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German Pages 297 Year 2009
Schriften zur Literaturwissenschaft Band 32
Schöne Lüge und verhüllte Wahrheit Theologische und poetische Allegorie in mittelalterlichen Dichtungen
Von Gisela Seitschek
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
GISELA SEITSCHEK
Schöne Lüge und verhüllte Wahrheit
Schriften zur Literaturwissenschaft Im Auftrag der Görres-Gesellschaft herausgegeben von Bernd Engler, Volker Kapp, Helmuth Kiesel, Günter Niggl
Band 32
Schöne Lüge und verhüllte Wahrheit Theologische und poetische Allegorie in mittelalterlichen Dichtungen
Von Gisela Seitschek
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Die Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München hat diese Arbeit im Jahre 2007 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten # 2009 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-6720 ISBN 978-3-428-12818-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Meinem Vater Roland Baumgartner 20. Dezember 1938 – 6. Februar 1998
Initium sapientiae timor Domini (Ps. 110, 10)
Vorwort Vorliegende Studie über allegorische Konzepte in großen Dichtungen des europäischen Mittelalters wurde im Sommersemester 2007 an der Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität in München als Dissertation angenommen. Mein Dank gilt insbesondere Herrn Prof. Dr. Bernhard Teuber für die Anregung, Betreuung und kontinuierliche Unterstützung meiner Promotion. Ihm verdanke ich auch die Hinführung zur allegorischen Literatur des Mittelalters. Für wertvolle Hinweise und Auskünfte danke ich ferner Prof. Dr. Thomas Ricklin, der sich bereit erklärt hat, das Zweitgutachten zu übernehmen. Weitere Impulse und Förderung erhielt ich durch die Herren Prof. Dr. Wilfried Stroh, Prof. Dr. Dieter Bremer und besonders durch Prof. Dr. Ernst Vogt. Darüber hinaus gewann ich in zahlreichen Seminaren mannigfache Anregungen und sachdienliche Informationen zu meinem Themengebiet. Ausdrücklich erwähnt sei das anglistisch-romanistische Hauptseminar „Chaucers romanische Vorbilder“, das im Wintersemester 2003/04 unter der Leitung von Prof. Dr. Hans Sauer und Prof. Dr. Bernhard Teuber an der LMU stattfand, sowie das germanistisch-romanistische Hauptseminar „Wissen und/oder Verkörperung – Alanus-Rezeption im altfranzösischen Rosenroman und in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters“, das im Sommersemester 2004 ebenfalls an der LMU von Prof. Dr. Michael Stolz und Prof. Dr. Bernhard Teuber geleitet wurde. Den Dozenten und Teilnehmern dieser beiden Seminare sei an dieser Stelle für ihre Mithilfe und ihr Mitdenken gedankt, insbesondere Herrn Prof. Dr. Michael Stolz, der mir wertvolle Materialien und Quellen zur Verfügung gestellt hat. Akademisch gewinnbringend und inspirierend war für mich überdies das internationale Blockseminar „Dantes ,Göttliche Komödie‘ – eine religiöse Kosmologie in Versen?“, das im Februar 2007 unter der Leitung von Prof. Dr. Barbara Vinken, PhD, Prof. Dr. Rémi Brague sowie Dr. Hans Otto Seitschek an der LMU stattfand. Dort hatte ich die Möglichkeit, einige meiner Überlegungen vorzutragen. Der Görres-Gesellschaft, namentlich Herrn Präsidenten Prof. Dr. Wolfgang Bergsdorf und Herrn Prof. Dr. Volker Kapp, danke ich für die Aufnahme meiner Dissertation in die von der Görres-Gesellschaft herausgegebene Reihe „Schriften zur Literaturwissenschaft“ und das Gewähren eines großzügigen Druckkostenzuschusses. Besonders danke ich meiner Familie, in erster Linie meinen Eltern Roland und Erika Baumgartner, geb. Hühne, die mir mein Studium ermöglicht und in
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Vorwort
mir schon früh die Liebe zur italienischen Sprache und Literatur geweckt haben. Mein Mann, Dr. Hans Otto Seitschek, hat mich während der ganzen Zeit meiner Promotion mit großem Verständnis, moralischer Unterstützung und praktischen Hinweisen begleitet. Von Herzen danke ich ihm nicht nur für seine Geduld, sondern auch für das fach- und sachkundige Lektorieren meiner Arbeit sowie für seine Hilfe beim Erstellen der Register. Meine Mutter Erika gehört ebenso zu den ersten Lesern meiner Dissertation. Danken möchte ich nicht zuletzt meiner Schwiegermutter Edith Seitschek für ihre Ausdauer bei der Betreuung unseres Sohnes Raphael während meiner Arbeitszeit. Unterstützt wurde sie hierbei von meiner Mutter sowie von meinen Schwestern Antonia und Ursula, bisweilen auch von Nina Kermelk. Ohne diese liebevolle Hilfe meiner Familie wäre vorliegende Arbeit sicher nicht möglich gewesen! München, im März 2008
Gisela Seitschek
Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I.
Theorien der Allegorie vom Hl. Augustinus bis Dante . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allegoria in verbis und allegoria in facto . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Von der zweifachen Allegorie zum vierfachen Schriftsinn . . . . . . . . . . . . . 3. Die Schriftexegese des Hl. Thomas von Aquin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Theorie Dantes: allegoria dei poeti und allegoria dei teologi . . . . . . a) Das Convivio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Schreiben an Cangrande della Scala . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17 17 22 27 30 30 34 37
II.
Die Entwicklung der allegorischen Literatur von der Spätantike bis ins Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Spätantike: Prudentius, Martianus Capella, Claudianus, Boethius . . . . . . a) Aurelius Prudentius Clemens, Psychomachia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Claudius Claudianus, In Rufinum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Martianus Capella, De nuptiis Mercurii et Philologiae . . . . . . . . . . . . . d) Anicius Manlius Severinus Boethius, De consolatione philosophiae . . 2. Lateinisches Mittelalter: Bernardus Silvestris, Johannes de Altavilla . . . . a) Bernardus Silvestris, De mundi universitate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Johannes de Altavilla, Architrenius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Weiterentwicklung des Genres in der Volkssprache: Themen und Gattungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Dit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Physiologus als Vorbild für die volkssprachlichen Bestiaires . . . . c) Visionsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Minneallegorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
III.
Die poetische Allegorie in christlich-platonischem Kontext: Alanus ab Insulis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. De Planctu Naturae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anticlaudianus de Antirufino . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Inhaltsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Allegorische Wissensvermittlung und Aufstieg zur Erkenntnis . . . . . . aa) Allegorische Wissensvermittlung – die Darstellung der Artes . . . bb) Aufstieg zur Erkenntnis – die Himmelsreise der Prudencia . . . . . c) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
41 41 42 43 44 45 49 51 52 53 55 56 56 58 60 61 70 71 74 75 80 82
10
Inhaltsverzeichnis
IV.
Allegoria dei poeti bzw. profane Allegorie: Der Roman de la Rose . . . . . 85 1. Der erste Teil des Roman de la Rose von Guillaume de Lorris . . . . . . . . 86 a) Inhaltsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 b) Inwiefern ist der Roman de la Rose I eine allegoria dei poeti? . . . . . 88 2. Der zweite Teil des Roman de la Rose von Jean de Meun: Entfernung von der Allegorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
V.
Dante und die allegoria dei poeti: Zwei italienische Bearbeitungen des Rosenromans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Il Fiore . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zur Geschichte des Manuskripts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Das Problem der Autorschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die Allegorien des Fiore . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Il Detto d’Amore . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Frage der Autorschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Inhalt und Aufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Das allegorische Schema des Detto d’Amore . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
111 111 111 114 116 122 134 134 135 140
Vita Nova – auf dem Weg zur Resakralisierung der Allegorie . . . . . . . . . 1. Il libro della memoria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. „Il Libro del Nove“ – die Struktur der Vita Nova . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ecce Deus fortior me – die Darstellung Amors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die „Besitzergreifung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Una maravigliosa visione – die erste Erscheinung . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zwei weitere Erscheinungen Amors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Beatrice – Amore . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Beatrice – beatrice . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Beatrice – miracolo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Beatrice beata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Tod Beatrices . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Todesvision Dantes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Demut und Todessehnsucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Il „numero amico“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Trauer und Transzendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Quella benedecta Beatrice – der Blick in die Ewigkeit . . . . . . . . . . . . . . .
143 143 146 149 149 151 156 160 165 167 174 174 176 179 181 183 191
VII. (Re-)Sakralisierung der Allegorie: Die Divina Commedia . . . . . . . . . . . . . . 1. Aufbau und Rituale der Divina Commedia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Historizität bzw. der sensus litteralis der Divina Commedia . . . . . . . . . . . a) Inferno . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
194 194 198 198
VI.
Inhaltsverzeichnis aa) Die ewigen Höllenstrafen – contrappasso unter der Aufsicht mythologischer Gestalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Zwischenbilanz: Das „Personal“ des Inferno und Dantes allegorisches Verfahren der „fiktiven Historizität“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Purgatorio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Aufstieg und Bußrituale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Der allegorische Gehalt des Purgatorio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die Engel als „allegorisches Personal“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Die Aufwärtsbewegung zu Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Paradiso . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Licht und Seligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Das allegorische System des Paradiso . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zusammenfassung: „Fiktive Historizität“ oder das allegorische System der Divina Commedia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Begegnungen mit historischen Persönlichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Symbolik der Rose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11 198 207 209 209 229 229 231 232 232 243 244 244 249
VIII. Exkurs: „Re-Profanierung“ der allegoria dei teologi – Chaucers House of Fame . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachschlagewerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
265 265 265 272
Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 Sachwortregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290
una veritade ascosa sotto bella menzogna (Dante, Convivio II, 1, 3)
Einleitung Schwierige Sachverhalte durch Bilder zu verdeutlichen und zu konkretisieren, war seit frühester Zeit ein menschliches Bedürfnis. Gerade im Mittelalter neigte man dazu, Wissen zu „verkörpern“, indem man abstracta wie etwa bestimmten Tugenden oder den sieben Freien Künsten menschliche Gestalt verlieh, sie in Personifikationen „einkleidete“ und mit Attributen versah, um ihre Identität zu verdeutlichen. Heute noch legen davon die Kunstdenkmäler des Mittelalters Zeugnis ab, etwa die Kathedralen von Chartres, Laon oder Notre-Dame in Paris.1 Doch lag dieses Verfahren nicht nur der bildenden Kunst zugrunde, sondern vor allem auch der Literatur. Der Begriff der Allegorie2 stammt ursprünglich aus der Rhetorik und wird von den antiken Autoren in das Gebiet der Tropen und Redefiguren eingereiht und als „anderer“, d. h. meist bildlicher Ausdruck etwa für einen abstrakten Begriff verstanden. Die alten Römer – und auch schon die Griechen – nahmen Allegorien und Personifikationen sogar in ihre Religion auf und vergöttlichten, d. h. personifzierten nicht nur Gemütszustände, etwa Amor, sondern auch abstrakte Wertbegriffe wie Fides, Concordia, Mens, Victoria, Fortuna, Salus, Pietas, Pax3 und später sogar die Idee ihrer Hauptstadt als Dea Roma.4 Andererseits lag es auch nahe, komplizierte Texte nicht nur wörtlich, sondern auch nach einer übertragenen Bedeutung auszulegen. So wurden bereits Homer und Hesiod allegorisch gedeutet5, später auch Vergil. Seit der Väterzeit wurde
1 Cf. E. R. Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern/München [1948] 91978, S. 49. 2 Das Wort kommt aus dem Griechischen, von ållon „anders“ und ågoreýw „sagen“, „sprechen“; die wörtliche Übersetzung würde also „Anderssagung“ lauten. 3 C. S. Lewis, The Allegory of Love, Oxford 1936, Nachdr. 1971, S. 48 f. Cf. auch K. Reinhardt, Personifikation und Allegorie, in: ders., Vermächtnis der Antike, Göttingen 21966, S. 7–40, hier S. 7. 4 So der Venus- und Roma-Tempel am Forum Romanum (zwischen Kolosseum und der Kirche S. Francesca Romana). 5 J. Pépin, Mythe et Allégorie. Les origines greques et les contestations judéo-chrétiennes, Paris 21976, S. 487.
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Einleitung
im Christentum die Interpretation der Hl. Schrift auf mehreren Sinnebenen praktiziert. Die allegorische Literatur des Mittelalters speist sich demnach aus zwei Quellen: zum einen aus der genannten Bibelexegese nach dem drei- oder vierfachen Schriftsinn; zum anderen greift sie zurück auf literarische Werke der ausgehenden Antike, in denen die Personifikationsallegorie eine zentrale Rolle spielt. Am Beginn dieser Tradition steht Prudentius mit seiner Psychomachia. Im zweiten Traktat seines Convivio nimmt Dante Alighieri selbst eine Unterscheidung von profaner und religiöser Allegorie vor: Veramente li teologi questo senso prendono altrimenti che li poeti.6 Den allegorischen Sinn der Dichter bezeichnet er als una veritade ascosa sotto bella menzogna7, denjenigen der Theologen stellt er in den Kontext der vierfachen Bibelauslegung. Für diese beiden Konzepte wurden in der Folge die Begriffe allegoria dei poeti und allegoria dei teologi geprägt, auch wenn sie bei Dante wortwörtlich nicht vorkommen, und von der Forschung übernommen, entsprechen sie doch in etwa der bereits auf Augustinus und Beda Venerabilis zurückgehenden Unterscheidung in allegoria in verbis und allegoria in facto.8 Dies sind die theoretischen Grundlagen, auf denen die vorliegende Untersuchung basiert, und in deren Kontext die großen allegorischen Dichtungen vom ausgehenden 12. bis ins 14. Jahrhundert anzusiedeln sind: Alanus ab Insulis mit seinem Prosimetrum De Planctu Naturae sowie dem Epos Anticlaudianus, die beiden Teile des Roman de la Rose von Guillaume de Lorris und Jean de Meun und schließlich Dante Alighieri selbst bis hin zu seiner Divina Commedia. Die Verbindungslinien zwischen den beiden Werken des Alanus ab Insulis, Anticlaudianus sowie De Planctu Naturae, zum Rosenroman von Guillaume de Lorris und Jean de Meun wurden von der Forschung bereits hinlänglich aufgearbeitet, wobei vor allem Gewicht auf die Einflüsse des Prosimetrums De Planctu Naturae auf den zweiten Teil des Roman de la Rose gelegt wurde. Weniger berücksichtigt wurde dagegen die Kontinuität der Verwendung allegorischer Schemata bis hin zu Dante Alighieri und die Frage, inwieweit dieser auf bereits bestehende Formen, konkreter auf seine Vorgänger Alanus ab Insulis, Guillaume de Lorris bzw. Jean de Meun zurückgegriffen hat. Auch der große italienische Dichter arbeitet in seinem Frühwerk Vita Nova zunächst noch mit der von ihm als allegoria dei poeti bezeichneten Schreibweise. Im Verlauf des Werkes distanziert er sich jedoch zunehmend von dieser und bewegt sich mehr und mehr auf die „theologische“ Allegorie zu, welche seinem Hauptwerk, der Divina Commedia, zugrunde liegt. Denn hier, im poema sacro, transformiert
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Conv. II, i, 7. Conv. II, i, 3. 8 B. Teuber, Sacrificium litterae. Allegorische Rede und mystische Erfahrung in der Dichtung des heiligen Johannes vom Kreuz, München 2003, S. 47–53, v. a. S. 52. 7
Einleitung
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er nun endgültig das „herkömmliche“ Verfahren seiner Vorgänger, indem er die allgemeingültige, abstrakte Allegorie aus ihrer Jederzeitlichkeit in einen konkreten historischen Kontext überführt. Statt der „bella menzogna“ der Dichter soll dem Text nun ein wahrer sensus litteralis im Sinne der vierfachen Schriftexegese zugrunde gelegt werden, wie Dante selbst im Begleitschreiben an Cangrande della Scala und ansatzweise schon im Convivio formuliert9. Damit nähert sich das Verfahren Dantes an die Typologie der Schrift an, wodurch sich in seinem Werk eine klare Retheologisierung ergibt. Wenn sich auch keine direkte Verbindungslinie zwischen den einzelnen Autoren (Alanus, Guillaume/Jean, Dante) etablieren läßt, ist dennoch eine gewisse Kontinuität, vor allem in motivgeschichtlicher Hinsicht, erkennbar. Unbestreitbar ist die Tatsache, daß Guillaume de Lorris und Jean de Meun bei der Gestaltung des Rosenromans auf die Werke des Alanus zurückgegriffen haben. Ebenso sicher ist wohl, daß Dante die Werke seiner Vorgänger, allen voran den Rosenroman, gekannt haben muß – auch wenn womöglich niemals der sichere Beweis erbracht werden kann, daß die beiden italienischen Fassungen desselben, Il Fiore und Il Detto d’Amore, aus seiner Feder stammen. Aus diesen Gedanken heraus ergibt sich die These, die der vorliegenden Untersuchung zugrunde liegt: Dante hat die genannten allegorischen Dichtungen nicht nur gelesen, sondern auch mit ihnen gearbeitet, indem er die profanen Allegorien seiner Vorgänger bewußt „resakralisiert“, d. h. in den religiösen Kontext zurückgeführt hat, aus dem sie ursprünglich stammten. Das Anliegen dieser Studie ist damit ein zweifaches, wobei die beiden Schwerpunkte inhaltlich je etwa eine Hälfte einnehmen: 1. Zum einen soll ein Überblick über die Kontinuität und die Transformation allegorischer Schreibweisen in herausragenden mittellateinischen, französischen und italienschen Werken vom ausgehenden 12. bis ins 14. Jahrhundert gegeben werden. Hauptaugenmerk wird dabei bewußt auf die Primärtexte gelegt, da die Einbeziehung mittelalterlicher Kommentartraditionen – für Alanus ab Insulis bedeutete dies etwa den Kommentar von Radulphus de Longo Campo, für Dante die Kommentare seiner eigenen Söhne sowie Boccaccios – sich zu weit vom Thema entfernen und damit den Rahmen einer Dissertation sprengen würde.10 Inhaltlich nimmt dieser Schwerpunkt in etwa die erste Hälfte der Arbeit ein (Kap. I–V). 9
Conv. II, i. Radulphus de Longo Campo, In Anticlaudianum Alani commentum, hrsg. v. J. Sulowski, Wroclaw/Warschau 1972, P. Allegherii super Dantis ipsius genitoris Comoediam Commentarium, hrsg. v. R. della Vedova/M. T. Silvolti, Florenz 1978, J. Alighieri, Chiose alla Cantica dell’Inferno di Dante Alighieri, hrsg. v. G. Piccini, Florenz 1915, G. Boccaccio, Esposizioni sopra la Comedia di Dante, hrsg. v. G. Padoan, in: Tutte le opere di G. Boccaccio, vol. VI, Mailand 1965. 10
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Einleitung
2. Das zweite Anliegen geht Hand in Hand mit der oben formulierten Grundthese: Die Werke Dantes, in erster Linie die Vita Nova und die Divina Commedia, sollen zwar nicht als récriture des Roman de la Rose oder des Anticlaudianus im Sinne Genettes11 gelesen werden, aber es soll gezeigt werden, wie das Werk Dantes – vor allem die Commedia – gleichsam als eine Art Kulminationspunkt der langen, reichhaltigen allegorischen Tradition vorhandene Schemata aufnimmt und überhöht (Kap. VI–VIII).
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G. Genette, Palimpsestes. La littérature au second degré, Paris 21987, S. 7–9.
I. Theorien der Allegorie vom Hl. Augustinus bis Dante 1. Allegoria in verbis und allegoria in facto Nach der klassischen Rhetorik gehört die Allegorie zu den Tropen oder Redefiguren wie auch die Metapher oder das Paradoxon, die alle der bildlichen Konkretisierung eines abstrakten Sachverhaltes dienen. „Eingekleidet“ wird dabei zumeist eine allgemein gültige Wahrheit in eine poetische Fiktion.1 Da eine solche sprachliche Verhüllung nicht immer leicht zu dekodieren ist, spricht man in der antiken Dichtungslehre von obscuritas. Diese trägt als Element des ornatus, des Redeschmucks, zu einem hohen, kunstvollen Stil bei. Hierbei sind zwei Aspekte von besonderer Wichtigkeit. Zum einen handelt es sich um die „Verbindung von Dunkelheit und hoher Form“2: Das bildhafte Sprechen wird als Mittel gesehen, einen erhabenen Gegenstand mithilfe eines adäquaten Stilniveaus auszudrücken.3 Der andere Gesichtspunkt betrifft die Rezeption: Die obscuritas des Ausdrucks soll den Intellekt des Rezipienten zur Deutung anstacheln, ihn gewissermaßen zum Nachdenken anregen.4 Diese beiden rhetorischen Prinzipien der Antike wirkten bis ins Mittelalter fort, wobei besonders der Gedanke der sprachlichen Verhüllung sowohl in poetischen Texten als auch in der Hl. Schrift in den Vordergund trat.5 Vor allem der 1
Cf. Teuber, Sacrificium litterae, S. 26–28. W. Haug, Göttliches Geheimnis und dunkler Stil, in: ders., Die Wahrheit der Fiktion. Studien zur weltlichen und geistlichen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Tübingen 2003, S. 413–425, hier S. 415. 3 Cf. M. Fuhrmann, Obscuritas. Das Problem der Dunkelheit in der rhetorischen und literarästhetischen Theorie der Antike, in: W. Iser (Hrsg.), Immanente Ästhetik, ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne. Kolloquium Köln 1964, München 1966, S. 47–72, vor allem S. 62 f. Siehe auch H. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, München 31990, §§ 895–901, S. 441–446. 4 Marie de France formuliert diesen Gedanken explizit im Prolog zu ihren Lais, weitet ihn allerdings noch aus, indem sie die obscuritas der Alten nicht nur als Denkanstoß, sondern sogar als Aufforderung zur dichterischen Neugestaltung bezeichnet: Assez oscurement diseient / Pur ceus ki a venir esteient / E ki aprendre les deveient / K’i peüssent gloser la lettre / E de leur sen le surplus mettre. (M. de France, Prolog, V. 12–16, in: Les Lais de Marie de France publiés par J. Rychner, Paris 1966, S. 1). Cf. W. Haug, Gloser la lettre oder Marie de France, die Liebe und die Allegorie, in: ders., Die Wahrheit der Fiktion. Studien zur weltlichen und geistlichen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Tübingen 2003, S. 187–204. 5 Cf. auch H. Brinkmann, Mittelalterliche Hermeneutik, Tübingen 1980, S. 214– 219. 2
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I. Theorien der Allegorie vom Hl. Augustinus bis Dante
Hl. Augustinus leistete dazu einen wichtigen Beitrag, indem er einerseits den obscuritas-Begriff in Verbindung zu seiner Zeichentheorie brachte6, zum anderen die „rhetorische“ Allegorie von der allegorisch-typologischen Bibelexegese schied, wie wir sogleich sehen werden. Kehren wir jedoch zunächst noch einmal zur klassischen Rhetorik zurück. Bereits Cicero reiht die Allegorie in das Gebiet der Metaphern (translationes) ein. Im Orator wird der Begriff allegoria explizit genannt: Iam cum fluxerunt continuae plures translationes, alia fit plane oratio; itaque hoc genus Graeci appellant allegoriam7, während er in De oratore lediglich umschrieben wird: nam illud, quod ex hoc genere profluit, non est in uno verbo translato, sed ex pluribus continuatis conectitur, ut aliud dicatur, aliud intelligendum sit8. In demselben Werk werden auch erstmals die Begriffe involucrum und integumentum erwähnt9, die schon bei den Kirchenvätern, vor allem aber ab dem 12. Jahrhundert als wichtige termini technici in die Literatur eingingen und uns im folgenden noch beschäftigen werden.10 An diese Begriffsbestimmungen Ciceros schließt sich Quintilian an.11 Er übersetzt „Allegorie“ (llhgorßa) ins Lateinische mit „inversio“ (Umkehrung) und definiert sie folgendermaßen (Instit. orat. VIII, 6, 44)12: [. . .] allegoria, quam inversionem interpretantur, aut aliud verbis aliud sensu ostendit, aut etiam interim contrarium. prius fit genus plerumque continuatis translationibus [. . .].
Die spätantiken Autoren übernehmen größtenteils die Definition Quintilians, so z. B. Donat: Allegoria est tropus quo aliud significatur quam dicitur13 und geben sie an ihre mittelalterlichen Nachfolger weiter.14 Alle diese Erläuterun6
Haug, Göttliches Geheimnis und dunkler Stil, S. 417. Orator XXIV, 94. 8 De oratore III, 41, 166 (M. Tulli Ciceronis Rhetorica recognovit brevique adnotatione critica instruxit A. S. Wilkins, Oxford 1902). 9 [. . .] in oratione Crassi divitias atque ornamenta eius ingeni per quaedam involucra atque integumenta perspexi [. . .] (De oratore I, 35, 161). 10 H. Brinkmann, Verhüllung („integumentum“) als literarische Darstellungsform im Mittelalter, in: A. Zimmermann (Hrsg.), Der Begriff der repraesentatio im Mittelalter. Stellvertretung, Symbol, Zeichen, Bild, Berlin u. a. 1971, S. 314–339, hier S. 320 f. Siehe auch ders., Mittelalterliche Hermeneutik, S. 169–175. 11 Die Rhetorica ad Herennium liefert ebenfalls eine Definition (IV, 34, 46): allegoria est permutatio per similitudinem (zitiert bei A. Strubel, „Grant senefiance a“: Allégorie et littérature au Moyen Âge, Paris 2002, S. 22). 12 M. F. Quintilianus, Ausbildung des Redners, übers. u. hrsg. v. H. Rahn, Darmstadt 1975. 13 Donat, Ars grammatica III, 6, Z. 26, in: Grammatici Latini, Bd. 4, hrsg. v. H. Keil, Leipzig 1864, S. 401. 14 Als ein Beispiel aus dem Mittelalter sei Matthäus von Vendôme genannt: Dieser lateinische Dichter, der in Orléans lehrte, verfaßte 1175 eine Ars Versificatoria, in der er die Allegorie folgendermaßen erläutert: allegoria est alienum eloquium, quando a 7
1. Allegoria in verbis und allegoria in facto
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gen könnte man also verkürzt folgendermaßen wiedergeben: Die Allegorie sagt etwas und meint etwas anderes.15 Auch der spätantike Rhetoriklehrer Augustinus geht bei seiner Erklärung der Allegorie in De Trinitate zunächst von der Rhetorik aus. Er zitiert eine Stelle aus dem Galaterbrief, wo der Apostel Paulus von diesem Phänomen spricht: Quae sunt in allegoria.16 Diese paraphrasiert er mit den Worten Quae sunt aliud ex alio significantia und leitet von daher zu einer Definition der Allegorie über, die ebenfalls der Redekunst entnommen ist: Quid est allegoria nisi tropus ubi ex alio aliud intellegitur [. . .]?17 Im Anschluß daran greift er die oben zitierte Paulus-Stelle noch einmal auf: Sed ubi allegoriam nominavit Apostolus, non in verbis eam reperit, sed in facto [. . .]18. Augustinus unterscheidet also hier die Allegorie als rhetorisches Kunstmittel, bei der ein Wort für ein anderes steht (allegoria in verbis) von der anderen Art der Allegorie, bei der ein Sachverhalt oder Ereignis für ein anderes steht (allegoria in facto). Bei der vorliegenden Stelle stehen die beiden Söhne Abrahams allegorisch für die beiden Testamente: [. . .] cum e duobus filiis Abrahae, uno de ancilla, altero de libera, quod non dictum, sed etiam factum fuit, duo Testamenta intelligenda monstravit.19 Die allegoria in facto bezieht sich demnach auf die typologische Auslegung der Schrift20, nach der Ereignisse oder Personen des Alten Testaments als Vorläufer oder „Typen“ oder figurae des Neuen gedeutet werden.21 „[. . .] figura ist etwas Wirkliches, Geschichtliches, welches etwas anderes, ebenfalls Wirkliches und Geschichtliches darstellt und ankündigt.“22 verborum significatione dissidet intellectus (M. von Vendôme, Ars Versificatoria III, 43, zitiert nach Strubel, „Grant senefiance a“, S. 24). 15 Cf. hierzu G. Kurz, Zu einer Hermeneutik der literarischen Allegorie, in: W. Haug (Hrsg.), Formen und Funktionen der Allegorie, Stuttgart 1979, S. 12–24, hier S. 14 f. 16 Gal. 4, 24. 17 De Trinitate XV, 9, 15. 18 Ibd. Die ganze Passage lautet: Scriptum est enim quoniam Abraham duos filios habuit, unum de ancilla, et unum de libera. [. . .] Quae sunt per allegoriam dicta. Haec enim sunt duo testamenta [. . .]. (Gal. 4, 24). 19 De Trinitate XV, 9, 15. 20 Typologie ist die Lehre vom „typischen Schriftsinn“: Typos oder Figura bedeutet eine „atl. Realität (Person, Sache, Ereignis) [. . .], der eine von Gott gewollte vorbildl. Bedeutung für die eschatologische Heilszeit zuerkannt wird“ (P. Bläser, Art. Typos in der Schrift, in: LThK2 10, Sp. 422 f., hier Sp. 422). So wird z. B. der Hohepriester Melchisedech als Typos des Hohenpriesters Christus bezeichnet. 21 Strubel, „Grant senefiance a“, S. 72 f. Cf. auch Teuber, Sacrificium litterae, S. 51–53 sowie F. Ohly, Halbbiblische und außerbiblische Typologie (1976), in: ders., Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, S. 361–400, v. a. S. 364 f. 22 E. Auerbach, Figura [1939], in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Romanischen Philologie, Bern/München 1967, S. 55–92, hier S. 65.
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I. Theorien der Allegorie vom Hl. Augustinus bis Dante
Augustinus legt zudem großen Wert auf die Zeichenhaftigkeit der Hl. Schrift. Um diese darzulegen, stellt er in De doctrina christiana23 eine Lehre auf, nach der das ganze Universum in res und signa eingeteilt ist. Res umfaßt alle Dinge, die keine weitere Bedeutung haben als „sich selbst“ (res appellavi, quae non ad significandum aliquid adhibentur24). Alles andere sind signa, das heißt Zeichen, die außer ihrer Bedeutung von „sich selbst“ noch auf etwas Zusätzliches verweisen: signum est enim res praeter speciem, quam ingerit sensibus, aliud aliquid ex se faciens in cogitationem venire25. Er untergliedert die signa zunächst in signa naturalia (ungewollte Zeichen wie etwa Fußspuren oder Rauch) und signa data. Letztere sind beabsichtigt und können von Tieren, von Menschen oder von Gott (signa divinitus data26) stammen. Diese letztgenannte Art ist es, die der Verfasser behandeln will, da auch die Hl. Schrift aus von Gott gegebenen „Zeichen“ besteht, die der Mensch zu deuten hat. Dieser Gedanke der Zeichen im Universum, die auf Gott hindeuten27, wird in De Trinitate etwas abgewandelt: Alle geschaffenen Dinge – so Augustinus – verweisen auf den Schöpfer und sind somit vestigia Trinitatis: Oportet igitur ut Creatorem, per ea quae facta sunt, intellectum conspicientes (Röm. 1, 20), Trinitatem intelligamus, cuius in creatura, quomodo dignum est, apparet vestigium. In illa enim Trinitate summa origo est rerum omnium, et perfectissima pulchritudo, et beatissima delectatio28. Hier wird also ebenfalls ein allegorisches oder typologisches Denken deutlich. In De doctrina christiana II, IX, 15 spezifiziert der Autor noch weiter und unterteilt die Zeichen in signa propria und signa translata, wobei die eigentlichen oder „primären Zeichen“29 (signa propria) das ausdrücken, wofür sie „eingerichtet“ (instituta) sind, während die übertragenen Zeichen auch eine übertragene Bedeutung haben: Translata sunt, cum et ipsae res, quas propriis verbis significamus, ad aliquid significandum usurpantur.30 Als Beispiel nennt Augustinus das Wort bos, das im eigentlichen Sinn „Rind“ bedeutet, im übertragenen Sinn aber den Evangelisten Lukas symbolisiert. In der Folge entwickelt er, daß die signa translata oft schwer zu entschlüsseln und daher „dunkel“ sind. Die obscuritas ergibt sich manchmal auch durch Probleme der Übersetzung aus
23 Corpus Christianorum, Series Latina, Bd. XXXII: A. Augustini Opera, pars IV, 1 (De doctrina christiana, hg. v. J. Martin, De vera religione, hg. v. K.-D. Daur), Turnholt 1962, S. 1–167. 24 De doctrina christiana I, II, 2. 25 Ibd., II, I, 1. 26 Ibd., II, II, 3. 27 Cf. A. Strubel, „Allegoria in factis“ et „allegoria in verbis“, in: Poétique. Revue de théorie et d’analyse littéraires, 23 (1975), S. 342–357, hier S. 346. 28 De Trinitate VI, 10, 12. 29 Haug, Göttliches Geheimnis, S. 417. 30 De doctrina christiana II, X, 15.
1. Allegoria in verbis und allegoria in facto
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dem Hebräischen.31 Zum anderen läßt die „Unkenntnis der Dinge“ die bildliche Redeweise dunkel erscheinen (Rerum autem ignorantia facit obscuras figuratas locutiones32); d. h. wenn dem Leser das nötige Sachwissen fehlt, kann er die figuratas locutiones nicht richtig interpretieren. Bei Augustinus tritt also der Gedanke der obscuritas in Verbindung mit der zweistufigen Zeichentheorie und wird auf die Hl. Schrift angewendet33: Die göttliche Offenbarung erscheint verborgen, dunkel, und muß immer wieder entschlüsselt werden. Dabei gibt es vier Gründe für den dunklen Stil, die Walter Haug zusammenfaßt34: So soll die obscuritas erstens die geistige Tätigkeit des Rezipienten anregen – dieser Gedanke entstammt der klassischen Dichtungslehre. Zum zweiten dient sie dazu, das Offenbarungsgut vor den Gottlosen zu schützen35, drittens will sie den Gebildeten zur Demut ermahnen.36 Dieser Punkt bedeutet einen radikalen Bruch mit der antiken Lehre der Stilebenen, in der der hohe, erhabene Stil (genus sublime) für gleichermaßen erhabene Themen verwendet wurde und die rhetorische Verhüllung gerade in diesem Sinne verwendet wurde.37 Viertens fordert die obscuritas dazu auf, im Sinne der christlichen Hermeneutik die verborgenen Wahrheiten aufzuspüren.38 „Die Allegorie, die bis zu Christi Geburt Mittel des Geistes war oder als solches galt, um etwas zu verbergen, wurde mehr und mehr, wie in der Theorie, so in der Praxis, zur Sprache des Göttlichen schlechthin.“39
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Ibd., II, XII, 17–VI, 23. Ibd., II, XVI, 24. 33 Haug, Göttliches Geheimnis, S. 417. 34 Ibd., S. 418. 35 Auch dieses Motiv findet sich bereits in früher Zeit, u. a. schon bei Heraklit (cf. Haug, Göttliches Geheimnis, S. 417, Anm. 21. und Kurz, Zu einer Hermeneutik, S. 16 f.). 36 De doctrina christiana II, VI, 7. 37 Siehe auch J. Pépin, La tradition de l’allégorie de Philon d’Alexandrie à Dante. Vol. II: Études historiques, Paris 1987, S. 92–96 und Haug, Göttliches Geheimnis, S. 419 et passim. 38 Ein weiterer Aspekt des obscuritas-Gedankens, der noch am Rande erwähnt sei, kommt in der Mystik zum Ausdruck, vor allem bei Dionysius Areopagita. Hier wird die Dunkelheit in Opposition zur von Gott kommenden Erleuchtung durch die Emanation gesehen. Da Gott in der neuplatonischen Tradition, die die Grundlage für das Denken des Dionysius ist, als Licht gesehen wird, bedeutet Erleuchtung zugleich Erkenntnis. Dunkelheit dagegen steht für das Gegenteil, die Unwissenheit. Der Aufstieg zu Gott ist gleichbedeutend mit einem Erkenntnisgewinn (cf. Haug, Göttliches Geheimnis und dunkler Stil, S. 419). 39 Reinhardt, Personifikation und Allegorie, S. 34. 32
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I. Theorien der Allegorie vom Hl. Augustinus bis Dante
2. Von der zweifachen Allegorie zum vierfachen Schriftsinn Die allegorische Interpretation sowohl heiliger als auch profaner Texte geht zurück bis in die Antike und ist daher viel älter als die christliche Exegese. „The allegorical interpretation marks a stage in the history of any civilized people whose sacred literature is ,primitive‘ [. . .]. Greek commentators found allegories in Homer, and the Hellenized Jew, Philo of Alexandria, found them in the Septuagint“.40 So wurde Homer bereits in hellenistischer Zeit allegorisch ausgelegt, beispielsweise von einem nicht weiter bekannten Heraclitus (1.–2. Jh. n. Chr.), der nicht mit dem gleichnamigen frühgriechischen Denker identisch ist41, ebenso auch vom späteren Platonismus und Neuplatonismus: „the tradition of interpretation cultivated by the Neoplatonists generated a model of the meaning of these poems [sc. the Iliad and the Odyssey] [. . .] that departed extraordinarily from the most obvious meaning, transforming the poems into revelations concerning the nature of the universe and the fate of souls.“42 Der jüdische Philosoph und Theologe Philon von Alexandria (13 v.–45/50 n. Chr.) war ein Wegbereiter der christlichen Exegese. Er unterschied als erster einen litteralen und einen allegorischen Sinn im Alten Testament43 und verwendete die zweifache Interpretation vor allem apologetisch, um die Schrift philosophisch auszulegen und damit ihre Vereinbarkeit mit der heidnischen Philosophie und der Vernunft aufzuzeigen.44 Der Begriff der Allegorie selbst taucht im Christentum erstmals bei Paulus auf und „wurde zum Ausgangspunkt für die patristische Exegese“45 (Gal 4, 22– 24): 40 B. Smalley, The Study of the Bible in the Middle Ages, Oxford 1941, 21952, S. 2 f. 41 A. A. Long, Stoic Readers of Homer, in: R. Lamberton/J. J. Keaney (Hrsg.), Homer’s Ancient Readers. The Hermeneutics of Greek Epic’s Earliest Exegetes, Princeton 1992, S. 41–66, bes. S. 44 f. Siehe auch Lamberton, The Neoplatonists and the Spiritualization of Homer, in: ders./J. Keany (Hrsg.), Homer’s Ancient Readers, S. 115–133, bes. S. 117–120, und Reinhardt, Personifikation und Allegorie, S. 35 f. 42 Lamberton, Homer the Theologian. Neoplatonist Allegorical Reading and the Growth of the Epic Tradition, Berkely u. a. 1986, S. 21. 43 Teuber, Sacrificium litterae, S. 52. Cf. auch Pépin, Mythe et Allégorie, S. 231– 239, ferner Lamberton, Homer the Theologian, S. 45. 44 Nach Smalley, The Study of the Bible, S. 4 und C. Mondésert, Art. Philon von Alexandria, in: LThK2 8, Sp. 470 f., hier Sp. 470. Siehe zur Homer- und Hesiod-Auslegung sowie zu Philon auch H. Graf Reventlow, Epochen der Bibelauslegung. Bd. I: Vom Alten Testament bis Origenes, München 1990, vor allem S. 37–49. 45 Teuber, Sacrificium litterae, S. 52. Cf. auch Pépin, Mythe et Allégorie, S. 247– 252, vor allem S. 249, sowie S. 488.
2. Von der zweifachen Allegorie zum vierfachen Schriftsinn
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Scriptum est enim quoniam Abraham duos filios habuit, unum de ancilla, et unum de libera. [. . .] Quae sunt per allegoriam dicta. Haec enim sunt duo testamenta [. . .].
Die beiden Söhne Abrahams, von denen das Alte Testament berichtet (cf. Gen. XVI, 15, XVII, 16 f., XXI, 1 f., XXI, 10), sind also zusätzlich zu ihrer wörtlichen Bedeutung, d. h. ihrer historischen Existenz, allegorisch auf die beiden Testamente, den Alten und den Neuen Bund zu deuten. Der Einfluß Philons auf das Christentum zeigte sich vor allem in der Schule von Alexandria mit ihren Hauptvertretern Clemens von Alexandria46 (gest. vor 215 n. Chr.) und Origenes (ca. 185–253/54), später auch bei den lateinischen Kirchenvätern, z. B. bei Ambrosius (339–397)47 und Hieronymus (um 347– 419).48 Sie alle übernahmen die allegorische Interpretationsmethode, arbeiteten sie aber auf verschiedene Weise weiter aus. Origenes lehrte wie Clemens – der möglicherweise sein Lehrer war –, daß die ganze Heilige Schrift einen tieferen Sinn hat, der interpretiert werden muß, und nicht nur bestimmte Passagen. Daraus ergibt sich, daß das Alte Testament das Neue vorzeichnet oder prophezeit; allerdings werden im Unterschied zu Philon sowohl das Zeichen als auch das Bezeichnete als historisch angesehen.49 Das Konzept der Typologie bzw. der allegoria in factis deutet sich hier bereits an. Denn Origenes unterscheidet vier verschiedene „Typen“ im Alten Testament: Prophezeiungen der Ankunft Christi, Prophezeiungen der Kirche und ihrer Sakramente, Prophezeiungen der Letzten Dinge sowie des himmlischen Königreichs und schließlich Typen oder Figuren für die Beziehung zwischen Gott und der Seele des einzelnen, mit denen die Geschichte des auserwählten Volkes exemplarisch dargestellt wird.50 „Das ganze AT ist eine Weissagung der doppelten Ankunft Christi (des zeitlichen und des ewigen Evangeliums).“51 Origenes legt als erster christlicher Exeget die Schriftsinne systematisch dar: Er teilt sie ein in den körperlichen oder geschichtlichen Sinn für die einfachen Gläubigen, den seelischen für die Fortgeschrittenen und den geistigen für die Vollkommenen. Seine Dreiteilung wurde später u. a. von Hieronymus, Gregor dem Großen, Isidor, Beda, Abaelard sowie Hugo und Richard von St. Viktor
46 Cf. Henri de Lubac S.J., Exégèse médiévale. Les quatre sens de l’Écriture. Première Partie, Bd. I, Paris 1959, S. 171–177; siehe auch Pépin, Mythe et Allégorie, S. 265 f. 47 Reventlow, Epochen der Bibelauslegung. Bd. II: Von der Spätantike bis zum Ausgang des Mittelalters, München 1994, S. 53–77, vor allem S. 59 f. 48 Smalley, The Study of the Bible, S. 20–22. 49 Ibd., S. 6 f. 50 Ibd., S. 7. 51 H. Crouzel, Art. Origenes, in: LThK2 7, Sp. 1230–1235, hier Sp. 1232.
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I. Theorien der Allegorie vom Hl. Augustinus bis Dante
aufgegriffen; sie gilt daher als Grundlage für die mittelalterliche Lehre vom vierfachen Schriftsinn.52 Auch Alanus ab Insulis geht im Prolog zu seinem Anticlaudianus von drei Sinnebenen aus, wie wir noch sehen werden. Ebenfalls von Philon übernahmen Clemens und Origenes die Idee, daß profane Kenntnisse für das Bibelstudium nötig sind, und bezogen damit die artes liberales, die als Grundlage der mittelalterlichen Bildung zur Vorbereitung auf philosophische wie theologische Studien dienten, mit ein. Origenes untermauerte seine Exegese sowohl mit historischen und geographischen Details als auch mit genauer Textkritik.53 Die ganze mittelalterliche Gelehrsamkeit spiegelt die Methoden des Origenes wider. Von seiner Lehre ausgehend, muß in der mittelalterlichen Schriftexegese grundsätzlich zwischen dem wörtlichen oder historischen Sinn, und der höheren, geistigen, übertragenen Bedeutung, die darauf aufbaut – und von einigen noch mehrfach unterteilt wird – unterschieden werden.54 Die Schule von Antiochien stellte sich in bewußten Gegensatz zu der etwas übertrieben allegorischen Methode der Alexandriner und suchte deren Mißbrauch zu korrigieren. Nach der Meinung von Johannes Chrysostomos und Hieronymus bestand nämlich bei der alexandrinischen Allegorese die Gefahr, die Historizität der Schrift zu übersehen.55 Daher legten die Antiochener großen Wert auf die Textkritik und die primäre, historische Bedeutung der Texte, bezogen aber die allegorische Methode des Philon und Origenes maßvoll mit ein. So beschränkten sie den sensus spiritualis auf wenige typologisch zu deutende Passagen.56 Einer der bekanntesten Repräsentanten der Schule von Antiochien war der Heilige Johannes Chrysostomos (344–407). Er zeigte in seinen Predigten, daß der Litteralsinn der Schrift als Basis für moralische Ermahnung ohne Rückgriff auf die Allegorie dienen könne.57 Die Untergliederung in die vier Schriftsinne findet sich erstmals beim Heiligen Johannes Cassianus (360–435). Er unterscheidet einen litteralen bzw. historischen und drei spirituale Sinne: einen allegorischen, manchmal auch typo52 Nach J. Schildenberger, Art. Schriftsinne, in: LThK2 9, Sp. 491–493, v. a. Sp. 491. Cf. auch Smalley, The Study of the Bible, S. 9 und de Lubac, Exégèse médiévale I, I, S. 198–207. 53 Smalley, The Study of the Bible, S. 12 f. 54 Cf. zu Origenes auch Reventlow, Epochen der Bibelauslegung, Bd. I, S. 170– 193. 55 Nach Pépin, Mythe et Allégorie, S. 493; cf. auch Smalley, The Study of the Bible, S. 14. 56 Nach Smalley, The Study of the Bible, S. 14 und H. Rahner, Art. Antiochenische Schule, in: LThK2 1, Sp. 650–652, v. a. Sp. 651. 57 Smalley, The Study of the Bible, S. 15.
2. Von der zweifachen Allegorie zum vierfachen Schriftsinn
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logisch genannten Sinn, einen moralischen und einen anagogischen, d. h. „hinaufführenden“ Sinn. Cassianus gibt dabei auch das später „klassisch“ gewordene Beispiel Jerusalem58: sensus sensus sensus sensus
litteralis: Jerusalem als „Stadt der Juden“ allegoricus: Jerusalem als „Kirche Christi“ tropologicus bzw. moralis: Jerusalem als „Seele des Menschen“ anagogicus: Jerusalem als „himmlische Stadt Gottes“
Die augustinische Unterteilung der allegoria in verbis und allegoria in facto wurde von Beda Venerabilis (672/3–735) wieder aufgegriffen und fortgeführt. Auch dieser Kirchenlehrer setzt bei der Rhetorik an. In seiner Schrift De schematibus et tropis sacrae Scripturae liber befaßt er sich mit den Figuren und Tropen in der Heiligen Schrift59 und greift auf die Allegorie-Definitionen von Quintilian und Donat zurück: tropus quo aliud significatur quam dicitur.60 Diese Definition trifft, wie wir gesehen haben, auf die allegoria in verbis zu. Für die allegoria in factis61 stellt er keine theoretische Definition auf, sondern führt Beispiele an, wie sie seit Augustinus kanonisch sind, so die bereits bekannte Erzählung von den beiden Söhnen Abrahams, die allegorisch für die beiden Testamente stehen.62 Hieraus läßt sich ableiten, daß es sich bei der allegoria in factis um einen Prozeß handelt, „qui fait d’un événement historique réel [. . .] le symbole d’un autre événement“63; dies weist in die Richtung der figuralen bzw. typologischen Schriftdeutung.64 Im folgenden unterteilt Beda die Allegorie ebenfalls nach einem historischen, tropologischen und anagogischem Sinn; allerdings hält er die zunächst getroffene Unterscheidung der allegoria in verbis und in factis nicht konsequent durch, so daß sich bei ihm kein kohärentes und geschlossenes System ergibt.65
58 Conlationes 14, 8, in: Patrologia Latina, Bd. XLIX, Sp. 964. Cf. Smalley, The Study of the Bible, S. 28. Siehe auch Reventlow, Epochen der Bibelauslegung, Bd. II, S. 77–85. Da diese vier Sinnebenen bei Thomas von Aquin und später auch von Dante ausführlich erklärt wurden, sei hier auf die entsprechenden Kapitel (I. 3. und I. 4.) verwiesen. 59 Strubel, „Allegoria in factis“ et „allegoria in verbis“, S. 347 f. 60 Beda Venerabilis, De schematis et tropis sacrae Scripturae liber, II, 12, in: Patrologia Latina, Bd. XC, Sp. 184. 61 Beda verwendet den Plural, im Gegensatz zu Augustinus, der noch von allegoria in facto gesprochen hatte (s. o). 62 Strubel, „Allegoria in factis“ et „allegoria in verbis“, S. 349. 63 Ibd. 64 Cf. auch G. Dahan, L’Allégorie dans l’exégèse chrétienne de la Bible au Moyen Age, in: ders./R. Goulet (Hrsg.), Allégorie des Poètes. Allégorie des Philosophes. Études sur la poétique et l’herméneutique de l’allégorie de l’Antiquité à la Réforme, Paris 2005, S. 205–230, hier S. 209. 65 Strubel, „Allegoria in factis“ et „allegoria in verbis“, S. 351–353; cf. auch Brinkmann, Mittelalterliche Hermeneutik, S. 221 f.
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I. Theorien der Allegorie vom Hl. Augustinus bis Dante
Erst bei Thomas von Aquin werden diese Unstimmigkeiten in der Terminologie ausgeräumt.66 Im 12. Jahrhundert ist neben der Schule von Chartres diejenige von St. Viktor „l’un des centres de l’effervescence intellectuelle, qu’on a pu qualifier de ,renaissance‘.“67 Die theologische Schule von St. Viktor wurde 1110 in Paris gegründet. Ihre Theologie baute auf den lateinischen Kirchenvätern auf und bemühte sich um eine Verbindung von Wissenschaft und Mystik.68 Die Schule der Viktoriner gehört bereits der Frühscholastik an; Hugo hat die spätere Philosophie und Theologie nachhaltig beeinflußt.69 Nach der Lehre von Hugo von St. Viktor (gest. 1141) muß sich der Gelehrte zunächst anhand von historisch-geographischen Grundlagen ausgiebig mit dem litteralen historischen Sinn befassen, bevor er zur Allegorie übergehen kann. Die Basis für theologische Studien sind wiederum die artes liberales. Er strebt nach der Vereinigung mit Gott durch Kontemplation, vor allem durch die Betrachtung der Heiligen Schrift.70 Allerdings sieht er – wie Augustinus – die Werke Gottes nicht nur in der Bibel, sondern auch in der Natur reflektiert: Universus enim mundus iste sensibilis quasi quidam liber est scriptus digito Dei [. . .].71 Ebenfalls von Augustinus und Beda übernimmt er das Konzept der allegoria in factis; von Origenes bzw. Hieronymus dagegen die Dreiteilung in sensus litteralis bzw. historicus, sensus allegoricus und sensus tropologicus.72 Diese beiden Schemata, das drei- und das viergliedrige, existierten eine Zeitlang nebeneinander. Alanus ab Insulis beispielsweise gebrauchte beide Systeme in seinen theologischen Schriften.73 Im Prosaprolog zu seinem Anticlaudianus evoziert er den dreifachen Schriftsinn, wie wir noch sehen werden. Bei demselben Gelehrten, auch Alain de Lille genannt, findet sich ein interessantes Detail: Er bringt – soweit wir feststellen konnten, als einziger – die vier Sinnschichten 66
Strubel, „Allegoria in factis“ et „allegoria in verbis“, S. 353 f. Strubel, „Grant senefiance a“, S. 64. 68 Nach K. Schmitz, Art. Victoriner, in: LThK2 10, Sp. 774 f. und Smalley, The Study of the Bible, S. 83. 69 Nach J. Hirschberger, Geschichte der Philosophie, Bd. I: Altertum und Mittelalter, Freiburg i. Br. 31957, S. 365. Cf. auch de Lubac, Exégèse médiévale, II, I, S. 361– 372. 70 Smalley, The Study of the Bible, S. 86 f. 71 H. v. St. Viktor, Eruditio Didascalica, VII, 4, in: Patrologia Latina, Bd. CLXXVII, Sp. 814. Cf. Strubel, „Grant senefiance a“, S. 64. Siehe auch J. Chydenius, The Theory of Medieval Symbolism (1960), in: Commentationes humanarum litterarum, Vol. 27, Nr. 2, Helsingfors 1961, S. 5–39, hier S. 12 u.15. 72 Smalley, The Study of the Bible, S. 89 und Strubel, „Grant senefiance a“, S. 69 bzw. S. 83. 73 G. Dahan, Alain de Lille et l’exégèse de la Bible, in: J.-L. Solère u. a. (Hrsg.), Alain de Lille, le Docteur Universel. Philosophie, théologie et littérature au XIIe siècle, Turnholt 2005, S. 455–484, hier S. 456 f. 67
3. Die Schriftexegese des Hl. Thomas von Aquin
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der Bibel mit der Farbensymbolik in Verbindung. In einer Predigt zum Fest der Apostel Petrus und Paulus (Sermo 7174) vergleicht er zunächst die Heilige Schrift insgesamt mit einem Regenbogen und weist sodann jeder Sinnebene eine Farbe zu75: Et sicut arcus federis [. . .] quatuor habet colores, ceruleum, uiridem, album, rubrum sic sacra Scriptura quatuor intelligentie species. Per ceruleum colorem, qui exterius apparet, significatur hystoria; per uiridem colorem, qui blanditur oculis, significatur moralitas, que demulcet animum et informat; per album colorem, qui offendit oculum significatur allegoria, que frequenter oculum mentis subterfugit; per rubrum anagoge, id est superior intelligentia, que mentem nostram ad celestia dirigit.
Damit entspricht der sensus historicus der Farbe blau, der sensus moralis grün, der sensus allegoricus weiß und der sensus anagogicus schließlich der Farbe rot. Interessant ist hierbei auch, daß die drei übertragenen Sinne, bei Thomas als mystici zusammengefaßt, hier den traditionellen Farben der drei göttlichen Tugenden Glaube (weiß), Hoffnung (grün) und Liebe (rot) zugeordnet sind, ohne daß diese explizit erwähnt sind. Mit der Scholastik setzte sich schließlich der vierfache Schriftsinn durch. Genannt seien hier Bonaventura (1221–1274), Albertus Magnus (1193–1280) und vor allem Thomas von Aquin (1224–1274), der das System ausführlich an mehreren Stellen darlegt.76
3. Die Schriftexegese des Hl. Thomas von Aquin Thomas befaßt sich in seiner Summa theologiae und in den Quaestiones quodlibetales mit dem vierfachen Schriftsinn. In der Summa theologiae77 setzt er sich zunächst mit der Frage auseinander, ob es in der Heiligen Schrift einen mehrfachen Sinn gibt (Utrum sacra Scrip74 Zählung der Predigten nach J. B. Schneyer (Hrsg.), Repertorium der lateinischen Sermones des Mittelalters, Bd. I, Münster i. W. 1969, S. 69–77. 75 Paris, Bibliothèque nationale de France (BnF), ms. lat. 3818, ff. 35v–36r (zit. nach Dahan, Alain de Lille et l’exégèse de la Bible, S. 457, Anm. 8). Dahan verweist in diesem Zusammenhang auf den Eintrag arcus in den Distinctiones dictionum theologicarum (Summa „Quot modis“) des Alanus, in dem die vier Farben der Sinnebenen allerdings nicht ausdrücklich behandelt werden (cf. Patrologia Latina, Bd. CCX, Sp. 708). Des weiteren nennt Dahan Petrus Comestor, der nur zwei Farben des Regenbogens besondere Sinnebenen zuschreibt (cf. Petrus Comestor, Historia scholastica, in: Patrologia Latina, Bd. CXCVIII, Sp. 1086). 76 Cf. auch P. C. Spicq O.P., Esquisse d’une histoire de l’exégèse latine au Moyen Age, Paris 1944, S. 269–272 (Bonaventura, Albertus Magnus) und S. 273–288 (Thomas von Aquin). 77 S. Th., Ia pars, q. 1, art. 10 (S. Thomae Aquinatis Doctoris Angelici Summa Theologiae cura et studio Sac. Petri Caramello sacrae theologiae et philosphiae doctoris cum textu ex recensione leonina Pars Prima et Prima Secundae, Casali 1952).
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I. Theorien der Allegorie vom Hl. Augustinus bis Dante
tura sub una littera habeat plures sensus). Die Antwort fällt – wie zu erwarten – positiv aus; bewiesen wird die Existenz der plures sensus aus der Inspiriertheit der Schrift: Gott selbst ist letztlich ihr Autor, und Er hat die Macht, „nicht nur die Worte den Bedeutungen anzupassen“ (ut non solum voces ad significandum accommodet 78) – dies könnte nämlich auch der Mensch –, sondern auch „die Dinge selbst“ (res ipsas). Hieraus ergibt sich, daß die „Dinge“ (res bedeutet historische Fakten; Dinge, die in der Bibel erzählt werden) einerseits durch die Worte (voces) bezeichnet werden (prima significatio), andererseits aber auch selbst noch etwas bezeichnen (ipsae res significatae per voces, etiam significant aliquid 79). Diese erste, wörtliche Bedeutung entspricht nun – so der Doctor Angelicus weiter – dem sensus historicus oder litteralis. Die Bezeichnung historicus verwendet er deshalb, weil es sich um historische Fakten oder Ereignisse, die in der Bibel erzählt werden, handelt. Er hebt hervor, daß der Litteralsinn der Bibel niemals etwas Falsches enthalten kann: [. . .] sensui litterali sacrae Scripturae nunquam potest subesse falsum80. Die zweite, übertragene Bedeutung wird sensus spiritualis oder mysticus genannt. Diesen Sinn unterteilt Thomas ebenfalls dreifach – wie wir schon bei Cassianus gesehen haben –, und zwar in den sensus allegoricus, den sensus moralis und den sensus anagogicus81. Hierbei beruft er sich auf eine Stelle im Hebräerbrief, wo der Verfasser von der Typologie des Neuen im Alten Testament spricht: Nihil enim ad perfectum adduxit lex („Das Gesetz hat ja nichts zur Vollendung gebracht.“)82 Davon ausgehend, definiert Thomas nun den allegorischen Sinn als die „Vorbedeutung“ des Neuen Bundes im Alten (ea, quae sunt veteris legis, significant ea quae sunt novae legis83), den moralischen Sinn als das Vorbild Christi für unser Leben (ea quae in Christo sunt facta, vel in his quae Christum significant, sunt signa eorum quae nos agere debemus); den anagogischen schließlich als Vorausdeutung auf die ewige Glorie. Diese Unterteilung des sensus spiritualis wird in den Quaestiones Quodlibetales84 noch weiter ausgeführt bzw. unter einem anderen Aspekt dargestellt: Der sensus spiritualis wird auch hier vom litteralis dahingehend abgesondert, daß 78
Art. 10, resp. Ibd. 80 Art. 10, ad tertium. 81 Art. 10, resp. 82 Hebr. 7, 19. Mit lex ist das Alte Testament gemeint (vor allem die fünf Bücher Mose); erfüllt wurde das Gesetz erst durch Jesus Christus. 83 Art. 10, resp. 84 Quodlib. VII, q. 6, art. 1, resp. (S. Thomae Aquinatis Doctoris Angelici Quaestiones Quodlibetales cura et studio Fr. R. Spiazzi O.P., Turin 1956). 79
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letzterer das wiedergibt, was „die Dinge wörtlich meinen“ (quod res significantur per verba), ersterer hingegen die figurae dieser Dinge, da nämlich sichtbare Dinge Unsichtbares bedeuten können85. Die Wahrheit also, die die Heilige Schrift in diesen Figuren bzw. Typen überliefert, ist auf zweierlei hingeordnet (ad duo ordinatur), und zwar ad recte credendum, et ad recte operandum86 (zum rechten Glauben und zum rechten Handeln). Aus dem rechten Handeln tritt klar der sensus moralis hervor (er wird übrigens auch tropologicus genannt); was den rechten Glauben betrifft, nimmt Thomas erneut eine Zweiteilung vor, denn sowohl der sensus allegoricus als auch der anagogicus sind darin enthalten: Der allegorische Sinn, den Thomas hier auch typicus nennt, bezeichnet – wie wir schon in S. Th. I, q. 1 art. 10 gesehen haben – die Typologie, also die Tatsache, daß die im Alten Testament erzählten Ereignisse (nicht alle!) die des Neuen Bundes vorwegnehmend andeuten bzw. sie symbolisieren und vor allem auf Christus als das Haupt auch der streitenden Kirche hinweisen (caput ecclesiae militantis). Der anagogicus schließt beide, das Alte und das Neue Testament, ein und deutet so auf die triumphierende Kirche, deren Haupt Christus natürlich auch ist, im Paradies hin. Die katholische Lehre teilt die Kirche als Gemeinschaft aller Gläubigen in drei Erscheinungsformen ein: die streitende Kirche auf Erden, die leidende Kirche im Fegefeuer und die triumphierende im Himmel.87 Thomas weist noch darauf hin, daß nicht überall in der Schrift alle vier Sinne zu finden sind, sondern manchmal nur drei, zwei oder einer88. Immer aber wird der Litteralsinn zugrunde gelegt, denn ohne diesen kann man nicht zu den anderen vordringen. Er ist also der erste und wichtigste: sensus spiritualis semper fundatur super litteralem, et procedit ex eo; unde ex hoc quod sacra Scriptura exponitur litteraliter et spiritualiter.89 Zum anderen hebt er hervor, daß der vierfache Schriftsinn nur auf die Heilige Schrift und auf keinerlei profane Literatur angewendet werden dürfe (Quodlib. VII, q. 6, art. 3, resp.): [. . .] in nulla scientia, humana industria inventa, proprie loquendo, potest inveniri nisi litteralis sensus; sed solum in ista Scriptura, cuius Spiritus sanctus est auctor, homo verum instrumentum.
Thomas von Aquin übte auf Dante großen Einfluß aus; so übernimmt dieser von ihm unter anderem auch die vierfache Unterteilung des Schriftsinns.90
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Art. 2, resp. Hervorhebung und Zeichensetzung durch den Herausgeber. 87 Cf. L. Ott, Grundriß der katholischen Dogmatik, Bonn 112005, S. 385–387 u. 440–451. 88 Quodlib. VII, q. 6, art. 2, ad quintum. 89 Art. 1, ad primum. 90 Nach Pépin, Dante et la tradition de l’allégorie, Montréal/Paris 1970, S. 73. 86
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Übrigens hat er ihm auch ein bedeutendes Denkmal in der Divina Commedia gesetzt, wo Thomas über vier Gesänge hinweg der Sprecher ist (Par. X–XIII). Von Augustinus de Dacia O.P. (geb. 1282) stammt das folgende Distichon91, das als Merkgedicht für den vierfachen Schriftsinn recht beliebt war und von Nikolaus von Lyra um 1330 zitiert wird92: Littera gesta docet, quid credas, allegoria; moralis, quid agas, quid speres, anagogia.
