenartigen Figuren Rabelais’ oder Swifts zur Seite gestanden haben mögen, wenn sich das Bild des deutschen Kritikers Gottsched mehr und mehr zu einer 539 Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. In: Ders.: Schriften. Bd. 1. Frankfurt am Main 2000, S. 271. 540 Vgl. Friedrich Gaede: Poetik und Logik. Zu den Grundlagen der literarischen Entwicklung im 17. und 18. Jahrhundert. Bern 1978, S. 117.
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Karikatur eines fleischfressenden Ungeheures mit grotesken Zügen entwickelt, der im Lob der anderen schwelgt, wenn diese seine Taten in Form einer längeren Anapher aufzählen. Mit Gemmingen wird hier der Freiherr Eberhard Friedrich von Gemmingen (1726–1791) evoziert, der im Briefwechsel mit Albrecht von Haller und auch mit Bodmer stand.541 Daneben wird Schönaichs polemische Schrift Neologisches Wörterbuch oder die Aesthetik in einer Nuß aus dem Jahre 1754 gestreift, in Begleitung des biblischen Dämons aus Satans Reich oder heidnischen Gottes Adramelech, der als gefallener Engel in Miltons Paradise lost von Uriel und Raphael bezwungen wurde. Die Tischszene erinnert ebenfalls an jene Tischrede mit Edward aus der vorab behandelten Brieferzählung. Wiederum wird die Debatte über Ästhetik und Geschmack im Kontext der Mahlzeit abgehalten. Die eindrückliche Statur Gottscheds wird erneut in der Karikatur als „[g]ravitätisch und dumm“ (BD, S. 2) skizziert; der viel aß, trank, wenig sprach, nach Lob hungerte und einem Bacchusfest gleich, seine Jünger aufforderte, „mit önologischen Scherzen / Und mit Affen zu spielen, und Hohn den Alpen zu sprechen“ (BD, S. 2). Von Gottsched aufgefordert, erhebt sich sodann einer seiner Jünger, um über die Zürcher zu lästern und zwar in Hexametern! Die Szene beinhaltet satirisch-komische und zuweilen selbstironische Züge, so zum Beispiel wenn die Rede auf Milton und dessen Schweizer Nachahmer, respektive die „Bodmeriaden“ kommt: Ein deutscher Milton kömmt, gleicht miltont jedermann; Zwar keiner gleichet ihm da es keiner kann, Wird er doch nachgeahmt. Er schrieb nicht zum verstehen; Gut, rief die tolle Schaar, man solls noch finstrer sehen. Nun wird hexametriert, warum nicht auch gegähnt? (BD, S. 2f.)
Gottscheds Clicke sowie seine auf Regeln aufbauende Kritikerkunst, hier als bizarrer Totenkult „Pferde-Verscheidkunst“ (BD, S. 4) skizziert, wird mit einer Leichtigkeit vorgeführt, die schmunzeln lässt, wenn dieser einen regelrechten Kult der Dummheit begeht: In den einmal die Dummheit vor unsern Augen zerflossen, Als wir versammelt waren, den größen Complor zu beschwören, Dem wir die Insul und daß wir mit Midas herrschen, verdanken;
541 Vgl. hierzu Briefwechsel zwischen Albrecht von Haller und Eberhard Friedrich von Gemmingen. Nebst dem Briefwechsel zwischen Gemmingen und Bodmer. Aus Ludwig Hirzels Nachlass. Hg. von Hermann Fischer. Tübingen 1899. (Gemmingen und Bodmer standen von 1771 bis 1782 in Briefkontakt.)
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An den Tropfen zu riechen dringt durch in die innersten Drüse, Reinigt das Haupt von Verstand und erfüllt es mit fliegenden Dünsten, Jdem ein Stück geronnen Feuers, das ich mit mir brachte Als ich von einem Gespenst in Miltons Hölle geführt ward, Und die Hydern da sah, die Medusen, und Amphiobänen, ZUnd den Satanas selbst viel lange Huben gestrecket, Welche mich zwangen zu sagen die Hölle ware kein Mährchen. Und die Teufel nicht siebensachen, und nicht so possierlich Wie der, welchen der fromme Schmied von Jüterbock sahe Und ihn in einen Sack schob. Ich that in dem tödtlichen Schrecken, Den nur das schwarze Gesicht gemacht, das nette Bekenntnis Meiner poetischen Sünden, und brannte die Dichtkunst und Cato; Und gelobte statt Bücher zu richten, sie künftig zu binden. Damals hätten mich Midas und unsere Dummheit verlohren, Hatte nicht Mylius mich durch seinen Freygeist gestärket, Und die Gespenster der Nacht aus meinen Herzen verjaget. (BD, S. 5)
In der hier erwähnten norddeutschen Sage Der Schmied von Jüterbock wird von jenem frommen und schlauen Schmied erzählt, der einst eine göttliche Gestalt beherbergte und zum Dank drei freie Wünsche erhielt. Diese nutzte er, um den Gevatter Tod sowie den Teufel auszutricksen und um nicht zuletzt sein Leben zu verlängern. So ließ er den Tod bei dessen erstem Besuch auf einem Stuhl sich festsetzen. Dieser kam erst frei, wenn er Jüterbock noch zehn Jahre leben ließ. Gleiches verlangte er von ihm, als dieser zehn Jahre später erneut vorbeikam, und augenzwinkernd an die Ursprungsgeschichte aus der Genesis (2:17–25) anspielend auf einen Apfelbaum geschickt, erst mal nicht mehr alleine wieder herunter konnte. Von den Gesellen des Schmiedes tüchtig verhauen, wollte der Tod Jüterbock ewig leben lassen. Als es dann schließlich der Teufel in persona noch mit dem Jüterbock aufnehmen wollte, musste jener bei verschlossener Tür durchs Schlüsselloch in einen Kohlensack kriechen, den der Schmied eilig verschloß, um diesen wiederum von den Gesellen verdreschen zu lassen. Dem Teufel, der zuerst noch über die Dummheit des Todes gelacht hatte, ist das Lachen darauf gründlich vergangen. Wegen Keckheit und Vorwitz bestraft, musste er durch das gleiche Schlüsselloch wieder abziehen.542 Der Name Jüterbock erlebt bei Bodmer eine Renaissance, wenn er in seiner Gerstenberg-Kritik Das Parterre in der Tragödie Ugolino wieder auftritt, um den Kritikerkollegen Friedrich Nicolai zu fingieren (vgl. Kapitel 4.5.1).
542 Der Schmied zu Jüterbog. In: Norddeutsche Sagen, Märchen und Gebräuche aus Mecklenburg, Pommern, der Mark, Sachsen, Thüringen, Braunschweig, Hannover, Oldenburg und Westfalen. Hg. von Adalbert Kuhn und Wilhelm Schwartz. Leipzig 1848, Nr. 88.
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Die Assoziationen des Teufels und des Teuflischen, die von Milton aber auch in anderen Quellen, wie der genannten Sage, besungen und von Gottsched starker Kritik unterzogen wurden, tauchen immer wieder im Text auf, zuweilen fast refrainartig wie die „Hydern, Medusen, und Amphisbännen“, allesamt Monster aus der Unterwelt. Hydern, Medusen, und Amphisbännen, Chimären und Teufel, Und mit den Teufeln den sussern Zeug, den Olympus und Aether, Und die Bewohner derselben, die Brut der Pordätsch und Böhme. Miylus hatte zuerst den Eingang zum Herzen gesperret, Alsdann war es uns leicht mit dem Kopf freygeistreich zu denken, Aber wir sind dumm nicht zu Geisterleugnern geworden; Nun(?), wir haben auch Teufel auf unserer Seite, nicht solche Die sich aus unsern Gebräuchen und unserer Denkungsart nichts machen, Die ein jegliches Ding in den fremdesten Augenpunkt saßen; Unsere Teufel verführen uns nicht in ferne Gefilde, Und sie steigen nicht höher als unsere Dunstkugel gehet; Nicht zu der Höh der Alpiner, die unsere deutschen Begriffe Durch den ätherischen Schwung zu Olympischen undeutlich erheben; Sondern sie sprechen das deutsch, das meine Sprachekunst billigt, Dichten wie meine Dichtkunst für meine Deutschen es heißet; Setzen den Reim stets hinten, und in der Mitte die Spalte. Wenn sie schreiben so schreiben sie in dem eckigen Buchstab, Und vermeiden mit Abscheu die pythagorischen. (BD, S. 5f.)
Als menschliche Teufel werden hier in Gottscheds Schmährede die Schweizer diskreditiert, um sich schlussendlich wieder selbst zu schaden. Ironisch werden hier die Kritikpunkte Gottscheds vorgeführt, der dann eine Opfermesse im Priestergewand und mit einer jüdischen Tiara gekrönt, eine Selbstpersiflage in einer Opferhandlung par excellence vorführt und auf alle Viere fällt. […] und Stentor, versetzt erschrocken: Ists möglich Was du sagest und hat mich die Göttin so fallen gesehen. Daß ich die Lippen mit griechischen Füssen entheiligt? Ich fürchte Daß ihm so sey; und hört’ ich o Freund dieselbige Schande Nicht auch von Deinen Lippen ertönen; war das was du sagtest Nicht auch auf griechische Füsse gestellt? Was mag das bedeuten? Dieß ist nicht unsere Sprach; uns saß ein Geist aus dem Aether, Einer von denen, die in der griechischen Finsterniß wandeln, In die Köpfe, der redet aus uns, ein ätherischer Dönjon. Weh mir, ich hasse mich selbst, ich werde mir selber zum Abscheu: Was ich für Worte rede, die werden mir alle zu Versen, Zu den schleppenden Versen Homers des Blinden, ich will mich Selbst auf die Lippen beissen, und lieber auf ewig verstummen. Lasset uns schweigen und unsere Dummheit durch Opfer versöhnen,
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Daß sie die Sünd’ uns verzeiht und den bösen Geist von uns austreibt. Stentor sprach so und legt das Priestergewand um die Schultern, Setzt die Thiar auf, drauf streuet er Körner von Hirs in das Räuchfaß. Brennet itzt auf dem Altare die Ohren, den Schwanz und die Mähne Eines Esels von röthlichen Haaren der Mähn’ und des Zagels; Hüpft um den Altar herum und ritzt sich mit Messern und Pfriemen, Bis das Blut von ihm rinnt, dann fällt er aufs Angesicht nieder, Kriecht auf vieren und wälzt sich im Staub und heulet in Reimen. Sosius hüpft’ ihm nach mit den andern, und ritzten mit Messern Und mit Pfriemen sich blutig, und fielen auf Angesicht nieder, Krochen auf vieren und wollten im Staub und heulete in Reimen. (BD, S. 6f.)
Die hier umschriebenen Kulthandlungen, die an eine Walpurgisnacht, einen Hexensabbat, mittelalterliche Karnevalspraktiken und nicht zuletzt an Popes verhöhnten Thibbald aus seiner Dunicad erinnern, arbeiten mit liedartigen Refrains, um nicht zuletzt die Komik zu unterstreichen. Mit dieser karnevalistischen Krönung des Narren, die in der Selbstkasteiung Gottscheds gipfelt, der in der Tradition der aristophanischen Sophisten- und Sokrateskritik auf alle Viere fällt, sollen die Gegner der Zürcher der Lächerlichkeit preisgeben werden. Die herabwürdigende Darstellung von Gelehrten begründete schon Aristophanes in seiner Philistersatire Die Wolken, in der die etwas verwahrlosten Sophisten-Schüler in diversen Stellungen der Versenkung, einige sogar auf allen Vieren, den Kopf nach unten gebeugt vorgeführt werden, um die Geheimnisse der Unterwelt zu erkunden.543 Dieser literarische auf Aristophanes zurückgehende Topos wurde schon von Palissot in Les philosophes (1760) bedient, wenn er Rousseaus Interpretation des Naturrechts aufs Korn nimmt und dieser in persona den Tieren gleich – auf allen Vieren – Salat „fressen“ muss. Diese v. a. in Satiren beliebte Technik einer altattischen radikalen Ridikulisierung der Gelehrten oder jeweiligen Konkurrenten, wurde von Pope wiederbelebt, der sich vor Palissot bereits schon der Zürcher Momus angenommen hatte. Sieben Jahre später wird Bodmer nochmals in Gottsched. Ein Trauerspiel in Versen, oder, Der parodirte Cato (1765) ausholen und die Person Gottsched, diesmal als Schlafmütze karikierend, erneut der Lächerlichkeit preisgeben.544
543 Vgl. Renata von Scheliha: Die Komödien des Aristophanes. In sieben Vorträgen interpretiert. Amsterdam 1975, S. 18. 544 In: Johannes Crüger (Hg.): Johann Christoph Gottsched und die Schweizer J.J. Bodmer und J. J. Breitinger. Berlin 1880, S. 127–152.
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4.1.7 Fazit In Bodmers Schriften sind nicht zuletzt immer wieder sokratisch-ironische Gesprächsstrukturen auffällig, die schon früh in seinen satirischen Attacken gegen Gottsched deutlich werden. Gegen diesen und seine Leipziger Anhänger richtete Bodmer seine Satire Edward Grandisons Geschichte in Görlitz (1755), die er gemeinsam mit dem jungen Christoph Martin Wieland (1733–1813) verfasste, sowie Das Banket der Dunse (1758), die sich nicht zuletzt an den englischen Vorbildern Samuel Richardson (1689–1761), Shaftesbury (1671–1713) und Alexander Pope (1688–1744) orientierten. Beide hier ausgewählte, polemische Texte sind in der sich zuspitzenden Konfrontation zwischen Leipzig und Zürich, im Kontext des Wettstreits um den besten deutschen Epos, die Bibelepen als auch die Miltonrezeption als Folge der französischen Querelle des Anciens et des Modernes zu begreifen. In Anlehnung an antike und englische Satiretraditionen verdeutlichen beide Texte, mit Starobinskis Kritikbegriff von Aktion und Reaktion gesprochen, Relationen der Kritik, d. h. sie lassen Beziehungen und Bewegungen in der Dichtung sichtbar werden. Der in Kooperation mit Wieland entstandene Text Edward Grandisons Geschichte in Görlitz ist eine Polemik auf die Adaptation des Arminius-Epos Hermann oder das befreite Deutschland (1751) des von Gottsched protegierten Christoph Otto Freiherrn von Schönaich (1725–1807). Dank der Ausschlachtung von Wielands eigenem Manuskript, dem Epenfragment Herrmann (1751), mit welchem dieser seine Karriere als blutjunger Dichter begann und sofort auf die Unterstützung des begeisterten Bodmer zählen konnte, antwortet der polemische Text zudem auf Schönaichs Attacke gegen die Schweizer Die ganze Aesthetik in einer Nuß oder neologisches Wörterbuch aus dem Jahre 1754. Neben der Ankündigung einer Dunciade für die Deutschen, die Wieland seinem Verbesserten Herrmann beifügte, verfasste ebenso Bodmer in der Tradition altattischer und englischer Satiretechniken eine ähnliches Pamphlet: Das Banket der Dunse (1758). Der fingierte Briefwechsel in Edward Grandisons Geschichte in Görlitz handelt von einem Engländer, der in der schlesischen Provinz Görlitz, also in unmittelbarer Nähe des historischen Bibliothekssaals, Deutsch lernte, um den Charakter und den Geschmack der Deutschen in deren „witzigen Schriften“ nachzuempfinden. Im spielerischen Dialog werden literarische Wirkungstendenzen der Zürcher im Gegensatz zu jenen der Leipziger zu einem frühen Zeitpunkt der Wissenschaftsund Wertungsgeschichte in einer unterhaltsamen Personalsatire inszeniert. Sodann werden in Gegenrede und Rede, Thesen und Antithesen konkurrierende ästhetische Ansätze dialogisch verhandelt, natürlich in der Absicht, die Überlegenheit der Zürcher Poetik des Wunderbaren zu demonstrieren.
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Dass Gottscheds Critische Dichtkunst (1730) wichtige Leitlinien für die deutsche Literatur und deren Gattungen formulierte und somit ein grundlegendes theoretisches Regelwerk als Orientierungshilfe für angehende Dichter vorstellte, steht außer Frage. Jedoch boten die hier festgesetzten Regeln der Poetik nicht zuletzt auch Zunder für den Literaturstreit mit den Zürchern, die in vielen Punkten zunehmend entgegengesetzte Haltungen vertraten; sei es, was das Lob der Vielfalt der Mundarten oder was die poetische Auffassung des Wunderbaren betraf, was die Expositio in dieser Görlitzer Geschichte darstellt. Nach der Darstellung einer Antiklimax, laut welcher auf das vermeintliche Sachsenlob nun ein vermeintlicher Verriss der Schweizer Poetik erfolgt, kommt es zur Peripetie und zur dramatischen Katastrophe der zu Beginn hochgelobten „Reinigkeit“ und „Regelmäßigkeit“ der Sachsen, die den Ansichten der Schweizer diametral gegenüber stehen. Dabei sind die literarästhetischen Kritikpunkte jeweils im Zusammenhang mit den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen besonders in Zürich und in den benachbarten Monarchien zu verstehen. Hier fällt wiederum auf, wie die miteinander konkurrierenden ästhetischen Positionen, etwa zur Frage der Nachahmung, des Wunderbaren und der Gattungswahl, immer vor dem Hintergrund der jeweiligen politischen, gesellschaftlichen und nicht zuletzt räumlichen Rahmenbedingungen diskutiert werden. So wird in einem der Briefe die in Trogen, im schweizerischen Appenzell, übliche Molkenkur thematisiert. Zu deren Charakteristikum gehörte neben dem Trinken der Molke in freier Natur die Auseinandersetzung mit literarischen Texten. Der sich hier abzeichnende Zürcher Kritikbegriff fungiert als duales Verfahren, indem er sich nicht nur durch seine politischen Parameter auszeichnet, sondern ebenfalls zu einer pointiert pädagogischen Stellungnahme zuspitzt und dabei eng an der Leibniz-Wolff’schen Philosophie orientiert ist. Denn laut Bodmer ist die mangelnde Kritikfähigkeit der Untertanen in Monarchien mit der unfreien Erziehungsmethode zu erklären, die den Menschen zu Hörigkeit und knechtischer Abhängigkeit abrichtet. Dagegen kann sich nach seiner Ansicht eine Atmosphäre des freien Denkens nur in republikanisch organisierten Gemeinwesen entwickeln, in denen die Souveränität im Volk verankert ist. Programmatisch wird zum Schluss des Briefromans ein klosterähnliches Bildungswesen beklagt, das einzig zum Gehorsam erziehe, anstatt Fähigkeiten des selbständigen und kritischen Denkens zu fördern. Wie es der Engländer Edward exemplarisch vorführt, hängt Bildung mit einem ästhetischen Empfinden zusammen, was die Intention der Bibelepen umschreibe. Sodann wird der Adel kritisiert, der sich einzig auf die Pflege des Körpers und auf sportliche Betätigungen konzentriere. Die Arbeit des Geistes wurde gänzlich unterschlagen bzw. anderen überlassen, die weniger gut bemittelt seien.
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Die pazifistische Kritik am Militär und an der Idiotie jeglicher Kriegsführung, die auf dem mechanisch-primitiven Akt des Tötens beruht, impliziert eine Bildungskonzept, das sich an jenem – in gewissen Bildungsstätten, Klosterschulen oder Militärakademien durchaus üblichen – autoritären Ton stößt und dahinter auch ein Menschenbild einer Klassengesellschaft vermutet, das politisch begründet ist. Damit wird nicht zuletzt Friedrich Schillers Kritik am Erziehungssystem der Hohen Karlsschule vorweggenommen, der in einer feinfühlenden Psychologie mit seinen Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1793) einen Kunstbegriff der Schönheit formuliert, dank welcher Freiheit in der Ästhetik möglich wird. Schillers Ästhetische Briefe, die sich als Reflexion über die Terreurs der Französischen Revolution – dem katastrophalen Ende der Aufklärung – verstehen, sind zudem eine kritische Abrechnung an jeglicher Willkür eines aristokratisch-absolutistischen Staates. Schon Bodmer und Wieland führen die Konsequenzen der schulischen Tretmühle vor Augen, die den Menschen zum autoritätsgläubigen Kriecher domestiziert, anstatt ihn auf die Aufgaben vorzubereiten, die mit der politischen Willensbekundung und Mitbestimmung im aristokratisch oder auch bürgerlich organisierten Gemeinwesen einhergehen. Dass in einem gegen Gottsched gerichteten literaturkritischen Text ästhetische Fragen mit pädagogischen Überlegungen verknüpft werden, um das altehrwürdige Recht auf Denkfreiheit zu betonen, ist für Bodmers literaturkritische Dichtungen signifikant und zeichnet seinen dialektischen Kritikbegriff aus. Während in Monarchien der Mensch zur funktionierenden Maschine und zum kriechenden Tier abgerichtet wird, was sich fatal auf die folgenden Generationen auswirken kann, die dann ebenfalls zu unselbständigen Herdentieren dressiert werden, so können sich nach Bodmers Idealvorstellung Menschen bzw. mehrheitlich Männer in Republiken zu selbstbewussten, verantwortlichen Bürgern entwickeln. In Anlehnung an Leibniz’ frühaufklärerisches duales Leib-Seele-Konzept wird einem abstrakten Hergang der Bildung seine konkrete Bildlichkeit gegeben. Abgeleitet von Leibniz’ philosophischen Ideen werden zwei Ebenen beschrieben, eine materielle, die unendlich ist, sowie eine einfache, jene der Seele. Ob sich Bildungsprozesse an einer von Titeln und Autoritäten bestimmten Gesellschaftsordnung orientieren oder eher eine Kultur der freien Gedankengänge postulieren, hängt von den jeweiligen politischen Konditionen ab, wie Bodmer und Wieland erklären. Das für die Abläufe benutzte Vokabular bedient sich wiederum der Pflanzen- und Tierwelt, wenn die Spätfolgen von postulierten Haltungen schon implizit mitbedacht werden und an das Verantwortungsgefühl von Lehrpersonen sowie von sozialen Autoritäten appelliert wird, die ihr Wissen
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und ihre Lebenshaltungen dem hier wiederum stark männlich betonten Nachwuchs oder den Untergebenen „[ein]pflanzen“, respektive weitergeben. Die Gefahr der sklavischen Lebenshaltung des Kriechens, die von bornierten Autoritäten lange als Bildungsideal hochgehalten wurde, erfährt hier eine scharfe, wiederum nicht zuletzt politisch motivierte Kritik, da die mit Privilegien bestückte Oberschicht sich, mit Rousseau gesprochen, vor der sozialen Verantwortung scheue. Das Bildungsmodelle von politischen Kontexten abhängen und diametral einander gegenübergestellt werden, ist bei Bodmer ein immanenter Gedanke, der immer wieder in seinen literaturkritischen Schriften in seinen kausalen Zusammenhängen dargelegt wird. Dabei wird das psychologische Bild der Faltenbildung bedient, um Bildungsprozesse zu erklären, die Menschen aller Berufe fürs Leben prägen. Neben Leibniz und Wolff orientiert er sich in der Faltenmetaphorik an der von Locke, Montesquieu und Rousseau geführten Diskussion. Ferner werden die gesellschaftstheoretischen Positionen im Stil des sokratischen Gesprächs erörtert. Nach dem Muster der Alten wurde hier mit juvenalischer Bissigkeit und horazischer Leichtigkeit eine Balance zwischen Lob und Tadel versucht. Aber auch Popes Literatursatire The Dunciad, die sich gleichsam als ein Lehrbuch der Kritik und somit als Fortsetzung zu An Essay on Criticism (1711) versteht, wird, schon von Bodmer zitiert, noch bevor sie Modellcharakter bspw. bei Palissot erhält. Denn Popes Satire zeichnete sich weniger durch einen konkreten Handlungsstrang, als vielmehr durch rhapsodisch zusammengewürfelte Assoziationen aus, ein Modell, nachdem Bodmer und Wieland in ihrer assoziativ gestalteten Gottsched-Polemik arbeiten. Ebenfalls nach dem Vorbild von Popes Dunciad (1728) wird der Gegner im Satyrspiel Das Banket der Dunse (1758) vorgeführt. In dieser zweiten überzeichneten Kritikerschelte, die wie die Vorlage der Dummheit geweiht ist, wird eine satirisch-parodistische Karikierung Gottscheds und seines Kreises entwickelt. Vermutlich haben diesem erneut defavorablen Porträt die riesenartigen Figuren Rabelais oder Swifts zur Seite gestanden, wenn sich das Bild des deutschen Kritikers Gottsched mehr und mehr zu einer Karikatur eines fleischfressenden Ungeheures mit grotesken Zügen entwickelt, der im Lob der anderen schwelgt. Die Tischszene erinnert an jene Tischrede Gottscheds mit Edward aus der vorab behandelten Brieferzählung, wenn die Debatte über Ästhetik und Geschmack erneut im Kontext der Mahlzeit abgehalten wird. Die eindrückliche Statur Gottscheds wird in der Karikatur eines wortkargen und gleichsam nach Lob hungernden Vielfraßes skizziert, der in der Staffage eines Bacchusfestes seine Jünger zu allerlei vulgären Scherzen auffordert. Gottscheds Klicke sowie seine auf Regeln aufbauende Kritikerkunst wird dergestalt leichtfüßig als bizarrer Totenkult vorgeführt, wenn dieser einen regelrechten Kult der Dummheit begeht. Als menschliche Teufel werden in Gottscheds Schmährede die Schweizer diskreditiert, womit er sich schlussendlich wieder selbst schadet.
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Denn Gottsched, während einer Opfermesse im Priestergewand sowie mit einer jüdischen Tiara gekrönt, wird dank einer Selbstpersiflage in einer Opferhandlung par excellence der Lächerlichkeit preisgegeben, bis er schließlich auf alle Viere fällt, was nicht zuletzt das antike Modell der Philistersatire nach Aristophanes auf den Plan ruft. Satirisch arbeitet Bodmer ebenfalls in seinem groß angelegtem Fabelprojekt, den Lessingischen unäsopischen Fabeln (1760), das im Folgenden eingehend behandelt wird.
4.2 Emblematik und Theatrum mundi in den Fabeln In der Querelle des Anciens et des Modernes, die in der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert in Frankreich einsetzte, wurde darüber gestritten, inwiefern die Antike noch das Vorbild für die zeitgenössische Literatur und Kunst sein könne. Der Streit drehte sich um zwei gegensätzliche ästhetische Modelle; zum einen wurde am Prinzip der Nachahmung, der Mimesis, das sich an der Antike als dem absoluten Schönheitsideal orientierte und zum anderen am Prinzip des aus sich selbst schöpfenden Genies festgehalten. Dabei wurde über die Aesopische Fabel diskutiert, deren antike Handlungsstränge schon La Fontaine in seinen Fabeln adaptiert hatte. Die Tierfabel blickt auf eine lange Gattungstradition bis in die Antike zurück: Beliebt im Zeitalter des Humanismus und der Reformation, fehlte die Gattung im 17. Jahrhundert und wanderte in die Emblematik ab, da die optimistische Weltanschauung im Widerspruch mit den Memento-Mori-Appellen sowie der VanitasMentalität des Barocks stand. Die Tierfabel, die in konzentrierter Form die Darstellung einer allgemeinen moralischen Vernunftwahrheit in einem poetisch erdachten Einzelfall verkörpert, etabliert sich erst wieder im 18. Jahrhundert als Gattungsmodell und erlebt geradezu ihre Blütezeit im Zeitalter der Aufklärung, wofür Gottscheds Critische Dichtkunst (1730, 41754) die Weichen stellte. Ausgehend von der Poetik des Aristoteles und der frühneuzeitlichen lateinischen Übersetzungstradition wird „Mythos“ bei Scaliger und anderen mit lat. „fabula“ wiedergegeben, womit der „Kern“ bzw. die „Handlung“ oder „der Plot“ einer Erzählung gemeint ist, den Gottsched als „Ursprung und die Seele der ganzen Dichtkunst“545 bezeichnete. Weiter wird mit „fabula“ die epische Fabel von der dramatischen unterschieden. Die Aesopische 545 Johann Christoph Gottsched: 4. Kapitel: Von den dreyen Gattungen der poetischen Nachahmung, und insonderheit von der Fabel. In: Ders.: Versuch einer critischen Dichtkunst. Erster allgemeiner Theil [1730]. Nachdruck. Hg. von Joachim Birke und Brigitte Birke. Berlin 1973, S. 202. Im Folgenden im Text mit der Sigle (GCD) abgekürzt.
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Tierfabel ist eine Untergattung, eine Kleinform der epischen Fabel, die auf den aus Samos stammenden griechischen Sklavendichter Aesop (6. Jh. v. Chr.) zurückgeht. Die spezielle Form der Aesopischen Fabel wurde von Gottsched zum Prototyp der optimistischen Tugendvermittlung erhoben, welche sich hervorragend dafür eignete, „die an sich bitteren Lehren gleichsam zu verzuckern“ (GCD, S. 446). Der spezifische Fabelbegriff der Aesopischen Fabel meint eine knappe, lehrhafte Erzählung, die moralische bzw. politische Normen, teils in pädagogischer, teils in sozialkritischer Absicht, zu vermitteln sucht. Auf diese traditionelle Gattungsdifferenzierung beziehen sich Gottsched, die Zürcher Breitinger und Bodmer sowie Lessing in ihren jeweiligen Poetiken. Fragen über den allegorischen Gehalt der Fabeln und deren Einteilung gaben Anlass zur Kontroverse über die Fabel zwischen den drei Parteien, die im Folgenden chronologisch aufgerollt wird, bevor darauf die satirische Strategie des Zürcher Doppelgestirns in den Lessingischen unaesopischen Fabeln (1760) exemplarisch untersucht wird. Während Breitinger sich mit Lessings Fabeltheorie kritisch auseinandersetzt, spießt Bodmer Lessings Fabeln exemplarisch auf und adaptiert diese zu neuen politischen und ästhetischen Lehrstücken, die im Aufbau einer barocken Emblematik folgend, jeweils im Titel eine scriptura anführen, um den Text als pictura einprägsam zu illustrieren.
4.2.1 Fabeltraditionen nach den Modellen Aesops und Phaedrus’ Als Vertreter der Anciens behandelt Gottsched im ersten Abschnitt des zweiten Hauptstückes der Critischen Dichtkunst Aesopische und sybaritische Fabeln. Es wird an die schon im Orient verbreitete Neigung zu Fabeln und Allegorien gedacht, für welche die Königin von Saba als exemplarisch galt, die mit ebensolchen Rätseln den König Salomon in Versuchung zu bringen wusste. An den historischen Ursprung der Fabel erinnern drei Beispiele aus dem Alten Testament. Zuerst wird auf das Buch der Richter verwiesen, das „um Samuels Zeiten geschrieben“, und wie Gottsched vermutet, wohl auch „älter als Homer“ sei. Jothams Fabel (Richter 9:8) wird von Gottsched als „sittlich“ klassifiziert und aus der Luther-Bibel zitiert. Jothams Fabel von den Bäumen wird im Buch der Richter als Warnung oder Fluch interpretiert, da sie zum einen den Sichemitern verdeutlichen sollte, dass sie sich unter Gideons Söhnen den ärgsten, den im Dornenstrauch verbildlichten Abimelech, zum König ausgewählt hatten. Zum anderen hatte dieser nicht nur seine Bruder ermordet, sondern würde selbst die Sichemiter zugrunde richten. Dieser alte biblische Stoff wird von den Verfechtern der Ancienneté als Argument
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verwendet und tritt modifiziert in den Fabelbüchern Lessings und Bodmers auf, was weiter unten gezeigt wird. Gottsched verweist daneben auf Nathans Fabel vom Reichen und Armen aus Samuel (2:12), die von König David erzählt wird, sowie auf jene über das kluge Weib zu Thekoa aus Samuel (2:14), die hier als vermischte Fabel gepriesen wird. Über die Herkunft des phrygischen Aesopus wird auch gerätselt und vermutet, ob es sich hierbei vielleicht um „Assaph in Davids Hofcapelle“ oder den unter den Persern und Türken berühmten arabischen Fabelerzähler Lockmann handeln könnte, dessen Ruhm über den ganzen Erdball verbreitet war. Die Araber gaben vor, Aesop stamme aus einem hebräischen Geschlecht, die Perser dagegen hielten ihn aufgrund der Etymologie des Namens Aesopus (Aethiops) für einen Äthiopier. Auf die alten und neuen Aesop-Biographen wie Mircond, Planudes, Meziriac und Diogenes Laertius wird neben Pierre Bayle verwiesen, die mehrheitlich laut Gottsched Folgendes festhalten: Das ganze Alterthum giebt ihn [Aesop] für einen Phrygier aus; setzt die Zeit, da er gelebt, um Solons und des indischen Königs Krösus Zeiten fest; läßt ihn den Chilo, einen der sieben Weisen, sprechen: ja zum Periander nach Korinth kommen, und zu Delphis sterben, wohin ihn Krösus geschickt haben soll. (GCD, S. 441)
Planudes, der laut Gottsched in seiner Biographie zu viele Fabeln dem Aesop angedichtet hätte, erzählt, wie Lockmann die Weisheit von den Engeln erhält. Hingegen berichtet Philostratus im 15. Kapitel von Das Leben des Apollonius von Tyana, wie Mercur dem Schafhirten Aesop die Weisheit und die Fabelkunst eingeflößt hatte.546 Sokrates hatte schon Aesops Fabeln im Gefängnis in Verse übertragen. Plutarch rühmte Phaedrus, der zur Zeit des Augustus Aesops Fabeln ins Latein übersetzt hatte. Im Allgemeinen wurde Aesop von den Alten geliebt und häufig nachgeahmt. Selbst Luther habe laut Gottsched Aesops Fabeln teilweise verdeutscht und mit einer Vorrede versehen. Aesops Fabeln in Prosa wurden in der Folge häufig nachgeahmt oder in Verse gesetzt. Gottsched zählt „unter den Engländern Roger l’Estrange, unter den Franzosen, la Fontaine, und la Motte; unter den Deutschen aber Stoppe, Herr Hofr. Triller, Herr von Hagedorn, und Herr Prof. Gellert“ auf (GCD, S. 442). Besonderes Lob erhält jene 1740 in Königsberg anonym erschienene Fabelsammlung Der deutsche Aesop.
546 Vgl. Gottsched: GCD, S. 439. Ferner: Die Werke des Philostrate: Aus dem Griechischen übersetzt von David Christoph Seybold. 1. Bd. Welcher das Leben des berühmten Philosophen Apollonius von Tyana enthält. Lemgo 1776, S. 274 f.
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Darauf vollzieht Gottsched eine doppelte Einteilung der Fabeln. Zum einen wird nach den in der Fabel auftretenden Protagonisten unterschieden: Neben die Aesopischen Tierfabeln und die allegorischen Fabeln fallen unter die vermischten Fabeln jene, in denen „Thiere und Menschen, oder leblose und allegorische Personen mit Geistern oder wirklich denkenden Wesen“ (GCD, S. 436) zusammen auftreten. Zum anderen wird nach Inhalten unterschieden, wenn Gottsched von Aesopischen und sybaritischen (I.2) sowie von politischen Fabeln (II.7) spricht. Dabei fallen die sybaritischen Fabeln aufgrund ihrer Possenhaftigkeit, Üppigkeit und Spaßhaftigkeit ab. Von letzteren, die vermutlich in der süditalienischen Stadt Sybaris entstanden sind, einem Ort, der nach Herodot von den „weichlichen und wollüstigen Sitten der Ionier und Asiater“ durchdrungen gewesen sei, rät er ab: Die Zärtlichkeit in der Lebensart, die Leckerhaftigkeit in Speise und Trank, und die Ueppigkeit selbst hatten bey diesem Volke dergestalt überhand genommen, daß auch die Fabeln ihrer witzigen Köpfe davon angestecket wurden. Sie vergassen also den moralischen Zweck ihrer ersten Erfinder und Meister, und verwandelten sie in ein Possenwerk. Die Sybariten wollten nur lachen; daher gefiel ihnen nichts, als was lustig war: wie Fontenelle dieses in seinen Gesprächen der Todten, wo Milo und Smindiride, die Sybariterinn, miteinander sprechen, gar fein abgeschildert hat. Daher bemühten sich auch ihre Dichter nur spaßhafte Fabeln zu machen. (GCD, S. 443)
Dass dieser Fabeltyp bei den alten Römern sich einer gewissen Beliebtheit erfreute, vergleicht Gottsched mit dem römischen Sittenverfall: „Die Römer hatten nämlich schon zu Ovids Zeit ihre Sitten sehr zu verderben angefangen, und fielen unter den folgenden Kaisern immer tiefer in die Schwelgerey und Ueppigkeit.“ (GCD, S. 444) Ferner wird nicht bedauert, dass die sybaritischen Fabeln größtenteils verloren gegangen sind, viel mehr wirbt er für die Regeln der Aesopischen Fabeln: „Man setze sich einen untadelichen moralischen Satz vor, den man durch die Fabel erläutern, oder auf eine sinnliche Art begreiflich machen will. So sind die ältesten und besten Fabeln, Jothams, Nathans, Aesops, Lockmanns, Pilpays u. a.m.“547 Und er fährt fort: „Die Poesie nämlich ist in diesen ältesten Zeiten die Philosophie des menschlichen Geschlechts gewesen. Man suchte den gemeinen Mann zu unterrichten, und ihm die sittlichen Wahrheiten, unter angenehmen Bildern beyzubringen. Die Fabeln schickten sich nun sonderlich dazu, um die an sich bitteren Lehren, gleichsam zu verzuckern.“ (GCD, S. 446)
547 Gottsched: GCD, S. 446. Bei Lockmann handelt es sich um einen arabischen Fabeldichter, dessen Fabeln denen des Aesop ähneln, Pilpay ist ein indisches Fabelbuch für Könige, die mit jenen Aesops vergleichbar seien. Vgl. ebd., S. 440 f.
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Ferner verweist Gottsched auf den griechischen Geschichtsschreiber und Geographen Strabo, der vom Usus der Fabel in den Schulen berichtet: Bei den Persern pflegten die Lehrer „ihren Schülern die Sittenlehre in Erdichtungen vorzutragen“ (GCD, S. 438). Gottsched warnt vor gar zu deutlichen und persönlichen Satiren, auf deren Adressaten man mit dem Finger zeigen könne. Es sei besser, wenn die Lehre allgemein gehalten werde.548 Nach den Mustern der Alten müsse sich die Fabel um Kürze bemühen. La Fontaine und die neusten Fabeldichter wie La Motte und Stoppe rügt Gottsched als große Schwätzer, deren Fabeln ihm zu ausführlich und spitzfindig in der Wortwahl seien. Im zweiten Abschnitt des siebten Hauptstückes geht Gottsched auf die politischen Fabeln ein. Exemplarisch für die Alten gilt Xenophons Cyropädie, worin erzählt wird, wie Cyrus, der Begründer der Monarchie Persiens, auf seine Aufgaben als späterer Monarch vorbereitet wird. Daneben werden Werke der Neueren genannt und kurz umrissen, wie bspw. der auf Lateinisch gefasste Roman Utopia (1516) von Thomas Morus, der über bürgerliche Verfassungen der Städte eines unbekannten Landes und das besondere Geschick der Bevölkerung erzählt. Swifts Gulliver’s Travels und Mandevilles Fable of the Bees werden getadelt. Bei ersterem scheint Gullivers Pferdeland der Houyhms Gottsched unwahrscheinlich, da Swift den Pferden Handlungen andichtet, die sie mit ihren Hufen „unmöglich bewerkstelligen können“ (GCD, S. 789). Auch Mandevilles Bienenfabel entspricht nicht Gottscheds Ideal eines Dichters, der als „ein Weltweiser […] die Glückseligkeit der Menschen zu bauen trachtet […] die Parthey einer erleuchteten Religion [einnimmt], der Unschuld und Tugend das Wort [redet], die Erkenntniß, sonderlich der sittlichen Wahrheiten [befördert]; und die Ruhe des gemeinen Wesen zu erhalten [sucht]“ (GCD, S. 790). Demnach klassifiziert Gottsched Mandevilles Text weniger als „schätzbar“, sondern als „thöricht“, welcher „mit der Fabel von den Bienen, die doch auch politisch ist, wohl [hätte] zu Hause bleiben können: weil sie bloss die Verderbnis der Sitten zu befördern suchet“ (GCD, S. 790). Mit welchen Argusaugen das Schaffen der Mitstreiter oder Kontrahenten aus anderen Zentren der Aufklärung jeweils parallel zur eigenen dichterischen Arbeit betrachtet und dann sofort in privaten Briefen oder in den Wochenschriften öffentlich kommentiert wurde, illustriert der literaturkritische Wettstreit über die Aesopische Fabel zwischen den Zürchern und Lessing, der in den 1740er Jahren einsetzte und dem nun das Interesse gilt.
548 Vgl. ebd., S. 448.
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4.2.2 Im Fabelstreit mit Lessing Bodmers Pseudonym Hermann Axel, unter dem er seine ersten Fabeln in den Freymüthigen Nachrichten publizierte, lüftete er im neunten und zehnten der Critischen Briefe mit „Nachrichten von Hermann Axels Aesopischer Lehrart“ und „Hermann Axels Gedanken von der besten Verfassung der Aesopischen Fabeln“. Im neunten Brief werden neun Fabelbeispiele wiedergegeben, die mehrheitlich dem Aesop folgen und teilweise in ähnlicher oder überarbeiteter Form in den Lessingischen unaesopischen Fabeln (LUF) wieder auftreten. Davon sticht jedoch eine Fabel im Titel sowie auch in der Länge der Fabel hervor: In „Der übel gerathene Damm“ wird zwischen älteren und jüngeren Dorfmitgliedern über die Instandsetzung eines beschädigten Dammes gestritten, der ein Dorf vor dem Überlaufen eines Baches schützen sollte. Während die Dorfältesten gegen eine Erneuerung des Dammes stimmen, spricht sich ein junger Mann dafür aus, dem wilden Bach neben einer Ausbesserung des Dammes ebenfalls durch eine Erweiterung des Bachbettes entgegenzuwirken. Diesem Vorschlag wird in einer Abstimmung schließlich stattgegeben. Dass das Vorhaben bei der Umsetzung dann scheitern musste, wird mit dem Egoismus der Dorfbewohner begründet. Ob jung oder alt dachten diese nur an ihre eigenen Höfe und hegten keine Interesse für ihre Nachbarn, geschweige denn für das ganze Dorf. Die hier leise durchschimmernde Gesellschaftskritik skizziert das Ideal des Naturrechts und antizipiert Rousseaus Ideal des sozialen Paktes: Wie die Alten gedachten, so geschahe es auch. Als man das Beth breiter machen wollte, so widersetzten sich diejenigen, die dadurch an ihren Gütern etwas verliehren sollten ohne nachzudenken, dass ihr übriges desto sicherer würde. Andere, deren Börter gegen den Bach besser und in einer vortheilhaften Lage waren, so dass der Bach ihnen von den Gütern ihrer Nachbaren mehr zulegete, als ihnen selbsten wegnahm, verhinderten, dass man an denselben Orten den Damm nicht zu stark und fest machete. Und als sich endlich das Werk ein wenig in die Länge zog, ward zuletzt alles müde, man eilete mit der Arbeit zum Ende, und liess da und dort eine Lücke offen, so dass der Bach bey dem ersten Anlaufe den Damm an vielen Orten wieder einriss, und gleichen Schaden that wie zuvor.549
Im abschließenden Beispiel des neunten Briefes wird die Fabel Der Esel und der Fabeldichter eingefügt. Ein Esel beschwert sich darin bei einem Fabeldichter, dass dieser keinen Auftritt in dessen Fabeln habe: Es verdroß den Esel, daß der Fabelfänger ihn nicht mit andern Thieren in seinen Fabeln eingeführt hätte. Darum als eines Tages derselbe über den Kohlmarkt gieng, stund er ihm in
549 Johann Jakob Bodmer: Critische Briefe. Der neunte Brief (1746), S. 160.
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seinen Weg, und sagte: Du hättest mir wohl auch die Ehre beweisen und mir in deinen Fabeln ein Plätzgen einräumen können. Hast Du doch auch den Feigenbaum, den Wildfang, und den Weg selbst aufgeführt, welche eben nicht vornehmer sind, als ich selbst bin. Doch ich kann mich leicht darüber zufrieden geben. Vielleicht hättest du mich nur etwas wider meine Natur handeln oder reden lassen; du hättest mich wohl nach einer Leyer tanzen lassen, oder mich einer Cokette zum Aufwärter gegeben, und dabey meine angebohrene Ernsthaftigkeit in keine Betrachtung gezogen. Man hat mir gesagt, daß du noch wohl gröber wider die Sitten und Manieren einiger Thiere gefehlt habest. Ich habe es von guter Hand, und damit du nicht meinest, ich mache nur Wind, so will ich dir sagen, was und woher ich es weiß. Als ich jüngst von einem Hause stund, wo mein Meister Kohl und Rüben verkaufte, hörete ich den Magister Kaltbrand von deinen Fabeln reden. Der Fabelfänger, wie er sich selbst nennt, sagte er, würde viel zu thun haben, wenn er es vertheidigen wollte, daß die Wachteln über die See fliegen, der Krebs im Grafe, an einem Sumpfe herum spaziert, die Schafe und die Tauben unter einander leben, die Meisen Zizipa singen und die Lerchen Vivant rufen. Er fügte hinzu, es hätten schon einige Kaufleute Gelder zusammen geschossen, um solche Wachteln, Krebse, Schafe, Tauben, Meisen und Lerchen aus der Schweitz bringen zu lassen, sie in ihre Wälder und Wiesen zu setzen. Der Fabulist hörte diese Worte des Esels mit Gedult an, und als er ausgeredet, erwiederte er: Meine Gedanken waren niemahls dich aus meinem Fabelbuche auszuschliessen, ich wartete nur auf einen Anlaß, da ich dich mit guter Art auf die Schaubühne bringen könnte. Was dann die Urtheile über meine Fabeln anbelangt, so hast du witzig gethan, daß du sie einem Magister in den Mund geleget hast; denn hättest du sie unter deinem eigenen Namen vorgebracht, so konntest du leicht vorher sehen, daß jedermann gesagt hätte, es wären Reden eines Esels. Wegen dieser Bescheidenheit will ich dich in der ersten Fabel, die ich schreiben werde, auftreten lassen.550
Wird aus dem Esel Capriccio, ein Satyrwesen? Wie Bodmer eigene Elemente in der Eingangsfabel der LUF übernimmt, wird später gezeigt werden. Im zehnten Brief wird die Fabeltheorie der Zürcher thematisiert, die eine innovative Herangehensweise an Tierfabeln postulieren. Auf den Instinkt der Tiere vertrauend, müsse „man die Sitten nicht bei den Menschen nehmen, und den Thieren freygebig zulegen“.551 Stattdessen solle man „in dem weitläuftigen Reiche der Geschöpfe, die zwar ohne Vernunft, aber doch aus Verstand handeln eine ungemeine Mannigfaltigkeit von Sitten, Empfindungen, Neigungen, Leidenschaften“ betrachten und „zu seiner Absicht gebrauchen“.552 Dass der Mensch von den Tieren lernen könnte, wird mit der Grenze zwischen Instinkt und Vernunft begründet: „Hernach gränzet der Instinkt so nahe mit der Vernunft, die Erinnerung mit der Ueberlegung, die Empfindung mit dem Gedanken, daß sie bey einigen Thieren nur einen Grad höher seyn dürfte, so wäre es
550 Ebd., S. 161f. 551 Bodmer: Critische Briefe. Der zehnte Brief (1746), S. 167. 552 Ebd.
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Vernunft, Ueberlegung, Gedanke.“553 Offensichtlich inspiriert von Alexander Popes Essay on Man (1733/34), werden folgende Zeilen aus dem VII. Abschnitt zitiert: Twixt that and reason what a nice barrier, For ever separate, yet for ever near. Remembrance and reflection how ally’d, What thin partitions Sense from thought divide, And middle natures, how they long to join, Yet never pass th’insuperable line!554
Um „diese schmale Linie“ zwischen Instinkt und Vernunft nicht zu zerstören, sollen Tierfabeln möglichst auf einfachen Handlungen basieren, damit „ihre kleinen Verrichtungen moralisch und also tüchtig werden“.555 Sich an Gottscheds Typenlehre (vgl. oben) anlehnend, wird auch hier zwischen vernünftigen und unvernünftigen Tieren differenziert: Daher schreibt er auch den unvernünftigen Thieren, die er aufführt, niemals eine Reihe von Anschlägen zu, die in einem System, in einer Verknüpfung, stehen, und zu einem Endzwecke von weiten her angeordnet seyn. Denn dazu gehörte eine Stärke der Vernunft, welche über den Instinkt ist. Ihr Instinkt giebt nur flüchtige und dunkle Strahlen einer Vernunft von sich, die sich nicht lange empor halten kan.556
Aus dem Verständnis, Tiere seien mangels des Verstandes weit weniger komplex als Menschen, müssen Fabeln kurz gehalten werden und jeweils möglichst nur einen Charakterzug darstellen: Aus dieser Ursache werden diese Fabeln mit Thierpersonen ganz kurz, und bestehen nur aus einem sehr einfachen Anschlage, oder Anliegen. Sie reichen nicht zu, einen menschlichen Charakter in mehr als einem Lichte darzustellen; ja der Fabulist muß zufrieden sein, wenn er nur einen Zug eines Characters vorstellen kan.557
Mit dem Argument der Kürze tritt Bodmer Pater Bossu entgegen, denn es müsse klar zwischen epischer und Aesopischer Fabel differenziert werden: Es ist eine ausschweifende Idee des Pater Bossu, daß die Aesopischen Fabeln sich in dieselbe Länge, wie die epischen Fabeln ausdähnen lassen. Denn das kan nicht geschehen,
553 554 555 556 557
Ebd. Ebd., S. 167 f. Ebd., S. 168. Ebd., S. 168f. Ebd., S. 169.
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es sey denn daß man die Thiere nichts mehr von den Thieren behalten lasse, sondern sie in Menschen verwandle, welches nur in possierlichen Gedichten angehet, wo man die Thiere mit gewissem Vorsatz in Masken aufführet, und die Verrichtungen der Menschen nachäffen läst.558
Das niederdeutsche Tierepos Reinecke Fuchs (1498) über den genialen Fuchs namens Reinecke, der sich mittels perfider Boshaftigkeiten aus allen prekären Lebenslagen rettet, um sich am Ende gegen seine Widersacher durchzusetzen, wurde im 16. Jahrhundert ins Hochdeutsche übertragen und entwickelte sich zum Bestseller. 1752 übertrug Gottsched das Epos in Prosa. Goethe verfasste darauf eine Versfassung von zwölf Gesängen in Hexametern, die 1794 im 2. Band der Neuen Schriften erschien. Um sein Fabelverständnis zu untermauern, fügt Bodmer das Versepos als unaesopisches Gegenbeispiel an, wonach die Tiere hier den Menschen nachgezeichnet sind: Also hat vor etwa dreyhundert Jahren der Verfasser des Fuchses Reinicke seinen Thieren das Naturell der Menschen in seinem ganzen Umfange zugeleget, so daß sie alle Wissenschaften der Menschen besitzen, und ihr Thun und Betragen in allen Umständen bis auf die Moden der Kleidung, nachmachen. Reinike ist mit den Haushaltung- Staats- und selbst den Religionsverfassungen der Menschen so gut bekannt, als immer die Menschen seiner Zeit waren.559
Damit die Tiere ihre Glaubwürdigkeit und Wahrscheinlichkeit behalten, soll ihre Charakterzeichnung möglichst ursprünglich animalisch gehalten und weniger vermenschlicht werden: Aber in Fabeln, da man eben den Vorsatz nicht hat, die Tiere zu verwandeln, kan man ihnen mit keiner Wahrscheinlichkeit so reiche noch so tiefe Einsichten in die Wissenschaften, die Künste und Verfassungen der Menschen geben; es ist schon viel, wenn die Thiere, die einen täglichen Umgang mit den Menschen haben, einige Blicke in die äusserlichen Geschäfte derselben thun; das sicherste ist, daß man sie nicht mit tiefern Einsichten begabe, als die Wirkungen ihres Instinktes zu betrachten, zu erklären, und zu vertheidigen.560
Zum Abschluss orientiert sich Bodmer an der englischen Tradition und kommt auf John Gray (1685–1732) zu sprechen, „den Pope so zärtlich geliebt“561 und kritisiert, dass dessen Fabeltiere „nicht einmal verlarvte Menschen“ seien, sondern es sich um „offenbare Menschen“562 handle. Nach der Kritik werden vier 558 559 560 561 562
Ebd. Ebd. Ebd., S. 170. Ebd., S. 172. Ebd., S. 174.
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gekürzte Fabelbeispiele von John Gray nacherzählt: „Die Fräulein und die Wespe“, „Der Poet und die Rose“, „Der Fuchs in articulo mortis“, „Der Eber und der Widder“. Bodmer erörtert die Frage der Moralität in der Aesopischen Fabel, die sich hier als Miniatur des Charakters zeigt: Diese Moralität […] ist eben dieselbe wie in den grossen Gedichten, der Tragödie und der Epopee, sie bestehet in der Ausbildung des Charakters, der in dem Begegniß vorgestellet wird; es ist nur der Unterscheid, daß sie in der Aesopischen Fabel in kleinen Zügen und Stücken des Charakters befindlich ist, an statt, daß sie sich in jenen grossen Werken in dem ganzen Umfange eines Charakters, nach dessen verschiedenen Gesichtspunkten erzeiget.563
Die Fabeln haben einen wichtigen Stellenwert, was das Verständnis des Weltgeschehens anbelangt: Also sind diese kleinen Fabeln die erste Hälfte zur Erkenntniß des Weltlaufes, sie enthalten die allgemeinsten Anfänge dieser Wissenschaft. Ueber dieses haben sie vielfältige Lehren in sich, was lobenswürdig, was des Tadels werth ist. Lehrsätze und Ausübungssätze haben darinnen Platz.564
Ferner sind die Fabeln ein lehrreicher Spiegel, denn sie erzeugen Distanz und können den Leser zur Erkenntnis des eigenen Fehlverhaltens führen: Mancher erkennt sich selbst in der Person und den Umständen der Fabel, der sich nicht erkennete, wenn man ihm sein Conterfeit unter seinem eigenen Namen, und seinen würklichen Umständen vor Augen legete. Wenn der Mensch selber sehen soll, muß man ihn von ihm selbst entfernen und aus seinem Gesichtskreise hinaus setzen, so daß er seine eigene Gestalt als etwas fremdes ansieht, das nicht sein ist. Alsdann fällt er erst ein billiges Urtheil von sich.565
Um den Weg zur Erkenntnis zu erleichtern, soll „ein Lehrsatz zu Anfang der Fabel oder zu Ende derselben“566 gesetzt werden. Da La Fontaine die Tiere in seinen Fabeln nicht selbst die moralische Schlussrede vortragen lässt, sondern diese dem Erzähler in den Mund legt, gilt er weniger als „Fabuliste“ sondern als „Naturaliste“.567 Darauf wird „eine Idee von einer neuen Art von Fabeln entwickelt, „wo die Thiere einander Fabeln erzählen, welche sie aus dem Reiche der Menschen
563 564 565 566 567
Ebd., S. 179. Ebd., S. 180. Ebd. Ebd. Ebd.
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nehmen, wie die Menschen ihre Fabeln in dem Reiche der Thiere suchen“568, worauf drei Fabelbeispiele folgen (Der Däuber und seine Mutter, Der Affe und der Ochs, Der Enter und der Hahn), die La Fontaine nachgeahmt sind. In „Der Affe und der Ochs“ wird eine Tierfabel mit einer Menschenfabel verknüpft, die in einem konventionnellen Ton über Tradition referiert: Der Affe und der Ochs Ochs, du kanst künftig wol aus dem Brunnenbethe trinken, der Flecke, dein böser Gefelle, der es dir verwehrete, und dich nöthigte aus dem trüben Bache zu saufen, hängt todt in der Scheune, und der Schlachter schneidet ihm ein Glied nach dem andern herunter. Du wirst desto gesunder bleiben, wenn du aus dem lautern Brunnen trinkest, und wirst dich nicht so tief bücken müssen. Also sprach der Affe zu dem Ochsen, und meinte, daß, er ihm einen guten Rath gegeben hätte. Allein der Ochs hielt nicht viel auf seinen Rath, er gab ihm zur Anwort: Es sey fern, daß ich dir folge und aus dem Brunnen trinke; ich bin es nunmehr allzu lange gewohnt, aus dem Bache zu trinken, und ändere alte Sachen nicht gern. Meine Mutter hat auch immer aus dem Bache getrunken, und ich bin nicht vornehmer, als sie. Der Affe sagte: Verzeihe es mir, daß ich die Freyheit genommen, dir einen Rath zu geben; und gieng wieder zu seinen Jungen. Denselben erzählte er, was er mit dem Ochsen geredet, und fügte hinzu: Ich muß euch doch eine Geschichte erzählen, die mir bey dieser Gelegenheit wieder in den Sinn kömmt. Der Pfarrer zu Gauchlingen wollte einsmals seine Bauern bereden, daß sie die gefalteten Pluderhosen ablegen, und statt derselben enge Spitzhosen anlegen sollten. Er sagte: Ihr könnet aus dem Tuche zu ein paar Pluderhosen wenigst ein dutzend Spitzhosen machen: ihr habet an den Pluderhosen so schwer zu tragen, und sie hindern euch an der hurtigen Bewegung der Schenkel. Aber die Bauern wollten nichts davon hören, sie sagten: Die Spitzhosen sind eine Neuerung, und folglich etwas gefährliches. Es würde unsern lieben Alten eine Schande seyn, wenn wir von ihren Gebräuchen abwichen, sie wußten doch auch, was sie thaten. Unsere Nachkommen würden uns übel darum nachreden. Wir haben die Pluderhosen so gut im Vermögen, als unsre Vorfahren, und können uns darinnen so gut bewegen als sie; wir mögen sie noch wol tragen, und wenn sie noch so unbequem wären; ein schlimmes Altes ist noch weit besser, als ein gutes Neues. Nach dieser Erzählung fuhr der Affe fort: Was haltet ihr nun, meine Kinder, von unserem Ochsen, der nicht aus dem Brunnen trinken will, weil seine Mutter auch nicht daraus getrunken hat? Die jungen Affen lacheten und sagten: Der Ochs ist ein Gauchlinger.569
Diese Fabel kann als Transformation der Querelle-Debatte verstanden werden: Die Alten schneiden schlecht ab, da hier zu Gunsten der Modernen argumentiert wird. Denn in dem Ineinandergreifen beider Fabelstrukturen wird der Streit über das Alte und das Neue verbildlicht: In der Tierfabel lässt sich ein Ochse nicht von der Gewohnheit abbringen, verschmutztes Bachwasser anstelle von sauberem Brunnenwasser zu trinken. Auch wollen die Bauern sich nicht von Pfarrer Gauchlinger
568 Ebd., S. 184. 569 Ebd., S. 186f.
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belehren lassen, ihre altmodischen, schweren Pluderhosen gegen die neuartigen und einfacheren Spitzhosen einzutauschen. Darüber zieht schließlich die nächste Affen-Generation resümierend einen Vergleich und belächelt die Gewohnheiten der Alten. Das Ineinanderlaufen der beiden Fabeln verfolgt ein dialogisches Prinzip: Das eingangs verkündete Postulat, dass Menschen in den Tierfabeln von den Tieren lernen sollten, wird in der rhetorischen Argumentation umgedreht. Nun sollen Tiere aus den Fehlern der Menschen lernen. Die Mischung von Tierfabel und Menschenfabel stellt dabei eine neue Form der vermischten Fabeln dar. Exemplarisch verdeutlichen diese beiden Beiträge zu den Fabeln in den Critischen Briefen Bodmers Arbeitsweise, der sich in seiner kritischen Schriften immer an antiken, sowie an zeitgenössischen englischen und französischen Vorbildern orientiert, um daran anschließend Eigenes zu entwickeln. Abschließend werden Lukians Gespräche der Götter gestreift, deren Behandlung der Götter hier im Vergleich mit den Tierfabeln kritisiert werden: Lucianus und andere haben Gespräche der Götter geschrieben, wo ihre Würde öfters übel betrachtet wird; sie sind darinnen den Leidenschaften so stark unterworfen, als die Menschen, und ihre Neigungen sind nicht besser noch ruhiger als die Menschen. Man hat sie so vorgestellet, wie man sie in der Mythologie gefunden hat, und geglaubt, die Menschen zu verbessern, sey es erlaubt, die Laster der Menschen an den Göttern selbst durchzuziehen. Wie dem seyn mag, so haben die Thiere ohne Zweifel ein besseres Recht, einander durch die schlimmen Exempel der Menschen zu bestrafen, und zu verbessern, als die Menschen haben, sich an den Exempeln derer zu stossen, welche sie von den Göttern verehrten. Und die Bestraffungen [!], welche durch die Thiere geschehen, die so tief unter den Menschen stehen, sollten einen desto stärkeren Eindruck auf diese machen, wenn sie einander die schlimmen Exempel der Menschen vorhalten, als es schlimpflicher ist, thörigter als die Tiere zu seyn.570
Bodmers Auseinandersetzung mit Lukians Götter- und Totengesprächen, die vorab schon im französischen und englischen Sprachraum von Fontenelle und Lyttelton neu bearbeitet wurden, findet in seinen Gesprächen im Elysium und am Acheron statt (vgl. Kapitel 3.5.4). In die in Frankreich initiierte theoretische Diskussion über die Fabel bringt sich Breitinger im 7. Abschnitt der Critischen Dichtkunst der „Esopischen Fabel“ ein und deutet die Fabel „als eine Erinnerung, die unter die Allegorie einer Handlung verstecket wird“, die in der Absicht als „eine historisch-symbolische Morale, die durch fremde Beyspiele Klugheit lehret […] eine gantze Reihe von allegori-
570 Bodmer: Critische Briefe. Der zehnte Brief (1746), S. 188f.
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schen Exempeln“ erzeugt.571 Darauf wird die Fabel als menschlicher Körper beschrieben: Da nun die Fabel ihre Lehre nicht anders als verdeckt unter einer ähnlichen symbolischen Erzählung vorstellet, so hat folglich eine jede Fabel zween wesentliche Haupttheile, aus welchen sie bestehet; derer einer in die äusserlichen Sinnen fällt, und gantz sichtbar ist, der andere aber durch die Vergleichung und das Nachdenken entdecket wird. Jenen, nemlich den sichtbaren Theil, können wir füglich den Cörper der Fabel nennen, wie hingegen den unsichtbaren die Seele. Die Lehre ist also die Seele der Fabel, da die Erzählung nur der Cörper davon ist. (BCD, S. 169)
Nach der religiösen Vorstellung über die Unsterblichkeit der Seele, mit welcher die Lehre gleichgesetzt wird, ist die Fabelerzählung, wie die Vergänglichkeit der Körperhülle, zweitrangig: Die menschliche Seele ist unstreitig der vornehmere Haupttheil, in dessen Gebrauche auch der Mensch seine grösste Würde suchen muß; der Cörper hingegen muß alleine dienen, die Würkungen der Seele zu offenbaren, und sie zu dem Commercio mit der materialistischen Welt tüchtig zu machen; eben so ist die Lehre die Haupt-Absicht der Fabel, und die Erzehlung wird alleine um die Lehre willen erfunden, selbige gantz sichtbar, und auch den Sinnen und der Einbildung vernehmlich zu machen. (BCD, S. 169f.)
Das Leibniz-Wolff’sche Leib-Seele-Prinzip auf der Suche nach Harmonie wird sodann auf die Fabel appliziert: Wie nun die Vereinigung dieser zween Haupttheile, der Seele und des Leibes, die in einer vollkommenen Harmonie ihrer Empfindungen und Würckungen bestehet, erst einen Menschen ausmachet, bestehet auf gleiche Weise das Wesen der Fabel darinnen, daß die Erzehlung in ihren Umständen, eben wie der Menschliche Cörpter durch seine Bewegungen, die Schlüsse und den Willen der Seele so deutlich zu offenbaren aufgelegt sey, daß man den moralischen Lehrsatz, in welchem die gantze Erzehlung als ein Beyspiel und eine Erfahung gegründet ist, aus derselben unzweifelhaft ersehen könne. (BCD, S. 170)
In der Metaphorik des Körpers fortfahrend, kulminiert der einheitliche Zusammenhang der Fabel in einem Punkte des Gesichts: Und hierinnen bestehet die Einheit der Fabel, wenn nemlich alle Züge und Linien derselben in einem gewissen Gesichts-Punct mit einander übereintreffen. (BCD, S. 171)
571 Breitinger: Critische Dichtkunst. 2 Bde. Zürich 1740. Hg. von Wolfgang Bender. Faksimiledruck. Stuttgart 1966, S. 168f.; worauf im Text mit der Sigle (BCD) verwiesen wird.
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Der Fabulist unterscheidet sich vom Geschichtsschreiber, der eine Begebenheit bezeugt, dahingehend, dass er „die Erbauung und Verbesserung des Menschen“ (ebd.) beabsichtigt. Während der der Wahrheit verpflichtete Historiker die Geschichte beschreibt, muss der Fabelerzähler eine mögliche Erzählung, d. h. „das Kleid oder die Maske“ (BCD, S. 171), wählen, um den Lehrsatz zu verdeutlichen. Die Erzählung fungiert als Allegorie oder als ein moralisches Beispiel und gründet in einem allgemeinen Lehrsatz, zu welchem sie den Leser hinführt (vgl. BCD, S. 172). Dem Harmoniekonzept von Körper und Seele entsprechend soll die Fabellehre laut Breitinger leicht ersichtlich sein: Gleichwie man nemlich eben wegen dieser genauen Harmonie und Vereinigung des menschlichen Cörpers mit der Seele, aus denen blossen Bewegungen und Verrichtungen des Cörpers die verborgenen Gedanken, die Schlüsse und den Zustand, der Seele deutlich erkennen kan; also sollte man auf gleiche Weise aus der Erzehlung, als dem Cörper einer Fabel, und aus den Umständen der ähnlichen Handlung, die darunter verborgene Lehre leicht und ohne tiefes Nachsinnen entdecken können. Diesemnach wäre es gantz unnöthig und überflüssig, die Lehre der Fabel mit ausdrücklichen Worten beyzusetzen; und man könnte das mit gutem Grunde eines jeden eigenem Nachdenken überlassen, weil nicht zu befahren ist, wenn die Wahl und die Erfindung der Allegorie glücklich getroffen, das jemand das Ziel verfehlen würde. (BCD, S. 173)
Und hier kann Breitinger an Aesop, den er als einen „allegorischen SittenRichter“ versteht, anknüpfen, der „nicht nöthig gehabt die Lehren selbst anzuhengen“, da er „die Lehren in dem Bilde eingeschlossen hatte, und […] dem Zuhörer die Freude [ließ], sie daraus zu ziehen“ (BCD, S. 173f.). Nach dem Wechsel der Rezeption vom Zuhörer zum Leser rät Breitinger dem Fabelerzähler, die Lehrsätze an den Schluss der Fabel zu setzen, um den Akt des Lesens zu vereinfachen: […] so mag es nichts schaden, wenn der Fabulist die Bemühung seiner Leser um etwas zu erleichtern, und ihnen auf die Spur zu helffen, oder wenigstens sie von ihren glücklich gemachten Entdeckungen zu versichern, die in der Fabel gegründete Lehre mit ausdrücklichen und bequemen Worten aussetzet; jedoch nicht ehender als am Ende. (BCD, S. 174)
und fährt fort: Auf diese Weise wird der Geist des Lesers angenehm geübet, und ihm überlassen, sich selbst in dem ähnlichen Beyspiele zu finden, und darinnen seine wahre Gestalt als in einem hellen Spiegel zu erkennen. (BCD, S. 175)
Von Aesop abweichend, hatte Phaedrus die Lehren jeweils an „das Haupt“ (BCD, S. 175) der Fabel gestellt. Im Vergleich mit der allegorischen Erzählweise des Sokrates soll die Allegorie in der Fabel den Geist des Menschen herausfordern, mehr zu sehen, „als man ihm zeiget“ und „indem er entdecket, was einigermas-
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sen verhüllet war, hält er sich selbst auf gewisse Weise vor den Erfinder dessen, was man ihm verborgen hatte“ (BCD, S. 178f.). Die Fabeln bedienen sich eines Kunstgriffes, den schon Sokrates in seinen Gesprächen angewandt hatte, wenn mittels einer ähnlichen, aber leicht verfremdeten Geschichte den Gesprächspartnern jeweils ihre eigene serviert wird, und diese dann dazu ermuntert bzw. gezwungen wurden, „einen Schluß wider sich selbst abzufassen“ (BCD, S. 179). Im intendierten Akt des Lesens der Fabel geschieht Ähnliches: Die Fabeln thun ein gleiches, sie stellen dem Leser eine Erzehlung vor, und beschäftigen ihn mit der Sorge, sich selbst darinnen zu finden; die Bestraffung, die er genöthigt wird, in dieser ähnlichen Abbildung sich selbst zu geben, scheinet nicht geradenweges von des Verfassers Absicht herzurühren, sondern hat das Ansehen einer Folge, die der Leser selbst durch seinen Fleiß und seine Scharfsinnigkeit daraus gezogen und sich zugeeignet hat. (BCD, S. 179f.)
Breitingers Fabellehre geht ferner auf die Machart von Fabeln nach dem Beispiele des Aesops ein: Da schon „Esopus Fabeln zum Unterrichte des gemeinen bürgerlichen Lebens“ gedacht waren, beinhalteten „seine Lehren meistens gantz bekannte Sätze und Lebens-Regeln“, deren Allegorie den „gantz gewohnte[n] Handlungen der Menschen“ entlehnt waren (BCD, S. 187). Um nun den Leser trotz der gewohnten allgemeinen Handlungen zu reizen, erhalten die Fabeln einen Zug des Wunderbaren, der sich entweder in der Handlung oder in der Zeichnung der Figuren, den beiden Komponenten der Fabelerzählung, niederschlägt. Als weitere Figuren treten „Göttern und Genios“ sowie Allegorien der „Tugenden“ und der „Kräfte der Seele, das Glück, die Gelegenheit“ auf. Daneben Tiere, Pflanzen und „noch geringere Wesen, nemlich die leblosen Geschöpfe, zu der höheren Natur der vernünftigen Wesen“ erhoben, „indem man ihnen menschliche Vernunft und Rede mittheilete, damit sie also fähig würden, uns ihren Zustand und ihre Begegnisse in einer uns vernehmlichen Sprache zu erklären, und durch ihr Exempel von ähnlichen moralischen Handlungen unsre Lehrer abzugeben“ (BCD, S. 184f.). Bei der Erzeugung von Distanz oder Verfremdung der bekannten Verhältnisse kommen „verschiedene Grade“ (BCD, S. 187) des Wunderbaren zum Zuge. Breitinger unterteilt in menschliche und wunderbare Fabeln. In den menschlichen Fabeln treten „ordentliche Menschen“ auf, die „nach ihrer Natur, Stand und Fähigkeit, als vernünftige und moralische Wesen reden und handeln; das Wunderbare muß hier alleine in der Beschaffenheit und dem Unvermutheten der Handlung gesucht werden“ (BCD, S. 188). Daneben umfassen die wunderbaren Fabeln entweder „göttliche oder thierische Fabeln“ bzw. auch vermischte Fabeln, deren Geschöpfe „von gantz ungleicher Art und Würdigkeit in ein Gespräche oder eine Handlung“ (BCD, S. 188) miteinander verbunden sind.
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Breitinger berücksichtigt die aristotelische Unterscheidung zwischen großer bzw. „erhabener“ epische Fabel und der kleinen Aesopischen: Die epische Fabel hat eine grosse und wichtige, meistens politische Wahrheit, an deren Beobachtung nicht nur die Wohlfahrt einzelner Menschen, sondern das Heil gantzer Völcker hängt, zur Haupt-Absicht; die Haupt-Personen sind darum keine schlechten Menschen, sondern berühmte Helden von hohem Gemüthe und Character; und die Handlung muß, der symbolischen Absicht gemäß, auch groß und wichtig seyn, die sich durch mancherley unvermuthete Zufälle und Verwirrungen nach und nach entwickelt; und in welcher durch die Zwischenkunft und den Beystand der Götter die Würdigket der menschlichen Personen nicht wenig erhoben wird. (BCD, S. 197f.)
Dem gegenüber betont er beim kurzen epischen Gedicht der Aesopischen Fabel die formale Kürze des Textes: Die esopische Fabel hergegen regieret das gemein bürgerliche Leben der Menschen; darum sind auch die Personen gemeiniglich, eben wie ihre Geschäfte und Verrichtungen an sich selbst betrachtet von keinem grossen Ansehn; und um eben dieser Ursache willen kan die esopische Fabel keine grosse Weitläufigkeit vertragen. (BCD, S. 198)
In der „esopischen“ Fabel treten „heidnische Gottheiten, phantastische Wesen, Thiere, Pflanzen oder gar leblose Dinge, als vernünftige Personen“ auf, in denen „das Wunderbare so sehr [überwiegt], daß das Wahrscheinliche davon beynahe verschlungen wird“ (ebd.) bzw. auf „einem angenehmen und sehr gewohnten Betrug unserer Einbildung“ (BCD, S. 199) beruht. Aus diesem Grund könne die „esopische Fabel keine grosse Weitläufigkeit vertragen“ (BCD, S. 198). Auch Lessing hatte sich zeitlebens mit der Fabelgattung, beschäftigt, wovon die posthum erschienenen Fragmente Über den Aesopus und Über den Phäder572 sowie Zur Geschichte der Aesopischen Fabel573 zeugen. Folgten Lessings frühe Fabeln von 1747 bis 1751 der gereimten Tradition des modernen französischen Vorbilds Jean de La Fontaine und dessen deutschen Nachfolgern Friedrich von Hagedorn, Christian Fürchtegott Gellert und Johann Wilhelm Ludwig Gleim, so sind in der Folge knapp pointierte Prosafabeln entstanden, die sich vom opulenten und ausgeschmückten Stil La Fontaines distanzieren.
572 Lessing: Über den Aesopus und Über den Phäder. In: Ders.: Werke. Hg. von Gunter E. Grimm. Bd. 4. Frankfurt am Main, S. 415–432. 573 Lessing: Zur Geschichte der Aesopischen Fabel. Ein Fragment, aufgefunden und kommentiert von John F. Reynolds, unter Mitarbeit von Dieter Matthes. In: Lessing Yearbook 19 (1987), S. 1–38. Vgl. dazu Monika Fick: Lessing-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 22004, S. 181–199, hier S. 181f.
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Lessings Fabeln in drei Büchern, nebst Abhandlungen mit dieser Dichtung verwandten Inhalts erscheinen Mitte November 1759. Die Fabeln des zweiten Buches, die in 26 Fabeln auf Aesop und die lateinischen Versadaptionen des römischen Phaedrus zurückgreifen, beziehen sich auf Lessings Ausführungen der fünften Abhandlung, jene des dritten Buches auf die dritte Abhandlung. Zu den weiteren Quellen der Fabeln, die Lessing im ersten und dritten Buch berücksichtigte, gehören die 17 Bücher von Tiergeschichten, den Perì zóon idiótetos (Über die Natur der Tiere) des römischen Sophisten und Rhetoriklehrers Claudius Aelianus (2. Jh. n. Chr.), die Metamorphosen des Antonius Liberalis, Mythograph aus der Ära der Antoninen sowie das byzantinische Suda-Lexikon.574 Mit der symmetrischen Einteilung der Fabeln in drei Bücher zu je dreißig Fabeln folgt Lessing der klassischen Fabeltradition und halbiert wiederum die sechs Bücher des modernen Klassikers La Fontaine. In der Vorrede weist Lessing der Fabel, „diesem gemeinschaftlichen Raine der Poesie und der Moral“,575 einen Zwischenbereich zwischen Dichtung und Didaktik zu. In den Abhandlungen wird die Fabel als die kompakteste Form der Didaktik und nicht zur Poesie gehörende Lehrdichtung verstanden. Dabei bleibt Lessing in der Formulierung der Lehre zurückhaltend. Bekanntlich pflegte sich Lessing sehr akribisch mit Freund und Feind auseinander zu setzen: So werden in der ersten Fabelhandlung Theorien und Definitionen von La Motte, Richer, Breitinger und Batteux kritisch erörtert, wobei
574 Antonius Liberalis ist der Autor einer Sammlung kleinerer mythischer Verwandlungsgeschichten (Metamorphosen), die in dem Codex Palatinus überliefert ist. Man kennt nicht mehr als den Namen, der in das 2. bis 3. Jh. n. Chr. weist. Vgl. Der Neue Pauly, Bd. 1, S. 805. Suda oder Suidas heißt ein byzantinisches Reallexikon, eines der wichtigsten Quellenwerke aus dem 10. Jh. n. Chr. Lessing nahm, wie es üblich war, den Titel für den Verfasser. Die Bedeutung von Suda ist noch nicht geklärt. Claudius Aelianus (um 170 n. Chr.), der Stoa nahestehend, trägt in seiner Sammlung von Tiergeschichten ausgefallene Merkwürdigkeiten zur Unterhaltung vor, hebt aber auch hin und wieder den „moralischen Zeigefinger“. Vgl. Art. ,Claudius Ailianus‘. In: Der Kleine Pauly, Bd. 1, Sp. 172 f. 575 Lessing: Vorrede zu den Fabeln. In: Ders.: Werke. Bd. 4. Frankfurt am Main 1997, S. 298. Im Folgenden wird diese Ausgabe mit der Sigle (LF) im Text zitiert. Ab 1764 begann Lessing seine Fabeln in Verse zu setzen, welche aber mit jener ominösen Kiste 1775 verloren gingen, worüber sich Lessing in einem Brief an seinen Bruder Karl beklagt: „Es waren an die vierzig neue Fabeln darin, von denen ich keine einzige wieder herstellen kann“ (Bd. XI/2, S. 787). Karl berichtete darüber in seiner Lessing-Biographie: „Er hatte seine Aesopischen Fabeln, so wie wir sie jetzt in Prosa haben, fast alle versifiziert und das für sie getan, was Phädrus für die Aesopischen, ohne sie eben an manchen Stellen zu verschlechtern. Allein sie sind alle mit denen, welche er neu dazu erfunden hatte, in einer Kiste verloren gegangen.“ Vgl. Karl Gotthelf Lessing (Hg.): Gotthold Ephraim Lessings Leben nebst seinem noch übrigen litterarischen Nachlasse. Bd. 2. Ann Arbor 1981, S. 314.
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auffällt, dass er, wie Monika Fick vermutet, aus „Abgrenzungsnöte[n] dem Rivalen gegenüber“,576 Gottsched übergeht, bevor er dann seine eigene Theorie, der Wolff’schen Deduktions- und Demonstrations-Philosophie folgend, prägnant formuliert: Wenn wir einen allgemeinen moralischen Satz auf einen besonderen Fall zurückführen, diesem besonderen Fall die Wirklichkeit erteilen, und eine Geschichte daraus erdichten, in welcher man den allgemeinen Satz anschauend erkennt: so heißt diese Erdichtung eine Fabel.577
Sich an Wolff anlehnend, der die Fabel als moralisches Exempel versteht, erachtet auch Lessing die Fabel in Zwitterstellung als halbliterarische und didaktische Gattung. Wie schon Gottsched und Breitinger bezieht er sich mit dem Begriff der „anschauenden Erkenntnis“ (cognitio intuitiva)578 in seiner Fabeltheorie ebenfalls auf Christian Wolffs Thematisierung der Aesopischen Fabel. Diese wird hinsichtlich der handlungswirksamen Erkenntnisfähigkeit im zweiten Kapitel des zweiten Teils der Philosophia practica universalis (1738) thematisiert.579 Damit der Mensch aktiv wird und handelt, muss der Intellekt mit den anderen kognitiven Fähigkeiten in eine harmonische Balance gebracht werden. Diese Konsensfindung basiert auf der Intuition, d. h. die intellektuelle Erkenntnis ist den Sinnen und der Vorstellungs- bzw. Einbildungskraft unterworfen.580 In Wolffs praktischer Philosophie, die sich von arithmetischen, geometrischen und physikalischen Denkweisen inspirieren lässt, wird das Exempel erklärt, wie in einem besonderen intuitiv erkannten Fall etwas Allgemeines veranschaulicht wird. Wolffs geometrische Theorie des moralischen Handelns wird anhand von Aesops Fabeln als didaktisches Konzept entwickelt, welches Lessing als stilistisches Ideal in seiner poetischen Fabellehre aufnimmt. Lessing untersucht Wolffs
576 Fick: Lessing-Handbuch. 22004, S. 185. 577 Lessing: Abhandlungen zur Fabel 1. In: Ders.: Werke. Hg. von Gunter E. Grimm. Bd. 4. Frankfurt am Main 1997, S. 376. 578 Dietrich Harth unterstreicht Wolffs Einfluss auf Lessing, der sich wie Wolff auf die Wirkung der Fabel und deren lebendigen, d. h. motivierenden Erkenntnis konzentriere. Vgl. Dietrich Hart: Christian Wolffs Begründung des Exempel- und Fabelgebrauchs im Rahmen der Praktischen Philosophie. In: DVjs 52 (1978), S. 4–62. Vgl. hier Caroline Torra-Mattenklott: The Fable as a Figure. Christian Wolff’s Geometric Fable Theory and Its Creative Reception by Lessing and Herder. In: Science in Context 18 (2005), S. 525–552. 579 Vgl. Christian Wolff: Philosophia practica universalis (1739). Bd. 2. Frankfurt und Leipzig 1979, §§ 302–322. 580 Vgl. Torra-Mattenklott, The Fable as Figure, 2005, S. 528; vgl. zum Begriff consensus: Wolff: Philosophia practica universalis. 1979, § 299.
228
Poetische Palimpseste
Begriff der sinnlichen Intuition des Syllogismus noch eingehender in seiner Laokoon-Schrift. Wolffs Gedankengebäude bedient sich immer wieder geometrischer Figuren. Sich an Isaac Barrows Lectiones geometricae anlehnend, definiert Wolff in den Anfangsgründen aller mathematischen Wissenschaften (21750, 1973) die Linie als Bewegungspunkt, die Fläche als bewegliche Linie und den Körper als bewegliche Fläche. Und wenn Punkte, Linien und Flächen in allen Formen kombiniert werden, dann können problemlos alle Begriffe gefunden werden wie bspw. in § 28. Lessing verfolgt die Wolff’sche Idee des Verständnisses auf einem Blick. Demnach ist die Fabel „nicht nur ein Instrument, das die ,anschauende‘, d. h. klare, unmittelbare Erkenntnis eines moralischen Satzes ermöglicht, sondern ein Mittel, das den Willen lenkt und beeinflusst. Die anschauend erkannte Wahrheit soll im Handeln wirksam werden.“581 Beim allgemeinen moralischen Satz, den der Leser in der Fabel „anschauend“ erkennen soll, ist weniger eine Morallehre im engeren Sinn gemeint, sondern eine praktische Lebenswahrheit, die ohne weiteres in eine Handlung transponiert werden kann. In seiner Fabeltheorie versuchte Lessing eine möglichst präzise Typologie der einfachen und zusammengesetzten Fabeln zu erstellen. Wird in der einfachen Variante die Lehre in eine knappe Handlung geschlossen, deren Elemente eine unmittelbare Bedeutung aufweisen wie in der Aesopischen Fabel, so treten allegorische Elemente nur in der zusammengesetzten Fabel auf: In der Fabel wird nicht eine jede Wahrheit, sondern ein allgemeiner moralischer Satz, nicht unter die Allegorie einer Handlung, sondern auf einen einzeln Fall, nicht versteckt oder verkleidet, sondern so zurückgeführt, dass ich, nicht bloß einige Ähnlichkeiten mit dem moralischen Satze in ihm entdecke, sondern diesen ganz anschauend darin erkenne.582
Lessings Fabeln in pointierter Prosa bestechen durch geschliffene Dialoge. Die typisierende Charakterisierung der Tiere, an welcher Gottsched noch festgehalten hatte, unterläuft Lessing mittels einer neuen Individualisierung. Überraschungseffekte werden, wie beispielsweise in Der Rabe und der Fuchs, bewusst von den vertrauten Mustern des Aesop abweichend, eingeflochten, wenn nun der traditionell schlaue Fuchs aufgrund des vergifteten Käsestücks bei Lessing sterben muss.583 Seine Arbeit zu den Fabeln verbindet poetologische Reflexion mit der
581 Wilfried Barner: Lessing: Epoche – Werk – Wirkung. München 41981. 582 Lessing: Abhandlungen zur Fabel 1. 1997, S. 369. 583 Dass ein Fuchs, der Käse begehre, ein merkwürdiger Fuchs sei, veranlasste Hugo Loetscher in seiner zeitgenössischen poetisch-poetologischen Fabelabhandlung zu folgendem kulturkritischen Kommentar in Schweizer Sache: „Lässt der Rabe den Käse fallen, schiebt ihn der Fuchs beiseite, wischt ihn mit dem Schwanz in den Bach, was den Raben erst recht erbost. Der Fuchs
Emblematik und Theatrum mundi in den Fabeln
229
eigenen Produktion und verdeutlicht, wie Dichtung letzten Endes immer eine Frucht der literarischen Kritik ist. In Abwendung von antiken Vorbildern und französischen Leitbildern setzte Lessing mit seinen Fabeln neue Maßstäbe und war parallel um klare Begriffsbestimmungen in seiner theoretischen Darlegung in den Fabelabhandlungen bemüht. Inhaltlich widmen sich seine Fabeln der literarischen Kritik, der Wissenschafts- und Sozialkritik sowie den allgemein menschlichen Problemen.
4.2.3 Capriccio und Plagiat Wann immer sich Dichter mit den alten Fabelmodellen des Aesop und des Phäder messen wollten, entging dies Bodmer nicht. Seine auf Lessing respondierende Gegenschrift kündigte Bodmer darauf im Brief Mitte Dezember 1759 seinem bei Potsdam lebenden Freund Johann Georg Sulzer an: Man ist überdies im Begriffe, seinen Fabeln andere von der Façon der seinen entgegenzustellen: Lessingische unaesopische Fabeln sinnreiche Sprüche und Einfälle der Thiere, die öfters seine Fabeln auf den Kopf stellen. Daneben arbeitet man an einer Untersuchung seiner paralogistischen großthuenden Abhandlung von Fabeln. Wenn drei Unzen bon sens bei ihm und seinen Anbetern sind, so müssen sie sich selber verächtlich werden. Aber ihre Unverschämtheit behütet sie davor. Gottsched soll mir lieber sein, weil ich immer sehe, daß bei ihm bêtise ist, was bei Lessing Bosheit scheint.584
Einen guten Monat später doppelte Bodmer in kriegerischer Metaphorik im Brief vom 31. Januar 1760 nochmals nach: […] wir haben ihm noch (d. h. neben dem Polytimet) eine Mine gegraben, die auf die Obermesse springen soll, wir, d. h. der Chorherr (Breitinger) und ich. Jedoch ohne daß wir compariren. Wir denken doch immer im Reiche der Dummheit Abbruch zu thun.585
Diese „Mine“ spendete der Fortsetzung des Literaturstreits Zunder, als endlich 1760 die Lessingischen unaesopischen Fabeln. Enthaltend die sinnreichen Einfälle und weisen Sprüche der Thiere. Nebst damit einschlagender Untersuchung der Abhandlung Herrn Leßings von der Kunst Fabeln zu verfertigen anonym bei Orell
gönnt schlicht und einfach dem Raben den Käse nicht: „Da könnte ja jeder kommen und ein Stück Käse im Schnabel haben. Mit dieser demokratisch ausgleichenden Mißgunst gewänne man die schweizerische Variante der Fabel.“ In: Hugo Loetscher: Der predigende Hahn. Das literarischmoralische Nutztier. Zürich 1992, S. 210. 584 Baechtold: Geschichte der Deutschen Literatur in der Schweiz. 1892, S. 657. 585 Ebd.
230
Poetische Palimpseste
und Compagnie in Zürich erschienen sind. Diese größte Gegenschrift auf Lessing war ein Gemeinschaftswerk der Zürcher Freunde: Während die Vorrede und die drei Fabelbücher Bodmers Hand entstammten, von denen einige vorab in den Critischen Briefen veröffentlicht wurden, war Breitinger der Verfasser des zweiten, theoretischen Teils. In einer systematischen Auseinandersetzung mit Lessings Abhandlungen untersuchte Breitinger in acht Kapiteln Handlung, Aufbau, Allegorie, Wesen, Wirkung und das Wunderbare in der Fabel. Ähnlich wie Bodmer schon Daniel Stoppe vorgeworfen hatte, die Fabelkunst zu vereinfachen, hielt nun Breitinger Lessing vor, die Fabelkunst als ein allzu leichtes Handwerk anzusehen, wenn er dessen Theorie „in der Formel eines Recepts“ zusammenfasst, womit er auf Lessings prägnant formulierten theoretischen Fabelsatz rekurriert: Willst du eine gute Fabel machen, so nimm einen allgemeinen moralischen Saz; 2.) führe denselben auf einen besonderen Fall zurück; 3.) diesem besonderen Falle theile die Wirklichkeit mit; 4) dichte eine Geschichte heraus, die den allgemeine Saz zur Intuition darstellet. – So hast du eine Fabel! Oder umgekehrt (denn so hat Herr Lessing wahrscheinlich seine Fabeln erfunden,): Nimm einen besonderen Fall. 2.) Bringe denselben in eine besondere Geschichte. 3.) Erzähle ihn als ob er wirklich geschehen wäre. 4.) Ziehe daraus einen allgemeinen moralischen Satz. – So hast du eine Fabel.586
Darauf wird das Fabelverständnis der Zürcher erörtert, welches neben Christian Wolff von Pierre Bayle oder Gottfried Wilhelm Leibniz beeinflusst war. Was der grosse Leibniz in seiner Theodicée im II. Theile Bl. 148 von der Poesie überhaupt gesagt hat, que le but principal de la poësie doit être, d’enseigner la prudence et la vertu, das gilt von dieser Art der Poesie, nemlich von der Fabel, im strengeren Sinne; Sie ist ganz alleine, mit Ausschliessung aller anderer Wissenschaften, der Morale geweihet: Und auch dieser ganz besondere Zwek unterscheidet sie nicht allein von dem Exempel, sondern auch der Parabel und der Allegorie. (LUF, S. 302)
Mit dieser moralphilosophischen Verortung der Fabel bei Leibniz wird Lessings Fabeltheorie entgegen getreten, die zwischen einfachen und zusammengesetzten, d. h. allegorischen Fabeln unterscheidet. Breitinger ist mit dieser Unterteilung nicht einverstanden, da Lessing sich unbegründet von den Traditionen absetzt: Einen anderen Beweis für die Neuheit dieser Theorie leite ich daher, daß Herr Lessing in seiner Abhandlung alle von des Aristoteles bis auf Batteux Zeiten erfundene Fabeltheorien mit seiner schlichenen Eintheilung über einen Haufen wirft, und auf die Ruinen derselben
586 Breitinger: Untersuchungen von Herrn Lessings Abhandlungen. In: Bodmer: Lessingische unäsopische Fabeln. Zürich 1760, S. 206 f. Im Folgenden im Text mit der Sigle (LUF) abgekürzt.
Emblematik und Theatrum mundi in den Fabeln
231
sein neues Fabeltheater aufbauet. Er läßt in dem ersten Abschnitte den la Motte, Richer, Breitinger, Batteux, der Ordnung nach auftreten, und verurtheilet ihre Erklärungen von der Aesopischen Fabel; und damit zugleich (aber unwissend) die Erklärung, welche Plutarch, Strabo, Philostrat, Scaliger, und Bossu davon zuerst gegeben haben, von welchen der leztere ausdrücklich sagt: La fable est un discours inventé pour former les moeurs par des instructions déguisées sous les Allegories d’une Action. (LUF, S. 212f.)
Breitinger verwendet die Allegorie als einen „Terminus Relationis“ (LUF, S. 246) und unterstreicht, dass der Vergleich eines ähnlichen persönlichen Falles vom Leser gestellt werden muss. Denn in der Verbildlichung der Allegorie muss der Leser den Bezug zum „eigenen wirklichen Fall“ selbst ziehen, so dass die Wirkung der Fabel einsetzen kann: Es ist also sehr übel geschlossen, wenn Herr Lessing Bl. 127. das Wort Allegorie als ein müssiges, überflüssiges Wort darum aus der Erklärung der Fabel verdrängen will, weil die Fabel, in so fern sie eine allgemeine moralische Lehre enthält, nicht an und für sich selbst allegorisch ist, sondern erst allegorisch wird, wenn ich dem erdichteten Falle eine ähnlichen wirklichen Fall entgegen stelle. (LUF, S. 245)
Auch Bodmer begegnet Lessings Fabelansatz kritisch. Gemäß der Tradition der Prolog- und Epilogdichtung, haben die Eingangs- und Schlussfabeln jedes Buches programmatischen Charakter. Wie schon bei Lessing jeweils die erste und die letzte Fabel jeden Buches poetologischen Inhalts ist und die Reflexion über die Fabel die jeweiligen Fabelbücher umrahmt, so arbeitet Bodmer mit dem gleichen Konturstift an diesen prägnanten Stellen seiner Fabelbücher. Für einen allgemeinen Überblick zu Bodmers Fabelbeispielen der drei Bücher Lessingische unäsopische Fabeln mit ihren jeweiligen Bezügen sei folgende tabellarische Darstellung eine Hilfe.
Bodmer: Erstes Buch
Lessing-Bezüge
Andere Quellenbezüge
1. Die neue Fabeltheorie
I.1. Die Erscheinung I. Abhandlung
Cevae puer Julius. Lib. II: „ictoribus ille Interdum assistens operi nec segnius instans Vatibus, ante alios musis gratissimus hospes.“
2. Sich selbst zur Last seyn
–
Horaz: Satire. 3. Lib. II: „Si quis lectica nitidam geltare amet agnam & c.“
3. Der Zufriedene in anderer Zufriedenheit
I.13. Der Phönix
232
Poetische Palimpseste
Bodmer: Erstes Buch
Lessing-Bezüge
Andere Quellenbezüge
4. Die Leichtgläubigkeit und der Unglauben
–
Christoph Martin Wieland (Hg.): Moralische Beobachtungen und Urtheile, S. 56: „Von den Volontairs im Glauben.“ Jean Jacques Rousseau: Dernière Réponse. (1752), S. 154, Note: „Il y a des vérités très certaines qui au premier coup d’oeil passeront toujours pour telles auprès de la plupart des gens.“
5. Das unvermeidliche Schicksal
–
Domenico Lazzarini (1668–1734): Ulisse il giovane (1719): „E molte volte ancor per quelle vie Ler cui fugge il destin altri l’incontra.“
6. Das erbetene Unglück
–
Aesop. 181.
7. Die verschiedenen Vorstellungen
–
Wolfram von Eschenbach: Parzival (mittelhochdeutscher Versroman, 13. Jh.)
8. Die Mässigung in dem Genusse
–
–
9. Der Werth der Nüzlichern.
II.19. Der Sperling und der Strauß
–
10. Die Verachtung des Guten, II.21. Die Traube das man nicht hat Aesop. 156, Phaedrus IV. 2
–
11. Die theure Erkenntnis
–
–
12. Unempfindlichkeit ist nicht strenge Zucht
II.28. Die Furien
Rousseau: Dernière Réponse (1752), S. 162, Note: „On a peine à concevoir comment la chasteté a pu devenir une vertu basse & monacale, capable de rendre ridicule.“
13. Die nutzlichere Arbeit
III.24. Die Schwalbe
–
14. Die verkennte Gabe
II.24. Die Ziegen Phaedrus IV. 15
–
15. Der übelverstandene Dienst
II.27. Der Dornenstrauch Aesop. 42
–
16. Die unverschämte Undankbarkeit
–
–
Emblematik und Theatrum mundi in den Fabeln
Bodmer: Erstes Buch
Lessing-Bezüge
17. Der übel vertheidigte Undank
II.3. Der Knabe und – die Schlange Aesop. 170, Phaedrus IV. 18
18. Die Vorwerfung natürlicher Fehler
I.3. Der Löwe und der Hase Aelianus
19. Die Einbildung des Stolzes I.17. Die Sperlinge
233
Andere Quellenbezüge
–
–
20. Der Schadenfroh
–
–
21. Die Hand des Meisters
–
–
22. Der Nuzen des Gebrauches –
–
23. Die Truppen von verschiedenen Nationen
–
–
24. Die Strafe der Bosheit
–
Aesop. 3. Fabel.
25. Der kindliche Held
–
Moses Mendelssohn, Friedrich Nicolai (Hg.): Bibliothek der schönen Wissenschaften von Berlin, II. St., S. 313: „Philotas ist ein Original, das zur Denkungsart der Deutschen das beste Verhältnis hat. Sehet auch Polytimet.“
26. Das vernünftig gesparte Blut
I.25. Der Pelikan – Aelianus de nat. animal. libr. III. Cap. 30
27. Die gewaltthätig genommene Gutthat
III.13., 14. Die Wohltaten in zwei Fabeln
–
28. Der menschliche Held
–
–
29. Die Verzeihung der Wohltaten
II.4. Der Wolf auf dem Totbette Aesop. 144, Phaedrus I. 8
–
30. Der feigherzige Prahler
–
Critische Briefe. Zürich 1746, S. 150.
31. Der auf das äusserste gebracht wird
III.22. Die Geschichte – des alten Wolfs in 7 Fabeln (Schlussfabel)
32. Böser Willen ohne Macht
–
–
234
Poetische Palimpseste
Bodmer: Erstes Buch
Lessing-Bezüge
Andere Quellenbezüge
33. Die wolüberlegte Güte
–
–
34. Der dapfere Besiegte
I.20. Die Hunde – Aelianus lib. IV. cap. 19
35. Die falsche Sanftmuth
–
–
36. Verdienst eines exemplarischen Beyspieles
–
Rousseau: Dernière Réponse (1752), S. 193: „Si Caton n’a rien fait pour sa patrie, il a beaucoup fait pour le genre humain, en lui donnant le spectacle de la vertu.“
37. Die Verantwortungen
–
Rousseau: Observation sur la réponse à son discours (1751), S. 79: „L’auteur observant que j’attaque les sciences par leurs effets sur les mœurs, employe pour me repondre le denombrement des utilités, qu’on en retire dans tous les états, comme si pour justifier un accusé on se contentait de prouver qu’il se porte bien.“
38. Das bequeme Aergernis
–
Rousseau: Observation sur la réponse à son discours (1751), S. 108: „C’est un objet très scandaleux qu’un scélérat sur la roue.“
Bodmer: Zweytes Buch
Lessing-Bezüge
Andere Quellenbezüge
1. Die Welten
–
–
2. Der siegende Jupiter
II.12. Jupiter und Apollo Aesop. 187
–
3. Die nicht mehr gefühlte Natur
–
Mendelssohn, Nicolai (Hg.): Bibliothek der schönen Wissenschaften von Berlin (1758), II. St., S. 313: „Die Werke der Alten sind die schönsten Copien der veralterten Natur, die auf uns keine Wirkung mehr hat, wenn wir sie nicht als Kunstrichter betrachten.“
4. Die Verschönerung der abgelebten Natur
–
–
Emblematik und Theatrum mundi in den Fabeln
235
Bodmer: Zweytes Buch
Lessing-Bezüge
Andere Quellenbezüge
5. Die Nothwendigkeit der Complimente
–
–
6. Eines um des anderen willen –
–
7. Das lekerhafte und das einfältige Leben
–
–
8. Beweis daß man Vernunft habe
–
Rousseau: Dernière Réponse (1752), S. 205: „Tels que je demande les hommes ils ressemblent beaucoup à des bêtes; tels qu’ils sont ils ressemblent beaucoup à des hommes. – J’aime encore mieux voir les hommes brouter l’herbe du champ que de s’entre dévorer les villes.“
9. Die vortheilhafte Unwissenheit
–
Rousseau: Dernière Réponse (1752), S. 171: „Il vaudrait mieux ressembler à une brebis qu’à un mauvais ange.“
10. Die Beschönigung der Heucheley
–
Rousseau: Observation sur la réponse (1751), S. 107 f.: „Mais l’hypocrisie est un hommage que le vice rend à la vertu. – Il me demande si je voudrais que le vice se montrat à découvert, assurément je le voudrois.“
11. Die Gerechtigkeit der Waffen
–
12. Der sanfte und der strenge – Sittenrichter
Rousseau: Dernière Réponse (1752), S. 203: „Le moyen que des gens qui ont du canon, des cartes marines, & des bouffoles, puissent commettre des injustices?“ John Brown: An explanatory defence of Browns Estimate of the Manners and principals of the times […] (1758), Letter 6: “Is the accusation be founded in the want of those common Apologies, Reserves, Exceptions, Salvo’s and douceurs, by which every reader is happily prevented from aplying any thin to himself; the writer apprehends that he is not assuming, but that he did his duty in being explicit and intelligible.”
236
Poetische Palimpseste
Bodmer: Zweytes Buch
Lessing-Bezüge
Andere Quellenbezüge
13. Die gereizte Empfindlichkeit
–
–
14. Die Wahrheit im Munde des Beleidigten
–
–
15. Das Blendwerk des Rokes
–
–
16. Das Selbst, der Maaßstab der Thiere
III.7. 8. 9. 10. Der – Rangstreit der Thiere, in vier Fabeln
17.-23. Die unedeln Ausreden in der Geschichte des Opfers bey den Bäumen
–
Jothams Fabel aus: Buch der Richter 9:7–21.
24. Die Kenntniß der Verdienste
–
–
– 25. Der Stolz auf das Vaterland I.16. Die Wespen Aelianus, de nat. animal. lib. I. cap. 28 26. Die Großmuth
I.26. Der Löwe und – der Tiger Aelianus, de nat. animal. lib. II. cap. 12
27. Die unnützlichen Geschenke
III.4. Das Geschenk der Feen
28. Die Ehrfurcht für die Fehler – der Grossen
– –
29. Die Ehrfurcht für die Beherrscher
–
30. Der königliche Schlachter
I.26. Der Löwe und – der Tiger Aelianus, de nat. animal. lib. II. cap. 12
31. Die Kunst der Tyrannen
Abhandlung von der Fabel S. 118
–
32. Der mächtigere Sclave
–
–
33. Das Unvermögen der Grossen
III.6. Der Rabe
–
34. Der Uneingeweihte
II.17. Der Rabe Aesop. 132
–
Fabel des Zürchers.
Emblematik und Theatrum mundi in den Fabeln
237
Bodmer: Zweytes Buch
Lessing-Bezüge
Andere Quellenbezüge
35. Die Niedrigen auch in der Höhe niedrig
III.25. Der Adler
–
36. Die verewigte Schande
II.30. Minerva
–
37. Der Nationenprediger
–
Justus Friedrich Wilhelm Zachariä: Murner in der Hölle. Ein scherzhaftes Heldengedicht (1757), IV. Gesang: „Wölfe werden allda bey langsamen Feuer gebraten, Ewig sitzt da der Adler in einm glühenden Gesicht etc.“ Brown: An explanatory defence of Browns Estimate of the Manners and principals of the times […] (1758), Letter 6: „If it be true that all national failures begin among the higher ranks, t’is certain that a declining nation mag flide down to ruin before a national preacher be in form appointed; or if he was it may be presumed his system of manners and principles would be somewhat curiously modeled and prescribed, and would be more likely to help forwards the ruling evils than to cure them.“
Bodmer: Drittes Buch
Lessing-Bezüge
Andere Quellenbezüge
1. Die Aesopische und die Lessingische Fabel
–
– Plutarch: Moralia „Quomodo adolesc. Poet. Audire debeat.“
2. Der Reiz der Zubereitung
3. Opitz und Buchner gute Freunde
I.7. Die Nachtigall und der Pfau Critische Briefe. Zürich 1746, S. 151.
4. Der sich nicht mit seinen Kräften beräth 5. Die allzu ängstliche Ueberarbeitung
III.1. Der Besitzer des Bogens
238
Poetische Palimpseste
Bodmer: Drittes Buch
Lessing-Bezüge
Andere Quellenbezüge
6. Die unschuldigen Küsse
Rousseau: Dernière Réponse (1752), S. 162, Note: „L’Homme & la femme sont faits pour s’aimer & s’unir, mais passé cette union legitime tout commerce d’amour entre eux est une source affreuse de desordre.“
7. Beweis dessen, was man nicht beweisen wollte
Letters between Alexander Pope and Jonathan Swift. XIII: „To vindicate ones self against such nasty Slander, is much as wife as it was in your countryman, when the people imputed a stink to him, to prove the contrary by shewing his backside.“
8. Die Flüge der Dichter von Kleinigkeiten
I.24. Merops Aelianus I. 49.
9. Der Ekel vor der Nachahmung
–
–
10. Das Urtheil der Freunde
–
–
11. Die Elenden als Nachahmer I.6. Der Affe und der Fuchs
–
12. Die Furcht vor Scriblern
–
–
13. Die Wahrheit mag sich selbst retten
–
–
14. Güte und Höflichkeit zum Besten der Dummheit
Rousseau: Dernière Réponse (1752), S. 156, Note: „La vertu s’enflamme indignation contre le crime“ „Lessing in Mylius Lebenslauf von den vermischten Schriften meint, eine augenblikliche Veränderung im Tode möchte Mylius dem Newton und Bradley gleich gemacht haben.“ Johann Carl Dähnert in der Recension der Abhandlung vom Noah: „Auch ein W. hat sich so weit herabgelassen, daß er mit Priestern des Unsinns um sich wirft. Gottsched und seine Urtheile sollten nicht mehr die Aufmerksamkeit verdienen, daß ihrer in Werken des Geistes gedacht würde.“
Emblematik und Theatrum mundi in den Fabeln
239
Bodmer: Drittes Buch
Lessing-Bezüge
Andere Quellenbezüge
15. Der Trost der Getadelten
–
–
16. Die Geschmacklosen Zuhörer
III.30. Der Schäfer und die Nachtigall
–
17. Die Bewunderer der Schwäzer
II.14. Der Fuchs und die Larve Aesop. 205, Phaedrus I. 7
–
18. Der Geschmack
–
Horaz: „Tres mihi convivae propre dissentire videntur &c.“
19. Der verwöhnte Geschmack –
–
20. Der Haß des Schönen
–
–
21. Die Abneigung gegen Moralisieren
–
Christian Fürchtegott Gellert: Die Nachtigall und der Kukuk (1746–1748).
22. Kunst sich gefällig zu machen
–
Johann Christoph Richter: Briefe betreffend den allerneuesten Zustand der Religion und der Wissenschaften (1752), S. 64. „Er muß seinen Lesern sein kaltes Blut zutrauen, wenn er glaubt, daß sie an einer ewigen Wiederholung von seraphischen Tändeleyen einen Geschmack finden können.“
23. Der schädliche Sophist
II.5. Der Stier und das Kalb Phaedrus V. 9
–
24. Der gemißhandelte Ernst
–
–
25. Mittel seine Mitbuhler zu unterdrücken
–
–
26. Der elende Kunstrichter
III.2. Die Nachtigall und die Lerche
–
27. Die Zufriedenheit der Dunse
–
–
240
Poetische Palimpseste
Bodmer: Drittes Buch
Lessing-Bezüge
Andere Quellenbezüge
28. Der Betrug der Stimme
–
Friedrich Nicolai, Moses Mendelssohn, Christian Felix Weisse (Hg.): Bibliothek der schönen Wissenschaften von Berlin (1759), 1. St., S. 158: „Und wenn man auch an der Wahrheit desjenigen, was er (der Verf. der Briefe die neueste Literatur betreffend) sagt, bisweilen zweifeln wollte, so verführet doch seine heitere Mine so sehr, daß man alles so lange für wahr hält, als er es sagt.“
29. Mittel Wiz zu haben
–
–
30. Die Nothwendigkeit des widrigen Gesanges
I.10. Die Grille und die Nachtigall Rousseau [Contre le théâtre] La Lettre à d’Alembert ou Jean-Jacques contre la société du théâtre (1758).
31. Die Unnothwendigkeit der Schaubühne
32. Die Runzeln der Eiferer Critische Briefe. Zürich 1746, S. 152.
33. Der elende Übersetzer 34. Das süsse Lob
–
–
35. Der Betrug der Gestalt
I.11. Die Nachtigall und der Habicht
– Rousseau: Dernière Réponse (1752), S. 156, Note: „Il ya des ames laches qui ne sont douces que par indifférence pour le bien & pour le mal.“
36. Die Vereinigung widerw. Dinge
37. Wert der Kunstwesen in der Fabel
–
–
38. Die dummgewählten Personen
I.29. Der Springer im Schache
–
39. Aufrichtigkeit von Lügen
–
–
40. Die nothwendige Schärfe
https://doi.org/10.1515/9783110487930-005
Brown: An explanatory defence of Browns Estimate [….] (1758), Letter 4: „The success of the stroke depended on the strenght and boldness. This was one of the particular occasions where it became his duty not only to cry aloud but to spare not. &c.“
Emblematik und Theatrum mundi in den Fabeln
Bodmer: Drittes Buch 41. Die getadelten Kühnheiten
Lessing-Bezüge
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Andere Quellenbezüge Pope: Iliad (1715–1720 Homerübersetzung), V. 502 in der vierten Ilias: „Wer seine und edle Kühnheiten haben darf, der muß vorher wissen, daß sie von Leuten, die dieselben nicht erreichen können, werden verworfen werden.“
Inwiefern die literaturkritische Auseinandersetzung oft poetologische Überlegungen mit einschloss, zeigt schon der erste verhältnismäßig ausführliche Text Die neue Fabel-Theorie, der auf Lessings Initialfabel Die Erscheinung abzielt. Bei Lessing wird das Erfinden von Fabeln allegorisch mit der Begegnung des Erzählers und der fabelnden Muse in der Natur zum Anlass genommen, den explizit angesprochenen Leser auf die ,richtige‘ Fabelrezeption vorzubereiten. Die Ausgangssituation der Bodmer-Adaption ist Imitation und Variation, wenn hier ein Fabelerzähler in der Tradition des Musenanrufs in der freien Natur „an einem murmelnden Bache“ (LUF, S. 4f.) sitzend, auf die Allegorie der Phantasie und der künstlerischen Inspiration, „die Muse, die den Aesopus seine Fabeln gelehrt hatte“ (LUF, S. 3), treffen möchte. Statt dieser erscheint das einem Satyr ähnelnde Faunwesen Capriccio, um den Verfasser bei der „Fabeljagd“ zu unterstützen. Capriccio präsentiert sich als Stellvertreter der fernbleibenden Muse, der nicht mehr, wie noch bei Lessing, zur ‚richtigen‘ Fabelrezeption, sondern neu zur Verballhornung der Lessingvorlagen anspornt. Etymologisch erinnert der italienische Begriff an die lateinische ‚capra‘, die Ziege und im Französischen an die Laune, ‚le caprice‘. Mit Capriccio, dieser ‚ziegenartige Launenhaftigkeit‘ wird ferner in den bildenden Künsten sowie in Musik und Literatur ein absichtlicher und scherzhafter Regelverstoß bezeichnet.587 Mit der Freilegung der Lessing-Quellen verbindet Bodmer einen Plagiatsvorwurf und überzeichnet ironisch mittels einer Jagdmetaphorik Lessings Fabulierkunst:
587 Vgl. Günther Oesterle: Das Capriccio in der Literatur. In: Das Capriccio als Kunstprinzip. Zur Vorgeschichte der Moderne von Arcimboldo und Callot bis Tiepolo und Goya. Malerei – Zeichnung – Graphik. Ausstellungskatalog. Hg. von Ekkehard Mai und Joachim Rees. Mailand 1996, S. 187–190; ders.: Skizze einer ästhetischen Theorie des Capriccio: Laune – Sprung – Einfall. In: Kunstform Capriccio. Von der Groteske zur Spieltheorie der Moderne. Hg. von Ekkehard Mai und Joachim Rees. Köln 1998, S. 179–198; Reinhold Grimm: Die Formbezeichnung Capriccio in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts. In Studien zur Trivialliteratur. Hg. von Heinz Otto Burger. Frankfurt am Main 1968.
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Diese Mühe, sagte er, können wir uns ersparen: dafür wollen wir im Aelian und Suidas und Antonius Liberalis jagen. Wenn wir ihre Geschichten bald eher abbrechen, bald weiter fortführen, bald einzelne Umstände verändern, bald einen Umstand heraus nehmen, und eine neue Fabel darauf bauen, oder eine neue Moral in eine alte Fabel legen, werden wir an Fabel-Wildbrät niemals Mangel haben. Jede Folge von Gedanken, jeder Kampf der Leidenschaften soll uns eine Handlung seyn. Warum nicht? Wer denkt und fühlt so mechanisch, daß er sich dabey keiner Thätigkeit bewußt sey? Zu derselben brauchen wir auch die innere Absicht der aufgeführten Personen nicht, es ist genug an unserer Absicht. Nur lasset uns nicht vergessen, unserer Fabel die Würklichkeit zu geben mit dem Es war einmal. (LUF, S. 3)
Seinen Dialog zwischen Erzähler und Muse inszenierte Lessings Fabulist noch exemplarisch und einladend zur ,richtigen‘ Fabelrezeption. Bodmers Fabelerzähler hingegen umreißt hier sein Gattungsverständnis und motiviert zu einem satirischen und parodistischen Unterfangen: Lasset uns, sagte ich, das Werk ohne Verzug angreifen. Hilf mir, munterer Capriccio, zu Reimen oder Hexametern, zu Gemählden, zu Zeichnungen der Oerter, der Personen, der Stellungen, zu Gedanken, die hervorstechen, zu Anspielungen. Fort mit dem Plunder, versezte er, den können wir gänzlich entbähren. (LUF, S. 6)
Bevor sich der Fabelerzähler mit Satyrs Hilfe an das Verfertigen der „satirischen Fabelangriffe“ setzten kann, wird vorerst Lessings ursprüngliche Intention, die Fabelillusion aufzudecken, als gescheitert erklärt, dem nun nur noch der neue Fabelerzähler helfen kann. In Bodmers Die neue Fabeltheorie wird die dem Leser bekannte Situation aus Lessings Initialfabel Die Erscheinung kritisch und spielerisch reflektiert. Mit der Figur Capriccio ist ein Doppelgänger bzw. eine Spiegelfigur geschaffen, dank welcher Lessings Muse zuerst negiert und durch diesen Gegenentwurf erneuert wird. Denn bezeichnenderweise ruft Bodmers Fabelerzähler Capriccio nicht wie vormals Lessings Muse zur richtigen Fabelrezeption auf, sondern pfeift spielerisch zum literaturkritischen Gegenangriff. Zu Beginn des dritten Teils wird Lessing erneut mit dem griechischen Vorbild verglichen. Die Aesopische und die Lessingische Fabel handelt von Minerva, der Göttin der Weisheit und der Poesie, die von Vulcanus, dem Gott des Feuers und der Schmiede zwei Spiegel erhält. Verbildlicht der eine die Symbolik der Handlungen, wenn bspw. Neros Mord an Britannicus als ein Lämmer reißender Wolf abgebildet wird, zeigt der andere einen Menschen als Dämon oder Tier. So sieht sich ein Genie im Spiegel als Affe, ein Weiser als Schafskopf und ein Poet als Star (vgl. LUF, S. 124). Darauf gibt Minerva, die Göttin der Klugheit, die Spiegel weiter: Minerva gab den ersten dem guten alten Aesopus, der noch ein blühender wohlgewachsener Jüngling, und nicht an seinen Gliedmassen verstellt war, wie man ihn und seine Fabeln
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seither verstellt hat. Den andern, als sie sich selbst darin mit einem Fratzengesichte sah, warf sie im Unwillen wider den Boden, daß er in tausend Stücken brach. Eines von diesen Stücken ward lange hernach von Stoppen gefunden, und jzt besitzt es Lessing, der es von Stoppen um drey Paralogismen erhandelte. (LUF, S. 124)
Mit dieser verbildlichten Kritik im zerbrochenen Spiegel wird beklagt, dass Stoppe und Lessing die Aesopischen Fabeln in den Augen der Zürcher Kunstrichter verstellt und verfremdet hätten. Bodmer rechtfertigt seinen literaturkritischen Angriff auf Lessings Fabeln abschließend in III.37 Werth der Kunstwesen in der Fabel, wenn er seine Vermutung unterstreicht, Lessing habe sich von Stoppe beeinflussen lassen: Wir stehen ja auch auf der Leiter der Wesen, wiewohl etwas nieder. Aber wir haben doch sehr allgemein bekannte Charakter. Durch unsere blossen Benennungen schildern wir uns in der Einbildungskraft. Was fehlet uns zu der Bestandheit der Charakter? Wo ist ein Mensch, der nicht vollkommen dasselbe von uns denket, daß die Rinne das Wasser abführet, der Bratenwender sich von einer Seite auf die andere kehret, die Bürste puzet und reiniget? Dein Vorfahr der grosse Stoppe, hat uns nicht so verworfen. Wir halten dich für verständiger, als daß du uns aus der Fabel verweisen wolltest, weil es unwahrscheinlich sey, daß wir Sprache und Vernunft haben, und daß soll nichts weniger als wunderbar seyn. Das ist so begreiflich, sollten wir meinen, daß wir uns schämen müßten es zu beweisen. Der Fabulist [Lessings Erzähler] fand ihre Vorstellungen so stark in der Natur der Sache gegründet, daß er bekannte, er hätte ihnen unrecht gethan; Er versprach, daß er sein Versehen bessern wollte, und schrieb die Fabel von dem Springer im Schachspiele. (LUF, S. 178f.)
4.2.4 Im Spiegel der Literaturkritik Lessings Springer im Schache (I.29) ist eine Neufassung der gleichnamigen Fabel, die schon in der Sammlung von 1753 enthalten war und an die verbreitete Schachkultur des 18. Jahrhunderts erinnert, welche zur neuen intelligenten Ausstattung der Salons, Cafés588 und Clubs gehörte, in der sich die jungen Dichter sowohl in Diskussionen, als auch auf dem Schachbrett, „einer Spielvariante der Aufklärung“589, duellierten. Dass sich das metaphernreiche Spielfeld auch geradezu wunderbar für Beschreibungen moralischer Schlussfolgerungen royaler Feldzüge im Rahmen einer
588 Rousseau erinnert sich in Buch 7 in seinen Confessions an das berühmte Café de la Régence, wo der Musiker und berühmte Schachspieler Philidor und später Napoléon zum Schachspiel eintrafen. 589 Hans Holländer: Karl Wilhelm Ramler und die Schachkultur des 18. Jahrhunderts. In: Urbanität der Aufklärung. Hg. im Auftrag des Gleimhauses von Laurenz Lütteken u. a. Göttingen 2001, S. 39–57, hier S. 40.
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moralisch-politischen Erziehung anbot, kommt schon in Lessings Fabel Der Springer im Schache zum Ausdruck. Hier befördern zwei Schachspieler, denen ein Pferd fehlt, kurzerhand einen „überflüssigen“ Bauern zum Springer, ähnlich wie ein Monarch oder Befehlshaber handeln könnte, wenn Not am Mann ist; ein Vorgang, der von den anderen Figuren verspottet wird: Ei, riefen die andern Springer, woher, Herr Schritt vor Schritt? Die Knaben hörten die Spötterei und sprachen: Schweigt! Tut er uns nicht eben die Dienste, die ihr tut?590
An die sprechenden Holzfiguren anschließend, knüpft Bodmer seine Fortsetzung in III.38 Die dummgewählten Personen. Auch hier spielen zwei Knaben Schach und hören dabei den sprechenden Schachfiguren zu. In der Fabel, die sich wie eine Fortsetzung des Dialogs aus der Vorlage liest, wird Das Schachpiel, ein Heldengedicht (1752ff.) von Lessings Kritiker-, Dichter- und Schachkollegen, Karl Wilhelm Ramler, evoziert. Bei Ramlers Fragment handelt es sich um eine „nachdichtende Interpretation“ des Schachepos Scacchia Ludus, einer Götterparodie nach antiken Mustern und einem Bestseller des 16. Jahrhunderts aus der Feder von Marcus Hieronymus Vida (1480–1566), des späteren Bischofs von Alba.591 Daneben wird wohl auf das mittelhochdeutsche Versepos, das „Buch von Bern“ bzw. „Dietrichs Flucht“ angespielt, worin Heinrich der Vogler ein Fürstenideal zeichnet: Was mag das wohl bedeuten, wenn Holz und Schnizwerk redet? Nichts geringeres als Dummheit und Barbarey. Als sie in Rammlers Gedicht vom Schachspiele schwazeten, so folgeten darauf Heinrich der Vogler und die Walpurgisnacht. (LUF, S. 180)
Wie Ramlers Heldengedicht die vorausgehende Fiktion, Vidas Schachepos, reflektiert und interpretiert, so spiegelt dieses Fabelbeispiel ähnlich der Variantenvielfalt der Schachzüge die neuen Perspektiven und diversen Blickwinkel der nachahmenden und fortgesetzten Dichtung. Es fällt auf, dass Bodmer in seinen Fabeladaptionen aus Lessings Beispielen zitiert und auf die bereits bekannte
590 Lessing: Fabeln. In: Ders.: Werke 1758–1759. Hg. von Gunter E. Grimm. Bd. 4. Frankfurt am Main 1997, S. 314. 591 Hans Holländer: Karl Wilhelm Ramler und die Schachkultur des 18. Jahrhunderts. In: Urbanität der Aufklärung. Hg. im Auftrag des Gleimhauses von Laurenz Lütteken u. a. Göttingen 2001, S. 39–57. Hans Holländer wertet das Fragment auf, das aufgrund der Vielfalt an Varianten in einen Konflikt geraten musste und deswegen nicht vollendet werden konnte: „Ramler geriet schon in der Eröffnung in den berüchtigten Variantendschungel und wusste dann nicht weiter.“ Ebd., S. 40.
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Thematik der Fabeln anspielt, um dadurch andere Interpretationsmöglichkeiten zu eröffnen. Wird bspw. in Der Dornenstrauch die Wirklichkeit mit realistischen Exempeln dargestellt, die durchaus negativ empfunden werden sollen, so wird in Bodmers Gegenbeispiel I.15 Der übelverstandende Dienst die Wahrnehmung der Wirklichkeit idealisiert. Diese Veränderung des Prätextes wird bereits in der Fabelüberschrift vorweggenommen, die sich auf die negative Konnotation der Thematik der Lessing-Fassung bezieht. Das Adjektiv „übelverstandene“ suggeriert ein vormaliges Missverständnis über gut und böse bzw. richtiges oder falsches Handeln, das nun verschoben bzw. zurechtgerückt wird. Der bei Lessing negativ konnotierte Dornenstrauch, der den Menschen absichtlich schadet, indem er ihre Kleider zerreisst, wird von Bodmer positiv besetzt. Demnach ist es nicht die Pflanze, die dem Menschen Böses will, sondern der Mensch, der nicht aufpasst. Mit dieser Sinnverschiebung: „Es ist nicht Bosheit, es ist Freundschaft“, und kurz darauf „Es ist der Leute Schuld, daß sie sich die Kleider so zerreißen. Würden sie auf mein Angreifen stehen bleiben, so geschähe ihnen nichts Böses“ (LUF, S. 27), lautet eine weitere Interpretation bzw. eine andere Wahrnehmung der Situation. Daneben verknüpft Bodmer in seinen literaturkritischen Dichtungen andere Quellen: Auf Lessings Fabel II.28 Die Furien anspielend, worin Pluto seine Furien auswechseln lässt und Merkur sich die tugendhaftesten aussucht, diskutiert Bodmer Erziehungsfragen, das weibliche Liebesverhalten betreffend. Wie er wohl richtig vermutete, hatte Lessing im byzantinischen Lexikon (Suda) aus dem 10. Jahrhundert n. Chr. recherchiert und unter „die immer Jungfräuliche“ den Hinweis auf Sophokles gefunden, der die Furien als solche bezeichnet hatte. Die Furien (griech. Erinnyen) waren die Rachegöttinnen der antiken Mythologie, die Blut- und andere Freveltaten bestraften, indem sie aus Plutos Unterwelt aufstiegen, um ihre Opfer zu peinigen. Dabei traten sie meist zu dritt als Tisiphone („die den Mord rächende“), Alekto („die Unablässige“) und Megaire („die Neidische“) auf. Bodmers interpretierende Nachdichtung arbeitet mit Rousseaus Verteidigungsschrift der Dernière Réponse, auf Charles Bordes Gegenzug: Discours sur les avantages des sciences et des arts, den dieser in der öffentlichen Versammlung der Académie des sciences et des belles lettres de Lyon am 22. Juni 1751 vorgetragen hatte.592 Bei Bodmer geht es auch um die drei tugendhaftesten Mädchen, die Iris für Juno ausfindig machen sollte, welche aber von Merkur schon zuvor weggeschnappt und zu Furien bestimmt wurden. Darauf schimpft Juno mit Iris, die Tugend, Keuschheit und Zucht mit Menschenhass und Unempfindlichkeit ver-
592 In: Mercure de France. Décembre 1751.
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wechselt habe. Die Keuschheit sowie die treue Ehefrau, der bspw. Homer mit der auf Odysseus wartenden Penelope ein Denkmal setzte, gelten als weibliche Tugenden im 18. Jahrhundert. Bodmer erinnert an die religiöse Bedeutung der Keuschheit, wenn er im Register folgende Passage aus Rousseaus Dernière Réponse heranzieht, die hier kursiv im größeren Kontext zitiert wird: L’homme & la femme sont faits pour s’aimer & s’unir; mais passe cette union légitimé, tout commerce d’amour entr’eux est une source affreuse de désordres dans la société & dans les mœurs. Il est certain que les femmes seules pourroient ramener l’honneur & la probité parmi nous: mais elles dédaignent des mains de la vertu un empire qu’elles ne veulent devoir qu’a leurs charmes; ainsi elles ne sont que du mal, & reçoivent souvent elles-mêmes la punition de cette préférence. On a peine à concevoir comment, dans une Religion si pure, la chasteté a pu devenir une vertu basse & monacale capable de rendre ridicule tout homme, & je dirois presque toute femme, qui oseroit s’en piquer; tandis que chez les Païens cette même vertu etoit universellement honorée, regardée comme propre aux grands hommes, & admirée dans leurs plus illustres héros.593
4.2.5 Schauspielkritik à la Rousseau Zahlreiche Fabeln spielen auf die zeitgenössische Literaturszene sowie die neuen Dichtungskonzepte Lessings an, von denen sich Bodmer wiederum kritisch absetzt. So findet sich hier bspw. der Nucleus zu Bodmers Theorie des politischen Schauspiels, die er später in Sulzers Allgemeiner Theorie der schönen Künste formuliert, übrigens wiederum auf Rousseaus Theaterkritik rekurrierend. Bekanntlich hielt Rousseau das Theater für amoralisch und politisch schädlich, weil es Trennungen und Verdoppelungen in die Welt projiziere, die dem Ideal einer ursprünglich natürlichen Gesellschaft entgegen wirken, wird hier doch der sich selbst zelebrierende Hof, abgebildet im Theater, gespiegelt.594 Ohne sich explizit auf Lessing in der Tierfabel III.31 Die Unnothwendigkeit der Schaubühne zu beziehen, trägt Bodmer eine Kritik an Lessings Tragödientheorie vor und arbeitet bereits hier seine Konzeption des Politischen Schauspiels als bloßes Lesedrama aufklärungswilliger Bürger aus:
593 Rousseau: Dernière Réponse (1751), Note S. 162. 594 Vgl. Jean-Jacques Rousseau: Brief an D’Alembert über das Schauspiel. In: Ders.: Schriften. 2 Bde. Hg. von Henning Ritter. Bd. I. Frankfurt am Main 1988, S. 333–475. Vgl. ferner: Juliane Rebentisch: Theatrokratie und Theater. Literatur als Philosophie nach Benjamin und Brecht. In: Literatur als Philosophie – Philosophie als Literatur. Hg. von Eva Horn, Bettine Menke und Christoph Menke. München 2006, S. 297–318, hier S. 310.
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Die Unnothwendigkeit der Schaubühne In einer Meierey war eine Herde Schafe. An einem langen Sommertage hatte ein Widder den Einfall, sie wollten zur Zeitkürzung die Geschichte des Schafes spielen, welches der ungerechte Wolf am Bache zerrissen hatte. Ich will, sagte er, die Rolle des Wolfes auf mich nehmen. Dieses Lamm soll das unschuldig zerrissene vorstellen. Die Menschen haben ihren Zeitvertreib die Helfte des Tages, und sind doch so überhäuft mit Pflichten und Geschäften. Spiele sind anständiger. Dieses Trauerspiel soll unsere Herzen gegen die Ungerechtigkeit erhöhen und uns für die Unschuld einnehmen. Behüte Gott, rief ein alter Hammel, daß uns nicht ein anderer Zeitvertreib nöthig werde, als unserer Weide nachzugehen, unsere Heerde zu führen, und unsere Lämmer zu säugen. Ich haben noch keinen Ekel an diesen Pflichten wahrgenommen und die Stunden sind uns noch nicht überlästig geworden. Ein frommes Schaf sagte: Wie denn! würket nicht die Natur schon stark genug in uns, daß wir den feindseligen Wolf hassen, und lehrt uns nicht der Instinkt die Unschuld lieben? Muss man erst durch Kunst diese Neigungen in uns hervorbringen? Das Unthier machet sich uns in der wirklichen Natur fürchterlich genung; sollen wir so thöricht seyn, und uns selbst mit einer nachgemachten Noth in Furcht und Schrecken jagen?595
Hinter der Fabelmaske argumentiert Bodmer im Sinne der Aussagen seines Lexikonartikels zum Politischen Schauspiel: Im ersten Argument gegen die Notwendigkeit einer Schaubühne posiert er mit trefflicher Selbstironie als alter Hammel und postuliert, dass die tägliche Pflichterfüllung als soziales Mitglied eines Gemeinwesens keine Muße für die theatralische Einübung in Pflichten übrig lasse, die ohnehin jeder von sich aus bereits erfülle. Deswegen sei ein Programm einer Erziehung zur Verantwortung durch empfindsame Bühnenstücke in einem funktionierenden Gemeinwesen wie in Zürich überflüssig. Das zweite Gegenargument wird vom frommen Schaf – man denke sich Bodmers Mitstreiter Breitinger – vorgetragen. Dergestalt äußert das Schaf, dass man in einem funktionierenden Gemeinwesen auf die instinktive Abneigung gegen natürliche Feinde bauen könne. Dagegen würde die künstliche Einführung fiktiver Feinde – wie beispielsweise der Wölfe als Bühnenhelden – voraussetzen, dass die natürlichen Abwehrinstinkte nicht mehr funktionieren. In der Tradition des Aesop und des Phäders amüsiert sich sogar Lessing über die Schauspielkunst, wenn er sein Alter-Ego hinter der Maske in der Fabel II.14 Der Fuchs und die Larve sinnieren lässt: […] ohne Gehirn und mit offenem Munde! Sollte das nicht der Kopf eines Schwätzers gewesen sein? Dieser Fuchs kannte euch, ihre ewigen Redner, ihr Strafgerichte des unschuldigsten unserer Sinne!596
595 Bodmer: Lessingische unaesopische Fabeln. (Anm. ), Buch 3, Nr. 31, S. 167f. 596 Lessing: Fabeln. 1997, S. 321. (Lessings Quellenverweis: Fab. Aesop 205, Phaedrus lib. I. Fab. 7.)
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Bodmer nimmt diesen Dialog in III.17 Die Bewunderer der Schwäzer auf, indem er einen anderen Fuchs auftreten lässt, der über diese Maske meint, sie gehöre jenem dummen Zuschauer des Schwätzers: „Denn man sagt, daß diese leeren Wizlinge eben so wol ihre bewundernden Angaffer haben, als die gründlichsten Redner.“ (LUF, S. 147) Zur neuen Poetik der Erregung von Mitleid wird daraufhin Stellung genommen.597 Mit Rousseau im Einklang brauche man sozial nützliche Tugenden wie Mitleid in wohlgeordneten Gemeinwesen nicht auf dem Wege empfindsamer Trauerspiele zu erlernen. Zu Dichtungsprinzipien und Kritikverhalten finden sich dergleichen weitere Beispiele. Lessings Dichtungskonzept des Witzes wird, wie eben schon angedacht, in III.29 Mittel Wiz zu haben durch den Kakao gezogen, wenn sich niemand anders als eine Gans mit Wein betrinkt, um schließlich lange, sinnlose Sätze wiederzugeben: Ihr wisset es nicht recht […] ich trinke Wiz aus dem Kruge; bald wird eine Munterkeit in meine Adern kommen, in welcher ich dichterische Gedanken aussprechen werde, wenn ihr andere bey Wasser und mit kaltem Blute euch heiser schreyet. Nicht lange darauf drehte sich ihr der Kopf in die Runde, sie wirbelte und schnatterte lange Sätze von non-sense; das nennete sie Wiz. (LUF, S. 165)
Bodmer, dessen Schriften man oft zu Unrecht abschätzig in die Ecke der Nachahmung gestellt hatte, setzte sich dagegen mit einem Tiergleichnis in III.9 Der Ekel der Nachahmung zur Wehr. Wie der Krebs, der sich anders als die andern, rückwärts vorwärts bewegt, um diese nicht zu imitieren, wettert Bodmer gegen die simple imitatio: „Ich bin den Nachahmern so feind, daß ich lieber den Weg verlieren will, als gehen wie die andern Thiere seit dem Anfang der Welt gegangen sind.“ (LUF, S. 134) In III.11 Die Elenden als Nachahmer wird noch eins drauf gesetzt und dazu aufgefordert, mal etwas Eigenes, Originales zu erfinden. Dabei will sich der Dichter vom Journalisten und dessen in jenen Zeiten überaus negativ konnotierter Arbeit unterschieden wissen, da diese oft schreiben, ohne Federkiele oder Flügel, d. h. ohne Talent oder Können. Die Elenden als Nachahmer Kannst du auch gar nichts anders als nachahmen? Seze deinen wunderlichen Kopf auf die Folter, und ersinne einmal in deinem Leben etwas eignes. So sagte der Fuchs zum Affen. Der Affe sagte: Ist es nicht eigen genug, daß ich den Menschen nachahme, das einzige Thier, das
597 Vgl. Bodmer: I.3 Der Zufriedene in anderer Zufriedenheit. In: LUF, S. 9 und I. 16 Die unverschämte Undankbarkeit. In: LUF, S. 28.
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allen andern die Vernunft nimmt? Man beziehet sich auf mich, wenn man die Verwandtschaft der Thiere mit den Menschen beweisen will, und es sind Weise unter ihnen, die mich für fähig halten, bis zum Verstande der Menschen empor zu steigen. Der Fuchs sagte: Man beziehet sich eben so oft auf den Fuchs; ich habe so listige Ränke in der Tasche als irgend ein Mensch. Gieb uns einmal etwas Originales. Ich fliege, sagte der Affe, und sprang von einem Baum auf den andern. Das thut jeder Vogel, sprach der Fuchs. Der Affe: Ich fliege ohne Flügel. – Journalisten verstehet ihr mich? (LUF, S. 136)
Das gleiche Leitmotiv des richtig oder falsch gebrauchten Federkiels findet sich auch in der Variation III.8 Die Flüge des Dichters von Kleinigkeiten, worin ein Sänger von „unanakreontischen Liedern“ vom Vogel Merops in Anspielung auf Lessings gleichnamige Fabel (I.24) folgende Kritik bekommt: „Ich fliege doch mit den Schwingen, und mit meinen eigenen. In deinen verliebten Wendungen fliegest du mit dem Kiel einer todten Gans.“ (LUF, S. 133) Innerhalb der Isotopie des Federviehs finden sich etliche Beispiele über den Gesang und über den Rangstreit der Vögel. So empfindet die Gans den Schwanengesang in III.20 Der Hass des Schönen als „eine offenbare Satyre“ (LUF, S. 151) auf ihr Schnattern. Und als sie ihren Konkurrenten schließlich mit Schlamm im Schlaf überschüttete, taucht dieser, als er erwachte und sich „so besudelt sah“, „dreymal unter die Fluten und kam wieder so weiß hervor als er jemals gewesen war. Die Gans sah ihn, und wollte bersten.“ (LUF, S. 152) In III.15 Der Trost der Getadelten schimpft eine Nachtigall über eine Krähe, da sie glaubt, die Krähe sei auf sie neidisch. Wie sich gerade der Neid im kompetitiven Rangstreit zur Pervertierung hochstilisieren kann, klingt in III.25 Mittel seine Mitbuhler zu unterdrücken an. Hier schlägt eine Alster vor, die talentierten Singvögel wie Nachtigall, Lerche oder Grasmücke einfach aus dem Gedächtnis zu tilgen und zu vergessen, um somit selbst mit den anderen Vertretern „von knarrender Stimme“ wie Dohle, Häher und Krähe den Platz der Singvögel einzunehmen: Der nicht gesehen, nicht gehört, nicht gedacht wird, ist als ob er nichts wäre. Wenn sie nicht mehr sind, so sind wir die musikalischen Vögel. – Der Einfall erhielt ihren Beyfall, und sie folgeten ihm einen lange Ziete. Einmal sagte eine Hamadryade zu der Alster: Wie musikalisch ist unser Wald geworden, wie reich an den lieblichen Liedern der Nachtigall, der Lerche und der Grasmücke! Von wem redet ihr da, antwortete die Alster, das sind keine Vögel, die wir kennen, für die wir Augen und Ohren haben. Sey uns nicht beschwerlich mit ihren Namen, wir haben sie aus unserem Gedächtnis ausgetilget. Was für eine abscheulicher Einfall, sprach die Hamadryade, kann ein solcher selbst einer Alster in den Sinn kommen? Sie wußte nicht, daß Bavius den Einfall vor der Alster schon gehabt hatte. (LUF, S. 159f.)
Ferner knüpft Bodmer in seinen Fabeln an die englische Satiretradition an: Der römische Dichterling Marcus Bavius, der zu Augustus’ Zeiten mit seinem Kollegen
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Mävius aus Neid gegen die weitaus talentierteren Dichter wie Vergil und Horaz angeschrieben hatte, findet in den Schriften Alexander Popes Erwähnung. In seinem Essay on Criticism (1711), seiner Dunciade (1728ff.) oder der Dunciead Variorum (1732) schrieb er sich von seinen eigenen Kritikern wie bspw. John Dennis frei, wenn er diesen mit den beiden genannten Römern verglich: „He and Maevius had (even in Augustus’s days) a very formidable Party at Rome, who thought them much superior to Virgil and Horace: For (saith he) I cannot believe they would have fix’d that eternal brand upon them, if they had not been coxcombs in more than ordinary credit.“598 Bodmer wurde mit Popes Schriften sicherlich durch den Spectator, der englischen moralischen Tageszeitung, bekannt, die Joseph Addison (1672–1723) zusammen mit Richard Steele (1672–1729) 1711–12 und 1714 herausgab.599 Popes literaturkritische Schriften inspirierten Bodmer zur Fabel III.27 Die Zufriedenheit der Dunse, einer Karikatur des Dilettantismus. Die Zufriedenheit der Dunse Die Gans spreitete die Flügel aus und schnatterte mit heiserm Halse. Ich singe auch Nachtigall, sagte sie. Die Dole fand eine Pfeife, so blies darein, und brachte einige falsche Töne heraus. Ich kann flöten, Amsel, wie du, sprach sie. Der Affe nahm dem Mahler sein Palet und schmiß die Farben mit den Pinseln gegen die Wand. Das sind Wolken, sagte er, das ist schlakricht Wetter; ich bin ein Mahler. Ein Violin hieng an der Wand, er nahm es herunter, und strich mit dem Bogen über die Saiten, die verwirrte Töne von sich gaben. Das ist Musik, sagte er, ich bin ein Virtuos. Ein Kind wiegte sich auf einem hölzernen Rosse. Gehabt euch wol, rief es, ich reite von Lande. Salmoneus ritt mit Roß und Wagen über seinen eherne Brüke daher, und schrie: Ich donnere. Stentor reimte und sprach: Ich denke. Bavius schrieb die Aucipiade, und rief: ich dichte. (LUF, S. 162f.)
Über das Verhalten des Kritikers oder Kunstrichters, der sich immer wieder gegen Lob ausspricht (vgl. III.10 Das Urteil der Freunde oder III.34 Das süsse Lob), folgt eine selbstironische Spiegelung, wenn sich Bodmers Fabulist im Fabelkleid eines Hähers präsentiert und die Vögel vor einem Vogelfänger in der vorletzten Fabel III.45 Die nothwendige Schärfe warnt, indem er sie laut und scharf anschreit, so
598 Vgl. Alexander Pope: Dunciad Variorum. With notes variorum, and the prolegomena of Scriblerus, 1727, S. 179. 599 Die Politik der Tories wurde in der Figur Sir Roger de Coverleys, eines liebenswerten aber etwas lächerlichen Landedelmannes, karikiert. Mit der Zeitung Spectator, die in Kaffeehäusern auflag und vor allem von Englands aufstrebendem Mittelstand, von Kaufleuten und Händler gelesen wurde, begann laut Jürgen Habermas im 18. Jahrhundert eine „struktuelle Transformation der öffentlichen Sphäre“ aus dem Bürgertum heraus, das sich durch die Lektüre solcher Publikationen als Gruppe formieren konnte.
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dass sie vor Schreck auffliegen. Als die Vögel darauf den Häher fragen, warum er sich ihnen gegenüber so unhöflich geäußert habe, versetzt dieser: Ihr mußtet aufgewekt und erschüttert werden. Das konnte nicht wohl durch ererbietige Vorstellungen geschehen. Sanfte und liebliche Töne hätten nichts ausgerichtet. Es mussten starke, heftige Streiche seyn, wenn ihr sie fühlen solltet. Ich mußte nicht allein laut schreyen, sondern euch nicht schonen. Würde ich stille geschwiegen oder nur leise gerufen haben wie die furchtsame Taube, die neben mir auf dem Aste saß, so würdet ihr mir izo diese Verweise nicht geben können. (LUF, S. 184)
Dass hier im Kontext der Kritik im Register immer wieder auf die englischen Moralisten und somit auf die englische Tradition der Kritik verwiesen wird, ist signifikant. Diese Fabel bezieht sich auf den 4. Brief von John Browns (1715–1766) Verteidigung zu seiner populärsten Schrift The Estimate of the Manners and Principles of the Times600, einer bitteren Gesellschaftssatire und kulturkritischen Schrift, die wie schon Mandeville und Rousseau, an der Luxus- und Wohlstandssucht der besseren Gesellschaft Anstoß nimmt. Die aufrüttelnde Wirkung der Warnung in der Fabel steht im Zusammenhang mit den hier kursiv gesetzten Sätzen, aus Browns Verteidigungsschrift, worin er die Mechanismen der Kritik erklärt: Mankind were to be awakened and alarmed. This could not be done by dwelling on obsequious Representations. Soft and gentle Touches had been ineffectual. The success of the Stroke depended on the Strenght and Boldness. This was one of those particular Occasions, when it became his Duty, not only to cry about, but to spare not. The Diseases of the Times called for such a Conduct. The Season was favourable: it was the How of Sickness, and the Time to alarm. The national Distresses and Disgraces had already awakened the Fears of serious Men: This, then, was the Time to point out the Causes of the Mischief, and its Cure. These fears were not confined to them of speculation and the Closet; but public Men and Ministers saw and avowed the ruling Evils, which were freely and boldly exposed the Senate, as they have been by the writer from the Press. This was the Time for honest Men of every Rank, to join with those Men of public Station in so laudable a Work, and to Second and support their Endeavours for a general Reformation. The Great, then, were to be rouzed from their Lethargie; the People led to see the Source of Danger, and to prevent it. The View, therefore, was honest and laudable; the Means dangerous only to him that used them.601
600 John Brown: The Estimate of the Manners and Principles of the Times, 2 Bde. 1757–1758. 601 John Brown: An explanatory defense of The estimate of the manners and principles of the times being an appendix of that work, occasioned by the Clamours lately raised against it among certain Ranks. Written by the author of the Estimate, in a series of Letters to a noble friend. London 1758, S. 37 f. Vgl. ferner: Ders.: An essay on satire, occasioned by the death of Mr. Pope. Inscribed to Mr. Warburton. The second edition; corrected and enlarged by the author, in the same manner in which it is inserted in the new edition of Mr. Pope’s works, now in the press. Hg. von John
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In III.23 Der schädliche Sophist wird ein unnützer Stier von einem Hirten eingeschlossen, damit er nicht zu viel Gras zertritt. Der Text schließt wohl mit einer personalsatirischen Absage an Lessing und erinnert an den Streit zwischen Philosophen und Sophisten im alten Griechenland: „Der böse L. der mit seinen Sophismen so viele Wahrheiten verderbt, und so wenige entdeckt hat!“ (LUF, S. 157) Die hier verlautete Kritik spielt auf Lessings Beispiel II.5 Der Stier und das Kalb an. Dort zerstört ein Stier einen Stalltürpfosten, worauf ein Kalb sich rühmt, keinen derartigen Schaden anzurichten, was der Hirte kritisch kommentiert: Wie lieb wäre mir es, […] wenn du ihn tun könntest! Die Sprache des Kalbes ist die Sprache der kleinen Philosophen. Der böse Bayle! Wie manche rechtschaffene Seele hat er mit seinen verwegnen Zweifeln geärgert! – O ihr Herren, wie gern wollen wir uns ärgern lassen, wenn jeder von euch ein Bayle werden kann.602
Dem französischen Schriftsteller und Philosophen Pierre Bayle (1647–1706) wird hier die Referenz erwiesen, der sich für die neuen Ideale des Rationalismus und der Toleranz einsetzte. Auf den hier womöglich angespielten Aesop-Artikel in Bayles berühmtem und Lessing vorzüglich bekanntem Dictionnaire historique et critique (1695–1697); übersetzt von Gottsched 1741–1744 wird eine Aesop-Interpretation entwickelt, in der christliche (Natur-Gnade), geschichtsphilosophische (Wiederkehr des Gleichen) und anthropologische (Leib-Seele-Problem) Motive miteinander verknüpft sind. Bayles kritisches Konzept der Skepsis ist mit Lessings Überzeugung von Erziehung durch Kritik konvergent.603 Lessings kritisches Verfahren fußt auf der Technik der Psychologisierung. Die Triebfedern, die hinter Lastern wie Tugenden stehen, werden aufgedeckt, um die sittliche Begrenztheit des Menschen aufzuzeigen. Zugleich werde die Verantwortung des Individuums betont, denn die Erziehung des Einzelnen, nicht die gesellschaftliche Veränderung sei das Ziel von Lessings facettenreichem Fabulisten. Auch wenn Bodmer Lessing einen Sophisten tadelt, so nutzen beide das erzieherische Potential der Fabeln. Dabei ist die politische Erziehung Bodmers Schwerpunkt. In seine Fabelsammlung sind viele Beispiele eingewoben, die teilweise Fabeln der Lessingvorlage zum Anlass nehmen und weiterdenken, aber ebenso andere Quellen für neue politische Exempla beiziehen, was im Folgenden demonstriert wird.
Brown. London 1749; Essays on the characteristics by John Brown, D.D. Chaplain to the Right Reverend the Lord Bishop of Carlisle. London 1755. 602 Lessing: Fabeln. In: Ders.: Werke. Bd. 4. Hg. von Gunter E. Grimm. Frankfurt am Main 1997, S. 295–411. 603 Vgl. hierzu Jörg Villwock: Lessings Fabelwerk und die Methode seiner literarischen Kritik. In: DVjs 60 (1986), S. 60–87.
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4.2.6 Politische Exempla der Erziehung Für die politische Aufklärung galt der römische Senator und Feldherr Cato der Jüngere, prominenter Gegner Caesars, noch im 18. Jahrhundert als berühmtes Beispiel für die politisch-stoische Tugend eines verantwortungsvollen Staatsmannes, dessen v. a. um den Schutz der Zivilbevölkerung besorgte Kriegsführung zum Vorbild für spätere Generationen wurde. Dass Cato seinen moralisch-philosophischen und patriotischen Prinzipien folgend, bis zum Selbstmord ging, da er im Bürgerkrieg 46 v. Chr. in Utica bei Karthago gegen Caesar unterlag, bot immer wieder Stoff für Diskussionen, worauf Rousseau anspielt: C’etoit, continue-t-on, la folie de Caton: avec l’humeur & les préjugés héréditaires dans sa famille, il déclama toute sa vie, combattit & mourut sans avoir rien fait d’utile pour sa patrie. Je ne sais s’il n’a rien fait pour sa patrie; mais je sais qu’il a beaucoup fait pour le genrehumain, en lui donnant le spectacle & le modèle de la vertu la plus pure qui ait jamais existé: il a appris à ceux qui aiment sincèrement le véritable honneur, à savoir résister aux vices de leur siècle & à détester cette horrible maxime des gens à la mode qu’il faut faire comme les autres; maxime avec laquelle ils iroient loin sans doute, s’ils avoient le malheur de tomber dans quelque bande Cartouchiens. Nos descendants apprendront un jour que dans ce siècle de sages & de Philosophes, le plus vertueux des hommes a été tourné en ridicule & traité de fou, pour n’avoir pas voulu souiller sa grande âme des crimes de ses contemporains, pour n’avoir pas voulu être un scélérat avec César & les autres brigands de son temps.604
Auf Rousseaus Analogie zwischen dem verbrecherischen Caesar und den zeitgenössischen französischen Räuberbanden, den „Cartouchiens“605, die in der Folge des berüchtigten Banditen, Diebes und Mörders, Cartouches alias Louis Dominique Bourgignon (1693–1721), in Paris und Umgebung ihr Unwesen trieben, verweist Bodmer im Register zur Fabel I.36 Verdienst eines exemplarischen Beyspiels. Darin wird der patriotische Freiheitsheld Cato als ein sanfter friedliebender Wolf von seinen Artgenossen missverstanden und animalisiert: Wie! versezte er, habe ich für das Geschlecht der Wölfe nichts gethan, da ich ihm ein Muster von Sanftmuth und Gehorsam gab, und es lehrte die abscheuliche Lebensregel der Wölfe zu verfluchen, daß man mit den Wölfen heulen, todtbeissen und Blut vergiessen sollte? (LUF, S. 58)
604 Rousseau: Dernière Réponse. Note S. 103. 605 Lise Andriès: Introduction. In: Dies.: Cartouche, Mandrin et autres brigands du XVIIIe siècle. Paris 2010, S. 9–33. Vgl. auch Jacques Berchtold: Rousseau et Cartouche. In: Ebd., S. 338–358.
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Dass Cato hier als sanftmütiger Wolf auftritt, widerspricht der bekannten Wolfsmetapher aus der Staatstheorie und Naturrechtlehre Thomes Hobbes im Leviathan, worin „der Mensch […] dem Menschen ein Wolf“ ist (homo homini lupus) und die Menschen in Hobbes’ pessimistischem Weltbild einen „Krieg aller gegen alle“ führen (bellum omnium contra omnes). Letzteres ist ein Verhalten, das die anarchistischen Räuberbanden befolgten, die sich gegen den Staat mit ihrem eigenen Verständnis von Recht und Ordnung auflehnten. Wenn diese dann von den Ordnungshütern gefasst wurden, blühte ihnen oft die Todesstrafe. Die Diskussion über Schuld und Sühne, d. h. Todesstrafe und ihre Vollstreckungen wird in I.38 Das bequeme Aergerniss fortgesetzt, der letzten Fabel des 1. Buches. Hier soll ein Marder nach einem Hühnermord gehängt werden. Diese Übertragung in die Tierfabel stützt sich auf Rousseaus philosophische Überlegungen. Die Korrelation von Tugend und Laster betreffend, wird das Dilemma des Ordnungshüters berührt, der unter dem Vorwand, für Recht zu sorgen, die Todesstrafe vollstreckt. Wiederum verweist Bodmer im Register auf Rousseau und zitiert aus dessen Text Observation sur la réponse de son discours, worin vermutlich an Cartouches Ende auf dem Rad gedacht wird: C’est une chose très commode pour les vicieux, disait-il, que toutes les maximes qu’on nous débite depuis longtemps sur le scandale. Si on les vouloit suivre à la rigueur, il faudroit se laisser piller, trahir, tuer impunément, et ne jamais punir personne: car c’est un objet très scandaleux qu’un scélérat sur la roue. Mais l’hypocrisie est un hommage que le vice rend à la vertu. Oui, comme les assassins de César, qui se prosternoient à ses pieds pour l’égorger plus sûrement. Cette pensée a beau être brillante, elle a beau être autorisée du nom célèbre de son auteur, elle n’en est pas plus juste. Dira-t-on jamais d’un filou qui prend la livrée d’une maison pour faire son coup commodément, qu’il rend hommage au maître de la maison qu’il vole?606
Dass das heikle Thema der politischen Kritik bei den spätabsolutistischen Herrschern nicht immer auf offene Ohren stieß, war bei Rousseaus Discours sur les sciences et les arts abzusehen, als er die Preisfrage der Académie von Dijon, ob die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste dazu beigetragen haben, die Sitten zu läutern, verneinte und später in seiner staatstheoretischen Schrift Du contrat social (1762) weiter ausführte. Von der Hypothese des freien und unabhängigen Menschen im Naturzustand ausgehend, der in einer auf Konventionen gegründeten Gesellschaft zum gefesselten Sklave wird, tragen laut Rousseau Künste und Wissenschaften zur sittlichen Dekadenz der nach Luxus strebenden zeitgenössischen europäischen Gesellschaft bei. Obschon der Discours, mit dem Rousseau 1750 den ersten Preis gewann und dank der von ihm ausgelösten
606 Rousseau: Observation sur la réponse de son discours, S. 188.
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Diskussion über Luxuskritik über Nacht europaweit bekannt und berühmt wurde, bei den Intellektuellen auf Interesse stieß, so bekam er viele Gegner. Darunter fand sich der aufgeklärte ehemals polnische König Stanislas und ab 1737 Duc de Lorraine und de la Bar, dessen Tochter Marie Leszczynska 1725 Louis XV. Frau und somit Königin von Frankreich wurde. Dass der selbst hochgebildete Stanislas, der nicht nur brillante Künstler und Dichter unterstützte und an seinen Hof in Nancy holte, sondern zur Etablierung der Künste und Wissenschaften 1750 die Bibliothèque royale de Nancy sowie der Société Royale des Sciènces et Belleslettres, der späteren Académie de Nancy ins Leben rief, von Rousseaus Thesen nicht sehr angetan war, ist nachzuvollziehen. Über dessen Widerlegung seiner Abhandlung äußert sich Rousseau in einem Brief an seinen Freund Melchior Grimm, worauf Bodmer im Register verweist: L’auteur observant que j’attaque les sciences par leurs effets sur les mœurs, employe pour me répondre le denombrement des utilités, qu’on en retire dans tous les etats, comme si pour justifier un accusé on se contentoit de prouver qu’il se porte fort bien, qu’il a beaucoup d’habilité, ou qu’il est fort riche.607
Mittels Personifizierung und Animalisierung nimmt Bodmer Rousseaus kritische Aussagen zum Anlass für seine Fabel I.37 Die Verantwortungen. Darin beklagt sich ein Reh über den Wolf, den Fuchs und den Löwen, welche andere Tiere zerreißen. Mars, der Gott des Krieges, verteidigte die Angeklagten, der Wolf sei wohlauf, der Fuchs geschickt und selbst der Löwe führe „einen königlichen Staat“, womit auf die angebrachte Kritik über die verantwortlichen Vertreter der politischen Führungselite von der höheren Macht, verkörpert im römischen Kriegsgott, nicht eingegangen wird. Damit gibt Bodmer nicht nur Rousseaus Kritik ein Sprachrohr, sondern hinterfragt mit seinem zugespitzten Titel die verantwortungsvolle Position von Führungsmächten, die mit ihrer Verantwortungslosigkeit dem Gesellschaftsvertrag zuwider handeln. Ähnlich wird in II.11 verfahren, wo kritisch über die Gerechtigkeit der Waffen nachgedacht wird und der Vergleich von den Tieren mit Beispielen der Menschheitsgeschichte in der Fabel erfolgt. Hier beschweren sich einfache Hühner beim Löwen, dass ihnen der Affe Eier und „Embryonen“ klaue. Der Affe klagt dann den Löwen an, da dieser ausgewachsene Tiere vertilgt und sein Handeln als gerecht empfindet. Dann beschwert sich „ein gesitteter Mensch“ über die Barbaren, worauf ein Mexicaner die Europäer beschuldigt, Mexico mittels Pulver, Verrats und Treuebruchs zu Grunde gerichtet zu haben. An Rousseau anknüpfend, rechtfertigt sich schließlich der Europäer, indem er fragt, ob „Leute, die Canonen
607 Ebd., S. 79.
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haben, Seecarten, und Compasse mit Magnetnadeln, eine Ungerechtigkeit begehen [können]?“ Womit fast wortgetreu Rousseau wiedergegeben wird: „Le moyen que des gens qui ont du canon, les cartes marines, & des boussoles, puissent commettre des injustices?“608 Die Frage über Gerechtigkeit und richtiges Handeln, oder ob Tugend immer auch mit Ehre gleichzusetzen sei oder gerade nicht, ist im Kontext der Kriegs- und Eroberungskultur bspw. Mexikos bzw. des Aztekenreichs durch die Spanier zu Beginn des 16. Jahrhunderts, gerechtfertigt. Wenn hier Menschen in ihrem Fortschrittsglauben mit fleischfressenden Tieren gleich gesetzt werden, so spielt schon Rousseau mit dem wechselseitigen Vergleich zwischen Tier und Mensch, den er im Chiasmus wiedergibt: Tels que je demande les hommes ils ressemblent beaucoup aux bêtes; tels qu’ils sont ils ressemblent beaucoup à des hommes. – j’aime encore mieux voir les hommes brouter l’herbe du champ que de s’entre dévorer dans les villes.609
Bodmers Adaption in der Fabel II.8 Beweis, dass man Vernunft habe liest sich einerseits als famose Parodie auf den homo sapiens, der vom Tier, hier einem Ochsen nachgeahmt wird und andererseits als frühes Postulat für Vegetarier, welche im Folgenden im Ganzen abgedruckt wird: Beweis daß man Vernunft habe Der Stier sagte zu dem Ochsen: Wir stehen in einem üblen Rufe bey den Menschen, sie sagen öffentlich, daß wir keine Vernunft haben, wenn wir Vernunft hätten, so würden wir uns nicht so von ihnen mißbrauchen lassen und ihnen die Arbeiten thun, die unsere Kräfte augenscheinlich verzehren und unser Leben verkürzen. Damit sie sehen und empfinden, daß wir die Vernunft so gut haben als sie, so lasset uns die Menschen aus den Gefilden und Bergen vertreiben und in Ställe einschließen; lasset uns gegeneinander zu Feld ziehen, Stiere gegen Stiere, und Schlachten liefern; so zu enscheiden, wie viel Land jeder von uns eigenthümlich und ohne einen Teilhaber besitzen solle. Diejenigen von uns, die sich aus Schwachheit oder durch List überwinden lassen, wenn sie nicht verhungern wollen. Lasset uns lernen Fleisch essen und Blut trinken; das ist es, was die Menschen so dapfer machet. Ich dächte daß das Fleisch der Menschen uns nicht ungeschmakter oder ungesunder seyn sollte, als das Fleisch der Ochsen und der Kälber ihnen ist; und das wird wol eine von unsern Dummheiten seyn, daß wir uns noch nicht in den Sinn kommen lassen davon zu kosten. – Der Ochse antwortete: Wenn wir unsere Vernunft durch Verfolgungen, durch Schlachten und Siege, beweisen müssen, so bekenne ich, ich habe vor diesen Sachen einen unüberwindlichen Abscheu; lieber will ich in Ewigkeit der dumme Ochse heissen, als daß ich Fleisch von den Menschen oder Thieren esse oder ihr Blut trinke. (LUF, S. 74f.)
608 Rousseau, Dernière réponse. 1752, S. 203. 609 Ebd., S. 205.
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Spezifisch für die literaturkritischen Dichtungen Bodmers sind dessen politische Lehren, die gerade in der pädagogischen Kurzformel der Fabel eine prägnante Illustration finden. Vor dem Hintergrund des Siebenjährigen Krieges und der zeitgenössischen Diskussion über patriotische Gefühle und dem Tod fürs Vaterland kritisieren Bodmers Fabelerzählungen dezidiert die Kriegsideologie der damaligen Zeit. Im Kontext des Siebenjährigen Krieges wird in I.23 Die Truppen von verschiedenen Nationen Sinn und Zweck des Militärs infrage gestellt, wenn hier von einem internationalen Heer erzählt wird, das aus verschiedenen Vögeln besteht. Werden die Vögel dieser ins Bild gesetzten Fremdenlegion freigelassen, so entfliegen alle Vögel in die unterschiedlichsten Richtungen: „Ja, die Tauben selber blieben nicht in einer Schaar beysammen, sondern flogen mit den fremden Vögeln hier und dort hinaus.“ (LUF, S. 39) Ferner finden sich Fabeln, die jene Lessings zum Anlass nehmen, und von Bodmer neu interpretiert und politisch konnotiert werden. Wenn sich junge Wespen in Lessing, I.16 über ihren sogenannten göttlichen Ursprung freuen, da ihre Larven im Kadaver eines im Krieg gefallenen Rosses abgelegt wurden, stilisiert Bodmer die Thematik zu einer Polemik gegen übertriebenen Patriotismus. So werden in II.25 Der Stolz auf das Vaterland Maulwürfe aufs Korn genommen, die sich damit brüsten, auf einem Kirchenhof zu leben, wo „eine Schaar Helden […] in der Bschützung des Vaterlandes gefallen“ war: O, riefen sie, wie günstig hat das Schicksal für unsern Ruhm gesorgt, wir wohnen bey den Edeln und Helden; die Erde, die wir durchnagen, war einmal Fleisch und Blut in menschlicher Bildung und gehörete den dapfersten der Nation zu, die davon belebet wurden; kann man prächtiger wohnen. (LUF, S. 103)
Die moralische Absage an derlei Stolz erfolgt im nächsten Absatz: Diese seltsame Prahlerey könnte einen andern Fabeldichter an die Abkömmlinge des Ariovistens, des Orgetorix, des Hermanns, erinnern, die sich groß dünken, daß sie den Boden treten, den diese Helden getreten, und von der Erde leben, aus der sie gelebt hatten. (LUF, S. 103f.)
Von Prinzenerziehung, Aufgaben und Pflichten der Mächtigen handeln etliche Fabeln. Wird in I.26 Der Löwe und der Tiger bei Lessing ein König der Tiere präsentiert, der aufgrund einer spöttischen Beleidigung sich seiner Macht bedient und den ihm Unterlegenen gnadenlos überwältigt, handelt in Bodmers Gegenbeispiel II.26 Der Großmuth ein Löwe weitaus großzügiger und weitsichtiger gemäß eines gegenüber seinen Untertanen verantwortungsbewussten Souveräns, wenn er eine Maus, die „in ihrem Spiele unvorsichtiger Weise in seine Klauen gefallen war, wieder in die Freyheit setzte“. Auf den Tadel des Fuchses, dem die
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Maus dergleichen „mit dem Leben [hätte] bezahlen müssen“, antwortet er: „Du hättest gehandelt wie der Fuchs, aber ich bin der Löwe.“ (LUF, S. 105f.) In II.30 wird ein Löwe, der einen Tiger fast umbringt, weil dieser ihn beleidigt hat, nicht als Sieger, sondern als Schlächter bezeichnet. Lässt Lessing einen neugeborenen Prinzen von den Feen in III.4 mit dem Weitblick eines Adlers und Verachtung ausstatten, erhält der Prinz in II.27 bei Bodmer dagegen einen einsichtsvollen Verstand, der ihn „das Beste seines Reiches bis in dem kleinsten zu bemerken“ lässt, sowie einen feurigen Willen, nach dem Besten zu streben. Mit einem Negativbeispiel wird in der Fabel Die Kunst des Tyrannen gegen die Willkür angeschrieben, womit Bodmer einem aufgeklärten Spätabsolutismus entgegenwirkt: Die Kunst der Tyrannen Der Erb eines Königes gieng in dem königlichen Garten herum, und schlug den Mohnblumen und andern von einiger Gestalt, die niedrigern empor stiegen, die Häupter mit der Cane ab. Ein Höfling fragete ihn, warum er das thäte. Der Prinz antwortete: Ich übe mich in der Kunst, Gehorsam zu erhalten. (LUF, S. 111)
Das sinnlose Köpfen der Mohnblumen ist mit dem Führungsstil eines Despoten, Diktators oder Tyrannen gleichzusetzen, der in einer totalitären Staatsform die absolute Macht über Leben und Tod der Untertanen besitzt. In dieser unfreien Staatsform, die weder über ein Parlament, noch über Parteien verfügt und in welcher jegliche kritische Opposition ausgeschaltet oder gnadenlos verfolgt wird, sind die Untertanen ihrem Herrscher zu unbedingtem Gehorsam verpflichtet. Dieses ironisch gezeichnete Negativexempel kontrastiert Bodmers liberale republikanische Staatsauffassung, die an seine beiden weiteren Lessingparodien Polytimet (1760) und Odoardo (1772) erinnern.610
4.2.7 Fazit In der Querelle des Anciens et des Modernes, die um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert in Frankreich einsetzte, wurde darüber gestritten, inwiefern die Antike noch das Vorbild für die zeitgenössische Literatur und Kunst sein könne. Der Streit drehte sich um zwei gegensätzliche ästhetische Modelle. So konkur-
610 Vgl. Katja Fries: Bodmers Lessingparodien als Literaturkritik. In: Anett Lütteken und Barbara Mahlmann-Bauer (Hg.): Bodmer und Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung. Göttingen 2009, S. 429–458; dies.: Bodmers Lessingkritik als Literaturparodie. In: Zürcher Taschenbuch auch das Jahr 2008, Nr. 128 (2007), S. 512–525.
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rierte das Prinzip der Nachahmung, das sich an der Antike als dem absoluten Schönheitsideal orientierte mit jenem des aus sich selbst schöpfenden Genies. Dabei wurde über die Aesopische Fabel diskutiert, deren antike Handlungsstränge schon La Fontaine in seinen Fabeln adaptiert hatte, auch Swift streifte diese zum Schluss seiner Bücherschlacht (The battle of the books). An die französischen und englischen Diskussionen über die Fabel schließt sich dann nicht zuletzt Gottsched an, der die deutsche Fabelwelle auslösen sollte. Neben den vielen deutschen Fabeldichtungen wird die literaturästhetische Kontroverse über die pädagogischen Funktionen unter Berufung auf die antiken Modelle Aesops und seines Nachahmers Phaedrus unter den Vorzeichen der Herrschafts- und Moralkritik vielstimmig von den Zürchern Bodmer und Breitinger zumal mit Gottsched und Daniel Stoppe und darauf mit Lessing verhandelt. Die Zürcher verknüpften ihre Fabellehre mit ihrer Poetik des Wunderbaren und bezogen sie in ihre poetologische Reflexionen über Bilder, Gleichnisse und Allegorien in der Literatur mit ein. Bodmers Satire Aufrichtiger Unterricht von den geheimsten Handgriffen, in der Kunst Fabeln zu verfertigen. Dem Hr[n]. Johann Wursten von Königsberg mitgetheilt von Hr. Daniel Stoppen (1745) steht im Kontext jener fahrenden Mediziner oder Wunderdoktoren, die noch im 18. Jahrhundert mit den Wanderbühnen von Ort zu Ort zogen, um auf Jahrmärkten ihre Dienste anzubieten. Bodmers Parodie ist in der Rezeptur einer medizinischen Kur gehalten, die er dem seiner Ansicht nach „kränkelnden“, weil „unfähigen“ Dichter Stoppe verabreichte, damit sich dieser in der Fabeldichtkunst perfektioniere. Bodmer bedient sich in seinem StoppeVerriss der derb-komischen Komödienfigur des Hanswurst, die 1712 vom Wanderarzt und Pächter des Wiener Kärntnertortheaters Josef Anton Stranitzky als deutsches Pendant zum Harlekin der Commedia dell’arte-Truppen weiterentwickelt wurde. Kurz nachdem Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) das Pseudonym jener Fabelbeispiele aus den Zürcher Critischen Briefen gelüftet hatte: Hinter „Hermann Axel“ verbarg sich kein anderer als Bodmer, erschienen seine Fabeln und Abhandlungen (1759). Darauf reagierten die Zürcher Breitinger und Bodmer mit einer Gemeinschaftsproduktion, den Lessingischen unaesopischen Fabeln (1760). Breitinger widmete sich im ausführlichen Epilog den poetologischen Fabelabhandlungen Lessings und stritt mit diesem über die Vorbildlichkeit der Aesopischen Muster und den allegorisch-lehrhaften Charakter der Fabel. Aus Bodmers Feder flossen über hundert Fabeln, von denen sich nur ein gutes Drittel auf Lessings Fabeln direkt bezieht. Die Auswertung, Auswahl und Analyse der intertextuellen Fraktur offenbaren Bodmer als Aufklärer der Sitten und Erzieher, der Fragen der Anthropologie, der Gesellschaftsmoral, der politischen Mitbestimmung und der öffentlichen Kommunikation im Fabelkleid erörterte, um die Urteilskraft seiner
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jugendlichen Leser zu schärfen. Der intertextuelle Vergleich dieser Fabeln Bodmers mit jenen Lessings offenbart Konvergenzen und Divergenzen: So sind diese Fabeln nur teilweise darauf angelegt, im Lichte ihrer Vorlage gelesen zu werden. Denn für Bodmer boten Lessings Fabeln den Anlass und willkommenen Anstoß zur eigenen dichterischen Gestaltung, deren Ziel die inhaltliche Kritik und die Profilierung eigener moralphilosophischer und staatstheoretischer Ideen war. Dies führt zu inhaltlich-inovativen Verschiebungen und dramaturgischen Neuentwürfen. Beim Zürcher Vorhaben handelt es sich nicht nur, wie von der Forschung umrissen, um eine „polemische Nachahmung“611 der Vorlage und eine Widerlegung der Fabeltheorie Lessings, sondern um ein eigenständiges Fabelbuch, das über die Vorlage hinausgeht. Neben dem Rekurs auf antike Vorbilder wie Aesop und Phaedrus finden sich vereinzelte Fabelbeispiele aus dem Alten Testament oder zu mittelalterlichen Texten, die sämtlich allgemeine Erziehungsund Verhaltensfragen tangieren. Zudem rekurriert eine beachtliche Anzahl der Fabeln Bodmers auf Rousseaus Rechtfertigungsschriften, d. h. auf die polemischen Reaktionen zu seinem ersten Discours sur les sciences et les arts (1751) sowie auf seine Anti-Theaterschrift Lettre à d’Alembert sur les spectacles (1758). Daneben reagiert Bodmer in seinen Fabeln ebenso auf die Schriften der zeitgenössischen englischen Moralisten John Brown und Alexander Pope sowie des irischen Satirikers Jonathan Swift. Die Tierfabel blickt auf eine lange Gattungstradition bis in die Antike zurück: Beliebt im Zeitalter des Humanismus und der Reformation, fehlte die Gattung im 17. Jahrhundert und wanderte in die Emblematik ab, da die optimistische Weltanschauung im Widerspruch mit den Memento-Mori-Appellen sowie der VanitasMentalität des Barock stand. Die Struktur der Fabel folgte der Emblematik, wenn der Fabeltext oft der pictura eines barocken Emblems und die moralische Schlusssentenz jener einprägsamen scriptura nachempfunden wurde. Die Fabel, die in konzentrierter Form die Darstellung einer allgemeinen moralischen Vernunftwahrheit in einem poetisch erdachten Einzelfall verkörpert, etablierte sich dann wieder im 18. Jahrhundert als Gattungsmodell und erlebte geradezu ihre Blütezeit im Zeitalter der Aufklärung, wofür Gottscheds Critische Dichtkunst (1730, 41754) die Weichen stellte. Neben der auf Aristoteles zurückgehenden Bedeutung von fabula als „Mythos“ wird mit fabula die epische Fabel von der dramatischen unterschieden. Die Aesopische Tierfabel ist eine Untergattung, eine Kleinform der epischen Fabel, die auf den aus Samos stammenden griechischen Sklavendichter Aesop (6. Jh. v. Chr.) zurückgeht.
611 Fick: Lessing Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 22004, S. 198.
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Die spezielle Form der Aesopischen Fabel wurde von Gottsched zum Prototyp der optimistischen Tugendvermittlung erhoben, welche sich hervorragend dafür eignete, „die an sich bitteren Lehren, gleichsam zu verzuckern“ (GCD, S. 446). Der spezifische Fabelbegriff der Aesopischen Fabel meint eine knappe, lehrhafte Erzählung, die moralische bzw. politische Normen, teils in pädagogischer, teils in sozialkritischer Absicht zu vermitteln sucht. Auf diese traditionelle Gattungsdifferenzierung beziehen sich Gottsched, die Zürcher Breitinger und Bodmer sowie Lessing in ihren jeweiligen Poetiken. Fragen über den allegorischen Gehalt der Fabeln und deren Einteilung gaben Anlass zur Kontroverse über die Fabel, die dann von Lessing und den Zürchern weitergeführt wird. In Lessings Abhandlungen wird die Fabel als die kompakteste Form der Didaktik und nicht zur Poesie gehörende Lehrdichtung verstanden, dabei bleibt er in der Formulierung der Lehre zurückhaltend. Sich an Wolff anlehnend, der die Fabel als moralisches Exempel verstand, erachtet Lessing die Fabel in Zwitterstellung als halbliterarische und didaktische Gattung. Wolffs mathematische bzw. geometrische Theorie des moralischen Handelns wird anhand von Aesops Fabeln als didaktisches Konzept entwickelt, welches Lessing als stilistisches Ideal in seiner poetischen Fabellehre aufnimmt. Beim allgemeinen moralischen Satz, den der Leser in der Fabel „anschauend“ erkennen soll, ist weniger eine Morallehre im engeren Sinn, sondern eine praktische Lebenswahrheit, die ohne weiteres in eine Handlung transponiert werden kann, gemeint. In seiner Fabeltheorie versuchte Lessing, eine möglichst präzise Typologie der einfachen und zusammengesetzten Fabeln zu erstellen. Wird in der einfachen Variante die Lehre in eine knappe Handlung geschlossen, deren Elemente eine unmittelbare Bedeutung aufweisen wie in der Aesopischen Fabel, so treten allegorische Elemente nur in der zusammengesetzten auf. Lessings Fabeln in pointierter Prosa bestechen durch geschliffene Dialoge. Die typisierende Charakterisierung der Tiere, an welcher Gottsched noch festgehalten hatte, wird hier mittels einer neuen Individualisierung unterlaufen. Überraschungseffekte werden, wie beispielsweise in Der Rabe und der Fuchs, bewusst von den vertrauten Mustern des Aesop abweichend, eingeflochten, wenn nun der normalerweise schlaue Fuchs aufgrund des vergifteten Käsestücks bei Lessing sterben muss. Seine Arbeit zu den Fabeln verbindet poetologische Reflexion mit der eigenen Produktion und verdeutlicht, wie Dichtung letzten Endes immer eine Frucht der literarischen Kritik ist. In Abwendung von antiken Vorbildern und französischen Leitbildern setzte Lessing mit seinen Fabeln neue Maßstäbe und war parallel um klare Begriffsbestimmungen in seiner theoretischen Darlegung in den Fabelabhandlungen bemüht. Inhaltlich widmen sich seine Fabeln der literarischen Kritik, der Wissenschafts- und Sozialkritik sowie den allgemein menschlichen Problemen.
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kative Potential der Vorlage genutzt, um dank der bekannten Struktur die Formulierung eigener Schwerpunkte umzusetzen, die oft literaturästhetisch oder soziopolitisch motiviert sind. Mit der Figur Capriccio ist ein Doppelgänger bzw. eine Spiegelfigur geschaffen, dank der Lessings Muse zuerst negiert und durch diesen Gegenentwurf erneuert wird, was nach Bachtin eine typische Strategie des Parodieverfahrens darstellt.612 Denn bezeichnenderweise ruft Bodmers Fabelerzähler Capriccio nicht wie vormals Lessings Muse zur richtigen Fabelrezeption auf, sondern pfeift zum literaturkritischen Gegenangriff. Zahlreiche Fabeln spielen auf die zeitgenössische Literaturszene sowie die neuen Dichtungskonzepte Lessings an, von denen sich Bodmer wiederum kritisch absetzt. So findet sich hier bspw. der Nucleus zu Bodmers Theorie des Politischen Schauspiels, die er später in Sulzers Allgemeinen Theorie der schönen Künste formuliert, übrigens wiederum auf Rousseaus Theaterkritik rekurrierend. Rousseau hielt das Theater für amoralisch und politisch schädlich, weil es Trennungen und Verdoppelungen in die Welt projiziere, die dem Ideal einer ursprünglich natürlichen Gesellschaft entgegen wirken, wird hier doch der sich selbst zelebrierende Hof im Theater gespiegelt. Bekanntlich bildete Lessing mehrheitlich die Titel seiner Fabeln aus den Figurennamen, wie man es von Aesop und später von La Fontaine kennt (Der Rabe und der Fuchs; II.4). Neben Tieren treten ferner personifizierte Pflanzen (Der Dornenstrauch; II.27) oder Figuren aus der griechischen Mythologie (Die Furien; II.28) auf. Dagegen weisen Bodmers Gegenbeispiele jeweils immer einen anderen Titel auf, der die moralische Quintessenz und Stoßrichtung der jeweiligen Fabel schon ankündigt, worauf dann im Text an die Situationen aus den bekannten Vorlagen angespielt oder angeknüpft wird. Bodmers Fabeln verstehen sich als illustrierende Exempla zum vorweg angekündigten Merksatz, einem Verweis auf die scriptura der barocken Emblematik. Mit dieser Hervorhebung des schon Dastehenden erhalten Bodmers Fabeltexte ein deiktisch-didaktisches Moment und orientieren sich am klassischen Muster der Embleme, insbesondere den Lemmata (Motti), die in Gestalt eines knappen lateinischen oder griechischen Wahlspruchs eine ethische Wahrheit ausdrücken. Bodmers Fabeln zeichnen sich ferner durch eine deutlich explikative Funktion aus, die den Leser vermutlich im Kontext des Logikunterrichts Breitingers zu einer zusätzlich vernünftigen Interpretation der Dinge hinführen will. Man kann wohl davon ausgehen, dass sich Bodmer mit seinen Beispielen an ein gezieltes Publikum richtete, nämlich an seine Schüler des
612 Bachtin: Literatur und Karneval. 1969, S. 55.
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Collegium Carolinum, die heranwachsenden jungen Bürger aus Zürich und Umgebung. Denn seit der Antike und gerade im Zeitalter der Aufklärung stieß die Fabel im schulischen Rahmen auf großen Anklang und wurde zu didaktischen Zwecken verwendet. In Frankreich wurde bspw. La Fontaine auf Latein übersetzt und adaptiert. Allerdings rät Rousseau in II.3 des Émile von La Fontaines Fabeln aufgrund ihrer für Kinder nicht leicht ersichtlichen Moral ab, da diese eher an den Lastern wie der List des Fuchses leiden oder über den Raben lachen würden. Bodmers Fabeltexte sind in den institutionellen Kontext des Logikunterrichts der Zürcher Hohen Schule sowie jenen der gelehrten Sozietäten zu setzen und können als eine angewandte Form der Aufklärung verstanden werden. Die an die Tradition des Rhetorikunterrichts anknüpfende Methode des paradeigma benutzte seit dem 1. Jahrhundert n. Chr. die Fabel in den Schulen als Hilfsmittel. Denn die in der Regel kurzen Fabeltexte eigneten sich vorzüglich, um „Begriffe zu klären“ und die Studenten exemplarisch im Denken zu schulen, wie dies Breitinger am Carolinum als auch in seiner Schrift Artis cogitandi principia (1736, 21751) vertrat. Pädagogische Modelle erläutert Bodmer weiter in seinen Erzählungen. Exemplarisch sei hier auf seine Pygmalion-Adaption in 4.3. Pygmalion – ein pädagogisches Modell sowie auf die Fingierung der edlen Wilden in der Inkel und YarikoErzählung in 4.4. Salonkultur und Kolonialismuskritik verwiesen. Dass nicht nur die beiden jeweiligen Paarkonstruktionen, sondern ferner beide Frauenfiguren, Elise und Yariko, ebenfalls als Spiegelfiguren gelesen werden können, die sich auf originelle und innovative Art in Bodmers Parodien von den aufgedrückten Rollen – nämlich im Spiel mit Prosopopöie und Parabase – zu emanzipieren suchen und in gewisser Weise den Nachfolgern in Form einer antizipierenden Metakritik vorgreifen, wird in den beiden folgenden Kapiteln thematisiert.
4.3 Pygmalion – ein pädagogisches Modell In Bodmers pädagogischer Erzählung Pygmalion und Elise (1747, 21749) wird im Rahmen der für die Aufklärung typischen Robinsonade ein Erziehungsmodell entwickelt, das an französische, englische und deutsche Vorlagen in der Tradition der Anakreontik und der Bukolika anknüpft. Die berühmtesten Vertreter der Schiffbrüchigen aus der Feder Daniel Defoes und Hans Joachim Campe, die an eine einsame Insel gespült werden und in der Isolation und im Kampf ums Überleben oftmals auf Einheimische treffen, um soziale Beziehungen mittels Kommunikation aufzubauen, haben ihre literarischen Quellen in Homers Odyssee oder Balthasar Graciáns allegorisch-satirischem Roman El Criticon (1652). Letzterer besaß für Bodmer hinsichtlich der Konstruktion allegorischer Doppelfiguren Modellcharakter.
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Bei der textvergleichenden und textimmanenten Analyse von Bodmers Pygmalion-Erzählung, die auf André-François Boureau-Deslandes’ materialistische Fassung antwortet und auf Rousseaus Melodrama Pigmalion, scène lyrique (1762) vorgreift, sind Erziehungs- und Liebesmodelle im Kontext des Geschlechterdiskurses erkennbar. Weniger die Allegorie der Kunst betonend, experimentiert er mit den sonst aus den klassischen Tragödien bekannten Handlungselementen der Anagnorisis und der Peripetie. Weiter soll gefragt werden, wie diese dramatischen Mittel neben Apostrophe und Prosopopeia in den hier postulierten epistemologischen Erziehungs- und Liebeskonzepten anhand der Statuenbelebung und des wechselseitigen Spiels zwischen Schöpfer-Künstler und Statuen-Geschöpf in Bodmers Pygmalion-Darstellung ihre Anwendung finden.
4.3.1 Der Pygmalion-Mythos Das aus der Antike v. a. durch das 10. Buch von Ovids Metamorphosen berühmte Motiv der Statuenbelebung und der Bildhauermythos aus dem Munde Orpheus erlebte im 18. Jahrhundert eine verbreitete Modernisierung im französischen und deutschen Sprachraum.613 Bodmers Prosa-Erzählung Pygmalion und Elise (1747–49), etwa zur gleichen Zeit wie Jean Philippe Rameaus Acte de ballet Pygmalion (1748) entstanden, lehnt sich an Jean de La Fontaines Fabel Le Statuaire et la Statue de Jupiter (1678) an. Ferner sucht er André-François Deslandes’ (1690–1757) materialistisch, erotisch gefärbtem philosophischen Roman Pigmalion, ou la Statue Animée (1741) entgegen zu wirken und geht der stark auf den Künstler selbst konzentrierten Selbstreflexion in Jean-Jacques Rousseaus Melodrame Scène lyrique. Pygmalion (1762) bzw. dem narzisstischen Zwischenspiel zwischen Selbstliebe (amour de soi), Eitelkeit (amour propre) sowie der Nächstenliebe bis hin zur Leidenschaft, voraus. Pamela Gay-White zeigte in ihrer Analyse von Rousseaus Pygmalion, inwiefern hier die theatralische Präsenz der Statuenbelebung bei Rousseau dreifacher Art ist: „the theatrical representation of the self is Rousseau’s affirmation and is created using the artist figure, the spectator, and the statue as triple points of portraiture wherein the self on one level betokens a conversation about the self
613 Eine gute Zusammenfassung der Forschung liefert Inka Mülder-Bach: Im Zeichen Pygmalions. Das Modell der Statue und die Entdeckung der Darstellung im 18. Jahrhundert. München 2010, S. 7–19 (Einleitung). Umfassende literarische Motivgeschichten bieten Heinrich Dörrie: Pygmalion. Ein Impuls Ovids. Opladen 1974; Annegret Dinter: Der Pygmalion-Stoff in der europäischen Literatur. Rezeptionsgeschichte einer Ovid-Fabel. Heidelberg 1979.
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on other levels.“614 Starobinski kommentiert den Beginn des Melodrame, Scène lyrique. Pygmalion worin sich Rousseau als melancholischer Künstler in der Krise mit Pygmalion personifiziert: „L’image de la statue voilée se dresse ainsi.“615 GayWhite versteht ferner Rousseaus Pygmalion als Beginn einer Krisenerfahrung und der Beziehungen zwischen dem Selbst, dem geschaffenen oder wieder erschaffenen Selbst und der Visualisierung dieses Schaffensprozesses, der von seinesgleichen als lyrisches Schauspiel miterlebt wird. Diese Tripolarität wird in den Dialogues. Rousseau Juge de Jean-Jacques nochmals in theatralischer als auch lyrischer Hinsicht objektiviert. Gerade die Schlussszene versucht eine Konzentration der Selbstreferenz des Kunstwerks in einer theatralischen Mise en abyme, wenn Pygmalion sich gleichsam als autoreferenzielle Darstellung von Rousseaus Leben und Werk als mehrfache Überlagerungen des Ichs versteht.616 Der weltberühmte Pygmalienstoff, der das Dreiecksverhältnis zwischen Künstler, Kunst und Menschen veranschaulicht, bot immer wieder Anlass zu unzähligen literarischen, künstlerischen, karikaturistischen, theatralischen und musikalisch-filmischen Auseinandersetzungen von Ovid bis hinzu Sir George Bernard Shaws (1856–1950) Komödie Pygmalion (1913).617 Die beliebte und belebende Statuenliebe wurde schon im 18. Jahrhundert meist als Allegorie für den künstlerischen Schaffensprozess verstanden. Hans Sckommodau erkennt in den verbreiteten französischen Auseinandersetzungen mit dem Pygmalion-Stoff v. a. parodistische Verfahren in Literatur und Musik, „die die jahrhundertealte Charakteristik phantastischer Liebe als Narrheit mit
614 Pamela Gay-White: Rousseaus Pygmalion: A Prelude to the Dialogues. In: Rousseau juge de Jean-Jacques. Études sur les Dialogues. Hg. von Philip Knee und Gérald Allard. Paris 2003, S. 195– 207, hier S. 198. Vgl. zu Rousseaus Pygmalion auch Paul de Man: Self (Pygmalion). In: Ders.: Allegories of Reading. Figural Language in Rousseau Nietzsche, Rilke und Proust. New Haven, London 1979, S. 160–187. 615 Starobinski: Jean-Jacques Rousseau. La transparence et l’obstacle. Paris 1971, S. 90. 616 „In the final scene, Pygmalion’s interior monologue achieves pressence as oratory reflecting Rousseau’s thoughts on posterity at the time of its writing. The moral and social issues of the alienated state present in the musical-theatrical representation of text and mise en scène are visualized as the desire to mold from an artwork representative of the unified self. Displaced in his studio, the sculptor Pygmalion thus encacts on stage a mise en abyme or representation of Rousseau’s life and work, a phenomenon constructed, like the self, of multiple layers of being.“ In: Pamela Gay-White: Rousseau’s Pygmalion: A Prelude to the Dialogues. In: Rousseau juge de Jean-Jacques. Paris 2003, S. 195–207, hier S. 207. 617 Diese Adaptation lieferte schließlich der Broadway-Adaptation im Musical My fair Lady 1956 die Grundlage, welche 1964 in der Regie von George Cukor mit Rex Harrison als Professor Higgins und der unvergesslichen Audrey Hepburn als Elisa, die sich vom Cockney-English sprechenden Blumenmädchen zur eleganten und stilsicheren Dame von Welt verwandelt, verfilmt wurde und seither doch so manche Kindheit begleitet.
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dem um die Mitte des 18. Jahrhunderts recht modernen Interesse für ,philosophische‘ Erkenntnis“618 kombiniert. Darin fallen die manchmal komplex formulierten Fragestellungen der zum Leben erwachten Statuen oder Automaten auf, die sich zum einen an Lockes Erfahrungspsychologie und zum anderen an der epistemologischen Philosophie der Zeit orientierten, bzw. diese in einigen Fällen auch parodierten oder karikierten. Die Pygmalion-Karikatur gipfelte schließlich bei Honoré Daumier, der 1842, die Antikenverehrung der Zeitgenossen kritisierend, diese trivialisierte und eine gealterte Schöne einen zottelig-clownesken Künstler um eine Prise Tabak bitten lässt.619 Zudem wurde die belebte Bildsäule im Zeitalter der Aufklärung als Maschine oder funktionierender Automat wahrgenommen, was dem seit der Antike bezeugten Interesse für selbstgehende oder selbstfahrende Maschinen entsprach. Im 17. und 18. Jahrhundert bekamen Automatenbauer mit ihren Androiden Konjunktur, bspw. Wolfgang von Kempelens Schachtürke oder Jacques de Vaucansons mechanischer Flötenspieler, beide sind Vorläufer menschenähnlicher Roboter. Für Vaucansons Wunder der Bewegung, mit denen er künstlich das Leben nachzubilden suchte, schrieb der Mathematiker, Philosoph und liberal eingestellte Politiker der Aufklärung, der Marquis de Condorcet (1743–1794), der sich n.a. für das Wahlrecht der Frauen, die Gleichberechtigung von Schwarzen sowie gegen den Sklavenhandel eingesetzt hatte, eine Laudatio, worin er die Bewegung als Lebenserscheinung verstanden wissen wollte: Il ne faut point regarder un mécanicien comme un artiste qui doit à la pratique ses talents ou ses succès. On peut inventer des chefs-d’œuvre en mécanique sans avoir fait exécuter ou agir une seule machine, comme on peut trouver des méthodes de calculer les mouvements d’un astre qu’on n’a jamais vu.620
Auch der materialistische Arzt und Philosoph Julien Offray de La Mettrie (1709– 1751) – das Enfant terrible der Lumières –, fasziniert von der Idee eines sich nur im mechanischen Bewegungsspiel manifestierenden Lebens, verwies in seinen Schriften immer wieder auf den berühmten Automatenbauer Vaucanson.621
618 Hans Sckommodau: Pygmalion bei Franzosen und Deutschen im 18. Jahrhundert. Wiesbaden 1970, S. 13. 619 Honoré Daumier: Pygmalion (1842). Histoire ancienne. Nr. 47. In: Le Charivari (le 28 décembre 1842). Vgl. u. a. die Beiträge. In: Mathias Mayer, Gerhard Neumann (Hg.): Pygmalion. Die Geschichte des Mythos in der abendländischen Kultur. Freiburg im Breisgau 1997. 620 „Eloge de M. de Vaucanson“. In: Œuvres de Condorcet. Bd. II. Paris 1847, S. 649. 621 Vgl. Ursula Pia Jauch: Jenseits der Maschine: Philosophie, Ironie und Ästhetik bei Julien Offray de La Mettrie (1709–1751). München 1998.
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In Anlehnung an jenes zeitgenössische Interesse für die Automaten wird auch Deslandes’ Statue als funktionsfähiger Organismus vorgeführt, der sich nach Pygmalions Belehrung wie ein Kind in seiner Wiege entwickelt: La machine se développe peu à peu, ses ressorts jouent les uns sur les autres, les fluides & les solides se combattent et résistent tour à tour […] Ensuite, la machine décroit, s’use, se détraque, périt.622
Da der Text ein Prätext für Bodmers Pygmalion-Interpretation ist, soll dieser im Folgenden kurz vorgestellt werden.
4.3.2 „Piscis hic non est omnium“ In der um seinen Text werbenden Widmung an Madame la Comtesse de G bezeichnet Deslandes seine Pygmalion-Fassung als eine Bagatelle, von der er hoffe, Madame sei von deren teilweise sehr lebendigen Zügen nicht verletzt, was aber mit dem zum einen sowohl bizarren als auch philosophischen Thema zu tun habe: Un homme amoureux de son ouvrage: une Statue vivante et animée: de la Matière qui passe par plusieurs essais, qui reçoit différentes modifications, qui se meut, qui a des sentiments; une Divinité puissante qui lui accorde jusqu’à la faculté de penser, & de raisonner! (BDP, S. VIf.)
In der als Gespräch angelegten Vorrede wendet sich der Dichter direkt an die Comtesse und äußert materialistische Überlegungen: Mais, Madame, mettons un peu les préjugez à part, & raisonnons ensemble. Qu’est-ce que la Matière? En quoi consiste son essence? Avouons-le de bonne foi: nous n’en sçavons rien. Un voile obsur couvre nos yeux, & les couvrira, selon les apparences longtems. Il est vrai que nous connaissons quelques proprietés de la Matière; mais ces proprietés sont-elles les seules qui lui appartiennent? N’y en a-t-il point d’autres, & même d’un rang supérieur? (BDP, S. VIII–X)
Die Metapher des dunklen, die Augen bedeckenden Schleiers verbildlicht die Unwissenheit, hinsichtlich der Materie, die vielleicht, wie Deslandes vermutet, weniger von der Schwerkraft (la pesanteur ou la tendance vers un centre), sondern von den Elementen Feuer (le feu) und Luft (l’air) bestimmt sind, nicht
622 Boureau-Deslandes: Pigmalion ou la statue animée. London 1742, S. 54 f. Vgl. auch Rolf Geißler: Boureau-Deslandes. Ein Materialist der Frühaufklärung. Berlin 1967.
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ohne sich ferner im allgemeinen despektierlich über Theologen und Philosophen zu äußern: Le gros des Théologiens & les Philosophes se récriera contre cette décision, toute modeste qu’elle est; mais laissons les s’occuper de vaines Chimères, laissons les prendre leurs Sylogismes pour les Oracles, & leurs Idées superstieuses pour la Religion. (BDP, S. XIIIf.)
Sich der Brisanz dieses anonym publizierten Textes bewusst, bittet der Autor um vorsichtigen Umgang, der nicht von ungefähr zur klandestinen Literatur gehört: En finissant, Madame, je vous demande une grace, c’est de ne montrer cette bagatelle qu’à peu de personnes. Il y a un certain ton qui fait passer la vérité; mais ce ton n’est pas entendu de tout le monde, & même il ne doit pas l’être. Piscis hic non est ominum. (BDP, S. XIVf.)
Dessen lateinisch fingiertes Diktum als Etiquette für klandestine Literatur „Ce poisson n’est pas pour tout le monde“ oder zu Deutsch: „Dieser Fisch sei nicht für alle bestimmt“, wohl auch deswegen von Diderot auf der Titelseite seiner 1746 erschienenen Pensées philosophiques zitiert wurde. Die kleine Bagatelle Deslandes’ beginnt, nicht ohne dass der Dichter die Vorrede in einer kurzen Ode an die Comtesse enden lässt, in der die hier behandelten Themen von Philosophie, Kunst und Liebe spielerisch evoziert werden: Vous, qui dans ce Printems de l’âge Où l’on ose à peine penser, Où d’un amoureux badinage Le cœur ne sçaurait se passer, Vous, qui plus fière & plus hardie avez élevé vos regards, Vous, qu’une nouvelle parure, Une fontange, une coiffure, Ne dégoûtent point des Beaux-Arts. Daignez, noble & sage Julie, Excuser dans Pigmalion, D’une bizarre passion L’égarement & folie. Helas! Tout est illusion, Tout est caprice dans la Vie. (BDP, S. XVI)
In dieser huldvollen Referenz an die Gönnerin werden sämtliche Klischees der Liebe im Amalgam mit der Philosophie sogar in wechselnden Reimschemata (Kreuzreim (abab), Schweifreim (ccd, eef) und umarmendem Reim (ghhg) und finalem Kreuzreim (hg)) berücksichtigt. Der um die Gunst der Gönnerin werbende Dichter preist die optischen Vorzüge der Comtesse, die er mit Shakespeares Julia in einer kleinen Liebesode apostrophiert. Bei dieser höflichen Respektzollung, bei der traditionell um die Protektion der Kunst gebeten wird, wird ein architekto-
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nischer Raum eröffnet. Darin öffne die Comtesse ihren Blick (le regard) zur Philosophie, die hier über der Literatur zu stehen kommt. Das stereotype Kompliment der Jugend, im Frühling des Alters, das metaphorisch-metonymisch neue Abenteuer des Herzens und der Liebe konnotiert, wird noch durch das Kompliment der für damalige Zeiten schon etwas veralteten „Hochfrisur“, der Fontange, ergänzt. Die mit einem einfachen Tuch hochgebundene Frisur, die einst eine Geliebte Louis’ XIV. am Hof eingeführt hatte, sei nach dem Tode des Königs 1715 aber wieder aus der Mode gekommen.623 Gleichwohl wird mit dieser vielleicht schon aus der Mode gekommenen Frisur die Person der Comtesse rhetorisch auf ein Podest gehoben, dergestalt dass der zur Bagatelle stilisierte Text als Nichtigkeit erscheinen muss. Mit der nachklingenden Anapher „Tout est illusion, Tout est caprice dans la vie“ wird nicht zuletzt der phantastische und zugleich allegorische Charakter der Liebe evoziert. Die Erzählung beschreibt Pygmalions Werdegang auf Zypern. Dieser, aus gutem Hause stammend und mit großem Talent und Geschmack ausgestattet, ließ sich zuerst in den schönen Künsten ausbilden, bevor er dann vor allem in der Bildhauerei reüssierte und für seine lebensechten Nachahmungen, die fortan sämtliche öffentliche Gerichtshäuser schmücken sollten, viel Anerkennung erhielt. Der eher zurückgezogen lebende Pygmalion, der einzig die Gesellschaft seiner engen Freunde schätzt, plant, im Alter von zwanzig Jahren zu heiraten. Als ihm besagte Freunde von der Erwählten aufgrund deren undurchsichtigen Charakters abraten, lässt er von diesem Vorhaben erstmal ab, enttäuscht, dass sich unter den heiratswilligen Frauen in Zypern einzig kokette und keine tugendhaften Kandidatinnen finden. Darauf träumt er von der Göttin der Liebe, ein Eindruck,
623 Vgl. Art. ‚Fontange‘: „Ce fut dans le dixseptieme siecle, je ne dirai pas une parure, mais un édifice de dentelles, de cheveux, & de rubans à plusieurs étages, que les femmes portoient sur leurs têtes. On voyoit sur une base de fil – de – fer s’élever la duchesse, le solitaire, le chou, le mousquetaire, le croissant, le firmament, le dixieme ciel, & la souris. Aujourd’hui c’est un simple noeud de rubans qui sert d’ornement à leur coëffure: il porte le nom de celle qui a imaginé la fontange ancienne; comme palatine, parure de cou, celui de la princesse qui en a introduit l’usage en France.“ In: Encyclopédie, ou dictionnaire raisonné des siènces, des arts et des métiers. de Diderot. Bd. V. 7, S. 105 f. Vgl. auch: François Boucher: Histoire du costume en Occident: des origines à nos jours. Paris 2008. Ferner machte mich Xenia Borderioux darauf aufmerksam, dass die Bezeichnung „Coiffure“ ab Mitte des 18. Jahrhunderts mehrdeutig und fast als Synonym der „Fontange“ galt: „on appliquait le nom de coiffure aussi bien à une aigrette ou des boucles, qu’à un bonnet, un échafaudage de nœuds, une composition de fleurs, des plumes ou une perruque.“ In: Xénia Khomyakova Borderioux: La presse française des années 1780 et „la coquette du Nord“ dans la mode parisienne. Actes de la section: La presse francophone et la Russie au XVIIIe siècle. Congrès international des Lumières. Graz 2011.
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der ihn nicht mehr loslassen sollte und von einer anderen höheren Liebe handelt, die Pygmalion verwandelt: Venus s’offroit encore à ses yeux avec tous ses charmes: Venus l’enchantoit; Venus le pénétroit de sa divinité. Il resembloit à un homme étonné qui se diroit à lui-même: Je me suis hier endormi dans un Antre sauvage, & me voilà aujourd’hui transporté dans un Salon magnifique, & couché sur des carreaux revêtés de satin. Quel contraste! Quelle métamorphose! (BDP, S. 26f.)
Diese Veränderung wirkt reinigend auf sein ästhetisches Empfinden und die Idee der Schönheit und einer anderen, wahren Liebe offenbart sich ihm: Toutes les idées de Pigmalion se nettoyèrent en même tems. Il vit le Beau dans sa source. Le véritable Amour se peignit à son esprit, cet amour qui n’est point le partage des Coquettes ni des Prudes, cet amour qui commence par l’estime, qui se nourrit des sentimens du cœur, qui s’intéresse à la gloire de la Personne aimée, qui peut enfin passer pour la plus aimable et la plus spirituelle de toutes les vertus. Les faveurs rarement accordées l’entretiennent. Ce sont des libertez que l’amour permet, mais qu’il faut prendre à propos & comme en effleurant. (BDP, S. 27–29)
Gepackt von den neuen Empfindungen der Liebe, muss er diese sogleich in Marmor umsetzen. Die Arbeit geht dabei wie von selbst und in extremer Schnelligkeit voran. Der Künstler fühlt buchstäblich eine höhere Macht, die ihm bei der Arbeit zur Hand geht. Dass hierbei die Göttin der Liebe und der Schönheit höchstpersönlich am Werk war, wird vom Erzähler ironisch vermerkt: „La déesse vouloit réussir, & les femmes réussissent toujours, quand l’interêt de leur beauté & l’amour-propre s’en mêlent.“ (BDP, S. 32f.) Die Skulptur wird im Text sogar als Abbild der Venus beschrieben, die fast nackt, d. h. einzig mit einem feinen Tuch umhüllt, ist, ein Detail, dessen Herstellung unerhörter künstlerischer Fingerfertigkeit bedarf: Pigmalion rendit les mêmes traits qui l’avoient frappé pendant son sommeil. Les contours, les expressions de la figure imitoient le naturel; enfin, tout le travail fut achevé. Vénus n’avoit jamais paru plus belle. Une legère draperie sembloit flotter sur les épaules en forme d’écharpe. Tout le reste étoit d’une blancheur éclatante. On ne sçavoit à quelle beauté donner la préférence: chacune avoit son prix, son mérite particulier. (BDP, S. 33f.)
Der Künstler selbst von seinem Werk ergriffen, lässt die Statue in einen kleinen Pavillon in seinen Garten bringen. In diesem künstlichen locus amoenus oder auch hortus conclusus verbringt er fortan mehrere Stunden in deren Anbetung und träumt von der Belebung der Statue und äußert schließlich sein Begehren gegenüber Venus:
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O Venus! disait-il quelquefois, O Déesse toute puissante! vous avez conduit ma main, j’ai fait un Chef-d’œuvre. Mais que de mouvements inconnus s’élèvent dans mon âme! Je sens plus que jamais qu’il manque quelque chose à mon bonheur. Je vivais tranquille, je n’avais rien à désirer. Présentement, tout me gêne, tout m’inquiète: je souhaite un bien que je ne connais point, ou que je me cherche à dissimuler. O Déesse! Venez à mon secours, ne m’abandonnez point. (BDP, S. 41–43)
Der Deslandes-Text ist leitmotivisch am Thema der Bewegung orientiert: In den Beschreibungen werden die seelischen Vorgänge als neue unbekannte Bewegungen wahrgenommen, die einen Mangel an etwas, nämlich der fehlenden Liebe, ausdrücken. Kurz darauf sollen diese inneren Bewegungen von der Statue beantwortet werden, von deren Belebung und Bewegung der Künstler träumt. Für diesen innersten Wunsch sprechen nicht zuletzt die Auslassungspünktchen: Helas! se disait-il à lui-même, si quelque Divinité favorable pouvait lui donner la vie & le mouvement […] quelle félicité seroit égale à la mienne […] Mais, o desirs superflus, & peutêtre même ridicules! Je souhaite ce que je n’espère point: je demande ce qu’il m’est impossible d’obtenier. Ce marbre sera toujours un objet charmant à mes yeux; mais il y aura toujours un vuide infini entre son existence & la mienne. Qui peut communiquer la pensée et le sentiment à du marbre? (BDP, S. 44f.)
An diesen Wunsch sind auch die weiterführenden materialistischen Gedanken geknüpft. Bei den französischen Sensualisten und Materialisten des 18. Jahrhunderts bot die Statue eine Art Modell zur Veranschaulichung der Gesetzmäßigkeiten der Wahrnehmungen des Menschen, die die diversen Stufen von der Belebung, der Bewegung über das Empfinden bis hin zum Denken bei einer Vielzahl von Statuen-Darstellungen erprobten. Wegweisend war Descartes’ von den zwei Prinzipien des ausgehenden Leib-Seele-Dualismus in dessen Statuenvergleich: „Je suppose que le Corps n’est autre chose qu’une statue ou machine de terre la plus semblable à nous qu’il est possible“,624 der die seelenlose Mechanik des Körpers illustrierte. Viele Statuen-Darstellungen haben darauf Descartes’ Auffassung widersprochen, die ganz anti-cartesianisch eine Einheit von Geist und Materie, res cogitans und res extensa, demonstrierten. Das cartesianische Leib-Seele-Problem ist Folie in den Pygmalion-Versionen, wenn beim Übergang vom Unbelebten zum Lebenden, d. h. der Metamorphose von der Materie des Marmors zum Leben bspw. der Pygmalion Deslandes’ bei der Belebung der Statue auf Widerstand stößt: „Il épioit, pour ainsi dire, le moment
624 Descartes: L’homme. (1664) In: Ders.: Œuvres. Hg. von Adam und Tannery. Bd. XI. Paris 1909, S. 120. Der Ausdruck „machine“ steht hier für einen „funktionierenden Organismus“.
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favorable où sa statue devoit cesser de l’être, où la matière étendue devoit passer à un état parfait ou du moins plus perfectionnée, où elle devoit penser.“625 Ähnlich verhielt sich schon Prometheus in Voltaires Pandore (1740): Hélas! à cet objet j’ai donné la naissance. Et je demande en vain qu’il s’anime, qu’il pense, Qu’il soit heureux, qu’il sache aimer.626
Deslandes vertrat in seiner Erzählung Pygmalion ou la statue animée, gestützt auf Lockes Sensualismus, die philosophische Hypothese von einer empfindenden Materie und ihrer logischen Entwicklung. Ferner wird diese materialistische Denkweise durch einen spinozistischen Monismus gerade in den religiösen Beobachtungen gestützt: „tous les êtres n’en composent qu’un seul, qui est le Tout, qu’on appelle Dieu, la Nature, l’Univers“ (BDP, S. 66f.). Ähnliches wird dann in Diderots Rêve de d’Alembert (1769) geäußert: „Il n’a a qu’un seul grand individu, c’est le tout.“ Die bei Deslandes geäußerte Vorstellung von einem Leben nach dem Tod: „[…] on revit d’une autre manière, & alors commence une nouvelle suite d’idées qui n’ont aucun rapport avec les premières“ (BDP, S. 71) wird in der Hypothese der Substanzveränderung deutlich: „Il y a apparence que le Tout, que le vrai Etre doit contenir toutes les modifications possibles“ (BDP, S. 67f.), welche später in Friedrich Wilhelm Schellings Naturphilosophie über die Modifikation der allgemeinen Sensibilität der Natur aufgegriffen werden sollte.627 Diese materialistische Idee von einer mechanisch geleiteten Welt ohne Gott bestimmt Deslandes zum Vordenker des französischen Materialismus, von welcher später auch Diderot, d’Alembert und dessen Schüler Pierre Simon Laplace begeistert sein werden.628 Nicht nur steht die Frage im Raum, wie und ob die Marmorstatue lebendig werden könnte, fragt sich Pygmalion hier, wie und wann er mit Denken und Fühlen begonnen habe: Mais qui me les a communiquez à moi-même? Qu’étais-je dans le premier instant où j’ai commencé à penser & à sentir? Que suis-je encore maintenant? Je vis, je respire, je pense, j’ai des sentimens: n’en peut-il point arriver autant à cette Statue? Tout dépend peut-être d’un peu plus ou d’un peu moins de mouvement, d’un certain arrangements de parties. Un
625 Boureau-Deslandes: Pygmalion ou la statue animée. In: Rolf Geißler: Boureau-Deslandes. Ein Materialist der Frühaufklärung. Berlin 1967, S. 50. 626 Voltaire: Pandore. Hg. von Moland. Bd. III, S. 577. 627 Vgl. Hans Sckommodau: Pygmalion bei Franzosen und Deutschen im 18. Jahrhundert. Wiesbaden 1970, S. 22f. 628 Vgl. dazu Rolf Geißler: Boureau-Deslandes. Ein Materialist der Frühaufklärung. Berlin 1967, S. 15, Anm. 2.
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corps dur peut devenir flexible, le choix peut recevoir une forme plus régulière. Ici la matière est étendue, là elle pese, plus loin encore elle pense. Ce ne sonst là peut-être que différentes modifications qui concurent à former un tout parfait. (BDP, S. 45f.)
Im Unterschied zu den späteren Pygmalion-Dichtungen erlebt der Bildhauer hier mit, wie die Statue beginnt, sich zuerst nur kurz und langsam zu bewegen, was zumal mit einer Halluzination verwechselt werden kann. Die Entwicklung wird schrittweise als eine Bewegung von Aktion und Reaktion wie die eines Kindes beschrieben, welches hier metonymisch mit der Anspielung an die Wiege anklingt: On aurait dit qu’elle s’essayait à respirer, à vivre, à marcher, et encore plus qu’elle s’essayait à penser. Ce ainsi qu’un enfant au berceau ressemble à quelque chose de brut et de plus brut encore de plus informe que du marbre. La machine se développe peu à peu, ses ressorts jouent les uns contre les autres, les fluides et les solides se combattent et résistent tour à tour, c’est une action et une réaction continuelle. Enfin, la machine acquiert toute sa perfection, on voit la pensée et le raisonnement prendre des accroissements successifs, on leur voit plus de force, de netteté, plus d’union et de sympathie. (BDP, S. 53–55)
Die Konzentration auf die v. a. in der Nacht zunehmenden Bewegungen des Körpers wird dann im Moment, bevor die Statue zu denken und zu sprechen beginnen wird, noch deutlicher: Comme le mouvement est le milieu par où doit passer la matière, pour, de non-pensante qu’elle était devenir pensante, la statue ne manqua point d’acquérir par degrés tout les mouvements dont un corps est susceptible. (BDP, S. 57)
Als die Statue kurz darauf endlich zu sprechen anfängt, stellt sie viele philosophische Fragen hinsichtlich ihrer Existenz, die teilweise von Bodmer gekürzt übernommen werden, wie später noch gezeigt wird. Als Pygmalion wieder zurück in den kleinen Salon im Garten kehrt, ist die Überraschung auf beiden Seiten groß. Die Statue bittet Pygmalion, sie über ihr Schicksal zu belehren. Bei der Frage nach dem Ursprung verweist Pygmalion auf die Metaphysik, verbunden mit der Bedingung, die Statue müsse für ihn leben: Vous le devez à une divinité puissante et favorable; et c’est moi qui par des sentiments inconnus à la Nature, ai obtenu d’elle cette grâce. Si vous vivez, vous vivez par moi, et vous devez vivre pour moi. (BDP, S. 63)
In diesem ersten Lehrgespräch erklärt Pygmalion der Statue, wie Kinder erzogen werden bzw. wie diese die Sinne kennenlernen, wie sie sehen, hören, tasten und fühlen, bevor ihnen die anderen Menschen erklären, was die Sinne ihnen nur angedeutet haben. Die Metaphorik der Marmorstatue wird bei der Verbildlichung des Bildungsvorgangs dabei sprachspielerisch umgesetzt:
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Pygmalion lui expliqua ensuite comment s’instruisent les enfants, comment, ils acquièrent leurs connaissances & leurs idées, de Statues qu’ils étaient, ils deviennent raisonnables. […] Un enfant privé du commence des autres hommes, ne sortirait point de l’enfance de l’esprit, ne penserait guère plus que du marbre, ne connaitrait rien ou presque rien. Combien une bonne éducation founit-elle d’idées et de connaissances! Et cependant combien d’enfants bien élevés restent-ils […] toujours enfants, et resteront-ils tels! (BDP, S. 74–76)
Er belehrt sie nicht nur rein theoretisch, sondern führt seine gar gefügige Schülerin schon am ersten Tag in den Garten der Liebe ein. Und wie die Kinder, die zuerst sehen, so muss Pygmalion sich fühlend von der Schönheit der Statue überzeugen, die durch Kontrastierungen und perfekte Proportionen besticht. Auf die ungewohnt neuen Küsse reagiert die Statue zuerst unwillig, die hier von unbekannten lustvollen Bewegungen spricht, die sie zu fühlen beginnt. Die hin und her schwingenden Gefühle, der sie ergreifenden noch unbekannten und berauschenden Liebe, verwechselt sie zuerst mit einem süßen Tod, der wohl nicht von ungefähr der kleine heißt: Pygmalion, tout hors de lui-même, (et qui ne le serait à moins?) appuya des baisers pleins de flamme sur la bouche de sa statue. Que prétendez-vous, s’écria-t-elle, et quels mouvements inconnus me faites-vous sentir? Je me connais encore moins que je ne faisais il y a quelques heures. À peine je vis, et vous voulez que je meure. Mais quelle mort, et qu’elle me semble douce! Comment appelez-vous, et les mouvements que vous vous donnez, et ceux que vous me forcez à me donner moi-même? Parlez: arrêtez-vous; ne vous arrêtez pas, je cède à vos transports, mais quel nom leur donnez-vous? […] – Plaisir, plaisir, répondit Pygmalion d’une voix entrecoupée, et le plus grand de tous les plaisirs! Peut-on y résister? Quelle félicité! Qu’elle est extrême! Achevez, grands dieux! Achevez mon bonheur […] La voix me manque […] Je suis heureux. (BDP, S. 81–83)
Das wohl anregende und bewegte Liebesspiel wird von kurzen Kommentaren zum aktuellen Lustempfinden der Liebenden begleitet, um nicht zuletzt die Illusion beim Leser zu steigern. Die Bekanntschaft mit der erstmals empfundenen körperlichen Liebe perfektioniere nach Meinung der Statue die Seele. Darauf konstatiert diese ganz freigeistig cartesianisches Selbstbewusstsein: „Je vis certainement, puisque j’en suis enyvrée“ (BDP, S. 86),629 was sinngemäß, die Sinnlichkeit berührend, meint: „Ich lebe gewiss, weil ich betört bin.“ Zur Einführung in die leiblichen Genüsse und den Geschmack gehört ferner die körperliche Ernährung. Die Bedürfnisse des Appetits müssen wie jene der Wollust in ‚intelligenten‘ Intervallen gestillt werden. Nach den ersten acht gemeinsamen Tagen im einsamen Salon beginnt sich die Statue zu langweilen und
629 André-François Boureau-Deslandes: Pygmalion ou la statue animée. In: Rolf Geißler: Boureau-Deslandes. Ein Materialist der Frühaufklärung. Berlin 1967, S. 117–132, hier S. 127.
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Pygmalion findet die Zeit reif, die Venusstatue in die Gesellschaft einzuführen. Bei einem Gastmahl unter Freunden in seinem Haus, welche sich wie zuhause und nicht wie Zuschauer fühlen: „Agréable repas, où il n’y a point de spectateurs, et où ceux qui y sont reçus, oublient en sortant, et les folies qu’on y a dites, et les libertés qu’on y a prises“ (BDP, S. 107f.), stellt Pygmalion seine neue Liebe seinen Freunden vor. Diese sind von der Erscheinung in blauem Leinen, die in allen Superlativen beschrieben wird, entzückt. Pygmalion nutzt die öffentliche Stunde und weist seine Geliebte in den usuellen Heiratsritus ein, indem er gleichsam um ihre Hand anhält und sich ihr von seinem Vermögen bis hinzu seiner Seele in einer Klimax anbietet: Ô statue, ô divine statue, mon dessein est de vous épouser, et je vous donne ma foi de partager avec vous ma fortune, mes biens, ma vie, mon âme. Soyez tous témoins, ajouta-t-il en regardant les convives, soyez témoins de la parole que je donne. Plutôt mourir, que d’abandonner ma chère statue! (BDP, S. 119f.)
Die kurz vorab noch als naiv titulierte Statue wandelt sich nun blitzgeschwind zur gesellschaftsfähigen Dame, die hier opponiert und sich kühl räsonierend, gegen die Ehe, den Heiratsantrag Pygmalions ablehnend, entscheidet. Stattdessen schlägt sie initiativ vor, die Liebesverbindung durch ein Versprechen vor den anwesenden Freunden zu besiegeln: Elle envisagea dans le même moment Pygmalion, et lui répondit avec cet air froid qui persuade: Pour nous jurer l’un à l’autre que nous vivrons toujours ensemble, sommes-nous assurés que nous nous plairons toujours? Pourquoi vouloir percer dans un avenir incertain? Je vous jure, moi, que tant que vous me plairez, je ne vous abandonnerai point; je vous jure de plus, que je ferais tous mes efforts pour vous plaire toujours. À ce prix aimons-nous. Laissez les serments à ceux qui n’en connaissent pas la force, aux fous et aux imbéciles. Pour nous, cher Pygmalion, engageons-nous devant vos amis qui sont devenus les miens, à ne point quitter tant que nous nous plairons l’un à l’autre. (BDP, S. 120–122)
Dieses Liebesversprechen beruft sich auf Codierungen der passionierten Liebe des 17. Jahrhunderts, wonach sich Liebende außerhalb der Ehe zur freien Liebe erziehen.630 Nach dem Liebes- und Treueschwur der Statue erscheint – fast als göttliche Beglaubigung – Venus höchstpersönlich auf einer goldenen Wolke sitzend und
630 Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Passion. Frankfurt am Main 21984. Daneben hat Rousseau die zivile Ehe erfunden, da Thérèse sich nicht kirchlich trauen lassen wollte.
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erinnert an den unausgesprochenen Pakt mit Pygmalion, der sich nun in seiner Liebe beweisen muss: Ce discours était à peine fini, que Vénus parut dans la salle à manger, assise sur un nuage d’or. Pygmalion, lui dit-elle, je t’ai traité plus favorablement que tous les autres mortels: j’ai exaucé le plus ardent de tes voeux. Ta statue vit, ta statue respire: tâche sans cesse de lui plaire, et ne la force point à t’aimer: c’est le moyen qu’elle t’aime toujours. (BDP, S. 122–124)
Das Geheimnis einer glücklichen Beziehung klingt in der paradox anmutenden Liebeslehre der Venus an, die auf Zwanglosigkeit beruht. Damit werden die höfischen, v. a. aus dem Mittelalter bekannten Lehren der hohen Minne assoziiert, demnach die Frau weniger bedrängt, sondern als Königin verehrt wurde.
4.3.3 Anagnorisis und Peripetie in Pygmalion und Elise (1741–1749) Bodmers polemische Replik auf jene erotische Stimulierung des Wissensdurstes beim Pygmalion des Deslandes, die er – wie in der Forschung bemerkt wurde – fälschlicherweise Thémiseul de Saint-Hyacinthe (1684–1764) zugeschrieben hatte, erfolgte sechs Jahre später.631 In dieser philosophischen und 1741 anonym erschienenen Erzählung Pigmalion ou la statue animée durchlebt die Statue alle menschenmöglichen Wahrnehmungen, bevor Pygmalion dann beim Zürcher mit seiner Elise an der Hand aus der Skulpturengalerie in die freie Natur entweicht.632 Wie schon beim französischen Vorgänger stellt sich Elise aufgrund der Verwandlung viele Fragen, die sie neugierig an ihren künstlerischen Schöpfer, Pygmalion, richtet. Bodmer behandelt das Thema der Sexualität gekoppelt an das sich entwickelnde menschliche Bewusstsein. Beide Texte, die jeweils Pygmalion eine Unerfahrene in die Zusammenhänge des Lebens einführen lassen, sind unmittelbar vor Condillacs Traité des sensations (1754) entstanden. Die in Phasen erfolgenden, eng an John Lockes empirischen Sensualismus angelehnten systematischen Sinneserweckungen einer Statue, die über den Geruchssinn schrittweise
631 Hans Sckommodau zufolge, hat Bodmer die anonyme philosophische Erzählung des Boureau-Deslandes fälschlicherweise Thémiseul de Saint-Hyacinthe zugeschrieben und dies im Briefwechsel mit Johann Elias Schlegel nicht bezweifelt (vgl. Johannes Crüger: Briefe Joh. Elias Schlegels an Bodmer. In: Archiv für Literaturgeschichte. XIV. Bd. Leipzig 1886, S. 56), was darauf viele Forscher verwirrt habe. Vgl. Hans Sckommodau: Pygmalion bei Franzosen und Deutschen im 18. Jahrhundert. Wiesbaden 1970, S. 15, Anm. 1. 632 Vgl. Inka Mülder-Bach: Im Zeichen Pygmalions. Das Modell der Statue und die Entdeckung der Darstellung im 18. Jahrhundert. München 2010, S. 9.
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über sich selbst und ihre Umwelt Bewusstheit erlangt, könnte vielmehr von der Geschichte der Galatea inspiriert sein.633 Vielmehr haben sich der Frühmaterialist sowie Bodmer an Descartes’ Passions de l’Âme (1649) orientiert. Zudem antwortete der erste Teil von Bodmers Pygmalion unmittelbar auf Deslandes’ materialistische Version, wenn dem galant-preziösen Stil des Franzosen vehement widersprochen wird. Denn mit der betont sensualistischen Ästhetik sowie mit der Sympathie für den reduktionistisch-monistischen Materialismus des Franzosen war Bodmer nicht einverstanden, genauso wenig wie bspw. Albrecht von Haller mit dem aufreizenden Reduktionismus eines La Mettries.634 Der zweite Teil von Bodmers Pygmalion ist ein Zusatz, möglicherweise von der Schlusspassage der französischen Vorlage inspiriert: Le reste de l’histoire de Pygmalion n’a jamais été écrit. Il y a apparence qu’après le grand événement de la statue animée, sa vie n’en eut plus d’autres, ou du moins aucun qui méritait de lui être comparé. (BDP, S. 124f.)
Der Gesellschaft Zyperns überdrüssig entflieht Bodmers Pygmalion in der Tradition der Schiffbrüchigen in die idyllischen Zustände von Zivilsation unberührter Inseln, bekannt aus dem antiken Beispiel Ovids. Der Pygmalion-Mythos steht damit in unmittelbarer Nähe zu den literarischen Utopien in der Tradition von Thomas Morus bis zu den Robinsonaden im Stile Defoes.635 Die Frage der Geschlechterverhältnisse, die bei den jeweiligen Kunstkonstellationen Pygmalions oftmals mitschwingen, nimmt in Ovids kurz erotischer Pygmalion-Episode aus dem 10. Buch der Metamorphosen ihren Anfang. Dass seit Ovid die belebten Kopfgeburten nur Väter und keine Mütter besäßen, stellt Eva Kormann treffend in ihrem Pygmalion-Aufsatz fest.636
633 Etienne Bonnet, Abbé de Condillac: Traité des sensations. Traité des animaux. Paris 1984. Vgl. dazu Michel Delon: Le savoir-vivre libertin. Paris 2000, S. 161. 634 Vgl. dazu: Barbara Mahlmann-Bauer: Albrecht von Haller, Satiriker auf den Spuren Voltaires und Swifts. In: Albrecht von Haller zum 300. Geburtstag. In: Jean-Daniel Candaux u. a. (Hg.): Schweizerische Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts. o.O. 2008, S. 7–43; ferner Ursula Pia Jauch: Jenseits der Maschine: Philosophie, Ironie und Ästhetik bei Julien Offray de La Mettrie (1709–1751). München 1998; vgl. zu Diderot: Yvan Belaval: Le matérialisme de Diderot. In: Hugo Friedrich, Fritz Schalk (Hg.): Europäische Aufklärung. Herbert Dieckmann zum 60. Geburtstag. München 1967, S. 9–22, hier S. 9ff. 635 Zur Schiffbruchsmetapher vgl. Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Frankfurt am Main 1979. 636 Eva Kormann: Pygmalions Kopfgeburten – Traumfrauen und Geschlechterverhältnisse. In: Birte Giesler u. a. (Hg.): Gelegentlich Brecht. Jubiläumsschrift für Jan Knopf zum 15-jährigen Bestehen der Arbeitsstelle Bertolt Brecht. Heidelberg 2004, S. 129–138, hier S. 129f.
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Auch Bodmer meißelt mit seiner Pygmalion-Adaptation an der Ordnung der Geschlechter sowie deren Stereotypen und entlarvt dabei hellsichtig deren allegorisch konstruierte Künstlichkeit mittels der Anagnorisis und der Peripetie. Ich möchte zeigen, wie Bodmers Erzählung mit diesen aus der aristotelischen Tragödientheorie bekannten rhetorischen Mitteln experimentiert und wie geschickt und originell hier die einen Handlungsumschwung bzw. einen entscheidenden Wendepunkt zum Glück oder Unglück beschreibende Peripetie, bestenfalls gekoppelt mit dem plötzlichen Erkennen einer Person oder eines Sachverhalts, der Anagnorisis, als parodistisch-karikaturistische Handlungselemente ihre spielerische Verwendung in Bodmers zweiteiliger Pygmalion-Erzählung erhalten. Daneben lässt sich die Statue als Prosopopöie begreifen, die als zuerst nichtpersonenhafte Erscheinung aus einem Marmorblock zu einer Gestalt gehauen wird, um sich darauf zu einer redenden und selbständig handelnden Figur zu entwickeln. Nach Ueding, Steinbrink entspräche die Statuenbelebung, die den Wandel von Unbeseeltem zu Beseeltem vollzieht, als Prosopopöie unter den Tropen der Personifikation, einer Metapher oder einer Allegorie.637 Diese Erzählung in zwei Teilen, beginnend mit Pygmalion und in deren Fortsetzung Elise; Pygmalions zweiter Theil, ist erstmals 1747 anonym im Band Neue Erzählungen verschiedener Verfasser erschienen und wurde zwei Jahre später nochmals publiziert. Ich vermute, dass die Publikationsorte 1747 Frankfurt und Leipzig wie auch 1749 Berlin fingiert sind. Die beiden zweiteiligen Erzählungen sind, was Inhalt und Wortlaut anbelangt, nahezu identisch und weisen neben minimalen Umformulierungen einzig kleine Unterschiede in Zeichensetzung und Darstellung auf. Beiden Ausgaben sind einleitende Vorworte beigegeben, die den Leser in die literarische Tradition einführen. Hierbei wurde beim Druck von 1749 einzig der Untertitel „An den Mädchenfreund“ mit „An Herrn***“ ersetzt. Zusätzlich wurde eine „Erinnerung wegen dieser neuen Ausgabe“ vermutlich von Breitinger oder von einem fingierten Herausgeber, alias Bodmer, vorgeschoben, die die Zürcher Pygmalion-Fassung von der zeitgenössischen Literatur in einem doppelten Vergleich „von den gemeinen ekelhaften Romanzen der meisten neuen und vermeinten zierlichen Schriftsteller, als sich die lieblichen Lieder des Theokritus von den abgeschmackten Schäferstücken einiger Deutschen“638 abzuheben sucht. Daneben sucht sich der Verfasser von den französischen Prosatexten, zumal von Acajou et Zirphile von Charles Pinot Duclos (1704–1772) sowie dem frivolen 637 Vgl. Gert Ueding, Bernd Steinbrink: Grundriss der Rhetorik. Geschichte. Technik. Methode. Stuttgart, Weimar 1994, S. 320f. 638 Bodmer: Erinnerung wegen dieser neuen Ausgabe. In: Ders.: Pygmalion und Elise. Berlin 1749, S. 5 f. Im Folgenden mit der Sigle (BP) abgekürzt.
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Schlüsselroman Le sopha, conte moral (1742) von Claude-Prosper Jolyot de Crébillon (1707–1777), genannt Crébillon fils abzugrenzen. Während der Band Neue Erzählungen verschiedener Verfasser (1747) ferner die beiden Erzählungen Der geplagte Pegasus sowie Die Frau von Ephesus enthält, ist dem Druck von 1749 die Historie des Damons beigegeben. Zudem wird in der „Erinnerung“ der zweiten Ausgabe eingeräumt: Ob es hier und da an genugsamer Wahrscheinlichkeit fehlet, ob nicht Pygmalion zu philosophisch denkt, und ob nicht seine Theologie für jene Zeiten zu rein ist, ob nicht Elise einige ihrer Begriffe zu bald entwickelt und dergl. dies ist nicht das Hauptsächlichste, darum sich der Verfasser bekümmert hat. (BP, S. 5f.)
Im Vorwort wird der Dialog mit einem fingierten Mädchenerzieher, dem erwähnten „Mädchenfreund“ in Form einer Apostrophe aufgenommen und die passende Lektüre für das Frauenzimmer eruiert. Dabei schneiden die „Liebeshistorgen […] aus den griechischen Zeiten und Ländern“ gegenüber „den Romanzen der Neuern“ weitaus besser ab. Ausschlaggebendes Argument ist der „ungekünstelte[ ] Witz der alten, freyen Natur [der] noch nahe und getreu gebliebenen griechischen Völkerschaften“639, welcher an jene Vorstellung von Liebe geknüpft ist, die für Bodmers allegorische Pygmalion-Erzählung programmatisch ist, wenn er fortfährt: „Dieser bestehet in der natürlichen Vorstellung einer Liebe, die empfindet, denket, und thut, wie es dem menschlichen Herzen eben und recht ist; denn was ist der wahre Witz anders, als Natur in ihrem vortheilhaftesten Schmucke?“ (BP, S. 2f.) Die Analogie von natürlicher Liebe und Witz, einer Form des geistreichen und intelligenten Humors im 18. Jahrhundert, referiert im Text auf ein Zitat aus dem zweiten Teil von Alexander Popes An Essay on Criticism (1709–1711): True wit is Natur to advantage dress’d, What oft was thought but ne’ver sowell express’d, Something, whose truth convinced at fight we find, That give us back the image of our Mind. (BP, S. 2)
Dass der Zürcher an solch prominenter Stelle im Vorwort Pope im Original zitiert, ist nicht nur richtungsweisend für die Einordnung seiner Pygmalion-Erzählung. Die literarische Referenz an Popes Essay, worin dieser die Aufgaben der Kritik skizziert, die sich an den klassisch antiken Autoren Horaz, Vergil oder Homer orientiert, – wie in dem späteren Dichterstreit in The Dunciade (1728) und weiterem Höhepunkt Popescher Federkunst – hat für die poetische Literaturkritiken des Zürchers Modellcharakter. Inwiefern der Witz, d. h. der scharfsinnige Geist
639 Bodmer: Pygmalion und Elise. An den Mädchenfreund. Frankfurt und Leipzig 1747, S. 2.
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oder die schöpferische Phantasie, die werkbestimmende künstlerische Kraft ausschöpfen und diese sich ferner als eine Allegorie der Kreativität, d. h. als Verbildlichung des Schaffensprozesses anhand des Bildhauermythos darstellt,640 wird in der nachträglich angefügten Übersetzung für Englischunkundige verdeutlicht: „Das richtige Zeichen, daß der Witz sein Amt in einem Werke verrichtet hat, ist, wenn wir wahrnehmen, daß er uns die Bilder, die in unserem Gemüthe liegen, zurückgiebt.“641 Mit Allegorie und Witz werden Kategorien aufgegriffen, die dann in der Frühromantik und insbesondere im Modell der Ironie Friedrich Schlegels in deutlicher Reminiszenz an Kants Philosophie als Ausdruck einer Wechselbeziehung von Unendlichkeit und Endlichkeit eine bedeutende Renaissance erleben werden, die sich schon schattenhaft in Bodmers Pygmalion-Skizze erahnen lässt.642 Wiederum wird spitz gegen die galanten Moden der Franzosen geschossen: Der Mangel an „natürlichen und rechtschaffenen Sitten“ sei analog mit dem Mangel an „ächtem Witze“ verbunden. Um dessen Spur wieder aufzunehmen, wird dazu eingeladen, „in die alten Zeiten und zu den alten Völkern zu reisen“, um „die Natur aus den griechischen und römischen Scribenten wieder [zu] lernen“.643 Die Dichtungsallegorie bedient sich bereits hier einer biologischen Metaphorik, wenn davon die Rede ist, dass „unsern Erdichtungen, den Pflanzen eines allemanischen Bodens, eine Art und Manier nach ihren Sitten und Denkungsarten mit[zu]theilen“644 sei.
640 Vgl. dazu auch Paul de Man: Self (Pygmalion). In: Ders.: Allegories of Reading. Figural Language in Rousseau, Nietzsche, Rilke und Proust. New Haven, London 1979, S. 160–187. 641 Bodmer: Pygmalion und Elise. An den Mädchenfreund. 1747, S. 3. Vgl. auch Art. ,Witz‘. In: Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste (1794). Bd. IV. Hildesheim 1994, S. 736–739. 642 „Die Allegorie (als pars pro toto für alle künstlerischen Ausdrucksformen) ist also notwendiges Manifest der Undarstellbarkeit des Unendlichen. [...] So erlöst der Kunstgriff des allegorischen Ausdrucks das Endliche aus seiner materiellen Fixiertheit und verweist es ins Unendliche [...] Der Witz ist das Gegenstück zur Allegorie im Bereich des Wirklichen selbst: punktuelles Aufblitzen der Einheit von Einheit und Unendlichkeit im Endlichen. [...] Allegorie und Witz sind also die Blickund Wendepunkte der Reflexion, die aber nie zugleich bezogen werden können: Im Witz stellt sich die Tendenz auf Einheit ohne die auf Fülle, in der Allegorie stellt sich die Tendenz auf die Unendlichkeit, abgelöst von der auf die Einheit, dar. [...] Um sich selbst faßlich zu werden, muß sich das Reine eingrenzen; die Grenze widerspricht aber seiner wesentlichen Unendlichkeit; also muß es die selbstgesetzte Grenze immer auch wieder überschreiten und so immer weiter. Dies ist das Modell der Schlegelschen Ironie. [...] [D]ie Ironie [ist] das gesuchte Struktur-Ganze, dessen abstrakte Teilglieder Witz und Allegorie sind.“ In: Manfred Frank. „Unendliche Annäherung.“ Die Anfänge der philosophischen Frühromantik. Frankfurt am Main 1997, S. 932–941. 643 Bodmer: Pygmalion und Elise. An den Mädchenfreund. 1747, S. 3. 644 Ebd., S. 3f.
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Die Pygmalion-Erzählung des Zürchers sucht diesem Programm nachzukommen und relativiert dieses gleichsam in Anspielung an den im 18. Jahrhundert berühmten Koch Martialo, der bspw. in Voltaires Gedicht Le mondain (1736) Erwähnung fand, wo dieser als Verfechter des Luxus eingeführt wurde: Denn ob ich gleich nicht behaupten darf, daß sie von dem Alter seyn, wie in dem Eingange zur Elise vorgegeben wird, (der Nahme Martialo, eines französischen Koches, von dessen Suppen unsere Väter noch gekostet haben, läßt dießfalls nur keinen Zweifel Raum,) so dünket mich doch, daß darinnen Spuren einer Liebe anzutreffen seyn, welche mit der künstlichen und verbrämten Vorstellung der neuern romantischen Liebe stark absetzet; von andern seltsamen, wunderlichen, und doch philosophischen Zügen nichts zu sagen, welche die ungewöhnliche und wunderbare Materie so hat haben wollen. (BP, S. 5)
Ferner ist der „gegenwärtige Pygmalion nicht so höflich“ wie jener aus dem philosophischen Roman „des Hr. von S. Hiacynte“, eines Gegners Voltaires, noch ist er „so prächtig […] als der französische, daß er aber auch kein so materialistischer Metaphysikus ist“645, womit André François Boureau-Deslandes (1690– 1757) gemeint ist. Mit dieser vorweggenommenen eingrenzenden Verortung hinsichtlich des französischen literarischen Vorbilds, das der Zürcher Aufklärer kritisiert und von dem er sich mit einer Pygmalion-Variation, die „menschlicher empfindet und denket“646 abzugrenzen und abzuheben sucht, wird wiederum die Leserhaltung vorbereitet. Bodmer setzt an jenem dominanten Ort der Kritik nochmals an, nämlich zum Schluss des Vorwortes, um seinem Missmut gegenüber dem zeitgenössischen französischen Tragödien- und Komödienverständnis erneut Luft zu machen und den Liebesbegriff vorsichtig vom galanten Dekor zu befreien: Noch drey Worte; ich wünschte, daß der Mädchenfreund mit Gelegenheit wider diese verkehrten Trauerspiele redete, in welcher die Galanterie herrscht, und wo man uns wegen eines Liebhabers, dem es seiner Gebieterin mißlungen ist, in eine ernsthafte Betrübniß zu setzen sich befleisset. Sagen Sie diesen untragischen Scribenten, daß diese Liebesbewegung, welche sie und die Franzosen, ihre Lehrer, billig besser kennen sollten, eine comische Gemüthesneigung ist, worinnen das grosse und das kleine, das himmlische und das irdische, so durch einander geworfen sind, daß sie zur lächerlichen Schreibart ganz bequem wird.
645 Ebd. 646 Bodmer: Pygmalion und Elise. An den Mädchenfreund. 1747, S. 5.
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Ich habe vordem den Plan eines Schäferspiels gemacht, wo ich die Liebe auslache, welche weinet und wimmert, und eine Liebe dagegen empfehle, welche die Franzosen sonst for ein armseliges Bedürffnis der Natur, dessen wir uns zu schämen hätten, ausschreyen. (BP, S. 5f.)
Schon Luhmann erkannte in seiner soziologischen Analyse, die sich mehrheitlich auf Texte der französischen Klassik bezog, unterschiedliche Codierungsversuche der Liebe.647 Bodmer, der sich in der Einleitung seiner prosaischen Erzählung mehrmals gegen die französische Galanterie wappnet, verfolgt unterschiedliche Liebesprojektionen und -codierungen. Es soll gezeigt werden, dass nicht einzig Eros für die Statue und spätere Elise modellbildend ist, sondern ebenso, wenn nicht sogar stärker Philia und Agape das geistige Liebesverständnis mitbestimmen. Somit ist für den hier verwendeten Liebesbegriff die abendländische Auffassung der dreigeteilten Terminologie von Liebe wegweisend. Neben der sinnlich-erotischen Liebe, von der Pygmalion und die Statue ganz in der Tradition des antiken Mythos bis in die erste Phase nach der StatuenBelebung bei Bodmer erfasst sind, dominieren darauf die Attribute der auf Verständnis füreinander und gegenseitiger Anerkennung beruhenden Freundschaftsliebe, der Philia, sowie der um Selbstlosigkeit und um das Wohl des anderen bemühten caritativen Nächstenliebe, der Agape, den Fortlauf der Erzählung. Entgegen der Galanterie, die auf eine erotische Beziehung abzielt, wird auf weitere Konnotationen der Liebe verwiesen. Weniger die Verführung und Verführbarkeit der Statue sind hier ausschlaggebend, sondern Freundschaft und Familienbande.
4.3.4 Pygmalion als Künstlermodell Der erste, mit „Pygmalion“ überschriebene Teil der Erzählung ist zwischen Schäferspiel, Idylle und Utopie situiert. Dieser Insulaner sucht sich mit seiner Bildhauerkunst seine eigene künstliche Welt nach ästhetischen Schönheitsidealen zu erschaffen, um seine Insel zu bevölkern, was nicht nur an Daniel Defoes Robinson Crusoe (1719) erinnert, der nebenbei viele Nachahmer im deutschen Sprachraum fand,648 sondern vor dem Hintergrund der Automaten entfernt die Idee futuristischer Klone heraufblitzen lässt. 647 Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Passion. Frankfurt am Main 21984. 648 Bsp. Joachim Heinrich Campe: Robinson der Jüngere. Ein Lesebuch für Kinder. Hamburg (1779–1780). Vgl. dazu Ludwig Fertig: Campes politische Erziehung. Eine Einführung in die Pädagogik der Aufklärung. Darmstadt 1977.