4. Die Theorie Dantes: allegoria dei poeti und allegoria dei teologi In zweien seiner Werke, nämlich im Convivio und im Brief an Cangrande della Scala (Epistola XIII) legte Dante zum vierfachen Schriftsinn eine eigene Theorie nieder, die jedoch in vielen Punkten auf Thomas von Aquin und dessen Vorgänger (wie Hugo von St. Viktor u. a.) zurückgeht. Die Echtheit der Epistel an Cangrande (Ep. XIII) wird von manchen Gelehrten angezweifelt.93 Für die Authentizität sprechen sich vor allem Ricklin94 und Hollander95 mit gewichtigen Argumenten aus, während Lieberknecht Vorbehalte einräumt.96 So legt Ricklin einleuchtend dar, daß „der Text, wie er heute vorliegt, als ursprüngliche Einheit zu gelten hat.“97 Der Chronologie wegen soll zunächst Dantes Abhandlung über die Schriftsinne aus dem Convivio referiert werden. a) Das Convivio Das Convivio wurde ca. 1304–1308 verfaßt und ist angelegt als eine enzyklopädische Darstellung des Wissens von Dantes Zeit für die illiterati, d. h. für die
91 J. Schildenberger, Art. Schriftsinne, in: LThK2 9, Sp. 491–493, vor allem Sp. 491. 92 Henri de Lubac S.J., Exégèse médiévale I, I, S. 23. Cf. auch Dante Alighieri, Das Schreiben an Cangrande della Scala. Lateinisch-deutsch, hrsg. v. Th. Ricklin, Hamburg 1993, Kommentar zu Ep. XIII, 21, S. 75. 93 Cf. die Aufzählung der Befürworter und Gegner bei Pépin, Dante et la tradition de l’allégorie, S. 59, Anm. 6, s. auch U. Prill, Dante, Stuttgart/Weimar 1999, S. 189– 194, v. a. S. 189 f. Eine Diskussion der Echtheit würde zu weit vom Thema weg führen. 94 Das Schreiben an Cangrande, hrsg. v. Ricklin, Einleitung, S. XVIII–XXVI. 95 R. Hollander, Dante’s Epistle to Cangrande, Ann Arbor 1993, S. 1 f. u. 97 und ders., Allegory in Dante’s Commedia, Princeton 1969, S. 40–43. 96 O. Lieberknecht, Allegorese und Philologie. Überlegungen zum Problem des mehrfachen Schriftsinns in Dantes „Commedia“, Stuttgart 1999, S. 4 f. 97 Das Schreiben an Cangrande, hrsg. v. Ricklin, Einleitung, S. XXIII.
4. Die Theorie Dantes
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Laien, die kein Latein konnten.98 Dante hatte geplant, in Traktatform99 vierzehn seiner Canzoni nach dem mehrfachen Schriftsinn zu interpretieren; das Werk blieb jedoch unvollendet und bricht im vierten Traktat ab. Diese quattordici canzoni sì d’amor come di vertù materiate (Conv. I, i, 14)100 sollen die Speise (vivanda; ibd.) des Gastmahls bilden, die Kommentare das Brot dazu.101 Der Titel „Gastmahl“ geht aber nicht auf Platon oder Macrobius zurück, sondern auf die christliche Eucharistie.102 Von Thomas von Aquin existiert ein Hymnus zum Lob der Eucharistie, der den Titel O sacrum convivium103 trägt. Dante spricht im Convivio an mehreren Stellen auch vom „Brot der Engel“104. Im zweiten Traktat legt Dante die Interpretation nach dem vierfachen Schriftsinn dar; leider ist jedoch gerade die Passage korrupt, in der er den Litteralsinn erläutert (Conv. II, i, 3)105: L’uno si chiama litterale, [e questo è quello che non si stende più oltre che la lettera de le parole fittizie, sì come sono le favole de li poeti. L’altro si chiama allegorico,] e questo è quello che si nasconde sotto ’l manto di queste favole, ed è una veritade ascosa sotto bella menzogna [. . .].
Die Konjektur geht auf Busnelli/Vandelli bzw. Parodi/Pellegrini106 zurück, welche ihre Version mit folgenden Gründen rechtfertigen: Erstens folgt im Text Dantes gleich nach der fraglichen Stelle queste favole, woraus sich schließen läßt, daß das Wort favole bereits einmal vorgekommen sein muß. Zweitens wird 98 R. Stillers, Trecento, in: V. Kapp (Hrsg.), Italienische Literaturgeschichte, Stuttgart/Weimar 1992, S. 30–87, hier S. 36. Cf. auch Prill, Dante, S. 70–86. 99 Cf. hierzu Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, S. 228: „tractare ist ein Kunstausdruck der mittelalterlichen Philsophie und heißt ,philosophisch abhandeln‘.“ 100 Dante Alighieri, Das Gastmahl. Erstes Buch, hrsg. v. Th. Ricklin, Hamburg 1996, S. 6. 101 Cf. auch Dante Alighieri, Das Gastmahl. Zweites Buch, hrsg. v. Th. Ricklin, Hamburg 1996, Literalkommentar zu Kap. i–xv, S. 97 und Pépin, Dante et la tradition de l’allégorie, S. 53. 102 F.-R. Hausmann, Anfänge und Duecento, in: V. Kapp (Hrsg.), Italienische Literaturgeschichte, Stuttgart/Weimar 1992, S. 1–29, hier S. 21. Cf. auch J. Splett, „Liebe, die im Geist mir redet . . .“. Die Dame Philosophie, in: ders. (Hrsg.), Höllenkreise – Himmelsrose. Dimensionen der Welt bei Dante, Wiesbaden 1994, S. 75–90, hier S. 75 f. 103 A. Adam, Te Deum laudamus. Große Gebete der Kirche. Lateinisch-deutsch, Freiburg i. Br. 1987, S. 76. 104 Cf. E. Gilson, Dante et la philosophie, Paris 21953, S. 13 f. u. 129 f. 105 Zitiert nach Dante Alighieri, Das Gastmahl. Zweites Buch, hrsg. v. Th. Ricklin, S. 8. Cf. auch die textkritische Diskussion der Stelle bei Lieberknecht, Allegorese und Philologie, S. 5 f., Anm. 6. 106 Dante Alighieri, Il Convivio, hrsg. v. G. Busnelli/G. Vandelli, Bd. I, Florenz 1934, Nachdr. 1964, S. 96 f. Die Herausgeber richten sich ihrerseits nach der textkritischen Ausgabe der Società Dantesca Italiana: Dante Alighieri, Il Convivio, hrsg. v. E. G. Parodi/F. Pellegrini, Florenz 1921.
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I. Theorien der Allegorie vom Hl. Augustinus bis Dante
auch in Conv. II, xii, 8 allegoria im Zusammenhang mit fittizie parole genannt, und drittens ist die Auslassung leicht mit einem „salto dell’occhio“107 des Kopisten von einem e questo e quello zum nächsten zu erklären. Die Problematik dieser Rekonstruktion stellt Ricklin heraus, der vor allem darauf hinweist, daß Dante die drei übertragenen Textsinne jeweils mit Hilfe eines exemplum erläutert. Es läge also nahe anzunehmen, daß Dante auch den Litteralsinn mit einem Beispiel spezifiziert hat.108 Dennoch übernimmt der Herausgeber die oben zitierte Konjektur in seinen Text – was die Lesbarkeit erheblich erleichtert –, während Franca Brambilla Ageno sich dafür entschieden hat, im Text eine auffällige Lücke zu lassen, um das Überlieferungsproblem auch optisch zu demonstrieren.109 Wichtig für die vorliegende Untersuchung ist jedoch vor allem Dantes Definition des allegorischen Sinnes: e questo è quello che si nasconde sotto’l manto di queste favole, ed è una veritade ascosa sotto bella menzogna (Conv. II, i, 3). Als Beispiel bringt er Orpheus, der mit seinem Leierspiel wilde Tiere zähmen, Bäume und Felsen herbeilocken kann. Dies ist also beispielsweise eine „schöne Lüge“ (bella menzogna), denn hier wird etwas geschildert, was nicht dem Naturgesetz entspricht, also nicht wahr, aber „schön“ ist.110 Die Bedeutung, die dahinter steckt, kann aber durchaus eine gültige Wahrheit enthalten. Im vorliegenden Beispiel ist der allegorische Sinn der Orpheus-Erzählung, daß ein gebildeter oder außergewöhnlich begabter Mensch mit seinem Talent rohere oder wildere Gemüter „zähmen“ bzw. seinem Willen unterordnen kann (Conv. II, i, 3): [. . .] lo savio uomo con lo strumento de la sua voce fa[r]ia111 mansuescere e umiliare li crudeli cuori, e fa[r]ia muovere a la sua volontade coloro che non hanno vita di scienza e d’arte: e coloro che non hanno vita ragionevole alcuna sono quasi come pietre.
Mit dem Verweis auf Orpheus knüpft Dante an eine Tradition an, die in dem thrakischen Sänger einen Dichter sieht, „der nicht nur unterhalten, sondern auch etwas bewirkt hat“112. Darüber hinaus hat Orpheus für Dante besondere Bedeutung, gilt er ihm doch als Jenseitsreisender, der seine verstorbene Gemahlin in 107
Il Convivio, hrsg. v. Busnelli/Vandelli, Komm. zu II, i, 3, S. 96 f. Das Gastmahl. Zweites Buch, hrsg. v. Th. Ricklin, Literalkommentar zu Kap. i, 2–7, S. 106 f. 109 Dante Alighieri, Il Convivio, hrsg. F. Brambilla Ageno, vol. 2: Testo, Florenz 1995, S. 65. 110 Ovid, Metamorphosen X, 1–85 und XI, 1–66 (P. Ovidius Naso, Metamorphosen. Lateinisch-deutsch. Übers. u. hrsg. v. E. Rösch, München 1992). 111 Konjektur der Herausgeber Busnelli/Vandelli (S. 97) bzw. Parodi/Pellegrini, von Ricklin übernommen. Lieberknecht spricht sich hier für die Variante faccia aus (Lieberknecht, Allegorese und Philologie, S. 6, Anm. 6). 112 Das Gastmahl. Zweites Buch, hrsg. v. Th. Ricklin, Literalkommentar zu Kap. i, 3, S. 109. 108
4. Die Theorie Dantes
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der Unterwelt gesucht hat.113 Unmittelbar im Anschluß an das Orpheus-Beispiel weist Dante ausdrücklich daraufhin, daß dieser allegorische Sinn von den Theologen anders verstanden wird als von den Dichtern (Conv. II, i, 7): Veramente li teologi questo senso prendono altrimenti che li poeti; ma però che mia intenzione è qui lo modo de li poeti seguitare, prendo lo senso allegorico secondo che per li poeti è usato.
Dante führt den Unterschied zwischen der Auffassung der teologi und derjenigen der poeti nicht weiter aus; bevor wir uns allerdings der vieldiskutierten Frage zuwenden, worin dieser besteht, sollen zunächst seine Erläuterungen weiter referiert werden. Im zweiten Teil des oben zitierten Satzes kündigt Dante an, er werde dem Modus der poeti folgen, handelt es sich doch im Convivio um die Ausdeutung von seinen eigenen Gedichten. Im folgenden kehrt er zum vierfachen Sinn zurück, um den noch fehlenden dritten und vierten zu erklären – nunmehr allerdings sehr wohl unter Bezugnahme auf die Bibel, obwohl er sich soeben noch unter die poeti und nicht unter die teologi gerechnet hat. Der Grund hierfür liegt darin, daß die Exegese nach dem vierfachen Schriftsinn bislang allein auf die Bibel angewendet wurde. Den senso morale beschreibt Dante als das, was die Lektoren114 aufmerksam aus den Schriften herauslesen sollen (quello che li lettori deono intentamente andare appostando per le scritture; Conv. II, i, 5), um daraus Nutzen für sich und ihre Schüler zu ziehen (ad utilitade di loro e di loro discenti; ibd.) – dieser Sinn beinhaltet also wie bei Thomas den Lerneffekt für das eigene Leben. Dante spricht zwar hier nach wie vor ganz allgemein auch von profaner Literatur, nimmt aber als Beispiel eine Stelle aus dem Evangelium, nämlich die Verklärung Christi115. Bekanntlich hat Christus nur drei Jünger auf den Berg mitgenommen, wo er sie seine Transfiguration schauen ließ. Der moralische Sinn für den Leser ist, so Dante, daß man bei geheimen Angelegenheiten im Leben nicht zu viele Zeugen dabeihaben sollte (a le secretissime cose noi dovemo avere poca compagnia; ibd.). Der vierte oder anagogische Sinn nun, den Dante auch sovrasenso, also wörtlich „Übersinn“ nennt, führt über die Nutzanwendung für das menschliche Leben noch einen Schritt hinaus, „nach oben“, wie wir ebenfalls bereits bei Thomas gesehen haben; denn er verweist auf die ewige Glorie (de le superne cose de l’etternal gloria; Conv. II, i, 6). Auch hier gebraucht Dante ein biblisches 113 Zu Orpheus in der Tyopologie cf. F. Ohly, Typologische Figuren aus Natur und Mythus, in: W. Haug (Hrsg.), Formen und Funktionen der Allegorie. Symposion Wolfenbüttel 1978, Stuttgart 1979, S. 126–166, vor allem S. 135. Siehe auch das Gastmahl. Zweites Buch, hrsg. v. Th. Ricklin, Literalkommentar zu Kap. i, 3, S. 108 f. 114 Das Gastmahl. Zweites Buch, hrsg. v. Ricklin, Literalkommentar zu Kap. i, 5, S. 112. 115 Lk. 9, 28–36 und Mt. 17, 1–13.
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I. Theorien der Allegorie vom Hl. Augustinus bis Dante
Beispiel, nämlich den Auszug Israels aus Ägypten (Ps. 113, 1).116 Die Befreiung der Israeliten aus der Hand der Ägypter bedeutet – so Dante weiter – dem anagogischen Sinn nach die Befreiung der Seele von der Sünde (ne l’uscita de l’anima dal peccato, essa sia fatta santa e libera; Conv. II, i, 7). Denselben Psalm 113 verwendet er auch im Brief an Cangrande zur Erläuterung des vierfachen Schriftsinnes, wie wir noch sehen werden. Wie Thomas hebt Dante zudem hervor, wie wichtig es ist, immer beim wörtlichen Sinn als der Grundlage aller anderen anzufangen (Conv. II, i, 8): E in dimostrar questo, sempre lo litterale dee andare innanzi, sì come quello ne la cui sentenza li altri sono inchiusi, e sanza lo quale sarebbe impossibile ed inrazionale intendere a li altri, e massimamente a lo allegorico.
Abschließend weist Dante darauf hin, daß der dritte und vierte Sinn nicht zwangsläufig immer vorhanden sein müssen; er werde bei der Interpretation seiner canzoni nur ab und zu auf ihn zu sprechen kommen, wo es sich anbiete (come a luogo e a tempo si converrà; Conv. II, i, 15). b) Das Schreiben an Cangrande della Scala Cangrande della Scala lebte von 1291 bis 1329 und war ab 1312 Signore von Verona. Bei seinem älteren Bruder Bartolomeo, der 1301 bis 1304 die Stadt regierte, fand Dante um 1303/04, nachdem er aus Florenz ins Exil geschickt worden war, freundliche Aufnahme. Er lernte Cangrande kennen und schätzen, als dieser etwa 16 Jahre alt war, und richtete seine Hoffnung auf ihn als den „edlen Sproß des Hauses, [. . .] den großen Krieger und Fürsten der Zukunft, der die Neuordnung des Staates bringen wird [. . .]“117. In Par. XVII, 46–93 setzt er beiden Scaligern, Bartolommeo und Cangrande, ein huldigendes Denkmal in Form eines vaticinium ex eventu118. Aus Dankbarkeit und freundschaftlicher Verehrung seinem Wohltäter gegenüber (devotissimus et amicus; Ep. XIII, 2) widmet Dante den dritten Teil seiner Divina Commedia, das Paradiso, Cangrande della Scala und sendet ihm dazu ein Begleitschreiben, das auf 1315 datiert wird.119 Der Dichter legt darin seinem Empfänger das Werk mit eindringlichen Worten ans Herz (Ep. XIII, 11): 116 Ausführlich berichtet wird der Auszug Israels aus Ägypten im Buch Exodus (Ex. 12,1–18,27), während in dem Psalmvers, den Dante nennt, nur darauf angepielt wird: In exito Israel de Aegypto / Domus Iacob de populo barbaro [. . .]. Dante zitiert den gleichen Psalm auch in Ep. XIII, wie wir sogleich sehen werden. 117 Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie, italienisch-deutsch, übers. u. komm. v. H. Gmelin [1945–1957], 6 Bde., München 1988, Bd. VI, zu Par. XVII, 46–93, S. 324. Cf. das Schreiben an Cangrande, hrsg. v. Ricklin, Einleitung, S. XXVII–XXXIX. 118 Das vaticinium ex eventu wird von Dantes Urahn Cacciaguida ausgesprochen, der ihm in der erwähnten Textstelle sein persönliches Schicksal und damit auch die Verbannung prophezeit.
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[. . .] Comedie sublimem canticam que decoratur titulo Paradisi; et illam sub presenti epistola [. . .] vobis ascribo, vobis offero, vobis denique recommendo.
Dieses Schreiben ist eine Einführung in die dritte Cantica, aber zugleich auch in das ganze Werk, um den Zugang (introitus) zum Paradiso zu erleichtern (Ep. XIII, 17)120: Quapropter et ego, volens de parte supra nominata totius Comedie aliquid tradere per modum introductionis, aliquid de toto opere premittendum existimavi, ut facilior et perfectior sit ad partem introitus.
Zugleich liefert Dante hier auch eine Eigeninterpretation des Prologes des Paradiso (Ep. XIII, 44–52). Außerdem erläutert er wiederum die allegorische Deutungsweise nach dem vierfachen Schriftsinn (Ep. XIII, 20–25). Zu Beginn dieser Passage kündigt er an, sein Werk sei polysem, habe also einen mehrfachen Sinn. Dabei stellt er dem Buchstabensinn einen übertragenen Sinn gegenüber, den er – zunächst noch unspezifisch – „allegorisch oder moralisch“ nennt (Ep. XIII, 20): Ad evidentiam itaque dicendorum sciendum est quod istius operis non est simplex sensus, ymo potest dici polisemos, hoc est plurium sensuum; nam primus sensus est qui habetur per litteram, alius est qui habetur per significata per litteram. Et primus dicitur litteralis, secundus vero allegoricus sive moralis.121
In der Folge greift er jedoch zur näheren Erläuterung erneut auf Psalm 113, 1 zurück – wie bereits in Conv. II, i, 6–7 für den vierten Sinn (Ep. XIII, 21)122: In exitu Israel de Aegypto, domus Jacob de populo barbaro, facta est Judaea sanctificatio eius, Israel potestas eius.
Anhand dieser Schriftstelle legt Dante nun die vierfache Auslegung der Schrift folgendermaßen dar (Ep. XIII, 21): Nam si ad litteram solam inspiciamus, significatur nobis exitus filiorum Israel de Egipto, tempore Moysis; si ad allegoriam, nobis significatur nostra redemptio facta per Christum; si ad moralem sensum, significatur nobis conversio anime de luctu et miseria peccati ad statum gratie; si ad anagogicum, significatur exitus anime sancte ab huius corruptionis servitute ad eterne glorie libertatem.
119 Das Schreiben an Cangrande, hrsg. v. Ricklin, Einleitung, S. XXXVI und Literalkommentar zu § 1, S. 36 f. 120 In der Tat handelt es sich bei dem vorliegenden Text eher um ein Einleitungsschreiben als einen Brief; dennoch ist er in die Dante-Ausgaben als epistola eingegangen (cf. zu diesem Problem das Schreiben an Cangrande, hrsg. v. Ricklin, Einleitung S. XXV und zur Struktur des Schreibens ibd., S. XVIII–XXIV). 121 Cf. zur Textgestaltung dieser Stelle das Schreiben an Cangrande, hrsg. v. Ricklin, Kommentar zu § 20, S. 71–73. 122 Ricklin hebt hervor, daß „das Motiv der Flucht aus Ägypten [. . .] zu den Leitmotiven des Dichters“ gehört (ibd., S. 74).
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I. Theorien der Allegorie vom Hl. Augustinus bis Dante
Nach dem Litteralsinn geht es demnach um den Auszug Israels aus Ägypten als historisches Ereignis. Die allegorische Bedeutung ist die Erlösung des Menschen durch Christus (nostra redemptio facta per Christum). Der sensus moralis entspricht der Abkehr der Seele von der Trauer und dem Elend der Sünde hin zum Stand der Gnade, hier noch auf das Erdenleben bezogen; der sensus anagogicus schließlich verweist auf die Befreiung der Seele aus der Knechtschaft und Verderbtheit des Erdenlebens (exitus anime sancte ab huius corruptionis servitute ad eterne glorie libertatem) zur Freiheit der ewigen Herrlichkeit, wie wir bereits aus dem Convivio wissen. Diesen Gedanken scheint Dante vom Römerbrief des Apostels Paulus übernommen zu haben (Röm. 8, 21)123: [. . .] et ipsa creatura liberabitur a sevitute corruptionis, in libertatem gloriae filiorum Dei.
Dante faßt die drei sensus mistici auch unter dem Oberbegriff allegorici zusammen – während Thomas von Aquin eher von „sensus spiritualis“ spricht124 – und unterscheidet sie somit vom wörtlichen Sinn, den er als sensus litteralis oder historialis bezeichnet (Ep. XIII, 22). Für die Divina Commedia ergibt sich, so der Verfasser weiter, ein zweifacher Gegenstand (duplex subiectum; Ep. XIII, 23) – je nachdem, ob man sie nach dem wörtlichen oder dem allegorischen Sinn auffaßt (Ep. XIII, 24 f.): Est ergo subiectum totius operis, litteraliter tantum accepti, status animarum post mortem simpliciter sumptus; nam de illo et circa illum totius operis versatur processus. Si vero accipiatur opus allegorice, subiectum est homo prout merendo aut demerendo per arbitrii libertatem iustitie premiandi et puniendi obnoxius est.
Litteraliter ist der Inhalt des Werkes demnach der Zustand der Seelen nach dem Tode (status animarum post mortem); allegorice ist es der Mensch, wie er durch Verdienst oder Unverdienst, je nach seiner freien Entscheidung, der göttlichen Gerechtigkeit, die ihn belohnt oder bestraft, unterworfen ist (homo prout merendo et demerendo per arbitrii libertatem iustitie premianti aut punienti obnoxius est). Es ist offensichtlich, daß es sich hier um die göttliche Gerechtigkeit handeln muß: Gott allein kann über ewiges Leben oder ewige Verdammnis entscheiden, wie auch die Epitheta praemians und puniens bezeugen. Etwas später spezifiziert der Dichter seine eigene Interpretation, indem er sie jetzt nur auf das Paradiso anwendet und dabei noch einmal deutlich macht, wie man sie hier zu verstehen habe. Im Paradies geht es dem wörtlichen Sinn nach um den status animarum beatarum post mortem (Ep. XIII, 33) und dem allegorischen Sinn nach um den Menschen, der sich verdient gemacht hat und der dafür belohnt wird (Ep. XIII, 34): [. . .] est homo prout merendo obnoxius est iustitie premiandi. 123 124
Siehe auch Pépin, Dante et la tradition de l’allégorie, S. 61. S. Th., Ia pars, q. 1, art. 10, resp.
4. Die Theorie Dantes
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Obwohl Dante nun nicht mehr explizit von vier Sinnebenen spricht, sondern nur den sensus litteralis dem allegoricus gegenüberstellt, kann man aufgrund seiner obigen ausführlichen Darlegung dieses Schemas anhand des Psalmes 113 wohl annehmen, daß er bei der allegorischen Deutung den moralischen und den anagogischen Sinn implizit miteinbezogen sehen möchte. Bereits in § 20 hatte er ja ausdrücklich darauf hingewiesen, daß der Sinn des Werkes ein mehrfacher (und nicht ein doppelter!) ist (dici potest polysemos, hoc est plurium sensuum; Ep. XIII, 20), und daß die drei übertragenen Sinnebenen generaliter unter dem Oberbegriff allegorici gefaßt werden können (Ep. XIII, 22). Wenn er nun in § 23 von einem duplex subiectum spricht, ist damit wohl die grundsätzliche Unterscheidung zwischen Litteralsinn auf der einen Seite und sensus allegorici (im Plural) auf der anderen Seite gemeint, und nicht eine bloße Zweiteilung in Buchstabenebene und übertragene Bedeutung. Vielmehr strebt Dante unseres Erachtens durchaus eine Interpretation seiner Commedia nach dem vierfachen Schriftsinn an, auch wenn er dies nicht ausdrücklich formuliert, sondern seinen Lesern die Entscheidung überläßt.125 c) Zusammenfassung Kehren wir noch einmal zurück zu Dantes Unterscheidung zwischen den zwei Arten der Allegorie: Veramente li Teologi questo senso prendono altrimenti che li poeti (Conv. II, i, 4). Was beinhaltet dieses altrimenti? Wie das im Convivio zitierte Orpheus-Beispiel zeigt, bezeichnet für Dante der senso allegorico nach der Auffassung der Dichter „eine ,Wahrheit‘, die sich weder auf Christus noch sonst auf Dinge des christlichen Glaubens bezieht, sondern ganz im Bereich profanwissenschaftlich-philosophischer Aussage verbleibt“ – so stellt Lieberknecht zurecht fest.126 Der allegorische Sinn des bibelexegetischen Modells, fährt Lieberknecht fort, wird daher bei Dante „durch einen profan-wissenschaftlichen Textsinn der Dichterexegese substituiert“127, und allein auf diesen inhaltlichen Unterschied in der Auffassung des senso allegorico verweise Dantes Feststellung Veramente li Teologi questo senso prendono altrimenti che li poeti.128 Damit entzieht der Autor allerdings, wie er selbst hervorhebt, einem Großteil der Dante-Forschung die Grundlage, welche stets angenommen hatte, „daß Dante an dieser Stelle einen kategorischen Unterschied in der Auffassung der
125 Cf. das Schreiben an Cangrande, hrsg. v. Ricklin, Einleitung, S. LII und S. LVI; siehe auch S. XLIX–LVIII. 126 Lieberknecht, Allegorese und Philologie, S. 8. 127 Ibd. 128 Ibd.
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I. Theorien der Allegorie vom Hl. Augustinus bis Dante
Allegorie schlechthin ansprechen wollte“129; und dieser kategorische Unterschied liegt Lieberknecht zufolge in einem falschen Verständnis des Litteralsinns. Im folgenden stellt er die Annahme eines historisch wahren sensus litteralis in Frage, wie er dem Modell des vierfachen Schriftsinnes zugrundeliegt. Als Gegenargument führt er die allegoria in verbis an, welche in der Bibel ebenfalls vorkommt und bei der Auslegung anstößiger Stellen zu Hilfe genommen wird.130 Dies widerspricht jedoch unseres Erachtens nicht der Tatsache eines grundsätzlich wahren Litteralsinn in der Heiligen Schrift, da die allegoria in verbis als ein rhetorisch-stilistisches Prinzip aufgefaßt wurde, mit dessen Hilfe schwierige Passagen wie etwa das Hohelied erläutert wurden, da nicht das ganze Alte Testament typologisch auf das Neue zu beziehen ist, sondern nur bestimmte Ereignisse.131 Die allegoria in verbis steht ja, wie wir gesehen haben, im Gegensatz zur allegoria in factis, auf welcher das vierfache Schema aufbaut. Auch Thomas spricht ausdrücklich davon, daß der vierfache Sinn nicht überall in der Schrift angewendet werden kann (Quodlib. VI, q. 6, art. 2. ad quint.): AD QUINTUM dicendum, quod quatuor isti sensus non attribuuntur sacrae Scripturae, ut in qualibet eius parte sit in istis quatuor sensibus exponenda; sed quandoque istis quatuor, quandoque tribus, quandoque duobus, quandoque uno tantum.
Er stellt aber den grundsätzlichen Wahrheitsgehalt des Litteralsinnes nicht in Frage (S. Th. I, 1, art. 10, ad tert.): In quo patet quod sensui litterali sacrae Scripturae nunquam potest subesse falsum.
Wenn nun Dante dagegen im Convivio bezüglich der dichterischen Allegorie davon spricht, daß die Wahrheit verborgen ist, und zwar unter einer „schönen Lüge“, una bella menzogna, trifft er damit sehr wohl auch eine Aussage über den Litteralsinn, denn dieser ist es ja gerade, der die Wahrheit allegorisch verhüllt.132 Bei den Theologen verhält sich die Sachlage anders, wie wir von Thomas wissen. Denn hier enthält der Litteralsinn auch für sich eine Wahrheit, die jedoch noch etwas „anderes“ bedeutet, was nicht direkt ausgedrückt, sondern erst in einem zweiten Interpretationsschritt erkennbar wird. Deshalb kann Thomas sagen: manifestatur veritas dupliciter133, d. h. die Wahrheit wird auf zweierlei Weise dargestellt. Singleton bezeichnet dies als „an allegory of ,this and that‘“; die poetische dagegen als „an allegory of ,this for that‘“.134 129
Ibd. Ibd., S. 10 f. 131 Cf. auch Teuber, Sacrificium litterae, S. 84 f. 132 Anders Lieberknecht, Allegorese und Philologie, S. 8–11. 133 Quodlib. VII, q. 6, art. 1, resp. sowie art. 2, resp. 134 C. S. Singleton, Two Kinds of Allegory, in: ders., Dante Studies, Bd. 1: Commedia. Elements of Structure, Cambridge (Mass.) 1954, S. 89; siehe auch S. 91. In 130
4. Die Theorie Dantes
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Dante hält sich im Convivio nicht mit einer Erläuterung der allegoria dei teologi auf; denn erstens betrifft diese ihn hier nicht – es geht ihm ja um die allegorische Interpretation seiner eigenen Gedichte – und zweitens durfte er bei seinen Zeitgenossen wohl die Kenntnis des vierfachen Schriftsinnes voraussetzen, da diese im Mittelalter verbreitet war. Im Convivio reiht Dante sich selbst noch eindeutig unter die Dichter ein, wie wir gesehen haben. Jedoch gebraucht er bereits hier für den dritten und den vierten Sinn biblische Beispiele, was allerdings nicht weiter erstaunlich ist. Denn daß weder der moralische noch der anagogische Sinn mit profanen Inhalten gefüllt werden können, geht bereits aus ihrer Definition hervor: Der sensus moralis dient bekanntlich zur Besserung des christlichen Lebens, der anagogicus verweist immer auf die Herrlichkeit des Himmels. Beide sind somit von der Theologie nicht zu trennen. Neu ist in der Tat, daß Dante dieses vierfache Modell für die Auslegung profaner literarischer Texte überhaupt in Betracht zieht; jedoch ist es nicht unmöglich, die drei nicht-litteralen Sinnebenen auch auf einen fiktionalen sensus litteralis aufzubauen135, da sich ja eben in diesem Falle die Wahrheit hinter einer „schönen Lüge“ und nicht hinter historischen Ereignissen verbirgt. Dante betont im übrigen auch, er werde auf den dritten und vierten Sinn nur zu sprechen kommen, wann und wo es gerade „passe“.136 Im Schreiben an Cangrande findet sich die Unterscheidung zwischen allegoria dei teologi und allegoria dei poeti gar nicht mehr. Statt dessen führt Dante den vierfachen Schriftsinn bei der Darlegung der Allegorie ein – obwohl noch Thomas von Aquin betont hatte, man könne nur die Heilige Schrift vierfach interpretieren, da ja ihr Autor der Heilige Geist sei. Dadurch, daß Dante nun zumindest implizit den vierfachen Sinn als Interpretationsmuster für die Divina Commedia vorgibt, deutet er zugleich an, es handle sich bei diesem Werk um eine allegoria dei teologi. Und obwohl er in dem einen erwähnten Punkt Thomas widerspricht, schließt er sich ansonsten eng an ihn an.137 So übernimmt er offenbar auch die Formulierung des Heiligen Thomas in sacra Scriptura manifestatur veritas dupliciter138, wenn er im Brief an Cangrande ankündigt, sein Werk habe ein duplex subiectum139.
ital. Übersetzung: „un’allegoria di ,questo e quello‘“, „un’allegoria di ,questo in luogo di quello‘“ (ders., Studi su Dante I, Neapel 1965, S. 144). 135 Vgl. dagegen Lieberknecht, Allegorese und Philologie, S. 9. 136 Conv. II, i, 15. 137 Cf. auch das Schreiben an Cangrande, hrsg. v. Ricklin, Kommentar zu § 20, S. 71. 138 Quodlib. VII, q. 6, art. 1, resp.; Hervorhebung durch den Herausgeber. 139 Ep. XIII, 23.
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I. Theorien der Allegorie vom Hl. Augustinus bis Dante
Bei Dante selbst kommen diese beiden Begriffe, allegoria dei poeti und allegoria dei teologi nicht ausdrücklich vor, wie Lieberknecht zurecht feststellt.140 Doch sind diese beiden Konzepte von Allegorie zumindest seit der Unterscheidung von Augustinus und Beda in allegoria in verbis und allegoria in facto im Bewußtsein verankert. Gemeint sind zum einen die von den Theologen praktizierte Bibelexegese nach dem vierfachen Schriftsinn, zum anderen die allegorische Interpretation fiktionaler Texte, deren übertragene Bedeutung erst nach der Dechiffrierung eben der allegorischen „Verhüllung“ zutage tritt. Auch Hieronymus Lauretus, gestorben 1571, teilt im aditus, also der Einleitung seiner Silva Allegoriarum Sacrae Scripturae (1570), die Allegorien in zwei Arten ein, wobei er die „theologische“ als allegoria spiritalis seu mystica bezeichnet, während er die „poetische“ unter die rhetorischen Stilmittel bzw. Tropen rechnet.141 Das folgende Kapitel möchte in einem knappen Überblick die Entwicklung eben dieser Literatur von der Spätantike bis ins lateinische Mittelalter darstellen.
140
Lieberknecht, Allegorese und Philologie, S. 13 f. H. Lauretus, Silva Allegoriarum totius Sacrae Scripturae (Barcelona 1570), 10. Ausg. Köln 1681, Nachdr.: München 1971, fol. 1, recto et verso. Cf. auch die Einleitung Friedrich Ohlys zur Silva Allegoriarum in diesem Nachdruck (S. 5–12) und in: ders., Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt 1983, S. 156– 170. 141
II. Die Entwicklung der allegorischen Literatur von der Spätantike bis ins Mittelalter 1. Spätantike: Prudentius, Martianus Capella, Claudianus, Boethius Die Personifizierung abstrakter Begriffe, die – wie wir gesehen haben – ursprünglich ein rhetorisches Stilmittel ist, findet als „fortgeführte Metapher“1 nach und nach Eingang in die Dichtung. In mittelalterlichen Abhandlungen über die Dichtkunst wird sie zur Metonymie gerechnet oder auch als prosopopeia bezeichnet, wie etwa in der Ars Versificatoria des Matthäus von Vendôme.2 Bei den antiken Autoren ist die Verwendung der Personifikationsallegorie bereits vorgezeichnet, etwa in der Thebais des Statius.3 In Ansätzen findet sie sich jedoch auch schon in der griechischen Literatur, sowohl bei Homer als auch bei Hesiod und Pindar.4 Aus diesen Anfängen entwickelten sich die großen allegorischen Gedichte der Spätantike, in denen die „Personifikation unsichtbarer Wesenheiten ein dominierendes Stilprinzip mittelalterlicher Literatur und Kunst werden“5 sollte: die Psychomachia des Prudentius und De nuptiis Mercurii et Philologiae von Martianus Capella. Aus ihnen bildete sich als eigenständige Gattung im Mittelalter die allegorische Dichtung in epischer Form heraus. Paul Zumthor definiert die Allegorie, wie sie in den genannten Werken zum Einsatz kommt, folgendermaßen: „Elle [sc. l’allégorie] part d’une métaphore, posée comme littera, pourvue d’un sens propre, sensus litteralis, auquel elle attache par un lien manifeste, grâce à la personnification, une sententia. En d’autre termes, elle passe d’une métaphore à une réalité [. . .].“6
1 prius fit genus plerumque continuatis translationibus [. . .] (Quintilian, Inst. orat., VIII, 6, 44). Cf. auch Teuber, Sacrificium litterae, S. 53–58. 2 Strubel, „Grant senefiance a“, S. 27–29. 3 Nach Lewis, The Allegory of Love, S. 48–56. Siehe auch Statius, übers. u. hrsg. v. J. H. Mozley, 2 Bde., London/Cambridge (Mass.) 1967, Bd. I, Einleitung S. xvi f. 4 Reinhardt, Personifikation und Allegorie, S. 13 und S. 23–26. 5 H. R. Jauss, Entstehung und Strukturwandel der allegorischen Dichtung, in: ders./ E. Köhler (Hrsg.), Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters (GRLMA), Bd. VI/1: La littérature didactique, allégorique et satirique. Partie historique, Heidelberg 1968, S. 215. 6 P. Zumthor, Essai de poétique médiévale, Paris 1972, S. 127.
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II. Die Entwicklung von der Spätantike bis ins Mittelalter
a) Aurelius Prudentius Clemens, Psychomachia Prudentius (348–nach 405), von Curtius als „der bedeutendste, kunstvollste, universalste [sic] frühchristliche Dichter“7 bezeichnet, galt dem Mittelalter als „Klassiker“ und Schulautor. In seinem Werk Psychomachia, das vor allem für die epische allegorische Dichtung zum Vorbild werden sollte, geht es um den Kampf der Seele des Menschen gegen das Böse, der dargestellt wird mithilfe allegorischer Schlachten der personifizierten Tugenden und Laster, von denen je zwei symmetrisch gegenübergestellt werden.8 Die Beschreibungen dieser insgesamt sieben Kämpfe lassen an antike Epen, vor allem an die Aeneis denken9. Christus verhilft schließlich „dem Guten“, also den Tugenden, zum Sieg. Diese Grundthematik spiegelt zum einen die Ursituation des Christen wider, der stets gegen die Versuchungen der Welt und des Fleisches anzukämpfen hat, wie es schon bei Paulus zum Ausdruck kommt (Gal. 5, 17). Zum anderen ist der Kampf der Seele auch vor dem Hintergrund des Konfliktes zwischen dem alten Götterglauben und dem sich eben erst als neue Religion etablierenden Christentum zu sehen.10 So findet der erste Zweikampf zwischen der Fides und der Veterum Cultura Deorum statt (V. 21–39).11 In der Folge treten nacheinander Virgo Pudicitia gegen Sodomita Libido (V. 40–108) an, Patientia gegen Ira (V. 109–177), Mens Humilis gegen Superbia (V. 178–309), Sobrietas gegen Luxuria (V. 310–453), Operatio (hier: Erbarmen) gegen Avaritia (V. 454–664) und schließlich Concordia gegen Discordia (V. 665–725). Schauplatz des Krieges ist „der gesamte Mensch in seiner körperlich-geistigen Einheit“ und nicht nur die Seele, wie Gnilka betont.12 Zur Untermauerung erwähnt Prudentius einige Gestalten des Alten Testaments, die typologisch zu den jeweiligen Tugenden in Beziehung gesetzt werden und somit den allgemeingültig-heilsgeschichtlichen Charakter der Psychomachie verstärken13: So tritt etwa die Geduld (Patientia) in der Begleitung des 7
Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, S. 59. Cf. auch M.-R. Jung, Etudes sur le poème allégorique en France au Moyen Age, Bern 1971, S. 25–34. 9 Nach Jauss, Entstehung und Strukturwandel der allegorischen Dichtung, in: GRLMA, Bd. VI/1, S. 216. 10 C. Gnilka, Studien zur Psychomachie des Prudentius, Wiesbaden 1963 (Klassisch-philologische Studien, Heft 27), S. 5–7, 27–29, 32 f. und 45 f. 11 Zitiert wird nach der Ausgabe der „Loeb Classical Library“: Prudentius, übers. u. hrsg. v. H. J. Thomson, vol. I, Cambridge (Mass.)/London 1949; dt.: Die Psychomachie des Prudentius. Lateinisch-deutsch, hrsg. u. übers. v. U. Engelmann O.S.B., Basel u. a. 1959. 12 Gnilka, Studien zur Psychomachie, S. 17. Cf. zur „Pugna virtutum“ auch S. 47– 50. 13 H. R. Jauss, Form und Auffassung der Allegorie in der Tradition der Psychomachia, in: ders./D. Schaller (Hrsg.), Medium Aevum Vivum. Festschrift für W. Bulst, Heidelberg 1960, S. 179–206, hier S. 188 f. 8
1. Spätantike
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Dulders Hiob auf (V. 163 f.); die Keuschheit (Pudicitia) verweist auf die tapfere Jungfrau Judith (V. 60–65), und die Hoffnung (Spes) aus dem Gefolge der Demut (Mens Humilis) erinnert an den Kampf zwischen David und Goliath (V. 291 f.). Ebenfalls typologisch zu deuten ist am Ende der Tempel, den die siegreichen Tugenden für Christus errichten (V. 824–887), und der präfiguriert ist durch den Tempelbau des Salomon (3 Kön. 6, 22 bzw. 3 Kön. 8, 6). Das Thema der Psychomachia wirkte im Mittelalter in vielen Bereichen weiter, in der christlichen und profanen Dichtung, in der Predigt, in der bildenden Kunst, da „den Personifikationen der Tugenden und Laster für den gläubigen Christen kaum weniger Wirklichkeit zukam als dem Glauben an Engel und Teufel“14. Bei den handelnden Figuren der Psychomachia handelt es sich also nicht nur um Personifikationen rein abstrakter Begriffe, sondern um Wesenheiten, die durchaus als Mächte empfunden wurden, die Einfluß auf das menschliche Geschick haben konnten. Jauss stellt diese Art daher in die Tradition der typologischen Auffassung von Allegorie.15 In epischer Form erscheint das Motiv kämpfender Personifikationen erst wieder im Anticlaudianus des Alanus ab Insulis. Auch im Rosenroman, vor allem im zweiten Teil, finden sich Elemente einer allegorischen Schlacht: Am Ende des Werks kämpfen nämlich die Personifikationen der Gefühle der Geliebten um die Festung, in der die Rose eingeschlossen ist. b) Claudius Claudianus, In Rufinum Dieses Werk des spätantiken Dichters Claudius Claudianus (verf. 396 n. Chr.), auf das sich Alanus ab Insulis mit seinem Anticlaudianus bezieht, stellt eine Invektive gegen einen Gegenspieler des Kaisers Honorius bzw. dessen Heermeister und Reichsverweser dar.16 Dieser Rufinus wird von Claudian als durch und durch böse charakterisiert.17 Neben der Rache am Feind (der zur Zeit der Abfassung bereits tot war) bzw. der Schmähung desselben hat Claudians Dichtung das Ziel, seinen Gönner Stilicho rühmend hervorzuheben. Im ersten Buch ruft Allecto, eine der Furien (d. h. Rachegöttinnen, auch Erinyen18 genannt) ihre Schwestern, die Übel, zu einem consilium deforme zusam14
Jauss, Form und Auffassung der Allegorie, S. 189. Ibd., S. 187 f. 16 Nach M. Fuhrmann, Rom in der Spätantike. Porträt einer Epoche, Düsseldorf/ Zürich 31998, S. 127 f. 17 Cf. auch Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, S. 129. 18 Erinyen treten bisweilen in Dreizahl auf, nämlich Alekto („die nie Aufhörende“), Megaira („die Neiderin“) und Tisiphone („die Rächerin des Mordes“). Sie verkörpern in der griechischen Literatur eine primitive, aber klare Vorstellung von Recht und Strafe und sind meist als schreckenerregende Wesen dargestellt (Cf. K.-H. Roloff, 15
44
II. Die Entwicklung von der Spätantike bis ins Mittelalter
men. Folgende allegorischen Gestalten werden genannt: Discordia (Zwietracht), Fames (Hunger), Senectus (Alter), Morbus (Krankheit), Livor (Neid), Luctus (Trauer), Timor (Furcht), Audacia (Kühnheit/Frechheit), Luxus (Ausschweifung), Egestas (Not), Avaritia (Geiz), Curae (Sorgen). Bei der letztgenannten Personifikation fällt auf, daß ihr Name im Plural steht (curae), obwohl es sich um eine einzige Gestalt handelt. Man sieht daran, daß die Abstraktion schon sehr weit fortgeschritten ist. Allecto beklagt, daß die Völker in Frieden und Glück leben. Um dem abzuhelfen, soll das Scheusal Rufinus, das alle Schlechtigkeiten in sich vereint, an den oströmischen Hof gesandt werden. Nachdem das geschehen ist (und Rufinus mit seinen Lastern das ganze Land in Schrekken und Unruhe gestürzt hat), treten Rufins vitia gegen die Tugenden des weströmischen Feldherrn Stilicho im Kampf an. Im zweiten Buch wird der Untergang des Rufinus geschildert. c) Martianus Capella, De nuptiis Mercurii et Philologiae Neben der Psychomachia steht als zweites wichtiges allegorisches Epos das „Lehrbuch der artes liberales“19, De nuptiis Mercurii et Philologiae.20 Dieses Prosimetrum ist ein Werk des aus Karthago stammenden Martianus Capella, das zwischen 410 und 439 verfaßt wurde.21 Zum Inhalt hat es die Vermählung des Gottes Merkur mit der Philologie, die in romanhafter Form mit Verseinlagen geschildert wird. Das Hochzeitsgeschenk für die Braut sind die Sieben Freien Künste, die in der Gestalt von sieben Frauen jeweils bestimmte Attribute aufweisen (Kleidung, Haartracht, Gerät) und sich vornehmlich in langen Monologen präsentieren.22 Jeder Personifikation ist eines der Bücher 3–9 des Werkes gewidmet; die beiden ersten der insgesamt neun Bücher der Romanhandlung dagegen berichten von den Hochzeitsvorbereitungen bzw. der Apotheosis der Philologia23. Interessant ist übrigens auch, daß die allegorischen Darstellungen der Freien Künste in eben diesen Gestalten während des ganzen Mittelalters immer wieder sowohl in der Dichtung als auch in der Bildenden Kunst bis hin Art. Erinyen, in: Lexikon der Alten Welt, hrsg. v. C. Andresen u. a., Bd. I, Düsseldorf 2001 (Nachdr.), Sp. 857 f.). 19 Jauss, Entstehung und Strukturwandel der allegorischen Dichtung, in: GRLMA, Bd. VI/1, S. 215. 20 Martianus Capella, hrsg. v. A. Dick [1925], Anm. v. J. Préaux, Stuttgart 1969. Deutsche Übersetzung: Martianus Capella, Die Hochzeit der Philologia mit Merkur (De nuptiis Philologia et Mercurii). Übersetzt mit einer Einleitung, Inhaltsübersicht und Anmerkungen versehen von H. G. Zekl, Würzburg 2005. 21 Nach Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, S. 47 und Strubel, „Grant senefiance a“, S. 113. Cf. zu De nuptiis auch Jung, Etudes sur le poème allégorique, S. 35–58. 22 Strubel, „Grant senefiance a“, S. 113. 23 Nach Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, S. 48 f. und Lewis, The Allegory of Love, S. 79.
1. Spätantike
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zu Botticelli auftauchen.24 Auch im Anticlaudianus des Alain de Lille werden sie uns wieder begegnen. Martianus Capella begründete mit diesem Prosimetrum „das allegorische Schema der ,Hochzeit‘“25, das in der Literatur der Folgezeit – ebenso wie bataille und tournoi – häufig wiederkehrt. Es klingt auch in der Divina Commedia noch an: In Par. XI, 58–75 und XII, 61 ff. werden die allegorischen Hochzeiten des Heiligen Franziskus mit der Armut und des Heiligen Dominikus mit dem Glauben geschildert. Außerdem findet sich im Werk des Martianus das Motiv einer Reise durch die Himmelssphären26, das nicht nur bei Dante, sondern schon bei Alanus wiederkehrt und von Chaucer ebenfalls wieder aufgenommen wurde. d) Anicius Manlius Severinus Boethius, De consolatione philosophiae Auch bei diesem Werk handelt es sich um ein Prosimetrum, wie schon bei De Nuptiis von Martianus Capella. Auch Alanus greift in De Planctu Naturae auf diese Gattung, in der sich Prosa-Teile mit Verseinlagen abwechseln, zurück. Die Consolatio oder Trostschrift gehört wie der Dialog zu den Gattungen der philosophischen Literatur. Boethius (um 480–524) war im Jahre 510 römischer Konsul; 522 wurde er Kanzler (Magister officiorum) am Hof Theoderichs in Ravenna, fiel bald darauf jedoch in Ungnade, wurde zu Unrecht des Verrats verdächtigt und 524 hingerichtet.27 Seine Dichtung über den Trost der Philosophie entstand, als er bereits in Haft war.28 Sie ist „eine spätantike Summe griechisch-römischen Philosophierens“29 und gehört nicht nur zu den meistgelesenen Büchern des Mittelalters, sondern wurde auch schon früh in andere Sprachen übersetzt, so von Jeun de Meun ins Französische30 und von Geoffrey Chaucer ins Englische. Auch in der Schule von Chartres galt Boethius als einer 24
Cf. Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, S. 49. Jauss, Entstehung und Strukturwandel der allegorischen Dichtung, in: GRLMA, Bd. VI/1, S. 221. 26 Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, S. 49, Strubel, „Grant senefiance a“, S. 113. 27 Cf. zu Leben und Werk des Boethius J. Gruber, Kommentar zu Boethius, De consolatione philosophiae, Berlin/New York 1978, S. 1–13 und F. Klingner, Boethius, in: ders., Römische Geisteswelt. Essays zur lateinischen Literatur, Stuttgart 1984, S. 579–613. 28 Nach Fuhrmann, Rom in der Spätantike, S. 153. 29 W. Beierwaltes, Denken des Einen. Studien zur neuplatonischen Philosophie und ihrer Wirkungsgeschichte, Frankfurt a. M. 1985, S. 320. 30 Guillaume de Lorris, Jean de Meun, Le Roman de la Rose, hrsg. v. A. Strubel, Paris 1984, S. 5; cf. auch G. Contini, Un nodo della cultura medievale: la serie „Roman de la Rose“ – „Fiore“ – „Divina Commedia“ (1972), in: Lettere Italiane 2, 1973, S. 162–189, hier S. 168. 25
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II. Die Entwicklung von der Spätantike bis ins Mittelalter
der Hauptautoren und neben Platon als größte Autorität auf dem Gebiet der antiken Philosophie.31 Die Consolatio besteht aus fünf Büchern, die als Dialog zwischen dem IchErzähler und der personifizierten Philosophia konzipiert sind, wobei sein seelisches Leiden als körperliche Krankheit dargestellt ist. Die Philosophie tritt daher als Ärztin auf, um ihn von dieser Krankheit zu heilen.32 Thema des ersten Buches ist das Leid der Gefangenschaft. Es folgen Gespräche über die Unbeständigkeit des Glücks (Buch 2), über Gott als das Endziel aller Dinge (Buch 3), über die göttliche Vorsehung sowie die Theodizee (Buch 4) und schließlich über das Verhältnis der menschlichen Willensfreiheit zu Gottes Vorherwissen (Buch 5)33. Die Prosa-Teile enthalten die Argumentation in Dialogform, während die metrischen Teile, insgesamt 39 Gedichte zumeist in horazischen Versmaßen, das soeben Diskutierte in lyrischer Form – vergleichbar dem Chor in der attischen Tragödie – reflektieren. Wichtig sind in unserem Zusammenhang nicht nur die personifizierte Philosophia, die als Gesprächspartnerin des Boethius auftritt, sondern auch die Personifikationsallegorie der Fortuna, welche Gegenstand des zweiten Buches ist. Da die Schilderungen beider Alanus beeinflußt haben, ist es angebracht, sie näher zu untersuchen. Beginnen wir mit dem Auftritt der Philosophia zu Beginn des ersten Buches: Nach dem ersten carmen, in dem Boethius sein Unglück beklagt, sieht er plötzlich eine weibliche Gestalt an seinem Bett stehen (Consol. 1, pr. 1)34: Haec dum mecum tacitus ipse reputarem [. . .], astitisse mihi supra verticem visa est mulier reverendi admodum vultus oculis ardentibus et ultra communem hominum valentiam perspicacibus, colore vivido atque inexhausti vigoris, quamvis ita aevi plena foret, ut nullo modo nostrae crederetur aetatis, statura discretionis ambiguae. Nam nunc quidem ad communem sese hominum mensuram cohibebat, nunc vero pulsare caelum summi verticis cacumine videbatur; quae cum altius caput extulisset, ipsum etiam caelum penetrabat respicientumque hominum frustrabatur intuitum. Vestes erant tenuissimis filis subtili artificio indissolubili materia perfectae quas, uti post eadem prodente cognovi, suis manibus ipsa texuerat. Quarum speciem, veluti fumosas imagines solet, caligo quaedam neglectae vetustatis obduxerat. 31 W. Wetherbee, Platonism and Poetry in the Twelfth Century. The Literary Influence of the School of Chartres, Princeton 1972, S. 74; cf. auch S. 75–82 sowie Beierwaltes, Denken des Einen, S. 319 f. 32 Cf. auch E. C. Sweeney, Logic, Theology, and Poetry in Boethius, Abelard, and Alan of Lille. Words in the Absence of Things, New York 2006, S. 40 f. 33 Nach B. Altaner/A. Stuiber, Patrologie. Leben, Schriften und Lehre der Kirchenväter, Freiburg i. Br. 81978, S. 485 und H. R. Drobner, Lehrbuch der Patrologie, Frankfurt a. M. u. a. 22004, S. 459. Cf. auch H. v. Campenhausen, Lateinische Kirchenväter, Stuttgart u. a. 71995, S. 241–249. 34 Boethius, Trost der Philosophie. Lateinisch und deutsch, hrsg. u. übers. v. E. Gegenschatz u. O. Gigon, eingel. v. O. Gigon, Zürich/München 41986.
1. Spätantike
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Harum in extremo margine P Graecum, in supremo vero Q legebatur intextum. Atque in utrasque litteras in scalarum modo gradus quidam insigniti videbantur, quibus ab inferiore ad superius elementum esset ascensus. Eandem tamen vestem violentorum quorundam sciderant manus et particulas, quas quisque potuit, abstulerant. Et dextra quidem eius libellos, sceptrum vero sinistra gestabat.
Da eine Gesamtinterpretation dieser Passage zu weit führen würde, beschränken wir uns hier auf das für uns Wesentliche, nämlich die Darstellung der Philosophia als ehrwürdige Frau, und auf den Aufbau der Beschreibung. Diese kann in drei Teile untergliedert werden: Sie beginnt mit dem Äußeren der Dame, es folgen ihr Gewand und schließlich werden ihre Attribute genannt. Wie bei dieser Art von Allegorien üblich35, weist das Äußere der beschriebenen Gestalt bestimmte Charakteristika auf, die das Wesen der jeweiligen Personifikation, hier der Philosophie, symbolisieren sollen. In unserem Fall hat die Philosophie ein ehrwürdiges Antlitz (mulier reverendi [. . .] vultus) mit brennenden, ja geradezu „durchdringenden“ Augen (oculis ardentibus et [. . .] perspicacibus). Sie ist einerseits von blühender Jugendkraft, andererseits hochbetagt (colore vivido atque inexhausti vigoris, quamvis [. . .] aevi plena) – dies soll wohl die Überzeitlichkeit andeuten oder auch die Gegensätze, mit denen sich die Philosophie, vor allem die Dialektik befaßt. Außerdem ist ihre Körpergröße abwechselnd die eines gewöhnlichen Sterblichen (nunc [. . .] ad communem sese hominum mensuram cohibebat) und von überdimensionalen Ausmaßen, so daß sie das Firmament mit dem Scheitel berühren (nunc [. . .] pulsare caelum summi verticis cacumine videbatur), ja sogar mit ihrem Haupt bis in den Himmel vordringen kann (cum altius caput extulisset, ipsum etiam caelum penetrabat). Sie ist also einerseits ganz menschlich, hat aber andererseits göttliche Züge und füllt den ganzen Kosmos aus36 bzw. sie befaßt sich mit allgemein menschlichen Angelegenheiten, aber auch mit „übermenschlichen“ bzw. übernatürlichen (metaphysischen) Themen, die die menschliche Erkenntnis übersteigen. Eine vom Umfang her etwa gleich ausführliche Beschreibung ist dem Gewand (vestes) der Philosophia gewidmet: Es ist äußerst kunstfertig von ihr selbst (suis manibus) aus feinen Fäden und unzerstörbarem Material hergestellt (tenuissimis filis subtili artificio indissolubili materia). Die griechischen Buchstaben P und Q als Abkürzungen für Praxis und Theorie sind darin eingewoben und mit einer Leiter verbunden, welche den neuplatonischen Aufstieg von der Praxis zur Theorie versinnbildlicht.37 Zum Schluß werden die beiden Attribute erwähnt, die die Philosophia in den Händen hält: In der Rechten trägt sie
35 Diese Tradition reicht bis in die römische Klassik, etwa zu Horaz zurück (cf. Trost der Philosophie, hrsg. v. Gigon u. a., Einleitung, S. XIX und Kommentar, S. 279). 36 Nach Trost der Philosophie, hrsg. v. Gigon u. a., Einleitung, S. XIX. 37 Ibd., S. XIX und Kommentar, S. 279.
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II. Die Entwicklung von der Spätantike bis ins Mittelalter
Bücher, in der Linken ein Szepter (dextra [. . .] eius libellos, sceptrum [. . .] sinistra). Alanus ab Insulis übernahm von Boethius diese Art der Darstellung, vor allem den dreigeteilten Aufbau für seine Personifikationen nach dem Äußeren, dem Gewand und den Attributen, sowie die Beschreibung der Philosophie als hehre Frau für seine Darstellung der Prudencia im Anticlaudianus (Acl. I, 270– 320) und der regina poli (Acl. II, 83–165). Eine weitere wichtige Stelle ist die Beschreibung der Fortuna und vor allem ihres Rades im zweiten Buch (Consol. 2, pr. 1 et 2).38 Philosophia stellt Boethius vor Augen, daß die Veränderlichkeit (mutabilitas) der Fortuna (des Glükkes) in deren Natur liegt, ja sogar ihre Beständigkeit (constantia) ausmacht, und er daher nicht darüber klagen soll (Cons. 2, pr. 1): Hi semper eius [sc. fortunae] mores sunt, ista natura. Servavit circa te propriam potius in ipsa sui mutabilitate constantia.
Fortuna wird des weiteren charakterisiert als blinde Gottheit mit zweideutigem Antlitz (caeci numinis ambiguos vultus; ibd.). Im selben Abschnitt wird auch ihr Attribut, das rollende Rad (volventis rotae; ibd.), erstmals erwähnt. In der zweiten Prosa des zweiten Buches übernimmt Philosophia nun selbst die Rolle der Fortuna und tritt gewissermaßen als ihre eigene Anwältin auf: Vellem autem pauca tecum Fortunae ipsius verbis agitare (Consol. 2, pr. 2).39 Interessant ist hier übrigens auch, wie mit den Allegorien „gespielt“ wird: Eine Personifikation (Philosophia) „schlüpft“ gewissermaßen in die Rolle einer anderen (Fortuna). In der Folge macht die Glücksgöttin noch einmal deutlich, daß Beständigkeit ihrem Wesen fremd ist (constantiam nostris moribus alienam) und stellt ihre Macht als andauerndes Spiel mit dem sich drehenden Rad dar: Haec nostra vis est, hunc continuum ludum ludimus: rotam volubili orbe versamus, infima summis, summa infimis mutare gaudemus. Ascende, si placet, sed ea lege, ne, cum ludicri mei ratio poscet, descendere iniuriam putes. (Consol. 2, pr. 2)
Auch dieser Gedanke wird von Alanus im Anticlaudianus verarbeitet (Acl. VIII, 1–62).
38 Cf. P. Ochsenbein, Studien zum Anticlaudianus des Alanus ab Insulis, Bern/ Frankfurt a. M. 1975, S. 35. 39 Cf. auch Sweeney, Logic, Theology, and Poetry, S. 41 f.
2. Lateinisches Mittelalter
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2. Lateinisches Mittelalter: Bernardus Silvestris, Johannes de Altavilla Nach einer Unterbrechung von fast sieben Jahrhunderten kommen erst im zwölften Jahrhundert wieder allegorische Gedichte in lateinischer Sprache auf: „Il faut attendre en effet le milieu du XIIe siècle pour trouver des œuvres latines qui se servent de procédés allégoriques; elles y recourent comme Martianus et Boèce pour mettre en scène des notions philosophiques“.40 Neben den großen allegorischen Gedichten bzw. Prosimetra gibt es auch einige kleinere Werke, z. B. die Metamorphosis Goliae Episcopi (um 1142)41, Altercatio Phyllidis et Florae (etwa zur gleichen Zeit)42 oder das Figmentum von Etienne de Tournai.43 Wie schon bei ihren spätantiken Vorbildern geht es auch den „philosophical allegorists“44 Bernardus Silvestris, Johannes de Altavilla und Alanus ab Insulis darum, abstrakte Begrifflichkeiten zu konkretisieren, Wissen zu „verkörpern“ – ein Wissen, das bei den Dichtern des 12. Jh. aus dem Platonismus der Schule von Chartres erwächst. Die Verbindung von antiker Philosophie und christlicher Theologie, von Kosmologie und christlicher Schöpfungslehre, das Studium der klassischen auctores, der artes liberales und der Bibel – dies sind die Hauptlinien chartrensischer Ausbildung, die hier nur sehr grob skizziert werden können.45 Vor allem Platon wurde große Bedeutung beigemessen, „whose Timaeus was revered as the ,flower of all philosophy‘“.46 Namhafte Gelehrte wie Thierry und Bernhard von Chartres, Guillaume de Conches und Gilbert von Poitiers werden mit dieser Kathedralschule in Verbindung gebracht, auch wenn ihre wirkliche Existenz als „Schule“ heutzutage angezweifelt wird.47
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Strubel, „Grant senefiance a“, S. 114 f. Wetherbee, Platonism and Poetry, S. 128. 42 Ibd., S. 220. Siehe auch P. Zumthor, Histoire littéraire de la France médiévale. VIe–XIVe siècles, Paris 1954, S. 183. 43 Die drei Werke sind ungenau zitiert bei Jung, Etudes sur le poème allégorique, S. 59. 44 Wetherbee, Platonism and Poetry, S. 3. 45 Siehe Wetherbee, Platonism and Poetry, S. 19–28, v. a. S. 21 f. und Jauss, Form und Auffassung der Allegorie, S. 189 f. Cf. auch K. Flasch, Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli, Stuttgart 1986, S. 226–235. 46 Wetherbee, Platonism and Poetry, S. 29. Cf. zum Timaios auch Wetherbee, Platonism and Poetry, S. 28–36 und S. 38–48. 47 M. Lemoine, Alain de Lille et l’École de Chartres, in: J.-L. Solère u. a. (Hrsg.), Alain de Lille, le Docteur Universel. Philosophie, théologie et littérature au XIIe siècle, Turnholt 2005, S. 47–58, bes. S. 47–49. 41
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II. Die Entwicklung von der Spätantike bis ins Mittelalter
Ein besonderer Schwerpunkt bei der Beschäftigung mit den antiken Autoren liegt auf deren integumentaler Deutung: Neben dem Timaios in der Übersetzung von Chalcidius wurden auch poetische Texte wie Vergils Aeneis, die Thebais des Statius sowie die Dichtungen Ovids auf einen hinter der dichterischen Fiktion verborgenen Sinn hin interpretiert, dem eine tiefere Weisheit zugrundeliegt. Zugleich mit dieser Deutungsweise antiker Werke entsteht eine neue poetische Tradition, die ihrerseits integumenta, also allegorisch verschlüsselte Texte herstellt und in die sich Bernardus Silvestris und Alanus ab Insulis mit ihren allegorischen Dichtungen einschreiben.48 „Le moyen âge latin ne fut pas seulement prospecteur d’allégories: à son tour, il en créa.“49 Der Begriff integumentum wurde hauptsächlich in bezug auf die Allegorese profaner Texte verwendet, etwa bei Guillaume de Conches, während involucrum auch in den theologischen Sprachgebrauch einging50; allerdings wurde die Unterscheidung nicht immer konsequent durchgehalten.51 Bernardus Silvestris, der seinerseits aus der Schule von Chartres hervorgeht, befaßt sich zugleich auch selbst mit der Allegorese. Zu Beginn seines Commentum super sex libros Eneidos Virgilii gibt er eine Defintion des integumentum, nach der eine Wahrheit in einer erfundenen Geschichte verhüllt ist52: Integumentum vero est genus demonstrationis sub fabulosa narratione veritatis involvens intellectum, unde et involucrum dicitur.53 Er deutet die ersten sechs Bücher der Aeneis als Darstellung des menschlichen Lebens in sechs Lebensaltern, wobei gezeigt wird, was der menschliche Geist tut oder erleidet, während er zeitweise in den Körper versetzt ist (sub integumento describit, quid agat vel quid patiatur humanus spiritus in humano corpore temporaliter positus54). Dabei entspricht das erste Buch der Aeneis der prima etas, das zweite der pueritia, das dritte der adolescentia, das vierte der iuventus, das fünfte schließlich der virilis aetas. Das sechste Buch hingegen, welches bekanntlich vom descensus Eneae ad inferos berichtet, wird explizit keinem Alter mehr zugeordnet – allerdings kann man annehmen, daß es sich mit dem letzten Lebensalter (senectus) und dem Sterben befaßt. Es beschäftigt den Kommentator wegen seines philo48 Brinkmann, Verhüllung, S. 320 und 325, cf. auch Haug, Göttliches Geheimnis, S. 419. 49 De Lubac, Exégèse médiévale I, I, S. 197. 50 Brinkmann, Mittelalterliche Hermeneutik, S. 169 f. 51 Cf. de Lubac, Exégèse médiévale II, II, S. 190–192. 52 Bernardus greift auch auf Abaelard zurück, der bereits den platonischen Timaios sowie andere auctores als involucra gedeutet hatte (siehe Wetherbee, Platonism and Poetry, S. 38). Cf. auch Brinkmann, Verhüllung, S. 321 sowie F. Bezner, Vela Veritatis. Hermeneutik, Wissen und Sprache in der intellectual history des 12. Jahrhunderts, Leiden/Boston 2005, S. 33–38. 53 Commentum Bernardi Silvestris super sex libros Eneidos Virgilii, hrsg. v. G. Riedel, Greifswald 1924, S. 3. 54 Commentum Bernardi Silvestris, hrsg. v. Riedel, S. 3.