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An Ovids Metamorphosen anspielend, wird der Plot bereits zu Beginn der Erzählung im Naturzustand situiert, wenn hier vorzeitliche Zustände Zyperns skizziert werden: „Wenige Jahre nach der Sündflut Deukalions, doch lange vorher, ehe die Venus in Cypern Tempel und Altäre hatte“.649 Bei dieser zeitlichen Verortung des Naturzustands, der sich kurz nach der „Sundflut Deukalions“ und „doch lange vorher, eh die Venus in Cypern Tempel und Altäre hatte,“ fällt auf, dass die Diktion der mythologischen Flutkatastrophe im ersten Satz offensichtlich absichtlich am alten biblischen Wort der Sündflut festhält und gleichsam an die vorchristlichen Schöpfungsmythen appelliert.650 Der Rekurs auf die römische Göttin der Liebe, Venus, der „in Cypern Tempel und Altäre“651 errichtet wurden, fungiert laut Eva Kormann „als Garantin einer dichotomen und die Sinnlichkeit bändigenden Geschlechterordnung“652 Mit den aus der Linie der Gaia ‚Verwandten‘ des einstigen Königs von Zypern, Pygmalion, Prometheus und dessen Sohn Deukalion wird an den mythologischen Ursprung des Chaos sowie an die Verortung von antiken Anthropogenie-Vorstellungen erinnert, die mit Kosmogenie einhergehen. Bekanntlich schuf Prometheus Menschen aus Erde und nach der Sintflut formte sein Sohn Deukalion, der ‚griechische‘ Noah, neue aus Steinklötzen. Die Entstehung der Menschen aus Wasser und Schlamm verfolgt bei Ovid nach Hartmut Böhme eine antiolympische, auf das doppelte Erbe von Gaia und Prometheus weisende Linie.653 Die in Bodmers Erzählung formulierte Gesellschaftsskizze bedient sich in ihrer Karikatur übertriebener Klischees: Hier wendet sich ein feinsinniger Pygmalion von den lasterhaften, unreinlichen und sittenlosen Frauen eines vorzivilisatorischen Zyperns ab, die mit ausgeprägten Gesichtszügen, d. h. eingebogenen Nasen, dicken Lippen, „weit aufgeschlitzt[en]“ Mündern und gewaltigen Ohrgehängen, üppige Sinnlichkeit konnotierten. Nach seiner Flucht auf eine einsame
649 Bodmer: Pygmalion und Elise. An den Mädchenfreund. 1747, S. 1. 650 Bodmer widmet sich dem biblischen Motiv der Sintflut im Epos Die Sündflut (1755) wie auch in seinen Noah-Dichtungen. Vgl. zur Genese des Noahstoffes die Artikel von Barbara MahlmannBauer: Bodmers Noachide, ein unbiblisches Epos? In: Bodmer und Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung. Hg. von Anett Lütteken, Barbara Mahlmann-Bauer. Göttingen 2009, S. 231–294; Jan Loop: Der Noah: Bodmers Bibelepos im wissenschafts- und wirkungsgeschichtlichen Kontext. In: Die Zürcher Aufklärung. Johann Jakob Bodmer (1698–1783) und sein Kreis. In: Zürcher Taschenbuch 2008, S. 462–477. Die ältere Darstellung von Jakob Baechtold: Geschichte der Deutschen Literatur in der Schweiz. Frauenfeld 1892, S. 598–610. 651 Bodmer: Pygmalion und Elise. An den Mädchenfreund. 1747, S. 12. 652 Kormann: Pygmalions Kopfgeburten. 2004, S. 132. 653 Vgl. Hartmut Böhme: Antike Anthropogenie-Vorstellungen in Ovids Metamorphosen. In: Pygmalion: Die Geschichte des Mythos in der abendländischen Kultur. Freiburg im Breisgau 1997, S. 89–126, hier S. 99f.
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idyllische Insel wird Pygmalion als feinsinniges Geschöpf und Kontrastfigur mit Idealvorstellungen über Weiblichkeit eingeführt: Ein junger Mensch, mit Nahmen Pygmalion, hatte von der Natur mit einer zierlichen Bildung, auch einen feinen Geschmack empfangen. Sie hatte ihm in seinen Kopf eine schönere Idee von der weiblichen Gestalt, von der Sittsamkeit und Reinlichkeit der Frauenspersonen geleget, welche machete, daß er diese russigen und ungesitteten Mädchen nicht anders als mit Ekel betrachtete.654
Pygmalion, der sich den Nachstellungen dieser „widerlichen“ Frauenzimmer kaum entziehen konnte, floh im ersten Teil aus Zypern auf eine einsame Insel, da ihm zu Ohren gekommen war, dass diese Weiber sogar seine Entführung geplant hätten. Sein erster Eindruck auf der Insel drückt sich in einer synästhetischen Naturbeschreibung einer unberührten Idylle aus, die, durchsetzt von harmonischen Farbtönen und Gerüchen, beruhigend auf sämtliche Sinne wirkt: Er fand sie sehr anmuthig mit kühlen Thälern durchschnitten, die von Reihen sanftemporsteigender Berge formiert und mit einem Schatten von fruchtbaren Bäumen und geruchreichen Stauden bekrönt waren. Der Weinstock kroch hier ungebauet dem Boden nach, oder zog sich um die nächsten Ulmen, die er erlangen konnte; Gesträucher und Rosinen, Gebüsche und Mandelbäumen und Persichen, Orangen, und Citronen-Bäume lacheten ihm entgegen, und schienen nur eine geschickte Hand zu fordern, welche sie vor ihrer eigenen Ueppigkeit bewahrte. Er nahm auch Ziegen, Schafe und Rehekälber wahr, welche ihm alle Besorgnis Mangels vertrieben; und als er über dieses noch den Cocus-Baum auf der Insel erblikete, konnte er sich versichert halten, daß er hier nur für die Kurtzweile und das Ergetzen, nicht aber für die Nothwendigkeit arbeiten dürfte.655
Nach den üppigen von Sexualität fast überkochenden Zypriotinnen wirkt das hier evozierte Naturerlebnis von unberührter Idylle als harmonischer und beruhigender Kontrast. Das ins Bild gesetzte Relief der fruchtbaren Natur sei „a n m u t h i g mit kühlen Thälern durchschnitten, die, von Reihen sanft empor steigender Berge formiert“, von der Vitalität der „fruchtbaren Bäume und geruchreichen Sträucher“ gekrönt sind. Der wilde Wein ist „ungebauet“, d. h. noch nicht kultiviert und zieht sich symbiotisch um die nächsten Ulmen. Die Ulme gilt im altisländischen Epos Edda aus dem 13. Jahrhundert als Ursprungsmaterial der Frau.656 Daneben wird Pygmalion von den exotischen Bäumen, d. h. „Mandelbäumen und Persichen, Orangen, und Citronen-Bäume[n]“ auffordernd angelachet, diese zu beschneiden und „vor ihrer eigenen Üppigkeit“ zu schützen. Die antiquierte 654 Bodmer: Pygmalion und Elise. An den Mädchenfreund. Zürich 1747, S. 3. 655 Ebd., S. 3f. 656 Manfred Stange (Hg.): Die Edda. Götterlieder, Heldenlieder und Spruchweisheiten der Germanen. Vollständige Textausgabe. Übers. von Karl Simrock. Wiesbaden 2011.
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Schreibweise „Persich“ geht vermutlich darauf zurück, dass der Pfirsich zuerst auch als „persischer Apfel“ bekannt war. Die Namenbezeichnungen der hier genannten Bäume: die Ulme sowie Mandel-, Pfirsich-, Cocos-, Orangen- und Zitrusbäume wurden erstmals 1753 von Charles Linné in dessen Species plantarum in der Nomenklatur für Pflanzen festgelegt. Neben den Stillleben niederländischer Malerei aus dem 16. und 17. Jahrhundert, in denen sexuelle Konnotationen der weiß-rosa Blüten und Früchte neben der Vanitas-Symbolik bildnerisch umgesetzt wurden, waren für Bodmer sicherlich die antiken Dichtungen der Anakreontik oder die Arkadien-Bilder aus Vergils Bukolika von Nutzen. Die sich steigernde Freude gipfelt in der Beschreibung einer Klimax im Anblick des Cocus-Baumes. Pygmalions Zukunft auf der idyllisch anmutenden Insel zeichnet der Erzähler als die eines einfachen Gärtners oder Bauern, der den Wein und Bäume beschneidet, sich an Früchten und von Nutztieren, d. h. von Schaf, Ziege und Reh ernähren kann und deswegen „hier nur für die Kurtzweile und das Ergetzen, nicht aber für die Nothwendigkeit arbeiten“ muss. Die ästhetische Kategorie der „Anmut“, welche im Text mehrmals explizit genannt wird, legt später Schiller in seinen ästhetischen Schriften theoretisch fest. Darin wird mit der Anmut, Synonym mit der Grazie, eine freie Bewegung der Schönheit beschrieben und ein unwillkürlicher Ausdruck einer Harmonie zwischen Sinnlichem und Geistigem bezeichnet.657 Pygmalions Arbeitsfeld wird im Text zuerst in einem chaotischen Urzustand beschrieben, das eines Künstlers bedarf. Erst jetzt wird Pygmalion als begabter Bildhauer vorgestellt, der auf der wilden Insel ordnend Hand anlegt. Damit wird der bei Ovid erwähnte Gedanke des Chaos wiederholt und gespiegelt. Nebenbei ist der Künstler die Spiegelfigur Gottes, der aus dem Chaos Kreatives schafft. In einer Prolepse imaginiert Pygmalion schon sein fertiges Museum (das ursprüngliche Heiligtum der Musen) in einer natürlichen Säulenhalle: Eine besondere Freude überfiel ihn, als er auf einer anmuthigen Höhe einige grosse Klösser von weissem und schwarzem Marmor fand, welche durch die Natur oder einen Wetterstrahl gesprengt waren. Er hatte einen ungemeinen Talent für das Bildhauen. Er sah, daß hier die gröbste Arbeit schon gethan war, also daß dieser Marmor nur auf einen Meister wartete, der ihn vollends in eine geschickte Form ausbildete. Sein baukunstreicher Kopf arbeitet alsobald an dem Chaos, welches die unordentlich überworfenen Marmorstücke macheten. Er betrachtete sie mit einem ordnenden Auge, und entwarf mitten in ihrer Verwirrung den Plan
657 Friedrich Schiller: Über Anmut und Würde. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 5: Erzählungen. Theoretische Schriften. Hg. von Peter-André Alt u. a. München 2004, S. 433–488. Vgl. ferner zum Idyllenbegriff: In: Ders.: Über naive und sentimentalische Dichtung. In: Ebd., S. 694–780, hier S. 744–751.
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einer Galerie von Marmorsäulen, an deren Ende ein grosser Saal zu stehen kommen sollte, dessen Decke schon in dem überhangenden Felsen ausgewelbet war. (BP, S. 4f.)
„Arbeit“ ist hier Synonym mit kreativer Tätigkeit, und der gottgleiche Künstler schafft sich später ein eigenes Menschengeschlecht aus Marmor, nachdem er die „Wildniß von fruchtbringenden Pflanzen, Stauden, Sträuchern, und Bäumen“ säuberte, aufstützte und beschnitt, um sich „einige anmuthiege Spaziergänge durch dieselben zu hauen, und schattenreiche Lauben aus geruchreichen Zweigen aufzuführen“. Daneben vergaß er nicht, Früchte für den Winter zu sammeln. Nach der Vorsorge für die kalte Jahreszeit widmet sich Pygmalion seiner Bildhauerei. Wiederum wird dessen Kunstfertigkeit vom Erzähler nolens volens mit ironischer Färbung hervorgehoben, wenn hier die Rede von einem Werk aus „corinthischen und ionischen Säulen“ ist, welche spätere Kunstgattungen der Bildhauer in ironischer Übertreibung seiner Kunstfertigkeit bereits zu antizipieren scheint: Nach dieser ersten Sorge arbeitete er mit hartnäkigstem Fleisse, die Galerie und den Saal nach seinem Risse zu verfertigen. Das Werk stieg unter seinen Händen empor, und stuhnd in einer Zeit von wenigen Monaten auf corinthischen und ionischen Säulen, ehe diese Nahmen noch bekannt waren. Es war eine lange Galerie, und ein geraumer Saal, denen es nur an Bewohnern fehlete. Er entschloß sich, auch diesem Mangel zu helfen, und ein neues Geschlecht von marmornen Menschen dahin zu setzen, welche ihm die Einsamkeit durch ihre Gesellschaft erträglicher macheten; denn sein Grabstichel sollte sie mit Linamenten, Zügen und Stellungen versehen, welche Charakter, Gedanken und Gemüthsneigungen ausdrücken. Also schnitzete er Götter und Göttinnen, Helden und Schönheiten; er schnitzete sie nach der Idee des Schönen, welche die Natur selbst oder eine günstige Gottheit ihm bey seiner Geburt in die Phantasie geleget hatte. Die göttliche Gestalt des Menschen strahlete aus dem Marmor hervor, er schien gelenkig unter seiner kühnen Hand, und nahm nicht nur die Weichlichkeit des Fleisches, und die Stärke der Muskeln, sondern selbst die Hoheit des Mannes und die liebliche Sittsamkeit der Frau an sich. Ein jedes von seiner Bildern hatte seine eigene Anmut, seinen eigenen Ausdruck, deren Venus selbst sich nicht schämen dürfte, wenn sie vor sterblichem Auge erscheinen wollte. (BP, S. 6ff.)
Dass der Mensch als soziales Geschöpf nach Gesellschaft strebt, wird in diesem Abschnitt deutlich: Pygmalion, sich der menschlichen Leere und seiner Einsamkeit in seiner neuen Säulenhalle bewusst, nimmt sich der Bevölkerung durch „ein neues Geschlecht von marmornen Menschen“ an. Dabei ist die in Ovids Metamorphosen formulierte Trias ,Götter, Helden und Menschen‘ wegweisend, bekannt aus den ersten Kapiteln des ersten Buches „Schöpfung, Weltentstehung und Weltzeitalter“. Denn schon Ovid beschrieb den Menschen als Krone der Schöpfung. Gottgleich und „nach der Idee des Schönen“ erschafft der Künstler „Götter und Göttinnen, Helden und Schönheiten“. Die Begabung und seine
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Phantasie stammt „von der Natur selbst“ oder von einer günstigen Gottheit“, die der Künstler schon bei der Geburt erhalten hat. Der Künstler ist ergo ein von den Göttern bevorzugter und mit Talent gesegneter Mensch, der sich von der Masse abhebt. Daneben wird mit „die Hoheit des Mannes und die liebliche Sittsamkeit der Frau an sich“, die Idee von einer Dichotomie der Geschlechter laut. Die Idee der Geschlechterdifferenz und der passiven dem aktiven Mann sich unterordnenden Frau formuliert Rousseau nicht nur in dem berühmt-berüchtigten Bildungsroman Émile (1762). Insbesondere im Sophie-Kapitel über die Frauenerziehung wird der für die Damenwelt fatale Programmcharakter postuliert, der die Frauen fortan in Haus und Küche verbannen sollte. Mit „Sophie, Erziehung zur Ungleichheit“ überschreibt Silvia Bovenschen ihre kritische Rousseau-Abrechnung in ihrer Monographie Die imaginierte Weiblichkeit.658 Doch schon vorab in dem empfindsamen Briefroman Julie ou la Nouvelle Héloïse (1764) und nach der Erstausgabe Lettres des deux amants habitans d’une petite ville au pied des alpes (1761) lässt der Erzähler Julie sich ideengeschichtlich an Platons Republik erinnern und sich in Abkehr von dessen kriegerischem Egalitätsprinzip im Wächterstaat, ganz unfeministisch äußern, dass „das vollkommene Weib und der vollkommene Mann […] sich weder in Ansehung des Geistes noch in der Gesichtsbildung gleichen [dürfen;] die eitlen Nachäffungen der Geschlechter sind höchste Stufe der Unvernunft, sie machen die Weisen lachen und verscheuchen die Liebesgötter“.659 Pygmalions nach Perfektion strebende Bildhauerei ist bei Bodmer von den Göttern und insbesondere von der Venus animiert, die über seinen etwas zu reiblosen Arbeitsprozess wacht, der, immer nach dem höchsten Ideal strebend, ganz ohne Pausen oder Fehlschläge vonstatten zu gehen scheint: Er suchte beständig eine höhere Art der Vollkommenheit, er erhob seine Idee von einem Grade zum andern. Nach vielen Versuchen bemächtigte er sich der höchsten Idee der Schönheit, die von solcher Vollkommenheit war, daß man geglaubt hat, die Venus selbst habe sich ihm im Schlage mit ihren Zügen gezeiget, sie habe ihm die Seele, die ihre Gestalt belebet, und die Harmonie, die sie mit einander verbindet, zu sehen gegeben. Eben dieselbe, hat man gesagt, habe einen Grabstechel geführt, und seine Phantasie erhitzt. Wie dem seyn mag, so verfertigte er eine Statue von einer Bildung und einem Ausdrucke, deren Venus selbst sich nicht schämen dürfte, wenn sie vor sterblichen Augen erscheinen wollte. Ihr würdet fehlen, wenn ihr euch davon eine Vorstellung machtet, die ihr selbst im Leben gesehen, oder die ihr in der Beschreibung des geschicktesten Poeten gelesen habt. Pygmalion hatte diesmal nicht mit der Phantasie allein gearbeitet, diese hatte ihm nur die Zeichnung geliehen, sein Hertz hatte das übrige hinzugesetzet, und vollkommen gemacht. Er hatte sich
658 Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit. Frankfurt am Main 2003, S. 164–180. 659 Rousseau: Julie oder die Neue Héloïse. Bd. 1. Berlin: Propyläen o.J., S. 175 f.
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im Arbeiten erhitzet und eine heftige Neigung angenommen, die ihm geholfen arbeiten; dadurch geschah, daß er den Augen von Marmor das lieblichste Leben, dem Angesicht die süsseste Holdseligkeit mitteilete, daß er ein feines Lächeln, die erhabenste Haltung des Kopfes, die wohlberedetste und geistreichste Mine ausbildete. (BP, S. 7f.)
Die Arbeit des Künstlers wird von idyllisch-idealen Vorstellungen „des Schönen“ angetrieben und in Superlativen und einer hyperbolischen, nahezu romantischenthusiastischen Beredsamkeit gewürdigt, die jegliche Vorstellungen des je Dagewesenen überträfen. Die lächelnde und erhabene Statue, verbildlicht die „höchste Idee der Schönheit“ und wird als künstlerische Frucht einer göttlichen Eingabe im Zusammentreffen mit der „erhitzten Phantasie“ des Künstlers beschrieben. Bei diesem künstlerischen Akt habe die Liebesgöttin selbst Patin gestanden. Demnach habe Pygmalion nach seiner Einbildungskraft, d. h. seinen inneren Vorstellungen nach dem Vorbild der Göttin die Statue ausgearbeitet bzw. habe er „seinen Grabstechel“ von der „himmlischen Macht“ führen lassen.660 Man beachte, dass hier die beiden Begriffe der „Anmut“ und des „Erhabenen“, die später in Schillers ästhetischen Essays eher als antagonistische Begriffe behandelt werden, hier doch in relativer Nähe nebeneinander auftauchen, um die künstlerische Arbeit zu charakterisieren. Bewusst oder ungewollt ist hier die homonyme Verwendung des Lexems „Mine“ gesetzt, was in der alten nicht normierten Orthographie sowohl auf die Miene des Gesichts, die hier „wohlberedet und geistreich“ ausgebildet ist, als auch auf die mittelalterliche Minne anspielt, deren Etymologie von einer zunächst nicht-sexuellen Zuneigung im Sinne der Geschwisterliebe oder Gottesliebe, bald die körperliche Liebe meinte. Diese „niedere Minne“ wurde dann im Spätmittelalter als Tabu empfunden und durch das Lexem „Liebe“ ersetzt.661 Als der Bildhauer dann vor seinem fertigen Werk steht und nun seine Kunst rezipiert, entwickelt sich die vormals heftige Neigung zu einer ihn erfüllenden Bewegung: Eine Bewegung erfüllete sein Herz, die ihm zuvor unbekannt gewesen war. Er erkannte, was für eine es war, und schämte sich, daß er es erkannte. Jezo entsagte er sich aller Arbeit; er staunete, aber nicht mehr nach einer höhern Idee des Schönen; er hatte alle Schönheiten in diesem Bilde erschöpft. Er heftete die Augen beständig auf dasselbe. Er sagte mit einem Seufzer; Hat auch jemals eine Regung von dieser unsinnigen Art des Hertz eines Menschen eingenommen? Ich kan es mir selbst nicht länger verbergen, ich liebe einen Marmorkloß. (BP, S. 7f.)
660 Bodmer: Pygmalion und Elise. An den Mädchenfreund. 1747, S. 7. 661 Vgl. Gert Hübner: Minnesang, Minnerede. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. von Gert Ueding. Darmstadt 1992ff., Bd. 10 (2011), Sp. 701–711.
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Die für die Kunst empfundene Neigung gehört nach der antiken Trias weniger in den Bereich der Agape oder der Philia, sondern in jenen des Eros. Diese erotische Neigung zur eigenen Schöpfung, die bei Rousseau einen fast inzestuösen Charakter erhält, wurde bspw. von Goethe vehement kritisiert.662 Der Schöpfer erkennt seine Schöpfung, was als erste Anagnorisis des Textes aufgefasst werden kann: Der Künstler erkennt sein Werk und verliebt sich in seine Schöpfung. Darauf folgt eine ausführliche physikalische Überlegung über die Teilbarkeit des Marmors in „Marmortheilchen und Marmorsand“ sowie der Kräftewirkungen und „Vermischungen“ von einfachen „Elementhar-Teilchen“, die „in ihrem Grund unveränderlich bleiben“. Den von Deslandes postulierten materialistisch-pantheistischen und spinozistischen Ideen663 wird entgegnet, dass nach rationalem Verständnis Umgestaltungen, hier in einem Parallelismus angeordnet, unmöglich seien: „Nimmermehr wird aus Marmor Fleisch, Blut und Bein werden, so wenig als Gold aus Bier, Wasser aus Erde.“ (BP, S. 10f.) Und wiederum werden die biologischen Hypothesen an Ovids Schöpfungserzählung aus den Metamorphosen „Deukalion und Pyrrha“ geknüpft: Man trägt sich doch mit einem nicht gar alten Gerüchte, daß aus den Steinen des Deukalions und der Pyrrha Menschen gewachsen seyn. Das ist schwer zu glauben; denn wenn man gleich annehmen wollte, daß in den Steinen menschliche Saamenthierchen gesessen hätten, für welche darinnen durch eine göttliche Vorherordnung ihre gewähnliche Nahrung wie sonst in dem Eyerstocke der Muter gelegt worden, wie hätten diese Saamenthierchen sich durch den Stein hindurch graben können, wenn sie die Nahrung darinnen aufgebraucht hätten, und dadurch zu einem gewissen Wachstum gekommen wären? (BP, S. 12)
Deukalion und Pyrrha überlebten als einzige die Sintflut und baten die Götter um Hilfe, worauf Themis das Orakel sprach: „Geht aus dem Tempel, verhüllt euer Haupt, löst den Gürtel der Kleidung und werft hinter euch der grossen Mutter Gebeine!“664 Während Pyrrha diesen Worten anfangs nicht traute, entschlüsselte Deukalion diese richtig, wenn er mit den Gebeinen der Mutter, die Steine der Mutter Erde deutete, die sie darauf hinter sich warfen. Und siehe da, die Steine
662 Goethe an C.F. Zelter, 3. Dezember 1812. In: Goethe: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. Abt. IV. Bd. 23. Frankfurt am Main 1998, S. 185–191, hier S. 190. Zu Goethes Pygmalion vgl. Mathias Mayer: Midas statt Pygmalion. Die Tödlichkeit der Kunst bei Goethe, Schnitzler, Hofmannsthal und Georg Kaiser. In: DVjs 64 (1990), S. 278–310, hier S. 287f. 663 Vgl. John L. Carr: Pygmalion and the „philosophes“. The animated Statue in 18th century France. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institute 22 (1960), S. 238–254, hier S. 251. 664 Nur zwei sind noch übrig! Deukalion und Pyrra. In: Ovidius: Metamorphosen. Lateinisch, Deutsch. Übers. und hg. von Michael von Albrecht. Stuttgart 2012, S. 18.
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begannen zu leben; hingegen fiel der Vergleich mit dem Marmorbild schon bei Ovid: Sie gehen hin, verhüllen das Haupt, entgürten das Gewand und werfen, wie ihnen befohlen war, die Steine hinter den Rücken. Aber die Brocken – wer wollte es glauben, wenn es nicht die graue Vorzeit bezeugte? – beginnen sofort ihre Härte und Festigkeit abzulegen, sich mit der Zeit zu erweichen und sich, erweicht, zu gestalten. Sobald sie Gestalt angenommen haben und ihnen ein gefälliges Äusseres zuteil geworden ist, kann man ihnen, wenn auch undeutlich, die menschliche Bildung ansehen, freilich nur so wie bei einem eben begonnenen Marmorbild. Da sie noch nicht ausgeprägt genug ist, erinnern sie sehr an roh behauene Statuen. Was nun an jenen Steinen teils von irgendwelcher Feuchte durchdrungen, teils erdig war, verwandelt sich zum Nutzen des lebenden Leibes. Was fest und unbiegsam ist, wird zu Knochen, was aber eine Ader war im Gestein, das bleibt es und behält auch den Namen. Nach kurzer Zeit nehmen durch der Götter Allmacht die von des Mannes Hand geworfenen Steine die Züge von Männern an, aus den von Frauenhand geworfenen entstehen aufs neue die Frauen.665
Pygmalion, der sich keinen Robinson, sondern eine nahezu ideale Traumfrau schafft, glaubt nicht daran, dass die Götter seine Wünsche erhören könnten und versucht rational zu bleiben, was ihm nicht ganz gelingt. Stattdessen verliebt er sich in die widersprüchliche Wirklichkeit, indem er sich immer wieder selbst in seinem Marmorbild täuschend, die Bildsäule als echt empfindet und in der Umarmung von deren Kälte wieder eines Besseren belehrt wird: Also vernichtete er die Möglichkeit seiner Wünsche, und hörete doch nicht auf zu wünschen; wiewohl er sich dessen selbst bestrafete. Er führete ein elendes Leben. Hundertmal betrog ihn das falsche Leben der Bildsäule, der er doch selbst zu dieser Falschheit geholfen, daß er sie umarmete, aber statt der weichen Wärme, die ihm die Augen versprachen, eine unempfindliche Steife zu fühlen bekam. (BP, S. 12)
Das Problem der Statuenbelebung wird mit dem schöpferisch-göttlichen Anhauchen seitens eines „gütigen [und] mächtigen Wesens“ (BP, S. 40) umgangen. Doch die „Natur der Dinge“ sollte sich ändern, „eine himmlische Macht“ hat Mitleid mit dem einsamen Jüngling, „erbarmte sich“ seiner und „that […] das Wunderwerk an der Bildsäule, welches Pygmalion für unmöglich hielt, oder wenn es möglich war, nicht hoffen durfte“ und verhalf der Bildsäule zum Leben. Die darauf folgende Erkenntnis der Bildsäule ihrer selbst kann als zweite Anagnorisis im Text bezeichnet werden.
665 Völker aus Steinen. Das Orakel der Themis, ebd., S. 19.
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Die geliebte Bildsäule empfand plötzlich ein Licht, das in ihr Aufstieg; die Bewegung stellte sich in ihr ein; die Sinnen brachten ihre alle Dinge in dem Saal auf einmal vor das Haupt; dann sonderte sie dieselben allmählig. Erstlich besichtigte sie ihre eigenen Gliedmassen: sie hob die Arme auf; dann stieg sie mit sachten Tritten von ihrem Fußgestelle herunter; sie warf die Augen auf die Bildsäulen, die um sie her auf sie zu sehen schienen; sie machete einfache Sätze; jetzt dacht sie in Schlüssen, und bald darauf redete sie: Wie, habe ich mich selbst gefunden, sagte sie, warum nicht eher, wo war ich den vorigen Augenblick, was war ich, oder war ich nirgends und nichts? Wenn ich war, warum fühlte ich mich nicht, wie jetzo, und wenn ich mich nicht fühlte, war mein Seyn denn besser als nicht zu seyn? Aber wer bracht mich denn zu mir selber, wer machte, daß ich wäre und mich fühlete? Mich selbst habe ich nicht hierher gebracht: ich hätte sonst nicht so lange gezaudert hierherzukommen. Ich sehe, dass ich nicht alleine bin. Diese andern sind vor mir dagewesen. Sagt mir, ihr schönen Dinge, wo bin ich, und was bin ich? Mich dünket, ich sey euersgleichen, Warum redet ihr nicht, warum steiget ihr nicht von euern Gesimsen herunter? Lasset mich euch umfangen, lasset mich euch herunterhelfen! Lasset mich mit euch Freude haben, daß wir sind, und daß wir so denken und reden! (BP, S. 12f.)
Während das Leben schon im biblischen Schöpfungsbericht mit „Licht“ beginnt, das Gott mittels Sprache in Genesis 1:3 entstehen lässt: „Gott sprach: Es werde Licht. Und es wurde Licht.“666, so beginnt das Leben der Statue mit dem aufklärerischen „Licht“, worauf die Bewegung der Gliedmaßen und die Wahrnehmung der Sinne folgt. Die Jahre der Erziehung vom Baby- zum Kindesalter über die Adoleszenz bis hin zur Mündigkeit werden hier übergesprungen bzw. ignoriert. Vorgestellt wird eine mündige Frau, die ihre Umgebung wahrnimmt, neugierig erkundet und philosophische Fragen stellt. Ihr Blick fällt darauf auf ihr Gegenüber, „eine Säule von männlicher Bildung […] in volle[r] Blühte der Jugend […] wo der Jüngling sich verlieret, und die männliche Reife anfänget“ (BP, S. 14), und von welcher sie sich natürlich sofort angezogen fühlt. Wie vormals der Bildhauer sein Geschöpf umarmte, wiederholt nun die zum Leben erwachte Statue diese Geste und umarmt ihr Gegenüber, welches Pygmalion nach seiner eigenen harmonischen Gestalt gebildet hatte. Bei der gefühlten Kälte des Steines zieht die junge Frau wieder die richtigen Schlüsse und erstaunlicherweise verfügt sie sogar schon über vage Ahnungen der Medizin, die ungewollt einen ironischen Charakter haben: „Hier ist kein Leben, kein Puls scheint in diesen Adern zu schlagen. Ohne Zweifel sind diese noch nicht zur Bewegung und zum Leben reif genug worden.“ (BP, ebd.) Daraus schlussfolgernd wünscht sie sich innig, dass ihr Gegenüber bald zum Leben erwache. Ungewollt oder beabsichtigt wird hierbei der biblisch-christliche Schöpfungsmythos umgekehrt und
666 Neue Jerusalemer Bibel. Einheitsübersetzung mit dem Kommentar der Jerusalemer Bibel. Hg. von Alfons Deissler u. a. Freiburg im Breisgau 2000, S. 14.
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der Eindruck erweckt, dass die Frau als erster Mensch sich einen Gefährten wünscht. Hier erkennt die Statue bereits die feinen äußerlichen Unterschiede der Geschlechter, die sich mit klassischen Dichotomien auszeichnen: Vornehmlich wünschte ich, daß diese ansehnliche Gestalt erwachete, die zwar nicht so zarte, so feine Gesichtszüge hat, wie meine sind, aus welchen doch erhabene und feurige Blicke hervorbrechen. Ich sehe daß sie mir überhaupt gleichet, doch auch einigermassen ungleich ist; sie ist länger, ernsthafter, und stärker, doch scheint sie voller Gütigkeit zu seyn. (BP, S. 15)
Dann verlässt sie den eingeschlossenen Raum und erkundet „das prächtige Schauspiel der Natur“, was ihr wie ein Bühnenbild erscheint, die Himmelsrichtungen erkennt sie ebenfalls richtig: „Es war gleich an dem, daß dies Sonne den Rand ihrer beleuchtenden Kugel aus der östlichen See hervorrekete, und unten den grossen Ocean, oben die ungemessene Bühne des blauen Himmels mir ihren sanften Strahlen tausendfältig bemahlete.“ Die Farbenpracht und die Sonne werden als „Auge des Himmels“ gedeutet, mit der die Statue einen erkenntnisreichen Dialog, wenn nicht schon ein erstes Religionsgespräch führt: O du, ohne Zweifel das Auge des Himmels, das alles siehet und alles zu sehen giebt! Du hast es gesehen, als ich ward, und warest eh ich noch gewesen. Sage mir denn, wie ward ich so? Wer hat mir zu diesem Wesen, das sich selber fühlet und sich so beweget und so denket geholfen? Ich könnte glauben, daß du es seyest, oder derjenige, dessen Auge du bist. Oder warest du selber noch nicht, ehe vor wenig Augenblicken ein grösseres Wesen dich angezündet und mit diesem Meer von Strahlen begabet hat? (BP, S. 15)
Die Empfindung der Welt als göttliches Schauspiel erinnert an die in der Renaissance und im Barock übliche Metapher des Theatrum Mundi.667 Die Natur wird als Theatrum naturae betrachtet, in der die göttliche Ordnung zu erkennen ist. Neben der eindrücklichen Metaphorik vom „Auge des Himmels“ bis hinzu dem „Meer von Strahlen“ wird in der Folge der Vogelgesang als Musik empfunden, wenn deren „Waldgesang“ als „Schall [einer] stillen Symphonie“ und die Vögel selbst als „ein Chor von Sängern“ beschrieben werden. Bald darauf entdeckt sie mit „empfindende[m] Herzen“ im Gebüsch andere Tiere, Damhirsche und Ziegenböcke, mit denen sie zu sprechen versucht und ihre Fragen stellt: […] redet mit vernehmlicher Stimme, und saget mir, wovon ihr singet, und was ihr hier verrichtet. Wie lange seyd ihr schon hier, wer hat euch hierher geschikt, wo waret ihr zuvor,
667 Christian Weber: Theatrum Mundi. Zur Konjunktur der Theatrum-Metapher im 16. und 17. Jahrhundert als Ort der Wissenskompilation und zu ihrer literarischen Umsetzung im Grossen Welttheater. In: http:// www.metaphorik.de 14 (2008).
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und wenn ihr es wisset, wer hat mich selbst hervorgebracht, und zu welchen Endzweke bin ich hier? Die Vögel furhen fort zu singen, der Ziegenbock mekerte und der Damhirsch brüllete. (BP, S. 17f.)
Darauf trifft sie andere Tiere, deren Gesellschaft sie „ergetzte“, ihr aber nicht genügte, so dass sie sich eine „anständigere“ sucht. Auch die Pflanzenwelt stellt sich ihr vor: blühender Jasmin, Orangenbaum und Rosenstrauch öffneten ihre Blüten in solcher Nähe, „daß es schien, einer ergetze sich an dem Geruche des andern“. In dieser natürlichen Idylle eines Theatrum botanicum werden bukolische Szenen beschrieben, in denen exotische und europäische Pflanzen zusammenfinden: „der Persichbaum, der Cocosbaum, der Guavastrauch, und zwischen denen allen zog der Weinstock seine Kränze von einem zum andern“ (BP, S. 19). Die Betrachtung des Naturtheaters wird in den Kontext der Gotteserkenntnis gestellt, wenn die junge Frau, von den Früchten kostend, voll Entzücken nach jenem ruft, der sie erschaffen hat: Aber was vor ein gütiges Wesen, was vor ein mächtiges Wesen mich so begabet habe, bleibt mir beständig verborgen. Zeige dich mir, wer du seyst, von dem ich meinen Ursprung habe, und für den ich entsprungen bin. Ich warte deiner und kann nicht ruhen, nicht gantz vergnügt seyn, bis ich dich gefunden habe. (BP, S. 17f.)
Der schöpfergleiche Gott oder der gottgleiche Schöpfer wird von der jungen Frau sehnlichst erwartet: das Ich braucht ein Du, um im Dual zu existieren, wie es Wilhelm von Humboldt in seiner Sprachphilosophie knapp ein Jahrhundert später formulieren wird.668 Die Suche geht weiter mit der Spiegelszene am Wasser, die Ovids Narziss-Mythos nachempfunden ist und die Selbstliebe (amour de soi) als weiteres Entwicklungsmoment streift.669 Hier lässt sich erstmals die Frau von dem Gegenüber täuschen, bzw. erkennt sie hier noch nicht, dass es sich um ihr eigenes Spiegelbild handelt. Enttäuscht darüber, dass dieses nicht mit ihr spricht bzw. sie die Stimme der sich bewegenden Lippen nicht vernehmen kann, läuft sie wieder zurück zur Galerie, wo sie erstmals Pygmalion begegnet. Diesen hält sie im ersten Augenblick für ein nun ebenfalls zum Leben erwachtes Marmorbild, korrigiert sich aber sofort, da dieser um die Hüften eine Kleidung aus Federn trägt. Als sie ihn anspricht, sprudelt aus ihr sogleich ein ganzer Fragenkatalog:
668 Wilhelm von Humboldt: Über den Dualis (1827). In: Ders.: Werke in fünf Bänden. Bd. III: Schriften zur Sprachphilosophie. Hg. von A. Flitner, K. Giel. Darmstadt 2010. 669 Die Vermutung, dass Rousseau später seine Pygmalion-Interpretation das Jugendstück „Narcisse ou l’amant de lui même“ weiterdenkt, ist die These von Paul de Man. Vgl. ders.: Allegories of Reading. New Haven, London 1979, S. 160–187.
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Ich hoffe, fuhr sie gegen ihn fort, daß ich denjenigen gefunden habe, der meine Stimme höret und mit einer gleichen erwiedern kan, ein Ding, das vor mir gewesen ist, und vielleicht gegenwärtig war, als ich gemachet ward: Berichte mich denn, wer hat mich so gemachet, was will er von mir haben, und was war ich, eh ich so war? Oder hast du mich selbst gemacht? Von wem hast du denn die Bewegung und das Licht empfangen, oder hast du sie immer gehabt? Und ist diese leuchtende Fakel, die auf dem blauen Felde mit so leisen Schritten fortgehet, sind dieser riechende Wald, dieses gesangreichen Vögel, und alle diese vierfüssigen Thiere von so verschiedenen Gestalten und Farben auch deine Arbeit? Wozu denn sollten sie, und ich mit ihnen dir dienen? Das alles ist mir fremd, und eh diese himmlische Kugel noch auf das blaue Feld gestiegen war, sah ich von dem allen noch nichts, und fühlte mich selber noch nicht. (BP, S. 22f.)
Pygmalion ist ganz erschüttert über die sprechende Erscheinung, in der er sein Werk wiedererkennt und als erstes der himmlischen Macht dankt, bevor er sein Geschöpf über ihre doppelte Herkunft in einem Lehrgespräch aufklärt und so gleichsam erzieht: Schöne Gestalt, freylich war ich bey deiner ersten Bildung gegenwärtig, du hast diese harmonische Gestaltung, diese Ausrundung, diese Drechselung der Gliedmassen von mir empfangen; dieses vollkommene Ebenmaß, die Idee dieser Holdseligkeit, die sich darüber ergiesset, sind von mir, ich habe sie in meiner erzeugenden Phantasie gehabt, als sie noch in der Dunkelheit des Mamors verborgen lagen, und daraus hat mein Grabstichel sie hervorgebracht. Aber die innerliche Bewegung, das Licht, das dich erleuchtet, das, was in dir gedenket, hat seinen Ursprung von einer höheren Macht, von welcher das alles, und was nur ist, entspringet. Dieselbige hat mich durch dein Wesen, und, wenn mein Wunsch erfüllet wird, dich hingegen durch mich beseligen wollen. (BP, S. 17f.)
Schon im ersten Dialog mit der Statue beginnt sich Pygmalion zum Lehrer und Aufklärer seines Geschöpfes zu entwickeln. Eine Entwicklung, die sich in den weiteren Dialogen fortsetzen wird. In der Erzählung lässt sich ferner ein innovatives Bildungskonzept ablesen, das Gespräche als pädagogisches Fundament erachtet, die ein reziprokes Zukunftsunternehmen anvisieren, das gleichermaßen vom Pädagogen und Lernenden getragen wird. In der Lehre vom dogmatischen Zwang bis hin zum philosophischen Zweifel wechseln die Rollen von Lehrer und Schülerin. Wiederum schafft es der Zürcher in einer kleinen Erzählung zu einem berühmten Motiv über die Darstellungskraft der Kunst sein Plädoyer für ein chancengleiches Leben mit Anrecht auf Bildung für beide Geschlechter unterzubringen.
4.3.5 Ein empfindsamer und emanzipierter Geschlechterdiskurs Pygmalion fährt fort, seiner Begleiterin zu erklären, dass er von einer „Frauensperson“ geboren wurde und diese weiblichen Aufgaben auf die junge Frau warten,
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die über das Leben und im Besonderen über die Geburtsvorgänge noch unwissend ist. Pygmalion mahnt sie in seinem Unterricht als erstes zur Geduld und in einer etwas modellierten Alliteration erklärt er ihr, dass ihr die Sinne, nämlich Gehör, Geruch, Gesicht und Gefühl beim Lernen helfen werden. Der Künstler wird nun Lehrer sowie Ernährer und ist gleichzeitig Liebhaber, der seine Schülerin selbst hier, wie schon bei den literarischen Vorgängern, in das „Liebesspiel“ einführt. Mit einem galanten Handkuss werden Gefühle entfacht und sogleich Liebesschwüre der Statue entlockt: „Ich sehe und höre dich mit Vergnügen, und bewundere und liebe dich nächst mir über allen Dingen“ (BP, S. 26), womit an die Tradition der Pygmalions nach Ovid oder Deslandes angespielt wird. Nach einer aus vielen Früchten bestehenden Mahlzeit, die vom Erzähler in ihren höchsten Vorzügen gelobt und mit jenen Kochkünsten des schon erwähnten Martialo rühmlich verglichen wird, schreitet der Liebhaber zur Tat und verführt sein Kunstobjekt mit Worten und Berührungen. Wiederum erinnert er die Frau an ihr Schicksal, Nachkommen zu gebären, wenn er sagt: „Zu dem Ende wird in einer holden Stunde, die jezt nicht mehr fern ist, die Liebe dich zwingen, ein Wesen unserer Art hervorzubringen, welches nach uns leben soll.“ (BP, S. 27) Nach dem Liebesakt im bukolischen Blumenbett verfärben sich ihre Wangen mit einem glühenden Morgenrot, bevor sie vom Schlaf übermannt wird, den sie unwissend mit dem Tod verwechselt: Als sie in der Nacht erwacht, erkennt sie ihre Umgebung in den gewohnten Farben nicht wieder. Ihren Freund und Lehrmeister weckt sie kurzerhand, damit er ihr das Naturspektakel der Nacht erkläre. Pygmalion belehrt sie darauf über den Sonnenlauf und macht dann Licht mit einem Feuerstein und einer Kerze, worauf Prometheus als Künstler gefeiert wird, der die junge Frau wie zum zweiten Mal geboren hätte: „Es dünkte mich, als das Licht durch diese Fakel wiederkam, daß ich zum zweitenmal aus dem Nichts hervorgestiegen wäre.“ (Ebd.) Auf die treffende Schlussfolgerung der Schülerin, Pygmalions Sonne leuchte in einem kleineren Umfange, als die Sonne des Tages, antwortet dieser in einem platonisch anmutenden Gleichnis: „Die gröste Kunst ist nur ein gezwungener Schatten von seinen Urbildern, und seine Nacht übertrift den hellesten Tag, den der menschliche Witz zuwegebringen kan“ und führt dann das Lehrgespräch unter freiem „gestirnten“ Nachthimmel weiter. Der Eindruck über den Schöpfer und ersten Urheber dieser „herrlichen“ Naturphänomene überwältigt die junge Frau bzw. die Bildsäule, wie sie im ersten Teil noch genannt wird. Sich zum Gebet niederwerfend und wieder aufstehend, zweifelt sie, ob der Tag der Nacht vorzuziehen sei. Auch wenn die folgenden Tage ihren Wissensdurst erweitern, waren diese nicht mehr so „seltsam, nicht so rührend, wie die Wunder des ersten Tages“ (BP, S. 34). Der Zwang in die Mutterrolle überzeugt die Statue nicht, auch beginnt sie Zweifel an der Zukunft zu hegen und probiert darauf im zweiten Teil der Erzäh-
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lung sich von den vorgegebenen Strukturen zu emanzipieren, um neue gedankliche Perspektiven auszutesten. Im zweiten mit „Elise“ überschriebenen Teil, aus angeblichen „ägyptischen Tagebüchern“, die wie vom Erzähler vermutet wird, Shakespeare zu dessen Tragödie The Tempest (1610/11) inspiriert haben sollen, folgt eine Fortsetzung, worin erneut über die Herkunft Pygmalions berichtet wird. Demnach sei dieser kein „gebohrner Cypriot, sondern wurde als Kind aus Ägypten „von Seeräubern entführt“, was die Quelle der Hieroglyphik plausibel werden lässt. Aus der Erinnerung an seine geliebten Eltern hat Pygmalion diese in seiner Säulenhalle in Marmor verewigt und mit deren Namen Kalosiris und Imolinda versehen. Der ägyptischen Quelle zufolge wird ferner über die Namengebung der Bildsäule gesagt, dass „Pygmalion sie Elise genannt habe“. Dass Elisa, berühmt durch das Broadway-Musical My fair Lady (1956) nach Sir George Bernard Shaws Komödie Pygmalion (1913), auf Bodmers Namensgebung zurückgeht, vermutet heute kaum einer. So war es der Zürcher, der jene belebte Statue, die bislang Galatea nach der gleichnamigen Meeresnymphe und Neptuns Tochter hieß, Elise taufte. In Elise klingt zum einen der Zweitname der Schwester Pygmalions, Dido, an, die in Tyros nach einer Gottheit Elissa genannt wurde.670 Zum anderen ist Elise der Kosename von Elisabeth, nach dem biblischen Wortstamm Escheba, was soviel wie „Schwur“ bedeutet. Ist Elise noch bei Bodmer nach der imaginierten Traumfrau kreiert, wird Sie in Karl Wilhelm Ramlers Gedicht „Ach Elise! auch leblos bist du liebenswürdiger als diese, von der ich deinen Namen lieh“ nach der toten „schönen Schwester“ benannt, was in Analogie zu Ovids Narciss-Mythos erzählt wird, der sich ebenfalls dermaßen nach seiner verstorbenen Schwester gesehnt haben soll, dass er deren Bild in seinem Spiegelbild in der Quelle suchte.671 In diesem zweiten Teil der Pygmalion-Erzählung wird ferner eine Erziehung zur Empfindsamkeit vorgeschlagen, die zum einen auf Selbst- und Außenwahrnehmung basiert und zum anderen um eine Inszenierung bzw. Disziplinierung von Körperlichkeit kreist. Wissbegierig will Elise nicht nur lieben und geliebt werden, sondern erkundet weiter die Ursprünge des Lebens und hinterfragt Pygmalions schöpferische Kunst, der sie habhaft werden möchte:
670 Vgl. „Dido“. In: Michael Grant, John Hazel (Hg.): Lexikon der antiken Mythen und Gestalten. München 1999, S. 121. 671 Karl Wilhelm Ramler: Pygmalion eine Cantate. In: Ders.: Poëtische Werke. Bd. 2. Berlin 1768, S. 265.
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Mich dünkt du sagtest gestern zu mir, ich wäre gemachet, die eine Menge unsers gleichen zu gebähren, welche diese ganze Gegend anfüllen sollten. Ich bin ganz geneigt dieses zu thun, lehre mich nur wie ich es bewerkstelligen solle. Vor allen Dingen wollte ich gerne diese Bildsäulen aus der Finsterniß gebähren, in welcher ich unlängst mit ihnen gelegen war. Ich wollte gerne mehr Pygmalionen haben. Aber ich weiß die Kunst nicht, wie ich sie gebähren solle. Soll ich sie umarmen und ihnen von meiner Lebenswärme mittheilen? Du kannst sie mir entdecken denn du weissest sie, massen du mich geboren hast. (BP, S. 36f.)
In dieser Passage ist nochmals das Thema der Geburt zentral, die Partizipien „gebähren, geboren“ werden viermal genannt und von Pygmalion korrigierend aufgenommen, wenn er seiner weiblichen Gefährtin erklärt: „So gebähren die Frauen nicht.“ (BP, S. 37) Der Bildhauer versteht sich als Schöpfer, der nach seiner Idee des Schönen, seine Figuren schafft und seine künstlerischen Kopfgeburten hervorbringt. Dieser mit der Geburtsmetapher umschriebene kreative Schaffensprozess sei aber einzig den Männern vorbehalten, während die Natur die biologische Geburt den Müttern bestimmt hat. Kormann beklagt, dass die in den Pygmalien-Adaptionen vorgestellten Beziehungen zwischen Künstler und Werk, zwischen Liebendem und Liebender ausschließlich als Allegorie verstanden werden. Dabei werde das Literale der Beziehungen, d. h. die in der Gebärmutter der Literatur produzierten Projektionen von sich wandelnden Geschlechterprinzipien, die der eigentlichen Analyse bedürfen, zu oft übersehen.672 Dem kann entgegen gehalten werden, dass obschon das hier propagierte Geschlechtermodell komplementäre Aufgaben für Frauen und Männer in der Gesellschaft entwirft, die übliche Geschlechtertrennung jedoch vielmehr kritisch reflektiert wird.673 So betont Elise in ihrem Auftreten und ihrer Wissbegierde nicht nur Differenzen, sondern auch Gemeinsamkeiten bspw. hinsichtlich der Produktion und Rezeption von Kunst. Indem sich Bodmers Elise durch große Neugier und ein ausgeprägtes Interesse an der Kunst auszeichnet, was freilich von Pygmalion gezügelt wird, der nach hergebrachten Kunst- und Künstlerkonzeptionen handelt, die von Vorstellungen nicht geschlechtsneutraler Kunstideen ausgehen, bilden sich hier bereits Möglichkeiten für weibliche Künstlerinnen ab, wenn man die zitierte Textpassage als eine satirische Lesart ex negativo versteht und sich von der Figurenperspektive löst. Wie schon Heinrich Dörrie feststellte, gab die Pikanterie Deslandes Anlass zur Entrüstung, der die junge Frau sich im Kreise von Pygmalions Freunden
672 Vgl. Kormann: Pygmalions Kopfgeburten, S. 137f. 673 Vgl. Karin Hausen: Die Polarisierung der ,Geschlechtercharaktere‘ – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben. In: Werner Conze (Hg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Stuttgart 1976, S. 363–393.
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gegen die Ehe und für die freie Liebe aussprechen ließ. Auch Bodmer lässt die Idee der freizügigen Liebe anklingen, wenn Elise von vielen „Pygmalionen“ träumt und man sich fragt, ob von Liebhabern oder vielen Kindern die Rede ist. In diesem zweiten Teil der Erzählung ist Pygmalions Herkunft zentral: Pygmalion erzählt von seinen Eltern, die er schmerzlich vermisst. Er erzählt von den „wohlgebildeten Sclaven“, erinnert sich an die Pyramiden Ägyptens und berichtet von seiner Odyssee des Kidnappings. Mittels eines Kastens, der an die Arche erinnert, ist er fälschlicherweise von Zypern nicht wieder in seine Heimat, sondern auf diese einsame Insel gelangt, die er darauf mit seinen Statuen bevölkert hat. Elise unterbricht ihn und freut sich über die Neuigkeit, dass es mehr Männer gäbe: „das wunderbarste ist, daß mehr Männer seyn. Ich wollte daß deren zehen oder zwanzig zu uns herüber kämen, ich könnte sie lieben, wie ich dich liebe, es dünkt mich, ich könnte alle Männer lieben, welche so aussehen, wie du aussiehest.“ Elise scheint einsam und gelangweilt und wird von ihrem Lehrmeister und Liebhaber wieder belehrt: „Du kannst nicht auf einmal mehr als einen Mann lieben. Ich liebe auch keine andere Weibsperson als dich, du bist mir statt einer Welt voller Frauen; und wenn ich neben dir alle Frauen in der Welt bey mir auf dieser Insel hätte, so würde ich sie alle um dich alleine verlassen, und nur dich wünschen.“ (BP, S. 42) Trotz dieser Liebeserklärung kennt Pygmalion schon andere Weibsbilder und Frauenzimmer, von denen er sich abgewandt hatte. Dagegen hat Elise diese Erfahrungen noch nicht machen können und imaginiert ganz libertine weiter: Das ist nur in deiner Natur, aber ich finde, daß es in meiner Natur ist, diejenigen zu lieben, die mir gefallen; wenn ich mehrere lieben kan, als du kanst, so geschieht es ohne Zweifel, weil ich einen grösseren Schatz an Liebe besitze, als du. Ich wollte darum, weil ich andere Männer neben dir liebete, nicht aufhören dich zu lieben. (BP, S. 42)
Pygmalion ist gar nicht zufrieden mit Elise, die immer mehr jenen Weibern zu gleichen beginnt, die er doch hinter sich lassen wollte. Oder ist er von dem wachsenden Selbstbewusstsein seiner Schülerin überfordert, die flügge wird und gewillt ist, eigene Wege zu gehen?
4.3.6 Die Theatrum-Metapher im Religionsgespräch Schon im ersten Teil der Erzählung postulierte der Text konsequent eine Trennung von Stofflichkeit und Geist. Im ersten Religionsgespräch versuchte Pygmalion Elise die Angst vor dem Tod zu nehmen, indem er die Unsterblichkeit der Seele im Prinzip des sich offenbarenden Gottes begründete und ihr erklärte, dass sie im
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Tod „den großen Urheber aller Dinge zu sehen“ (BP, S. 62) bekäme. Ferner wird der „unsichtbare Geist […] nach dem Tode des Körpers erhalten bleiben, ohne das Mittel eines Körpers weiterleben oder einen anderen Körper bekommen“ (BP, S. 82). Im zweiten Religionsgespräch werden Elise die Zerstörungen des Gewitters im Sinne von Leibniz’ Theodizee (1710) erläutert. Elise empfindet das Gewitter als Feind; eine alles zerstörende Sintflut fürchtend, rettet sie sich nach dem Streit sofort wieder in die Arme ihres Beschützers. Dieser erklärt ihr die nützlichen Naturgewalten des „Urhebers“, die nach den Gesetzen von „Ordnung und Vollkommenheit“ walten. Hier klingen die stoischen Prinzipien der constantia, ordo, vanitas, memento mori und carpe diem an, mittels welcher Justus Lipsius im antiken Athen ein Lebens- und Weltverständnis zu legitimieren suchte.674 Demnach sucht sich der Mensch in seine Rolle in der gottgewollten Ordnung einzufügen und versucht die Endlichkeit seines Daseins wie das einer Figur auf der Bühne zu verstehen. Die aus der Architektur entlehnte Theatrum-Metapher steht in einer weit zurückreichenden, antiken und christlich-theozentrischen Tradition, die von Platon über Augustinus und Johannes von Salisbury bis hin zu Luther und Erasmus von Rotterdam reicht.675 Diese, die mittelalterliche Speculum-Metapher ablösend, fand im 16. und 17. Jahrhundert in sämtlichen Wissensrichtungen bspw. in der Medizin: Theatrum anatomicum; den Naturwissenschaften: Theatrum animalium, Theatrum botanicum, Theatrum naturae oder der Technik: Theatrum machinarum; in der Geschichte: Theatrum historicum und schließlich in der Literatur und in den schönen Künsten: Theatrum pictorium, Theatrum poetarum oder der Panegyrik: Theatrum gloriae ihre Verwendung.676 Bis schließlich dank Calderon die Theatrum-Metapher wieder für die Literatur salonfähig wurde und – als Form der Wissenserschließung instrumentalisiert – der übergeordneten transzendentalen Vorstellung der Gottesordnung Ausdruck
674 Justus Lipisius: De constanita. Von der Standhaftigkeit. Lateinisch, Deutsch. Übers., kommentiert und mit einem Nachwort hg. von Florian Neumann. Mainz 1998. 675 Peter Rusterholz: Theatrum vitae humanae. Funktion und Bedeutungswandel eines poetischen Bildes. Studien zu den Dichtungen von von Andreas Gryphius, Christian Hofmann von Hofmannswaldau und Daniel Caspar Lohenstein. Berlin 1970; Helmar Schramm: Theatralität. In: Ästhetische Grundbegriffe. Stuttgart 2005, Bd. 6, S. 48–73. 676 Vgl. Hans Holländer: Theatrum mundi. Die Welt als Metapher. In: Alles Theater. Meisterwerke der Weltliteratur. Bonn 1997, Bd. 7, S. 143–165. Thomas Kirchner: Der Theaterbegriff des Barocks. In: Maske und Kothurn 31 (1985), S. 131–140. William N. West: Theatres und Encyclopedias in Early Modern Europe. Cambridge 2002.
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zu verleihen suchte. In El gran teatro del mundo (Das große Welttheater), das um 1635 entstanden ist und 1655 erstmals gedruckt erschien, wird die Vorstellung von der Welt als Bühne präsentiert, der paradigmatisch eine inszenatorische Weltsicht zugrunde liegt. Ferner benutzt Calderon seine auf Gott zentrierte kosmologische Daseinsbetrachtung; laut derer in der Scheinhaftigkeit der Welt der Repräsentationscharakter des Lebens offenbart wird.677 Als Elise ein totes Reh erblickt und es nicht mehr erwärmen, sondern nur noch beerdigen kann, ahnt sie, dass auch sie und Pygmalion einem endlichen Schicksal ausgeliefert sind. Von Schrecken und Grauen gepackt, wird sie wieder von ihrem Lehrer getröstet. Dieser erzählt ihr von dem unsterblichen Geist, der von höherem Ursprunge sei und dorthin wieder zurückkehre, „von welchem er ausgeflossen war, bey welchem er dann vor sich, ohne das Mittel eines Körpers lebet, oder von ihm einen andern Körper bekommt, wenn sein Schicksal will, dass er sich länger mit irdischen Gestalten und Dingen abgeben soll“ (BE, S. 49). Das Religionsgespräch mündet darin, dass der Mensch „Zuschauer und Zeuge“ der Allmacht und der göttlichen Güte“ (BE, S. 50) sei und deswegen ein Teil stets fortlebe. Somit kann „Zeugnis von den göttlichen Werken“ überliefert werden, die als „Denckmäler der göttlichen Vollkommenheiten“ gelten können (BE, S. 53).678 Endlich erhält Elise Kleider aus Federn und Zweigen, welche sie sich mit Pygmalions Hilfe schneidert. Bald darauf erkennt sie auf See ein großes Schiff, das sie zuerst als Ungeheuer bzw. als einen schwimmenden Widder wahrnimmt, auf dessen Rücken sich andere Zweibeiner befinden, die auf der Insel an Land gehen. Elise, auf mehr Männer hoffend, berichtet Pygmalion davon, der erst heraus finden will, ob es sich hier um wilde oder zahme Menschen handelt und sie bittet, sich auch wegen einer möglichen Vergewaltigungsgefahr zurückzuhalten. Elise soll sich stattdessen verstecken, während Pygmalion auskundschaftet, ob es sich bei den Ankömmlingen um Feind oder Freund handelt. Doch Elise hält es nicht lange in der Höhle aus und geht wieder auf Männerpirsch, denn es dünkt sie, sie „wäre vergnügter, wenn [sie] mehr Männer sehen, und von mehreren gesehen werden könnte“ (BE, S. 57). Nachdem sie etwas blauäugig Für und Wider abgewogen hat und sogar neun Monate Schmerzen in Kauf nimmt, zieht sie los und trifft als erstes auf einen jungen Mann, der stutzt und „grosse Augen machet!“ (BE, S. 59), sie aber dann höflich anspricht und für eine Fürstin hält. Auf
677 Vgl. Christian Weber: Theatrum Mundi. Zur Konjunktur der Theatrum Metapher im 16. und 17. Jahrhundert als Ort der Wissenskompilation und zu ihrer literarischen Umsetzung im Grossen Welttheater. In: metaphorik.de 14 (2008), S. 333–355, hier S. 355f. 678 Zum von der Theologie abgeleiteten Kunstbegriff, vgl. Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigmen einer Daseinsmetapher. Frankfurt am Main 2005.
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Elises offenherzige Antwort und ahnungslose Erwähnung einer Schwangerschaft sowie Pygmalions Lebensgeschichte bringt sie der junge Mann, bei dem es sich um Pygmlions Bruder handelt, zu seinen Eltern, die sie freundlich empfangen. Nun wird erstmals eine Sklavin gerufen, die Elise anständige Kleider gemäß der „Sitten der Mizrer“ bringt. Dann erkennt Elise jene ihr bekannten Gesichter wieder, die sie vormals in der Säulenhalle erblickt hatte und nennt deren Namen Kolosiris und Jmoinda. Die traurigen Eltern können es kaum glauben, dass das Schicksal sie wieder zu ihrem verloren geglaubten Sohn zurückgeführt habe. Kurz darauf erblickt und erkennt Pygmalion seine Eltern wieder und die Erzählung endet in einer fast schon romantisch wirkenden Zirkeldrehung. Denn der entführte Pygmalion, der auf eine einsame Insel flüchtete, um dem allzu freizügigen Leben auf Zypern zu entkommen, findet am Ende durch Elise, der er eifersüchtig nachspioniert hat, in einer erneuten, von seiner Gefährtin herbeigeführten Anagnorisis-Szene seine Eltern wieder. Hierbei werden Elises Qualitäten der Agape und Philia stark in den Vordergrund gerückt, wenn sie wie eine Spielleiterin die zerrissenen Familienbande im Schlusstableau wieder zusammenführt. Dass die Anagnorisis, ein eher typisches Element der Tragödie hier in einer prosaisch kurzen Erzählung derart häufig auftritt, ist ein Mittel der Parodie, bekannt aus den Corneille-Parodien der französischen Klassik.
4.3.7 Fazit Mit seiner Pygmalion-Erzählung bringt sich der Zürcher in die lange Motivgeschichte des Künstlermythos und der Allegorie des „Marmorbildes“ ein, bedient unterschiedliche Kontexte und probiert diverse Gedankenspiele aus. Ferner versucht der Erzähler bei so viel weiblicher Sturheit oder vielmehr aufgeklärter Eigenwilligkeit des Weibes mit der etwas abrupt eingefügten Anagnorisis zum Ende seiner „gescheiterten Liebeserzählung“, dieser eine neue Richtung zu geben. Beim imaginierten Rollenspiel des Zürchers fällt auf, wie dessen erfundene Geschöpfe eigenwillige Kapriolen schlagen und in ihrem Willen zur Selbstbestimmung sogar der Kontrolle des Erzählers fast zu entkommen scheinen, was in Ansätzen dem narratologischen Verfahren der Metalepse gleichkommt. Dass auch Frauen in die Künste eingeweiht werden können, klingt bei Bodmer ex negativo an – wenn man sich von der Figurenperspektive löst. Bodmer versucht der These der Konstruierbarkeit sowie jener der ‚reinen‘ Rationalität des Menschen mit seinem Gegenentwurf der Elise zu widersprechen, die in viel höherem Maße Naturkind als der rational entworfene Automat des Deslandes sei. Fortan wird Pygmalion als „pädagogischer Robinson“ ange-
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sehen, „der die Aufgabe löst, einen von Grund auf und in jeder Hinsicht zu formen.“679 Bodmers Naturkind ist aber nicht aller Sinnlichkeit entfremdet. Das Ausleben einer natürlichen Sinnlichkeit tritt, wenn auch reduziert, doch auf: Die Belebung der Statue wird in dieser Erzählung stärker ausgeschmückt und in zahlreiche Einzelschritte gegliedert. Elise trägt im Vergleich zu ihren antiken und französischen Vorbildern deutlich Züge eines Naturkindes und ist eine aufgeschlossene neugierige Person, die, von den Göttern erweckt, Pygmalion eher als Vater, Lehrer, Freund und nicht unbedingt nur als Liebhaber empfindet. Heinrich Dörrie680 vergleicht Bodmers Elise als edle Wilde, das rousseausche Naturverständnis antizipierend, und scheint zu übersehen, dass Bodmers Elise wie später jene Shaws v. a. als eine dynamische und eigenwillige Schülerin imaginiert wird. Wie der spätere Mister Higgins ist schon Bodmers Pygmalion sowohl vor allem Lehrmeister als auch Lebenspartner, was in den Naturbeschreibungen des barocken theatrum mundi wie auch in den Religionsgesprächen offenbar wird. Schon La Fontaines Fabel Le Statuaire et la Statue de Jupiter (1678) in achtsilbigen Vierzeilern ist ihrerseits der epikureischen Vorstellung – die Götter seien eine Einbildung der Menschen – verpflichtet, woran sich der Zürcher orientiert. Daneben ist für Bodmer weniger Condillacs sensualistische Erkenntnistheorie, sondern vielmehr noch Descartes’ Passions de l’Âme (1649) wegweisend. Auch wird in dieser Erzählung die philosophische Idee aus Platons Phaidros von der die Seele abbildenden Statue aufgenommen: „Die wahrhaft dynamische Seele gestaltet sich zu dem, was sie sein soll, wie ein Künstler eine Statue bildet.“681 Rousseaus Pygmalion wird sich später auf die Subjektivität des Künstlers konzentrieren, der von Größenwahn und verzweifelter Melancholie gezeichnet ist.682 Diesen Aspekt vertiefte Rousseau später in seinem Melodrame noch. In seinen postum (1782) erschienenen Confessions bekannte Rousseau im 9. Buch wie nah ihm die von Zweifeln, Wahn und Inspiration geprägte Kunst- und Künstlerfigur des Pygmalion bei der Abfassung seines Briefromans Julie ou la Nouvelle
679 Heinrich Dörrie: Pygmalion. Ein Impuls Ovids und seine Wirkungen bis in die Gegenwart. Opladen 1974, S. 49. 680 Vgl. ebd. 681 Vgl. Thomas A. Szlezák: ‚Seele‘ bei Platon. In: Der Begriff der Seele in der Philosophiegeschichte. 2005, S. 65–86. Edith Düsing: Intelligenz, Wille oder Gefühl im Horizont des Absoluten. Typologische und geschichtliche Untersuchungen von Platon bis Freud. In: Dies.: Geist und Psyche. Klassische Modelle von Platon bis Freud und Demasio. Hg. von Edith Düsing u. a. Würzburg 2008, S. 263–297. 682 Gerhard Neumann: Pygmalion. Metamorphosen des Mythos. In: Pygmalion. Die Geschichte des Mythos in der abendländischen Kultur. Freiburg im Breisgau 1997, S. 11–60, hier S. 32.
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Héloïse (1762) gewesen war. Wenn Birgitt Werner die epistemologische Ebene bei Rousseaus Pygmalion unterstreicht und die Statue sowohl als ein Werk des Künstlers, als auch jenes des Lehrers Pygmalion interpretiert,683 dann muss ihr entgegen gehalten werden, dass Bodmer sich zwar noch nicht ganz von der Erweckungskraft der Götter emanzipiert, jedoch die didaktisch-pädagogische Intention in seiner Fassung des Pygmalion schon vor Rousseau betont hatte. Zudem findet sich eine weitere Emanzipationslinie: die vom Künstler zum Leben erweckte Statue wandelt sich vom Ideal ästhetisierter Weiblichkeit hin zur lebenslustigen und selbstbewussten Frau. Im Objektiv des Pädagogen versinnbildlicht der bildende Künstler Pygmalion den neuen Menschen. Die Art, wie dieser Elise erweckt und sich um deren Bildung bemüht, illustriert Bodmers Anthropologie der Geschlechter und seine Erkenntnis- und Wahrnehmungstheorie als Grundlage seiner Ästhetik. Denn der aufgeklärte Pygmalion befasst sich nicht mehr mit der Bearbeitung von Marmorblöcken, nein, er beginnt mit der Erziehung des Menschengeschlechts, die sich an einer sanften Emanzipation der Geschlechter orientiert. Die Transformation der Marmorstatue vom statischen Zustand zum bewegten Leben allegorisiert Newtons Axiom von Aktion und Reaktion. Schon Deslandes beschreibt das Leben als „une action et une réaction continuelle“.684 Diderot wird hier noch nicht widersprechen, auch er begreift das Leben als „une suite d’actions et de réactions“ und ähnlich den Tod: „Vivant j’agis et je réagis en masse […] mort, j’agis et je réagis en molécules […] Je ne meurs donc point? […] Non, sans doute […] Naître, vivre et passer ces changer des formes.“685 Ähnliches lässt Diderot in seinem Rêve d’Alembert (1769) und im folgenden Entretien über die für das Ich konstitutiven Empfindungen und Erinnerungen verlauten: Diderot: Pourriez-vous me dire ce que c’est que l’existence d’un être sentant, par rapport à lui-même? D’Alembert: C’est la conscience d’avoir été lui, depuis le premier instant de sa réflexion jusqu’au moment présent. Diderot: Et sur quoi cette conscience est-elle fondée? D’Alembert: Sur la mémoire des ses actions. Diderot: Et sans cette mémoire? D’Alembert: Sans cette mémoire il n’y aurait point de lui, puisque, ne sentant son existence que dans le moment de l’impression, il n’aurait aucune histoire de sa vie. Sa vie serait une suite interrompue de sensations que rien ne lierait.686
683 Birgitt Werner: Das Pygmalion-Motiv in der Aufklärung. In: Bildung und Gesellschaft im Wandel. Bilanz und Perspektiven der Erziehungswissenschaft: Friedrich W. Busch und Jost von Maydell zum 60. Geburtstag. Hg. von Wolf-Dieter Scholz u. a. Oldenburg 1999, S. 160. 684 Rolf Geißler: Boureau-Deslandes. Ein Materialist der Frühaufklärung. Berlin 1967, S. 124. 685 Diderot: Œuvres complètes. Paris 1975, Bd. II, S. 139f. 686 Ebd., S. 112.
Salonkultur und Kolonialismuskritik
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Dass sich Diderot, der vormals im Lettre sur les sourds ou les muets (1751) in seiner imaginierten Gesellschaft von fünf Personen, die sich je durch einen Sinn auszeichnen, Condillac antizipiert, sich im Entretien eng an den Frühmaterialisten Deslandes anlehnt und es sich in vielen seiner Artikel aus der Encyclopédie sogar um regelrechte Plagiate aus Deslandes’ Histoire critique de la philosophie (1741) handeln soll, hat Joseph Lloyd Carr festgestellt.687 Während der Zürcher Deslandes’ Pygmalion in seiner Kritik anhand des Liebesbegriffs in einer neuen Perspektive ergänzte, griff er in seiner Inkel und Yariko (1756) Erzählung Diderot in seiner Kolonialismuskritik aus dem Supplément de Bougainville (1796) vor. Im Kontext der Kolonialismuskritik ist die schöne Wilde Thema in den englischen Salons und in der Literatur, die noch vor Diderots Supplément de Bougainville an die Werte der Zivilisation bei Bodmer und Gessner appelliert.
4.4 Salonkultur und Kolonialismuskritik Mit seiner Erzählung Inkel und Yariko (1756) mischte sich Bodmer in die ethischmoralische Diskussion über Sklavenhandel und Kolonialismus ein, die in Frankreich von Montaigne und Montesquieu angestoßen wurde und darauf dank der Reiseberichte aus England und Amerika zusätzliche Brisanz erhielt.688 Bei der Fokussierung auf die kulturkritische Tendenz des Textes ist die Verwendung der allenfalls aus den altattischen Komödien bekannten metatextuellen Form einer Parabase auffällig. In Anlehnung an Genettes Typologie der Transtextualität aus Palimpseste wird Metatext als eine als Kommentar apostrophierte Beziehung zwischen Texten ohne unbedingten Verweis auf den Prätext definiert: Den dritten Typus textueller Transzendenz bezeichne ich als Metatextualität; dabei handelt es sich um die üblicherweise als „Kommentar“ apostrophierte Beziehung zwischen einem Text und einem anderen, der sich mit ihm auseinandersetzt, ohne ihn unbedingt zu zitieren (anzuführen) oder auch nur zu erwähnen: So bezieht sich etwa Hegel in der Phänomenologie des Geistes andeutungsweise und gleichsam stillschweigend auf Rameaus Neffe. Dies ist die kritische Beziehung par excellence.689
687 Joseph Lloyd Carr: Pygmalion and the Philosophes. The animated Statue in 18th century France. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institute 22 (1960), S. 238–254, hier S. 253, Anm. 51. 688 Vgl. Urs Bittelerli: Die Wilden und die Zivilisierten. München 2004. 689 Vgl. Gérard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt am Main 1993, S. 13.
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Bodmers Erzählung ist nicht nur eine kritische Auseinandersetzung mit Gellerts gleichnamiger Fabel690 und dessen Vorlage, Richard Steeles Essay aus dem Spectator691. In seiner Kritik des Kolonialismus, die hier der ehemals Geliebten und schließlich zur Ware degradierten Sklavin Yariko in den Mund gelegt wird, kann Bodmers Erzählung auch als Vorgriff auf Diderots Supplément de Bougainville (1796)692 gelesen werden, dessen Vorarbeiten Diderot erstmals 1773 und 1774 in den Correspondance littéraire693 veröffentlicht hatte.
4.4.1 Stoffgeschichte zu Inkel und Yariko Bodmer und Gellert bezogen den Stoff für ihre jeweiligen Inkel und Yariko-Bearbeitungen vermutlich aus der englischen Zeitschrift The Spectator von Joseph Addison und Richard Steele, worin letzterer am 13. März 1711 seine Erzählfassung abgedruckt hatte. Die Erzählung über den Verkauf der einstigen Geliebten Inkels stieß in Europa auf großes Interesse und wurde ins Russische, Schwedische, Dänische, Holländische, Ungarische, Italienische und sogar ins Latein übersetzt. Der Stoff erlebte ca. 45 diverse Adaptationen in Lyrik, Prosa und Drama allein im 18. Jahrhundert, wobei Yariko in einigen Texten auch als Afrikanerin auftritt.694 In Deutschland wurde The Spectator, ein Vorgänger der Moralischen Wochenschriften, durch jene 1714 in Amsterdam erschienene französische Teilübersetzung Le Spectateur publik, die 1719 ins Deutsche übertragen wurde. Die erste vollständige deutsche Übersetzung des englischen Spectators erfolgte erst 1739– 1744 durch die Gottschedin. Bodmer, des Englischen und Französischen kundig, konsultierte den Spectator wohl mehrheitlich im Original oder auf Französisch. Die französische Ausgabe Le Spectateur erhielt er von seinem langjährigen
690 Christian Fürchtegott Gellert: Inkle und Yariko. In: Ders.: Fabeln und Erzählungen. Hist.-krit. Ausgabe von Siegfried Scheibe. Tübingen 1966, S. 88–91. Im Folgenden mit der Sigle (GIY) abgekürzt. 691 Richard Steele: Inkle and Yariko. In: The Spectator 11 (13.3.1711). Im Folgenden mit der Sigle (SIY) abgekürzt. 692 Denis Diderot: Supplément au voyage du Bougainville. In: Ders.: Œuvres. Bd. II. Contes. Paris: Robert Laffont 1994, S. 541–578. Ders.: Nachtrag zu Bogainvilles Reise oder Gespräch zwischen A. und B. über die Unsitte, moralische Ideen an gewisse physische Handlungen zu knüpfen, zu denen sie nicht passen. Frankfurt am Main 1965. Im Text wird aus der deutschen Ausgabe zitiert. 693 Vgl. Diderots Skizzen zum Supplement de Bougainville. In: Correspondance Littéraire: 1773, S. 191, S. 209; 1774; S. 50, S. 72. 694 Vgl. Werner Sollors: Neither black nor white yet both. Thematic explorations of interracial literature. New York 1997, S. 193.
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Freund und Korrespondenten, dem Arzt Laurenz Zellweger (1692–1764) aus Trogen im Appenzell.695 Die sich in den englischen Wochenschriften etablierende Literaturkritik war ein wichtiger Bestandteil der angestrebten Erziehung und Geschmacksbildung der Gesellschaft, konstitutiv für das Zürcher Duo (vgl. Kapitel 2). In seiner Theorie über Kommunikatives Handeln und detranszendentalisierte Vernunft (2001) attestiert Jürgen Habermas dem Spectator die Wegbereitung der „strukturellen Transformation der öffentlichen Sphäre“ für das englische Bürgertum des 18. Jahrhunderts zu, das sich dank Publikationen wie jener des Spectators oder auch des Tatlers zur Gruppe formieren konnte.696 Steeles Erzählung entsprach dem Horazischen Postulat von prodesse et delectare, wonach der Leser weniger in abstrakte Lehren, sondern mittels moralisch-didaktischer Aussagen im fingierten Bild der bürgerlichen Welt belehrt und unterhalten werden sollte. Konnte sich die Gattung Roman erst langsam durchsetzen, da das Lesen fiktionaler Literatur im englischen Puritanismus mehrheitlich noch als eine sündhafte Zeitverschwendung galt, hatten die in den Zeitschriften eingeschobenen didaktischen Erzählungen derweil bessere Chancen wahrgenommen zu werden. Schon im Titel wird mit dem berühmten Juvenal-Zitat aus dessen Satiren: 2, 63 auf die satirische Intention der folgenden Erzählung verwiesen: „Dat veniam corvis, vexat censura columbas.“ Zu Deutsch: „Nachsicht gewährt die Zensur den Raben, sie quält jedoch die Tauben.“ Was im übertragenen Sinn soviel heißen könnte wie: „Kleine Diebe hängt man, die großen lässt man laufen.“697 Um die Erzählung von Inkle and Yariko zu legitimieren, wird mit der Protagonistin Arietta ein realistischer Rahmen geschaffen. Ganz im Sinne der Gesprächskultur des 18. Jahrhunderts wird diese als gebildete Salondame eingeführt, die in der Mitte ihres Lebens stehend, sich durch Esprit und Galanterie auszeichnende Frauen wie Männer unterschiedlichen Alters zur Konversation in ihren privaten Räumen empfängt:
695 Vgl. Maya Zellweger: Blicke nach England – Miltonübersetzungen. In: Bodmer und Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung. Ausstellung der Zentralbibliothek Zürich, 12. September – 11. November 2006, S. 21–22, hier S. 21. Vgl. auch Theodor Vetter: Der Spectator als Quelle der ,Discurse der Maler‘. Frauenfeld 1887. 696 Vgl. Volker Stürzer: Journalismus und Literatur im frühen 18. Jahrhundert. Die literarischen Beiträge in Tatler, Spectator und den anderen Blättern der Zeit. Frankfurt am Main u. a. 1984, S. 5 ff. Offiziell war der Spectator politisch neutral, doch vertrat er eindeutig Werte und Interessen der Whigs. Die Politik der Tories wurde in der Figur Sir Roger de Coverleys, eines liebenswerten aber etwas lächerlichen Landedelmannes, karikiert. 697 Decimus Junius Juvenalis: Satiren. Übers. von Harry C. Schnur. Stuttgart 2007.
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Arietta is visited by all Persons of both Sexes, who may have any Pretence to Wit and Gallantry. She is in that time of Life which is neither affected with Follies of Youth or Infirmities of Age; and her Conversation ist so mixed with Gaiety and Prudence, that she is agreable both to the Young and the Old. Her Behaviour is very frank, without being in the least blameable; and as she ist out of the Tract of any amorous or ambitious Pursuits of her own, her Visitants entertain her with Accounts of themselves very freely, whether they concern their Passions or their Interests. (SIY, o. S.)
In Steeles kleiner Gesellschaftsstudie werden kurz und knapp verbale Regeln und nonverbale Codes der sozialen Stufenleiter skizziert, nach deren Erklimmen Einlass in private Sozietäten gewährt wird. So ließ sich der anonym bleibende Erzähler durch seinen Freund, dem feinen Weltmann mit dem sprechenden Namen Will Honeycomb zuerst bei Madame förmlich als „civil, inoffensive Man“ für den Zugang zur Gesellschaft „to the Honour of her Acquaintance“ anmelden, bevor er dieser eines Nachmittags einen Besuch abstattet und hier zuerst von einem „Common-Place-Talker“ nach zivilisierter Manier begrüßt wird „who, upon my Entrance, rose, and after a very slight Civility sat down again“. Sodann fährt er in seinen Ausführungen über „the general Lebity of Women“, d. h. die leichtsinnigen und untreuen Frauen, fort, denen das antike Motiv der Witwe von Ephesus aus dem Satyricon698 des Petronius zur Seite gestellt wird. Dieser intertextuelle Verweis auf die Tradition der antiken Satire ist der Menippeischen Satire verpflichtet. Die Satyrica des Petron wechseln zwischen Prosa und Vers ab. Dieses syntaktisch von ungebundener zu gebundener Rede springende ,Prosimetrum‘ ist laut Wilhelm Ehlers Varros Menippeischen Satiren nachempfunden, die in den fragmentarisch überlieferten Einzelsatiren mit einer Mischform aus humorvollem Ernst und einer hämischen Kritikerlust, kennzeichnend für die Satire seit Lucilius, bei Petron, einem Zeitgenossen Senecas, individuelle Spielarten aufweisen. In diesem oftmals als Parodie auf einen Liebesroman gelesenen Text ist die Satyrmaske nicht einziges Spielutensil. Vielmehr werde mit einem „nahezu taciteischem Ethos“ den Rhetoren der Zeit bissig der Spiegel vorgehalten, wenn lauthals der Verfall der Künste statuiert sowie die Luxussucht bloßgestellt wird.699 Die letzte Erzählung aus dem Erzählband Neue Erzählungen verschiedener Verfasser von 1747 behandelt das berühmte Motiv aus Petronius’ Satyricon: „Die Frau von Ephesus“700 in einer in Strophen gefassten Ballade. Ob der Verfasser,
698 Vgl. Die Witwe von Epheseus. In: Petronius Satyrica. Schelmenszenen. Lateinisch-Deutsch von Konrad Müller und Wilhelm Ehlers. München 1983, S. 241–258. Vgl. v. a. die Einführung in: Petronius: Satyrgeschichten. Lateinisch und Deutsch von Otto Schönberger. Berlin 1992, S. 9–29. 699 Vgl. Wilhelm Ehlers Erläuterungen zu Petronius’ Satyrica. München 1983, S. 495f. 700 In: Neue Erzählungen verschiedener Verfasser. Zürich 1747, S. 99–104.
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der mit dem Pseudonym des antiken Hippomedon, aus Aischylos’ Tragödie Sieben gegen Theben, in der Vorrede zeichnet, Bodmer ist, ist fragwürdig. In Steeles Essay werden im Wesentlichen die Formen weiblicher Emanzipation tangiert. Schon allein Arietta besticht durch selbstbewusstes und offenes Auftreten sowie Geschmack und Verständnis (Taste and Understanding). Dieses berühmt-antike Komödienmotiv der lustigen Witwe von Ephesus erzählt von jener Frau, die sich bei der Totenwache am Grab ihres Mannes in einen Wachsoldaten verguckte. Dessen unachtsame Konzentration auf die folgenden Leibesübungen hatte nämlich einen Leichenverlust zur Folge. Um dem jungen Soldaten und neuen Geliebten das Leben zu retten, musste kurzerhand die Leiche des verstorbenen Mannes aushelfen. Und am nächsten Tag wunderte sich das Volk, wie denn ein Toter aufs Kreuz geklettert sei: „posteroque die populus miratus est qua ratione mortuus isset in crucem“.701 Nach der Anspielung auf das bekannte Komödienthema des Petronius, welches den Frauen nicht unbedingt ein Kompliment ausspricht, versucht die gewitzte Salonnière die Intention jener Dichter, die Frauenfiguren in ihren Texten in einem gleichermaßen negativen Licht zeigen und in einer literaturkritischen Deutung zu fassen: But your quotations put me in Mind of the Fable of the Lion and the Man. The Man walking with that noble Animal, showed him, in the Ostentations of Human Superiority, a Sign of a Man killing a Lion. Upon which the Lion said very justly, We Lions are none of us Painters, else we could show a hundred Men killed by Lions, for one Lion killed by a Man. You Men are Writers, and can represent us Women as Unbecoming as you please in your Works, while we are unable to return the Injury. You have twice or thrice observed in your Discourse, that Hypocrisy is the very Foundation of our Education; and that an Ability to dissemble our affections, is a professed Part of our Breeding. These, and such other Reflections, are sprinkled up and down the Writings of all Ages, by Authors, who leave behind them Memorials of their Resentment against the Scorn of particular Women, in Invectives against the whole Sex. Such a Writer, I doubt not, was the celebrated Petronius, who invented the pleasant Aggravations of the Frailty of the Ephesian Lady; (SIY, o. S.)
Arietta vollzieht hier zunächst einen anschaulichen Text-Bild-Vergleich mit einer eingeschobenen Tierfabel, worin sie die Frauen mit den Königen der Tiere, den Löwen, gleichsetzt, die sowohl als Objekte der Malerei wie auch der Literatur keine weitere Perspektive aufzeigen können, als jene vom Maler oder Dichter gewählte. Darauf kritisiert sie das vorherrschende Frauenbild und das auf Heuchelei und vertuschten Gefühlen begründete Erziehungsmodell für Frauen, wel-
701 Petronius: Satyricon 112. 8. In: Petronius Satyrica. Schelmenszenen. Lateinisch-Deutsch von Konrad Müller und Wilhelm Ehlers. München 1983, S. 241–258, hier S. 246.
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ches von schreibenden Männern in literarischen Texten mitgeprägt und weiter propagiert werde. Ganz literaturkritisch wird mit diesen Männern Petronius verglichen, der den Frauen ganz allgemein keinen Gefallen tat, als er diesen mit seiner burlesken Lady von Ephesus ein lächerliches Spiegelbild setzte. Neben diesem erziehungs- und dichtungskritischen Brückenschlag, ganz im Sinne des Zürchers, wird weniger das Thema der Sklaverei, sondern der Gegenstand der konstanten Liebe „the old Topick, of Constancy in Love“, ausgearbeitet. Steele rekurriert in seiner Erzählung auf jene Inkle and Yariko-Episode aus dem Reisebericht von Richard Ligon: A True and Exact History of the Island of Barbadoes (Gent 1657, 21673), auf welche er explizit und mit exakter Seitenangabe im Text aus Ariettas Mund verweisen lässt. Mit Steeles Rückgriff auf das tradierte Bild der sittlich unverdorbenen Indianerin bzw. der schönen Wilden, wird der exemplarische Charakter der Erzählung hervorgehoben. Dagegen wird Inkle als englischer Kaufmannssohn eingeführt, dessen Vater ihn v. a. nach den Gesetzen des freien Marktes erzogen habe. Dieses merkantile Denken, einzig dem Streben nach Reichtum verpflichtet, das in Yarikos Verkauf mündet, führt Steele auf die verfehlte Erziehung zurück. Während Ligon sich noch ausführlich in seiner Beschreibung Yarikos körperlichen Vorzügen widmete, stellt Steele jediglich fest, dass das Mädchen nackt ist, was nicht als Fehlen von Kultur inszeniert, sondern vielmehr positiv besetzt wird. Die sich im Entstehen befindende Familie wird dem merkantilen Interesse der Sklaverei geopfert. Yariko ist die Verkörperung jener vorzivilisatorischen natürlichen Welt, die von Inkle durch den Verkauf doppelt verraten wird. Darauf wird diese explizit vom empfindsamen, nämlich Tränen vergießenden und zusätzlich in die Erzählung eingeführten Zuhörer in einem metatextuellen, d. h. literaturkritischen Kommentar abschließend „as a Counterpart to the Ephesian Matron“, d. h. als eine positive Entgegnung auf jenes immer wieder vom Allerweltsredner hervorgebrachte satirische Beispiel aus der Antike verstanden.702 Der aus dem sächsischen Hainichen, heute auch Gellertstadt, stammende Dichter und Moralphilosoph Christian Fürchtegott Gellert (1715–1769) galt während seines Lebens neben Christian Felix Weiße als meistgelesener Dichter. Nach seinem Studium der Theologie und der Philosophie schlug sich der schüchterne Pastorensohn als Hofmeister durch und arbeitete mit den Gottscheds an der Übersetzung von Pierre Bayles Dictionnaire historique et critique (1695–1702). Gellert promovierte 1744 über die Theorie und Geschichte der Fabel auf Latein und hielt
702 Genette bezeichnet die Gattung der Literaturkritik als Meta-Metatextualität, d. h. einer Unterkategoride der Metatextualität. Vgl. Genette: Palimpseste. 1992, S. 13.
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darauf in Leipzig Vorlesungen über Poesie, Beredsamkeit und Moral, bevor er 1751 auf den Lehrstuhl der Philosophie berufen wurde. Gellerts Fabeln und Erzählungen zählten in der Übergangszeit von Aufklärung, Empfindsamkeit sowie Sturm und Drang zu den meistgelesensten Werken. Neben den Lustspielen, die im bürgerlichen Milieu angesiedelt sind, wurde sein emanzipatorisch ausgerichteter Briefroman Das Leben der schwedischen Gräfin von G*** (1747/48), der mit dem Inkle und Yariko-Motiv nicht unverwandt ist, bspw. von Lessing und Wieland gelobt. Zu Lebzeiten geachtet, wurde er bald nach seinem Tode von den Stürmern und Drängern Jakob Mauvillon (1743–1794) und Ludwig August Unzer (1748–1774) im fiktiven Briefwechsel Über den Werth einiger deutscher Dichter und über andere Gegenstände den Geschmack und die schöne Litteratur betreffend (1771/72) belächelt, die diesen hier in ihrer Generalabrechnung mit der älteren Dichtergeneration als „mittelmäßigen“, bornierten und moralinsauren Dichter „für Landpastorentöchter“ klassifizierten.703 Nichtsdestotrotz setzte sich Gellert in seinem Werk mehrheitlich mit dem Merkantilismus auseinander und unterschied die löblich altruistisch motivierte karitative Verwendung des Geldes von derjenigen, die auf einer egoistischen Reichtums- und Ruhmsucht basiere. Schon in seinen „Moralische Vorlesungen“ appellierte er an die moralische Verpflichtung des Reichen, der sich dem allgemeinen Wohl unterwerfen müsse. Das Geld ist ferner das zentrale Motiv seiner in Alexandrinern und Strophen gefassten Inkle und Yariko-Erzählung, die 1748 in seinem Band Fabeln und Erzählungen erschien und folgendermaßen einsetzt: Die Liebe zum Gewinnst, die uns zuerst gelehrt, Wie man auf leichtem Holz durch wilde Fluten fährt. (GIY, S. 88)
Inkle wird ferner als Exponent der bürgerlich-kapitalistischen Handelswelt beschrieben, dessen Hunger nach Gewinn ihn selbst die einst empfundene Liebe vergessen und die Erzählung schließen lässt. Wiederum kann dies als Kritik an falschen Erziehungsmaximen gedeutet werden, die einzig am materiellem Wohlstand und ökonomischen Werten orientiert sind. Im Kolonialismus – der Spitze des europäischen Gewinndenkens – sind christliche Normen von Geiz korrumpiert. Yariko wird als Kontrastfigur eingeführt, die sich als „ein wildes Mädchen“
703 Jakob Mauvillon, Ludwig August Unzer: Über den Wert einiger deutscher Dichter. Hg. von Heinrich Blume. In: 38. Jahresbericht des Kaiser Franz Josef-Staatsgymnasium zu Freistadt in Oberösterreich für das Schuljahr 1908, S. 3–36.
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von der „Wilden Schaar“ abhebt, indem sie nicht wie die anderen die Europäer tötet, sondern Inkle rettet. Die doppelte Nennung des „Schwerdt[es]“ in der zweiten Strophe konnotiert eine Kausalbeziehung zum einen mit der Missionierung als auch mit dem Mord an den Engländern. Gellerts Rüge hinsichtlich des Kolonialismus wird hier in dem Postulat deutlich, Gewalt erzeuge Gegengewalt. Yariko, die zu keiner Gruppe gehört, skizziert mit ihrem ehrlichen, zärtlich-treuen und fürsorglichen Verhalten, sich um Mann und Hütte kümmernd, die Aufgaben und Tugenden einer bürgerlichen Hausfrau. Gellert übernimmt Steeles ambivalentes Attribut der „wild graces“ zu Deutsch: „wilde Anmuth“ und bescheinigt der Gesellschaft eine einseitige Ausprägung der Gewinnsucht auf Kosten christlicher Werte und Normen. Können Inkle und Yariko als antagonistische Gegensätze gelesen werden? Kann Yariko als ein Korrektiv der weiblichen Leserschaft verstanden werden? Ja, denn während Yariko das Prinzip christlicher Nächstenliebe verkörpert, repräsentiert Inkle das kapitalistische Denken des bürgerlichen Merkantilismus. Der Auffassung des irischen Moralphilosophen Francis Hutchesons (1694–1746) zufolge, jeder Mensch suche nach dem Wohlergehen der gesamten Menschheit, was jedes Handeln bestimmen sollte und Kants kategorischem Imperativ vorgreift, widerspricht Gellerts pessimistischer Schluss, wenn er Inkle als einen Barbaren in der Schlussstrophe des durchgehend in Paarreimen gehaltenen Fabelgedichts beschimpft. O Inkle! Du Barbar, dem keiner gleich gewesen; O möchte deinen Schimpf ein jeder Welttheil lesen! Die größte Redlichkeit, die allergrößte Treu Belohnst Du, Bösewicht! noch gar mit Sklaverey? Ein Mädchen, das für dich ihr eigen Leben wagte, Das dich dem Tod entriß, und ihrem Volk entsagte, Mit dir das Meer durchstrich, und, bey der Glieder Reiz, Das beste Herz besaß, verhandelst du aus Geiz? Sey stolz! Kein Bösewicht bringt dich um deinen Namen. Nie wird es möglich seyn, dein Laster nachzuahmen. (GIY, S. 89)
Während hier der Erzähler in der Tradition der Aesopischen Fabel oder der emblematischen Sinngedichte zum Schluss den moralischen Zeigefinger erhebend den männlichen Titelhelden anklagend zur Verantwortung ruft, beruft sich der Zürcher in seiner Fabelerzählung im prosaischen Hexameter zum Schluss auf ein rhetorisches Mittel, bekannt aus der altattischen Komödie, die Parabase.
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4.4.2 Inkel und Yariko (1756) Der Zürcher Lehrer des Collegium Carolinum, Johann Jakob Bodmer, wurde mit dem Inkle und Yariko-Stoff über die französische Ausgabe des Spectateur ou le Socrate moderne bekannt. Nach dem Vorbild der englischen Zeitschrift entwarf Bodmer mit seinem Freund und Mitstreiter Johann Jakob Breitinger die Discourse der Mahlern, die 1721–1722 erschienen (vgl. Kapitel 2). Wie schon das englische Vorbild tendierten die Zürcher mit ihrer Zeitschrift nach einer moralischen Geschmacksbildung der Leserschaft.704 Während sie hier mehrheitlich noch den Benimm- und Anstandsregeln verschrieben waren und bspw. über „Kleiderpracht“, „Feinschmeckerei“, „Höflichkeit“ und „Kindererziehung“ handelten, begannen sie, sich in ihrem weiteren Zeitschriftenprojekt den Neuen Critischen Briefen (1749) mehrheitlich der Literaturkritik zu widmen. Bodmers Adaptation der in Hexametern gefassten Inkle und Yariko-Erzählung ist von einer pädagogisch-didaktischen Intention geprägt. Erstmals kritisierte er Gellerts Erzählung in den Neuen Critischen Briefen, Anstoß an den eingeschobenen Fragen und Ausrufen nehmend, die er für ein überflüssiges Stilmittel hielt, weil der Leser darauf keine Antwort wisse, sondern einzig der Dichter: Sie sieht mit schnellem Blik den Europäer liegen. Sie stutzt. Was wird sie thun? Bestürztt zurücke fliegen? Sie fleht, sie weint, sie schreyt. Nichts! Er verkaufet sie. Mich, die ich schwanger bin, mich! fährt sie fort zu klagen! Bewegt ihn dies? Ach ja! Sie höher anzuschlagen.705
Bodmer kommentiert diese Stelle folgendermaßen: Nun kann ich mich nicht enthalten zu bemerken, daß er mich bald um etwas fraget, welches er besser wissen soll; dass er vorausezet ich wisse schon, was er erzählen will; dass er plötzlich in einen Affekt geräth, eh ich recht weiß, welche Wespe ihn gestochen hat.706
Die Hauptfiguren der kurzen Hexameter-Erzählung Inkel und Yariko von 1756 verkörpern zwei gegensätzliche Prinzipien: Während Yariko durch ihre aufopfernde altruistische Nächstenliebe auffällt, so personifiziert Inkle die von Egoismus bestimmte Eigenliebe. Mit diesen Kontrastfiguren evoziert Bodmer Shaftes-
704 Vgl. Theodor Vetter: Der Spectator als Quelle der ,Discurse der Maler‘. Frauenfeld 1887. 705 Bodmer, Breitinger: Neue Critische Briefe über ganz verschiedene Sachen, von verschiedenen Verfassern. Mit einigen Gesprächen im Elysium und am Acheron vermehrt. Neue Auflage. Zürich 1763, S. 443. 706 Ebd., S. 443f.
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burys Moral-Sense-Theorie, die von einem richtigen Gleichgewicht zwischen den beiden menschlichen Trieben des Altruismus und des Egoismus ausgeht.707 Wie schon bei Steele sind hier beide Prinzipien einseitig jeweils auf die beiden Figuren verteilt, die demnach keine psychologisch ausdifferenzierten Charaktere darstellen. Im Folgenden möchte ich mich auf Bodmers Bezug zur Sklaverei-Debatte und seine Kolonialkritik konzentrieren: Offensichtlich diente dem Zürcher Yarikos Schicksalsgeschichte in der Opferperspektive als Folie, um die Frage der moralischen Rechtfertigung der Sklaverei zu stellen, die, untrennbar mit jener des Kolonialismus verbunden ist. Bodmers kritische Auseinandersetzung mit der Sklaverei, losgelöst von Yarikos Schicksal ist ein Novum in den Inkle und Yariko-Bearbeitungen. Das englische Schiff, welches die beiden Protagonisten nach Barbados bringen soll, hatte Sklaven geladen: Dieses Schiff war mit Menschen fyr Kaufmannsgyter begrachtet. Leuten, die von dem Kopfe zum Fuß ganz schwarz sind. die Nase platt gedryket, so daß sie niemand bedaurt und man zweifelt, ob in der rußigen Wohnung eine Seele sich findet.708
Das Argument der Sklavenbefürworter, die behaupten, Farbige hätten keine Seele, klingt hier an und verweist auf jene Apologeten des Sklavenhandels, die eine polygenistische Auffassung über den Ursprung der Menschheit vertraten. Nach Isaac de la Peyrères (1596–1676) Interpretation der Schöpfungsgeschichte „Praedimitae sive exercitatio super versibus 12, 13 et 14 capitits V Epistolae D. Pauli ad Romanos“ (1655) wird von den Präadamiten, dem Geschlecht vor Adam und Eva erzählt, welche am fünften Schöpfungstag mit den Tieren erschaffen worden seien und welchen der Zugang zum Garten Eden verwehrt blieb. Solche scheinheiligen pseudo-bibelexegetischen Behauptungen, farbige Menschen seien mit den Tieren verwandt, dienten als Argument, um den Sklavenhandel zu rechtfertigen. Denn allgemein gesagt, war die Degradierung der Farbigen zu Tieren Herzstück der Verteidigung des Sklavenhandels. Einige dieser polygenistischen Anthropologien, wie bspw. Edward Longs History of Jamaica (1774) vertraten in dieser Zeit diese Thesen und gaben der Pro-Slavery-Fraktion das scheinbar signifikanteste Argument zur Verteidigung der Sklaverei. Als Vertreter der Monogenisten können dagegen bspw. die französischen Naturforscher Buffon mit Louis 707 Vgl. Jan Engbers: Der „Moral-Sense“ bei Gellert, Lessing und Wieland. Zur Rezeption von Shaftesbury und Hutcheson in Deutschland. Heidelberg 2001. 708 Bodmer: Inkel und Yariko. [Zürich] 1756. Ohne Seitenangaben, im Text mit der Sigle (BIY) abgekürzt.
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Jean-Marie Daubenton (1716–1799) gelten, die in ihrer Histoire Naturelle (1749– 1788) von einem Elternpaar als Ursprung der Menschheit ausgingen. Laut Buffon und Daubenton unterscheidet sich der Mensch von den Tieren in seinen Möglichkeiten zur Perfektibilität sowie seiner Fähigkeit zur Vernunft. Daneben hätten sich die unterschiedlichen „Rassen“ durch Anpassung an die vorgegebenen Verhältnisse entwickelt.709 Ausgehend von einem die Menschen einenden Naturrecht im Esprit des lois (1748) spricht sich Montesquieu anhand ironischer Übertreibungen gegen die Sklaverei aus.710 Über die schwarze Hautfarbe herrschten im 18. Jahrhundert unterschiedliche Vorstellungen. Dabei versuchte man, der biblischen und oftmals abergläubischen Gleichsetzung mit dem Bösen, mit rationalen und wissenschaftlichen Erklärungsversuchen zu begegnen.711 Bodmer reduziert die Beschreibung der Sklaven auf Hautfarbe und Gesichtszüge, was heutige Leser an die später publizierten Physiognomischen Fragmente (1775–1778) Johann Caspar Lavaters (1741–1801), Bodmers Schüler, denken lässt, wonach in einem allzu simplen Schwarz-Weiß-Muster vom Aussehen der Menschen auf deren Charakter geschlossen wurde. Das Vorurteil des animalischen Vergleichs wird bei Bodmer aufgegriffen und die überspitzte Frage formuliert, ob denn die schwarzen Sklaven Menschen seien, trotz der Andersartigkeit ihres Aussehens. Die Antwort darauf steckt in einem Chiasmus: „man verkaufte Menschen mit Kaltsinn wie Thier’, und kaufte die Ochsen wie Menschen“ (BIY, s.p.). Behauptete Isabel Kunz in ihrer Dissertation zum Inkle und Yariko-Motiv noch, Bodmer konstatiere die ökonomische Notwendigkeit der Sklaverei, dem die Radikalität der Abolitionisten abgehe,712 so muss ihr entgegengehalten werden, dass der Zürcher eben doch dem Kolonialsystem und der damit verbundenen Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei mit einem originellen und gleichsam altbewährten literarischen Stilmittel – der metatextuellen Parabase – entgegentritt. Denn indem der weiblichen Hauptfigur zum krönenden Ende der kritische Appell gegen Sklaverei und Kolonialpolitik in den Mund gelegt wird, demonstriert Bodmer gegen die doppelte Diskriminierung.
709 Vgl. Urs Bitterli: Die Wilden und die Zivilisierten. München 2004. 710 Vgl. Montesquieu: L’Esprit des lois. Buch XV, Kapitel V. 711 Vgl. ebd. 712 Isabel Kunz: Der edle Wilde auf den deutschsprachigen Bühnen des ausgehenden 18. Jahrhunderts. München 2007, S. 71.
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4.4.3 Yarikos Klage als metatextuelle Parabase Als charakteristischer Bestandteil der attischen Alten Komödie fungiert die Parabase, dank welcher der Chor über die Rampe zum Publikum spricht. Die Parabase ist beim frühen Aristophanes im 5. Jahrhundert v. Chr. entstanden und verschwand dann wieder, als sich ihre Funktion überlebt hatte. Während einer Spielpause der Handlung fungiert der Chorführer als Sprachrohr des Dichters und formuliert u. a. aktuelle politische Klagen und Ratschläge.713 In stark vereinfachter Form erinnert die Klage der Yariko an diese antike Tradition der Kritik in der Komödie, die einer der diversen Unterkategorien der Parabase, bspw. einem Gegenlied oder einer Gegenrede, ähnelt und hier als eigentlich gattungsfremdes, nämlich dramatisches Element auf originelle Weise zum Ende einer Erzählung montiert wurde.714 In der Klage der Yariko, dem Prototyp der edlen Wilden, äußert sich eine emanzipierte Frau, die sich in ihrer Liebe getäuscht fühlt. Nicht nur verraten von ihrem einstigen Geliebten, sondern auch verraten von den Zeitgenossen, verurteilt sie die Sklaverei als unmenschlich. In der Klage der Yariko wird an einer Einzelnen das Schicksal eines Volkes exemplarisch vor Augen geführt. Am Verhalten der Europäer wird beklagt, wie die von einer durch merkantile Luxussucht pervertierte Kultur sich von ihrer menschlichen Natur entfernt und zu einem Monstrum entwickelt habe. Der Kolonialist, der sich aufgrund seiner europäischen Herkunft zu seinem politisch und wirtschaftlich motivierten Walten ermächtigt fühlt, Menschen auszubeuten, wird hier in einer gekonnten Liebesmetaphorik, die von einer unausgesprochenen Gleichheit der Liebenden ausgeht, eines Besseren belehrt. Signifikant ist hierbei, dass der im Text unterlegenen Frauenfigur diese doppelte Kritik in den Mund gelegt wird! Dass die Formulierung des satirischen Korrektivs im abschließenden kritischen Kommentar über den Kolonialismus dem weiblichen Opfer in den Mund gelegt wird, ist ein weiterer Kunstgriff. Dieser zeitkritische Kommentar, der Parabasis aus der altattischen Komödie verpflichtet, greift auf Diderots Supplément de Bougainville voraus. Etymologisch meint die Parabase „Einzug von der Seite her“ und wird als ein direktes Herantreten an das Publikum umschrieben. Dieses Herantreten ans Publikum ist gleichzeitig ein Heraustreten aus der Rolle, welches zudem mit der Abnahme der Maske noch unterstrichen wird. Die Parabase wurde ferner nicht nur zum Ende der Komödie, sondern oft in deren Mitte eingesetzt und 713 Vgl. Art. ,Parabase‘. In: Der Neue Pauly. Altertum. Hg. von Hubert Cancik und Helmut Schneider. Bd. 9. Stuttgart, Weimar 2000, S. 304 f. 714 Thomas K. Hubbard: The mask of comedy. Aristophanes and the intertextual parabasis. Ithaca 1991.
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war der eigentliche Kern der antiken Komödie.715 Diese in der Ichform gehaltene Rede galt schon in der Antike als Möglichkeit, den Dichter zu Worte kommen zu lassen. Oft waren der aufführende Dichter sowie der Chorführer ein und dieselbe Person, so dass sich dieser innerhalb der Parabasis über aktuelle politische Verhältnisse und ihre persönliche Einschätzung dazu äußern konnte.716 Die Parabasis (griech. parekbasis) bezeichnet jenen Moment in der griechischen Komödie, in dem Chor oder Schauspieler sich direkt an die Zuschauer wenden können. Diese Unterbrechung oder auch Auflösung der Parodie ist der Rollentausch von Schauspieler und Zuschauer, Autor und Publikum, der einen direkten Dialog über die Rampe hinweg ermöglicht. Somit ist die Parabase als Werkzeug der Parodie eine Möglichkeit der Aufhebung der Illusion und nach Giorgio Agabmen gleichsam eine Überschreitung und Vollendung der Kunstform Parodie.717 In der von dem Idyllen-Dichter und dem ehemaligen Schüler Bodmers, Salomon Gessner (1730–1788), verfassten Fortsetzung der Erzählung in Prosa kehrt Yariko zu ihrem Volk zurück, wo sie später den Reue zeigenden Inkel wiedertreffen wird. Dieser muss bei Gessner, stellvertretend für die barbarischen Europäer büßen und das den Sklaven ähnliche Schicksal der Gefangenschaft am eigenen Leibe durchleiden, um darauf zur Einsicht gekehrt, wieder zu Yariko zurückzufinden.718
4.4.4 Exkurs: Xaguas Strafrede in der Colombana (1753) Das Aufeinandertreffen von alter und neuer Welt ist ein zentrales Thema im Epos Die Colombana (1753),719 mit deren Skizzen sich Bodmer nach dem Vorbild von Miltons Paradise lost (1667) schon im Charakter der Teutschen Gedichte (1734) beschäftigt hatte. Während hier noch von einer feindlichen ersten Begegnung in
715 Vgl. Art. ,Parabasis‘. In: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. München 1983, Bd. 32, Sp. 1124–1126; ferner Giorgio Agamben: Die Parodie: In: Ders.: Profanierungen. Frankfurt am Main 2005, S. 30–44. 716 So spricht bspw. in der lückenhaft überlieferten Wespenepirrhema 1284 der Dichter über sein Verhältnis zu Kreon. Vgl. Art. ,Parabasis‘. In: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. München 1983, Bd. 32, Sp. 1125. 717 Giorgio Agamben: Profanierungen. Frankfurt am Main 2005, S. 43f. 718 Eine weitere Fortsetzung entsteht aus der Hand von Carl Friedrich von Moser, auf die ich hier nicht eingehe. vgl. dazu Isabel Kunz: Der edle Wilde auf den deutschsprachigen Bühnen des ausgehenden 18. Jahrhunderts. München 2007, S. 85–100. 719 Bodmer: Die Colombana. Ein Gedicht in Fynf Gesaengen. Zyrich, bei Conrad Orell und Comp. 1753. Im Folgenden mit der Sigle (C) zitiert. Wiederabdruck mit nur geringfügigen Änderungen in Bodmer (C. I), S. 406–508.
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„Panama“ zwischen den Einheimischen und Kolumbus die Rede ist, die im Krieg ausarten sollte, so wird im tatsächlichen kulturvergleichenden Epos ein friedlichidyllisches Zusammentreffen gestaltet, ähnlich wie schon in Bodmers Noachide (1752–1781).720 Ferner erinnert die Rede des teuflischen Dämons Xagua aus dem vierten Gesang an jene kulturkritischen Klagen Yarikos und weist ebenfalls schon auf Diderots alten Weisen im Supplément de Bougainville (1796) voraus. Der negativ konnotierte Xagua neidet den Haitianern die Freundschaft mit Columbus und den Europäern. Um die Haitianer aufzurütteln und vor den realhistorischen Folgen nach der Eroberung des Kolumbus zu warnen, tarnt er sich als Mensch: „Plötzlich formt’ er sich eine gestalt von menschlicher Schönheit, Nicht wie er sonst gewohnt war von mensch und viehe gemischet“ (C, S. 470). Mit bildreichen Metaphern hantierend, drapiert Xagua ein blutrünstiges Bild über die Machenschaften der europäischen Eroberer, das er vor dem Haitianer Biddy ausbreitet: Liegst du, sagt’ er, so sicher in deiner gedanklosen ruhe, Und dir kömmt von der noth nichts ein, die über Hayti Schwebet, wiewohl ich längst dich gewarnt, […] Europa hat schon die wälle bestiegen; Und Hayti hat ihr den Port und das land schon eröffnet. […] Unglükselgen! Ihr wagt euch unter den vipern zu wandeln. In dem busen der fremden, die menschlich gestaltet einhergehn, Liegt ein gemüth verdekt, das im blut zu baden froloket; Das sein leben dem gold geweiht hat; den Gott zu besizen […] Dieses wütende Volk mit seiner peitsche aus eisen Wird euch das fleisch zermörseln, wie schlächter die glieder zerhaken, Daß hochströmend das blut aus zwanzig quellen emporspringt, […] Einen von eurem volk und einen affen zu tödten Ist ein weidwerk, das sie zum spiele sich gönnen; geschöpfe, Die nicht mit haar das kinn bekleidet haben, und tothbraunn Von den füssen bis zum haupt, sind ihres erbaremens nicht würdig, […] O sie werden nicht satt von blut, wenn diese verherrt sind, Bis in das feste land hinüber den untergang bringen! Mexico wird die macht von hundert ländern nicht schüzen, Nicht die tiefen und dämme, die rings um die reichsstadt gelegt sind; Peru nicht seine verfassung, die weisheit von achtzehn Prinzen;
720 Vgl. hierzu Jesko Reiling: Die Genese der idealen Gesellschaft. Studien zum literarischen Werk von Johann Jakob Bodmer (1698–1783). Berlin 2010, S. 215–236. Bodmers Auseinandersetzung mit dem christlichen Epos und genauer mit dem Noah-Stoff begann 1746 und beschäftigte ihn über drei Jahrzehnte! Zu Bodmers Noachide vgl. Barbara Mahlmann-Bauer: Bodmers Noachide, ein unbiblisches Epos? In: Lütteken, dies. (Hg.): Bodmer und Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung. Göttingen 2009, S. 231–296.
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Quito nicht seine mit schnee bekleideten feuervolcane; Alles wird unter dem grimm der wütenden Christen erliegen; Was nicht das Schwert gefressen, das wird die grube verzehren, […] O der schande, der vierte theil der bewohneten erde Wird von dem ersten den namen empfahn, den schnöde gewinnsucht […] Denn es käme der zucker für ihre tafeln zu theuer, Ließe man nicht das rohr, das ihn zeugt, von sclaven bereiten. […] Giebt der glauben das recht ein volk in fessel zu schliessen, Das nicht ihn zu bekennen bereit ist; das leichteste mittel Weit und breit ihn zu pflanzen! In denen zwar, die zu euch kamen, Diesen männern, die izt noch eure gäste sich rühmen, hat die bosheit die larve der freunde genommen, doch kürzlich Wird sie in grimm ausbrechen, und euer untergang werden. (C, S. 471–474)
Die hier angeschnittenen Schrecken der barbarischen Europäer, die durch historische Fakten der südamerikanischen Kolonialisierung nach Kolumbus’ Entdeckung der Bahamas 1492 bezeugt sind, werden in der Fiktion von Bodmers Colombana korrigiert. In der Erzählung wird die Alternative eines auf Harmonie und Humanität gegründeten Gesellschaftskonzepts zwischen Europäern und Wilden als ideale Utopie konzipiert. Bibby wird von einem anderen Engel bei seiner Rede vor den Alten der Insel geleitet, so dass „die lästernden wort’ auf seinen lippen in lob“ (C, S. 475) umgewandelt werden. Dieser Engel, „der für die söhne Castilliens wachte“ (C, S. 475) und in Hierarchie der Engel über dem Dämon Xagua steht, entkräftet die historischen Schrecken in der Fiktion als „lügengeschichte“ (C, S. 476), um zu einer friedlichen Verbrüderung mit den Europäern aufzurufen: Siehe wir wollen uns mit dem fremden geschlechte verschwägern; Gebet ihr eure töchter den männern und nehmet die ihren, Oeffnet das land vor ihnen und laßt sie unter euch wohnen. Werdet ein volk zusammen und kniet vor dem mächtigen Gotte (C, S. 477)
In der Fiktion werden die Europäer als den Göttern verwandt verstanden und schon die Idee einer Freundschaft wird als hohes Gut empfunden: „Wer von uns würd’ es nicht für den höchsten Adel betrachten, Mit dem göttergeschlecht in die stolze befreundung zu treten?“ (C, S. 480) Ähnlich wie in der Erzählung Inkle und Yariko findet eine Einheimische einen hilfebedürftigen kranken Europäer, den sie mit zu sich nimmt, um ihn gesund zu pflegen. Die hier einsetzende Liebesgeschichte besticht durch Sanftmut, gegenseitigen Respekt und Verehrung füreinander, die im Erlernen der jeweiligen Sprachen und Gewohnheiten der Liebenden gipfelt. Dabei werden Sprache und Wissenschaften der Europäer als gottgleiche Errungenschaften gepriesen, die
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sich Lamisa, das Eingeborenenmädchen mit Eifer und Neugierde aneignen möchte. Mit kastilischen Kleidern geschmückt, wird sie von Bleda zu Dom Jago geführt, der sie mittels lehrreicher Religionsgespräche in den christlichen Glauben einführen soll: Bleda führte sie zu Dom Jago und bat ihn, er möchte In sein zimmer sie nehmen und lehrend die knospen der wahrheit, die in ihrem Verstand verhüllet lagen, entwikeln. (C, S. 488)
Entgegen der blutigen Erinnerungen an die Zwangsmissionierungen der Spanier erfolgt hier fast zum Ende des Gesanges die christliche Taufe der Lamisa, die in feierlicher Stimmung an einem Bach vom Priester vollzogen wird und wo Lamisa den Namen Maria erhält. Columbus, im Text Colombo, fungiert nach dem Vorbild des Noah als humaner Patriarch, Staatsgründer und Menschenfreund, der, von vornherein dem republikanischen Ideal verpflichtet, einen sanften auf Freundschaft basierenden Handel nach der Theorie Montesquieus in die neue Welt einführt. Der auf Freundschaft beruhende Handel macht die Handelspartner zu Gleichgesinnten, weswegen die Sklaverei ebenfalls als ein Ding der Unmöglichkeit reflektiert wird.721 Im fünften Gesang werden wiederum die historischen Fakten deutlich als ein verfehltes in Hypothesen skizziertes Handeln, diesmal von Columbo selbst, umrissen. Diese Fakten werden dagegen, wie es scheint, mit den verantwortungsvollen Aufgaben der Eroberer korrigiert: O was müßten wir uns nicht für einen fühllosen denken, Einen zu denken, der sich entschliessen könnte, die inseln Mit den ketten der knechtschaft zu fesseln; doch wenn das geschähe, O so seh ich von unerschrokenen männern sie wimmeln, Die mit Iberiens tapferstem blut ihr eignes erkauften. Aber es möchte nicht schwer seyn, die unbewaffneten leute Durch die verräthersche glut der feuerröhre zu zwingen; O wie würde dadurch Europens ehre geschändet! Kann die Atlantische welt von Europa weniger fodern, Als die bessern sitten, die weisheit, den glauben Europens? (C, S. 492)
Die Liebe zwischen Bleda und „Lamisa-Maria“ und deren von Colombo befürworteten Hochzeit soll symbolisch „die westliche welt mit der nordlichen welt […] verbinden“. Mit „den starken fesseln des Hymnen“ verknüpft, wird dem Sinnbild
721 Vgl. zu Bodmers Colombana Jesko Reiling: Die Genese der idealen Gesellschaft. Studien zum literarischen Werk Johann Jakob Bodmers (1698–1783). Berlin 2010, S. 215–236.
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einer vereinten Menschheit „zwischen den völkern die blutsverwandschaft erneuert, [von] Noahs zerstreuten söhnen“ (C, S. 505). Colombo wird, wie es Jesko Reiling schon gezeigt hatte, ferner mit dem „besseren Lycurg“ (C, S. 494) gleichgesetzt. Wie schon in Japhets Traum in Der Noah (1750) vertritt auch Colombo jenes staatspolitische Verständnis, einen Staat nicht auf Lastern und Gewalt zu gründen, sondern diesen um „der Ruhe im Staate“ willen, auf Sitten und Tugenden aufzubauen. Bodmers Colombo übertrifft den legendären Gesetzgeber von Sparta. Weder kann Bodmer der von Rousseau noch gelobten spartanischen Ablehnung von Luxus, Wissenschaften und Künsten etwas abgewinnen, noch interessiert hier die viel gelobte militärische Fingerfertigkeit des legendären Gesetzgebers Lykurg. Wissenschaften und Künste werden von Bodmer stattdessen ähnlich wie bei Diderot und Voltaire sowie Schiller als kulturstiftende gesellschaftsfördernde Meriten der Zivilisation verstanden.722 So erscheint das Epos der Colombana als literarische Korrektur der Geschichte, verknüpft mit einer positivistisch gefärbten Imagination, die nicht auf einer profitorientierten Monopolisierung der Handelspolitik der Kolonialmacht Spaniens beruht. Deren rücksichtslose Intoleranz, die Kolonien und die Ureinwohner gnadenlos ausbeutete, hatte Montesquieu im Esprit des lois (1748) stark kritisiert. Colombos Marktstrategien folgen in Bodmers literarischer Korrektur der historischen Fakten stattdessen Montesquieus Prinzipien des ,doux commerce‘, die auf einem menschenfreundlichen und friedlichen Tauschhandel zwischen den Völkern beruhen. Bodmers kolonialkritischer Appel aus dem Munde Yarikos, der vergleichbar ist mit der warnenden und schwarzmalenden Rede des Dämons Xagua aus dem Colombana-Epos, kann als metatextueller Vorgriff auf Diderots ebenfalls in einem Dialog gehaltenen Essay Supplément de Bougainville723 verstanden werden und zwar insbesondere mit der „Abschiedsrede des Greises“, „Les adieux du vieillard“, was im Folgenden skizziert wird.
4.4.5 Diderot: Supplément de Bougainville (1796) Schilderungen unverdorbener Natur und seliger Simplizität der Sitten einer noch vor allem Bedürfnis bestehenden Menschheit, die sozusagen von der Natur in den Mund lebt, ohne den Luxus der fortgeschrittenen Zivilisationen zu kennen, bedarf 722 Vgl. Reiling: Die Genese der idealen Gesellschaft. 2010, S. 227f. 723 Diderots Supplément de Bougainville entstand in der Zeit von 1772 bis 1775, dessen Skizzen wurden in der Correspondance Littéraire publiziert, bevor der Text dann überarbeitet, erst posthum 1796 erschien.
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der Glaubwürdigkeit halber der Versetzung in ferne, verklärte Epochen. Das Tahiti der Bougainville, Forsters oder Cooks versuchte den Zustand der Idylle noch einmal als Wirklichkeit darzustellen.724 Michèle Duchet folgerte aus ihrer vergleichenden Untersuchung zu den anthropologischen Diskursen der französischen Philosophen von Buffon, Voltaire, Rousseau, Helvétius bis Diderot, die sich mit Zivilisationsprozessen auseinandersetzen, dass hauptsächlich intertextuelle Verhältnisse der Texte auffallen, die als Werte und Gedankensysteme koexistieren.725 In Diderots politischen Skizzen wird nach den Gründen für einen glücklichen Menschen geforscht. Grundlegend ist hier wiederum dessen politische „théorie des trois codes“, bei welcher die Forschung ansetzt.726 Wie hier untersucht wurde, gründet Diderots eudämonistisches Prinzip auf der Theorie der drei Codes sowie dem wahrgenommenen Antagonismus zwischen dem natürlichen und künstlichen Menschen und beruht auf dem Widerspruch jener drei Codes. Damit aber die Menschen glücklich sind, müssen die Codes der Zivilisation sowie der Religion nach der Natur modelliert sein.727 Bei Diderot ist, wie so häufig, dessen Theorie der drei Codes von Interesse, die dieser erstmals im um ein Jahr vordatierten Salon de 1767 entwirft. Hier deutet Diderot einen moralischen Konflikt zwischen Zivilrecht, der Religion und dem Naturrecht an: „[…] la loi civile et la loi religieuse sont en contradiction avec la loi de nature. Qu’en arrive-t-il? c’est que, toutes trois enfreintes et observées alternativement, elles perdent toute sanction: on n’est ni religieux, ni citoyen, ni homme; on n’y est que ce qui convient à l’intérêt du moment“,728 ein Konflikt, der dann in den Histoire des deux Indes wieder zentral ist, wie auch im Supplément au voyage de Bougainville. Der vielgelesene zweibändige Reisebericht des Mathematikers Louis Antoine de Bougainville (1729–1781) über seine zwischen 1766 und 1769 durchgeführte erste französische Weltumsegelung Voyage autour du monde (1771), die er mit bekannten Wissenschaftskollegen unternommen hatte, erregte großes Aufsehen, insbesondere der Teil über die polynesische Inselgruppe.
724 Vgl. Urs Bitterli: Die Wilden und die Zivilisierten. München 1991. 725 Duchet: Anthropologie et histoire au siècle des Lumières. 1995, S. 481. 726 Vgl. dazu Gerhardt Stenger: Diderot et la théorie des trois codes. In: Ici et ailleurs: le dixhuitième siècle au présent. Mélanges offerts à Jacques Proust. Hg. von Hisayasu Nakagawa u. a. Tokyo 1996, S. 139–158. Ebenso Ralph Häfner: Probleme mit Diderot. Herders Humanitätsbegriff zwischen Kolonialismus-Debatte und Libertinage. Mit einem Ausblick auf den Weimarer Klassizismus. In: Natur, Naturrecht und Geschichte. Aspekte eines fundamentalen Begründungsdiskurses der Neuzeit (1600–1900). Hg. von Simone de Angelis, Florian Gelzer, Lucas Marco Gisi. Heidelberg 2010, S. 415–432. 727 Gerhardt Stenger: Diderot et la théorie des trois codes. 1996, S. 136–158, hier S. 140. 728 Diderot: Œuvres complètes. Paris 1975 ff. Bd. XVI, S. 202.
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Bald nach dem Erscheinen des Reiseberichts des französischen Mathematikers bat der Herausgeber der Correspondance Littéraire, Frédéric Melchior Grimm, seinen Freund Diderot diesen für seine nur handschriftlich an einigen Fürstenhöfen zirkulierende Zeitschrift zu besprechen. In seinem Artikel zeichnet Diderot anhand von Bougainvilles Schilderung der Südseeinsel Tahiti als bukolisches Idyll und Idealisierung der Insulaner ein sympathisches Bild vom glücklichen Naturzustand der Eingeborenen.729 In diesem Sittengemälde wird die Freiheit der Liebesbeziehungen gelobt, die ohne moralische Vorurteile existieren, dagegen werden die Kolonialpolitik der Europäer sowie deren für die Eingeborenen verfehlte Morallehre einer scharfen Kritik unterzogen. Zudem ist ein Teil der Kritik in der rhetorischen Form der Strafrede gehalten. Aus der Umarbeitung dieser Besprechung, die in Teilen erstmals 1773 und 1774 in den Correspondance littéraire730 publiziert ist, basiert das Supplément au voyage de Bougainville (1796), das einige Jahre später erweitert und erst posthum erschien; während sich der erste Teil teilweise nahe an die Vorbesprechung der Correspondance littéraire anlehnt, ist der zweite Teil mehrheitlich neu. Um sein literarisches Vexierbild zu rechfertigen, das grundsätzliche Probleme thematisiert, gegen Vorurteile und Verlogenheit kämpft, bedient sich Diderot ferner im Titel, der als Nachtrag zur Bougainville-Reise deklariert wird, des Kunstgriffes eines unveröffentlichten Zusatzes des Autors, d. h. Bougainville selbst. Wie schon Herbert Dieckmann bemerkt, sind solche Stilmittel mit literarischem Kolorit zum Schutz vor der Zensur im 18. Jahrhundert keine Seltenheit.731 Genette behandelt die polysemantische Deutung des von Diderot gewählten Titels „Supplément“ (Nachtrag) in seiner Arbeit über Palimpseste. Thomas Stöbers dekonstruktivistische Lesart desselben setzt bei Derridas poetologischer Bezeichnung von „Supplément“ an, die als „Hinzufügung, Ergänzung“ oder „Ersetzung und Substitution“ gehandhabt wird.732 Diderots Supplément, als Substitution interpretiert, wird als intertextuell inszenierter Dialog mit Rousseaus hypothetischer Beschreibung des „état de Nature“ im Discours sur l’inégalité und wiederum als Replik auf Hobbes’ „bellum omnium contra omnes“ gelesen. Die
729 Urs Bitterli: Die Wilden und die Zivilisierten. 1991, S. 382f. 730 Vgl. Diderots Skizzen zum Supplément de Bougainville. In: Correspondance Littéraire. 1773, S. 191; 1773, S. 209, 1774, S. 50; 1774, S. 72. 731 Vgl. Nachwort von Herbert Dieckmann. In: Denis Diderot: Nachtrag zu Bougainvilles Reise oder Gespräch zwischen A. und B. über die Unsitte, moralische Ideen an gewisse physische Handlungen zu knüpfen, zu denen sie nicht passen. Frankfurt am Main 1965, S. 77. Im Folgenden mit dem Kurztitel Diderot: Nachtrag abgekürzt. 732 Genette: Palimpseste. 1992, S. 277–281; Thomas Stöber: Diskursformen der Aufklärung. Gespräch und Supplement in Diderots Supplément au voyage de Bougainville. 2003, S. 99–105.
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dialektische Analyse Diderots der nature humaine begann als emphatische Feier der Indolenz im Naturzustand und fördert in den entretiens d’enquête der inszenierten Mündlichkeit in den fingierten Dialogen – noch vor der Dekadenz der Zivilisation – bereits die negativen Aspekte der Sitten Tahitis zutage. Beim Versuch einer kritischen Dezentrierung des Naturbildes entpuppt sich dessen Invertierung: „die vermeintlich freie Sexualität Tahitis als eine bewußt zur Mehrung des Eigentums eingesetzte soziale Technik, die eine Reihe von Regeln und Verboten impliziert“.733 Das Supplément du Voyage de Bougainville ist – nicht untypisch für Diderot – nach dem Muster des Dialogs gestaltet und umfasst vier Gespräche. So verteilt Diderot seine eigene kritische Buchbesprechung zu Bougainvilles Voyage autour du monde auf zwei Gesprächspartner A und B in „I Jugement du voyage de Bougainville“ (Beurteilung der Reise Bougainvilles). In dieser Buchbesprechung, die vom aktuellen Leseerlebnis ausgeht, weil das Wetter schlecht ist, wird Bougainvilles Werdegang kurz umrissen. Der Lebenswechsel vom sesshaften und zurückgezogen meditierenden Mathematiker, der plötzlich zum aktiven Metier des reisenden Seefahrers wechselt und damit sämtliche Unannehmlichkeiten der Reise in Kauf nimmt, scheint den Gesprächspartnern fürs Erste unverständlich. Die Dialogform, die sich bestens eignet, Inhalte knapp zu umreißen und auf den Punkt zu bringen, thematisiert immer wieder Widersprüchliches, Problematisches und bedient sich hierbei des Chiasmus, bspw. wenn die wechselnden menschlichen Gewohnheiten zur Sprache kommen: „B. – Il fait comme tout le monde: il se dissipe après s’être appliqué, et s’applique après s’être dissipé.“734 Bougainvilles Reiseroute führte diesen, von Nantes ausgehend, über die Magellanstraße, in den Pazifik, durch das Archipel der Inseln, die sich von den Philippinen bis nach Neu-Holland erstrecken, bei Madagaskar, am Kap der Guten Hoffnung und Afrika vorbei zum Atlantik. Kurz werden die Gefahren und Schwierigkeiten der Seefahrt bis hin zu Bougainvilles Schiffbruch gestreift, den er und andere Seefahrer, den Elementen und Gezeiten auf hoher See immer ausgesetzt, wohl erlebt und erlitten haben. Daneben werden Fragen über den Ursprung der Erde berührt, wenn bspw. danach gefragt wird, wie die unterschiedlichsten wilden Tiere, angefangen vom Wolf, Fuchs, Hund, Hirsch bis hin zur Schlange auf einsamste Inseln gelangen können, abgetrennt vom Festland und über die weiten Meeresströme hinweg. Darauf folgt die Frage, wie Menschen auf sehr kleinem Raum leben, der nur den Durchmesser einer Meile hat.
733 Stöber: ebd., S. 102. 734 Diderot: Supplément au voyage de Bougainville. In: Ders.: Œuvres. Hg. von Laurent Versini. 1994, Bd. II, S. 542.
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Der Brauch der Anthropophagie, den Diderot schon in der gemeinsam mit dem Abbé Raynal (1713–1796) herausgegebenen Histoire des deux Indes (1770) thematisierte, wird hier als sehr alter und natürlicher Vorgang thematisiert. Demnach rotten die Menschen sich selbst aus, indem sie sich verspeisen: „A. – Ils s’exterminent et se mangent; et de là peut-être une première époque très ancienne et très naturelle de l’anthropophagie, insulaire d’origine.“735 Der geschichtsphilosophische Vergleich zwischen der abendländischen und der „wilden“ Kultur, der an Montaigne anspielt, orientiert sich an den Entwicklungsstadien des Menschen, um die Diskrepanz der drastischen Unterschiede zu veranschaulichen: B. – Je n’en doute pas. La vie sauvage est si simple, et nos sociétés sont des machines si compliquées! L’Otaïtan touche à l’origine du monde, et l’Européen touche à sa vieillesse. L’intervalle qui le sépare de nous est plus grand que la distance de l’enfant qui naît à l’homme décrépit. Il n’entend rien à nos usages, à nos lois, ou il n’y voit que des entraves déguisées sous cent formes diverses, entraves qui ne peuvent qu’exciter l’indignation et le mépris d’un être en qui le sentiment de la liberté est le plus profond des sentiments.736
Signifikant ist der Gebrauch der Maschinenmetapher für die westlichen Gesellschaften, die im Allgemeinen, im Stande des Greisenalters, negativ abschneiden und denen die einfachen Wilden als Ideal gegenübergestellt werden. Das Gespräch zwischen A und B, welches am Schluss wieder aufgenommen wird, rahmt den eigentlichen Nachtrag, Diderots rhetorische Strafrede aus der Correspondance littéraire, die hier von Interesse ist: „L’entretien de l’aumônier et d’Orou“, „Die Unterhaltung zwischen dem Schiffskaplan und Oru“ sowie die „Suite du dialogue entre A et B“, die „Fortsetzung des Zwiegesprächs“ sind neu und runden den als Nachtrag fingierten Text über einen anthropologischen Vergleich der europäischen Barbaren mit der fremden Kultur der „edlen Wilden“ ab. An Rousseaus Abhandlung über den Ursprung der Ungleichheit und ihre Rechtfertigung durch das Naturrecht anknüpfend, ist Orus Diskurs der Angelpunkt des Textes, der am Ende die Eingangssituation umkehrt: Nach Sünde, Gewaltverbrechen und Korruption der entarteten Europäer erfolgt ein Korrektiv im malum bonum, das in der Konvertierung zum Naturrecht besteht. Während Bougainville sein Tahiti-Idyll nach dem Vorbild antiker Bukolika zeichnete, gründet Diderots theoretische Begründung der Formen menschlicher Gesellschaft nicht mehr in den einzig utopischen Schilderungen primitiver Völker oder außereuropäischer Gesell735 Ebd., S. 543, vgl. auch Diderot: L’Histoire des deux Indes. Buch III. Kap. 1. Politique. 1994, Bd. II, S. 710. 736 Diderot: Supplément au voyage de Bougainville. In: Ders.: Œuvres. Hg. von Laurent Versini. 1994, Bd. II, S. 546.
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schaftsformen, sondern in der Vernunft, ihre eigene Geschichte zu verstehen und neu zu gestalten. In diesem fiktiven Nachtrag, der Fakten aus Bougainvilles Reisebericht mit neu erfundenen Begebenheiten mischt, werden unterschiedliche Blickpunkte und konträre Haltungen hinsichtlich des Naturzustandes und der beiden Kulturen in den dialektischen Dialogen einander gegenüber gestellt. Bei diesem literarischen Vexierbild handelt es sich um weit mehr als eine romaneske Erzählung, nämlich um eine ernsthafte Diskussion grundsätzlicher Probleme. Seine Verurteilung der westlichen Kolonialpolitik angesichts des brutalen Verhaltens der europäischen Kolonialisten in Tahiti wird bei Diderot in Form der Parabase einem einheimischen weisen alten Mann in den Mund gelegt, hinter dessen Larve niemand anders als der Dichter selbst zu vermuten ist, der hier ausführlich und differenziert eine Kolonialkritik aus Opfersicht präsentiert. Diese kulturkritische Klage, die Vorurteile und Missbräuche thematisiert, steht in der Tradition von Erasmus von Rotterdam und dessen Laus stultitiae (1509). Wie schon beim Lob der Torheit so verbindet Diderot Scherz und Satire mit tieferer Bedeutung, wenn der Europäer als die Verkörperung des Teuflisch-Bösen angeklagt wird. In seiner Klage deutet der weise Alte die Ankunft der Europäer als Vorzeichen einer Apokalypse: Pleurez, malheureux Otaïtiens, pleurez; mais que ce soit de l’arrivée et non du départ de ces hommes ambitieux et méchants. Un jour vous les connaîtrez mieux. Un jour ils reviendront, le morceau de bois que vous voyez attaché à la ceinture de celui-ci, dans une main, et le fer qui pend au coté de celui-là, dans l’autre, vous enchaîner, vous égorger, ou vous assujettir à leurs extravagences et à leurs vices. Un jour vous servirez sous eux, aussi corrompus, aussi vils, aussi malheureux qu’eux.737
Das Thema der Knechtschaft und der Sklaverei wird in Diderots ethnologischer Skizze vielschichtig thematisiert. So werden die zivilisierten Gebräuche der Europäer mit den natürlichen Lebensgewohnheiten der Tahitianer gespiegelt. Diese angeblich zivilisierten Europäer erscheinen als brutale Barbaren, wenn sie sich in die natürlichen Lebensgewohnheiten einmischen, sich als neue Herren aufspielen und plötzlich Anspruch auf Land, Leben und Tod der Eingeborenen erheben. Bougainville, mit „chef des brigands“738, „Häuptling jener Räuber“739 betitelt, wird geraten, möglichst schnell wieder sein Schiff zu nehmen und abzureisen. Diderots Essay ist ein leidenschaftliches Plädoyer für die Naturvölker, die vom expandierenden Europa mit seinem diskriminierenden christlich-missionari-
737 Diderot: Supplément. 1994, S. 547. 738 Ebd. 739 Diderot: Nachtrag. 1965, S. 18.
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schen Superioritätsgefühl bedroht sind. Ihre natürliche Moral gründe nicht in dem von Bougainville angedeuteten Hedonismus, sondern auf der physischen Realität, auf der strengen Anpassung des Einzelnen an die Erfordernisse der Allgemeinheit. Dieser natürlichen Gesellschaft wird die naturferne zivilisierte Gesellschaft gegenüber gestellt. Dabei erscheinen die christlich-religiösen Idealvorstellungen sowie die von staatlicher und individueller Tyrannei eingeengten Sitten und Gesetze naturwidrig und unvernünftig. Während Bodmer noch das Abhängigkeitsverhältnis in der Klage der Yariko in eine unterwürfige Liebesmetaphorik übertrug, so klingen bei Diderots altem Weisen schon die Maxime der französischen Revolution – „liberté, égalité, fraternité“, d. h. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – an. Nach den zu Beginn thematisierten Rechten auf Freiheit und Gleichheit erinnern die übertragenen natürlichen Familienbindungen an eine negierte antithetische Sklavenmetaphorik, laut derer der Europäer sowie der Insulaner Brüder ein und dergleichen Natur seien: Tu n’es pas esclave, tu souffrirais plutôt la mort que de l’être, et tu vuex nous asservir ! Tu crois donc que l’Otaïtien ne sait pas défendre sa liberté et mourir? Celui dont tu veux t’emparer comme de la brute, l’Otaïtien et ton frère; vous êtes deux enfants de la nature; quel droit as-tu sur lui qu’il n’ait pas sur toi? Tu es venu; nous sommes-nous jetés sur ta personne? avons-nous pilé ton vaisseau? T’avons-nous saisi et exposé aux flèches de nos ennemis? t’avons-nous associé dans nos champs au travail de nos animaux? Nous avons respecté notre image en toi. Laisse-nous nos mœurs, elles sont plus sages et plus honnêtes ques les tiennes. Nous ne voulons point troquer ce que tu appelles notre ignorance contre tes inutiles lumières.740
In diesem großen Fragenkatalog werden die Werte der aufgeklärten Europäer subtil umgedreht und die Machenschaften der Kolonialherrschaft angeprangert. Freiheit ist ein Menschenrecht, das vom weisen Alten für sein Volk eingefordert wird. Verhaltensweisen werden hier kritisch nebeneinandergestellt: Ausgehend von dem Prinzip der Gleichheit der Menschen und dem Naturrecht werden hier die Ungerechtigkeiten der Sklaverei laut ausgesprochen und in syntaktisch-semantischen Antagonismen vorgeführt. Der Europäer, der selbst lieber sterben würde, denn als ein Sklave zu dienen, will nun seine ‚Menschenbrüder‘ den Tieren gleich sich unterjochen. Die wirklich Zivilisierten sind die Eingeborenen, die über Ehrlichkeit und Sittlichkeit verfügen, während die Europäer, welche die Thaitianer ihrer Einfachheit wegen der Ignoranz verurteilen, als Räuber von Recht und Ordnung demaskiert werden. Die Kolonialherrschaft als Frucht der Aufklärung wird hier als korrumpiertes System angeklagt, dessen unrechtmäßige Mittel Plünderei, Krieg
740 Diderot: Supplément. 1994, S. 548.
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und Ausbeutung sind. Der Verrat am Bruder erinnert symbolisch an Kains Mord an Abel, der ebenfalls sein Ebenbild und das Leben des Bruders verachtete. Im Gespräch zwischen Oru und dem Kaplan wird ferner die freie Sexualmoral und -praxis der wilden Tahitianer mit derjenigen der zivilisierten Europäer verglichen. Die folgende Religionskritik karikiert die Scheinheiligkeit der Religionsvertreter, wenn der Kaplan sein Gelübde der Enthaltsamkeit auf der Insel vergisst und sich ganz libertin seiner Natur hingibt. Das Gelübde der Enthaltsamkeit wird ferner vom Tahitianer als faule Ausrede und als Gelübde der Unfruchtbarkeit interpretiert, was dem Verständnis vom tahitianischen Kinderreichtum zuwiderlaufe, der auf Tahiti Fruchtbarkeit und Wohlstand ausdrückt. Hingegen herrschen auf Tahiti Tabus und Sitten; die Freiheit geschlechtlicher Beziehungen folgt einem pragmatischen Utilitarismus. Was der fremde Europäer hier als die Erfüllung erotischer Träume deutet, erweist sich als Fruchtbarkeitsgesetz. Die Insulaner werden von Diderot, der Buffons und Daubentons Histoire Naturelle (1749–1788) wie auch Shaftesbury verwandt ist, in der Debatte über das Maß der Moral herbeigezogen. Als unnötiges Korsett wird nicht nur das europäische Schönheitsideal, sondern auch die Ehe und die Religion betrachtet. Wie Urs Bitterli festhält, unterscheidet sich Diderot von anderen aufgeklärten Kommentatoren dahingehend, dass er die Tahitianerinnen weder wie die Mehrheit dem europäischen Typus annähert, noch wie bspw. Georg Forster dazu neigt, die Inselbewohner zu antikisieren. Wie Rousseau schien wohl auch Diderot Athen als Analogie einer in diesem Zusammenhang eher späten Phase der menschlichen Entwicklungsgeschichte unangebracht.741 Etwa zeitgleich zur posthumen Publikation des Suppléments bereiste Alexander von Humboldt (1769–1859) Südamerika, wovon seine auf Französisch verfasste mehrbändige Relation historique du Voyage aux Régions équinoxiales du Nouveau Continent742 berichtet. Bei der Beschreibung indianischer Rituale und Bräuche gilt die greco-römische Antike als Modell und Maßstab der Wahrnehmung. Humboldts zu Anfang stilisierte „Antikisierung“ Südamerikas wird aber, wie Oliver Lubrich zeigte, im Verlauf der imaginierten Zeitreise modifiziert und relativiert. Humboldt erkennt neben der griechischen Antike andere außereuropäische archaische Hochkulturen als „Antiken“ an, welche die europäische sogar an Originalität überträfen. Mit der Erweiterung des Antikenbegriffs wird das europäische Monopol zerstört, bzw. findet der Begriff im Verlaufe des Berichts eine polysemantische Anwendung. In einer subtilen Inversion vergleicht Humboldt nicht nur die Indianer mit den Griechen, sondern in der Konsequenz seiner 741 Urs Bitterli: Die Wilden und die Zivilisierten. München 2004, S. 415–420, hier S. 417. 742 Alexander von Humboldt: Relation historique du Voyage aux Régions équinoxiales du Nouveau Continent. 1799–1804 Neudruck des 1814–1825 in Paris erschienenen vollständigen Originals mit Register, hg. von Hanno Beck. 3 Bde. Stuttgart 1970.
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relativierenden Nivellierung des Antikenbegriffs werden nun in umgekehrter und neuer Perspektive auch die Griechen mit den Indianern verglichen. Mit dieser Gleichsetzung werden erstmals die Griechen als „wilde“ und zugleich „primitive“ Kultur verstanden. Die klassischen Griechen werden von Humboldt als ein Volk „im Naturzustand“, wie beispielsweise die „Wilden“ am Orinoco, angesehen. Das ambivalent anmutende Einhergehen von hoch entwickelter Zivilisation mit der gleichsam strukturellen Grausamkeit der Sklaverei vergleicht Humboldt am Beispiel Cubas mit dem ausgeklügelten System der Sklaverei im alten Rom. [L]’esclavage, avec ses douleurs et ses excès, se maintiendra, comme dans l’ancienne Rome, à côté de l’élégance des moeurs, du progrès si vanté des lumières, de tous les prestiges d’une civilisation que sa présence accuse.743
Der polyvalente Kulturbegriff der Antike dient zur Beschreibung widersprüchlicher Facetten der archaischen Kulturen; denn er illustriert zum einen Humanität und rechtfertigt zum anderen Barbarei. Die von Lubrich überzeugend dargestellte Dekonstruktion von Humboldts Antike-Begriff ist ferner polysemantisch. Humboldt verwendet die Begriffe „ancien“ und „antik“ als Synonyme und wirft somit auch die Charakterisierungen von der „alten“ europäischen Welt mit jener „neuen“ amerikanischen Welt durcheinander. Sein Jonglieren mit den Begriffen stellt die kulturell herkömmliche und spätere Temporisierung sowie dessen Ideologisierung auf den Kopf. Nach dem aufklärerischen Konzept des Fortschrittsdenkens, das auf historischer Perfektibilität beruht, wird das Alter einer Zivilisation mit deren fortgeschrittener Entwicklung positiv konnotiert. In einem später ‚romantischen‘ Sinne hingegen bedeutet Alter Dekadenz, d. h. Verfall und Verkommenheit, während Jugend dagegen auf Ursprung und Frische hindeutet.744 Von Humboldts Pluralisierung, Relativierung oder Invertierung bzw. Re- und Dekonzeptualisierung und somit auch De-Autorisierung des Antike-Begriffs ist Diderot noch weit entfernt bzw. wird die Auseinandersetzung mit den Begriffsbildern zur Antike fast – so möchte man sagen – ignoriert oder ausgeklammert. Die Begegnung und ungezwungene Vereinigung der Geschlechter ist im Tahiti des Suppléments dem Ziel der Fortpflanzung sowie den natürlichen Trieben untergeordnet. Schwangere Frauen und Mütter werden respektiert, als Ideal gelten Frauen, die auf gesunde und gescheite Kinder hoffen lassen, ebenso gilt Kinderreichtum als Gut. Die abendländisch-christlichen Moralbegriffe der Ehe
743 Alexander von Humboldt: Relation historique du Voyage aux Régions équinoxiales du Nouveau Continent. Bd. III, S. 457. Zit. nach Oliver Lubrich: „Wie antike Bronzestatuen“. Zur Auflösung des Klassizismus in Alexander von Humboldts amerikanischem Reisebericht. In: Arcadia 35 (2000), S. 176–191, hier S. 188. 744 Ebd., S. 176–191.
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sowie des katholischen Zölibats werden vom Insulaner respektive Diderot, verhöhnt, indem er den Geistlichen von der schönen Thia verführen lässt, der sich anfangs noch auf „seine Religion, sein[en] Stand, die guten Sitten und die Ehrbarkeit“745 berief, jedoch den Verführungskünsten der jungen Schönen erliegt. Diderot ging es, wie es Michèle Duchet bereits zeigte, weniger um eine Referenz der Wirklichkeit der wilden Welt, sondern um die Verlogenheit der gekünstelten Moral, die vom Geistlichen verkörpert wird. Als sinnbildliche Synekdoche deutet er auf die Totalität der Geistlichen, die religiösen Gesetze wie bspw. das Zölibat und dessen schwarze Robe, die im Kontrast zur Nackheit der Tahitianer alle Verbote einer Moral zusammenfasst, die die Natur vergewaltigt und die Realität der Begierde verhüllt.746 Der Kaplan tadelt später selbstkritisch die klösterliche Abgeschiedenheit v. a. für Frauen, die an diesen Orten „verkümmern und vor Langeweile verkommen“, wie einst jene unglückliche Nonne, die Fiktionalisierung des traurigen Schicksals von Diderots Schwester im Roman La religieuse (1792–1796). Im Rahmengespräch des Suppléments zwischen A und B wird festgestellt, dass die Gesetze der Natur, des Staates und der Religion, denen sich der Mensch unterwirft, immer abwechslungsweise gebrochen werden, da sie nie übereinstimmen. A und B folgern, dass das Religionsgesetz als überflüssig zu erachten sei und das Staatsgesetz,747 „Ausdruck des Naturgesetzes sein sollte“.748 Ferner zeigt die kritische Spiegelung der beiden Gesellschaftsmöglichkeiten, dass „das wildeste Volk der Erde, das tahitianische, das sich genau an das Naturgesetz gehalten hatte, einer guten Gesetzgebung näher als irgendein zivilisiertes Volk“749 gekommen wäre. Diderot hebt hervor, dass der natürliche Mensch sich in dem Moment zum künstlichen entwickelt, wenn die Frau zum exklusiven Eigentum des Mannes erklärt wird.750
745 Diderot: Nachtrag. 1965, S. 27. (L’aumônier répondit que sa religion, son état, les bonnes moeurs et l’honnêteté ne lui permettaient pas d’accepter ces offres. In: Diderot: Supplément. 1994, S. 552.) 746 „[...] il [Diderot] a pour référent non la réalité du monde sauvage, mais l’absurdité d’une morale qui viole – et voile – la nature, et qui masque la réalité du désir.“ In: Michèle Duchet: Anthropologie et histoire au siècle des Lumières. Paris 1995, S. 455. 747 „l’énonciation de la loi de nature“. In: Diderot: Supplément. 1994, S. 570. 748 Diderot: Nachtrag. 1965, S. 56. 749 Ebd., S. 57. (B. – Cela n’est pas si difficile que je croirais volontiers le peuple le plus sauvage de la terre, l’Otaïtien qui s’en est tenu scrupuleusement à la loi de nature, plus voisin d’une bonne législation qu’aucun peuple civilisé. In: Diderot: Supplément. 1994, S. 571.) 750 „Aussitôt que la femme devint la propriété de l’homme et que la jouissance furtive d’une fille fut regardée comme un vol, on vit naître les termes pudeur, retenue, bienséance, des vertus et des vices imaginaires.“ Diderot: Supplément. 1994, S. 570.
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Die Kritik am abendländischen Eheverständnis, das die Frau zum Eigentum des Mannes erklärt, wird auch im Dialog zwischen A und B fortgesetzt: B. – Verstehen Sie unter Ehe den Vorzug, den ein Weibchen einem Männchen vor allen anderen Männchen oder ein Männchen einem Weibchen vor allen anderen Weibchen gibt, also eine gegenseitige Bevorzugung, derzufolge eine mehr oder weniger beständige Vereinigung zustande kommt, welche die Art durch die Individuen fortpflanzt, so existiert die Ehe in der Natur.751
Das Unglück der abendländischen Zivilisation beginne mit der Perversion der Liebesbeziehungen und zwar genauer mit einem Kampf der Geschlechter bzw. deren Ungleichheit sowie der Tyrannei einer unnatürlichen Sexualmoral.752 Diderots Spekulationen über die Ursachen der abendländischen Verderbnis finden ihren utopischen Gegenpol in der Analyse jener ursprünglichen Gesellschaften der Insulaner. Im Gegensatz zu Rousseaus Auffassung aus dem zweiten Discours, laut der Eisen und Getreide die Menschheit verdorben haben sollen, liegt die Ursache für die Verkommenheit weder bei der Erfindung der Hüttenkunde noch der Landwirtschaft. Die Misere der Gesellschaft rühre weniger vom Privateigentum her, sondern sei eine Sache der Moral, insbesondere der Sexualmoral.753 Ungehalten und unmissverständlich kämpft Diderot gegen den Missstand und das unwürdige und angebliche Naturgesetz, welches die Frau zum Eigentum des Mannes bestimme.754 Im Gegensatz zu Bodmer, der im Sinne der Frühaufklärer unablässig an die Moral und Sittlichkeit appelliert, hütet sich Diderot eine Moral zu definieren, die im Herzen des Menschen angesiedelt sei. Vielmehr sei die universale Moral ein physikalisches Prinzip, das wiederum aus der Gleichartigkeit von Organisationen bestünde. Der Ursprung der Moral finde sich nicht im Menschen selbst, sondern in allen zwischenmenschlichen Verhältnissen, die von der Justiz und der Recht-
751 In: Diderot: Nachtrag. 1965, S. 57. („B. – Si vous entendez par le mariage la préférence qu’une femelle accorde à un mâle sur tous les autres mâles, ou celle qu’un mâle donne à une femelle sur toutes les autres femelles, préférence mutuelle en conséquence de laquelle il se forme une union plus ou moins durable, qui perpétue l’espèce par la reproduction des individus, le mariage est dans la nature.“ In: Ebd., S. 5, S. 71.) 752 Vgl. Stenger: Diderot et la théorie des trois codes. 1996, S. 146f. 753 Ebd., S. 149. 754 „Mais partout, excepté aux îles Mariannes, on o trouvé la femme soumise à l’homme. Cette exception [...] est containte à une loi bien connue, générale et constante de la nature. [...] Chez les peuples qui n’accordent leur estime qu’à la force et au courage, la faiblesse est tourjours tyrannisée, pour prix de la protection qu’on lui accorde. Les femmes y vivent dans l’opprobre.“ In: Diderot: Sur les femmes. Goggi. II, S. 257–259.
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sprechung geregelt werden, welche die Gleichheit der Mitglieder eines sozialen Körpers respektieren sollte.755 An Bodmer erinnernd, wird ferner in einer erneuten Verwandtschaftsmetaphorik das Verhältnis der beiden Menschenbilder als „Bruderkrieg“ zwischen dem natürlichen und dem künstlichen Menschen gedeutet, die Diderot in seiner künsterlischen Projektion und utopischen Darstellung im Supplément versucht: „Bald ist der natürliche Mensch stärker, bald wird er von dem künstlichen, dem moralischen Menschen überwältigt, und in jedem Fall wird das bedauernswerte Monstrum hin und her gerissen, gepeinigt, gefoltert, gerädert.“756 Einzig bei Krankheit und im Alter nähme der natürliche Mensch Überhand. Dies wirft die Frage auf, ob man den Menschen zivilisieren soll. Dezidiert wird die Zivilisation als Tyrannei gebrandmarkt, die den natürlichen Menschen unter den Füßen des moralischen Menschen fesselt. Die Kritik tangiert zudem das System, wenn postuliert wird, dass der Gesetzgeber und mit ihm staatliche, bürgerliche sowie religiöse Einrichtungen aus Eigeninteresse handeln und den Menschen unterjochen. In einer anschaulichen Maschinenmetaphorik wird abschließend das sich potenzierende Kräfteverhältnis von Staatsgesellschaften dargestellt. Nicht zivilisierte Menschen werden als zerstreute Triebfedern beschrieben, die bei einem zufälligen Aufeinanderprallen zerbrechen können. Hingegen sind in der Maschine, der sogenannten Gesellschaft, alle Federn „derart angeordnet, dass sie unaufhörlich Wirkungen und Gegenwirkungen ausübten und dadurch immer gespannt blieben“.757 Im Kriegsfall kann dies zu fatalen Zerstörungen führen, die wohl weit größer ausfallen könnten, als jene im Naturzustand.758
755 Vgl. Stenger: Diderot et la théorie des trois codes. 1996, S. 154. 756 Diderot: Nachtrag. 1965, S. 64. (B. – Voulez-vous savoir l’histoire abrégée de presque toute notre misère? La voici. Il existait un homme naturel; on a introduit au dedans de cet homme un homme artificiel, et il s’est élevé dans la caverne une guerre continuelle qui dure toute la vie. Tantôt l’homme naturel est le plus fort; tantôt il est terrassé par l’homme moral et artificiel; et, dans l’un et l’autre cas, le triste monstre est tiraillé, tenaillé, tourmenté, étendu sur la roue, sans cesse gémissant, sant cesse malheureux, soit qu’un, faux enthousiasme de gloire le transporte et l’enivre, ou qu’une fausse ignominie le courbe et l’abatte. Cependant il est des circonstances extrêmes qui ramènent l’homme à sa première simplicité. In: Diderot: Supplément. 1994, S. 574f.) 757 Ebd., S. 66. (B. – [...] Je considère les hommes non civilisés comme une multitude de ressorts épars et isolés. Sans doute, s’il arriveait à quelques-uns de ces ressorts de se choquer, l’un ou l’autre ou tous les deux se briseraient. In: Diderot: Supplément. 1994, S. 576.) 758 „Pour obvier à cet inconvénient, un individu d’une sagesse profonde et d’un génie sublime rassembla ces ressorts et en composa une machine, et dans cette machine appelée société, tous les ressorts furent rendus agissants, réagissant les uns contre les autres, sans cesse fatigués; jet il s’en rompit plus dans un jour sous l’état de législation, qu’il ne s’en rompait en un an sous l’anarchie de nature. Mais quel fracas! quel ravage! quelle énorme destruction de petits ressorts
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In Anlehnung an Rousseaus Rechtfertigung der Formen menschlicher Gesellschaft, die auf dem Naturrecht gründen, konzentriert Diderot in seinem Nachtrag verschiedene Blickpunkte zum Naturzustand und der abendländischen Kultur in dialektischen Gesprächen. Diderot, der die Autochthonen Tahitis in jener kulturgeschichtlichen Entwicklungsphase des Rousseauischen „homme naturel“ ansiedelt, preist das „glückliche“ Leben im Naturzustande sowie die Freiheit des Menschen in den Liebesbeziehungen und tadelt die Übergriffe der Europäer als auch deren Kolonialpolitik.759 Die Frage, ob der natürliche Mensch überhaupt zivilisiert werden soll, steht im Raum und Diderots kritische Diagnose richtet sich hier an den künstlich-moralischen Menschen, dessen Entwicklungen hier mit changierenden Krankheitsbildern verglichen werden. Die Fortschrittsgedanken wandeln sich zu einer direkten Kritik an den Europäern, deren Eingreifen scharf verurteilt und in einer Verurteilung der Moral gipfelnd als tyrannisch deklariert wird.760 Auf die abschließende Frage, ob zur Natur zurückzukehren sei, oder man sich den Gesetzen zu unterwerfen habe, antwortet B, dass diese reformiert werden sollen.761
lorsque deux, trois, quatre de ces énormes machines vinrent à se heurte avec violence!“ In: Diderot: Supplément. 1994, S. 576. 759 Vgl. Urs Bitterli: Die Wilden und die Zivilisierten. München 2004, S. 415–420, hier S. 418. 760 „B. – Mais un autre phénomène qui ne vous aura pas échappé davantage, c’est que le retour de l’homme artificiel et moral suit pas à pas le progrès de l’état de maladie à l’état de convalescence, et de l’état de convalescence à l’état de santé. Le moment où l’infirmité cesse est celui où la guerre intestine recommence, et presque toujours avec désavantage pour l’intrus. A. – Il est vrai. J’ai moi-même éprouvé que l’homme naturel avait dans la convalescence une vigeur funeste pour l’homme artificiel et moral. Mais enfin, dites-moi, faut-il civiliser l’homme ou abandonner à son instinct? B. – Faut-il vous répondre net? A. – Sans doute. B. – Si vous proposez d’en être le tyran, civilisez-le; empoisonnez-le de votre mieux d’une morale contraire à la nature; faites-lui des entraves de toute espèce; embarrassez ses mouvements de mille obstacles; attachez-lui des fantômes qui l’effraient, éternisez la guerre dans la caverne, et que l’homme naturel y soit toujours enchaîné sous les pieds de l’homme moral. Le voulez-vous heureux et libre? Ne vous mêlez pas de ses affaires; assez d’incidents imprévus le conduiront à la lumière et à la dépravation; et demeurez à jamais convaincu que ce n’est pas pour vous, mais pour eux, que ces sages législateurs vous ont pétri et manière comme vous l’êtes. J’en appelle à toutes les institutions politiques, civiles et religieuses. Examinez-les profondément, et je me trompe fort, ou vous y verrez l’espèce humaine pliée de siècle en siècle au joug qu’une poignée de fripons se promettait de lui imposer. Méfiez-vous de celui qui veux mettre de l’ordre. Ordonner, c’est toujours se rendre le maître en les gênant;“ In: Diderot: Supplément. 1994, S. 575. 761 Ebd., S. 577.
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Die Rede des Weisen, die als Totenklage einer natürlichen Gesellschaft fungiert, die bis dahin von jeglichem Kontakt mit den Europäern verschont war, scheint nun vom Untergang bedroht. Dieses im Supplément anklingende Abhängigkeitsverhältnis von Herrschaft und Knechtschaft beleuchtete Diderot meisterhaft in seinem wiederum im Dialog gehaltenen Anti- oder auch Meta-Roman Jacques le Fataliste et son maître (1765– 1784; posthum erschienen), worin er die herkömmlich traditionellen Rollen von Herr und Diener kongenial konterkariert. Diderots Dialektik, die Goethe und Schiller begeisterte, sollte Hegels Überlegungen über traditionelle und moderne Herrschaftsmodelle, ausgedrückt in der Phänomenologie des Geistes (1807), beeinflussen. Dass sich Diderot für diesen Roman Laurence Sternes Tristram Shandy (1759, 1767) zum Vorbild nahm und gewissen Partien aus dem 8. Buch mehrheitlich plagierend plünderte, wie wohl auch Boureau-Deslandes’ Dictionnaire für seine Encyclopédie, sei dahingestellt. Die anthropologischen Ideen über das antinomische, zuweilen paradoxe Verhältnis der Menschen wird schon in den Histoire des Indes thematisiert.762 Entgegen Rousseau vertritt Diderot hier wie auch im Artikel der Encyclopédie (1751) „Autorité politique“ die Meinung, dass die Familie die Urgesellschaft darstelle und der Familienvater die erste Autorität begründe. Ferner unterstehen die Beziehungen der Individuen innerhalb des sozialen Körpers einem Kräfteverhältnis. Es gibt Sieger und Besiegte, Herren und Sklaven, Könige und Untertanen. In der Geschichte der Gesellschaften besteht ein momentaner Zustand des Gleichgewichts, dieser kann jedoch nicht anhalten und keine gerechte Gesellschaft bilden,
762 „Tous les peuples policés ont été sauvages, et tous les peuples sauvages, abandonnés à leur impulsion naturelle, étaient destinés à devenir policés. La famille fut la première société; et le premier gouvernement fut le gouvernement patriarcal [...]. Un peuple fond les armes à la main sur un autre. Le vaincu devient l’esclave du vainqueur [...]. Dans cette anarchie, mêlée de jalousie et de férocité, la paix est bientôt troublée [...]. Ils s’exterminent. Avec le temps, il ne reste qu’un monarque ou qu’un despote. Sous le monarque, [...] la législation fait quelques pas; des idées de proprieté se développent; le nom d’esclave est changé en celui de sujet. Sous la suprême volonté du despote, ce n’est que terreur, bassesse, flatterie, stupidité, superstition. Cette situation intolérable cesse, ou par l’assassinat du tyran, ou par la dissolution de l’empire; et la démocratie s’élève sur ce cadavre. Alors [...] il y a des pères, des mères, des enfants, des amis, des concitoyens, des veretus publiques et domestiques. Alors les lois règnent, le génie prend son essor, les sciences naissent, les travaux utiles ne sont plus avilis. Malheureusement cet état de bonheur n’est que momentané. Partout les révolutions, dans le gouvernement, se succèdent avec une rapidité qu’on a peine à suivre. Il y a peu de contrées qui ne les aient toutes essuyées et il n’en est aucune qui, avec le temps, n’achève ce mouvement périodique [...]. Toutes parcourront tous les points de ce funeste horizon. La loi de la nature, qui veut que toutes les sociétés gravitent vers le despotisme et la dissolution, que les empires naissent et meurent, ne sera suspendue pour aucune.“ In: Diderot: Histoire des Indes. 1994, Bd. IX, S. 41f.
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wie dies Rousseau in seinem Contrat social (1762) fast zeitgleich vorgeschlagen hatte. Wie es schon der Baron d’Holbach beschreibt, verlangt das Naturrecht nach aufeinanderfolgenden Revolutionen, weil alle Gesellschaften ständig um Despotismus und Auflösung kreisen. Jedoch glaubt Diderot an jenen kurzen Moment des natürlichen Gefühls, der, wenn die Gesetze regieren, einen Glückszustand herbeiführen kann, wo sich häusliche und öffentliche Tugenden mischen und der Mensch als guter Sohn, guter Ehemann, guter Vater und treuer Freund gleichsam ein guter Bürger ist und sich dergestalt der Code der Natur und jener der Zivilisation als ein und derselbe herausstellen.763 Diderot, der die Werke Rousseaus, Voltaires, Helvétius’ und Raynals studiert hat, meditiert über das Elend des zivilisierten Menschen, die Verbrechen der Tyrannen, der Eroberer und nichts zuletzt über die Rolle der Gewalt in der Geschichte. So sehr er auch Aberglauben und Fanatismus im Supplément denunziert, so sehr überwältigt ihn die Ohnmacht gegenüber dem von einer Handvoll Profiteuren den Menschen aufoktroyierten Joch. Rousseaus Argumentation der Diskurse wird vom progressiven Diderot umgekehrt. Laut Diderot seien es weder Künste noch Wissenschaften, die die Menschen korrumpiert hätten, sondern im Gegenteil hätte die Korruption der Sitten als Konsequenz des Despotismus, die Nation zur Barbarei geführt, aus welcher man nun nicht mehr herausfinde. Diderots Kampf gegen Verlogenheit und Vorurteile sowie sein Wille zur Reform, den er u. a. in den unzähligen Artikeln seiner Encyclopédie vertrat, haben ihre Aktualität nicht eingebüßt.764 Im Nachwort des Jesuiten Bourlet de Vauxcelles (1733–1802) wurde Diderot nicht nur als sittenverderbender Aufrührer und Umstürzler beschimpft, sondern auch mit den Sansculotten in Verbindung gesetzt und damit zugleich für die Exzesse der Terreurs der Französischen Revolution mitverantwortlich gemacht. Der Text erschien nämlich in dem Moment, als die Partei der Royalisten wieder die Oberhand gewann und die Presse gegen jakobinisches Gedankengut anschrieb. Die Zensur machte vor Diderots freizügigem Gedankenspiel bezüglich der doppelbödigen Sexualmoral der Kirche nicht halt und beschuldigte ihn als Zerstörer sittlicher Gesellschaftswerte und als Verfechter eines Naturzustandes, in dem die Triebe sich ungezügelt ausleben dürften, wovon sich der Verfasser des
763 Vgl. Duchet: L’anthropologie de Diderot. 21995, S. 433. 764 Zu Diderots Anthropologie insbesondere in den Artikeln über die „außereuropäische Welt“ in der Encyclopédie du Nouveau Monde, in seinen naturphilosophischen Schriften (Histoire des Voyages) und Erzählungen vgl. Michèle Duchet: L’anthropologie de Diderot. In: Ders.: Anthropologie et histoire au siècle des Lumières. Postface de Claude Blanckaert. Paris 1995, S. 407–476.
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Suppléments und hochgeschätzte Herausgeber der Encyclopédie bis ins 19. Jahrhundert nicht befreien konnte.765
4.4.6 Paradox und Parabase Heute ist Diderot u. a. für seine originelle, wenn nicht sogar epochale, wiederum im Dialog gehaltene Theatertheorie berühmt. In Le paradoxe du comédien, die 1773–1777 entstanden und, wohl um die Arbeit der Encyclopédie nicht zu gefährden, erst posthum 1830 erschienen ist, widmet sich Diderot ausführlich der Parabase. Die hier postulierten Ideen über die Distanzhaltung und das Rollenverständnis des Schauspielers, welche sich als Synthese zu Garricks Theater wie auch zu jenen Praktiken der von den beiden Konkurrenten Carlo Gozzi (1720– 1806) oder Carlo Goldoni (1707–1793) mit Stücken ausgerüsteten Pariser italienischen Komödianten unter Leitung von Antoine-François Riccoboni (1707–1772) verstehen, auf welchen sich Diderot explizit in seiner Schrift bezieht.766 Riccobonis Frau, die Schriftstellerin Marie-Jeanne Riccoboni (1713–1792), für deren Werk Diderot große Achtung hegte, fungiert hier paradoxerweise als Beispiel einer schlechten Schauspielerin trotz großer Sensibilität: LE PREMIER Eh bien, cette femme, une des plus sensibles que la nature ait formées, a été une des plus mauvaises actrices qui aient jamais paru sur la scène. Personne ne parle mieux de l’art, personne ne joue plus mal.767
Ein für Diderot typisch paradoxer Vergleich der hohen Schauspielkunst mit dem aufoktroyierten Schicksal eines Sklaven wird darauf formuliert, wenn sich unter
765 Vgl. Herbert Dieckmann: Nachwort. In: Denis Diderot: Nachtrag zu ‚Bougainvilles Reise‘ oder Gespräch zwischen A. und B. über die Unsitte, moralische Ideen an gewisse physische Handlungen zu knüpfen, zu denen sie nicht passen. Übersetzt von Theodor Lücke. Frankfurt am Main 1965, S. 81. 766 „Au reste, la question que j’approfondis a été autrefois entamée entre un médiocre littérateur, Rémond de Saint-Albine, et un grand comédien, Riccoboni. Le littérateur plaidait la cause de la sensibilité, le comédien plaidait la mienne.“ In: Diderot: Paradoxe sur le comédien. Précédée des Entretiens sur le Fils naturel. Chronologie et préface par Raymond Laubreaux. Paris 1981, S. 176; vgl. auch die Arbeiten von Emanuele de Luca zu Riccoboni: Ders.: Il repertorio della Comédie-Italienne di Parigi 1716–62 | Le répertoire de la Comédie Italienne. Collection numérique dirigée par Andrea Fabiano. Paris 2011. Wie auch seine Dissertation zu Riccoboni: „Io Rinasco“. Storia e repertorio della nouvelle Comédie Italienne. Firenze 2007. 767 Diderot: Paradoxe sur le comédien. Précédée des Entretiens sur le Fils naturel. Chronologie et préface par Raymond Laubreaux. Paris 1981, S. 177.
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den Zwängen dieses gefesselten Zustandes eine eigenwillige Freiheit entwickeln kann: LE PREMIER […] Je pense que peut-être alors il en est de la nature comme de l’esclave qui apprend à se mouvoir librement sous la chaîne: l’habitude de la porter lui en dérobe le poids et la containte.768
Diderots Überlegungen, die wiederum in der eleganten Form des Dialogs zwischen den Figuren LE PREMIER und LE SECOND in einem fingierten beiläufigen Gespräch vor einer sozialen Verpflichtung eines gemeinsamen Soupers diskutiert werden, hatten nicht zuletzt wegen der Huldigung des „kalten Kunstverstandes“769 eine Breitenwirkung bis zu Brechts epischem Theater im 20. Jahrhundert. Bereits hier thematisiert Diderot die drei Stufen des Künstlers, welche bspw. Molière oder später Riccoboni in persona vereinten.770 Diese changierenden Bewegungen zwischen Dichter und Schauspieler beschreiben ein paradoxes Abhängigkeitsverhältnis, grundlegend für kreative Schaffensprozesse. Die Kunst des Schauspiels liege in der Illusion des Spiels, d. h. der Imitation und Simulation der Gefühle jenes Schauspielers, der zu guter Letzt als alternder Liebhaber bezeichnet wird: Ne dit-on pas dans le monde qu’un homme est un grand comédien? On n’entend pas par là qu’il sent, mais au contraire qu’il excelle à simuler, bien qu’il ne sente rien.: rôle bien plus difficile que celui de l’acteur, car cet homme a de plus à trouver le discours et deux fonctions à faire, celle du poète et du comédien. Le poète sur la scène peut être plus habile que le comédien dans le moine, mais croit-on que sur la scène l’acteur soit plus profond, soit plus habile à feindre la joie, la tritesse, qu’un vieux courtisan?771
768 Ebd., S. 179 f. 769 Vgl. Hermann Schlüter: Das Pygmalion-Symbol bei Rousseau, Hamann, Schiller. Drei Studien zur Geistesgeschichte der Goethezeit. Zürich 1968, S. 35. 770 „Mon ami, il y a trois modèles, l’homme de la nature, l’homme du poète, l’homme de l’acteur. Celui de la nature est moins grand que celui du poète, et celui-ci moins grand encore que celui du grand comédien, le plus exagéré de tous. Ce dernier monte sur les épaules du précédent, et se renferme dans un grand mannequin d’oisier dont il est l’âme; il meut ce mannequin d’une manière effrayante, même pour le poète qui ne se reconnaît plus, et il nous épouvante, comme vous l’avez fort bien dit, ainsi que les enfants s’épouvantent les uns aux autres en tenant leurs petits pourpoints courts élevés au-dessus de leur tête, en s’agitant, et en imitant de leur mieux la vaux rauque et lugubre d’un fantôme qu’ils contrefont.“ In: Diderot: Paradoxe sur le comédien, S. 186f. 771 Ebd., S. 191.
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Kurz vor Schluss wird von einem Treffen mit dem Bildhauer Jean-Baptiste Pigalle (1714–1785) berichtet, der gerade den Maréchal de Saxe mit einer Allegorie Frankreichs, einem nackten weiblichen Modell, buchstäblich ins Bild setzte: Il travaillait alors à son monument du maréchal de Saxe, et une très belle courtisane lui servait de modèle pour la figure de la France. Mais comment croyez-vous qu’elle me parut entre les figures colossales qui l’environnaient? Pauvre, petite, mesquine, une espèce de grenouille; elle en était écrasée; et j’aurais pris, sur la parole de l’artiste, cette grenouille pour une belle femme, si je n’avais pas attendu la fin de la séance et si je ne l’avais pas vue terre à terre et le dos tourné à ces figures gigantesques qui la réduisaient à rien. Je vous laisse le soin d’appliquer ce phénomène singulier à la Gaussin, à la Riccoboni et à toute celles qui n’ont pu s’agrandir sur la scène.772
Der für diese Epoche so typische Statuenvergleich folgt sodann gekoppelt mit einem Zuschauerlob: Avec quelque habileté que ces deux imitations soient fondues ensemble, un spectateur délicat les discernera plus facilement encore qu’un profond artiste ne démêlera dans une statue la ligne qui séparerait ou deux styles différents, ou le devant exécuté d’après un modèle, et le dos d’après un autre. – Qu’en acteur cesse de jouer de tête, qu’il s’oublie; que son cœur s’embarrasse; que la sensibilité le gagne, qu’il s’y livre. Il nous enivrera. – Peutêtre. – Il nous transportera d’admiration.773
Die hier eingebauten metatextuellen Überlegungen über die Kunstfertigkeit und deren Rezeption führen zu den beiden Schiffbrüchigen und Insulanern, Pygmalion und Inkel und den hier erläuterten prosaischen Interpretationen des Schweizers. Denn Bodmers Beiträge zu den aufklärerischen Robinsonaden orientieren sich an der Allegorie des Marmorbildes bzw. der Prosopopöie der Statue.
4.4.7 Fazit Das Motiv des schiffbrüchigen Robinson, das in abgewandelter Form schon für Pygmalion Modell stand, verfolgt Bodmer in der Inkel und Yariko-Erzählung weiter. Zudem reiht er sich mit dieser zweiten Erzählung in die Tradition der fingierten Reiseliteratur respektive in den parodierten Reisebericht ein. Traditionsbildend stehen hierfür Jonathan Swifts Gulliver’s Travels (1726) sowie die kurz vorher und anonym veröffentlichten Lettres persanes (1721) Montesquieus. In der
772 Ebd., S. 182. 773 Ebd., S. 186.
Salonkultur und Kolonialismuskritik
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obligaten Schiffbruchgeschichte hatte sich schon der allein überlebende Gulliver auf eine Insel gerettet und wird nach einem wolligen Schlaf in eine Vielzahl raffiniert und nuanciert dargelegter Abenteuer, zuerst bei den Liliputanern bis hinzu den Riesen, verwickelt. Der globale Pluralismus der Kulturen bietet Möglichkeiten zum Positionswechsel sowie zu einer Distanzierung und Infragestellung des eigenen Standpunkts. Vor dem Hintergrund dieser klug ersonnenen Fremdkulturen bekommt das Gewohnte kritische Risse. Mittels Kontrastierung soll der Leser sensibiliersiert werden und über seine vertraute Umgebung stutzen. Swifts brillant inszenierte Zeitkritik stellt die Verhältnisse Englands vor der „Glorious Revolution“ im 17. Jahrhundert an den Pranger, gespiegelt am degnerierten Staatswesen der Liliputaner, das sich durch Parteienzwist sowie religiöse Streitereien kennzeichnet. Auf der vierten und letzten Reise gelangt Gulliver zu dem Inselvolk der Houyhnhnms, die sich durch Tugend und Aufrichtigkeit auszeichnen und die das Ideal des „edlen Wilden“ im „irdischen Paradies“ zu verkörpern scheinen, so dass die Schilderungen des Reisenden über seine Heimat barbarischen Charakter annehmen. Eine ähnliche Intention findet sich in Montesquieus Briefroman, der, ebenfalls mit dem Wechsel der Perspektive arbeitend, die fiktiven Perser Usbek und Rica über ihre Reise durch Europa, die sie von der Türkei über Italien nach Frankreich und insbesondere nach Paris führt, messerscharf über kulturelle, religiöse und politische Verhältnisse berichten lässt. Themen wie Religion, Priestertum, Polygamie oder Sklaverei werden hier im Ansatz bereits skizziert, die Montesquieu später in seinem Haupwerk den De L’Esprit des lois (1748) ausarbeiten sollte. Die hochaktuellen Fragen der Sklaverei werden hier in fast ironisch übertriebenen Ton im 15. und 16. Buch tangiert und als Luxus und Luxusentfaltung beschrieben und wie die Fragen der Polygamie kritisch reflektiert, die von den jeweiligen klimatischen, religiösen und politischen Bedingungen abhängen. Demnach begünstige ein warmes Klima das Halten von mehreren Frauen wie von Sklaven. Diese naturgegebene Ungleichheit der beiden Geschlechter und der damit einhergehende Abhängigkeit bzw. Knechtschaft der Frau von dem von der Natur bevorzugten Mann wird mit dem heissen Klima und den davon bedingten geringen Unterhaltskosten für mehrere Frauen oder Sklaven begründet. Montesquieus kurze amalgamisierende Problematisierung der Sklaverei geht mit der Thematisierung der Geschlechterdifferenz und den Konditionen der Frau bzw. deren Abhängigkeitsverhältnis zum Mann einher, wie dies in Bodmers Perspektivierung seiner Inkel und Yariko-Dichtung im epischen Hexameter offenbar wird, die unmissverständlich auf Gellert und Steeles Versionen reagiert. Beklagt Urs Bitterli die kaum befriedigenden Problematisierungen der Kolonialpolitik an der „literarischen Heimatfront“, die Swifts Utopie oder Defoes
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Robinsonade „ins Utopische oder Phantastische“774 abdrängte, so versucht Bodmer in seiner Inkel und Yariko-Dichtung eine realistische Herangehensweise in der Klage der schwangeren Sklavin, die in doppelter Abhängigkeit vom ehemals Geliebten und wirtschaftlich überlegenen Europäer das Wort erhebt. In dieser Kulturbegegnung findet die Form der altattischen Parabase bei der Mahnung an die Verantwortung eine originelle Verwendung, die bekannt aus dem dramatischen Ressort, hier in einer Erzählung innovative Akzente setzt. Obschon Bodmers Erzähler Inkel beim letzten Aufeinandertreffen Yariko mit einer Statue vergleicht – „Von dem Kauf in der Seele verwundt steht Yariko vor ihm / Einem Marmorbild gleich; nur rollten die finsteren Augen / Ungewiss hin und her, ybersahn ihn vom Haupte zun Fyssen / Schweigend.“ –, ist hier keine Antikisierung in der Beschreibung der „edlen Wilden“ wie in anderen Reisebeschreibungen, bspw. bei Humboldt oder Bougainville, erkennbar. Vielmehr wird hier mit einer Spiegelung und Umkehrung menschlicher Verhaltensweisen gearbeitet: Der schiffbrüchige Inkel wurde bereits in den ersten Verszeilen auf der Flucht vor den Pfeilen der Wilden geschildert. Als er so emphatisch um sein Leben bangte, fand er Hilfe und Schutz bei der Eingeborenen Yariko. Während er ihr noch zu Beginn im Zustand der Not Liebesdienste im höfischen Stil anbietet und sich nicht nur als Liebhaber, sondern sogar als Sklave der Liebe präsentiert, so kehren sich die Machtverhältnisse zum Ende der Erzählung um, wenn der einst untergebene Liebhaber nun seine vormals Geliebte zum Verkauf feil hält. Vor dieser brutalen Trennung haben die Liebenden sämtliche Etappen der Liebe beschritten: Die Kommunikation begann über Gebärden, Blicke und Körper, bis sie die eigene Sprache der Liebe entdeckten. Dabei war die Frau diejenige, die jeweils die Initiative ergriff und den irrenden, um sein Leben fürchtenden Flüchtling Inkels in Sicherheit brachte. Auf dem englischen Schiff nach Barbados zählen weder Menschlichkeit noch Güte der Frau für den habgierigen Inkel, den einzig nur noch der Verkaufswert für Mutter und Kind auf dem Sklavenmarkt interessiert. Der in der Erzählung angelegte szenische Dialog entwickelte sich im abschließenden Monolog der Yariko zu einer Klage über eine von kolonialpolitischen Machenschaften bedrohte Humanität. Diese mündet in einem Appell für Verantwortung gegenüber dem eigenen Nachwuchs sowie der Achtung vor der schwangeren Frau. Yariko erinnert in einem Zirkelschluss an den anfangs von Inkel gesprochenen Liebescode der umgekehrten Knechtschaft: Wie er sich ihr einst, um sein Leben bangend, als Sklave anerbot, so wirft sie sich ihm schließlich als Sklavin der Liebe und um ihr Leben flehend zu Füßen. Yariko wurde
774 Urs Bitterli: Die ‚Wilden‘ und die ‚Zivilisierten‘. 2004, S. 410.
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später von dem sich erbarmenden Käufer wieder frei gelassen, wie eine Tochter behandelt und dann „nach etlichen Tagen“ zu Vater und Volk zurückgeführt. Jedoch ist Yarikos Liebe so groß, dass sie sich bis zuletzt wünscht, Inkels Sklavin zu sein. Dieses Ende wird von Salomon Gessner (1730–1788), Bodmers Schüler, als Inspirationsquelle aufgenommen. Gessner, dessen Idyllen775 mit seinen berühmten Illustrationen später mit Diderots Erzählungen zweisprachig erschienen sind, denkt sich die Fortsetzung von Bodmers Inkel-und-Yariko-Erzählung weiter. Er lässt Inkel auf einem Galeerenschiff büssen und voll Reue zu seiner Familie zurückkehren und seine Vaterpflichten annehmen, denn das Kind ist zwischenzeitlich zur Welt gekommen. Auf Diderots ausdifferenzierte Fortsetzung im Supplément au voyage de Bougainville (1772) weist bereits hellhörig und proleptisch Bodmer hin. Er skizziert seine Sozial- und Sittenkritik über die menschenunwürdigen Praktiken der von Machtwahn und materialistischer Moral korrumpierten Kolonialmächte in Form der politisch-didaktischen und metatextuellen Parabase in der kulturkritischen Klage der Yariko. Wie schon Elisa kann ebenso die Frauenfigur Yariko als Variation weiblicher Emanzipation gelesen werden, die sich in Bodmers Parodie von den aus Kunst und Literatur bekannten und herkömmlichen aufgedrückten Rollen zu befreien sucht. Zum einen wurde die Figuration der Kunstschöpfung in der Statuenbelebung Pygmalions als eine Prosopopöie dekonstruiert. Zum anderen lässt sich Yariko, vom Manne zur Sache degradiert, ihr Recht auf die eigene Stimme nicht nehmen, wenn sie ihre Anklage als Opfer der Sklaverei nicht nur gegenüber Inkel, sondern gegenüber der Menschheit, im Rollentausch mit der Leserschaft repräsentiert, und in Form der Aufhebung, Überschreitung oder Vollendung der Parodie – in Form der Parabase – apostrophiert. Die Mischung von Altem und Neuem wird gerade im Zeitalter der Aufklärer mit jener paradoxen Gattungsform der Toten- und Göttergespräche probiert, deren sich Bodmer ausführlich widmete, was im Folgenden behandelt wird.
4.5 Gespräche im Elysium oder am Acheron Wo, wenn nicht im Schattenreich des Hades am Acheron oder später im christlich gefärbten Elysium lässt es sich selbst noch im 18. Jahrhundert am besten streiten? An diesem transtemporalen und transkulturellen Schauplatz der Satire, an dem
775 Denis Diderot, Salomon Gessner: Contes moraux et nouvelles idylles. Lausanne 1773.
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sich die Toten noch ungestört und unter sich glaubten, werden seit den Νεκρικοί διάλογοι des Lukian brisante soziopolitische sowie literaturästhetische Themen von einem bunt durchmischten Figurenarsenal aus alter und neuer Zeit in der lebhaftesten Spottlust entfaltet. Das Zürcher Gelehrtenduo Johann Jakob Bodmer (1698–1783) und Johann Jakob Breitinger (1701–1776) respondierte auf die an Popularität gewinnende Gattung der Götter- und Totengespräche im Zeitalter der Kritik und ließ es sich nicht nehmen, selbst auch eigene Beispiele in ihrer Wochenschrift, den Discoursen der Mahlern (1721–1722) und dem späteren Mahler der Sitten (1746) unterzubringen, bevor dann zu Beginn der 1760er Jahre weitere Gespräche im Elysium und am Acheron aus Bodmers Feder fließen sollten, die hier mehrheitlich den gattungsbezogenen Gegenstand der Diskursanalyse bilden, basierend auf der von Arnd Beise 2010 herausgegebenen Gesamtausgabe.776 Das diskursive Textgenre des Toten- und Göttergesprächs in der Tradition des aus Syrien stammenden Lukian von Samosata (120–180) erlaubt in eklektizistischer Manier und nicht zuletzt mit den Mitteln der Satira menippea in den fiktiven Sehweisen der Vogelschau wie der Froschperspektive und je nach Standpunkt im Hades oder auf dem Olymp, konträre Gedankengänge miteinander zu verknüpfen. Die sich einander spiegelnden Perspektiven von den Höhen des Olymps oder den Tiefen der Unterwelt sind ironische Mythen, die sich weniger gegensätzlich, sondern vielmehr komplementär zueinander verhalten. Darüber hinaus wird aus beiden Orten eine paradoxe Umkehr der irdischen Verhältnisse versucht, als deren Korrektiv sie zu verstehen sind. Für ein satirisches Genre nicht weiter abwegig, ist jener Schauplatz des Infernos, der nicht erst seit Dantes Divina Commedia (1321) ein beliebter Ort für weltliche Satire ist. Ein Blickwinkel der Herabsetzung ist bereits die Wendung ins Hündische, der kynikos tropos, wie sie die Schule des Diogenes seit ihren Anfängen praktizierte, um die ehemaligen Helden der Welt in der Unterwelt nahezu nahtlos zu entehren. Wurden jene vorher vom wohlwollenden Applaus gefeiert, gebührt ihnen nun einzig das menippeische Gelächter bspw. des Kynikers Diogenes, der die Mächtigen und Heroen seit je zu verspotten wusste. Mit seiner Philosophenschelte stieß Menipp beim Göttervater Zeus schon in Lukians Höllenfahrt des Menippus auf offene Ohren, bis er schließlich von Hermes, der sich hier als Kyllenius ausgibt, an seinen eigenen Ohren gepackt und auf dem Töpfermarkt Athens unweit der Stoa wieder auf der Erde abgesetzt wurde.
776 Johann Jakob Bodmer: Gespräche im Elysium und am Acheron. Gesamtausgabe. Hg. von Arnd Beise. St. Ingbert 2010. Im Text wird mit der Sigle (BG) darauf verwiesen.
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Auffällig ist schon, wie Bernard le Bovier de Fontenelle (1657–1757) und der Erzbischof François de Salignac de La Mothe-Fénelon (1651–1715) die von Lukian begründete Gattung der Toten- und Göttergespräche entstaubten, um Gespräche über politische Moral und Literaturkritik zu führen. Das Kapitel soll aufzeigen, wie sich Bodmer in seinen Adaptionen der Totengespräche neben der bekannten englischen Quelle der Dialogues of the Dead (1760–1765) des britischen Staatsmanns und Historikers Baron George Lyttelton (1709–1779) und zudem von den Franzosen inspirieren ließ. Während Fontenelle in den Nouveaux dialogues des morts (1683) Persönlichkeiten unterschiedlicher Zeitalter aufeinander treffen ließ, so sind in Fénelons Dialogues des morts et fables, écrits composés pour l’éducation d’un prince (1692–1695), Lehrstücke für den Dauphin, den Duc de Bourgogne (1682–1712), noch mehrheitlich symmetrisch angeordnet. Die innovativen Fokussierungen auf Politik und Literatur nahm der Zürcher auf, um sie weiter für sein innovatives dialektisches Erziehungskonzept zu konzentrieren, wenn er seine Palimpseste, durch ein politisch-ethisches von Rousseau, Mably und Montaigne gefärbtes Gedankengut ergänzte. Dabei finden die rhetorischen Figuren der Katabasis und der Anabasis, womit die Höllen- und Himmelfahrten umschrieben werden, sowie jene der Antiklimax und der Kataskopie als weitere menippeische Merkmale in der Tradition Lukians in den Beispielen des Zürchers ihre signifikante Anwendung. Das Spiel der Gegensätze verknüpft in diesen Totendialogen über Literatur und Politik jeweils zwei reale Figuren, die sich über ihr historisches Ich unterhalten, so dass eigentlich vier Perspektiven aufeinandertreffen, was zu unerwarteten, hermetisch-paradoxen Überraschungseffekten und hermeneutischen Problemen führen kann. Sobald die öffentliche Person zudem den Platz für die private Sphäre frei gibt, eröffnet sich Spielraum für die Parodie. Bei Fénelon sind die Totengespräche mehrheitlich symmetrisch angeordnet; zudem ist jede Mesalliance verpönt, denn alle Gesprächspartner stammen jeweils aus den gleichen hieratischen Ständen. Anstatt diese Tradition zu verfolgen, werden vielmehr diese vorgegebenen hieratischen Ordnungen vom Zürcher gekonnt umgeworfen und deren Etiketten abgerissen, um unüberbrückbare Distanzen zwischen Menschen aus verschiedenen Zeitaltern oder Ständen aufzuheben. Der für die Aufklärung fruchtbare Gedanke, dass vor dem Tod alle Menschen gleich seien, ist allen Totengesprächen unterlegt. Zudem wird das Postulat der Gleichheit mit dem freien und zuweilen familiären Ton der Gespräche unterstrichen, die nicht zuletzt aktuelle Fragen der Zeitgenossen thematisieren. Die innovativen Fokussierungen der modernen Franzosen und Engländer auf Politik und Literatur werden von Bodmer aufgenommen und weiter gedacht. Bei der Analyse soll zudem gezeigt werden, wie der Zürcher die im 18. Jahrhundert äußerst beliebte Gattung der „fiction antique“ der Götter- und Toten-
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gespräche für sein innovatives dialektisches Erziehungskonzept einzusetzen wusste und welche diskursiven Strategien der Menippea, d. h. welche satirischparodistischen Verfahren hier benutzt werden. Die modernen Modellierungen der Gattung bei Fontenelle, Fénelon und Lyttelton haben eine parodistische Ausrichtung, wenn anstatt der antiken Größen plötzlich bekannte Zeitgenossen deren Plätze einnehmen und beginnen, sich nun wie die Toten zu äußern. Hier wird ferner gefragt, wie mit dem gattungsinhärenten Mittel der grotesken Komik der Katabasen und Kataskopien aus den literarischen „Katakomben“ bei den Zürcher Literaturkritikern verfahren wird, und ob diese Dialoge nicht doch weitaus mehr als nur Kontrafakturen sind, wie dies zuletzt noch Arnd Beise betonte. Daneben findet sich in dieser Gattung neben der Katabasis und der Anabasis auch die Verwendung der Antiklimax und der Kataskopie. Letztere meint individuelle Verhaltensweisen mit kritischem Impetus gegen Heroisierungen im Sinne Martials. Der griechische Himmel, mit Olymp oder Elysium metaphorisch umschrieben, wird mit einer Reise nach oben, der Anabasis, erreicht. Ebenso auffällig ist der Gebrauch der tragikomischen Metapher: die ihren Gegenstand scheinbar erhöht, um ihn dann wieder umso tiefer fallen zu lassen. Berühmtes Beispiel ist hierfür Senecas Apokolokyntosis oder Verkürbissung, eine mokierenden Herabsetzung des Claudius, einer der bissig-komischsten Texte der Antike. Als weiteres Mittel der Kontrastierung entspannen sich die Toten- und Göttergespräche zwischen Pathos und Bathos, d. h. zwischen mythischer Erhabenheit und realer Vulgarität, immer in den Tönen des sprachlichen Witzes schraffiert, der sich zuweilen bis zu satirisch-bissiger Schärfe zuspitzen kann. In welcher Tradition die Zürcher Exempla stehen, soll ein kurzer Abriss durch die Gattungsgeschichte der Toten- und Göttergespräche beleuchten.
4.5.1 Gattungsgeschichte der Toten- und Göttergespräche Die satirischen Toten- und Göttergespräche blicken auf eine lange Tradition zurück und erleben, nach den Bearbeitungen bspw. von Giordano Brunos Die Vertreibung der triumphierenden Bestie (1584) oder des Erasmus von Rotterdam Iulius exclusus e coelis (1517)777 in Renaissance und Humanismus, gerade im Zeitalter der Kritik eine regelrecht neue Blüte im französischen, englischen und deutschen Sprachraum.778 Ihre eloquentesten Vertreter findet die in ganz Europa 777 Dt.: Julius vor der verschlossenen Himmelstür. 778 Allg. Johann Egilsrud: Le Dialogue des morts dans les littératures française, allemande et anglaise. Paris 1934. Zur französischen Ausbreitung vgl. Stéphane Pujol: Le dialogue d’idées au dix-huitième siècle. Oxford: Voltaire Foundation 2005, S. 231–247. Zum Humanismus vgl. Nicola
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florierende Gattung bei Fénelon, Fontenelle, Montesquieu, Mably, Voltaire, Lord Lyttelton oder Wieland und Goethe.779 Nach dem Modell des syrischen Dichters Lukians von Samosata (um 120–180 v. Chr.) unterhalten sich berühmte Tote mit den Göttern in der Hölle oder im Himmel über allgemeine Fragen, umstrittene Werke und nicht zuletzt, satirisch motiviert, über Zeitgenossen. Beliebte Themen waren schon bei Lukian die materiellen Unterschiede: Arm und Reich sowie Luxus und Bescheidenheit wurden oft einander gegenübergestellt, dabei betrachtete der kynische Ironiker sämtliche irdische Güter als nichtig. Dass gerade das christlich konnotierte Elysium nun beginnt, sich mit allmöglichen illustren Gästen zu bevölkern, jener Ort, der gemeinhin den Helden und Göttern vorbehalten ist, gehört zur ironischen Intention der Gattung, die sich üblicherweise durch ein Mischprinzip des Figurenarsenals kennzeichnet: Demnach werden Figuren aus den unterschiedlichsten Epochen der Geschichte mit solchen aus den Mythen miteinander konfrontiert, was den Kontrast oder das Gemeinsame der Figuren hervorheben soll. Der kynische Witz der Gattung hat die Funktion, unrechtmäßige Helden, die glorreiche Titel usurpiert haben, sowie herrschsüchtig bis blutrünstige Tyrannen oder sogenannte Philosophen, die unfähig sind, ihre Theorien in der Praxis umzusetzen, zu demaskieren und der breiten Spottlust preiszugeben. Einmal tot und jeglicher Illusion beraubt, werfen diese Wesen einen luziden Blick auf das Schicksal der Menschen. Die Abschaffung sozialer Unterschiede, sowie jener von Hab und Gut zeugen von einer spirituellen Demokratie, deren kritisches Potential die Autoren der Toten- und Göttergespräche zu nutzen wussten. Gleichzeitig bietet der Verzicht auf persönlichen Ehrgeiz und jegliche Leidenschaften die Möglichkeit einer kompletten Revision der menschlichen Tugenden, um sämtliche Größen auf einige fundamentale Werte zu reduzieren, wodurch sich diese zu einem bemerkenswerten Instrument sozialer Moralsatire im 17. und 18. Jahrhundert etablieren konnte.780 Die paradoxe Gattungsform, in der tote und lebende Personen, wenn möglich noch aus diversen Zeitaltern, gemischt, auftreten, diente den Aufklärern v. a.
Graap: Fénelon: Dialogues des morts composés pour l’éducation d’un prince. Studien zu Fénelons Totengesprächen im Traditionszusammenhang. Hamburg 2001, S. 17–58; Werner von Koppenfels: Der Andere Blick oder Das Vermächtnis des Menippos. Paradoxe Perspektiven in der europäischen Literatur. München 2007, S. 83f., S. 86f., S. 91–94. 779 Vgl. Werner von Koppenfels: Der Andere Blick oder Das Vermächtnis des Menippos. Paradoxe Perspektiven in der europäischen Literatur. München 2007, S. 79. 780 Vgl. Johann Egilsrud: Le Dialogue des morts dans les littératures française, allemande et anglaise. Paris 1934, S. 17.
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dazu, Vorurteile aller Art zu bekämpfen. Die Adaptionen der Toten- und Göttergespräche versprachen einen brisanten Inhalt und verkauften sich in der Regel als philosophische, d. h. als klandestine Literatur, die neben religionskritischen Satiren sowie politischen Spottschriften oder Büchern pornographischen Inhalts meist unter der Hand und mit beachtlichem Absatz verkauft wurden, um den Buchhändlern somit ein Sondereinkommen zu bescheren. Stéphane Pujol differenziert die Gattungsbezeichnung hinsichtlich der Texte Montesquieus Sylla et Eucrate, Xantippe et Xénocrate oder Mablys Entretiens de Phocion sur le rapport de la morale avec la politique (1763), die andere formale Eigenschaften aufweisen, d. h. ohne satirische Intention auskommen und die Antike als literarische Erinnerung oder intellektuelle Phantasie verwenden und deshalb, wie es schon Roland Mortier erläuterte, zur „antiken Fiktion“ gehören, wenn nämlich Autoren sich damit amüsieren, sich die Antike als „gezinkte Fiktion“ auszumalen.781 So ist bspw. Diderot in seinem Rêve d’Alembert (1769–1830) vorgegangen, jenem Text, den er zuerst mit Le Rêve de Démocrite überschreiben wollte.782 Jedoch wurden die geplanten Plätze von Demokrit, Hippocrite und der intellektuellen Kurtisane Leucippe von d’Alembert, der „Bauch und Traumredner Diderots“783, mit dem Arzt Bordeu sowie mit Julie de Lespinasse, der Salonnière und Lebensgefährtin d’Alemberts, eingetauscht. Letztere fungiert hier weniger als Diotima,784 sondern entwickelt sich von der Rolle der Schülerin zur eigenen
781 Vgl. Stéphane Pujol: Le dialogue d’idées au dix-huitième siècle. Oxford: Voltaire Foundation 2005, S. 24–29; S. 232 f. Vgl. auch: Roland Mortier: Pour une poétique du dialogue. Essai de théorie d’un genre. In: Literary theory and criticism: Festschrift presented to René Wellek in honor of his eightieth birthday. Bern 1984, S. 457– S. 474, hier S. 460f. 782 Über dieses Projekt zur Antike vgl. Jean Varloot: Le projet „antique“ du Rêve de D’Alembert de Diderot. Beiträge zur romantischen Philologie. Berlin 1963, S. 49–63. 783 Birgit Wagner: Dialog, Wissen, Geschlecht. Von Platon zu Fontenelle und Diderot. In: Gabriele Vickermann-Ribémont und Dietmar Rieger (Hg.): Dialog und Dialogizität im Zeichen der Aufklärung. Tübingen 2003, S. 31–47, hier S. 47. 784 Bachofen geht schon im Vorwort zu seiner großen Studie: Das Mutterrecht (1861) neben Sappho und Theano auf Diotima ein: Socrates zu Diotima’s Füssen, dem begeisterten Fluge ihrer ganz mystischen Offenbarung nur mit Mühe folgend, ohne Scheu es bekennend, dass ihm des Weibes Lehre unentbehrlich sei: wo fände die Gynaikokratie einen erhabnern Ausdruck, wo die innere Verwandtschaft des pelasgisch-mütterlichen Mysteriums mit der weiblichen Natur ein schöneres Zeugniss, wo der ethische Grundzug der gynaikokratischen Gesittung, die Liebe, diese Weihe des Mutterthums, eine vollendetere lyrisch-weibliche Entwicklung? Die Bewunderung, mit welcher alle Zeiten dieses Bild umgeben haben, wird unendlich gesteigert, wenn wir in ihm nicht allein die schöne Schöpfung eines mächtigen Geistes, sondern zugleich den Anschluss an Ideen und Uebungen des kultlichen Lebens, wenn wir in ihm das Bild der weiblichen Hierophantie
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Stimme, der Diderot ebenfalls die subversivste Version der Geschlechterdifferenz in einem dreifachen Chiasmus in den Mund schiebt: Il me vient une idée bien folle. […] L’homme n’est peut-être que le monstre de la femme, ou la femme le monstre de l’homme!785
Die sokratische Rolle ist in dem komplex angelegten Triptychon der wechselnden Szenenfolgen unterlegt, die aus unterschiedlichen Figurenperspektiven und wechselnden Subjektpositionen jeweils kleine Erzählungen in dramatisierender Form inszenieren. Rudolf Behrens erkennt dabei eine Instabilität hinsichtlich der sokratischen Rolle, die von Teil zu Teil und von Figur zu Figur zu wechseln scheint, ähnlich wie die einzig in assoziativen Ketten lose verbundenen Gesprächsthemen, die in ihrer Diversität von der Empfindungsfähigkeit der Materie, über Genetik und Neurologie spekulieren und letztlich anthropologische Fragen über Identität, Geschlechterrollen und Einbildungskraft postulieren.786 Trotz des munter durchmischten Personenarsenals wird in den Totengesprächen am moralisch-sokratischen Unterton festgehalten, sei es bei David F. Faßmann (1685–1744), der in Leipzig die populäre Wochenschrift Gespräche in dem Reiche derer Todten von 1718–1739, d. h. rund 240 Entrevuës in 15 Bänden veröffentlichte, die von den Zürchern kritisiert wurden. Ungefähr zeitgleich zu Bodmers Totengesprächen entstanden 1763 Religiöse Gespräche der Toten des Historikers und Theologen aus St. Gallen, Jakob Wegelin (1721–1791). Kurz nachdem Gottsched seine etwas spröde gehaltene FontenelleÜbersetzung Auserlesene Schriften, nämlich von mehr als einer Welt, Gespräche der Todten, und die Historie der heydnischen Orakel 1771 publizierte, sollte sich auch Friedrich der Große wie üblich in französischer Sprache dem Genre widmen, man denke an den Dialogue des Morts, Socrate, le duc de Choiseul et le comte Struensee (1772). Daneben zeigt sich der königliche Freigeist mit deutlich blasphemischen Zügen in Anknüpfung an die lukianische Tradition des Hetären-Dialogs in einer Gegenüberstellung nach dem Prinzip der satirischen Reduktion, wenn er die äußerst einflussreiche Madame de Pompadour mit der Jungfrau Maria im Dia-
selbst erkennen.“ In: Johann Jakob Bachofen: Das Mutterrecht. Stuttgart 1861, XVII, Sp. 1. Vgl. zur Seherin Diotima und Sokrates § 146, S. 353–358. Zu Sappho vgl. § 142, S. 334–342. 785 Diderot: Le rêve de D’Alembert. In: Œuvres. 1994, Bd. II, S. 122–181. 786 Vgl. Rudolf Behrens: Dialogische Einbildungskraft. Zu einer auseinandergesetzten Theorie der Imagination in Diderots Rêve d’Alembert. In: Gabriele Vickermann-Ribémont, Dietmar Rieger (Hg.): Dialog und Dialogizität im Zeichen der Aufklärung. Tübingen 2003, S. 125–158.
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logue des morts entre Madame de Pompadour et la Vierge Marie (1773) aufeinandertreffen lässt.787 Goethes Farce Götter Helden und Wieland (1773–1774) verwendet die Gattung der Götter- und Totengespräche, die Wieland ins Deutsche übertragen hatte, satirisch und literaturkritisch, um sich über die Interpretation der Antike in Wielands Euripides-Adaptation der Tragödie Alceste (1773) zu mokieren.788 Die englische Nachahmung von Lukians Toten- und Göttergesprächen, Lord Lytteltons Dialogues of the Dead (1760, 41765), wurde von Gottsched ins Deutsche übertragen: Des Lord Litteltons Gespräche der Todten (1761). Diese war Bodmer bekannt ebenso wie Les Nouveaux Dialogues des Morts (1683) des Bernard le Bouvier Sieur de Fontenelles, der sich gerade mal 26-jährig, mit der Wiederbelebung dieser alten Gattung in den Querelles des Anciens et des Modernes789 gegen die Autoritäten seiner Zeit rüstete. „Nouveau“ hießen Fontenelles Dialoge, weil damit eine Erneuerung des Lukianschen Modells beabsichtigt war. In seinen Dialogen in drei Teilen: 1. Dialogues des Morts anciens, 2. Dialogues des Morts anciens et modernes und 3. Dialogues des Morts modernes treffen weder die Gesprächspartner der einzelnen Dialoge noch die Teilnehmer der „Assemblée“ zufällig aufeinander, vielmehr sind diese in einer bewussten auf Kontraste zielenden Absicht zusammengeführt, um sich über spezifische Themen auszutauschen. Abschließend wird, wiederum in einer Trias angelegt, eine Kritik der vorangehenden Totengespräche versucht: 1. Jugement de Pluton, 2. Lettre des Vivants aux Morts und 3. Requête des Morts desintéressés, die Jörn Steigerwald als eine Mise en abyme der vorangehenden Totengespräche Fontenelles, in der „esthétique galante“ verankert, charakterisiert.790 In dergestalt galanter Weise werden hier 787 Friedrich II. König von Preußen: Totengespräch zwischen Madame de Pompadour und der Jungfrau Maria. Hg., übers. und kommentiert von Gerhard Knoll. Berlin 2000. Vgl. dazu: Eva Kathrin Dade: Madame de Pompadour: Die Mätresse und die Diplomatie. Köln 2012, vgl. insbesondere das Kap. „Er kann der Favoritin bis zu 500.000 Taler für den Frieden bieten“: Madame de Pompadour und die Vertreter Brandenburg-Preußens (1745–1758), S. 126–154, hierzu S. 139. 788 Vgl. Goethe: Götter Helden und Wieland (1773). In: Franziska Herboth: Satiren des Sturm und Drang. Innenansichten des literarischen Feldes zwischen 1770 und 1780. Hannover 2002, S. 192– 210. 789 Die Querelle des Anciens et des Modernes stellt einzig nur den berühmtesten Disput der zahlreichen Auseinandersetzungen zwischen den Alten und den Modernen dar, die über ungefähr zwei Jahrhunderte hinweg sich abspielten. Siehe dazu besonders: La Querelle des Anciens et des Modernes. XVIIè–XVIIIè siècles. Édition établie et annotée par Anne-Marie Lecoq. Paris 2001. Darin vor allem den Essay von Marc Fumaroli: Les abeilles et les araignées, S. 7–218. Zu Fontenelle vgl. S. 178–218. 790 Vgl. Jörn Steigerwald: Galante Gespräche: Bernard de Fontenelles Dialogues des Morts. In: Gabriele Vickermann-Ribémont, Dietmar Rieger (Hg.): Dialog und Dialogizität im Zeichen der Aufklärung. Tübingen 2003, S. 13–30, hier S. 26.
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mehrheitlich moralische Fragen angeschnitten, deren Bandbreite von Fragen nach den Geschlechterrollen, über solche nach dem Liebesverständnis oder nach dem Vergleich von Ehrgeiz und Liebe reicht. Ferner gilt die Bezeichnung der „galante“ als Distinktionskriterium für die weiblichen Protagonisten in Plutos Totenreich, die auf pragmatischer Ebene gegenüber den „précieuses“ oder „coquettes“ agiert. Zudem wird mit den Lesererwartungen auf pikante Art und Weise gespielt, wenn Charaktereigenschaften gekonnt vertauscht werden: oder wenn bspw. eine redegewandte und durch Argumentation überzeugende Marguerite d’Écosse im Dialog den hier der galanten Konversation verpflichteten Platon um Längen übertrifft. Im Jugement de Pluton wird dem noch eins draufgesetzt, wenn Arquéanasse de Colophon Platon eine allgemeine Überschätzung seiner Werke vorwirft. Ein Vorwurf, der sich erst zum ironischen Ende in den Schlussthesen auflöst, wenn gesagt wird: „Que Platon ne serait point galant, mais seulement philosophe.“791 Auffällig ist schon bei Fontenelle, dass er die alte Gattung der Toten- und Göttergespräche entstaubte, um Gespräche über politische Moral und Literaturkritik zu führen. In Fontenelles Schattenreich wird viel gelacht: In seiner Replik auf die Reaktionen, die seine Totengespräche ausgelöst haben, lachen die Toten mit Lukian: „Tous les Morts se mirent à rire. Lucien rit aussi, mais ce n’éstait point de bonne grâce.“792 Ferner tritt in diesem Totenreich Menipp auf: Cerbere dit à Menippe qu’il a veu descendre Socrate aux Enfers, fort chagrin, regretant sa Famille, & pleurant comme un Enfant, & qu’il ne se souvient point que personne ait fait une belle entrée en ce lieu-là, horsmis ce Menippe à qui il parle, & moy.793
Sokrates wird hier von Montaigne als Hebamme, in Anspielung auf die Technik der Mäieutik, bezeichnet und von Pluto in seinem Reich entdeckt: On me fait accoucher dans les Nouveaux Dialogues, mais on me fait accoucher avec tant de facilité que j’en ai honte. On n’a point du tout ménagé mon honneur. Souvenez-vous que Socrate cette Sage-Femme avec qui l’on m’a mis, me veut prouver que les Anciens ne valoient pas mieux que les Hommes d’aprésent.794
Diese innovativen Fokussierungen auf Politik und Literatur werden von Bodmer aufgenommen. Aber auch Lord Byron verfasste bereits in Anlehnung an Fontenelles Jugement de Pluton und an die Beispiele englischer Menippeen wie Jonathan
791 Fontenelle: A Pluton. Requête des morts désintéressés. Amsterdam 1684, § XI, S. 189, S. 111. 792 Fontenelle: Jugement de Pluton sur les deux parties des Nouveaux Dialogues des morts par Fontenelle. Amsterdam 1684, S. 9. 793 Ebd., S. 28. 794 Ebd., S. 54.
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Swifts Tale of a Tub (1704) und Henry Fieldings A Journey from This World to the Next (1749), eine satirische Verserzählung Vision of Judgement (1821). Diese geht mit dem stockkonservativen englischen König Georg III. nach dessen Ableben 1820 sowie dessen Hofdichter Robert Southey stark ins Gericht und lässt diesen in der Parodie des Höllensturzes in einen heimatlichen See plumpsen, nachdem dieser Engel und Teufel mit seinen langatmigen Deklamationen zur Genüge gelangweilt hatte.795 Eine moderne Verwendung von Katabasis und Anabasis findet sich dann wieder in der fulminanten Parodie der antiken Götterwelt in der Höllenfahrt und dem finalen Aufstieg zum Olymp in Jacques Offenbachs Operette Orphée aux enfers (1858). Der Krise des europäischen Bewusstseins, die sich zum Ende des 17. Jahrhunderts abzuzeichnen begann, ist vorab ein völliger Zerfall ethischer und heroischer Normen vorausgegangen. In der französischen Literatur fand eine Kritik einer zu exzessiven Idealisierung von Romanhelden statt, was Boileau bspw. noch in seinen parodistisch angelegten Dialogues des héros de roman (1666) anprangerte. Schon hier lesen sich Abwertungen der klassischen Helden ab, die mit einer Geringschätzung der Etikettierungen „große Männer“ einhergehen. Pujol vermutet, dass diese historischen Arbeiten der Kritik zur Neubewertung von Heldenfiguren beigetragen haben, die, nunmehr als komische oder tragische Marionetten und einem blinden Schicksal überlassen, wahrgenommen werden. Die ersten Totengespräche sind konstitutiv für die berühmte Querelle, die mit Perraults Gedicht Le Siècle de Louis le Grand von 1687 einsetzte. Ebenso schmälert Fontenelle den Kult der Alten im Dialogue d’Esope et d’Homère, in der weiteren Ausgabe seiner Totengespräche Nouveaux Dialogues des Morts enthalten.796 Im Zeitalter der Aufklärung erleben die Toten- und Göttergespräche durch Fontenelle ihre Renaissance. Fontenelles Nouvelles dialogues des morts von 1683 eröffneten zum Ende der französischen Klassik eine neue Blüte dieser Menippeen. Der programmatische Charakter Fontenelles steckte in der kühnen Revolution der Gattung: Nicht nur entrümpelte er das antike Personenmaterial, die antiken Götter und Helden wurden mehrheitlich durch ein historisches Figurenarsenal ersetzt und mit fortschrittlichen moralischen Reflexionen ausgestattet. Dessen Totengespräche verstanden sich in erster Line als politische Kritiken, die sich an die Adresse des Sonnenkönigs, le roi soleil bzw. Louis le Grand richteten. Diesen
795 Zur eingehenden Textanalyse vgl. Koppenfels: Der Andere Blick oder Das Vermächtnis des Menippos. 2007, S. 84–87. 796 Pujol: Le dialogue d’idées au dix-huitième siècle. 2005, S. 233.
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Louis XIV spiegelte er schon zu Beginn im 1. Dialog in Alexander dem Großen, den er programmatisch durch eine Dame belehren ließ. Ferner gibt Fontenelle nicht nur den Frauen vermehrt eine Stimme – und baut somit die Reihe der Hetären-Gespräche Lukians weiter aus – auch werden literarische Fragen privilegiert. Stellenweise lesen sich Fontenelles Totengespräche, in denen die Modernen gegenüber den Verfechtern der klassischen Antike Vorreiterrollen erhalten, als literarische zuweilen philosophische Gespräche, ohne die genretypische VanitasSymbolik zu überstrapazieren oder auf eindeutige moralische Entscheidungen abzuzielen. Damit wird Lukian in die aufgeklärte Welt des 18. Jahrhunderts, d. h. in die literarische und philosophische Salonkultur überführt, die gerade der weiblichen Perspektive eine neue dominante Rolle zugestand.797 Wahrscheinlich eignete sich diese Gattung, die noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts den kultivierten Lesern vorbehalten blieb, auch darauf in den vorrevolutionären Zeiten, weil hier Faktoren von Zeit und Herrschaftsstrukturen ausgespart blieben und sich die Idee der Gleichheit der Menschen als durchschlagendes Argument nach und nach behaupten konnte. Darauf nutzte nach Boileau, Vauvenargues und Voltaire schon Fénelon, „le moraliste de toutes les classes et de tous les temps“,798 die Gattung in seinen Dialogues des morts composés pour l’éducation d’un prince (1692–1695), nicht ohne vom Leser eine erhebliche Anstrengung literarischer Rekonstruktion bei der Zuordnung der Vielzahl antiker Figuren und Referenzen zu verlangen. Gleichsam sind Fénelons vierundsiebzig Dialoge an der Emblematik orientiert, da jeder nach dem Titel mit einer kleinen Inhaltsangabe überschrieben ist, worauf der oftmals kurze Dialog folgt. Hier wird die königliche Umgebung des Prinzen durch ein Arsenal mythologischer Götter ausstaffiert. Das Pantheon, in welchem, angeführt von einem königlichen Apoll, ebenso Jupiter, Mars, Herkules auftreten, spiegelt nichts anderes als das königliche Versailles. Es scheint ferner kaum fragwürdig, dass in solch aufgeklärten, philosophischen Zeiten, die alten Götter selbst noch in modernen Adaptationen des Genres Gehör finden, weil sie nicht aufhören, sich über die Aktualität zu äußern. So hören die Toten Fénelons nicht auf, den jungen Prinzen an das Gewicht seiner historischen Verantwortung zu erinnern, wenn sie für diesen die Weichen der politischen Moral einstellen. Nicht nur werden die Torheiten der Menschen denunziert, auch werden Modelle des Verhaltens vorgeschlagen, die sich vorteilhaft auf eine vernünftige Monarchie auswirken. Die Dialoge, die er für seinen königlichen Schüler entwirft, sind von Weisheit und Vernunft geprägt, weit von
797 Vgl. Koppenfels: Der Andere Blick oder Das Vermächtnis des Menippos. 2007, S. 78f. 798 Fénelon: Dialogues des morts. Paris 1844, S. 4 (Introduction).
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jeglichem, für das Genre charakteristischen, satirischen Einschlag entfernt. Den Lehrbüchen ad usum delphini entsprechend, hat dieses Werk einen deutlich pädagogischen Impetus. Schon hier dominiert die Idee, der Landesfürst sei für das Wohl seines Volkes verantwortlich und denselben Gesetzen unterworfen, was später von Rousseau in seinen theoretischen Schriften zum Credo erhoben wird. Fénelon entwirft das ideale Porträt eines aufgeklärten Monarchen, wobei sich die karnevaleske Gegenüberstellung des Weisen und des Toren, hier seiner spielerischen Intention enthoben, zum Motiv exemplarischer Lehre modelliert. Der Wahnsinn wird den Menschen hier nicht in sui generis angedichtet, sondern den Landesherrschern: „Tel serait sage dans une condition médiocre, qui devient fou quand il est le maître du monde“,799 sagt einmal Nero zu Caligula. Es kann jedoch nicht zur Genüge festgehalten werden, dass die Macht den Kopf verdreht, wie es das historische Beispiel Neros sowie Caligulas vorführte. Vielmehr muss der Wahnsinn in der Politik und deren möglichen desaströsen Folgen von vornherein mitbedacht werden. Um den denkbar möglichen Perversionen der politischen Tyrannis nötigenfalls Einhalt zu gebieten, soll bestenfalls ein Philosoph als Gesetzgeber fungieren. Die Idee der Gewaltenteilung wird später von Montesquieu im Esprit des lois (1748) systematisiert. Über die Rolle des Intellektuellen im Stadtstaat und die Frage, ob dieser sich aktiv einmischen oder lieber in seine Studien vertiefen sollte, sowie über das diffizile Verhältnis zwischen dem Landesfürsten und dem Philosophen wird in d’Alemberts Totengespräch laut nachgedacht. Anlässlich des Besuchs des Königs von Schweden in der Académie française vom 7. März 1771 verfasste d’Alembert als dessen langjähriges Mitglied seinen Dialogue au Champs-Elysées entre Descartes et Christine, reine de Suède, den er dem König und dessen Bruder Frédéric Adolphe vortrug.800 In der Rolle Descartes’ lieferte sich d’Alembert unter der Hand Wortgefechte mit der Königin von Spanien. Dank der Fiktion des Dialogs konnte er sich jene ideale Szene ausdenken, in welcher der Philosoph die Rolle des Sokrates übernimmt und Fragen nach der Legitimität der Macht und der Gesetze aufwirft. Während Christine den Philosophen zu seiner aktiven Rolle in der Gesellschaft im Chiasmus antreibt: „Tôt ou tard les hommes qui pensent et qui écrivent gouvernent l’opinion; et l’opinion, comme vous le savez, gouverne le monde“801, kritisiert d’Alembert vorab den kartesianischen Solipsismus als Auswirkung von dessen Metaphysik: 799 Fénelon: Dialogues des morts (1692–96). 800 Vgl. Grimms Bericht in der Correspondance Littéraire vom 15. April 1771. 801 D’Alembert: Dialogues aux Champs-Elysées entre Descartes et Christine, reine de Suède. In: Œuvres complètes. Paris 1822, Bd. IV, S. 474.
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[…] un sage comme vous aurait pu être beaucoup plus utile au monde. Au lieu d’être enfermé dans votre poêle au fond de la Nord Hollande, occupé de géométrie, de physique, et quelquefois, soit dit entre nous, d’une métaphysique assez creuse, vous auriez bien mieux fait d’aller dans les armées et dans les cours, et d’y persuader les hommes d’y vivre en paix.802
Schon Fontenelle ist ein Parteigänger des Fortschritts, ein Vorsatz, dem Fénelon und d’Alembert nicht widersprechen, die ebenso auf eine Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen im Zeichen der Frühaufklärung vertrauen. Während in der französischen Klassik Descartes’ Philosophie als sensus communis vorherrschte, fochten die Aufklärer mehr und mehr für eine Philosophie des Paradoxons, wie sie bspw. vom Abbé André Morellet und in dessen Theorie du paradoxe (1755) vertreten wurde. Auch der Artikel „Paradoxe“ aus der Encyclopédie beschreibt es als eine kaum glaubwürdige Hypothese, welche sich aber bewahrheitet: „Le système de Copernic est un paradox au sentiment du peuple, et tous les savants conviennent de sa vérité“,803 ein Beispiel das schon in Bayles Dictionnaire philosophique Erwähnung fand. Laut Morellet sei das Paradox über Personen essentiell für das Verständnis der Totengespräche, da die Figuren der Alten oder Modernen unterschiedliche Ideen vertreten können. Zudem verfügen vergangene Größen über kleinere Macken und selbst die schlimmsten Verbrecher weisen manchmal doch humane Züge auf, was in den Dialogen Komik erzeugt.804 Schon Fontenelle spielte mit paradox anmutenden Indizien, die auf die Kehrseiten der Geschichte und vielleicht, wie Pujol vermutet, ebenso auf die Rückseiten der Philosophie verweisen: „Derrière l’enveloppe du grand homme, du roi, du philosophe, il y a l’homme.“805 Und wie hier angedeutet, sobald die öffentliche Person den Platz frei gibt für die private Sphäre, eröffnet sich Spielraum für die Parodie. Bei Fénelon sind die Totengespräche mehrheitlich symmetrisch angeordnet; zudem ist jede Mesalliance verpönt, den alle Gesprächspartner stammen jeweils aus den gleichen hieratischen Ständen: So diskutiert ein König mit einem König (Caligula et Néron, Pompée et César), ein Philosoph mit einem Philosophen (Platon et Aristote, Confucius et Socrate), ein Redner mit einem Redner (Caton et Ciceron, Cicéron et Démosthène) und schließlich bleiben auch die Helden unter sich (Ulysse et Achille, Hercule et Thésée).
802 Ebd., S. 469. 803 Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, par une société de gens de lettres. Mis en ordre et publié par Denis Diderot, et, quand à la partie mathématique, par Jean Le Rond d’Alembert. Paris 1751–1777, Berne 1778–1793, Bd. XXIV, S. 24. 804 Abbé André Morellet: Théorie du paradoxe. Amsterdam 1775, S. 13f. 805 Pujol: Le dialogue d’idées au dix-huitième siècle. 2005, S. 243.
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Daneben ist die Konstellation von Herrscher und oftmals dem ehemaligen Hauslehrer auffällig, wenn Alexander und Aristoteles, Alexander und Diogenes, Platon und Denys der Tyrann oder Cesar und Cato aufeinandertreffen. Großes Thema ist in diesen Gesprächen immer wieder die Kriminalität der Mächtigen und die moralische Vertretbarkeit ihrer politischen Handlungen, die in den oft pädagogisch-didaktisch intendierten Texten starker Kritik unterworfen sind und schon von Boileau in der Satire VIII thematisiert wurde.806 Ein Thema, das von vielen Aufklärern aufgenommen wurde, um für einen aufgeklärten Despotismus zu werben. In Fénelons Dialogbeispiel Alexanders und dessen Lehrers Aristoteles reflektiert der ehrgeizige Kronzeuge selbstkritisch über seine Eroberungen und wundert sich darüber, dass er die Lehren seines Lehrers aus der Jugend im Erwachsenenalter offensichtlich vergessen hatte: Cette conquête m’est moins glorieuse qu’il ne m’est honteux d’avoir succombé à mes prospérités, et d’avoir oublié la condition humaine. Mais, dis-moi donc, d’où vient-il qu’on est sage dans l’enfance, et si peu raisonnable quand il serait temps de l’être?807
Die Frage, ob es sich bei diesem Herrscher um einen wirklich glorreichen Helden und nicht einfach einen plündernden Mörder handelt, wird hier implizit gestellt und später in Mandevilles Fable of the Bees (1714) oder Fieldings A Dialogue between Alexander the Great and Diogene the cynic (1743) wiederholt.808 Aber das 18. Jahrhundert wird die Frage des despotischen Herrschers weiter ausbauen, Alexander sogar mit dem epochemachenden Räubern Cartouche oder Mandrin in Verbindung bringen und den Vergleich zwischen kriegslustigen Herrschern und einfachen Räubern ganz direkt ziehen. Denn im Zuge des großen Bankrotts 1720 des schottischen Law-Systems, einem Vorgänger des Bankwesens, das erstmals Papiergeld auch in Frankreich einführte, stellte man sich vermehrt Fragen über Korruption und Korruptheit der Herrschenden wie bspw. in den Entretiens des Ombres aux Champs-Elysées von Valentin Jungermann, das Pseudonym von Antoine-Augustin Bruzen de La Martinière. Von den wirtschaftlichen Gütern sollte eine Gesellschaft profitieren und nicht verantwortlich für deren Untergang sein. Im Dialog zwischen Cartouche und dem Justizminister und scharfen Kritiker des Law-Systems Marc-René d’Argenson werden die politischen Systeme unterschieden, wo ersterer mit Alexander einem verfehlten Vergleich unterzogen wird, worauf sich Alexander nach dem Vorbild Coriolans als Reformator zu versuchen
806 Boileau: Les satires. Epîtres, Art poétique. Paris 1985, S. 97–105. 807 Fénelon: Dialogues des morts anciens ou modernes. 1844, S. 204. 808 Mandeville: La fable des abeilles. 61750, S. 26; Fielding: Miscellanies. London 1743.
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hofft. Dieser Vorschlag wird mit einer politischen Begründung abgelehnt, die sich als ironische Bilanz der eigenen politischen Karriere verstehen lässt: Il vivait dans une République où ses charges le mettaient en droit de donner ses avis pour le bien du public. Tu n’aurais eu rien de tout cela à alléguer. Tu vivais dans une Monarchie où tes semblables n’ont aucun droit de donner des avis, encore moins de faire des demandes.809
Das Spiel der Gegensätze verknüpft in den Dialogen jeweils zwei reale Figuren, die sich über ihr historisches Ich unterhalten, was zu unerwarteten Überraschungseffekten führen kann. Fontenelle dagegen spielt mit den Konfrontationen ganz unterschiedlicher Kulturen und Zeiten, wenn sich bspw. Sappho mit Laura über Taktiken in der Liebe unterhält (II,2), sich Scarron mit Seneca über stoizistisches Gedankengut und seine burleske Aeneis-Parodie Le Virgile Travesty en vers burlesques (1668) austauscht (II,7), Marguerite d’Écosse mit Platon über geistreiche Wortspiele der Galanterie philosophiert (II, 10) oder Molière mit Paracelsus über Naturphilosophie und das Lachen in den Komödien über menschliche Sottisen spricht (III,8). Dergestalt werden hieratische Ordnungen umgeworfen, Etiketten abgerissen und unüberbrückbare Distanzen zwischen Menschen aus verschiedenen Zeitaltern oder Ständen aufgehoben. Schließlich ist der Gedanke, dass vor dem Tod alle Menschen gleich seien, allen Totengesprächen unterlegt. Zudem wird dieses Postulat der Gleichheit mit dem freien und familiären Ton der Gespräche unterstrichen, die nicht zuletzt immer aktuelle Fragen der Zeitgenossen tangieren. Die Gedanken über moralisches Verhalten und politische Verantwortung tauchen darauf wieder beim Zürcher auf. Bodmer kannte Fénelons Télémaque, über dessen einflussreiche Lektüre er sich in seinen Tagebüchern ausließ.810 Der Vielleser Bodmer kannte zudem Fénelons zweite Erziehungsschrift in Form der Totengespräche, die zu seiner Bibliothek gehörte.811 In seinen Gespräche[n] im Elysium und am Acheron (1763) ließ er römische und griechische Politiker, Dichter und Philosophen miteinander streiten. Beachtenswert ist wiederum die erneute Reverenz vor großen französischen Vorbildern, diesmal vor Montaigne, der im 10. Gespräch mit Cicero über republikanisches
809 Vgl. Histoires curieuses et véritables de Cartouche et de Mandrin. Hg. von H.-J. Lüsebrink. Paris 1984. Entretiens des ombres aux Champs-Elysées sur divers sujets d’histoire, de politique et de morale, traduit de l’allemand par M. Valentin Jungermann. 2. Bd. Amsterdam 1723, S. 69. 810 Nachweis: Persönliche Anekdoten. Zudem schrieb Bodmer eine kurze Nachdichtung zu Fénelons Erziehungsroman. Bodmer: Telemach. o.O. 1777. 811 Fénelon: Dialogues des morts et fables, écrits composés pour l’éducation d’un prince (1692– 95). Paris.
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Gedankengut diskutiert und schon bei Fontenelle in dessen Dialogues des morts anciens et modernes (1712) im dritten Dialog neben Sokrates seinen Auftritt hatte. Hierbei wird die sokratische Gesprächskunst metaphorisch mit der Maieutik, der Metapher der Hebammenkunst umschrieben, exemplarisch vorgeführt, wenn über die Verhältnisse der Alten und Neuen reflektiert und Fontenelles epochale These über die Menschenalter der Welt hier von Sokrates wiederholt wird. Montaigne beklagt sich über sein neues Zeitalter und Sokrates ist erbost, dass man weder aus den Dummheiten der Antike gelernt, noch von den jahrlangen Erfahrungen profitiert habe: S o c r a t e : Mais quoi! Ne fait-on point d’expérience? Je croirais que le monde devrait avoir une viellesse plus sage et plus réglée que n’a été sa jeunesse. M o n t a i g n e : Les hommes de tous les siècles ont les mêmes penchants, sur lesquels la raison n’a aucun pouvoir. Ainsi, partout où il a des hommes, il y a des sottises, et les mêmes sottises. S o c r a t e : Et sur ce pied-là, comment voudriez-vous que les siècles de l’antiquité eussent mieux valu que le siècle d’aujourd’hui? M o n t a i g n e : Ah! Socrate, je savais bien que vous aviez une manière particulière de raisonner, et d’envelopper si adroitement ceux à qui vous aviez affaire dans des arguments dont ils ne prévoyaient pas la conclusion, que vous les ameniez où il vous plaisait; et c’est ce que vous appeliez être la sage-femme de leurs pensées, et les faire accoucher. J’avoue que me voilà accouché d’une proposition toute contraire à celle que j’avançais: cependant je ne saurais encore me rendre. Il est sûr qu’il ne se trouve plus de ces âmes vigoureuses et raides de l’antiquité des Aristides, des Phocion, des Périclès, ni enfin des Socrate.812
Nach der Vorführung der sokratischen Argumentationstechnik, welche n.a. auch zum rhetorischen Werkzeug des Zürchers gehört, schiebt Fontenelle seine Haltung als Moderne ein, die hier interessanterweise Sokrates in den Mund gelegt wird. Nachdem Montaigne davon ausgeht, das die Menschheit degeneriert und die Natur einzig einst in alten Zeiten einige „échantillons de grands hommes“813 erschaffen hatte, kritisiert Sokrates jenes Bild der Antike, laut welchem angeblich so vieles besser gewesen sein soll: S o c r a t e : Prenez garde à une chose. L’antiquité est un objet d’une espèce particulière; l’éloignement le grossit. Si vous eussiez connu Aristide, Phocion, Périclès et moi, puisque vous voulez me mettre de ce nombre, vous eussiez trouvé dans votre siècle des gens qui nous ressemblaient. Ce qui fait d’ordinaire qu’on est si prévenu pour l’antiquité, c’est qu’on a du chagrin contre son siècle, et l’antiquité en profite. On met les anciens bien haut pour abaisser ses contemporains. Quand nous vivions, nous estimions nos ancêtres plus que
812 Ebd., S. 39. 813 Fontenelle: Dialogues des Morts anciens avec des Modernes. Paris 1914, S. 40.
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nous ne méritons; mais, et nos ancêtres, et nous, et notre postérité, tout cela est bien égal; et je crois que le spectacle du monde serait bien ennuyeux pour qui le regarderait d’un certain oeil, car c’est toujours la même chose.814
Die sokratische Warnung vor einer Heroisierung und Idealisierung der Antike beschreibt ein gängiges Verhalten der Kritik. In der Regel wird mit den geistigen Ergüssen und veritablen Handlungen strenger ins Gericht gegangen, welche vor den großen Vorbildern der Alten generell den Kürzeren ziehen. Darauf spricht Montaigne von einem Wechsel der Zeitalter, die einem Mechanismus der Bewegung (mouvement) unterliegen, während Sokrates schließlich von einer unmerkbaren Ungleichheit trotz der eher konstanten Ordnung der Natur ausgeht: M o n t a i g n e : J’aurais cru que tout était en mouvement, que tout changeait, et que les siècles différents avaient leurs différents cractères, comme les hommes. En effet, ne voit-on pas des siècles savants, et d’autres qui sont ignorants? N’en voit-on pas de naïfs, et d’autres qui sont plus raffinés? N’en voit-on pas de sérieux, et de badins? de polis et de grossiers? S o c r a t e : Il est vrai. M o n t a i g n e : Et pourquoi donc n’y aurait-il pas des siècles plus vertueux, d’autres plus méchants? S o c r a t e : Ce n’est pas une conséquence. Les habits changent; mais ce n’est pas à dire que la figure des corps change aussi. La politesse ou la grossièreté, la science ou l’ignorance, le plus ou le moins d’une certaine naïveté, le génie sérieux ou badin, ce ne sont que les dehors de l’homme, et tout cela change; mais le cœur ne change point et tout l’homme est dans le cœur. On est ignorant dans un siècle, mais la mode d’être savant peut venir: on est intéressé, mais la mode d’être désintéressé ne viendra point. Sur ce nombre prodigieux d’hommes assez déraisonnables qui naissent en cent ans, la nature en a peut-être deux ou trois douzaines de raisonnables, qu’il faut qu’elle répande par toute la terre; et vous jugez bien qu’ils ne se trouvent jamais nulle part en assez grande quantité pour y faire une mode de vertu et de droiture. M o n t a i g n e : Cette distribution d’hommes raisonnables se fait-elle également? Il pourrait bien y avoir des siècles mieux partagés les uns que les autres. S o c r a t e : Tout au plus il y aurait quelque inégalité imperceptible. L’ordre général de la nature a l’air bien constant.815
Fontenelle entwickelt darauf in seinen überaus zeitkritischen Dialogen ein Geschichtsverständnis, auf der Rolle des Zufalls insistierend, was einer Ideologie der Vorsehung, wie sie noch von Bossuet vertreten wurde, entgegenläuft. Mit der historischen Kontingenz bspw. im Dialogue d’Erasme et de Charles V spielend, wird jegliche Teleologie ironisch untergraben. Diese dem Schmetterlingseffekt oder der Chaostheorie ähnelnde Überzeugung, wonach eine kleine Ursache große Auswir-
814 Ebd., S. 40f. 815 Fontenelle: Dialogues des Morts anciens avec des Modernes. Paris 1914, S. 40f.
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kungen bewirken könne, postuliert Fontenelle ebenso in anderen Texten.816 Blaise Pascal (1623–1662) formulierte eine ähnliche Theorie, der andere Autoren der Totengespräche wie bspw. der Brite George Lord Lyttelton (1709–1773) in seinen Dialogues of the Dead (1760) beistimmten, die dann wiederum wegweisend für jene des Zürchers wurden. In den oft dialektisch angelegten Texten, die sich zwischen den Parametern der Vernunft und der Leidenschaften entfalten, wird zudem oftmals ein Gegenkurs zum zeitgenössisch rationalistischen Optimismus angesteuert. Nach Fontenelle sind die Leidenschaften das notwendige Übel und Movens für den Lauf der Geschichte: „les passions sont chez les hommes comme les vents qui sont nécessaires pour tout mettre en mouvement, quoy qu’ils causent souvent des orages.“817 Inhaltlich findet sich hier eine für die französischen Moralisten typische Lektion, hingegen liegt der entscheidende Unterschied in der neuen Tonlage. Demnach rehabilitieren sich die Leidenschaften, bis Vernunft und Leidenschaften aufhören, sich zu bekriegen und sich ihre gegenseitige Ergänzung zugestehen. Fénelon wird nach Fontenelles postuliertem Skeptizismus wieder forciert an einer in der Vernunft fundierten Moral festhalten. Das zynische Lachen, bekannt aus der Komödie, sowie die Respektlosigkeit gegenüber Autoritäten, der sich schon Lukians Götter- und Totengespräche bedienten, war vor allem der Kirche ein Dorn im Auge. Lukian galt lange Zeit als christenfeindlich.818 Ein Umstand, dem bspw. Fénelon entgegenzuwirken suchte, indem er seinen Gesprächen eine mehrheitlich moralische Ausrichtung gab und sogar im Dialog zwischen Herodot und Lukian soweit ging, das satirische Lachen des zweiten gegenüber der seriösen und pädagogischen Ausrichtung des ersten lautstark zu verurteilen.819 Ausgehend vom alten Griechenland bis zu den Niederlanden des Erasmus von Rotterdam lässt Voltaire in seinem philosophischen Dialog Lucien, Erasme et Rabelais dans les Champs-Elysées (1771) laut miteinander gegen den sich ausbreitenden Fanatismus nachdenken. Seine Figuren, im heimlichen Einvernehmen geeint und ohne heiligen Weihrauch, sprechen sich heftig gegen die religiösen Autoritäten aus: Lukian hört nicht auf, sich über die antiken Götter naserümpfend
816 Vgl. „L’histoire a pour objet les effets irréguliers des passions et une suite d’événements si bizarre que l’on a autrefois imaginé une divinité aveugle et insensée pour lui en donner la direction.“ In: Fontenelle: Préface sur l’utilité des mathématiques et de la physique et sur les travaux de l’Académie des sciences. In: Ders.: Œuvres. 1825, S. 56. 817 Fontenelle: Nouveau Dialogues des morts. 1914, S. 16 f. (Hérostrate et Démétrius). 818 Pujol: Le dialogue d’idées au dix-huitième siècle. 2005, S. 232. 819 Fénelon: Dialogues des morts anciens et modernes. Paris 1712, Bd. I. Vgl. dazu auch: Nicola Graap: Fénelon: Dialogues des morts composés pour l’éducation d’un prince. Studien zu Fénelons Totengesprächen im Traditionszusammenhang. Hamburg 2001.
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zu mokieren, während sich Erasmus und Rabelais in der Kleriker-Satire üben. Voltaires Dialoge kultivieren die Themen des theatrum mundi in einem erneuten Lob der Torheit nach Art des Erasmus, wenn Exzesse und Extravaganzen der Menschen zum Inhalt der Gespräche erhoben und oftmals gerade von den Randfiguren der Gesellschaft, d. h. Prostituierten, Vagabunden oder Ganoven vorgebracht werden.820 Wie schon in seinen anderen Werken Les Lettres philosophiques (1734) oder dem Essai sur les mœurs et l’esprit des nations (1756) wird ein Geschichtsmodell, das einzig die großen Ereignisse und die großen Männer berücksichtigt, in Abrede gestellt. Noch die größten illustren Helden werden – wie schon bei Fontenelle – zu gewöhnlichen Sterblichen herabgestuft. Edward Gibbon knüpfte darauf in seiner Version der Totengespräche an Voltaire an und wechselte in seiner englischen Version die Figur Rabelais’ mit derjenigen Voltaires aus.821 Stéphane Pujol führt aus, dass die Gattung der Totengespräche ferner während der Französischen Revolution eine weitere Renaissance erlebte. Denn zur Stunde des großen Umbruchs haben die Toten – an denen es auf der Schlachtbank der Terreurs nicht mangelte – noch ein letztes Wörtchen mitzureden. Böse Zungen erklärten sogar, die Auflagen und Varianten der Dialogues des morts seien derart zahlreich und entsprächen dem Zeitgeschehen, da es täglich mehr und mehr Tote gäbe und das Fallbeil zudem die Überquerung des Styx vereinfache. Olympe de Gouges (1748–1793) – mit bürgerlichem Namen Marie Gouze – schrieb neben Theaterstücken sogar Totengespräche. In Mirabeau aux Champs-Elysées (1791) erhält die Revolution einen ohrenbetäubenden Auftritt, die hier rückblickend analysiert wird. Die Feministin und Verfasserin der Déclaration des Droits de la femme et de la citoyenne (1791) musste für ihren kämpferischen Mut, für die Menschenrechte der Frauen zur Zeit der Französischen Revolution einzustehen, schließlich bitter mit dem Tod unter der Guillotine am 3. November 1793 bezahlen.822 Die Gattung der Totengespräche setzt auf Anachronismen, Mesalliancen und unerwartete Begebenheiten, die Komik erzeugen. Daneben hat die v. a. in der Musik häufig auftretende Figur der Katabasis, die das Herabsteigen in die Unter-
820 Vgl. dazu Myrtille Méricam-Bourdet: Le dialogue des morts chez Voltaire. In: Die Antike der Moderne. Vom Umgang mit der Antike im Europa des 18. Jahrhunderts. Hg. von Veit Elm, Günther Lottes, Vanessa de Senarclens. Saarbrücken 2009, S. 293–308. 821 Edward Gibbon: Miscellaneous works. London 1796, S. 192. Zit. nach Roland Mortier: Pour une poétique du dialogue. Essai de théorie d’un genre. In: Literary theory and criticism: Festschrift presented to René Wellek in honor of his eightieth birthday. Bern 1984, S. 457–474. 822 Olympe de Gouges: Déclaration des Droits de la femme et de la citoyenne suivi de Préface pour les Dames ou Le Portrait des femmes. Postface d’Emanuèle Gaulier. Paris 2003; dies.: Mutter der Menschenrechte für weibliche Menschen. Hg. von Hannelore Schröder. Aachen 2000.