2. Lateinisches Mittelalter
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sophischen Gehaltes wesentlich ausführlicher als die übrigen fünf Bücher: quia profundius veritatem in hoc volumine declarat Virgilius, ideo non tantummodo summam, verum etiam verba exponendo in eo diutius immoremur.55 Ein Beispiel soll Bernhards Vergil-Allegorese veranschaulichen: Im vierten Buch geht Äneas auf die Jagd und muß vor einem Unwetter Zuflucht in einer Höhle suchen, wo er mit Dido zusammentrifft.56 Das Gewitter und das darauf folgende adulterium mit Dido werden allegorisch gedeutet als die Verirrungen der Jugend: Tempestatibus et pluviis ad caveam compellitur i. e. commotionibus carnis [. . .] ad immunditiam carnis et libidinis ducitur. Das Verlassen Didos wird hingegen als Abkehr von der libido gelesen: Discedit a Didone et desuescit sc. a libidine.57 Die Tradition der Vergil-Allegorese setzt sich fort bis zum Florentiner Humanismus: Noch Cristoforo Landino (1424–1498), der im übrigen auch die Divina Commedia kommentiert hat, verfaßte 1472 seine Disputationes Camaldulenses in vier Büchern. Während die ersten beiden Bücher der vita contemplativa und dem summum bonum gewidmet sind, wird in Buch III und IV die erste Hälfte der Aeneis (Buch I–VI) allegorisch als Weg der Seele von den Lastern zur Weisheit ausgelegt.58 a) Bernardus Silvestris, De mundi universitate Der Dichter und Philosoph Bernardus Silvestris oder Bernhard von Tours59 verfaßte neben seinen allegorischen Kommentaren zur Aeneis und zu De nuptiis Philologiae et Mercurii vor 1147 sein herausragendes Prosimetrum De mundi universitate.60 Dieser „traité philosophique présenté sous un figmentum poeticum“61, auch unter dem Titel Cosmographia bekannt, beschreibt in zwei Büchern, Megacosmus und Microcosmus, die Entstehung der Welt und den Ab-
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Ibd., S. 28. Aeneis IV, 130–172. 57 Commentum Bernardi Silvestris, hrsg. v. Riedel, S. 24 bzw. 25. Cf. zu Bernhards Aeneis-Kommentar auch Jung, Etudes sur le poème allégorique, S. 60–62 und Brinkmann, Mittelalterliche Hermeneutik, S. 292 f. und 300–317. 58 Christophorus Landinus, Comento sopra la Comedia [1481], 4 Bde., hrsg. v. P. Procaccioli, Rom 2001. Ders., Disputationes Camaldulenses, hrsg. v. P. Lohe, Florenz 1980. 59 Jung, Etudes sur le poème allégorique, S. 60; cf. auch Wetherbee, Platonism and Poetry, S. 104 f. 60 Bernardi Silvestris De Mundi Universitate Libri Duo sive Megacosmos et Microcosmos, hrsg. v. C. S. Barach/J. Wrobel, Innsbruck 1876; dt.: Bernardus Silvestris, Über die allumfassende Einheit der Welt. Makrokosmos und Mikrokosmos, übers. u. eingel. v. W. Rath, Stuttgart 1965. 61 Jung, Etudes sur le poème allégorique, S. 61. 56
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II. Die Entwicklung von der Spätantike bis ins Mittelalter
lauf der Weltgeschichte.62 Dabei treten als Beispielfiguren christliche und heidnische, historische und mythische Personen auf – wenn nicht nebeneinander, so doch nacheinander63: Paris, Hippolytos, Priamos, Odysseus, Herakles, Thales, Cicero, Vergil, Nero, Titus und zuletzt die Heilige Jungfrau Maria und Papst Eugen III., unter dessen Pontifikat das Werk entstand.64 Eingebettet ist dieser Überblick über die Weltgeschichte in eine Art Rahmenerzählung: Im ersten Buch beklagt sich Natura bei Noys (griechisch: no¯ò) über das Chaos, den Urzustand der silva, der Materie65, woraufhin Noys sich bereit erklärt, den Makrokosmos nach bestimmten Gesichtspunkten zu ordnen, etwa nach den vier Elementen, der Hierarchie der Engel oder nach den Planeten und den Fixsternen. Im zweiten Buch wird die Erschaffung des Menschen unter der Mitwirkung von Noys, Natura, Physis und Urania geschildert und der Mensch als Mikrokosmos beschrieben.66 Auch diese Kosmologie, in der der Mikrokosmos als Analogie zum Makrokosmos gedacht wird, geht auf den platonischen Timaios zurück.67 Vor allem die Personifikation der Natura wirkte bei Alanus und Jean de Meun weiter.68 b) Johannes de Altavilla, Architrenius Das Epos Architrenius (verfaßt 1184)69, zu deutsch „Erzklager“, schildert in der Form eines satirischen Reiseromans aus 4361 Hexametern die Laster und Verkehrtheiten der Welt im Kloster, bei Hofe und an der Universität – es han-
62 Cf. Wetherbee, Platonism and Poetry, S. 158–186 sowie Bezner, Vela Veritatis, Kap. VI: „Naturphilosophie in integumentaler Form – die Cosmographia des Bernardus Silvestris“, S. 415–470; siehe auch Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, S. 119. 63 Das Nebeneinander von historischen und mythischen, christlichen und heidnischen Gestalten findet sich bei Dante ebenfalls, und zwar nicht nur in der Hölle, sondern auch bei den exempla des Purgatorio. 64 Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, S. 119; cf. auch G. R. Evans, Alan of Lille. The Frontiers of Theology in the later Twelfth Century, Cambridge 1983, S. 133 und 137–139 sowie Wetherbee, Platonism and Poetry, S. 104 und Anm. 73. 65 Das griechische Wort für „Materie“ lautet Ölh und kann gleichzeitig auch „Wald“, lateinisch silva, heißen; der Beiname des Verfassers „Silvestris“ ist übrigens davon abgeleitet (so Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, S. 119). 66 Cf. auch Lemoine, Alain de Lille et l’École de Chartres, S. 54 f. 67 The Cosmographia of Bernardus Silvestris, übers., eingel. u. hrsg. v. W. Wetherbee, New York 1973, 21990, Einleitung, S. 3. 68 Cf. Jung, Etudes sur le poème allégorique, S. 62–64; siehe auch Strubel, „Grant senefiance a“, S. 115. 69 Johannis de Altavilla Architrenius, in: Th. Wright (Hrsg.), The Anglo-Latin Satirical Poets and Epigrammatists of the Twelfth Century, Vol. I, London 1872, Nachdr. 1964, S. 240–392.
3. Die Weiterentwicklung des Genres in der Volkssprache
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delt sich hierbei um die früheste Beschreibung des Pariser Studentenlebens. Es geht also bei Johannes eher um menschliche, alltägliche Themen und weniger um „allégories cosmologiques et utopiques“70 wie bei Bernardus oder Alanus.71 Ähnlich wie in De Planctu Naturae werden die entarteten Sitten der Zeit beklagt; allerdings ist nicht Natura die Sprecherin, sondern der Architrenius selbst. Auf der Suche nach Natura gelangt dieser in den Palast der Venus, wo er sich jedoch zunächst in Ausschweifungen verstrickt. Die Erlösung des Titelhelden erfolgt schließlich nach moralischer Unterweisung durch die Göttin Natura und die Philosophen des Altertums in der allegorischen Hochzeit mit der Tugend Moderantia.72 Der wichtigste der „Dichter-Philosophen“ des 12. Jahrhunderts ist Alanus ab Insulis; nicht zuletzt aufgrund seines Einflusses auf Jean de Meun.73 Deswegen wird die Untersuchung vor allem seines Anticlaudianus in der vorliegenden Studie breiteren Raum einnehmen. Bevor wir uns jedoch diesem großen mittellateinischen Autor zuwenden, sei ein Blick auf die Weiterentwicklung des allegorischen Genres in der Volkssprache gestattet.
3. Die Weiterentwicklung des Genres in der Volkssprache: Themen und Gattungen Die im vorhergehenden Kapitel genannten spätlateinischen Werke setzten sich nur zum Teil direkt in der mittelalterlichen Literatur fort. Am Anfang der eigentlichen allegorischen Literatur der Volkssprachen stehen Texte, die der historia, also dem Stoff der Bibel entnommen sind, und Bearbeitungen bzw. Auslegungen sakraler Texte, so u. a. eine moralische und allegorische Erläuterung des Pater Noster (1180 von einem gewissen Silvestre für die Gräfin Ida von Boulogne verfaßt), eine Allegorese des Psalms 44 Eructavit cor meum verbum bonum für die Gräfin Marie de Champagne von Adam de Perseigne74 oder verschiedene Bearbeitungen des Canticum Canticorum75, u. a. von Landri de Waben.76 Nach und nach entwickelten sich aus diesen religiösen 70
Jung, Etudes sur le poème allégorique, S. 59. Cf. auch Wetherbee, Platonism and Poetry, S. 242–255. 72 Strubel, „Grant senefiance a“, S. 117 f. Cf. auch Jung, Etudes sur le poème allégorique, S. 113–121. 73 Strubel, „Grant senefiance a“, S. 116. 74 Nach Jauss, Entstehung und Strukturwandel der allegorischen Dichtung, in: GRLMA, Bd. VI/1, S. 154 f. und Strubel, „Grant senefiance a“, S. 108. 75 Cf. zur Allegorese des Hohenliedes auch Teuber, Sacrificium litterae, S. 47–58. 76 Siehe auch F. Ohly, Hohelied-Studien. Grundzüge einer Geschichte der Hoheliedauslegung des Abendlandes um 1200, Wiesbaden 1958, S. 277–280 und insbesondere zu Landri S. 280–302. 71
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II. Die Entwicklung von der Spätantike bis ins Mittelalter
Texten verschiedene Gattungen allegorischer Literatur, die zunächst noch sehr eng an die Exegese angelehnt waren, wie etwa Predigt oder Traktat, später aber auch in profanen Bereichen auftraten.77 Armand Strubel nennt drei allegorische Werke, die am Beginn der „création allégorique“78 stehen und die zugleich die drei wichtigsten Gattungen markieren: Dies ist zum einen der Songe d’Enfer bzw. Voie d’Enfer von Raoul de Houdenc (verfaßt 1210), der der Visionsliteratur zuzuordnen ist79; zum anderen der Tournoiement Antecrist von Huon de Mery (1234–1240), der die Gattung der Psychomachia erstmals in der Volkssprache weiterführt und diese mit der Artuswelt einerseits sowie mit den auf Augustinus zurückgehenden beiden civitates andererseits in Verbindung bringt.80 Das dritte Werk schließlich ist der erste Teil des Roman de la Rose von Guillaume de Lorris (1230–1240) mit der Thematik der quête amoureuse bzw. der Minneallegorie. Bestimmte allegorische Schemata kehren also in der volkssprachlichen allegorischen Literatur immer wieder. Dazu gehören „Reise, Pilgerfahrt, Verfolgung, Kampf, Suche (queste)“; diese deutet Gerhard Kurz als „traditionelle Merkmale der Gattung Allegorie“81, die zum „Funktionieren“ der Allegorie beitragen, da sie den Leser implizit auffordern, eine übertragene Bedeutung im Text zu suchen. Der Autor legt für ein „Gelingen“ der Allegorie mehrere Voraussetzungen fest, nämlich ein dem Leser und Autor gemeinsames, stillschweigendes Wissen sowie einen „Rekonstruktionsprozeß“82 in vier Schritten, den der Leser vornehmen muß. Dieser besteht in der Aufforderung an den Leser, eine zusätzliche Bedeutung im Text zu suchen (1), im Ausschluß möglicher Interpretationsalternativen (2), in „Annahmen über das Wissen und die Absichten des Autors“83 (3) und schließlich in der Rekonstruktion der allegorischen Bedeutung „durch analogische und identifikatorische Reflexionen aus der sekundären Geschichte“84 (4). Die unter (1) genannte textinterne Aufforderung kann explizit oder implizit sein. Eine solche explizite Anweisung findet sich z. B. in der Divina Commedia, Inf. IX, 61–63: mirate la dottrina che s’asconde/sotto ’l velame de li versi strani.
77 Einen Überblick über die allegorischen Werke des 13. Jh. (in französischer Sprache) gibt Strubel, „Grant senefiance a“, S. 122–125. 78 Strubel, „Grant senefiance a“, S. 107. 79 Cf. auch Jauss, Form und Auffassung der Allegorie, S. 191 f. 80 Jauss, Form und Auffassung der Allegorie, S. 193 f. 81 Kurz, Zu einer Hermeneutik, S. 18. 82 Ibd., S. 17. 83 Ibd., S. 19. 84 Ibd.
3. Die Weiterentwicklung des Genres in der Volkssprache
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a) Dit Dieser Begriff – abgeleitet aus lateinisch dictum „gesprochenes Wort, Spruch, Sentenz“ bzw. aus veritatem dicere85 – bezeichnetete nach und nach eine eigenständige literarische, ursprünglich christliche Gattung, die als Gegenstück zur weltlich-höfischen Dichtung zwischen 1190 und 1220 hauptsächlich im französischsprachigen Raum entstand und ab etwa 1240 ihre Blütezeit erlebte: Wichtige Vertreter waren beispielsweise Rutebeuf, Baudouin de Condé und Hue Archevesque. In Italien existierte der Begriff Detto vor allem für profane Literatur86. Der Dit hatte meist lehrhaften Charakter und bildete somit zwar keinen unmittelbaren Nachfolger, aber doch eine Art Entsprechung zum lateinischen Lehrgedicht. Er gebrauchte die allegorische Form, um den Anspruch auf Wahrheit zu rechtfertigen und sich somit bewußt von der Fiktion der weltlichen Literatur abzusetzen, die oft den Protest geistlicher Dichter hervorrief. Neben der belehrenden gab es auch die eher meditative bzw. parabolische Variante. Festzuhalten ist in jedem Fall die „bekenntnishafte Intention“87. So teilt auch Poirion die Dits in zwei Spielarten ein: die eine sei „la description d’un ,objet‘“, die andere „la parabole qui après une histoire riche en suggestions symboliques en donne une explication parfois simpliste“.88 Beliebte Themen dieser geistlichen Dichtung des 13. Jh. waren die aus den Predigten der Zeit, vor allem vom Heiligen Bernhard von Clairvaux und von den Viktorinern übernommenen Motive wie die armatura Dei, eine Anspielung auf die ritterlichen Tugenden des christlichen Soldaten, die „drei Feinde des Menschen“, mundus, caro, daemonia89, die „vier Töchter Gottes“, misericordia, veritas, justitita, pax90, und das castellum amoris91. Später wurde dieser Ausdruck allegorisch auf Mariä Empfängnis umgedeutet.92
85 Nach Jauss, Entstehung und Strukturwandel der allegorischen Dichtung, in: GRLMA, Bd. VI/1, S. 164 und S. 151. 86 Nach ibd., S. 161. 87 Ibd., S. 164. 88 D. Poirion, Précis de littérature française du Moyen Age, Paris 1983, S. 257. 89 Cf. Eph. 6, 10–17. 90 Entnommen ist dieses Motiv aus Ps. 84, 11: Misericordia et veritas obviaverunt sibi; justitia et pax osculatae sunt. 91 Das castellum amoris ist inspiriert durch Lk. 10, 38: et ipse intravit in quoddam castellum; et mulier quaedam, Martha nomine, excepit illum in domum suam. Berichtet wird die Episode, als Jesus in das Dorf, in dem Maria und Martha wohnen, kommt. Das Wort „Dorf“ wird im Kirchenlatein oft durch castellum wiedergegeben. 92 Nach Jauss, Entstehung und Strukturwandel der allegorischen Dichtung, in: GRLMA, Bd. VI/1, S. 156 ff.
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II. Die Entwicklung von der Spätantike bis ins Mittelalter
b) Der Physiologus als Vorbild für die volkssprachlichen Bestiaires Ein lateinisches Werk, das während des ganzen Mittelalters rezipiert und immer neu bearbeitet wurde, war der Physiologus (auch Bestiarium genannt), ein christliches „Volksbuch“93 von einem anonymen Autor. Im 2./3. Jh zunächst auf Griechisch entstanden, später ins Lateinische übersetzt, deutet er die Natur mit teils wirklichen, teils fabulösen Tieren, Pflanzen oder Steinen christlich-symbolisch und bezieht sie typologisch auf Christus, die Allerheiligste Dreifaltigkeit, die Kirche, den Teufel, den Menschen. Der Physiologus fand seine Übersetzung bzw. Bearbeitung in den volkssprachlichen Bestiarien. Nach seiner Übersetzung in die romanischen Volkssprachen im 12./13. Jh verbreitete sich der Bestiaire besonders in Frankreich offenbar sehr schnell: Eine Übersetzung stammt von Philippe de Thaon (1121–1135).94 Vom Anfang des 13. Jahrhunderts sind drei Bearbeitungen bekannt, nämlich von Pierre de Beauvais (vor 1206), von Guillaume le Clerc (1210–1211) und von Gervaise, einem normannischen Geistlichen (1215)95. Auch in Italien entwickelte sich diese Gattung in verschiedene Richtungen weiter; ein wichtiger Vertreter ist Chiaro Davanzati (gest. 1303/04)96. Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang auch die sogenannten Lapidarien, die in Analogie zu den Bestiarien Steine und Edelsteine allegorisch deuten.97 c) Visionsliteratur Eine weitere literarische Form, die auch unter die Allegorie zu rechnen ist, ist die Gattung der Jenseits- und Endzeitvisionen. Sie erlebten im 12./13. Jh ihre Blütezeit und sollten bereits im Diesseits auf die Geheimnisse des Lebens im Jenseits vorbereiten.98
93 O. Hiltbrunner, Art. Physiologus, in: Der Kleine Pauly, hrsg. v. K. Ziegler u. W. Sontheimer, Bd. 4, München 1979, Sp. 840 f., Zitat Sp. 840. 94 Brinkmann, Mittelalterliche Hermeneutik, S. 113 f. 95 Nach Strubel, „Grant senefiance a“, S. 110 und Jauss, Entstehung und Strukturwandel der allegorischen Dichtung, in: GRLMA, Bd. VI/1, S. 176. In dieser Epoche, der Blütezeit des Symbolismus, waren Darstellungen von Tiersymboliken auch in der bildenden Kunst sehr beliebt (ibd., S. 171 f.). 96 Nach Jauss, Entstehung und Strukturwandel der allegorischen Dichtung, in: GRLMA, Bd. VI/1, S. 175 u. 178. 97 Cf. hierzu C. Meier, Gemma spiritalis. Methode und Gebrauch der Edelsteinallegorese vom frühen Christentum bis ins 18. Jahrhundert, Teil I, München 1977 (Münstersche Mittelalter-Schriften, Bd. 34/1). 98 U. Ebel, Die literarischen Formen der Jenseits- und Endzeitvisionen, in: GRLMA, Bd. VI/1, S. 181–215, hier S. 182.
3. Die Weiterentwicklung des Genres in der Volkssprache
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Im Espurgatoire Seint Patriz99 der bretonischen Dichterin Marie de France (zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts) unternimmt beispielsweise ein Sünder (kein Heiliger!) namens Owein eine Wanderung durch das Jenseits. Dabei erläutern ihm drei Erzbischöfe die Bedeutung, la senefiance, der drei Jenseits-Reiche Hölle, Fegefeuer und Paradies. Somit ergibt sich auch die allegorische Komponente dieser Gattung: Hinter dem Litteralsinn der Jenseitswanderung steht für den Leser ein allegorischer, moralischer und anagogischer Sinn, die in verschiedener Weise auf das Leben nach dem Tod hinweisen. Sowohl für die Dichter als auch für das Publikum der damaligen Zeit war das allegorische Verständnis dieser Erzählungen selbstverständlich100. Ihren Ursprung hat dieses Genre in der Apokalypse des Johannes und in aus heidnischer Tradition stammenden Prophezeiungen wie den sibyllinischen Büchern, die später christlich umgedeutet wurden101. Daneben entwickelte sich unabhängig vom Neuen Testament die Antichrist-Thematik, also eine Literatur, die sich mit der „Darstellung der irdischen Endzeit“102 befaßt. Weitere Vorgänger waren das apokryphe Buch Henoch sowie eine Petrus- und eine Paulus-Apokalypse, die ebenfalls von Jenseitsreisen berichten103. Auf diese Vorbilder greifen die meistverwendeten Stoffe der Visionsliteratur zurück: In der ältesten Vision, der Visio S. Pauli, deren griechische Urfassung wohl bereits aus dem 3. oder 4. Jh. stammt104, begibt sich der Heilige Paulus in die Unterwelt, um den heidnischen Dichter Vergil – sozusagen „nachträglich“ – zu bekehren. Hintergrund ist eine Stelle aus dem zweiten Korintherbrief, wo der Apostel selbst zumindest andeutungsweise von seiner Entrückung in den dritten Himmel berichtet (2 Kor. 11, 19–33; 12, 1–9). Weitere bekannte, mehrfach bearbeitete Beispiele sind die Navigatio S. Brendani, die auf keltisch-heidnische Jenseitsvisionen aus dem irischen Be-
99 M. de France, L’Espurgatoire Seint Patriz, hrsg. v. Y. de Pontfarcy, Louvain/Paris 1995. 100 Nach Ebel, Die literarischen Formen der Jenseits- und Endzeitvisionen, in: GRLMA, Bd. VI/1, S. 188. 101 Eines der frühesten Beispiele hierfür wäre die christliche Interpretation der IV. Ekloge Vergils durch Laktanz (cf. Ebel, Die literarischen Formen der Jenseits- und Endzeitvisionen, in: GRLMA, Bd. VI/1, S. 194). 102 Ebel, Die literarischen Formen der Jenseits- und Endzeitvisionen, in: GRLMA, Bd. VI/1, S. 192. 103 Nach R. Guardini, Dantes Göttliche Komödie, hrsg. v. H. Mercker, Mainz/Paderborn 1998, S. 84; Jauss, Entstehung und Strukturwandel der allegorischen Dichtung, in: GRLMA, Bd. VI/1, S. 198. 104 Nach J. Ebel, Die literarischen Formen der Jenseits- und Endzeitvisionen, in: GRLMA, Bd. VI/1, S. 203. Cf. auch A. Rüegg, Die Jenseitsvorstellungen vor Dante und die übrigen literarischen Voraussetzungen der „Divina Commedia“. Ein quellenkritischer Kommentar, 2 Bde., Einsiedeln/Köln 1945, Bd. 1, S. 255.
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II. Die Entwicklung von der Spätantike bis ins Mittelalter
reich, imrama genannt, zurückgeht105; sodann die oben bereits erwähnte Jenseitsreise des Heiligen Patrick, die u. a. Marie de France bearbeitete106, und die Visio Tnugdali, in der ein irischer Mönch eine dreitägige Jenseitsfahrt schildert107. Das Motiv der Vision findet sich häufig auch in anderen Gattungen, zum Teil leicht abgewandelt, beispielsweise in einen Traum eingebettet, wie es auch im Rosenroman der Fall ist. Der Höhepunkt der ganzen mittelalterlichen Visionsliteratur ist die Divina Commedia von Dante Alighieri. Neben den erwähnten mittelalterlichen Jenseitserzählungen ließ der Dichter sich hauptsächlich durch das sechste Buch von Vergils Aeneis inspirieren, das die Unterweltreise des Äneas beinhaltet und seinerseits auf Homer, genauer auf das zehnte Buch der Odyssee, zurückgeht. d) Minneallegorie Über die Ursprünge dieser Gattung sind sich die Forscher recht im Unklaren. Sie übernimmt zwar Inhalte und Motive aus Ovids Ars amatoria, deutet diese aber anders und z. T. „falsch“. Denn im Mittelalter wurden manche ironische Empfehlungen Ovids ernstgenommen, ein Phänomen, das C. S. Lewis prägnant mit der Formel „Ovid misunderstood“108 wiedergibt. Am ehesten könnte man noch „das Epithalamium109 in der von Statius geschaffenen [. . .] Gestalt“110 als spätantikes Vorbild ansehen.111
105
Rüegg, Die Jenseitsvorstellungen vor Dante, S. 327; cf. auch S. 314–326. Die Vorlage für Maries Espurgatoire Seint Patriz ist ein Tractatus de Purgatorio Sancti Patricii, der ebenfalls im 12. Jh., also kurz vorher, von einem englischen Zisterzienser verfaßt wurde (nach Y. de Pontfarcy (Hrsg.), L’Espurgatoire Seint Patriz, Einleitung, S. 1–4). Siehe auch Rüegg, Die Jenseitsvorstellungen vor Dante, S. 395–405. 107 Nach Guardini, Dantes Göttliche Komödie, S. 84, Jauss, Entstehung und Strukturwandel der allegorischen Dichtung, in: GRLMA, Bd. VI/1, S. 200. Cf. auch Rüegg, Die Jenseitsvorstellungen vor Dante, S. 352–394. 108 Lewis, The Allegory of Love, S. 7. 109 Als Epithlalamium oder Hymenaios bezeichnete man in der Antike das Hochzeitslied, das während des Hochzeitszuges, der die Braut in ihr neues Heim geleitete, gesungen wurde. Erwähnt wird dieser Brauch bereits bei Homer; Beispiele in der Literatur finden sich bei Sappho, Catull und Statius. Letzterer wurde Vorbild für Claudian und Apollinaris Sidonius (nach Art. Hymenaios, in: Lexikon der Alten Welt, hrsg. v. C. Andresen u. a., Zürich/Stuttgart 1965, Sp. 1343 f.). 110 Jauss, Entstehung und Strukturwandel der allegorischen Dichtung, in: GRLMA, Bd. VI/1, S. 225. 111 Cf. auch Guillaume de Lorris, Jean de Meun, Le Roman de la Rose, hrsg. v. A. Strubel, Paris 1984, S. 9–11. 106
3. Die Weiterentwicklung des Genres in der Volkssprache
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Der erste Autor, der für die höfische Liebe ein in sich kohärentes Lehrgebäude aufgestellt hat, ist Andreas Capellanus.112 Dieser schuf mit seinem lateinischen Werk De amore (Ende 12. Jh.) eine Art Minne-Lehrbuch, in dem diese Lehre mit der antiken Mythologie in Verbindung gesetzt und dadurch allegorisch verschlüsselt wird. Eben diese beiden Elemente – also die Unterweisung in der fin’amor und der Schauplatz des vergier d’amor, der paradiesische Garten als Reich des Liebesgottes, – kennzeichnen die gesamte mittelalterliche Minneallegorie113, die ihren Zenit mit dem Rosenroman erreichte. In Italien wurde die Minneallegorie auf etwas andere Weise weiterentwickelt – und zwar im Dolce Stil Novo, der die theoretische Liebeslehre philosophisch und theologisch überhöht und zu einer religione d’Amore stilisiert. Die Vertreter dieses „Süßen Neuen Stils“ stammten größtenteils aus Florenz114 und gehörten der Generation vor Dante bzw. seinem Umkreis an: Guido Guinizelli, Guido Cavalcanti115, Lapo Gianni, Gianni Alfani, Dino Frescobaldi, Cino da Pistoia; schließlich ist auch Dante selbst mit seiner Lyrik bis hin zur Vita Nova hinzuzurechnen.116
112
Andreae Capellani Regii Francorum De Amore libri tres. Recensuit E. Trojel, München 21972; siehe auch A. Karnein (Hrsg.), De Amore deutsch. Der Tractatus des Andreas Capellanus in der Übersetzung Johann Hartliebs, München 1970. 113 Jauss, Entstehung und Strukturwandel der allegorischen Dichtung, in: GRLMA, Bd. VI/1, S. 225. Cf. auch M. Lazar, Amour courtois et fin’amors dans la littérature du XIIe siècle, Paris 1964, S. 268–278. 114 Cf. S. Carrai/G. Inglese, La letteratura italiana del Medioevo. Con la collaborazione di L. Trenti, Rom 2003, S. 69. 115 E. Malato, Dante e Guido Cavalcanti. Il dissidio per la Vita Nova e il „disdegno“ di Guido. II edizione con una postfazione Nuove prospettive degli studi danteschi, Rom 1997, 22004. 116 Cf. Contini (Hrsg.), Poeti del Duecento, Bd. II, Mailand/Neapel 1960, Kap. IX „Dolce Stil Novo“, S. 443–690; cf. auch F.-R. Hausmann, Anfänge und Duecento, in: V. Kapp (Hrsg.), Italienische Literaturgeschichte, Stuttgart/Weimar 1992, S. 1–29, hier S. 16 f., ferner A. Kablitz, Intertextualität als Substanzkonstitution. Zur Lyrik des Frauenlobs im Duecento: Giacomo da Lentini, Guido Guinizelli, Guido Cavalcanti, Dante Alighieri, in: Poetica, 23 (1991), S. 20–67.
III. Die poetische Allegorie in christlich-platonischem Kontext: Alanus ab Insulis Alanus ab Insulis, auch Alain de Lille genannt, wurde um 1128 in Lille geboren. Einen Großteil seines Studiums verbrachte er nach 1148 in Paris, wo er wohl später auch selbst lehrte. Mehrere Jahre lebte er in Montpellier, bevor er gegen Ende seines Lebens (nach 1179) in den Zisterzienser-Orden eintrat. Er starb 1203 in Cîteaux und wurde in der dortigen Abtei beigesetzt. Bei seinen Zeitgenossen galt er als Gelehrter, Theologe, doctor famosus, liberalium artium peritus und doctor universalis. Er verfaßte in erster Linie theologische Werke wie die Summa Quoniam homines, Regulae theologiae, Contra haereticos, Liber poenitentialis, um einige Beispiele zu nennen.1 Als Entstehungszeitraum seines ersten profanen allegorischen Werkes, De Planctu Naturae, wird heutzutage im allgemeinen 1179–1182 angenommen2; Raynaud de Lage dagegen datiert es viel früher, nämlich auf 1160 bis 1170.3 Für den Anticlaudianus setzt man die Jahre 1181–1184, womöglich sogar nur wenige Monate von Ende 1182 bis Anfang 1183 an.4 „Fest steht also die Tatsache, dass der Dichter des Anticlaudianus nicht ein noch halb weltlich gesinnter junger Magister gewesen ist, sondern der bewährte Theologe, der sich mitten in seiner ernsteren Arbeit noch einmal der Dichtkunst zuwendet.“5
1
Alan of Lille, The Plaint of Nature, übers. u. komm v. J. J. Sheridan, Toronto 1980, Einleitung, S. 3–8 und 11–25 sowie Alain de Lille, Anticlaudianus, hrsg. v. R. Bossuat, Paris 1955, Einleitung, S. 8–13; cf. auch Alain de Lille, Textes inédits, hrsg. v. M.-Th. d’Alverny, Paris 1965, Einleitung, S. 11–184, J. Huizinga, Über die Verknüpfung des Poetischen mit dem Theologischen bei Alanus de Insulis, in: ders., Verzamelde Werken, Bd. IV, Haarlem 1949, S. 3–73, bes. S. 4–9, und F. Hudry, Mais qui était donc Alain de Lille?, in: J.-L. Solère u. a. (Hrsg.), Alain de Lille, le Docteur Universel. Philosophie, théologie et littérature au XIIe siècle, Turnholt 2005, S. 107– 124. 2 Anticlaudianus, hrsg. v. Bossuat, Einleitung, S. 13 und Sheridan (Hrsg.), The Plaint, Einleitung, S. 4 und 32. 3 G. Raynaud de Lage, Alain de Lille. Poète du XIIe siècle, Montréal/Paris 1951, S. 42. Zum Leben und Werk Alains siehe auch ibd., S. 11–42. 4 Siehe ebenfalls Anticlaudianus, hrsg. v. Bossuat, Einleitung, S. 13; cf. auch Sheridan (Hrsg.), The Plaint, Einleitung, S. 4 und S. 32 sowie Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, S. 128. 5 Huizinga, Über die Verknüpfung des Poetischen mit dem Theologischen, S. 9.
1. De Planctu Naturae
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1. De Planctu Naturae Sicher ist in jedem Fall, daß De Planctu Naturae das zeitlich frühere Werk des doctor universalis ist. Es schließt sich – wie bereits der Titel andeutet – eng an Bernardus Silvestris an. Denn schon bei diesem hatte Natura eine Schlüsselposition inne, wie es im Denken der Schule von Chartres vorgezeichnet ist6: Nach platonischer Vorstellung entspricht die Natur der Weltseele (anima mundi), einer Instanz also, die Gott unmittelbar untergeordnet ist und die die Welt zu lenken hat7; daher bezeichnet sich Natura selbst bei Alanus als dei gracia mundane ciuitatis uicaria procuratrix (De Pl. XVI, Zeile 187). Die Personifizierung der Natur geht übrigens bereits auf Claudian und Boethius zurück.8 Das Konzept ist bei Alanus allerdings weiter gefaßt als bei Bernardus: Während Natura beim ersteren vor allem mater generationis war, sind im vorliegenden Werk auch die Konzeptionen der bei Bernardus auftretenden Silva, Noys und Urania in die Darstellung der Natura einbezogen.9 Sie erhält damit sowohl einen kosmologischen als auch einen moralischen Aspekt, da sie über die Sittlichkeit des Menschen zu wachen hat.10 Beklagt wird in diesem Prosimetrum das widernatürliche Benehmen des Menschen, der die Liebe zwischen Mann und Frau zur homosexuellen Liebe pervertiert und sich damit gegen die natürliche Ordnung auflehnt. Man kann diese Verirrungen im sexuellen Bereich als integumentum für sündhafte Verstrickungen des Menschen im allgemeinen deuten.11 Der Titel scheint auf den ersten Blick etwas irreführend, denn die Klage kommt zunächst nicht aus dem Mund der Natura, sondern der Dichter selbst ist der Anklagende. Dies zeigen schon die ersten Worte In lacrimas risus, in fletum gaudia verto,/In planctum plausus, in lacrimas iocos (De Pl. I, V. 1 f.).12 Bereits das erste Metrum zeichnet also in Form einer Elegie – der Metrik nach in elegischen Distichen – die Thematik des ganzen Werkes vor. Gleich in Vers 3 wird erstmals ein Grund für die Klage genannt: Cum sua Nature uideo decreta 6
Strubel, „Grant senefiance a“, S. 116. Huizinga, Über die Verknüpfung des Poetischen mit dem Theologischen, S. 33. Cf. auch M. Baumgartner, Die Philosophie des Alanus ab Insulis im Zusammenhange mit den Anschauungen des 12. Jahrhunderts, Münster 1896, S. 80 f. 8 Huizinga, Über die Verknüpfung des Poetischen mit dem Theologischen, S. 32. 9 Wetherbee, Platonism and Poetry, S. 188. 10 Cf. Raynaud de Lage, Alain de Lille, S. 77–80 („Nature. – Son aspect cosmologique“) und S. 81–88 („Nature. – Son aspect moral“). 11 Brinkmann, Verhüllung, S. 333; cf. auch J. Jolivet, La figure de Natura dans le De planctu naturae d’Alain de Lille: une mythologie chrétienne, in: J.-L. Solère u. a. (Hrsg.), Alain de Lille, le Docteur Universel. Philosophie, théologie et littérature au XIIe siècle, Turnholt 2005, S. 127–144, hier S. 127. 12 Magistri Alani Enchiridion de Planctu Nature, hrsg. v. N. Häring, in: Studi Medievali, 3a Serie, 19/2 (1978), S. 797–879. 7
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III. Die poetische Allegorie in christlich-platonischem Kontext
silere. Inwiefern die Naturgesetze (Nature [. . .] decreta) aus den Fugen geraten sind, wird im folgenden näher ausgeführt und besonders in der prägnanten Formulierung auf den Punkt gebracht: Cum Venus in Venerem pugnans illos facit illas (V. 5). Mit der „Venus, die gegen Venus kämpft“ (Venus in Venerem pugnans) umschreibt der Dichter den Kontrast von erlaubter und unerlaubter Liebe, der im folgenden in einen Mythos eingekleidet ist: Natura hat in ihrer Eigenschaft als uicaria procuratrix Venus als subuicaria eingesetzt, damit sie gemeinsam mit ihrem Ehemann Hymenaeus und ihrem Sohn Amor die Fortpflanzung der Menschen überwache.13 Nun hat aber Venus die Ehe mit Antigamus gebrochen; aus dieser unerlaubten Verbindung ging Iocus hervor (De Pl. X, Z. 131–136). Antigamus und Iocus stehen damit in Opposition zu Hymenaeus und Cupido bzw. Amor; sie versinnbildlichen die Verirrungen in der Liebe, spielen aber keine Rolle in der weiteren Handlung.14 Da Venus selbst ihre Verantwortung vernachlässigt, folgen die Menschen ihrem Beispiel und halten sich nicht mehr an die natürliche Ordnung: Durch die homosexuelle Liebe werden Männer zu Frauen (illos facit illas); in V. 17 kommt dies noch prägnanter zum Ausdruck: Femina vir factus. Mit Metaphern aus den Bereichen der artes Grammatik, Rhetorik und Logik sowie aus der Metrik wird diese Thematik noch verdeutlicht, beispielsweise in V. 19 f.15: Predicat et subicit, fit duplex terminus idem./Grammatice leges ampliat ille nimis. Der Begriff uicium in V. 24 kann daher sowohl ein moralisches Laster wie auch ein vitium dicendi meinen. Hier deuten sich bereits die personifizierten Artes Liberales an, die im Anticlaudianus eine große Rolle spielen werden; allerdings geht es im vorliegenden Text um die Mann-Frau-Beziehung, die in den einzelnen Artes jeweils allegorisch durchgespielt wird. Daneben klingt auch ein metapoetisches Moment mit an, wenn der Dichter nicht nur die homoerotische Perversion, sondern auch „barbarische“ Poesie beklagt. Erst nach dieser ersten Klage des Dichters tritt Natura als Personifikation auf; bevor sie allerdings ihren Namen nennt, wird sie ausführlich vorgestellt (De Pl. II). Diese Beschreibungen der Natur und ihres Wagens sowie ihre Rede nehmen den ersten von den drei großen Teilen des De Planctu Naturae ein (De
13 Venerem in fabrili scientia conpertam meeque operationis in mundali suburbio collocaui [. . .] (De Pl. VIII, 240 f.). Die Figur des Hymenaeus hat Alanus offenbar aus Martianus Capella und Claudian übernommen (cf. Jung, Etudes sur le poème allégorique, S. 66). 14 Cf. Huizinga, Über die Verknüpfung des Poetischen mit dem Theologischen, S. 35–37. 15 Cf. zu den „grammatischen“ Metaphern bei Alanus J. Ziolkowski, Alan of Lille’s Grammar of Sex. The Meaning of Grammar to a Twelfth-Century-Intellectual, Cambridge (Mass.) 1985, vor allem S. 13–21 („The Dreamer’s Grammatical Lament“); siehe auch Sweeney, Logic, Theology, and Poetry, S. 158–163.
1. De Planctu Naturae
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Pl. II–VI).16 Der zweite und längste Abschnitt besteht aus sieben Fragen des Dichters, die das Verhältnis zwischen Mensch und Natur, die Liebe und die übrigen (außer der bereits behandelten impura Venus) Laster gulositas, avaritia, superbia, invidia sowie adulatio betreffen.17 Außer der Schmeichelei (adulatio) entstammen alle diese Laster den bekannten sieben Hauptsünden; nicht erwähnt werden ira und accedia.18 Die Antworten der Natura fallen recht ausführlich aus (De Pl. VII–XV). Im Schlußteil treten in einer Art Gesandtschaft die Personifikationen Hymenaeus, Castitas, Temperantia, Largitas und Humilitas auf und werden ebenfalls jeweils beschrieben (De Pl. XVI–XVIII). Am Ende nimmt Genius das Wort und verhängt einen feierlichen Bann über diejenigen, die sich in vitia verstricken und sich somit gegen die Natur auflehnen; angetan ist er dabei mit priesterlichen Gewändern: Tunc Genius post uulgaris uestimenti depositionem sacerdotalis indumenti ornamentis celebrioribus honestius infulatus (De Pl. XVIII, Z. 138 f.). Die „Exkommunikation“19 spricht er Auctoritate superessentialis Vsye20 mit folgenden Worten aus (De Pl. XVIII, Z. 143–147): a supernae dilectionis osculo separetur ingratitudinis exigente merito, a Naturae gracia degradetur, a naturalium uniformi concilio segregetur omnis qui aut legitimum Veneris obliquat incessum aut gulositatis naufragium aut ebrietatis sentit insomnium [. . .].
Es folgt eine Aufzählung weiterer Laster wie arrogantia, adulatio, gulositas, ebrietas, sitis habendi. Die Figur des Genius hat Alanus aus der antiken Literatur übernommen: In einem Fragment von Varro, das Augustinus zitiert21, wird die Bezeichnung in etymologischen Zusammenhang mit gignere und genialis gebracht22; Genius erscheint hier als eine Art Gott für die Zeugung (Deus [. . .]
16 Zu dieser Dreiteilung cf. Raynaud de Lage, Alain de Lille, S. 44 sowie Jung, Etudes sur le poème allégorique, S. 68 f. 17 Cf. Brinkmann, Verhüllung, S. 334. 18 Huizinga, Über die Verknüpfung des Poetischen mit dem Theologischen, S. 56. 19 Am Ende fällt auch der Begriff anathema: Postquam vero Genius hujus anathematis exterminio finem orationi concessit [. . .] (De Pl. XVIII, 159 f.). 20 Der platonisch-aristotelische Begriff usia bzw. ousia wird von Alanus im Sinne von „superessential substance, essence, or idea“ verwendet (L. C. Strahan (Hrsg.), Alan of Lille’s Book on the Plaint of Nature: A Translation with Introduction and Notes to Alanus de Insulis’ De Planctu Naturae, Irvine 1976, Einleitung, S. 13 und Anm. 35). Cf. auch Raynaud de Lage, Alain de Lille, S. 60. 21 Augustinus, De civitate Dei, VII, 13; zitiert bei Raynaud de Lage, Alain de Lille, S. 89, Anm. 213. 22 Cf. J. Chance Nitzsche, Classical and Medieval Archetypes of the Figure Genius in the De Mundi Universitate of Bernardus Silvestris and the De Planctu Naturae of Alanus de Insulis, Urbana [Diss. phil.] 1972, S. 8–28, vor allem S. 8 f. und S. 59; siehe auch dies., The Genius Figure in Antiquity and the Middle Ages, New York/ London 1975, S. 442–445 und C. S. Lewis, Genius and Genius, in: ders., Studies in Medieval and Renaissance Literature, hg. v. Walter Hooper, Cambridge 1966, S. 169– 174.
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III. Die poetische Allegorie in christlich-platonischem Kontext
qui praepositus est ac vim habet omnium rerum gignendarum).23 Apuleius nennt ihn einen daemon und definiert ihn folgendermaßen: is deus, qui est animus sui cuique, [. . .] cum homine gignitur.24 In der Ars Versificatoria des Matthäus von Vendôme, die etwa zeitgleich mit De Planctu entstand, steht Genius ebenfalls der Natura zur Seite.25 Daher könnte man Genius bei Alanus, so Sweeney, geradezu als ein „Double“ der Natura bezeichnen.26 Erstaunlicherweise führt Alanus diese Gestalt jedoch nicht weiter aus; sie tritt eigens zu dem Zweck der Exkommunikation auf und um Natura – im wahrsten Sinne des Wortes – „moralisch“ zu unterstützen: „il n’apparaît que pour seconder en Nature la régulatrice de la vie morale“.27 Bei Jean de Meun wird uns diese Figur wieder begegnen; im zweiten Teil des Rosenromans ruft Genius ebenfalls zur Fortpflanzung (generacion; RR 19624) auf; dabei wird auch die Etymologie seines Namens verständlich. Der letzte Satz des Werkes macht deutlich, daß es sich um eine Traumvision gehandelt hat. In drei verschiedenen Ausdrücken wird dabei die Vision umschrieben (imaginaria visio, extasis, mystica apparitio; De Pl. XVIII, Z. 164 f.): Hujus igitur imaginariae visionis subtracto speculo, me ab extasi excitatum in somno prior mysticae apparitionis dereliquit aspectus.
Dieser knappe Überblick zeigt, daß De Planctu Naturae wenig Handlung hat; die beschreibenden Teile herrschen deutlich vor. Auch die Allegorie nimmt – im Vergleich etwa zum Anticlaudianus – einen geringeren Stellenwert ein, wie Jung hervorhebt: „La représentation allégorique se limite à deux procédés: la description et le discours.“28 Exemplarisch für die allegorische Darstellung in De Planctu soll daher die Beschreibung der Natura untersucht werden, wie sie in Kap. II, dem ersten Prosa-Teil vorgestellt wird. Sie erstreckt sich über 11 Textseiten (S. 808–819) bzw. 292 Zeilen in der Ausgabe von Häring und ist thematisch mehrfach untergliedert. 23 V. Cilento, Alano di Lilla. Poeta e teologo del sec. XII, Neapel 1958, S. 61; cf. auch Raynaud de Lage, Alain de Lille, S. 89 und Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, S. 128, Anm. 2. 24 Apuleius, De deo Socratis, XV; zitiert bei Raynaud de Lage, Alain de Lille, S. 89, Anm. 213. 25 Cilento, Alano di Lilla, S. 61; cf. auch Raynaud de Lage, Alain de Lille, S. 90 f. 26 Sweeney, Logic, Theology, and Poetry, S. 171: „[. . .] is the figure of Nature doubled by Genius [. . .]“. 27 Raynaud de Lage, Alain de Lille, S. 93. Der Autor bezeichnet Genius auch – nicht ganz zu Unrecht – als ein „personnage decevant“ (S. 89). Cf. Nitzsche, Classical and Medieval Archetypes of the Figure Genius, S. 146 und H. D. Brumble, Genius and other related allegorical figures in the De Planctu Naturae, the Roman de la Rose, the Confessio Amantis, and the Faerie Queene, Univ. of Nebraska [Diss. phil.] 1970, S. 14–17. 28 Jung, Etudes sur le poème allégorique, S. 69.
1. De Planctu Naturae
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Während der Dichter sein Klagelied des öfteren wiederholt, tritt plötzlich eine Frau auf, die vom Himmel29 her zu kommen scheint (De Pl. II, Z. 1–3): Cum hec elegiaca lamentatione eiulatione crebrius recenserem, mulier, ab impassibilis mundi penitiori delapsa palacio, ad me maturare videbatur accessum.
Dieser Eingang lehnt sich eng an Boethius, der mit ähnlichen Worten den Auftritt der Philosophia schildert (Consol. 1, pr. 1)30: Haec dum mecum tacitus ipse reputarem [. . .], astitisse mihi supra verticem visa est mulier reverendi admodum vultus oculis ardentibus [. . .].
Bei Alanus erfolgt zunächst eine genaue Beschreibung des Äußeren von Natura in vielen Einzelheiten (Z. 3–35). Ihre körperliche Schönheit wird jedoch von Trauer überschattet (De Pl. II, Z. 35–38): Et quamuis tanta esset pulcritudinis leticia, huius tamen risum decoris fletus inestimabilis extinguere conabatur. Ros namque furtiuus, ex oculorum scaturigine deriuatus, fluxum doloris predicabat interni.
Der Grund hierfür liegt im perversen Verhalten der Menschen, wie im Laufe des Textes mehrfach zum Ausdruck kommt. Auf ihrem Haupt trägt die schöne Frau (abwechselnd als mulier und puella bezeichnet) eine reich verzierte Krone: Regalis autem diadematis corona rutilans, gemmarum scintillata choreis, in capitis supercilio fulgurabat (De Pl. II, Z. 40 f.). Diese ist ringsum mit 12 Edelsteinen geschmückt, welche die Sternzeichen symbolisieren (Z. 55–94). Unterhalb von diesen ist eine weitere Reihe kostbarer Steine angebracht; diesmal sind es sieben an der Zahl, welche für die Planeten stehen (Z. 95–137). Im ganzen bildet die Krone also das Firmament allegorisch ab.31 Am ausführlichsten ist das Gewand der puella beschrieben (Z. 138–286). Es leuchtet abwechselnd weiß, rot oder grün (De Pl. II, Z. 138– 143): Vestis vero, [. . .] multiphario protheata colore [. . .] quam discolorando colorans temporum alteritas multiplici colorum facie alterabat. Que primitus candoris lilio dealbata offendebat intuitum. Secundo, uelut penitentia ducta, quasi laborans in melius, ruboris sanguine purpurata splendebat. Tercio, ad cumulum perfectionis uiroris smaragdo oculis applaudebat.
Für diese drei Farben bieten sich verschiedene Deutungsmöglichkeiten. Werfen wir zunächst einen Blick auf die Edelsteinallegorese, die mit dem Hinweis auf den Smaragd (Z. 143) aufgerufen ist. So kann das Grün des Smaragds zum einen auf Pflanzen und Fruchtbarkeit hindeuten, zum anderen auch auf Was29 Mit impassibilis mundus drückt Alanus „the invisible unchangeable world“ im Unterschied zur sichtbaren Welt aus (cf. De Planctu Naturae, hrsg. v. Häring, Kommentar zu De Pl. II, 2). 30 Cf. Raynaud de Lage, Alain de Lille, S. 104. 31 Cf. auch Sheridan (Hrsg.), The Plaint, Einl. S. 36.
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III. Die poetische Allegorie in christlich-platonischem Kontext
ser.32 Die Farbe Rot hingegen steht gewöhnlich für Blut, Feuer, aber auch für rote Erde bzw. Erde im allgemeinen.33 Das Weiß der Lilie bedeutet Reinheit oder Unschuld; die Formulierung offendebat intuitum kehrt in abgewandelter Form auch im Anticlaudianus wieder: Hier ist es jedoch das blendende Licht des Himmels, das Fronesis nur durch den Spiegel betrachten kann, ne maior oculis lux obuiet, illos / Offendens (Acl. VI, 125 f.). Nimmt man diese beiden Stellen zusammen, weist das strahlende Weiß womöglich auch hier auf den Himmel hin. Die drei Farben würden dann die drei Lebensräume vorwegnehmen, deren „Bewohner“ auf dem Kleid der Natura abgebildet sind, d. h. Weiß stünde für den Himmel mit den Vögeln, Rot für die Erdentiere und Grün für das Wasser mit den Fischen. Eine weitere Deutung bringt Köhler in seinem Kommentar zu De Planctu Naturae: „Das Weiß der Lilie, das Rot der nicht genannten, aber gemeinten Rose und das Grün des Smaragdes entsprechen dem Gang von ,offendere‘ über ,penitentia‘ zur ,perfectio‘.“34 Dies würde eine religiöse Interpretation implizieren. Im selben Zusammenhang könnte man auch auf die drei göttlichen Tugenden verweisen, die oft durch diese Farben dargestellt werden: Glaube (weiß), Liebe (rot) und Hoffnung (grün). Im vorliegenden Kontext sind diese allerdings nicht recht vorstellbar. In diesem Sinne fährt auch Köhler fort: „Doch ein Bußweg fügt sich schwer in den Zusammenhang ein.“35 Der Autor weist statt dessen auf den „Vorgang des Färbens“ hin, wie er auch bei Plinius dem Älteren beschrieben wird.36 Der Zusammenhang mit dem Gewand der Natura wird dennoch nicht vollkommen klar. Eine weitere Interpretationsmöglichkeit eröffnet sich, wenn man sich die Beziehung in Erinnerung ruft, die Alanus zwischen dem vierfachen Schriftsinn und den Farben blau, grün, weiß und rot herstellt.37 Wie wir oben gesehen haben, weist er grün, weiß und rot – also genau die Farben, zwischen denen das Gewand der Natur oszilliert – den drei übertragenen Schriftsinnen zu, die eine „höhere“ Bedeutung haben als der sensus litteralis. Bringt man nun diese Stelle aus der Predigt des Alanus mit der vorliegenden Kleidbeschreibung in Verbindung, könnte man daraus einen Hinweis auf die Allegorie ableiten: Die Darstel32
Meier, Gemma spiritalis, S. 152–156. Ibd., S. 147–150. 34 J. Köhler (Hrsg.), Magistri Alani Enchiridion de Planctu Nature. Übersetzung und philologisch-philosophiegeschichtlicher Kommentar, Bd. 1, Hildesheim [unveröffentl. Habil.] 1994, S. 107. 35 Ibd. 36 Hist. nat. IX, 38–41. Nach Plinius muß die Wolle zunächst gereinigt und dann in Purpur getaucht werden. 37 Cf. Alanus ab Insulis, Sermo 71 (Paris, Bibliothèque nationale de France (BnF), ms. lat. 3818, ff. 35v–36r; zit. nach Dahan, Alain de Lille et l’exégèse de la Bible, S. 457, Anm. 8). 33
1. De Planctu Naturae
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lungen auf diesem Gewand sind in ihrer Bedeutung so vielschichtig, daß sie gleichsam fast an den mehrfachen Sinn der Heiligen Schrift „heranreichen“. Die selben Farben trägt übrigens Beatrice, als sie Dante im Irdischen Paradies wiederbegegnet (Purg. XXX, 31–33); allerdings bedeuten sie dort die göttlichen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe, wie wir später sehen werden. Auf diesem Gewand der Natura sind nun die Lebewesen der Luft, des Himmels und der Erde abgebildet. Damit ergibt sich auch hier eine Dreiteilung: Ein erster Teil ist den Vögeln gewidmet, die auf dem Obergewand (vestis) zu sehen sind. Es werden etwa dreißig Arten aufgezählt (De Pl. II, Z. 148–195). Dem jeweiligen Vogelnamen geht jedes Mal ein illic am Satzanfang voran; darauf folgt eine kurze Beschreibung oder Charakteristik des entsprechenden Vogels, so daß sich ein streng paralleler Aufbau ergibt: Illic aquila [. . .] Illic accipiter [. . .] Illic miluus [. . .] Illic falco, und so fort. Geoffrey Chaucer hat sich übrigens in seinem Parliament of Fowls von dieser Darstellung des Alanus inspirieren lassen.38 In gleicher Weise wie die Vögel werden im folgenden Teil die Fische dargestellt (Z. 196–229), die auf der sindo dargestellt sind. Der dritte Abschnitt, die tunica, ist den auf der Erde lebenden Tieren vorbehalten (Z. 230–280). Sie ist aus einem schwereren Material hergestellt, so daß sich der Stoff dem Element der Erde annähert: Tunica [. . .] in grossiorem materiam conglobata, in terrestris elementi faciem aspirabat (Z. 230–232). Zu diesen Lebewesen auf der Erde gehört auch der Mensch, der versucht, die Geheimnisse des Alls mit der Vernunft zu durchdringen: In huius uestis parte primaria homo, sensualitatis deponens segniciem, directa ratiocinationis aurigatione, celi penetrabat archana (Z. 232– 234). Wiederum werden danach die „Erdentiere“ (terrestria animalia; Z. 237 f.) in einer langen Reihe aufgezählt, wobei erneut jeder Satz mit illic eingeleitet wird; ebenso folgt jeweils eine kurze Charakteristik des entsprechenden Tieres, wobei Alanus jedoch mehr Wert auf das Aussehen und die Gewohnheiten der Tiere als auf eine eventuelle symbolische Bedeutung legt.39 Am Schluß dieses ersten Prosateiles wird noch angedeutet, daß Pflanzen, Bäume und Blumen auf den Schuhen und der Unterkleidung der Natura abgebildet sind (Z. 280–186). Das Thema der Blumen wird im nächsten Metrum fortgesetzt: Illic forma rose picta fideliter / [. . .] / Illic ore thimum dispare disputans (De Pl. III, V. 1 und 9). Es sei 38 Nach Häring (Hrsg.), Kommentar zu De Pl. II, 146 und Sheridan (Hrsg.), The Plaint, S. 86, Anm. 44. Siehe G. Chaucer, The Parliament of Fowls, in: The Riverside Chaucer, hrsg. v. L. Benson, Oxford 1987, Paperback: 1988, S. 385–394. Zum Einfluß Alans auf Chaucer siehe auch Strahan (Hrsg.), Alan of Lille’s Book on the Plaint of Nature, Einleitung, S. 63–67. 39 Cf. Huizinga, Über die Verknüpfung des Poetischen mit dem Theologischen, S. 30, siehe auch S. 20.
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III. Die poetische Allegorie in christlich-platonischem Kontext
noch einmal darauf hingewiesen, daß der Name Natura kein einziges Mal im ganzen Abschnitt II genannt wird. Erst im dritten Prosateil, stellt sich die Natur am Ende einer langen Rede selbst vor (De Pl. VI, Z. 167): ego sum Natura, woraufhin sich der Dichter ihr zu Füßen wirft: salutationis uice eius pedes osculorum multiplici inpressione signaui (ibd., Z. 175 f.). Diese erste Rede der Natura beginnt mit dem Wort Heu, welches im Text dann mehrfach wiederkehrt; hiermit wird das Motiv der Klage wiederaufgenommen, und so erklärt sich schließlich auch der Titel De Planctu Naturae. Wie bereits angedeutet, legt der Dichter großen Wert auf die beschreibenden Teile. Die Personifikationsallegorie der Natura wird mit vielen Details ausgemalt; ihre Gestalt bildet das ganze Universum ab: Die Krone bedeutet den Himmel mit Planeten und Sternzeichen, ihre Gewänder zeigen das Leben in der Luft, im Wasser und auf der Erde. Damit verkörpert die personifizierte Natura gewissermaßen den Makrokosmos. Anders als Bernardus Silvestris bezieht Alanus jedoch nicht die Geschichte der Menschheit mit ein.40 Ebensowenig sind die Personifikationsallegorien des Alanus typologisch zu deuten; dies zeigt sich z. B. daran, daß bei der Beschreibungen des Gewandes der Natur „nur noch von den natürlichen Eigenschaften der Tiere und nicht mehr von ihrer figuralen Bedeutung die Rede“ ist.41 Diese descriptio einer Personifikation ist zugleich das erste und das längste Beispiel für eine Technik, die Alanus im Anticlaudianus ebenfalls mehrfach anwenden wird. Für die Darstellung seiner personifizierten Gestalten geht er hier wie dort nach einem bestimmten Schema vor. „Im Zentrum steht ein Schönheitspreis, wie er durch poetische Vorbilder und Lehre für die Einführung von Personen nahegelegt war.“42 So werden stets der Körper und das Gewand der jeweiligen (weiblichen) Personifikation mit vielen Details beschrieben. Schließlich kommen noch die entsprechenden Attribute hinzu: für die Natur nennt Alanus Lehmtafel und Griffel (In latericiis uero tabulis arundinei stili ministerio uirgo uarias rerum picturaliter suscitabat imagines; De Pl. IV, Z. 3 f.). Daß das Kleid der Natura als „Text“ zu verstehen ist43, zeigt ein direkter Hinweis auf die Allegorie beim Übergang von der Vogelwelt zur Beschreibung der Fische. Hier weist der Dichter nämlich besonders darauf hin, daß die Darstellung der Lebewesen so naturgetreu sei, daß sie fast „wörtlich“ zu nehmen seien, obwohl sie doch nur „allegorisch“ abgebildet seien: Hec animalia qua40
Wetherbee, Platonism and Poetry, S. 191. Jauss, Form und Auffassung der Allegorie, S. 190. 42 C. Meier, Zwei Modelle von Allegorie im 12. Jahrhundert: Das allegorische Verfahren Hildegards von Bingen und Alans von Lille, in: W. Haug (Hrsg.), Formen und Funktionen der Allegorie. Symposion Wolfenbüttel 1978, Stuttgart 1979, S. 70–89, hier S. 72. 43 Cf. auch Ziolkowski, Alan of Lille’s Grammar of Sex, S. 13: „[. . .] the cosmos is a text to be studied“ und „[. . .] Lady Nature’s robe is a text“ (ibd.). 41
1. De Planctu Naturae
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muis ibi allegorice uiuerent, ibi tamen esse uidebantur ad litteram (Z. 193– 195).44 Das Begriffspaar sensus litteralis – sensus allegoricus wird hier also explizit genannt; es handelt sich demnach zunächst um einen direkten Hinweis auf den allegorischen Sinn des Werkes, den der Leser entschlüsseln soll. Das Besondere an dieser Textstelle ist jedoch, daß einer allegorisch-bildlichen Darstellung (allegorice uiuerent) ein scheinbarer wörtlicher Sinn zuerkannt wird: tamen esse uidebantur ad litteram. (Ibi nimmt das bei den vorhergehenden Beschreibungen oftmals wiederholte illic auf und heißt hier „auf dem Gewand“.) Das Verhältnis sensus litteralis – sensus allegoricus wird gewissermaßen ins Gegenteil verkehrt: Denn üblicherweise ist der sensus litteralis die Grundlage, auf der die Allegorie mit einer zusätzlichen Bedeutung aufbaut. Im vorliegenden Text dagegen scheint der sensus allegoricus „zuerst“ vorhanden zu sein und einen zusätzlichen wörtlichen Sinn zu haben. Außerdem stehen beide in Opposition zueinander (quamuis – tamen). Offensichtlich verbirgt sich hinter dieser Aussage die Aufforderung, das Gewand der Natur nicht nur als bildliche Darstellung, sondern als „Text“ zu „lesen“ – und zwar selbstverständlich als einen Text mit mehreren Sinnebenen. Diesem Gedanken liegt die mittelalterliche Vorstellung vom „Buch der Natur“ zugrunde: Die Schöpfung wird in Analogie zur Bibel als „Buch“ gedeutet, das ebenfalls von Gott verfaßt ist. Gott offenbart sich somit einerseits durch die Worte der Heiligen Schrift, andererseits im Kosmos, in der geschaffenen Welt.45 Alanus selbst drückt dies an anderer Stelle folgendermaßen aus46: Omnis mundi creatura quasi liber et pictura nobis est et speculum.