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welt beschreibt, gerade im literarischen Genre der Götter- und Totengespräche ihren besonderen Auftritt. Diese wurde schon von Homer oder Vergil benutzt: So erhält bspw. Odysseus im elften Gesang der Odyssee an der Schwelle der Unterwelt von Teresias, der zu ihm hinauf gestiegen ist, ein Totenorakel. Dagegen durchquert Aeneas im sechsten Buch des Epos in Begleitung der Sibylle von Cumae das gesamte Totenreich, um die Prophezeiung des römischen Imperiums aus dem Munde seines Vaters zu empfangen. Ganz der imitatio folgend, lässt Lukians Menipp seine eigene Fahrt durchs Totenreich mit den Worten des Odysseus beginnen: „[…] mich trieb das Bedürfnis, die Zukunft zu forschen / von des Thebaners Tiresias Seele, zum Hades hinunter.“823 Die Toten- und Göttergespräche kennzeichnen sich durch eine kritische aber zukunftsorientierte Sichtweise, nachdem die Vergangenheit mit der Gegenwart im Dialog stand. Ausgangspunkt der Dialoge sind mehrheitlich ein kurzer Bericht, eine Anekdote oder einfach eine Klatsch- und Tratsch-Geschichte, die sich sodann entweder in eine dialektische oder paradoxale Richtung bewegen können, wie Pujol bemerkt.824 Mythenparodistische Elemente, die sich bis zur Burleske entwickeln, treten dann vermehrt in den altattischen Komödien des Aristophanes auf: Man denke an die Hades-Fahrten in Die Frösche oder an die Himmelsreisen in Die Vögel oder Der Frieden, die alle der Katabasis verpflichtet sind. Daneben findet sich die Technik der Parodie in diesen Komödien, wenn erhabene Tragödienverse in ganz alltäglich banale Wortspiele eingekleidet werden, die zuweilen blasphemische Züge erhalten können, was Werner von Koppenfels als eine Vorstufe der Menippea charakterisiert.825 Sinnbildlich für die Kritik ist der Plot aus den Fröschen des Aristophanes: Im Kostüm des Herakles begibt sich der Theatergott Dionysos in die Unterwelt, um von den Toten den Namen des besten Tragödiendichters zu erfahren. Von der Bühne soll dann die Polis aus ihrer aktuellen Krise von jenem Dichter geführt werden, der als Sieger aus dem Wettkampf tritt. Die Teilnehmer dieses literarischen Agon sind die Schatten von Aischylos und Euripides, deren Worte auf einer Stilwaage gemessen werden. In Umkehrung der Norm wird die Rhetorik des Euripides der Lächerlichkeit preisgegeben und der siegreiche Aischylos darf Dionysos wieder zu den Lebenden begleiten.826
823 Lukian. Übers. von Christoph Martin Wieland. Hg. von J. Werner. 3 Bde. Berlin, Weimar 1981, Bd. I, S. 442. 824 Demachy: Réflexions sur les dialogues, S. 256. Zit. nach Pujol, S. 240. 825 Werner von Koppenfels: Der Andere Blick oder Das Vermächtnis des Menippos. Paradoxe Perspektiven in der europäischen Literatur. München 2007, S. 68. 826 Jean Starobinski sieht in dieser Szene den Beginn der Kritik. Vgl. ders.: La relation critique. Essai. Paris 1978. (Vgl. Kapitel 1.)
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Bunt geht es in Lukians Höllenfahrt des Menippus oder Das Totenorakel827 zu und her, wenn sich der Protagonist im Hades von dem Seher Teiresias über die beste Lebensform aufklären lässt. In parodistischer Anspielung werden Die Frösche des Aristophanes noch überboten, wenn Menippus hier gleich drei Kostüme, nämlich jene des Orpheus, des Herakles und des Odysseus probiert, um Aiakos, den Totenrichter in die Irre zu führen. Dass dabei Lukians Hades einem Cage aux Folles gleicht, ist leicht nachvollziehbar: Die sich in ihrer Hässlichkeit gleichenden Toten werden allesamt als Schauspieler bezeichnet, die nach dem Theater des Lebens nun Fortuna (Tyche) ihre Kleider und Requisiten aushändigen müssen, nachdem sie vorab von Minos im Richthaus verurteilt und im Strafhaus gegeißelt, geröstet und sogar zerfleischt wurden, dabei müssen die Reichen immer ein bisschen mehr einstecken als die Armen. Vorzugsweise werden die ehemaligen Helden der Welt in der Unterwelt entehrt: Wurden sie noch zu Lebzeiten mit wohlwollendem Applaus gefeiert, gebührt ihnen nun einzig das menippeische Gelächter bspw. des Kynikers Diogenes, der Mächtige und Heroen seit je verspottete, bspw. wenn er sich im 13. Gespräch bei Lukian über die Selbstvergötterung Alexander des Großen lustig macht. Teresias empfiehlt Menipp lachenden Mut zu bewahren, somit ist das Lachen der menippeischen Hölle als Strafe über die wahnwitzige Welt zu sehen. Koppenfels begreift Lukians Ikaromenippus und seine Höllenfahrt des Menippus, worin der Erfinder der Menippea auf beide Seiten des Jenseits geschickt wird, als „parallel und komplementär angelegte Prototypen aller satirischer Ana- und Katabasen“.828 Mit dem geflügelten Wort der Antike aus Homers Odyssee I, 5, 170: „Sage, wer bist du? dein Vaterland wo? wer deine Erzeuger?“ wird Menipp auf seiner Mondreise, einer Anabasis, von Zeus begrüsst, wie schon Senecas Claudius von Herakles in der Apokolokyntosis, d. h. der Verkürbissung. Menipp wird vom Göttervater freundlich aufgenommen und in seinen Alltag eingeführt, d. h. er darf miterleben, wie sich der Göttervater diverse absurde Wünsche der Menschen anhören muss oder um seinen göttlichen Status sorgt, da er mehr und mehr als alter Mann betrachtet wird, dem jüngere und nichtgriechische Götter zuvorkommen. Es ist wohl nicht von ungefähr, dass Hermes hier solch eine tragende Rolle erhält, ist er doch als Initiator der Literaturkritik bekannt. Dieser Figur fühlen sich später Bodmer und Wieland verpflichtet. Die Gattung der Toten- und Göttergespräche konkretisiert sich in den sich einander ergänzenden Sehweisen der Fiktion, der Vogelschau wie der Frosch-
827 Vgl. dazu Dominique Quéro: Momus philosophe. Recherches sur une figure littéraire du XVIIIe siècle. Paris 1995. 828 Koppenfels: Der Andere Blick oder Das Vermächtnis des Menippos. 2007, S. 87.
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perspektive, die von den jeweiligen Standpunkten des Hades oder des Olymp geführt werden und zum Inventar der menippeischen Mythenparodie gehören. Als Ziel gilt dabei eine Katabasis, d. h. eine Höllenfahrt in der die Protagonisten in die Unterwelt hinuntersteigen. Die Katabasis kann ferner auch als Rahmenfunktion auftreten. Kennzeichnend hierfür ist eine Darstellung des antiken Götterhimmels, der sich zuweilen als Burleske präsentiert, wo über irdische Mängel Gericht gehalten wird und die Tonlagen meistens im Ironisch-Komischen liegen. Der jenseitige metaphysische Blickwinkel erlaubt zudem, verkehrte Maßstäbe der sogenannten Normalität in ihr Gegenteil zu verkehren. Der Satiriker bedient sich der Transzendenz und bekräftigt seine kritischen Lehren, indem er an göttliche Autoritäten appelliert, die als Sprachrohr der Schiedsrichterurteile fungieren.829 Der Dialog mit den großen Toten der Vergangenheit, die Homer noch als kraftlose und ohnmächtige Häupter kategorisierte, ähnelt durch das gleichsame Überschreiten irdischer Grenzen der Katabasis einem Initiationsritus. Wie nutzt Bodmer die Gattung in seiner Parodie? Verwendet er in seinen exempla satirische, parodistische oder vor allem deren pädagogische Züge für sein innovatives Erziehungskonzept, das sich in seinen Götter- und Totengesprächen abzeichnet, die Arnd Beise im Nachwort seiner neuen Gesamtausgabe noch als Kontrafaktur beschreibt? Bei Bodmers Adaptionen ist demnach zu erforschen, ob seine Gespräche im Elysium und am Acheron nicht auch mangels satirischer Schärfe der „fiction antique“ angehören. Die modernen Modellierungen der Gattung bei Fontenelle, Fénelon und Lyttelton haben eine parodistische Ausrichtung, wenn anstatt der antiken Größen plötzlich bekannte Zeitgenossen deren Plätze einnehmen und beginnen, sich nun wie die Toten zu äußern. Wie geht Bodmer mit dem gattungsinhärenten Mittel der grotesken Komik der Katabasen und Kataskopien aus den literarischen Katakomben um? Wie wird Komik in ihrer üblichen hyperbolischen Übersteigerung angewendet oder wird darauf zur Gänze verzichtet? Darf hier schließlich eine menippeische Respektlosigkeit gegenüber den Helden aus Mythen, Geschichten und Politik walten? Daneben findet sich in dieser Gattung die Verwendung der Kataskobie, die individuelle Verhaltensweisen beschreibt, oftmals kritisiert und Einspruch gegen den martialischen Heldenkult erhebt. Der griechische Himmel, mit Olymp oder Elysium metaphorisch umschrieben, wird mit einer Reise nach oben, der Anabasis, erreicht. Wie in Bodmers exempla die für die Toten- und Göttergespräche üblichen Tonlagen zwischen Pathos und Bathos benutzt und überschrieben werden, soll im Folgenden ausgeführt werden.
829 Ebd., S. 67–99, hier S. 67.
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4.5.2 Moderne exempla der Zürcher Auf die politisch-rechtliche Bedeutung der Exempla in der römischen Antike und deren republikanischen Tradition, die zudem zwischen Anekdote und Lektion fallen könne, beruft sich Bodmer in seinen Totengesprächen.830 Denn, wie Hildegard Kornhardt ausführt, beruht das römische Staatsrecht auf einem losen und dehnbaren Gefüge, orientiert an „Persönlichkeiten, Familien, Stände[n] und Parteien“, die „[e]rbitterte politische Kämpfe […] in der Form staats- und sakralrechtlicher Diskussionen“ führen: „Die Exempla sind bald Waffen in diesem Kampf, bald selber Kampfobjekte.“831 Dass die pädagogische Dimension in der Philosophie der Aufklärer inhärent sei, wurde in der Forschung vielerorts schon gesagt. Bei Bodmers Adaptionen der Götter- und Totengespräche macht sich vor allem eine politisch-pädagogische Dimension im Sinne Fénelons und Lytteltons, seinen Vorbildern, bemerkbar. Schon früh war er mit dem antiken Beispielen der Totengespräche Lukians und deren modernen Adaptionen Fontenelles und Fénelons vertraut, wie er dies in seinen Persönlichen Anekdoten832 vermerkte. Von Fontenelle und Fénelon besaß er mehrere Textausgaben, darunter die Totengespräche im Original sowie in den deutschen Übersetzungen von Gottsched und Michael von der Loen, die sich heute im Bestand der Zentralbibliothek Zürich befinden.833 Die einander spiegelnden Perspektiven aus den Höhen des Olymps oder den Tiefen der Unterwelt sind ironische Mythen, die sich weniger gegensätzlich, sondern vielmehr komplementär zueinander verhalten. Darüber hinaus wird aus beiden Orten eine paradoxe Umkehr der irdischen Verhältnisse versucht, als deren Korrektiv sie zu verstehen sind. Für ein satirisches Genre nicht weiter abwegig, ist jener Schauplatz des Infernos jenen himmlischen Gefilden vorzuzie-
830 Auf die Nähe des Exemplums zur Anekdote als auch zur Lektion bei den Alten aber auch in der Verwendung im Mittelalter bspw. bei Jacques de Vitry verweisen: Claude Bremond, Jacques Le Goff und Jean-Claude Schmitt in: Dies.: L’exemplum. Turnhout 1982, S. 113–131. 831 Hildegard Kornhardt: Exemplum. Eine bedeutungsgeschichtliche Studie. Göttingen 1936, S. 68. Vgl. ferner Claude Bremond, Jacques Le Goff und Jean-Claude Schmitt: L’exemplum. Turnhout 1982. 832 Theoder Vetter (Hg.): Bodmer’s „Persönliche Anekdoten“. In: Zürcher Taschenbuch 15 (1892), N.F., S. 91–122; ebd.: Mein poetisches Leben, S. 123–131. 833 Vgl. Anett Lütteken: Johann Jakob Bodmer, sein Freundeskreis und die französischsprachige Kultur. In: Les écrivains suisses alémaniques et la culture francophone au XVIIIe siècle. Actes du colloque de Berne, S. 24–26 novembre 2004. Réunis par Michèle Crogiez Labarthe, Sandrine Battistini et Karl Kürtös. Genève 2008, S. 273–283, hier S. 280, Anm. 31. Johann Christoph Gottsched: Fontenelles Totengespräche (1725); Johann Michael von der Loen: Fénelons Totengespräche (1745).
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hen. Ein Blickwinkel der Herabsetzung ist bereits die Wendung ins Hündische, der kynikos tropos, wie sie die Schule des Diogenes seit ihren Anfängen praktizierte. Bevor Bodmer in seinen Zürcher Zeitschriften eigene Beispiele von Totengesprächen einflocht, die später sondiert unter dem Titel Gespräche im Elysium und am Acheron erscheinen sollten, äußerten sich die Zürcher in den Discoursen der Mahlern im neunten und zwölften Discours kritisch über Beispiele des heute nahezu unbekannten, jedoch damals sehr beliebten Frühaufklärers David Faßmann, der im Zeitraum von 1718 bis 1739 zeitschriftenartig in gut 240 Bändchen Gespräche in dem Reiche der Todten veröffentlichte. Breitinger schimpfte noch im neunten Discours über den Anklang, den Faßmann bei den Lesern fand: „Die gemeinen Leute halten auf den Entre-Vûes im Reiche der Todten und andern Büchern die mit seltsamen Historien, mit neuen Zeitungen, mit Mord- Brand- und Diebs-Geschichten angefüllet sind, unendlich mehr als auf einem raisonnirenden Buche.“ Darauf kritisierte Bodmer im zwölften Discours an Fassmanns als „Entrevues“ betitelten Dialoge, die, verglichen mit dem französischen Vorbild, ihren moralischen Ton vermissen ließen: „die Todten müssen besser moralisieren als die Sterblichen, sonsten würde es sich nicht der Mühe lohnen, sie reden zu machen. Es wären schon genug Lebende vorhanden, unnützliche Sachen zu sagen.“834 Daneben respondierten die Zürcher auf die an Popularität gewinnende Gattung der Totengespräche im Zeitalter der Kritik835 und ließen es sich nicht nehmen, selbst eigene Beispiele in ihren Discoursen einzubringen. In den Discoursen der Mahlern widmen sich der 13. und 14. Discours im dritten Teil von Jahrgang 1722 den Totengesprächen. Es ist signifikant, dass der vierte und letzte Band der Discourse der Mahlern (1723) jeweils im ersten Discours, mit einem Dialog zwischen dem Kyniker Diogenes und mehreren Schatten beginnt.836 Vorab unterrichten die Herausgeber in einer kurzen Einführung über die antike Gattung der Totengespräche sowie über den Glauben der alten Griechen auf nachvollziehbare Weise und führen gleichsam in die literarische Thematik des jüngsten Gerichts bei den alten Griechen ein:
834 Vgl. Arnd Beise: Nachwort. In: Johann Jakob Bodmer: Gespräche im Elysium und am Acheron. Gesamtausgabe. Hg. von Arnd Beise. St. Ingbert 2010, S. 102. 835 Manuel Baumbach: Lukian in Deutschland. Eine forschungs- und rezeptionsgeschichtliche Analyse vom Humanismus bis zur Gegenwart. München 2002, S. 65. 836 Johann Jakob Bodmer (Hg.): Die Mahler. Oder: Von den Sitten Der Menschen. Der vierdte und letzte Theil. 4. Bd. Zürich 1723. Vgl. Mahler der Sitten, Bd. I, S. 50 (über die Ekloge); vgl. ebd., S. 69, ebenso Louis P. Betz: J.J. Bodmer und die Französische Litteratur. Ein Literaturbild der Kulturmacht Frankreichs im XVIII. Jahrhundert. In: Johann Jakob Bodmer. Denkschrift zum CC. Geburtstag (19. Juli 1898). Veranlasst vom Lesezirkel Hottingen und hg. von der Stiftung Schnyder von Wartensee. Zürich 1900, S. 163–239, hier S. 183 f. (leicht verändert auch in: Studien zur vergleichenden Literaturgeschichte der neueren Zeit. Frankfurt 1902, S. 159–213).
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Es ist bey den Griechen ein gemeiner Glauben gewesen, daß alle Seelen nach dem Tod des Cörpers sich an einen gewissen unterirdischen Ort verfügen müssen, der das Feld der Wahrheit genannt wird, wo Minos und Radamanthe Gericht halten, und von einem jeden der durch den Acheron und den Coeytus hinüber kommt, Rechenschaft fordern, was er für ein Leben geführt, und was für Bewegungen er seinem Leib gegeben habe. Dieses feyre ein Tribunal, vor welchem keine Lügen vorgebracht werden. Ich habe nach dieser poetischen Idee einen Gerichtsstuhl in dem Felde der Wahrheit angerichtet, auf welchen ich den Diogenes sitzen, und über eine Anzahl Todte von mancherlei Sorten Recht sprechen lasse. Ich dichte, daß Diogenes den Richtern der Todten zugegeben worden, weil ihre Geschäffte seit einiger Zeit sich so sehr gemehret, daß sie verbunden worden, einen Theil derselben von sich abzuladen. Dieses ist der Diogenes, der seinen Zunamen von den Hünden gehabt hat, weil er Zeit seines Lebens wieder das Lächerliche in den menschlichen Sitten gebellet: derselbe welcher in seinem engen Fasse das ganze Geschlecht der Menschen verachtet hat.837
Der Ich-Erzähler Holbein, alias Bodmer, der sich hier bereits in der Einleitung vorstellt, weist auf den kynischen Beinamen des Diogenes sowie dessen philosophische Schule hin. Skeptizismus und Provokation schlugen sich gerade in den Satiren des Kynikers breit, in welchen sich Diogenes über die Mächtigen mokierte. Dieser ironische Ton wird im folgenden Dialog zwischen Diogenes und den zehn Schatten imitiert, mit denen dieser sich unterhält. Auf die Frage, was der erste Schatten in seinem Leben bewegt hätte und welche Funktion dabei insbesondere der Vernunft zustatten gekommen sei, antwortet dieser lakonisch: „Die Vernunft lag im Glas ersoffen.“838 Darauf werden jene ins Verhör genommen, die in der Liebe oder bei der Arbeit ihre Erfahrungen gemacht haben. Neben dem Steinmetz finden Sprachvirtuosen Gehör, darunter ein Philosoph, ein Poet, ein Polyglott und ein Bibliothekar. Letzterer wird als „Bücher-Fresser“ verhöhnt und als „Narr“ gescholten, da er Bücher einzig, um der Anzahl willen gesammelt hätte, ohne sie zu lesen.839 Ferner findet sich ein ehemaliger Soldat, der als „Kriegs-Blitz“ Bekanntheit erfuhr und für seinen König „12 Haupt-Schlachten gewonnen“ hatte. Die Kritik der Kriegskunst kommt im Kommentar des Diogenes zum Ausdruck, als sich der Schatten mit dem Argument verteidigt, er habe seinem König gedient, worauf Diogenes meint: „Und dein König ist der Ruhmräthigkeit Sclave gewesen. Gehe die Zahl der Hencker dieses Landes zu vermehren.“840 In den erweiterten Publikationen Der Mahler der Sitten folgen in den Bänden von 1746 weitere Beispiele von Zürcher Totengesprächen.841 837 Johann Jakob Bodmer (Hg.): Die Mahler. Oder: Von den Sitten Der Menschen. Der vierdte und letzte Theil. 4. Bd. Zürich 1723, S. 1f. 838 Ebd., S. 2. 839 Ebd., S. 7. 840 Ebd., S. 3. 841 Vgl. Bodmer und Breitinger: Mahler der Sitten. Zürich 1746. Bd. 1, Blätter 10 und 43; Bd. 2, Blätter 75 und 82.
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In den 1760er Jahren entstandenen Gespräche[n] im Elysium und am Acheron folgt Bodmer dem vielfach gefeierten englischen Vorbild, George Lytteltons Dialogues of the Dead (1760), die 1761 gleich zweimal und unabhängig voneinander ins Deutsche übersetzt worden sind. Neben der Übersetzung des Berliner Predigers Johann Georg Heinrich Oelrichs (1728–1799) erschien parallel die anonyme Übertragung Des Lord Litteltons Gespräche der Todten, die beide ihren Weg in Bodmers Bibliothek fanden. Vermutlich fühlte sich Bodmer von dem kritischen Kommentar Oelrichs in der Einleitung: Bei der Fruchtbarkeit der teutschen Schriftsteller, können wir uns doch nicht rühmen, dem Lucian, Fenelon, Fontenelle und Littelton eine teutsche Schrift in dieser Art an die Seite setzen zu können: Wenigstens ist mir keiner bekannt geworden, der in der Art des Vortrags mit ihnen verglichen zu werden verdient.842
angestachelt, eine eigene Sammlung von Totengesprächen anzugehen, in welcher er Lyttelton nach dem Beispiel der Franzosen zu korrigieren suchte. Im Incipit lässt Bodmer verlauten: Mein Herr! Hier haben Sie die Gespräche im Elysium und am Acheron, die [S]ie mit solcher Ungeduld verlanget haben. Ihre Form ist Liteltonisch, und einige sind von Liteltons Abhandlungen veranlasset worden. Aber Sie werden bald entdeken, daß die Gedanken von des Engländers abweichen. Es hat seine Verdienste anderst als Litelton, und [ich hoffe,] doch nicht unrichtig gedacht zu haben. Sie mögen zwischen diesen beyden urtheilen.843
George Lyttelton (1709–1773), erster Baron Lyttelton war ab 1744 Schatzmeister der britischen Krone, bis 1755 Staatsmann und daneben Historiker, Schriftsteller und Kunstmäzen, der bspw. Alexander Pope, Henry Fielding oder James Thomsen tatkräftig unterstützte. Mit der bekannten Salonnière und Mitbegründerin der Blue-Stocking-Society844, Elisabeth Montagu (1718–1800), befreundet, gab Lyttel-
842 [George Lyttelton]: Gespräche der Verstorbenen. Eine englische Schrift. Hg. von J[ohann] G[eorg] H[einrich] Oelrichs. Berlin 1761. 843 Johann Jacob Bodmer: Gespräche im Elysium und am Acheron (Gesamtausgabe) im Anhang: Zwei politische Gespräche. Hg. von Arnd Beise. St. Ingbert 2010, S. 8. 844 Die metonymische Bezeichnung erinnert an jene Anekdote, nach welcher Benjamin Stillingfleet, Mitglied einer solchen Gemeinschaft, einst anstatt der nach Dress-Code vorgeschriebenen schwarzen Seidensocken billige blaue Garnsocken trug und damit einen kleinen Eklat auslösen sollte, der namensgebend für jene englischen mehrheitlich von gebildeten und emanzipierten Frauen initiierten Salongemeinschaften werden sollte. Vgl. Johanna Geyer-Kordesch, Rona Ferguson (Hg.): Blue stockings, black gowns, white coats. A brief history of women entering higher education and the medical profession in Scotland in celebration of one hundred years of women graduates at the University of Glasgow. Glasgow 1995.
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ton seine Dialogues of the Dead heraus. Montagu war die Autorin der Dialogues XXVI bis XXVIII. Wie später die Suffragetten des 19. Jahrhunderts wurden im 18. Jahrhundert intellektuelle und gebildete Frauen als „Blaustrümpfe“ betitelt, die sich in literarischen Salons trafen, zu denen gleichwohl auch Männer geladen waren, um ungezwungen über die Revision etablierter Gesellschaftsformen und neuste Entwicklungen in Kunst und Politik zu diskutieren. Bereits Lyttelton orientiert sich an Fénelon, der im dritten Dialog explizit angesprochen wird: „Welcome to Elysium, O thou, the most pure, the most gentle, the most refined disciple of philosophy that the world in modern times has produced! Sage Fenelon welcome.“845 Wie Fénelon sich für sein Erziehungsschriften in humanistischer Affinität für das diskursive Denken und Schreiben neben dem Bildungsroman ebenso der Gattung des Totengesprächs verpflichtet fühlte, so versucht sich darin Bodmer nach den genannten modernen französischen und englischen Vorbildern in den 1760er Jahren entstandenen Gespräche[n] im Elysium und am Acheron, die Arnd Beise in einer neuen Gesamtausgabe mit Zusätzen aus dem handschriftlichen Nachlass 2010 neu herausgegeben hat. Im Nachwort zur Gesamtausgabe dieser Totengespräche Bodmers, die hier als Arbeitsgrundlage dient, führt der Herausgeber ferner aus, dass es sich dabei mehrheitlich um Überschreibungen der Dialoge Lytteltons beim Zürcher handle, der in den seinigen andere der Vorlage diametral gegenübergestellte Schwerpunkte weiter entwickle: „Es gehörte zu Bodmers Eigenarten, dass er sich gern von den Schriften anderer anregen ließ, in die gleichen poetischen Schranken zu steigen, um dem Prätext eine Kontrafaktur gegenüber zu stellen, die verschiedene ‚Fehler‘ des Vorgängers korrigierte.“846 Auffällig ist bei Beises Analyse, dass er dabei keine parodistisch-satirische Färbung in der Überschreibung erkennt und einzig von Kontrafakturen bei Bodmers Totengesprächen spricht.847 Zudem möchte ich ergänzen, dass sich Bodmer neben der bekannten englischen Quelle Lytteltons von den französischen Vorlagen, d. h. jenen Dialogues de morts von Fontenelle und Fénelon inspirieren ließ. Der Gebrauch der rhetorischen Figuren der Katabasis und der Anabasis, womit die Höllen- und Himmelfahrten umschrieben werden, sowie jene der Antiklimax und der Kataskopie als weitere menippeische Merkmale in der Tradition Lukians, die hier in signifikanter Weise auffallen, unterstreichen eine komische Tendenz.
845 Zit. nach Arnd Beise: Nachwort. In: Bodmer: Gespräche im Elysium und am Acheron. 2010, S. 103. 846 Vgl. ebd., S. 104. 847 Ebd.
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Mittels der folgenden tabellarischen Auflistung, die in erster Linie den editorischen Angaben des Herausgebers folgt, werden die Entstehungsetappen von Bodmers Totengesprächen veranschaulicht, die oftmals mehrheitlich in unterschiedlichen Wochenschriften erschienen sind. Daneben interessieren seine Vorlagen, an denen er sich für seine Adaptationen mehrheitlich zu orientieren schien:
Gespräche im Elysium und am Acheron (1761–1765) Gesamtausgabe 2010
Entstehungsgeschichte:
Publikationen in diversen Zeitschriften:
1. Arria. Octavia. Lyttelton XV
November 1761 Ms. Bodmer 25.27 a, c-k
79. Brief: „Gespräche im Elysium und am Acheron.“ In: „Neue Auflage“ der Neuen Critischen Briefe, über ganz verschiedene Sachen von verschiedenen Verfassern. Zürich; Orell, Gessner und Comp. 1763, S. 543–596.
2. Atticus. Brutus. Lyttelton XVII
November 1761 Ms. Bodmer 25.27 a, c-k
79. Brief: „Gespräche im Elysium und am Acheron.“
3. Corvinus. Brutus. Lyttelton IX
November 1761 Ms. Bodmer 25.27 a, c-k
1. Ausführliche und kritische Nachrichten von den besten und merkwürdigsten Schriften unserer Zeit nebst anderen zur Gelehrtheit gehörigen Sachen. Lindau, Frankfurt, Leipzig: Jacob Otto 1763, 1. St., S. 78–83. 2. 79. Brief: „Gespräche im Elysium und am Acheron.“
4. Matius. Brutus. Lyttelton IX
November 1761 Ms. Bodmer 25.27 a, c-k
79. Brief: „Gespräche im Elysium und am Acheron.“
5. Cicero. Virgil.
November 1761
79. Brief: „Gespräche im Elysium und am Acheron.“
6. Virgil. Mercur.
November 1761
79. Brief: „Gespräche im Elysium und am Acheron.“
7. Cato. Homer.
November 1761
1. Freimüthige Nachrichten 18. Jg, 29. St. 22. Juli 1761, S. 229–231. 2. 79. Brief: „Gespräche im Elysium und am Acheron.“
8. Pätus. Horaz.
November 1761 Ms. Bodmer 25.27 a, c-k
79. Brief: „Gespräche im Elysium und am Acheron.“
9. Cäsar. Augustus.
März 1762 Ms. Bodmer 25.27 a, c-k
79. Brief: „Gespräche im Elysium und am Acheron.“
Gespräche im Elysium oder am Acheron
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Gesamtausgabe 2010
Entstehungsgeschichte:
Publikationen in diversen Zeitschriften:
10. Cicero. Montagne.
Dezember 1763 Ms. Bodmer 25.27 a, c-k
Ausführliche und kritische Nachrichten von den besten und merkwürdigsten Schriften unserer Zeit nebst anderen zur Gelehrtheit gehörigen Sachen Lindau und Leipzig: Jacob Otto 1764, 7. St., S. 563–573.
11. Heliogabalus. Julius Cäsar.
Dezember 1764 Ms. Bodmer 25.27 a, c-k
Wöchentliche Anzeigen zum Vortheil der Liebhaber der Wissenschaften und Künste. Zürich Heidegger und Compagnie. 30. Januar 1765, Bd. 2, 5. St., S. 55–62.
12. Claudius Tacitus. Januar 1765 Tiberius. Ms. Bodmer 25.27 a, c-k
Vollständige und kritische Nachrichten von den besten und merkwürdigsten Schriften unserer Zeit nebst anderen zur Gelehrsamkeit gehörigen Sachen. Lindau und Leipzig: Jacob Otto. 1765, 11. St., S. 237–247
13. Cato von Utica. Cäsar.
Wöchentliche Anzeigen zum Vortheil der Liebhaber der Wissenschaften und Künste. Zürich: Füeßlin und Compagnie. 1. Oktober 1766, Bd. 3, 40. St., S. 474–479.
Juli 1766 Ms. Bodmer 25.27 a, c-k
Zwei politische Gespräche Erstpublikation aus dem handschriftlichen Bodmer-Nachlass in der Zentralbibliothek Zürich 1. Mably. Jean-Jacques Rousseau.
Ms. Bodmer 25.27, l-m (Abschrift, Original verloren)
2. Mably. Graf Tessin.
Ms. Bodmer 25.27, l-m (Abschrift, Original verloren)
4.5.3 Dialoge der Alten In Bodmers Toten- und Göttergesprächen, zwischen 1761 und 1766 entstanden, sind die Alten vorherrschend: Neben den häufigen Auftritten des Marcus Brutus und Julius Cäsar in drei Dialogen erscheinen eine Vielzahl weiterer römischer Politiker und Kaiser wie Atticus, Corvinus, Matius, die beiden Catos, der Ältere, der Censor und der Jüngere aus Utica, Pätus Heliogabalus, Augustus, Claudius Tacitus und Tiberius. Diese treffen in den Dialogen auf ihre Amtsgenossen oder oftmals auf ihre ehemaligen Hofmeister oder Hauslehrer und hier größten-teils römische Philosophen und Dichter, nämlich Cicero, Vergil, Horaz
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Poetische Palimpseste
sowie den griechischen Homer, um sich hier meistens kritisch-ironische Wortwechsel zu liefern. Ein einziges Mal darf sich ein römischer Gott zu Wort melden, es ist bezeichnenderweise Merkur (griech. Hermes), der Götterbote, Schutzgott der Kaufleute und Kunsthändler, Mittler zwischen Göttern und Menschen, der Verkünder der Beschlüsse des Zeus und Begleiter der Seelen in die Unterwelt des Hades und nicht zuletzt Namensvater der Hermeneutik. In Beises Ausgabe, die Gespräche aus diversen Wochenschriften zusammenträgt und sorgfältig homogenisiert, hat Mercur im 6. Gespräch neben Cato im 7. Gespräch die Mittelposition. Neben den vielen berühmten Alten wird im 10. Gespräch Michel de Montaigne (1533–1592) eingeführt, der sich hier als einzig Moderner mit Cicero gedanklich austauscht. Diese Schlüsselrolle, die der moderne französische Politiker und Philosoph hier vom Zürcher erhält, spricht für dessen große Verehrung der Essais (vgl. Kapitel 2.2). Zudem wird mit den beiden angefügten Politischen Gesprächen neben Montaigne, den beiden weiteren modernen französischen Vorbildern Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) und Gabriel Bonnot de Mably (1709–1785) die Referenz erwiesen, die sich zudem mit einem zeitgenössischen schwedischen Politiker Carl Gustav Tessin (1695–1770) über Fragen des privaten und öffentlichen Glücks streiten. Diese beiden Gespräche, die bislang einzig in einer Abschrift der Manuskriptfassung existierten, hat Beise erstmals aus dem handschriftlich überlieferten Nachlass transkribiert und herausgegeben und als wichtige Ergänzungen als Beispiele der Modernen in seiner Gesamtausgabe hinzugefügt (vgl. die Liste oben). Den Anfang machen in der Tradition der lukianischen Hetärengespräche Arria (Gattin des Cecina Pätus) und Octavia (Gattin des Triumvir Marc Anton). In Anlehnung an Lytteltons Gespräch XV, wurde die dritte Figur Portia (Gattin des Marcus Brutus) von Bodmer gestrichen. Thema ist die Liebe der Ehefrauen und deren Verständnis von Tugend, welches bereits schon bei Lyttelton auf die Spitze getrieben wurde: Octavia lässt hier allzu prahlerisch verlauten, sie sei die tugendhafteste Frau von allen, da sie selbst ihrem untreuen Ehemann bis zum Schluss die Treue gehalten und sich am Ende sogar selbstlos um die Kinder der anderen Frauen des Mannes gekümmert habe. Dies rechtfertige angeblich den Entscheid des Totenrichters der Unterwelt, in diesem Falle von Minos, ihr Zutritt zu den höheren Gefilden des Elysiums zu gewähren, da ihre Lebensprüfung ein weitaus härtere gewesen sei, als jene ihrer beiden anderen Gesprächspartnerinnen. Die bei Lyttelton ausgebreiteten Liebesgeschichten, wer mit wem und wann verkehrte, waren für den Zürcher weniger relevant, weswegen er wohl Portia einfach aus dem Gespräch strich, das Wesentliche in den ersten Repliken zusammenfasste, um den Dialog darauf auf die zwei Hauptkontrahentinnen und die Debatte der weiblichen Tugend zu konzentrieren. Schon der deutsche Übersetzer
Gespräche im Elysium oder am Acheron
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ging mit Lytteltons Ende von Octavias misogyner Selbsteinschätzung nicht einig, ihre Aufopferung besonders zu honorieren, da er dieses „appeared to Minos the highest and most meritorious effort of female resolution against the seductions of the most dangerous enemy to our virtue, offended pride“ einfach wegließ. Bodmer, der, des Englischen mächtig, Lyttelton sicherlich selbst im Original kannte, betont hier den zu kurz gekommenen oder falsch interpretierten weiblichen Stolz. Indes könnte man sich den Zürcher hier gut und gerne als Mitstreiter der BlueStocking-Society imaginieren, denn dieser outet sich im Rahmen der Totengespräche als ein feministisch und emanzipiert denkender Zeitgenosse, wenn er sich an solch prominenter Stelle zu Beginn seiner Totengespräche über moralische Verhaltensweisen kritisch äußert und den von Lyttelton abgelehnten Stolz für die Frauen hinter der Maske der Arria wieder einfordert: A r r i a : […] Ich kann mich nicht enthalten zu denken, du habest wenig Gefühl von Recht, von Ehre, von Großmuth, von Freyheit gehabt, da du dich einem solchen Mann und bey solchen Umständen in die Arme geworfen hast. Du warest der Untreue getreu, du hattest die Falschheit lieb, du unterwarfest dich der Schande, du ertrugest die Unterdrükung. (BG, S. 10)
Octavia verteidigt die Liebe zu ihrem Mann, auf die weiblichen Tugenden der Geduld und der Sanftmut insistierend, was Arria nicht gelten lässt, wenn sie weiter am investigativen Fragestil festhält und über die Blindheit der Liebenden aufklärt: A r r i a : War er immer dein Ehegatte, auch da er die Aegypterin seine Gemahlin nennete? Als du ihm die eheliche Hand gabest, verschwurest du Scham und Unrecht zu empfinden, wenn Unrecht und Schande von deinem Gemahl ausgehen würden? (BG, S. 10)
In der vom Zürcher beliebten Anwendung des Chiasmus wird hier auf das Recht der Ehefrau hingewiesen, die „Scham und Unrecht“ empfinden darf, wenn „Unrecht und Schande über sie fallen.“ Doch Octavia verteidigt ihren Mann und scheint blind vor Liebe zu sein: O c t a v i a : Anton hatte seine Verdienste. Solch ein Geist, solch ein Feuer, solch ein hoher Stolz! Selbst seine Laster hatten vor den Tugenden anderer Mannspersonen noch Reizungen. So lang seine Zuneigung gegen mich fortdauerte, war er jeden Wunschen meines Herzens so gehorsam als der demüthigste Liebhaber, der jemals in den Arcadischen Thälern geseufzet hat. Diesen Antonius liebte ich noch, als er mich verlassen hatte. (BG, S. 10)
Die Verteidigungsrede stößt bei Arria auf taube Ohren, die sich über den mangelnden Stolz ihrer Gesprächspartnerin wundert und schließlich weiter auspackt, um noch andere Machenschaften des Ehegatten Marc Anton ans Licht zu ziehen: A r r i a : Ich verdiente, daß Minos mich unter die blödeste Ehegattin hinuntersezte, wenn ich Pätus geliebt hätte, weil er viel Stolz gehabt hätte, und doch unterthänig gegen mich
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Poetische Palimpseste
gewesen wäre, ich verdiente dann den Tod, den ich mit ihm gestorben bin. Aber wie konnte ein solcher Stolz mit solcher Unterwerfung begleitet deine Zuneigung erhalten, und du selbst so wenig Stolz haben? […] Ich könnte dieses dir zum Lob gedenken. Die gelassene Vernunft, die durch keine eifersüchtige, unglückliche Liebe gemartert wird, konnte dich die Geduld gelehrt haben zu leiden, was nicht in deiner, noch in deines Bruders des Tyrannen der Republik Gewalt stuhnd zu ändern; dieselbe konnte dich unterrichtet haben, daß die Kinder, die er mit Fulvia erzeugt hatte, und diejenigen, die ihm deine Nebenbuhlerin gebohren, von gutem Naturelle, und edelm Geiste wären, und daß du für Unschuld und Güte sorgtest, indem du für sie sorgtest. (BG, S. 10f.)
Die Totengespräche, die zuerst in den Wochenschriften erschienen, wurden mehrheitlich von Frauen gelesen. Das Thema der Ehe und das Verhalten der Ehepartner am Beispiel alter Römerinnen diente sicherlich nicht nur den alleinigen Unterhaltungszwecken, sondern verfolgte pädagogische Ziele. So konnte nach der literarischen Tradition der Hetärengespräche mit einem negativen Anschauungsbeispiel in Form einer Kataskopie über das loyale Verhalten von Eheleuten unterrichtet werden. Sicherlich etwas schwerfällig formuliert, wird hier zum Schluss die Hierarchie in der Unterwelt mittels der Katabasis berührt: Nach Arrias Gedankenspiel hätte sie von Minos, einem der Unterweltsrichter, durchaus noch tiefer als Octavia gestuft, d. h. höher bestraft werden können, wenn sie für ihre Liebe gleichzeitig Stolz und Unterwerfung des Mannes akzeptiert hätte. Hiermit wird kurz ihr eigener Liebestod gestreift, der bei Lyttelton größere Breite erfuhr. Arria die Ältere war die Gattin des Caecina Paetus, der nach dem gescheiterten Putschversuch von Claudius 42 n. Chr. zum Suizid verurteilt wurde. Diesem ging seine Frau Arria beispiellos voran, die nach Plinius Epistolae 3, 16 „[…] die Waffe zückt, die Brust durchbohrt, den Dolch wieder herauszieht, ihn dem Gatten mit den Worten reicht: ‚Paetus, es tut nicht weh.‘“848 Zusätzlich zu den Wochenschriften kursierten diese Gespräche vermutlich unter den Studenten in Handschriften und Abschriften, die neben dem Verhalten in der Ehe der alten Römer mehrheitlich über die nicht immer ganz ehrhaften und oftmals unredlichen politischen Machenschaften in der ansprechend einprägsamen Form der Dialoge unterrichtet wurden.
4.5.4 „Und auch Du, Brutus – So falle Cäsar.“ Die Gespräche 2 bis 4 thematisieren das Attentat auf Julius Cäsar, dabei zeigen sich beim 2. Gespräch zum Teil wiederum Überschneidungen mit der Vorlage Lytteltons, dem Dialogue XVII. Während Lyttelton Atticus den Mördern Cäsars
848 Vgl. Beise: Personenglossar zu Gespräche im Elysium und am Acheron. 2010, S. 87.
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ihre Fehler des Attentats vorhält und somit Atticus gegenüber Brutus stärken wollte, was sich auch allein von dessen Redeanteilen ablesen lässt, die weit ominöser ausfallen als jene Repliken des Brutus. Ein Ansatz, den Bodmer weniger verfolgte; er änderte die Gewichte und sprach seine Unterstützung wohl eher Brutus zu, der bei ihm als Tyrannenmörder mehr Unterstützung findet. Daneben präferiert der Zürcher eine andere Gesprächstechnik: Mit einem Angriff des Atticus auf Brutus setzt dessen Gegenbeispiel ein, worauf dieser in seiner Gegenattacke die wesentlichen Fragen aufwirft. Die Rede ist von der Rechtfertigung und den Folgen des Attentats, die mit den Fehleinschätzungen der Tyrannenmörder begründet werden: A t t i c u s : Brutus, wie viel Römisches Blut wäre gespart worden, wie viel grosse Männer hätten gelebt, welche Republik wäre stehen geblieben, wenn du mehr Gelassenheit, mehr Geduld gehabt hättest! […] Du hast sie [die Republik] zerstört, weil du sie zur Unzeit hast retten wollen. Die Götter hatten Vorsorge gethan, sie zu erhalten, als du ihnen in ihre Wege fielest und alles verderbtest. […] In Cäsars Abwesenheit hätten Cicero, Brutus, und ihres gleichen Patrioten die gute Ordnung die Republikanische Denkungsart, die alten Tugenden wieder hergestellt; Cäsar selbst hatte ihnen sein Ansehen und seine Macht überlassen, die sie zu diesem grossen Endzweck gebrauchen konnten. Also hätten wir die Republik wieder gehabt. Wir hätten uns wieder an die Gesetze der Republik gewähnt, und wenn man uns einen neuen Cäsar aus Parthen oder aus Scythien der Republik entgegengesetzt, mit welchem unsre Väter sich dem Pyrrhus und Hannibal widersetzt haben. (BG, S. 12)
Mit den hier eingeflochtenen Eckdaten der römischen Geschichte berücksichtigt der Geschichtsprofessor seine Studenten des Carolinum, die sich an die Kriegsherren Pyrrhus (319–272 v. Chr.) und Hannibal (247–183 v. Chr.) erinnert fühlen sollen, die Rom 288 bis 275 im panhellenischen Feldzug unter dem König der Molosser in Epirus sowie im Zweiten Punischen Krieg 218 bis 202 unter dem Karthager fast zum Erliegen brachten. Daneben rechtfertigt Brutus sein Vorgehen in langen Verteidigungsrepliken und erklärt darin, dass er Marc Anton „niemals […] schonen“ wollte, sondern „wenn izt die Geseze wieder hergestellt wären, [meinte,] daß man gegen ihn mit Urtheil und Recht handeln könnte“. Auch gesteht er seine Fehlinterpretation der Römer ein, denn wie er sagt, hatte er „eine zu hohe Meinung von den Römern, von ihrer Liebe zur Republik, von ihre[m] Großmuth“ (BG, S. 13). Anstatt sich für die Restaurierung der Republik, der „gemeine[n] Sache“ stark zu machen, schienen hier persönliche Dinge, wie „die eigene Ruh“ oder der „Besiz [d]er Güter“ von größerer Wichtigkeit. Wenn Beise Bodmer hier „Prinzipientreue“ sowie „Fundamentalismus“849 attestiert, kann diesen Argumenten entgegenhalten werden, dass es sich hier vielmehr um Bodmers bewährten Mittelweg des Konsens handelte. Lytteltons Ausweg in Richtung des modernen
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Poetische Palimpseste
Individualismus ganz im Sinne des sich entwickelnden angelsächsischen oder amerikanischen Pursuit of happiness verbindet Bodmer mit der alteuropäischen Tugend des „gemeine[n] Beste[n]“ der „Gesetzlichkeit“ sowie der „Freyheit“, dem sich der Einzelne in seinen Ansprüchen unterzuordnen habe, ein Argument, das schon in Rousseaus politischer Theorie des Contrat social (1762) Unterstützung fand. Das oberste Verdikt der rechtsstaatlichen Freiheit darf nicht zugunsten der Bedürfnisse von „Stillsizen“ (BG, S. 13) sowie „Ruhe und Sicherheit“ (BG, S. 14) geopfert werden. Neben dem Thema der Ruhe wird in einer fast schon romantisch anmutenden Zirkeldrehung an das von Atticus zu Beginn geäußerte Blutvergießen angeknüpft und nebenbei erneut Nachhilfe in Geschichte geboten: B r u t u s : […] Ich bekenne, daß du dich geschikt genug zum lezten Ziel des Staats gemacht, und gleichsam in seine Stelle gesezt hast. Und du empfandest vermuthlich ein herzliches Vergnügen, da du die edelsten, die großmüthigsten Männer der Republik, der Tyrannie aufgeopfert, und Roms edelstes Blut vergossen sahest, während daß du selbst dein einziges Leben mit dem freudigsten Geiste genossest. Du dachtest wenig daran, daß dieser Octavius, dem du deine Ruhe danktest, sie durch die Vereinigung mit dem ungeheuren Anton und dem albernen Lepidus, durch unmenschliche Achtserklärungen, durch die Ermordung des Cicero seines unvorsichtigen Gönners erhalten hatte. Es mußte wohl Ruhe da seyn, wo keine Seele mehr war, sich der Tyrannie zu widersezen. Ohne Zweifel zählest du auch unter den Gutthaten der glücklichen Zeiten, in welche deine lezten Lebensjahre gefallen sind, daß dieser Octavius einen der größten Bösewichter, den er nicht liebte, und der nicht von seinem Geblüte war, zum Erben seiner Tyrannie erwählt hat, in der vortreflichen Absicht, daß er so nach seinem Tode ein Verlangen nach ihm selbst erweken sollte. Und es ist schade, daß du nicht auch den Cäsar Claudius, den Cäsar Caligula, den Cäsar Nero, den Cäsar Heliogabalus und alle die andern Cäsares seine Nachfolger gekannt hast, die ruhigen, die sichern Zeiten zu preisen, die Rom und die Welt seinem klugen Entwurf einer gemilderten Cäsarischen Regierung zu danken hat; wie weit bessere Zeiten, als diejenigen unter der unruhigen Aristocratie, für welche ich gestritten zu habe, sie in ihre Ruhe zu bringen. (BG, S. 14f.)
Die trügerischen Gefühle von Ruhe und Sicherheit zu erzeugen, war das Kalkül des Despotismus, das die hier zum Schluss des 2. Gesprächs exemplarisch figurierenden Herrscher „Cäsar Claudius“, „Cäsar Caligula“, „Cäsar Nero“ oder „Cäsar Heliogabalus“ in ihren politischen Machenschaften bestens anzuwenden wussten. Schon Bodmer witterte die sich abzeichnende Gefahr nach der trügerischen Ruhe, ein Argument, welches sich dann mit Schillers Marquis Posa (Don Carlos, 3.10) zum geflügelten Wort entwickeln sollte, als sich der junge Revoluzzer über die Ruhe eines Kirchhofs bei Don Carlos beschwerte. Der König Spaniens, nichts
849 Beise: Nachwort zu Gespräche im Elysium und am Acheron. 2010, S. 106.
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Böses ahnend, bezeichnete diese Ruhe als „[d]es Bürgers Glück in nie bewölktem Frieden und diese Ruhe gönn[t er] den Flamändern“.850 Im 3. und 4. Gespräch wird der Mord an Julius Cäsar erneut eindringlich analysiert, wo Brutus sich mit Corvinus und darauf mit Matius unterhält. Der im 2. und 3. Gespräch auftretende Marcus Brutus (85–42 v. Chr.) war mit Cicero bekannt, wechselte politisch mehrmals die Seiten und hatte vom vormaligen Vertrauten Julius Cäsars dessen Attentat hauptsächlich mit zu verantworten. Nach der verlorenen Schlacht bei Philippi gegen die Truppen Marcus Antonius’ wählte er für sich 42 v. Chr. den Freitod. Schon vor ihm setzte sich sein Namensvetter Lucius Junius Brutus für die Republik ein. Als sagenumwobener Anführer der Befreiung Roms von der Monarchie 509 v. Chr. und erster gewählter Staatskonsul opferte er lieber die eigenen Söhne als das Heil der Republik. Bei Tullius Pomponius Atticus (120–32 v. Chr.) handelt es sich um einen reichen römischen Ritter, der sich weniger politisch, sondern als Anhänger der Philosophie Epikurs und Freund Ciceros vielmehr in Kunst und Wissenschaft betätigte und zudem mit Marc Antonius und Octavianus bekannt war. Marcus Valerius Corvinus Messala (64 v. Chr. – 13 n. Chr.) war politischer Redner im Senat, bevor er 42 v. Chr. mit Brutus und Cassius vergebens gegen Octavian und Marc Antonius kämpfte und darauf zu Letzterem und später zu Ersterem überlief. Unter Octavian, dem späteren Kaiser Augustus, bekleidete Corvinus verschiedene Ämter in Politik und Militär und stieg sogar bis zum Posten des Senatspräsidenten auf, bevor er schwerkrank den Freitod wählte. Matius Caius (geb. um 100 v. Chr.) war mit Cicero und Cäsar befreundet und deren Vermittler. Nach Cäsars Ermordung unterstützte er zuerst Marc Anton und darauf Octavian. Im 3. Gespräch wird die Aufrechterhaltung der „Freyheit“ nach dem Sturz Cäsars und nach dem Freitod Brutus diskutiert. Brutus erinnert Corvinus an dessen eigene politische Verantwortung. Und Corvinus, der Rom erlebte, wie es in Reichtum und Luxus zu versinken drohte, möchte von Brutus wissen, wie er auf die römische Republik hätte Einfluss nehmen sollen, wobei wohl absichtlich mit zwei kleinen französischen Anachronismen gespielt wird: C o r v i n u s : Ich bekenne dir gerade zu, daß ich die grossen Gaben, das Genie, den allgemeinen Sehpunct des Brutus nicht besaß; ich empfand, daß ich kein Brutus war. Ich hielte das für jeden andern für unmöglich, was ich nur ihm zutrauete. Ich sagte zu mir selbst: Wenn du Cäsars Gewalt hättest, und hättest zugleich des besten Willen die Republik, ihre Sitten, ihre Tugend, ihre Nüchternheit wieder herzustellen, wie wolltest du es angreifen?
850 Friedrich Schiller: Don Karlos. In: Ders.: Sämtliche Werke in fünf Bänden. Bd. 2: Dramen. Hg. von Peter-André Alt. München 2004, S. 124.
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Dazu wären alle Edicte, alle Befehle zu schwach. Sinnesart, Denkensart werden nicht durch Mandate geändert. Durch was für Mittel denn wolltest du die grosse Meinung, so die Römer von Herrschaft, von Schäzen, von Wollüsten haben, zernichten? Wie wolltest du die Gemüther, die von der Pracht, der Eitelkeit, den Debauches entnervt sind, umwenden, erhöhen? Ich plagte mich umsonst in meinem Kopfe. Aber ich hatte die Präsumption nicht, zu glauben, daß das, was ich mir unmöglich zu entdeken sah, einem Genie, wie des Brutus war, eben so unmöglich seyn würde. (BG, S. 16f.)
Der französische Begriff des débauché umschreibt eine äußerst ausschweifende dem Luxus und jeglichen Vergnügen zugetane Lebenshaltung, welche die Auswüchse der Aristokraten kritisch erfasste, und vor allem in den kulturkritischen Schriften Rousseaus Konjunktur erlangte, bevor der Terminus dann im Zeitalter der Romantik und in der Moderne zelebrierten Dekadenz die Haltung des Dandys charakterisieren sollte. Corvinus, der sich hier als dem Brutus unterlegen darstellt und „den allgemeinen Sehpunct“ (BG, S. 16) desjenigen teilt, was so viel wie Gesichtspunkt und Einschätzungsvermögen heißen mag. Brutus relativiert und erzählt von seinem republikanischen Plan, der schon fast ein demokratisches Konzept vorausahnen lässt: B r u t u s : […] Ich wollte alle Provinzen Roms in Republiken, und einige derselben in mehrere verwandelt haben. Jede sollte von Rom und von den andern unabhänglich gewesen seyn. Keine hätte für sich zu mächtig seyn sollen die andere zu unterdrüken, jede durch die Verbindung mit andern stark genug, eine von ihnen, die von der Herrschsucht wäre besessen worden, in den Schranken zu halten. Ich würde den alten Legionen Landgüter in den Provinzen gegeben haben, daß sie so wären zerstreut worden; sie würden ein besonderes Vaterland bekommen haben, und für dasselbe intereßirt worden sein. (BG, S. 17)
Auf Corvinus’ Einwand, Rom hätte dadurch Machtverlust erlitten und „wäre so nicht die Gebieterin des bewohnten Erdkreises geblieben“ (BG, S. 17), entgegnet Brutus, den Gedanken der Freyheit entfaltend: B r u t u s : Wer wollte die Macht über andre nicht dem Besize der Freyheit aufopfern? Rom sollte sich der Herrschaft über andere begeben haben, um selbst frey zu seyn. Man kan nicht sagen, daß die Welt Roms gewesen sey, jede Provinz war des Römers, den man in dieselbe schikete sie zu beherrschen. (BG, S. 17)
Weiterer Streitpunkt ist die Gemütsart, bzw. „die Denkungsart der Römer“, die nach Corvinus hätte geändert werden müssen, so dass die Römer bereitwillig auf Herrschaft oder auf Herrschsucht zugunsten des republikanischen Bestrebens verzichtet hätten. Darauf erteilt Brutus in der längeren abschließenden Passage des Gesprächs eine Lektion in idealistisch orientierter, politischer Kritik, worin er
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den Menschen mit einem fruchtbaren aufkeimenden Samen vergleicht, der für das Gute empfindsam ist: B r u t u s : Hatten denn die Römer eine solche Neigung für die Unterthänigkeit, daß ich nöthig gehabt hätte, ihre Gemüthsart umzugiessen? Sie mochten wol den Tyrannen geliebt haben, aber gewiß liebten sie die Tyrannie nicht. Dein Umgang mit Bösewichten und Lasterhaften hat dich verführet, daß du das menschliche Geschlecht für grundverderbt ansahest, und vergassest, daß in dem Herzen der menschen ein fruchtbarer Saamen ist, der aufkeimt, so bald er nicht erstikt wird. Mein Beyspiel, Ciceros Beispiel, das Beispiel aller rechtschaffenen Römer hätte die Sache erleichtert. Erinnere dich, wie Cleomenes zu Sparta einen eben so verderbten Staat verwandelt hat, und hat Junius Brutus eine kleinere Veränderung vorgenommen? Oder hat das Beyspiel weniger Kraft die Sinnesart ins Gute zu verändern, als ins Böse? Und brauchte es mehr Gewalt die Römer zu bereden, daß sie freye Leute würden, wiewohl sie den Nationen Antheil an ihrer Freyheit gäben, als daß sie dem Octavius, diesem treulosen Freunde, diesem zaghaften Feldherrn, diesem grausamen Zerstörer des menschlichen Geschlechtes dienen sollte? Nenne mich immer einen politischen Träumer, die grösten Gesetzgeber sind dafür gehalten worden, ehe der Ausgang die Richtigkeit ihrer Einsichten bekräftigt hatte. Wenn die Woldenkenden in ihren Unternehmungen unglücklich sind, so sind sie es nur darum, weil sie die Sache nicht mit dem Nachdruck angreifen, womit die Bösewichte ihre Vorhaben angreifen, sie sind zu langsam, zu vorsichtig, zu sanftmüthig; hätte ich selbst den Marc Anton in die Tieber werfen lassen, hätte Cato und die rechtschaffenen Männer die Ordnung und Sitten liebten, mit Catilinas, mit Cäsars Hitze, oder nur mit der Frechheit dieses üppigen Antonius, und dieses blöden Octavius gearbeitet, glückliche freye Menschen zu machen, so wäre Rom izt nicht mit dem Erdboden das Ballenspiel eines Claudius, eines Nero, eines Domiti[an]us und jedes Schandflecken der menschlichen Natur. (BG, S. 18)
Hinter der Maske des Brutus verschanzt sich der scharfzüngige Analytiker Bodmer, der daran appelliert, sich unablässig mit Vehemenz für das Gute, d. h. hier für die Rechte des freien Menschen einzusetzen. Es sei von Vorteil für politische Anliegen, wenn die Politiker immer vom Guten überzeugt seien. Das dabei ein gesunde Portion Optimismus und nicht zuletzt Idealismus den verschiedenen Projekten nur zu Gute kommen könne, klingt in der Phrase über „einen politischen Träumer“ an. Denn mit Träumen nehmen Veränderungen der Welt ihren Anfang. Die Kritik an der Sanftmut der Güte erinnert an die trügerischen Argumente hinsichtlich der Ruhe und des Stillsitzens. Um positive Veränderungen zu erzeugen, müssen zusätzliche Kräfte in Bewegung gesetzt werden. Das 4. Gespräch thematisiert das Dilemma des Brutus, der mit dem Tyrannen Cäsar zu dessen Lebzeiten befreundet war, was im Widerspruch zu seiner Liebe für das Vaterland stand. Matius schimpft mit Brutus über dessen naiven Glauben, der Tod des Tyrannen hätte zur erhofften Befreiung Roms geführt. Stattdessen hätte er sich denken können, dass dessen weit schlimmere Nachfolger, „de[r] üppige Anton und de[r] kleiner[e] Antonius“ (BG, S. 19) sich an der Spitze Roms behaupten würden, womit Cäsars Nachfolger, Marc Antonius und Cäsars Adop-
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Poetische Palimpseste
tivsohn Octavian, der sich später zum ersten römischen Kaiser Augustus ausrufen ließ, angesprochen sind. Brutus wirft ein, dass ihn Cäsar im Glauben gelassen hatte, er würde den republikanischen Traum teilen und ihm sogar das Versprechen gab, „nachdem er die Republik bezwungen hatte, sich selbst bezwingen würde“. Diese Schmeichelei hätte Brutus mit einem mittelhochdeutschen Lexem ganz „kirre“ (BG, S. 20) gemacht. Und das Gefühl, vom Tyrannen hintergangen worden zu sein, bekräftigte ihn dann zu seiner Beihilfe zum Attentat. Heimtücke und Treulosigkeit wird Brutus ferner von Matius, dem ebenfalls einstigen Freund Cäsars vorgeworfen. Brutus sieht ein, dass er und die Cäsarmörder sich einer List bedienten, hingegen verteidigt er sich und macht deutlich, dass Tücke, Gewalt, Falschheit und Ungerechtigkeit die Eigenschaften Cäsars waren, mit welchen dieser sich den Weg zur Macht gebahnt hatte: B r u t u s : Heimtückisch; die Tüke mußte bey uns ersezen, was er an Gewalt von uns voraus hatte. Wir sezten der Gewaltthätigkeit die List entgegen. Aber er selbst brauchte die Tüke zu der Macht. Wir griffen ihn mit seinen vornehmsten Gewehr an, sein ganzes Leben war Falschheit. Sein Walspruch war, [um] die Herrschaft zu erlangen, dürfte man sich jede Ungerechtigkeit erlauben. Wir hatten den Grundsatz; Einen Tyrannen wäre man nicht schuldig Wort zu halten, und kein Eid könnte verbinden zu thun, was Jovi und allen Göttern mißfällig wäre. Wir glaubten nicht, daß die Götter an Roms Untergang einen Gefallen haben könnten; wir hatten uns aber auch nicht verbunden, ihm dazu beförderlich zu seyn. (BG, S. 20)
Martius beschuldigt Brutus weiter, mit dem Sturz Cäsars einzig die Spitze des Eisbergs getroffen zu haben. Brutus räumt darauf ein, dass es eine Fehlinterpretation war, mit dem Auslöschen des Tyrannen den römischen Hang zur Tyrannis ausgemerzt zu haben. Aber auf Matius’ Anliegen, die Macht der Diktatur an sich zu reißen, um von oben die Revolution zur Republik zu entrollen, erwidert Brutus in einer abschließenden Reflektion, die gleichsam als Schlussakkord aller drei Gespräche eine republikanisch-bürgerliche Haltung verlauten lässt, die dem Geist des Zürchers entsprochen haben muss: B r u t u s : Gaubst du, daß der Dictator aus zaghaften, niederträchtigen, und sclavischen Gemütern eine Nation von Freyen hätten machen können? Durch Befehle werden nicht Großmüthige gemacht. Aber der Dictator steht dem Tyrannen so nahe, daß ich diese Gewalt in meiner Person wie in Cäsars verabscheuete. Meine Grundsätze liessen mir nicht zu jemand selbst zu seinem besten Vortheil zu Freyheit und den menschlichsten Rechten zu zwingen. Ich wollte den Römern so viel Freyheit gegeben haben, daß sie zwischen dem guten und dem schlimmen das schlimme wählen könnten, wenn ihre Dummheit oder ihre Gemüthsart sie so lenkete. (BG, S. 21)
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Nachdem in diesen drei Gesprächen Brutus sich rechtfertigen durfte und über die Folgen seines Handelns laut nachgedacht wurde, erhält nun das Opfer und zugleich der als Tyrann Angeklagte, Julius Cäsar, in den Gesprächen 9, 11 und 13 das Wort, um gegenüber seinen beiden Nachfolgern Augustus und Heliogabalus sowie Cato von Utica seine Sicht der Dinge zu präsentieren. Sein erster Dialogpartner ist Caius Octavius (63 v. Chr. – 14 n. Chr.), sein Adoptivsohn Cäsar Octavianus und späterer Kaiser Augustus (30 v. Chr.), der 25 v. Chr. den Frieden erklärt und zeit seines Lebens die großen römischen Dichter Vergil, Horaz und Ovid sowie den Historiker Livius gefördert hatte. Im 9. Gespräch äußert Cäsar sein Missfallen gegenüber Brutus, den er mit Gütern, Würden und politischen Ämtern betraut hatte und ihm zudem allzu freundschaftlich gesinnt war: C ä s a r : […] Zwar hielt ich den Brutus für Römisch genug, daß er das Vaterland tausend Freuden vorziehen würde. Aber ich glaubte auch, daß er niemals einen Freund um der Republik selbst willen ermorden würde. Ich hielt ihn für groß genug, daß er Freyheit und Rechte sein eigen Leben aufopfern; aber nicht für so klein, daß er das Blut seines Freundes vergiessen könnte. (BG, S. 39)
Erneut wird hier Cäsars Falscheinschätzung offenbar, der seinen Freund Brutus verstanden hätte, wenn dieser die Freundschaft als größeres Gut erachtet hätte, anstatt sich für Freiheit und Politik aufzuopfern. Dass sich Brutus hingegen für die Politik und gegen den Freund entschied und diesen sogar opfern würde, damit hatte Cäsar nicht gerechnet, was mit den antithetisch kontrastierenden Epitheta ,groß‘ und ,klein‘ eine fast räumliche Plastizität erhält. Darauf wird implizit die Frage angeschnitten, ob die Republik oder die Monarchie das bessere politische System darstelle. Über seinen guten Ruf und seine königlichen Tugenden belehrt Augustus, der sich 31 v. Chr. zum ersten römischen Kaiser ausrufen ließ, seinen Adoptivvater Cäsar, der es ebenso liebte, einst sein Haupt mit Lorbeeren zu kränzen. Augustus zeigt sich hier dem republikanischen Erbe Roms und deren Bedeutung in dem fingierten Totengespräch weit mehr zugetan als er es in Wirklichkeit womöglich war. Das im Text mehrmals verwiesene Utensil der Macht Cäsars, das Schwert, erhält hier eine metonymische Konnotation und Kraft in der Argumentation, mit welchem Cäsar seine politischen Rechte begründete: „[m]ein Schwerdt, meine Siege gaben mir ein Recht darauf“ (BG, S. 40). Augustus kritisiert dann, wie Cäsar mit dem republikanischen Erbe umgegangen sei: Sagtest du nicht, das Schwerdt und das Glück hätten dir ein Recht auf das ehemalige Eigenthum der Römer gegeben? […] Das Schwerdt wars, was den Cicero, den Brutus, und alle andere Römer zu dir verband, was sie Geduld, Ehrfurcht, Aufwart, Gefälligkeit, Stillschweigen, Gleißnerey lehrete. Zwang und Nothwendigkeit redeten und handelten durch
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sie. Sie hätten nicht anderst gethan, wenn Catilina deine Siege erhalten hätte. Du hast die Macht des Sieges zu weit ausgedehnt, da du glaubtest, er würde selbst die Denkungsart dieser Republikaner ändern, oder ihnen das Gedächtniß rauben, zu vergessen daß sie Söhne der Republik wären, deren Rechte du ihnen aus der Hand gewunden. Wo war deine Weisheit, als du glaubtest, sie würden dir dafür verbunden seyn, daß du ihnen etwas von den Gütern der Republik zurükwarfest, nachdem du sie aller beraubt, und sie naket ausgezogen hattest. (BG, S. 40)
Das metaphorisch gesetzte Ausziehen spitzt die Kritik an Cäsar zu, der als Tyrann beschimpft wird, die Söhne der Republik mit seiner Politik entweiht zu haben, indem er die republikanischen Regeln missachtete. Jedoch auch Augustus hatte seine Schattenseiten. Wie Beise anführt, ist Bodmers Quelle Thomas Gordons Discours historique, critique et politique sur Tacite,851 die den selbstkritischen Ausführungen des Augustus zugrunde liegt, wenn dieser sich über seine verruchten Machenschaften zu erklären sucht: A u g u s t u s : Man hat dich nicht recht berichtet. Man hätte dir sagen sollen, daß ich Pansa, der mir gute Dienste zum Nachtheil der Republik gethan, vergiftet; den Cicero, dem ich für die höchsten Würden verbunden war, seinem unbarhmherzigsten Feinde, ihn zu zerstümmeln, in die Hände geliefert; den Leichnam des Brutus, vor dem ich kurz zuvor geflohen war, gemißhandelt; die vornehmsten Gefangenen ohne Gnade umgebracht; die Edeln von Perus[i]a auf deinem Altar geschlachtet; die Einwohner von Nursia in die Wildnisse gejagt; dem Quintus Gall[i]us vor seiner Hinrichtung die Augen ausgerissen; den Toranius, meinen Vormünder, niedergemacht. Ich verurtheile jeden, der mir nicht gefiel, den ich für einen Feind meiner Herrschaft hielt; die Köpfe der grösten Römer wurden auf die Rostra geheftet. Niemand entfloh meinem Grimme, weder Patricier, noch Ritter, noch Verwandte, noch Freunde. Ich hätte Agrippa, der den Marc Anton für mich geschlagen, umgebracht, wenn nicht Mecänas die Mittel gefunden, es zu verhüten. (BG, S. 41)
Augustus muss ein ähnlich grausamer Herrscher gewesen sein wie Cäsar, wenn nicht weit schlimmer, denn er schreckte nicht im Geringsten davor zurück, sich seiner Feinde auf brutalste Weise zu entledigen. Dass so jemand eines natürlichen Todes gestorben sei, scheint Cäsar kaum zu glauben und fragt, wie er sein Leben „gegen alle Zusammenschwörungen gesichert habe“ (ebd.). Der Alleinherrscher war ein brutaler Mörder, der die diversen Tötungsarten bis hin zur tabula rasa einsetzte, um sich seiner Gegner zu entledigen, wissend, dass dies die einzige Möglichkeit war, selber am Leben zu bleiben:
851 Vgl. Thomas Gordon: Discours historique, critique et politique sur Tacite. Traduits de l’Anglois. Par [Pierre Daudé]. Bd. 1. Amsterdam 1742, S. 132–139 und Bodmer: Gespräche im Elysium und am Acheron. 2010, S. 41, Anm. 28.
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A u g u s t u s : Eben dadurch, daß ich niemand habe leben lassen, der Großmuth, Adel der Seele, oder Empfindung für menschliche Rechte hatte. Ich legte das Schwerdt nicht aus der Hand, bis daß niemand mehr lebte, der die Republik gesehen hatte. Erst nachdem ich meine Soldaten des Mordens überdrüssig gemacht hatte, hemmete ich meine Wuth; erst nachdem ich dem Senat und dem Volk den Muth und die Waffen genommen hatte, gab ich den Römern eine Unthätigkeit, die ich Ruhe hieß; ich gewöhnte sie an einen faulen Müssiggang, und stürzete sie in Wollüste, die sie gänzlich verwandelten. Du hast nicht gewußt, daß unsers gleichen die Todes-Strafe nur duch Wiederholungen der Verbrechen vermeiden, daß wir uns jedermann zum Feinde machen, wie wir selbst jedermanns Feinde sind. Nachdem du dir aus den Rechten der Menschen und ihrem Leben ein Spiel gemacht hattest, must du dich nicht klagen, daß sie es empfunden, und daß sie die Dolchen gebraucht haben, die du ihnen gelassen hast. (BG, S. 42)
Aufgrund der ausgebreiteten Gräuel und Grausamkeiten des Augustus hofft Cäsar im kollektiven Gedächtnis der Nachwelt besser abzuschneiden und im Vergleich mit Heliogabalus, eigentlich Vatius Avitus (204–222 n. Chr.) dem Priester des Elgabal, dem orientalischen Sonnengott und autokratischen Kaiser Roms als nichts weniger als ein „Held“ in Erinnerung zu bleiben. Mit eben diesem, einem seiner Thronfolger, sieht sich Cäsar im vergleichsweise längeren 11. Gespräch konfrontiert. Hier fällt sogleich die gewählte Sprache des Alleinherrschers auf, der vor Cäsar auf die Knie fällt: H e l i o g a b a l u s : Diese Bösewichter, die mich umzubringen bis in die Cloaken herabstiegen, die mich in dem garstigen Orte in den Armen meiner Mutter mit tausend Stichen ermordeten, sie gewannen nichts weiter, als das sie die Tage beschleunigten, in welchen ich in die Gesellschaft Cäsars kommen sollte; des Mannes, der in dem herrschenden Rom, der Gebieterinn der Könige, einen Thron aufgerichtet hat, auf welchem kein so nichtswürdiger Mensch sässe, der nicht mitten in der Zeit, da die Dummheit ihn zu dem niedrigsten, und die Bosheit zu dem grimmigsten Viehe hinabsetzete, geduldet, angebetet, vergöttert, würde. Nimm dafür meinen tiefsten Dank an, den ich dir auf meinen Knieen, an den Boden gefallen abstatte. (BG, S. 51)
In dieser Passage sind die für die Gattung ganz typischen rhetorischen Mitteln der Katabasis und Anabasis sowie der Klimax erkennbar: Denn die Beschreibungen der Errungenschaften im Leben und der gegenwärtigen Ortschaften im Tod ver anschaulichen den Wechsel der Blickrichtungen von oben nach unten, begonnen mit dem Abstieg in die Kloaken des Hades zur Errichtung des Thrones Cäsars, was wiederum mit dessen als „niedrigste“ apostrophierten Taten kritisch gespiegelt wird. Auf die Klimax von der „grimmigsten“ Hinabsetzung des Viehs zur Apotheose, in den Partizipien „geduldet, angebetet, vergöttert“ skizziert, erfolgt eine erneute Katabasis im „tiefsten Dank […] auf meinen Knieen, an den Boden gefallen“. Neben den genannten Superlativen der Adjektive „niedrig“, „grimmig“ und „tief“ sticht die Verwendung der Hyperbel ins Auge, mit welcher Heliogaba-
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lus von seinem eigenen Tod: „mit tausend Stichen ermordet“, berichtet. Die Apotheose Cäsars, der sich zu Lebzeiten den Göttern gleich inszenierte, wird in der nächsten Replik noch deutlicher illustriert, wobei die Übertreibung in der mehrmals explizit genannten Ehrhöhung zum Gott sowie das wiederholte Leitmotiv der Thronbesteigung bis hin zum himmlischen Thron auf deren ironische Entlarvung abzielt, wiederum in einer Anabasis mündend: H e l i o g a b a l u s : Ja, Cäsar, du trugest das Schicksal des menschlichen Geschlechts nicht bloß für deine Person in deiner rechten Hand, sondern du legtest es in die Hand des Schwächsten von deinen Thronfolgern, der sich mit keinem Nahmen nennete; laß mich deine Kniee umfangen, Herr des Schicksals, Geber der unumschränktesten Gewalt, Erschaffer von Göttern, von einer langen Reihe göttlicher Cäsaren, die alle zu Jovi in den Himmel steigen. (BG, S. 51)
Die Anabasis erfährt darauf noch eine erneute Steigerung in Anspielung auf Vergils Georgica (1, 34), wenn bekräftigt wird, dass die toten Könige aus der Unterwelt einstweilen „sich aus eigenen Kräften erheben und einmal mit mächtigem Flug in den Olympus emporsteigen [werden], als ihren Götterssitz, da mit dem ewigen Jupiter und den unsterblichen Göttern zu herrschen. Oder der glühende Scorpion im Sternenhimmel wird seine Arme enger zusammenziehen, und ihnen den besten Theil an seinem Gebiete abtreten.“ (BG, S. 51) Diesem „asiatischen Schwulst“ oder den „baroken Schmeicheleyen“ kann Cäsar, der sogar als „Venus Sohn“ bezeichnet wird, im Tode offensichtlich nichts mehr abgewinnen. Der Katabasis verwandt, wird die Perspektive wieder nach unten gedreht, wenn er den ehemaligen Priester zuerst als Sonnengott anspricht und dann in Anwendung einer Anapher (welcher, welcher) in brachialem Ton auf dessen Platz im Tierreich verweist: „Welche[r] Phöbus! welcher Ausdruck aus dem Serai! hange nicht so an meinen Knien, du elender Wurm. Ich habe keinen Gefallen an diesem niederträchtigen Betragen, und mein Geschmack ist feiner, als daß man mich mit asiatischem Schwulst liebkosen könnte.“ (BG, S. 52) Der Mensch als sklavenartiger Wurm begegnet immer wieder in Bodmers Texten und gehört zu dessen pädagogischem Programm, das hier als eine Bildmetapher ex negativo verstanden werden muss. Denn der Zürcher zielte darauf, die Kriechenden zu selbstständig denkenden freien Bürgern zu erziehen, ein Bild, das bspw. auch schon in der satirisch fokussierten Romanparodie Edward Grandisons Geschichte in Görlitz (1755) illustriert wurde (vgl. Kapitel 6.1). Das Thema des „Wurms“ entwickelt sich im Laufe des 11. Gesprächs zu einem Leitmotiv, welches vom Kontrahenten dankend aufgenommen wird, um den Gesprächsgegner wiederum kritisch vorzuführen:
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H e l i o g a b a l u s : […] Vor dem Tode hattest du deinen Mitconsul, den Marc Anton geworben, dass er sich vor dir auf die Knie niederlegete, dir das Diadem anzutragen. Er war der Regenwurm, der kriechende Mensch, der nakete Lupercus, der dir auf dem offenen Platze, wo du im Purpurgewande, mit bekränztem Haupte auf dem goldenen Sessel sassest, das Diadem reichete, das er auf deine Bitte für dich hatte verfertigen lassen. (BG, S. 52)
Das Diadem aus vergoldetem Lorbeer, mit welchem sich Cäsar für seine Heldentaten selbst auszuzeichnen pflegte, wurde vorab wiederum in einer Klimax vom Sonnenpriester angeführt: „Kann der asiatische Ausdruck dem Mann widrig seyn, der mit Herzwehen sich nach dem barbarischen Pompe sehnet, nach den goldenen Stofen, den Perlen, den Diamanten, der Tiare, dem Diadem?“ (BG, S. 52) Damit erinnert Heliogabalus, dem hier seine Bisexualität vorgeworfen wird und der als „der Mann aller Frauen, und die Frau aller Männer“ (BG, S. 55) charakteristisch im Chiasmus umschrieben wird, Cäsar an dessen offensichtliche Neigung zur Monarchie, der sich gerne als König feiern ließ, wofür er 44 v. Chr. in der von republikanisch gesinnten Aristokraten geleiteten Verschwörung mit dem Tod bezahlen sollte. Ferner war Julius Cäsar kein Unschuldslamm in sexuellen Belangen; ihm werden Neigungen zu Pädophilie, Homosexualität und Polygamie vorgehalten. Mit den kleinen Buben habe er wahrscheinlich weniger „die Sittenlehre der Stoa“ abgehandelt, und der Hang zum asiatischen Lebensstil dem einstigen Willen, „den Hauptsitz [s]eines Reiches [nach] Asien [zu] verlegen“, wird ferner damit begründet, dass Cäsar „sicher und ohne Furcht den ganzen Pomp der asiatischen Wollüste, das Diadem, die Tiara, das Serai, die Niederwerfung auf die Knie geniessen könnt[e]?“ (BG, S. 55f.) Weitere Aufklärung in historischen Belangen bietet die Form des Totengesprächs nur allzu gut: Die Affäre mit Cleopatra, der Ägypterin, wird von Cäsar nachträglich als „eine Schwachheit“ bezeichnet, „die vorüber gieng“. Daneben wird in Form der Anekdote an die anderen berühmt-berüchtigten römischen Herrscher erinnert, die nun auf gleicher Ebene im Reich Rhadamantus, des Totenrichters wiederzutreffen sind: Neben jenem, „der sein Roß zum Consul ernannte“, womit Caligula gemeint ist, oder jenem, der „seine Frau hat umbringen lassen und sie folgenden Tags an die Tafel“ (BG, S. 54) zu rufen, was die Eigenart des Claudius war, worüber schon Sueton in De vita Caesarum (55, 3; 39, 1) berichtet hatte. Daneben folgen aber haarscharfe politische Kritiken an Cäsars korrupten, politischen Machenschaften, denen jene des Nachfolgers in Nichts nachstehen: H e l i o g a b a l u s : […] Ich bin auf deinen Thron gestiegen, ohne daß ich Verdienste nöthig gehabt hätte. Du hattest die Bahn zu der despotischen Gewalt gebrochen; die erhabenen Herzen, die in der Denkungsart der Republik erzogen worden, waren lange dahin; man war
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an die Sclaverey gewöhnt. Das ist es, was ich dir auf den Knieen hatte danken wollen. Es gilt gleich, ob ich Caracallas oder eines andern Sohn war, die Legionen setzeten mich auf deinen Thron, und mit demselben Rechte, welches sie dir gegeben hatten, die Republik zu Grund zu richten. (BG, S. 53)
Vor dieser politischen Verantwortung gibt es für Cäsar kein Entrinnen, wenn diesem noch zum Schluss mit geballter Verve die Rechnung vorgehalten wird: H e l i o g a b a l u s : Du hast die Grösse in der Macht Uebels zu thun gesucht, und dieselbe hast du jedem Cäsar von deinen Nachfolgern zum Erbe gelassen. Du hast ihnen damit einen Freybrief gegeben, alle Ausschweifungen des Grimms und der Wollust zu begehen: das alles muß auf deine Rechnung gestellt werden. (BG, S. 56)
Als Abgesang wünscht Heliogabalus Cäsar, dass dieser als „Hyäne“ wiedergeboren werde, angenommen, „das kleine Gerücht unter den Todten am Acheron [würde sich bewahrheiten], daß sie nach dem Umlaufe einiger Jahre wieder auf das Erdreich sollen geschickt werden, andere Körper zu beleben“ – was dem alten Gedanken der Unsterblichkeit der Seele nahe kommt. Abschließend muss Cäsar Cato von Utica im 13. Gespräch gegenübertreten, den er diesmal nicht am Acheron, sondern im Elysium trifft, was für Cato kaum nachvollziehbar ist, wenn er ironisch meint, sein Gegenüber, der „Unterdrücker“ (BG, S. 65), hätte sich verlaufen. Cäsar habe ferner nicht nur die Demokratie, sondern auch den Senat zerstört, und lauter „Unmenschen auf den Thron der Gerechtigkeit gesetzt“ (ebd.). Der Titel „Vater des Vaterlandes“, den Cäsar 44 v. Chr. vom Senat verliehen bekam, wird ihm von Cato abgesprochen, mit der Begründung, dieser hätte Zwist im Senat gestreut: „du wolltest nur dem Senat widersprechen, und ihn verhaßt machen, deine Neigung war immer Uneinigkeit in der Regierung einzuführen“ (BG, S. 66). Cäsar hingegen hält nicht mit seinen Beschuldigungen zurück: Du selbst schriest, man muß diesen Strassenräuber nicht mit Senat-Schlüssen, sondern mit den Waffen zu recht weisen. Ihr verhältet es nicht, daß ohne meinen Kopf keine Versöhnung Plaz haben könnte. Ich wäre des Todes gewesen, wenn ich meine Scharen abgedankt hätte. (BG, S. 67)
Cato kritisiert Cäsars politische Haltung, „keinen höheren [zu] erkennen; selbst den Staat nicht, das Werk und den Ruhm der Götter“ sowie dessen kriegslustige Staatsführung: „Wohin die Herrschsucht dich rief, dahin f[lo]gest du mit dem Schwert in der Faust. Niemals kostete Blutvergiessen dich einen Gedanken; du dünktest dich groß, wann du dir eine Bahn durch Blut und Verwüstung brechen konntest“ (BG, S. 67). Darauf wird Cato der Vorurteile und der Mitschuld am Untergang der Republik bezichtigt:
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C ä s a r : Das sind die Vorurtheile, mit welchen du den Untergang der Republik befördert hast: Du konntest dir nicht vorstellen, daß du nicht in Platons Utopia, sondern in dem zweyträchtigsten Staat lebtest. Wie doch! dieser tugendhafte, diese strenge Mann, der in dem Senat redete, wie er in der wahrhaftigen Republik sollte geredt haben, hatte so wenig Einsichten, so viele Vorurtheile, daß er den ungezähmten Hochmuth, den verhaßtesten Despotismus des Senates nicht entdeckete! Sahest du nicht, daß ein Volck, welches zur Verzweiflung gebracht war, dem ersten, der an seine Stirne stehen, dem ersten, der es in seinen Schutz nehmen wollte, sich ergeben würde? Es war ein Senat, der nicht werth wahr, ein Volk zu regieren, mit welchem er die grösten Triumphe erhalten hatte. (BG, S. 67)
Cato meint darauf, Cäsar habe „eine schöne Dose von Witz, die politischen Maximen zu überspannen, daß sie zum Laster werden“ (BG, S. 67). Im Streit darüber, ob Rom eine Demokratie oder doch eine Aristokratie gewesen sei, wirbt Cato für die Vorzüge des Senats: Siehe, wenn du willst, den Senat für den König an, das Volk für die Unterthanen. Ein Senat von Patrioten hat alle Vortheile der Monarchie, ohne die Nachtheile. Da er aus mehreren besteht, so hält einer den andern in Schranken; einer ist des andern Hüter. (Ebd.)
Cäsar wünscht sich selbst am Schluss zurück in den Tartarus und den Senat ins Elysium, was wie ein abschließendes Schuldgeständnis oder besser noch als eine Einsicht zur Korrektur zu verstehen ist. Diesem imposanten geschichtlichen Ereignis, dem Attentat auf Julius Cäsar, widmete Bodmer in seinen politischen Schauspielen im Wettstreit mit Voltaire und nicht zuletzt nach dem Modell Shakespeares in Julius Cäsar (1763)852 und Marcus Brutus Anton (1768) große Aufmerksamkeit. Auf ein ähnliches Interesse stieß die Figur Catos, die einer Personifikation des Patriotismus gleichkam und von den Aufklärern Beachtung erhielt. Gottscheds Übertragung nach dem Beispiele des Sterbenden Cato (1731) von Addison und Steele wurde von Bodmer nicht nur kritisch besprochen, sondern gleichsam zum Thema der Personalsatire Gottsched, ein Trauerspiel, oder: Der parodierte Cato (1765) erhoben (vgl. Kapitel 4.1). In den Gesprächen 5 bis 8 und 12 treffen römische und griechische Dichter der Antike aufeinander, zuweilen sind Politiker die Gesprächspartner sowie der in den Gesprächen einzig auftretende Gott und Götterbote Mercur, Sohn Jupiters und Majas. Politik und Literatur der alten Römer ist dann wiederum Thema im 5. und 6. Gespräch. Über seine Werke unterhält sich im ersteren Publius Vergilius Maro (70–19 v. Chr.) zuerst mit den ehemaligen römischen Politiker und wohl berühm-
852 Vgl. auch Johann Jakob Bodmer: Julius Cäsar. Ein politisches Trauerspiel (1763). Mit Materialien und einem Nachwort hg. von Jesko Reiling. Hannover 2009.
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testen politischen Rhetor lateinischer Sprache Marcus Tullius Cicero (103–43 v. Chr.) und darauf mit dem Gott „der Beredsamkeit, der Kaufmannschaft, der Diebe, der Fechtkunst und der Wege und Straßen“, der nebenbei dafür verantwortlich war, „Die Seelen der Verstorbenen aus ihren Leibern [zu] lassen, und sie in die Hölle hinunter und wieder hinaus [zu] führen“ (BG, S. 22). Wie schon so oft, setzen die Gespräche damit ein, dass sich die Kontrahenten über den Ort ihrer Begegnung wundern. Denn gerade in der Hölle hätte man den andern oftmals nicht erwartet. Cicero berichtet also von seiner Suche nach Vergil in den „obern seligern Gefilden des Elysiums“ und fragt sich, was Minos, einer der Hadesrichter, sich wohl dabei gedacht haben mag, Vergil „in diese niedern und dunkeln Auen“ zu verweisen, „in diese Wohnungen der zweydeutigen, doppelsinnigen Charakter?“ (BG, S. 22) Cicero zählt Vergil, den „Dichter, der mit Homer wetteiferte“ unter die „Patrioten und […] Wohltäter des menschlichen Geschlechts“ (ebd.). Vergil hingegen meint sich ganz recht am richtigen Ort, da er glaubt, von Minos nicht aufgrund seiner poetischen, sondern seiner moralischen Verdienste klassiert worden zu sein. Das im Auftrag von Kaiser Augustus verfasste Nationalepos, die Aeneis, sowie weitere berühmte Werke, wie die Bucolica oder die Georgica sind Gesprächsthemen. So zitiert Cicero, der über Vergil von Horaz nur Lobesworte vernommen hatte, einen berühmten Vers aus der Aeneis 8, 670: „Secretosque pios, his dantem jura Catonem.“ (Ebd.)853 Diese huldvolle Äußerung über Cato wurde schon von Montaigne in den Essais I, 36 in Tiecks Übersetzung wiedergegeben: „Wo Cato Richter war.“854 Selbstkritisch gibt die Figur des Vergil hier zu, die großen Herrscher verkannt zu haben, denen er in seinen Werken schmeichelte: V e r g i l : […] Ich empfand nichts von Republik, von Freyheit, von menschlichen Rechten, Die höchste Grösse, die ich empfand, war des Cäsars, des Dictators, des Augustus, der Unterdrücker aller menschlichen Grösse, alles wahren Adels der Seele. O Cicero, laß mich dir bekennen, ob es mich gleich stinkend vor dir machen muß, daß ich von Octavius habe schreiben dörfen: Hic vir hic est tibi quem promitti saepius audid.855 Und: – – Erit ille mihi semper Deus.856 Und: Ipse tibi jam brachia contrahet ardens Scorpius.857
853 „Abseits [von den Verbrechern sehe man in der Unterwelt] im Frieden und ihren Gesetzgeber Cato.“ 854 Vgl. BG, S. 22, Anm. 4. 855 Vergil: Aeneis 6, S. 791: „Der aber hier ist der Held, der oft und oft dir verheißen“. 856 Vergil: Bucolica 1, S. 6: „er gilt mir immer als Gott“. 857 Vergil: Georgica 1, S. 34f.: Das Sternzeichen „Skorpion, der glühende, zieht schon die Arme / willig zurück“, um für Augustus Raum zu schaffen.
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Was wollte ich izo leiden, ich hätte ihn nur immer so kindisch gelobt, wie in dieser lezteren Zeile; dieses ausschweifende Lob hat doch das Antidotum der Schmeicheley in sich selbst, es zerstört sich selbst durch seinen Unsinn. Aber da ich ihn für ein Vorbild der Tugend gegeben, widersprach ich dem Gefühl meines eigenen Herzens geradezu. Wie verächtlich komm ich mir izt selbst vor! (BG, S. 22f.)
Beise zeigt hier wieder auf, dass Bodmers Quellen neben Montaignes Essais auch Litteltons Dialogues of the Dead waren, wenn Cicero den jüngeren Vergil auf Quintilian verweist, der „für den besten von [den] alten Römischen Kunstrichter[n]“ (BG, S. 23) gehalten wurde.858 Vergils Entschuldigung gegenüber Cicero, dass er diesen in seinen Werken nicht bedacht habe, wirkt wie eine späte Einsicht: V e r g i l : […] Ich habe mich offenbar gegen dich versündigt. Erstlich da ich eines Mannes von deinen Verdiensten um die Republik mit keinem Worte gedacht, da ich deine That, das schönes Thema der Poesie, so viel an mir stand, aus dem Gedächtnis vertilgete, hernach da ich selbst deine ewigen Schriften, die Stimme der Wahrheit, der Tugend, der Freyheit, mit meinem poetischen Geifer besprützete. (BG, S. 23)
Selbstkritisch muss Vergil über seine eigenen Aussagen aus der Aeneis urteilen und eingestehen, dass er die damaligen Herrscher falsch eingeschätzt hatte, wenn er fortfährt: Orabutn alii causas melius – – –859 Kanst du mich izt noch leiden, Cicero, kannst du mich nicht in diesen niedern Gegenden den einsamen Betrachtungen eines niederträchtigen Schmeichlers überlassen, und zu den Bösewichten verweisen, von welchen ich gesuchen habe: Omnes, Cœlicolas, omnes supera alta tenentes. – – – – hic Cæsar & omnis Juli Progenies magnam Cœli ventura sub axem.860 Das sind, die Tiberius, die Claudius, die Caligula, die Nero, und alle diese Schandflecken des menschlichen Geschlechtes, auf die des Cäsars Nahmen und Gewalt gekommen ist. (BG, S. 24)
Mit dem für das Genre typischen Wechselspiel der Perspektiven von unten nach oben, respektive von der Frosch- zur Vogelperspektive wird Vergil von Cicero in
858 Übernommen von Littelton, S. 107: „Horatz [...] Damit ich dir aber deinen Vorzug vor mir und allen Verfertigern lateinischer Verse bekannt mache: so will ich dich zum Quintilian, dem besten unter allen römischen Kunstrichtern führen; der wird dir sagen, in was für einen Rang du mußt gesetzt werden.“ Zit. nach BG, S. 23, Anm. 8. 859 Vergil: Aeneis VI, S. 847: „andere [...] führen gewandter das Wort vor Gericht“. 860 Ebd. VI, S. 787ff.: „alle Himmelsbewohner, hoch droben thronen sie alle. [...] Caesar ist hier und des Julius gesamte / Nachkommenschaft, die einst aufsteigt zum Himmelsgewölbe.“
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dessen abschließenden Passage in einer menippeisch-mokierenden Respektlosigkeit gegenüber den Helden aus antiker Geschichte im Spannungsfeld zwischen Pathos und Bathos, d. h. zwischen mythischer Erhabenheit und realer politischer Verantwortung für die Nachgeboren, mit satirischer Schärfe und geistreichem Wortwitz zurechtgewiesen: C i c e r o : In meinem Leben hätte deine Poesie mir Herzwehen verursacht, weniger, weil sie meinen Namen nicht ehrete, als weil sie sich selbst durch die Erhebung des Octavius des Undankbarsten unter allen Menschen, und des Kleinmüthigsten unter Roms Unterdrückern so elend entweihete. Man tadelt mich, daß ich so gerne habe gelobt seyn wollen, und erinnert sich nicht, daß ich das Andenken von Thaten erhalten wollte, die den exemplarischten Einfluß auf die Republikanische Denkungsart haben mußten. Hingegen tadelt dich niemand, daß du in einer vortreflichsten Poesie Thaten der Unterdrückung und des gesetzlosesten Muthwillens gelobet, und kein Maß im Loben gehalten, und die spätesten Weltalter dadurch zu sclavischen Gesinnungen verführt hast. (BG, S. 24.)
Mit dem Wortspiel ‚Ehre-Entehrung‘, die Assonanz „e“ betonend: „nicht ehrete“, „Ehrhebung“ und „elend entweihete“, werden die thematischen Gebiete von Literatur und Politik geschickt miteinander verkettet. Das Gegensatzpaar Lob und Tadel dient als weiterer Aufhänger der Argumentation, wenn von der einen Figur zur anderen wie auch von einem zum anderen Thema gewechselt wird. Immer noch in den Tönen der Assonanz „e“ sowie der „exemplarische Einfluß auf die Republikanische Denkungsart“ war für Cicero weniger das literarische Lob, sondern sein Engagement für politische Errungenschaften von Relevanz. Die politische Rüge an die Adresse Vergils erfolgt im letzten Satz, worin das andere auffällige Element, der Superlativ, wieder Furore macht, welcher in dieser Passage nebenbei gleich fünfmal vorkommt. In diesem kongenialen Wechsel der Perspektiven von oben und unten, wird zumal der von Vergil so gelobte Octavius von Cicero als der „Undankbarste“ und der „Kleinmütigste“ charakterisiert. Und Vergil sodann trotz seiner „vortrefflichsten“ Poesie in politischen Belangen der Verantwortungslosigkeit beschuldigt, da er „Thaten der Unterdrückung und des gesetzlosesten Muthwillens gelobet, und kein Maß im Loben gehalten und die späteren Weltalter dadurch zu sclavischen Gesinnungen verführt“ habe (ebd.). Die Verwendung des Superlativs hat in dieser Passage die Funktion einer satirisch-ironischen Spitze, weil sich die komplementierende Steigerung der Adjektive als hyperbolische Mittel einer menippeischen tragikomischen Respektlosigkeit gegenüber den Helden der antiken Literatur wiederum im Wechselspiel zwischen Pathos und Bathos äußert. Das Spiel der Perspektivierungen verfolgt zudem ein Korrektiv sowie in literarischen Belangen als auch in politischen Lehren. Der von der Figur Cicero eingenommene Blickwinkel der Herabsetzung erinnert entfernt an die Wendung ins Hündische, der kynikos tropos, wie sie die Schule des Diogenes seit ihren Anfängen praktizierte, um die ehemaligen Helden
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der Welt in der Unterwelt nahezu nahtlos zu entehren. Wurden jene vorher vom wohlwollenden Applaus und dem hier betonten großen Lob gefeiert, gebührt ihnen nun einzig das menippeische Gelächter wie bspw. jenes des Kynikers Diogenes, der die Mächtigen und Heroen seit je zu verspotten wusste. Mit dieser Dichterschelte nach dem Beispiele Lukians erfolgt eine moralische Herabsetzung Vergils, der mit seinen Dichtungen die „sclavischen Gesinnungen“ mitverschuldet habe. Im 6. Gespräch beschwert sich der erniedrigte Vergil darauf bei Mercur, dass er in der Hölle gelandet sei, und nun die „unteren Gefilde“ mit Augustus und Tiberius teilen muss. Auch bittet er den Götterboten, ein Wort bei Minos, einem der Richter der Unterwelt, für ihn einzulegen, da er doch die Gesellschaft von „Homer, Orpheus und Musäus“ (BG, S. 25) vermisse. Man beachte, dass dies der einzige Dialog in dieser Sammlung ist, in welchem sich ein Gott zu Worte meldet. Mercur, der Sohn Jupiters und Majas, war bekannt als Vermittler zwischen Göttern und Menschen, der nach Hederich nicht nur als „Gott der Beredsamkeit, der Kaufmannschaft, der Diebe, der Fechtkunst und der Wege und Strasse“ verehrt wurde, sondern dafür verantwortlich war, „die Seelen der Verstorbenen aus ihren Leibern [zu] lassen, und sie in die Hölle hinunter und wieder hinauf [zu] führen“.861 Unter Berücksichtigung der Vermittlerrolle zwischen Göttern und Menschen erhält der Dialog mit Merkur in der neuen Gesamtausgabe Beises eine signifikante Mittelposition in Bodmers Dialogen. Auch in diesem Gespräch wird Vergils Hauptwerk kritisch begutachtet. Das Spiel von oben und unten, d. h. von Erniedrigung und Erhöhung wird hier fortgesetzt, wenn der gedemütigte Vergil über sein Epos befindet: „Ich habe mein kleines Thema erhöhet, und durch diese Erhöhung anzüglicher gemacht.“ (BG, S. 25) Aeneas wird weiter als Vorbild und Keimzelle für spätere historische Herrscher angesehen: Aeneas enthält in sich den Keim von allen seinen Nachkömmlingen. Wenn er in seinem Lager eingeschlossen ist, so erinnert er uns an Cäsar und Alex[andr]ia. Man hat für beyde nur Bewunderung. Wenn ich mit meinem Helden in die Hölle niedersteige, so erschaffe ich da keine neue und Phantastische Wesen, Romulus und Brutus, Scipio und Cäsar kommen da zum Vorschein, wie Rom sie bewundert oder gefürchtet hat. (BG, S. 25)
Neben der Aeneis wird die Georgica gestreift, wo Vergil auf dem „erhabenern Endzweck“ (BG, S. 26) hinsichtlich seiner Darstellung des Augustus und der Kriegsveteranen insistiert, die er angeblich mit seinem Epos zur Ruhe auf den Landgütern animieren wollte. Diese „stille Ruhe des Landlebens“, die wiederum entfernt an jene beunruhigende Kirchhofsruhe des Marquis Posa denken lässt, wird von Merkur stark kritisiert. 861 Benjamin Hederichs Gründliches mythologisches Lexicon. Leipzig 1770, S. 1593.
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Diese Kritik, dem Tyrannen Augustus gedient zu haben, rechtfertigt die Höllenstrafe und knüpft zudem an Ciceros Voten aus der Schlusspassage des vorhergehenden Gesprächs an. Die politischen Lehren erhalten hier mehr Gewicht als die poetischen Ergüsse Vergils, denn er wird von Merkur in den beiden Schlusspassagen zur Verantwortung gezogen, wo wiederum mit Himmel und Hölle argumentiert wird, d. h. dem nicht verdienten Elysee, das sich bei „den supra lunarischen Räume[n] des Aethers zwischen dem Krebs und dem Scorpion erheben würde“ (BG, S. 28)862 sowie im Hades: M e r c u r : Und wenn du diesen wilden Gemüthern der Liebe zu einem stillen ländlichen Leben eingepflanzt hast, was war es mehr, als daß du damit dem neuen Tyrannen dientest? […] Zu dem Ende machtest du sie weder edel noch groß, sondern allein weich und zärtlich. Die Dienste, die man der Tyrannie thut, haben des Minos Hochachtung nicht. Du hast Dich schon bey ihm stinkend gemacht, dass Du weder des Cicero noch des Marcus Brutus gedacht hast. Es waren doch nichts weniger als phantastische Geburten. Aber wenn du die Tieger verwandeln konntest, warum verwandeltest du nicht den August in einen Menschen? (BG, S. 27)
Trotz der Rechtfertigungsversuche Vergils, Augustus durch die „Symphonie [s] einer Verse gezähmet“ zu haben, und diese „Ketten, die Rom trug, ohne sie zu fühlen, dieser Prinz, der sich unter den Bürgern verlohr, dieser Senat, dem ihr Herr gehorchte“, als „Früchte des feinen Geschmacks zu verkaufen, nimmt Merkur seinem Gegenüber nicht ab. Anstatt bei Minus die Bitte zum Aufstieg in die höheren Gefilde vorzubringen, begründet Merkur, warum Vergil mit der Hölle Vorlieb nehmen muss. Dabei wird im Sinne des anschaulichen Geschichtsunterrichts gleich nochmals in Erinnerung gerufen, um wen es sich bei Augustus eigentlich handelte und welche Machenschaften dieser auf dem Kerbholz hatte: M e r c u r : Halte den Minos nicht für so einfältig, daß er nicht eine tükische Regierung von einer gemäßigten unterscheiden könne. August war ein mittelmäßiges Genie, aber voller Arglistigkeit, mit einem sehr gewöhnlichen Verstand hat er grosse Unternehmungen angestellt. Er brauchte gewiss keine so grosse Scharfsinnigkeit und noch weniger Mäßigung, dem Senate die alten Nahmen und Würden, den alten Pomp zu lassen, nachdem er ihm die Sache selbst, die Macht, genommen hatte. Man empfand die Ketten nicht, weil man keine Empfindung für die Freyheit mehr hatte. Die plebs ingenua863 war zu einem sclavischen Pöbel
862 Die Stelle bezieht sich zum einen spielerisch und in ironischer Umkehr auf Vergil: Georgica, 1, S. 34f.: „Das Sternzeichen „Skorpion, der glühende, zieht schon die Arme / willig zurück“, um für Augustus Raum am Himmel zu schaffen und zum anderen auf: Vergil, Aeneis 6, S. 787ff.: „alle Himmelsbewohner, hoch droben thronen sie alle. [...] Caesar ist hier und des Jules gesamte / Nachkommenschaft, die einst aufsteigt zum Himmelsgewölbe“. 863 Lat.: Das freigeborene Volk. – Nach Gordon, S. 147: „& de là avant la plebs ingenua devint une vraye populace adonné à l’oisiveté, à sont ventre; sans courage, sans ambition & honneur.“
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geworden, feigherzig, ohne Ehre und Ruhmbegierde. […] der öffentliche Schatz war des Tyrannen, und der Staat beruhete auf dem Tyrannen, patres & plebs invalida & inermia,864 nulla publica arma.865 (BG, S. 27)
Dass Vergil Augustus in seinen Werken dergestalt zum Helden stilisierte und damit im Begriff war, ein nicht republikanisches Heldenbild zu verbreiten, wird von Merkur alias Bodmer kritisiert, und als Begründung dafür angeführt, dass Vergil seines Erachtens zu Recht in der Hölle schmoren muss, wenn er fortfährt: M e r c u r : Wenn die Römer seine Vorspiegelungen für Ehrenbezeugungen genommen haben, so ist das der stärkste Beweis, daß das wahre Römische Geblüt in den einheimischen Kriegen vergossen worden, daß die Quelle desselben verderbt war. Niemand war weiter übrig, der die Republik gesehen hatte. Was man ihm zu denken hatte, war, daß er, nachdem er alles Böse, was er vermochte, gethan, und alle schlimmen Streiche, die er zu seinem Zweke nöthig achtete, und noch viel unnöthige dazu, gespielt hatte, seine Verherrungen und seine Grausamkeiten einstellte. Das ist der Held nach deinem Modelle, den du so übermäßig gelobt hast; und kanst du es Minos übel nehmen, daß er dich mit ihm in eine Gefilde einquartiert hat, wo du seinen Umgang, des stets gegenwärtigen Gottes, semper Dei,866 täglich haben kanst, wo du die verhaßte Gestalt des Cato, des Cicero, des Marcus Brutus nicht immer vor dir sehen muß[t]? Diese würdest du in den Gegenden, wo Orpheus und Homer leben, und in der Gesellschaft derselben vorgefunden haben. Oder hattest du erwartet, daß man dich zu deinem Helden in die supra lunarischen Räume des Aethers zwischen den Krebs und den Scorpion erheben würde, das Reich da zu bewohnen, das du ihm so phantastisch in deinen klingenden Versen bereitet hattest? (BG, S. 28)
Neben der Kritik an den von Vergil evozierten Heldenbildern wird in einer Zirkeldrehung an die von Vergil eingangs erwähnten Bewohner des Elysiums „Orpheus und Homer“ angespielt, womit gleichsam die Überleitung zum folgenden Gespräch versucht wird. So finden sich im Gespräch 7 Homer mit Cato und in Gespräch 12 Claudius Tacitus mit Tiberius ein. Bei den alten Dichtern wird v. a. das Fortleben ihrer Werke behandelt, was in Zusammenhang der kritisch bemerkten Lebenskonditionen gestellt wird, die mit jenen der Sklaverei verglichen und verurteilt werden. Demzufolge wundert sich Homer über das schwindende Interesse an seinen Gedichten. Metonymisch und im Vergleich mit einer alternden Schönheit glaubt er sich der Vergessenheit verschrieben: „und ich stehe in ihren Büchersälen einsam und verabsäumt, wie eine Schöne, von der man sich nur noch erinnert, daß sie einmal Reize gehabt
864 Tacitus, Annales 1, 1: „Senat und Volk, beide ohnmächtig und wehrlos“. – Gordon, S. 151. 865 Tacitus, Annales 1, 2, 1: „keine republikanische Herresmacht mehr“. – Gordon, S. 151. 866 Seit den Kirchenvätern die kirchenlateinische Bezeichnung für den „Ewigen Gott“.
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hat“ (BG, S. 29). Ferner beklagt Homer den Sittenwandel der Menschen und den Verlust der Tugenden: Ich habe gehört, daß die Rache, der man zu meiner Zeit Tempel aufrichtete, unter die Laster gezählt wird, daß der grosse Muth, die ununterwürfige Freyheit, die Stärke, die bey uns Tugend hieß, der Knechtschaft Plaz gemacht haben, daß eine feigherzige Stille, eine ohnmächtige Erschöpfung der Kräfte, Frieden genannt wird. (BG, S. 29)
Das Thema der Knechtschaft ist in diesem Dialog zentral und wird mehrmals thematisiert. Das Desinteresse für die Literatur wird hier mit politischen Verhältnissen verknüpft, die lauthals von beiden Diskutanten beklagt werden. So vermisst Cato bei den Nachgeborenen Ehrbegierde, Patriotismus und Heldenmut: Kanst du fordern, daß ein Weltalter, das ohne Helden, ohne Patrioten, ohne Ehrbegierige ist, von Gedichten gerührt werde, die von dem Feuer der Aufruhr rauchen? […] Nur die Jahre der Freyheit, von welchen die grossen Männer und die grossen Leidenschaften erzeugt werden, hegen die Menschen, die edle und herorische Gesinnungen von Herzen bewundern. Diesen kriechenden Seelen, diesem verachteten Pöbel der Sclaven, müssen die grossen Gedanken und Thaten deiner Helden thöricht und abentheurlich scheinen. (BG, S. 29f.)
Ebenso ist Homer beunruhigt über den Zustand der Menschheit, der das Desinteresse am Epos der Odyssee und den Zulauf für „leichte“ Literatur mit den sklavenähnlichen Verhältnissen gleichsetzt: Gerade das betrübt mich, daß die Menschen in diese sclavische Feigheit gefallen sind, die meinen Gedichten so schädlich ist. Man hat mir gesagt, daß weibische Lieder, Tändeleyen, leichtsinnige Scherze, auch meine mildere Odyssee verdrungen haben. (BG, S. 30)
Homer schlägt den Bogen zu Catos Überleben in den Köpfen der Menschheit, worauf die Figur Catos ferner einen weiten Raum erhält, die Gründe des Selbstmords zu erörtern. Homer fasst darauf die Dialektik der Tat zusammen: Möge ich in Ewigkeit den Leuten mißfallen, die nicht sehen, daß dieser Unwillen gegen Cäsar nichts anders als die Liebe zur Republik war; die nicht begreifen, daß Cato nicht leiden konnte; daß Cäsar das seyn sollte, wozu ihn ein System von Räubereyen erhoben hatte; daß er dem nichts verdanken wollte, der alles gestohlen hatte; daß die gröste Gutthat, die Cato Rom geben konnte, das Beyspiel eines Mannes war, der starb, weil er kein Knecht eines Bösewichts seyn konnte; daß das Cato Leben eine einzige grosse That war, der Widerstand gegen jeden, der sich wider die Geseze, die Ordnung, und die Rechte der Freyheit auflehnete. […] O man braucht nicht viel feinen Wiz zu haben für die vortreff[l]iche und rechtschaffenste That funfzig kleine und elende Absichten zu erdichten. Der Himmel weis, wenn man sie aufsuchen will, welche Verschiedenheit der Farben und der Schattierungen in den geheimen Springfedern des menschlichen Willens Platz hat. (BG, S. 31)
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Abschließend wird in diesem Gespräch ein Moderner, nämlich Montaigne, im Original zitiert: Sottes gens! Caton eust bien fait une belle action genereuse & juste plustost avec igonominie que pour la gloire. Ce personnage là fut veritablement un patron que nature choisit pour monstrer où l’humaine vertu & fermeté pourroient atteindre. Montaigne (BG, S. 32)
Die Essais des französischen Humanisten waren Bodmer mehr als bekannt; der Verweis auf die Cato-Stelle und die Betonung von dessen mustergültigem Beispiel für die menschliche Tugend und Standhaftigkeit sowie der pessimistische Ton bezeugen nicht nur Bodmers Belesenheit, sondern die Breitenwirkung und die Wege der Rezeption dieses römischen Vorbilds von der Antike über den Humanismus bis in die Aufklärung. Wie in den vorangehenden Toten- und Göttergesprächen Vergils Herrscherlob des Augustus entfaltet und dementsprechend kritisiert wurde, so werden im längeren achten Gespräch die Epistolae und Carmina des Horaz der Kritik unterzogen. Der kritische Gesprächspartner ist ein Anhänger der republikanischen Freiheit und Politiker der frühen Kaiserzeit, Publius Clodius Thrasea Pätus, der 56 v. Chr. Konsul war und dann zehn Jahre später von Cäsar zum Selbstmord gezwungen wurde. Der Beginn dieses Gespräches scheint auf dessen unfreiwilligen Tod anzuspielen, da dieser wohl erst kürzlich im Totenreich angekommen ist, und sich in seiner nun im Tod endlichen freien Rede sogleich eine Befreiung der beengenden autoritären Konditionen erahnen lässt: T h r a s e a P ä t u s : Wie glücklich, wie leicht bin ich dem Tyrann entflohn! Mit wie kurzem Schmerzen hab ich mich von den Fesseln des Fleisches los gewunden! In diesen Gefilden des gerechten Minos darf ich nicht für die Gesundheit eines Prinzen opfern, der das Verbrechen des Reichs ist. Ich muß nicht reden, was ich nicht denke; und nicht eine Mine der Fröhlichkeit annehmen, wenn die Wehmut meine Leber zernaget. (BG, S. 33)
Auf die Vermutung hin, Thrasea Pätus sei „nicht des natürlichen Todes“ gestorben, wird Nero als „Fürst beschrieben, der einen „unversöhn[l]ichen Haß gegen Tugend, Ehre und Großmuth getragen und ihn an den Edelsten und den Rechtschaffensten ausgeübt“ habe (BG, S. 33). Dichtergleich antwortet Horaz im Chiasmus: „Ich ward in glüklichern Tagen gebohren; man zweifelte, ob mein Prinz aufrichtiger die Wohlfahrt der Bürger, oder die Bürger die Wohlfahrt des Prinzen von den Göttern fleheten.“ (Ebd.) Mit eingeschobenen Paraphrasen aus den Carmina 4 und 5, S. 17–35 beschreibt Horaz das Leben unter Octavius in den malerischsten Tönen: H o r a z : Er hat noch eine bessere Grösse. Unsere Helden weideten ruhig in den Gefilden, Ceres beschickete unsere Erndten, und der Ueberfluß schüttete seinen Reichthum über
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unsere Felder aus. Friede und Sicherheit öfneten alle Meere, und macheten die Handlung blühend; die Unzucht beflekte die Geschlechter nicht mehr. Die gute Erziehung und die Geseze hatten die abscheulichen Vermischungen verbannet. Die Mütter gebahren Kinder, die ihren Gatten glichen, und die Strafe folgte der Untreu auf dem Fusse. Am Abend krönete ein niedlicher Tisch die Arbeiten des Tages; am Ende der Mahlzeit hob jeder die Hand auf, für den Fürsten zu beten, und sezte seinen Namen zu dem Namen seiner Haus-Götter. Niemand fürchtete weder einheimische noch ausländische Kriege, weil Cäsar die Welt beherrschte. (BG, S. 34)
Nicht im Geringsten einverstanden mit Horaz, wird dieser über die Kriegsverbrechen des Octavius aufgeklärt, das Thema der trügerischen Ruhe wieder aufnehmend: T h r a s e a P ä t u s : Deine Lebens-Tage müssen in die lezteren Jahre des Octavius gefallen seyn, da man die Ruhe nach dem langen und blutigen Bürger-Kriege für eine ausnehmende Gutthat hielt. Man vergaß in einem ununterbrochenem Frieden einen Krieg, der doch nur eine Frucht der Herrschsucht dieses Mannes gewesen war; die grossen Beraubungen selbst, die der Staat erlitten hatte, gebaren den Wunsch, daß man sich ihrer nicht mehr erinnern mögte. Du hast davon nichts gesehn, noch erfahren, und tilgtest sie leicht aus deinem Gedächtniß. (BG, S. 34)
An dieser Figur wird das Exempel der politischen Gehirnwäsche im römischen Staat der Antike vor Augen geführt. Als „einer von den Kindern des Bacchus“ vermutet Thrasea Pätus, wurde wohl diese „die Großmuth der Römischen Seele durch alle Arten von Lastern und üppigem Leben [von Julius Cäsar und Octavius] danieder gedrückt, damit so die Quelle verstopft würde, aus welcher die tapfern Männer kamen, die den Erdkreis besiegt hatten“ (BG, S. 35). Als Horaz sich wiederum in einer Szenerie im Sinne der Anagnorisis zu erkennen gibt, davon geschmeichelt, am Hofe gelebt zu haben, ruft Thrasea Pätus, nicht erfreut, sondern im Gegenteil voller Empörung aus: T h r a s e a P ä t u s : Du bist Horaz! der Poet, der den feigherzigsten, den mörderischsten von Roms Unterdrückern in einen Gott verwandelt hat! Du hast gesungen: „Haben wir nicht mitten unter uns einen sichtbaren Gott? Denn was für einen andern, als dich, Mercurius, können wir in der Gestalt unsers jungen Helden erkennen? Ja du selbst hast in seiner Person der Rächer Cäsars seyn wollen. Mögest du nicht in den Himmel zurükkehhren, als nach einer langen Reihe von Jahren!“867 Mit welcher schamlosen Stirne konntest du für ihn einen Ruhm darinnen suchen, daß er den Cäsar an Brutus gerächet habe, mit welchem du für die Freyheit und die Republik gestritten hast. Und wie niederträchtig, wie aller Religion, aller Empfindung beraubt sangest du: „Jupiter läßt hoch im Himmel seinen Donner brüllen über unsern Häuptern; dann glauben und suchen die Menschen seine Gottheit. Ein anderer Gott,
867 Paraphrase von Horaz, Carmina 1, 2, S. 41–49.
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Augustus, macht seine Gewalt auf Erden beliebt durch die Art, womit er die Britannen und furchtbaren Parthen bezwungen hat.“868 – Diesem deinem neuen Gott hatte Rom den Tiberius, den Caligula, den Nero und alle die Ungeheure zu danken; sie sind Vermächtnisse, die er dem Römischen Reiche nachgelassen hat. Die Ruhe, die du so erhobest, hat er durch die Niedermachung aller Edeln, die nicht Sclaven seyn konnten, zuwegegebracht. Ist es möglich, daß man deine Lobsprüche nicht für beschimpfende Satyren erkannt hat? Und dieser Elende selbst, glaubte er, daß du aufrichtig redetest, da du ihm eine Gewalt zulegetest, die zwischen ihm und den Göttern getheilt wäre? (BG, S. 35f.)
Auf die Vorwürfe, Horaz hätte in seinen literarischen Schriften unsägliche Apotheosen für die römischen Herrscher und Unterdrücker des Volkes formuliert, erklärt Horaz in seiner Rechtfertigung, dass er sich als Chronist und Stadtschreiber verstanden wissen wollte: „Ich drückete nur die Gedanken von Rom aus, sie hatte keine Wünsche mehr, als für die Monarchie; sie bauete ihm Tempel und Altäre, und gab ihm eine Stelle unter den Unsterblichen.“ (BG, S. 37) Jene horazischen Apotheosen hätte Thrasea Pätus lieber als „Satyren“ verstanden, wenn er in seiner Schimpfrede fortfährt: T h r a s e a P ä t u s : […] Du solltest den Caligula, den Nero gesehen haben; diese Scheusale von Menschen, die foderten daß ihnen alle Ehrfurcht gegen die Götter, gegen die Gerechtigkeit, die Ehre, alle Zuneigung zu dem Gatten, zu unsern Kindern, alles, ihnen weichen sollte. Was sie im Schlafe, in den Dünsten des Weins befahlen, sollte vollstreckt werden. Und dies Ungeheuer, die nur die Bildung des Menschen hatten, sollten nicht nur geduldet, sondern angebetet werden. Und wir sollten sie zu allen Schandthaten berechtiget halten, weil sie von Cäsar entsprossen waren, oder seinen Namen trugen. (BG, S. 37)
Horaz versteht die Kritiken an der römischen Souveränität nicht und findet den Tod seines Kontrahenten gerechtfertigt, da er die Meinung vertritt, „die Potentaten [zu] fürchten, zu ihrer Regierung und ihren persönlichen Handlungen still[zu] schweigen“ (ebd.). Das Thema der tatenlosen und kritiklosen Ruhe vor politischen Häuptern bringt den freiheitsliebenden Republikaner in Wallung, der gerade den Herrscherkult Neros und dessen Frau Poppaea Sabine verweigerte, was er mit dem eigenen Leben büßen musste, wenn dieser zum Schluss über die Umstände seines Todes, eine Passage aus Gordon paraphrasierend, aufklärt: T h r a s e a P ä t u s : […] Man wird aus deiner Ruhe, aus deiner Stille selbst eine Verbrechen herleiten. Nero, der rechtmäßige Nachfolger in der Herrschaft, die dein After-Gott Octavius gestiftet hat, hat jeden, der mehr Ehre hatte als er selbst, für einen Verräther des Staates angesehen. Und mich hat er zum Tod verurtheilt, weil ich nicht glaubte, daß seine Gemalin,
868 Nach Horaz, Carmina 3, 5, S. 1–4.
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die er durch einen Stoß mit dem Fuß getödet hatte, eine Göttin wäre; und weil ich der Göttlichkeit seiner musicalischen Stimme kein Opfer gebracht hätte.869 (BG, S. 37f.)
Das 12., wiederum längere, Gespräch wird von den beiden römischen Kaisern Claudius Tacitus (201–276 n. Chr.) und Tiberius (42 v. Chr. – 37 n. Chr.) an den Grenzen des Acherons bestritten. Claudius Tacitus nahm seine Wahl zum Kaiser durch den Senat ungern an (Historia Augusta, Vita 7,1) und wird hier in fingierter Verwandtschaft mit dem Historiker Publius Cornelius Tacitus (ca. 55–117 n. Chr.) vorstellig. Der Stiefsohn des Augustus und ab 14 n. Chr. dessen Nachfolger Tiberius galt als menschenscheuer und überaus misstrauischer Despot, bekannt für seine sexuellen Ausschweifungen. Dieser äußerte sich als erstes nachlässig über die Schriften des Historikers Tacitus, die er „für ein brandwürdiges Libell“ ansah und „für die ärgste Satyre, die man gegen die Majestät der Cäsaren schreiben und der Nachwelt geben könnte“ (BG, S. 57). Im Folgenden wird über die Wertigkeit der historischen Schriften Tacitus’ gestritten, über die beide Kaiser offensichtlich in ihren Meinungen divergierten. Der eine lobte diese als „ungeschminkte Schönheiten“ und „unerschöpflicher Schatz von Lehren der politischen Klugheit“, während Tacitus hier nur eine „Gewebe von Lästerungen“ und „Pasquinade[n]“ erkennen konnte (BG, S. 57f.). Über die Aufgaben eines Historikers und jene der Herrscher wird dann im Kontext von „Pasquillant“ und „Pasquinade“ gestritten. C l a u d i u s T a c i t u s : Jeder Historicus, der grausame, lasterhafte, und fluchtwürdige Personen und Handlungen beschreibt, wurde denn ein Pasquillant. Mein Ura[h]nherr hat also eine sehr unglückliche Wahl getrofen, da er sich Zeiten und Herrscher zu beschreiben vorgenommen, die ihm nichts als schändliche, thörichte, abscheuliche Ausschweifungen zu erzehlen gaben. Oder hat er diese Thorheiten, und Bosheiten ins Schöne firnissen wollen? (BG, S. 58)
Über das Mißverständnis eines Pasquills oder den inadäquaten Gebrauch der Pasquinade, den Spottschriften, klärt darauf Claudius Tacitus Tiberius auf. C l a u d i u s T a c i t u s : Ein Regent, wie die sind, die er gezeichnet hat, zeichnet selbst sich zuerst durch seine Thaten. Der Herrscher sey gerecht, und beweise gutes an seinem Volke, so wird seine Geschichte ein Ehrenmaal, und keine Pasquinade seyn; Hochachtung, Liebe, und Vertrauen werden ihn vor allen Gefahren behüten. (BG, S. 59)
869 Zit. nach Beise (Hg.): Gespräche im Elysium und am Acheron. 2010, S. 38, Anm. 27: Nach Gordon (S. 242): „Ce fut un crime capital don’t on accusé Thrasea Petus, de ce qu’il ne croyait pas que Popée fût Déesse. Je crois même que le chant de Neron fut déifié puis que ce fut un crime de lèse Majesté don’t on accusa le même Thrasea de ne lui avoir jamais offert aucun Sacrifice.“
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Tacitus entwickelt in längeren Passagen ein republikanisches Verständnis der Politik ganz im Sinne des Zürcher Lehrers für Politik und helvetische Geschichte, der mit diesem Gespräch eine politische Haltung als Exempel statuierte, um seinen Studenten auch richtungsweisende Anreize zu geben. C l a u d i u s T a c i t u s : Man ist lange gewohnt sich an dem Leben der Herrscher nicht mehr zu ärgern, man weis genug daß ihre Vergehungen eine Ausnahme machen, und die Gesetze nicht gemacht sind, sie zu binden, sondern vielmehr ihnen für eine Brustwehr zu dienen. In den meisten Staaten entstehen die innerlichen Unruhen nicht von den Männern, welche Tacitus und Cordus lesen, die zuvor schon die Theopompus, Thycydides, die Livius und Polybius gelesen haben, sie entstehen von einem undenkenden, blos sinnlich empfindenden Pöbel, der erstlich von unerträglichen Lastern niedergedrückt, hernach von listigen, und in einigem Ansehen stehenden Aufwieglern aufgebracht wird. Das grose und allgemeine Interesse euch gelehrt haben, gerecht zu werden. Ich zwar bin durch gerade Wege auf den Stuhl der Cäsaren gestiegen, aber ich lies die Justiz nicht in Erkältungen fallen, indem sie auf mich wartete, ich suchte sie auf, und brachte sie zu jedem, der sich nöthig hatte; ich glaubte nicht daß die allgemeine Wohlfahrt, niemandes Wohlfahrt, oder nur des Cäsars Wohlfahrt wäre. Ich hielt mich für den Mann des Staats, und nicht den Staat für mein Gut; meine Güter gabe ich ihm, die auf 7000000 Thaler stiegen, meine Kisten mit baarem Silber öffnete ich meinen Soldaten. (BG, S. 60)
Tiberius teilt das Interesse für den Historiker Tacitus ganz und gar nicht und verurteilt dessen freiheitliche Aussagen, wenn er schimpft: T i b e r i u s : […] Nichts ist gefährlicher als diese feurigen Erhebungen der menschlichen Rechte, der republikanischen Freyheit, der patriotischen Tugend! sie sind noch bequemer, Ungeduld, Abneigung, und Ungehorsam zu stiften, als die anzüglichsten Libelle. […] wie betrübt er sich über den Geist der Knechtschaft, und die dumme Geduld? Seine Materie war ihm eine Bürde, die ihn drücket, patientia servilis tantumque sanguinis domi perditum fatigabat animum, & moestitia restringebat.870 […] Der Leser geräth darüber in dieselbe Bewegung, und schwärmt; und von Enthusiasten zum Fanatiker ist ein Schnitt. Der Himmel weis was ein Mensch in dieser Fassung sich erkühnen darf. (BG, S. 61f.)
Mehrmals zitiert Tiberius aus den Annalen des Tacitus in Gordons Übersetzung, lästert über patriotische Tugenden und schimpft von der gefährlichen Wirkung solcher Lektüre auf den Leser, die durch solche Schriften zu enthusiastischen Bewegungen angestiftet werden könne. Darauf lenkt Tacitus, der in diesem Dialog größeren Raum als sein Kontrahent erhält, die Aufmerksamkeit auf die Aufgaben des politischen Oberhaupts und dessen Verantwortung gegenüber der Freiheit:
870 Tacitus: Annales, 16, 16, 1: „so aber ermüden knechtische Unterwürfigkeit und so viel in der Heimat unnütz vergossenes Blut den Leser und rufen beklemmende Niedergeschlagenheit hervor.“ – Gordon, S. 22.
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C l a u d i u s T a c i t u s : Wie gern ängstigt man sich mit Gespenstern! Die Unterdrückung hat wirkliche, gegenwärtige Uibel, entsetzliche Uibel, davon man kein Ende siehet; das sind die, welche Cornelius Tacitus beschreibet. Aber du fürchtest sie weniger als die Uibel, die von der Beweinung derselben, die von der Anpreisung der Freyheit kommen können! Die Freyheit kann gemisbraucht werden, aber wie leicht ist es dem Prinzen, der die Herrschaft in den Händen hat, der Gerichte und Recht verwaltet, dem Uibel zu steuern! Er hat an den Gesetzen Waffen, mit welchen er beschützen, und angreifen kan; die ihn alle Uibelthätern fürchterlich machen. Wie viel gefährlicher ist der Misbrauch der Gewalt! wie viel leichter den Menschen, und schier zur Gewohnheit geworden! Man kan unter dem Vorwande der Gesetze, als von Amts wegen übertretten, man kann die Staatsverfassung angreifen, indem man vorgiebt, daß man sie beschütze. Du und deine Nachfahren haben nur zu wohl gewußt, daß sie nicht einmal Vorwendungen nöthig haben, und wann ihr Worte und Namen und Gesetze aus der Republik gebraucht, verdrehet und verkehret habet, so thatet ihr es mehr aus Anständigkeit, als aus Nothwendigkeit. Als du den Cremutius Cordus871 hinrichtetest, hattest du dich nicht um die geringste Entschuldigung zu kümmern. (BG, S. 62f.)
Der Umgang mit den Historikern und die Diskussion über Möglichkeiten für die erst viel später als demokratisches Recht sich durchsetzende Pressefreiheit findet sich hier in nuce. Denn mit dem zuletzt angesprochenen Exempel wird Tiberius über seine Machenschaften zu Lebzeiten zur Rechenschaft gezogen. Dieser Fall der Bücherverbrennung zog ebenfalls den Tod des Historikers nach sich, worüber abschließend gestritten wird. Denn Claudius Tacitus unterstreicht in seiner Anklage an Tiberius dessen mangelndes Verantwortungsgefühl, wenn er in einem metonymischen Vergleich deutlich werden lässt, inwiefern verurteilte Schriften sich zugleich als Hinrichtung des Autors verstehen, womit er sich gleichsam wiederum auf die Annalen des Tacitus beruft. C l a u d i u s T a c i t u s : Du hast seine Ehre umgebracht. Als man seinem Buch das Urtheil sprach, lag nicht in dem Urtheil begriffen, daß er in dem selben Gericht stünde? Das Buch als Buch war nicht strafwürdig, es hatte die brandwürdige Worte nicht geredet, noch gedacht: Brutus wäre ein Opferer, und kein Mörder, und Cassius der letzte Römer gewesen. Cordus hatte dieses gedacht, und durch das Buch geredet. Als der Scharfrichter es verbrannte, was that er ihm, that der den Blättern weh? wer hat jemals gesagt, dass Blätter Empfindung haben? aber Cordus hatte Empfindung, und er sah daß man ihm das Urteil des Brands gesprochen hatte; dann wollte er seinen Tod lieber als sich selbst wählen.872 (BG, S. 63.)
871 Aulus Cremutius Cordus war Historiker, der die Geschichte des römischen Bürgerkriegs seit Cäsars Tod in einer republikanischen, den Prinzipiat ablehnenden Haltung geschrieben hatte; wegen Verherrlichung der Cäsarmörder wurde er 25 n. Chr. vor dem Senat angeklagt. Sein Werk wurde konfisziert und vernichtet, worauf er sich anschließend den Hungertod wählte. 872 Tacitus: Annales, 4, 34–35.
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Tiberius sieht ein, dass er sich vielleicht geirrt hatte, trotz allem versteht er nicht die Verve seines Gegenübers, mit welcher dieser die Rechte des Wortes und der Wahrheit verteidigt. T i b e r i u s : Willst du böse werden ein Buch zu beschützen, Papier das mit Recht, oder Unrecht verbrannt worden. Leidenschaften und Hitze sind keine gewöhnlichen Fehler in diesen neblichten Gegenden am Acheron, wo man nichts hat, und nichts ist. C l a u d i u s T a c i t u s : Ich hatte nur die Wahrheit reden wollen, und es ist eben nicht eine Pflicht sie kaltsinnig zu sagen. Wo man sie empfindet, wird die Seele, die sie empfindet, sich nicht erschlagen können, für sie in Eifer zu kommen; wer kalt bleibet, hat sie nicht in seinem Herzen. (BG, S. 64)
4.5.5 Alte und Moderne im Zwist Im 10. Gespräch, das mit dem Zusatztitel: „Gespräche im Elysium“ – einem christlichen Ort des Jenseits, überschrieben ist, unterhält sich Cicero mit Montaigne, aus dessen Essais schon zum Ende des 7. Gesprächs, Cato betreffend, zitiert wurde (vgl. oben): Sottes gens! Caton eust bien fait une belle action genereuse & juste plustost avec igonominie que pour la gloire. Ce personnage là fut veritablement un patron que nature choisit pour monstrer où l’humaine vertu & fermeté pourroient atteindre. Montaigne (BG, S. 32)
Das 10. längere Gespräch beginnt mit einer Anmerkung und einer Paraphrase des Lukrez, laut welcher der Leser sich nicht befremden solle, beide Dichter unterschiedlicher Zeitalter am gleichen Ort zu sehen: Anmerkung: Man befremde sich nicht, daß Montagne in das Elysium gesetzet wird, Es ist nicht seine katholische Seele, die hier erscheint: es ist nur das poetische ειδωλου, das von ihm in seinen Essays herum flattert: und was ist der Cicero, der hier vorkommt, als das Simulacrum, das noch in seinen Schriften schwebet und denket. Beyde sind von gleicher poetischer Natur, und Epikur und Lucretius allein geben sie für philosophische Wesen. Lucretius 4, V. 35–42.873
Montaigne und Cicero gehen hier miteinander stark ins Gericht und liefern sich ein regelrechtes Gefecht der Kritik sowohl in politischer als auch in literarischer
873 In der Übersetzung von Dietrich Ebner heißt es zur besagten Stelle (4, V. 34–41): „sooft wir seltsame Schatten / traumhaft erblicken, Trugbilder aus dem lichtlosen Orcus. / Scheuchen sie uns entsetzlich empor aus erschlaffendem Schlafe, / dürfen wir keineswegs glauben, es uns nach dem Tode / etwas zurück, wo doch Körper und Seele zusammen vernichtet / werden und wieder in ihre Urkörper jeweils zerfallen!“
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Hinsicht. Die zu Beginn angeschnittenen Fragen betreffend des Ortes – Cicero befindet sich mit Cato in einem Raum – sind der Aufhänger des Gesprächs. In ihrer Diskursivität bieten sich die Gespräche als intrinsische Anleitungen, zumal zum essayistischen Werk Montaignes zu den politischen Schriften Ciceros. Die auf den ersten Blick vielleicht bizarr wirkende Kombination beider aus unterschiedlichen Zeiten stammenden Figuren, ist gar nicht so abwegig, da der Humanist in seinen Essais (1580) vermehrt und seiner gewohnten Skepsis über die römische Antike und deren politischen Geschichte reflektiert hat. Hingegen verfügt Bodmer über genaueste Kenntnisse von Ciceros Schriften; Gedanken, die hier Montaigne in den Mund gelegt und gegen den Autor ausgespielt werden, wenn dieser über Cicero zetert: „Du hattest ein sanftes zu zärtliches Gemüth,874 wie die Republikaner insgemein haben, und noch mehr die fetten Leute und die Spötter,“875 (BG, S. 44) und diesen damit auf seine Körperlichkeit reduziert. Ferner weist Cicero den Vergleich mit Cäsar aufgrund einer „ehrsüchtigen Eitelkeit“ (BG, S. 43) – wiederum in der bekannten Assonanz auf „e“ – kopfschüttelnd ab. Die Kritik an Cäsar paraphrasiert einen Gedanken der Essays, wenn Montaigne äußert: „O! Cäsar hatte das schönste und reichste Naturell, wann seine Herrschsucht es nicht verderbt hätte. Verflucht sey sie, da sie es so häßlich verstellete.“ (BG, S. 44)876 Montaigne beschuldigt ferner Cicero, dass er nach Catos Selbstmord für die Republik weiterleben konnte, was Cicero als eine Haltung der inneren Emigration beschreibt, die Montaigne als Heuchelei und Kuschen vor der Tyrannis einfängt: C i c e r o : Findest du nichts Groses in der stillen Geduld, mit welcher ich die Herrschaft litte, wie die Weisen von Syracusa und Athen sie gelitten hatten? Findest du keine Stärke bey dem Menschen, der sich in sklavischen Zeiten in die inwendige Freyheit seiner Seele einhüllet, der wann er überwältigt ist, die Tyrannei leidet, aber ihr seinen Arm nicht leihet, der mitten in der Unterdruckung den Göttern vertraut, daß sie ihr glorreichstes Werk wieder aus dem Staub erheben werden, und wartet, bis sie ihm zuwinken, das Werkzeug der Rettung zu seyn. (BG, S. 44f.)
874 Teneriori animi, sicut fere omnes, qui vita ingenua in beata & libera civitate vivunt. [Anm. Bodmers] – Nach Cicero, Ad Familiaris 5, 21, 3: „Du erscheinst mir ein wenig zu weich, wie fast wir alle, die wir in einem glücklichen, freien Gemeinwesen ein gehobenes geistiges Leben lebten.“ (An Lucius Mescinius, im April 46 v. Chr.) 875 Montaigne, Essais 2, S. 10: Cicero „war ein guter Bürger, und von Natur gutherzig, wie dicke und spashafte Leute gemeiniglich sind: aber die Wahrheit zu sagen, sehr weichlich und prahlerisch.“ 876 Montaigne, Essais 2, S. 33; „Cäsars ungezähmter Ehrgeiz verdarb seine Neigung zur Tugend und machte sein Andenken allen rechtschaffenen Leuten verhaßt.“
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Montaigne zeigte sich ganz und gar nicht einverstanden mit der Haltung Ciceros und beschuldigt ihn des falschen Herrscherlobs und der „Eitelkeit, daß [er] so viel aus den politischen Vermuthungen und Weissagungen machet[e], mit welchen [er sich] doch nicht selten betrogen“ finden sollte (BG, S. 48). Cicero verhält sich einsichtig und kritisch gegenüber seinen eigenen Schriften und gibt zu, sich verschätzt zu haben, da sich Menschen ändern können. Für die Fehler entschuldigt er sich, und bietet Montaigne „alle [s]eine Hexameter“ an (BG, S. 49). Mit seinen Spitzen gegen Cicero schreckt Montaigne auch nicht vor den brisanten und gängigen Sujets der Unterhaltung von sex and crime zurück. Angeblich hatte Cicero etwas mit seiner Tochter und wird wohl aufgrund seiner politischen Haltung, nach der Republik nicht dem Exempel Catos des aufopfernden Freitods Folge geleistet zu haben, von Montaigne als Weichling eingestuft. Cicero, der in diesem Gespräch doch das Schlusswort erhält, schneidet in den Augen des Zürchers noch vor dem Modernen besser ab. Cicero der zu Beginn schon Montaigne mit „Aristides“ (ca. 530–467 v. Chr.), dem aus Athen stammenden Politiker und Feldherrn, einem Gegner des Themistokles, der für seinen Gerechtigkeitssinn berühmt war, in Verbindung bringt, fordert für sich und die Nachwelt nach den übertriebenen Vorwürfen seines Kontrahente zum Schluss eine adäquate Behandlung ein. C i c e r o : Warum willst du meine Wehmut lieber für weibliche Schwachheit des Herzens halten, als für die höchste und die beständigste Empfindung des ganzen Werthes der Sache, die ich beweinete, die niemand auf demselben Grade hochgeschätzet hat? Dünket dich die Weichlichkeit gegen die Republik oder gegen eine verdienstvolle Tochter strafwürdiger, als die unnatürlichen Neigungen des Cäsars und des Marcus Antonius? Hast du nicht gehört, was Cäsars Soldaten in seinem Gallischen Triumphe öffentlich durch die Gassen Roms von ihm gesungen haben? So unflätige Lieder, daß ich mich schäme, sie zu wiederholen.877 Und was für schändliche Dinge erzehlt die Geschichte vom Marcus Antonius? Hic Cithaeridem secum lectica aperta portabat, altera uxorum, septem præterea conjunctæ lecticæ amicarum an amicarum? Ich fürchte, du werdest mir noch ein Verbrechen daraus machen, daß ich mein Vaterland, die Rechte der Republik und der Menschlichkeit geliebt, daß ich mich davon erweichen lassen, und daß ich Verdienste geehret habe. O Montaigne! Man hat mir gesagt, daß du in deinem Leben für aufrichtig und offenherzig habest gehalten seyn wollen, sey dann hier in diesem Sitze der Wahrheit aufrichtig, und sage mir, ob es ein Verbrechen seyn könne, seinen Pflichten getreu zu seyn, gutthätig, gerecht, zärtlich zu seyn? Kann der
877 Vgl. Sueton: De vita Caesarum, Caesar 49, 4, 1–4: „Den Ruf seiner Keuschheit verletzte zwar außer der Gemeinschaft mit Nikomedes nichts, doch blieb jener Vorwurf schwer und dauernd haften und setzte ihn allseitiger Schmähung aus. [...] Bei dem Gallischen Triumph [...] ließen seine Soldaten [...] jene allbekannten Verse hören: ‚Gallien unterwarf der Caesar, Nikomedes, Caesarn einst. / Siehe, Caesar triumphiert jetzt, der die Gallier unterwarf! / Nikomedes triumphiert nicht, der den Cäsar unterwarf.‘“
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Patriot, der rechtschaffene Mann verächtlich, und der Verräther, der Unterdrücker, gros und geehrt seyn? Wenn du das sagest, so habe ich mich vergebens so sorgfältig gegen dich vertheidiget. (BG, S. 49f.)
Fragen der Rechtschaffenheit und der patriotischen Haltung, die hier Erwähnung finden, werden – wenn auch nur am Rande – in den beiden letzten Gesprächen gestreift. In den ungedruckten und einzig in der Hottinger Abschrift erhaltenen Dialogen im Bodmer-Nachlass, die Beise erstmals in der Gesamtausgabe zu Bodmers Gesprächen im Elysium und am Acheron herausgab, werden die zeitgenössischen, zum Zeitpunkt der Entstehung noch lebenden Denker, Gabriel Bonnot de Mably (1709–1773), Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) und der Graf Carl Gustav Tessin (1695–1770), zu zwei politischen Streitgesprächen der Modernen aufgeboten, deren Analyse im Folgenden vorgestellt wird.
4.5.6 Politische Gespräche der Modernen Die beiden aus dem Bodmer-Nachlass erhaltenen Politischen Gespräche in der von Johann Jakob Hottinger (1750–1819) gefertigten Abschrift sind erstmals von Arnd Beise in seine Gesamtausgabe von Bodmers Gesprächen im Elysium und am Acheron aufgenommen worden. Im ersten sprechen der Genfer Philosoph Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) und der Bruder Condillacs, der französische Politiker und Philosoph Gabriel Bonnot de Mably (1709–1773), über aktuelle Ereignisse und klären politische Fragen. Rousseaus komplexe Persönlichkeit, der staatliche und persönliche Belange in seinen Schriften immer dialektisch aufzugreifen wusste und dies oftmals in einem fast übertriebenen persönlichen Bezug, wie Jean Starobinski festhielt,878 wird hier als Erstes eingeführt: J e a n J a c q u e s : Es ist genug, daß ihr mich einen einfältigen particular seyn laßet; die allgemeine Freyheit ist ein ganzes, das aus den particularen Freyheiten entstehet; eine Kette, die ihre Stärke, ihr Wesen, von der Zusammensetzung der Ringe hat; nicht ein Ring kann zerbrochen werden, daß nicht die Kette ihre Stärke verliere. Also ist die Beleidigung, die mir geschehen, die Beleidigung des Staates, er selbst leidet in mir. (BG, S. 71)
878 Vgl. Jean Starobinski: Jean-Jacques Rousseau: La transparence et l’obstacle. Suivi de Sept essais sur Rousseau. Paris 1971, 21997.
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Rousseau personifizierte sich nicht nur mit seinen Texten – wie in dieser Passage deutlich wird. Der hier erstmals und einzig verwendete Vorname eines Denkers erinnert an die 1772 bis 1776 entstandenen, aber erst posthum erschienenen Dialogues: Rousseau juge de Jean-Jacques (1782), die in ihrer Komplexität und Logik phantasmatische Zustände des Wahnsinns oder des Alptraums skizzieren und sich als eine autobiographische Fortsetzung der letzten Bücher der Confessions verstehen. Auffällig ist hier, wie die Form des Dialogs benutzt wird, um die Essenz der jeweiligen politischen Theorien Rousseaus mit jenen Mablys punktuell einander gegenüberzustellen. Die Auffassungen und Divergenzen der beiden Denker konnten so leicht verständlich und gerade den Studenten des Carolinum anschaulich vorgeführt werden. Die Frage nach dem metonymischen Zusammenhang der Bücherverbrennung von Rousseaus Schriften vom 16. September 1762 in Genf als eine unrechtmäßige Staatshandlung, zum Einen der Erziehungsschrift Émile und zum Anderen des politischen Traktats, dem Contrat social, wird von Mably als Erstes angesprochen: Mably: Und was für Unrecht hat man dem Staat gethan? Man hat zwey Bücher verbrannt, die in J[ean] Jacques Kopf erzeugt wurden, und voll unerhörter Meinungen sind, die man der Ruh für schädlich hielt, und die, wenn sie es nicht wären, so würden, so bald man es glaubt, und noch mehr, so bald ihr solches Erregen darüber verursachet. (BG, S. 71)
Rousseaus komplexe Persönlichkeit, der alles in extremis zu empfinden schien, weil er alles auf die eigene Individualität bezog und ad absolutum dachte, kommt des Weiteren zum Ausdruck, wenn sich die fingierte Figur hier im akzentuierten Fragestil der Anklage stellt und gleichsam die Rolle des Verteidigers selbst in Anspruch nehmend, die Rolle des Staates im Spiegel seiner selbst analysiert: J e a n J a c q u e s : Haltet ihr es für eine erträgliche Beschimpfung, daß man meine Schrifften für verwegen, ärgerlich, gottloß, gefährlich der Religion und den Regierungen, erklärt, und durch die Hand des Scharfrichters verbrannt hat? Sollte ich solches von der Regierung erdulden, auf deren Beschützung ich Anspruch habe? Die mir sie schuldig ist? Der Eid, den ich ihr geschworen habe, den hat sie mir geschworen. Da sie mich geschändet hat, so hat sie ihre Verbindungen verletzet; und indem sie selbige an mir gebrochen hat, hat sie alle Glieder des Staats in Ungewißheit und Unsicherheit gesetzt. Wenn die Regierungen über die Ehre und das Glük eines Bürgers dergestalt befehlen kann, ohne daß er sich eines Verbrechens schuldig gemacht, ohne daß er verhört worden, so ist es um seine Rechte geschehen, Eigenthum und Freyheit sind nichts mehr als eine Chimäre. Wo bleibt dann der Staat, und ihr fragt noch, was für Unrecht man in mir dem Staat angethan habe. (BG, S. 72)
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Mably stört sich an dem hier ausgeführten Gedanken der Personifikation des Staates und meint, dass der Staat bzw. der „Conseil General“879 eben gerade nicht als „eine einzige Person“, sondern als „Souverain“880 zu verstehen sei. Die Frage der Verantwortung wird hingegen etwas mit der Antwort verschleiert, wenn der etwas schwammige Satz fällt: „Ein solch erleuchteter Mann, wie ihr seyd, muß wißen, daß jede öffentliche Handlung der Obrigkeit angesehen wird, als ob sie von dem ganzen Staat geschehen wäre, wofern niemand, der dazu berechtigt ist, Einrede dagegen thut; wenn die Glieder des Staats alle schweigen, so hat das Vaterland geredet.“ (BG, S. 72) Inwiefern sich der Genfer aufgrund der Bücherverbrennung in seiner Persönlichkeit angegriffen gefühlt haben muss, wird metaphorisch verdeutlicht: „Das hat mir die Seele durchschnitten, man hat mich genöthigt, für mich selbst zu sorgen, und ein Bürgerrecht in einem Staat aufzugeben, das für mich keine Geltung mehr hatte.“ (BG, S. 72) Die extreme Sensibilität und Verletzung, die sein Handeln begründet, sich des Bürgerrechts zu entledigen, kommt im Folgenden zum Ausdruck, wenn im aus den Confessions bekannten Ton der Anklage die Schuld den Genfern in die Schuhe geschoben wird, die hier als implizite Leser explizit apostrophiert werden: „Ich hatte euch meine Ehre anvertraut, wertheste Genfer, und ich war ruhig, aber ihr habt dieses hinter euch gelegt Gut übel verwahret, ihr habt mich gezwungen, es wieder zurück zu nehmen.“ (BG, S. 72) Der dezidiert auftretende Kritiker des Ancien Régime, Mably, erinnert darauf wiederum an die Grenzen der Souveränität, wenn er kontert: M a b l y : […] Getraut ihr euch die verschiedene Grade zu bezeichnen, welche der Souverain nicht überschreiten kann, ohne daß die Tugend aufhöhre Tugend zu seyn, und anfange ein Laster zu werden? Oder wollt ihr läugnen, dass die Moral einen grossen Abstand läßt zwischen den Pflichten des Souverains und der Unterthanen?“ (BG, S. 72f.)
Im folgenden Streitpunkt wird die Rolle der Moral im Bezug zur Politik verortet: Jean Jacques versucht diese mittels theologischer Überlegungen an die Politik zu binden, womit er den Überzeugungen Mablys, die Politik auf moralische Grundlagen zu bauen und den Staat auf den ursprünglichen Zustand einer bürgerlichen Gesellschaft im Sinne des Lykurg von Athen und der Attischen Demokratie, zu widersprechen sucht.
879 BG, S. 72. Frz.: Der Große Rat der Stadt Genf, die Regierung. 880 „Ein souverainer, unumschränkter Herr, welcher in Ansehung der Hoheitsrechte durch keine Reichsgrundgesetze eingeschränkt ist: da es denn im gemeinen Leben wohl von einem jeden Landesherrn gebraucht wird, so fern er in Ansehung unserer souverain ist, in Ansehung seines Verhaltens gegen uns nicht zur Rechenschaft gezogen werden kann.“ (Adelung, Bd. 4, S. 154.) Zit. nach Beise, BG, S. 72, Anm. 76.
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Während Mably zwischen Moral und Politik eine Trennlinie vollzieht, setzt Rousseau diese in gegenseitige Abhängigkeit. Mably charakterisiert die Moral als eine Konstante voll Stolz, die aufgrund ihrer Vorurteile von der Politik zu trennen ist, da sie sich weigert, der Schwachheit der Menschen, die sie gern verbessern wollte, nachzugeben und gleichsam von einer geträumten Vollkommenheit ausgeht (vgl. BG, S. 73). Rousseau erinnert an die grundlegende Richtschnur der Politik. Ein weiterer Unterschied in den Theorien der Politiker ist die Rolle des Souveräns. Bei Mably besitzen „Souveraine […] alle Rechte der Nation und leben für sich und unter einander in einer völligen Unabhänglichkeit“ (BG, S. 73). In dieser Hinsicht wird Lessings Thema des „Weltenbürgers“ berücksichtigt, eine Gedanke, der bei Mably, der von einer Zweiklassengesellschaft ausgeht, keine unitäre Kraft besitzt wie dann bei Rousseau: M a b l y : Wiewohl ein König ein Mensch, ein Weltbürger geboren wird, und als ein solcher Pflichten hat, so sind es doch ganz andere Pflichten als einem Unterthanen sind, der ein Bürger eines absonderlichen Staats geboren ist. Jener ist seine Sorgen nicht so der Glückseligkeit der ganzen Welt schuldig, wie der Untergebenen die seinen der Gesellschafft, deren Mitglied er ist, schuldig ist. Dieser gehört ganz und gar seiner Republik, der Schutz, den seine Väter von ihr empfange, und ihre Verbindungen mit ihr sind ihm angeerbt, und er ist durch den ursprünglichen Vertrag der Societät ihr verkauft; seine Güter und sein Leben sind nicht mehr sein. Der Prinz hingegen, der durch denselben Vertrag die Natur seiner Relationen und Pflichten mit den Menschen geändert, hat sich von anderen Nationen gesondert, und indem er übernommen hat, an der Wolfahrt des Volkes zu arbeiten, welches ihm alle seine Rechte abgetreten hat, hat er seine Qualität eines Bürgers der Welt verlohren. (BG, S. 74)
Die Rolle des Prinzen wird daraufhin genauer analysiert; einig scheinen beide über die außerordentliche Position des Souveräns. Mably wehrt sich ferner gegen die Idee einer allgemein „menschlichen Socität“, welche er als „Chimäre“ bezeichnet und meint, dass der Vertrag, der „den Souverains die Relation der Weltbürger abgenommen“ habe, „dem allgemeinen Wohl der Menschen nicht zuwider“ laufe. Rousseaus kongenialer Akt, der bereits in den Diskursen, dann in der Erziehungsschrift Émile und vor allem im Contrat social verankert ist, gründet auf den gemeinsamen Rechten aller, womit gerade der Souverän an die gleiche Verantwortung wie jene des Volkes gebunden ist, das von der Rolle der Untertanen zu jener des Volkes auferstanden ist. Gleichsam wird im Modell Rousseaus die Aufrechthaltung des Weltfriedens der Verantwortung aller übergeben und das Kriegsrecht ad absurdem geführt: J e a n J a c q u e s : Glaubet ihr denn, daß eine absonderliche Gesellschafft ihre Wolfahrt mit der Zerstörung der Wolfahrt einer anderen befestigen kann? Haltet ihr für erlaubt, daß eine
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den Untergang der andern studiren? Reichen eure Aussichten nicht weiter, als die Gränzen eures Lands gehen? Aber ist der Wolfahrt der absonderlichen Societät etwas widriger als dieser Haß; diese Eifersucht; dieser Widerstreit, der die Nationen entzweyet? Hat die Natur die Menschen gemachet, daß sie Freunde unter einander seyn, was für eine kluge Politik ist es, daß man sein Land so sehr lieben soll, daß man die Wolfahrt deßelben in dem Unglück seiners Nachbaren suchen solle? Wenn es mir lieb ist, daß meine Mitbürger für meine Ruhe und Sicherheit wachen, so ist es nur noch weit angenehmer zu gedenken, daß die ganze Welt für meine Wolfahrt arbeiten muß. Ich kann und will meinen Souverain, (und meine Nation ist mein Souverain,) kein Recht geben, und so alle Welt in Brand setzen. Das mag meine Chimäre seyn, die eure ist, daß ihr die Ordnung der allgemeinen Societät durch Zerreißung der menschlichen Bande, durch thierische Feindseligkeiten sichern wollet. (BG, S. 76)
Die hier analysierten Machtmechanismen verfolgen die Idee des Friedens aller Staaten, die auf den aufklärerischen Werten der Freundschaft und der Vernunft beruht. Damit Ruhe und Sicherheit gewahrt bleiben, werden alle Bürger im Gesellschaftsvertrag an die gleichen Rechte gebunden und gleichsam zur Verantwortung gezogen. Während Mably den Souverän höher als den allgemeinen Bürger einstufte und diesem zudem Sonderrechte gewährte, werden diese bei Rousseau gestrichen. Zudem stehen beim Genfer Philosophen alle Bürger auf gleicher Stufe. Unter Souverän versteht sich neuerdings die Nation, ein moderner Begriff, der v. a. in den Bewegungen des 19. Jahrhunderts an Kontur gewinnen wird. Ferner erhält der Begriff der Gerechtigkeit, der nach der Französischen Revolution als Grundrecht der Menschrechte Konjunktur erfährt, hier mit betonter Bestimmtheit als „hohe Tugend“ des Patriotismus das letzte Wort: J e a n J a c q u e s : Welche unvorsichtige Begierde, dem Prinzen, den ihr zum Souverain machet, die Gerechtigkeit in außerordentlichen Fällen, die er bestimmen muß, nachzulaßen! Warum saget ihr nicht ohne diese zweydeutige Reden, daß eine hohe Tugend ist, die nur sich selber fragen darf, wann sie handeln und Gutes hervorbringen soll; die die andern Tugenden lenken muß, wenn sie nicht zu Lastern werden sollen, welcher selbst die Liebe zum Vaterland weichen muß; diese Tugend ist die Liebe zur Menschlichkeit, sie ist die Gerechtigkeit. (BG, S. 77)
An die Prinzenerziehung anknüpfend, streitet Mably weiter mit Carl Gustaf Tessin (1695–1770) im zweiten und letzten Gespräch. Mably, den Hans Erich Bödeker und Peter Friedemann „als Kritiker der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft“881 verstehen, verfasste die Entretiens de Phocien im Herbst 1761, die 1763 erschienen und noch im gleichen Jahr mit dem Preis für das beste politische
881 Gabriel Bonnot de Mably: Politische Texte 1751–1783. Hg. von Hans Erich Bödecker u. a. Baden-Baden 1999, S. 79.
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Buch von der Société littéraire Suisse honoriert wurden. Diese Gespräche reflektieren die politischen und intellektuellen Krisen der 1750er Jahre trotz antiker Kostümierung. Der Dialog wird als Übersetzung eines kürzlich entdeckten alten griechischen Manuskripts inszeniert, das die Gespräche des Feldherrn und Politikers Phokion (402–318 v. Chr.) mit Aristias, dem jungen Athener beinhaltet. Der Dialog skizziert die Geschichte vom Peloponnesischen Krieg (431–404 v. Chr.) bis zum Vorabend der Schlacht von Chaironeia (338 v. Chr.), in der Philip II. von Macedonien (359–336 v. Chr.) die Griechen unter der Führung Thebens und Athens besiegte. Vor historisch-antiker Kulisse und vielen Kommentaren zum aktuellen Zeitgeschehen seiner Zeit zieht der Anhänger der Monarchie Parallelen zum politischen und ökonomischen Niedergang der französischen Monarchie. Mablys Dialog galt Bodmer sicherlich als Folie seines politischen Gesprächs, wird hier doch das Verhältnis von Moral und Politik als anthropologischer Grundsatz in der platonischen Tradition des „klassischen Republikanismus“ entfaltet und mit einer explicatio eines detaillierten Katalogs politischer Tugenden aufgewartet. Dessen zentrale Elemente sind die traditionellen politischen Tugenden wie Gerechtigkeit, Umsicht und Tapferkeit, die Mably hinter der Maske Phociens neben der Mäßigkeit mit der Liebe zur Arbeit, der Ruhmesliebe sowie der Gottesehrfurcht ergänzt; Themen, die in der Zürcher Variante eines politischen Gesprächs zwischen dem Grafen Tessin und Mably berührt werden. Wie schon im 4. Gespräch folgt hier erneut eine ausführliche Analyse zwischen Vaterlandsliebe und Menschheitsliebe, wobei erstere der zweiten untergeordnet wird. In der Tradition des klassischen Republikanismus wird ferner eine enge Verbindung zwischen militärischen und zivilpolitischen Tugenden im Sinne einer defensiven Politik unterstrichen, die nur aufgrund einer geregelten Finanzierung möglich ist. Für die Beschreibung politischer Mechanismen eines Staates stützt sich Mably auf eine im 17. und 18. Jahrhundert weit verbreitete moralphilosophische Idee der sich wechselseitig steuernden und eingrenzenden Leidenschaften.882 Mably, der hier gedanklich in die Nähe der machtpolitischen Tendenzen eines Machiavelli gerückt wird, wenn er einsetzt: „Wie einfältig waret ihr doch, als ihr eurem König alle Macht Gutes zu thun gabet, aber die Gewalt ihm nahmet, Böses zu thun! Und ihr suchet noch einen Ruhm darinnen!“ (BG, S. 78) Da Mably das Böse im Menschen und die Zerstörung der öffentlichen Ordnung fürchtet, müsse der Prinz über den Gesetzen stehen: M a b l y : […] Die Springfedern, die das Wohl eines Staates ausmachen, sind zu schwach unter einem Prinzen, dem die Gesetze selbst nicht unterwürfig sind. Die Bosheit der Men-
882 Vgl. ebd., S. 79–81.
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schen wird Mißbräuche einführen, die die Regierung nicht wird heben können, und die öffentliche Ordnung wird nothwendig in kurzer Zeit zerstöret werden. (BG, S. 78)
Das Werben für die willkürliche Macht des Despoten stößt beim Grafen Tessin nicht auf Anklang; im Gegenteil wird versucht, Mablys theoretische Ansätze zu demontieren. Zudem werden die Mechanismen des Despotismus offen gelegt, die mehrheitlich Übel und Unordnung im Staat verursachen können, wenn der Prinz sich gleichgültig gegenüber „Freyheiten und Rechte[n]“ der Bürger verhält. Dieser fatale Zustand sei für „Laster“ verantwortlich, anstatt dass „die Liebe des Vaterlandes drinnen hätte Tugenden pflanzen können“ (BG, S. 79). Graf Tessin befürchtet des Weiteren, dass „Allmacht“ und royale „Eitelkeit [en]“ den Prinzen zu willkürlichen Handlungen verführten, so dass dieser aus Hartherzigkeit, Bosheit oder wie bspw. Lessings Prinz Hettore Gonzaga aus Langeweile plötzlich die Unterzeichnung von Todesurteilen in I, 8 im Drama Emilia Galotti (1772) vornehmen könnte. In der Antwort ist eine einzige Streichung enthalten, eine Konjektur im Schreibprozess des Autors, die Beise in seiner Edition nicht korrigiert, sondern sichtbar macht und die deswegen geradezu einen funktionalen Charakter in der Aussage Mablys hinsichtlich der Privilegien des Prinzen, des Souverän und der „Policey“, d. h. der öffentlichen Sicherheit erhält: M a b l y : Denn wird eben seine Macht ihn außer Furcht setzen, und die Politik wird ihn über das an seine Pflichten und seinen Nutzen erinnern. Die Furcht der schlimmen Folgen wird ihn verhindern, etwas dergleichen zu unternehmen, die Privilegien sind die einzigen Treibräder einer guten Policey883 und sobald der Prinz zu dem Grad der Macht gestiegen ist, der ihm gebühret, so wird diese gute Policey ein neues Pfand der öffentlichen Freyheit Sicherheit. (BG, S. 80)
Auffällig ist in diesem letzten Dialog wie die politische Macht häufig in der Metaphorik des Körpers beschrieben wird. So wird einmal das Zusammenwirken von Prinz und Untertanen, durch ein soziales Band verbunden und im „gemeinschaftlichen Mittelpunkt vereinigt, [das] nur einen Körper aus beiden machet“ (BG, S. 80). Ein andermal, nach der oben zitierten Replik Mablys, fragt der Graf Tessin nach dem Haupt des Volkes:
883 Die „Handhabung guter Ordnung und Verfassung so wohl in Ansehung der Personen als Sachen eines Staates verstehet. [...] In einem Staate herrscht eine gute Policey, wenn in den Personen und Sachen eine gute Ordnung gehalten wird.“ (Adelung, Bd. 3, S. 803.) Zit. nach Beise (Hg.): BG, S. 80, Anm. 82.
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G r a f T e s s i n : Ein Volk soll einem guten Fürsten die Macht geben, Böses zu thun, die er nicht verlanget, und einem schlimmen Fürsten, der so wol denken muß wie ein guter, wenn er sie nicht mißbrauchen soll, eben dieselbe! Wo ist die Vorsicht eines solchen Volkes, wo ist sein Kopf. (BG, S. 80f.)
Die Frage, welcher Monarch den Sitz des Hauptes einnehmen dürfe, wird weiter diskutiert. Dabei ist Graf Tessin viel kritischer hinsichtlich der Wahl des politischen Oberhauptes, der aus Erfahrung sprechend: „wir haben einige Mal unter dem despotischen Joch geseufzet!“ (BG, S. 81), und wissend, dass nicht jeder für diese Führungsposition geschaffen ist. Die in den Gesprächen schon öfter angetroffene verführerische „Ruhe“ erhält beim Schweden eine neue Konnotation, nicht Schillers Kirchhofsruhe, sondern jene von Gefängnissen wird hier ins Bild gesetzt: G r a f T e s s i n : Ich bekenne seinen König gut zu behalten ist ein vortrefliches Mittel, daß wann sich sein Fuß auf den Naken legt, und ihn nicht zu reitzen, seinen Willen für alle Gesetze ehret. Dann wird man ruhig leben, so ruhig wie man in einem Gefängnisse lebet. Also ist die Freyheit nicht nütze, wenn sie in den Gesetzen allen, und nicht vielmehr dem königlichen Willen unterwürfig ist. (BG, S. 82)
Ob hier der politische Hintergrund des schwedischen Politikers Carl Gustav Tessin (1695–1770) mitbedacht ist, der als Gesandter in Wien, Paris, Kopenhagen und Berlin wirkte und nach einer politische Karriere als Reichsrat (1741–1761), Oberhofmarschall (1745), Kanzleipräsident (1747) nach einem Zerwürfnis mit dem Hof 1754 gezwungen war, alle Ämter niederzulegen und sich auf sein Gut Åkerö zurückziehen, bleibt Spekulation. Im lexikalischen Feld der Körperlichkeit plädiert Graf Tessin ferner für die Gesundheit des Volkes und für folgende Kur: G r a f T e s s i n : Die Widersetzungen, die Auflehnungen machen ein Volk nicht wahrhaftig unglücklich, sie gehen vorüber, sein Elend und seine Wolfarth entstehen von seinem fortwährenden Zustand; wenn es ganz unter dem Hof liegt, so geht es ganz zu Grund. Ein wenig Erschütterung verwahret die Seele vor Fäulniß, und erhebt sie; und was die Leute wahrhaftig glücklich macht, ist nicht so sehr der Friede als die Fryheit. (BG, S. 82)
Dagegen verfolgt Mably – weniger zur Genesung, sondern zur Perfektionierung der Monarchie – seine Rezeptur der Sitten und der Moral, die an einem harmonischen Gleichgewicht der Kräfte orientiert ist: M a b l y : Wann ich den Prinzen unbeschränkt mache, so verhindere ich zugleich, daß er seine Gewalt nicht misbrauche, ich gebe dem Volk Sitten und durch diese erhalt ich ihm seine Freyheit. Die Gewohnheiten und die Sitten sind das rechte Gegengewicht der königlichen Macht. Ihre Herrschaft über die Menschen ist mächtiger als [die] der Gesetze, weil sie allezeit freywillig ist. Gesetze und Sitten vereiniget[.] Gesetze, die auf die Sitten und Neigung
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gewurzelt sind, sind die wahre Brustwehr der Freyheit, und die einzige Springfeder einer vollkommenen Monarchie. (BG, S. 83f.)
Wiederum wird mit den Lexemen „Brustwehr“, „gewurzelt“ und „Springfeder“ eine körperlich-animalische bzw. automatische Metaphorik des Staates mitberücksichtigt. Kurz darauf fasst der Graf Tessin Mablys Staatstheorie etwas lakonisch und in Anwendung einer doppelten Geminatio von „Nation“ und „König“ zusammen: G r a f T e s s i n : Ich verstehe euch, ihr setztet das königliche Haus in die Stelle des Vaterlandes, für die Wolfahrt der Nation nehmet ihr die Wolfahrt des Königs, euer Herz und Seele mit allen ihren Neigung und Facultät, gebet ihr ihm. Dann seyd ihr stolz auf seinen Stolz und groß in seiner Größe. (BG, S. 83)
Mably hört hier Spott heraus, und verteidigt „die Anhänglichkeit an den Prinzen“ als „die Quelle römischer Thaten“ (BG, S. 83) und fährt in seiner Staatstheorie und Auffassung des Souverän fort, der anders als bei Rousseau über dem Volk steht: M a b l y : […] Die meisten Nationen sind unruhig u[nd] widerstrebend mehr aus Unwißenheit als aus Bosheit, ein Herr muß sie wieder ihren Willen glüklich machen können, doch ohne gewaltthätige Wege, allein durch das verschiedene Spiel der Leidenschaften, durch die rechtmäßige Wege, welche das Recht der Waffen dem Souverain bahnet, durch das Mitleiden, womit er das Volk gegen die Tyranney der Großen beschütze, und das kann freylich nicht ein jeder. (BG, S. 84)
Dass sich Mably in diesem Dialog leicht in Widersprüche verfängt, ist womöglich beabsichtigt, wenn die Rede gleichsam von gewaltfreien Wegen und vom „Recht der Waffen“ ist. Graf Tessin, der abschließend Mablys Hauptwerk: Entretiens de Phocien sur le rapport de la morale avec la politique, erwähnt, welches Bodmer nicht nur besessen,884 sondern sicherlich auch genauestens studiert hatte, entkleidet zuletzt den König als Menschen, wenn an die literarische Kritik eine politisch-moralische geknüpft ist: G r a f T e s s i n : Ist es Mably, der so redet? Ist es die Sprache des Mannes, der in den Kopfe des republicanischen Phocions gedacht, und die Welt beredet hat, daß der große Griech seine Gedanken zuerst gedacht habe? Bonnot Mably hat vergeßen, wohin das Bestreben jedes Herrn zielet, der sich mit allen Künsten, und mit allen Kräften, um ein ungebundenes Regiment bewirbet; er begreift nicht, daß bloß eine zerstörende Macht seine Begierden
884 Gabriel Bonnot de Mably: Entretiens de Phocion sur le rapport de la morale avec la politique. Zurich chez Heidegger & Compagnie, 1763.
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erreget. Mir wird allemal der Kopf und das Herz eines Menschen verdächtig werden, der sich an der Erlaubnüß allen guts und wol zu thun nicht benüget, sondern der über dieses auch das Recht für sich haben will, allen übels zu thun, oder doch allen zu befehlen, was sie nicht nach ihrer, sondern nach seiner Art zu denken für gut erkennen und annehmen sollen. (BG, S. 84f.)
4.5.7 Fazit Abschließend kann gesagt werden, dass in den Gesprächen im Elysium und am Acheron, wie üblich in dieser von Lukian begründeten Gattung hyperbolische Übersteigerungen erfolgen, wenn hier eine menippeische tragikomische Respektlosigkeit gegenüber den Helden aus antiker Geschichte und Politik im Spannungsfeld zwischen Pathos und Bathos und zwar in den Tönen des sprachlichen Witzes oder nicht zuletzt der satirischen Schärfe vorherrscht, wenn Merkur an der Limmat mit seinen revidierten Heldenbildern in die Hölle niedersteigt. Die innovativen Fokussierungen der Franzosen und der Engländer auf Politik und Literatur nahm der Zürcher auf, um sie weiter für sein dialektisches Erziehungskonzept zu konzentrieren, wenn er seine Palimpseste, durch ein politisch-ethisches, von Rousseau, Mably und Montaigne gefärbtes Gedankengut ergänzte. Denn bei seinen Kontrafakturen, als welche Beise diese ironisch-sokratischen, der Mäeutik verschriebenen Gespräche auffasst,885 handelt es sich vor allem um politisch-moralische Lehrstücke, deren designiertes Publikum nicht zuletzt die Studenten des Collegium Carolinum waren, dem Vorläufer der Zürcher Universität, wo Bodmer von 1731 bis 1775 Politik und Helvetische Geschichte lehrte. Indes könnte man sich diesen Geschichtslehrer als Mitstreiter der Blue-Stocking-Society Montagus vorstellen, denn Bodmer äußert sich im Stil der Hetärengespräche als ein emanzipierter Zeitgenosse, wenn er den von Lyttelton abgelehnten Stolz der Frauen hinter der Maske der berühmten Selbstmörderin im ersten Gespräch wieder einfordert, die ihrem verurteilten Mann ‚mit gutem Beispiel‘ und dem Ausspruch „Paetus, es tut nicht weh“, nach dem gescheiterten Putsch von Claudius vorausging (BG, S. 87). Beliebtes Thema und nicht selten Aufhänger der Gespräche sind die Todesarten antiker Persönlichkeiten, die oftmals erst kürzlich am neuen Ort im Reich der Schatten angekommen sind. So widmen sich die Gespräche 2 bis 4 aus diversen Blickwinkeln dem Cäsar-Attentat, wo Brutus mehr Raum für eine selbst-
885 Nachwort von Arnd Beise. In: Bodmer. Gespräche im Elysium und am Acheron. Hg. von dems. St. Ingbert 2010, S. 104.
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kritische Analyse des Tyrannenmordes und der Gefahren der Despotie erhält als noch bei Lyttelton. Sodann wird dessen hochgehaltener Individualismus des „pursuit of happiness“ mit Rousseaus „pacte social“ des Souverän und dem republikanischen Rechtsverständnis des allgemeinen Besten revidiert. Neben literarischen Vorbildern aus der Antike wie Homer, Cicero oder Tacitus wird ebenfalls dem Moralisten Michel de Montaigne (1533–1592) Tribut gezollt. Nach dessen Beispiel verfährt Bodmer nämlich in seinen Streitgesprächen, wenn er mutig dazu auffordert, die Geschichte gegen den Strich zu lesen. Somit wird den Kriegsverbrechern in den Dialogen 9, 11 und 13 auf den Zahn gefühlt, um deren berüchtigte Machenschaften politischer Gehirnwäsche im alten Rom zu entlarven: Augustus war keineswegs ein Friedenskaiser, der tyrannische Cäsar trotz seiner teils demokratischen Ansichten noch weniger eine Persönlichkeit und der allseits, selbst in Montaignes Essais als tugendreich gepriesene Cato, der Ehre, Patriotismus und Heldenmut bei den Nachgeborenen vermisst, erscheint schließlich als problematischer Aristokrat! Oft ist die politische Kritik an eine literarische geknüpft: So wundert sich Homer über den Sittenwandel und über das Desinteresse an seinen Epen, nicht ohne die „sclavische Feigheit“ der Leserschaft zu rügen, welche die sogenannt leichte Literatur, d. h. „weibische Lieder, Tändeleyen, leichtsinnige Scherze“ der Odyssee vorzieht (BG, S. 30). Daneben werden Vergils Herrscherlob des Augustus oder die Apotheosen auf seinen Adoptivvater Cäsar bei Horaz kritisiert. Cicero wird als zu sinnlicher Verehrer der eigenen Tochter denunziert und der Historienmaler Tacitus zuletzt als einfältiger „Pasquillant“ gebrandmarkt, der in den Annales „schändliche, thörichte, abscheuliche Ausschweifungen [der alten römischen Herrscher] ins Schöne firnissen“ wollte (BG, S. 58). Der Mensch als sklavenartiger Wurm ist eine Bildmetapher, die ex negativo verstanden werden muss. Gemäß seines pädagogischen Programms zielte der Zürcher darauf, die Kriechenden zu selbstständig denkenden, freien Bürgern zu erziehen, ein Bild, welches bspw. schon in der satirisch fokussierten Romanparodie Edward Grandisons Geschichte in Görlitz (1755) entwickelt wurde (vgl. Kapitel 4.1). Dank der Gesamtausgabe Beises, die jene beiden Politischen Gespräche der Manuskriptfassung der modernen Philosophen mitberücksichtigt, wird deutlich, dass Bodmer in seinen Gesprächen die berühmte Trias der Franzosen verfolgt, wenn er in den 12 Gesprächen zuerst die Alten unter sich in den Streitgesprächen zu Politik und Literatur Stellung nehmen lässt. Von besonderem Interesse ist dann das 10. Gespräch, wo ein Vertreter der Alten, Cicero mit einem Moralisten der Moderne, Montaigne konfrontiert wird. Schließlich kommen endlich jene modernen Philosophen zum Zug, die Bodmer zu Lebzeiten nicht kompromittieren wollte, wenn er mit diesen nicht in Druck ging.
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Die Form des Dialogs eignet sich ferner bestens, die Essenz der jeweiligen politischen Theorien Rousseaus mit jenen Mablys punktuell einander gegenüberzustellen. Zu einem Zeitpunkt als diese 1760 noch befreundet waren, bevor sich beide nach Erscheinen von Rousseaus Lettre de la Montagne (1764) kräftig in die Haare gerieten und Rousseau Mablys Entretien du Phocien (1764) des Plagiats beschimpfte. Die Auffassungen und Divergenzen der beiden Denker hinsichtlich ihrer politischen Ideen gerade im Bezug des Souveräns konnten so leicht verständlich und gerade den Studenten des Carolinum anschaulich vorgeführt werden. Ferner interessiert die Frage nach dem metonymischen Zusammenhang der Bücherverbrennung von Rousseaus Schriften, der Erziehungsschrift Émile und des politischen Traktats, dem Contrat social vom 16. September 1762 in Genf als eine unrechtmäßige Staatshandlung, die Rousseau auf sich selbst bezog und im Sinn der Metonymie als regelrechte Hinrichtung hinnahm. Rousseaus komplexe Persönlichkeit, der alles in extremis empfand, weil er alles auf sich bezog und ad absolutum dachte, kommt des Weiteren zum Ausdruck, wenn er sich der Anklage stellt und gleichsam die Rolle des Verteidigers selbst in Anspruch nehmend, die Rolle des Staates im Spiegel seiner selbst analysiert. Rousseaus kongenialer Akt, der in seinen Schriften verankert ist, gründet auf den gemeinsamen Rechten aller, womit gerade der Souverän an die gleiche Verantwortung wie die des Volkes gebunden ist, das sich von der Rolle der Untertanen zu jener des Volkes emanzipieren konnte. Dass laut Rousseaus Modell alle die Verantwortung haben, sich für den Weltfrieden einzusetzen, ist ebenfalls eine Idee, die Bodmer für sein Erziehungsprogramm übernimmt. Dass gerade in den herrschaftlichen Ordnungen der Antike Lytteltons Ausweg in Richtung des modernen Individualismus ganz im Sinne des sich entwickelnden angelsächsischen oder auch amerikanischen Pursuit of happiness besteht, verbindet Bodmer mit der alteuropäischen Tugend des „gemeine[n] Beste[n]“, der „Gesetzlichkeit“ sowie der „Freyheit“, dem sich der Einzelne in seinen Ansprüchen dem Souverän unterzuordnen habe, ein Argument, das schon in Rousseaus politischer Theorie des Contrat social (1762) Unterstützung fand. Die durch den Souverän gewährte rechtsstaatliche Freiheit darf nicht zugunsten der Bedürfnisse von Ruhe und Sicherheit geopfert werden. Noch lange vor Schillers dramatischem Gedicht Don Karlos (1787) evoziert bereits Bodmer die trügerische Ruhe in seinen politischen Totengesprächen als Gefahr für den Staat. Ungefähr zeitgleich zu Bodmers Totengesprächen entstanden 1763 Religiöse Gespräche der Toten des Historikers und Theologen aus St. Gallen Jakob Wegelin (1721–1791), wie Beise anführt. Später sollte sich auch Friedrich des Große dem Genre widmen, man denke an das Totengespräch zwischen dem Herzog von Choiseul, Graf Struensee und Sokrates (1772) oder an dessen skandalträchtigen
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religionskritischen Dialogue de Madame de Pompadour et la Vierge Marie (1773). Und auch Gottsched publizierte seine etwas spröde gehaltene Fontenelle-Übersetzung: Auserlesene Schriften, nämlich von mehr als einer Welt, Gespräche der Todten, und die Historie der heydnischen Orakel. (1771). Die literaturkritische Komponente des Lukianischen Modells bedienend, bilden Goethes Götter, Helden und Wieland (1773) den vormaligen Höhepunkt der Gattung.886 In seiner Zeitschrift Adrastea liefert Herder eine prägnante Zusammenfassung über das deutsche Zeitalter der Kritik. Neben einem Essay über den Epos und den Einfluss der englischen Homerübersetzer endet das Kapitel in einem allegorischen Dialog zwischen „Kritik und Satyre“, das als Korrektur auf ein Totengespräch zwischen Swift und Bentley gedacht ist, wie es zum Schluss in den Bemühungen des vergangen Jahrhunderts in der Kritik angekündigt wird. Obschon in Kapitel 2 eingehender evoziert, sei hier nochmals daran erinnert, dass laut Herder Kritik „Kunst der Beurtheilung“ bedeute.887 In seinem genealogischen Familienbild wird die Satire als Schwester der Kritik, der „Richterinn des Wahren, Guten und Schönen“888 vorgestellt, die kraft ihres Amtes versucht: „Thorheit zu verbessern, Laster zu bestrafen, jede verkehrte Denkart sowohl als Schreibart und Lebensweise dem öffentlichen Spott darzustellen und eben dadurch zu berichtigen, zu bessern.“889 Der Nähe von Kritik und Satire wird dann in einem Streitgespräch auf den Grund gegangen, worin die Allegorie der Kritik die Kraft ihrer Pfeile von jenen der Satire differenziert: „Meine Pfeile treffen und heilen; deine Streiche verwunden und heilen nie. Du verlachst; ich belehre und halte den guten Geschmack aufrecht.“890 Die Satire entwickelt sich darauf weiter zur Ironie, wenn sie sich ihrem Vater, den Bruder der Kritik, den nüchternen Verstand, Sophron vorstellt. Der Vater entschuldigt die Mutter, die Nymphe Euphrosyne, die die Erziehung der Tochter vernachlässigt habe, vielmehr solle sich die Kritik, um ihre Nichte kümmern, da diese ihr „dienen“ können. Die Kritik nimmt die Nichte mit den Worten, „Du bist also mein Ariel“ an, und diese, die unterdessen den Namen der Satyre neu mit der Ironie eingetauscht hat,
886 Vgl. Ruth Petzold: Literaturkritik im Totenreich. Das literarische Totengespräch als Literatursatire am Beispiel von Goethes Farce. Götter, Helden und Wieland. In: Wirkendes Wort 3 (1995), S. 406–417. 887 Johann Gottfried von Herder: Kritik und Satyre, In: Ders.: Adrastea. Bd. 5. 1. Stück. Leipzig 1803, S. 20. 888 Ebd., S. 34. 889 Ebd., S. 34. 890 Ebd., S. 34f.
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beschreibt nun ihr Aufgabenfeld: „in der Conversation, im Gespräch, im Sermon, in der Erzählung, am liebsten im Roman.“891 Die Ironie, deren Name von Knüpfen komme, wie die Kritik sagt, erläutert zum Schluss, dass sie „in Gestalten beiderlei Geschlechts als Iron und als Ironie“892 erscheinen können. In welchen Gestalten die Ironie sich bei Bodmer abzeichnet, soll anhand seiner beiden Ugolino-Bearbeitungen als auch dem späten Text Der Gerechte Momus, einer Reihe persönlicher Pamphlete aufgezeigt werden, wo sich bereits die romantische Ironie in der Spiel im Spiel-Tradition sowie im Scheitern offenbart, dem im folgenden Kapitel das Interesse gilt.
4.6 Personalsatirische Pamphlete – Wer legte wen auf die Couch? Um das spezifische Verfahren der poetischen Literaturkritiken Bodmers zu untersuchen, wird eine komparatistische Methode verwendet: In Verbindung mit der Rezeptionsästhetik der Konstanzer Schule werden insbesondere die Überlegungen von Hans Robert Jauß als auch Jean Starobinskis Kritikbegriffe der relation critique sowie action et réaction, die Relationen der Kritik, d. h. Beziehungen und Bewegungen in der Dichtung beschreiben, beigezogen und kommen anhand der exemplarischen Analysen zu Bodmers Demontage der Gegner und der Ridikulisierung seiner selbst in dem späten Text Der Gerechte Momus (1780) zum Tragen. Das literarische Scheitern als Thema der romantischen Ironie begegnet in diesem Text, der sich als Antwort im kritischen Schlagabtausch mit seinen jüngeren Kollegen und Vertretern des Göttinger Hains Friedrich Leopold Graf zu Stolberg (1750–1819) und Johann Heinrich Voß (1751–1826) sowie Gottfried August Bürger (1747–1794) versteht. Darauf wird gefragt, wie Bodmer in einem seiner letzten kritischen Texte Der Gerechte Momus verfährt, wenn er sich hier nochmals eine imaginäre Plattform erarbeitet, um seine Position im Krieg der Dichter noch im hohen Alter zu bekräftigen und die jungen Kontrahenten zu sich „auf die Couch“ bestellt? Inwiefern Kritik als Form einer Kommunikation der Dichter im Rahmen einer Theaterszenerie vom Zürcher Momus zum Anlass genommen wird, seine potentiellen Gegner spielerisch aufzuspießen, wird in diesem Nachspiel zu einer Gerstenberg-Kritik der Ugolino-Bearbeitung deutlich. Die bislang ungedruckte Manu-
891 Ebd., S. 46. 892 Ebd.
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skriptfassung Das Parterre in der Tragödie Ugolino ist ein Beispiel für die Erarbeitung einer imaginären Plattform, um die potentiellen Gegner der Kritik in vorromantischer Manier auszustechen, was sogleich Thema ist.
4.6.1 Die Ugolino-Bearbeitungen Bodmers Interesse für Dante Alighieri wurzelt in seinem poetischen und kritischen Bemühen, umfassende Weltdichtungen zu erforschen, welche die ganze Menschheit zum Gegenstand nehmen und über „die sichtbaren und unsichtbaren Dinge“ vor allem in epischer und in heroischer Form handeln. Neben Homer, Shakespeare, Milton, Tasso und Klopstock zählte Bodmer Dante zu den Vermittlern einer neuen Weltordnung, da in dessen dreyfachem Gedichte893 Hölle, Fegefeuer und Paradies als Szenen dienen, „auf welche[n] er die verschiedensten Personen aus allen Ständen, aus allen Weltaltern und allen Königreichen aufgeführt und bald ihre eigenen, bald andere Sitten hat beschreiben lassen“.894 Daneben wird der Mensch mittels der dichterischen Phantasie oder Einbildungskraft als ein Mittelwesen zwischen der geistigen und der materialistischen Welt begriffen.895 In seinen Poetischen Gemälden der Dichter (1741) fällt der Zürcher über Die göttliche Comödie ein zwiespältiges Urteil. Der für Bodmer typische Widerspruchsgeist erregte sich an der UgolinoEpisode des 32. und 33. Höllengesangs, worin Dante mit Vergil auf den im Fluss Cocytus eingefrorenen Florentinischen Grafen Ugolino von Gherardesca und den Erzbischof Ruggieri trifft, der diesen gerade auf kannibalische Art und Weise in den Hinterkopf beißt. Ruggieri hatte im Diesseits den nach der Alleinherrschaft von Pisa strebenden Ugolino gestürzt und mit seinen Söhnen in einen Turm geworfen, und diese dort zu einem qualvollen Hungertod verdammt. Bodmers Hungerthurm zu Pisa (1769) macht aus Dantes Stoff ein politisches und moralisch
893 Vgl. Ueber das dreyfache Gedicht des Dante. In: Freymüthige Nachrichten. Zürich 1763; abgedruckt in: L. Donati: J.J. Bodmer und die italienische Litteratur. In: Johann Jakob Bodmer. Denkschrift zum CC. Geburtstag (19. Juli 1898). Veranlasst vom Lesezirkel Hottingen. Hg. von der Stiftung von Schnyder von Wartensee. Zürich 1900, S. 242–312, hier S. 283–288, vgl. Bodmer: Von dem Werthe des dantischen dreyfachen Gedichtes. In: Neue Critische Briefe (1749), S. 242–254. Bodmer bezog sich auf Johann Nikolaus Meinhard: Versuche über den Charakter und die Werke der besten Italienischen Dichter. Bd. 1. Braunschweig 1763. Die erste vollständige Übersetzung der Göttlichen Komödie erfolgte von Lebrecht Bachenschwanz 1767–1769. 894 Bodmer: Von dem Werthe des dantischen dreyfachen Gedichtes. In: Neue Critische Briefe 29 (1749). 895 Vgl. Bodmer: Gemählde der unsichtbaren Dinge. In: Ders.: Critische Betrachtungen über die Poetischen Gemählde. Mit einer Vorrede von Breitinger. Zürich 1741, S. 282.
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korrigierendes Lehrstück und ergänzt die Thematik durch eine Aufhellungshandlung. Neu wird Ugolinos Tochter Laura mit ihrem Gemahl Nino Visconti den zum Ende einsichtigen Grafen aus dem Hungerturm befreien. Ferner bringt ein Einzelner aus dem Volk der Pisaner den ungerechten Erzbischof Rüdiger um, der unschuldige Kinder verhungern ließ, womit dem Widerstandsrecht gegen den Tyrannen ähnlich wie im Tellmythos Rechnung getragen wird. 1768 erscheint Heinrich Wilhelm von Gerstenbergs Tragödie Ugolino anonym. Das Stück fokussiert die systematische Verelendung der Familie im Hunger, was schließlich in Gewalt und Kannibalismus ausartet. An die Diskussionen aus Montaignes Essais oder Voltaires Henriade anschließend, behandelt Gerstenberg das patriarchalische Hierarchiemodell, das den aufgeklärten Absolutismus fundamentiert, sowie die aufklärerischen Ideale von Freiheit, Brüderlichkeit und Gleichheit desavouiert: Vergreift sich Anselmo an der toten Mutter, indem er ihr in die mütterliche Brust beißt, springt Francesco trotz väterlichen Verbots aus dem Turmfenster und wird schließlich vom Erzbischof Ruggieri vergiftet. Ugolinos häufiges Abgehen sowie seine mentale Abwesenheit unterstreichen nicht nur seine Distanzierung von der hausväterlichen Wachsamkeit, sondern postulieren gleichsam die Krise der kulturellen patriarchalischen Rangordnung. In einer sich hinziehenden Agonie resigniert Ugolino, seiner politischen und familiären Macht enthoben – und bringt in seinem Wahn seinen Sohn Anselmo um, den er für den Gegner und Widersacher Ruggieri hält. Mit seinem einsamen Tod wird schließlich nicht nur die Analogie von Gottvater, Landesvater und Familienvater negiert und aufgelöst, sondern auch das Ende der Menschheit versinnbildlicht.896 Wie dem Brief an seinen Freund Johann Georg Sulzer vom 6. März 1769 zu entnehmen ist, reagierte Bodmer nach der Lektüre von Gerstenbergs Tragödie prompt mit einem satirischen Nachspiel. Das Manuskript Das Parterre in der Tragödie Ugolino ist in zwei Fassungen von Bodmers Hand in dessen Nachlass in der Zentralbibliothek Zürich erhalten und wurde nie gedruckt. Die erste Handschrift umfasst 32 Seiten in Quartformat, die zahlreiche Korrekturen aufweist, an die sich eine zweiseitige Übersetzung von Dantes Höllengesang 33, V. 26–75 in Hexametern schließt. In die zweite verbesserte, jedoch inhaltlich kaum differierende Abschrift sind die Korrekturen der ersten Handschrift eingearbeitet. Die Spiel im Spiel-Tradition der romantischen Komödien Ludwig Tiecks antizipierend, führt Bodmer zwei Ebenen ein. Auf der Bühne wird Gerstenbergs Ugolino gezeigt, während im Parterre der Poet höchstpersönlich sowie Bodmers junge Kritikerkol896 Vgl. hierzu Yvonne-Patricia Alefeld: Der Simplizität der Griechen am nächsten kommen. Entfesselte Animalität in Heinrich Wilhelm von Gerstenbergs Ugolino. In: Herder-Jahrbuch 6 (2002), S. 63–82. Vgl. ferner Klaus Gerth: Studien zu Gerstenbergs Poetik. Ein Beitrag zur Umschichtung der ästhetischen und poetischen Grundbegriffe im 18. Jahrhundert. Göttingen 1960.
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legen und Verfasser der im Entstehen begriffenen deutschen Pressezunft zugegen sind und eifrig, zuweilen bissig das Bühnengeschehen kommentieren. Neben den Herausgebern der Deutschen Bibliothek der schönen Wissenschaften, dem in Sachsen tätigen Altphilologen und Philosophieprofessor Christian Adolph Klotz (1738– 1771) und dem später an der Wiener Akademie lehrenden Friedrich Justus Riedel (1742–1785), dem Verfasser der Briefe über das Publikum (1768), kommen der Herausgeber der Allgemeinen Deutschen Bibliothek (1765ff.), Friedrich Nicolai (1733–1811) und sein Mitarbeiter Karl Wilhelm Ramler (1725–1798) zu Wort. Ebenso ist Christian Felix Weisse (1726–1804) im Parkett zugegen, der mit Gerstenberg die Bibliothek der schönen Wissenschaften und freyen Künste (1757–1765) publizierte. Werden diese Personen in der ersten Fassung noch alle namentlich genannt, so werden sie in der zweiten bereits mit scherzhaften Namen karikiert: Neu heißen nun Christian Adolph Klotz „Schreckhorn“, Friedrich Nicolai „Jüterbock“, Karl Wilhelm Ramler „Bardolf“, Christian Felix Weiße „Zuckerstock“ und Friedrich Justus Riedel „Kolbrand“. Mit den fingierten Kritikernamen wird nicht nur die Rolle des Kritikers ironisiert, viel mehr rächt sich der Zürcher mit diesem Namensrepertoire an seinen Kontrahenten, die seine literarischen Schriften in ihren Zeitungsblättern häufig als antiquiert verspottet hatten. Bodmers Verwendung des englischen Konversationsstils à la Richardson, woran er sich schon in seiner Literaturparodie in Edward Grandisons Geschichte in Görlitz orientierte (vgl. Kapitel 4.1), soll später von dem Sensualisten und Satiriker Friedrich Justus Riedel in den Briefen über das Publikum (1768) kopiert werden, worin Bodmer von Riedel getadelt wird.897 Die Kritiker mokieren sich z. T. ironisch über die psychologischen und physiologischen Eigentümlichkeiten der Hungernden, da der gesprochene Text, anscheinend im Widerspruch zu den vorgeführten Handlungen steht. Und wenn der Zürcher dann in seinem satirischen Nachspiel in der Tradition des antiken Satyrspiels Das Parterre der Tragödie Ugolino zu Gerstenbergs unnatürlichen Eigenheiten Stellung nimmt, distanziert er sich gleichsam vom nordischen Stürmer und Dränger, der sich beispielhaft in der wahnhaften Rede der Todesszene des Ugolino äußerte:
897 Herder bezeichnete Riedels Theorie der schönen Künste und Wissenschaften, worin dieser die sensualistische Auffassung des Ästhetischen vertritt, laut welcher das Schöne das sei, woran Menschen Gefallen fänden und weniger das, was von Autoritäten als das klassisch Schöne bezeichnet werde, als „krauses Riedellabyrinth“. Herder über Gerstenbergs Ugolino. In: Herder: Sämtliche Werke. Hg. von Bernhard Suphan. 4. Bd. Berlin 1878, S. 308–320. Vgl. Robert Edward Norton: Herder’s aesthetics and the European Enlightenment. New York 1991, S. 159.
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Gefürchtete Kunstrichter und Journalisten! die Leben oder Tod der Tragischen Stücke in ihrer Hand tragen. Ich habe das Glück daß ich weder den Hunger, den ich fünf todlange Aufzüge gelitten habe, noch den todlichen lungezerreissenden Reden unterlegen bin; […] das ewige Geschwatze dieser ausgehungerten Skelete tödete mich beynahe vor dem Zeitpunkte in welchem der grausame Poet mir erlaubte zu sterben. Ha! Er gieng mit meiner Lunge unbarmherzig um! Nun bin ich wieder der ehrliche satte und feißte Schauspieler, ich habe die magere Larve […] hinter der Scene. Zu unserem Geräthe geworfen; da mag sie […] jahrtausende lang in der schwarzen Flamme des Reinigers […] schmachten, zu leben und wieder zu sterben; oder in der Eisfee an dem blutigen Schedel des bischöflichen Bösewichts […] nagen. Darum bekümmere ich mich nicht. – Aber mir bleibt übrig einen Auftrag zu erfüllen. Ein ansehnlicher Unbekannter hat mich gebeten, den Dichter des Ugolino seiner Dienste zu versichern, und dieses kurze Blatt ihm in die Hände zu geben.898
Mit diesem Verfremdungseffekt avant la lettre schließt Bodmers satirisches Nachspiel: Das Parterre in der Tragödie Ugolino (1769), worin in Form der altattischen Parabase in Anlehnung an Aristophanes der Schauspieler, der die Rolle des Ugolino spielt, sich an das versammelte Publikum wendet, um die vorangehende literaturkritische Transformation899 des Zürcher Gelehrten und Literaturkritikers auf Heinrich Wilhelm von Gerstenbergs Ugolino-Tragödie (1768) zu rechtfertigen. In beiden Manuskripten schreibt Bodmer nur diejenigen Zeilen aus Gerstenbergs Ugolino, dem Hypotext, ab, auf welche sich die Bemerkungen seiner Kritiker, Journalisten beziehen, was an mittelalterliche Interlinearversionen erinnert. Zudem stellte er, wie ein auf die zweite Handschrift geklebter Zettel besagt, dem Setzer frei, die Tragödie Ugolino ganz und in einer anderen Schrift als die Reden der Kritiker im Text setzen zu lassen. Diese äußern sich vor allem ironisch zu den psychologischen und physiologischen Eigentümlichkeiten der Hungernden, die im Widerspruch zu den vorgeführten Handlungen stehen. Daneben wird hier ebenfalls an die theaterfeindliche Haltung des pietistischen Zürichs angeknüpft: Schreckhorn: Ausserhalb der Schaubühne schwächt der Hunger den Körper und Geist; aber tragische Personen machen wie das Genie Ausnahme. Das Parterre schwindelt wenn dise Ausgehungerten bei der Einschrumpfung ihres Magens und der Vertroknung ihrer Säfte Thurm-springen, zanken, fluchen, rufen, singen, und nimmer aus dem Athem kommen. […] (BPU, S. 18)900
898 Johann Jakob Bodmer: Das Parterre in der Tragödie Ugolino, S. 23 (2. verbesserte, undatierte Handschrift, vermutlich 1769) Johann Jakob Bodmer Nachlass in der Zentralbibliothek Zürich. Ms. Bodmer 26.4. 899 Zur Terminologie der hypertextuellen Verfahren vgl. Gérard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Übers. von Wolfram Bayer und Dieter Hornig. Frankfurt am Main 1993, S. 44. 900 Alle folgenden Zitate beziehen sich auf die 2. verbesserte Handschrift. Ms. Bodmer 26.4, hier S. 18.
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Dass Francesco trotz des Hungers und der Vergiftung, dem Sarg entsteigend, das in der Stadt Erlebte schildert, wird von Jüterbock parodistisch nachgeäfft: Beym Himmel, dieser Francesco kann erzählen! wiewohl er von den unglaublichen Sprüngen in einen Taumel der Wonne versetzt war; blind von Schrecken, in Ohnmacht gestürzt, von Riechwassern trank, die Geister verwirrt, mit neuen Ohnmachten überfallen, in den engen Todtenhaften verschlossen, versteinert, ohne Sinnen, hat er nicht ein Wort von der Stimme des Bischofs verfliegen lassen. (BPU, S. 14)
Ebenso wirkt der abschließende Monolog Ugolinos unwahrscheinlich, der bei Gerstenberg verlauten lässt: „Mit dir, Hand in Hand, du Nahverklärter! (Anselmo umfassend) Und dann seid mir gepriesen, die ihr diesen Leib der Verwesung hinwarft! Ganz nah bin ich am Ziel.“, worauf Zuckerstock ironisch meint: „Welche Kraft der Lunge, daß er diese überfliessenden Perioden in der Todesminute zu declamieren vermocht hat! Gemeine Sterbende hätten so kaum hinausdenken können.“ (BPU, S. 22) Wie gut der Zürcher die Verfahren der Literaturkritik beherrschte, wird auch in dieser Personalsatire deutlich, wo er sämtliche Register zieht. Bodmer ist nämlich als Superkritiker selbst im Parkett anwesend und natürlich Zielscheibe der Kritik der Mitzuschauer. Zuerst zieht der Dichter die Glaubwürdigkeit, Plausibilität und Aufführbarkeit der Ugolino-Tragödie Gerstenbergs in der zu anfangs zitierten Parabase in Zweifel. Er liest Gerstenbergs Text kopfschüttelnd und setzt dann zum literarischen Verriss an. Dann bringt sich der Verfasser in einem metatextuellen Zug und in autobiographischen Reflexionen selbstironisch ins Spiel, denn die im Parterre sitzenden Kritiker ahnen, dass Bodmer der Urheber dieses Nachspiels ist und es sich gewiss um den „politische[n] Prediger, de[n] alten Schulmeister, […] den seraphische[n] Witzling, den Urgroßvater Patriarchischer Dichter handelt, […] jenen Mann ohne Lebensart, der im Tollhause jung geworden“, den Schreckhorn am liebsten, auf Bodmers Noachide anspielend, in dessen eigener „Sündflut“ ertränken möchte. Diese selbstironische Komponente weist bereits proleptisch auf jenes Ideal der Romantiker hin, die laut den Postulaten Schlegelscher Universalpoesie, neben den typisch metatextuellen Referenzen, das oft in selbstironischen Zügen geschilderte Scheitern in den Künsten im humorvollen Unterton mitbedenken, worauf Jean Paul (1763–1825) in seiner Vorschule der Ästhetik (1804) eingeht, wenn der Humor in § 33 als das Umgekehrte des Erhabenen begriffen wird.901
901 Jean Paul: Vorschule der Ästhetik. Hg. von Norbert Miller und Wolfhart Henckmann. Hamburg 1990, S. 124–144, hier S. 129.
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Die Rolle der Kritik erfährt in Der Gerechte Momus (1780) eine endgültige Reflexion, worin wiederum die selbstreflexiven, zuweilen selbstironischen Tendenzen auffallen.
4.6.2 Der Gerechte Momus (1780) – im Schlagabtausch mit der jüngeren Konkurrenz Im literarischen Wettstreit um den Deutschen Homer, die ‚richtige‘ Homerübersetzung und die Wahl der Versart im Deutschen als geeignetes Äquivalent für den griechischen Hexameter focht der Zürcher Johann Jakob Bodmer mit seinen jüngeren deutschen Kollegen und Vertretern des Göttinger Hains Johann Heinrich Voß (1751–1826), Gottfried August Bürger (1747–1794) sowie Friedrich Leopold Graf zu Stolberg (1750–1819), da er seine Übertragungen der Ilias und der Odyssee im gleichen Jahr wie letzterer 1778 herausgab. Alle drei wollte darauf Voß mit seiner Odyssee-Übertragung 1781 überbieten. Mit diesen zwei ehrgeizigen Konkurrenten rechnete Bodmer in der 1780 anonym publizierten Schrift Der Gerechte Momus sowie in einem seiner Litterarischen Pamphlete, dem Untergang der berühmten Namen (1781) ab. Mit Homers Werk und der Übertragung in Hexametern hat sich der Zürcher Kritiker, Übersetzer und Dichter jahrzehntelang, d. h. seit Beginn der 1750er Jahre in ständiger Selbstkorrektur auseinandergesetzt.902 Für seine Übersetzungen der Ilias und der Odyssee, die als Übersetzungshilfen für die Lektüre im Original gedacht waren, erhielt Bodmer im Vergleich mit Bürger, Stolberg und Voß in den zeitgenössischen Wochenschriften meistens pauschale Verurteilungen hinsichtlich seiner schwerfälligen und schwunglosen Sprache. Hingegen lobte Christoph Martin Wieland in einem Brief an Johann Heinrich Merck Bodmers philologische Genauigkeit, die von Herder begrüßt wurde: Das allerseltsamste Phänomen ist, dass während Stollberg und Bürger sich zancken wer den Homer übersetzen soll […] der alte 80jährige Greis Bodmer in aller Stille, ohne Ankündigung, Subscription und Pränumeration mit dem ganzen Homer, Ilias und Odyssee, ins Mittel tritt und sagt, da habt ihr was die Herren versprechen. Ich höre er soll in der Frankfurter Zeitung mit 2 Worten verächtlich abgefertigt worden seyn; aber hier sind die Griechisch verstehenden Homerfreunde, Herder an der Spitze und Knebel als Adjutant, einstimmig der Meynung, Bodmers Übersetzung sei weit besser als Stollbergs.903
902 1753 Tagebuchsnotiz, er habe den 20 Gesang der Ilias übersetzt. In: Bodmer: Tagebuch (Anm. 2), S. 193. 903 Wieland: Brief an Johann Heinrich Merck, 1. Juni 1778. In: Christoph Martin Wielands Briefwechsel, Bd. 7/1 und 7/2. Hg. von Siegfried Scheibe und bearbeitet von Waltraud Hagen.
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Das Scheitern als großes Thema der romantischen Ironie begegnet in Bodmers 1780 anonym publizierten Pamphlet Der Gerechte Momus,904 das sich als kritischer Schlagabtausch mit seinen jüngeren und ehrgeizigen Konkurrenten Stolberg, Bürger und Voß versteht, nicht ohne auch Wieland, Klopstock, Herder, Klotz und Riedel zu berücksichtigen. Die „schweizerischer Abkunft“ des Gerechten Momus vermutete schon Friedrich Nicolai, der über diese „Hexametrische[n] Rhapsodien“ in seiner Allgemeinen deutschen Bibliothek informierte, in Auszügen die Schlusspassagen des Textes zitierte und bezweifelte, ob der Zürcher Momus gegenüber seiner Kontrahenten „immer in seinem Spotte gerecht“ sei.905 Hier nimmt Bodmer in Hexametern und Blankversen an der vermeintlich poetischen Regellosigkeit der jüngeren Dichtergeneration Anstoß. So lässt er diese am Beispiel der Bogenprobe des heimkehrenden Ulysses „Vosens Spannen / des Ulysses-Bogens“ am Zerspringen der Sehne, bildlich gesprochen, scheitern, worauf weiter unten eingegangen wird. Schon im Titel wird auf die allegorische Figur des Momus angespielt; der griechische Gott der tadelnden Satire, Momus, wird zudem oft mit Merkur, respektive Hermes in Verbindung gebracht, da beide eine Vermittlerrolle zwischen Himmel und Erde inne hatten. Ferner bezeugt dieser Vorläufer des Hofnarren der galanten Festkultur das ambivalente Verhältnis von Weisheit und Wahnsinn im 18. Jahrhundert. Wie schon im Nachwort der Manuskriptfassung zum Parterre in der Tragödie Ugolino (vermutlich 1763) personifiziert und stilisiert sich Bodmer hier höchstpersönlich als griechischer Gott des Spottes und des Tadels. In dieser Allegorie wird erneut an die Theaterparodien des Théâtre de la Foire erinnert, wo in der Maske des Momus an dessen einstige Aufgabe als „bouffon des Dieux“ anspielend, in Parodien und Prologen Kritik geäußert wurde, wobei sich dieser gleichermaßen im Chiasmus als Gott der Verrückten und der Verrückte der Götter, „le dieu des fous et le fou des dieux“, versteht, wie dies Dominique Quéro in seiner Studie Momus philosophe (1995) darlegt. Die Rolle des Komischen und die Aufgaben der Komik werden hier folgendermaßen umrissen:
Berlin 1992 und 1997, Nr. 68, 70, 69 und 75 sowie den Kommentar, S. 68 f. Zu Karl Ludwig von Knebel (1744–1834). Vgl. hierzu ausführlich Barbara Mahlmann-Bauer: Bodmers Homerübersetzungen und die Homerbegeisterung der Jüngeren. In: Zürcher Taschenbuch 128 (2007), S. 478– 511. 904 In: Bodmer: Litterarische Pamphlete aus der Schweiz. 1781, S. 173–195. 905 Friedrich Nicolai: Allgemeine deutsche Bibliothek. Bd. 44, Berlin und Stettin 1780, S. 474– 476.
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Un tel constat vaut encore, a fortiori, pour le domaine théâtral, où il semble que le „comique“ déborde largement sur ce qu’on désigne alors du terme de la „comédie“, ainsi qu’en témoigne allégoriquement, par delà les rivalités entre les scènes dramatiques, l’opposition de Thalie et de Momus. Auteurs et critiques ne parlent-ils pas, le plus souvent, pour les œuvres où figure ce dernier, de pièce „comique“ ou de „divertissement“, d’„amibigu-comique“ ou de „capilotade“, de „critique“ ou de „parodie“, de „pièce à tiroirs“, ou tout simplement, de „dialogue“ sans oublier, bien sûr, l’„opéra-bouffon“? Ce flou terminologique – que l’on observe aussi à propos de l’opéra et, surtout, du „ballet“ – recouvre, en fait, l’extrême vitalité de ce que l’on peut appeler la dynamique des genres dramatiques, si du moins il convient encore de parler de „genres“.906
Quéros Studie arbeitet ferner die mannigfaltigen, manchmal gegensätzlichen, Bedeutungen der Momusfigur heraus, dessen doppelte Natur sich zwischen „rieur“ und „railleur“ ansiedelt. Momus demystifiziert, streut seine meistens ironisch gehaltene Kritik über alles und nimmt dabei sich selbst nicht ernst. Wie es schon im Artikel „Folie“ der Encyclopédie heißt, gibt es nützliche und notwendige Verrücktheiten, die […] presque toutes entrent dans l’ordre de la société, puisque cet ordre n’est autre chose que la combinaison des folies humaines. […] cette folie ne fait tort à personne; elle amuse le philosophe qui en est spectateur, et pour celui qui la possède, elle est un vrai trésor, puisqu’elle fait son bonheur.907
Ohne Zweifel verkörpert Momus, immer lächelnd um sich blickend, die Idee des euphorischen Wahnsinns, was gleichsam Anlass für die lebhaftesten Satiren bot. Und wie Quero unterstreicht, ist es sicherlich nicht von ungefähr, dass in dieser fruchtbaren Ambivalenz dieses moralischen Jahrhunderts eine große Faszination für alle jene Freunde der Weisheit vorherrscht, die wissen, dass einzig die maskierte Wahrheit unterhält: „la vérité n’est que jolie sous le masque“.908 Weniger zynisch als Le Neveu de Rameau, aber genauso bereit, Wahrheit und Lüge zu vermischen „de la vérité et du mensonge und plaisante salade“, vertritt der Gott der Satire die Rechte eines kritischen Bewusstseins, der die Philosophie zum Lächeln bringt, nicht zuletzt damit, um ihr Grazie und Geist beizubringen und nicht ohne sich gleichsam über Vernunft und Wahnsinn zu mokieren.909
906 Dominique Quéro: Momus philosophe. Recherches sur une figure littéraire du XVIIIè siècle. Paris 1995, S. 488f. 907 Ebd., S. 489f. 908 Ebd., S. 490. 909 Ebd.
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In Lukians Dialog Hermotimus, oder von den philosophischen Sekten ist die Rede vom wahren Philosophen und dem Urteil des Momus, dem Gott der Kritik, der dem Vulkan einst die Undurchschaubarkeit des Menschen vorwarf: Lycinus: Nun, Minerva, Neptun und Vulkan stritten einst miteinander, wer von ihnen das vorzüglichste Werk hervorbringen könne. Da machte Neptun den Stier, Minerva erfand das Modell eines Hauses und Vulkan bildete den Menschen. Als sie mit ihrer Arbeit zu Momus kamen, den sie zum Schiedsrichter erwählt hatten, beschaute er das Werk jedes der drei Götter, fand aber an jedem etwas auszusetzen. Seine Einwände gegen den Stier des Hauses gehören nicht hierher. Den Vulkan tadelte er, dass er an der Brust des Menschen keine Fenster angebracht habe, durch die man in den Sitz seiner Gedanken und Gesinnungen hineinsehen und sich also immer überzeugen könne, ob das, was er sage, Verstellung oder seine wahre Meinung sei. Momus gestand durch diesen Tadel, dass er zu stumpfsinnig sei, um den Menschen zu durchschauen.910
Darauf wird das Bild einer idealen Stadt skizziert, die nach der Beschreibung eines alten Mannes wirklich existieren soll, wovon Lykinos seinem Freund Hermotimus erzählt: Indessen sagte er mir viel von dieser Stadt, unter anderem, wenn ich mich recht besinne: alle Einwohner seien Fremde, die von anderen Orten dorthin zögen. Niemand werde dort als Bürger geboren. Man finde Barbaren und Sklaven, Missgestaltete, Zwerge und Bettler – kurz, in dieser Stadt sei kein Bürger, wer wolle. Denn sie hätten ein Grundgesetz, daß bei der Aufnahme weder auf Vermögen noch Aussehen, weder auf Größe noch auf Herkunft und berühmte Vorfahren gesehen werden solle. Alle diese Dinge kämen bei ihnen nicht in Betracht. Um Bürger dieser Stadt zu werden, brauche man nichts als Verstand, Liebe zum Schönen, Arbeitsamkeit, Unverdrossenheit und eine Seele, die sich durch keine Art von Ungemach, dem man unterwegs ausgesetzt sein könne, schlaff und mürbe machen lasse. Wer sich mit diesen Eigenschaften auf den Weg mache und nicht ruhe, bis er in die Stadt gekommen sei, werde sofort zum Bürger, trete in die gleichen Rechte ein wie die anderen, wer er auch sei. Die Wörter vornehm und gering, adelig und gewöhnlich, Sklave und frei gebe es dort überhaupt nicht und würden nicht in den Mund genommen.911
In Lukians Jupiter Tragödus tritt der Göttervater Zeus im Tragödienstil bei einer Versammlung der Götter auf und macht sich in bitteren Hexametern über das Menschengeschlecht Luft: „O Prometheus, / Was hast du mir für Übel zubereitet!“912 Besorgt über die Einflussnahme der Epikureer, die nach Lukrez De rerum naturae die Existenz der Götter in Frage stellen und sich über die frommen Stoiker
910 Lukian: Parodien und Burlesken. Auf Grund der Wielandschen Übertragung. Hg. von Emil Ermatinger und Karl Hoenn. Lausanne 1971, S. 263. 911 Ebd., S. 265f. 912 Lukian. Übers. von Christoph Martin Wieland. Hg. von J. Werner. 3 Bde. Berlin, Weimar 1981, Bd. I, S. 457.
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zu behaupten wissen, berichtet Zeus von jenem philosophischen Streitgespräch, das er auf seinem anonymen Gang durch Athen mitgehört hatte. Bei der darauffolgenden Krisensitzung der Götter mischt sich der Kritiker Momus ein und geht mit den Epikureern einher, wenn er laut über das Problem der Theodizee, der Vereinbarkeit göttlicher Vorsehung mit dem Unheil der Welt, nachdenkt: […] wie die Besten und Unschuldigsten […] vor Armut, Krankheit und Unterdrückung zugrunde gehen: die lasterhaftesten und heillosesten Menschen hingegen mit Ehre und Reichtum überhäuft werden […] Was Wunder, wenn sie endlich von uns denken, als ob wir gar nicht da wären.913
Die Götter zeigen kein Ohr für diese Selbstkritik und wollen lieber Krieg spielen. Auf Poseidons Idee hin, den Kritiker mundtot zu schlagen, melden sich die Schicksalsgöttinnen (Moirai), die Poseidon an der Tat hindern. Darauf bleibt den Göttern einzig die Zuschauerrolle übrig: Die Wolken beiseite schiebend, sehen sie der eigenen Nichtigkeit von oben zu, was Koppenfels als eine „paradoxe Umkehr der Höhen- und Tiefenverhältnisse“914 bezeichnet. Alles scheint „ohne Plan und Zweck in blinder Bewegung durcheinander“915 zu gehen. In einer Zirkeldrehung erhalten die Götter Eindruck über die Vorstellungen der Menschen, die diese in Statuen und Theaterspielen entwerfen. Die Metapher der Schifffahrt wird ferner von Momus konterkariert. Das Weltall mit einem Schiff gleichsetzend, entwirft dieser das Bild einer absurden Schifffahrt: Da ist oft weder Takel noch Tau am rechten Ort, kein Segel recht aufgespannt […] Unter den Schiffsleuten siehst du oft, daß ein träger ungeschickter Kerl […] die Hälfte oder den dritten Teil der Equipage zu befehlen hat […] Mit den Passagieren wirst du es ebenso finden […] Knabenschänder, Vatermörder, Tempelräuber nehmen die bequemsten Plätze im Schiff ein […] Du siehst also, mein vortrefflicher Herr, daß dein Gleichnis vom Schiff große Gefahr läuft zu scheitern, da du ihm einen so schlechten Steuermann gegeben hast.916
Obwohl die Literaturfehde mit Gottsched bereits etliche Jahrzehnte zurück lag, stand der Verfasser der Noachide, Förderer Klopstocks und Wielands, bei der jungen Dichtergeneration in hohem Ansehen, wovon beispielsweise noch Goethes Eintrag über seine Rheinreise vom Juni 1775 zeugt, die er mit den beiden Grafen Stolberg unternahm und die ihn u. a. nach Zürich zu Bodmer führte. Während Goethe, eher von den durchs Fenster zu sehenden Bergen fasziniert schien, wie er im 18. Buch von Dichtung und Wahrheit rückblickend festhielt und 913 914 915 916
Ebd., S. 469. Koppenfels: Der Andere Blick oder Das Vermächtnis des Menippos. 2007, S. 89. Lukian. 1981, Bd. I, S. 485. Koppenfels: Der Andere Blick oder Das Vermächtnis des Menippos. 2007, S. 89.
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wohl nur aus Höflichkeit Lavater gegenüber, dem Patriarchaden-Dichter Bodmer die Referenz erwies, so teilte Stolberg Bodmers lebhafte Begeisterung für Homer.917 Voß’ Idylle Der siebzigste Geburtstag wurde hingegen von Bodmer nicht goutiert, der darauf das Gedicht Der Untergang der berühmten Namen, in den Literarischen Pamphleten enthalten, verfasste. In dem nachfolgenden „Verhör über einen Rezensenten in der allgemeinen deutschen Bibliothek“ nimmt Voß den Schlagabtausch wieder auf, und vergleicht Rezensionen zu den Homer-Übersetzungen Stolbergs und Bodmers. Dass Bodmers Hexameter aufgrund ihres „epischern und affektvolleren Ausdruck[s]“918 von einem Berliner Rezensenten gelobt wurden, nimmt Voß zum Anlass seines kritischen Widerspruchs anhand exemplarischer Überprüfungen der geglückten oder missglückten Übersetzungen des homerischen Wortlauts ins Deutsche bei Stolberg und Bodmer. In unmittelbarem Zusammenhang stehen Bodmers sperrige elf bzw. zehn Schmähgedichte des Gerechten Momus. Mehrheitlich im Hexameter und zum Schluss gegen Bürger in fünffüßigen Jamben gehalten, unterzieht der Zürcher die deutsche Homerrezeption einer anspielungsreichen satirischen Kritik. Mit seinen deutschen Kontrahenten Stolberg, Bürger und Voß, die Homer ebenfalls ins Deutsche übertragen haben, geht Bodmer hier satirisch-ernsthaft ins Gericht, nicht ohne Herders Ansichten über Homer als Volksdichter ironisch aufzuspießen. Daneben sind jene in der Mitte situierten mythologischen Figuren „Hermes“ und „Faunus“ von Interesse. Nach der Anspielung auf Wielands Teutschen Merkur gibt sich der Zürcher schließlich selbst Raum für die Rechtfertigung seiner eigenen Homer-Übertragung, neben weiteren dichterischen Attacken auf Wieland (Smodikeion), Klopstock (Selmer-Priscian) und dessen Freund Carl Friedrich Cramer (Tellow Eustatius). Der Gerechte Momus 1 Das verschmähte Gedicht, Chriemhilden Rache 2 Homer-Stolberg 3 Homer-Bürger 4.1 Vossens Spannen des Ulysses-Bogen 4.2 Voß-Ulysses
917 Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. In: Ders.: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. Hg. von Klaus-Detlef Müller. I. Abt. Bd. 14. Frankfurt am Main 1986, 18. Buch, S. 795–798. 918 Johann Heinrich Voß: Verhör über einen Rezensenten in der allgemeinen deutschen Bibliothek. In: Deutsches Museum 8 (1779), S. 158–172, hier S. 161; vgl. auch Barbara Mahlmann-Bauer: Bodmers Homerübersetzungen und die Homerbegeisterung der Jüngeren. In: Zürcher Taschenbuch 128 (2007), S. 478–511, hier S. 496.
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5 Hermes-Faunus 6 Homer-Bodmer 7 Smodikeion [Wieland] 8 Herders Meinung 9 Tellow-Eusthathius [Carl Friedrich Cramer] 10 Selmer-Priscian [Klopstock]
Die Vorgehensweise Bodmers, die in elf bzw. zehn Gedichtabschnitte unterteilt ist, soll im Folgenden exemplarisch analysiert werden:
4.6.3 „Das verschmähte Gedicht, Chriemhilden Rache“ Der Reigen beginnt mit einer Erinnerung an die Rezeption des Nibelungenliedes, welche Wiederentdeckung nicht zuletzt auf Bodmers Engagement zurückgeht und sofort in die Traditionen Homers und Ossians gestellt wird. In einer an mittelalterliche Klagelieder erinnernden Erzählform wird eingangs in „Das verschmähte Gedicht, Chriemhilden Rache“ kurz auf Handlung und Protagonisten der Nibelungen rekurriert, bevor in der viertletzten Zeile abrupt zu jenen führenden deutschen Kritikern aus der aktuellen Geschmacksdebatte gewechselt und deren unreflektierte Umgang mit diesem mittelalterlichen Heldenepos evoziert wird, die mit dieser Wiederentdeckung erst mal nichts anzufangen wussten. Die bereits im Titel angesprochene Schmähung bei der deutschen Kritik wird metaphorisch als eine Grablegung begriffen und thematisch mit dem aus der Nibelungenhandlung bekannten frühen Sterben von „Dietelinds Mann“ assoziiert. Der poetische Text personalisiert die lyrischen Künste und ist nach deren Lebensstationen Geburt, Liebe und Sterben organisiert: Der Gesang der Heldenlieder des anonymen Poeten aus dem Mittelalter wird als Ursprung der Dichtung verstanden, der mit dem unkritischen Umgang der jüngeren Dichterkollegen kontrastiert wird. An letztere, vertreten durch Friedrich Justus Riedel (1742–1785) und Christian Adolph Klotz (1738–1771), richtet sich der „edle Entdecker“, Bodmer, höchst persönlich, der sich, in der Art eines Generationenstreits, mit der neuen deutschen Kritikergarde misst, die hier regelrecht als Totenbestatter der mittelalterlichen Dichtung aufgespießt wird: An antike Kontexte anknüpfend, wird Riedel als krasser Häretiker „Riedel der Apostat vom Geschmack“919 und Klotz als Schreihals mit Stentor-Stimme aus dem trojanischen Krieg betitelt. Eindrücklich werden die Assoziationen der Staffage der nordischen Mythologie
919 Bodmer: Der Gerechte Momus. Frankfurt und Leipzig 1780, S. 3. Im Folgenden im Text mit der Sigle (GM) abgekürzt.
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des Nibelungenliedes mit den Empfindungen des Kritikers verknüpft. Von der blutigen Harfe Wallhalls, an wen Braga, der Gott der Beredsamkeit und der Dichtkunst lehnte, wird das Interesse auf das blutende Herz des Ich-Erzählers gelenkt, der die „Lieder von Rüdger und Dietrich und Hagen und Volker / Hub aus der Gruft, worinn sie modernd lagen ein Edler“ (GM, S. 3). Diese edle archäologische Handlung der Rettung vor der Vergessenheit, wird mit Rüdigers Rettung des Schildes verglichen. Weiter wird in der Anklage mit einer assoziativen Alliteration von Lied und Liebe gespielt, wenn es heisst: […] und Eiselhern mochte nicht retten / Daß ihm die schönste Gabe, die Rüdiger hatte, geschenkt ward / Dietelind, Rüdigers Tochter, sie ward zu frühe verwittwet. Riedel der Apostat vom Geschmacke, und Klotze der Stentor warfen die Lieder zurück in die Gruft, aus welcher der Edle / Erst sie hatte hervorgehoben. (GM, S. 3)
Darauf wird auf das eingangs erwähnte Wortfeld des Blutes zurückgegriffen, das jetzt wie in einer Opferhandlung der Dichtung von namhaften Dichtern vollzogen wird und entfernt an das Banket der Dunse bzw. an Popes Dunciad erinnert (vgl. Kapitel 4.1.6). In einer Shakespeare-Reminiszenz des Cäsarmordes betreffend wird Klopstock in Anlehnung an das berühmte Brutus-Zitat mit „Auch Du Klopstock“ betitelt. In dieser ersten Pirouette des Zürcher Momus werden hier lexikalische und literarische Felder gekonnt miteinander verknüpft, wenn wir zum Schluss wieder zum eingangs erwähnten Braga zurückkehren, den Klopstock in seinen Oden als den „Erfinder des Eisgangs“ erdachte. Vom Edelmut Bodmers wird nun – immer noch im Kontext der Rettung – zur Kühnheit der Jüngeren gewechselt, wobei aus dem Apostat Riedel der Apostel Klopstock aufersteht: Klopstock auch du! du hubest die Hand nicht auf vom Verderben Volkern zu retten, den kühnen Spielmann und Helden; die Sonne Hatte nicht einen kühnern beschienen, die süssesten Töne Klangen, vom Ende des Saals zu seinen Seiten zurücke. Wunder! daß du dagegen den Geist anstrengtest, den Eislauf Lochlins und Lutans Volk, Cuthlodas alten Verehrern Zuzuschanzen, und stolz des Eisgangs Apostel dich nanntest, Und dich härmtest, daß sein Erfinder in ewiger Nacht ligt. (GM, S. 4)
Der Eislauf und seine Attribute fungierten schon früh als satirisches Bindeglied in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Berühmtestes Beispiel ist hierfür Klopstock, der in seinen Eis-Oden ab 1764 immer wieder den winterlichen Schlittschuhläufer, bspw. in „Der Eislauf“ oder „Die Eisode“, thematisiert und die Götter der griechisch-römischen Antike von Ossian und der germanischen Götterwelt inspiriert,
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in einer altnordischen Travestie versetzt und Walhallas Gott der Dichtkunst, Braga in der gleichnamigen Ode, den griechischen Apoll ablöst.920 Diesen Paradigmenwechsel, den Klopstock mit der Personifizierung von Dichtung und Natur, deren Ursprung und Bewegung gerade in der Metaphorik des Eislaufs symbolisiert sah, hat seinerzeit schon Carl Friedrich Cramer (1752– 1807), der n.a. Klopstock ins Französische übersetzte, so festgehalten, „O Klopstock! O Klopstock! Großer Apostel des Eislaufs!“,921 worauf im Text und in den Anmerkungen Bezug genommen wird.922 Der Schlittschuhläufer Braga soll nach Klopstock die Bewegungen und die Beweglichkeit der Dichtkunst symbolisieren, denen Bodmer zu Beginn seiner Gedichte über Kritik in Der Gerechte Momus die Referenz erweist.
4.6.4 Bogenproben mit Homer In einem an Homers Ilias anspielenden Musenanruf ist die Stolberg-Kritik gekleidet. Skizzenhaft erinnert das lyrische Ich an einige blutige Begebenheiten aus der Ilias-Dichtung. Den Leitmotiven von Zorn, Geburt, Tod und nicht zuletzt des Gesanges folgend, wird hier das Schicksal des Priamus und seiner Söhne, v. a. jenes Hektors im Zusammenhang mit dem Zorn des Achileus, der epischen Klammer der Homerdichtung, evoziert. Von der dreimaligen Anapher des Musenanrufs im Imperativ „Singe“ wird dann auf das lyrische Ich des Dichters gelenkt, der sich mit Ares, dem griechischen Kriegsgott, vergleicht und in Konkurrenz mit Stolberg begreift. Von der Muse, vielleicht Kaliope, erhofft sich das lyrische Ich über die Wunder wie bspw. über den in der Erde steckenden Pfeil, die mit einem Maultier schwangere Stute oder jenen fischtötenden blei- und krummfüßigen Stier Aufklärung. Nach diesen am Boden und im Meer situierten Gewaltakten wird in die Höhe zum Wolkensammler, Kronion, d. h. Zeus geschwenkt, der auf dem
920 Vgl. hierzu Dick van Stekelenburg: Der fliegende Merkur. Zu einem Sprach-Bild-Komplex in Goethes Wilhelm Meisters theatralischer Sendung. In: Das Sprach-Bild als textuelle Interaktion. Hg. von Gerd Labroisse und dems. Amsterdam 1999, S. 45–88, hier S. 67, Anm. 52–54. 921 Carl Friedrich Cramer: Klopstock. Er; und über ihn. 5 Teile mit Nachlese. Hamburg 1780–93. Vgl. auch ders.: Klopstock. In Fragmenten aus Briefen von Tellow an Elise und Fortsetzung. Hamburg 1777–1778, Bd. IV, S. 58; Bd. V, S. 467, S. 470. 922 Bodmer: Der Gerechte Momus. 1780, S. 4, Anm. 7: „Cramer in den Fragmenten Klopstock betitelt sagt: ,Klopstock möchte den Eislauf so gerne unsern Vorfahren zuschanzen‘, S. 282, und: ,O Klopstock! Klopstock. Großer Apostel des Eislaufs!‘ S. 271. Sehet auch Klopstocks Oden Braga und der Eislauf. Klopstock gibt den Braga für den Erfinder des Eisganges.“ Vgl. ferner zum Klopstock-Verehrer die Biographie von Ludwig Krähe: Carl Friedrich Cramer bis zu seiner Amtsenthebung (1752–1794). Berlin 1904.
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Gipfel des hohen Olymps „ohne andern Standpunkt sitzt, die Kette der Wolken um die Berge wickelte und „Götter, das Meer und die Erde“ in die Höhe zieht. Der Text mündet in einem Tauschangebot, worin sich das lyrische Ich von der Muse die Gabe des Dichters erhofft, so dass Voß und Stolberg Taube und Adler, die Attribute der Götter, Venus und Jupiters, erhalten: Giebst du die Wunder mir zu singen, so werden die Vose Schwören, es athm’ in Stolbergs niedersächsischer Seele Einfalt der Taub’ und Kraft des Vogels Jovis, des Adlers. (GM, S. 5)
In Auszügen wird hier aus der Schlacht bei Troja berichtet und dabei aus dem fünften Gesang von Bodmers Übersetzung der Ilias aus dem zweiten Band seiner Zeitschrift „Calliope“ zitiert. Daneben wird in dieser Literaturparodie mit fast wörtlichen Reminiszenzen aus Gottfried August Bürgers (1747–1794) dritten Rhapsodie der 4. Ilias-Fassung in Jamben und dem fünften Gesang in freien Knittelversen der 6. Ilias gearbeitet: Das lyrische Ich wechselt hier die Rollen: eingeführt als kriegerischer Held Merion, der, sich seiner „Jugend-Kraft“ und seines Silberbogens rühmend, zuerst Phereklen die Lanze „ins Gesäß und durch Recht zwischen Blas und Hüftenbein“ rammt. Darauf, als Paris sich in der Schlacht mit Venus persönlich konfrontiert sieht und zurück ins Heer des stolzen Ilion entrinnt, ist folgende Reaktion von Hector zu vernehmen: „Und Hektor sah’s und fuhr ihn scheltend an: / Elender Wicht, mit aller Wolgestalt! / Nichts, als Verführer! Nichts, als Weibergeck!“,923 worauf hier leicht abgewandelt mit „der Weibergeck / Der Wicht, Verführer mit der Wohlgestalt“ (GM, S. 6) angespielt wird. Ein Abschnitt weiter unten wird bei der Erwähnung vom Raub der Helena ähnlich vorgegangen, wenn aus Bürgers Jamben in leichter Variation und unter auffälliger Veränderung der Personalpronomina, d. h. der zweiten zur dritten Person Singular zitiert wird: Bürger: 4. Ilias. Dritte Rhapsodie
Homer-Bürger
[…] weß Manns Jungblühende Gemahlinn du geraubt! – Nichts frommen möchte dir dein Zitherspiel, Nichts alle Gaben Cytheroens, nichts Dein Lockenschmuck, nichts deine Wohlgestalt, Wenn du hinab in den Staub getreten wärst.924
Jungblühende Gemahlin er geraubt. Nichts Frommen mocht’ ihm dann sein Saitenspiel Nichts Lockenschmuck, nichts seine Wolgestalt; Als er hinab in Staub getreten sank. (GM, S. 6)
923 Gottfried August Bürger: Sämmtliche Werke. Hg. von August Wilhelm Bohtz. Göttingen 1835, S. 151. 924 Ebd., S. 151. (Meine Kursivierung.)
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Erstaunlich wie wiederum das Thema des Helena-Raubes auf den Kontext der Kritik bezogen und mit der Erwähnung der Kontrahenten weitere Ausfaltungen erfährt: Bürger: 4. Ilias. Dritte Rhapsodie
Homer-Bürger
Ha! Welche Lache der Achäer nun Erheben wird, der ob der Schönheit dich, für Troas tapfersten Verfechter hielt!925
Ha! welche Lache Ramler hub und Vos! Daß ehlos er gebohren wär’, also so Vor aller Welt ein Schandmal, wär’ ihm das (GM, S. 6)
Die Assoziationen des Raubes, zum einen jeder der Helena als auch jener der Stuten des Laomedon, die Hermes zur Strafe hüten musste, steht hier im Kontext der Plagiatsvorwürfe gegen Bodmer, gegen welche er Stellung bezieht. Sich mit dem Vater des Aeneas, Anchises oder auch dem großen Dichtervater Vergil vergleichend, und sich mit Apoll personifizierend, der die Herden des Laomedon auf dem Idaberge hüten musste, weil er Zeus beleidigt hatte, fährt er fort: Bürger: 6. Ilias. Fünfter Gesang (in freien Knittelversen)
Homer-Bürger
Ihres Saamens entwandt’ Anchises, der Männerbeherrscher, Vor Laomedon heimlich, durch untergeschobene Stuten. Ihm entsprangen daraus sechs Füllen in seiner Behausung. Vier davon behielt und nährt’ er an eigener Krippe; Zwei verehrt’ er Aineias, die schlachtgerechtesten Beide, Sie zu erbeuten, würde den herrlichsten Ruhm uns gewähren.926
Ich stahl, und nicht Aeneas Vater stahl, Und führte heimlich vor Laomedon Die Stutten vor; von diesen blieben mir Daheim sechs Füllen; Vier erzog ich selbst An meiner Kripp’ und jedes traun’ ist werth Mehr als des Hektors troisches Gespann, Daß nicht Andromachen nur, sondern selbst Homerus-Stolberg mit der eignen Hand Den Waitzen ihnen in die Krippe streut’ Und in die Eimer Wein aufgoß’ bevor Zu seinem Mädchen er zur Tafel kam. (GM, S. 6)
Hiermit wird wie schon in jenem fingierten Kritikergespräch zwischen A und B: „An einen Freund über die Deutsche Ilias in Jamben“927 aus Wielands Teutschem Merkur, angeknüpft, wo Bodmer mit Bürger über die beste Homerübertragung ins
925 Ebd., S. 151. 926 Ebd., S. 223. 927 Wieland: Teutscher Merkur (1776) IV. Vierteljahr, S. 46ff.
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Deutsche streiten und mit Bürgers Wahl des Jambus unzufrieden, den Hexameter verteidigt. Kontext dieser Passage ist die im 21. Gesang der Odyssee vorgetragene Bogenprobe. Penelope, die seit zwanzig Jahren auf die Rückkehr ihres Mannes nach Ithaka wartet und von vielen Freiern bedrängt, eine unmöglich scheinende Aufgabe für den Wettstreit der Heiratswilligen ersinnt. Jener der es schaffen würde, den Bogen des göttergleichen Odysseus zu betätigen, d. h. zu spannen und mit dem Pfeil alle zwölf Äxte hindurchzuschießen, soll ihre Hand erhalten. Die Szenerie dieses Wettstreits um jene von vielen begehrte Frau, dient Bodmer zur Staffage der Demontage seiner jüngeren Gegner: Neu nehmen dessen Kontrahenten Voß, Stolberg und Bürger, die Plätze der Freier ein, wenn Voß wie vormals Antinoos den Ziegenhirten Melantheus, hier nun Wieland um Feuer und eine Stierhaut bittet. Wie schon die frechen Freier der Penelope überfordert waren, so muss der Grünschnabel „Vos von Otterndorf“ scheitern und zwar nicht, weil er den Bogen nicht spannen konnte, sondern dieser wegen Überspannung zerbrach. Während jener in Lumpen gekleidete, von den anderen nicht erkannte, Heimgekehrte seine Identität mit dem geglückten Bogenschuss unter Beweis stellen konnte, so dass die vielen Freier erbleichten, bevor sie das Weite suchten, wird eine weitere historische Assoziation eröffnet, nämlich jene von Alexanders Durchtrennung des gordischen Knotens mit dem Schwert. Denn laut der Prophezeiung des Orakels sollte jener die Herrschaft über Asien erhalten, der den gordischen Knoten durchtrennen konnte. Daran versuchten sich ebenfalls viele Männer bis Alexander der Große im Frühjahr 334 v. Chr. diesen nach der Legende durchschlagen und lösen konnte. Hier ist augenfällig, dass das Scheitern an der Bogenprobe von den Mitstreitern als Sieg über den alten Bodmer interpretiert wird, die im neuen Kontext des gordischen Knotens sich im jugendlichen Trotze auf der sicheren Seite meinen: […] Laut schrien Wieland und Geddik’928 und Bürger; Also hat Alexander den gordischen Knotten zerschnitten, Und das Orakel mit Witz erfüllt, da die Kunst ihm fehlte; Ha! wie freuen wir uns den Alten besieget zu sehen. (GM, S. 7)
Dass die jüngeren Dichter an der Bogenprobe scheitern müssen, wird im zweiten Abschnitt erkennbar. Im anschließenden Abschnitt Voß-Ulysses wird der Altersunterschied als Kontrastmittel weiter bedient. Gegenüber dem jungen Rektor „Vos von Otterndorf“ sinniert das lyrische Ich ähnlich wie der alte in zerlumpten
928 Friedrich Gedeke (1754–1804), Bildungspolitiker und Pädagoge aus der Mark Brandenburg.
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Kleidern heimkehrende Odysseus über jenen Schweinehirten Eumaios aus dem 14. Gesang der Odyssee, der ihn bewirtete und einen Mantel gab, bevor dieser die Bogenprobe trotz des hohen Alters schaffte. Über diese allzu empfindsame Zeichnung einer Idylle im deutschen Epos, die bspw. in Goethes Werther mit der Lektüre verglichen wird, um diesen über die soziale Ausgrenzung aus der „noble [n] Gesellschaft hinwegzutrösten, wurde gestritten. Dass Stolberg und Voß aus Homer einen empfindsamen modernen Dichter schaffen wollten, um so die kulturkritische Kluft einzuebnen genauso wie Herders Interpretation Homers als Volksdichter, war Bodmer suspekt. Dass Voß namentlich in zwei Gedichten behandelt wird, spricht laut Martin Grieger für die Wertschätzung Bodmers gegenüber den Arbeiten des Jüngeren, gleichwohl sich Bodmer hier vielleicht im Alter Ego des Odysseus gespiegelt sah.
4.6.5 Hermes-Faunus Im Kontext der Toten- und Göttergespräche Lukians, die Wieland ins Deutsche übertrug, werden verschiedene Szenen aus der antiken Mythologie evoziert, die üblicherweise Körperlichkeit, Verwandtschaft und Sexualität thematisieren. In der Apostrophe „Hermes! wie tief bist du und von welcher Höhe gefallen! […] Aber du bist gefallen! du fielest herunter zum Faunus“ wird mittels einer Katabasis, der Fahrt auf die Erde, der damit einhergehende Wechsel der Perspektive betont. Hermes ist der Götterbote und Begleiter der Toten in den Hades, mit dessen römischem Namen Wieland seine Zeitschrift betitelte. Über seine Vaterschaft hinsichtlich des Fauns wird Merkur im 22. Gespräch Lukians aufgeklärt und daran erinnert, dass er sich einst als Ziege Penelope genähert habe, woran der zottige Bart, das weite Maul und die Hörner des Fauns, nicht unverwandt mit den Satyrn, noch erinnern. Zum anderen wird eine Dreiecksgeschichte mit Artemis und dem schönen Jüngling skizziert. Folie hierfür ist wohl Lukians 11. Göttergespräch Endymion, über dessen Schönheit sich Venus mit Luna unterhält. Die Mondgöttin wurde später mit Selene oder Diana gleichgesetzt, die mit dem schönen Jüngling gut 50 Töchter in einer Höhle auf einem Berg gezeugt haben soll. Über jene nächtlichen Versuchungen und ihre körperliche Hingabe der Luna, die von der unbeschreiblichen Grazie dieses schlafenden Jägers jede Nacht übermannt wird, gibt sie Amor die Schuld, dem Sohn der Venus. Hermes, alias Wieland „Kuppeltest ihm zu garstigen Küssen die Göttin des Waidwerks / Und der Keuschheit; ihr triebet mit ihr und Endymion Unzucht“ (GM, S. 8).
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Die den Schreibprozess bestimmenden Maßregelungen der Zensur hinsichtlich der Sittlichkeit lassen sich erahnen, wenn jene anderen von Lukian evozierten Szenen sexueller Schlüpfrigkeiten von Wieland mit der Begründung ausgelassen wurden, nicht den üblichen Tintenflecken, sondern den Ratten zum Opfer gefallen zu seien: „Was die von Gnidus, wie du verehrt, was Lucianus geschildert, / Was du nicht nennen durftest und sittsam flüsternd, Ratten / Haben im Manuscripte, was so dich entzückte, gefressen.“ (GM, S. 8)
4.6.6 Selbstironische Persiflagen des Zürcher Zoilus Bodmers satirisch-ironische Selbstpersiflagen, die sich durch geistreiche satirisch-spottende Verzerrungen und Überzeichnungen von Themen, Inhalten oder Motiven auszeichnen, sind oft an die in Parodien üblichen inhaltlichen und stilistischen Transformationen geknüpft, wie in den abschließenden Gedichten. In den lexikalischen Feldern von Feuer und Wasser und in den abgezirkelten Parametern von Körper und Natur sowie anhand ironisch gezeichneter Übertreibungen und Aufzählungen stilisiert sich der Zürcher Zoilus in einer Persiflage seiner selbst zum Momus im Gedicht Homer-Bodmer. Die hell schallenden Verse des von Homer inspirierten Sängers an der Limmat – „Sollen wir glauben es seyn vom Geiste des Mäoniden / Funken in Bodmers Haupt gefallen, und haben’s entflammet?“ – (GM, S. 9) erklingen über die verschiedenen kleinen und großen Wasserwege von Bächen und den unzähligen Flüssen, wie bspw. „zum Rhein, zur Donau, zur Elbe, zur Weser, […] dem Necker, Oder dem Maine […], der schlängelnden Aar und der Reusse, […] die Pegnitz, die Pleisse“. Die fließenden Bewegungen der Flusswege entsprechen dem Ideal fließender Verse, das Bodmer in seiner Ilias befolgte, die er hier ins Rampenlicht setzt. Das Kriegsgeschehen der Ilias wird als eine verwandtschaftliche Beziehung von Dichter und Protagonist skizziert: „Die Helden, die der Poet im Schlachtfeld anführt, / Ueber viel Wunder, jedoch nicht über die Kräfte des Mannes; / Pfeile wurden von starken Armen die Menge geschossen, / Aber sie sanken auf halbem Wege zu Boden, bevor sie / Ajax’ Leib erreichten, von seinem Blute zu trinken“ (GM, S. 10). Die Geburtsmetaphorik wird dann im Beispiel der trächtigen Stute bedient, der Siegestrophäe der Helden. Daneben wird mit den Kontrasten von Höhe und Tiefe bzw. in Anwendung von Anabasis und Katabasis gearbeitet, wenn zunächst „In die Tiefe des Meers“ das Bley sinkt, die Fische zu töten und darauf Jupiter „auf einer Wolke des Aethers“, im „hohen Olympus […] die Götter und Göttinnen schweben“ lässt. Mit einem Lob Homers zum Ende, auf dessen Phantasie die Epen gründen, wird in einem Göttervergleich wieder in einer Zirkeldrehung an den Anfang des Gedichts erinnert. War dort noch die Rede von den Funken, die in
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Bodmers Haupt „gefallen“ waren, als inszeniertes Bild der Inspiration, so wird zum Ende das Dichtungsprinzip der Schweizer über das Wunderbare mit einem Schwur auf die Locken des göttlichen Hauptes bekräftigt: Wer die Wunder vernimmt, die Möglichkeit sind und nicht Lügen, Kann sich nicht halten, er ruft entzückt; Homer ists! Homer ists! Einfalt ist es und Kraft des Vogels Jovis; er schwört es Bey den göttlichen Augenbrauen des Königs im Himmel Dem um das Haupt ambrosialische Locken erbeben. (GM, S. 10)
Unter Herders Meinung wird die Geschlechtermetaphorik dann zu einer literarischen Genese auf die Spitze getrieben, so dass Stolberg und Bürger als Zwillinge und zu Eltern von Vossens Odyssee stilisiert werden. Wie Bodmer in seinen poetischen Literaturkritiken stets ein politisches Statement unterbringt, wird hier im vorletzten Gedicht Tellow-Eusthathius deutlich, das im Kontext von Cramers Klopstock-Ausgabe entstanden ist. Als politische Pointe wird an die patriotischen Vorbilder der Alten erinnert und am Beispiel Ciceros, Brutus und Cassius die Liebe fürs Vaterland hochgehalten: Doch ist dein Held noch Mensch, ihn über die Menschen zu heben Giebst du ihm Liebe für Vaterland, höhere, stärkere Liebe, Als für ihr Rom die Cicero, Brutus und Cassius hatten, Diese liebten den Staat, in welchem sie Rechtsame hatten, Rechte sich selbst zu regieren, die Hüter der Rechte zu wählen. (GM, S. 17)
Denn Bodmer verehrte Homer, den Dichter einer fernen patriarchischen, einfachen und naturverbundenen Welt, eine Idee, die später auch Rousseau sowohl in den politischen Theorien seiner Diskurse, im Contrat social (1762) als auch in Émile (1762) weiter dachte und von Bodmer, der hauptberuflich am Zürcher Carolinum Politik und Helvetische Geschichte lehrte, in sämtlichen seiner poetischen Literaturkritiken aufgenommen wurde.