Das Interessante an unserer Textstelle ist nun, daß nicht die real existierende Natur allegorisch als Buch interpretiert wird, sondern bereits eine Abbildung derselben. Denn Natura ist ja selbst eine Personifikation, und ihr Gewand mit seinen Abbildungen ist per se Bestandteil der Allegorie. Man könnte also hier von einer „allegorischen Spiegelung“ oder „Doppelung“ sprechen. Die Natur als Allegorie trägt ein Gewand, das seinerseits wieder Allegorie für die „wirkliche“ Natur ist. Die vorliegende Stelle bei Alanus beinhaltet wohl zudem auch ein metapoetisches Moment: Wenn die Beschreibung der Lebewesen so naturgetreu ist, daß sie wirklich zu leben scheinen, ist dies womöglich auch auf das ganze Werk anzuwenden: Ebenso wie der Dichter vorher indirekt „schlechte“ Dichtung be-
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Cf. auch Sweeney, Logic, Theology, and Poetry, S. 172. Strubel, „Grant senefiance a“, S. 67 f. Cf. auch G. Dahan, L’exégèse chrétienne de la Bible en Occident médiéval. XIIe–XIVe siècle, Paris 1999, S. 235 f. 46 Alanus ab Insulis, Rhythmus alter, Patrologia Latina, Bd. CCX, Sp. 579. 45
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III. Die poetische Allegorie in christlich-platonischem Kontext
klagt hatte, deutet er hier an, daß seine Dichtung „gut“, seine Darstellungen lebendig und real seien.
2. Anticlaudianus de Antirufino Der Anticlaudianus, das wichtigere und komplexere Werk des Dichters – nicht nur was die Verwendung der Allegorie betrifft –, stellt ein Gegenstück zum oben erwähnten Gedicht In Rufinum von Claudianus dar. Der volle Titel lautet daher Anticlaudianus de Antirufino. Alans Absicht war es, ein Gegenstück zu In Rufinum zu verfassen; er ist deshalb gewissermaßen selber der „Anti-Claudianus“, der über den „Anti-Rufinus“ schreibt. Der ausführliche Titel findet sich zwar bei Alanus selbst nirgends, ist aber schon in den frühesten Handschriften bekannt.47 Alanus wendet die Vorgabe Claudians ins Gegenteil, denn im Unterschied zu In Rufinum geht es im Anticlaudianus um die Erschaffung eines vollkommen guten Menschen. Allerdings haben die beiden Werke außer der Furie Alecto und einer Reihen von Lastern keine Gemeinsamkeiten.48 Übrigens verwechselte Alanus zwei Männer mit Namen Claudianus, nämlich den hier zitierten Claudius Claudianus und den Theologen Claudianus Mamertus, der eine Schrift über die Seele, De statu animae, verfaßt hatte.49 Neben Claudian griff Alanus für die Gestaltung seiner Allegorien vor allem auf Boethius, Martianus Capella und Bernardus Silvestris zurück.50 Die Thematik von De Planctu Naturae wird im Spätwerk des Alanus in abgewandelter bzw. erweiterter Form wieder aufgenommen.51 Während das frühere Werk sozusagen eine „Bestandsaufnahme“ der schlimmen Zustände ist – beklagt wird ja das widernatürliche Verhalten des Menschen – soll im späteren Epos dagegen etwas unternommen werden: Die Natur, die Theologie sowie alle Tugenden und Artes wirken zusammen, um den perfekten Menschen „herzustellen“. Das allegorische Epos ist in 4345 Hexametern verfaßt und in neun Bücher gegliedert; voran gestellt sind ein Prosaprolog sowie ein kurzer Versprolog mit einer Invokation an Apollo (V. 1–9).52 Nicht nur das allegorische System des Anticlaudianus ist vielschichtiger als in De Planctu Naturae, sondern es treten auch wesentlich mehr Figuren auf, 47 Nach Ochsenbein, Studien zum Anticlaudianus, S. 37; cf. auch Huizinga, Über die Verknüpfung des Poetischen mit dem Theologischen, S. 17 und Raynaud de Lage, Alain de Lille, S. 51. 48 Cf. Huizinga, Über die Verknüpfung des Poetischen mit dem Theologischen, S. 16 f. 49 Nach M. Stolz, Artes-liberales-Zyklen. Formationen des Wissens im Mittelalter, Bd. 1, Tübingen/Basel 2004, S. 192; cf. auch Raynaud de Lage, Alain de Lille, S. 51. 50 Lemoine, Alain de Lille et l’École de Chartres, S. 55. 51 Cf. auch Sweeney, Logic, Theology, and Poetry, S. 163. 52 Zitiert wird nach Alain de Lille, Anticlaudianus, hrsg. v. Bossuat, Paris 1955.
2. Anticlaudianus de Antirufino
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was die Handlung erheblich ausweitet. Zum besseren Verständnis soll daher zunächst ein kurzer Inhaltsüberblick gegeben werden. a) Inhaltsüberblick Am Anfang beruft die personifizierte Natura ein Konzil der Tugenden ein, weil sie angesichts der Entartung der Menschen einen neuen, vollkommenen Jüngling erschaffen möchte. Zu der Versammlung treffen 15 Tugenden ein: Concordia (Eintracht), Copia (Fülle), Favor (Gunst), Juventus (Jugend), Risus (Lachen), Pudor (Schamhaftigkeit), Modestia (Bescheidenheit), Racio (Vernunft), Honestas (Ehrenhaftigkeit), Decus (Anstand), Prudencia (Klugheit), Pietas (Frömmigkeit), Fides (Glaube), Largitas (Freigiebigkeit)53, Nobilitas (Adel bzw. adelige Abstammung). Überraschend an dieser Tugendreihe ist, daß nur je eine der göttlichen und der Kardinaltugenden vorkommen, nämlich Fides und Prudencia. Alle übrigen entstammen dem höfischen Bereich.54 Die Racio ist mit drei Spiegeln dargestellt: Im ersten sieht sie die „Ursachen der Dinge“ (causarum seriem, I, V. 456), im zweiten „die der Formen beraubten Subjekte“ (subiecta [. . .] formis vidata, V. 468) und im dritten „die Quelle der Dinge, die Abstammung der Welt, die Idee (das Urbild) des Erdkreises, [. . .]“, Anfang und Ende aller Dinge [. . .] (rerum fontem, mundi genus, orbis ydeam [. . .], V. 488 f.). Hier wird das Modell des Aufstiegs zur Erkenntnis evoziert, das im platonischen Höhlengleichnis55 vorgezeichnet ist und im Neuplatonismus weiterentwickelt wurde56: Der erste Spiegel zeigt die Dinge aus Form und Materie und weist damit auf „die als Erscheinung gegebene welthafte Wirklichkeit hin“.57 Der zweite Spiegel reflektiert die ungeformte Materie, also die intelligiblen Dinge oder die „Welttranszendenz“58; im dritten schließlich sind die reinen Ideale bzw. die „transzendenten Ideen“59 zu sehen. Walter Haug 53 Diese Tugend wird aus metrischen Gründen umschrieben: quae spargit opus [. . .] virtus (V. 43); cf. Huizinga, Über die Verknüpfung des Poetischen mit dem Theologischen, S. 52. 54 Cf. auch Huizinga, Über die Verknüpfung des Poetischen mit dem Theologischen, S. 52 f. Siehe auch Jauss, Form und Auffassung der Allegorie, S. 191. 55 Platon, Politeia, 514a–517a (Platon, Politeia, in: Werke in acht Bänden, gr. u. dt., hrsg. v. G. Eigler nach der Übers. v. F. Schleiermacher, Bd. IV, Darmstadt 1971, S. 554–563). Cf. Th. A. Szlezák, Das Höhlengleichnis (Buch VII 514a–521b und 539d–541b), in: O. Höffe (Hrsg.), Platon: Politeia, Berlin 22005, S. 205–228, bes. 211–220, ferner H. O. Seitschek, Art. Bildung/Erziehung (paideia), in: Chr. Schäfer (Hrsg.), Platon-Lexikon, Darmstadt 2007, S. 60–63, hier S. 60 f. 56 Cf. J. Halfwassen, Der Aufstieg zum Einen. Untersuchungen zu Platon und Plotin, München/Leipzig 22006, S. 220–226. 57 Halfwassen, Der Aufstieg zum Einen, S. 222. 58 Ibd. 59 Ibd., S. 223.
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III. Die poetische Allegorie in christlich-platonischem Kontext
faßt dieses Konzept wie folgt zusammen: „Indem damit der vom Eros getragene philosophische Impuls von der Schönheit ausgeht, führt der Weg der Erkenntnis von den sinnlichen Erscheinungen empor über den Weg des Intelligiblen bis hin zur Schau der Ideen an sich.“60 (Buch I) Nach einigen Diskussionen wird der Vorschlag der Natura angenommen. Racio rät, Prudencia zu Gott zu entsenden, um ihm den Wunsch zu unterbreiten und ihn um Hilfe zu bitten. Die Klugheit nimmt die Gesandtschaft an. Vor ihrer Rede fügt Alanus eine ausführliche Beschreibung der Prudencia ein, die nach dem gleichen Schema vorgeht wie die descriptio der Natura in De Planctu (De Pl. II, Z. 1–292). Nach einem Preis ihrer Schönheit in vielen Einzelheiten wird ihre uestis „nach Gewebeart, Farbe, Sitz und Bildmuster behandelt“61, wobei Alanus sich stark an der Philosophia des Boethius orientiert (De cons. I, 1, 2). Die sieben freien Künste beginnen daraufhin, einen Wagen zu diesem Zweck zu bauen: Als erste stellt die Grammatik die Deichsel des Wagens her (Buch II). Die Logik, die hier anstelle der Dialektik genannt ist62, fabriziert die Achse, woraufhin die Rhetorik Deichsel und Achse schmückt und verziert. Die Arithmetik, die Musik und die Geometrie bauen jeweils ein Rad (Buch III). Die Astronomie ergänzt das vierte Rad. Die Eintracht fügt die Teile des Wagens zusammen, danach schirrt die Vernunft, die die Wagenlenkerin sein wird, fünf Pferde an den Wagen: Gesichtssinn, Gehörsinn, Geruchssinn, Geschmackssinn, Tastsinn. Die Klugheit besteigt nun den Wagen und fährt durch den von den gefallenen Engeln bewohnten Luftraum. Sie durchquert den Äther und die Himmelssphären von Mond (er galt ebenfalls als Planet), Sonne, Venus und Merkur. Dann kommt sie am Palast des Mars und der Region des Jupiter vorbei, anschließend durch die Sphäre des Saturn (Buch IV). Nach den Planetensphären gelangt die Klugheit – hier plötzlich Fronesis und nicht mehr Prudencia genannt, was auf eine höhere Erkenntnis in der Transzendenz hindeutet – zum Firmament mit den Sternbildern und dem Tierkreis, also zum Fixsternhimmel. Die Pferde, d. h. die äußeren Sinnesorgane des Menschen, können die Geheimnisse des Himmels nicht durchdringen, daher kann die Klugheit nur eines, das Gehör, mitnehmen. Damit wird auf das Pauluswort fides ex auditu (Röm. 10, 17) angespielt, wo der Apostel darauf hinweist, daß der Glaube vor allem vom Hören kommt, d. h. vom Anhören des Wortes Gottes. In demselben Zusammen-
60 W. Haug, Bonaventuras ,Itinerarium mentis in Deum‘ und die Tradition des platonischen Aufstiegsmodells, in: ders., Die Wahrheit der Fiktion. Studien zur weltlichen und geistlichen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Tübingen 2003, S. 493–504, hier S. 493. 61 Meier, Zwei Modelle von Allegorie, S. 73. 62 Huizinga, Über die Verknüpfung des Poetischen mit dem Theologischen, S. 30.
2. Anticlaudianus de Antirufino
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hang schreibt er auch: „Wie sollen sie hören, wenn ihnen keiner predigt?“63 (Röm. 10, 17). Auch die Racio muß zurückbleiben, da die menschliche Vernunft ebenfalls vor den archana Dei versagt. An ihrer Stelle tritt nun eine neue Gestalt auf, um die Fronesis weiter durch den Himmel zu Gott zu führen. Es ist die puella poli (V, 83), später auch als regina poli oder poli regina bezeichnet (Acl. V, 166, 178 et passim). Diese „Königin des Himmels“ ist vermutlich eine Personifikation der Theologie oder der göttlichen Weisheit bzw. Noys.64 Möglicherweise hat Alanus ihre genaue Bedeutung bewußt offen gelassen, denn es handelt sich hier um die einzige Allegorie des Anticlaudianus, die keine genau bestimmte Tugend (virtus) oder Wissenschaft (ars) personifiziert. Vielleicht wollte er mit dieser unklaren Gestalt andeuten, daß das „Wissen über den Himmel“ für die menschliche Erkenntnis schwer faßbar ist, und hat sie gerade deshalb nicht explizit Theologia genannt. Es folgt an dieser Stelle ein Einschub mit einer Anrufung des Dichters an Gott: Da es von hier an um wichtige und erhabene Dinge geht, nämlich die Erkenntnis Gottes bzw. den Blick in den Himmel mit allen Engeln und Heiligen, benötigt Alanus göttliche Unterstützung beim Schreiben. Die Klugheit wird – so wird die Erzählung fortgesetzt – von der regina poli durch den kristallenen Wasserhimmel in das Empyreum, den Feuerhimmel, der der Sitz Gottes und der Heiligen ist, geleitet. Auch bei Dante sind die obersten Himmelssphären als Fixsternhimmel, Kristallhimmel und Empyreum bezeichnet. In der obersten Sphäre sind Wasser und Feuer verbunden, was sonst nicht möglich ist: Dies deutet wohl an, daß alle menschliche Erkenntnis, alle Wissenschaften versagen.65 Hier erblickt die Klugheit die Chöre der Engel, die Heiligen, die Mutter Gottes und schließlich Christus selbst (Buch V). Die Klugheit vermag den Glanz des himmlischen Lichts nicht zu ertragen und fällt in eine ekstatische Ohnmacht, aus der sie der personifizierte Glaube mit einem himmlischem Trank wieder erweckt. Die Fides überreicht ihr einen Spiegel, mit dessen Hilfe die Klugheit die Geheimnisse Gottes erforschen kann, zunächst die Ursachen der Vorherbestimmung. Die Klugheit erhält hier wiederum einen anderen Namen, nämlich Sophia – damit ist wohl erneut eine höhere Erkenntnisstufe gemeint. Zunächst erblickt sie die himmlische Sonne der Dreifaltigkeit. Die Klugheit wirft sich Gott zu Füßen, er aber hebt sie auf und hört ihr Anliegen an. Dann läßt Gott von Noys, der Personifikation des göttlichen Geistes und Herrscherin über die Ideen, das 63 Den gleichen Gedanken hat Thomas von Aquin später in der 2. Strophe seines Sakraments-Hymnus Adoro te devote, latens Deitas in dichterische Form gebracht: Visus, tactus, gustus in te fallitur /sed auditu solo tuto creditur (Das vollständige Römische Meßbuch (= Schott I), Freiburg i. B. 1962, S. [231]). 64 Nach Stolz, Artes-liberales-Zyklen, Bd. 1, S. 193. Cf. auch Bezner, Vela Veritatis, S. 508, und de Lubac, Exégèse médiévale I, I, S. 81. 65 Cf. zur Diskussion dieser Stelle Bezner, Vela Veritatis, S. 514–520.
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III. Die poetische Allegorie in christlich-platonischem Kontext
Urbild der Seele herbeischaffen. Nach diesem Bild formt Gott eine neue Seele für den perfekten Menschen und übergibt sie der Klugheit. Diese kehrt daraufhin zu ihren Schwestern, den anderen Tugenden, zurück (Buch VI). Die Natur schafft den Leib des Jünglings aus den vier Elementen, die Eintracht verbindet die Seele mit dem Leib. Darauf beschenken sämtliche Tugenden den Jüngling mit ihren Gaben: Copia, Favor, Juventus, Risus, Pudor, Modestia, Racio, Honestas, Decus, Prudencia, die Sieben Freien Künste, Pietas, Fides, Largitas, sowie Nobilitas, die Tochter der Fortuna. Es handelt sich also um die gleichen Tugenden wie bei der Versammlung zu Beginn. Auffällig ist sowohl an dieser Tugendreihe als auch bei der im Buch I genannten, daß es sich nicht nur um christlich-moralische virtutes handelt, sondern daß ein großer Teil von ihnen aus der höfischen Welt stammt, so etwa Favor, Juventus, Risus, Largitas, Nobilitas. Largitas tritt übrigens auch in De Planctu Naturae auf. „Wir finden also in den Dichtungen des Alanus die christliche Tugendlehre gewissermaßen von den ethischen Begriffen der cortezia gestreift.“66 In einer Art „Exkurs“ wird die Residenz der Glücksgöttin beschrieben: Sie befindet sich auf entlegenen, vom Meer umspülten Klippen, die ihr Aussehen ständig ändern. Fortuna selbst hat zwei Gesichter (Buch VII). Ihre Beschreibung geht – wie bereits erwähnt – hauptsächlich auf Boethius zurück (Consol. 2, pr. 1 et 2).67 Sie entspricht der Bitte der Nobilitas und gewährt die Gaben des Adels und des Glücks, wobei die Vernunft für das rechte Maß sorgt. Die Furie Alecto beruft die Übel zu einem unterirdischen Konzil, um zu verhindern, daß sie alle Macht über die Menschheit verlieren. Die Mächte des Bösen verschwören sich zum Kampf gegen das Gute, die Tugenden bewaffnen den Jüngling (Buch VIII). Nachdem die Zwietracht den Kampf eröffnet hat, werden die Übel nacheinander von den Tugenden des Homo novus überwunden. Der Sieg des himmlischen Menschen bringt der Erde eine neue Friedensherrschaft, ein „goldenes Zeitalter“ (Buch IX). Mit einem Schlußwort des Alanus, in dem er die Hoffnung ausspricht, sein Werk möge gut aufgenommen werden, endet das Epos. b) Allegorische Wissensvermittlung und Aufstieg zur Erkenntnis Zwei große Themen sind es vor allem, die im Anticlaudianus mit Hilfe der allegorischen Schemata verdeutlicht werden. Der Prosaprolog ist insofern zum Verständnis wichtig, als Alanus in ihm diese beiden Hauptthemen ankündigt.68 66 Huizinga, Über die Verknüpfung des Poetischen mit dem Theologischen, S. 56. Cf. auch Jung, Etudes sur le poème allégorique, S. 77. 67 Cf. auch Ochsenbein, Studien zum Anticlaudianus, S. 35. 68 Cf. zum Prolog auch Bezner, Vela Veritatis, S. 477–489.
2. Anticlaudianus de Antirufino
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Dies ist zum einen die Verkörperung der Sieben Freien Künste durch die entsprechenden Personifikationen. Der andere – komplexere – Aspekt betrifft den Aufstieg des Menschen zu Gott bzw. zur Erkenntnis nach platonischer Vorgabe. Dieses Modell verknüpft Alanus in seinem Prolog mit einer mehrfachen Sinnschichtung, die auf verschiedene Lesertypen abzielt. Nachdem er sich eingangs gegen potentielle Kritiker gewendet hat, macht er den dreifachen Sinn der Dichtung deutlich69: In hoc etenim opere litteralis sensus suauitas puerilem docebit auditum, moralis instructio perficientem imbuet sensum, acutior allegorie subtilitas proficientem acuet intellectum. Ab huius igitur operis arceantur ingressu qui, solam sensualitatis insequentes imaginem, rationis non appetunt ueritatem [. . .].
Diese Passage ist ein wichtiger Hinweis darauf, wie Alanus sein Werk verstanden wissen will; er lehnt sich hierbei an den mehrfachen Sinn der Heiligen Schrift an, wenn er ausdrücklich sagt, daß man es nach dem wörtlichen (litteralis sensus), dem moralischen (moralis instructio) sowie dem allegorischen Sinn (allegorie subtilitas) interpretieren kann. Diese drei Sinnebenen werden dabei verschiedenen Typen von Lesern zugeordnet: Der erste ist für das „Ohr des Knaben“ gedacht (puerilem docebit auditum); d. h. die „Anfänger“, also diejenigen Leser, die mit der Allegorese noch nicht vertraut sind, sollen sich mit der suauitas des sensus litteralis begnügen und dem Verlauf der Handlung folgen. Der bereits etwas fortgeschrittene Leser (perficientem) gelangt aufgrund der moralis instructio zu einer ersten Ebene der Erkenntnis. Eine noch höhere Einsicht harrt des Rezipienten, dessen Intellekt noch weiter fortgeschritten ist (proficientem [. . .] intellectum), und zwar aufgrund der „zugespitzten Feinheit des allegorischen Gehaltes“ (acutior allegorie subtilitas). Der Zugang zu diesem Werk und damit wohl auch zu einer höheren Einsicht – so Alanus weiter – bleibt auf jeden Fall denjenigen verschlossen (Ab huius igitur operis arceantur ingressu), die nur nach sinnlich Wahrnehmbaren streben (solam sensualitatis insequentes imaginem) und sich von der Erkenntnis der Wahrheit im Lichte der Vernunft fernhalten (rationis non appetunt ueritatem). Im Anticlaudianus wird dieser Aufstieg zur Erkenntnis wiederum allegorisch dargestellt durch die Himmelsreise der Prudencia, die uns noch näher beschäftigen wird. aa) Allegorische Wissensvermittlung – die Darstellung der Artes Bleiben wir vorerst jedoch noch ein wenig bei dem anderen großen Thema der Allegorie im Anticlaudianus. Denn gegen Ende des Prosaprologes kündigt Alanus eine Darstellung der artes liberales an70:
69 70
Anticlaudianus, hrsg. v. Bossuat, S. 56. Ibd.
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III. Die poetische Allegorie in christlich-platonischem Kontext Quoniam igitur in hoc opere resultet grammatice syntaseos regula, dialetice [sic] lexeos maxima, oratorie reseos communis sententia, arismetice matheseos paradoxa, musice melos, anxioma geometrie, gramatis theorema, astronomice ebdomadis excellentia, theophanie celestis emblema [. . .].
In der Tat sind die personifizierten Sieben Freien Künste im Anticlaudianus mehrfach präsent: Erstmals erscheinen einige von ihnen in Form von Gemälden im Haus der Natur (I, 122–151), nämlich Logik, Astronomie und Rhetorik. Sodann erwähnt Prudencia wiederum die Logik und die Rhetorik sowie darüber hinaus die Medizin in ihrer Rede zu Beginn des zweiten Buches, wo sie vor den möglichen Irrtümern der entsprechenden Künste warnt (II, 39 f.): Non semper medicus sanat, non ipse peroret Retor, non logicus ad metas peruenit [. . .]
Beim Bau des Wagens schließlich sind alle sieben Artes beteiligt: Grammatica (II, 380–513), Logica (III, 1–136)), Rhetorica (III, 137–271), Arithmetica (III, 272–385), Musica (III, 386–468), Geometria (III, 469–533) und Astronomia (IV, 1–69).71 Im fünften Buch wird erneut an zwei Stellen auf die Unzulänglichkeiten der artes vor den göttlichen Geheimnissen angespielt. Zum einen werden die Rhetorik, die Logik und die Astronomie erwähnt, die durch Cicero (Tullius), Aristoteles und Ptolemäus vertreten sind – ebenso wie auf den Gemälden im Haus der Natur. Hinzu kommt noch Vergil, der die Dichtkunst repräsentiert. Sie alle müssen vor den Offenbarungen schweigen, die der Fronesis im Kristallhimmel zuteil werden (V, 371 f.): Tullius ipse silet, mutescit musa Maronis, Languet Aristotiles, Phtolomei sensus obumbrat.
Etwa 100 Verse später erwähnt Alanus noch einmal explizit die Logik und die Rhetorik, die ebenso wie die Gesetze der Natur und der racio vor dem Geheimnis der jungfräulichen Mutterschaft Mariens verstummen (V, 478 f.)72: Hic natura silet, logice uis exulat, omnis Rhetorice perit arbitrium racioque uacillat.
Ein letztes Mal werden die Artes in ihrer Gesamtheit im siebten Buch vorgeführt, wo sie den neugeschaffenen Jüngling mit ihren Gaben beschenken (VII, 245–314). Sehen wir uns die Beschreibung des Hauses der Natura mit den Gemälden der artes noch etwas näher an (Buch I, 122–151). Dieses Haus – so leitet Ala-
71
Cf. auch Stolz, Artes-liberales-Zyklen, Bd. 1, S. 197–201. Diese Stelle ist auch zitiert bei Stolz, Artes-liberales-Zyklen, Bd. 1, S. 200, wohingegen die andere (V, 371 f.) dort nicht genannt ist. Siehe auch Sweeney, Logic, Theology, and Poetry, S. 164 f. 72
2. Anticlaudianus de Antirufino
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nus seine Beschreibung ein – liegt in der Mitte eines Haines auf einer Hochebene, schon fast in den Wolken (I, 107–109): In medio nemoris euadit in aera montis Ardua planicies et nubibus oscula donat. Hic domus erigitur Nature [. . .].
Es ist nicht nur mit kostbaren Edelsteinen geschmückt (V. 112–118), sondern auch mit Wandmalereien verziert, welche die Sitten der Menschen repräsentieren: Hic hominum mores picture gracia scribit (I, 119). Wiederum – wie schon in De planctu – wird hier ein Bild als „Text“ aufgefaßt, wie das Verb scribit zeigt. Ebenso weist Alanus auf die „Lebensechtheit“ der Bilder hin, die so real erscheinen, daß sie sich dem wirklichen Sein annähern: O noua picture miracula! Transit ad esse/Quod nichil esse potest [. . .] (122 f.). Unter diesen Gemälden sind nun auch die Darstellungen der artes liberales zu finden. Den Anfang macht die Logik, die in Opposition zur Malkunst (artis [. . .] huius; V. 126) vorgeführt wird (126–130): Sic logice uires artis subtiliter huius Argumenta premunt logiceque sophismata uincunt: hec probat, ista facit; hec disputat, impetrat illa Omne quod esse potest: sic utraque uera uideri Falsa cupit, sed ad hoc pictura fidelius instat.
Beide Künste, sowohl die Malerei als auch die Logik, geben Falsches für wahr aus (utraque uera uideri/Falsa cupit; 129 f.). Während die Logik jedoch theoretische Beweise führt und argumentiert (Hec probat [. . .] hec disputat; 128), wird die Malerei gleichsam schöpferisch tätig, indem sie Lebendiges gestaltet73: [. . .] ista facit [. . .] impetrat illa / Omne quod esse potest (128 f.) – eben weil Transit ad esse/Quod nichil esse potest [. . .] (122 f.). Die aus dem Bereich der Logik entnommenen Verbformen probat und disputat bilden einen deutlichen Gegensatz zu den aktiven Tätigkeiten der Malerei facit und impetrat. Im folgenden wird ebenfalls Aristoteles als Vertreter der Logik genannt (132), bevor Alanus sich anderen artes zuwendet. Der Repräsentant der Astronomie ist wiederum Ptolemäus (137); für die Rhetorik steht erneut Tullius, also Cicero (141). Einige weitere klassische Persönlichkeiten ohne direkten Bezug zu den Künsten sind ebenfalls auf den Bildern zu sehen, so Platon (134), Seneca (135), Vergil (142), Herkules und Odysseus (145) sowie Hippolytos (150) – sie verkörpern wohl allgemein die mores hominum (cf. oben V. 119). Wie bereits angedeutet, erscheinen die Artes in der ausführlichsten Form beim Bau des Himmelswagens für Prudencia, wo eine jede von ihnen mit vielen Details beschrieben wird.74 73
Cf. auch Stolz, Artes-Liberales-Zyklen, Bd. 1, S. 197. Grammatica (II, 380–513), Logica (III, 1–136)), Rhetorica (III, 137–271), Arithmetica (III, 272–385), Musica (III, 386–468), Geometria (III, 469–533), Astronomia (IV, 1–69). 74
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III. Die poetische Allegorie in christlich-platonischem Kontext
Alanus präsentiert die Personifikationen der artes hier wiederum nach dem gleichen Schema, welches uns schon in De Planctu sowie oben bei der Prudencia begegnet war: Er beginnt stets mit einer Beschreibung des Äußeren; darauf folgt die descriptio des Gewandes sowie die Nennung der Attribute. Letztere sind im Anticlaudianus leicht verständlich und tragen dazu bei, die Bedeutung der jeweiligen Figur kenntlich zu machen.75 So hat beispielsweise Prudencia eine Waage bei sich, Racio die drei Spiegel, Grammatica eine Rute und ein Messer; Logica trägt in der rechten Hand eine honigspendende Blume und in der Linken einen Skorpion, Rhetorica Tuba und Horn. Sehen wir uns dieses allegorische Schema noch genauer am Beispiel der Rhetorica an: Sie tritt als dritte Ars auf, stattet Deichsel und Achse mit Schmuck aus und vervollkommnet auf diese Weise das Werk ihrer Vorgängerinnen Grammatica und Logica (III, 137–271). Die zahlreichen Ausdrücke des Verzierens, Schmückens und der Perfektion, die in den Versen 141–150 gebraucht werden, weisen zugleich auf den rhetorischen ornatus hin: Supremasque manus apponit opusque sororum Perficit atque semel factum perfectius ornat. Excolit illa gradu supremo que positiuo Facta gradu fuerant, sed non augmenta superni Finis contigerant, gradibus contenta secundis. Nec mirum si facta prius perfectius ornans Perficit et factum cultu meliore uenustat, Cui magis arridet species et gracia forme, Quod comites multa pictoris preuenit arte, Totam pictoris artem sub pectore claudens.
So steht Perficit zweimal an einem Versanfang, also an markanter Stelle (142 und 147); ebenfalls zweimal wird eine Form von ornare gebraucht, und zwar beide Male am Versende – auch an exponierter Stelle – und jeweils verstärkt durch perfectius, so in Vers 142 perfectius ornat und in 146 perfectius ornans. Weitere Termini des Verschönerns sind Excolit (143), cultu meliore uenustat (147), species et gracia forme (148), multa [. . .] arte (149). Der Begriff augmenta (144) ist ebenfalls ein terminus technicus der Redekunst und meint das Gegenteil der rhetorischen brevitas, also ein amplifizierendes Verfahren, das einen Text stilistisch kunstvoll ausfeilt. Ebenso verfährt Alanus in dieser Passage, in der die Rhetorik präsentiert wird. Im folgenden Absatz wird eben diese Schönheit des Stiles zur körperlichen Schönheit der Rhetorica in Beziehung gesetzt (151–163), wobei Alanus vor allem hervorhebt, daß sie in vielen Farben erstrahlt (153–155): In uultuque natat color igneus, ignis in ore Purpureus roseo uultum splendore colorat, Sed partim uultus candor peregrinus inheret. 75
Meier, Zwei Modelle von Allegorie, S. 73 f.
2. Anticlaudianus de Antirufino
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Gemeint sind hier zugleich die colores rhetorici, welche in verstärktem Maße auf der vestis wiederkehren. Bei der Beschreibung des Gewandes überbietet sich Alanus geradezu an rhetorischen Kunstmitteln. In einem scheinbar nicht enden wollendem Polyptoton wiederholen die Verse 166–169 die Begriffe color / colorare und pictura / pictor: Claudit eam uestis que, picturata colore Multiplici, gaudet uarios inducta colores. Hic pictoris ope splendet pictura coloris Rectorici, sic picturam pictura colorat.
Nach diesem „rhetorischen Feuerwerk“ wird Bezug genommen auf die Lehrbücher dieser ars: Wie in einem Buch (Hic uelud in libro legitur, V. 170) sind auf dem Gewand die Lehrinhalte der Redekunst abgebildet: die genera dicendi (170–177), die partes orationis (178–181) und die officia oratoris (182–197). Anschließend kommt Alanus noch einmal auf die rhetorischen Genera, vor allem die Gerichtsrede zu sprechen (198–224). Ein letzter Teil der Kleidbeschreibung ist den Repräsentanten der Redekunst gewidmet (225–249). Allen voran wird Cicero als deren Begründer gerühmt und sein Name „kunstvoll umspielt“76, indem der volle Name Marcus Tullius Cicero gleichsam über mehrere Verse verteilt wird; seine Verdienste um diese Kunst sind so groß – so Alanus –, daß die Rhetorik seine „Tochter“ und „Tullia“ genannt werden könnte (227–230): Illic rhetoricam sibi solus Marcus adoptat, Immo parit, quare Cyceronis filia dici Ars merito poterit, quam gignit Tullius, a quo Ars ortum ducens censeri Tullia posset.
Als weitere Vertreter77 nennt Alanus noch Ennodius (232), Quintilian (233), Symmachus (236) und Sidonius Apollinaris (240)78, bevor er zum Bau des Wagens zurückkehrt (248–271): Die Rhetorik schmückt die Deichsel mit Edelsteinen und Silber (Gemmis stellatam speciem themonis inignit,/Argento sparsim themonem uestit; 250 f.); in die Achse meißelt sie Blüten (A simili uariis inscribit floribus axem; 261). Die Aufgabe der Rhetorik ist also allein das Schmücken des entstehenden Himmelswagens, wobei ihr eigentlicher Bereich – das „Schmücken“ bzw. Ausfeilen des Stiles – noch einmal allegorisch durchgespielt wird.
76
Stolz, Artes-liberales-Zyklen, Bd. 1, S. 199. Dieses Verfahren, bestimmte Künste oder Wissenschaften mit klassischen Persönlichkeiten zu verknüpfen, auch determinatio genannt, stammt bereits aus der Antike. Alanus konnte es beispielweise bei Macrobius finden (de Lubac, Exégèse médiévale I, I, S. 31). 78 Cf. auch Stolz, Artes-liberales-Zyklen, Bd. 1, S. 198 f. 77
80
III. Die poetische Allegorie in christlich-platonischem Kontext
Diese detailreiche Inszenierung der Artes Liberales – im vorliegenden Falle der Rhetorik – macht den Anticlaudianus zu einer „Lehrdichtung besonderer Art“79, werden in ihm doch aus der Tradition bekannte Stoffe gewissermaßen „zur Wiederholung“ dargeboten: Wie wir am Beispiel der Rhetorik gesehen haben, fallen in ihrer Beschreibung alle wichtigen Stichwörter, die ihre Lehrinhalte zusammenfassen.80 Die Verkörperung des Wissens in den Allegorien der Artes, aber auch der Tugenden, wie der Prudencia, und der Theologie machen den Anticlaudianus zu einer Summa, zu einer „docte encyclopédie de omni re scibili où se sont logées toutes les connaissances de l’époque [. . .]“.81 bb) Aufstieg zur Erkenntnis – die Himmelsreise der Prudencia Anhand einer weiteren Textstelle soll nun noch betrachtet werden, wie der Aufstieg zur Erkenntnis durch die Himmelsreise der Prudencia ebenfalls allegorisch repräsentiert wird – unter Zuhilfenahme der „typischen Elemente eines integumentum“.82 Wir haben bereits gesehen, daß die menschliche Vernunft und die Sinnesorgane bis auf das Gehör vor den himmlischen Geheimnissen zum Scheitern verurteilt sind, und daß die Klugheit von der regina poli in den Himmel begleitet werden muß (V, 40–264). Als sie nun im Empyreum vor dem Dei solium (VI, 1) angekommen ist, versagen ihre Kräfte ebenfalls, und sie fällt in eine ekstatische Ohnmacht (VI, 6–8): Sic sopor inuasit uigilem, sic somnus adulter Oppressit Fronesis animum, sompnoque soporans Extasis ipsa suo, mentem dormire coegit.
Dieses Mal kann ihr auch die regina poli nicht helfen (mens plena tamen non redditur illi; 14), sondern sie muß ihre Schwester, den Glauben (Fides) zu Hilfe rufen (VI, 19–28): Sollicitat precibus propriam regina sororem, Que superum solio residens, celeste profundum Scrutatur solisque Dei penetralibus heret, Cui Racio nichil affirmat, cui sufficit ipsa Credulitas et sola Fides, Racione remota. Ipsam namque Fidem Racio non prevenit, immo Ipsa Fides hanc anticipat Fideique docenti Obsequitur tandem Racio, sequiturque docentem Articulos Fidei, diuinaque simbola carnis Inserit hec, scribens animo quod arundine pingit. 79 80 81 82
Ochsenbein, Studien zum Anticlaudianus, S. 74. Cf. Ochsenbein, Studien zum Anticlaudianus, S. 72–74. Raynaud de Lage, Alain de Lille, S. 52. Bezner, Vela Veritatis, S. 507.
2. Anticlaudianus de Antirufino
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In dieser Passage wird noch einmal hervorgehoben, daß die menschliche Vernunft (Racio) allein Gott nicht zu erkennen vermag, und daß der Glaube ihr vorausgehen muß: „Der Mensch muß zuerst im Glauben die göttlichen Geheimnisse annehmen. Erst dann darf er versuchen, sie mit Hilfe seines schwachen Geistes zu erforschen.“83 Fides richtet Fronesis zunächst mit Hilfe eines heilenden Trankes wieder auf, der Celesti confecta manu, condita sapore,/Mellifluo gustu mellita, suauis odore ist (102 f.). Dieses Getränk (exquisita [. . .] pocio; 106) symbolisiert wohl die göttliche Gnade84; möglicherweise ist es sogar ein Symbol für die Sakramente. Ochsenbein zieht eine Parallele zu De nuptiis Philologiae et Mercurii von Martianus Capella: Hier erhält Philologia einen Trank, der ihr Unsterblichkeit verleiht. Analog dazu möchte der Autor das Getränk der Fides ebenfalls als „Becher der Unsterblichkeit“ deuten.85 Davon ist jedoch im Text nicht die Rede. Durch die pocio kommt Fronesis wieder zu sich (sibi redditur; 109), und das Erschauern vor den göttlichen Geheimnissen, welches sie zuvor befallen hatte, fällt von ihr ab: totus mentis seducitur horror (110). Als Fronesis aus ihrer exstasis erwacht, vermag ihr Auge jedoch der strahlenden Helle des Himmels nicht standzuhalten (nec ferre nitorem / Sustinet empireum nec tantum fulgur Olimpi; 114 f.). Daher reicht ihr die Fides einen Spiegel, der den Glanz des Empyreums so reflektiert, daß er für ein sterbliches Auge erträglich wird. In diesem Spiegel sieht Fronesis nun alles abgebildet, was der Himmel in sich schließt (VI, 119–123): Presentat Fronesi speculum, quo cuncta resultant Que locus empireus in se capit, omnia lucent, Que mundus celestis habet, sed dissona rerum Paret in hiis facies. Hic res, hic umbra uidetur, Hic ens, hic species, hic lux, ibi lucis imago.
Jedoch erkennt sie den mundus celestis nicht „wirklich“, sondern dissona rerum / [. . .] facies (121 f.), d. h. sie erblickt – wie im platonischen Höhlengleichnis86 – nicht die wirklichen Dinge, sondern deren Schatten (umbra; 122) oder nicht das wirkliche Licht, sondern dessen Abbild87 (hic lux, ibi lucis imago; 123), damit es ihren Augen nicht schade ([. . .] ne maior oculis lux obuiet, illos/ Offendens; 125 f.). Damit wird es lumen amicum (129). Das helle Leuchten des 83
Ochsenbein, Studien zum Anticlaudianus, S. 99. Ibd., S. 105. Cf. zu dieser Stelle auch Bezner, Vela Veritatis, S. 521. 85 Ibd., S. 103. 86 Im Höhlengleichnis muß der ans Licht tretende Philosoph zunächst in Pfützen blicken, um dort die Spiegelbilder der Dinge zu sehen, da seine ans Dunkel der Höhle gewöhnten Augen die Helle noch nicht zu ertragen vermögen (Platon, Politeia, 516a). 87 Cf. zu Bild und Abbild im neuplatonischen Denken W. Beierwaltes, Denken des Einen, S. 73–113. 84
82
III. Die poetische Allegorie in christlich-platonischem Kontext
Himmels wird in der ganzen Passage – ähnlich wie später bei Dante – durch zahlreiche Ausdrücke aus dem Wortfeld „Licht“ wiedergegeben: nitorem (114), fulgur (115), lucent (120), lux (123, 125), lucis (123, 127), lumen (129), sogar cum lumine lumen (130). Diese Lichtmetaphorik weist auch auf das platonische Sonnengleichnis88 hin, in dem das Licht gleichsam die Erkenntnis vermittelt.89 Der Spiegel dient der Fronesis – nunmehr heißt sie Sophia bzw. Sophya (VI, 124 und 131) – als Mittler: Hoc speculum mediator adest [. . .] (127). Er vermittelt ihr so die Erkenntnis der Wahrheit; beim Einblick in die göttlichen Geheimnisse empfindet sie Staunen und Freude und vertreibt allen Irrtum (131–137): Cernit in hoc speculo uisu speculante Sophia, Quicquid diuinus in se complectitur orbis. Dum noua queque uidet, miratur ad omnia, gaudet In cunctis, nouitas noua rerum gaudia gingnit; Eius cum uisu mens delectatur et omnes Eroris pellit nebulas et gaudia mentem Perfundunt; perit omne sui sintoma doloris.
c) Zusammenfassung Im Prosaprolog haben wir gesehen, daß Alanus für seine Dichtung einen dreifachen Sinn in Anspruch nimmt. Versuchen wir abschließend, das ganze Werk nach diesen Sinnebenen zu deuten. Der sensus litteralis ist natürlich die fabula von der Himmelsreise der Prudencia und der Erschaffung des neuen Menschen, die erzählt wird. Die moralis instructio könnte man als den Erkenntnisgewinn bezeichnen, den jeder Leser aus der Lektüre des Anticlaudianus beziehen kann: In der enzyklopädischen Darstellung der sieben Freien Künste werden deren Lehrinhalte präsentiert; der Fortlauf der Erzählung weist darauf hin, daß diese artes als Grundlage für die Beschäftigung mit theologischen Studien dienen sollen, und daß jeder, der nach höherer Erkenntnis strebt, mit dieser Basis beginnen muß. Die Psychomachia am Ende (Buch IX) führt dem Leser noch einmal klar vor Augen, daß er die vitia – seien sie moralischer oder gesellschaftlicher Art – bekämpfen soll, um dem Ideal des mit allen Tugenden und Wissenschaften ausgestatteten homo perfectus nachzueifern. Die acutior allegorie subtilitas schließlich dringt noch tiefer; denn Alanus kündigt in seinem Prolog nicht nur eine Darstellung der artes liberales, sondern auch des theophanie celestis emblema90 an. Was ist damit gemeint? Alanus selbst erklärt in seiner Expositio prosae de angelis die theophania als visio Dei,
88 Platon, Politeia, 506b–509b (S. 534–545); cf. Halfwassen, Der Aufstieg zum Einen, S. 221. 89 Halfwassen, Der Aufstieg zum Einen, S. 247 f.; cf. auch S. 245–261. 90 Anticlaudianus, hrsg. v. Bossuat, S. 56.
2. Anticlaudianus de Antirufino
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also als Gottesschau.91 Die Leser, die sich nicht allein mit dem sinnlich Wahrnehmbaren begnügen – so fährt Alanus im Prolog fort – mögen es wagen, ihren Blick zu den formae supercelestes zu erheben: ad intuitum supercelestium formarum audent attollere. Der höchste allegorische Gehalt (acutior allegorie subtilitas) also, den nur die proficientes sehen können, führt dem Leser – aber nur demjenigen, der proficiens, also schon weit fortgeschritten ist – seinen eigenen Weg zur Erkenntnis Gottes vor, „der von der imaginatio über die ratio bis zur Schau Gottes führen kann.“92 Die Allegorie wird hier verwendet, um einen Erkenntnisgewinn nach christlich-platonischem Muster aufzuzeigen. Die Hauptrolle spielt Prudencia; sie ist gewissermaßen die „Heldin“ und repräsentiert „das Erkenntnisvermögen der menschlichen Seele“93. Es erscheint daher ein wenig verfehlt, dem Epos vorzuwerfen, es sei inkohärent und lasse einen Helden vermissen, wie Jung behauptet: „il manque au poème, qui se veut épique, un héros, autour duquel s’organise et se cristallise l’ensemble. [. . .] L’Anticlaudianus n’est pas une allégorie cohérente.“94 Prudencia ist sicher nicht eine typisch epische Heldin bzw. ein Held im antiken Sinn, aber sie ist doch deutlich die zentrale Gestalt der Erzählung.95 In der allegorischen Schreibweise stellt ihre Himmelsreise den erwähnten Erkenntnisweg in mehreren „Stationen“ durchaus kohärent dar: Grundlage sind die Artes Liberales – sie bauen den Wagen. Dazu kommt die sinnliche Wahrnehmung, dargestellt durch die fünf Pferde, die den Wagen ziehen und von der Vernunft (Racio) zusammengehalten werden. Mit dieser „Grundausrüstung“ gelangt Prudencia bzw. der nach Erkenntnis strebende Mensch jedoch nur bis zu einem bestimmten Punkt, nämlich dem Fixsternhimmel – dieser gehört gewissermaßen noch in das Ressort der Astronomie, ist also mit Hilfe menschlicher Wissenschaft faßbar. Hier müssen die Sinnesorgane – bis auf das Gehör, denn „der Glaube kommt vom Hören“ (Röm. 10, 17) – sowie die Racio, die natürliche Vernunft zurückbleiben. „Reason’s natural role is to guide the senses and the passions, but here she is powerless to do so.“96
91 Alain de Lille, Expositio prosae de angelis, hrsg. v. M.-Th. d’Alverny, S. 194– 217, vor allem S. 203: „theos“, Deus, „phanes“, visio interpretatur und ibd.: Illa autem theophania, id est Dei visio [. . .]. Cf. auch Ochsenbein, Studien zum Anticlaudianus, S. 23 f. und Jung, Etudes sur le poème allégorique, S. 75. 92 Ochsenbein, Studien zum Anticlaudianus, S. 25. 93 Ibd., S. 88; cf. auch S. 80 f. 94 Jung, Etudes sur le poème allégorique, S. 83. Jung geht sogar noch weiter, indem er behauptet, der Anticlaudianus habe keine „story“ (S. 85). 95 Raynaud de Lage möchte dem homo perfectus, den er als „ce chevalier anonyme“ bezeichnet, die Rolle des „Helden“ zuweisen (Raynaud de Lage, Alain de Lille, S. 118); dies träfe aber äußerstenfalls für das letzte Drittel des Anticlaudianus zu, da der Jüngling ja erst nach der Rückkehr der Prudencia erschaffen wird. 96 Sweeney, Logic, Theology, and Poetry, S. 163 f.
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III. Die poetische Allegorie in christlich-platonischem Kontext
Prudencia – oder der Mensch – überschreitet die Schwelle zur Transzendenz mit Unterstützung der regina poli, der theologischen Erkenntnis. Als sie (oder er) aber vor Gottes Angesicht selbst kommt, versagt auch diese ihren Dienst. Einzig wirksame Instanz ist nun noch Fides, der Glaube. Wissenschaften und Vernunft reichen hier nicht mehr aus, nur durch den Glauben gelangt der Mensch zur visio Dei. „Indeed, like Dante’s vision in the Commedia, it is the mystic vision of God experienced by a human soul which Alain is trying to describe.“97 Die beiden großen allegorischen Werke des Alanus ab Insulis, besonders der Anticlaudianus, hatten nicht nur in der romanischen Welt großen Erfolg, sondern fanden auch einige Nachahmer im deutschsprachigen Raum.98 Von folgenden mittelhochdeutschen Dichtern seien hier exemplarisch Werke erwähnt, die in der Nachfolge des Alanus stehen: Der Stricker, Klage (zwischen 1230 und 1250), Frauenlob, Marienleich (ca. 1290) und Minneleich (1306–1310), Heinrich von Neustadt, Von Gottes Zukunft (um 1300) und schließlich Heinrich von Mügeln, Der Meide Kranz (um 1355).99
97 B. Pavlis Baig, Vision and Visualization: Optics and Light Metaphysics in the Imagery and Poetic Form of Twelfth and Thirteenth Century secular Allegory, with special Attention to the „Roman de la Rose“, Berkely [Diss. phil.] 1982, S. 85. 98 Cf. Jung, Etudes sur le poème allégorique, S. 89–113 und Anticlaudianus, hrsg. v. Bossuat, Einleitung, S. 43–46. Siehe auch H. Brinkmann, Zu Wesen und Form mittelalterlicher Dichtung, Tübingen 21979, S. 101 f. 99 Cf. C. Huber, Die Aufnahme und Verarbeitung des Alanus ab Insulis in mittelhochdeutschen Dichtungen. Untersuchungen zu Thomasin von Zerklære, Gottfried von Straßburg, Frauenlob, Heinrich von Neustadt, Heinrich von St. Gallen, Heinrich von Mügeln und Johannes von Tepl, München 1988, S. 136–199, 214–236, 249–313, 373– 381, 386 f. und 391–393. Cf. auch Stolz, Artes-liberales-Zyklen, Bd. 1, S. 189–528.
IV. Allegoria dei poeti bzw. profane Allegorie: Der Roman de la Rose Eines der bedeutendsten Beispiele für die weltliche allegoria dei poeti ist der Roman de la Rose. Er besteht aus zwei Teilen, die von zwei verschiedenen Dichtern stammen. Der erste Teil wurde um 1230 von Guillaume de Lorris verfaßt, aber – vielleicht seines frühen Todes wegen – nicht vollendet.1 Die Fortsetzung schuf Jean de Meun etwa 40 Jahre später, wie er selbst im Rosenroman berichtet (RR 10565–10590).2 Über die Biographie beider Dichter ist sehr wenig bekannt; von Guillaume de Lorris weiß man nur den Namen, der auf eine Herkunft aus der Gegend der Loire hindeutet.3 Jean de Meun stammte offenbar aus der gleichen Region; von ihm sind noch einige andere Werke überliefert, vor allem Übersetzungen, etwa von Boethius oder Vegetius, De Re Militari. Aus der Fülle von Wissen, die er im zweiten Teil des Rosenromans ausbreitet, schließt man, daß er ein gelehrter Kleriker war.4 Denn Jean führt die Allegorie nicht in der gleichen Weise wie sein Vorgänger fort, sondern läßt in sein Werk lange Exkurse mit Elementen aus dem philosophischen Traktat, der Satire oder dem Lehrgedicht einfließen, weswegen man es auch oft als „Enzyklopädie“ bezeichnet.5 Die von Guillaume geschaffene allegorische Erzählung dient ihm dabei als Rahmen für seinen „étalage de culture“.6 So zitiert Jean beispielsweise ungefähr 80 antike auctores und nennt etwa 60 exempla aus der antiken Mythologie bzw. der Bibel.7 Zu den rund 4000 Versen Guillaumes fügt Jean einen mit gelehrten Digressionen und ausführlichen Reden mancher „personnifications ba-
1 Guillaume de Lorris, Der Rosenroman, hrsg. v. M. Krüger, Stuttgart 1985, Einleitung, S. 9. Cf. auch Guillaume de Lorris et Jean de Meun, Le Roman de la Rose, hrsg. v. F. Lecoy, 3 Bde., Paris 1965–1970, Einleitung, S. V. 2 Guillaume de Lorris/Jean de Meun, Der Rosenroman, hrsg. v. K. A. Ott, 3 Bde., München 1976. 3 Strubel, Le Roman de la Rose, S. 5. Cf. auch Le Roman de la Rose par Guillaume de Lorris et Jean de Meun, hrsg. v. E. Langlois, 5 Bde., Paris 1914–1924, Einleitung, S. 1–8. 4 Le Roman de la Rose, hrsg. v. Lecoy, S. VI–IX, Strubel, Le Roman de la Rose, S. 5 und 13 f.; cf. auch Poirion, Précis, S. 260, Le Roman de la Rose, hrsg. v. Langlois, Einleitung, S. 8–25. 5 Nach Rosenroman, hrsg. v. Krüger, Einleitung, S. 15. 6 Strubel, Le Roman de la Rose, S. 81. 7 Ibd., S. 95 f.
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IV. Der Roman de la Rose
vardes“8 angereichterten Text von etwa 18.000 Versen hinzu und macht somit aus dem Rosenroman ein „Monumentalwerk“ von rund 22.000 Versen. Da Jean de Meun sich mehr und mehr von den allegorischen Schemata der Vorgabe Guillaumes entfernt, soll in der vorliegenden Untersuchung der Schwerpunkt auf den ersten Teil des Roman de la Rose gelegt werden, wo die allegoria dei poeti noch konstitutives Element ist.
1. Der erste Teil des Roman de la Rose von Guillaume de Lorris a) Inhaltsüberblick Nach einem Proöm über die Bedeutung von Träumen (RR 1–44) berichtet der Erzähler von einem Traum, den er selbst etwa fünf Jahre zuvor hatte: Eines Morgens im Mai geht er an einem Flußufer spazieren, bis er an einen schönen Garten gelangt, der paradiesische Züge trägt und Jardin de Déduit genannt wird (45–128). Er betrachtet zunächst die an der Gartenmauer angebrachten Porträts von zehn Lastern bzw. Übeln, nämlich Haïne (Haß), Felonie (Bosheit), Vilainie (Gemeinheit), Covoitise (Habsucht), Avarice (Geiz), Envie (Neid), Tristece (Traurigkeit), Vieillece (Alter), Papelardie (Heuchelei) und Povreté (Armut), bevor er sich um Einlaß bemüht (129–496). Eine schöne Dame, Oiseuse (Müßigkeit) eröffnet ihm den Zugang und führt ihn in den Garten, in dem die Allegorien höfischer Qualitäten Déduit (Vergnügen), Cortoisie (Höflichkeit), Richece (Reichtum), Biautez (Schönheit), Leece (Fröhlichkeit), Largece (Freigiebigkeit), Franchise (Edelmut), Jonece (Jugend) und der Gott Amor miteinander tanzen. Er wird aufgefordert, am Tanz teilzunehmen, und damit in diese von ihm so bewunderte vornehme und heitere Gesellschaft aufgenommen (497–1278). Nachdem der Tanz vorüber ist, macht er sich auf, um den Garten näher zu erkunden, und entdeckt dabei die Fontaine d’Amors, den Liebes- oder NarzißBrunnen. Der Mythos von Narziß aus den Metamorphosen des Ovid wird eingeschoben (1279–1536).9 Auf dem Grund des Brunnens liegen zwei Kristalle, die den ganzen Garten in allen Details spiegeln. Im Spiegel erblickt der Erzähler auch den Rosenhag, woraufhin in ihm das Verlangen erwacht, eine besonders schöne Knospe zu erwählen. Er möchte sie pflücken, doch die sie umgebenden Dornen und Disteln hindern ihn daran (1537–1680). Amor, der ihm heimlich10 8
Ibd., S. 69. Ovid, Metamorphosen III, 339–510. 10 Zum Wesen des Traumes gehört hier wohl, daß der Erzähler auch Kenntnis von Dingen hat, die er eigentlich nicht wissen kann – wie eben hier, daß Amor ihm heimlich gefolgt ist. 9
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gefolgt ist, durchbohrt ihn mit seinen fünf Pfeilen Biauté, Simplece (Einfachheit), Cortoisie, Compaignie (Gesellschaft) und Biaus Semblanz (Freundliches Gebaren). Der Erzähler wird zum Liebenden und tritt in den Dienst Amors (1681–2055). Von diesem läßt er sich nun ausführlich über die Kunst der höfischen Minne belehren; die art d’amors beginnt. Der Liebesgott schildert auch die Qualen, die diese mit sich bringt, ermutigt aber seinen neuen Schützling abschließend mit dem Hinweis auf trostspendende Kräfte wie Esperance (Hoffnung), Douz Penser (Süßes Gedenken), Douz Parler (Süße Rede) und Douz Regart (Süßer Blick; 2056–2764). Nach dieser Unterweisung verschwindet er, und der Liebende versucht erstmals, sich seiner Rose zu nähern. Bel Acueil (Schöner Empfang) zeigt sich ihm entgegenkommend und schenkt ihm ihm ein grünes Blatt von ihr, obwohl sie streng bewacht ist von Dangier (Widerstand), Honte (Scham), Male Bouche (Böser Mund), Peor (Furcht) und Jalosie (Eifersucht). Als der Dichter auf diese Ermutigung hin ein Liebesgeständnis wagt, erschrickt Bel Acueil und wird von Dangier verjagt (2765–2970). Auf die Klagen des amant hin tritt Raison, die Vernunft, auf und versucht ihm die Liebe auszureden (2971–3072) – ohne Erfolg, denn anstatt auf sie zu hören, wendet sich der Dichter an seinen Freund Ami und schüttet ihm sein Herz aus. Dieser ermutigt ihn und rät ihm, einen neuen Versuch zu unternehmen und Dangier um Entschuldigung zu bitten. Der Liebende hält sich daran und wird unterstützt von Franchise (Edelmut) und Pitié (Mitleid), auf deren Eintreten hin sich Dangier erweichen läßt (3071–3342). Bel Acueil zeigt dem Erzähler die Rose aufs neue, die inzwischen noch schöner aufgeblüht ist. Nun wagt sich der Liebende noch einen Schritt vor und bittet um einen Kuß, was einen Zwiespalt zwischen Bel Acueil und Chastée (Keuschheit) hervorruft. Dieser wird durch das Eingreifen von Venus zugunsten des Dichters entschieden (3343–3498). Das Glück ist jedoch von kurzer Dauer. Der ersehnte Kuß ist dem amant zwar bewilligt worden, doch die Wächter der Rose, Male Bouche, Jalosie, Honte, Peor und Dangiers, fallen empört über Bel Acueil her. Die Rose soll von nun an besser behütet werden, und zwar von Veille, einer alten Frau. Zu diesem Zweck wird um die Rose herum eine feste Burg angelegt und Bel Acueil gefangen genommen. Hier bricht die Dichtung von Guillaume de Lorris ab mit den Klagen des Dichters über seine unglückliche bzw. noch immer unerfüllte Liebe (3499–4058).
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b) Inwiefern ist der Roman de la Rose I eine allegoria dei poeti? Interessant am ersten Teil des Rosenromans ist vor allem die allegorische Methode, mit der nicht nur höfische Qualitäten wie Höflichkeit, Freigiebigkeit, Reichtum bzw. deren Gegenteil personifiziert werden, sondern auch die verschiedenen Stimmungen der Dame. Diese tritt ihrerseits gar nicht als eigenständige Figur der Handlung, sondern unter verschiedenen Personifizierungen auf; anders als der amant, der die Geschichte erzählt. Dieser ist „Tour à tour Songeur, Narrateur et Héros [. . .].“11 Um zu zeigen, wie die Allegorie hier verwendet wird, sollen einige markante Textpassagen aus dem Werk Guillaumes exemplarisch vorgestellt werden. Die personifizierten Gemütszustände der Heldin entwickeln ein Eigenleben und nehmen auf dem Höhepunkt der Handlung, nämlich bei der Begegnung der Liebenden, als selbständige Figuren an der Handlung teil. Somit wird eine im Grunde banale Liebesgeschichte gewissermaßen allegorisch inszeniert und erhält eine übertragene Bedeutung, eine senefiance, die auf eine allgemein gültige Liebeslehre angewendet werden kann. Dieser erste Teil des Rosenromans läßt sich in zwei Hälften untergliedern12: In der ersten geht es darum, wie der Dichter in die höfische Welt der Minne eingeführt wird – er macht Bekanntschaft mit den dazugehörigen Tugenden sowie deren Gegensätzen und lernt, mit ihnen umzugehen. Dies ist gewissermaßen der „vorbereitende Teil“ der art d’amors, sozusagen ein „Propädeutikum“ für den Jüngling, der in der höfischen Liebe unterwiesen werden soll. Der Blick in den Narziß-Brunnen macht ihn dann im zweiten Teil selbst zum Liebenden: Er trifft zunächst auf den Liebesgott selbst, der ihn nun ganz konkret in der Kunst des Liebens unterweist; dann bekommt er es mit den personifizierten Gefühlen der Geliebten zu tun und kann die Lehren Amors in die Tat umsetzen. Die allegorische Handlung dieser zweiten Hälfte ist wesentlich bewegter und soll daher auch ausführlicher behandelt werden. Werfen wir jedoch zunächst einen Blick auf die Einleitung, in der Guillaume sein Thema ankündigt und einige allgemeine Bemerkungen über Träume macht (RR 1–20): Maintes genz dieent que en songes N’a se fables non e mençonges; Mais l’en puet teus songes songier Qui ne sont mie mençongier, Ainz sont après bien aparant; 11
P. Zumthor, Essai, S. 371. Nach Guillaume de Lorris, Der Rosenroman, hrsg. v. G. Ineichen, Berlin 1956, Einleitung, S. 15. 12
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Si en puis bien traire a garant Un auctor qui ot non Macrobes, Qui ne tint pas songes a lobes, Ançois escrist l’avision Qui avint au roi Scipion. Quiconques cuide ne qui die Que soit folor e musardie De croire que songes aveigne, Qui ce voudra, por fol m’en teigne; Car endroit moi ai je fiance Que songes est senefiance Des biens as genz e des enuiz; Car li plusor songent de nuiz Maintes choses covertement Que l’en voit puis apertement.
Zu Beginn widerlegt Guillaume die landläufige Meinung, Träume enthielten nur Unwahrheiten und Lügen (fables [. . .] e mençonges; 2). Als Autorität zieht er den spätantiken Schriftsteller Macrobius (Anfang 5. Jh.) heran, der Ciceros Somnium Scipionis kommentiert hat. Daher gilt er für Guillaume als Theoretiker für allegorisch-prophetische Träume in der Literatur.13 Der Dichter verleiht sodann seiner Überzeugung Ausdruck, daß Träume oftmals die Vorbedeutung (senefiance; 16) von guten und unangenehmen Ereignissen seien (Des biens [. . .] e des enuiz; 17), die später wirklich eintreffen; denn, so Guillaume weiter, im Traum sähe man viele Dinge verhüllt (covertement; 19), die später offen zutage kommen (apertement; 20). Mit dem Schlüsselbegriff senefiance und der Opposition covertement – apertement evoziert der Verfasser zugleich das Verfahren der allegorischen, also integumentalen Dichtung, kommt es doch bei dieser stets darauf an, die hinter der Erzählung verborgene senefiance, d. h. die wahre Bedeutung, zu entschlüsseln. „Dieses Verhältnis zwischen äußerer Fiktion und verborgener Wahrheit hat [. . .] Guillaume [. . .] durch die Analogie des Traumes erklärt“.14 In der Folge kommt er auf einen konkreten Traum zu sprechen, den er selbst im Alter von 20 Jahren hatte, und der den Inhalt der folgenden Erzählung bildet (21–44): Ou vintieme an de mon aage, Ou point qu’Amors prent le paage Des jeunes genz, couchiez m’estoie Une nuit, si con je soloie, E me dormoie mout forment: Si vi un songe en mon dormant Qui mout fu biaus e mout me plot;
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Nach Poirion, Précis, S. 245. Jauss, Form und Auffassung der Allegorie, S. 195.
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IV. Der Roman de la Rose Mais en cel songe onques rien n’ot Qui trestot avenu ne soit Si con li songes recensoit. Or vueil cel songe rimeier, Por voz cuers plus faire esgaier, Qu’Amors le me prie e comande. E se nus ne nule demande Coment je vueil que li romanz Soit apelez que je comenz, Ce est li Romanz de la Rose Ou l’art d’Amors est toute enclose. La matire en est bone e nueve; Or doint Deus qu’en gré le reçueve Cele por cui je l’ai empris; C’est cele qui tant a de pris E tant est dine d’estre amee Qu’el doit estre Rose clamee.
Der Dichter begründet nun sein Werk damit, daß der Traum, den er erzählen wird, so schön war (mout fu biaus e mout me plot; 27), und vor allem damit, daß er sich später in allen Einzelheiten bewahrheitete (Mais en cel songe onques rien n’ot / Qui trestot avenu ne soit; 28 f.). Der Traum, der hier erzählt wird, nimmt allegorisch das vorweg, was dem Dichter selbst später „in Wirklichkeit“ – innerhalb der Fiktion des Roman de la Rose – widerfuhr: Er repräsentiert die senefiance, also die allegorische Einkleidung des tatsächlich Erlebten. Die Handlung des Traumes ist demnach ein integumentum dessen, was der Dichter im Nachhinein selbst erlebt haben will. Guillaume rechtfertigt seine Dichtung erstens mit diesem Wahrheitsanspruch, zweitens mit dem Topos, daß sein Stoff „gut und neu“ sei (La matire en est bone e nueve; 39) und schließlich damit, daß der Gott Amor selbst sie ihm aufgetragen habe (Qu’Amors le me prie e comande; 33). Damit ist der Übergang zwischen der Traum-Allegorie und der „Realität“ geschaffen: Den Gott Amor, eine der allegorischen Figuren des Traumes, gibt es auch in der Wirklichkeit des Dichters, denn er befiehlt ihm, ein Lehrgedicht über die Liebe zu schreiben (Ou l’art d’Amors est toute enclose; 38). Die Geliebte, im Traum durch die Rose versinnbildlicht, existiert ebenfalls wirklich, denn ihr wird das Werk gewidmet (40–44). Ausdrücklich wird noch einmal darauf hingewiesen, daß sie aufgrund ihrer Vorzüge „Rose“ genannt werden muß (Qu’el doit estre Rose clamee; 44). Denn im Mittelalter galt die Rose als etwas Besonderes, oft taucht sie in Legenden oder Heiligenviten auf und weist auf das Paradies oder auf wunderbare Erscheinungen hin.15 Der eigentliche Name der Geliebten bleibt unerwähnt, was wohl darauf hindeuten soll, daß hier eine allgemeingültige Liebeslehre entwickelt wird. Möglicherweise verbirgt sich dahinter auch der in der Troubadourlyrik übliche Deckname 15
J. Batany, Approches du „Roman de la Rose“, Paris u. a. 1973, S. 52 f.
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(senhal) der Angebeteten.16 In der Tat wird die Unterweisung in der höfischen Liebe sowohl „theoretisch“ als auch „praktisch“ durchgespielt: Die ars amatoria, in der der Erzähler durch den Liebesgott „unterrichtet“ wird, enthält die theoretischen Elemente der fin’amors-Didaktik, welche im Laufe der allegorisch erzählten Handlung in die Praxis umgesetzt werden.17 Die folgenden Textbeispiele sollen zeigen, wie der Dichter zu Beginn seines Traumes in die höfischen Werte eingeführt wird, wobei er diese zunächst ex negativo kennen lernt. Denn in V. 129–135 entdeckt der Erzähler den Garten mit den Porträts von zehn Lastern bzw. den Gegensätzen der höfischen Tugenden an der Außenmauer, z. B. das der Haïne (139–151): Enz en le milieu vi Haïne, Qui de corroz et d’ataïne Sembla bien estre moveresse; Corroceuse e tençonerresse, E pleine de grant cuvertage Estoit par semblant cele image; Si n’estoit pas bien atornee, Ainz sembloit fame forsenee. Rechignié avoit e froncié Le vis, e le nés secorcié; Hisdeuse estoit e roïlliee; E si estoit entortilliee Hisdosement d’une toaille.
Man erkennt hier sehr gut, wie Guillaume die einzelnen Laster personifiziert, ihnen ein menschliches Aussehen – freilich ein häßliches, soll es doch die moralische Schlechtigkeit widerspiegeln – und ebenso einen bösen Charakter beilegt. Hier, im Falle der Haïne, setzt er ihr häßliches Äußeres und ihre nachlässige Kleidung mit ihrem Wesen, das immer nach Zorn und Streit sucht, in Verbindung. Nach dem Betrachten der Bilder wird dem Dichter die Tür des Gartens von einer schönen jungen Dame geöffnet (524–526), deren detaillierte äußere Beschreibung – allerdings noch ohne Namensnennung – in 527–573 folgt. Der Erzähler beginnt ein Gespräch mit ihr, in dessen Verlauf sie sich selbst vorstellt. Nachdem ihr Aussehen bereits bekannt ist, erfahren wir nun aus ihrem eigenen Munde ihren Namen Oiseuse; allerdings erst am Ende einer langen Rede. Möglicherweise hat Guillaume diese Technik von Alanus übernommen, bei dem sich Nature ja auch erst recht spät zu erkennen gibt. Oiseuse – der Name ist abgeleitet aus lateinisch otiosa, „die Müßige“ – nennt auch ihr Wesen und ihre „Beschäftigung“: Sie ist eine reiche, mächtige Frau, die sich nur für ihre Schön16
Cf. auch Jung, Etudes sur le poème allégorique, S. 294. A. Gunn, The Mirror of Love. A Reinterpretation of „The Romance of the Rose“, Lubbock 1952, S. 18 f. 17
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heit und für ein angenehmes Leben interessiert – daher rührt wohl auch ihre enge Freundschaft mit Deduit, dem Besitzer des Gartens (582–591): „Je me faz“, ce dist ele, „Oiseuse Apeler a mes conoissanz. Riche fame sui e poissanz. S’ai d’une chose mout bon tens, Car a nule rien je n’entens Qu’a moi joer e solacier, E a moi pignier e trecier. Privee sui mout e acointe De Deduit le mignot, le cointe, Ce est cil cui est cist jardins, [. . .].
Oiseuse repräsentiert das schöne Leben der höfischen Gesellschaft, das nur dem Vergnügen gewidmet ist und auf der Grundlage des otium, der Muße, aufbaut. Eng verbunden und befreundet mit ihr sind daher außer Déduit auch Leece und Cortoisie18 – alles Qualitäten, die das leichtherzige und genußorientierte Leben in diesem irdischen Paradies (parevis terrestre; 636) bestimmen. Oiseuse ist es auch, die dem Erzähler den Zugang in den Garten bzw. in die höfische Welt eröffnet und es ihm damit ermöglicht, die Werte der courtoisie zu erwerben, die Voraussetzung für die fin’amors sind.19 Ein einschneidender Punkt im Romangeschehen ist die Entdeckung des Liebesbrunnens (1425–1438) mit einer Gedenktafel, die auf Narziß verweist, der hier sein Ende gefunden hatte. Der Einschub des ovidianischen Narziß-Mythos (1439–1510) erklärt sich aus den ersten beiden Versen (1439 f.): Narcisus fu uns damoisiaus Cui Amors tint en ses rosiaus, [. . .]
Die Erzählung dient demnach als exemplum für einen jungen Mann, der in die Netze (rosiaus) Amors und dadurch in sein Verderben geriet. Deshalb scheut sich unser Dichter auch zunächst, in den Brunnen zu blicken – aus Furcht, es könne ihm ebenso ergehen (1514–1518). Schließlich siegt jedoch seine Neugier: er blickt hinein (1524 ff.) und macht eine Entdeckung: nämlich die der wunderbaren Kristalle (li cristal merveilleus; 1549), die die erstaunliche Gabe haben, den ganzen Garten naturgetreu zu reflektieren (1555–1562): Aussi con li miroers montre Les choses qui sont a l’encontre, E i voit l’en senz coverture E lor color e lor figure, Trestot ausi vos di de voir 18 19
Cf. V. 604–616 u. 727–864. Rosenroman, hrsg. v. Ineichen, Einleitung, S. 15.
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Que li cristal, senz decevoir, Tot l’estre du vergier encusent A ceus qui dedenz l’eve musent, [. . .]
Vor allem aber haben die Zaubersteine die Kraft, Liebe zu wecken. So wurde auch Narziß von Leidenschaft für sich selbst ergriffen – denn jeder, der in den Kristallspiegel blickt, muß sich verlieben (1575 ff.): Qui en cel miroer se mire Ne puet avoir garant ne mire Que tel chose a ses iauz ne voie Qui d’amer l’a tost mis en voie.
Die Narziß-Erzählung von Ovid wird also umgedeutet: Nicht wegen seiner eigenen Schönheit, die er im Brunnen erblickt hatte, verliebte sich Narziß in sein Spiegelbild, sondern weil die beiden magischen Kristalle, die auch damals auf dem Grunde des Brunnens lagen, ihn dazu zwangen. Darüber hinaus stehen diese auch als Sinnbild für die Augen der Dame, die ihre Seele widerspiegeln20. Der Blick in die Fontaine d’Amors (1597) nimmt allegorisch die folgende Handlung vorweg, nämlich die erwachende Liebe und das Erwählen der Rose. Die beiden Kristalle spiegeln den gesamten Garten – ähnlich wie der Spiegel, den Fronesis im Anticlaudianus von Fides erhält, den Himmel reflektiert – und zwar senz couverture (1557).21 Der Erzähler seinerseits erblickt in diesem Zauberspiegel nun erstmals die Rosenbüsche, die von einer Hecke umschlossen sind. Daraufhin wird er vom Liebesverlangen ergriffen (1615–1619): Ou miroer, entre mil choses, Choisi rosiers chargiez de roses, Qui estoient en un destor, D’une haiete clos entor; E lors m’en prist si grant envie [. . .]
Nach einer ausführlichen Beschreibung der Rosen und Knospen in verschiedenen Formen und Größen wählt der Dichter eine aus (1655–1661): Entre ces boutons en eslui Un si très bel qu’envers celui Nul des autres rien ne prisai, Puis que je l’oi bien avisé, Car une color l’enlumine Qui est si vermeille e si fine Con Nature la pot plus faire. 20 Nach Jauss, Entstehung und Strukturwandel der allegorischen Dichtung, in: GRLMA, Bd. VI/1, S. 234. 21 Cf. B. Teuber, Per speculum in aenigmate. Medialität und Anthropologie des Spiegels vom Mittelalter zur frühen Neuzeit, in: W. Nitsch/ders. (Hrsg.), Vom Flugblatt zum Feuilleton. Mediengebrauch und ästhetische Anthropologie in historischer Perspektive, Tübingen 2000, S. 13–33, vor allem S. 28–30.
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Die Auswahl der schönsten Rose von allen, die er in der Hecke gesehen hat, bedeutet, daß der junge Mann im Rahmen der höfischen Gesellschaft, die der Garten repräsentiert, mehrere Damen kennenlernt, von denen ihm eine besonders gut gefällt. Dieser Kontext der fin’amors deutet darauf hin, daß die angebetete Dame verheiratet ist wie die Herrin der Troubadours.22 Damit wäre sie für den Liebenden unerreichbar; andererseits aber entfernt sich der Dichter im Lauf der Erzählung mehr und mehr von dieser Konzeption, wie nicht nur die comandemenz Amors zeigen, sondern vor allem auch die Tatsache, daß Guillaume offenbar einen „glücklichen Ausgang“, also die Vereinigung des Liebenden mit der Rose geplant hatte, wie wir noch sehen werden. Außerdem wird den Gefühlen der Dame eine tragende Rolle zuerkannt. Denn die Rose steht bei Guillaume als Symbol für die Liebe der Frau oder des Mädchens, nicht für die Geliebte selbst.23 Denn diese ist sozusagen auf verschiedene Allegorien „aufgeteilt“, deren jede einen Part der in ihr widerstreitenden Gefühle übernimmt: „[. . .] the lover [. . .] is concerned not with a single ,lady‘, but with a number of ,moods‘ or ,aspects‘ of that lady who alternately help and hinder his attempts to win her love, symbolized by the Rose.“24 Ineichen dagegen sieht in der Rose die ganze Person des Mädchens, aber auch „das typisch Weibliche überhaupt“25. In der Tat drückt die Rose wohl mehr aus als die Liebe der Angebeteten, wie sich im Laufe der Handlung noch zeigen wird. Einzeln personifiziert sind diejenigen Gefühle des Mädchens, die den Fortgang der Liebeswerbung – und damit der ganzen Handlung – in bestimmten Momenten entscheidend beeinflussen; oft wirken mehrere von ihnen zusammen. Nachdem der Dichter seine Wahl getroffen hat, kommt der Gott Amor zum Vorschein und schießt seine fünf Pfeile Biautez, Simplece, Cortoisie, Compaignie und Biaus Semblanz auf ihn ab (1681–1880). Der Dichter verliebt sich unsterblich in die Rose und tritt somit in den Dienst Amors (1881–2776). Dieser unterweist ihn im folgenden in der Kunst der höfischen Liebe (2077–2764). Anschließend zieht er sich ebenso unbemerkt zurück, wie er gekommen war – auch dies wieder typisch für einen Traum (2765–2769). Nachdem er die theoretischen Anweisungen und Ratschläge zum Gewinn der Dame bis zu Ende angehört hat, beginnt der verliebte Dichter, diese in die Tat 22 Batany, Approches du „Roman de la Rose“, S. 55 f. Cf. auch D. F. Hult, Selffulfilling Prophecies. Readership and Authority in the first Roman de la Rose, Cambridge u. a. 1986, S. 190; siehe auch S. 175–185. 23 Nach Lewis, The Allegory of Love, S. 129 und Jung, Etudes sur le poème allégorique, S. 307. Es sei in diesem Zusammenhang auf die Unterscheidung zwischen Allegorie und Symbol hingewiesen, die G. Kurz formuliert: „Das Symbol ist ein Element in einer Geschichte, innerhalb deren es eine symbolische Verweisung erhält, die Allegorie ist die Geschichte selbst, die ,hinter‘ einer anderen Geschichte liegt.“ (Kurz, Zu einer Hermeneutik, S. 21). Cf. auch Teuber, Sacrificium litterae, S. 58–65. 24 Lewis, The Allegory of Love, S. 118. 25 Rosenroman, hrsg. v. Ineichen, Einleitung, S. 15.
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umzusetzen. Er versucht nun erstmals, sich der Rose zu nähern – und hat auch Erfolg (2790–2806): Un vallet bel e avenant, En cui il n’ot rien que blasmer: Bel Acueil se faisoit clamer, Fiz fu Cortoisie la sage. Cil m’abandona le passage De la haie mout doucement, E me dist amiablement „Biaus amis chiers, se il vos plaist, Passez la haie senz arest, Puor l’odor des roses sentir; Je vos i puis bien garantir N’i avroiz mal ne vilanie, Por quoi vos gardez de folie; Se de rien vos i puis aidier, Ja ne m’en quier faire plaidier, Car prez sui de vostre servise: Je le vos di tot senz feintise.
Mit diesem ersten Auftritt von Bel Acueil beginnt eine Art „allegorisches Drama“, bei dem die Empfindungen des Mädchens als handelnde „Personen“ auftreten; Inhalt ist die Liebeswerbung mit all ihren Höhen und Tiefen: Bel Acueil, die Personifikation des freundlichen Entgegenkommens, wird dargestellt als schöner und zuvorkommender Jüngling (un vallet bel e avenant, 2790) und als Sohn der Höflichkeit (Fiz fu Cortoisie la sage, 2793). Er kommt dem amant so weit entgegen, daß er ihn in die Hecke hineinläßt, ganz nahe an die Rose heran (2817–2822). Die Dame ist ihrem Verehrer also offensichtlich von vornherein wohlgesonnen, denn sie zeigt sich bei der ersten Begegnung liebenswürdig und höflich. Die Anrede „Biaus amis chiers“ (2797) weist darauf hin, daß das Mädchen an seinem Verehrer offensichtlich Gefallen findet. Bel Acueil ist also von Anfang an „complice [. . .] du désir de l’Amant.“26 Interessant ist, daß Bel Acueil dem grammatischen genus entsprechend als junger Mann dargestellt ist, obwohl er ja das Entgegenkommen der Frau verkörpert. Es ergibt sich damit eine größere Abstraktion als im Fiore, wo die Figur als weibliche Bellacoglienza übernommen ist. Gleich nach dem ersten Entgegenkommen erheben sich aber die Widersacher von Bel Acueil, nämlich die Wächter der Rose: Dangiers27, Male Bouche, Honte und Peor (2823–2836):
26
Jung, Etudes sur le poème allégorique, S. 305. Der Begriff Dangiers bedeutet hier „das Widerstreben der Frau gegen die Annäherung des Mannes“ (Rosenroman, hrsg. v. Ineichen, Einleitung, S. 16). Nach C. S. Lewis leitet sich das Wort aus dem lat. dominarium (Herrschaft) ab (Lewis, The Allegory of Love, S. 124). 27
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IV. Der Roman de la Rose Bel Acueil m’ot bien servi Quant le bouton de si près vi; Mais uns vilains, qui grant honte ait, Près d’ilueques repoz estoit: Dangiers ot non, si fu closiers E garde de toz les rosiers. En un destor fu li cuverz, D’erbe e de fueilles toz coverz, Por ceus espier e sorprendre Qu’il voit as roses la main tendre. Ne fu mie seus li gaignons, Ançois avoit a compaignons Male Bouche le jangleor, E avec lui Honte e Peor.
Gemeint sind diejenigen Gefühle der Dame, die sich gegen die plötzliche und leidenschaftliche Annäherung des Verehrers wehren. Nach der ersten Annäherung erfolgt also auch gleich der erste Rückzug: die Umworbene hat wohl nichts einzuwenden gegen ein freundschaftliches Geplauder – zu mehr ist sie jedoch noch nicht bereit; deswegen zieht sie sich instinktiv ein wenig zurück (dargestellt durch Dangiers), ist etwas beschämt und ratlos (Honte); sie fürchtet sich wohl auch vor der Zudringlichkeit des amant (Peor). Zugleich beginnt auch die üble Nachrede (Male Bouche). Durch einen zweiten Annäherungsversuch wird jedoch das Widerstreben der Dame überwunden, denn trotz strenger Bewachung durch die vier Gegenspieler gelingt es Bel Acueil, den Erzähler noch näher an die Rose heranzuführen (2869 ff.). Er pflückt ihm sogar ein grünes Blatt (2876–2878): Si a cuilli une vert feuille Lez le bouton, qu’il m’a donnee, Por ce que près ot esté nee.
Durch diese Geste, die eine körperliche Annäherung der Geliebten bedeutet28, kühn geworden, wagt der Liebende einen neuen Vorstoß: Er gesteht nämlich seine Liebe und erzählt von der Verwundung durch die fünf Pfeile, wird aber von dem entsetzten Bel Acueil und dem empörten Dangiers sofort in seine Schranken gewiesen und bleibt alleine zurück. Dies heißt entschlüsselt: Bis zu einem gewissen Grad geht das Mädchen auf die Aufmerksamkeiten seines Verehrers ein, wie das Geschenk des Blattes andeutet. Dadurch ermutigt sie den Verliebten jedoch mehr, als ihr im Moment recht ist. Als dieser ein Liebesgeständnis wagt, erschrickt sie und entfernt sich erneut von ihm.
28 Jung, Etudes sur le poème allégorique, S. 305; cf. auch Rosenroman, hrsg. v. Ineichen, Einleitung, S. 15.
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Auch Bel Acueil ist gezwungen sich zurückzuziehen (2907–2919), und Dangiers tritt wieder auf den Plan. Er hält eine Schimpfrede auf Bel Acueil und schickt den amant aus der Hecke weg (2920–2942). Das heißt, daß das Mädchen erneut Widerstreben empfindet; sie entfernt sich nun ganz von ihrem Liebhaber. Allein zurück geblieben, hängt dieser trüben Gedanken nach, bis ihn Raison anspricht und versucht, ihm die Liebe auszureden (2971–3098). Dies ist nun die einzige Stelle im Rosenroman, wo eine Stimmung des Mannes personifiziert wird29; Raison ist die Allegorie seiner eigenen Vernunft, die ihm ins Gewissen redet. In diesem Zwiespalt zwischen Herz und Verstand zieht es der Liebende jedoch vor, sein Herz Ami auszuschütten und sich von ihm trösten zu lassen (3099–3150). Dieser Ami ist keine eigentliche Allegorie, sondern steht wohl eher für den Prototyp des Vertrauten, den „Freund an sich“, der offenbar in Liebesangelegenheiten versierter ist als der Protagonist, denn er weiß genau, wie man Dangiers behandeln muß. Man könnte fast sagen, daß seine Rede noch einen Teil der Art d’amors enthält, gibt er doch dem amant einige gute Ratschläge bezüglich seiner Liebeswerbung. Typisch für einen Traum ist es übrigens auch, daß „auf einmal“ ein Gefährte anwesend ist, von dem vorher nie die Rede war. Auf den Rat dieses Freundes bemüht sich der amant nun darum, sich mit Dangiers wieder gut zu stellen, und dieser akzeptiert seine Entschuldigung (3151–3203), hält die Rosen aber weiterhin unter strenger Bewachung. Eine ganze Weile muß der verliebte Dichter am äußeren Rand der Hecke stehen und darf seine Rose nur aus einer sicheren Entfernung bewundern, was ihm viele Klagen entlockt (3221–3246). Der Widerstand der Dame ist demnach noch nicht gebrochen, sondern sie läßt ihren Verehrer eine Weile „zappeln“. Schließlich bekommen aber edlere Gefühle in ihr wieder die Oberhand – im Grunde will sie ja nicht grausam sein; deshalb regt sich ihr Mitleid: Franchise (Edelmut) und Pitié (Mitleid) treten auf und intervenieren bei Dangiers zugunsten des Liebenden (3247–3316). Nach längerem Zureden gelingt es ihnen auch, den Widersacher umzustimmen und ihm die Erlaubnis zu entlocken, Bel Acueil zurückzuholen (3217–3342), was sogleich geschieht (3243–3356): Bel Acueil au comencement Me salua mout doucement; S’il ot esté vers moi iriez, Ne se fu de rien empiriez, Ainz me montra plus bel semblant Qu’il n’avoit onques fait devant. Il m’a lores par la main pris Por mener dedenz le porpris 29
Nach Rosenroman, hrsg. v. Ineichen, Einleitung, S. 16.
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IV. Der Roman de la Rose Que Dangiers m’avoit chalongié. Or ai d’aller par tot congié, Or sui cheoiz, ce m’est avis, De grant enfer en parevis, Car Bel Acueil par tot me moine, Qui de mon gré faire se poine.
Die Rückkehr von Bel Acueil bedeutet, daß die Geliebte dem amant wieder ihre Gunst zuwendet. Er begrüßt ihn sehr liebenswürdig: „me salua mout doucement“ (3344). Auch zeigt die Dame sich entgegenkommend: Bel Acueil führt den Liebhaber wieder in die Hecke hinein und läßt ihn sich dort frei bewegen – der vertraute Umgang zwischen dem jungen Mann und dem Mädchen wächst also. Bei dieser erneuten Annäherung macht der liebende Erzähler die Entdeckung, daß seine Rose ein wenig gewachsen ist und die Blüte sich vergrößert hat, wodurch sich ihre Schönheit noch steigert (3357–3373). Dies könnte heißen, daß das Mädchen inzwischen reifer geworden ist30, daß die Zuneigung und Bewunderung des jungen Mannes ihr Selbstbewußtsein heben – und vor allem, daß ihre eigene Liebe zu wachsen und sich zu entfalten beginnt. Hier erkennt man deutlich, daß die Rose nicht nur für die Liebe des Mädchens bzw. der Frau steht, sondern deren ganzes Wesen symbolisiert. Die Personifizierungen der einzelnen Empfindungen sind Teilaspekte derselben Persönlichkeit, die dieser zugeordnet sind. Ermutigt von all diesen guten Zeichen, wird der Liebende jetzt wieder kühn und bittet Bel Acueil um einen Kuß von der Rose (3386–3394). Dieser jedoch weigert sich zunächst zuzustimmen, und zwar aus Furcht vor Chasteé, der Keuschheit (3395–3408). Der amant gibt sich mit dieser Antwort einstweilen zufrieden – auch er hat seit dem Beginn seiner Liebeswerbung etwas dazugelernt: Er verzweifelt nämlich nicht, sondern erkennt, daß der richtige Zeitpunkt noch nicht gekommen ist und beschließt zu warten (3409–3419). Dafür wird er auch sogleich belohnt, denn nun greift Venus ein (3420–3439). Die Rolle der Liebesgöttin ist in der literarischen Gattung der Minneallegorie meist auf eine einmalige Handlung beschränkt: Sie tritt gewöhnlich in dem Moment auf, in dem die Leidenschaft ausbricht, und trägt als Symbol für den Eros eine lodernde Fackel bei sich.31 Mit ihrer Hilfe erhält der amant den ersehnten Kuß von der Rose (3440– 3479). Erstaunlicherweise ist der Kuß selbst nicht allegorisch verhüllt, wie man erwarten könnte. Die erste physische Annäherung wurde ja beispielsweise durch das Geschenk des grünen Blattes symbolisiert. Der Kuß dagegen wird ganz of30 So auch Jung, Etudes sur la jeune fille a grandi“. Zum weiter erblühten Rose auch ein 31 Nach Jauss, Entstehung GRLMA, Bd. VI/1, S. 227.
le poème allégorique, S. 307: „Il faut comprendre que anderen, so der Autor weiter, ist diese Allegorie der Hinweis auf die Zeit, die vergangen ist. und Strukturwandel der allegorischen Dichtung, in:
1. Der erste Teil des Roman de la Rose von Guillaume de Lorris
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fen geschildert, nur die Symbolik der Rose wird nach wie vor beibehalten. Der Dichter wollte wohl auf dem Höhepunkt, der zugleich auch die entscheidende Wendung im „Drama“ herbeiführt, Klarheit und völlige Durchsichtigkeit der Handlung schaffen und hat deswegen hier jede allegorische Verschleierung beiseite gelassen. Der Kuß hat für den Verliebten fatale Folgen: Male Bouche ist entsetzt und beschuldigt den amant übler Machenschaften, woraufhin Jalosie sich erhebt und eine Schimpfrede auf Bel Acueil hält, bei der auch Honte der Unachtsamkeit angeklagt wird (3511–3552). Letztere schaltet sich daraufhin ein und verteidigt Bel Acueil (3561–3600), jedoch erfolglos, denn Jalosie bleibt unerbittlich und beschließt, die Rose in Zukunft besser zu bewachen. Es soll sogar eine Festung gebaut werden, um die ganze Rosenhecke einzumauern und Bel Acueil gefangenzusetzen (3601–3637). So geschieht es dann auch – nach längeren Streitereien zwischen Honte, Peor und Dangiers (3638–3796) –, und die Liebe des Dichters bleibt zunächst unerfüllt (3797–4058). Entschlüsselt heißt dies etwa folgendes: Auf den Kuß hin beginnen sich die bösen Zungen zu regen, die dem Verehrer der jungen Dame unlautere Absichten vorwerfen (Male Bouche). Dadurch werden ihre Eltern oder der Ehemann bzw. sonstige verantwortliche Personen alarmiert und machen dem Mädchen Vorhaltungen (Jalosie). Sie schämt sich ein wenig (Honte), verteidigt sich aber gleichzeitig – und wohl auch ihren Liebhaber. Dies nützt ihr jedoch nichts: Die Eltern (oder der Ehemann) halten ein strenges Auge auf sie, so daß sie sich erneut von ihrem Freund zurückziehen muß. Daß Guillaume aber eigentlich einen guten Ausgang geplant hatte, und sein Werk somit unvollendet ist, darauf weisen die Verse 3499–3504 hin, in denen er ankündigt, er werde nun erzählen, wie seine Sache zunächst scheiterte, indem die Burg errichtet wurde, die Amor aber schließlich doch einnahm: Qu’Amors prist puis par ses esforz (3504). Daran knüpfte Jean de Meun offenbar an, da er sein Werk in dieser Weise enden ließ. Der Rosenroman ist eine profane Dichtung; seine Allegorien sind ganz weltlich und damit losgelöst vom geistlichen Kontext. Auch das „irdische Paradies“ (parevis terrestre; 636) ist, wie wir gesehen haben, ein Topos der Minneallegorie und wird dargestellt als zauberhafter Garten mit zum Teil märchenhaften Elementen wie beispielsweise den wunderbaren Kristallen. Dieser vergier de Deduit bildet die Kulisse zur allegorischen Handlung. Getragen wird diese von abstrakten Personifikationen, von „froides allégories“32. Nach der Definition Dantes ist die Allegorie der Dichter una veritade ascosa sotto bella menzogna (Conv. II, i, 3). Welche Wahrheiten verbergen sich nun hinter den Allegorien des Rosenromans? 32
Gilson, Dante et la philosophie, S. 265.
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IV. Der Roman de la Rose
Im ersten Teil, vom Beginn des Traumes bis etwa zur Entdeckung des Liebesbrunnens, werden die Grundvoraussetzungen für die Entfaltung der höfischen Minne und damit auch für die Art d’Amors gelegt: Bestimmte Laster bzw. Grundübel haben keinen Zutritt zur vornehmen Gesellschaft des Gartens, ihre Porträts hängen – wohl auch zur Abschreckung – an der Außenmauer. Im Inneren des Gartens dagegen feiern die Personifikationen der höfischen Qualitäten ein fröhliches Fest; sie symbolisieren die „Etikette“ dieser Gesellschaft. Diese höfischen Tugenden sind uns bereits bei Alanus im Anticlaudianus begegnet (Buch I und VIII). Im ersten Teil der Dichtung Guillaumes ist es also das System der höfischen Welt, das verschlüsselt dargestellt wird und das der vérité, qui est coverte (2073) entspricht. Die bella menzogna Dantes bezieht sich hier auf den von einer Mauer umgebenen Garten und die Figuren, die darin tanzen. Die dahinter verborgene Wahrheit beinhaltet das in sich geschlossene System der höfischen Gesellschaft: Um zu ihr zugelassen zu werden, muß man bestimmte Voraussetzungen erfüllen, nämlich reich, sorglos, schön, höflich und fröhlich sein. Mit der Darstellung des höfischen Milieus wird die Grundlage für die folgende Handlung geschaffen: Die Liebeslehre baut darauf auf und wird wiederum verschlüsselt dargeboten. In V. 38 hatte Guillaume bereits angekündigt, daß die Darstellung der Liebeskunst in seine Dichtung inbegriffen sei: Ou l’art d’Amors est toute enclose. Um diese „Didaktik der fin’amor“33 herum entwikkelt der Dichter nun eine allegorisch erzählte Liebesgeschichte. „Erst nach dem Tanz, allegorice: der vollendeten Bewährung in den höfischen Tugenden, beginnt der besondere Weg des Amant [. . .].“34 Das Kennenlernen und Sich-Verlieben ist allegorisch verborgen hinter der Entdeckung und Auswahl der Rosen; dazu kommt Amor, der den Erzähler mit seinen Pfeilen durchbohrt. Nun beginnt erst die eigentliche Handlung, nämlich die Liebeswerbung mit ihren Höhen und Tiefen. Der Protagonist hat nicht mit dem einzelnen Mädchen, sondern mit einer ganzen Reihe Figuren, eben ihren personifizierten Gefühlen zu tun, die seine Bemühungen entweder begünstigen oder ablehnen. Die Kämpfe zwischen Bel Acueil einerseits und Dangiers, Honte und Peor andererseits spielen sich immer im Inneren, also in der Seele des Mädchens ab. Der Dichter berichtet aber davon, als wüßte er genau darüber Bescheid – auch dies eine „schöne Lüge“ bzw. poetische Fiktion. Jeder Leser ist imstande, die Allegorie für sich zu dekodieren und den verborgenen Sinn hinter dem Wortsinn der Erzählung zu entdecken. Er muß dies auch tun, denn wörtlich genommen hätte die Handlung des Rosenromans wenig 33 Jauss, Entstehung und Strukturwandel der allegorischen Dichtung, in: GRLMA, Bd. VI/1, S. 225. 34 Jauss, Form und Auffassung der Allegorie, S. 202.
2. Der zweite Teil des Roman de la Rose von Jean de Meun
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Sinn. Durch die Entschlüsselung kommt man zu einer senefiance auf zwei Ebenen: Auf der ersten wird die Liebesgeschichte eines jungen Mannes erzählt; der zweite dieser „ordres de signification“35 beinhaltet die generelle Unterweisung in der Liebeskunst nach ovidianischer Tradition.36 Hinter der allegorischen Verkleidung verbergen sich also allgemein gültige Tatsachen, die C. S. Lewis treffend wiedergibt mit den Worten: „A man need not go to the Middle Ages to discover that his mistress is many women as well as one, and that sometimes the woman he hoped to meet is replaced by a very different woman.“37
2. Der zweite Teil des Roman de la Rose von Jean de Meun: Entfernung von der Allegorie Wie bereits angedeutet, ist die Fortsetzung Jeans de Meun „only in a very superficial sense a continuation of Guillaume’s“.38 Eine Gesamtwürdigung dieses gewaltigen Opus würde den Rahmen der vorliegenden Untersuchung sprengen; wir beschränken uns daher auf die Verwendung der allegorischen Schemata. Anhand des folgenden Überblickes soll also in knapper Form dargelegt werden, wie Jean de Meun die allegorischen Vorgaben seines Vorgängers zwar beibehält, jedoch teilweise mit neuen Inhalten füllt, teilweise unter einem anderen Blickwinkel betrachtet. Inhaltlich schließt Jean direkt an den ersten Teil an, indem er die Klagen des amant über seine unglückliche Liebe fortführt (RR 4059–4220). Daraufhin tritt Raison auf, redet ihm erneut ins Gewissen und belehrt ihn über verschiedene Arten von Liebe, nämlich Freundesliebe, Geiz als Liebe zum Besitz und Nächstenliebe (4221–7230). Vergeblich versucht sie den Liebenden von seiner Leidenschaft abzubringen; er aber hört lieber auf Ami, der ihn tröstet und ebenfalls einen Vortrag über Liebe, Ehe und Eifersucht hält, in den eine stark ironisch gefärbte Rede des Jaloux, des Ehemannes, in Form eines Exkurses eingeschlossen ist (7231–9999). Nach einem Zusammentreffen mit Richece, die dem amant den Zutritt zu Trop Doner verweigert, ändert der Liebende seine Taktik und versucht, seine Feinde, vor allem Male Bouche, für sich zu gewinnen, wie ihm Ami geraten hat (10000–10306). Nun beginnen die Vorbereitungen für die Schlacht um die Festung zur Befreiung von Bel Acueil. Amor führt seine Tugenden ins Feld (10307–10492). Neben uns bereits bekannten Personifikationen 35
Zumthor, Essai, S. 371, ebenso Poirion, Précis, S. 259. Poirion, Précis, S. 259, cf. auch Zumthor, Essai, S. 371 und Le Roman de la Rose, hrsg. v. Lecoy, Einleitung, S. XI–XV. 37 Lewis, The Allegory of Love, S. 118. 38 Ibd., S. 137. 36
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IV. Der Roman de la Rose
wie Oiseuse, Richece, Franchise, Pitiez, Courtoisie oder Simplece läßt Jean de Meun auch noch einige neue Figuren auftreten, darunter Noblece de cueur, Hardemenz, Eneur, Deliz, Contrainte Astenance oder Faus Semblant (10449– 10459). Der Dichter schiebt in die Versammlung einen Exkurs über die Entstehung des Romans ein, der Amor in den Mund gelegt ist (10493–10680). Dabei werden die Namen beider Dichter, Guillaume de Lorriz (10526 und 10561) und Johans Chopinel aus Meun an der Loire (10565–10567), erwähnt. Letzterer wird, so prophezeit Amor in einer Art vaticinium ex eventu, etwa vierzig Jahre nach dem Tode Guillaumes den Roman zuende führen (10565–10569; 10584– 10590)39: Puis vendra Johans Chopinel Au cueur joli, au cors inel, Qui naistra seur Leire a Meün, Qui a saoul e a jeün Me servira toute sa vie, [. . .] Cist avra le romanz si chier Qu’il le voudra tout parfenir, Se tens e leus l’en peut venir, Car, quant Guillaumes cessera, Johans le continuera, Emprès sa mort, que je ne mente, Anz trespassez plus de quarante, [. . .].
Anschließend wird die Handlung fortgesetzt mit einer Beratung von Amors Ritterschaft40. Sie fassen den Plan, den Turm anzugreifen und Bel Acueil zu befreien (10681–11002). Nach einer langen Rede von Faus Semblant über die Kunst der Verstellung, in der die Liebeskunst geradezu ad absurdum geführt wird (11003–11980), beginnen sie den Ansturm und töten zunächst Male Bouche (12015–12380). Damit verschaffen sie sich zwar Zutritt zur Burg, müssen aber nun mit der Alten verhandeln, die Bel Acueil bewacht; la Veille hält eine Rede über die Künste, die Frauen anwenden können, um Männer für sich zu gewinnen und sie auszunützen, und über die Natur, der man sich unterordnen muß (12381–14678). Während oben in der Rede des Ami ein satirisches Bild der Frauen gezeichnet wurde, sind hier nun die Männer karikiert.41 Schließlich läßt die Alte den amant in die Burg ein; drinnen findet er bereits Amor mit seinen Rittern vor (14679–14815). Als er sich jedoch der Rose nähern möchte, wird er erneut von Dangiers, Peor und Honte davon abgehalten. Auf seine Hil-
39 40 41
Siehe auch Hult, Self-fulfilling Prophecies, S. 10–14. Gemeint sind die oben genannten Tugenden wie Oiseuse, Richece, Deliz etc. D. Poirion, Le Roman de la Rose, Paris 1973, S. 152.
2. Der zweite Teil des Roman de la Rose von Jean de Meun
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ferufe hin eilt ihm Amor mit seinen Rittern zu Hilfe. Die Kämpfe beginnen und ziehen sich über etwa 1000 Verse hin (14816–15658). Besonders in diesen ausführlichen Schilderungen der Schlachten und die Eroberung der Festung ist die Allegorie noch präsent, wird hier doch das traditionelle Schema der Psychomachia fortgeführt. Allerdings wird keine Rücksicht mehr auf ihre ursprünglichen allegorischen Charaktere der einzelnen Figuren genommen, sondern alle sind wild und kriegerisch dargestellt. Einzig an der Beschreibung ihrer Waffen erkennt man noch ihre symbolische Bedeutung. So trägt Pitié einen Dolch, der als misericorde (15392) bezeichnet wird, weil er wohl dazu dient, im Ernstfall aus Mitleid den „Gnadenstoß“ zuzufügen, und einen Schild, der aus Trost besteht und mit Stöhnen, Seufzern und Klagen, den „Begleiterscheinungen“ des Mitleids, „gesäumt“ (bordez; 15400) ist (15391– 15394; 15399–15401): Pitié, qui a touz biens s’acorde, Tenait une misericorde En leu d’espee, en trestouz termes Decourant de pleurs e de lermes. [. . .] Ses escuz iert d’alegement, Touz bordez de gemissement, Pleins de soupirs e de complaintes.
Aus dieser Art der Präsentation ergibt sich zugleich eine stark ironische Komponente, wenn die Waffen aus völlig unkriegerischen Elementen wie eben gemissement, soupirs und complaintes bestehen.42 Das Schwert der Honte weist ebenfalls einige Merkmale auf, die ihr Wesen, nämlich hauptsächlich die Furcht vor Entdeckung und bösem Gerede, erkennen lassen; ist es doch mit Zungen bemalt (15468) und hat eine Tartsche (targe; 15465), die Doutes de male renomee (15466) heißt. Die Waffe ist in den Versen 15461–15468 beschrieben: Honte porte une grant espee, Bele e bien faite e bien trempee, Qu’ele forja douteusement De soussi d’aperceivement; Fort targe avait, qui fu nomee Doutes de male renomee: De tel fust l’avait ele faite. Mainte langue ot ou bort pourtraite.
Gleich anschließend folgt eine Kampfszene zwischen Honte und Pitié; in dieses Gefecht zwischen Scham und Mitleid greift Deliz (Ergötzen; 15472) ein. Diese Gestalt kam bei Guillaume nicht vor. Tatsächlich übernimmt Jean zwar 42
Cf. auch Strubel, Le Roman de la Rose, S. 76 f.
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IV. Der Roman de la Rose
die Figuren seines Vorgängers, „aber an entscheidender Stelle führt er neue Allegorien ein“.43 Offenbar braucht er ein erweitertes „Personal“ für die Eroberung der Festung (15469–15476): Pitié fiert si que trop la ruse; Près qu’el ne la rendi concluse. Atant i est venuz Deliz, Beaus bachelers, forz e esliz. Cil fist a Honte une envaïe. Espee avait de plaisant vie, Escu d’aise, don point n’avoie, Bordé de soulaz e de joie.
Auch die Waffen dieses schönen Jünglings (Beaus bachelers; 15472) charakterisieren wiederum seine allegorische Zuständigkeit, denn sein Schwert ist geschmiedet aus „angenehmem Leben“ (plaisant vie; 15474) und sein Schild besteht aus „Behagen“ (Escu d’aise; 15475) und ist gesäumt mit soulaz und joie (15476). Von den ursprünglich personifizierten Gemütszuständen bei Guillaume sind also nur die äußerlichen Merkmale übrig geblieben, welche sich in der jeweiligen Ausrüstung niederschlagen; die eigentlichen Charaktere sind nurmehr Soldaten in Amors Heer. Nach längeren Kampfesszenen schließt Amor einen Waffenstillstand (trives; 15636). Er schickt Boten zu seiner Mutter Venus, die sie von Adonis fortholen und sie zur Burg der Jalousie rufen (15659–15824). Amor schildert seiner Mutter die Lage und bittet sie um Hilfe; gemeinsam mit Venus leisten alle Ritter einen Eid, den Sieg davonzutragen (15825–15890). Vor dem Eingreifen der Venus schiebt der Dichter eine Beichte der Nature vor ihrem Priester Genius ein. Die Natur wird ausführlich beschrieben (15891– 16248); Nature beklagt sich bei Genius über das Verhalten des Menschen, der sich ihr als einziges Geschöpf nicht unterordnen will (16249–16706). Genius spricht ihr Trost zu; darauf legt sie ihre Beichte ab, in die eine Beschreibung des Universums und seiner Entstehung sowie eine Abhandlung über die Freiheit des menschlichen Willens, über Schicksal und Prädestination eingeschlossen ist; ihre Rede gipfelt wiederum in einer Klage über den Menschen (16707–19410). Genius erteilt ihr die Absolution und begibt sich auf Wunsch der Nature zu Amors Heer. Dort spricht er – wie bei Alanus – eine feierliche Exkommunikation über diejenigen aus, die sich gegen die Natur auflehnen; er ruft besonders zur Teilnahme an der Schöpfung durch die Fortpflanzung auf (19411–20667). „He is both genius of reproduction and guide to moral life.“44
43 44
Der Rosenroman, hrsg. v. Krüger, Einleitung, S. 16. Nitzsche, Classical and Medieval Archetypes of the Figure Genius, S. 225.
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Deutlich sind hier die Anklänge an Alanus spürbar; vor allem hat Jean de Meun Elemente aus De Planctu Naturae übernommen. Dazu gehört in erster Linie das Klage-Motiv selbst, zum anderen auch die Darstellung des Universums und der Natur als lenkender Kraft darin. „The confession of Nature introduces the reader to a generative cosmogony paralleling that of Bernardus and Alanus [. . .].“45 Auch das Motiv des Priesters Genius stammt aus De Planctu, wie wir gesehen haben (cf. De Pl. XVIII, Z. 138 f.). Gerade diese Szene zwischen Natura und Genius jedoch nimmt Jean de Meun besonders zum Anlaß, um sich über philosophische Fragen zu verbreiten.46 Er entfernt sich hier völlig von der allegorischen Handlung, die ihm mit diesen beiden Personifikationen nurmehr als Rahmen dient.47 Nach diesem großen Exkurs von etwa 5000 Versen nimmt der Dichter den Faden der Handlung wieder auf. Venus versucht vergeblich, Honte und Peor zum Aufgeben zu bringen (20711–20784); als diese sich weigern, rafft sie voll Zorn ihr Gewand über die Fesseln hoch, wie der Dichter „ci rappresenta con delizioso realismo“48, und spannt ihren Bogen, in den sie eine brennende Fackel einlegt (20785–20792): Lors s’est Venus haut secourciee; Bien sembla fame courrouciee; L’arc tent e le brandon encoche, Jusqu’à l’oreille l’arc enteise, Qui n’iert pas plus loin d’une teise, Puis avise, com bone archiere, Par une petitete archiere [. . .].
Agamben weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß die Formulierung Lors s’est Venus haut secourciee (20785) vom Verfasser des Fiore, der italienischen Nachdichtung des Rosenromans, fast wörtlich übernommen wurde: la sua roba ha soccorciata.49 Anstatt aber nun sofort zu berichten, wie die Festung mit der Rose erobert wird, fügt Jean die antike Erzählung von Pygmalion ein (20817–21214) und stellt damit eine gewisse Parallele zum Narzißmythos her, den sein Vorgänger
45
Ibd., S. 204. Ibd., S. 203. 47 Siehe zu Genius bei Jean de Meun auch Brumble, Genius and other related allegorical figures, S. 27–64. 48 G. Agamben, Stanze. La parola e il fantasma nella cultura occidentale, Torino 1977, S. 73. 49 Il Fiore, Sonett CCXXIII, 1. Cf. Agamben, Stanze, S. 73, jedoch ohne Stellenangabe. 46
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IV. Der Roman de la Rose
Guillaume zu Beginn der Liebeshandlung eingefügt hatte.50 Die Assoziation mit Pygmalion, der bekanntlich eine Statue liebte51, ergibt sich aus der Schilderung der Schießscharte (archiere; 20792), durch die Venus die Fackel werfen will. Denn diese ist zwischen zwei silbernen Pfeilern angebracht, und dahinter verbirgt sich das Bild einer schönen weiblichen Gestalt, die den Erzähler an die Statue des Pygmalion (l’image Pygmalion; 20815) erinnert (20797–20799): Cil pileret d’argent estaient, Mout gent, e d’argent soutenaient Une image en leu de chaasse, [. . .].
Eine Verbindung von Pygmalion zu Narziß läßt sich insofern feststellen, als sich beide in ein Bild verliebten: Dem Narziß wurde die Liebe zu seinem eigenen Spiegelbild zum Verhängnis, während Pygmalion in Liebe zu einer von ihm selbst geschaffenen Statue entbrannte, die Venus schließlich zum Leben erweckte.52 Mit dieser Symmetrie erweist sich, so Agamben, „l’amore per l’ymage [. . .] come il vero e proprio motivo conduttore del Roman.“53 Der Autor evoziert in diesem Zusammenhang die mittelalterliche Lehre von der Sinneswahrnehmung, nach der das phantasma, der Sinneseindruck, den Sinnen seine Form einprägt. Analog dazu wird beispielsweise bei Giacomo da Lentini der „processo del innamoramento“ so charakterisiert, daß sich das Bild der Geliebten dem Herzen gleichsam „eingraviert“.54 Der Begriff chaasse („Schrein“; 20799) weist voraus auf die Pilgermetaphorik, die Jean de Meun gegen Ende einsetzt, als sich der amant der Rose nähert (21215–21250 und 21346–21694). Zunächst wird jedoch der Pygmalion-Mythos erzählt (20817–21214), bevor der Dichter zu der Schießscharte (archiere; 21235) zurückkehrt, die er mit einem Heiligtum vergleicht (saintuaire; ibd.). Durch diese Schießscharte nun, so fährt Jean fort, schleudert Venus ihre brennende Fackel auf die Festung, die daraufhin in Flammen aufgeht, so daß Peor und Honte fliehen und Bel Acueil gerettet werden kann. Letzterer gewährt dem amant Zutritt zur Rose (21251–21345). Erneut wird die Pilgermetaphorik aufgenommen; mit obszöner Doppeldeutigkeit schildert der amant jedoch, wie er mithilfe seines Pilgerstabes in die Schießscharte eindringt (21346–21694). Die Rosenknospe wird erst wieder in 21672 erwähnt: Pour le bouton cuillir a point.
50 Cf. Strubel, Le Roman de la Rose, S. 98 f.; siehe auch Agamben, Stanze, S. 73– 83 und Gunn, The Mirror of Love, S. 309. 51 Ovid, Metamorphosen X, 243–297. 52 Cf. auch P. Zumthor, Langue texte énigme, Paris 1975, S. 251. 53 Agamben, Stanze, S. 78. 54 Ibd., S. 81–83; cf. auch S. 84–104 („Eros allo specchio“).
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Das eigentliche Pflücken der Rose wird wiederum mit obszönen Anspielungen in 21695–21742 geschildert; das Liebesverlangen des Erzählers findet seine Erfüllung (21705–21718): Par les rains saisi le rosier, Qui plus sont franc que nul osier, E quant a deus mains m’i poi joindre, Trestout soavet, senz mei poindre, Le bouton pris a eslochier, Qu’enviz l’eüsse senz hochier. Toutes en fis par estouveir Les branches croler e mouveir, Senz ja nul des rains depecier, Car n’i voulaie riens blecier, E s’i m’en couvint il a force Entamer un po de l’escorce; Qu’autrement aveir ne savaie Ce don si grant desir avaie.
Am Schluß dankt der amant seinen Wohltätern Amor und Venus (21743– 21774). Bevor er die Rosenhecke verläßt, pflückt er die Rose und nimmt sie mit. Der Traum ist zu Ende; der Dichter erwacht (21775–80): Ainz que d’iluec me remuasse, Ou, mon vueil, encor demourasse, Par grant jolieté coilli La fleur dou bel rosier foilli. Ainsinc oi la rose vermeille. Atant fu jourz, e je m’esveille.
Besonders am Schluß zeigt sich deutlich, wie Jean de Meun die allegorischen Schemata seines Vorgängers ad acta gelegt hat und nur noch formal beläßt. Deutlich wird dies vor allem an der Pygmalion-Episode, auf welche wir noch einmal zurückkommen müssen. Denn aus der Retrospektive erkennt man, daß diese für Jean eine besondere Bedeutung hat und nicht nur ein Exkurs ist, sondern vielmehr „serve a introdurre e a rendere più accettabile l’episodio conclusivo del poema [. . .].“55 In der Tat bereitet die parodierte Hochzeit und Vereinigung des Pygmalion mit der Statue, wie sie Jean in den Versen 21059–21064 schildert, den letzten Höhepunkt der Handlung vor. Denn auch wenn der Autor ganz am Schluß die Rosensymbolik noch einmal aufgreift, wird gleich im Anschluß an den PygmalionMythos das erotische Geschehen kaum verhüllt dargestellt. Nicht die Rose, sondern die in der Schießscharte befindliche Statue – so hebt Agamben zurecht hervor – „si rivela inaspettatamente come l’oggetto dell’amorosa quête del protagonista [. . .]. La narrazione che segue non lascia dubbi su quel che stia suc55
Agamben, Stanze, S. 77.
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IV. Der Roman de la Rose
cedendo: l’amante, per quanto ciò possa ripugnare alla nostra sensibilità, [. . .] simula un atto di accoppiamento con la statua [. . .].“56 Wenn danach noch zusätzlich das Pflücken der Rose erwähnt wird, dann nur, um das allegorische Geschehen äußerlich abzurunden; denn inhaltlich wird nichts Neues mehr erzählt. Die Rosensymbolik ist somit bei Jean de Meun rein äußerlich geworden, ebenso wie die Allegorien, die ursprünglich Gefühle wie Honte oder Peor personifizierten. Diese kämpfenden Figuren sind nun keine eigentlichen Personifikationen mehr, sondern nur noch Soldaten in Amors Heer; einzig ihre Waffen erinnern an ihre einstige Bestimmung. Die Erzählung von der quête der Rose repräsentiert bei Guillaume de Lorris einen Vorgang, der sich hauptsächlich im zwischenmenschlichen Bereich, teilweise sogar im Inneren des Menschen abspielt. Im ersten Teil wird mit den Szenen im und um den vergier de Deduit der höfische Rahmen etabliert – so könnte man verkürzt sagen; der zweite Teil befaßt sich hauptsächlich mit den Gefühlen der Protagonisten: Scham und Widerstreben, aber auch Entgegenkommen auf seiten der Dame, die Liebesleiden auf seiten des Ich-Erzählers. Diese Handlung wird nun bei Jean de Meun auf eine höhere, sozusagen „globalere“ Ebene gehoben. Es geht nicht mehr um ein einzelnes, individuelles Liebeserlebnis, von dem eine allgemeine Liebeslehre abgeleitet werden soll – dies war, wir erinnern uns, die senefiance der Erzählung Guillaumes –, sondern es geht um die Natur des Menschen, seine Bestimmung im Plan der Schöpfung, um die Fortpflanzung des Menschengeschlechtes.57 Das Liebesverlangen des Menschen und seine Erfüllung erhält gewissermaßen eine „kosmische“, universale Dimension, „un niveau de signifiance globale“.58 Mit der Wiedereinführung der Nature, die bei Guillaume nur am Rande vorkam59, und der zusätzlichen Einführung des Genius greift Jean auf Alanus und die Schule von Chartres zurück, wo Natura als Lenkerin der Welt dargestellt wurde. Sie wacht über den Ablauf der Welt und darüber, daß die Menschen sich naturgemäß verhalten; Genius unterstützt sie dabei, vor allem im erotischen Bereich, denn er ist „the patron of the procreative instinct“.60 Die Natur beklagt sich in De Planctu Naturae ebenso wie im zweiten Rosenroman darüber, daß die Menschen von ihr abgewichen sind: „Like De planctu, Jean’s poem presents mankind as deeply alienated from Nature“.61 Der Liebende des 56
Ibd. Cf. auch Gunn, The Mirror of Love, S. 227–275 („The Regeneration of Man“). 58 Zumthor, Langue texte énigme, S. 253. 59 RR 1931, 1659, 1661, 2971. Cf. Zumthor, Langue texte énigme, S. 252. 60 W. Wetherbee, The Literal and the Allegorical: Jean de Meun and the „de Planctu Naturae“, in: Mediaeval Studies, XXXIII (1971), S. 264–291, hier S. 283. 61 Ibd., S. 268. 57
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Roman ist ein Exponent dieses gefallenen Menschengeschlechts, und sowohl Nature als auch Genius „interest themselves in his situation, and play a major role in his final sexual conquest“.62 Wenn also die „Entblätterung“ der Rose im letzten Teil recht unverhüllt dargestellt wird, so ist dies eine logische Konsequenz aus der Rede des Genius, dessen Forderungen erfüllt werden.63 Illustriert wird die Haltung des amant nicht zuletzt auch durch seinen Dissens mit Raison, die als erste Personifikation des zweiten Rosenromans auftritt und deutliche Züge der Natura von Alanus trägt64, stellt sie doch die rein körperliche, genußorientierte Liebe in Kontrast zu einer höheren Form der Liebe, die im Einklang mit der Natur und der Vernunft sein soll, indem sie dafür sorgt, daß die Menschen nicht aussterben (4409–4414): Si que ja par succession Ne fausist generacion; Car, puis que pere e mere faillent, Nature veaut que li fill saillent, Pour recontinuer cete euvre, Si que par l’un l’autre recueuvre.
Raison erhält damit zugleich auch eine philosophische Dimension65; sie arbeitet mit der Natur zusammen und erwähnt übrigens erstmals Genius als Priester derselben (4344 f.). Es sei allerdings noch hervorgehoben, daß ihre Lehren, ebenso wie auch die des Genius und anderer Figuren im Rosenroman, stark ironisch-satirisch gefärbt und daher nicht durchweg ernstzunehmen sind.66 Das herausragendste Beispiel für die Ironie im Rosenroman ist Faus Semblant, der die Heuchelei und Verstellung verkörpert: „La perfection de ce style ironique est sans doute à chercher dans la profession de foi de Faux Semblant dont le nom, à lui seul, évoque l’archétype de l’ironie. Voilà en effet un personnage dont la fonction est de dire le contraire de ce qu’il faut penser.“67 Während Guillaume noch in seinem Prolog und an verschiedenen Stellen68 darauf hingewiesen hatte, daß es sich bei seinem Werk um ein integumentum handelt, um eine allegorisch verhüllte Erzählung mit einer senefiance, einer verborgenen Bedeutung69, rückt bei Jean die Auslegung derselben mehr und mehr in den Vordergrund. Dies zeigt sich an seinem Vokabular: Er gebraucht mehr62
Ibd. Ibd., S. 285 f. 64 Ibd., S. 270. 65 Strubel, Le Roman de la Rose, S. 82 f.; cf. auch K. A. Ott, Der Rosenroman, Darmstadt 1980, S. 130 f. 66 Cf. Poirion, Le Roman de la Rose, S. 147, 149–154, Ott, Der Rosenroman, S. 135 u. 137, Gunn, The Mirror of Love, S. 332–395 („The Clash of Doctrine“). 67 Poirion, Le Roman de la Rose, S. 153. 68 Cf. beispielsweise vérité, qui est coverte (V. 2073). 69 Siehe auch Zumthor, Langue texte énigme, S. 249. 63
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IV. Der Roman de la Rose
fach Ausdrücke wie espondre oder gloser70, was soviel heißt wie „auslegen“, und nähert sich damit an die Terminologie der Bibelexegese an.71 In 7153–7180 spricht Raison von Gleichnisreden (paraboles; 7154) und von Texten, die einen „anderen Sinn“ haben, um den Liebenden dazu zu bringen, daß er sie richtig versteht (Se bien veauz la parole entendre; 7180). Explizit weist sie dabei auf die verhüllte Redeweise der Dichter (Les integumenz aus poetes; 7168) und auf einen zweifachen Sinn hin (7153–7158): Si dist l’en bien en noz escoles Maintes choses par paraboles Qui mout sont beles a entendre; Si ne deit l’en mie tout prendre A la letre quanque l’en ot. En ma parole autre sen ot,
Mit dieser Ausdrucksweise läßt Jean seine eigene Intention erkennen, nämlich die im integumentum seines Vorgängers Guillaume verborgene Wahrheit aufzudecken.72 Er tut dies, indem er den sensus litteralis Guillaumes, also die Erzählung von der Eroberung der Rose beibehält, diesen aber durchsetzt mit den langen Reden etwa von Raison, Nature oder Genius, denen er die Lehre von der Natur und von der Bestimmung des Menschen in den Mund legt. Als „wahre Bedeutung“ seiner Allegorie ergibt sich damit ein wesentlich weiter gefaßter Sinn als ihn Guillaume wohl beabsichtigt hatte und der den Rahmen der „konventionellen“ allegoria dei poeti sprengt.
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Beide beispielsweise in 11836. Cf. auch Strubel, Le Roman de la Rose, S. 71–75 (De la „senefiance“ à la „glose“). 72 Poirion, Le Roman de la Rose, S. 140 f., Strubel, Le Roman de la Rose, S. 74 f., P.-Y. Badel, Le Roman de la Rose au XIVe siècle. Étude de la réception de l’œuvre, Genf 1980, S. 20–24, E. Langlois, Origines et Sources du Roman de la Rose, Paris 1890, Nachdr.: Genf 1973, S. 93–102. 71
V. Dante und die allegoria dei poeti: Zwei italienische Bearbeitungen des Rosenromans Die rasche und große Verbreitung des Rosenromans zeigt sich an der Zahl der Handschriften, die von diesem Werk überliefert sind, nämlich um die 300.1 Es ist daher nicht erstaunlich, daß er schnell auch in Italien, zumal in Florenz bekannt wurde, und dort ins Italienische übersetzt wurde. Im allgemeinen gilt Dantes Lehrer Brunetto Latini als „Bindeglied“, da er sich selbst längere Zeit in Frankreich aufgehalten und auch in altfranzösischer Sprache gedichtet hatte: Sein Li livre dou tresor ist eine enzyklopädische Darstellung des Wissens der damaligen Zeit. Jedoch war es nicht dieses bekanntere Werk, sondern eine allegorische Dichtung Brunettos, der Tesoretto (verfaßt zwischen 1261 und 1266), der „die große epische Form der Allegorie von Frankreich nach Italien brachte [. . .] und in der Toscana eine neue Tradition lehrhafter Dichtung in allegorischem Gewand eröffnet hat [. . .].“2 Brunettos Vermittlung verdankt Dante wohl die Kennntis des episch-allegorischen Genres und vor allem auch des bedeutendsten Exponenten dieser Gattung, des Rosenromans.3 Im folgenden werden die beiden italienischen Nachdichtungen desselben, Il Fiore und Il Detto d’Amore, unter besonderer Berücksichtigung der Diskussion um die Autorschaft betrachtet.
1. Il Fiore a) Zur Geschichte des Manuskripts Der aus 232 Sonetten bestehende Gedichtzyklus wurde vom Erstherausgeber Ferdinand Castets mit dem Titel Il Fiore versehen.4 Der Verfasser bezeichnet
1 Rosenroman, hrsg. v. Ott, Einleitung, S. 7 sowie Le Roman de la Rose, hrsg. v. Langlois, Einleitung, S. 32. 2 H. R. Jauss, Brunetto Latini als allegorischer Dichter, in: W. Müller-Seidel/W. Preisendanz (Hrsg.), Formenwandel. Festschrift zum 65. Geburtstag von P. Böckmann, Hamburg 1964, S. 47–92, hier S. 47. 3 L. Vanossi, La teologia poetica nel Detto d’Amore dantesco, Florenz 1974, S. 51 f. und Contini, Un nodo della cultura medievale, S. 169. 4 Il Fiore. Poème italien du XIIIe siècle en CCXXXII sonnets imité du Roman de la Rose par Durante. Texte inédit publié avec fac-simile, introduction et notes par F. Castets, Montpellier/Paris 1881. Zu d’Ancona und Monaci cf. Il Fiore, hrsg. v. Castets, Préface S. VI f.