4.6.7 Fazit Beide Literatursatiren Bodmers, sowohl der Der Hungerthurm in Pisa (1769) als auch Das Parterre in der Tragödie Ugolino (nach 1768), können als Zeugnisse einer gelebten Literaturkritik verstanden werden, wenn die Bewegungen der Kritik sich in den beiden Fiktionen niederschlagen. Dass Textkritik und Literaturkritik im 18. Jahrhundert noch eng miteinander verwandt sind, wird beim Literaturvermittler Bodmer augenfällig, der neben seiner editionsphilologischen Tätigkeit als Herausgeber und Übersetzer seine
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zeitgenössischen Literaturkritiken in ernsthafte, satirische und personalsatirische Palimpseste fasste. Bodmers Konjekturen in den Ugolino-Bearbeitungen sowie die Personalsatire Der Gerechte Momus verfolgen hierbei jeweils einen doppelten Zweck: Zum einen ist diese spielerische und aufwändige poetische Form seiner Literaturkritik durch fehlerhafte Stellen und Sachverhalte wie in den genannten Beispielen motiviert, die vergleichbar der Emendatio korrigiert und im Sinne der Konjektur mit Vermutungen über den richtig zu verstehenden archetypischen Text ergänzt werden. Zum anderen kritisiert Bodmer aufgrund seines ästhetischen Verständnisses im Hungerthurm zu Pisa Dantes Ugolino-Episode, die er neu ernsthaft und politisch gewichtet. Auch sucht er mit seinem Parterre Gerstenbergs Lesart zu überbieten. Auffällig und aufklärerisch zugleich ist hierbei, dass der Zürcher im Sinne seiner Theorie des Politischen Schauspiels929 mit seinen Palimpsesten zu allererst immer auch ästhetische, moralische und politische Lehrsätze vermitteln wollte. Hinzu kommt, dass Grenzsituationen und Todesdarstellungen zum Anlass für die literaturkritischen Rettungsaktionen des Plots genommen werden wie schon in seinem Polytimet oder dem Odoardo Galotti, seinen Lessingparodien.930 Die Titelfigur im Hungerthurm zu Pisa wird vor dem Tod bewahrt, dagegen stirbt der Tyrann. Somit hat Bodmer die Schwerpunkte des Hypotextes, Dantes Höllengesang, verschoben, um seine Kritik am ungerechten geistlichen Herrscher zu unterstreichen, der sein Amt aus Machtgier missbrauchte und das Volk unterdrückte. Und wenn Bodmer dann in seinem satirischen Nachspiel zu Gerstenbergs unnatürlichen Eigenheiten Stellung nimmt, distanziert er sich gleichsam vom Stürmer und Dränger, der sich beispielhaft in der wilden bzw. wahnhaften Rede in der Todesszene des Ugolino äußerte. Bodmers innovative Literaturkritik arbeitet wie schon in den Götter- und Totengesprächen in Der Gerechte Momus mit den Techniken der Satyra menippea, d. h. einem Wechselspiel von Versformen, sowie satirisch-spöttischen Verzerrungen, parodistischen Elementen und nicht zuletzt selbstironischen Persiflagen. Neben einer auffallenden Geschlechtermetaphorik setzen die rhetorischen Figuren von Katabasis und Anabasis in Wechsel von Fall und Höhe ironische Kon-
929 Johann Jakob Bodmer: ,Politisches Schauspiel.‘ In: Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste in einzelnen, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter aufeinanderfolgenden, Artikeln abgehandelt. Mit einer Einleitung von Giorgio Tonelli. 4 Bde. Nachdruck der 2. vermehrten Aufl. Leipzig 1793. Hildesheim 1967, Bd. 3, S. 710–716. 930 Vgl. Katja Fries: Bodmers Lessingparodien als Literaturkritik. In: Anett Lütteken und Barbara Mahlmann-Bauer (Hg.): Bodmer und Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung. Göttingen 2009, S. 429–458. Dies.: Bodmers Lessingkritik als Literaturparodie. In: Zürcher Taschenbuch 128 (2007), S. 512–525.
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traste. Zudem fehlt hier nicht jene selbstironische Einsicht des Scheiterns, die der Zürcher Zoilus in seinem allegorischen Kostüm des Momus in seinen Bogenproben und kongenialen Schusswechseln im Wettstreit mit den jüngeren deutschen Kritikerkollegen präsentiert, womit er auf die Poetik der Frühromantik vorausweist. Mit der partiellen und subjektiven Methode der Jauß’schen Rezeptionsästhetik, die der Literatur eine kommunikative Funktion zuspricht, können die Sitzverhältnisse „auf der Couch“ der etablierten Literaturgeschichte noch immer hinterfragt werden. Für deren kritische Revision und Aktualisierung bedarf es nicht zuletzt historisch-kritischer Editionen dieser heute schwer zugänglichen und vergessenen Texte, wie bspw. Das Parterre in der Tragödie Ugolino und von Der Gerechte Momus, die nach Jauß von einem kommunikativen Prozess der Literatur zeugen: L’esthetique de la réception se veut comme une methode partielle, une réflexion sur le point de savoir si l’on peut – et comment on pourra – rendre (aujourd’hui) à l’art la fonction de communication qu’il a presque complètement perdue. […] L’art littéraire est un art de communication.931
Demnach ist es notwendig, die etablierte Literaturgeschichte zu überdenken, wie Jauß dies vorschlägt: Réactualiser une œuvre en renouvelant sa réception, cela présuppose que l’on étudie le rapport dialectique entre l’œuvre reçue et la conscience réceptrice – étude qui sera nécessairement sélective et abrégée mais qui de cette nécessité même tire la vertu de pouvoir rendre au passé vie et jeunesse.932
Diese beiden poetischen Texte Das Parterre der Tragödie Ugolino also auch Der Gerechte Momus verfügen über ein kritisches Potential, das die Bewegungen der Dichtung und der kritischen Relationen in den Parametern von Aktion und Reaktion und nicht zuletzt die Entwicklung des Dichters beschreibt, der vom Leser über die Arbeit des Übersetzers und Kritikers zur eigenen Autorschaft wächst, wie sie Starobinskis Kritikbegriff entspricht. Bodmers pragmatisches Verfahren gelebter Streitkultur im 18. Jahrhundert kann ferner als spezifische Form einer schiefen Kommunikation unter Gelehrten gelten, die sich in ihren literarischen Texten imaginäre Plattformen der Kritik, d. h. gemäß des hier ebenfalls attackierten Herder, „in der Kunst der Beurthei-
931 In: Hans Robert Jauss: De l’Iphigénie de Racine à celle de Goethe, Postface. In: Ders.: Pour une esthétique de la réception. Paris 1978, S. 243–263, hier S. 262. 932 Ebd., S. 254.
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lung“933 schufen, um die potentiellen Gegner auf dem Spielfeld der Parodie, der Satire, der ironischen Selbstpersiflage und nicht zuletzt mittels der spitzen Pfeile der Personalsatire kongenial auszustechen. Wie Bodmer sich in der im Folgenden thematisierten Rousseau-Übersetzung des Levit von Ephraim im Pastiche übt, sei abschließend gezeigt.
4.7 Rousseau-Pastiche und Gessner-Karikatur In den poetischen Literaturkritiken Bodmers fällt immer wieder auf, dass er sich vorzugsweise satirischer, parodistischer und selbst polemischer Techniken der Kritik zu bedienen wusste. Hingegen wählt er oft dort, wo andere verlachen, eine in dieser Hinsicht zaghafte Überschreibung wie in dem Pastiche Der Levit von Ephraim. Aus dem Französischen des Rousseau in dem Plane verändert, der 1782 in Zürich bei Orell, Gessner, Füssli und Compagnie erschienen ist.934 Der Pastiche ist seit Marmontel eine parodistische Nachahmung einer textuellen Vorlage ohne satirische oder komische Tendenzen. Stattdessen verneigt sich der Pastiche respektvoll vor dem Original und nimmt demnach die Funktion einer ehrvollen Hommage ein, ähnlich wie der Pasticcio in der Musik oder in der Malerei. Die Vorlage wird nicht kritisch angegriffen, sondern in Anlehnung, d. h. „in der Art von“ oder „in der Machart von“ berücksichtigt. Beiden Begriffen, Parodie und Pastiche, ist gemeinsam, dass sie ein literarisches Verfahren bzw. Erzeugnis meinen, dessen ästhetische Wirkung sich durch das Verhältnis zum Vorbild kennzeichnet. Dieses Verhältnis beruht jedoch im Falle der Parodie auf Gegensätzlichkeit, während der Pastiche eine größtmögliche Ähnlichkeit des zu imitierenden Stils anstrebt. Diese reinigende, Dämonen befreiende Tugend, als welche noch Marcel Proust die Fabrikation des Pastiche bezeichnete, entspricht der Arbeitsweise Jean-Jacques Rousseaus, der die sozialen Zusammenhänge von Schuld und Sühne, d. h. den Korrelationen von Gesellschaft und dem Individuum insbesondere in Bezug auf seine Lebenserfahrungen und der daraus fruchtenden Kreativität in seinen Schreibakten in den 1782 posthum erschienenen Confessions „à la manière de“, d. h. „in der Art von“ Augustinus nachging. Inwiefern Literatur jeweils im Kontext des literarischen Wettstreits, sogar über die Sprachgrenzen hinausgehend, zu begreifen ist, soll anhand einer exemplarisch textimmanenten und textvergleichenden Analyse der Zürcher Adaption 933 Johann Gottfried Herder: Bemühungen des vergangenen Jahrhunderts in der Kritik. Was man ehedessen unter Kritik verstand. In: Ders.: Adrastea. Leipzig 1803, Bd. V, 1. Stück, S. 21. 934 Aus dieser Ausgabe wird im Folgenden im Text mit der Sigle (BL) zitiert.
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der posthum erschienenen pastoralen Anti-Idylle Rousseaus Le Lévite d’Éphraïm (1781) deutlich werden. Die pastorale Idylle nach dem Vorbild Salomon Gessners wird zuletzt von Bodmer in seiner Adaption in rhythmischen Hexametern nach dem Vorbilde des erst posthum veröffentlichten Prosagedichts Le Lévite d’Éphraïm von Jean-Jacques Rousseau verwendet. In einer pastoralen Darstellung von Aggression imitierte dieser einen alttestamentarischen Stoff und rekurrierte zudem auf den politischen und anthropologischen Gehalt jener am Schluss des Buchs der Richter erzählten Episode sowie der darin enthaltenen Theorie des Menschen und der Gesellschaft. Damit war Bodmers Interesse geweckt, der für Rousseaus soziopolitische und anthropologische Theorie der Entstehung der Sprache als sozialen Akt offen war. Die Adaption des Stoffes bei Bodmer eignet sich zudem, die Pragmatik der von John L. Austin und John Searle formulierten Sprechakttheorie in der Differenzierung von showing and telling zu veranschaulichen, die als Arbeitsmittel bei der Textanalyse wirksam wird. Die Bedeutung der Sprechakte ist in Bodmers Bearbeitung augenscheinlich: Wer spricht, wer spricht nicht, wann wird gesprochen und wann ist einzig die Gestik bedeutsam, wann erhält Jahwe das Wort? Dies sind wichtige handlungstragende, wenn nicht sogar diskursorientierende Koordinaten von Bodmers Übertragung ins Deutsche, die nicht zuletzt seine Rousseauphilie bezeugen. Dieses Tableau des Schreckens orientiert sich nach dem Logos der felix culpa und dient dazu, die Argumentation im Sinne einer natürlichen Erziehung zu bestärken, wie sie Rousseau und Bodmer vertreten. Das Wachrufen der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, begonnen mit der Missachtung des Gastrechts, der versuchten Sodomie am Leviten, der doppelten Opferung der Geliebten in der Misshandlung und im mahnenden Totenakt, der Genozid, der gestörte Versuch der Vergewaltigung der Töchter Silos sowie deren erneuten Aufopferung zur Regeneration des Stammes der Benjamiter, entspringt einer polemischen Intention gegen alles, was das Leben zerstört. Bodmers biblisches Pastiche, das zuweilen karikierende Züge einer Rückbesinnung auf das Mutterrecht der Alten anklingen lässt, ist ein weiteres politisches Statement in seinem stark von Rousseau beeinflusstem Erziehungsprogramm im Dialog. Die Tugend dominiert darauf in Rousseaus posthum erschienenen pastoralen Idylle Le Lévite d’Éphraïm in einer fast schon romantischen Kreisstruktur zu Anfang: „Sainte colère de la vertu, viens animer ma voix; je dirai les crimes de Benjamin, et les vengeances d’Israël“ und zum Schluss: „il est encore des vertus en Israël“,935 ein Text, der beispielhaft für jene typisch rousseausche Träumerei, 935 Rousseau: Le Lévite d’Éphraïm. Introduction, notes et bibliographie par Sébastien Labrusse. Chatou: Les Éditions de la Transparence. 2010, S. 77. Im Folgenden wird aus dieser Ausgabe mit der Sigle (RL) zitiert.
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mit all ihren Obsessionen, in einer biblischen Paraphrase mündet. Diese Kreisstruktur paraphrasiert jenen häufig in Variationen evozierten Satz, der die Episode des Leviten im Buch der Richter skandiert und am Ende (21:25) an den statu quo ante des Anfangs erinnert: „In jenen Tagen gab es noch keinen König in Israel; jeder tat, was ihm gefiel.“ Dies lässt erahnen, dass der wiedergefundene Frieden und die Ordnung nur von kurzer Dauer waren. Das in Rousseaus Interpretation evozierte Recht der alttestamentarischen Patriarchen musste Bodmers Interesse wecken, dem er in seiner poetisch adaptierten Übertragung ins Deutsche Achtung zollte. Neben der politischen Tendenz des Naturrechts wird Rousseaus Text in seiner autobiographischen Zuspitzung im Kontext der Entstehung bedeutsam, was in der Rousseau-Forschung bereits einschlägig gezeigt wurde.936 Die Forschungslage entfaltend, soll daran anknüpfend, bei einer vergleichenden Textanalyse skizziert werden, wie der Zürcher Text in seiner Adaption die in der alttestamentarischen Erzählung und die von Rousseau übernommene chronologische Handlung durchbricht und neu ausrichtet. Bodmers Pastiche lässt zuweilen Züge einer Rückbesinnung auf das Mutterrecht der Alten anklingen. In der poetischen Adaption von Bodmers Levit von Ephraim, der die vier Gesänge Rousseaus auf deren zwei konzentriert, zeichnet sich eine Technik der Kontrastierung und der Perspektivwechsel der Erzählhaltungen sowie der Verwendung von Prolepsen und Analepsen ab, die zu innovativen modernen fast schon avantgardistischen Brüchen in der Chronologie seiner elegischen Erzählung führen. Rousseaus und Bodmers Anti-Idyllen, einmal in Prosa und dann wieder im rhythmischen Hexameter gehalten, beleuchten die pastorale Darstellung von Aggression der biblischen Vorlage und rekurrieren auf den politischen und anthropologischen Gehalt jener zum Schluss im Buch der Richter (19–21) erzählten Episode, die hier als Erstes skizziert werden soll.
936 Jean-François Perrin: La régénération de Benjamin: Du Lévite d’Éphraïm aux Confessions. In: Autobiographie et fiction romanesque. Autour des Confessions de Jean-Jacques Rousseau. Actes du Colloque international, organisé par J. Domenech. Nice 11–13 janvier 1996, S. 44–58; Raphaël Drai: Freud et Moïse. Psychanalyse, Loi juive et Pouvoir. Paris 1997, Kap. 1: Constitution juridique et violence sociale. Le Lévite d’Éphraïm de Jean-Jacques Rousseau, S. 11–37; François van Laere: Jean-Jacques Rousseau. Du phantasme à l’écriture. Les révélations du „Lévite d’Éphraïm“. Brüssel 1967; Susan K. Jackson: Rousseau’s Occasionnal Autobiographies. Colombus, Ohio 1992, hier Kap. V: „Ultimate Sacrifices: Le Lévite d’Éphraïm“, S. 187–229.
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4.7.1 Buch der Richter (19–21) In der Bibelexegese wird das Kapitel 19–21 des Richterbuches als editorischer Exkurs aufgefasst. Weniger als Fortsetzung zu Kapitel 17–18, sondern als eine später hinzugefügte Polemik gegen den Stamm der Benjamiter sei die literarische Geschichte des Leviten von Ephraïm über Gastfreundschaft und ihre Verweigerung zu verstehen.937 Diese ist durch die chiastische Technik des Tendenzrefrains in der ganzen Länge in 17:6 und 21:25 „In jenen Tagen gab es noch keinen König in Israel; jeder tat, was ihm gefiel“ und in der verkürzten Variante in 18:1 und 19:1 „In jenen Tagen, als es noch keinen König in Israel gab, lebte im entlegensten Teil des Gebirges Efraim ein Levit als Fremder.“ an die vorhergehenden Kapitel des Richterbuches von einem zweiten Redaktor aus davidischer Zeit geknüpft. Mit dem Tendenzrefrain wird ein Plädoyer für das davidische Königtum unterstrichen, das gegen den ersten König Saul in Gibea polemisiere. Ephraïm werde in der Erzählung so positiv dargestellt, da es als Kernland des Nordreiches als pars pro toto Israel bezeichne. Die Schandtat im benjamitischen Gibea führt zum Bruderkrieg zwischen dem Stamm Benjamin und der versammelten Gemeinde Gesamt-Israels: Der mit Übeltätern in Gibea solidarische Stamm Benjamin wird fast vollständig vernichtet; nur die merkwürdige Frauenbeschaffungsaktion vermag den Untergang des israelitischen Stammes gerade noch abzuwenden. Der Duktus, der von Sünde, Strafe und Versöhnung handelnden Erzählung in 19–21 lässt den Eindruck entstehen, dass die Autonomie der Gemeinde Israels hier an ihre Grenzen stoße. Der Übergang zur Institution des Königtums ist somit geebnet. Wie ist ferner der königsfeindliche Kehrvers 21:25 einzuordnen, der an anderen Stellen überaus positiv gezeichnet ist. Dieser impliziere somit, dass alles, was geschehen ist – und dazu gehört, sowohl die Schandtat, die in Gibea verübt wurde, als auch der als Reaktion darauf entstandene Bruderkrieg unter einem König gar nicht erst passiert wäre. Selbst in einem in 21:25 verstandenen Königtum wäre es gar nicht soweit gekommen, dass ein Stamm aus Israel hätte untergehen können. Demnach sei durch die Anfügung von 19–21 an das Richterbuch die gesamte Zeit der Richter im Grunde als eine zu überwindende Epoche der Ordnungslosigkeit und der Anarchie zu verstehen: Nicht der Richter vermag Ruhe zu gewähren, sondern in Wahrheit nur der König. Die strenge Entgegensetzung von heilvoller
937 Vgl. Yairah Amit: The book of Judges: The art of editing. Übers. von Jonathan Chipman. Leiden 1999, S. 337–357, hier S. 337.
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Richterzeit und unheilvollem Königtum, die für Deuteronomium prägend war, wird hier geradezu umgekehrt.938 Somit ist der königsfreundliche Kommentar eine bewusste Korrektur und Weiterentwicklung der deuteronomistischen Richter-Konzeption, was deshalb auf die hier intendierten Aporien einer nach-deutoronomistischen Zeit weist.939
4.7.2 Zur felix culpa in Rousseaus Lévite d’Éphraïm (1781) Rousseaus Schweizer Exil 1762 in der preußischen Enklave in Môtiers im Kanton Neuchâtel, wohin er nach dem vom Pariser Gericht verhängten Verbot und der öffentlichen Verbrennung seiner Erziehungsschrift Émile Anfang Juni flüchten musste, beginnt mit einem vom Alten Testament inspirierten „poème en prose“. In Genf wurde Rousseau zum gleichen Zeitpunkt nicht nur für seinen Émile und seine darin im 4. Buch vertretene Naturreligion: „La Profession de Foi du vicaire savoyard“ sowie für das politische Pamphlet Du contrat social ou principes du droit politique angeklagt. In seiner posthum veröffentlichten Autobiographie Les Confessions und in den zwei Fragmenten des Vorworts zum Lévite d’Éphraïm hält er fest, wie er sich am Vorabend seiner Flucht von Montmorency nach einem Nachmittagsspaziergang mit den beiden Geistlichen Marcel Alamannie sowie Jean-François Mandard am 8. Juni 1762 zu einer erneuten Lektüre Des Buches der Richter animiert fühlte.940 Die biblische Vorlage muss auf die Situation des Dichters eine große Wirkung gehabt haben, der sich nach Verlautbarung des Pariser Urteils als zu Unrecht behandelt und verfolgt fühlte und in der biblischen Geschichte des Leviten sein Schicksal gespiegelt fand. Darauf sind erste Skizzen zum Le Lévite d’Éphraïm auf der Reise ins Schweizer Exil entstanden, kurz nachdem Rousseau Gessners Idyllen in der französischen Übersetzung Michel Hubers rezipiert hatte. Rousseaus biblischer Pastiche ist dem pastoralen Schäfer-
938 Vgl. Uwe Becker: Richterzeit und Königtum. Redaktionsgeschichtliche Studien zum Richterbuch. Berlin, New York 1990, S. 295. 939 Spekuliert wird, ob es sich hierbei zeitlich um die mittlere Königszeit handeln könnte. Die Zweiquellenhypothese stützt sich zum einen darauf, dass Ri 19 in die frühe Königszeit vor der Reichstrennung eingeordnet werden kann, aber zum anderen wird auch die Zeit nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels für möglich gehalten. Vgl. Becker: Richterzeit und Königtum. 1990, S. 262. 940 Vgl. hierzu die Auswertung des Archivs der Oratorien von Gilbert Py, der dem Herausgeber der historisch-kritischen Edition, Frédéric S. Eigeldinger schrieb, dass der Vater Jean-François Mandard die Idee geliefert habe. Vgl. Jean Jacques Rousseau: Le Lévite d’Éphraïm. Édition critique par Frédéric S. Eigeldinger. Paris 1999, S. 9, Anm. 3.
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spiel schließlich deswegen verwandt, da die Nachahmung mit „à la manière de Gessner“ assoziiert wird. Von Salomon Gessner (1730–1788), dem er sich geistig nah fühlte, wie er dies dem Übersetzer in einem Brief an Weihnachten 1761 mitteilte,941 hatte er bereits Der Tod Abels (1758), ebenfalls in der Übersetzung Hubers942 gelesen. Im fünften Buch des Émile lobt er ferner Gessners Art, den Tod Kindern zu schildern: „Ce charmant ouvrage respire une simplicité délicieuse dont on ne peut trop se nourrir pour converser avec les enfants de la mort.“943 Über seine Bewunderung für Gessner ließ Rousseau gegenüber Leonhard Usteri (1741–1789), dem Schüler Bodmers und Breitingers und späteren Zürcher Pastor, im Brief vom 13. September 1761 verlauten: Je suis aussi charmé, Monsieur, des Idilles de M. Guesner qu je l’ai été de son Abel, j’y trouve une touchante et antique simplicité qui va au cœur; quand l’ouvrage entier paroitra moi qui ne lis rien, je le lirai surement. En attendant, je profiterai de ce que vous m’avez envoyé et dont je vous remercie.944
941 „J’étais, Monsieur, dans un accés du plus crüel des maux du corps quand j’ai receus vôtre lettre et vos Idylles. Après avoir lû la lettre j’ouvris machinalement le livre comptant le refermer aussi-tôt, mais je ne le refermai qu’après avoir tout lû et je le mis à côté de moi pour le relire encore. Voilà l’exacte vérité. Je sens que votre ami Gessner est un homme selon mon cœur, d’où vous pouvez juger de son traducteur et de son ami par lequel seul il m’est connu.“ (CC, S. 1607) 942 Gessner, Salomon: Idylles et poëmes champêtres. Übers. von M. Huber. Lyon 1762. Vgl. auch: Ders.: La Mort d’Abel, poème en cinq chants. Übers. von M. Huber. Paris 1760. 943 OC, Bd. IV, S. 725. Rousseau an Michael Huber Lettre du 24 Xbre 1761, CC, S. 1607. Zum Einfluss Gessners auf Rousseau vgl. auch das Kap.: Gessner et Rousseau. In: Gonzague de Reynold: Histoire littéraire de la Suisse au Dix-huitième siècle. Second volume. Bodmer et l’école suisse. Lausanne 1912, S. 619–626. Ein Gegenstand, mit dem Bodmer einig war, wenn er in seiner dramatischen Klopstock-Kritik auf dessen Drama Der Tod Adams (1757) wohl nach dem von Rousseau gefeierten Gessner-Beispiel Der Tod Abels (1758) in Der Tod des ersten Menschen (1776) verfährt und das Sterben Adams im hohen Alter ohne jegliche Dramatik, sondern als eine natürliche Begebenheit darstellt. Vgl. zu Gessner auch Wiebke Röben de Alencar Xavier: Salomon Gessner im Umkreis der Encyclopédie. Deutsch-französischer Kulturtransfer und europäische Aufklärung. Genf 2006; Gabriele Bersier: Arcadia revitalized. The international appeal of Salomon Gessner’s Idylls in the 18th century“. In: From the Greeks to the Greens. Images of the simple life. Hg. von R. Grimm u. a. Madison 1994, S. 34–47; Markus Winkler: The Poetics of the Enlightenment and Salomon Gessners Idylls. In: Reconceptualizing Nature, Science, and Aesthetics. Contribution à une nouvelle approche des Lumières helvétiques. Hg. von P. Coleman u. a. Genf, Paris 1998, S. 185–197; Thomas Bürger: „Auch er war in Arkadien! Stimmen für und wider Gessner“. In: Maler und Dichter der Idylle. Salomon Gessner 1730–1788. Wolfenbüttel 1982, S. 181–191 (Ausstellungskatalog). 944 Correspondance complète de Jean-Jacques Rousseau. Édition critique. 52 Bde. Hg. von Ralf A. Leigh. Voltaire-Foundation 2004, Brief 1492. Im Folgenden mit der Sigle (CC) abgekürzt.
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Berühmt ist ferner der Brief Usteris an Rousseau vom 20. Januar 1763 über den Grebel-Handel und die Hommage an seine beiden Zürcher Lehrer: Je ne sçai Mon Ami, si mon mauvais style ne Vous a pas rebuté à lire cette Longue histoire, mais si Vous en avez pris la peine, je croi que Vous aimerez ce zele pour la Justice, & pour la Liberté, ces santimens d’humanité, & d’horreur contre l’injustice & la Tyrannie dans les coeurs de ces jeunes Citoiens, & je Vous dirai qu’il y en a d’autres ou plustot, que la pluspart des gens de cet Age avec un peu moins de Courage sont imbus des memes principes, & nourrissent les memes sentimens: & que c’est à deux hommes que nous en sommes redevables. Ce sont nos vrais pères, ce sont eux qui nous ont élevés, c’est a eux que la Patrie devra bientôt ses meilleurs citoiens, ses meilleurs magistrats & ces meilleurs ministres; C’est à Breitinguer & Bodmer; ce sont nos Socrates ou Rousseaus, & Vos Amis. Ah que je souhaites que Vous les embrassiés bien tot! (CC, S. 2444)945
Über Rousseaus Interesse für Gessner erfreut, wollte dieser ihm seinen Verlag als weitere Publikationsmöglichkeit zur Verfügung stellen, was Usteri den Genfer am 8. März 1763 wissen lässt: J’ai par contre d’une Commission à m’acquitter Vis a Vis de Vous de la part de Msr Gesner, qui me tourmente toujours pour savoir si Msr Rousseau ne fera plus rien imprimer; Il me prie de Vous assurer de son Estime & de son Amitié, & de Vous offrir sa presse, son commerce est assez étendu pour faire un promt debit dans presque tous les pais, & je suis sur qu’il se donnera tous les soins possible pour imprimer Vos ouvrages avec toute l’exactitude & toute l’Elegance possible: (CC, S. 2531)
Offensichtlich in einer Schreibkrise steckend, antwortete Rousseau am 31. März 1763, er habe seine Schreibfeder niedergelegt: Je suis fort obligé à M. Gesner et de la bienveuillance dont il m’honore et du cas qu’il veut bien faire de mes écrits. Mais vous savez que j’ai quitté la plume; car je ne compte pas pour quelque chose une deffense de ma personne, à laquelle on m’a forcé. (CC, S. 2580)
Ein Jahr später besuchte Jacques Henri Meister Rousseau in Môtiers, worüber er seinem Vater am 6. Juni 1764 schreibt: Il me demanda des nouvelles de Mr. Gessner. Je lui en dis tout ce que j’en savois. Je lui dis en particulier qu’en Compagnie il étoit ordinairement fort silencieux – Ah! me répondit-il, Vous me consolez; Dieu soit béni – Il me semble qu’on m’avoit dit le contraire – Mais je vous crois.
945 Ferner berichtet Usteri in diesem Brief ausführlich über den Grebel-Streit, als dessen geistige Väter er Bodmer und Breitinger nennt, die seines Achtens in den jungen Zürchern den Geist der Freiheit und die Liebe zur Gerechtigkeit geweckt haben. Vgl. hierzu Albert M. Debrunner: Das güldene schwäbische Alter: Johann Jakob Bodmer und das Mittelalter als Vorbildzeit im 18. Jahrhundert. Würzburg 1996, S. 30f.
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Je le disois bien. Cet home a l’esprit si pénétré de ses peintures champetres qu’il doit ennuyer et s’ennuyer dans tous nos Cercles d’aujourd’hui. Que le monde d’aujourd’hui doit lui paroitre hideux! – Ah! c’est un Auteur charmant que Mr. Gessner. Je voudrois qu’il écrivit toutes les années 365 Pieces, et que je pus en lire tous les jours une nouvelle. J’ai reçu, il y a quelque tems son Daphnis, mais je vous charge de lui dire que je ne l’ai pas encore lu, parceque je n’ai pas encore pu me promener seul – et je veux le lire à mon aise dans un lieu consacré à la simple Nature. La Traduction de Mr. Huber me paroit excellente. On ne peut presque pas comprendre que l’original soit mieux. […] Il n’aime en général que des livres qu’il puisse relire – Des Anicens, c’est L’Ecriture-Ste, Plutarque, Tacite, Homere – Des modernes: c’est Buffon, Montesquieu et Guesner. (CC, S. 3326)
Im Vergleich des Aufbaus von Rousseaus Lévite mit einer der Quellen, nämlich Gessners Der Tod Abels (1758), einer Art idyllischem Heldengedicht in Prosa, schlägt Frédéric S. Eigeldinger folgende Einteilung vor: La Mort d’Abel
Le Lévite d’Éphraïm
L’Eden Le péché Meurtre d’Abel Dieu vengeur Pardon de la femme de Caïn
Le Lévite et sa femme La femme quitte le Lévite Viol de la femme Israël punit Benjamin Pitié d’Israël pour Benjamin946
In Rousseaus pastoraler Idylle dominiert die Tugend in einer fast schon romantischen Kreisstruktur zu Anfang: „Sainte colère de la vertu, viens animer ma voix; je dirai les crimes de Benjamin, et les vengeances d’Israël“ und zum Schluss: „il est encore des vertus en Israël“.947 Diese königsfreundliche Kehrvers paraphrasiert jenen häufig in Variationen evozierten Satz, der die Episode des Leviten im Buch der Richter (19–21) skandiert und am Ende in (21:25) wieder an den statu quo ante des Anfangs (19:1) erinnert: „In jenen Tagen gab es noch keinen König in Israel; jeder tat, was ihm gefiel.“948 Diese politische Schlussmoral ist eine zentrale Kritik, wonach derartige Gräueltaten, wie sie in Ri 19 erzählt werden, unter einer geordneten Königsherrschaft nicht hätten geschehen können. Während die Erzählung von der Ver-
946 Vgl. Rousseau: Le Lévite d’Éphraïm. Hg. von Frédéric S. Eigeldinger. Paris 2012, Introduction, S. 48. 947 Rousseau: Le Lévite d’Éphraïm. Hg. von Sébastien Labrusse. Chatou 2010, S. 77. Im Folgenden wird aus dieser Ausgabe mit der Sigle (RL) zitiert. 948 Vgl. Uwe Becker: Richter-Buch. In: TRE 29, S. 194–200; ders.: Richterzeit und Königtum. Redaktionsgeschichtliche Studien zum Richterbuch. Berlin, New York 1990; Hans-Winfried Jüngling: Richter 19 – Ein Plädoyer für das Königtum. Stilistische Analyse der Tendenzerzählung Ri 19.1–30a; 21, 25. Rom 1981.
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gewaltigung und Zerstückelung der Frau schon vor Rousseau benutzt wurde, um die judäische Königsherrschaft als Fortschritt hinsichtlich der Rechtssicherheit zu deuten, so ist bei Rousseau eine andere Stoßrichtung erkennbar. Neben der politischen Tendenz des Naturrechts wird sein Text hinsichtlich seiner autobiographischen Zuspitzung im Kontext der Entstehung bedeutsam, was die Rousseau-Forschung bereits unterstrich.949 In den Confessions heißt es: „Pour moi je me console. Le seul éloge que je désire et que je m’accorde sans honte parce qu’il m’est dû. Dans les plus cruels moments de sa vie, il fit Le Lévite d’Éphraïm.“950 Über seine beiden Lektüreeindrücke zum Buch der Richter und zu Gessners Idyllen hatte Rousseau im Brief an Johann Georg Zimmermann vom 21. Januar 1763 geschrieben: J’étais malade, j’étais au Lit, je soufrais comme un miserable, on m’apporte au sortir de la presse la Trad[uction] des Idilles de Gesner. Je commence à lire et je ne soufris plus que lorsque le Livre fut finit. En quitant la France mon Esprit était monté sur le ton le plus noir, je voulus me distraire, je voulus travailler et imiter Gessner en prenant un sujet de l’Écriture Ste, je choisis le dernier chapitre du Livre des Juges, mon ouvrage fut aussi energique que celui de Gesner, mais pas si naïf. (CC, S. 2445)
Rousseau fand in Salomon Gessner (1730–1788) einen Ebenbürtigen, der sich ebenfalls mit den Fragen von Ursprung und Utopie in seinen Dichtungen beschäftigte. Auf die „erstaunliche Nähe“ zwischen der Gessnerischen Lehre und den in der Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen dargelegten Thesen richtet Jacques Berchtold seine Aufmerksamkeit. Wie Rousseau verfolgte Gessner den Ursprung einer natürlichen Lebensweise und des Naturzustandes in den ersten archaischen Familienkonstellationen, nicht mehr im Hebräisch der Bibel, sondern in einer lebenden Sprache in dessen in der Tradition der pastoralen Leitmotive der singenden Hirten des Theokrits und den
949 Jean-François Perrin: La régéneration de Benjamin: Du Lévite d’Éphraïm aux Confessions. In: Autobiographie et fiction romanesque. Autour des Confessions de Jean-Jacques Rousseau. Actes du Colloque international, organisé par J. Domenech. Nice 11–13 janvier 1996, S. 44–58; Raphaël Drai: Freud et Moïse. Psychanalyse, Loi juive et Pouvoir. Paris 1997, Kap. 1: Constitution juridique et violence sociale. Le Lévite d’Éphraïm de Jean-Jacques Rousseau, S. 11–37; François van Laere: Jean-Jacques Rousseau. Du phantasme à l’écriture. Les révélations du „Lévite d’Éphraïm“. Brüssel 1967; Susan K. Jackson: Rousseau’s Occasionnal Autobiographies. Colombus 1992, hier Kap. V: Ultimate Sacrifices: Le Lévite d’Éphraïm, S. 187–229. 950 Jean-Jacques Rousseau: Le Lévite d’Éphraïm. Premier projet de préface. Hg. von Érik Leborgne. Paris 1999, S. 431.
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Eklogen des Vergil gehaltenen Ursprungserzählungen, den Idyllen (1756, 21772), die den Musiker und Sprach-Philosophen Rousseau anregten: Seine Berufung ähnelt derjenigen des Musikers und Philosophen Rousseau, dem es in Zeiten einer beschädigten Welt – gemeint ist die Moderne zwischen 1750 und 1770 – obliegt, die Menschen an die Wahrheit über den ‚Naturzustand‘ zu erinnern; nicht mehr auf Hebräisch, sondern in einer lebendig gesprochenen Sprache. So erkennt es Rousseau in Bezug auf Gessner an, den bäuerlichen und einfachen Propheten bei den Deutschen, so wie er selber die Wahrheit in bäuerlichem Französisch bei den Franzosen bezeugt. Er kann diese Berufung umso besser am Ursprung der Sprache des Menschen im Naturzustand erblicken, als ihm bewusst ist, dass sie bei ihm, wie auch bei Gessner, noch natürlich ist. Es geht nicht darum, in elitärer oder reaktionärer Weise der Poesie der hebräischen oder hellenistischen Antike nachzulaufen. Heute muss man vielmehr die Stimme der Natur in den gesprochenen Sprachen der Zeitgenossen bezeugen. Allerdings geht es darum, die Wörter dieser Sprache zu resemantisieren, um ihnen ihre unberührte Intensität wiederzugeben.951
Gessner bezeichnete seine Idyllen gegenüber dem Übersetzer seiner Werke, Michael Huber, einmal als Karikatur: „une caricature composée dans une heure de folie ou d’ivresse“.952 Gessners Prosagedicht Die Nacht parodiert Verse aus Bodmers Die Syndflut, worauf Fritz Bergmann bereits hingewiesen hat.953 Dieses Prosagedicht (poème en prose) wurde hingegen nicht, wie es Rousseau im Vorwort für eine bei Duchesne vorgesehene Edition 1763 geplant hatte, mit dem Essai sur l’origine des langues oder seiner Imitation théâtrale gedruckt. Der bereits 1755 skizzierte und erst posthum 1781 erschienene Essai sur l’origine des langues où il est parlé de la mélodie et de l’imitation musicale beschreibt den Ursprung der Sprache, als erste soziale Institution, die ihre Ausformung den natürlichen Begebenheiten verdankt954 und hebt daneben die Vorreiterrolle der italienischen Musik gegenüber der französischen hervor. Der Text bezeugt ferner jenen Moment, als Rousseau seiner Genfer Heimat den Rücken kehrte: Auf der Titelseite des Manuskripts hat Rousseau den Zusatz „Citoyen de 951 Jacques Berchtold: Rousseau und Gessner. Die Pastorale der Ursprünge und der Ursprung des Bösen. In: Pascal Delhom, Alfred Hirsch (Hg.): Rousseaus Ursprungserzählungen. München 2012, S. 175–192, hier S. 182. 952 Michel Huber: Choix de Poésies allemandes. Paris 1766, Bd. 1, S. 127. 953 Fritz Bergmann: Salomon Gessner. Eine literaturhistorischbiographische Einleitung. München 1913. Zit. nach: Salomon Gessner: Idyllen. Kritische Ausgabe. Hg. von E. Theodor Voss. Stuttgart 1973. 954 „[...] la parole, étant la première institution sociale, ne doit sa forme qu’à des causes naturelles. In: Rousseau: Essai sur l’origine des langues, où il est parlé de la Mélodie, et de l’Imitation musicale. In: Ders.: Œuvres complètes. Hg. von Bernard Gagnebin und Marcel Raymond. Paris 1995, Bd. V, S. 376. Im Folgenden mit der Sigle (OC) abgekürzt.
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Genève“ nach dem 12. Mai 1763, dem Datum seiner Absage an die Genfer Bourgeoisie, gestrichen. In seinen Überlegungen zu Rousseaus Lettres à Sara, die in der Fiktion aus Julie und Sophie entstanden ist,955 vermutet Eigeldinger, dass das Thema des Leviten und dem Racheakt in der archaischen Sprache mit dem sich Rousseau später eingehender auseinandersetzen sollte, sich bereits in diesem Essay sur l’origine des Langues ankündige.956 Dieser Essay ist eine Hymne auf die Bewegung, die Körpersprache, die stumme Eloquenz der Gestik ohne Worte, deren Ursprung Rousseau bei den alten Ägyptern ansetzt, woran er schon im ersten Kapitel erinnert: Depuis que nous avons appris à gesticuler, nous avons oublié l’art des pantomimes, par la même raison qu’avec beaucoup de belles grammaires nous n’entendons plus les symboles des Egiptiens. Ce que les anciens disoient le plus vivement, ils ne l’exprimoient pas par mots, mais par des signes; ils ne le disoient pas, ils le montroient. (OC, Bd. V, S. 376)
Ferner skizziert schon hier Rousseau das Thema seines späteren Prosagedichts, wie in seinem melodramatischen Pigmalion, einer scène lyrique, wenn er auf die berühmte Stelle die Aufmerksamkeit richtet, wo die Betonung der archaischen Sprache als aussagekräftigerer Akt des Leviten hervorgehoben wird: Quand le lévite d’Éphraïm voulut venger la mort de sa femme, il n’écrivit point aux tribus d’Israël; il divisa le corps en douze pièces et le leur envoya. A cet horrible aspect, ils courent aux armes en criant tout d’une voix: non, jamais rien de tel n’est arrivé dans Israël, depuis le jour que nos pères sortirent d’Egypte jusqu’à ce jour. Et le tribu de Benjamin fut exterminée. (Il n’en reste que six cents hommes, sans femmes ni enfans.) De nos jours l’affaire tournée en plaidoyés, en discussions, peut-être en plaisanteries, eût traîné en longueur, et le plus horrible des crimes fut enfin demeuré impuni. Le Roi Saül, revenant du labourage, dépeça de même les bœufs de sa charrüe, et usa d’un signe semblable pour faire marcher Isräel [sic] au secours de la ville de Jabés. (OC, Bd. V, S. 377)
Starobinskis Interpretation von Rousseaus Frühwerk als Antizipation seiner Autobiographie Les Confessions „ses premiers livres étaient des Confessions anticipées“,957 wird von Jean-François Perrin ergänzt. Demnach findet sich das Thema
955 „Et si Julie s’est fixée sur Sophie, Sophie semble bien avoir donné naissance à Sara.“ In: Frédéric S. Eigeldinger: Les Lettre à Sara de Rousseau. In: Autobiographie et fiction romanesque. Autour des Confessions de Jean-Jacques Rousseau. Actes du Colloque international. Hg. von J. Domenech. Nizza 1996, S. 59–68, hier S. 67. 956 „Le sujet du Lévite n’est-il pas déjà évoqué dans l’Essai sur l’origine des langues?“ Ebd., S. 59–68, hier S. 68. 957 Jean Starobinski: La transparence et l’obstacle. Paris 1971, S. 323.
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des durch den Tod der Mutter von Schuld beladenen Sohnes, dem Beginn der Bekenntnisse Rousseaus, erstmals im Lévite d’Éphraïm, der somit einen bezeichnenden Charakter für die Genese des autobiographischen Schreibens hinsichtlich der biblischen Beleuchtung des mit Tragik beladenen Topos über den von Pech verfolgten Sohn (fils du malheur) erhält. Dieser von Pech verfolgte Sohn, wie er im Abendland seit dem König Oedipus bis hinzu Tristan oder Cleveland, Cromwells Sohn, als Dauergast durch die Literatur geistert, zeichne sich in dieser Perspektive der felix culpa als ein sich ankündigendes Gut an. Wie Jakob den Fluch Rahels abwandte, so erzählen der Lévite wie Rousseaus Confessions von einer Regenerierung.958 Diese „End-übelung“ der Übel ist nach Odo Marquard die Antwort von Leibniz’ Theodizee. Die Essais de théodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l’homme et l’origine du mal (1710) rechtfertigen Gott als Schöpfer des Möglichen, des Bestmöglichen: „so muß Gott um Schlimmeres zu vermeiden und die bestmögliche Welt zu schaffen, die Übel in Kauf nehmen und zulassen, denn ohne malum kein optimum. Ferner wird Gott durch den bonum-durch-malumGedanken verteidigt; denn häufig entsteht durch Schlimmes Gutes und durch Unglück Glück, das es ohne Unglück nicht gäbe. Mit Hilfe von Übeln durch Übel entstehe Gutes, das auf andere Weise nicht entstehen könnte: „Nous savons d’ailleurs que souvent un mal cause un bien, auquel on se seroit point arrivé sans ce mal […] Un General d’Armée“ – zum Beispiel – fait quelques fois une faute heureuse, qui cause le gain d’une grande bataille.“ Schopenhauer zog darauf in Die Welt als Wille und Vorstellung II (1844) den literarisch kausalen Bezug zu Voltaires Candide, wodurch „freilich Leibnizens so oft wiederholte lahme excuse für die Übel der Welt, daß nämlich das Schlechte bisweilen das Gute herbeiführt, einen ihm unerwarteten Beleg“ erhalten habe.959 In diesem Sinne ist Genesis 3 – der Sündenfall und die Vertreibung aus dem Paradies nach der Deutung des Augustinus und darauf von Leibniz zu verstehen. Nur weil es den menschlichen Sündenfall gab, wurde Gott zum Erlöser und kam in die Welt, weswegen die Schuld des Sündenfalls sich schon gelohnt habe, was Odo Marquard als erste Positivierung des Sündenfalls bezeichnet.960 Die zweite Positivierung des Sündenfalls im Kontext der Emanzipationsphilosophie geschieht durch eine Steigerung und Übersteigerung der felix-culpa-Figur. Gene-
958 Jean-François Perrin: La régénération de Benjamin: Du Lévite d’Éphraïm aux Confessions. In: Autobiographie et fiction romanesque. Autour des Confessions de Jean-Jacques Rousseau. Actes du Colloque international. Hg. von J. Domenech. Paris 1996, S. 44–58, hier S. 54 f. 959 Arthur Schopenhauer: Sämtliche Werke. Hg. von Arthur Hübscher. Mannheim 1988, Bd. 2, S. 746. 960 Odo Marquard: Felix Culpa? – Bemerkungen zu einem Applikationsschicksal von Genesis 3. In: Poetik und Hermeneutik 9 (1981), S. 53–72, hier S. 56.
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sis 3 sei nach Kant der Schritt des Menschen zu sich selbst, d. h. die Emanzipation des Menschen zur Vernunft, ein Beispiel für die Emanzipation des Mannes durch die Frau. (Wahlfreiheit zweier Lebensweisen, Freiheitspotential der Phantasie, Vorsorgemöglichkeiten, moralische Autonomie) und bei Schiller wird der Mensch dank des Sündenfalls zum Schöpfer seiner Glückseligkeit, so dass die felix culpa kaum noch culpa, sondern nur noch felix ist. Diese felix culpa ist ferner der Gralssage nachempfunden: Der Gral, der das Blut Christis aufgefangen hatte, als die heilige Lanze des römischen Soldaten Longinus dessen Flanke durchstach, um das Ableben des gekreuzigten Jesus auf dem Hügel Golgatha vor den Toren Jerusalems zu prüfen, heilte den durch Klingsors Lanze verletzten und kranken Gralskönig Amfortas. Das im Oxymoron ausgedrückte glückliche Übel der felix culpa führt in seiner Breitenwirkung zu einer universalen Heilung. So erkannte Augustinus in der göttlichen Weisheit ein Heilmittel, das mal über den umgekehrten Weg, mal über das Erlebnis der Gleichnisse (l’effet du semblable sur le semblable) agiert und zur Befreiung der Gestorbenen nach dem Tod führe (morte mortuos liberavit).961 Die felix culpa versteckt das sich ankündigende Gute schon im Alten Testament: Demnach ist das Buch Samuel, das sich an das Buch der Richter anschließt, das Gute, wenn von Saul, dem ersten Benjamiter erzählt wird, der zum ersten König Israels ernannt wurde. In seinem Essay „Le remède dans le mal. Sur la pensée de Rousseau“ referiert Starobinski auf den antiken Telephos-Mythos, der sprichwörtlich den Gedanken illustrierte, demnach sich das Übel durch das Mittel des Übels heile. Denn Telephos, der Begründer Pergamons, wurde beim Angriff der Hellenen durch den Speer des Achills an der Hüfte verletzt. Das von ihm darauf konsultierte Orakel sprach, dass es nur durch die gleiche Hand geheilt werden könne, welche ihn verletzte. Nach einem ersten Missverständnis, laut welchem Klytemnestra Telephos riet, Achill zur Heilung durch die Entführung des Orest zu bewegen, deutet Odysseus das Orakel richtig. Demnach sei es der Speer des Achill gewesen, der als Heilmittel dienen müsse. Sodann wurde etwas Rost aus der Spitze dieser besagten Waffe beschafft, um die Wunde zu heilen. Dieses literarische Motiv wurde in der Antike von vielen Autoren aufgenommen und interpretiert, bspw. sagt Achill In Ovids Metamorphosen einmal: „Floss und Wirkung bewies mein Speer an Telephos zweimal.“962 Das Motiv der felix culpa wurde von Rousseau auf die Spitze getrieben, wenn dieser sich in seinen Dialogues, den Anti-Confessions, wie sie 961 Augustin: De doctrina christiana. Hg. von R. P. H. Green. Oxford 1995, Bd. I, XIV, S. 13. 962 Ovid: Metamorphosen, XII, V. 112. Auch sieht Plinius der Alte in diesem Mythos eine buchstäbliche Illustration der blutstillenden und Wunden heilenden Kräfte metalischer Abschabungen. Vgl. Jean Starobinski: Le remède dans le mal. Sur la pensée de Rousseau. Paris 1989, S. 194.
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einst von Michel Foucault bezeichnet wurden, zu seinem eigenen Henker stilisierte, wofür sich gerade der Raum in einem philosophischen Selbst- und Streitgespräch vorzüglich eignete.963 Diese aktuelle Interpretation hinsichtlich der Problematik der felix culpa wurde von Zeitgenossen in dieser Zeit kaum evoziert, wenn bspw. ein anonymer Kritiker nach dem posthumen Erscheinen von Rousseaus Lévite im Journal de Neuchâtel im Juli 1781 die nur schwer verständliche Komplexität dieses Textes hervorstreicht: […] Je me permettrai seulement une observation critique. On ne sait si le poète approuve ou blâme la vengeance sanguinaire que le peuple tira du crime infâme des Benjamites. Il semble d’abord qu’il veuille la proposer pour modèle. Sainte colère de la vertu! ce sont ses premiers mots: il s’élève contre l’injuste pitié de ceux qui refusèrent de prendre part à cette expédition: il représente Dieu lui-même encourageant les tribus deux foiy défaites, raniment leur zèle, & leur donnat enfin la victoire. Il semble bientôt après qu’il veuille faire un crime aux Juifs de leur sévérité farouche et barbare. Comment concilier tout cela? Au reste, il se peut très bien que Rousseau lui-même ne sût pas trop s’il admirait cette action, ou s’il la condamnait. Peut-être encore qu’il admirait en général, & ne voulait blâmer que l’excès: mais ici l’excès était inséparable de l’action. Je m’en tiens à ma première solution: il ne savait qu’en penser […] Ni moi.964
Sébastien Labrusse fragt in seiner Ausgabe nach der Singularität von Rousseaus Lévite d’Éphraïm, der wie in der Forschung immer wieder kritisiert wird, viel zu selten gelesen und bei der Leserschaft fast einvernehmlich auf Missfallen gestoßen sei.965 Dessen ungeachtet ist dieser Text noch zu Mitte des 19. Jahrhunderts in der prachtvoll illustrierten Ausgabe Les romans illustrés anciens et modernes (1849) zusammen mit Erzählungen des 14. bis ins 19. Jahrhundert erschienen.966
963 „La forme du dialogue permet de faire alterner ansi le discours du blessant (du Français) et le discours réparateur“ mit der Figur Rousseau. In: Jean Starobinski: Le remède dans le mal. Sur la pensée de Rousseau. 1989, S. 205. 964 Journal de Neuchâtel, Œuvres de J.J. Rousseau. Édition de Genève. Second envoi, en huit volumes, juillet 1781, 6–8; vgl. auch R. Zellweger: Jean-Jacques Rousseau et le Mercure suisse, Musée neuchâtelois. 1983, S. 15–33. Zit. nach Frédéric S. Eigeldinger (Éd.): Rousseau: Le Lévite d’Éphraïm. Édition critique. Paris 1999, S. 30f. 965 Vgl. Rousseau: Le Lévite d’Éphraïm. Hg. von Sébastien Labrusse. 2010 (Introduction), S. 13. 966 Les romans illustrés anciens et modernes. Paris: Gustave Havard 1849. Die illustrierte Ausgabe enthält folgende Erzählungen: Silvio Pellico (Mes Prisons), Madame de Lafayette (La Princesse de Montpensier), Godefroy Cavaignac (Une tuerie de cosaques), Rousseau (Le Lévite d’Éphraïm), Mélanie Waldor (L’écuyer Dauberon), Marmontel (Laurette), Gérard de Nevers (Tressan), Florian (Camiré, Léocadie, Florian), Les Contes des Bocaces (Le Décameron), Lewis (Le moine), Pierre le Long (Les Amours), Voltaire (Du taureau blanc, Jeannot en colin), Madame de
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Von seiner Intuition und Wahrheit überrascht, habe Rousseau mit Hilfe der Idyllen Gessners versucht, die abscheulichen im Lévite d’Éphraïm behandelten Taten der Gewalt zu verhüllen und diese in eine süße Sittengeschichte („douceur de mœurs“) zu kleiden. Schließlich rühmte er im 11. Buch der Confessions diesen Text im Superlativ als den wertvollsten seiner Werke.967 Wie schon in seinem Briefroman La Nouvelle Héloïse (1760) verfolgte Rousseau jene Idyllen-Bilder einer natürlichen Tugend der Antike als auch der Moderne, wie sie Vergil, Jean-Baptiste Rousseau oder Salomon Gessner zeichneten, und die seinen eigenen Vorstellungen eines Lebens in Gemeinschaft nahe kamen.968 Höchst kritisch beurteilte Schiller die Massenwirkung des Idyllendichters Gessner, der das Naive mit dem Sentimentalen zu vereinigen strebe, als halbherzig, und der vor Miltons Paradise lost, der als ihm schönsten bekannten Idylle in der sentimentalischen Gattung, nicht bestehen könne: Ein Gessnerischer Hirte z. B. kann uns nicht als Natur, nicht durch Wahrheit der Nachahmung entzücken, denn dazu ist er ein zu ideales Wesen; ebensowenig kann er uns als ein Ideal durch das Unendliche des Gedankens befriedigen, denn dazu ist er ein viel zu dürftiges Geschöpf. Er wird also zwar bis auf einen gewissen Punkt allen Klassen von Lesern ohne Ausnahme gefallen, weil er das Naive mit dem Sentimentalen zu vereinigen strebt und folglich den zwei entgegengesetzten Forderungen, die an ein Gedicht gemacht werden können, in einem gewissen Grade Genüge leistet; weil aber der Dichter über der Bemühung, beides zu vereinigen keinem von beiden sein volles Recht erweist, weder ganz Natur noch ganz Ideal ist, so kann er eben deswegen vor einem strengen Geschmack nicht ganz bestehen, der in ästhetischen Dingen nichts Halbes verzeihen kann. Es ist sonderbar, daß diese Halbheit sich bis auf die Sprache des genannten Dichters erstreckt, die zwischen Poesie und Prosa unentschieden schwankt, als fürchtete der Dichter, in gebundener Rede sich von der wirklichen Natur zu weit zu verlieren. Eine höhere Befriedigung gewährt Miltons herrliche Darstellung des ersten Menschenpaares und des Standes der Unschuld im Paradiese; die schönste mir bekannte Idylle in der sentimentalischen Gattung. Hier ist die Natur edel, geistreich, zugleich voll Fläche und voll Tiefe, der höchste Gehalt der Menschheit ist in die anmutigste Form eingekleidet.969
Nach François van Laeres psychoanalytischer Analyse in drei Stadien hatte Rousseau als täglicher Bibelleser keine Schwierigkeiten, den sakralen Stil zu
Tencin (Les malheurs de l’amour), Félix Deriège (Des Carbonari), Tressan (Dom Ursino le Navarin), Saint-Lambert (De l’abenaki, Sara Th...), Léo Lespès (Les esprits de l’âtre). 967 Vgl. Jean-Jacques Rousseau: Les Confessions, Buch XI. In: OC, Bd. I, S. 586. 968 Vgl. dazu: Jacques Berchtold: Rousseau et la pastorale antique. In: Die Antike der Moderne. Vom Umgang mit der Antike im Europa des 18. Jahrhunderts. Hg. von Veit Elm u. a. Saarbrücken 2009, S. 95–108, hier S. 101. 969 Friedrich Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung. In: Ders.: Sämtliche Werke. 2004, Bd. 5, S. 749.
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imitieren. Man denke an La Vision de Pierre de la Montagne, dit le Voyant, einer weiteren Bibel-Imitation Rousseaus. So befindet sich Rousseau im ersten Stadium in der Meditation über sein Unglück, worüber im 11. Buch der Confessions zu lesen ist. Darauf bringt er den biblischen Text mit den Idyllen Gessners in Verbindung: „Ces deux idées [le récit biblique et la traduction d’Huber] me revinrent si bien et se mêlèrent de telle sorte dans mon esprit, que je voulais essayer de les réunir en traitant à la manière de Gessner le sujet du Lévite d’Éphraïm.“ (OC, Bd. II, S. 586) Rousseaus Text entspringt der Mischung jener unsäglichen Grausamkeit der archaischen Episode, die von einer Kollektivvergewaltigung an einer jungen Frau sowie von der in der Rache des trauernden Mannes begründeten Zerstückelung des Opfers erzählt, einem archaischen Akt. Diese Sprache der Gestik und einer sentimentalen Träumerei steht in Resonanz mit der gerade am eigenen Leib erlebten Situation der Vertreibung: „L’ouvrage va donc naître d’un mélange initial de cruauté et de rêverie sentimentale: la première, entrant en résonance avec la situation vécue, permet à Rousseau de s’en dégager, pour accéder à la seconde et se libérer de ses anxiétés.“970 Rousseau ist sich dieser Paradoxie bewusst, wenn er weiter in seiner Autobiographie schreibt „Ce style champêtre et naïf ne paraissait guère propre à un sujet si atroce, et il n’était guère à présumer que ma situation présente me fournît des idées bien riantes pour l’egayer.“971 Darauf erkennt van Laere das dritte Stadium in Form einer an sich selbst vollzogenen Psychotherapie, um gegen die Ängste anzukämpfen, wenn Rousseau über den an sich selbst erprobten glücklichen, nahezu triumphalen Verlauf der Operation in den Confessions schreibt:972 Je tentai toutefois la chose, uniquement pour m’amuser dans ma chaise et sans aucun espoir de succès. A peine eus-je essayé que je fus étonné de l’aménité de mes idées, et de la facilité que j’éprouvais à les rendre. Je fis en trois jours les trois premiers chants de ce petit poème que j’achevai dans la suite à Môtiers, et je suis sûr de n’avoir rien fait en ma vie où règne une douceur de moeurs plus attendrissante, un coloris plus frais, des peintures plus naïves, un costume plus exact, une plus antique simplicité en toute chose, et tout cela, malgré l’horreur du sujet, qui dans le fond est abominable; de sorte qu’outre tout le reste j’eus encore le mérite de la difficulté vaincue. Le Lévite d’Éphraïm, s’il n’est pas le meilleur de mes ouvrages, en sera toujours le plus chéri. (OC, Bd. II, S. 756f.)
970 François van Laere: Jean-Jacques Rousseau. Du phantasme à l’écriture. Les révélations du Lévite d’Éphraïm. Brüssel 1967, S. 22f. 971 Rousseau: Les confessions. Œuvres complètes. Hg. von Raymond Trousson und Frédéric S. Eigeldinger. Genf 2012, Bd. II, Buch XI, S. 756. Im Folgenden mit der Sigle (OC) abgekürzt. 972 Ebd., S. 23.
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Die Abfassung des Lévite hatte für Rousseau wie im Übrigen seine Autobiographie eine unleugbar therapeutische Funktion.973 Daneben ist der Text für andere von Interesse, da hier fundamentale Fragen in einem soziopolitischen Kontext aufgeworfen werden, wie Sébastien Labrusse festhält: Was ist der Ursprung der Gewalt? Warum zerstört und begründet die Gewalt den sozialen Körper? Welche Sprache sprechen die Menschen, die sich nach einer Verkettung von Gewaltakten sehnen, deren Urheber sie sind, aber deren Auswirkungen sie übersteigen? Und welcher Natur ist schließlich das Verhältnis zwischen der Körperschaft der lebenden Individuen, die in der Analogie des sozialen Körpers umrissen wird? Diese Fragen bilden den Hintergrund des Lévite d’Éphraïm,974 die laut über die Gewalt in Gesellschaften nachdenken und Rousseaus politische und kulturkritische Anthropologie mitbegründen. Inwiefern die Gewalt der Gesellschaft, der Instrumentalisierung ihrer Mitglieder schließlich mit einer Verwüstung der Sprache zusammenhängt, fasste Rousseau intuitiv auf: „la violence qui ravage les sociétés se manifeste par une dévastation du langage, et cette dévastation prend la forme de l’éclatement des corps vivants, à savoir de la subjectivité originaire des personnes“.975 Diese Geschichte über eine Gesellschaft in der Krise, ist nicht zuletzt eine Antwort auf Voltaires Sermon des Cinquante, wie schon Frédéric S. Eigeldinger vermutete.976 Voltaire behandelte diese biblische Episode einzig, um die Barbarei des Judentums und die Grausamkeit des jüdischen Gottes herauszustellen: Il fallait punir les coupables: point du tout. Les onze tribus massacrent toute la tribu de Benjamin; il n’en échappe que six cents hommes; mais les onze tribus sont enfin fâchées de voir périr une des douze, et, pour y remédier, ils exterminent les habitants d’une de leurs propres villes pour y prendre six cents filles qu’ils donnent aux six cents Benjamites survivants pour perpétuer cette belle race.977
Dagegen versucht Rousseau, den biblischen Kontext auf seine persönlichen Erfahrungen umzumünzen und die ambivalenten Strukturen vorgesellschaftlicher Strukturen herauszuarbeiten, die noch kulturlos und sprachlos scheinen.
973 Vgl. dazu bspw. Jean-François Perrin: La régénération de Benjamin: Du Lévite d’Éphraïm aux Confessions. In: Autobiographie et fiction romanesque. Autour des Confessions de JeanJacques Rousseau. Actes du Colloque international. Hg. von J. Domenech. Paris 1996, S. 44–58. 974 Vgl. Labrusse: Introduction. In: Jean-Jacques Rousseau: Le Lévite d’Éphraïm. Introduction, notes et bibliographie par Sébastien Labrusse. Suivi du Livre des Juges (chapitres XIX–XXI). Traduction de Louis-Isaac Le Maistre de Sacy. Chatou 2010, S. 17. 975 Zit. nach Labrusse: Introduction, ebd. 976 Vgl. Eigeldinger: Introduction. In: Rousseau: Le Lévite d’Éphraïm. 1999, S. 39–40. 977 Voltaire: Mélanges. Hg. von Jacques van den Heuvel. Paris 1961, S. 258.
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Diese immer wieder von Rousseau am eigenen Körper durchlittene Grausamkeit erscheint als Leitmotiv in der ersten Fassung seines Vorwortes an mehreren Stellen: „Voilà de quoi je m’occupais dans les plus cruels moments de ma vie, accablé des malheurs auxquels il n’est pas même permis à un homme d’honneur de se préparer.“978 Die Formulierung der ichbezogenen Grausamkeit erfolgt darauf noch zweimal zum Schluss des Textes, wonach der Dichter dank der identitätsstiftenden Projektierung in der biblischen Geschichte des Leviten Trost findet: Si jamais quelque homme équitable daigne prendre ma défense en compensation de tant d’outrages et des libelles, je ne veux que ces mots pour éloge: dans les plus cruels moments de sa vie, il fit Le Lévite d’Éphraïm. Pour moi je me console. Le seul éloge que je désire et que je m’accorde sans honte parce qu’il m’est dû. Dans les plus cruels moments de sa vie il fit Le Lévite d’Éphraïm.979
In der zweiten Skizze des Vorworts (Second projet de préface) wird der Eindruck dieser erlebten Grausamkeit „les cruels moments“ in der Superlative der Bitterkeit „dans la plus amère douleur“ zu einer Anklage der Gesellschaft zugespitzt: Qu’est-ce donc que cette société tant vantée qui ne récompense jamais le bien qui souvent dissimule le mal et le punit toujours moins sévèrement que son apparence? Voilà ce que je me disais dans la plus amère douleur en me rendant à moi-même le témoignage que nul homme de bon sens et de bonne foi ne me peut refuser. Ces tristes idées me suivaient malgré moi, et rendaient mon voyage désagréable.980
Zu jener Zeit, als noch kein König in Israel regierte, einem statu quo ante, nimmt sich ein Levit, ein jüdischer Geistlicher aus Ephraïm, nach der Sitte der Exogamie eine Geliebte aus Bethlehem in Judäa. Die Frau verlässt nach einiger Zeit diesen Mann, wie in der biblischen Geschichte präzisiert wird, ist untreu, und kehrt darauf zu ihrem Vater zurück. Der Levite entschließt sich, seine Nebenfrau zurück zu holen und verbringt einige Tage bei den Eltern der Braut. Darauf kehren beide wieder heim, nicht ohne in Gabaa beim Stamm Benjamins zu später Stunde eine Pause einzulegen. Hier stoßen sie auf verschlossene Türen, einzig ein alter Greis aus Éphraïm bietet ihnen ein Dach über dem Kopf. Als nachts Wandalen das Haus stürmen, bietet der hilflose Alte diesen eine seiner Töchter an, die noch Jungfrau und sogar einem der Männer versprochen ist; im Unterschied zum Alten Testament, wo der Alte diesem noch seine Tochter und die Frau des Leviten angeboten 978 Rousseau: Le Lévite d’Éphraïm. Premier projet de préface. Hg. von Érik Leborgne. Paris 1999, S. 431. 979 Ebd. 980 Ebd., S. 432.
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hatte. Diese Szene erinnert zudem an Genesis (19:1–9), worin Loth schon seine beiden noch jungfräulichen Töchter Sodoms Männern im Tausch für zwei Engel anbot, die bei ihm eintraten. Die Männer verlangen bei Rousseau nach dem Leviten. Dieser, aus Schutz seiner heiligen Position, liefert schließlich seine Frau aus und zwar ohne sich ihr zu erklären: „sans lui dire un seul mot, sans lever les yeux sur elle, il l’entraîne jusqu’à la porte, et la livre à ces maudits“ (RL, S. 67). Das Verbrechen beginnt in absoluter Stille: der Levite und das Opfer schweigen. Die Frau wird darauf im Wissen des Mannes, der seine Geistlichkeit schützen möchte, von den Banditen missbraucht. Am Morgen tritt der Mann vor die Tür und spricht der auf der Schwelle liegenden Frau seine Liebe aus. Diese antwortet nicht, worauf er erst bemerkt, dass sie nicht mehr lebt. Nachdem er die Frau, die wie er sagte, über alles liebte, zum Schutze seiner selbst geopfert hat, entschließt er sich zu diesem zweiten barbarischen Akt der Zerstückelung. Er zerschneidet den Körper in zwölf Stücke, die er an die zwölf Stämme Israels sendet. Nachdem die Israeliten diese blutige Nachricht erhalten haben, wollen sie das Verbrechen der Benjamiter rächen. Nach drei Tagen erfolgloser Gefechte gelingt es den Israeliten den Stamm Benjamins auszumerzen. Der Sieg ist bitter, denn einer der zwölf Stämme Israels ist fast vollständig ausgelöscht. Nun werden die rund vierhundert Jungfrauen aus Jabesch-Gilead, jenes Stammes, der sich nicht am Krieg beteiligte, den Überlebenden der Benjamiter übergeben. Anlässlich des an das goldene Zeitalter erinnernden Winzerfestes werden zudem die Töchter Schilos von den restlichen Benjamitern gekidnappt. Hierauf findet eine weitere Vergewaltigung im Kollektiv statt. Dieses Fest der Weinlese kontrastiert mit jenem im siebten Brief des fünften Teils beschriebenen Winzerfest aus der Nouvelle Héloïse. Das Winzerfest in der Tradition der Festspiele beschreibt ein Ideal sozialen Zusammenlebens bei Rousseau, wie Jacques Berchtold hervorhebt: „L’idéal de relations sociales à la campagne, en deçà de la division de spécialisation du travail et de toute autre différenciation inégalitaire se révèle très proche, au moment privilégié de la fête rustique, de l’existence arcadienne.“981 In der Nouvelle Héloïse symbolisierte das Winzerfest noch ein Ideal eines gesellschaftlichen Zusammenlebens, das sich aus drei Elementen zusammensetzt, erstens dem sorglosen Leben der Arbeiter, deren Aktivität weiter den natürlichen Rahmen bietet und schließlich steht das harmonische Leben unter dem Zeichen der Familiarität und der Gleichheit:
981 In: Jacques Berchtold: Rousseau et la Pastorale antique. In: Die Antike der Moderne. Vom Umgang mit der Antike im Europa des 18. Jahrhunderts. Hg. von Veit Elm u. a. Saarbrücken 2009, S. 95–108, hier S. 102.
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Vous ne sauriez concevoir avec quel zèle, avec quelle gaieté tout cela se fait. On chante, on rit toute la journée, et le travail n’en va que mieux. Tout vit dans la plus grande familiarité; tout le monde est égal, et personne ne s’oublie. […] Ces saturnales sont bien plus agréables et plus sages que celles des Romains. Le renversement qu’ils affectaient était trop vain pour instruire le maître ni l’esclave, mais la douce égalité qui règne ici rétablit l’ordre de la nature, forme une instruction pour les uns, une consolation pour les autres et un lien d’amitié pour tous.982
Das Übel schreibt sich ferner im Festakt ein, wenn aus dem Vergleich mit den anderen Neid und Eifersucht entstehen, was Rousseau in seinem Discours sur l’inégalité einleuchtend thematisierte. A mesure que les idées et les sentiments se succèdent, que l’esprit et le cœur s’exercent, le genre humain continue à s’apprivoiser, les liaisons s’étendent et les liens se resserent. On s’accoutuma à s’assembler devant les cabanes ou autour d’un grand arbre; le chant et la danse, vrais enfants de l’amour et du loisir, devinrent l’amusement ou plutôt l’occupation des hommes et des femmes oisifs et attroupés. Chacun commença à regarder les autres et à vouloir être regardé soi-même, et l’estime publique eut un prix. Celui qui chantait ou dansait le mieux; le plus beau, le plus fort, le plus adroit ou le plus éloquent devint le plus considéré, et ce fut le premier pas vers l’inégalité […].983
Während in diesem zweiten hypothetisch begriffenen Naturzustand ein Ideal des idyllengleichen Zusammenlebens beschrieben wurde, so wird hier der Festakt im Zusammenhang mit einem Gewaltakt evoziert, wenn der Alte von Lebona zum Mädchenraub aufruft, worin Rousseau wiederum von den Idyllen des „Schweizer Theokrits“ abweicht, wie er Gessner in seiner Korrespondenz mit Usteri bezeichnete.984 Gleichwohl Rousseau mit Gessner im einen ist, die moralische Haltung der Leserschaft zu festigen, so bedient er nicht wie dieser die Tradition der Idylle,
982 Jean-Jacques Rousseau: La Nouvelle Héloïse, Buch V, Brief 7, S. 607 f. Vgl. dazu den Beginn des siebten Briefes, worin der Zusammenhang des Winzerfestes mit dem goldenen Zeitalter Arkadiens entwickelt wird: „Le travail de la campagne est agréable à considérer [...] c’est la première vocation de l’homme, il rapelle à l’esprit une idée agréable, et au cœur tous les charmes de l’âge d’or. L’imagination ne reste point froide à l’aspect du labourage et des moissons. La simplicité de la vie pastorale et champêtre a toujours quelque chose qui touche.“ In: Jean-Jacques Rousseau: La Nouvelle Héloïse, Buch V, Brief 7, S. 603. Ferner: Béatrice Didier: La fête champêtre dans quelques romans de la fin du 18è siècle. De Rousseau à Senancour. In: Les Fêtes de la révolution. Hg. von J. Ehrard, P. Viallaneix. Paris 1977, S. 63–72. Vgl. dazu Jean Starobinski: Les journées de La Nouvelle Héloïse. In: Jean Starobinski. Cahiers pour un temps. Paris 1985, S. 199– 217. 983 Rousseau: OC, Bd. III, S. 169. 984 Siehe die zahlreichen Briefe, die Rousseau mit dem Zürcher Pastor und Bodmer Schüler Usteri wechselte. Daneben siehe Rousseau: Les confessions (C), Buch XI, S. 586f.
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um antike Themen in der deutschen Sprache zu aktualisieren. In den Augen des Aufklärers Rousseaus genügt das einzig schöne Objekt der Ästhetik, welches die gute Moral konnotiere nicht, da das rationale Empfinden der Zeitgenossen direkter angesprochen werden müsse. Hingegen entspricht die Koinzidenz von Fest und Opfer nach Freud den alten religiösen Festen: Die Religion war überhaupt eine allgemeine Angelegenheit, die religiöse Pflicht ein Stück der sozialen Verpflichtung. Opfer und Festlichkeit fallen bei allen Völkern zusammen, jedes Opfer bringt ein Fest mit sich und kein Fest kann ohne Opfer gefeiert werden. Das Opferfest war eine Gelegenheit der freudigen Erhebung über die eigenen Interessen, der Betonung der Zusammengehörigkeit untereinander und mit der Gottheit.985
Die zweite Kollektivvergewaltigung beginnt mit dem beispielhaften Vorangehen Axas, das sich wie der Beginn eines die Gesellschaft einenden Totemismus abzeichnet. Deren Vater hat die Aufopferung der Liebe – wiederum in der archaischen Sprache des Blickes – befohlen, der die Tochter sich widerspruchslos beugt. Als ihr Verlobter sich zudem zur Askese und einzig zur Dienerschaft Gottes bekennt, folgen Axa die anderen Töchter Silos zu einer erneuten kollektiven Aufopferung für die Regeneration des Stammes. Ein Schrei der Dankbarkeit der Benjamiter, die nun vom Aussterben bewahrt sind und wieder zum Zustand der Tugend zurückgefunden haben, schließt die Episode: „Vierges d’Éphraïm, par vous Benjamin va renaître. Béni soit le Dieu de nos pères! Il est encore des vertus en Israël.“ (RL, S. 77) Die Verkettung der Gewaltakte beginnt in der Kollektivvergewaltigung der Frau des Leviten und ist gefolgt von einer realen und symbolischen Rache, der Zerstückelung des Opfers. Ein Akt, der zuerst einen Krieg und die Zerstörung des Stammes provoziert, worauf eine erneute Aufopferung der Töchter jenes anderen Stammes (Schilo) erfolgt, um wieder eine fast vom Chiasmus bestimmte Ordnung herzustellen. Das Heilmittel liegt im Übel und das Übel findet sich im Heilmittel („Le remède est dans le mal et le mal est dans le remède.“)986 Nach Eigeldinger kann hier eine vereinfachte Schematisierung der Themenbehandlung erstellt werden, die folgende Gruppierung des RousseauTextes vorschlägt:
985 Sigmund Freud: Totem und Tabu. Leipzig 1913, S. 124. Freud beschreibt in Totem und Tabu die Funktion der Religion, als eine die Gemeinschaft einende kultische Handlung, die im Tode Christi am Kreuz ihr Totem am Bsp. des Totemopfers und des Verhältnis des Sohnes zum Vater findet. 986 Diesem Thema widmete Jean Starobinski einen Essayband: Le remède dans le mal. Critique et légitimation de l’artifice à l’âge des Lumières. Paris 1989. Vgl. darin v. a. das Kap. V: Le remède dans le mal: La pensée de Rousseau. (1. La Lance d’Achille, 2. Socialité de la musique), S. 165–232.
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Le Couple I. – Union du couple (Lévite de Juda) – Fuite de l’épouse – Réconciliation familiale et séparation (rôle du père) II. – Hospitalité du vieillard – Désobéissance de Gibéa et viol – Corps disséqué envoyé aux douze tribus d’Israël Israël III. – Union sacrée – Défaites d’Israël devant Benjamin – Victoire de la justice d’Israël sur les Benjamites décimés IV. – Pitié d’Israël pour Benjamin – Désobéissance de Jabès, massacre – „Régénération de Benjamin“987, mais sacrifices d’Axa et d’Elmacin.988
Inwiefern Bodmer diesem Schema folgt, bzw. es in seiner Adaption verändert, wird weiter unten berücksichtigt. Verschiedentlich wurde Rousseaus Text autobiographisch gelesen und als eine Personifizierung des Autors mit der geopferten und zerstückelten Frau erfahren.989 Mehrere Identifizierungen sind möglich: Rousseau ist der Lévite, der
987 Die Formulierung stammt von Jean-François Perrin: La régénération de Benjamin: Du Lévite d’Éphraïm aux Confessions. In: Autobiographie et fiction romanesque. Autour des Confessions de Jean-Jacques Rousseau. Actes du colloque international. Hg. von Jacques Domenach. Paris 1996, S. 45–57. 988 Vgl. Frédéric S. Eigeldinger: Introduction. In: Rousseau: Le Lévite d’Éphraïm. 1999, S. 55. 989 Vgl. Jean-François Perrin: La régénération de Benjamin. In: J. Domenech (Hg.): Autobiographie et fiction romanesque. Autour des Confessions de Jean-Jacques Rousseau. Paris 1996, S. 44– 57. Ders.: Le chant de l’origine. La mémoire et le temps dans les Confessions de Jean-Jacques Rousseau. Oxford 1996, S. 177: „Différents indices laissent penser que cette histoire met en abyme celle de Rousseau lui-même.“ Vgl. ferner die ebenfalls autobiographisch und psychologisch ausgerichtete Analyse zu Rousseaus poème en prose Le Lévite d’Éphraïm im Vergleich zu den Äußerungen aus Les Confessions, worin Jackson eine Travestie der Identität des Leviten und der Geliebten beobachtet: „Jumping from the role of excluded child to that of solicitous mother, the Levite transgresses both generational and sexual barriers. The image that makes his concubine over into a male child beeing transported home from the wet nurse establishes the special case of surrogacy – that is, one-way interchangeability of identity – as a general rule and no localized accedent of “Le Lévite”. How could it be otherwise in a text that, propelled by the contagion of revenge, repeatedly recasts yesterday’s victims as tomorrow’s avengers and grants no long-term immunity from the indifference of violence? In: Susan K. Jackson: Rousseau’s Occasional Autobiographies. Colombus 1992, hier Kap. V: Ultimate Sacrifices: Le Lévite d’Éphraïm, S. 187–229, S. 198.
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im ersten Gesang noch bei Madame de Warens lebte. Thérèse ist die Geliebte Rousseaus die Gastfreundschaft wird ihm 1765 verweigert und wie der Levite muss er bei einem Alten, dem Mylord Maréchal, Unterschlupf finden. Das Haus in Môtiers wird von der Bevölkerung mit Steinen beworfen, wie jenes des Leviten, das von Räubern angegriffen wurde. Das Dekret der „prise de corps“ ähnelt einer sexuellen Aggression, worunter der Levite leidet. Die Zerstückelung des Körpers der Geliebten versinnbildlicht ferner die öffentliche Zerstörung und Verbrennung von Rousseaus Werk: „C’est ainsi qu’on me dissèque de mon vivant ou plutôt qu’on dissèque un autre corps sous mon nom.“990 Neben der autobiographischen Dechiffrierung steht der Text in einem spezifisch historischen und religionskritischen Kontext der französischen Reformation. Denn Rousseau schreibt vor dem Hintergrund der religiösen Krise Frankreichs. Ein Höhepunkt im Krieg zwischen Katholiken und Protestanten war die Affaire Calas, mit der Rousseau seine Unschuld im Brief an Moultou Anfang Juni 1762 vergleicht: Je vois que, tout plein de son pouvoir suprême, le Parlement à peu d’idées du droit des gens, et ne les respectera guère dans un petit particulier comme moi. Il y a dans tous les corps des intérêts auxquels la justice est toujours subordonnée, et il n’a pas plus d’inconvénient à brûler un innocent au Parlement de Paris qu’à en rouer un autre au Parlement de Toulouse.991
Fälschlicherweise des Mordes an seinem Sohn beschuldigt, der als Protestant nicht zur Abschlussprüfung seines Jurastudiums zugelassen wurde und sich deswegen umbrachte, wurde der Protestant Jean Calas am 9. März 1762 in Toulouse zu einem qualvollen Tod verurteilt: à être „rompu vif“ et „à demeurer pendant deux heures sur la roue, et ensuite à être brûlé et les cendres jetées au vent“. Der Todesstrafe auf dem Rad und der Verbrennung ist demnach eine Zerstückelung am lebenden Leib (rompu vif) voraus gegangen. Das grausame Urteil verunmöglichte nach altem Glauben zudem eine Wiederauferstehung vor dem letzten Gericht, da die Asche zerstreut wurde. Man beachte in einem metonymischen Vergleich, dass die Verurteilung des Émile ein ähnliches Urteil ereilte: Auch dieses Buch wurde zerrissen, bevor es öffentlich auf einem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Mit der öffentlichen Buchverbrennung des Émile in Paris sowie des Contrat social in Genf geht eine Bekanntmachung der Festnahme des Autors einher, der nicht nur in Paris, sondern auch in Genf per Steckbrief gesucht und aus dem Kanton Bern vertrieben wurde. In Môtiers in Neuchâtel, in der preußi-
990 Brief an Laliaud, 9.2.1769, CC, Bd. XXXVII, S. 48. 991 Rousseau an Moultou, 7.6.1762, CC, Bd. XI, S. 36.
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schen Enklave Friedrichs II., fand Rousseau schließlich einen Zufluchtsort.992 Die philosophisch-juristische Auseinandersetzung der Affaire Calas ist in dem zunehmenden Konkurrenzverhalten zwischen Rousseau und Voltaire nicht unrelevant: Voltaire setzte sich sofort für Jean Calas im Traité sur la Tolérance à l’occasion de la mort de Jean Calas ein, dessen Text 1763 erschien und zwei Jahre später zu dessen Rehabilitierung führte. Rousseau plädierte gleichsam für die Sache Calas im Lettre à Christophe de Beaumont (mars 1763), worin er sein radikales Verständnis der Naturreligion La profession de Foi du Vicaire Savoyard, das er im 4. Buch des Émile entwickelte, in diesem höchst zeitkritischen Kommentar wiederholt: Les doctrines abominables sont celles qui mènent au crime, au meurtre, et qui font des fanatiques. Eh! qu’y a-t-il de plus abominable au monde que de mettre l’injustice et la violence en Système, et de les faire découler de la clémence de Dieu? […] Convenez seulement, Monseigneur, que si la France eût professé la Religion du Prêtre savoyard […], des fleuves de sang n’eussent point si souvent inondé les champs français; ce peuple si doux et si gai n’eût point étonné les autres de ses cruautées dans tant de persécutions et de massacres, depuis l’Inquisition de Toulouse, jusqu’à la Saint Barthélemy, et depuis les guerres des Albigeois jusqu’aux Dragonades; […] les habitants de Mérindol et de Cabrières n’eussent point été mis à mort par arrêt du Parlement d’Aix, et sous nos yeux l’innocence de Calas torturé par les bourreaux n’eût point péri sur la roue.993
Den sich abzeichnenden Korrelationen des Glaubensstreits zwischen Katholizismus und Protestantismus und den hier evozierten blutigen Verbrechen, die ihre Höhepunkte in der Bartholomäusnacht und später in der grauenvollen öffentlichen Hinrichtung des Bürgers Calas von Toulouse finden, hält Rousseau seine poetisch-philosophische Interpretation der Naturreligion entgegen, womit er nicht zuletzt den Streit mit den Theologen der Sorbonne provozierte. Den symbolischen Zusammenhang von Recht und Gewalt verfolgt auch Raphaël Draï, der juristische, politische sowie anthropologische Lesarten im Spiegel des jüdischen Rechts, der Thora, vorschlägt.994 Aufgrund der Abwesenheit einer juristischen Instanz sind die Vorzeichen für einen Krieg gegeben. In diesem Zustand der „licence“ ohne „magistrat“ sind die Menschen nicht frei. Nach der
992 Der Gerichtsbefehl in Paris lautet: „La Cour ordonne que ledit livre imprimé sera lacéré et brûlé en la Cour du Palais, au pied du grand escalier d’icelui, par l’Exécuteur de la Haute-Justice. [...] Ordonne que le nommé J. J. Rousseau, dénommé au frontispice dudit livre, sera pris et appréhendé au corps, et amené ès prisons de la Conciergerie du Palais. Zit. nach Labrusse: Introduction, S. 24. 993 Rousseau: Brief an Christophe de Beaumont. In: OC, Bd. IV, S. 985. 994 Raphaël Draï: Freud et Moïse. 1997, Kap. 1: Constitution juridique et violence sociale. Le Lévite d’Éphraïm de Jean-Jacques Rousseau, S. 11–37.
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Definition des Contrat social bedeutet Freiheit, nicht sein eigener Herr zu sein, sondern dem gleichen Gesetz zu gehorchen, das die Gemeinschaft (la volonté générale) gewählt hat. Der Citoyen ist kein isoliertes Individuum, aber Mitglied eines politischen Körpers. Und da er diesem Körper gehorcht, ist er mit sich selbst im Reinen und somit gewinnt er Freiheit. Frei sein, bedeutet demnach dem für alle geltenden Gesetz unterworfen zu sein. Dieser komplexe, paradox wirkende Zusammenhang der Freiheit, den Rousseau im Contrat social entwickelt, hat JeanFabien Spitz folgendermaßen aufgefasst: Le citoyen qui obéit à la loi ne dépend pas d’une volonté autre que la sienne mais d’un corps dont il est membre et dont l’intérêt n’est jamais de lui nuire parce qu’il faudrait, pour cela qu’il nuise à l’ensemble de ses membres.995
Jeder Stamm bildet demnach eine eigene Gesellschaft, so dass die Identität aller Israeliten durch Ausscheren eines Stammes gefährdet ist. Im Buch der Richter opferte der Alte seine Tochter und die Frau des Leviten; bei Rousseau wird einzig der Levite seine Geliebte den Räubern ausliefern, nachdem diese ihn zur Sodomie aufgefordert hatten. Die vielen gravierenden Brüche des Rechts und der Moral sind die Vorbedingung für die Explosion der Gewalt. Der zerstückelte Körper symbolisiert eine Zergliederung des Staates, eine Desartikulation des politischen Körpers. Einen körperlich religiösen Zusammenhang mit der Thora hat Draï zudem aus strukturalistischer Sicht hervorgehoben: Il faut savoir que dans la pensée juive le corps humain et la Torah sont en relation structurale. La Torah comporte 613 obligations (mitsvot), de faire ou de ne pas faire, qui correspondent aux 613 membres et fonctions du corps humain. L’on comprend mieux à présent le sens de la symbolisation sauvage du Lévite. La concubine violée est à l’image du coprs d’Israël privé de constitution et qui s’expose de la sorte, lui aussi, à être violé jusqu’à la mort par quiconque délierait son désir et sa force brute de toute obligation éthique et juridique. L’absence de constitution conduit alors à ces situations catastrophiques où pour faire respecter une des dispositions de l’ensemble normatif il faut en violer d’autres.996
Die ersten Transgressionen bewirken andere, so dass in diesem Text alle zu Schuldigen werden, damit ist nicht zuletzt auch die unglückliche Geliebte gemeint. Freilich sind es die Banditen, die sich sämtlicher Verbrechen schuldig tun. In einem sukzessiven Verhältnis von Aktion und Reaktion spitzt sich das Geschehen zu: Als Erstes begegnet ein Mangel an Gastfreundschaft. Wenig später wird der Levite zur Sodomie aufgefordert, worauf er seine Frau den Verbrechern über-
995 Jean-Fabien Spitz: La liberté politique. Paris 1995, S. 391. 996 Raphaël Draï: Freud et Moïse. 1997, S. 11–37, hier S. 20f.
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lässt, die, von diesen missbraucht und vergewaltigt, schließlich den Misshandlungen erliegt. Die Räuber werden zu Opfern der Gemeinschaft, die Vernichtung dieses Stammes soll darauf wieder den Frieden bringen. Diese Bedingung einer erneuten Unordnung der Wiedergutmachung fungiert nach der Logik der Rache. Die wiederhergestellte Ordnung ist schwach und nur in der Sprache der Gewalt fassbar. Dieser Gesellschaft gelingt es nicht, sich der Gewalt zu entziehen, da ihr eine Sprache fehlt, unabdingbar für das soziale Band. Rousseaus elegisch-hymnische Gesänge in Prosa zeichnen sich ferner dadurch aus, dass sie fast ohne gesprochene Sprache auskommen: Der erste Gesang konzentriert die Handlung auf die Gestik, wenn in vollständiger Ruhe der einklagende Racheakt der Zerstückelung des Körpers der Geliebten vollzogen wird. Im zweiten Gesang folgen nicht artikulierte Schreie, die den Bericht rhythmisieren. Die zum Schluss gesprochenen Gebete, die den Ruf nach Rache enthalten, bleiben schließlich ohne Antwort. Zudem sind bei Rousseau die Frauen zum Schweigen verurteilt, was einer stummen Verurteilung dieses Übermaßes an Gewaltakten gleichkommt. Hier finden sich Berührungspunkte mit der im Essai sur l’origine des langues skizzierten Thematik einer Körpersprache, die an archaische Riten der alten Ägypter erinnert, deren Gestik bedeutungsvoller als die gesprochene Sprache ist. Diese stumme Eloquenz wie sie beispielsweise Axas Vater anzuwenden weiß, um seine Tochter mit einem autoritären Blick zu einer Zwangsehe zu überreden, sind für Rousseaus Verständnis der Alten konstitutiv: Ce que les anciens disaient le plus vivement, ils ne l’exprimaient pas par des mots mais par signes; ils ne le disaient pas, ils le montraient. […] Le langage le plus énergique est celui où le signe a tout dit avant qu’on parle. […] On voit même que les discours les plus éloquents sont ceux où l’on enchâsse le plus d’images, et les sons n’ont jamais plus d’énergie que quand ils font l’effet des couleurs.997
Die Jungfrau muss geschändet werden, so dass sie vergöttert werden kann; diesen Allgemeinplatz des 18. Jahrhundert hat Réné Girard als die doppelte Natur jedes Opfers erkannt: „Il est criminiel de tuer la victime parce qu’elle est sacrée […] mais la victime ne serait pas sacrée si on ne la tuait pas.“998 Das biblische Motiv der Rache des Leviten in der Zerstückelung des Körpers als Geste begegnet erstmals im ersten Kapitel des Essays über den Ursprung der Sprache (Essai sur l’origine des langues):
997 Rousseau: Essai sur l’origine des langues. Kap. 1. In: OC, Bd. V, S. 376f. 998 Réné Girard: La violence et le sacré. Paris 1972, S. 63–101.
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Quand le Lévite d’Éphraïm voulut venger la mort de sa femme, il n’écrivit point aux tribus d’Israël; il divisa le corps en douze pièces et les leur envoya. À cet horrible aspect ils coururent aux armes en criant tout d’une voix: non, jamais rien de tel n’est arrivé dans Israël; depuis le jour que nos pères sortirent d’Égypte jusqu’à ce jour. Et la tribu de Benjamin fut exterminée.999
Dass der Levite mit seiner spezifischen Rachehandlung gleichwohl einen perlokutionären Akt durchführt, d. h. andere zum Handeln, genauer zu einer beabsichtigten Kriegshandlung provozieren wird, wurde bereits von Sébastien Labrusse hervorgehoben.1000 Wie im Essai sur l’origine des langues als auch im Discours sur l’origine de l’inégalité beschreibt Rousseau die politisch einende Kraft des Schreis als erste universale energische Sprache: Le premier langage de l’homme, le langage le plus universel, le plus énergique, et le seul dont il eut besoin, avant qu’il fallût persuader des hommes assemblés, est le cri de la nature. Comme ce cri n’était arraché que par une sorte d’instinct dans des occasions pressantes, pour implorer du secours dans les grand dangers, ou du soulagement dans les maux violents, il n’était pas d’un grand usage dans le cours ordinaire de la vie, où règnent des sentiments plus modérés.1001
Dieser den Instinkten entrissene Schrei wird ferner auch von Starobinski als ein „acte politique par excellence“ aufgefasst, der sich bspw. als Kriegsschrei zu einem die Massen formierenden Akt entwickeln kann und als politischer Akt der Sprache in der Öffentlichkeit auf die Gesellschaft wirken kann.1002 Im Vergleich mit Rousseaus Sprachtheorie, die er im Essai sur l’origine des langues formulierte, zeichnet erst der lautliche bzw. verbale Sprachgewinn den
999 Rousseau: Essai sur l’origine des langues, Kap. 1. In: OC, Bd. V, S. 377. 1000 Introducution de Sébastien Labrusse: In: Rousseau: Le Lévite d’Éphraïm. Paris 2010, S. 31 f. Vgl. ferner Anm. 37. Vgl. John L. Austin: How to Do Things with Words. Cambridge 2003. François Récanati vergleicht Austins Sprechakttheorie mit Pierre Bourdieu und unterstreicht die soziale und institutionelle Dimension der an spezifische Kontexte gebundenen Sprechakte, die Konventionen begründen: „Les actes de paroles, donc, sont comme les actes institutionnels: ils se prêtent à une sanction sociale. Mais si l’on fait abstraction de la sanction sociale, on s’apperçoit que tant les actes de parole que les actes institutionnels (ou du moins certains d’entre eux) incorporent un acte de communication dont l’accomplissement ne dépend d’aucune condition de félicité et, a fortiori, d’aucune convention. Les conventions, lorsqu’elles interviennent, interviennent au niveau de l’acte sanctionné. In: Postface de Françoise Récanati. In: Austin: Quand dire, c’est faire. How to do things with words. Introduction, traduction et commentaire par Gilles Lane. Paris 1970, S. 203. 1001 Rousseau: Discours sur l’origine de l’inégalité. In: OC, Bd. III, S. 148. 1002 Starobinski: Sur la pensée de Rousseau. 1989, S. 209.
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Grad der Gesellschaft aus. Die Sprache, die sich aufgrund der Erfahrung der Leidenschaften artikuliert, liegt jedoch auf einer weit höheren Entwicklungsetappe, während die Sprache der Gestik noch den primären Bedürfnissen entspricht: „Il est donc à croire que les besoins dictèrent les premiers gestes et que les passions arrachèrent les premières voix.“1003 Die Gestik des Leviten wird deswegen als unterentwickelte Sprache verstanden, die weniger einer ethischen, als vielmehr einer körperlich-physischen Ordnung angehört. Die Sprache des Leviten ist demnach effizient, aber nicht affektiv. Sein Schweigen, er drückt sich nicht in verbaler oder gar persönlicher Rede aus, unterstreicht eine instinktive Handlung. Denn in der Wahrnehmung Rousseaus ist die Stimme der Ort des Ausdrucks eines subjektiven Lebens und das einzige Mittel, das Herz des anderen zu berühren. Es seien weniger die physischen, sondern die moralischen Bedürfnisse und die Leidenschaften, die den Menschen sprechen lassen, wenn er auf andere trifft: „Toutes les passions rapprochent les hommes que la nécessité de chercher à vivre force à se fuir. Ce n’est ni la faim ni la soif, mais l’amour la haine la pitié la colère qui leur ont arraché les premières voix.“1004 Der subjektive, sensible und pathetische Ursprung der Sprache schlägt sich in der Poesie und im Gesang nieder und wenn dieser sich rationalisiert, wird er zum logos. Die Zerstörung des toten Frauenkörpers ist daher eine objektivierende, amoralische und unpersönliche Handlung des Leviten. Im Sinne des biblischen Talionsrechts „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ provoziert dieser barbarische Akt der Zerstückelung des weiblichen Körpers wiederum Auswüchse der Gewalt, wie diese in anderen Episoden im Buch der Richter, bspw. bei „Simson und Delila“ (Ri 16) erzählt werden. Die korrektiven Maßnahmen des Übels im Übel (le remède dans le mal) erfolgen in einer erneuten Kollektivvergewaltigung der Jungfrauen von Sillo, nachdem der Stamm der Benjamiter durch den Krieg fast ausgelöscht worden ist. Dieser Akt sollte das zerstreute Israel vereinen. In dieser mimetischen Sprache ist die körperliche Handlung bereits als eine Interpretation eines sozialen Zerfalls versinnbildlicht, wenn sie nicht gar wiederholt wird. Bevor Saul zum König Israels ernannt wurde, ist er in seinem Prozedere der Rindertötung ähnlich vorgegangen: „Er ergriff ein Gespann Rinder und hieb es in Stücke, schickte die Stücke durch Boten in das ganze Gebiet von Israel und ließ sagen: Wer nicht hinter Saul und Samuel in den Kampf zieht, dessen Rindern soll es ebenso gehen.“ (Buch 1. Sam 11:7)
1003 Rousseau: Essai sur l’origine des langues, Kap. 1. In: OC, Bd. V, S. 380. 1004 Ebd.
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Der spezifische Umgang mit Körperteilen, als Ausdruck einer archaischen Körpersprache wurde bspw. von Medea in der Argonautensage angewendet, die den Leichnam des Bruders in Stücken auf dem Meer zerstreute, um Zeit für die Flucht vor den Verfolgern nach dem Raub des goldenen Vlieses zu gewinnen. Denn die Körperteile müssen für eine artgerechte Bestattung bei den alten Griechen eingesammelt werden, was Zeit kostete und somit den Argonauten die Flucht ermöglichte.1005 Das Zeigen entspricht einer archaischen Sprache, die Rousseau als eine Art deiktische Argumentation der Augen versteht: „des manières d’argumenter aux yeux“,1006 was nach der Sprechakttheorie Austins und Searles ein showing umschreibt.1007 Rousseaus Gedankengang über den Schrei als natürliches, nicht artikulierbares Wort begegnet ferner in seinem Discours sur l’origine de l’inégalité. Die artikulierbare Sprache entwickelt sich im Übergang vom Naturzustand zur Zivilisation. Der natürliche Schrei ist noch ein Zeichen einer früheren nicht historischen und politischen Zeit des Menschen: „Le premier langage de l’homme, le langage le plus universel, le plus énergique, et le seul dont il eut besoin, avant qu’il fallut persuader des hommes assemblés, est le cri de la Nature.“1008 Und dieser Schrei besitzt eine Kraft, eine Energie, eine Lebendigkeit, die er dieser Nichtartikulierbarkeit verdankt. Davon leitet Rousseau die Konjektur der ersten Ursprachen ab: „Pour émouvoir un jeune cœur, pour repousser un agresseur injuste la nature dicte des accents, des cris, des plaintes: voilà les plus anciens mots inventés, et voilà pourquoi les premiers langues furent chantantes et passionnées avant d’être simples et méthodiques.“1009
1005 Vgl. Ovidius: Metamorphosen: lateinisch, deutsch. übers. und hg. von Michael von Albrecht. Stuttgart 2012. 1006 Rousseau: Essai sur l’origine des langues, Kap. I. In: OC, Bd. V, S. 376. 1007 Vgl. John Rogers Searle u. a. (Hg.): Speech act theory and pragmatics. Dordrecht 1980. 1008 Rousseau: Discours sur l’inégalité. In: OC, Bd. III, S. 148. Über ein modernes Konzept der Artikulation und der Sprachentwicklung vgl. Giorgio Agamben: Enfance et Histoire. Übers. von Y. Hersant. Paris 22000, S. 72: „Mais que signifie „articulé“? Articulatus est la traduction latine du grec énarthros, terme technique de cette réflexion stoïcienne sur le langage qui a si profondément influencé les grammariens anciens. Ceux-ci commencçaient par définir la voix, la phonè: de la voix confuse des animaux (phonè synkechyméne), ils distinguaient d’emblée la voix humaine, il apparaît que phonè énarthros, vox articulata, signifie simplement phonè engràmmatos; c’est-àdire, dans la traduction latine, vox quae scribi potest ou vox quae litteris comprehendi potest: voix susceptible d’être écrite, comprise, saisie par des lettres. La voix confuse est celle des animaux [...], qui ne peut être écrite, ou bien la part de la voix humaine qui ne peut passer davantage dans l’écriture (le sifflement, le rire, le sanglot).“ 1009 Rousseau: Essai sur l’origine des langues, Kap. IV. In: OC, Bd. V, S. 382.
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Doch hier findet eine Sinnverschiebung der Bedeutung des Schreies statt, wenn weniger die Leidenschaft des Einzelnen, sondern vielmehr die Wut einer Gemeinschaft ausgedrückt wird. Die Sprache des Naturzustandes und des isolierten Individuums wird Mittel zur Charakterisierung einer politischen Ordnung bzw. deren Zerstörung. Diese Sprache, die hier von Rousseau beschrieben wird, gehört weniger der ersten Sprache der Leidenschaft und des Gesangs oder der Sprache der Zivilisation an, die über artikulierte, vernünftige und gegenseitige Worte verfügt. Vielmehr handelt es sich hier um eine Sprache, die Gewalt produziert und propagiert. Dass die Schreie in diesem Text einen Dialog mit der Stille führen, die zudem ein Ungleichgewicht der Geschlechter propagieren. Während die Männer sich in diesem Text ausdrücken, sind die Frauen bei Rousseau noch zur Stille verdammt, davon ausgenommen sind einige Schreie, Streicheleinheiten und Seufzer. Der Ursprung des Stammes Benjamins ist der Tod der Mutter, woran Rousseau zu Beginn erinnert. Eine Ähnlichkeit, die mit Rousseaus traumatisch erfahrener Familiengeschichte einhergeht, der sich ein Leben lang für den Tod seiner Mutter im Kindbett nach seiner Geburt schuldig und verantwortlich fühlte und mit diesem ersten Schuldbekenntnis im 1. Buch seiner Confessions einsetzt: „Je fus le triste fruit de ce retour. Dix mois après, je naquis infirme et malade, je coûtai la vie à ma mère, et ma naissance fut le premier de mes malheurs.“1010 Nicht zuletzt erhält dieses Trauma in Rousseaus Autobiographie den Initialcharakter hinsichtlich der Geburt des Autors. Der Ursprung des Verbrechens entwickelt sich in dieser archaischen Gesellschaft Israels zum Tabu, in der sich die Bereitschaft zum Opfer und zur Aufopferung stetig vervielfacht. Diese anarchische und patriarchale Gesellschaft befindet sich ferner im Kriegszustand, einem Zustand zwischen Ursprung und Zivilisation, der die soziale Ordnung korrumpiert und gefährdet. Rousseaus Text macht hier jene Paradoxie in einer Zeitgleichheit (contemporaneité) der Sprache und der Gewalt zur Zeit der Patriarchen und deren Grausamkeit fassbar. Denn das goldene Zeitalter, das Zeitalter der Unschuld, wie es nach Ovid ebenso Rousseau begreift, ist ein Zeitalter der barbarischen Verwilderung, wo sich die Menschen einzig auf ihre familiären Bezüge verlassen und Fremde als Barbaren oder Monster wahrnehmen: N’ayant jamais rien vu que ce qui était autour d’eux, cela même ils ne le connaissaient pas; il ne se connaissaient pas eux-mêmes. Ils avaient l’idée d’un Père, d’un fils, d’un frère, et non pas d’un homme. […] Un étranger, une bête, un monstre étaient pour eux la même chose: hors eux et leur famille, l’univers entier ne leur était rien.
1010 Rousseau: Les Confessions. In: OC, Bd. I, S. 28.
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De là les contradictions apparentes qu’on voit entre les pères des nations: Tant de naturel et tant d’inhumanité, des mœurs si féroces et des cœurs si tendres, tant d’amour pour leur famille et d’adversion pour leur espèce.1011
Der Ursprung der Aggressivität ist Thema in Salomon Gessners Prosaepos Der Tod Abels (1758), wenn im Innern der Welt der Familien-Idylle nach Adams Sündenfall mit Kain das erste auf Eifersucht und Neid gründende Erscheinen des Übels – als Modell der Agression des Menschen gegen den Menschen beruht. Der Lévite ist zudem wegen der Verkümmerung der Sprache ein Sinnbild für die Unfähigkeit der Individuen sich zu binden und ein Volk zu bilden, was die tiefe Verwirrung der Einzelnen erahnen lässt, die als Glieder dieser zersplitterten Gesellschaft angehören. Die Zerstückelung der toten Geliebten versteht sich dergestalt als Akt einer symbolischen Gewalt am Land Israel. Dies suggeriert die auf die Bedeutung der Thora und des jüdischen Rechts konzentrierte Analyse der biblischen Vorlage von Rousseaus Leviten aus dem Buch der Richter: „Le corps démembré de la concubine est non pas la métaphore assourdie mais bel et bien le symbole sanglant de l’état juridique, social et mental réel du peuple d’Israël où pareille abomination a pu se produire.“1012 Die Vereinigung mit einer Geliebten eines Geistlichen erinnere nach Draïs Deutung ferner an Osiris, jenem ägyptischen Propheten, der mit einer Prostituierten liiert war.1013 Neben der Depraviertheit der Gesellschaft, die in der Metapher des zerstückelten Körpers enthalten ist, spielt die Figur der Geliebten symbolisch auf die Botschaft der Thora an, die sich als ein Ehevertrag mit Gott versteht (morachahmeourassah). Daneben können die Gesetze der Thora als lebender Organismus in Betracht gezogen werden, vor deren Zerstörung gewarnt wird, bzw. wird das Volk daran erinnert, deren juristische sowie organische Konstitution zu respektieren.1014 Die Regenerierung der Benjamiter verwirklicht sich aufgrund eines Dispositivs der Opferung und Aufopferung. Denn um die Heiligkeit seiner Person zu schützen, opfert der Levite seine Geliebte. Und um den politischen Körper Israels zu schützen, muss sich Axa mit ihren Gefährtinnen opfern. Neben der evozierten Grausamkeit und den autobiographischen Bekenntnissen, die sich hier filigran zwischen den Zeilen abzeichnen, interessieren bei Rousseau die moralischen Gegebenheiten des sozialen Konflikts. Das Bild des pater familias wird im Lévite in doppelter Perspektive, nämlich zum einen als 1011 1012 1013 1014
Rousseau: Essai sur l’origine des langues, Kap. IX. In: OC, Bd. V, S. 396. Raphaël Draï: Freud et Moïse. 1997, S. 12. Vgl. ebd., S. 22. Ebd., S. 22f., S. 33f.
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Vater der Familie als auch als Vater des Volkes, aufgenommen: Einmal, wenn der Vater der jungen Braut solange wie möglich den Weggang seiner Tochter mit dem Leviten (RL, S. 10–11) hinauszögert, und zum anderen, wenn der Alte von Lebona seine Tochter Axa auffordert, ihre Liebe (Elmacin) zum Wohle des Volkes zu opfern: „[au] salut de ton peuple et [à] l’honneur de ton père“ (RL, S. 9). Die Misogynie wird ferner so weit getrieben, dass Frauen zwar in ihren sozialen Rollen bezeichnet, hingegen nicht durch Eigennamen individualisiert werden, sieht man von Axa ab. Axa, die eigentliche Heldin des Prosagedichts, hat bereits im Namen einen doppelten Indikator der Weiblichkeit in der Doppelung des Vokals „a“. Die biblische Sentenz über die Episode des Leviten endet im Buch der Richter (21:25) in einer Feststellung der Anarchie: „In jenen Tagen, gab es noch keinen König in Israel; jeder tat, was ihm gefiel.“1015 Diese biblische Sentenz nimmt in einer Kreisstruktur auf den Anfang der Episode über die Verbrechen von Gibea und den Krieg gegen Benjamin (19:1) Bezug: „In jenen Tagen, als es noch keinen König in Israel gab, lebte im entlegensten Teil des Gebirges Efraim ein Levit als Fremder.“ Diese bot wiederum Anlass zu Rousseaus Adaption, der darin die Gesellschaft zur Ordnung über eine Substituierung zurückfinden lässt und in der Paraphrase im Prolog des Lévite folgendermaßen einsetzt: Dans les jours de liberté où nul ne régnait sur le peuple du Seigneur, il fut un temps de licence où chacun, sans reconnaître ni magistrat ni juge, était seul son propre maître et faisait tout ce qui lui semblait bon. Israël, alors épars dans les champs, avait peu de grandes villes, et la simplicité de ses mœurs rendait superflu l’empire des lois. (RL, S. 1209)
Darüberhinaus schlägt Jean-François Perrin eine allegorisch-psychologische Lektüre des Lévite vor, wonach diese für einmal dem wirklich Erlebten sowie dem mentalen Schreiben während der Schlaflosigkeit vorausgeht. Zudem erhält der biographische Kontext Rousseaus mit der Folie des biblischen Stoffes hinsichtlich der „prise du corps“ eine erotische Konnotation. Das nicht zuletzt als körperliche Gewalt empfundene Verdikt der Festnahme zwingt Rousseau am Tag nach seiner Bibellektüre1016 zur Flucht von Montmorency nach Môtiers:
1015 „En ce temps-là, il n’y avait point de roi en Israël: mais chacun faisoit ce qu’il lui plaisoit.“ In: Juges, XXI, 24, trad. Louis-Isaac Le Maistre de Sacy. In: Rousseau: Le Lévite d’Éphraïm. Introduction, notes et bibliographie par Sébastien Labrusse. Suivi du Livre des Juges (chapitres XIX–XXI). Chatou 2010, S. 103. 1016 Rousseau hatte die Angewohnheit, abends die Bibel zu lesen, um seine notorische Schlaflosigkeit zu bekämpfen. Vgl. dazu bspw. Susan K. Jackson: Rousseau’s Occasional Autobiographies. Colombus, Ohio 1992, hier Kap. V: Ultimate Sacrifices: Le Lévite d’Éphraïm, S. 187–229, hier S. 199.
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D’abord, l’histoire de son accueil par les Luxembourg après ses déboires avec ses amis philosophes, suivie du réveil en catastrophe provoqué en pleine nuit par l’annonce de sa „prise de corps“ imminente, avec les connotations érotiques violentes que peut y entendre un lecteur du livre des Juges; ensuite, des démêlés avec Genève qui fait tout pour le chasser de Suisse: le vieillard qui récueille le lévite est alors une allégorie de Mylord Maréchal, ce „vénérable vieillard“ sur qui Rousseau s’appuie au Val-de-Travers; les aggresseurs seraient ici ces habitants de Môtiers qui lapident sa demeure, le forçant à s’en aller. Quant à l’amante retrouvée puis froidement abandonnée à la meute, elle figurerait bien la citoyenneté genevoise que Rousseau répudie à cette époque. C’est enfin un étrange personnage qui se promène au Val-de-Travers, coiffé d’un bonnet fourré et revêtu d’une longue robe d’Arménien – un lévite peut-être?1017
Mit der Dramatisierung des biblischen Materials und einer weitgehend erhabenen Darstellung könnte man sich ferner fragen, ob Rousseau in seinen Confessions nicht nachträglich diesen Ort der Lektüre erfindet, um seinem persönlichen Erlebnis des Gerichteten die nötige Tiefe dank des biblischen Kontextes aus dem Buch der Richter zu geben. Ferner eröffnet Perrin die Perspektive zum brückenschlagenden Vergleich der Zerstückelung seines Werkes, die allegorisch mit der Zerstückelung der toten Geliebten in Verbindung gebracht wird, und mit jener berühmten Prügelszene aus der Kindheit Jean-Jacques’. Dieser hatte vom Onkel nach einer Entwendung der Kämme Prügel erhalten, die er als „exécution […] terrible“, „châtiment effroyable“ erlebte, aus der er „en pièces“ und „mis dans l’état le plus affreux“ (RC, I, 19), wo sich Jean-Jacques zum ersten Mal „wie zerstückelt“ vorkommt. Diese Zerstückelung wächst fortan zu einer maßgeblichen Metapher, die sein an Leib und Seele durchlittenes Leid prägnant auf den Punkt bringt und in der Dialektik gleichsam jene Defragmentierung der Gesellschaft fast schon als romantische Ironie im Scheitern mitdenkt. Rousseaus Lévite weckte das Interesse seiner Zeitgenossen: So schrieb LouisJean Népomucène Lemercier (1771–1840) eine dramatische Adaption für Talma (1763–1826). Hingegen ist der Text verloren, der wohl ohne wirklich nennenswerten Erfolg im Théâtre de la République in Paris von März bis Mai 1796 aufgeführt wurde.1018 Daneben schuf der Genfer Maler Jean-Pierre Saint-Ours (1752– 1809) vierzehn Illustrationen zu Rousseaus Lévite.1019
1017 Jean-François Perrin: La régénération de Benjamin: Du Lévite d’Éphraïm aux Confessions. 1996, S. 44–58, hier S. 51. 1018 Vgl. CC, S. 8295, S. 8297, Notes. 1019 Vgl. Anne de Herdt: Rousseau illustré par Saint-Ours. Peintures et dessins pour Le Lévite d’Éphraïm (1795–1809). Genf 1978.
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Einzig Eigeldinger1020 erwähnt kurz Bodmers freie Übertragung ins Deutsche aus dem Jahre 1782, die im Folgenden erstmals einer eingehenden vergleichenden textimmanenten Analyse mit der Rousseau-Vorlage unterzogen wird. Denn der von Rousseau chronologisch durchgehaltene Handlungsstrang wird in der deutschen Übertragung des Zürchers nicht wiederholt, sondern mithilfe seiner Technik der Kontrastierung und der für Epen typischen Perspektivenwechsel in der Erzählhaltung von der Personalform zur Ichform sowie von Analepsen und Prolepsen gebrochen.
4.7.3 Bodmers Adaption Der Levite von Ephraim (1782) Die literarische Beschäftigung mit biblisch-heiligen Stoffen und deren poetischer Gestaltung nimmt in Bodmers Schaffen einen beachtlichen Raum ein. Neben dem Joseph-Stoff hat sich Bodmer bekanntlich ab den 1740ern jahrzehntelang mit dem Noah-Stoff beschäftigt, wohl ganz dem horazischen Dictum folgend: „Nonum prematur in annum!“1021 Nach der Abfassung von Der Noah (1752) und Die Syndflut (1753) folgten mehrere Versionen von Der Noachide (1765–1781), die von einer unermüdlichen Arbeits- und Korrekturwut des Zürchers zeugen, der mit diesem Epos nicht zuletzt mit Klopstocks epischen Gesängen des Messias (1748–1798) konkurrierte.1022 Bodmer entdeckt, dass Rousseau in seinem Prosagedicht die einfachen Sitten der Alten bearbeitet, womit er sich, seit seiner Noachide beschäftigte. Selbst jene haarsträubende Episode über den Leviten und seiner Geliebten aus dem Buch der 1020 Vgl. Frédéric S. Eigeldinger: Introduction. In: Rousseau: Le Lévite d’Éphraïm. 1999, S. 31. 1021 Dt.: An einer guten Schrift muss gefeilt werden. 1022 Daneben hegte er ebenso ein beachtliches Interesse für den Joseph-Stoff: Neben seinen Epen „Jakob und Joseph“ (1751–1767) und „Joseph und Julika in Zween Gesängen“ (1753) verfolgte Bodmer dramatische Adaptionen biblischer Stoffe. Nach „Der erkannte Joseph“ (1754) verfasste er „Die Botschaft des Lebens“ (1771) sowie „Der Fußfall vor dem Bruder“ (1773), worin der Zürcher die Joseph-Geschichte für Kinder und Jugendliche dramatisch adaptierte. Zu weiteren biblischen Dramen gehört „Der Tod des ersten Menschen“ (1776), der auf Klopstocks Trauerspiel „Der Tod Adams“ (1757) anspielt und den ersten Menschen im hohen Alter, jeglicher Tragik enthoben, sanft in eine andere Welt entschlafen lässt. Vgl. zur Genese des Noahstoffes die Artikel von Barbara Mahlmann-Bauer: Bodmers Noachide, ein unbiblisches Epos? In: Bodmer und Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung. Hg. von Anett Lütteken und Barbara Mahlmann-Bauer. Göttingen 2009, S. 231–294; Jan Loop: Der Noah: Bodmers Bibelepos im wissenschafts- und wirkungsgeschichtlichen Kontext. In: Die Zürcher Aufklärung. Johann Jakob Bodmer (1698–1783) und sein Kreis. In: Zürcher Taschenbuch 2008, S. 462–477. Die ältere Darstellung von Jakob Baechtold: Geschichte der Deutschen Literatur in der Schweiz. Frauenfeld 1892, S. 598–610.
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Richter in der Adaption Rousseaus weckte Bodmers Interesse, was ihn zu einer eigenen Dichtung Der Levite von Ephraim (1782) motivierte. Bodmer hält an der lyrischen Sprache des Epos, im Versmaß des Hexameters fest und vollzieht thematisch leichte Erweiterungen zu biblischen Bezügen. Schon im Untertitel wird auf eine Veränderung hingewiesen, die er zum Schluss des Nachwortes zu seiner Übersetzung Ueber das Gedicht der Levite von Ephraim mit den Worten begründet: „Die ängstlichste Bearbeitung misglücket in einem „ernsthaften Werke“, wenn die Charakter und die Handlungen der Natur widersprechen.“1023 Wie für den ehemaligen Genfer Bürger ist die Lehre vom Naturrecht und die Utopie des transtemporalen Naturzustandes für den Zürcher richtungsweisend, der darüber im Nachwort zu seiner Adaption Ueber das Gedicht der Levite von Ephraim sodann Vorgehensweise und Intention des „epischen Gedichtes“ skizziert: Die Israeliten lebten in einem zaumlosen Zeitpunkt; in einer Art von Naturstande, da die natürliche gute Anlage des Herzens und die Einfalt und die Sitten die Zwangmittel der bürgerlichen Gesetze ersetzen musste. (BL, S. 31f.)
Das Tableau der Naturrechtlehre und des republikanisch-politischen Verständnisses Rousseaus, das dieser in seinem Werk und insbesondere in seinen Diskursen als auch später im Contrat social (1762) vertritt, wird vom Zürcher geteilt: Wie die Wilden in der ungestörten, ruhigen Besitzung ihrer Bäume, ihrer Wälder und Flüsse, von welchen sie ihre Nahrung haben, sanfte, milde und menschlich sind, aber wenn sie darinn gestört und beraubet werden, sehr in Wuth gerathen, und die Feindseligkeiten ohne Mässigung verüben, also schildert der Poet uns die Stämme in der Verabscheuung der Schandthat und der Bestrafung derselben ohne Mässigung, und nach vollbrachter Strafe in dem Mitleiden und der Ausübung des Mitleidens übertrieben und ihrer selbst nicht mächtig. Es war ein Volk, sagt der Poet, das mitten im Mitleid Grausamkeit übte. (BN, S. 32)
Eine genaue Betrachtung der „Uebelthaten“ wird versucht, indem „das Abscheuliche geschickt“ vorgestellt werden soll, so dass „die Einbildungskraft darüber weghüpfte, bevor ihr Zeit gelassen ward, sich in dem Greuel zu vertiefen“ (BN, S. 30). Bodmers Technik der Kontrastierung und der Perspektivwechsel entsprechend werden Gegensätze eingeflochten, um die Phantasie abzulenken: „Dieses wird erhalten, wenn sie durch entgegengesezte und durch sanftere, blühende Gegenstände davon abgeführt wird.“ (Ebd.) Ferner soll das erweiterte Gedicht die Hintergründe und kausalen Zusammenhänge der beiden Taten, d. h. actio und
1023 Bodmer: Ueber das Gedicht der Levite von Ephraim. Zürich 1782, S. 34. Im Folgenden werden Zitate aus dem Nachwort mit der Sigle (BN) abgekürzt.