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V. Dante und die allegoria dei poeti
sich selbst im Text an zwei Stellen5 als Durante; wer sich hinter diesem Namen verbirgt, ist jedoch umstritten, wie wir noch sehen werden. Das Werk ist nur in einer Handschrift überliefert6, die in der Universitätsbibliothek der École de Médecine in Montpellier zu finden ist und die Signatur H 438 trägt.7 Das Manuskript enthielt auch eine frühe8 Fassung des Rosenromans und das unvollendete Gedicht Il Detto d’Amore, zu dem wir noch kommen. Letzteres wurde allerdings Mitte des 19. Jh.s von dem „bekannte(n) Handschriften-Kleptomane(n)“9 Guglielmo Libri entfernt und nach Florenz in die Bibliotheca Laurentiana gebracht.10 Die Schrift ist toskanisch, jedoch läßt sich nicht mit Sicherheit sagen, ob sie in der Toskana oder in Frankreich von einem Toskaner geschrieben wurde.11 Diese Handschrift nun wurde in den 1870er Jahren von Alessandro d’Ancona in Montpellier entdeckt, wie Ernesto Monaci 1878 in einem Artikel im Giornale di filologia romanza12 ankündigte: „Qualche anno addietro seppi dal prof. d’Ancona come in un codice esistente nella Biblioteca della Facoltà di medicina di Montpellier si trovasse un’antica redazione italiana in versi del Roman de la Rose.“13 Die erste Ausgabe wurde wenig später, nämlich 1881 – wie bereits erwähnt – von Ferdinand Castets ebenfalls in Montpellier unter Mithilfe der beiden Italiener d’Ancona und Monaci besorgt. Er gab der Dichtung auch den Titel Il Fiore14, der in der Folge beibehalten wurde. Die erste textkritische Aus5 Auf die Namensnennung in den Sonetten LXXXII und CCII wird später noch eingegangen. 6 Gründe für die dürftige Überlieferung bei werden bei Castets in der Einleitung S. XVIII–XX genannt. Für eine nähere Beschreibung des Manuskripts siehe Contini, Un nodo della cultura medievale, S. 182. 7 Nach G. Contini, Il Fiore, in: Enciclopedia Dantesca (ED), 6 volumi, Rom 1984, vol. 2, S. 895–901, hier S. 895; A Translation of Dante’s Il Fiore („The Flower“), hrsg. v. J. Took, Lewiston u. a. 2004, Einleitung, S. xiii. 8 Laut J. Took, der sich seinerseits auf Langlois, den Herausgeber des Roman de la Rose stützt, handelt es sich nicht um die Version des Rosenromans, auf die Il Fiore zurückgeht (ibd. S. xiii). Cf. auch Il Fiore e Il Detto d’Amore attribuibili a Dante Alighieri, hrsg. v. G. Contini, Mailand 1984, Einleitung, S. XLIXf. Zur Frage, welche Handschrift des Rosenromans der Verfasser des Fiore verwendet haben könnte, siehe Il Fiore, hrsg. v. Took, Einleitung, S. xxx–xxxii. 9 P. Wunderli, Mortuus redivivus: Die Fiore-Frage, in: Deutsches Dante-Jahrbuch, 61 (1986), S. 35–50, hier S. 38. 10 Nach The Fiore and the Detto d’Amore. A late 13th-century Italian Translation of the Roman de la Rose attributable to Dante, hrsg. v. S. Casciani/C. Kleinhenz, Notre Dame 2000, Einleitung zum Fiore, S. 7; siehe auch Il Fiore e Il Detto d’Amore, hrsg. v. Contini, Einleitung, S. LI f. 11 Nach Il Fiore, hrsg. v. Took, Einleitung, S. xiv; cf. ibd. und Il Fiore e Il Detto d’Amore, hrsg. v. Contini, Einleitung, S. L für eine ausführlichere Beschreibung des Manuskripts. 12 E. Monaci, Una redazione italiana inedita del „Roman de la Rosa“ [sic], in: Giornale di filologia romanza, I. (1878), S. 238–243. 13 Monaci, Una redazione italiana inedita, S. 238.
1. Il Fiore
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gabe von Ernesto Giacomo Parodi entstand 192215, die maßgebliche Ausgabe der italienischen Dantegesellschaft aus dem Jahr 1984 stammt von Gianfranco Contini.16 Zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt wurde Il Fiore 1926 von Alfred Bassermann17, bald darauf noch einmal von Richard Zoozmann18. Im englischsprachigen Raum erschienen in den letzten Jahren zwei neue Ausgaben mit englischer Übersetzung und ausführlichem Kommentar, zum einen von Santa Casciani und Christopher Kleinhenz19, zum anderen von John Took.20 Diese historischen Details erscheinen uns bedeutsam, da die Diskussion um Il Fiore – im Vergleich zu den anderen behandelten Werken – erst relativ spät, nämlich seit etwas über 120 Jahren in der Danteforschung eine Rolle spielt. Bei der Fragestellung, inwieweit Dante bei der Abfassung der Commedia sich von den Allegorien des Roman hat beeinflussen lassen, sollte der italienischen Bearbeitung des französischen Werkes noch stärker Rechnung getragen werden. Datiert wird die Abfassung des Fiore von den meisten Gelehrten auf die Zeit zwischen 1280 und 1293, weil der Text auf historische Ereignisse dieser Epoche anspielt, zum Beispiel auf den gewaltsamen Tod Sigers von Brabant 1283 oder 1284 (Son. XCII, 9–11). Took spricht sich sogar für einen Zeitpunkt vor 1287 oder 1288 aus.21 Terminus a quo ist natürlich die Vollendung und Verbreitung des Roman de la Rose, also etwa 1275–1280. Als terminus ante quem setzt Contini die Abfassung der Commedia an.22 Auch Earl Jeffrey Richards plädiert
14 „L’ouvrage n’a pas de titre; j’ai proposé celui de Il Fiore, parce que dans le texte il est toujours question d’une fleur et jamais d’une rose“ (Castets in der Préface S. V). 15 Il Fiore e Il Detto d’Amore, hrsg. v. E. G. Parodi. In appendice a Le Opere di Dante edite dalla Società Dantesca Italiana, Florenz 1922. 16 Il Fiore e Il Detto d’Amore, hrsg. v. Contini. Diese Ausgabe von Contini wird kritisch diskutiert bei Wunderli, wobei letzterer vor allem die Präsentation des Textes, den genauen Kommentar sowie die ausführliche Einleitung lobend hervorhebt, während er gegenüber den zugunsten der Autorschaft Dantes angeführten Argumenten äußerst kritisch Stellung bezieht. 17 Dante Alighieri, Die Blume (Il Fiore). Übersetzt von Alfred Bassermann, Heidelberg 1926. 18 R. Zoozmann, Dante. Die lyrischen Gedichte. Neu übertragen und mit Urschrift versehen, Karlsruhe 31927 (zitiert nach Langheinrich, S. 192); leider war mir diese Übersetzung nicht zugänglich. 19 The Fiore and the Detto d’Amore, hrsg. v. Casciani/Kleinhenz, Notre Dame 2000. 20 A Translation of Dante’s Il Fiore („The Flower“) hrsg. v. Took, Lewiston u. a. 2004. 21 Il Fiore, hrsg. v. Took, Einleitung, S. xliii. 22 Il Fiore e Il Detto d’Amore, hrsg. v. Contini, Einleitung, S. CIX f.; siehe auch G. Mazzoni, Se possa Il Fiore essere di Dante Alighieri, in: Raccolta di studii critici dedicata ad Alessandro D’Ancona festeggiandosi il XL anniversario del suo insegnamento, Florenz 1901, S. 657–692, hier S. 664.
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V. Dante und die allegoria dei poeti
für ein Datum, das zeitlich nahe an der Fertigstellung des Rosenromans liegt; er begründet dies u. a. mit der Verwendung zahlreicher Gallizismen im Fiore.23 Wunderli weist ebenfalls darauf hin, daß man „die stilistischen Ähnlichkeiten mit der Vita Nova und den Werken anderer Stilnovisten in Rechnung“ stellen soll, so daß „die Annahme eines Entstehungszeitraum 1285–1290 durchaus angemessen zu sein“ scheint.24 Übrigens liegen die Entstehungszeiträume des Fiore und des Detto offensichtlich nahe beieinander. b) Struktur Bei dem Werk handelt es sich um eine stark verkürzte Übersetzung bzw. Paraphrase25 des Rosenromans ins Altitalienische, wie schon Monaci feststellte: „Qui vediamo il Roman de la Rose disciogliersi in una serie di 232 sonetti che sembrano riassumere tutto il contenuto di quello e perciò condensano in 3276 endecasillabi i 22,810 ottosillabi del testo francese.“26 Die beiden Teile von Guillaume de Lorris und Jean de Meun werden nahtlos, ohne eine erkennbare Unterbrechung in der Erzählung aneinandergereiht27; es ergibt sich somit im Gegensatz zum Rosenroman eine einheitliche, durchgehende Erzählstruktur.28 Inhaltlich ist der Übergang in den Sonetten XXXIII– XXXIV anzusetzen.29 Verkürzt ist die Dichtung in erster Linie deshalb, weil der italienische Verfasser die Exkurse, die Jean de Meun im 2. Teil des Roman de la Rose so ausführlich einsetzt, wegläßt und sich ganz auf die Liebeslehre konzentriert.30 Wesentliche Teile aus Jean de Meun wie die Reden der Raison bzw. Ragione, des Ami bzw. Amico, des Faux Semblant bzw. Falsembiante sowie der Vieille bzw. Vecchia hat „Durante“ jedoch durchaus übernommen. In der Tat bemerkt man den Übergang von Guillaume de Lorris zu Jean de Meun – obwohl er wie gesagt nicht explizit gekennzeichnet ist –, eben daran, daß in dem Teil, der Guillaume entspricht, ein relativ rascher Szenenwechsel 23 Earl J. Richards, Dante and the „Roman de la Rose“. An Investigation into the Vernacular Narrative Context of the „Commedia“, Tübingen 1981, S. 9 f. 24 Wunderli, Mortuus redivivus, S. 49. 25 Nach G. Contini, Il Fiore, in: ED, vol. 2, S. 896. 26 Monaci, Una redazione italiana inedita, S. 239. 27 Nach Contini, Il Fiore, in: ED, vol. 2, S. 896; cf. The Fiore and the Detto d’Amore, hrsg. v. Casciani/Kleinhenz, Einleitung zum Fiore, S. 5. 28 Cf. G. Petronio, Introduzione al „Fiore“, in: Cultura Neolatina, VIII (1948), S. 47–64, bes. S. 48. 29 Il Fiore, hrsg. v. Castets, Einleitung, S. XII, siehe auch Il Fiore, hrsg. v. Took, Einleitung, S. xlvi f. und S. lxvi: „the ,transitional‘ sonnets XXXIII and XXXIV“. 30 Il Fiore, hrsg. v. Casciani/Kleinhenz, Einleitung zum Fiore, S. 6; cf. Il Fiore, hrsg. v. Castets, Einleitung, S. IX.
1. Il Fiore
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erfolgt: Oftmals entspricht eine „Szene“, d. h. eine Begegnung des amante mit einer Personifikationsallegorie einem oder höchstens zwei Sonetten, beispielsweise das erste Gespräch zwischen dem Erzähler und Ragione (IX–X). Im Teil, der auf Jean zurückgeht, herrschen ausführlichere Dialoge und lange Monologe vor, wie wir noch sehen werden. Die Figuren des Rosenromans sind alle bis auf Nature und Genius übernommen31; aus dem männlichen Bel Acueil wird ein junges Mädchen, Bellacoglienza, was im übrigen viel besser zur Handlung paßt, handelt es sich doch um die Personifikation des Entgegenkommens seitens des Mädchens.32 Die Tatsache, daß die italienische Dichtung in Sonetten verfaßt ist, deutet schon darauf hin, daß der Autor tiefgreifende Veränderungen gegenüber seiner Vorlage vorgenommen hat. Man kann deswegen eigentlich nicht von einer „Übersetzung“ des Rosenromans sprechen, sondern eher von einer stark verkürzten Paraphrase, so beispielsweise Contini: „una stringata parafrasi“.33 Die Wahl der Sonettform könnte ein Hinweis darauf sein, daß der Verfasser sich bewußt vom französischen Text abheben und sein Werk in der italienischen poetischen Tradition ansiedeln wollte, denn das Sonett ist das „genre italien par excellence“.34 Auch scheint der toskanische Autor der Intention Guillaumes zu folgen, eine Liebeslehre (art d’amors) darzustellen.35 Auffällig ist zudem die Verwendung der vielen Gallizismen36, die sich jedoch leicht damit erklären läßt, daß der Verfasser viele Begriffe aus dem französischen Original direkt entlehnt und italianisiert hat. Es zeigt sich dadurch seine „perfetta familiarità col francese“.37 Es handelt sich jedoch nicht nur um einzelne Wörter38, sondern auch um grammatische Strukturen wie die aus dem Altfranzösischen entnommene Genitivkonstruktion des Typs la figliuola Corte-
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Il Fiore, hrsg. v. Castets, Einleitung, S. IX. Cf. S. Huot, The Fiore and the Early Reception of the Roman de la Rose, in: Z. G. Baran´ski/P. Boyde (Hrsg.), The Fiore in Context. Dante, France, Tuscany, Notre Dame/London 1996, S. 153–166, bes. S. 154. 33 Nach Contini, Il Fiore, in: ED, vol. 2, S. 896. 34 Il Fiore, hrsg. v. Castets, Einleitung, S. X. 35 The Fiore and the Detto d’Amore, hrsg. v. Casciani/Kleinhenz, Einleitung zum Fiore, S. 5 f. Guillaume kündigt zu Anfang seines Gedichts selbst an: Ce est li Romanz de la Rose/Ou l’art d’Amors est toute enclose (V. 37 f.). 36 Il Fiore, hrsg. v. Took, Einleitung, S. xxiii–xxvi gibt eine Aufzählung davon; Contini widmet ihnen einen Abschnitt seiner Einleitung: „L’arte del gallicismo“ (Il Fiore e Il Detto d’Amore, hrsg. v. Contini, Einleitung, S. XCVII–CIII). Auch Peirone behandelt sie in einem eigenen Kapitel: „Interpretazione dei francesismi“ (L. Peirone, Tra Dante e „Il Fiore“. Lingua e parola, Genova 1982, S. 31–55). 37 Il Fiore e Il Detto d’Amore, hrsg. v. Contini, Einleitung, S. CI. 38 Peirone listet eine Reihe solcher Wörter auf (Peirone, Tra Dante e „Il Fiore“, S. 37–43). 32
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V. Dante und die allegoria dei poeti
sia (XV, 9) oder das französische on, das im Italienischen mit l’uom, l’uon, uon oder sogar on wiedergegeben wird, z. B. apella l’uon (I, 14).39 c) Das Problem der Autorschaft Nach wie vor ist das zentrale Problem der Autorschaft des Fiore in der Forschung heftig umstritten. Zu den Gelehrten, die Il Fiore in der Vergangenheit und bis in die Gegenwart hinein Dante Alighieri zuschreiben, gehören Castets, Bassermann, Rajna, Mazzoni, Contini, Vanossi und Took.40 Die letzteren drei gehen sicher von der Autorschaft Dantes aus. Auf der Gegenseite stehen u. a. Benedetto, Zingarelli, Parodi, Pertile, Ramacciotti und Peirone, um nur einige zu nennen.41 Wunderli legt sich nicht eindeutig fest, äußert aber ebenfalls Bedenken in bezug auf die Zuschreibung an Dante.42 Als andere mögliche Verfasser des Fiore werden u. a. Rustico di Filippo, Lippo Pasci de’ Bardi, Folgóre da San Gimignano, Dante da Maiano, Cecco Angiolieri und sogar Brunetto Latini gehandelt.43 Für eine paternità dantesca gibt es jedoch unseres Erachtens gewichtige Argumente, welche im Überblick referiert werden sollen, da eine eingehende Untersuchung zu weit vom Thema wegführen würde. Einige davon finden sich 39
Cf. Peirone, Tra Dante e „Il Fiore“, S. 46 f. Il Fiore, hrsg. v. Castets, Montpellier/Paris 1881, A. Bassermann, Der Streit um den Fiore, in: Deutsches Dante-Jahrbuch, 10 (1928) = N. F. Bd. 1, S. 94–138. P. Rajna, „La questione del Fiore“, Il Marzocco 26, no. 3 (16 gennaio 1921), war mir leider nicht zugänglich. G. Mazzoni, Se possa Il Fiore essere di Dante Alighieri, Contini, Un nodo della cultura medievale, S. 174–181 und Il Fiore e Il Detto d’Amore, hrsg. v. Contini, Einleitung, L. Vanossi, Dante e il „Roman de la Rose“. Saggio sul „Fiore“, Florenz 1979 und Il Fiore, hrsg. v. Took, Lewiston u. a. 2004. 41 L. F. Benedetto, Il „Roman de la Rose“ e la letteratura italiana, Halle a. d. S. 1910, N. Zingarelli, La falsa attribuzione del „Fiore“ a Dante Alighieri (a proposito di nuove pubblicazioni), Neapel 1922, Il Fiore e Il Detto d’Amore, hrsg. v. Parodi, v. a. Prefazione S. V–XX, L. Pertile, Lettura dei sonetti CLXXXI–CCX, in: Letture classensi, 22 (1993), S. 131–153, v. a. S. 149–153. Sr. Mary Dominic Ramacciotti S.S.N.D., The Syntax of Il Fiore and of Dante’s Inferno as Evidence in the Question of the Authorship of Il Fiore, Washington, D.C. 1936. Cf. auch B. Langheinrich, Sprachliche Untersuchung zur Frage der Verfasserschaft Dantes am Fiore, in: Deutsches Dante-Jahrbuch, 19 (1937) = N. F. Bd. 10, S. 97–196 und ders., Eine weitere Abhandlung zur Fiorefrage, in: Deutsches Dante-Jahrbuch, 19 (1937) = N. F. Bd. 10, S. 197–202 . Der zweite Aufsatz setzt sich speziell mit der o. g. Dissertation von Sr. M. D. Ramacciotti auseinander. S. auch Peirone, Tra Dante e „Il Fiore“, S. 69. Cf. zur Diskussion über die Autorschaft Dantes auch The Fiore and the Detto d’Amore, hrsg. v. Casciani/Kleinhenz, Einleitung zum Fiore, S. 7–9. 42 P. Wunderli, Mortuus redivivus, S. 40–45. 43 Nach Il Fiore e Il Detto d’Amore, hrsg. v. Contini, Einleitung, S. LXXII f.; Benedetto, Il „Roman de la Rose“ e la letteratura italiana, S. 161, Il Fiore, hrsg. v. Took, Einleitung, S. xxxix; Wunderli, Mortuus redivivus, S. 40; s. auch H. W. Wittschier, Die italienische Literatur des Duecento. Einführung und Studienführer. Geschichte der Anfänge einer Nationalliteratur, Frankfurt a. M. 2000, S. 99. 40
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schon bei Castets44, darunter die Namensnennung des Verfassers „Durante“ in den Sonetten LXXXII und CCII. Es gibt Hinweise45 darauf, daß „Dante“ die Abkürzung von „Durante“ ist, z. B. in einem Dokument aus dem Jahre 1343, wo es heißt Durante, ol. vocatus Dante, cd. Alagherii de Florentia46. Auch Filippo Villani bezeugt dies: Poete [. . .] in fontibus sacris Durante nomen fuit, sed sincopato nomine pro more minutive locutionis florentine appellatus est Dante.47 Auffällig ist übrigens, daß die Namensnennung Durante in Sonett LXXXII, 9 dem Kontext nach an der Stelle erfolgt, wo auch im Rosenroman Guillaume genannt wird (RR 10526)48, in Sonett CCII, 14 jedoch keine Entsprechung in der französischen Vorlage hat. Ein möglicher Grund hierfür ist laut Contini49 die Tatsache, daß der italienische Autor explizit darauf hinweisen wollte, daß Il Fiore von einer einzigen Person verfaßt wurde und nicht wie der Roman de la Rose von zwei verschiedenen. Das Gegenargument zielt auf die übertragene Bedeutung des Namens Durante (von durare = dauern, Ausdauer haben).50 Der Ich-Erzähler oder amante würde somit also als beständig in der Liebe charakterisiert. Unterstrichen wird dies noch dadurch, daß an der Stelle, wo der Name zum ersten Mal vorkommt, Durante sich auf fin amante und fermo e stante (LXXXII, 9–13) reimt.51 Dies muß nun allerdings nicht beweisen, daß Dante Alighieri nicht der Verfasser ist. Denn Dante selbst könnte hier bewußt die „Langform“ seines Namens gewählt haben, um diese allegorische Bedeutung zusätzlich anklingen zu lassen und somit eine weitere Nuance ins Spiel zu bringen. Mazzoni weist zurecht darauf hin, daß der Name Durante, falls er wirklich nur ein Pseudonym mit allegorischer Bedeutung wäre, im Text viel häufiger vorkommen müßte.52 44
Il Fiore, hrsg. v. Castets, Einleitung, S. XIV–XVII. Cf. z. B. Storia della Vita di Dante Alighieri compilata da P. Fraticelli sui documenti in parte raccolti da G. Pelli in parte inediti, Florenz 1861, S. 96, Anm. 2 (ungenau zitiert bei Castets, S. XV als „Fraticelli, Vita di Dante, S. 96, n. 2“). 46 Zitiert nach G. Gorni, Dante, Durante e Dante Allegri, in: ders., Dante prima della Commedia, Fiesole 2001, S. 253–263, hier S. 255. Cf. auch Il Fiore e Il Detto d’Amore, hrsg. v. Contini, Einleitung, S. LXXII bzw. Il Fiore, hrsg. v. Took, Einleitung, S. xxxiii. 47 Philippi Villani De origine civitatis Florentie et de eiusdem famosis civibus, hrsg. v. G. Tanturli, Padua 1997, fase redazionale A–A1, XXII 25, S. 75 f. (cf. auch Gorni, Dante, Durante e Dante Allegri, S. 255 und Anm. 6). 48 Vanossi, Dante e il „Roman de la Rose“, S. 39. 49 G. Contini (Hrsg.), Il Fiore e Il Detto d’Amore, Einleitung, S. LXXII. 50 Cf. Zingarelli, S. 8. 51 Cf. Took (Hrsg.), Il Fiore, Einleitung, S. xxxii f. und Vanossi, Dante e il „Roman de la Rose“, S. 39, Anm. 1; siehe auch den Kommentar Marchioris zu diesem Vers: „v. 9: Durante: Amante, ossia colui che è costante. [. . .]“ (Il Fiore e Il Detto d’Amore, hrsg. v. C. Marchiori, Genova 1983). 52 Mazzoni, Se possa Il Fiore essere di Dante Alighieri, S. 668. 45
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V. Dante und die allegoria dei poeti
Ein anderes Indiz für die Autorschaft Dantes ist die Erwähnung des Siger von Brabant in Sonett XCII, 9–11 und in Par. X, 133–138: Während in der genannten Stelle der Divina Commedia die Anspielung auf den gewaltsamen Tod Sigers relativ unklar bleibt, wird sie deutlich, wenn man die Verse des Fiore hinzunimmt, so Contini53. Diese Erwähnung Sigers, der 1283 oder 1284 starb, ist gleichzeitig auch ein Hinweis für die Datierung, wie gesehen. Earl Jeffrey Richards hebt hervor, daß Il Fiore und die Commedia die beiden einzigen [zeitgenössischen] italienischen Texte sind, die von Siger sprechen, und dies mit einem gewissen Maß an Bewunderung.54 Das einzige Sonett aus der Sammlung, das noch in anderen Handschriften bezeugt ist, nämlich Nr. XCVII, wurde in einem dieser Manuskripte Dante zugeschrieben.55 Des weiteren gibt es ein Sonett von Dante mit dem Titel Messer Brunetto, questa pulzelletta, das aus verschiedenen Gründen mit Il Fiore in Zusammenhang gebracht werden kann (Rime XCIX56): Messer Brunetto, questa pulzelletta con esso voi si ven la pasqua a fare: non intendete pasqua di mangiare, ch’ella non mangia, anzi vuol esser letta. La sua sentenzia non richiede fretta, né luogo di romor né da guillare, anzi si vuol piú volte lusingare prima che ’n intelletto altrui si metta. Se voi non la intendete in questa guisa, in vostra gente ha molti frati Alberti da intender ciò ch’è posto lor in mano. Con lor vi restringete sanza risa; e se li altri de’ dubbî non son certi, ricorrete a la fine a messer Giano.
Mit pulzelletta ist hier ein „componimento poetico, evidentemente breve“57 allegorisch umschrieben (ch’ella non mangia, anzi vuol esser letta; V. 4); es handelt sich bei dem vorliegenden Sonett offenbar um ein Begleitgedicht zu einem anderen Werk, dessen Sinn erst entschlüsselt werden muß (La sua sentenzia [. . .] / si vuol piú volte lusingare/prima che ’n intelletto altrui si metta; V.
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Il Fiore e Il Detto d’Amore, hrsg. v. Contini, Einleitung, S. LXXIV. Richards, Dante and the „Roman de la Rose“, S. 33. 55 Il Fiore, hrsg. v. Castets, Einleitung, S. XV; Took nennt die Handschriften, in denen das Sonett XCVII ganz oder teilweise bezeugt ist (Il Fiore, hrsg. v. Took, S. 206); cf. auch Mazzoni, Se possa Il Fiore essere di Dante Alighieri, S. 675. 56 Dante Alighieri, Rime, hrsg. v. G. Contini, Torino 1946, S. 146 f.; auch in: ders., Opere Minori, Bd. I, Teil I, hrsg. v. D. De Robertis/G. Contini, Mailand/Neapel 1984, Nr. 42 (XCIX), S. 429 f. bzw. Dante Alighieri, Rime, hrsg. v. D. De Robertis, Florenz 2005, Nr. 49, S. 335–337. 57 Dante Alighieri, Rime, hrsg. v. G. Contini, S. 145. 54
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5–8). Der Adressat Messer Brunetto wird manchmal für Dantes Lehrer Brunetto Latini gehalten.58 Falls diese Annahme richtig ist, so würde dies bedeuten, „que Dante a envoyé une copie de son ,Roman de la Rose‘, cest-à-dire du Fiore, à un auteur lui-même hautement influencé par ce même texte, et que Dante a considéré comme son maître.“59 Diesem Empfänger werden nun zwei „Instanzen“ ans Herz gelegt, die ihm bei der Entdeckung des verborgenen Sinnes helfen können, falls er Unterstützung benötigt. Diese beiden sind im Zusammenhang mit dem Fiore bedeutsam: Zum einen verweist Dante seinen Adressaten zur Auslegung auf frati Alberti (in vostra gente ha molti frati Alberti/da intender ciò ch’è posto lor in mano; V. 10 f.). Da Albertus Magnus als Autorität auf dem Gebiet der Interpretation gilt, spricht viel dafür, daß die frati Alberti des Sonetts Messer Brunetto auf ihn hinweisen und die Bedeutung „bravi interpreti“ haben60. Nun taucht aber im Fiore dieser Name ebenfalls an zwei Stellen auf, und zwar jeweils im Zusammenhang mit Falsembiante („Falscher Anschein“), der wie Faus Semblanz im Rosenroman61 die Heuchelei verkörpert: In Sonett LXXXVIII, 13 spricht Falsembiante selber und behauptet, die Bekleidung eines frate Alberto zu tragen, um Armut und Sittenreinheit vorzuspiegeln, und in CXXX, 4 wird dieser Gedanke noch einmal aufgegriffen und das Gewand des Falsembiante als „la roba frate Alberto“ bezeichnet.62 Somit dient die Bezeichnung frate Alberto im Fiore zur Umschreibung eines heuchlerischen, falschen Mönches. Wenn diese Bedeutung für das Sonett Messer Brunetto ebenfalls zuträfe, käme das einer Beleidigung des Adressaten oder zumindest dessen Familie gleich, denn Dante schreibt ja: in vostra gente ha molti frati Alberti (V. 10) – mit anderen Worten, in der Familie des Messer Brunetto gebe es viele Heuchler, was Dante womöglich scherzhaft-ironisch andeuten wollte. Diese Interpretation greift Zingarelli jedoch scharf an, um gleichzeitig Dante als Verfasser des Fiore auszuschließen: „Dunque, per intendere un’opera profonda ci vuole un frate furfante e delinquente? [. . .] Ma questa che roba è!?“63 Nun erscheint es aber durchaus denkbar, daß auch der frate Alberto des Fiore mit Albertus Magnus identisch ist, und Falsembiante ausgerechnet dessen Ge58 So z. B. Il Fiore, hrsg. v. Castets, Einleitung, S. XV. Andere dagegen sehen eher Betto Brunelleschi als Adressaten an: cf. Il Fiore e Il Detto d’Amore, hrsg. v. Contini, Einleitung, S. LXXVIII; Dante Alighieri, Rime, hrsg. v. Contini, S. 145; Il Fiore, hrsg. v. Took, Einleitung, S. xxxiv, Mazzoni, Se possa Il Fiore essere di Dante Alighieri, S. 660–664. 59 Th. Ricklin, L’image d’Albert le Grand et de Thomas d’Aquin chez Dante, in: Revue thomiste, 97 (1997), S. 129–142, hier S. 131. 60 Dante Alighieri, Rime, hrsg. v. Contini, S. 146. 61 Cf. RR 11003–11082. 62 Cf. G. Mazzoni, Se possa Il Fiore essere di Dante Alighieri, S. 660 f. 63 Zingarelli, La falsa attribuzione del „Fiore“, S. 9.
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wand wählt, um einen möglichst glaubwürdigen Eindruck zu machen.64 Somit würden beide Texte, Il Fiore und das Sonett Messer Brunetto auf Albert den Großen anspielen, was eine äußerst auffällige Gemeinsamkeit ergäbe. Zum anderen empfiehlt Dante seinem Empfänger am Ende des Gedichts, sich an Messer Giano zu wenden, falls die frati Alberti auch nicht alle Zweifel bei der Textauslegung beheben können (e se li altri de’ dubbî non son certi,/ricorrete a la fine a messer Giano; V. 13 f.). Mazzoni resümiert die Hauptaussage des Sonetts Messer Brunetto folgendermaßen: „Cercate di capire da voi; se non vi riuscite, non vi mancheranno i frati Alberti che di queste faccende se ne intendono, e come!; se ne volete di più, riccorrete alla fine a chi vi può chiarire ogni cosa, a Messer Giano in persona.“65 Der Name Giano könnte sowohl die Abkürzung von Giovanni (also der italienische Form von Jean) als auch von Torrigiano sein, daher ist es möglich, daß Dante hier auf Jean de Meun als den „Allegoriker par excellence“ und auf seine eigene Bearbeitung von dessen Werk, nämlich Il Fiore verweist, so u. a. Castets66. Aus diesen Gründen nimmt Castets sogar an, das Sonett Messer Brunetto, questa pulzelletta könne die préface der Fiore-Sonette sein67. Dagegen spricht allerdings, daß Il Fiore zu lang für eine pulzelletta ist; als weitere Deutungsmöglichkeit biete sich auch Il Detto d’Amore an, wie Contini und Gorni vorschlagen.68 Ein weiteres interessantes Argument führt ebenfalls Contini69 an: Er weist darauf hin, daß sich in der Commedia der Name Cristo nur auf sich selbst reimt, und zwar insgesamt viermal im Paradiso.70 Im Inferno kommt der Name Christi gar nicht vor, im Purgatorio nur im Versinnern. Im Fiore dagegen reimt sich Cristo bzw. Gesucristo dagegen sehr wohl auf andere Wörter, nämlich in CIV, 9–13 auf ipocristo und tristo sowie in CXVII, 2–7 ebenfalls auf tristo, aquisto und visto. In CXXIII, 1–8 reimen sich umgekehrt Antecristo, ipocristo und visto auf Gesucristo. Nimmt man die Anzahl dieser Cristo-Stellen des 64
Cf. Dante Alighieri, Rime, hrsg. v. Contini, S. 146. Mazzoni, Se possa Il Fiore essere di Dante Alighieri, S. 662. 66 Il Fiore, hrsg. v. Castets, Einleitung, S. XVI; cf. auch Il Fiore e Il Detto d’Amore, hrsg. v. Parodi, Einleitung, S. VII. 67 Il Fiore, hrsg. v. Castets, Einleitung, S. XV f. 68 Il Fiore e Il Detto d’Amore, hrsg. v. Contini, Einleitung, S. LXXVIII; cf. auch Dante Alighieri, Rime, hrsg. v. Contini, S. 146 bzw. G. Gorni, Una „pulzelletta“ per Messer Brunetto, in: ders., Il Nodo della lingua e il Verbo d’Amore, Florenz 1981, S. 49–69, vor allem S. 58. 69 Il Fiore e Il Detto d’Amore, hrsg. v. Contini, Einleitung, S. LXXVIII. 70 Par. XII, 71–75, XIV, 104–108, XIX, 104–108, XXXII, 83–87. 65
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Fiore zusammen mit der Tenzone mit Forese Donati, wo sich Cristo ebenfalls einmal auf tristo und einmal auf male aquisto reimt und noch dazu in einem ehrfurchtslosen Kontext gebraucht wird, ergibt sich genau die gleiche Zahl Reime wie im Paradiso: „[. . .] il numero di casi di Cristo con se stesso nel Paradiso è identico a quello empio della tenzone con Forese e del Fiore sommati, segnando aritmeticamente l’intenzione espiatoria“.71 Diese Übereinstimmung ist bedeutsam, wenn man bedenkt, daß Dante sehr viel Wert auf Zahlensymbolik legt. Auch der Gedanke, Dante habe mit der Commedia sein frivoles Jugendwerk „sühnen“ wollen, erscheint nicht unangebracht, ist doch die Buße eines der zentralen Motive des poema sacro. Zu diesen von Contini als argomenti esterni72 bezeichneten kommen noch argomenti interni73 hinzu. Diese beziehen sich in erster Linie auf sprachliche Besonderheiten; gemeint sind also textinterne Argumente, d. h. Stellen aus anderen Werken Dantes, vor allem der Divina Commedia, die gewisse lexikalische, lautliche oder stilistische Entsprechungen im Fiore haben. Sowohl Contini74 als auch Took listen eine ganze Reihe solcher Auffälligkeiten auf. So verweist letzterer auf „the mutual presence and coinvocation“ von pietà und accora in se Pietate e Franchez[z]a no.ll’acora (Fiore VII, 4) und ch’i’ non potrei, tanta pietà m’accora (Inf. XIII, 84) sowie von alberi und fiaccare in per lo vento a Provenza che ventava, / c[h]’alberi e vele e ancole fiac[c]ava (Fiore XXXIII, 2–3) und Quali dal vento le gonfiate vele / caggiono avvolte, poi che l’alber fiacca (Inf. VII, 13–14), um zwei Beispiele herauszugreifen.75 An anderer Stelle geht Took noch einmal eigens auf die erstaunlich vielen Bezüge zwischen dem Fiore und der Vita Nova sowie der Divina Commedia ein, um zu zeigen, daß Il Fiore sich auch inhaltlich gut in Dantes Schaffen einfügen würde.76 Anklänge an das Inferno hebt er in den Sonetten XXXIII und XXXIV hervor, wo eine ähnlich düstere Stimmung wie in der Hölle herrscht. Zusammenfassend stellt er fest: „The intertextual element of this is impressive, the Fiore sonnets anticipating with extraordinary fidelity parallel moments in the mature text [sc. the Commedia].“77 Contini78 bringt noch einen weiteren interessanten Aspekt in die Diskussion ein, indem er eine lexikalische Beziehung zwischen dem Roman de la Rose und 71 Il Fiore e Il Detto d’Amore, hrsg. v. Contini, Einleitung, S. LXXX; der Autor beruft sich hier auf G. Mazzoni, Se possa Il Fiore essere di Dante Alighieri und F. D’Ovidio, Cristo in rima, lettera ad Alfonso Berroldi in „Medusa“, 22 giugno 1902. 72 Il Fiore e Il Detto d’Amore, hrsg. v. Contini, Einleitung, S. LXXI. 73 Ibd., S. LXXXIII. 74 Ibd., S. LXXXV–XC und ders., Un nodo della cultura medievale, S. 175 f. 75 Il Fiore, hrsg. v. Took, Einleitung, S. xxxvii, cf. auch S. xxxvi–xl. 76 Ibd., S. lxiii–lxviii. 77 Ibd., S. lxvii. 78 Contini, Un nodo della cultura medievale, S. 178.
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Il Fiore einerseits und zwischen Il Fiore und der Divina Commedia andererseits aufzeigt und Il Fiore somit als „Knotenpunkt“ (nodo) zwischen den beiden großen allegorischen Werken ansetzt. Ein Beispiel soll dies demonstrieren: Vers 2269 des Rosenromans se la lettre ne ment (gemeint ist die Bibel) wird wiederaufgenommen in Fiore CXII, 4: se llo scritto non erra. Beide Stellen spiegeln sich nun in der Divina Commedia: Di parecchi anni mi mentì lo scritto (Inf. XIX, 54), ist doch mentì aus dem Rosenroman, lo scritto dagegen aus dem Fiore übernommen: „ora guardate l’Inferno come coniuga il testo del Fiore col ricordo di Guillaume“.79 Wenn man all diese Argumente zusammennimmt, erscheint es doch äußerst plausibel, daß Il Fiore ein Jugendwerk Dantes ist, auch wenn das Problem letztlich nicht mit Sicherheit geklärt werden kann. Man kann zumindest annehmen, daß Il Fiore im geistigen Umfeld des jungen Dante entstanden ist. Für die vorliegende Untersuchung ist in erster Linie die Tatsache entscheidend, daß Dante den Rosenroman gekannt haben muß – und davon ist auf jeden Fall auszugehen. d) Die Allegorien des Fiore Befassen wir uns nun noch ein wenig näher mit dem Text des Fiore. Vanossi gliedert ihn in drei unterschiedlich lange Teile („segmenti“), die er mit „la foglia, il fiore e il frutto dell’amore“ gleichsetzt80, welche metaphorisch für die verschiedenen Stadien der Liebe stehen. Der erste Abschnitt umfaßt nach dieser Einteilung Son. I–VIII, d. h. die Phase, während der der Liebhaber sich damit begnügt, der Dame nahe zu sein – im Roman de la Rose entspräche dies der ersten Annäherung bis zum Geschenk des grünen Blattes (R 2876–2878). Das zweite Segment, in dem amante der Kuß der Blume gelingt, so Vanossi weiter, gehe von Son. IX bis XXXIV – also bis zu der Stelle, wo der Übergang zwischen Guillaume und Jean stattfindet. Der dritte Teil, der bis zur „Entblätterung“ der Rose führt („che porta alla deflorazione“81), umschließe den ganzen Rest, also die Son. XXXV–CCXXXII. Vergleicht man diese Einteilung mit den gradus amoris des Andreas Capellanus82, ergibt sich folgende Übereinstimmung: Das erste Stadium, dasjenige der Annäherung, entspräche der spei datio bei Capellanus; das zweite, das den Kuß der Blume mit einschließt, ist auch bei Capellanus mit osculi exhibitio bezeichnet; die letzte Phase schließlich könnte sowohl die fruitio amplexus als auch die
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Ibd., S. 178. Vanossi, Dante e il „Roman de la Rose“, S. 59. 81 Ibd., S. 60. 82 Andreae Capellani Regii Francorum De Amore libri tres, hrsg. v. E. Trojel, München 21972, S. 32 f. Cf. auch Lazar, Amour courtois et fin’amors, S. 271. 80
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totius personae concessio umfassen oder auch nur letztere, also den vierten gradus amoris, wobei der dritte, die fruitio amplexus, ausgelassen wäre. Es ergebe sich im Fiore, so Vanossi weiter, ein stetiges Anwachsen der drei Abschnitte zum Schluß hin: „l’ampiezza dei quali cresce via via con una progressione di tipo geometrico“.83 Untermauert wird diese Makrostruktur dadurch, daß jedes der drei Segmente mit einem ähnlich aufgebauten Sonett beginnt84: Nach einer Gerundivkonstruktion, in dem die jeweilige Situation des amante dargestellt ist, folgt die Schilderung einer Begegnung desselben mit jeweils einer anderen Person (einmal Amore, zweimal Ragione). Es handelt sich um die Sonette II, 1–585, IX, 1–6 und XXXV, 1–6.86 Dazu schließt jeder Teil mit einem Sonetten-Paar ab, das die Lage beschreibt, in der sich der Liebende am Ende jeder Phase befindet: In VII–VIII und in XXXIII–XXXIV ist er traurig; am Ende dagegen, in CCXXXI–CCXXXII ist er freudiger Stimmung, nachdem er die Rose gewonnen hat. Die beiden letzten Sonette fungieren zugleich als Epilog.87 Die Handlung setzt sofort im ersten Sonett ein – ohne einen Prolog, in dem wie im Roman de la Rose eine allegorische Geschichte bzw. eine Art d’Amors angekündigt werden. Sowohl die Rahmenhandlung des Rosenromans, d. h. den Traum, als auch die ganze Vorgeschichte, nämlich den Spaziergang des Träumenden am Fluß entlang zum vergier de Deduit sowie die Beschreibung der Allegorien an dessen Außenmauer und des Gartens selbst, hat „Durante“ weggelassen, auch wenn er den „giardin di Piacer“ (I, 3) durchaus erwähnt.88 Seine Erzählung beginnt in Sonett I mit der Verwundung des Ich-Erzählers oder amante durch Amors Pfeile, während er die Blume erblickt und sich in sie verliebt (I, 1–2)89: Lo Dio d’Amor con su’ arco mi trasse perch’i guardava un fior che m’abellia,
Vanossi weist übrigens noch darauf hin, daß es „ben dantesco“ sei, ein Gedicht mit dem Wort „Amor“ bzw. hier mit dem Namen des Liebesgottes zu beginnen, und er führt dazu den Anfang des Detto d’Amore (Amor sì vuole e 83
Vanossi, Dante e il „Roman de la Rose“, S. 59. Diese Art, einen Text makrostruktuell zu gliedern, ist übrigens typisch für Dante. Vanossi verweist in diesem Zusammenhang u. a. auf das Wort stelle, das in der Divina Commedia jede der drei Cantiche abschließt (Vanossi, Dante e il „Roman de la Rose“, S. 60, Anm. 45). Dies wäre ein weiteres Argument für die Autorschaft Dantes. 85 Das erste Sonett wird analog zu Inf. I als Einleitungssonett, wenn auch nicht als eigentlicher Prolog gesehen. 86 Vanossi, Dante e il „Roman de la Rose“, S. 60 f. 87 Ibd., S. 61. 88 Ibd., S. 40 f., siehe auch S. 72. 89 Die Stellen aus Il Fiore werden zitiert nach Il Fiore, hrsg. v. Took, Lewiston u. a. 2004. 84
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V. Dante und die allegoria dei poeti
parli) sowie einige weitere Gedichte Dantes an.90 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch der letzte Vers der Divina Commedia: l’amor che muove il sole e l’altre stelle. Ebenso könnte man an den Beginn der Vita Nova denken, wo die eigentliche Erzählung – nach dem Proöm (VN 1, 1) – mit dem zentralen Wort nove einsetzt: Nove fiate già91. Die Pfeile sind wie im Roman de la Rose fünf an der Zahl und folgendermaßen benannt: Bieltà (I, 9), Angelicanza (10), Cortesia (12), Compagnia (13) und Buona Speranza (14). Zwei dieser Namen, nämlich Angelicanza und Buona Speranza sind im Vergleich zum Rosenroman leicht abgewandelt, denn dort heißen sie Simplece und Biaus Semblanz (RR 1681–1880).92 Angelicanza ist eine für die Stilnovisten typische Wortneuschöpfung, die die „engelhafte Erscheinung“ der Herrin andeutet; so heißt es beispielsweise bei Guinizelli angel sembianza, bei Cavalcanti angelica sembranza.93 Auch in der Vita Nova wird Beatrice mit einem Engel verglichen bzw. gleichgesetzt, so z. B. in VN 1, 9: questa angiola giovanissima, in VN 17, 2: Questa non è femmina, anzi è uno de li bellissimi angeli del cielo. Mit dem ersten Sonett wird der Leser „unvorbereitet“ sofort in die Handlung, nämlich die allegorisch eingekleidete Liebesgeschichte „hineingeworfen“. Im nächsten Sonett (II) tritt amante in den Dienst Amors, woraufhin dieser ihn sich ganz untertan macht, ja er soll sogar nur ihn als Gott anbeten und nicht einmal dem Evangelium Glauben schenken (V, 11–14): fa che m’adori, chéd i’ son tu’ deo; ed ogn’altra credenza metti a parte, né non creder né Luca né Matteo né Marco né Giovanni [. . .].
Damit stellt der Liebesgott klar, daß die Unterwerfung unter seine Herrschaft unvereinbar mit der christlichen Religion ist: „il Dio d’Amore mette in chiaro l’impossibile coordinazione tra la passione e la morale cristiana“94 Die Dichtung zeigt damit einen deutlich profanen Charakter. Allerdings werden im Dialog zwischen Amor und Falsembiante, vor allem in der Rede des letzteren (LXXXVIII–CXXVI), durchaus auch religiöse Fragen angesprochen, so daß die
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Nach Vanossi, Dante e il „Roman de la Rose“, S 40, Anm 2. VN 1, 2 (zitiert nach Dante Alighieri, Vita Nova, hrsg. v. G. Gorni, Torino 1996). 92 Cf. Vanossi, Dante e il „Roman de la Rose“, S 77. 93 G. Guinizelli, Al cor gentil rempaira sempre Amore, V. 58, in: Contini (Hrsg.), Poeti del Duecento, Bd. II, Mailand/Neapel 1960, Nr. IV [v], S. 460–464; G. Cavalcanti, Fresca rosa novella, V 19, in: Contini (Hrsg.), Poeti del Duecento, Bd. II, Mailand/Neapel 1960, Nr. I [vi], S. 491 f. Cf. auch Took: Er spricht in seinem Kommentar zu der genannten Stelle (Fiore I, 10) von „a neologism of stilnovistic inspiration“ (Il Fiore, hrsg. v. Took, S. 5). 94 L. Sebastio, Il Poeta e la storia. Una dinamica dantesca, Florenz 1994, S. 165. 91
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rein weltliche Thematik des Fiore von christlichen Inhalten durchbrochen wird.95 Eine auffällige und originelle Abwandlung gegenüber dem Rosenroman ist die Tatsache, daß der italienische Verfasser explizit angibt, seine Geschichte habe sich im Januar und nicht im Mai abgespielt (III, 1): Del mese di genaio e non di mag[g]io. Auch hiermit hebt er sich klar vom Rosenroman (45–52) ab, um im Kontrast zu Guillaume die physischen Qualen der Leidenschaft zu betonen96. Die in der Folge auftretenden allegorischen Figuren sind nicht so ausführlich beschrieben wie ihre französischen Vorgänger im Rosenroman, mußte doch der italienische Verfasser die Handlung straffen, um sie in den 232 Sonetten „unterbringen“ zu können. Anstelle einer eingehenden Beschreibung werden sie oftmals nur durch wenige Worte, beispielsweise ein Attribut, das sie bei sich tragen, charakterisiert. So ist der Liebesgott ganz „klassisch“ mit Flügeln dargestellt: „Amor [le] su’ ale battendo“ (VI, 1). In VI, 11 tritt dagegen „un gran villano“ auf, der eine Keule (una maz[z]a, V. 12) bei sich trägt. Es ist lo Schifo, das italienische Gegenstück zu Dangiers, der als Gärtner die Blume bewacht und den amante hinauswirft (VII, 1–2): Molto vilmente mi buttò di fora lo Schifo, crudo, fello e oltrag[g]ioso,
Vilmente (V. 1) nimmt villano aus dem vorhergehenden Sonett wieder auf (VI, 11); auch in VII, 7 wird er noch einmal als villan bezeichnet, was dem altfranzösischen vilains (RR 2825) entspricht. Zusätzlich zu dieser abwertenden Bezeichnung wird Schifo noch als „roh, grausam und böse“ (crudo, fello e oltraggioso) beschimpft, während im Rosenroman sein Äußeres relativ ausführlich beschrieben wird (RR 2825–2832). In diesem ersten Abschnitt sind die einzigen handelnden Personen der amante, Amore und Schifo, während Cortesia und Piacere (Son. I) sowie Pietà und Franchezza (Son. VII) sich im Hintergrund zeigen.97 Im Unterschied zum Roman de la Rose kommt Schifo übrigens vor Bellacoglienza zum Einsatz und macht die ersten Bemühungen des Liebenden, sich der Blume zu nähern, zunächst einmal zunichte. In den folgenden Sonetten – nach der Einteilung von Vanossi beginnt nun das zweite Segment – treten einige Personifikationen jeweils relativ kurz auf, um amante zu beraten, nämlich Ragione (IX–X), Amico (XI), dann erneut 95 Vanossi führt den Monolog des Falsembiante (LXXXVIII–CXXVI), der echte und geheuchelte Frömmigkeit unterscheidet, als Kontrast zur ansonsten profanen Thematik der Minneallegorie an (Vanossi, Dante e il „Roman de la Rose“, S. 65). 96 So Vanossi, Dante e il „Roman de la Rose“, S. 41. 97 Ibd., S. 62.
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Schifo, dem sich der Liebende diesmal ganz demütig nähert (XII). Zur Unterstützung sendet ihm der Liebesgott Franchezza und Pietà (XIII–XIV), auf deren vereinigte Bitten hin Schifo erst einmal nachgibt und den amante näher an die Blume heranläßt (XV). Allerdings darf er die Blume nicht berühren, weil Schifo die Vorwürfe von Bellacoglienza, der Wächterin der Blume (dama del fiore, XV, 10) fürchtet. Er empfiehlt daher, die Mutter des Liebesgottes, also Venus herbeizuholen, die bei Bellacoglienza ein gutes Wort für den jungen Mann einlegen soll (XV). Dieser nähert sich daraufhin demütig der Blume (XVI). In XVII tritt tatsächlich Venus mit der Fackel in der Hand98 auf und entzündet damit das Herz von Bellacoglienza, welche hier erstmals selbst auftritt (XVII, 9–11): Quando Bellacoglienza sentì ’l caldo di quel brandon che così l’avampava, sì tosto fu ’l su’ cuor col mïo saldo;
Wie bereits erwähnt, ist Bellacoglienza hier weiblich dargestellt, während die Personifikation im Französischen maskulin ist; nicht zuletzt bedingt durch das grammatische Genus von acueil. Bel Aceuil wird im Rosenroman als Un vallet bel e avenant (RR 2790) beschrieben, während Bellacoglienza einmal als quella col viso chiaro (XX, 7), und viel später noch als quella graziosa (CXXXVIII, 6) charakterisiert ist. Gegen Ende übernimmt sie fast die Rolle der umworbenen Dame selbst, vor allem im Gespräch mit der Vecchia. Venus überredet Bellacoglienza, dem Liebenden doch entgegenzukommen und ihm einen Kuß zu gewähren, woraufhin diese zustimmt (XVIII). Sie tut ihre Einwilligung durch Bel-Sembiante und Dolze-Riguardo kund (XIX, 1–6). Hier ergibt sich eine Abweichung vom Roman de la Rose, wo diese beiden Gestalten nicht zum amant gesendet werden. Es zeigt sich also, daß der italienische Verfasser durchaus auch eigenständig gearbeitet und Veränderungen vorgenommen hat.99 In diesem Beispiel werden zwei allegorische Figuren, die im französischen Original ebenfalls vorkommen, an anderer Stelle und zu anderem Zweck, nämlich als Liebesboten eingesetzt. Im Roman de la Rose dagegen ist Biaus Semblanz der fünfte von Amors Pfeilen, Douz Regart dagegen der Knappe bzw. Begleiter des Liebesgottes; zudem gehört er zu den trostspendenden Kräften wie auch Esperance, Douz Penser und Douz Parler.100 Allerdings muß sich der junge Mann vor Castità und Gelosia in acht nehmen: Wie im Rosenroman (RR 2823–2836) treten auch hier die Gegenspieler 98 Cf. RR 3420–3439; siehe hierzu auch Jauss, Entstehung und Strukturwandel der allegorischen Dichtung, in: GRLMA, Bd. VI/1, S. 227. 99 Cf. Il Fiore e Il Detto d’Amore, hrsg. v. Marchiori, Kommentar zur Stelle, S. 45. 100 RR 2717 ff. und 2756 ff.; cf. Il Fiore, hrsg. v. Took, S. 45.
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von Bel Acueil bzw. Bellacoglienza in der gleichen Personenkonstellation auf (vor allem Paura und Vergogna paarweise wie Honte und Peor101), nur mit dem Unterschied, daß Bellacoglienza schon vor ihnen warnt, bevor sie ins Geschehen eingreifen. In XX darf der amante dann tatsächlich die Blume küssen. Das erste Entgegenkommen seitens des Mädchens, das in RR 2876–2878 durch das Geschenk des grünen Blattes symbolisiert ist, fehlt im Fiore völlig bzw. es wird mit dem Kuß gleichgesetzt; dadurch wird die Handlung gestrafft. Über den Kuß gerät der Verliebte zunächst in Entzücken; dies hält jedoch nicht lange an, da auch hier, wie im Roman de la Rose, die Widersacher auf den Plan treten und sich gegen ihn verbünden. In Sonett XXI wird die folgende Handlung angekündigt, nämlich wie der Liebende aus dem Garten vertrieben und Bellacoglienza eingemauert wird – eine ähnliche Stelle gibt es auch im Rosenroman (RR 3495–3558).102 Als Beispiel mögen einige Verse aus diesem Sonett dienen (XXI, 9–11): E sì vi conterò de la fortez[z]a dove Bellacoglienza fu ’n pregione, ch’Amor abatté poi per su’ prodez[z]a;
Vers 11 ist eine wörtliche Übersetzung des Originals: Qu’Amors prist puis par ses esforz (RR 3504). Nach einigen Tiraden der einzelnen Personifikationen (XXII Castità, XXIII Gelosia, XXIV Vergogna, XXV Vergogna und Paura, XXVI erneut Schifo) wird in XXVII–XXIX unter der Leitung von Gelosia die aus dem Rosenroman bekannte Festung gebaut: Gelosia fece fondar un castello (XXVIII, 1). Dort läßt sie Bellacoglienza einmauern und von Schifo, Vergogna, Paura und Mala-Bocca an den Toren sowie innerhalb der Festung von der Alten, Vecchia, bewachen (XXX–XXXI). Wie bereits angedeutet, werden die Personifikationsallegorien im Fiore größtenteils nicht oder kaum beschrieben. Durch ihre sprechenden Namen weiß man jedoch, wen oder was sie darstellen. Bisweilen drücken bestimmte Gesten noch zusätzlich aus, was die jeweilige Allegorie bezeichnet. So heißt es beispielsweise von der Scham (Vergogna) in XXIV, 1, daß sie das Haupt zur Erde neigt: Vergogna contro terra il capo china; außerdem verhüllt sie an derselben Stelle ihr Gesicht: e d’un gran velo il viso avea velato (XXIV, 3). Die Klagen des Liebenden in XXXIIIf., nachdem Bellacoglienza eingesperrt ist, bilden den Übergang zum Teil von Jean de Meun, der wie gesagt nicht explizit erwähnt ist. In diesem dritten Teil stehen längere Gesprächsszenen zwischen amante und verschiedenen Allegorien im Vordergrund, welche häufig in einen oder mehrere Monologe der betreffenden Person übergehen. Dieser um-
101 In XXIV, 1–4 erfährt man – wie in RR 3660 –, daß Vergogna und Paura Cousinen sind. 102 Il Fiore e Il Detto d’Amore, hrsg. v. Marchiori, S. 48 f.
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V. Dante und die allegoria dei poeti
fangreichste Textabschnitt ist dadurch seinerseits untergliedert, vor allem durch die „tre brani espositivi“103 von Amico, Falsembiante und der Vecchia. Zunächst trifft der Liebende allerdings wie auch im Rosenroman zu Beginn des Teils von Jean de Meun auf Ragione. Nach einem Dialog zwischen beiden (XXXV–XLVI) folgt über drei Sonette (XLIII–XLV) ein Monolog der Vernunft, in dem sie zwar nicht versucht, ihm die Liebe völlig auszureden, aber ihn dennoch vor den Leiden zu bewahren, die der Dienst Amors mit sich bringt (XLV, 12–14)104: I’ non difendo atte chettu non ami, ma non Amor chetti tenga ’n distrez[z]a, E nella fin dolente te ne chiami.
Formal ähnlich ist die Begegnung „Durantes“ mit Amico aufgebaut: Nach dem amante dem Freund auf dessen Nachfragen hin sein Leid geklagt hat (XLVII–XLIX), folgt der erste brano espositivo: ein langer Monolog von Amico (XLIX–LXVII), der ihm wiederum zuredet, nicht auf die Vernunft zu hören, sondern all sein Sinnen auf die Liebe zu richten: Ma ferma in ben amar tutta tua ’ntenza (XLIX, 9). Neben verschiedenen praktischen Ratschlägen – der Einfluß von Ovids Ars amatoria ist hier spürbar105 – rät er ihm auch, sich vor Mala-Bocca, also vor übler Nachrede zu hüten, und die Gunst der Vecchia, der Hüterin von Bellacoglienza, für sich zu gewinnen. Nach einem weiteren Intermezzo mit Amico (LXVIII–LXXII) wendet der Liebende sich zaghaft wieder der Festung und ihren Wächtern zu (LXXIII) und begegnet als nächstes Ricchezza (LXXIV–LXXVII), die ihn zurückweist. Nun tritt jedoch der Liebesgott wieder auf den Plan und ruft seine baronia zusammen, d. h. seine ganze Gefolgschaft, die ihm helfen soll, die Festung zu erobern (LXXVIII, 1–8): Lo Dio d’Amor per tutto ’l regno manda messag[g]i e lettere a la baronia: che davanti da lui ciaschedun sia, ad alcun priega e ad alcun comanda; e ch’e’ vorrà far lor una domanda la qual fornita converrà chessia: d’abatter il castel di Gelosia, sì ch’e’ non vi dimori inn-uscio banda.
103 Vanossi, Dante e il „Roman de la Rose“, S. 62. Cf. zu den Reden im Fiore auch Wittschier, Die italienische Literatur des Duecento, S. 101. 104 Vanossi sieht in diesem drei Sonette langen Monolog der Ragione das „Scharnier“ („la cerniera“), das die kürzeren Reden der ersten beiden Teile, „che non superano mai il sonetto“ mit den drei langen Reden des letzten Abschnittes verbinden („i tre grandi spazi discorsivi del terzo“; Vanossi, Dante e il „Roman de la Rose“, S. 62). 105 Auch Vanossi spricht von „l’arte di amico“ (ibd., S. 62), womit er wohl die Unterweisung in der Liebeskunst meint.
1. Il Fiore
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In LXXIX wird geschildert wie Amors „Ritterschaft“106 eintrifft. Zu ihr gehören Madonna Oziosa, Nobiltà-di Cuor, Ricchezza, Franchigia, Cortesia, Pietà, Larghezza, Ardimento, Onor, Diletto, Compagnia, Angelicanza, Sicurtà, Letezza, Solazzo, Bieltate, Giovanezza, Umiltate, Pacïenza, Giolività, Ben-Celare, Falsembiante107 und Costretta-Astinenza, alles höfische Tugenden, die zum System der fin’amors gehören. Mit dem proportionalen Anwachsen des Umfanges der Textabschnitte vermehrt sich also auch die Anzahl der handelnden Personen.108 Im Roman de la Rose dagegen treten einige dieser Figuren schon zu Beginn in der Tanzszene im vergier de Deduit auf. In LXXXII–LXXXVII hält die baronia mit Amor eine Versammlung ab, in der die Schlacht zur Eroberung der Festung geplant wird. Auf ausdrückliche Bitten der Ritter soll Falsembiante (wörtlich: „falscher Anschein“, also die Heuchelei) auf Amors Seite mitkämpfen (LXXXVI, 9–14), woraufhin Amor ihn als „König der Betrüger“ (re de’ barattier, LXXXVII, 6) in sein Heer aufnimmt. Allerdings zweifelt der Liebesgott zunächst, ob er dem Heuchler trauen kann und bittet ihn, seinen Aufenthaltsort und sein Tun klar darzulegen (i luogo dove tu ffai residenza, / né di che servi, né di che mestiere, LXXXVII, 11 f.). Darauf gibt Falsembiante umfassend Antwort und übernimmt in den Sonetten LXXXVIII–CXXVI einen Großteil des Gesprächs, wo er seine Taktik genau beschreibt, ebenso wie im Rosenroman (11003–11980). Diese besteht vor allem darin, daß er sich am liebsten in ein Mönchsgewand hüllt, um einen frommen und demütigen Eindruck zu machen; auch hält er sich gerne in Klöstern auf, wie er gleich zu Beginn seiner Rede zugibt (LXXXVIII):109 „Po’ ch’e’ vi piace, ed i’ sì ’l vi diròe“, diss’alor Falsembiante: „or ascoltate, chéd i’ sì vi dirò la veritate deluogo dov’io uso e dov’i’ stoe. Alcuna volta per lo secol voe, ma dentro a’ chiostri fug[g]o in salvitate, ché quivi poss’io dar le gran ghignate 106 Bassermann übersetzt baronia hier zutreffend mit „Ritterschaft“ (D. Alighieri, Die Blume, übers. v. Bassermann, S. 79). 107 Die Allegorie des Falsembiante stammt aus der höfischen Liebe, wo die Liebesbeziehungen verheimlicht werden müssen, um Gerede zu vermeiden (cf. Il Fiore, hrsg. v. Took, S. 169). 108 Cf. Vanossi, Dante e il „Roman de la Rose“, S. 62. 109 Im Kontrast zur Forderung des Liebesgottes, sich nur an seine Lehre und nicht ans Evangelium zu halten (Son. V, 9–14), so Vanossi, hebe Falsembiante in seiner Rede durchaus die christliche Botschaft hervor: In XCIV, 4, CXV, 1–5 und CXVII, 1– 2 verweise er auf das göttliche Gesetz und das Beispiel Christi: „qui egli si rifà alla legge divina e all’esempio di Cristo“ (Vanossi, Dante e il „Roman de la Rose“, S. 65). In der letztgenannten Stelle (CXVII, 1–2) wird Falsembiante jedoch vom Liebesgott nach seinem Glauben gefragt; daraufhin gibt er klar zu, nicht an Christus zu glauben: „Or non credi tu ’n Cristo?“ / „I non [. . .]“ (CXVII, 2–3).
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V. Dante und die allegoria dei poeti e tuttor santo tenuto saròe. Il fatto a’ secolari è troppo aperto: lo star guari color nommi bisogna, c[h]’a me convien giucar troppo coperto. Perch’i’ la mia malizia mi ripogna, vest’io la roba del buon frate Alberto: chi tal rob’àe, non teme mai vergogna“.
Falsembiante äußert sich hier sowohl zu seinen bevorzugten Aufenthaltsorten, nämlich den Klöstern (ma dentro a’ chiostri fuggo in salvitate; V. 6), als auch zur entsprechenden Kleidung (vest’io la roba del buon frate Alberto; V. 13); beides verhilft ihm dazu, als heilig zu gelten (e tuttor santo tenuto saròe; V. 8). Ausgehend von dieser vorgespiegelten Frömmigkeit entwickelt sich seine Darlegung zu einer harschen Kritik an heuchlerischen Mönchen, vor allem Bettelmönchen, die sich oft nur nach außen hin fromm geben. In XC–XCV lobt er dagegen die wahre Frömmigkeit, vor allem aber die der Laien, die sich nicht verstellen (XCIV f.), um dann wieder zum Thema des Verbergens und der Heuchelei zurückzukehren. Die Allegorie des Falsembiante ist eine der am ausführlichsten dargestellten; seine Beschreibung erfogt einerseits durch Selbstcharakteristik, wie am obigen Beispiel deutlich wurde. Zusätzlich bezeichnet er sich noch als Verräter (traditore; XCIX, 9)110, der in jedem Gewand auftreten kann, sei es als Priester oder Mönch, sei es als Adeliger (Ch’un’or divento prete, un’altra frate, / Or prinze, or cavaliere, or fante, or pag[g]io; CI, 3 f.), ja sogar als Diener des Antichrist (I sì son de’ valletti d’Antecristo; CXXIII, 1). Andererseits wird er auch vom Erzähler selbst noch geschildert, beispielsweise in CXXX: Falso-Sembiante, sì com’on di coro religïoso e di santa vita, s’aparec[c]hiò, e sì avea vestita la roba frate Alberto d’Agimoro. Il su’ bordon non fu di secomoro, ma di gran falsità ben ripulita; la sua scarsella avea pien’e fornita di tradigion, più che d’argento o d’oro; ed una bib[b]ia al collo tutta sola portava: in seno avea rasoio tagl[i]ente, ch’el fece fab[b]ricare a Tagliagola, di che quel Mala-Bocca maldicente Fu poï strangolato, che tal gola avëa de dir male d’ogne gente.
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Ebenso charakterisiert sich Faus Semblanz in RR 11169 als traïtres.
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In diesem Sonett wird die bereits erwähnte Anspielung auf frate Alberto noch einmal aufgenommen (V. 4)111, die erneut zur Umschreibung der Heuchelei dient, da sich Falsembiante auch hier als heiliger und frommer Mann gibt (sì com’on di coro / religïoso e di santa vita, V. 1 f.).112 Außer seiner Kleidung werden an dieser Stelle noch die Attribute genannt, die er bei sich trägt: Sein Wanderstab „glänzt“ vor Falschheit (Il su’ bordon [. . .] / di gran falsità ben ripulita, V. 5 f.), und sein Geldbeutel ist statt mit Silber oder Gold mit Verrat gefüllt (la sua scarsella avea pien’e fornita / di tradigion, più che d’argento o d’oro, V. 7 f.). Um den Hals hat er nichts als eine Bibel, um nach außen hin Frömmigkeit zu demonstrieren (una bibbia al collo tutta sola / portava, V. 9 f.); in der Kleidung versteckt er jedoch ein Rasiermesser (in seno avea rasoio tagl[i]ente, V. 11) – ein Symbol für seine heimlichen bösen Absichten. Diese Details beschreiben treffend den „degno apparato dell’incarnazione allegorica dell’Ipocrisia“113. Auch hier zeigt sich deutlich, daß wir uns in der Sphäre der weltlichen allegoria dei poeti befinden: Eine abstrakte Personifikation ist mit Attributen ausgestattet, die auf ihre Bedeutung hinweisen. Am Ende der Rede fragt Amor Falsembiante noch einmal (CXXVII, 1–8), ob er ihm überhaupt trauen könne, woraufhin dieser ihm Treue verspricht (CXXVII, 9–14). In CXXVIII bewaffnen sich dann alle Gefolgsleute Amors. Bevor jedoch gekämpft wird, gehen Falsembiante und Costretta-Astinenza zu Mala-Bocca, machen ihm zunächst Vorwürfe ob seines Verhaltens gegenüber Bellacoglienza und bringen ihn anschließend um (CXXIX–CXXXVI). Somit verschaffen sie sich Zugang zur Festung und bringen der Vecchia ein Geschenk für Bellacoglienza (CXXXVII–CXL). Die Alte überbringt das Schmuckstück (CXLI–CXLIV) und nimmt dies zum Anlaß, aus ihrem Erfahrungsschatz heraus Bellacoglienza umfassende Ratschläge zu erteilen, wie sie sich gegenüber ihrem Verehrer verhalten soll. Auch hier erkennt man den Einfluß der A-rs amatoria. Ihr Monolog ist damit der längste im ganzen Werk (CXLIV–CXCIX). Vanossi weist darauf hin, daß auch der Umfang der brani espositivi proportional zunimmt, analog zu den drei Textabschnitten; so umfaßt die Unterweisung durch Amico 18 Sonette (XLIX–LXVII), die Rede des Falsembiante 39
111 Der Zusatz d’Agimoro bezeichnet laut Took „a fictional location“ und soll wahrscheinlich bedeuten „,I die of ease‘ (,d’ag’i‘ moro)“ (Il Fiore, hrsg. v. Took, S. 271 zu CXXX, 4). 112 Took deutet in seinem Kommentar zu dieser Stelle coro „in the sense of ,congregation‘“ (Il Fiore, hrsg. v. Took, S. 271 zu CXXX, 1), während Marchiori das Wort von core bzw. cuore herleitet (Il Fiore e Il Detto d’Amore, hrsg. v. Marchiori, S. 242 zu V. 1). Erstere Erklärung scheint jedoch besser in den Kontext des (vorgegaukelten) Mönchstums zu passen. 113 Mazzoni, Se possa Il Fiore essere di Dante Alighieri, S. 661.
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V. Dante und die allegoria dei poeti
(LXXXVIII–CXXVI), die „arte“ der Vecchia schließlich 49 Sonette (CXLIV– CXCIX).114 Schließlich läßt Bellacoglienza den Liebenden zu sich rufen (CXCV–CCII). Bevor er allerdings zu ihr kommen kann, wird er erneut von Schifo (CCIII), Vergogna und Paura aufgehalten (CCIV–CCV), woraufhin die Gefolgschaft des Liebesgottes zur Schlacht rüstet (CCVI). In CCVII beginnt die battaglia mit einem Zweikampf zwischen Franchezza und Schifo. In der Folge werden viele Einzelkämpfe geschildert (CCVII–CCXIV). Amor schickt Franchezza zu seiner Mutter Venus, um ihr über den Stand der Dinge Bericht zu erstatten (CCXV f.), woraufhin diese selbst mit zum Schauplatz der Schlacht kommt (CCXVII– CCXX) und nach einem Streit mit Vergogna (CCXXI f.) die Festung mithilfe ihrer Fackel in Brand setzt (CCXXV), woraufhin Schifo, Vergogna und Paura die Flucht ergreifen (CCXXVI). Bellacoglienza kann schließlich befreit werden, und der Liebende kommt wieder in den Genuß ihrer Gunst (CCXXVII, 9–11): Bellacoglienza disse: „I’ gli abandono e me e ’l fiore e ciò ch’i’ ò ’n podere, e ched e’ prenda tutto quanto in dono.
Die letzte Annäherung an die Blume wird mithilfe einer Pilgermetapher umschrieben: E sì v’andai come buon pellegrino (CCXXVIII, 5). Diese Pilgerthematik hat „Durante“ ebenfalls von Jean de Meun übernommen (RR 21346– 21694). Übrigens ist in einem der letzten Kapitel der Vita Nova (Kap. 29) ebenfalls von Pilgern die Rede: Deh, peregrini, che pensosi andate.115 Allerdings spricht Dante in diesem Sonett „wirkliche“ Pilger an, wohingegen sowohl im Roman de la Rose als auch im Fiore der Liebende am Schluß nur mit einem Pilger verglichen wird, und dies – wie gesehen – in einem obszön-erotischen Kontext. Am Ende gewinnt der amante seine Blume, deren „Entblätterung“ wie im Rosenroman ziemlich konkret und kaum noch allegorisch verhüllt geschildert wird (CCXXX). Schließlich dankt er seinen Wohltätern, vor allem dem Liebesgott, Amico und Bellacoglienza (CCXXXI). Im letzten Sonett triumphiert er noch einmal über Ricchezza und Gelosia (CCXXXII). Insgesamt spiegelt das allegorische System des Fiore ziemlich getreu dasjenige des Rosenromans wider, wobei es sich jedoch enger an Jean de Meun anzuschließen scheint.
114
Vanossi, Dante e il „Roman de la Rose“, S. 62. VN 29, 9, V. 1 (zitiert nach D. Alighieri, Vita Nova, hrsg. v. G. Gorni, Torino 1996). 115
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Auf jeden Fall handelt es sich hier wie dort um die allegoria dei poeti, wie oben dargelegt wurde. Während der erste Teil des Rosenromans das System der höfischen Liebe jedoch in lehrhafter Form präsentiert116 – man denke an die Unterweisungen Amors und des Ami – wird diese Welt der courtoisie im zweiten Teil ironisiert und karikiert, wie wir oben gesehen haben. Diese Ironie ist es nun, die auch im Fiore vorherrscht, besonders in den Ratschlägen der Alten und in den Ränken des Falsembiante, die beide sehr ausführlich dargestellt sind. Parodiert wird im Fiore vor allem auch die stilnovistische Amorkonzeption, die die Liebe ja als etwas Reines und Edles, das – in der Person Amors – den ganzen Menschen ergreift, auffaßt – wir werden dies noch ausführlicher in der Vita Nova sehen, wo die Liebe geradezu mystifiziert erscheint. Das genaue Gegenteil trifft auf Il Fiore zu, wo eher die grotesken und lächerlichen Seiten der Liebe im Vordergrund zu stehen scheinen, wie dies auch schon bei Jean de Meun der Fall war. Daher stehen denn auch mehr die Reden der einzelnen Personifikationen im Vordergrund als ihre Handlungen. Die Allegorie, die ja bei Guillaume de Lorris integraler Bestandteil der Handlung war, dient hier mehr als äußerer Rahmen für die ironisch-satirische Darstellung bestimmter „Typen“, beispielweise des Heuchlers Falsembiante (LXXXVIII– CXXVI) oder der kupplerischen Alten (CXLIV–CXCIX). Dabei erscheinen diese Typen im Fiore in vergleichsweise zugespitzter Form, ist doch der Textumfang gegenüber Jean de Meun enorm reduziert. Dadurch, daß die gelehrten Exkurse des Jean de Meun ebenso wie die langen Szenen zwischen Nature und Genius im Fiore wegfallen, stehen die Figuren des Falsembiante, der Vecchia und des Amico (XLIX–LXVII) gleichsam stärker im Rampenlicht, ihre Fehler und Schwächen scheinen noch hervorstechender als bei ihren französischen Vorgängern. In gewisser Weise wird damit die Allegorie ad absurdum geführt, wie Frank-Rutger Hausmann feststellt.117 Dies könnte man allerdings auch schon auf Jean de Meun anwenden, bei dem die allegorische Handlung ja ebenfalls zu Gunsten langer Monologe einzelner Figuren in den Hintergrund gedrängt wird. Denn eben bei diesen großen Reden, sei es im Roman de la Rose oder im Fiore, fällt nicht sehr ins Gewicht, ob es sich beim Sprecher bzw. der Sprecherin um eine Personifikation oder um eine sonstige literarische Gestalt handelt; wichtig ist einzig die jeweilige Aussage. Im Detto d’Amore dagegen steht die Unterweisung in der höfischen Liebe ebenso im Zentrum wie im ersten Teil des Roman de la Rose.
116
Cf. auch Gunn, The Mirror of Love, S. 17–19. F.-R. Hausmann, Anfänge und Duecento, in: V. Kapp (Hrsg.), Italienische Literaturgeschichte, Stuttgart/Weimar 1992, S. 1–29, hier S. 20. 117
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V. Dante und die allegoria dei poeti
2. Il Detto d’Amore a) Die Frage der Autorschaft Dieses unvollendete, ca. 480 Verse umfassende Gedicht ist ebenfalls eine italienische Bearbeitung des Roman de la Rose. Vermutlich wurde es vor Il Fiore verfaßt. Da es aber später entdeckt wurde und unvollständig überliefert ist, wird es in den meisten Ausgaben nach dem Fiore angeordnet.118 Wie bereits erwähnt, stammte der Detto d’Amore ursprünglich aus dem gleichen Manuskript wie Il Fiore, wurde aber 1849 von Guglielmo Libri entfernt und nach Florenz in die Bibliotheca Laurentiana gebracht, wo er die Signatur Ashburnham 1234 trägt.119 Dort wurde der Detto von Salomone Morpurgo entdeckt, mit seinem heute noch geläufigen Titel versehen und 1888 erstmals in Il Propugnatore herausgegeben.120 Aufgrund der Tatsache, daß beide Werke zusammen überliefert wurden, von der gleichen Handschrift stammen121, auch wenn es sich nicht um einen Autograph handelt, und sich sprachlich sehr ähnlich sind122, hat man auf denselben Verfasser geschlossen. Während jedoch Parodi123 aufgrund dieser Argumente die Autorschaft Dantes noch sehr stark anzweifelt, geht die neuere Forschung sicher von der Authentizität beider Werke aus. So befaßt sich Gianfranco Contini anläßlich eines Kongresses zum 700. Jahrestag von Dantes Geburt124 mit 118 „[. . .] la scoperta ulteriore e la frammentarietà del Detto bastano a giustificarla [sc. la posposizione del Detto]“ (Il Fiore e Il Detto d’Amore, hrsg. v. Contini, Einleitung, S. LX). 119 Cf. The Fiore and the Detto d’Amore, hrsg. v. Casciani/Kleinhenz, Einleitung zum Detto, S. 503; siehe auch Il Fiore e Il Detto d’Amore, hrsg. v. Contini, Einleitung, S. LIf. 120 S. Morpurgo, Detto d’Amore, antiche rime imitate dal Roman de la Rose, in: „Il Propugnatore“ n. s., 1 (1888), S. 18–61. 121 Cf. The Fiore and the Detto d’Amore, hrsg. v. Casciani/Kleinhenz, Einleitung zum Detto, S. 503; siehe auch Il Fiore e Il Detto d’Amore, hrsg. v. Contini, Einleitung, S. LIf. 122 Parodi gibt in seiner Prefazione eine Übersicht von Stellen, die die sprachliche Ähnlichkeit zwischen Il Fiore und Il Detto d’Amore demonstrieren (Il Fiore e Il Detto d’Amore, hrsg. v. Parodi, Einleitung, S. XIV–XVI). Beispielsweise entsprechen die Verse 141 f. des Detto (an Ragione gerichtet): Tu mi vuo’ trar d’amare / E di’ c[h]’Amor amar’ è der folgenden Stelle aus dem Fiore (XXXVIII, 1–2): Ragion, tu sì mi vuo’ trar[e] d’amare / E di’ che questo mi’ signor è reo. 123 Cf. Il Fiore e Il Detto d’Amore, hrsg. v. Parodi, Einleitung, S. XIXf. Am Schluß der Einleitung seiner Ausgabe, die ja In appendice a Le Opere di Dante edite dalla Società Dantesca Italiana erschien, erläutert der Herausgeber, daß er sein Buch als Appendice dantiana analog zur Appendice virgiliana verstanden wissen will (S. XX). Auch die Appendix Vergiliana enthält Werke, die fälschlich Vergil zugeschrieben wurden. 124 Comitato Nazionale per le Celebrazioni del VII Centenario della Nascita di Dante (Hrsg.), Atti del Convegno di Studi su Dante e la Magna Curia (Palermo, Catania, Messina, 7–11 novembre 1965), Palermo 1967, S. VII.
2. Il Detto d’Amore
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dem Detto und gibt damit eindeutig zu verstehen, daß er das Werk Dante zuschreibt: „Introdurre in un contesto dantesco, qual è il presente convegno, [. . .] il Detto d’Amore, equivale ad assumerne la paternità dantesca.“125 Vanossi sieht es ebenfalls als erwiesen an, daß beide Werke von Dante stammen und leitet mit dieser Feststellung seine Untersuchung über den Detto ein: „La conferma della paternità dantesca del Fiore e del Detto d’Amore rappresenta forse l’avvenimento più importante della filologia italiana di questi anni.“126 Der Autor datiert das Gedicht auf die frühe Schaffenszeit Dantes, bevor dieser sich unter dem Einfluß Guido Cavalcantis dem Dolce Stil Novo zuwandte: „A un Dante giovane, probabilmente non ancora attratto nell’ambito cavalcantiano, si convengono in modo esemplare anche le caratteristiche culturali del poemetto.“127 Da man im allgemeinen davon ausgeht, daß Il Fiore und Il Detto d’Amore kurz nacheinander entstanden sind, kann man auch für den Detto den Zeitraum 1285–1290 ansetzen. Auffällig ist das Reimschema, das aus Siebensilblern (settenari) mit homonymen Reimen, also rime equivoche o composte mit der Reimfolge aabbcc besteht128. Dieses Schema ist offenbar von den Provenzalen übernommen, die oftmals gleichlautende Reimwörter mit unterschiedlicher Bedeutung gebrauchten.129 Nicht nur Dantes Vorbild Guittone d’Arezzo verwendete diese Art, z. B. in Tuttor, s’eo veglio o dormo130, sondern auch Dante selbst, z. B. im Sonett Non canoscendo, amico, vostro nomo (Rime XLIV).131 In der Tat weist Vanossi darauf hin, daß gerade dieser „ardente tecnicismo [. . .] un tratto costitutivo dell’arte dantesca“ sei.132 b) Inhalt und Aufbau Das Gedicht, von Vanossi einmal als „summula dell’amor cortese“133 und ein anderes Mal als „teoresi dell’amor cortese“134 bezeichnet, läßt sich in zwei 125 G. Contini, Stilemi siciliani nel Detto d’Amore, in: Atti del Convegno di Studi su Dante e la Magna Curia., S. 83–88, hier S. 83. 126 Vanossi, La teologia poetica nel Detto, S. 1. 127 L. Vanossi, Il Detto d’Amore, in: ED, vol. 2, S. 393–395, hier S. 394. 128 Ibd., S. 394. 129 Cf. H. Friedrich, Epochen der italienischen Lyrik, Frankfurt a. M. 1964, S. 14. 130 Guittone d’Arezzo, Rime, hrsg. v. F. Egidi, Bari 1940, Nr. XI, S. 24–26. In dieser sechsstrophigen Kanzone lautet das Reimschema abc abc dd ee ff. Übrigens wird dieser Gedichtanfang Guittones im Detto zitiert: Nel cor, s’i’ dormo o veglio (V. 259). Cf. auch Vanossi, Il Detto d’Amore, in: ED, vol. 2, S. 394; Contini, Stilemi siciliani nel Detto d’Amore, S. 85. 131 Dante Alighieri, Rime, hrsg. v. Contini, Nr. 3 A (XLIV), S. 34 f. In diesem Sonett ist das Reimschema allerdings abab abab cde cde. 132 Vanossi, La teologia poetica nel Detto, S. 2. 133 Vanossi, Il Detto d’Amore, in: ED, vol. 2, S. 394. 134 Vanossi, La teologia poetica nel Detto, S. 2.
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V. Dante und die allegoria dei poeti
Teile gliedern, deren erster (V. 1–270) die psychologischen Aspekte der Liebe darstellt, während der zweite (V. 271–480) sich mit „the social ethics upon which a courtly society is based“135 beschäftigt. Der erste Teil läßt sich noch weiter untergliedern. Im Prolog (V. 1–5) kündigt der Verfasser an, er werde einen Detto verfassen, wie der Gott Amor es ihm aufgetragen habe136: Amor sì vuole, e par-li, Ch’i’ ’n ogni guisa parli E ched i’ faccia un detto, Che sia per tutto detto, Ch’i’ l’ag[g]ia ben servito.
Programmatisch ist Amor das erste Wort, ebenso wie auch Il Fiore mit den Worten Lo Dio d’Amor beginnt, wie wir gesehen haben. Zugleich wird durch das Hendiadyoin sì vuole, e par-li (= gli pare) untermauert, daß der Liebesgott zu befehlen hat. Gleich zu Anfang macht der Dichter also deutlich, daß er in Amors Diensten steht und ihm zu gehorchen hat (ch’i’ l’aggia ben servito, V. 5). Auch hier ist wie im Roman de la Rose und im Fiore der Ich-Erzähler bzw. Dichter gleichzeitig der Liebende. Nach dem Prolog wird zunächst die absolute Hingabe des Ich-Erzählers, also des amante, an den Liebesgott ausgeführt (V. 6–74), wie z. B. in den Versen 32 f. hervorgehoben wird: Perch’i’ a llui m’adoro Come leal amante.
An einer weiteren Stelle bezeichnet sich der Erzähler auch als fine amante (V. 56), was den Kontext der höfischen Liebe markiert. Im folgenden Abschnitt (75–124) tritt Ragione als Gegenspielerin auf und versucht, den Dichter von Amor zu trennen und ihm die „falsche“ Liebe (falso diletto, V. 107) auszureden und seinen Sinn auf Höheres, d. h. auf die Liebe zur Vernunft und damit auch auf Gott zu richten (V. 106–110)137: Perdio, or te ne getta Di quel falso diletto, E fa che si’ a diletto Del mi’, ched egli è fine, Che dà gioia sanza fine. 135 The Fiore and the Detto d’Amore, hrsg. v. Casciani/Kleinhenz, Einleitung zum Detto, S. 503, ebenso Vanossi, Il Detto d’Amore, in: ED, vol. 2, S. 394. 136 Der Text des Detto wird zitiert nach The Fiore and the Detto d’Amore, hrsg. v. Casciani/Kleinhenz. 137 „[. . .] the love of reason should belong to the love of God which is eternal and unchanging“ (The Fiore and the Detto d’Amore, hrsg. v. Casciani/Kleinhenz, Einleitung zum Detto, S. 504).
2. Il Detto d’Amore
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Sie weist ihn auch darauf hin, daß der Liebesgott ebenso unzuverlässig wie Fortuna sei (V. 111–113): Lo dio dov’ài credenza Non ti farà credenza Se non come Fortuna.
Dagegen verwahrt sich der Liebende und bekräftigt seine Unterwürfigkeit gegenüber Amor (125–166), den er für dolce e fine (V. 143) hält, um daraufhin zum Lobpreis seiner Herrin überzugehen (V. 167–270).138 Beispielsweise rühmt er in Vers 183 ihren dolze riguardo, wiederum ein deutlicher Anklang sowohl an den Rosenroman als auch an Il Fiore, wo Dolze-Riguardo sogar einmal als Personifikation auftritt (Sonett XIX, 1). Zum Abschluß der lobenden Beschreibung, also beim Übergang von Teil 1 zu Teil 2, kommt der amante kurz auf Gelosia zu sprechen und stellt fest, daß sie nicht die Macht habe, ihn von seiner Herrin fernzuhalten (271–273): Se Gelosia à ’n sé gina Di tormene segina, Lo Dio d’Amor mi mente
Die Anspielung auf Gelosia wird übrigens in der Rede der Ricchezza noch einmal aufgenommen (V. 300–303), wobei angedeutet wird, daß sie wie im Rosenroman schließlich Venus, also der Leidenschaft unterliegen müsse (ch’ella si renda, V. 303): Se fai che Veno imprenda La guerr’a Gelosia, Come che ’n gelo sia, Convien ch’ella si renda,
Ganz nebenbei sei noch angemerkt, daß die Verse 301 f. ein gutes Beispiel für das kunstvolle Spiel mit den homonymen Reimen sind: Gelosia – ’n gelo sia. Im zweiten Teil des Detto spiegelt sich die Struktur des ersten139: So entspricht der Rede der Ragione der Auftritt von Ricchezza (V. 282 bis etwa 361/ 362 – hier weist der Text eine Lücke auf, so daß man die Einteilung nicht genau vornehmen kann). Beide, Ragione und Ricchezza, sind „due forze antagoniste dell’amore, dominanti nel mondo profano“140. Ricchezza verwehrt auch hier wie im Rosenroman und im Fiore (RR 10050–10284; Fiore LXXIV–LXXVII) dem Liebenden den „Zutritt“, allerdings ist hier nicht explizit von einer Festung die Rede: Ric[c]hez[z]a guarda il passo (V. 282). Gemeint ist wohl, daß der Reichtum den Liebenden „im Weg steht“, da die Liebe und die Begierde nach 138 Diese Vierteilung der ersten Hälfte nimmt Vanossi vor: Vanossi, Il Detto d’Amore, in: ED, vol. 2, S. 394. 139 Vanossi, Il Detto d’Amore, in: ED, vol. 2, S. 394. 140 Vanossi, La teologia poetica nel Detto, S. 7.
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V. Dante und die allegoria dei poeti
materiellen Gütern einander widersprechen, auch wenn dies nicht explizit ausgedrückt wird. Zunächst präsentiert sich Ricchezza nämlich als Alternative zu dem schwierigen Weg, den Amor seinen Nachfolgern auferlegt, nämlich die Geliebte durch den „Liebesdienst“ zu erobern.141 Ricchezza dagegen legt dem amante nahe, es mit Gold und Silber zu versuchen – dann werde sie ihm die Türe öffnen, das heißt, der Liebende soll seine Herrin mit wertvollen Geschenken zu erobern versuchen (V. 307–310): Ma tutor ti ricorde: Se ma’ meco t’accorde, Oro e argento apporta; I’ t’aprirò la porta,
Allerdings geht Ricchezza nach dieser Empfehlung dazu über, den Liebhaber vor allzu übertriebener Freigiebigkeit (Folle Larghezza mala; V. 313) zu warnen, da die Armut als summum malum gilt (V. 331 f.): Ché Povertat’ è insom[m]a D’ogne dolor la somma.
Povertà tritt noch an zwei weiteren Stellen als Personifikation auf (V. 318 und 349) und wird zu einigen weiteren Allegorien in Beziehung gesetzt, nämlich ist sie Dienerin der eben erwähnten Folle Larghezza (Povertà è su’ ancella, V. 318), die hier die „eccessiva generosità nel donare alle donne“142 repräsentiert, wie auch im Fiore (LXXI, 2). Daß die Armut der übermäßigen Freigiebigkeit „dienen“ soll, scheint ironisch gemeint zu sein – eher wäre sie ja eine Folge davon. Außerdem ist Povertà Tochter von Cuor-Fallito143 (Figlia fu a Cuor-Fallito, V. 325). Schließlich wird Imbolar („Dieberei“) als Sohn der Povertà genannt (Un su’ figliuol nomato: / Imbolar uon l’appella, V. 334/335). Damit soll wohl ausgedrückt werden, daß die Armut ihrerseits Diebstahl nach sich zieht. Interessant ist, daß hier zunächst ein Verb (imbolare144) substantiviert und dieses Substantiv dann personifiziert wird. Alle diese Personifikationen werden also aufgeboten, um den Liebhaber davor zu warnen, zu viel Geld auszugeben, um sich seine Angebetete mit kostspieligen Geschenken geneigt zu machen. Diese Passage stellt somit in gewisser Weise ein Gegenstück zur Rede der Vecchia im Fiore dar, die Bellaco141 „Ricchezza [. . .] compare come alternativa logica alla difficile via di Amore“ (Vanossi, La teologia poetica nel Detto, S. 45). 142 Il Fiore e Il Detto d’Amore, hrsg. v. Marchiori, Kommentar zu Fiore LXXI, 1, S. 142. 143 Casciani/Kleinhenz übersetzen „Faint Heart“ (The Fiore and the Detto d’Amore, hrsg. v. Casciani/Kleinhenz, S. 529 Anm. 24). Marchiori gibt in seinem Kommentar zu dieser Stelle an, Cuor Fallito sei der Ehemann („il marito“) der Povertà (cf. Il Fiore e Il Detto d’Amore, hrsg. v. Marchiori, S. 435 Komm. zu V. 325); dies muß jedoch eine Verwechslung sein, da im Text eindeutig von Figlia die Rede ist. 144 Als Verb kommt imbolare im Fiore ebenfalls einmal vor: ched i’ pensava d’imbolarle il fiore (CCIV, 12).
2. Il Detto d’Amore
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glienza ja gerade empfiehlt, von ihrem Liebhaber kostbare Gaben anzunehmen und sich seine Großzügigkeit zunutze zu machen – auch hier wird wieder, wie eben erwähnt, die Ironie deutlich. Parallel zur Beschreibung der Dame im ersten Teil des Detto d’Amore (167– 270) stehen im zweiten schließlich die „comandamenti finali, in cui Amore è visto nella sua azione di abbellimento dei costumi“145 (V. 363–480). Allerdings spricht der Liebesgott hier nicht selbst, sondern der amante resümiert seine Anweisungen. Zunächst erteilt er Ragione und Ricchezza erneut eine Absage (370– 379) und stellt noch einmal ganz klar fest, daß Amor eine völlige Unterwerfung mit Leib und Seele verlangt (384 f.): Amor vuol questi doni: Corpo e avere e anima;
Die eigentlichen comandamenti des Liebesgottes beginnen in Vers 397, wo der Liebende aufzählt, was Amor von seinen Dienern verlangt; beispielsweise sollen sie von Stolz frei sein: D’orgoglio vuol sie vòto (V. 398). Statt dessen fordert er ritterliche bzw. höfische Tugenden (V. 403 f.): Cortese e franco e pro’ Convien che sie [. . .].
Um ein elegantes Äußeres, schöne Kleidung (Belle robe, [. . .] fresche e novelle, V. 427–429) sowie neue Schuhe und Strümpfe (Nove scarpette e calze, V. 437) sollte man sich ebenfalls bemühen. Kurz vor Ende des Werkes146 kommt der Dichter auf den aus dem Rosenroman und dem Fiore bekannten Amico zu sprechen. Auch hier gibt er den Verliebten den Ratschlag, sich einen guten und treuen Freund zu suchen, bei dem er sich aussprechen kann, und der sich ihm ganz und gar zur Verfügung stellt (V. 459–465)147: Mi’ detto ancor non fino, Ché d’un amico fino Chieder convien ti membri, Che metta cuor e membri Per te, se tti bisogna, E ’n ogne tua bisogna Ti sia fedele e giusto. 145
Vanossi, Il Detto d’Amore, in: ED, vol. 2, S. 394. Da der Detto kurz nach der Empfehlung, sich einen Vertrauten zu suchen, mit V. 480 unvollendet abbricht, ist das Ende unklar und nahezu unmöglich zu interpretieren (cf. The Fiore and the Detto d’Amore, hrsg. v. Casciani/Kleinhenz, S. 539, Anm. 31 und 33). 147 Das Motiv des amico fine wird auch bei Brunetto Latini thematisiert, z. B. im Favolello (V. 117–122 und 160) und im Tesoretto (Al fino amico caro; V. 2427; beide in: B. Latini, Il tesoretto, in: Poemetti del Duecento, hrsg. v. G. Petronio, Turin 1967), wie Vanossi hervorhebt (Vanossi, La teologia poetica nel Detto d’Amore dantesco, S. 14). 146
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V. Dante und die allegoria dei poeti
c) Das allegorische Schema des Detto d’Amore Wie aus diesem Inhaltsüberblick ersichtlich wird, ist das allegorische Programm des Detto gewissermaßen auf ein Minimum reduziert: Es treten zwar noch einige Personifikationen auf, allen voran natürlich der Gott Amor und der amante, darüber hinaus Ragione und Ricchezza, Gelosia und Venus.148 Aber die Handlung ist im Detto dennoch stark eingeschränkt, da der Hauptakzent auf der Darstellung des Liebessystems liegt, welche vor allem in Monologen des liebenden Ich-Erzählers und in Dialogen desselben mit Amor bzw. mit den genannten Allegorien erfolgt. Der Liebesgott nimmt im Detto d’Amore eine zentrale Stellung ein; um ihn herum wird eine Art religiöser Kult149 mit „concetti e immagini religiose“150 inszeniert. Dieses Konzept greift einerseits Elemente aus dem System der höfischen Liebe auf, wie es bereits bei Guillaume de Lorris dargestellt wurde151, andererseits weist es voraus auf den Dolce Stil Novo. Denn Amor wird als Gott dargestellt, an den der Liebende zu glauben hat, wie beispielweise im bereits zitierten Vers 111 zum Ausdruck kommt: Lo dio dov’hai credenza. Als formale Ausprägung der Anbetung Amors sieht Vanossi den kunstvollen Gebrauch des homonymen Reimes: „l’equivocazione ci appare come un vivente atto di adorazione di Amore“.152 Beim Detto handelt es sich also nicht mehr um eine allegorisch eingekleidete Liebesgeschichte, in der – wie im Roman de la Rose und im Fiore – die „Eroberung“ der Rose bzw. der Blume erzählt wird, sondern es bleibt nur die Darstellung einer Liebeslehre: „Non più storia di una conquista, il Detto si pone [. . .] come esempio di perfezionamento nel servizio amoroso“.153 Tatsächlich kommt die Rose bzw. Blume im Detto gar nicht vor; auch die Figur des Bel Acueil oder der Bellacoglienza hat der Verfasser weggelassen.154 Statt dessen steht die Herrin selbst im Vordergrund; vor allem in den Versen 167–270, also genau in der Mitte des Gedichts, wo ihre Schönheit ausführlich beschrieben und gerühmt wird: „Nel Detto la figura femminile viene reintegrata nella sua essenza: una minuta descrizione di essa, membro per membro, è incastonata
148 Alle weiteren, sowie Povertà, Folle-Larghezza, Cuor Fallito und Imbolar etc. werden nur in der Rede der Ricchezza genannt. 149 Cf. Vanossi, La teologia poetica nel Detto, S. 39: „religione d’Amore“. 150 Cf. ibd., S. 17. 151 In der Tat hebt Vanossi hervor, daß der Verfasser des Detto mehr auf die „mitologia cortese“ des Guillaume de Lorris als auf den „spregiudicato realismo“ von Jean de Meun Bezug nimmt (ibd., S. 2). 152 Vanossi, La teologia poetica nel Detto, S. 35 f.; cf. auch ibd. S. 4. 153 Vanossi, La teologia poetica nel Detto, S. 3. 154 Cf. hierzu Benedetto, Il „Roman de la Rose“ e la letteratura italiana, S. 109.
2. Il Detto d’Amore
141
proprio al centro del poemetto.“155 Die Allegorie tritt also im Vergleich zum Rosenroman und zum Fiore sehr in den Hintergrund zugunsten einer größeren Hervorhebung der Liebeslehre mit weniger bildlichen Darstellungen. Durch diese starke Verkürzung entsteht der Eindruck, daß der Autor seinen Lesern die Assoziationen mit dem Rosenroman selbst überlassen wollte. Die Vertrautheit mit diesem konnte er offensichtlich bei ihnen voraussetzen, ruft er das französische Original doch oftmals durch seine Anspielungen nur kurz auf, ohne lange auf den Inhalt oder den Kontext einzugehen. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Im Rosenroman wird ausführlich erzählt, wie Richece den amant daran hindert, die Festung zu betreten, die von Jalousie erbaut wurde (RR 10050–10284). Im Detto dagegen heißt es nur: Ricchezza guarda il passo (V. 282). Berichtet wird also lediglich, daß sie den Zutritt verweigert; es wird nicht einmal erklärt, wohin. Diese Information muß der Leser selbst ergänzen – eben aus seiner Vertrautheit mit dem Original. Ebenso knapp wird auf den Krieg zwischen Venus und Gelosia angespielt, der im Rosenroman einen großen Teil der Handlung einnimmt. Denn im ersten Teil wird auf Betreiben der Jalosie die Festung gebaut, um die Rose einzumauern (3601–3637; 3797–4058). Im zweiten Teil sind die Kämpfe um eben diese Burg eines der Hauptthemen (so etwa RR 14816–15658); der Eingriff der Venus erfolgt in 20711–20792. Im Detto wird dagegen dieses ganze Szenario von der Eroberung der Festung bei Jean de Meun mit nur einer kurzen Anspielung evoziert (V. 300 f.): Se fai che Veno imprenda La guerr’a Gelosia,
Während sich Il Fiore also recht eng an das französische Original anlehnt und mit wenigen Abweichungen die Geschichte des Rosenromans nacherzählt, wenn auch in stark verkürzter Form, ist im Detto d’Amore wenig von der Handlung des Roman de la Rose übrig geblieben. Jedoch geht auch die im Detto im Vordergrund stehende Liebeslehre in ihren Grundzügen auf den Roman de la Rose zurück. Beide Werke sind somit von der profanen allegoria dei poeti durchdrungen. Diese kommt jedoch im Fiore stärker zum Ausdruck, eben weil die Handlung ausgeprägter ist. Denn die allegoria dei poeti definiert sich ja gerade dadurch, daß sich eine Wahrheit hinter einer Erzählung verbirgt. Da es sich beim Detto d’Amore jedoch weniger um eine Erzählung als vielmehr eine theoretische Darlegung der höfischen Liebe in dichterischer Form handelt, konnte der Verfasser die Allegorie nur begrenzt einsetzen. Wahrscheinlich hat er aus diesem Grund auch die Rosen- bzw. Blumenallegorie ganz eliminiert.
155
Vanossi, La teologia poetica nel Detto, S. 3.
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V. Dante und die allegoria dei poeti
Ganz anders verhält es sich nun mit der Vita Nova, mit der wir uns in den Kontext des Dolce Stil Novo begeben, steht doch hier zunächst die Personifikation des Amor im Zentrum.
VI. Vita Nova – auf dem Weg zur Resakralisierung der Allegorie 1. Il libro della memoria Mit der Vita Nova kehren wir zu den Werken Dantes zurück, deren Autorschaft unumstritten ist. Dennoch gibt es auch hier Spekulationen und offene Fragen: zum einen, was den Abfassungszeitraum und die sogenannte doppia redazione1 betrifft, zum anderen in bezug auf die Deutung. Mit letzterer werden wir uns im folgenden ausführlicher auseinanderzusetzen haben. Zunächst aber ist es nötig, sich mit den ersten beiden Punkten zu befassen. Die Vita Nova ist in Form des Prosimetrums2 geschrieben: Dante stellt hier eine Reihe seiner eigenen, teilweise viel früher entstandenen Gedichte zusammen und verbindet sie durch Prosateile, in denen die Sonette und Kanzonen aus ihrer jeweiligen Entstehungssituation heraus kommentiert werden. Es ergibt sich somit eine fortlaufende Erzählung der Geschichte seiner Liebe zu Beatrice, welche über deren Tod hinaus andauert. Bei der Konzeption des Prosimetrums hat Dante sich wohl u. a. an Boethius, De consolatione philosophiae orientiert.3 Einige dieser Gedichte sind mit Sicherheit zu datieren, so etwa das erste Sonett A ciascun’alma presa e gentil core (VN 1, 21–234) auf 1283. Für Era venuta nella mente mia, das am Jahrestag von Beatrices Tod verfaßt wurde, ist das Jahr 1291 anzunehmen.5 Die Abfassung der Vita Nova selbst wird heutzutage von den meisten auf einen Zeitraum zwischen 1292 und 1295 angesetzt6:
1
Dante Alighieri, Vita Nova, hrsg. v. Gorni, Torino 1996, Einleitung, S. XX. Es handelt sich sogar um das erste Prosimetrum in italienischer Sprache (cf. G. Regn, „Allegorice pro laurea corona“: Dante, Petrarca und die Konstitution postmittelalterlicher Dichtungsallegorie, in: Romanistisches Jahrbuch, 51 (2000), S. 128–152, hier S. 132). 3 Nach St. Carrai, Dante elegiaco. Una chiave di lettura per la Vita nova, Florenz 2006, S. 14–17; cf. auch M. Picone, La Vita Nova come prosimetrum, in: ders., Percorsi di lirica duecentesca. Dai Siciliani alla Vita Nova, Florenz 2003, S. 237–248, v. a. S. 238–241 sowie R. Hollander, Dante. A Life in Works, New Haven/London 2001, S. 13. 4 Der Text wird zitiert nach: Dante Alighieri, Vita Nova, hrsg. v. G. Gorni, Torino 1996. 5 M. Pazzaglia, Vita Nuova, in: ED, vol. 5, S. 1086–1096, hier S. 1087. 6 Hollander, Dante, S. 14. 2
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VI. Vita Nova – auf dem Weg zur Resakralisierung der Allegorie
Während Barbi7 eher zu 1292 oder 1293 tendiert, spricht Gorni sich für eine „data intorno al 1294, anno più, anno meno“8 aus. Einige Gelehrte, z. B. Luigi Pietrobono9 und Bruno Nardi10 haben die Hypothese einer „doppia redazione“11 aufgebracht, d. h. Dante hätte angeblich sein Werk zunächst mit der Donna Gentile-Episode abgeschlossen und die letzten Kapitel (Kap. 28–31 in der Ausgabe von Gorni) erst später hinzugefügt, um Widersprüche zwischen Vita Nova und Convivio zu beseitigen. So verlegt Pietrobono die „prima redazione“ der Vita Nova auf 1293–1294; die zweite, heutzutage bekannte Version sei erst nach dem Convivio entstanden.12 Dagegen wandte Michele Barbi bereits 1933 ein, daß in den Handschriften keinerlei Hinweise darauf überliefert sind.13 Heutzutage hat man daher von dieser Annahme wieder Abstand genommen, zumal seitdem Gorni in seiner Ausgabe von 1996 die wohl ursprüngliche Einteilung in 31 Paragraphen rekonstruiert hat, aus der sich die einheitliche Komposition des Werkes erkennen läßt.14 Die bis dahin gängige Gliederung in 42 Kapitel geht zurück auf das 19. Jahrhundert15 und wurde von Barbi und De Robertis16 beibehalten, um zwei wichtige Herausgeber zu nennen. Konzipiert ist das Prosimetrum als Buch, das Dante selbst als „Schreiber“ aus dem „Buch seiner Erinnerung“ gewissermaßen „kopiert“, wie es gleich zu Beginn im Proöm heißt (VN 1, 1): In quella parte del libro della mia memoria dinanzi alla quale poco si potrebbe leggere, si trova una rubrica la quale dice: Incipit Vita Nova. Sotto la quale rubrica io trovo scripte le parole le quali è mio intendimento d’asemplare in questo libello, e se non tutte, almeno la loro sentenzia.
Gleich zu Anfang wird also deutlich, daß in der Vita Nova mehrere Sinnschichten auszumachen sind. Die parole, die Dante in dem libello wiedergeben (asemplare) möchte, entstammen einmal seiner Erinnerung: Das Wort memoria gehört zu den Grundbegriffen des Dolce Stil Novo und wird häufig bedeutungs7 M. Barbi, Dante. Vita Opere e Fortuna. Con due saggi su Francesca e Farinata, Florenz 1952, S. 43. Siehe auch Pazzaglia, Vita Nuova, in: ED, vol. 5, S. 1087. 8 Vita Nova, hrsg. v. Gorni, Einleitung, S. XX. 9 L. Pietrobono, Intorno alla data delle opere minori, in: ders., Nuovi Saggi Danteschi, Turin 1954, S. 13–35, v. a. S. 16 f. Siehe auch ders., Il rifacimento della „Vita Nuova“ e le due fasi del pensiero dantesco, Florenz 1934, v. a. S. 22–26. 10 Bruno Nardi, Dalla prima alla seconda „Vita nuova“, in: ders., Nel mondo di Dante, Rom 1944, S. 1–20. 11 Vita Nova, hrsg. v. Gorni, Einleitung, S. XX. 12 Pietrobono, Intorno alla data delle opere minori, S. 17. 13 M. Barbi, Razionalismo e misticismo in Dante, in: Studi danteschi, 17 (1933), S. 5–44, hier S. 9 f. Cf. auch Vita Nova, hrsg. v. Gorni, Einleitung, S. XX. 14 Cf. auch Hollander, Dante, S. 22 f. 15 Nach Vita Nova, hrsg. v. Gorni, Einleitung, S. XXI f. 16 Dante Alighieri, Vita Nuova, hrsg. v. D. De Robertis, in: ders., Opere Minori, I, I, hrsg. v. D. De Robertis/G. Contini, S. 3–247.
1. Il libro della memoria
145
gleich mit mente verwendet17. Zum anderen fließt der Text der Vita Nova im konkreten Sinn aus seiner Feder, hat er doch die Gedichte selbst verfaßt. Zu diesen tritt der Prosakommentar hinzu, der explizit die Gedichte erläutert und sie vor allem nach dem mittelalterlichen Prinzip der Texterklärung einteilt: „La divisione del testo secondo porzioni contenutistiche omogenee è il primo degli esercizi interpretativi praticati dai commentatori antichi e medievali“.18 Die Prosateile, die die Ereignisse der Geschichte berichten, „sind zu den Gedichten in ein Verhältnis der Nachträglichkeit gebracht“.19 Dante bezeichnet sie zur Unterscheidung von den divisioni als ragioni (z. B. in VN 24, 4: tutto ciò che narrato è in questa ragione; cf. auch VN 9, 11) und greift damit auf die provenzalische Tradition zurück: Als razos wurden in den Handschriften Erklärungen bezeichnet, die „biographische (oder angeblich biographische) Anlässe“ für die Troubadourgedichte mitteilten.20 Den Unterschied markiert Dante selbst im Anschluß an das gabbo-Sonett (Con l’altre donne mia vista gabbate; VN 7, 11–12), wo er darauf hinweist, daß keine divisione nötig sei, da der Anlaß des Gedichtes in der vorhergehenden ragione genügend erklärt wurde (VN 7, 13): Questo sonetto non divido in parti, però che la divisione non si fa se non per aprire la sententia della cosa divisa; onde con ciò sia cosa che per la sua ragionata cagione assai sia manifesto, non à mestiere di divisione.
Dante macht zudem hier deutlich, daß die Einteilung dazu diene, den Sinn zu öffnen (per aprire la sententia della cosa divisa).21 Damit wird den Gedichten der Vita Nova die Notwendigkeit einer Sinndeutung zuerkannt. Hinzu kommen in den Prosateilen noch gewisse „Exkurse“, beispielsweise über die Wirkungen von Beatrices Gruß in VN 5, 3–7 (E uscendo alquanto del proposito presente, voglio dare a intendere quello che lo suo salutare in me virtuosamente operava; VN 5, 3). Auch der Abschluß des Exkurses ist im Text klar markiert: Ora tornando al proposito [. . .] (VN 5, 8).22 17 Zu den Begriffen memoria und mente s. Friedrich, Epochen S. 104–106; cf. auch die Bezeichnung für Beatrice in VN 1, 2: la gloriosa donna della mia mente. 18 Dante Alighieri, Vita Nova, hrsg. v. L. C. Rossi, Mailand 1999, S. 20 zu VN 1, 24; cf. auch Carrai, Dante elegiaco, S. 82. 19 G. Regn, Dantes Beatrice und die Poetik des Heils, in: A. Schneider/M. Neumann (Hrsg.), Mythen Europas. Schlüsselfiguren der Imagination. Zwischen Mittelalter und Neuzeit, Regensburg 2005, S. 129–143, hier S. 136. 20 Friedrich, Epochen S. 93; siehe auch Carrai, Dante elegiaco, S. 16 sowie Hollander, Dante, S. 14. 21 Cf. hierzu auch S. Botterill, „Però che la divisione non si fa se non per aprire la sentenzia de la cosa divisa“ (V. N., XIV, 13): the „Vita Nuova“ as commentary, in: V. Moleta (Hrsg.), La gloriosa donna de la mente. A commentary on the Vita Nuova, Florenz 1944, S. 61–76. 22 Cf. K. W. Hempfer, Allegorie und Erzählstruktur in Dantes Vita Nuova, in: Deutsches Dante-Jahrbuch, 57 (1982), S. 7–39, hier S. 26 f.
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VI. Vita Nova – auf dem Weg zur Resakralisierung der Allegorie
Die Gedichte der Vita Nova enthalten also neben ihrem wörtlichen Sinn zugleich eine allegorische Bedeutung, die – so könnte man wohl verkürzt sagen – auf die Entwicklung von Dantes Liebe zu Beatrice verweisen, während auf der Buchstabenebene einzelne Szenen oder Stationen im Verlauf dieser Liebesgeschichte erzählt werden. So kann man den Dante der Vita Nova in einer dreifachen Funktion sehen: einmal als „Schreiber“, der aus dem libro della memoria „abschreibt“23, zum anderen als Protagonisten der Handlung sowie als den Verfasser der Gedichte24 und schließlich als Auto-Kommentator: „For here and there the scribe has added to that orginal text, and his additions are glosses“.25 Der Titel Vita Nova bezeichnet übrigens nicht nur „Jugend“, sondern auch eine geistige Erneuerung bzw. Veredelung des Lebens durch die Liebe.26
2. „Il Libro del Nove“ – die Struktur der Vita Nova Die Wiederherstellung der 31 Einheiten27, so Gorni in seiner Einleitung, führt die symmetrische Gliederung des Textes klar vor Augen.28 Dieser läßt sich somit einteilen in drei Neunergruppen (novene) plus eine Vierergruppe. Die ersten 9 Paragraphen beinhalten „testi più convenzionali“29, während die Kapitel 10–18 den sogenannten stilo della loda30 zum Thema haben. Diese beiden ersten novene, in denen jeweils 10 Gedichte angeordnet sind, bilden den ersten Teil, der zu Beatrices Lebzeiten stattfindet (VN 1–18). Der Tod der Ge23 Cf. C. S. Singleton, An Essay on the Vita Nuova, Baltimore/London 1949, repr. 1977, S. 27 f. und S. 32 sowie J. Took, Dante. Lyric Poet and Philosopher. An Introduction to the Minor Works, Oxford 1990, S. 45. 24 „Dante gibt vor zu erzählen, was er selbst erlebt hat.“ (Regn, Dantes Beatrice, S. 136). 25 Singleton, An Essay on the Vita Nuova, S. 34. Cf. auch M. Picone, Rito e narratio nella Vita Nuova, in: Miscellanea di Studi in Onore di V. Branca, Bd. I, S. 141– 157, hier S. 142. 26 Pazzaglia, Vita Nuova, in: ED, vol. 5, S. 1088; siehe auch Friedrich, Epochen, S. 53 und S. 94, Hollander, Dante, S. 30 f. sowie Gorni, Vita Nova, Libro delle „Amistadi“ e della „prima etade“, in: ders., Dante prima della Commedia, S. 133–147, v. a. S. 133. 27 „La restituzione al testo dei suoi originari paragrafi, che è la novità più evidente di questa stampa, consente d’individuare trentuno unità coerenti: tante quante il numero dei componimenti poetici, pur con qualche sfasatura, dato che tre paragrafi ospitano due poesie (3, 13, 17) e altri tre nessuna (16, 19, 31), di modo che alla fine i conti tornano alla perfezione.“ (Vita Nova, hrsg. v. Gorni, Einleitung, S. XXII). 28 Cf. auch G. Gorni, „Paragrafi“ e titolo della Vita Nova, in: ders., Dante prima della Commedia, S. 111–132, v. a. S. 127 f. 29 Vita Nova, hrsg. v. Gorni, Einleitung, S. XXII. 30 lo stilo della sua loda (VN 17, 4).
1. Il libro della memoria
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liebten, die Trauer darüber sowie der Trost durch die donna gentile sind Inhalt der dritten Neunergruppe (19–27). Die abschließenden vier Paragraphen (28–31) führen den Dichter wieder zu Beatrice zurück und klingen aus mit dem Vorhaben, über Beatrice zu sagen quello che mai non fue detto d’alcuna (31, 2), also mit der indirekten Ankündigung der Divina Commedia. Gorni führt somit den Beweis, daß die Vita Nova „proprio il libro del nove“31 ist, spielt doch die Zahl Neun eine entscheidende Rolle in der Zahlensymbolik des ganzen Werkes.32 Auch die Gesamtanzahl der Gedichte, nämlich 31, ist symbolisch; verweisen doch die Zahlen tre e uno auf die Dreifaltigkeit, wie Dante selbst in VN 19, 6 ausführt.33 Weitere Strukturelemente ergeben sich durch die Anordnung der Gedichte. So entfallen auf den ersten Teil (VN 1–9) 10 Gedichte, davon 9 Sonette und 1 Ballade (VN 5, 17–22), auf den zweiten (VN 10–18) ebenfalls 10 Gedichte, davon 2 lange canzoni (VN 10, 15–25 und VN 14, 17–28), 7 Sonette und eine Kanzonenstrophe (VN 18, 3–5). Teil drei (VN 19–27) enthält eine lange canzone (VN 20, 8–17), eine doppelte Kanzonenstrophe (VN 22, 5–8) und 6 Sonette, der Schlußteil (VN 28–31) noch einmal drei Sonette. Wenn man die canzoni von den „componimenti minori“34 unterscheidet, ergibt sich folgende symmetrische Anordnung (die römischen Zahlen bezeichnen die canzoni, die arabischen die kürzeren Gedichte): 10; I; 4-II-4; III; 10.35 Singleton geht jedoch gleich darauf noch einen Schritt weiter, indem er die Zahlensymbolik der Neun einbezieht und das erste sowie das letzte Sonett als Prolog36 bzw. Epilog abtrennt. So gelangt er zur folgenden Parallelstruktur: 1, 9; I; 4-II-4; III; 9, 1. Da der mittlere Teil, die canzone II eingerechnet, genau 9 Gedichte enthält, kommt Singleton abschließend zu einer Anordnung der metrischen Teile, die sich nur mit den Ziffern 1 und 9 ausdrücken läßt, nämlich 1; 9; 1; 9; 1; 9; 1, „since this way the mysterious number nine is more clearly seen to occur three 31
Vita Nova, hrsg. v. Gorni, Einleitung, S. XXIII. Einen guten Überblick über alle Stellen der Vita Nova, die für die Zahl Neun relevant sind, liefert Carrai, Dante elegiaco, S. 46–48. 33 Cf. Vita Nova, hrsg. v. Gorni, Einleitung, S. XXIII, Singleton, An Essay on the Vita Nuova, S. 78. 34 Pazzaglia, Vita Nuova, in: ED, vol. 5, S. 1088. 35 Diese Einteilung stammt von C. S. Singleton, An Essay on the Vita Nuova, S. 79; sie findet sich ansatzweise aber auch schon bei K. McKenzie, The symmetrical structure of Dante’s Vita Nuova, in: Publications of the Modern Language Association of America, XVIII, 3 (1903), S. 341–355 (= n. s. XI, 3), hier S. 345. Cf. auch Picone, La Vita Nova come Macrotesto, in: ders., Percorsi, S. 219–235, hier S. 228 und Hollander, Dante, S. 31. 36 Der Autor verweist hier auf die Parallele zum Inferno, wo der erste canto ebenfalls „as an introductory one“ gerechnet wird (Singleton, An Essay on the Vita Nuova, S. 79). 32
148
VI. Vita Nova – auf dem Weg zur Resakralisierung der Allegorie
times“.37 Diese Gliederung erscheint jedoch nicht ganz logisch, da die mittlere canzone (hier Nr. II) einbezogen ist, die beiden anderen (Nr. I und III) dagegen nicht. Festzuhalten bleibt allerdings, daß die metrischen Teile der Vita Nova nach einem gewissen Schema und nicht willkürlich angeordnet sind. Auf jeden Fall wird hieraus ersichtlich, daß alle drei langen canzoni der Vita Nova einen besonderen Stellenwert haben. Die erste, Donne ch’avete intellecto d’amore (VN 10, 15–25), steht gewissermaßen an der Schwelle zwischen dem ersten und dem zweiten Teil, also an der Stelle, wo Dante von seinem eigenen Gefühlszustand zum Lob Beatrices übergeht. Die zweite, Donna pietosa e di novella etate (VN 14, 17–28), gibt die ymaginatione von Beatrices Tod wieder, die Dante am 9. Tag einer Krankheit überfällt (VN 14, 2–3), und nimmt ihr tatsächliches Sterben in Kapitel 19 prophetisch vorweg. Dieser Paragraph enthält keinen eigenen metrischen Teil. Statt dessen nimmt Dante Beatrices Scheiden (partita da noi; VN 19, 2) zum Anlaß für einen Exkurs über die Zahl Neun. Das unmittelbar folgende Kapitel enthält nun die dritte Kanzone Gli occhi dolenti per pietà del core (VN 20, 8–17), in der Dante seiner Trauer erstmals Ausdruck verleiht. Damit ist dieses Gedicht auch das erste des dritten Teiles.38 Betrachtet man erneut das obige Schema, so ist erkennbar, daß die lyrischen Teile der Vita Nova auf die Kanzone Donna pietosa e di novella etate (VN 14, 17–28) hin angeordnet sind. Dieses mittlere der drei langen Gedichte, das die Vision von Beatrices Tod zum Thema hat, ist genau in der Mitte aller metrischen Teile der Vita Nova plaziert.39 Die drei canzoni der Vita Nova lassen sich zugleich auch als Markierungen für eine Dreiteilung betrachten, welche sich aus der Thematik der jeweiligen Gedichtgruppe ergibt.40 So gibt Singleton, der die Einteilung von Gorni noch nicht kannte, den drei Teilen folgende Titel: „I. The effects of love on the poet. II. In praise of his lady. III. After the death of his lady.“41 Er hebt dabei hervor, daß der dritte Abschnitt die Thematiken der beiden ersten in sich vereint und diese überhöht („transcends“42). Das „neue Leben“ des Dichters bestehe also demnach aus drei Phasen.43 Während er in der ersten Phase noch vorwiegend mit sich selbst be-
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Singleton, An Essay on the Vita Nuova, S. 79. Cf. auch Singleton, An Essay on the Vita Nuova, S. 86. 39 Cf. Singleton, An Essay on the Vita Nuova, S. 6 f. 40 Pazzaglia, Vita Nuova, in: ED, vol. 5, S. 1088; cf. auch Carrai, Dante elegiaco, S. 90 f. 41 Singleton, An Essay on the Vita Nuova, S. 87; cf. auch Picone, La Vita Nova come Macrotesto, S. 228–230, Hollander, Dante, S. 19 und G. di Pino, Aspetti della „Vita Nuova“ [sic] di Dante, Messina 1965, S. 9 f. 42 Singleton, An Essay on the Vita Nuova, S. 87. 43 Ibd., S. 80. 38
3. Ecce Deus fortior me – die Darstellung Amors
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schäftigt ist, genügt ihm dies in der zweiten nicht mehr: Seine Herrin rückt in den Vordergrund, denn es bedeutet nunmehr seine Seligkeit, ihr Lob zu singen. Nachdem Beatrice gestorben ist, erscheint es nur natürlich, daß der Dichter sich zunächst wieder mit seinem Zustand beschäftigt, muß er doch seine Trauer disfogare (VN 20, 1+8). Nach dem Intermezzo mit der donna gentile jedoch wendet er sich wieder ganz Beatrice zu: Seine Liebe zu ihr hat nun gewissermaßen eine transzendente Dimension erhalten, da seine Gedanken sie in der Ewigkeit suchen. So beginnt das letzte Sonett der Vita Nova mit den Versen Oltre la spera che più larga gira / passa ’l sospiro ch’esce del mio core (VN 30, 10). Diese drei „stages in love“44 sollen uns noch näher beschäftigen, lassen sich doch an ihnen die Entwicklung und die Spiritualisierung der Liebe aufzeigen. Denn nicht nur das wunderbare Wesen Beatrices wird nach und nach enthüllt, sondern in den drei Stadien wird auch verdeutlicht, daß die Liebeskonzeption der Vita Nova selbst einer Transformation unterzogen wird, und die Liebe stufenweise nach oben strebt.45
3. Ecce Deus fortior me – die Darstellung Amors a) Die „Besitzergreifung“ Um auf die Frage nach der Allegorie in der Vita Nova zurückzukommen, werden wir nun die Darstellung Amors als Personifikation im ersten Teil des libello betrachten. Exemplarisch soll dafür das erste Kapitel mit dem ersten Sonett A ciascun’alma presa e gentil core eingehend untersucht werden. Zu Beginn seines libello schildert Dante, wie er bei der ersten Begegnung mit Beatrice im Alter von neun Jahren von Amor „in Besitz“ genommen wird, noch bevor dieser selbst in Erscheinung tritt. Der Dichter inszeniert diese Besitzergreifung gleichsam wie eine kleine allegorische „Zeremonie“, in der die drei spiriti in seinem Inneren, die die verschiedenen Körperfunktionen repräsentieren, jeweils einen feierlichen lateinischen Satz sprechen.46 Gemeint sind die auf Platon zurückgehenden drei Seelenbereiche mit Sitz im Herzen (spirito della vita), im Gehirn (spirito animale) und im Magen bzw. in der Leber (spi44
Ibd., S. 87 et passim. Ibd., S. 56. 46 Zum Latein der drei spiriti siehe L. Spitzer, Osservazioni sulla Vita Nuova di Dante [1937], in: ders., Studi italiani, hrsg. v. C. Scarpati, Mailand 1976, S. 95–146, bes. Kap. 3: „Il latino delle tre forze dello spirito“, S. 107–109. Das deutsche Original (L. Spitzer, Bemerkungen zu Dantes „Vita Nuova“, in: Publications de la Faculté des Lettres de l’université d’Istanbul II, Travaux du Séminaire de Philologie Romane, 1 (1937), S. 162–294) war mir leider nicht zugänglich. 45
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VI. Vita Nova – auf dem Weg zur Resakralisierung der Allegorie
rito naturale).47 Unterstrichen wird die Feierlichkeit des Momentes durch eine dreifache Parallelkonstruktion mit dreimaliger Anapher, denn jeder dieser Sätze wird mit In quel puncto eingeleitet, und darauf folgt jedesmal die Angabe des „Aufenthaltsortes“ des entsprechenden spirito: In quel puncto lo spirito [. . .] lo quale dimora in [. . .] (VN 1, 5–7). Jeder dieser drei spiriti spricht eine Prophezeiung aus, die sich auf Dantes Liebe zu Beatrice bezieht. So kündigt der erste, der spirito della vita, das Herannahen Amors mit den Worten an: „Ecce Deus fortior me, qui veniens dominabitur michi!“ (VN 1, 5). Der zweite, der spirito animale, spricht vor allem zu den spiriti del viso, d. h. zum „Gesichtssinn“48: „Apparauit iam beatitudo vestra!“ (VN 1, 6) und bezieht sich damit vor allem auf die Bedeutung des Namens Beatrice, die beatitudo bringt. Der dritte schließlich, der spirito naturale, sieht voraus, daß er aufgrund der Liebeskrankheit bzw. -schwäche Dantes künftig häufig in seinen Funktionen behindert werden wird: „Heu miser, quia frequenter impeditus ero deinceps!“ (VN 1, 7).49 Noch bevor also Amor als Person selbst die Szene betritt, wird er schon im Voraus von den ebenfalls personifizierten spiriti angekündigt. Möglicherweise hat Dante sich bei deren Gestaltung am Roman de la Rose orientiert, wo ja die Gemütszustände der Dame – ähnlich wie eben hier die spiriti – als Personifikationsallegorien ein Eigenleben entwickeln. Ihren Ursprung haben diese Lebensgeister allerdings in der mittelalterlichen pneuma-Lehre, die wohl auf Aristoteles zurückgeht. Es handelt sich beim pneuma um die Vorstellung eines „soffio caldo che trae origine dalle esalazioni del sangue“.50 Vor allem der spirito della vita erkennt Amor als große Macht, als einen Gott, der stärker ist als er (Deus fortior me). Die biblischen Anklänge sind hier unverkennbar: So kann man beispielsweise an Ecce Dominus Deus in fortitudine veniet, et brachium eius dominabitur (Jes. 40, 10), vor allem aber an veniet autem fortior me (Lk. 3, 16) denken.51 Besonders die letztere Stelle, in der Johannes der Täufer Christus ankündigt, ist in der Vita Nova von Bedeutung, wird doch das Verhältnis Johannes–Christus in der Szene mit Giovanna als Vor-
47 [. . .] lo spirito naturale, lo quale dimora in quella parte ove si ministra lo nutrimento nostro [. . .] (VN 1, 7). Cf. Platon, Timaios, 69c–72d (Platon, Timaios, in: Werke in acht Bänden, gr. u. dt., hrsg. v. G. Eigler nach der Übers. v. F. Schleiermacher, Bd. VII, Darmstadt 1972, S. 144–153). 48 W. Wehle, Dichtung über Dichtung. Dante Vita Nuova: die Aufhebung des Minnesangs im Epos, München 1986, S. 84. 49 Carrai weist daraufhin, daß Dante sich hier möglicherweise von Boethius beeinflussen ließ: Eheu quae miseros tramite devios/abducit ignorantia (Cons. 3, 8; nach Carrai, Dante elegiaco, S. 33). 50 Agamben, Stanze, S. 107; cf. auch S. 105–120. 51 Vita Nova, hrsg. v. Gorni, S. 9 zu VN 1, 5; cf. auch Vita Nuova, hrsg. v. De Robertis, S. 31 zu VN II, 4.