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reactio, dem Leser erhellen, der vor dieser unbarmherzigen Handlung zurückschrecken könnte: „Also wird man hier von der viehischen Schändung zu des Leviten Verzweiflung und siedenden Rache hingezogen.“ (Ebd.) Der Zürcher erzählt das traurige Ende einer Liebesgeschichte, in der die handelnden Protagonisten, die Rousseau noch abstrahiert hatte, wieder einen Namen erhalten und im Sinne des pastoralen Schäferspiels als sich Liebende, als Theba und Timna vorgestellt werden. Es ist fraglich, woher Bodmer die Namen nimmt. War vielleicht der Roman von Anton Ulrich Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel Die durchleuchtige Syrerin Aramena richtungsweisend, der 1669 in Nürnberg erschienen ist? Daneben parodiert Bodmer mit seinem Liebespaar Abel und Thirza aus Gessners Der Tod Abels (1762).1024 Das Verhältnis von Tugend und Gewalt ist ein Leitmotiv der Nacherzählung, das gerade bei der Rechtfertigung des Racheaktes des in der Liebe verletzten Leviten Thebas zum Tragen kommt: „In welchem Ebenmasse stehen die Verzweiflung und die Rachgier mit der zärtlichen Liebe, in deren Stelle beyde getreten sind.“ (BN, S. 31) So wie Rousseau von einem alles lenkenden Prinzip der Natur ausgeht, das er als Prinzip der Weiblichkeit begreift, so finden sich bei Bodmer Differenzierungen von Weiblichkeit und Männlichkeit in einem frühaufklärerischen Sinne: wenn er den Racheakt des Liebenden mit eingeflochtenen Passagen aus dem Prätext in einer wiederholten Rückblende ähnlich jener in Opernarien sterbender Helden erzählt: Theba sprach es, und schien der Todten folgen zu wollen, Aber ihn liess die Rache, die izt ist seinem Gemüthe Sott, nicht sterben, er lebte, sie an den Zuhörern zu rächen. Sobald die Stämme ihm die Rache zugeschworen hatten, entgieng ihm die Kraft in den Schenkeln, Theba fiel auf das Antliz zur Erde, der Athem entgieng ihm. […] In Thebas Gemüthe lag eine Zärtlichkeit der Liebe, die bis zur leidenden Schwachheit steigt. Dieselbe Zärtlichkeit, die ihn der Timna Flucht nicht ertragen lässt, nimmt ihm nach ihrer Zerstörung alles Männliche in der Seele, sie setzet ihn aus sich selber und auf die Spitze der Rachgier & seiner Zärtlichkeit, seine Sehnsucht, sein Mitleid wurden in Wuth verwandelt, und auf den Grad, auf welchen die Liebe gestanden war. In der Betäubung besinnt er sich nicht, er bebt nicht zurücke, Eilt und erkühnt sich, den schönen Leib, so herzlich geliebt. In viele Theile zu schneiden, er hakt unerschrocken. – Ich finde die Entschliessung, mit welcher dieser zärtliche Liebhaber seine Geliebte, in dem Unvermögen sich zu helfen, den Benjamiten überliefert, theils in der Denkart, dass die
1024 Salomon Gessner: Der Tod Abels. Zürich 1762. Reprint Zürich 1972.
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reinste Tugend durch Gewaltthätigkeit nicht beflecket wird, theils in der Grossmuth, dass er den Jammer nicht auf seinen Gastfreund, der für seine Erhaltung die eigene Tochter zum Opfer darbietet, abwälzen kann. (BN, S. 31)
Die bereits erwähnten Prolepsen stellen eine weitere Eigenheit in Bodmers Interpretation des Stoffes dar, da die Handlungselemente hier neu verknüpft werden. Die Arbeitsweise, die mit vielen Prolepsen und Analepsen hantiert, ist fast schon avantgardistisch, da auf der formalen Ebene der von Rousseau noch durchgehaltenen Chronologie der Handlung eine Zerstückelung vorstellig wird und somit moderne Brüche geschaffen werden. Die Handlung tritt vor der Prosodie des sprachgewaltigen Textes zurück, der durch „blühende Skenen“, den Beschreibungen der Liebe in einer Rückversetzung in die Natur, die Taten „mildern“ will. Das archaische Talionsrecht sowie das Naturrecht sind weitere Koordinaten des Textes, welche im Nachwort hervorgehoben werden: Die Israeliten lebeten in einem zaumlosen Zeitpunkt; in einer Art von Naturstande, da die natürliche gute Anlage des Herzens und die Einfalt der Sitten die Zwangmittel der bürgerlichen Gesetze ersetzen musste. Wie die Wilden in der ungestörten, ruhigen Besitzung ihrer Bäume, ihrer Wälder und Flüsse, von welchen sie ihre Nahrung haben, sanft, milde und menschlich sind, aber wenn sie darinn gestört und beraubet werden, sehr in Wuth gerathen, und die Feindseligkeiten ohne Mässigung, und nach vollbrachter Strafe in dem Mitleiden und der Ausübung des Mitleidens übertrieben und ihrer selbst nicht mächtig. Es war ein Volk, sagt der Poet, das mitten im Mitleid Grausamkeit übte. (BN, S. 31f.)
Der Zustand der Rechtlosigkeit kann erst durch eine erneute Opferung wettgemacht werden, so dass die „Sitten bey Jakobs Geschlechte“ (BL, S. 29) zum Ende von Bodmers epischen Gedichten wiederhergestellt werden können. Der Raub der Mädchen von Silo aus dem zweiten Gesang soll nach dem Krieg und der fast gänzlichen Auslöschung der Benjamiter zu deren neuem Gedeihen, d. h. einer Regeneration des Stammes führen. Hierfür wird zuerst die freie Entscheidung des Partners postuliert, bevor darauf erklärt wird, warum der Vater von Achsa, Husan, seine Tochter zur Aufopferung ihrer Liebe, Eimakin, anregt. Als pater familias ist er der Aufrechthaltung des Volkes verpflichtet. Dieser ebenso unverständliche komplexe Akt der doppelten Aufopferung Achsas, der Liebesverweigerung zum einen und der Hingabe des Körpers zur Regeneration des fehlenden Geschlechts zum anderen, erfährt bei Bodmer eine ausführliche Erklärung im Nachwort, wenn er versucht, die Sitten der Ahnen aus den ältesten Jahrhunderten – vor dem „Zeitpunkt Achilles und Ulysses“ (BN, S. 34) – dem Leser nahe zu bringen: Welchen Menschen von gutem Gemüthe macht der Dichter nicht mit ihm und mit sich selbst zufrieden, dass er die Stämme den Ausspruch thun lässt, der ganz von seiner Erfindung ist;
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die Räuber sollen die Mädchen wieder in die Freyheit setzen, und die freye Wahl ihnen überlassen. Man hält sich selbst mit ihnen befreyt, und in seine Rechte wieder eingesetzet, und wieder der Geliebten gegeben. Aber man wird sich auch der Niederträchtigkeit nicht schuldig machen, dass man Husans Rechtschaffenheit nicht verehre, der in der Gerechtigkeit seiner Seele Achsa von dem Schicksal der andern Töchter nicht ausnahm, und der sie so dringend bat, der Wohlfahrt eines Stammes die Elmakin aufzuopfern. Und wem erhöhet das Gefühl von der Hoheit der menschlichen Seele den Geist nicht der Achsa Sieg über die sanfteste, unschuldigste Neigung; wiewohl wir den Widerstand des Herzens mit ihr empfinden? (BN, S. 32f.)
Ferner legt Bodmer im Nachwort zum Schluss eine literaturkritische Finte, diesmal ist diese gegen Heinrich Christian Boie (1744–1806) gerichtet, wenn er aus dessen Text „Das Fräulein von Garmin“ zitiert, das im Untertitel an Friedrich Leopold, Grafen zu Stolberg gerichtet und in Boies Literaturzeitung des Deutschen Museums (Februar 1781) erschienen ist. Typisch für die deutsche Querelle des Anciens et des Modernes ist Bodmer mit seiner biblischen Pastorale den alten Griechen nahe, wenn er in einer kontrastreichen anakreontischen Blütenmetaphorik auf seine zeitgenössischen Kritiker und Dichtergenossen anspielt, die der Schäferdichtung, die Gessner schon in seinen Idyllen karikierte, seiner Meinung nach nicht gerecht werden: […] hier lachet die Grazie, welche die Griechen so sorgfältig gesucht, und Rundung genannt haben. In unsern Tagen sucht man die Blüthe in welcken Blättern, in Kletten, in Epheu, welche sich um die Bäume schlingen; man verschmähet die Früchte, welche die Natur und das Klima hervorbringen und darbieten. Einer der unsern hätte nach der Timna Zerstörung den guten Themba ganz zierlich jammern lassen: – – – – Die züchtig am Stoke Glühende Rose füllte mit Schmerze die Seele der Fräulein, Um die sinkende schlang sich mitleidig das wuchernde Unkraut; Unter ihr krümmte zum Polster sich Wermuth, über ihr wälzte Sich die Dornennessel. Die schönste Blühte ist in des liebevollen Thebas Bemühungen der geliebtesten Timna das Leben angenehm zu machen; es sind nicht Chimären, nicht Unsinn, wie: – Aus ihren Augen stralt ein überidisch Licht, Worinn die Seelen selbst sich in einander spiegeln; Nacht ist nicht Nacht für sie, Elysium Und Himmelreich ist alles um und um. – – – – Die Luft worinn er lebt, Ist Zauberluft, weil Rezia sie theilet; Ihr Athem weht darinn, ihr holder Schatten schwebt Um jeden Gegenstand, um den sein Auge weilet, Und o! sie selbst glänzt ihn im Morgenlicht Im Abendlicht, im sanften Schattentage
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Des Mondes an. – – Anstatt dieses metaphysischen Schalles giebt der Poet uns Würklichkeit, Darstellung, er führt uns Unter schattende Hain’ und an lautschallende Bäche. &c. Ich halte keine Poesie für blühend, und kein Genie für mächtig, wo Falschheit und Finsterniss sichtbar sind. Die ängstlichste Bearbeitung missglüket in einem ernsthaften Werke, wenn die Charakter und die Handlungen der Natur widersprechen. (BN, S. 34)
Inwiefern Literatur im Kontext des literarischen Wettstreits, sogar über die Sprachgrenzen hinausgehend, zu begreifen ist, soll anhand der textimmanenten, komparatistischen Analyse dieser Zürcher Adaption der pastoralen Idylle Rousseaus deutlich werden.
4.7.4 Stichproben im Vergleich Bei der vergleichenden Lektüre der eher frei gehaltenen und poetischen Übersetzung in Hexametern Der Levit von Ephraim aus dem Französischen des Rousseau in dem Plane verändert von Bodmer1025 fallen kleinere Nuancen und größere Veränderungen auf, die Rousseaus Prosatext kürzen, und im Sinne der biblischen Vorlage erweitern, prosaisch ergänzen und nicht mehr chronologisch, sondern im Spiel von Prolepse und Analepse nacherzählen. Während der französische Lévite vier Gesänge umfasst, sind es bei Bodmer nur zwei, da eine Zäsur einzig nach dem zweiten Gesang gesetzt wird. Der erste Gesang behandelt die Tat, den Frevel der Söhne Gibeas, während der zweite den Vergeltungsschlag und die Wiederherstellung der Ordnung thematisiert. Die Ergänzungen dienen dem Leser zur genaueren Situierung des biblischen Kontextes: So werden bspw. aus den „douze Tribus“, die jeweils einen zerstörten Körperteil der misshandelten Frau erhalten, die „Söhne Jakobs“ (BL, S. 3). Der von Bodmer gestrichene Teil, der sich als Imperativ an das Volk Israel in der Einleitung richtet, lautete bei Rousseau: Peuple Saint, rassemble-toi; prononce sur cet acte horrible, et décerne le prix qu’il a mérité. À de tels forfaits celui qui détourne ses regards est un lâche, un déserteur de la justice; la véritable humanité les envisage, pour les connoitre, pour les juger, pour les detester. Osons entrer dans ces détails et remontons à la source des guerres civiles qui firent périr une de tes Tribus, et coûterent tant de sang aux autres. Benjamin, triste enfant de douleur, qui donnas
1025 Bodmer: Der Levit von Ephraim. Aus dem Französischen des Rousseau in dem Plane verändert von Bodmer. Zürich 1782. Im Folgenden im Text mit der Sigle (BL) abgekürzt.
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la mort à ta mère, c’est de ton sein qu’est sorti le crime qui t’a perdu, c’est ta race impie qui pût le commettre, et qui devait trop l’expier.1026
Inwiefern schon allein durch das Versmaß des Hexameters die deutsche Übersetzung von der französischen Vorlage abweicht, wird im Beispiel der biblischen Paraphrase in Rousseaus Einleitung deutlich, die sich auf jene Beschreibung eines Naturzustandes bzw. jenes goldenen Zeitalters vor dem Gesellschaftsvertrag bezieht. Leitmotivartig skandiert die Idee eines Naturzustandes ohne politische Führung bereits den biblischen Text im Buch der Richter viermal in leichten Variationen (17:6; 18:1; 19:1; 21:25): Buch der Richter1027 Damals gab es noch keinen König in Israel. Jeder tat, was ihm gefiel. (17:6) Damals gab es noch keinen König in Israel. (18:1) In jenen Tagen, als es noch keinen König in Israel gab, lebte im entlegensten Teil des Gebirges Efraim ein Levit als Fremder. (19:1) In jenen Tagen gab es noch keinen König in Israel; jeder tat, was ihm gefiel. (21:25)
Rousseau: Le Lévite d’Éphraïm Dans les jours de liberté où nul ne régnait sur le peuple du Seigneur, il fut un temps de licence où chacun, sans reconnaître ni magistrat ni juge, était seul son propre maître et faisait tou ce qui lui semblait bon. (RL, S. 60)
Bodmer: Der Levit von Ephraim Noch war die Zeit der Freyheit, da niemand Ueber das Volk des Herrn die Herrschaft hatt’ in den Tagen Waren zaumlose Jahre, da niemand dem Richter gehorchte, Jeder gebot sich selbst, und that, was gut ihm bedunkte. (BL, S. 3)
Der Vergleich mit der Bibelvorlage erweckt den Eindruck, Rousseau sei wortgetreuer dem Bibeltext als der Zürcher gefolgt. Hingegen variiert Letzterer wiederum darin, wenn er aus der alttestamentarischen Vorlage, dem Buch der Richter, Ergänzungen hinzufügt und darauf die Geschichte des Leviten großzügig ausbaut. Auch nimmt Bodmer für die Epentradition typische Wechsel der Erzählhaltung von der Personalform zur Ichform vor, wenn er in dem Teil der explicatio die Ereignisse des Geschehens antizipiert: Kam ein Mann von Gibea, die Benjamins Stamme zum Erb ward, Nach Ephrata, hier wohnte sein Gastfreund Husan; er selbst war
1026 Jean-Jacques Rousseau: Le Lévite d’Éphraïm. Hg. von Sébastien Labrusse. Chatou 2010, S. 60f. 1027 Neue Jerusalemer Bibel. 2000, S. 327.
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In der Blüthe der Jahre von Ephraïms bergigtem Lande Nach Gibea gekommen, hier unter Benjamins Söhnen Seinen Wohnsitz zu nehmen. Er kam nach Ephrata, ein Flüchtling, Seine Geister des Lebens beraubt, er flehete Husan, Dass er in seinem Haus der Unschuld ihm gönnte zu ruhen, Wo er in Sicherheit lebte, dass nicht der Rächer der Bosheit in dem Sturme der Strafe die Schuld und Unschuld vermischete. O ich bin einem Schwarm von Belials Kindern entflohen; Eine grausame That ist von einem der Stämme des Volkes, Israels Enkeln, geschehen, die vor den Menschen so stinkend, Würdig des Todes machet vor dem, der die Wage des Rechts hält. Meine Blicke sind von dem schauen der Schande beflecket. Die ich nicht wenden kann, mit meinem Leben nicht wenden. Sprach es und Husan nahm ihm die Hand, und bat ihn zu sitzen, Gab ihm, die Geister zu laben des Honigseimes und Kuchen, In dem Fette vom Oelbaum gebacken. Nachdem er gegessen, Nahm er das Wort, und erzählte die Bosheit der Söhne Geibeas: O du Unschuld der Sitten, du Stille der Seele, du Einfalt Die ihr so würdig der Liebe seyd, wie hat sich das Laster, Wie so viehisch die Jüngling’ an euch sich können vergreifen. (BL, S. 4)
Die Aufteilung in vier Gesänge wird von Bodmer nicht berücksichtigt, bzw. schlägt er eine Zäsur zwischen zwei Gesängen vor. Im ersten Gesang ist die Kollektivvergewaltigung der Geliebten zentral. Der zweite Gesang handelt vom Vergeltungsschlag aus Rache sowie der Auslöschung und Etablierung der Benjamiter durch die freiwillige Aufopferung der Mädchen von Silo, dabei wird die Handlung mehrheitlich aus der Retrospektive erzählt. Zudem wird mit den Erzählhaltungen gespielt, werden doch häufiger als in der Rousseau-Vorlage die Personalformen gewechselt und die Ereignisse mehrheitlich aus der Ichform erzählt, wodurch die Subjektivität noch unterstrichen wird. Einer biblischen Ikonographie getreu wird der Esel, auf dem Jesus seinen letzten Weg zur Kreuzigung unternahm, nicht nur häufig in den Confessions, sondern bis zu fünf mal im Lévite d’Éphraïm evoziert, ein Mal mehr als in der Passage im Buch der Richter und zwar jeweils im Zusammenhang der Reise und als Begleitung des Leviten. Bei Bodmer wird der Esel – in einziger Erwähnung – zum Maultier, auf welches der Levite nach dem Tod der Geliebten einmal steigt: In dem Feuer der Liebe besteigt er sein Maulthier, ein Knabe Folget ihm mit zwey andern Thieren, den Vorrath des Lebens Und die Geschenke für für mich und die Mutter des Mädchens zu tragen. (BL, S. 11)
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Damit übernimmt Bodmer die Episode aus dem ersten Gesang bei Rousseau: […] le Lévite, entraîné par son amour, prend sa monture, et suivi de son serviteur avec deux ânes d’Épha chargés de ses provisions et de dons pour les parents de la jeune fille, il retrourne à Bethléem, pour se réconcilier avec elle et tâcher de la ramener. (RL, S. 62)
Kommt diese biblische Konnotation neben dem Aufruf zur Sodomie der Banditen bei Bodmer auch so häufig vor? Und wie interpretiert er diese biblische Episode über den Leviten? Die Bedeutung der Sprechakte ist in Bodmers Bearbeitung augenscheinlich: Wer spricht, wer spricht nicht, wann wird gesprochen und wann ist einzig die Gestik bedeutsam, wann erhält Gott das Wort? Dies sind wichtige handlungstragende, wenn nicht sogar diskursorientierende Koordinaten des Textes. Daneben soll gezeigt werden, inwiefern Bodmers Adaption einen Brückenschlag von der naiven zur sentimentalischen Dichtung gemäß der Terminologie von Schillers literaturkritischen Essay aus dem Jahre 1795 verfolgt. Hier wäre nun für die Alten der Fall gewesen, einen von außen zu rohen Stoff von innen heraus durch das Subjekt zu vergeistigen, den poetischen Gehalt, der der äußeren Empfindung gemangelt hatte, durch Reflexion nachzuholen, die Natur durch die Idee zu ergänzen, mit einem Worte, durch eine sentimentalische Operation aus einem beschränkten Objekt ein unendliches zu machen. Aber es waren naive, nicht sentimentalische Dichtergenies; ihr Werk war also mit der äußern Empfindung geendigt.1028
Neben den inhaltlichen Umgestaltungen und Erweiterungen hinsichtlich biblischer Kontexte sind formale Änderungen und neue Perspektivierungen in der Übersetzung richtungsweisend, die im Folgenden schematisch zusammengefasst und dann an prägnanten Stellen exemplarisch näher untersucht werden.
1028 Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung. In: Ders.: Sämtliche Werke. 2004, Bd. 5, S. 756, Anm. 1.
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Tabellarische Zusammenstellung der modernen Adaptionen zu Richter 19–21 Rousseau: Le Lévite d’Éphraïm
Bodmer: Der Levit von Ephraim
Le Couple
I: Die Beschmutzung des Gastrechts und der Frevel Gibeas
I.
– proleptische expositio
– A Union du couple (Lévite de Juda)
PROLEPSE – Ein Mann von Gibea erzählt das Unheil dem „Gastfreund Husan“ – der Levite und die Geliebte beim Brunnen (bukolische Szene, wichtig in Rousseaus Essai sur l’origine des langues) – kurze Erwähnung des Vaters Abdons, der sie segnete – mangelnde Gastfreundschaft in Gibea – Husan, der alte Mann, bietet dem Paar Obdach (D) – während der Mahlzeit erfolgt der Überfall der Räuber – zum Schutz des Leviten, bietet der Alte seine älteste Tochter den Räubern an – der Levite bietet seine Geliebte den Räubern an – Flüche Husans nach der Vergewaltigung der Geliebten – der Levite findet die tote Geliebte, Rachegefühle – ANALEPSE: Achsa, Husans Tochter und Verlobte von Elmakin – Jotham, Verwandter (Buch der Richter) – Klagelied über den Tod der Geliebten – PROLEPSE: Der Levite besucht die Eltern von Timna, (C) – Klagelied über den Abschied der Tochter der Frauen – Klagelied der Männer
– B Fuite de l’épouse (l’amante) – C Réconciliation familiale et séparation (rôle du père) II. – D Hospitalité du vieillard – E Désobéissance de Gibéa et viol – F Corps disséqué envoyé aux douze tribus d’Israël
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Israël
II: Der Vergeltungsschlag aus Rache; die Etablierung der Ordnung
III. – G Union sacrée – H Défaites d’Israël devant Benjamin – I Victoire de la justice d’Israël sur les Benjamites décimés
– Rachgier des Witwers auf Ephraïms Hügeln – PROLEPSE: Beginn der Beziehung (A) im pastoralen Stil – Racheakt: Zerstückelung der Toten in zwölf Teile (F) – Totenkult des Leviten mit Schilderung der Tat vor dem versammelten Volk Israels – Husan ruft zur Rache auf – der Levite Theba wiederholt den Aufruf zur Rache und stirbt, – Bestattung mit den Gebeinen der Geliebten – Krieg in Gibea (K) in biblischer Metaphorik (Heuschreckenplage, Gottesanrufung, Gottes Wort) – Greis von Lebona ruft zum Raub der Mädchen in Silo während der Weinernte auf – das Volk wehrt sich, Achsa ist Eimakin versprochen – PATER FAMILIAS: Husan, der Greis von Lebona, bittet seine Tochter um Opfer – Eimakin schwört ihr ewige Liebe – die anderen Mädchen folgen Achsas Beispiel – Volk im Jubel (L)
IV. – J Pitié d’Israël pour Benjamin – K Désobéissance de Jabès, massacre – L „Régénération de Benjamin“ grâce aux sacrifices d’Axa et d’Elmacin
Während sich bei Rousseau eine Tendenz zur Abstraktion erkennen lässt, wählt Bodmer eine realistische Manier: Die Figuren erhalten Namen und werden in den Handlungssträngen konzentriert. Die Verhaltensweisen werden daneben in ihrer Kausalität begründet und bukolische Merkmale ausdifferenziert.
4.7.5 Der Frevel Gibeas und die Beschmutzung des Gastrechts Nach der proleptisch gehaltenen expositio, die jene Kollektivvergewaltigung mit der darauffolgenden Zerstückelung der Frau schon ankündigt, trifft ein Mann von Gibea, der Levite auf seinen „Gastfreund Husan“, dem er von dem Unheil erzählt. Im Unterschied zu Rousseau sprechen in Bodmers erstem Gesang der Levite und der Alte aus Gibea miteinander. Letzterer bietet dem Paar, das er einsam auf dem Marktplatz erblickte, gastfreundlich ein Dach über dem Kopf und eine Mahlzeit. Gleichwohl kann er diese nicht vor den Räubern schützen, die nach dem Leviten verlangen. Dass beide Männer die Geliebte vorschicken, um ihre eigene Haut zu retten, ist das eigentlich Grauenvolle. Hingegen erfährt diese Tat in der Zürcher Variante eine ausführlichere Erklärung, so dass die Kausalität der Zustände einer Gesellschaft im Naturzustand plausibel wird.
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Nach einer kurzen Erwähnung Abdons, des Vaters der Geliebten, der sie segnete, ist das erste große Thema die mangelnde Gastfreundschaft in Gibea mit dem temporalen Hinweis auf ein Zeitalter vor der Zivilisation: „Die eisernen Herzen der Söhne Jemini waren / Nicht nach dem Gemüthe gestimmt […].“ (BL, S. 5) Das Paar, das eine Unterkunft für die Nacht sucht, findet sich vor verschlossenen Toren, bis ihnen endlich ein alter Mann, Husan, Obdach bietet. „Schließlich kam ein alter Mann am Abend von seiner Arbeit auf dem Feld. Der Mann stammte aus dem Gebirge Efraim und lebte als Fremder in Gibea“ (Buch der Richter 19:16). In der Zürcher Version wird eine Subjektivierung in der Ichform vorgeschlagen: „Als ich am späten Abend von meinem Felde nach Hause kam, / hob ich die Augen auf, und sah in der Mitte des Platzes / Einen Mann und ein Weibsbild sitzen, ein Knabe bei ihnen / Stand der Thiere zu warten, die ihre Geräthschaften trugen.“ (BL, S. 4) Signifikant ist, dass sich die Szene am Brunnen auf der Mitte des Platzes abspielt, d. h. dass jegliche bukolische Assoziation mit der nach Rousseau gesellschaftsbildenden Wasserquelle gestrichen worden ist. Die selbst in der Streichung assoziierte Ursprungsszene bei Rousseau lautet im Essai sur l’origine des langues (1755, 1781): Là se formèrent les premiers liens de familles: là furent les premiers rendez-vous des deux sexes. Les jeunes filles venaient chercher de l’eau pour le ménage, les jeunes hommes venaient abreuver leurs troupeaux. Là des yeux accoutumées aux mêmes objets dès l’enfance commencèrent d’en voir de plus doux. Le cœur s’émut à ces nouveaux objets, un attrait inconnu le rendit moins sauvage, il sentit le plaisir de n’être pas seul. L’eau devint insensiblement plus nécessaire, le bétail eut soif plus souvent; on arrivait en hâte et l’on partait à regret. Dans cet âge heureux où rien ne marquait les heures, rien n’obligeait à les compter; le temps n’avait d’autre mesure que l’amusement et l’ennui. Sous de vieux chênes vainqueurs des ans une ardente jeunesse oubliait par degrés sa férocité, on s’apprivoisait peu à peu les uns avec les autres; en s’efforçant de se faire entendre on apprit à s’expliquer. Là, se firent les premières fêtes: les pieds bondissaient de joie, le geste empressé ne suffisait plus, la voix l’accompagnait d’accens passionnés; le plaisir et le désir, confondus ensemble, se faisaient sentir à la fois: là fut enfin le vrai berceau des peuples; et du pur cristal des fontaines sortirent les premiers feux de l’amour.1029
1029 Rousseau: Essai sur l’origine des langues. Kap. IX. In: OC, Bd. V, S. 525. Vgl. dazu Jean Starobinskis textimmanente Analyse hinsichtlich der rhythmischen, phonischen und inchorativen Struktur der Sprache in ihrem spatio-temporellen Verhältnis. In: Sur la pensée de Rousseau. In: Le remède dans le mal. 1989, S. 210 f. Vgl. dazu Starobinskis Aufsatz: L’Essai sur l’origine des langues. In: Accuser et séduire. Paris 2013, S. 263–297.
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Während der Mahlzeit erfolgt ein Überfall; Banditen verlangen nach dem Leviten, um ihren Mutwillen mit ihm zu treiben, bzw. diesen für ihr sodomitisches Vorhaben auszunutzen. In der Ich-Erzählung des Alten, Husan, erfolgt ein Aufruf zur Barmherzigkeit in der Gestik der zum Himmel zeigenden Hände, um die Böswilligkeit der Barbaren abzuschwächen. Dieser doppelte Akt von telling und showing wird in eine zeitliche Kontextualisierung der Vorzeit gerückt, als noch keine Rechte galten, bzw. sich diese erst noch formieren mussten: Dennoch gieng ich zu ihnen hinaus, ich wollte versuchen, Ob ich ihre Herzen von Stahl erweichen möchte, vor ihnen Fiel ich zur Erde nieder, ich hob zum Himmel die Hände, Meine Hände, die keinen Vorwurf zum Frefel mir machten. Meine Brüder, so sprach ich, was waren dieses für Worte, Welche von euren Lippen drohten? Der Himmel verhüte, Dass ihr dies Uebel nicht vor dem Herrn verübet, o schändet Nicht die Natur, verletzet nicht so das heilige Gastrecht. (BL, S. 7)
Um die Meute zu bändigen und zum Schutz der Heiligkeit des Leviten, bietet ihnen der Alte das Älteste seiner Mädchen an, die noch Jungfrau ist. Damit ist der Levite nicht einverstanden und bietet dagegen, ohne sich seiner Geliebten zu erklären, diese der Bande an. Dies im Unterschied zum Buch der Richter, in dem der Alte sagte: „Da ist meine jungfräuliche Tochter und seine Nebenfrau. Sie will ich zu euch hinausbringen; ihr könnt sie euch gefügig machen und mit ihnen tun, was euch gefällt. Aber an diesem Mann dürft ihr keine solche Schandtat begehen.“ (19:24) Während der biblische Text die Tat erzählt: „Sie [die Männer] mißbrauchten sie und trieben die ganze Nacht hindurch bis zum Morgen ihren Mutwillen mit ihr. Sie ließen sie erst gehen, als die Morgenröte heraufzog“ (19:25), findet die Vergewaltigung im Kollektiv der Geliebten bei Bodmer und bei Rousseau im Off statt und wird nicht erzählt. Hingegen lassen die Flüche Husans erahnen, was der Geliebten des Leviten bevorsteht, der um seine Stimme kämpft, bevor er die Täter der Unmenschlichkeit straft: Lange versagte sich ihm die Stimme, die izt sie zurück kam Schrie er: Verfluchte Teufel in menschlicher Bildung, nicht Menschen! Menschen hätten nicht ihr Geschlecht, das Menschengeschlecht nicht Durch die lieblichsten Wege zerstört, die gewidmet von Gott sind, Dass es ohne unterzugehn fortliefe vom Vater zum Sohne. O wie kam es dass diese sterbende Schönheit die Lüfte, Die in euch glühten, nicht löschte. Des menschlichen Nahmens unwürdig,
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Ungeheure, der wilden Hyäne Geburten, ihr heulet Wie sie heulet, und nährt euch, wie sie, von blutenden Leichen. (BL, S. 8)
Als der Levite die tote Geliebte am nächsten Morgen vor der Tür leblos auffindet, setzt er zu einem Klagelied ein. Darauf beschließt er zu sterben, was analeptisch auf den bevorstehenden Tod hinausweist, bevor er von seiner Rache ergriffen wird: „Sprach es, und schien zu den Todten ins Grab ihr folgen zu wollen, / Aber ihn liess die Rache, die izt in seinem Gemüthe / Soll, nicht sterben, er lebte, sie an den Zerstöhrern zu rächen.“ (BL, S. 9) Neu ist der Verweis auf Jotham, den Verwandten Husans, der im Buch der Richter im 9. Kapitel die berühmte Fabel über die Wahl des Königs der Sichemiter erzählt, die zwischen den symbolisch gesetzten Gleichnissen des Ölbaums, des Feigenbaums, des Weinstocks und schließlich des Dornenstrauches ihren König wählen sollen. Diese Fabel, die Gottsched in seiner Critischen Dichtkunst ausführlich erwähnte, führt Bodmer in seiner Lessingparodie Lessingische unäsopische Fabeln (1760) ergänzend ein (vgl. IV, S. 2). Mit diesem zusätzlichem Hinweis auf verwandtschaftliche Zusammenhängen eröffnet Bodmer den Blick auf die für die alttestamentarisch typisch genealogischen Bezüge, die innerhalb dieser Zürcher Interpretation über die Verbrechen von Gibea und den Krieg gegen Benjamin noch ihre Bedeutsamkeit erhalten: „Kaum, dass Jotham die Schuld der Benjaminiten zu Ende / Hatte gebracht, trat in das Zimmer zu ihnen ein Alter, / Ach der Unglückliche war der zerstörten Schönheit Erzeuger.“ (BL, S. 9) Sodann wird kurz analeptisch Achsa, die Tochter Husans, erwähnt, die dem Elmakin versprochen ist. Demnach blieb Achsa dank der Aufopferung der Geliebten des Leviten erst mal verschont. Darauf folgt ein Klagelied über den Tod der Tochter des hier herbeizitierten Vaters der Verstorbenen, der im Gespräch mit Jotham Trost sucht. Dieser ist von einer Sprachlosigkeit getroffen, die sich an Rousseaus Theorie der Sprachentwicklung orientiert: Also sprach er, doch Jotham verstummt’ und statt der Antwort Flossen die tieffsten Seufzer aus seinem Busen, vom Auge Ströhmten Thränen, er konnte die Stimme zur Rede nicht finden. Bald nahm wieder der unglückselige Vater das Wort auf: Ha! Du hast mit den stummen Lippen, den Seufzern, den Thränen Mehr als ich wünschte, gesagt, der Ruf hat die Söhne Gibeas Nicht belogen, der ihre Schand’ und mein Elend verkündigt. (BL, S. 10)
Nach dem Klagelied des Vaters über den Tod der Tochter erzählt dieser in einer Retrospektive den Beginn der Liebe des Schwiegersohnes zu seiner Tochter, die hier erstmals einen Namen erhält. Der Levite macht sich auf die Suche nach der Geliebten, Timna, die, ihn verlassen hatte und wieder bei ihren Eltern lebt.
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Sprachlos musste der Levite dann doch wissen, warum seine Geliebte ihn verlassen hatte: Aber der gute Mann in seines Herzens Beklemmnis / Konnte nicht reden, doch munter gemacht von dem guten Empfange / Hob er das Auge empor zu seiner Geliebten und sagte: / Tochter von Israels Enkeln, warum entzogest du dich mir? Hab ich übel an dir gethan? Sie begunte zu weinen / Schamroth verbarg sie das Antliz in ihrer Hand […]. (BL, S. 11)
Auffällig ist die Verwendung einer altdeutschen Verbform „begunte“, die die Gestik im Erröten vor der Sprache betont. Das wieder geeinte Paar weilt einige Tage bei den Eltern der Geliebten, da der Vater das Paar wiederholt zum Bleiben aufforderte, um den Abschied von der Tochter hinauszuzögern. Darauf folgt das von lautem Weinen begleitete Klagelied über den Abschied der Tochter: Die Frauen weinen, während der Vater nicht weinen konnte. Erneut wird zum Ende des ersten Gesanges seine Sprachlosigkeit unterstrichen, dem sogar die Tränen versagt bleiben. Dieser Trauer ohne Tränen erinnert an Antigone, die über den Tod des Vaters Oedipus klagt, der in der Fremde zu Tode gekommen war.1030 Der Abschied wird im Nachhinein als eine proleptische Vorahnung des Unheils über das frühe Ende der Tochter in der subjektiven Perspektive der Ichform des Vaters beschrieben: Mögt ihr gehen, ich will dich nicht länger halten. Mein Herz war Schwer, und die Vatersthränen begossen die Wangen, Aber er hörte mich nicht, und wollte von Stund zu verreisen; Welche Traurigkeit kostet’ an beyden Seiten ihr Scheiden! Wie viel Lebewohl ward gerufen und wieder gerufen! Welchen Thränenbach goss auf ihre Schwester die Schwester! Wie viel mahle nicht eine die andr’ in die Arme sich nahmen! Wie viel mahle, die Augen voll Thränen, die Mutter die Arme Um sie schlung und von neuem nur fühlte die Schmerzen des [S]cheidens! Ich doch konnte nicht weinen, indes ich sie öfters umarmte; Meine Zunge war stumm, in Zukungen bebte der Busen, Schneidende Seufzer erhoben in ihm empor sich von grund auf. Gott! Es war ein Ahnen vom Himmel des leidigen Unfalls! (BL, S. 13)
In diesem Klagelied des Vaters kommt die von Rousseau ebenfalls schon skizzierte Paradoxie der Einfachheit der Sitten zum Ausdruck, die durch die Grausamkeit
1030 Vgl. dazu Jacques Derrida: Pas d’hospitalité. In: De l’hospitalité. Hg. von Anne Dufourmantelle. Paris 1997, S. 71–137, hier S. 100 f. Man beachte den Schluss des Aufsatzes, wo Derrida den Bezug zur Beschädigung des Gastrechtes in Rousseaus Lévite zieht, ebd., S. 135ff.
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der Tat gestört ist, nachdem ergänzend an das aufklärerische Ideal der Freundschaft appelliert wird: An der Tafel sie sassen, du nahmst gefaster das Wort auf: Sollten nicht selig die Alten, nicht glücklich das Haus seyn, in welchem Unter der reinsten Einigkeit Flügeln im Schoose der Freundschaft Morgen und Abend kommen, wo alle Bewohner des Hauses Ein Herz haben in mehrern Leibern? O Unschuld der Sitten, Stille der Seele, veraltete Einfalt, wie seyd ihr so lieblich! Und wie konnte das viehische Laster den Zugang zu euch sich Oefnen, wie hat die unmenschliche Wuth nicht Scheue nicht Achtung Für die unschuldigen Freunden gehabt, und hat sie zerstöret! Gott! Wie kam es, dass alle die Wünsche der Mutter, der Schwestern, Alle die Segnungen, die Erhörung verdienten, nichts frommten! Tief war der Jammer und heftig das Wehausrufen der Männer, Unter dem Wehausrufen ereilte die finstere Nacht sie. (BL, S. 13f.)
Diese lyrisch ausgefeilte Passage gestaltet sich ähnlich wie ein Vexierbild, wenn sich in die Klage der Gottesanrufung in den Farben der Reinheit und der Unschuld das viehisch-triebhafte Laster und zwar mit seinem destruktiven Charakter zu mischen beginnt. Die „Unschuld der Sitten“ und die „Stille der Seele“ wird von den Müttern und Schwestern als „veraltete Einfalt“ gepriesen, worauf wie in einem Stimmwechsel des Chores und die Männer die Wehklagen ablösen bis in einem romantischen Schluss die finstere Nacht sie ereilte.
4.7.6 „Unter den Männern zu wählen soll’ jede die Freyheit haben.“ Der zuletzt beschriebene Wechsel von Unschuld in eine brutale Realität ohne Regeln und Ordnung bestimmt das Klagelied des Leviten, dessen Herz sich mit Schmerz und Rache füllt und nur noch Wut und Galle speit: „Die Liebe, die Sehnsucht, das Mitleid / waren in Wuth verwandelt, in Galle die lieblichsten Skenen“ (BL, S. 14). Mit dem Leichnam, der „leiblichen Hülle“ der einst Geliebten kehrt der Levit in die heimatliche Hütte auf Ephraims Hügeln zurück. Das Wechselspiel der Perspektiven wird mit einer erneuten Prolepse fortgesetzt: Nun wird der Beginn der Beziehung (l’union du couple) von Theba und Timna im Thale von Sichem im pastoralen Stil der Schäferdichtung in einer karikierenden GessnerParodie evoziert, bevor die Rache über den erlebten Verlust Überhand nimmt: […] Die Liebe, die Sehnsucht, das Mitleid Waren in Wuth verwandelt, in Galle die lieblichsten Skenen, Die sein Leben mit Wonne gewürzet hatten, die Stunden,
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Da er zuerst sie in Bethlehem sah, das liebliche Mädchen Ihm gefiel, und er zu ihr sagt; o Tochter von Juda, Zwar bist du nicht von meinem Stamme, du missest den Bruder, Wie die Töchter Salphaads bist du, nach Moses Gesetze Kann ich dich nicht heurathen, mein Herz ist aber dein eigen; Komm mit mir, wir wollen beysammen leben, vereinigt, Und doch frey; mit dir wird seliger fliessen mein Leben. Seliger deines mit mir. Von blühender Schönheit war Theba, Lächelnd gab sie die Hand ihm, und folgt’ ihm in seine Gebirge. Tage von Liebe gesponnen, so süss dem zärtlichen Herzen Flossen vorüber vor ihm, er genoss die Fülle der Liebe In der einsamen Hütte, die Fülle der Liebe mit ihm sie, In der Hand ein Sister von Gold, in welches er Hymnen Israels Gott sonst sang, sang Theba izo die Schönheit Seiner Braut. Wie vielmals erklangen die Hügel von Hebal Von dem süssen Gesangen der liebenden Theba, wie vielmals Führt’ er sie in dem Thale von Sichem, die Rosen zu pflücken, Unter den schattenden Heckenn, oft an die schallende Bäche, Die in ihr Kühl sie nahmen; bald sucht’ er in Spalten der Felse Honigten Seim den sie liebte, bald zwischen den Zweigen des Oelbaumes Spannet’ er Striche, die kleinen Vögel zu täuschen; er bracht ihr Eine schüchterne Turteltaube, die Timna liebkosend Küsste, sie in den Busen schloss, dann wieder der Freyheit Gab, wenn sie bebte vor Furcht, und die Fittiche schüttelt’, er sprach oft: Tochter Bethlehems, wie du nach deiner Landschaft dich sehnest! Wie in dein Auge die Thräne nach deinen Gespielinnen steiget! Haben nicht auch die Mädchen von Ephraïm festliche Tage, Sind die Töchter der lachenden Sichem der Freude beraubet; Fehlt es der alten Abarath Kindern an munteren Spielen? Komm die Spiele mit mir zu sehn und schmücke die Feyer, Mache mich froh mit deiner Froheit, o meine Geliebte, Kann ich denn andere Freuden, als meine Timna, die deinen? Gieng von der lieblichen Skene vor ihm ein Schatten vorüber, Glühte mit höherer Glut nur in seinem Busen die Rache. (BL, S. 14f.)
Dieser liebliche Eindruck vergangener, glücklicher Tage, die idyllengleich ausschraffiert, wenn nicht sogar zeitweise ironisch überzeichnet werden, ruft das Tableau Arkadiens wach: So wird die blühende Schönheit Thimnas vor den Hintergrund einer blühenden Natur gesetzt, deren bukolisch-rokokohafte Ikonographie nicht mit „Rosen“, „schallende[n] Bäche[n]“ oder „schüchterne[n] Turteltauben“ spart, was sowohl an die Tonalität von Gessners Idyllen (1756) erinnert, als auch an jene Begegnung der ersten Liebenden, Adam und Eva aus dem ersten Gesang von Gessners Prosaepos Der Tod Abels (1758). Daneben fällt auf, dass jeweils der Levite die Initiative ergreift, wenn er aus seiner Perspektive die Begegnung und Einladung zu einer freien Liebe schildert, da sie nicht dem
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gleichen Stamm angehören. Er spricht, sie lächelt einzig, bevor sie ihm ihre Hand reicht, um ihm aus freien Stücken in sein Gebirge und in die einsame Hütte zu folgen. Signifikativ ist Thimnas perlokutiver Akt, als sie der Taube die Freyheit zurückgibt, die er für sie gefangen hatte. Dies wirft die Frage auf, ob Timna nicht mit der Taube, dem freien Vogel, hätte tauschen wollen, um noch rechtzeitig vor dem Gefängnis der Liebe die Flucht zu ergreifen. Die göttliche Taube symbolisiert schließlich die Freiheit, die wie vor Furcht bebend, die Fittiche schüttelt und sich weinend nach ihrer Landschaft und ihrer Heimat sehnt, vielleicht wie die Frau? Nach der Szene der Erinnerung, in welcher der Levite viel gesprochen hatte, verliert dieser während des folgenden Racheaktes wieder die Sprache. Denn diese ausführlich skizzierte Retrospektive wird darauf sogleich mit dem brutalen Vergeltungsschlag in der „liebliche Skene“ gebrochen, der in Anknüpfung an „die finstere Nacht“ das Ende des ersten Gesanges, „mit dem trockensten, finsteren Auge“ einsetzt. Die schon bei Rousseau betonte Sprachlosigkeit bei der Zerstückelung der Toten in zwölf Teile, die sich als symbolische Anklage an das sich aus zwölf Stämmen zusammensetzende Volk Israels versteht, wird hier übernommen und weiter zu einem archaischen Totenkult stilisiert: Glühete mit höherer Glut nur in seinem Busen die Rache. Selbst der Anblick des Leichnams, der ihm die Seele zerschmelzen Sollte, gewann ihm nicht Klagen, noch eine träufelnde Thrän’ ab. Mit dem trockensten finstersten Auge beschaut er die Todte, Siehet nichts mehr, als was ihn in Wuth und Verzweiflung stürzet. In der Betäubung besinnt er sich nicht, er bebt nicht zurücke, Eilt, und erkühnt sich den Leib, so schön, so herzlich geliebt, In zwölf Theile zu schneiden, er hakt unerschrocken mit fester, Zielender Hand, er zerhackt das Fleisch, die Knochen, er trennet Kopf und Glieder und Füsse; die blutigen, scheuslichen Packe Wiedmet er Israels Stämmen, ein unerhörtes Geschenke! Er selbst gehet vorher nach Maspha, der Stätte des Herren, Reisset die Kleider und streut Staub auf das Haupt sich und Asche. Da die zerstümmelten Glieder nach Maspha für Israel kamen, Wälzet er sich im Staub, er fleht, er schreyet zu dem Richter, Israels Gott, der die Uebelthaten bemerket und rächet. (BL, S. 16)
Die Reaktion auf die außerordentliche Rache in Erinnerung an einen archaischen Totenkult des Leviten, die in der Gottesanrufung mündet, weckt das Interesse des ganzen Volkes. Mit der Schilderung des Mordes an der jungen Frau vor dem versammelten Volk Israels, zu der ihn die Alten aufgerufen haben, setzt wieder eine erneute Rückbende ein, die in der betonten Gestik des Blickes beginnt und an das Thema der Glut anknüpft: „Die Augen / rollend in wilder Glut begann er bald und erzählte“ (BL, S. 16) und seinen Akt der Vergeltung schildert. Husan, der weise Greis, zerreisst sich die Kleider, was dessen Wut und Trauer unterstreicht
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und das Volk „mit heftiger Stimme“ (BL, S. 17) zur Rache gemäß des Talionsrechtes aufruft. Die Zustimmung des Volkes erscheint lautlich und der kollektive Sprechakt entwickelt sich zur einhelligen Kriegserklärung: „Und es entstand ein lautes Wehausrufen, ein schreyen / unter dem Volk der Stämme, wie Eine Stimme, nur Ein Laut.“ (Ebd.) Aufgrund der Konzentration in der Sprache auf „Eine Stimme, nur Ein[en] Laut“ erfolgt eine Einigung des Volkes in dem gemeinsam ausgerufenen Kriegsschwur: „Möge das Blut der jungen Frau herab auf die Mörder / Fallen! Wir schwören es bey dem ewigen Einen, der Gott ist, Keiner von uns soll eher in seine Hütte zürückgehen, bis wir Gibea haben zu Grund gerichtet. Sie riefens.“ (Ebd.) Auf diesen als rituell beschriebenen Sprechakt folgt auf den Tod der Geliebten der Tod des Liebenden, des Leviten, der einer Art Erschöpfungstod erliegt: Und izt schrie der Levit mit lauter Stimme: Gesegnet Seyd ihr, o Israels Stämm’, ihr Rächer des Unrechts, der Schande, Die das unschuldige Blut sehn rinnen, und die es auch rächen. Tochter Bethlehems, Timna, dir bring ich die fröhliche Botschaft, Dass dein Nahme nicht unrechtfertigt in Israel bleibet. Da er die Wort’ aussprach, entgieng ihm die Kraft in den Schenkeln, Theba fiel auf das Antliz zu boden, der Athem verlies ihn. (BL, S. 17)
Mit den wieder eingesammelten Gebeinen der toten Geliebten wird der tote Levite bestattet. Darauf folgt der Krieg in Gibea, der in einer biblischen Metaphorik (Heuschreckenplage, Gottesanrufung und Gottes Wort) geschildert wird. Dass neu bei Bodmer Gott mit seinem Wort den Krieg gewährt und mit den Kriegern im Dialog steht, erinnert nicht nur an die alttestamentarischen Texte, wo die Kriege noch von Gott geführt wurden, sondern ist dies eine weitere Evokation Bodmers der höheren göttlichen und zu den Menschen sprechenden Vaterrolle in der Mimesis, der nachahmenden, direkten Rede: […] Die Stimme Von dem Höchsten geruhte die Antwort ihnen zu geben: Gehet zu streiten, doch dass ihr nicht auf die Heere vertrauet; Sondern vertraut dem Herrn, der den Muth erhöhet und nieder Schlägt, wie es ihm gefällt. Er will den folgenden Morgen Benjamin euch in die Hände liefern. Sie hörten die Worte, Und schon fühleten sie die Erfüllung in ihrem Gemüthe. Eine kühle, gefasste Tapferkeit folgte dem rohen, Wolfischen Ungestüm, mit Ueberlegung zum Lichte. Izt bereiten sie sich mit stillem Gemüthe zum Streite: Stürzen nicht wie unsinnig im Schwindel einher; sie betragen Nun sich, wie kluge und tapfere Männer, die wissen Ohne Taumel zu siegen, und ohne Verzweiflung zu sterben. (BL, S. 20)
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Die Diegesis über den von Gott befohlenen Krieg erstreckt sich in zwei Perspektiven, die fast ironischen Implikationen entsprechen. Denn die beiden Kriegsparteien werden nach dem lexemischen Muster des geordneten rationalen und wohlüberlegten Handelns der Israelis auf der einen Seite mit der „ungehaltene[n] Hitze“ auf der anderen Seite kontrastiert und nicht zuletzt in Szene gesetzt. Eine wohldurchdachte Kriegs- und Heereskunst besticht durch eine „kühle, gefaste Tapferkeit“ der Männer, die „mit Ueberlegung und Lichte“, „stillem Gemühte [sich] betragen […], wie kluge und tapfere Männer, die wissen ohne Taumel zu siegen, und ohne Verzweiflung zu sterben“ (ebd.). Deren Truppen bieten in „wohlgeschlossener Ordnung“ Gibea die Stirn, während der Feind überrumpelt auch im Text immer wieder fällt: „die Feind[e] in sie fielen“ (ebd.), „sie fielen in sie […] mit ungehaltener Hitze“ (BL, S. 21). In dieser fast göttlichen Inszenierung bietet sich ein Schauspiel, worin der Gott Abrahams nicht nur spricht, sondern Gottes Hand ebenso über das Schicksal, d. h. Leben und Tod der Menschen Gibeas entscheidet, was erneut in einem perlokutionären Akt vorgeführt wird: Während der Benjaminit nur bedacht ist zu jagen und morden. Da die Israeliten das Zeichen rauchend erblickten, Boten dem Feind sei gewandt zu Bahal Tamar die Stirne. Jemimis Enkel sahn mit Bestürzung die Völker sich wenden. Oefnen die Reihen, sich über das Feld verbreiten, und auf sie Stürzen. Ihr Muth begann zu sinken, und, da sie sich wandten, Sahn sie mit Schrecken die Wolken von wirbelndem Rauch aufsteigen; Der das Unglück ihnen Gibeas verkündigt. Izt fielen Auf sie die Schrecknisse Gottes; sie konnten sich selbst nicht verbergen, Dass die Hand des Herrn sie ergriffen, sie flohen zerstreuet Gegen die Wüste. Sie wurden verfolgt, erreichet, getödet, Unter die Füsse getreten. (BL, S. 21)
Dem ausführlich geschilderten Krieg im Rahmen der Diegesis wird wiederum durch das Wort des Alten von Lebona Einhalt geboten, der zur Regeneration des fast ausgelöschten Stammes nun, während der Weinernte, zum Raub der Mädchen in Silo aufruft. Die Rechtfertigung des Mädchenraubes wird durch die Ältesten in einem doppelten Sprechakt zu Beginn und zum Schluss desselben besiegelt: […] – Der Rath fand bey den Aeltesten Beyfall. Die Kinder Benjamins thaten, wie ihnen die Aeltesten sagten. Die Mädchen kamen aus Silo hervor, die Tänze zu leiten; die Männer Stürzeten unter sie ein; umschlossen sie ringsum. Sie flohen Vorwärts, hinterwärts, wie vom Habicht schüchterne Tauben. Flucht ergriff sie, die erst in der Unschuld der fröhlichen Spiele
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Pflegeten. Jede beflügelt, so viel sie mochte, die Schenkel; Jede mit lautem Geschrey rief ihre Gespielin um Hülfe Unbesorgt, dass ihr Gewand der Weinstock zerfetzte; Hier und dar ist der Boden bestreut mit Schärpen und Bändern. Von dem laufen wird ihre Farbe belebter, belebter Wird die Hitze der Räuber. Wohin jungfräuliche Schönen Laufet ihr voller Angst? Indem ihr dem ersten entfliehet, Der euch gefasst hat, laufet ihr in die Arme des andern, Die euch fesseln. Ein jeder bemächtigt sich einer, ein jeder Giebt sich Müh sie zu stillen, und jagt indess ihr mehr Furcht ein Durch die verliebten Reden als durch die Gewalt; die er brauchte.1031 Da der Lärm sich erhob und das rufen von ferne gehört ward, Liefen die Leute herbey, die Väter, die Mütter selbst, stürzen Sich ins Gemeng, und wollen die Mädchen den Räubern entreissen. Diese beschützen die Beute, zu der der Äeltesten Worte Ihnen Recht gegeben, die laute Stimme derselben Spricht für die räuberische That und gewinnt den Beyfall des Volkes, Welches erbarmend sich für die Benjaminiten erklärte. (BL, S. 25f.)
Die gestörte Idylle des Weinfests erinnert entfernt an die von Rausch und Erotik durchsetzten Riten eines antiken Bacchusfestes, obgleich die Mädchen hier nicht freiwillig agieren, sondern zum Akt gezwungen werden, eine Doppelbödigkeit, die im Text mit „Durch die verliebten Reden als durch die Gewalt; die er brauchte“, suggeriert wird. Ähnlich wie später beim Raub der Sabinerinnen oder den hier assozierten biblischen Verweisen „wie die Söhne Moabs und Edoms“ (BL, S. 26) scheint der Gewaltakt des Mädchenraubs den Alten hier gerechtfertigt, um das Fortbestehen Gibeas zu gewährleisten. Das Volk von Silo, vertreten durch die Eltern der geraubten Töchter, setzt sich darauf lauthals zur Wehr und pocht auf die freie Liebeswahl. In diesem erneuten Vexierspiel – einer Anamorphose gleich – verbirgt sich neu ein aufklärerischempfindsamer Diskurs gegen den Zwang und für die freie Wahl in der Liebe, die hier insbesondere für das weibliche Geschlecht eingefordert wird. Der für die Zeit reife und – typisch für die Gattung – utopische Gedanke ist in eine biblischpastorale Idylle gekleidet! Dieser Aufruf zur Freiheit der Liebe wird hier den laut protestierenden Eltern der gestohlenen Töchter in den Mund gelegt: Soll man Israels Töchtern, so riefen sie in der Entrüstung, In dem Gesicht der Bundeslande, wie Kindern der Sklaven Handeln, und sie zu Männern zwingen, die sie nicht verlangen? Benjamin soll uns thun, wie die Söhne Moabs und Edoms?
1031 Meine Hervorhebung.
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Wo ist die Freyheit des Volks des Herrn, wohin von uns floh sie? Mitleid kam in Streit mit dem Recht und zwischen den beyden Waren die Stimmen getheilt, zulezt geschah die Entscheidung, Dass die Gefangenen wieder in Freyheit sollten gesetzt seyn, Unter den Männern zu wählen soll’ jede die Freyheit haben.1032 (BL, S. 26)
Dieses emanzipierte Statement: „Unter den Männern zu wählen soll’ jede die Freyheit haben“, das sich so noch nicht bei Rousseau findet, ist signifikant für den Aufklärer Bodmer, einen Frauenrechtler – avant la lettre! Die Männer müssen diesem weisen „Spruch gehorchen“ und nun andere Mittel als den Zwang anwenden, die jungen Herzen der Schönen an sich zu ziehen. Die Mädchen sind froh, den fremden Männern entkommen zu sein, da sie oft schon anderen versprochen waren, wie bspw. Achsa ihrem Geliebten Eimakin. Die Komplexität der Handlung erreicht ihre Klimax mit dem Greis von Lebona, Husan, dem Vater Achsas, der in der doppelten Rolle als pater familias, d. h. als Vater des Volkes und als Familienvater auftritt. Der Zürcher Text hat diesbezüglich eine Konzentration der Vaterrolle vorgenommen: Bei Husan war der Levite zu Gast und hat in jener schreckensreichen Nacht seine Geliebte durch das Gewaltverbrechen verloren. Schon damals hatte Husan vor, den Leviten mit einer Opferung seiner Tochter zu schützen. Diese Tochter wird nun um ein neues Opfer gebeten, das ihrer Liebe, Elmakin, den der Vater Husan, nach altem biblischen Recht, zum Schwiegersohn gewählt hatte: Kam es war kein andrer als Husan, der Greis von Lebona; Welcher den Rath erfand, wie man Benjamins Söhne versorgen Könnte. Wiewol er selbst den vortrefflichen Jüngling zum Eidam Hatte gewählt, so erlaubt’ ihm doch sein rechtschaffenes Herz nicht, Dass er vor der Gefahr die Tochter warnte, in welche Durch den gegebenen Rath er die Töchter Israels stürzte. Husan kam zu der Tochter, er nahm die Hand ihr und sagte: Achsa, du kennest mein Herz, du weist, wie ich Elmakin liebe, Und er wäre mein Trost in den welken Jahren gewesen; Aber die Wolfahrt deines Volks, das Wort und die Ehre Deines Vaters erfodern von dir ein Opfer; entschlag dich Nicht der schuldigen Pflicht, mein Kind; o wälze die Schande Nicht auf mein Haupt, die mich bey meinen Brüdern belleckte; Denn ich hatte den Rath gegeben, zu thun was geschehen ist. (BL, S. 27f.)
Der Erklärung des Vaters folgt darauf die deutlich bestimmendere Sprache des Blickes, dem die Tochter gehorchen muss.
1032 Meine Hervorhebung.
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Achsa senkte das Haupt, antwortete nicht mit Seufzern. Aber, da sie das Auge nach langem wieder emporhebt, Und ihr begegnet das Auge des besten, theuersten Vaters, Saget ihr dieses mehr, als seine Zung’ ihm erst sagte. Gleich entschliesset sie sich, mit schwacher, zitternder Stimme Spricht sie mit Müh als das schwache letzte Lebwohl den Nahmen Elmakin aus, zu blöd, ihm in das Antlitz zu sehen, Wendet sich halb entseelt und fällt in das Benjaminiten Arm. (BL, S. 28.)
Das Mädchen, das hier einzig als Mittel zum Zweck verwendet wird, gewinnt an Kraft, dank des letzten Sprechaktes des Geliebten. Denn Elmakin schwört ihr in Erinnerung an ihre gemeinsame Jugend und den Beginn der Liebe, weiteren Leibesfreuden zu entsagen und wählt das Priesteramt mit einem heiligen Gelübde: Hör, o geliebte Achsa, mein heilig Gelübde, dieweil ich Nicht kann ruhen an deinem Arme, so will ich an anderm Arme nicht ruhn, die Erinnerung unserer Jahre der Jugend, Die uns unter dem Schild der Unschuld und Liebe verflossen, Soll mir alles ersetzen. Von meinem Haupt hat das Eisen Keine Locke geschnitten, der Saft der Traube hat niemals Meine Lippe genetzt, mein Leib ist rein, wie mein Herz ist. Priester des lebenden Gottes, ich weihe mich selbst ihm zu dienen Nehmet unter euch den Nazaräer des Herren. (BL, S. 28.)
Dieser Sprechakt ist die Initialzündung für die anderen Mädchen, die Achsa folgen werden und wie jene ihre Liebe opfern, um sich den Benjamitern hinzugeben, so dass die Regeneration des Stammes gewährleistet ist. Elmakin übernimmt hier die Rolle des in Rousseaus Contrat social beschriebenen législateur. Dank seiner Überzeugungskraft gelingt es Elmakin, die Mädchen Silos zu einen und deren Rolle in der Gesetzmässigkeit zu akzeptieren.1033 Denn die Individuen opfern ihre persönlichen Interessen für das Allgemeinwohl, indem sie dieses Gesetz akzeptieren: Elmakin sprachs: sogleich wie angewehet vom Himmel Folgten die Mädchen alle der Achsa mächtigem Beyspiel, Opferten die sie zuvor geliebt der Wohlfahrt der Stämm’ auf; Ihren Begierden entsagend, und gaben den Benjaminiten Willig die erst verweigerte Hand. (BL, S. 28)
1033 Vgl. Rousseau: Contrat social. In: OC, Bd. II, Kap. VII, S. 384.
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Das Volk, das hier das Schlusswort inne hat, bricht darauf in Jubel aus. Somit werden im letzten Sprechakt des zweiten Gesanges Ordnung und Frieden wiederhergestellt: Der Auftritt war rührend, Unter der Menge Volks erhob ein Jubelgeschrey sich, Und der Zuruf schallte von jeder Ecke gen Himmel: Ephraïms Mädchen, durch euch kömmt Benjamin wieder ins Leben, Singet Gesänge dem lebenden Gott, der Israels Schild ist; Dank ihm, Preis ihn, es sind noch Sitten bey Jakobs Geschlechte. (BL, S. 29)
Der fast schon komödienreife Schluss mit den Massenhochzeiten wirkt mit dem zum Ende erwähnten Indiz „rührend“ und evoziert die empfindsame Nachbargattung des Rührstücks, die Idylle.
4.7.7 Fazit In Bodmers poetischer Adaption des Levite von Ephraïm zeichnet sich eine Technik der Kontrastierung und der Perspektivwechsel der Erzählhaltungen, der Verwendung von Prolepesen und Analepsen, ab, die in seiner elegischen Erzählung in rhythmischen Hexametern zu innovativen modernen Brüchen in der von Rousseau noch respektierten Chronologie führen. Dies folgt der Intention, die Einbildungskraft der Leserschaft, die von der aus dem alttestamentarischen Buch der Richter zum Ende evozierten Kette von Gräueltaten in Aufruhr geraten könnte, zu beruhigen. Dieses Tableau des Schreckens nach dem Logos der felix culpa, dient dazu, die Argumentation im Sinne einer natürlich negativen Erziehung, wie sie Rousseau und Bodmer vertreten, zu bestärken. Das Wachrufen der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, begonnen mit der Missachtung des Gastrechts, der versuchten Sodomie am Leviten, der doppelten Opferung der Geliebten in der Misshandlung und im mahnenden Totenakt, über den Genozid, die erneute Vergewaltigung der Töchter Silos, die schließlich der Regeneration des Stammes dient, entspringt einer polemischen Intention gegen alles, was das Leben zerstört. Bodmers Pastiche ist keine getreue Übersetzung von Rousseaus Vorlage, sondern sie nimmt sowohl formale als auch inhaltliche Änderungen, Konzentrationen und Erweiterungen vor. Im Wechsel von der Personalform zur Ichform wächst die biblische Erzählung, die jene vier Gesänge der Rousseau-Vorlage auf deren zwei konzentriert, fast schon zu einer poetischen Polyphonie. Bodmers Kompositionstechnik basiert auf einer Mehrstimmigkeit, die mit Kontrapunkten, d. h. einer aus dem Barock entlehnten musikalischen Kunst der Gegenstimmen und den Stimmenthaltungen, arbeitet. Weiter werden Rousseaus Abstraktionen
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durch das biblische Vorwissen ergänzt. Und dank der poetischen Sprache des für die Zürcher Bibelepik typischen Hexameters entwickelt sich Bodmers Text zu einem hymnischen Appel an archaische Zeiten, als die gesellschaftlichen Rechte und Normen im Begriff waren, sich dank der Entwicklung der Sprache zu konstruieren. Neben der kunstfertigen Ausarbeitung der Sprache zum hymnischen Gesang auf der formalen Ebene des Textes werden unter Berücksichtigung von Rousseaus Sprachtheorie auf der inhaltlichen, die verschiedenen Stationen der Sprachgewinnung über die bewusst stummen und nur in der Gestik gehaltenen Sprechakte erklommen. In dieser konstruierten Hierarchie erhalten diese zumeist stimmlosen nonverbalen Akte einen intendierten perlokutiven Effekt, bspw. in der Aufforderung zum Krieg. Die Regeneration der Benjamiter verwirklicht sich wie in den Vorlagen aufgrund eines Dispositivs der Opferung und Aufopferung: Um die Heiligkeit seiner Person zu beschirmen, opfert der Levite seine Geliebte und um den politischen Körper Israels zu beschützen, müssen sich erst die Männer zum Krieg entschließen, worauf sich Rousseaus Axa mit ihren Gefährtinnen den Benjamitern hingeben muss, um die Wiederbelebung des Stammes zu gewähren. Die schon bei Rousseau betonte Sprachlosigkeit bei der Zerstückelung der Toten in zwölf Teile, umschreibt metaphorisch und metonymisch als pars pro toto den disparaten Zustand des sozialen Körpers. Dieser perlokutive Akt, d. h. eine symbolische, einzig in der Gestik artikulierte Anklage an das sich aus zwölf Stämmen zusammensetzende Volk Israels wird von Rousseau aus dem Buch der Richter übernommen. Dieser perlokutive Akt wird dann von Bodmer weiter zu einem archaischen Totenkult entwickelt, der den Beginn einer Kulthandlung formuliert, wonach die Tote als Totem agiert und die Gesellschaft der Benjamiter sich aufgrund des gemeinsamen Tabus neu formieren kann. Die alttestamentarische Geschichte über den Levite von Ephraim erhebt das Gastrecht zum Thema, das hier und in den folgenden Adaptionen bei Rousseau und Bodmer unterlaufen wird, was im Sprachgebrauch hervortritt. An Emmanuel Lévinas’ Diskursethik erinnernd, unterstreicht Jacques Derrida, dass die Sprache Gastfreundschaft meine: „le langage est hospitalité“.1034 Ob zum Schutze der Geliebten und des Leviten der Gastgeber hätte lügen dürfen, fragt Kant nach dem Beispiel Augustins in Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen (1797). Die Frage lautete dort, ob man als Gastgeber das Recht habe, seine Gäste Banditen, Vergewaltigern oder Mördern auszuhändigen. Wie Loth, der selbst als Ausländer nach Sodom gekommen war und seine Gäste
1034 Jacques Derrida: Pas d’hospitalité. In: De l’hospitalité. Hg. von Anne Dufourmantelle. Paris 1997, S. 71–137, S. 119.
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schützte, bot er den Banditen seine beiden Töchter an (vgl. Gen 19:1ff.). Diesem falschen Gastrecht folgend, hat der Gastgeber im Buch der Richter seine Tochter und die Geliebte des Leviten zu dessen Schutz den Banditen feilgeboten; während die Tochter Husans, Achsa bei Bodmer und Rousseau, zu diesem Zeitpunkt noch vom Leviten geschützt wird, da dieser seine Geliebte den Männern aushändigt. Dieser spezifische Ort, die Schwelle des Hauses, ist sicher nicht von ungefähr als Ort des Sterbens gewählt. Denn nach der Nacht der Misshandlungen stirbt die Geliebte auf dieser Schwelle einen Tod in der Stille, der wiederum eine stumme Anklage der verkehrten Anwendung des Gastrechtes postuliert. Die kausalen Verbindungen zwischen der ersten Kollektivvergewaltigung und der aggressiven Reaktion der Rache beruhen auf einer psychologischen Verkettung der Handlungselemente, die im Heilmittel des Übels im Übel, der felix culpa, die Etablierung der Ordnung wiederherstellt. Der Zürcher Text hat zudem eine Stilisierung der Vaterrolle vorgenommen: Die doppelte Rolle des pater familias wird auf den Greis von Lebona, Husan, den Gastvater in Gibea und den Vater Achsas konzentriert. Somit gewinnt die Handlung an Komplexität, da die Figur des Husan sowohl die Rolle des Familienvaters sowie jene des Vaters des Volkes verkörpert. Bei Husan war der Levite zu Gast und hat in jener schreckensreichen Nacht seine Geliebte durch das Gewaltverbrechen verloren. Schon damals hatte Husan vor, den Leviten mit einer Opferung seiner Tochter zu schützen. Diese Tochter wird nun in der Sprache des autoritären Blickes des Patriarchen um ein neues Opfer gemäß der felix culpa gebeten, das ihrer Liebe, Elmakin, den der Vater nach altem biblischen Recht zum Schwiegersohn erwählt hatte. Neben der Berücksichtigung der Rolle der Väter, die Bodmer neu auf eine Person konzentriert und somit stilisiert, wird die Rolle der Frauen, die sich lauthals in einem neuen Hymnus für die freie Wahl in der Liebe einsetzen, als eine utopische Überhöhung der Realität als neue Waffe ergänzt. In einem anderen Sinn findet sich hier eine Nähe zu Rousseau, der die Wahrheit der Natur als eine große Figuration eines weiblichen Prinzips bezeichnet hat.1035 Der in der Forschung häufig beschriebene Muttermord als auslösender Indikator für den Schriftsteller Rousseau entwickelt sich in diesem Text weiter zu einem die Gesellschaft gründenden Leitmotiv basierend auf dem Matriarchat, das metonymisch durch die im Lévite betonte mütterliche Selbstaufopferung bestärkt wird.1036
1035 François van Laere: Jean-Jacques Rousseau. 1967, S. 23. 1036 Vgl. hierzu Susan K. Jackson: Rousseau’s Occasional Autobiographies. 1992, hier Kap. V: Ultimate Sacrifices: Le Lévite d’Éphraïm, S. 187–229, S. 189: „What in fact facilitates Rousseau’s emphatic denials that the dream text of Le Lévite has anything to do with him is his redeployment
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Bei Bodmer künden das die Gesellschaft einende weibliche Totem und Tabu des Gewaltaktes sowie die auf das Recht der freien Liebe pochenden Mütter der Jungfrauen Silos von einem Paradigmenwechsel zu einem neuen Matriarchat. Dieses emanzipierte Statement, das sich im Ansatz bei den stumm protestierenden Müttern bei Rousseau findet, ist signifikant für den Aufklärer Bodmer, einen frühen Frauenrechtler, der die Konnotation des Mutterrechts weiter ausbaut, wenn er die Frauen neu zu Wort kommen lässt: „Unter den Männern zu wählen soll’ jede die Freyheit haben.“ Denn die Mütter erhalten von Bodmer ihr Stimmund Wahlrecht – wenn auch noch nicht in der Politik – so doch schon in der Liebe, wenn ihrem verbalen Protest dafür explizit Raum gegeben wird. Mit Sigmund Freud und René Girard gesprochen, ist mit der geschändeten und zerstückelten Frau, ein die Gesellschaft einendes Totem geschaffen, die zudem nicht mehr Jungfrau sein muss. Ferner versucht Bodmers Adaption einen Brückenschlag von der naiven zur sentimentalischen Dichtung, laut Schillers Dichotomie zu ziehen. Dank der „sentimentalischen Operation“ wird der für die Alten rohe Stoff des Leviten aus dem Alten Testament durch die von Bodmer häufig gewählte neue Ichform im Wechsel mit der Personalform vergeistigt und reflektiert, wonach die Natur durch Ideen respektive einem leitenden Ideal ergänzt wird, so dass aus einem beschränkten Objekt ein unendliches entsteht. Schillers Argument, der Bodmer der Patriarchaden sei noch zu den Alten bzw. laut seiner Terminologie zu den naiven Dichtern zu zählen, kann für den Dichter des späten 18. Jahrhunderts revidiert werden. Denn Bodmer war genauso ein Dichter der „energischen Bewegung“ und ist aufgrund seiner Übertragung der Anti-Idylle von Rousseaus Lévite ebenfalls zu den sentimentalischen Dichtern zu zählen. Zudem ist mit der felix culpa die nach Schiller sentimentalische Tendenz schon skizziert, da sich „das sentimentalische aus sich selbst nährt und reinigt“.1037 Denn entgegen Schillers Beurteilung gegenüber Bodmer als Verfechter des Naiven in seinem literaturkritischen Essay versucht sich dieser mit dem Levite von Ephraim in einem künstlich konstruierten, selbst die Sprachgrenzen transgressiv überschreitenden Konkurrenzverhalten als sentimentalischer Dichter, der nach den Satiren auch wieder zum „ernsthaften Werke“ findet, wenn Schiller mahnt: Wehe uns Lesern, wenn die Fratze sich in der Fratze spiegelt; wenn die Geißel der Satire in die Hände desjenigen fällt, den die Natur eine viel ernstlichere Peitsche zu führen bestimm-
in the Confessions of the same sacrificial logic entrusted in the prose poem with transposing an original matricide into the reassuring terms of maternal self-sacrifice.“ 1037 Friedrich Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung. In: Ders.: Sämtliche Werke. 2004, Bd. 5, S. 754.
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Poetische Palimpseste
te; wenn Menschen, die, entblößt von allem, was man poetischen Geist nennt, nur das Affentalent gemeiner Nachahmung besitzen, es auf Kosten unsers Geschmacks greulich und schrecklich üben.1038
Der hier zu Beginn berücksichtigten mahnenden Emanzipation vor der Nachahmung des Pastiche bei Proust scheint hier Schillers Sorge für die Kunst verwandt. Denn Bodmers Übertragung geht über das einfache Pastiche der pastoralen Idylle Rousseaus in einem doppelten Dispositiv hinaus: Neben der Arbeit an einer elegischen Sprache im Formalen werden hier die Grundwerte einer die Gemeinschaft einenden politischen auf dem Naturrecht basierenden Theorie postuliert, der Rousseau wie Bodmer als Erben des modernen Schweizer Republikanismus und unter Neubelebung naiv-archaischer Redeformen gleichermaßen verbunden sind. Nicht zuletzt kann Bodmers poetische Übertragung eines posthum erschienen Rousseau-Textes, ein Pastiche, als weiteres Postulat seiner politischen Synthesen gelten. Wegbereitend für nachfolgende Generationen, die noch stärker von Rousseaus politischer Philosophie beeinflusst sein werden, wie bspw. Heinrich Pestalozzi, Jacques Henri Meister, Johann Heinrich Füssli oder Julie Bondeli.1039
1038 Ebd., S. 755. 1039 Vgl. Herbert Schöffler: Anruf der Schweizer. In: Deutscher Geist im 18. Jahrhundert. Essays zur Geistes- und Religionsgeschichte. Hg. Götz von Selle. Göttingen 1956, S. 7–60, hier S. 22; vgl. zu diesem Thema: Katja Fries: Felix culpa im biblischen Pastiche! Bodmers Der Levite von Ephraim (1782) als matriarchalische Paraphrase oder Karikatur von Rousseaus Anti-Idylle? In: Zeitsprünge (2015), Bd. 19, S. 149–167; dies.: Felix Culpa! – Bodmers Pastiche Der Levite von Ephraim (1782) im poetischen Dialog mit Rousseau und Gessner. In: Gallotropismus aus helvetischen Perspektiven. Le gallotropisme dans une perspective helvétique. Hg. von Barbara Mahlmann-Bauer und Michèle Crogiez. Heidelberg 2017, S. 401–419.
Schluss und Ausblick Zweifellos zeichnen sich Johann Jakob Bodmers (1698–1783) poetische Palimpseste durch sokratisch-ironische Dialoge aus, die zu einem frühen Zeitpunkt der Wissenschafts- und Wertungsgeschichte in unterhaltsamen Literaturparodien und polemischen Personalsatiren seine Position im deutschen Dichterkrieg bekräftigen. Im Kontext des Wettstreits um das beste deutschsprachige Epos, die Bibelepen sowie die Milton-Rezeption sind diese poetischen Literaturkritiken als Folge der französischen Querelle des Anciens et des Modernes zur Verteidigung der Zürcher Poetik des Wunderbaren zu begreifen. Diese von Bodmer und Breitinger vertretene Zürcher Poetik konnte sich dank des regelmäßigen Schlagabtauschs mit den deutschen Gegnern in den eigens gegründeten Zeitschriften (Die Discourse der Mahlern, Critische Briefe u. a.) sowie im Hausverlag herausbilden. Ob nun gallotropisch, anglophil oder schlichtweg europafreundlich, Bodmer, der langjährige Lehrer des Collegium Carolinum und Förderer jüngerer Generationen, zeigte sich zeitlebens offen für alte und neue literarische Tendenzen von Aristophanes bis Alexander Pope. Neben seinen biblischen Epen und zahlreichen patriotischen Lesedramen entstanden nach dem Muster der Alten fulminante Literaturparodien, Gelehrtensatiren oder Götter- und Totengespräche, die mal mit Juvenalischer Bissigkeit und dann wieder in Horazischer Leichtigkeit Lob und Tadel über die Kopfgeburten der deutschen Konkurrenz versprühten. Dass Gottscheds Critische Dichtkunst (1730) wichtige Leitlinien für die deutsche Literatur und deren Gattungen formulierte und somit ein grundlegendes theoretisches Regelwerk als Orientierungshilfe für angehende Dichter darstellte, steht außer Frage. Jedoch boten die hier festgesetzten Regeln der Poetik nicht zuletzt auch Zunder für den Literaturstreit der 1740er Jahre mit den Zürchern, die in vielen Punkten zunehmend entgegengesetzte Haltungen vertraten; sei es, was das Lob der Vielfalt der Mundarten oder was die poetische Auffassung des Wunderbaren betraf. Popes rhapsodische Literatursatire The Dunciad, die sich gleichsam als ein Lehrbuch der Kritik und somit als Fortsetzung zu An Essay on Criticism (1711) versteht, wird, schon bevor sie Modellcharakter bspw. bei Palissot erhält, von Bodmer in Das Banket der Dunse (1758) zitiert, um erneut gegen Gottsched in der literarischen Bücherschlacht Stellung zu beziehen. Als Schlafmütze karikierte er diesen später sogar in seiner lustvollen Personalsatire Gottsched. Ein Trauerspiel in Versen, oder, Der parodirte Cato (1765). Mit Wieland, der einige seiner Wanderjahre ab 1752 „am oberen Schönenberg“ beim alten Zürcher verbrachte, experimentierte Bodmer mit den englischen Satiretechniken von Richardson und Shaftesbury. In ihrem Gemeinschaftsprodukt, der Gelehrtensatire Edward Grandisons
https://doi.org/10.1515/9783110487930-006
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Geschichte in Görlitz (1755), diskutiert der englische Tourist mit Philocles alias Zellweger in der „forenen Hüte“ vor der Kulisse der beschaulichen Appenzeller Bergwelt und bei gesunder Molkenkur über literarische, naturwissenschaftliche und politische Materien. Schon hier fällt auf, wie die sich miteinander konkurrierenden ästhetischen Positionen, etwa zur Frage der Nachahmung, des Wunderbaren oder der Gattungswahl in der Konfrontation zwischen Leipzig und Zürich etablieren. Der Zürcher Kritikbegriff fungiert als vergleichendes Verfahren, indem er sich nicht nur durch seine politischen Parameter auszeichnet, sondern ebenfalls zu einer pointiert pädagogischen Stellungnahme zuspitzt und dabei eng an der Leibniz-Wolff’schen Philosophie sowie an der Faltenmetaphorik zeitgenössischer pädagogischer und klimatheoretischer Ansätze von Locke, Montesquieu oder Rousseau orientiert ist. Denn laut Bodmer ist die mangelnde Kritikfähigkeit der Untertanen in Monarchien mit der unfreien Erziehungsmethode zu erklären, die den Menschen zu Hörigkeit und knechtischer Abhängigkeit abrichtet. Dagegen kann sich, seiner Ansicht nach, eine Atmosphäre des freien Denkens nur in republikanisch organisierten Gemeinwesen entwickeln, wo die Souveränität im Volk verankert ist. Programmatisch wird zum Schluss des Briefromans ein klosterähnliches Bildungswesen beklagt, das einzig zum Gehorsam erziehe, anstatt Fähigkeiten des selbständigen und kritischen Denkens zu fördern. Die pazifistische Kritik am Militär und an der Idiotie jeglicher Kriegsführung impliziert ein Bildungskonzept, das sich an jenem, in gewissen Bildungsstätten, Klosterschulen oder Militärakademien durchaus üblichen, autoritärem Ton stößt und dahinter ein Menschenbild einer Klassengesellschaft sieht, das politisch begründet ist. Damit wird nicht zuletzt Friedrich Schillers Kritik am Erziehungssystem der Hohen Karlsschule vorweggenommen, der in einer feinfühlenden Psychologie mit seinen Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1793) einen Kunstbegriff der Schönheit formuliert, dank der Freiheit in der Ästhetik möglich wird. Schillers Ästhetische Briefe, die sich als Reflexion über die Terreurs der französischen Revolution – das katastrophale Ende der Aufklärung – verstehen, werden die Kritik an jeglicher Willkür eines aristokratisch-absolutistischen Staates wiederholen. Schon Bodmer führt die Konsequenzen der schulischen Tretmühle vor Augen, die den Menschen zum autoritätsgläubigen Kriecher domestiziert, anstatt ihn auf die Aufgaben vorzubereiten, die mit der politischen Willensbekundung und Mitbestimmung im aristokratisch oder auch bürgerlich organisierten Gemeinwesen einhergehen. So können sich nach Bodmers Idealvorstellung Menschen bzw. mehrheitlich Männer in Republiken zu selbstbewussten, verantwortlichen Bürgern entwickeln. Dass in einem gegen Gottsched gerichteten literaturkritischen Text ästhetische Fragen mit pädagogischen Überlegungen verbunden wer-
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den, um das altehrwürdige Recht auf Denkfreiheit zu betonen, ist für Bodmers literaturkritische Dichtungen signifikant und begründet seinen dialektischen Kritikbegriff. Seit der Antike und gerade im Zeitalter der Aufklärung stieß die Fabel auch im schulischen Rahmen auf großen Anklang und wurde zu didaktischen Zwecken verwendet. In Frankreich wurde bspw. La Fontaine auf Latein übersetzt und adaptiert. Allerdings rät Rousseau von deren Lektüre aufgrund ihrer nicht leicht ersichtlichen Moral für Kinder im Émile ab, da diese eher an den Lastern wie an der List des Fuchses leiden oder über den Raben lachen würden. Bodmers Fabeltexte sind in den institutionellen Kontext des Logikunterrichts der Zürcher Hohen Schule sowie jenen der gelehrten Sozietäten zu setzen und können als eine angewandte Form der Aufklärung verstanden werden. Die an die Tradition des antiken Rhetorikunterrichts anknüpfende Methode der paradeigma benutzte die Fabel als Hilfsmittel in den Schulen. Denn die in der Regel kurzen Fabeltexte eigneten sich vorzüglich, um „Begriffe zu klären“ und die Studenten exemplarisch im Denken zu schulen, wie dies auch Bodmers enger Freund und Kollege Breitinger am Carolinum und in seiner Schrift Artis cogitandi principia (1736, 21751) vertrat. Die Kontroverse über die Aesopische Fabel wurde nach La Fontaine und Swift auch von Gottsched behandelt und sollte die deutsche Fabelwelle auslösen. Unter Berufung auf die antiken Modelle Aesops und seines Nachahmers Phaedrus stritten die Zürcher mit Gottsched und Daniel Stoppe sowie daraufhin mit Lessing über die Behandlung der rhetorischen Mittel sowie die pädagogischen Funktionen unter den Vorzeichen der Herrschafts- und Moralkritik. Die Zürcher verknüpften ihre Fabellehre mit ihrer Theorie des Wunderbaren und bezogen sie in ihren poetologischen Reflexionen über Bilder, Gleichnisse und Allegorien in der Literatur mit ein. Bodmers Stoppe-Verriss steht im Kontext jener fahrenden Mediziner oder Wunderdoktoren, die noch im 18. Jahrhundert mit Schauspielern und dem Thespiskarren von Ort zu Ort zogen, um auf Jahrmärkten ihre Dienste anzubieten. Die als Rezeptur einer medizinischen Kur getarnte Kritik am Gefolgsmann Gottscheds bedient sich der derb-komischen Komödienfigur des Hanswurst, dem deutschen Pendant zum Harlekin der Commedia dell’arte, die, einst von Gottsched von den deutschen Schaubühnen verbannt, wieder bei Bodmer und später im 18. Stück von Lessings Hamburgischer Dramaturgie (1767–1769) Konjunktur erhält.1040
1040 Vgl. Lessing: Hamburgische Dramaturgie. In: Ders.: Werke. 1767–1769. Hg. von Klaus Bohnen. Bd. 6. Frankfurt am Main 1985, S. 270–272.
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Die Zürcher Bodmer und Breitinger hatten mit Lessing noch eine Rechnung offen. Kurz nachdem dieser das Pseudonym „Hermann Axel“ gelüftet hatte, mit dem Bodmer seine exempla in den Critischen Briefen zeichnete, erschienen seine Fabeln und Abhandlungen (1759). Im Schlagabtausch mit Lessing reagierten die Zürcher mit einer Gemeinschaftsproduktion, den Lessingischen unäsopischen Fabeln (1760). Ihr Fabelverständnis war neben Christian Wolff auch von Pierre Bayle oder Gottfried Wilhelm Leibniz beeinflusst. Während Breitinger im Epilog die Vorbildlichkeit der Aesopischen Muster und den allegorisch-lehrhaften Charakter der Fabel verteidigte, bezog sich nur ein Drittel der gut hundert Fabeln Bodmers auf jene Lessings. Die Auswertung, Auswahl und Analyse der intertextuellen Fraktur von Bodmers Fabeln offenbaren wiederum den Zürcher Aufklärer der Sitten und Erzieher, der Fragen der Anthropologie, der Gesellschaftsmoral, der politischen Mitbestimmung und der öffentlichen Kommunikation im Fabelkleid erörterte, um die Urteilskraft seiner jugendlichen Leser zu schärfen. Für Bodmer boten Lessings Fabeln den Anlass und willkommenen Anstoß zur eigenen dichterischen Gestaltung. Das Zürcher Vorhaben ist wohl kaum einzig als eine „polemische Nachahmung“1041 anzusehen, sondern ist vielmehr ein eigenständiges Fabelbuch voll innovativer dramaturgischer Neuentwürfe, die moralphilosophische und staatstheoretische Ideen profilieren. Über die Vorlage hinausgehend und auf Aesop und Phaedrus rekurrierend, tangieren vereinzelte Fabelbeispiele aus dem Alten Testament oder zu mittelalterlichen Texten sämtliche allgemeine Erziehungs- und Verhaltensfragen gemäß der Philosophie Rousseaus und den Schriften der englischen Moralisten. Auch wenn Bodmer Lessing einen Sophisten tadelt, nutzen beide das erzieherische Potential der Fabeln. Dabei ist neben der Thematisierung von Kritik und Dichtung die politische Erziehung Bodmers Schwerpunkt. Schon in den Critischen Briefen wird die Fabeltheorie Bodmers und Breitingers skizziert, die eine innovative Herangehensweise an Tierfabeln postulieren: Damit die Tiere ihre Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit behalten, soll ihre Charakterzeichnung möglichst ursprünglich animalisch gehalten und weniger vermenschlicht werden. Nicht der Mensch soll in die Tierwelt projiziert werden, vielmehr soll der Mensch von den Tieren lernen, wie es gut zwei Jahrhunderte später ein anderer Zürcher, Hugo Loetscher, in seinen beiden Fabelbüchern wiederholen wird.1042 In seinen Fabeln bedient sich Bodmer eines Kunstgriffes, den schon Sokrates in seinen Gesprächen angewandt hatte. Mittels einer ähnlichen, aber leicht ver-
1041 Monika Fick: Lessing Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 22004, S. 185. 1042 Hugo Loetscher: Die Fliege und die Suppe. Und 33 andere Tiere in 33 anderen Situationen. Zürich 1989; ders.: Der predigende Hahn. Das literarisch-moralische Nutztier. Zürich 1992.
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fremdeten Geschichte wird den Gesprächspartnern jeweils ihre eigene serviert, um diese zu ermuntern bzw. zu zwingen, „einen Schluß wider sich selbst abzufassen“ (BCD, S. 170). Die Untersuchung der satirischen Strategie des Zürcher Doppelgestirns in den Lessingischen unäsopischen Fabeln (1760) hat Folgendes gezeigt: Mit der Figur Capriccio, die Bodmer in die Literatur einführte, ist ein Doppelgänger bzw. eine Spiegelfigur geschaffen, dank der Lessings Muse zuerst negiert und dann durch diesen Gegenentwurf erneuert wird, was nach Bachtin eine typische Strategie des Parodieverfahrens darstellt. Zahlreiche Fabeln spielen auf die zeitgenössische Literaturszene sowie die neuen Dichtungskonzepte Lessings an, von denen sich Bodmer wiederum kritisch distanziert. So findet sich hier bspw. der Nucleus zu Bodmers Theorie des Politischen Schauspiels, die er später in Sulzers Allgemeinen Theorie der schönen Künste (1771–1774) formuliert, übrigens wiederum auf Rousseaus Theaterkritik rekurrierend. Der Republikaner Rousseau hielt das Theater für amoralisch und politisch schädlich, weil es Trennungen und Verdoppelungen in die Welt projiziere, die dem Ideal einer ursprünglich natürlichen Gesellschaft entgegen wirken, wird hier doch der sich selbst zelebrierende Hof im Theater gespiegelt. Zudem tragen Bodmers Fabeln bereits im Titel die moralische Quintessenz der Fabel, die als illustrierendes Exemplum zum vorweg angekündigten Merksatz fungiert – wie vormals die scriptura aus der baroken Emblematik. Mit dieser deutlich explikativen Funktion sollen die Leser vermutlich im Kontext des Logikunterrichts Breitingers zu einer zusätzlich vernünftigen Interpretation der Dinge hingeführt werden. Aber Bodmers pädagogisches Programm hatte nicht nur die „Jünglinge“, die heranwachsenden jungen Bürger aus Zürich und Umgebung, im Blick, wie es noch Jesko Reiling in seiner historisch angelegten Studie Die Genese der idealen Gesellschaft zu Bodmers natürlichem Menschenbild und dessen übermenschlichen Heldenbildern vertrat.1043 Neben seinem Programm für Frauenbibliotheken in den Zeitschriften und den Plänen für Töchterschulen hinterfragt Bodmer zudem laufend die Rolle der Frau auch explizit in seinem Werk, insbesondere in den beiden hier vorgestellten Erzählungen. Mit seinem Pygmalion bringt sich der Zürcher in die lange Motivgeschichte des Künstlermythos ein, bedient unterschiedliche Kontexte und probiert diverse Gedankenspiele aus. Bodmer versucht der These der Konstruierbarkeit sowie
1043 Jesko Reiling: Die Genese der idealen Gesellschaft. Studien zum literarischen Werk von Johann Jakob Bodmer (1698–1783). Berlin, New York 2010.
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jener der ,reinen‘ Rationalität des Menschen mit seinem Gegenentwurf der Elise zu widersprechen, die in viel höherem Maße Naturkind ist als der rational entworfene Automat des Boureau-Deslandes. Fortan wird Pygmalion als „pädagogischer Robinson“ angesehen, „der die Aufgabe löst, einen von Grund auf und in jeder Hinsicht zu formen.“1044 Bodmers Elise trägt im Vergleich zu ihren antiken und französischen Vorbildern deutlich Züge eines Naturkindes und ist eine aufgeschlossene neugierige Person, die – von den Göttern erweckt – Pygmalion eher als Vater, Lehrer, Freund und nicht unbedingt einzig als Liebhaber empfindet. Das Rousseau’sche Naturverständnis antizipierend, ist Bodmers Elise wie später jene Shaws v. a. eine dynamische und eigenwillige Schülerin. Noch vor Rousseaus Pigmalion und des späteren Mister Higgins ist schon Bodmers Pygmalion vor allem Lehrmeister, was in den Naturbeschreibungen als barockem theatrum mundi in den Religionsgesprächen der Zürcher Erzählung offenbar wird. Letztere werden übrigens von Salomon Gessner in seinem idyllischen Heldengedicht Der Tod Abels (1758) parodiert. Auch findet sich eine weitere Emanzipationslinie gegenüber Rousseau: Die vom Künstler zum Leben erweckte Statue wandelt sich vom Ideal ästhetisierter Weiblichkeit hin zu einer lebenslustigen, einer ihr Leben selbst bestimmenden Frau. Die Art, wie Bodmers Pygmalion Elise erweckt und sich um deren Bildung bemüht, illustriert seine Anthropologie der Geschlechter, kombiniert mit einer Erkenntnis- und Wahrnehmungstheorie als Grundlage seiner Ästhetik. Der aufgeklärte Pygmalion befasst sich nicht mehr mit der Bearbeitung von Marmorblöcken, sondern beginnt mit einer Erziehung des Menschengeschlechts, die sich an einer sanften Emanzipation der Geschlechter orientiert. In die Tradition der fingierten Reiseliteratur respektive des parodierten Reiseberichts von Swift und Montesquieu, reiht sich Bodmer mit seiner Inkel und Yariko-Erzählung ein. In der obligaten Schiffbruchgeschichte und dem überlebenden Robinson, der sich auf eine fremde oft noch nicht zivilisierte Inselwelt rettet, wird ein kulturkritischer Perspektivwechsel möglich, der die eigene Kultur nicht nur vor dem Hintergrund des Kolonialismus dank der Außenperspektive als barbarisch erscheinen lässt. Schon in Montesquieus Briefroman Les lettres persanes (1721) schimpfen die Perser Usbek und Rica auf ihrer Europareise von der Türkei über Italien nach Frankreich über die dekadenten Pariser Verhältnisse. Themen wie Religion, Priestertum, Polygamie oder Sklaverei werden hier im Ansatz bereits skizziert, die Montesquieu später in seinem Hauptwerk De l’Esprit des lois (1748), an Montaignes Essays anknüpfend, ausarbeiten sollte.
1044 Heinrich Dörrie: Pygmalion. Ein Impuls Ovids und seine Wirkungen bis in die Gegenwart. Opladen 1974, S. 49.
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Dort im 15. und 16. Buch diskutiert er die hochaktuellen Fragen der Sklaverei und der Polygamie in fast ironisch übertriebenem Ton als Luxusentfaltung und klimaabhängig. Demnach begünstige ein warmes Klima das Halten von mehreren Frauen wie von Sklaven. Diese naturgegebene Ungleichheit beider Geschlechter und der damit einhergehenden Abhängigkeit bzw. Knechtschaft der Frau vom Mann wird mit dem heißen Klima und den davon bedingten geringen Unterhaltskosten für mehrere Frauen oder Sklaven begründet.1045 Montesquieus kurze amalgamierende Problematisierung der Sklaverei geht mit der Thematisierung der Geschlechterdifferenz und den Konditionen der Frau bzw. deren Abhängigkeitsverhältnis zum Mann einher, wie dies in Bodmers Perspektivierung seiner Inkel und Yariko-Dichtung im epischen Hexameter offenbar wird, die unmissverständlich auf Gellert und Steeles Versionen reagiert. Beklagt Urs Bitterli die kaum befriedigenden Problematisierungen der Kolonialpolitik an der „literarischen Heimatfront“, die Swifts Utopie oder Defoes Robinsonade „ins Utopische oder Phantastische“1046 abdrängte, so versucht Bodmer in seiner Inkel und Yariko-Dichtung eine realistische Herangehensweise in der Klage der schwangeren Sklavin, die in doppelter Abhängigkeit vom ehemals Geliebten und wirtschaftlich überlegenen Europäer das Wort erhebt. In dieser Kulturbegegnung setzt die altattische Parabase – bekannt aus dem dramatischen Ressort – in einem kurzepischen Text innovative Akzente. Obschon Bodmers Erzähler Inkel beim letzten Aufeinandertreffen mit Yariko mit einer Statue vergleicht, ist hier kein Antikisieren in der Beschreibung der „edlen Wilden“ wie in anderen Reisebeschreibungen, bspw. von Humboldt oder Bougainville, erkennbar. Vielmehr wird mit einer Spiegelung menschlicher Verhaltensweisen sowie der Umkehr von Machtverhältnissen gearbeitet: Während der schiffbrüchige Inkel im Zustand der Not der Eingeborenen Yariko zum Dank Liebesdienste im höfischen Stil anerbot, drehen sich die Machtverhältnisse zum Ende der Erzählung um. Im einst untergebenen Liebhaber ist der Kaufmannssinn erwacht, der – wieder auf einem Schiff zurück – im angeblich zivilisierten Barbados plant, Mutter und Kind auf dem Sklavenmarkt gewinnbringend zu verkaufen. Der in der Erzählung angelegte szenische Dialog entwickelte sich im abschließenden Monolog der Yariko zu einer aufklärerischen Kolonialismuskritik. Ein Plädoyer für Humanität und Verantwortung gegenüber dem eigenen Nachwuchs sowie der Achtung vor der werdenden Mutter – und dies im Jahre 1756! In der Fortsetzung des Bodmer-Schülers Gessner, dessen Idyllen1047 mit seinen berühmten
1045 Montesquieu: L’Esprit des lois. Paris 1979, Buch 16.3. 1046 Urs Bitterli: Die ‚Wilden‘ und die ‚Zivilisierten‘. München 22004, S. 410. 1047 Denis Diderot, Salomon Gessner: Contes moraux et nouvelles idylles. Lausanne 1773.
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Illustrationen später mit Diderots Erzählungen zweisprachig erschienen sind, muss Inkel auf der Galeere büßen, bevor er reuevoll zu seiner Familie zurück darf, um seine Vaterpflichten wahrzunehmen. Auf Diderots ausdifferenzierte Fortsetzung im Supplément au voyage de Bougainville weist bereits hellhörig und proleptisch Bodmers skizzierte Sozial- und Sittenkritik hin, wenn die menschenunwürdigen Praktiken der von Machtwahn und materialistischer Moral korrumpierten Kolonialmächte in Form einer politisch-didaktischen metatextuellen Parabase in der kulturkritischen Klage der Yariko emphatisch zur Sprache kommen. Demnach können die Frauenfiguren Elisa und Yariko als Variationen weiblicher Emanzipation gelesen werden, die sich in Bodmers Parodien von den aufgedrückten Rollen zu befreien suchen. Zum einen wird die Figuration der Kunstschöpfung in der Statuenbelebung Pygmalions als eine Prosopopöie dekonstruiert. Zum anderen erkämpft sich Yariko ihr Recht auf Meinungsfreiheit, wenn sie ihre Anklage als Opfer des Kolonialismus nicht nur gegenüber Inkel, sondern gegenüber der Menschheit respektive der Leserschaft einfordert. Nach Agambens Parodie-Deutung wird diese Ungerechtigkeit in Form der Aufhebung, Überschreitung oder Vollendung der Parodie – in Form der Parabase – apostrophiert. In den Gesprächen im Elysium und am Acheron erfolgen wie üblich in dieser von Lukian begründeten Gattung hyperbolische Übersteigerungen, wenn hier eine menippeische Respektlosigkeit gegenüber den Helden aus antiker Geschichte und Politik im Spannungsfeld zwischen Pathos und Bathos und zwar in den Tönen des sprachlichen Witzes und der satirischen Schärfe vorherrschen, wenn Merkur mit seinen revidierten Heldenbildern an der Limmat in die Hölle niedersteigt. Die innovativen Fokussierungen französischer oder englischer Toten- und Göttergespräche von Fontenelle, Fénelon und Lyttelton nahm der Zürcher auf, um sie weiter in seinem dialektischen Erziehungskonzept zu konzentrieren, das er mit den modernen politisch-ethischen Ideen von Montaigne, Mably und Rousseau ergänzte. Denn bei seinen ironisch-sokratischen, der Mäeutik verschriebenen Gesprächen, die Beise als Kontrafakturen auffasst,1048 handelt es sich vielmehr um politisch-moralische Lehrstücke. Deren Publikum waren nicht zuletzt Bodmers Studenten des Collegium Carolinum, die pragmatisch anhand der lehrreichen und sokratisch-ironischen Lehrgespräche eine Einführung in die Literaturgeschichte erhielten und nach dem Beispiel Montaignes dazu aufgefor-
1048 Nachwort von Arnd Beise: In: Bodmer. Gespräche im Elysium und am Acheron. Hg. von dems. St. Ingbert 2010, S. 104.
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dert wurden, die Geschichte gegen den Strich zu lesen. Indes könnte man sich diesen Geschichtslehrer als Mitstreiter der Blue-Stocking-Society Elisabeth Montagus vorstellen, denn er äußert sich im Stil der Hetärengespräche erneut als emanzipierter Zeitgenosse, wenn er den von Lyttelton abgelehnten Stolz der Frauen hinter der Maske der berühmten Selbstmörderin Arria im ersten Gespräch wieder einfordert, die ihrem verurteilten Mann beispielhaft und dem Ausspruch „Paetus, es tut nicht weh,“ nach dem gescheiterten Putsch von Claudius vorausging (BG, S. 87). Beliebtes Thema und nicht selten Aufhänger der Gespräche sind die Todesarten antiker Persönlichkeiten, die oftmals erst seit kurzem im Reich der Schatten weilen. Das Cäsar-Attentat wird als Tyrannenmord mit despotischen Spätfolgen von Brutus selbstkritisch analysiert. Neben literarischen Vorbildern aus der Antike wie Homer, Cicero oder Tacitus wird dem Moralisten Montaigne Tribut gezollt. Den alten römischen Herrschern geht es vor dem letzten Gericht an den Kragen, wenn Kooperation, Korruption und Kopulation die Anklagepunkte bestimmen. Die Kriegsverbrechen Cäsars, die politische Gehirnwäsche des nicht ganz redlichen Friedenskaisers Augustus, der übertriebene Patriotismus des problematischen Aristokraten Cato bis hin zu Ciceros Missbrauch von Minderjährigen werden aufs Tapet gebracht. Sodann schimpft Homer über die neuen Lesegewohnheiten, wenn anstatt der Odyssee lieber „weibische Lieder, Tändeleyen, leichtsinnige Scherze“ auf den Nachttischen liegen. Daneben werden Vergils Herrscherlob des Augustus oder die Apotheosen auf seinen Adoptivvater Cäsar bei Horaz kritisiert. Tacitus wird zuletzt als Historienfälscher und „Pasquillant“ gebrandmarkt, der in den Annales die Machenschaften der Römer schönmalte. Dank der neuen Gesamtausgabe Beises, die auch die Politischen Gespräche der Manuskriptfassung der modernen Philosophen Rousseau und Mablys mit dem Grafen Tessin mitberücksichtigt, wird deutlich, dass Bodmer in seinen Gesprächen die berühmte französische Trias, von Fénélon und Fontenelle bekannt, verfolgt. Auf die Gespräche der Alten folgen Dialoge der Alten mit den Modernen und schließlich bleiben diese Modernen unter sich. Die Form des Dialogs eignet sich ferner bestens, die Essenz der jeweiligen politischen Theorien Rousseaus mit jenen Mablys punktuell einander gegenüberzustellen. Die differierenden Auffassungen im Bezug des Souveräns konnten so den Studenten des Carolinum anschaulich vorgeführt werden. Lytteltons Ausweg in Richtung des modernen Individualismus im Sinne des sich entwickelnden angelsächsischen oder amerikanischen Pursuit of happiness verbindet Bodmer mit der alteuropäischen Tugend des „gemeine[n] Beste[n]“, der „Gesetzlichkeit“ sowie der „Freyheit“, dem sich der Einzelne in seinen Ansprüchen dem Souverän unterzuordnen habe. Dieses Argument fand schon in Rousseaus politischer Theorie des Contrat social (1762) Unterstützung. Die durch den
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Souverän gewährte rechtsstaatliche Freiheit darf nicht zugunsten der Bedürfnisse von Ruhe und Sicherheit geopfert werden. Rousseaus kongenialer Akt, der in seinen Schriften verankert ist, gründet auf den gemeinsamen Rechten aller, womit gerade der Souverän an die gleiche Verantwortung wie das Volk gebunden ist, das sich von der Rolle der Untertanen zu jener des Volkes emanzipieren konnte. Dass in Rousseaus Modell alle die Verantwortung tragen, sich für den Weltfrieden einzusetzen, ist ebenfalls eine Idee, die Bodmer für sein Erziehungsprogramm übernimmt. Noch lange vor Schillers dramatischem Gedicht, Don Karlos (1787) evoziert bereits Bodmer die trügerische Ruhe in seinen politischen Totengesprächen als Gefahr für den Staat. Im Kontext von Bodmers Theorie des Politischen Schauspiels1049 sind auch seine Ugolino-Bearbeitungen zu sehen. Wie schon in seinem Polytimet oder dem Odoardo Galotti, seinen beiden anderen Lessingparodien,1050 bot die Darstellung von Grenzsituationen und Todesdarstellungen Anlass zu den Ugolino-Adaptationen. Zum einen kritisiert Bodmer aufgrund seines ästhetischen Verständnisses im Hungerthurm zu Pisa Dantes Ugolino-Episode, die er neu ernsthaft und politisch gewichtet. Die Titelfigur wird vor dem Tod bewahrt, dagegen stirbt der Tyrann. Somit hat Bodmer die Schwerpunkte des Hypotextes, Dantes Höllengesang, verschoben, um seine Kritik am ungerechten geistlichen Herrscher zu unterstreichen, der sein Amt aus Machtgier missbraucht und das Volk unterdrückt. Zum anderen sucht er mit seinem Parterre Gerstenbergs Ugolino zu überbieten und distanziert sich gleichsam von der wilden und wahnhaften Rede aus der bekannten Todesszene. Bodmers innovative Literaturkritik arbeitet in Der Gerechte Momus mit den Techniken der satyra menippea, d. h. einem Wechselspiel von Versformen und Prosa, sowie von satirisch-spöttischen Verzerrungen, parodistischen Elementen und selbstironischen Persiflagen. Neben einer auffallenden Geschlechtermetaphorik setzen die rhetorischen Figuren von Katabasis und Anabasis im Wechsel von Fall und Höhe ironische Kontraste. Auch fehlt hier nicht jene erst für die Frühromantik wieder bedeutsam werdende selbstironische Einsicht des Scheiterns, die der Zürcher Zoilus in seinem allegorischen Kostüm des Momus in seinen
1049 Johann Jakob Bodmer: ,Politisches Schauspiel.‘ In: Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste in einzelnen, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter aufeinanderfolgenden, Artikeln abgehandelt. Mit einer Einleitung von Giorgio Tonelli. 4 Bde. Nachdruck der 2. vermehrten Aufl. Leipzig 1793. Hildesheim 1967, Bd. 3, S. 710–716. 1050 Vgl. Katja Fries: Bodmers Lessingparodien als Literaturkritik. In: Bodmer und Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung. Hg. von Barbara Mahlmann-Bauer und Anett Lütteken. Göttingen 2009, S. 429–458. Dies.: Bodmers Lessingkritik als Literaturparodie. In: Zürcher Taschenbuch 128 (2007), S. 512–525.
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Bogenproben und kongenialen Schusswechseln aus seiner Feder im Wettstreit mit den jüngeren deutschen Kritikerkollegen präsentiert. Mit der partiellen und subjektiven Methode der Jauß’schen Rezeptionsästhetik, die der Literatur eine kommunikative Funktion zuspricht, können die Sitzverhältnisse „auf der Couch“ der etablierten Literaturgeschichte noch immer hinterfragt werden. Für deren kritische Revision und Aktualisierung bedarf es nicht zuletzt historisch-kritischer Editionen dieser heute schwer zugänglichen und vergessenen Texte, wie bspw. von Der Gerechte Momus oder auch Das Parterre in der Tragödie Ugolino (nach 1768), die jene gelebte Literaturkritik bezeugen. Im Rousseau-Pastiche Der Levite von Ephraim arbeitet Bodmer mit Kontrastierungen sowie narrativen Perspektivwechseln und verwendet Prolepsen und Analepsen, die in seiner elegischen Erzählung in rhythmischen Hexametern zu innovativen modernen Brüchen in der von Rousseau noch respektierten Chronologie der zuletzt erzählten Episode aus dem Buch der Richter führen. Dieses Tableau des Schreckens nach dem Logos der felix culpa, dient dazu die Argumentation im Sinne einer natürlich negativen Erziehung, wie sie Rousseau und Bodmer vertreten, zu bestärken. Das Wachrufen der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, begonnen mit der Missachtung des Gastrechts, der versuchten Sodomie am Leviten, der doppelten Opferung der Geliebten in der Misshandlung und im mahnenden Totenakt, dem Genozid und der erneuten Vergewaltigung der Töchter Silos, die schließlich der Regeneration des Stammes dient, entspringt einer polemischen Intention gegen alles, was das Leben zerstört. Bodmers Adaption ist keine getreue Übersetzung von Rousseaus Vorlage, sondern sie nimmt sowohl formale als auch inhaltliche Änderungen, Konzentrationen und Erweiterungen vor und wächst dank den wechselnden Erzählhaltungen fast schon zu einer poetischen Polyphonie. Seine Kompositionstechnik basiert auf einer Mehrstimmigkeit, die mit Kontrapunkten, d. h. mit einer aus dem Barock entlehnten musikalischen Kunst der Gegenstimmen und den Stimmenthaltungen arbeitet. Weiter werden Rousseaus Abstraktionen durch das biblische Vorwissen ergänzt. Und dank der poetischen Sprache des für die Zürcher Bibelepik typischen Hexameters entwickelt sich Bodmers Text zu einem hymnischen Appel an archaische Zeiten, als Rechte und Normen im Begriff waren, sich dank der Entwicklung der Sprache zu konstruieren. Neben der kunstfertigen Ausarbeitung der Sprache zum hymnischen Gesang auf der formalen Ebene des Textes werden unter Berücksichtigung von Rousseaus Sprachtheorie auf der inhaltlichen, die verschiedenen Stationen der Sprachgewinnung über die bewusst stummen und nur in der Gestik gehaltenen Sprechakte erklommen. In dieser konstruierten Hierarchie erhalten die zumeist stimmlosen nonverbalen Sprechakte einen intendierten perlokutiven Effekt, bspw. in der Aufforderung zum Krieg
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oder jener Axas zur Regeneration der Benjamiter. Diese verwirklicht sich wie in den Vorlagen aufgrund eines Dispositivs der Opferung und Aufopferung: Um die Heiligkeit seiner Person zu beschirmen, opfert der Levite seine Geliebte, und zum Schutz Israels entschließen sich erst die Männer zum Krieg, worauf sich Axa mit ihren Gefährtinnen den Benjamitern hingeben muss, um die Wiederbelebung des Stammes zu gewährleisten. Die schon bei Rousseau betonte Sprachlosigkeit bei der Zerstückelung der Toten in zwölf Teile umschreibt metaphorisch und metonymisch als pars pro toto den disparaten Zustand des sozialen Körpers. Dieser perlokutive Akt wird dann von Bodmer weiter zu einem archaischen Totenkult entwickelt, der den Beginn einer Kulthandlung formuliert und die Tote zu einem Totem stilisiert, so dass sich die Gesellschaft der Benjamiter aufgrund des gemeinsamen Tabus neu formieren kann. Die alttestamentarische Geschichte über den Leviten von Ephraïm erhebt das Gastrecht zum Thema, das hier und in den folgenden Adaptionen bei Rousseau und Bodmer im stummen Tod der Geliebten auf der Türschwelle eingeklagt wird. Die kausalen Verbindungen zwischen der ersten Kollektivvergewaltigung und der aggressiven Reaktion der Rache beruhen auf einer psychologischen Verkettung der Handlungselemente, die im Heilmittel des Übels im Übel, der felix culpa, die Ordnung wiederherstellen. Mit der glücklichen Schuld wird an die Interpretation von Augustinus und Leibniz’ Théodicée erinnert, die Genesis 3, Evas Sündenfall, als bonum malum deuten, dank der Gott als Erlöser in die Welt trat.1051 Im Kontext der Emanzipationsphilosophie wird die felix-culpa-Figur übersteigert und nach Kant findet der Mensch zu sich selbst und zu seiner Vernunft. Daneben fungiert Genesis 3 als Beispiel für die Emanzipation des Mannes durch die Frau. Bei Schiller wird der Mensch dank des Sündenfalls zum Schöpfer seiner Glückseligkeit, so dass die felix culpa kaum noch culpa, sondern nur noch felix ist. Auf diesem kausalen Gesellschaftsprinzip des bonum malum basieren die Kulturtheorien von Mandeville und Rousseau. Bodmers Rousseau-Pastiche hat zudem eine Stilisierung der Vaterrolle vorgenommen: Als pater familias und Vater des Volkes befiehlt der Patriarch seiner Tochter in der Sprache des autoritären Blickes ihre Liebe für die Regeneration der Benjamiter zu opfern. Neben der Berücksichtigung der Rolle der Väter kommt jene der Mütter zum Tragen, die neben den lauthals protestierenden Vätern stumm für die freie Wahl in der Liebe demonstrieren. In einem anderen Sinn findet sich hier eine Nähe zu Rousseau, der die Wahrheit der Natur als eine große
1051 Vgl. Odo Marquard: Felix Culpa? – Bemerkungen zu einem Applikationsschicksal von Genesis 3. In: Poetik und Hermeneutik 9 (1981), S. 53–72, hier S. 56.
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Figuration eines weiblichen Prinzips sah.1052 Der in der Forschung häufig beschriebene Muttermord als auslösender Indikator für den Schriftsteller Rousseau entwickelt sich in diesem Text weiter zu einem die Gesellschaft gründenden Leitmotiv basierend auf dem Matriarchat, das metonymisch durch die mütterliche Selbstaufopferung schon in Rousseaus Lévite bestärkt wird, wie dies Susan K. Jackson zeigte.1053 Bei Bodmer kündet das die Gesellschaft einende weibliche Totem der zerstückelten Frau sowie die auf das Recht der freien Liebe pochenden Mütter der Jungfrauen Silos vom alten Matriarchat. Dieses emanzipierte Statement, das sich schon bei den stumm protestierenden Müttern bei Rousseau findet, ist signifikant für den Aufklärer Bodmer, einen frühen Frauenrechtler avant la lettre, der die Konnotation des Mutterrechts weiter ausbaut, wenn er sagt: „Unter den Männern zu wählen soll’ jede die Freyheit haben.“ So erhalten die Frauen zumindest ihr Wahlrecht – wenn auch noch nicht in der Politik – so doch in der Liebe. Nach Freuds Kulturtheorie Totem und Tabu ist mit der geschändeten und zerstückelten Frau ein die Gesellschaft einendes Totem geschaffen. Gemäß René Girard (La violence et le sacré) muss das geschändete weibliche Totem zudem auch nicht mehr Jungfrau sein. Ferner versucht Bodmers Adaption einen Brückenschlag gemäß Schillers Dichotomie von der naiven zur sentimentalischen Dichtung zu ziehen. Schillers Argument, der Bodmer der Patriarchaden sei noch zu den Alten bzw. laut seiner Terminologie zu den naiven Dichtern zu zählen, kann für den Dichter des späten 18. Jahrhunderts revidiert werden. Denn Bodmer war ebenso ein Dichter der „energischen Bewegung“ und gehört aufgrund seiner Übertragung von Rousseaus Lévite ebenfalls zu den Dichtern der Empfindsamkeit. Zudem ist mit der felix culpa die nach Schiller sentimentalische Tendenz schon skizziert, da sich „das sentimentalische aus sich selbst nährt und reinigt“.1054 Entgegen Schillers Beurteilung von Bodmer als Verfechter des Naiven in seinem literaturkritischen Essay versucht sich dieser mit dem Levite von Ephraïm in einem künstlich konstruierten, selbst die Sprachgrenzen transgressiv überschreitenden Konkurrenzverhalten als sentimentalischer Dichter, der nach den Satiren wieder zum „ernsthaften Werke“ findet. Bodmers Übertragung geht ferner über das einfache Pastiche der pastoralen Idylle Rousseaus in einem doppelten
1052 François van Laere: Jean-Jacques Rousseau. Du phantasme à l’écriture. Les révélations du Lévite d’Éphraïm. Brüssel 1967, S. 23. 1053 Vgl. hierzu Susan K. Jackson: Rousseau’s Occasional Autobiographies. Colombus, Ohio 1992, hier Kap. V: Ultimate Sacrifices: Le Lévite d’Éphraïm, S. 187–229, hier S. 189. 1054 Friedrich Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung. In: Ders.: Sämtliche Werke. 2004, Bd. 5, S. 754.
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Dispositiv hinaus: Neben der Arbeit an einer elegischen Sprache im Formalen werden hier die Grundwerte einer die Gemeinschaft einenden auf dem Naturrecht basierenden politischen Theorie postuliert, der Rousseau wie Bodmer als Erben des modernen Schweizer Republikanismus und unter Neubelebung naiv-archaischer Redeformen gleichermaßen verbunden sind. Exemplarisch verdeutlichen diese Textanalysen Bodmers Arbeitsweise, der sich in seiner poetischen Literaturkritiken immer an antiken sowie zeitgenössischen englischen und französischen Vorbildern orientierte, um daran anknüpfend seine eigenen poetischen Ansätze zu entwickeln und durchzusetzen. Der ‚Sonderfall Schweiz‘ der Kritik der sich bereits in den beiden Gottsched-Polemiken filigran als Argument zur Verteidigung des biblischen Epos und der Zürcher Literaturkritik abzeichnete, ist in allen poetischen Palimpsesten erkennbar. Bodmers literaturkritische Attacken verfolgten jeweils einen dialektischen Zweck: Seine literaturästhetischen Kritikpunkte sind im Zusammenhang mit der zeitgenössischen politischen und gesellschaftlichen Realität zu lesen, was ein Novum in der Literaturkritik und der ästhetischen Geschmacksdebatte im 18. Jahrhundert darstellt und sich hiermit als Bodmers dialektischer Kritikbegriff kristallisiert. Laut Jean Starobinskis Theorie werden dergestalt Relationen der Kritik, d. h. Wechselbeziehungen und Bewegungen in der Dichtung sichtbar. Dass Textkritik und Literaturkritik im 18. Jahrhundert noch eng miteinander verwandt sind, ist beim Literaturvermittler Bodmer augenfällig, der neben seiner Tätigkeit als Herausgeber und Übersetzer seine zeitgenössischen Kritiken in poetische Palimpseste goß, die nach Hans Robert Jauß von einem kommunikativen Prozess der Literatur zeugen: „L’art littéraire est un art de communication.“1055 Demnach ist es notwendig, die etablierte Literaturgeschichte kritisch zu überdenken und ständig die dialektische Rezeption der Werke zu aktualisieren, so dass die Vergangenheit ewig jung bleibt, wie dies Jauß in einem zirkulären Geschichtsverständnis weiter vorschlägt: Réactualiser une œuvre en renouvelant sa réception, cela présuppose que l’on étudie le rapport dialectique entre l’œuvre reçue et la conscience réceptrice – étude qui sera nécessairement sélective et abrégée mais qui de cette nécessité même tire la vertu de pouvoir rendre au passé vie et jeunesse.1056
Wie ich zu zeigen versuchte, haben Bodmers poetische Palimpseste ein kritisches Potential, das exemplarisch die Bewegungen der Dichtung und deren Wechselbe-
1055 In: Hans Robert Jauss: De l’Iphigénie de Racine à celle de Goethe, Postface. In: Ders.: Pour une esthetique de la réception. Paris 1978, S. 243–263, hier S. 262. 1056 Ebd., S. 254.
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ziehungen in den Parametern von Aktion und Reaktion umreißt. Starobinskis Kritikbegriff beschreibt nicht nur das ganze System der Kritik als lebendigen Körper, sondern berücksichtigt die Entwicklung des einzelnen Autors, der vom Leser über die Arbeit des Übersetzers und Kritikers zur eigenen Autorschaft wächst. Bodmers pragmatisches Verfahren gelebter Streitkultur im 18. Jahrhundert kann ferner als spezifische Form einer agonalen Kommunikation unter Gelehrten gelten, die sich in ihren literarischen Texten imaginäre Plattformen der Kritik, d. h. gemäß des hier ebenfalls attackierten Herder, „in der Kunst der Beurtheilung“1057 schufen, um die potentiellen Gegner auf dem Spielfeld der Satire, der Parodie, der ironischen Selbstpersiflage und nicht zuletzt mittels den spitzen Pfeilen der Personalsatire kongenial auszustechen. Schon Starobinski schreibt in La relation critique1058 der Katabasis des Theatergottes die Initialzündung für jenes die Sprachen und Kulturen übergreifende Unternehmen der Literaturkritik zu. Wie sich einst in den Fröschen des Aristophanes Dionysos nach Euripides sehnte und in die Unterwelt fuhr, um diesen zum Wettstreit mit Aischylos, dem Dichter der Orestie einzuladen, so verschrieben sich Pope, Bodmer, Palissot, Diderot und mit ihnen andere der Aufforderung, damit die Streitkultur im Dialog mit den Alten und Neuen niemals ruhe. Denn es bedarf noch immer – frei nach Liscow – der Vortrefflichkeit und Nohtwendigkeit elender Scribenten: D IONYS IONY SOS OS : Mit solcher Sehnsucht schnapp’ ich jetzo nach Euripides. H ERAKLE ERAKL ES S : Nach ihm? Der ist ja tot! D IONYS IONY SOS OS : Ich muß zu ihm, das redet mir kein Mensch auf Erden aus! H ERAKLE ERAKL ES S : Hinunter in den Hades? D IONYS IONY SOS OS : Beim Zeus, und wenn es sein muß, auch noch tiefer! H ERAKLE ERAKL ES S : Was suchst du drunten? 1059 D IONYS IONY SOS OS : Einen guten Dichter; „Tot sind die Besten; die da leben, schlecht!“
1057 Johann Gottfried Herder: Bemühungen des vergangenen Jahrhunderts in der Kritik. Was man ehedessen unter Kritik verstand. In: Ders.: Adrastea. Bd. V, 1. Stück. Leipzig 1803, S. 21. 1058 Jean Starobinski: La relation critique. Paris 2001, S. 20–22. 1059 Aristophanes: Die Frösche. (1.1.) http://gutenberg.spiegel.de/buch/1346/2
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