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läuferin Beatrices (Kap. 15) wieder aufgerufen. Auch der zweite Ausspruch Apparauit iam beatitudo vestra erinnert an Stellen aus der Schrift, beispielsweise an Apparuit enim gratia Dei salvatoris nostri (Tit. 2, 11).52 Die Tatsache, daß die spiriti Latein sprechen, unterstreicht die Feierlichkeit und Erhabenheit des Augenblicks und verleiht ihren Worten universelle Gültigkeit. „Il latino [. . .] se ha valore di solennità formulare, e rappresenterà l’eterno linguaggio della passione, è ad ogni modo la lingua della scienza che aveva individuato questi spiriti, e nella quale essi avevan vita [. . .].“53 Ebenso wird auch Amor selbst in bestimmten besonderen Momenten mit Dante Latein sprechen, z. B. Ego Dominus tuus (VN 1, 14), Vide cor tuum (VN 1, 16). Der Gott Amor wird von nun an über Dantes Seele herrschen, wie mit dominabitur (VN 1, 5) angekündigt und im folgenden durch segnoreggiò (VN 1, 8) und comandava (VN 1, 9) wieder aufgenommen wird. Denn im Anschluß an die kleine Szene mit den drei spiriti stellt Dante zusammenfassend fest: D’allora innanzi, dico che Amore segnoreggiò la mia anima [. . .] (VN 1, 8). In Folge dieser Unterwerfung bereits im Knabenalter treibt der Liebesgott Dante häufig dazu, Beatrice zu suchen: Elli mi comandava molte volte che io cercassi per vedere questa angiola giovanissima (VN 1, 9). Das Verb comandare hebt besonders hervor, daß der Liebende unter Amors „Kommando“ steht. So hieß es beispielsweise auch im Rosenroman: Qu’Amors le me prie e comande (RR 31) und im Detto d’Amore: tal chente Amor comanda (Detto 61). Im Unterschied zum Fiore und zum Detto d’Amore, wo Amore und Ragione Kontrahenten sind, weist Dante hier explizit auf Beatrices virtù hin, die nicht zuläßt, daß Amor ihn ohne den Rat der Vernunft beherrscht: tuttavia era di sì nobilissima virtù, che nulla volta sofferse che Amore mi reggesse sanza lo fedele consiglio de la Ragione (VN 1, 10). Dies deutet bereits darauf hin, daß das Konzept der Liebe in der Vita Nova über das der höfischen Liebe hinausgehoben wird. Die ersten Kapitel des libello mit den Erscheinungen Amors sind allerdings noch im Kontext des Dolce Stil Novo anzusiedeln. b) Una maravigliosa visione – die erste Erscheinung Genau neun Jahre nach der ersten Begegnung, zur neunten Stunde des Tages läßt Beatrice dem Liebenden erstmals ihren Gruß zuteil werden. Dieser Gruß Beatrices und später ihre Verweigerung desselben ist eines der zentralen Geschehnisse der Vita Nova, von dem die Handlung wesentlich beeinflußt wird. 52 Vita Nuova, hrsg. v. De Robertis, S. 32 zu II, 6 (De Robertis hat die Einteilung in 42 Kapitel von Barbi übernommen). Siehe auch V. Branca, Poetica del Rinnovamento e Tradizione agiographica nella „Vita Nuova“, in: Studi in Onore di Italo Siciliano, Vol. I, Florenz 1966, S. 123–148, hier S. 127. 53 Vita Nuova, hrsg. v. De Robertis, S. 31 zu II, 5.
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VI. Vita Nova – auf dem Weg zur Resakralisierung der Allegorie
„Mit der Erinnerung an die grüßende Beatrice findet die Vita Nuova ihren eigentlichen Auftakt.“54 Dante ist daraufhin so von dolcezza erfüllt, daß er sich in die Abgeschiedenheit seines Zimmers zurückzieht, wo er in Ruhe an sie denken kann: ricorso al solingo luogo d’una mia camera, puosimi a pensare di questa cortesissima (VN 1, 13). Hier findet nun die erste Traumvision Amors statt (E pensando di lei, mi sopragiunse uno soave sonno, nel quale m’apparve una maravigliosa visione; VN 1, 14).55 Dante sieht in dieser Vision eine nebula di colore di fuoco, darin erkennt er die Figur Amors mit pauroso aspecto. Unter den vielen Worten, die Amor spricht, versteht Dante den Satz: Ego Dominus tuus (VN 1, 14). Der Liebesgott hält Beatrice schlafend in den Armen, sie ist nackt und in ein blutrotes Tuch eingehüllt (involta mi parea in un drappo sanguigno; VN 1, 15). Dante erkennt in ihr la donna della salute, la quale m’avea lo giorno dinanzi degnato di salutare (ibd.). Amor hält Dantes brennendes Herz in den Händen, er spricht zu ihm: Vide cor tuum! (VN 1, 16), dann weckt er Beatrice auf und läßt sie Dantes Herz essen, was sie dubitosamente tut. Das vor Liebe brennende Herz ist ein gängiges Motiv in der Liebesdichtung.56 Das Verspeisen desselben hat Dante aus der okzitanischen Tradition übernommen. Es ist ein Symbol für die „appropriazione delle virtù di cui era titolare la vittima“.57 Gorni weist noch darauf hin, daß das Aufwecken der Dame durch Amor ebenfalls eine allegorische Bedeutung haben kann: „Amore risveglia nella donna i sensi sopiti.“58 Anschließend wandelt sich Amors anfängliche Fröhlichkeit (letitia; VN 1, 14 und 18) in amarissimo pianto, er nimmt Beatrice wieder in die Arme und bewegt sich mit ihr gen Himmel (con essa mi parea che si ne gisse verso lo cielo; VN 1, 18). Daraufhin erwacht der Dichter und stellt fest, daß der Traum in der vierten Nachtstunde stattgefunden hat, also in der ersten der letzten neun Stunden der Nacht (la prima ora delle nove ultime ore de la nocte; VN 1, 19) – wieder ein Verweis auf die Zahl Neun, die die ganze Vita Nova durchzieht. Im Anschluß an diese Vision verfaßt er das erste Sonett der Sammlung, in dem er seine Freunde und Dichterkollegen, die fedeli d’Amore um Meinung bzw. ihre Interpretation dieser schwer zu deutenden Erscheinung bittet: [. . .] propuosi di fare uno sonetto, nel quale io salutasse tutti li fedeli d’Amore; e pregandoli che 54 R. Warning, Imitatio und Intertextualität. Zur Geschichte lyrischer Dekonstruktion der Amortheologie: Dante, Petrarca, Baudelaire, in: G. Regn/K. W. Hempfer (Hrsg.), Interpretation. Das Paradigma der europäischen Renaissance-Literatur. Festschrift für Alfred Noyer-Weidner zum 60. Geburtstag, S. 288–317, hier S. 292. 55 Mit visione bezeichnet Dante eine Erscheinung im Traum (cf. Vita Nuova, hrsg. v. De Robertis, S. 37 zu III, 3), während die im Wachzustand erlebten Erscheinungen ymaginazioni genannt werden. 56 Vita Nova, hrsg. v. Gorni, S. 19 zu VN 1, 16. 57 Ibd., S. 20 zu VN 1, 17; cf. auch Vita Nova, hrsg. v. Rossi, S. 17 zur selben Stelle. 58 Vita Nova, hrsg. v. Gorni, ibd.
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giudicassero la mia visione, scrissi a loro ciò che io avea nel mio sonno veduto (VN 1, 20). Mit fedeli d’Amore sind nach der „terminologia feudale e cortese“59 die „Vassallen“ Amors gemeint, d. h. die liebenden Dichter, die Amor untertan sind und im Dolce Stil Novo dichten. Einige Zeilen zuvor hatte Dante sie als trovatori (VN 1, 20) bezeichnet. Im Vergleich zu der Prosaerzählung, die Dante um einige Details bereichert hat, gibt das Sonett den Inhalt der Traumvision in kürzerer Form wieder (VN 1, 21–23): A ciascun’alma presa e gentil core nel cui cospecto ven lo dir presente, in ciò che mi riscriva ’n suo parvente, salute in lor segnor, cioè Amore. Già eran quasi che aterzate l’ore del tempo che omne stella n’è lucente, quando m’apparve Amor subitamente, cui essenza membrar mi dà orrore. Allegro mi sembrava Amor tenendo meo core in mano, e ne le braccia avea madonna involta in un drappo dormendo. Poi la svegliava, e d’esto core ardendo lei paventosa umilmente pascea. Apresso gir lo ne vedea piangendo.
Im ersten Quartett wendet sich Dante an die fedeli d’Amore, deren Seele von Amor „eingenommen“ ist (alma presa; V. 1). Das Motiv des edlen Herzens (gentil core; ibd.) ist ein Schlüsselbegriff der Stilnovisten und kommt auch häufig bei Guinizelli vor.60 In der Vita Nova wird es u. a. in Amore e ’l cor gentil sono una cosa (VN 11, 3) wieder aufgenommen, um nur ein Beispiel zu nennen. Alle diese Dichterkollegen, deren Herr Amor ist (lor segnor, cioè Amore; V. 4), bittet nun Dante um ihre Meinung (in ciò che mi riscriva ’n suo parvente; V. 3), bevor er die Vision beschreibt. Diese explizite Bitte um Deutung bzw. Entschlüsselung des allegorisch verhüllten Textes gleich im ersten Gedicht der Vita Nova ist eine zentrale Stelle, macht sie doch deutlich, daß eine solche Auslegung nötig ist. Hempfer deutet dieses Sonett daher als „mise en abyme der Textstruktur insgesamt [. . .], insofern eine bestimmte Situation der ,Geschichte‘, die Amor-Vision, so vermittelt wird, daß sie zugleich die für den Text insgesamt konstitutive Notwendigkeit der Relationierung eines literalen [sic] Sinns mit einer ,tieferen‘ Bedeutung illustriert.“61 In der Tat erhält Dante einige Ant59 Vita Nuova, hrsg. v. De Robertis, S. 40 zu III, 9. Cf. auch Gorni, Saggio di lettura zu VN 1, in: Vita Nova, hrsg. v. Gorni, S. 245. 60 Vita Nova, hrsg. v. Gorni, S. 23 zu Vers 1. 61 Hempfer, Allegorie und Erzählstruktur, S. 31 f. Zur mise en abyme cf. ders., Poststrukturale Thexttheorie und narrative Praxis. Tel quel und die Konstitution eines Nouveau Nouveau Roman, München 1976.
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wortsonette von seinen Dichterfreunden (A questo sonetto fu risposto da molti; VN 2, 1), unter anderem von seinem Freund Guido Cavalcanti, dem die Vita Nova gewidmet ist (VN 19, 10).62 Im zweiten Quartett beginnt nun die Beschreibung der Vision, wobei vor allem der Zeitpunkt hervorgehoben wird, der wieder einen Zusammenhang mit der Zahl Neun hat. In der Prosa wird dies explizit genannt (la prima delle nove ultime ore della nocte; VN 1, 19), während die Zeitangabe im Sonett umschrieben wird: Già eran quasi che aterzate l’ore / del tempo che omne stella n’è lucente. Dante widmet dieser Zeitangabe zwei Verse, was darauf hindeutet, daß ihm der Bezug zur Zahl Neun auch hier wichtig ist. Die nächsten zwei Verse informieren die Leser, daß die Erscheinung Amors plötzlich kam (subitamente, V. 7) und daß sie Dante noch in der Erinnerung mit Erschrecken erfüllt (cui essenza membrar mi dà orrore, V. 8). In den Terzetten wird nun der Inhalt der Vision erzählt: Amor ist zunächst fröhlich – während in der Prosa von letitia (VN 1, 14 und 18) die Rede gewesen war, steht im Sonett das Adjektiv allegro in exponierter Stellung am Versanfang, zu Beginn des ersten Terzettes (V. 9). Am Ende der Erscheinung wandelt sich jedoch die Fröhlichkeit des Gottes in Trauer: piangendo ist das letzte Wort des Sonettes und steht somit ebenfalls an exponierter Stellung, am Ende des letzten Verses (V. 14). Die Opposition allegro – piangendo umschließt die beiden Terzette gewissermaßen wie eine Klammer. Dazwischen spielt sich das eigentliche Geschehen der Vision ab, nämlich wie die schlafende Beatrice aufgeweckt wird und Dantes Herz ißt, wie Amor schließlich entschwindet. Daß Amor gemeinsam mit Beatrice in den Himmel schwebt, ist ein Detail, das erst in der Prosa hinzugefügt wurde (VN 1, 18). Im Gedicht wird es nicht erwähnt, und dies ist wohl auch der Grund, weshalb keines der Erwiderungsgedichte seitens Dantes Kollegen den wahren Sinn der Vision, nämlich den Tod Beatrices deuten kann.63 Die anfängliche letitia Amors kehrt in der ymaginazione von Kap. 15 wieder, wo es in der Prosa heißt (VN 15, 2): Allora dico che mi giunse una ymaginazione d’Amore: che mi parve vederlo venire da quella parte ove la mia donna stava, e pareami che lietamente mi dicesse nel cuor mio: „Pensa di benedicere lo dì che io ti presi, però che tu lo dêi fare“. 62 Das Antwortsonett Cavalcantis lautet: Vedeste, al mio parere, onne valore (Contini (Hrsg.), Poeti del Duecento, Bd. II, Nr. XXXVII [xxxviii], S. 544; cf. auch G. Cavalcanti, Rime, hrsg. v. D. De Robertis, Turin 1986, Nr. XXXVIIb, S. 146 f.). Dieses und zwei andere Antwortgedichte sind zitiert bei Gorni: Vita Nova, hrsg. v. Gorni, Anhang, S. 237–239. Cf. auch St. Carrai, La Lirica toscana del Duecento. Cortesi, guittoniani, stilnovisti, Bari 1997, S. 82. 63 Cf. auch den Kommentar von A. Coseriu und U. Kunkel zu dieser Stelle (VN III nach der Zählung von Barbi): D. Alighieri, Vita Nova – Das Neue Leben, übers. u. komm. v. A. Coseriu/U. Kunkel, München 1988, S. 151.
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Im zugehörigen Sonett Io mi senti’ svegliar dentro allo core wird die Szene folgendermaßen beschrieben (VN 15, 7, V. 3–6): e poi vidi venir da lungi Amore allegro sì, che appena il conoscea, dicendo: „Or pensa pur di farmi onore“; e ciascuna parola sua ridea.
Diese Fröhlichkeit Amors steht im Gegensatz zu seinen sonstigen Erscheinungen, erscheint er doch gewöhnlich eher di pauroso aspecto (VN 1, 14), meschino (VN 4, 10, V. 5) oder, wie oben, piangendo (VN 1, 23, V. 14). Der Grund seiner Freude ist vermutlich die Liebe Dantes zu der wunderbaren Beatrice. Im Kap. 15 fordert er den Liebenden auf, den Tag seiner Unterwerfung zu preisen (Pensa di benedicere lo dì che io ti presi) – daher vermuten die Kommentatoren, daß es sich um eine Art Jahrestag handelt.64 In der Tat verweist presi zurück auf alma presa des ersten Sonettes.65 Übrigens erinnert die Formulierung im Sonett Or pensa pur di farmi onore sehr stark an eine Stelle im Fiore, wo ebenfalls Amor zum amante spricht: Pensa di farmi lealtate (Fiore II, 14).66 Die Trauer bzw. die Tränen Amors am Ende des ersten Sonetts antizipieren dagegen Beatrices Tod, wie man im Nachhinein weiß. Zunächst ist das Verhalten Amors Dante unbegreiflich; daher fragt er ja die fedeli d’Amore um Rat. Allerdings kann auch keiner seiner Dichterkollegen den Traum richtig deuten, da die Vision erst verständlich wird, nachdem Beatrice gestorben ist: A questo sonetto fu risposto da molti, e di diverse sententie [. . .] Lo verace iuditio del detto sogno non fu veduto allora per alcuno, ma ora è manifestissimo alli più semplici (VN 2, 1–2). Ein weiterer Vorverweis auf Beatrices Tod ist in der Prosa das Ende der Vision, als Amor mit Beatrice in den Himmel fliegt (con essa mi parea che si ne gisse verso lo cielo; VN 1, 18). Auffällig ist dagegen im Sonett, daß Dante Amor lediglich weinend weggehen sieht (Apresso gir lo ne vedea piangendo; V 14). Es werden also im Gedicht weder der Himmel erwähnt, noch die Tatsache, daß Amor Beatrice mitnimmt. Bereits das erste Sonett ist also ein Beispiel dafür, daß Dante bei der Abfassung der Vita Nova manchen Gedichten einen zusätzlichen Sinn verliehen hat, der ursprünglich nicht beabsichtigt war, und diesen in der Prosa zum Ausdruck gebracht hat. Auch hier konstituiert sich also in der Prosa ein mehrfacher Sinn, der der Auslegung bedarf. Ein Grund für die Einführung dieser zusätzlichen Details, nämlich daß Amor in den Himmel 64
Vita Nova, hrsg. v. Rossi, S. 127 zu VN 15, 2. Nach Vita Nova, hrsg. v. Gorni, S. 141 zu VN 15, 2. 66 Vita Nova, hrsg. v. Gorni, S. 145 zu VN 15, 7, V. 5; cf. auch D. De Robertis, La traccia del „Fiore“ (1994), in: ders., Dal primo all’ultimo Dante, Florenz 2001, S. 47– 62, hier S. 49. 65
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schwebt und Beatrice mitnimmt, könnte darin liegen, so McKenzie, daß Dante eine Übereinstimmung zwischen dem ersten und dem letzten Gedicht der Vita Nova herstellen wollte, denn auch das letzte Sonett Oltre la spera che più larga gira (VN 30, 10–13) „describes a vision, and connects Love, Beatrice and Heaven“.67 Vor allem aber zeigt sich daran, daß Dante in der Vita Nova von Anbeginn auf Beatrices Tod als das zentrale Ereignis zusteuert, und daß damit die Spiritualisierung Beatrices bereits im ersten Kapitel ihren Anfang nimmt. Gerhard Regn weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß die blutrote Farbe des Gewandes ein Symbol für den Tod Christi ist, und daß Beatrice somit von Anfang an als figura Christi dargestellt ist.68 Besonders deutlich werden die Analogien zwischen Christus und Beatrice bei der Vision ihres Todes, die Dante in Kap. 14 beschreibt. Da Rot aber auch die traditionelle Farbe der Liebe ist, deutet sie hier wohl eher auf die caritas hin, die im Verlauf des Werks zunehmend hervorgehoben wird. Auch bei ihrem Wiedererscheinen in Purg. XXX ist Beatrice feuerrot gekleidet: vestita di color di fiamma viva (Purg. XXX, 33).69 Festzuhalten ist in jedem Fall für das erste Sonett A ciascun’alma presa e gentil core, daß Amor hier nach der traditionellen Darstellung der Liebesdichtung als Personifikation, also als poetische Allegorie auftritt, und zwar in der gängigen Form des Herrn (segnore; V. 4), der über das Herz des Liebenden herrscht. Neu ist bei Dante allerdings die Tatsache, daß der Liebesgott Gemütsbewegungen zeigt (allegro – piangendo; V. 9 bzw. 14).
4. Zwei weitere Erscheinungen Amors Ein nächster Vorverweis auf eben das Sterben Beatrices ist bei der visione in Kap. 5 zu finden. Denn auch hier weint Amor und spricht noch dazu unverständliche Worte. Anlaß für die Erscheinung ist die Grußverweigerung Beatrices, die „das zentrale ,Gelenk‘ der Vita Nuova“70 bildet. Denn um seine Liebe vor Gerede zu schützen, hat Dante zur Tarnung eine sogenannte donna schermo als angebliche Herrin etabliert und einige Gedichte für sie verfaßt (pensai di fare di questa gentil donna schermo della veritade; VN 2, 8). Als diese jedoch die Stadt verläßt71, deren Namen Dante bewußt offen läßt72, empfiehlt Amor ihm eine 67
McKenzie, The symmetrical structure, S. 352 f. Regn, Dantes Beatrice, S. 138 und S. 142, Anm. 10. 69 Cf. auch A. Vallone, Beatrice e Vita Nuova. Capp. III, XXVIII e XXIX, in: M. Picchio Simonelli (Hrsg.), Beatrice nell’opera di Dante e nella memoria europea 1290–1990, Florenz 1994, S. 65–75, hier S. 72. 70 Warning, Imitatio und Intertextualität, S. 293. 71 Aus angeblichem Abschiedsschmerz verfaßt Dante das sonetto doppio bzw. rinterzato O voi che per la via d’Amor passate (VN 2, 14–17), dessen Anfang O vos 68
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zweite donna schermo zum gleichen Zweck (VN 4, 5). Auch diese besingt er, und zwar so, daß sich die bösen Zungen regen (in poco tempo la feci mia difesa tanto, che troppa gente ne ragionava oltre li termini della cortesia; VN 5, 1). Das Motiv der üblen Nachrede ist uns bereits im Rosenroman in der Personifikation der Male Bouche begegnet. Eben dies ist nun der Grund dafür, daß Beatrice dem Dichter ihren Gruß entzieht. Denn das Gerede hat die Grenzen des höfischen Benehmens überschritten (oltre li termini della cortesia).73 Beatrice hingegen ist gewissermaßen die Verkörperung alles Edlen, aller cortesia – oft wird sie als gentilissima (so in VN 1, 12; 2, 3; 2, 6; 5, 2) oder cortesissima (VN 1, 13) bezeichnet – ja, sie ist sogar distruggitrice di tutti li vitii e regina delle vertudi (VN 5, 2). Daher kann sie mit Dante, der durch den bösartigen Klatsch wie befleckt ist, nicht mehr in Verbindung treten. Deshalb, und nicht etwa aus Eifersucht, enthält sie ihm ihren Gruß vor (VN 5, 2): E per questa cagione, cioè di questa soverchievole boce che parea che mi infamasse vitiosamente, quella gentilissima, la quale fu distruggitrice di tutti li vitii e regina delle vertudi, passando per alcuna parte, mi negò lo suo dolcissimo salutare, nello quale stava tutta la mia beatitudine.
Dante hat sich aus Traurigkeit wieder in sein Zimmer zurückgezogen und ist eingeschlafen, nachdem er zu Amor um Hilfe gerufen hatte (Amore, aiuta tuo fedele! VN 5, 9). Im Traum erscheint ihm der Liebesgott als Jüngling in schneeweißer Kleidung (Avenne che quasi nel mezzo del mio dormire che mi parve vedere uno giovane vestito di bianchissime vestimenta; VN 5, 10) und spricht zunächst lateinisch zu ihm: „Fili mi, tempus est ut pretermictantur simulacra nostra“ (ibd.); darauf beginnt er zu weinen (pareami che piangea pietosamente; VN 5, 11). Nach dem Grund gefragt, gibt er die Antwort: „Ego tanquam centrum circuli, cui simili modo se habent circumferentie partes; tu autem non sic“ (ibd.). Dante fragt erneut nach dem Sinn dieser rätselhaften Aussage: „Che è ciò, signore, che mi parli con tanta oscuritade?“, woraufhin ihm Amor diesmal in volgare entgegnet: „Non dimandare più che utile ti sia“ (VN 5, 12). Daraufhin kommt Dante auf Beatrice zu sprechen und möchte von Amor wissen, warum sie ihn nicht gegrüßt hat. Amor nennt ihm den oben dargelegten Grund und fordert Dante auf, sich in einem Gedicht zu rechtfertigen: voglio che tu dichi certe parole per rima, nelle quali tu comprendi la forza che io tegno sopra te per lei (VN 5, 14). Auf dieses Geheiß hin verfaßt Dante die Ballade Ballata, i’ vo’ che tu ritrovi Amore (VN 5, 17–22), in der er seine
omnes (Jer., Lam. 1, 12) zitiert (cf. Vita Nova, hrsg. v. Rossi, S. 32 zu VN 2, 14, V. 1– 3). 72 Der Name Florenz kommt im Text nie vor. Wehle deutet die Stadt, den Schauplatz der Liebe, als „räumliches Gleichnis des Minnedichtens“ (Wehle, Dichtung über Dichtung, S. 79). 73 Cf. auch Wehle, Dichtung über Dichtung, S. 73.
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VI. Vita Nova – auf dem Weg zur Resakralisierung der Allegorie
eigene Dichtung als Personifikation anspricht und quasi als Mittlerin zu Beatrice schickt. Auffällig an diesem Auftritt Amors ist zunächst sein schneeweißes Gewand, das einerseits in Kontrast steht zur vorherigen Erscheinung als Pilger in Kap. 4, andererseits deutlich auf die Heilige Schrift anspielt: So kann man darin sowohl eine Reminiszenz an den Engel sehen, der den Frauen nach der Auferstehung Christi am Grab erscheint (Mt. 28, 3; Mk. 16, 6; Lk. 24, 4; Joh. 20, 12), als auch einen Anklang an die Szene der Verklärung Christi auf dem Berg Tabor (Mt. 17, 2; Mk. 9, 3; Lk. 9, 29) sowie seine Himmelfahrt (Apg. 1, 11). Obwohl wir also mit der Personifikation Amors im Bereich der allegoria dei poeti sind, ist diese hier bereits von biblischen Motiven durchdrungen. Dante entfernt sich also zunehmend von der rein profanen Liebesthematik und bewegt sich mehr und mehr auf eine Allegorie in theologischem Kontext zu. In Kap. 4 war Amor demütig und armselig als Pilger gekleidet erschienen, als Dante außerhalb von Florenz unterwegs war: apparve come peregrino leggieramente vestito di vili drappi. Elli mi parea sbigottito e guardava la terra [. . .] (VN 4, 3–4). Überdies ist es auch eine Neuerung gegenüber den Stilnovisten, Amor in verschiedenen „Verkleidungen“ auftreten zu lassen, wie Dante es hier mit der Darstellung des weiß gekleideten Amor und des Pilgers vorführt. Im zugehörigen Sonett Cavalcando l’altrier per un camino ist die Szene folgendermaßen beschrieben (VN 4, 9–12): Cavalcando l’altrier per un camino, pensoso dell’andar che mi sgradia, trovai Amore in mezzo de la via in abito leggier di peregrino. Nella sembianza mi parea meschino, come avesse perduta segnoria; e sospirando pensoso venia, per non veder la gente, a capo chino. Quando mi vide, mi chiamò per nome, e disse: „Io vegno di lontana parte, ov’era lo tuo cor per mio volere, e recolo a servir novo piacere“. Allora presi di lui sì gran parte, ch’elli disparve, e non m’accorsi come.
Ebenso wie im Prosatext wird Amor auch im Gedicht als demütig, ja als ohnmächtig gezeigt: come avesse perduto segnoria (V. 5). Der Grund seiner Erscheinung ist, daß Amor Dante auf die zweite donna schermo hinweist: Io vegno di lontana parte, / ov’era lo tuo cor per mio volere, / e recolo a servir novo piacere (V. 10–12). Möglicherweise rührt daher auch seine Verkleidung als Pilger (in abito leggier di peregrino; V. 4), die somit parallel zur vorgegebenen Liebe zur donna schermo steht.74 Zudem „spiegelt Amor die derzeitige Verfassung seines [sc. Dantes] Liebens und Dichtens wider.“75
4. Zwei weitere Erscheinungen Amors
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Kehren wir zurück zur Vision in Kap. 5, die im deutlichen Gegensatz zu dieser ymaginazione steht. Denn hier tritt der Liebesgott nicht mehr in vili drappi, sondern in bianchissime vestimenta gekleidet auf. Dante erkennt ihn, als er ihn mit „Sohn“ (fili mi; VN 5, 10) anspricht. Amor tritt hier nicht mehr bescheiden und demütig, sondern wieder ganz als Herr und Herrscher auf und fordert Dante auf, die Verstellung zu beenden: tempus est, ut pretermictantur simulacra nostra (ibd.), d. h. Dante soll sich von der zweiten donna schermo abwenden. Sein Weinen, das Dante nicht versteht, deutet erneut voraus auf den Tod Beatrices; zugleich bezieht es sich auch auf Dantes gegenwärtige Situation.76 Allerdings klärt er Dante auch nicht darüber auf, sondern spricht zunächst den unverständlichen Satz „Ego tanquam centrum circuli, cui simili modo se habent circumferentie partes; tu autem non sic“ (VN 5, 11) und fügt dann noch hinzu, Dante solle nicht nach dem fragen, was er besser noch nicht erfährt („Non dimandare più che utile ti sia“; VN 5, 12), wobei Amor die Feierlichkeit des Lateinischen aufgibt. Auch hiermit ist gemeint, daß Beatrice sterben wird. Indem der Liebesgott sich als Mittelpunkt eines Kreises (centrum circuli) bezeichnet, zudem sich alle äußeren Teile gleichermaßen verhalten, „afferma la sua perfezione“77. Dante hingegen bleibt außerhalb dieses Kreises, der Vollkommenheit bedeutet78: tu autem non sic. Hempfer weist darauf hin, daß auch diese Stelle „eine mise en abyme der Rezeptionssituation darstellt“, da sich sowohl für Dante als auch für den Leser die verschlüsselte Bedeutung des Satzes, den Amor con tanta oscuritade spricht, erst „aus der zukünftigen Erfahrung bzw. aus dem Weiterlesen des Textes“79 ergibt. Den Wechsel zwischen Latein und volgare erklärt Spitzer folgendermaßen: „Amore parla in latino là dove egli definisce la posizione dell’uomo, in italiano quando si occupa della particolare situazione amorosa del poeta.“80 Singleton geht in seiner Deutung noch weiter: Mit dem Gleichnis vom Mittelpunkt eines Kreises will Amor sagen, daß er ein Gott ist und daher gleichermaßen in die Vergangenheit, in die Gegenwart und in die Zukunft sehen kann. Eben weil er die Zukunft kennt und damit bereits weiß, daß Beatrice sterben wird, beginnt er zu weinen. Da dieser Tod unmittelbar bevorsteht, ist es auch an der Zeit, die Verstellungen, also die geheuchelte Liebe zur donna schermo aufzugeben. Die Verwendung des Lateinischen verleihe seinen Worten 74
Nach Gorni, Saggio di lettura zu VN 4, S. 249. Wehle, Dichtung über Dichtung, S. 72; siehe auch Carrai, Dante elegiaco, S. 109 f. 76 Nach Vita Nuova, hrsg. v. De Robertis, S. 74 zu VN XII, 4–5, siehe auch Gorni, Saggio di lettura zu VN 5, S. 251. 77 Gorni, Saggio di lettura zu VN 5, S. 251. 78 Nach Vita Nuova, hrsg. v. De Robertis, S. 74 f. zu VN XII, 4. 79 Hempfer, Allegorie und Erzählstruktur, S. 38. 80 Spitzer, Osservazioni, Kap. 9. „Tu autem non sic“, S. 120–122, Zitat S. 121. 75
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VI. Vita Nova – auf dem Weg zur Resakralisierung der Allegorie
eine besondere Würde und Gültigkeit, denn „only the words in Latin are of the nature of oracle“, während der Gott das Italienische für „everyday affairs“ gebrauche.81 Auffällig an dieser Passage ist wiederum die Darstellung Amors, die sich zusehends von der „herkömmlichen“ Liebesdichtung entfernt. Wir haben gesehen, daß Dante den Liebesgott hier weiß gekleidet zeigt; erneut ist er imstande, Gemütsbewegungen zu demonstrieren. So erscheint er nicht als abstrakte Personifikation wie etwa der Amor im Rosenroman, sondern als lebendige Gestalt, die aktiv an der Handlung teilnimmt: Er gibt Dante Anweisungen, wie dieser sich verhalten soll, so etwa in Bezug auf die donna schermo. Zum anderen „diskutiert“ er beinahe mit ihm: Non dimandare più che utile ti sia (VN 5, 12). Allerdings verleiht Dante seinem Liebesgott noch eine höhere Symbolkraft, die über das eigentliche Geschehen hinausweist. Gerade an der vorliegenden Szene wird dies erkenntlich: Der Liebesgott spricht unverständliche Worte auf Lateinisch. Er erhält dadurch eine zusätzliche geheimnisvolle, fast mystische Bedeutung, die schwer zu entschlüsseln ist. Es scheint fast, als fordere Amor selbst den Dichter dazu auf, sich von der traditionellen Liebeslyrik abzuwenden und seinen Sinn auf etwas Höheres, Erhabeneres zu richten, das hier noch nicht explizit genannt wird. Im Laufe der folgenden Kapitel wird dies immer deutlicher spürbar.
5. Beatrice – Amore Während der erste Teil mit den Erscheinungen Amors, der Einführung zweier donne schermo und dem Liebesritual der „Erwählten“ noch ganz im Zeichen der Troubadour-Tradition steht82, löst sich die Liebeskonzeption des zweiten Teiles zunehmend aus dieser profanen Ideenwelt und von Dantes Vorbildern. In seinen frühen Gedichten war er vor allem Guido Guinizelli und Guido Cavalcanti verpflichtet, die den Preis der engelgleichen Herrin mit ihren wunderbaren Wirkungen auf andere vielfach thematisiert hatten. Hollander schreibt den ersten Teil der Vita Nova eher dem Einfluß Cavalcantis, den zweiten dem Guinizellis zu, während der dritte Teil „is Dantean in every sense“.83 Im Kontext der höfischen Liebe und des Dolce Stil Novo bedeutete die Liebe zu einer Frau die völlige Unterwerfung unter die Herrschaft des Liebesgottes, wie es auch zu Beginn der Vita Nova noch heißt: D’allora innanzi, dico che Amore segnoreggiò la mia anima [. . .] e cominciò a prendere sopra me tanta sicurtade e tanta signoria (VN 1, 8). Ebenso verlangt der Gott Amor im Fiore 81
Singleton, An Essay on the Vita Nuova, S. 17. Ibd., S. 60. 83 Hollander, Dante, S. 20 f., Zitat S. 21; ebenso Took, Dante, S. 48–50. Cf. zum Einfluß Guinizellis und Cavalcantis auch D. De Robertis, Il libro della „Vita Nuova“, Florenz 21970, S. 133–135. 82
5. Beatrice – Amore
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die alleinige Anbetung seitens des Liebenden, wie wir gesehen haben: fa che m’adori, chéd i’ son tu’ deo (Fiore V, 11). Zur höfischen Liebe gehört wesentlich, daß der Dichter zu seiner domina als einer über ihm stehenden aufblickt: „as domina she must be the last and only object of desire in her poet-lover’s upward gaze. How might he dare look beyond her?“84 Dennoch weiß der Dichter, daß diese Liebe nicht das Absolute ist, daß es darüber hinaus noch eine andere, transzendente Liebe gibt, nämlich die caritas, die Liebe zu Gott. Ein weiterer Bestandteil der Troubadourdichtungen war daher die Reue über die vergängliche Liebe und die Rückkehr zu Gott.85 Die Stilnovisten dagegen lösten diesen Konflikt zwischen der weltlichen Liebe und der caritas auf andere Weise. Die Liebe wurde gleichsam religiös überhöht, indem der Herrin engelgleiche Züge zugesprochen wurden. Die Liebe zu einer solchen donna angelicata konnte nicht sündhaft sein, da sie per se im Einklang mit christlichen Vorstellungen ist, wie beispielsweise Guido Guinizelli in seiner Kanzone Al cor gentil rempaira sempre Amore86 ausführt. „Nirgendwo im dolce stil novo [sic] findet man Verse religiöser Entsagung, nirgends ein geistlich begründetes Abschwören Amors.“87 Dennoch bleibt auch diese bereits in Ansätzen spiritualisierte Liebe im Dolce Stil Novo diesseitig und muß zwangsläufig mit dem Tod der Herrin enden. Daher geht Dante in der Vita Nova noch über die Konzeption seiner Dichterkollegen hinaus. Zwar schwört auch er Amor nicht direkt ab, wendet aber statt dessen einen weitaus geschickteren Kunstgriff an. In Kap. 15 tritt Amor zum letzten Mal als abstrakte Personifikation, als allegoria dei poeti auf. Der Liebesgott steht für die weltliche und endliche Liebe der Troubadours, er ist „the veriest sign and symbol of such love“88 – er ist also die Allegorie der weltlichen Liebe und damit ein „klassisches“ Beispiel für die allegoria dei poeti. Sein Handlungsspielraum erstreckt sich nur auf das Diesseits. Nachdem für Dante dieser Horizont zu eng geworden ist, entfernt er den Liebesgott aus der Handlung. In der zweiten Hälfte der Vita Nova tritt Amor als dramatis persona nicht mehr auf, d. h., daß er in der Prosa nicht mehr erwähnt wird, wohingegen sein Name in den Gedichten zwar noch genannt ist, er aber nicht ins Geschehen eingreift.89 84
Singleton, An Essay on the Vita Nuova, S. 68. Friedrich, Epochen, S. 76; Singleton, An Essay on the Vita Nuova, S. 66. 86 G. Guinizelli, Al cor gentil rempaira sempre Amore, in: Contini (Hrsg.), Poeti del Duecento, Bd. II, Nr. IV [v], S. 460–464. Eine Inhaltsangabe dieser Kanzone gibt Friedrich, Epochen, S. 60–62; cf. auch Singleton, An Essay on the Vita Nuova, S. 69 sowie Warning, Imitatio und Intertextualität, S. 295. 87 Friedrich, Epochen, S. 76. 88 Singleton, An Essay on the Vita Nuova, S. 74. 89 Cf. Hollander, Dante, S. 27. 85
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VI. Vita Nova – auf dem Weg zur Resakralisierung der Allegorie
Beatrice nimmt von nun an seinen Platz ein. Denn bei seiner letzten Erscheinung hinterläßt der Liebesgott eine Art Vermächtnis: Er übergibt Beatrice seinen Namen und damit auch seine Autorität.90 Denn „ein bibelfester Amor“91 zeigt Dante in dieser ymaginatione, wie Giovanna-Primavera, die donna von Dantes Freund Cavalcanti, als Beatrices Vorläuferin fungiert – in Analogie zu Johannes dem Täufer, der dem Herrn den Weg bereitet. Dante sieht Beatrice hinter Giovanna auf sich zukommen und hört in seinem Inneren, wie Amor zu ihm spricht: „E chi volesse sottilmente considerare, quella Beatrice chiamerebbe Amore per molte simiglianze che à meco“ (VN 15, 5). Beatrice ist also Amor so ähnlich, daß man ihr seinen Namen geben könnte. Im Sonett Io mi senti’ svegliar dentro allo core (VN 15, 7–9), das auf diese Erscheinung folgt, wird die Parallele Beatrice – Amor noch deutlicher ausgedrückt: Amor mi disse: „Quell’è Primavera, / e quell’à nome Amor, sì mi somiglia“ (V. 13–14). Damit wird Beatrice Amor gleichgesetzt: „the whole authority of Love is transferred to her. Beatrice is Love. And Beatrice remains to the end.“92 Gleichzeitig wird aber auch bereits hier eine Analogie zwischen Beatrice und Christus angedeutet, welche sich in Zusammenhang mit ihrem Tod noch verstärken wird (cf. VN 14).93 Erwähnenswert ist noch, daß Dante Beatrice hier zum letzten Male lebend erblickt. Diese Szene kann auch als „Leseanleitung des Autors“94 gedeutet werden: Wie Giovanna Beatrice vorangeht, so ist Cavalcanti der Vorläufer Dantes, der sich somit selbst als „zeitgenössischen Höhepunkt“95 der Minnedichtung präsentiert. Die Fortsetzung einer Interpretation der Vita Nova unter poetologischen Gesichtspunkten würde allerdings zu weit führen; es sei hier noch einmal auf die bereits zitierte Studie von Winfried Wehle „Dichtung über Dichtung“ verwiesen. Der Kunstgriff Dantes besteht also in einem ersten Schritt auf dem Weg zur Resakralisierung der Allegorie: Der profane Amor verläßt als handelnde Person das Geschehen und überträgt seine Macht bzw. Autorität auf Beatrice, die ihrerseits als übernatürliche Heilbringerin auftritt, wie bereits ihr Name ausdrückt. Das unmittelbar anschließende Kapitel, das durchgehend aus einem Prosatext besteht, enthält eine theoretische Überlegung zur personifizierenden Darstellung
90 Cf. G. Gorni, Lettera Nome Numero. L’ordine delle cose in Dante, Bologna 1990, S. 45 sowie Singleton, An Essay on the Vita Nuova, S. 57. 91 Regn, Dantes Beatrice, S. 137. 92 Singleton, An Essay on the Vita Nuova, S. 74. 93 Siehe auch Singleton, An Essay on the Vita Nuova, S. 20, Regn, „Allegorice pro laurea corona“, S. 133–135 sowie Carrai, Dante elegiaco, S. 69. 94 Wehle, Dichtung über Dichtung, S. 78. 95 Ibd. Cf. ferner M. R. Menocal, Writing in Dante’s Cult of Truth. From Borges to Boccaccio, Durham/London 1991, S. 24.
5. Beatrice – Amore
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Amors. Folgt man der Einteilung in 31 Paragraphen, so steht dieser genau in der Mitte der Vita Nova (VN 16). Wie wir wissen, ist die Vita Nova so konzipiert, daß die Prosatexte die Kommentare zu den Gedichten bilden und die jeweilige Situation erzählen, in der diese entstanden sind. Der Erzählung liegt somit ein Wahrheitsanspruch zugrunde, der durch die Darstellung derselben als angebliche „Kopie“ des libro della memoria untermauert wird.96 Das bedeutet, daß Amor auch in der Prosa als „reale“ Person auftritt, wie es in der lyrischen Tradition schon lange üblich ist. Wenn Dante nun eine Erklärung über die Darstellung Amors in der Dichtung einschiebt, und zwar genau an der Stelle, wo Amor sich gewissermaßen aus dem Geschehen „verabschiedet“ hat, gehört dies zu seiner Strategie, die darauf abzielt, eine neue Liebeskonzeption einzuführen97 (VN 16, 1–2): Potrebbe qui dubitare persona degna da dichiararle ogne dubitatione, e dubitare potrebbe di ciò che io dico d’Amore come se fosse una cosa per sé, e non solamente sustantia [separata da materia, cioè] intelligentia98, ma sì come fosse sustantia corporale: la quale cosa, secondo la verità, è falsa, ché Amore non è per sé sì come sustantia, ma è uno accidente in sustantia. E che io dica di lui come se fosse corpo, ancora come se fosse uomo, appare per tre cose ch’io dico di lui. Dico che lo vidi venire: onde, con ciò sia cosa che venire dica moto locale, e localmente mobile per sé, secondo lo Phylosofo99, sia solamente corpo, appare che io ponga Amore essere corpo. Dico anche di lui che ridea, e anche che parlava; le quali cose paiono essere proprie dell’uomo, e spetialmente essere risibile; e però appare ch’io ponga lui essere uomo.
In diesem Kapitel muß Dante sich nun dafür rechtfertigen, daß er Amor als cosa per sé darstellt, d. h. als für sich existierendes Wesen, als ob er selbst eine „Substanz“ (sustantia) wäre. Der scholastische Begriff ens per se wird hier mit cosa per sé ins Italienische übersetzt.100 In Wirklichkeit ist Amor aber „nur“ uno accidente in sustantia, d. h. etwas, das zum Wesen, zur Substanz, hinzukommen und daher veränderlich sein kann.101 In der Tat tritt der Liebesgott in den vorhergehenden Kapiteln mit verschiedenen Gefühlen, ja sogar unterschiedlich gewandet auf.
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Hollander, Dante, S. 34. Nach Singleton, An Essay on the Vita Nuova, S. 57 f. 98 Im Text ist hier eine lacuna, die Gorni unter Zuhilfenahme einer entsprechenden Stelle aus dem Convivio (Conv. II, iv, 2) wie oben zitiert ausfüllt (Vita Nova, hrsg. v. Gorni, S. 147 zu VN 16, 1). 99 Gemeint ist Aristoteles. 100 Vita Nova, hrsg. v. Gorni, S. 146 zu VN 16, 1. 101 Cf. auch Hollander, Dante, S. 27, H. R. Jauss, Form und Auffassung der Allegorie, S. 187 und Anm. 34 sowie Lewis, The Allegory of Love, S. 47. 97
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VI. Vita Nova – auf dem Weg zur Resakralisierung der Allegorie
Bezugnehmend auf das vorhergehende Kapitel (Potrebbe qui dubitare) faßt der Dichter zusammen, inwiefern er Amor „wie einen Menschen“ (come se fosse uomo) darstellt: Er sieht ihn kommen (Dico che lo vidi venire), er hört ihn lachen und sprechen (Dico anche di lui che ridea, e anche che parlava). Um diese Schilderung zu begründen (ch’io ponga lui essere uomo), greift er zurück auf die Tradition der Dichter seit der Antike und weist zunächst darauf hin, daß es Liebesdichtung in der Volkssprache noch gar nicht lange gibt: anticamente non erano dicitori d’amore in lingua volgare, anzi erano dicitori d’amore certi poete in lingua latina; tra noi, dico [. . .] non volgari, ma litterati poete queste cose tractavano (VN 16, 3). Dante erhebt hier die volkssprachlichen Dichter auf einen Rang mit den litterati poete, also mit denjenigen, die auf Latein dichteten: ché dire per rima in volgare tanto è quanto dire per versi in latino (VN 16, 4). Da nun den Dichtern größere „Redefreiheit“ als den Prosaikern vergönnt sei (alli poete sia conceduta maggiore licentia di parlare che alli prosaici dictatori; VN 16, 7), müsse der Gebrauch rhetorischer Figuren den volkssprachlichen rimatori in gleicher Weise wie den lateinischen poete gestattet sein (onde, se alcuna figura o colore rectorico [sic] è conceduto alli poete, conceduto è alli rimatori; ibd.).102 In der Folge nennt Dante nun einige Beispiele für den Gebrauch der Personifikation bei klassischen Dichtern, so Vergil, Lukan, Horaz und schließlich Ovid. Das Kapitel schließt ab mit dem Hinweis, daß die Dichter die Allegorie nicht verwenden dürften, ohne daß sich dahinter ein erkennbares verace intendimento verberge (VN 16, 10): E acciò che non ne pigli alcuna baldanza persona grossa, dico che né li poete parlavano così sanza ragione, né quelli che rimano deono parlare così non avendo alcuno ragionamento in loro di quello che dicono; però che grande vergogna sarebbe a colui che rimasse cose sotto vesta di figura o di colore rectorico, e poscia domandato non sapesse denudare le sue parole da cotale vesta, in guisa che avessero verace intendimento.
Obwohl Dante also Amor in der ersten Hälfte der Vita Nova durchaus als Person mit Gefühlsbewegungen, Gebärden und wechselnder Gewandung gezeigt hat, wie die oben untersuchten Beispiele demonstrieren sollten, stellt er ihn im Nachhinein als bloße rhetorische Stilfigur hin, wie sie seit der Antike üblich ist. Wir bewegen uns also nach wie vor im Rahmen der allegoria dei poeti, für die der personifizierte Amor ein klassisches Beispiel ist. Dantes Definition von der bella menzogna trifft in diesem Falle insofern zu, als der am Geschehen teilnehmende Liebesgott eine literarische Fiktion der Liebesdichter ist. Allerdings ist hier erneut auf die unterschiedliche Darstellung in Prosa und Vers hinzuweisen. Gerade in den Prosastücken finden die Auftritte Amors im102 Gleichzeitig rechtfertigt hier Dante auch den Gebrauch der Volkssprache für seine Dichtung, wie er es ausführlich in De vulgari eloquentia (1303–1305) tun wird.
6. Beatrice – beatrice
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mer im Rahmen einer Erscheinung, sei es im Traum (visione), sei es im Wachzustand (ymaginatione), statt, so daß „not once in the prose of the Vita Nuova is Amore treated as having actual existence; he is allowed this only in four of the sonnets, which had been previously composed.“103 Solange sich Dante eng an seine Vorbilder anlehnt, kommt er ohne die personifizierte Darstellung Amors nicht aus. Da diese aber nicht realistisch ist, umgibt er den Liebesgott von vornherein mit einer geheimnisvollen Aura, läßt ihn nur in seiner Einbildung auftreten und sich mysteriös verhalten, indem er beispielsweise rätselhafte Dinge in Latein spricht. Mit der zunehmenden Spiritualisierung des Liebeskonzeptes wird es immer schwieriger, Amor in seiner „klassischen“ Darstellung beizubehalten: „One can see Dante’s growing embarassment with his presence as ,character‘ in several passages“.104 Aufgrund eben dieser Verlegenheit schiebt der Dichter genau in der Mitte diesen Exkurs ein, in dem er deutlich macht, daß die Darstellung Amors als Person seit der Antike ein traditioneller Bestandteil der Liebesdichtung ist und daher in keiner Weise den Wahrheitsanspruch seiner Geschichte in Frage stellt.
6. Beatrice – beatrice Nach der letzten Erscheinung Amors fließen in den Text mehr und mehr Elemente aus der Theologie und aus der Mystik ein, die Dante hauptsächlich von Augustinus und Bernhard von Clairvaux übernommen hat.105 Nachdem Amors Gewalt auf Beatrice übertragen wurde, verkörpert diese nun selbst die Liebe – eine Liebe jedoch, die in der christlichen Tradition wurzelt. Das Liebeskonzept der Vita Nova orientiert sich nun mehr und mehr an dem Gedanken Deus caritas est (1 Joh., 4, 8). Beatrice war von Anfang an donna della salute. Das Heil, das sie bringt, stammt von Gott, so wie sie selbst aus der mirabile Trinitade kommt (VN 19, 6). Anfangs lag dieses Heil, die höchste Seligkeit für Dante, in ihrem Gruß, wie er anläßlich ihrer zweiten Begegnung beschreibt. Genau neun Jahre, nachdem er sie zum ersten Mal erblickt hat, grüßt sie ihn erstmals (VN 1, 12): passando per una via, volse gli occhi verso quella parte ov’io era molto pauroso, e per la sua ineffabile cortesia [. . .] mi salutòe molto virtuosamente tanto che mi parve allora vedere tutti li termini de la beatitudine. 103 R. Hollander, Vita Nuova: Dante’s Perceptions of Beatrice, in: Dante Studies, XCII (1974), S. 1–18, hier S. 6. Gemeint sind hier die vier Sonette A ciascun’alma presa e gentil core (VN 1, 21–23), Piangete, amanti, poi che piange Amore (VN 3, 4– 6), Cavalcando l’altrier per un camino (VN 4, 9–12) und Io mi senti’ svegliar dentro allo core (VN 15, 7–9). 104 Hollander, Vita Nuova, S. 6. 105 Singleton, An Essay on the Vita Nuova, S. 60.
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VI. Vita Nova – auf dem Weg zur Resakralisierung der Allegorie
Wenn Gott also die Liebe und Beatrice sein Geschöpf ist, muß Dantes Liebe zu Beatrice ebenfalls ihren Ursprung und ihr Ziel in Gott haben. Der Mystiker findet seine höchste Glückseligkeit in der Kontemplation, wie Dante selbst später im Paradiso zeigen wird. Analog dazu sieht Dante nunmehr seine höchste Seligkeit in der Betrachtung der wunderbaren virtù Beatrices, woraus der stilo della loda entspringt. Wie wir gesehen haben, markiert die Grußverweigerung Beatrices das entscheidende Handlungsmoment für den Übergang zwischen dem ersten und dem zweiten Teil, also den Übergang zum stilo della loda.106 Nachdem Dante nämlich aufgrund der donna schermo allzu sehr ins Gerede gekommen ist, enthält Beatrice ihm von nun an ihren Gruß (saluto) und damit auch das Heil (salute) vor, wie er in einem kleinen Exkurs gleich im Anschluß an die Szene der Grußverweigerung darlegt (VN 5, 3–7). Besonderes Gewicht legt er dabei auf den etymologischen Zusammenhang von salutare und saluto, wie vor allem in der figura etymologica salute salutava (VN 5, 6) zum Ausdruck kommt.107 Er hebt auch noch einmal hervor, daß seine Glückseligkeit in diesem Gruß liegt: lo dolcissimo suo salutare, nello quale stava tutta la mia beatitudine (VN 5, 2). Beatrice wird damit zur beatrice, zu derjenigen, die beatitudine bringt.108 Hier deutet sich bereits an, daß Beatrice ein Wunder ist, denn ihrem Gruß wohnt eine Kraft inne, „which can be nothing but supernatural“.109 Obwohl Dante im Anschluß an die Grußverweigerung auf Geheiß Amors die erwähnte Ballade verfaßt, in der er sich rechtfertigt und entschuldigt (Ballata, i’ vo’ che tu ritrovi Amore; VN 5, 17–22), muß er von nun an auf den Gruß verzichten. Da die ganze Entwicklung der Liebe in der Vita Nova „nach oben“ gerichtet ist („the denial of her greeting is a step in the upward way of love“), muß der Dichter lernen: „true salute does not reside there. If love is to ascend, these things must be left behind for other things.“110 Dennoch befaßt er sich zunächst noch weiter mit seinem Gemütszustand. Nicht nur muß Dante von nun an ohne den Gruß Beatrices auskommen, sondern er muß in der gabbo-Episode auch erleben, wie er von ihr und anderen Damen verspottet wird, als er angesichts des plötzlichen Auftretens seiner Herrin bei einer Hochzeitsfeierlichkeit von Schwäche überfallen wird (VN 7, 4–7). Von nun an ist er hin- und hergerissen zwischen der Sehnsucht nach Beatrices 106 Singleton, An Essay on the Vita Nuova, S. 87; cf. auch Warning, Imitatio und Intertextualität, S. 293 sowie Wehle, Dichtung über Dichtung, S. 80. 107 Cf. auch Wehle, Dichtung über Dichtung, S. 81. 108 Cf. auch Regn, Dantes Beatrice, S. 139 sowie ders., „Allegorice pro laurea corona“, S. 133. 109 Singleton, An Essay on the Vita Nuova, S. 11. 110 Cf. Singleton, An Essay on the Vita Nuova, S. 88 f.
7. Beatrice – miracolo
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beglückender Gegenwart und seiner eigenen Ohnmacht, die deren Nähe nicht auszuhalten vermag. Dieses innerliche Zerissensein legt er in den drei aufeinander folgenden Sonetten aus den Kapiteln 7–9 dar, die direkt an Beatrice gerichtet sind, und bezeichnet diese in 10, 1 ausdrücklich als narratori di [. . .] mio stato.111 Gemeint sind die Sonette Con l’altre donne mia vista gabbate (VN 7, 11–12), Ciò che m’incontra, nella mente more (VN 8, 4–6) und Spesse fïate vegnonmi alla mente (VN 9, 7–10). Erst danach gelangt Dante zu der Erkenntnis, daß er genug über seinen Zustand gesagt habe und nimmt sich materia nuova e più nobile che la passata (VN 10, 1) vor. Auf die Frage einiger Damen, worin denn das Ziel seiner Liebe bestehe112, antwortet er (VN 10, 6): Madonne, lo fine del mio amore fu già lo saluto di questa donna, [. . .] e in quello dimorava la beatitudine che era fine di tutti li miei desideri. Ma poi che le piacque di negarlo a me, lo mio signore Amore, la sua mercede, à posto tutta la mia beatitudine in quello che non mi puote venire meno.
Im zweiten Stadium der Liebe liegt für Dante also die Seligkeit nicht mehr im Gruß Beatrices. Denn Amor setzt nun seine beatitudine auf etwas, das er nicht verlieren kann (quello che non mi puote venire meno)113, und dies ist, wie er in der Fortsetzung des Gesprächs mit den Damen enthüllt, das Lob seiner Herrin (VN 10, 8): „Noi ti preghiamo che tu ne dichi ove sta questa tua beatitudine“. E io rispondendo lei dissi cotanto: „In quelle parole che lodano la donna mia“.
7. Beatrice – miracolo Im Anschluß an dieses Gespräch nimmt Dante sich also vor, zu keinem anderen Zweck mehr zu dichten als zum Preis Beatrices (E però propuosi di prendere per matera del mio parlare sempre mai quello che fosse loda di quella gentilissima; VN 10, 12). Dadurch erfolgt eine Richtungsänderung, wie Singleton hervorhebt: „as long as all the happiness came from the greeting of Beatrice, the direction of happiness was from outside in.“114 Nunmehr, da der Lobpreis der Herrin die Seligkeit ausmacht, in der zugleich das Ziel der Liebe liegt, muß die Richtung die gleiche sein wie die der Worte, die dem Dichter 111 Poi che dissi questi tre sonetti nelli quali parlai a questa donna, però che fuoro narratori di tutto quasi lo mio stato [. . .] (VN 10, 1). Die widerstreitenden Gedanken über die Liebe hatte er auch zuvor schon in Tutti li miei pensier’ parlan d’Amore zum Ausdruck gebracht (VN 6, 8 f.). 112 A che fine ami tu questa donna [. . .]? (VN 10, 5). 113 H. Hinderberger übersetzt „was mir nicht geschmälert werden kann“ (Dante Alighieri, Das neue Leben, Zürich 1987, 21995, S. 33). 114 Singleton, An Essay on the Vita Nuova, S. 90.
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VI. Vita Nova – auf dem Weg zur Resakralisierung der Allegorie
entströmen: „Happiness now comes from within and flows from the inside out.“115 Der Dichter hat damit das zweite Stadium erreicht. Indem sich seine Liebe gewissermaßen von ihm selbst wegbewegt, beginnt sie sich nach oben zu orientieren und verwandelt sich zunehmend von der irdischen Liebe in eine spirituelle Form der Liebe, die ihre Vollendung im Himmel sucht. Diese Liebe ist mit dem sensus anagogicus verknüpft, bewegt sich also in die Richtung der caritas, der Gottesliebe. „Die religiös konnotierte Seligkeit [. . .] liegt ganz im Rühmen selbst. Diese neue Dichtung ist möglich, weil die Spiritualität Beatrices eine neue, ins Religiöse gewendete Liebe hervorgebracht hat: Liebe als caritas.“116 Eingeleitet wird dieses neue Thema mit der ersten langen Kanzone Donne, ch’avete intellecto d’amore, die Dante von Amor eingegeben wird: Allora dico che la mia lingua parlò quasi come per sé stessa mossa e disse: „Donne ch’avete intellecto d’amore“ (VN 10, 13). Hier wird Beatrice als Wunder (maraviglia; V. 17) bezeichnet, das die Engel des Himmels von der Erde zu sich holen möchten (VN 10, 18, V. 15–21): Angelo clama in Divino Intellecto e dice: „Sire, nel mondo si vede maraviglia nell’acto che procede d’un’anima che ’nfin qua sù risplende“. Lo cielo, che non àve altro difecto che d’aver lei, al suo Segnor la chiede, e ciascun sancto ne grida merzede.
Diese Verse sind ein deutlicher Hinweis auf die Spiritualisierung Beatrices, die, obwohl ein sterblicher Mensch, bereits so erfüllt von übernatürlichen Tugenden ist, daß ihr wahrer Platz nicht mehr auf Erden, sondern im Himmel ist. In der Tat erfüllt sich ja die Sehnsucht des Himmels nach diesem Geschöpf (Madonna è disïata in sommo cielo; V. 29) nur wenig später, als Beatrice tatsächlich stirbt und in den Himmel zu den Engeln eingeht. So heißt es explizit in der Kanzone Gli occhi dolenti per pietà del core (VN 20, 8–17), die Dante nach Beatrices Tod verfaßt hat (VN 20, 10, V. 15 f.): Ita n’è Beatrice in alto cielo, nel reame ove gli angeli ànno pace
Kehren wir jedoch noch einmal zurück zum Lobpreis Beatrices. Das erste loda-Gedicht nach der Kanzone117, in dem ebenfalls „das Rühmen zur gött115 116
Ibd. Regn, Dantes Beatrice, S. 139. Cf. auch Singleton, An Essay on the Vita Nuova,
S. 91. 117 Dazwischen ist ein Sonett über das Wesen Amors eingeschoben, das Dante auf Bitten eines Freundes verfaßt hat: Amore e ’l cor gentil sono una cosa (VN 11, 3–5).
7. Beatrice – miracolo
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lichen Eingebung stilisiert“118 wird, ist das bereits angesprochene Sonett Negli occhi porta la mia donna Amore (VN 12, 2–4), das zudem Antwort gibt auf ein Gedicht Cavalcantis (Chi è questa che vèn, ch’ogn’om la mira119): Negli occhi porta la mia donna Amore, per che si fa gentil ciò ch’ella mira; ov’ella passa, ogn’om ver lei si gira, e cui saluta fa tremar lo core, sì che, bassando il viso, tutto smore, e d’ogni suo difecto allor sospira: fugge dinanzi allei Superbia ed Ira. Aiutatemi, donne, farle onore. Ogne dolcezza, ogne pensero umile nasce nel core a chi parlar la sente, ond’è laudato chi prima la vide. Quel ch’ella par quando un poco sorride, non si può dicer né tenere a mente, sì è novo miracolo e gentile.
Besonderer Wert wird bei diesem Preissonett auf die wunderbaren Wirkungen Beatrices und vor allem ihres Grußes gelegt, die Warning treffend zusammenfaßt: „veredelt wird, wen auch immer ihr Blick trifft (Vers 2), jedermann fühlt sich von diesem Blick betroffen (Verse 3 ff.), Süße und Sanftmut spürt, wer immer ihre Stimme hört (Verse 9 f.).“120 Beatrice ist also nicht nur selbst die Verkörperung aller Tugenden, sondern sie weckt diese auch bei anderen: Ihr Blick macht edel (V. 2: gentil; wieder aufgenommen in V. 14: gentile), ihre Stimme ruft Demut hervor und vertreibt Laster wie Hochmut (Superbia) und Zorn (Ira; V. 7). Im letzten Vers wird sie erstmals auch „Wunder“ (miracolo, V. 14) genannt. Diese Bezeichnung kehrt wieder in dem Preissonett Tanto gentile e tanto onesta pare (VN 17, 5–7), das insgesamt die Thematik des vorliegenden Gedichtes aufnimmt und fortführt. Zudem wird der Begriff miracolo noch dreimal in bezug auf die Dreifaltigkeit (man beachte auch hier die Zahlensymbolik!) wiederholt, und zwar im Exkurs über Beatrice und die Zahl Neun in VN 19, 6. Wie Dante in der einleitenden Prosa zu Negli occhi porta la mia donna Amore ankündigt, will er mit diesem Sonett zeigen, wie Beatrice bei jedem Menschen Liebe weckt, nicht nur dort, wo Amor schläft, sondern „selbst dort, wo er potentiell noch gar nicht vorhanden sei“121 (VN 12, 1): 118 Warning, Imitatio und Intertextualität, S. 293. In der Tat heißt es in der dem Sonett vorangehenden Prosa unpersönlich: vennemi volontà di dire (VN 12, 1). 119 G. Cavalcanti, Chi è questa che vèn, ch’ogn’om la mira, in: Poeti del Duecento, hrsg. v. Contini, Bd. II, Nr. IV [iv], S. 495; siehe auch G. Cavalcanti, Rime, hrsg. v. D. De Robertis, Nr. IV, S. 17–19; cf. Warning, Imitatio und Intertextualität, S. 295, ferner Kablitz, Intertextualität als Substanzkonstitution, S. 43 f. 120 Warning, Imitatio und Intertextualität, S. 294. 121 Ibd.
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VI. Vita Nova – auf dem Weg zur Resakralisierung der Allegorie
[. . .] parole per le quali io mostrassi come per lei si sveglia questo Amore; e come non solamente si sveglia là ove dorme, ma là ove non è in potentia, ella, mirabilemente operando, lo fa venire.
Auch in der Prosa wird also hervorgehoben, daß sie dies auf wunderbare Weise (miracolosamente operando) tut. In der Anrede an die Damen, die den Dichter beim Lobpreis der Geliebten unterstützen sollen (Aiutatemi, donne, farle onore; V. 8), klingt die erste Kanzone Donne, ch’avete intellecto d’amore (VN 10, 15–25) mit an. Nach einem Intervall von mehreren Kapiteln, in dem sich unter anderem die Todesvorzeichen vermehren, sind die letzten drei Gedichte vor Beatrices eigentlichem Sterben noch einmal intensiv dem Lobpreis der „Minnedame“122 gewidmet. Bezeichend ist hier wieder die Dreizahl, auch wenn es sich um zwei Sonette und eine kurze Kanzone von zwei Strophen handelt, deren Länge mit 14 Versen aber einem Sonett entspricht (Sì lungiamente m’à tenuto Amore; VN 18, 3–5). Im Anschluß an das oben behandelte „Theoriekapitel“ über die Darstellung Amors (VN 16) greift Dante in VN 17 das Lob Beatrices mit den Sonetten Tanto gentile e tanto onesta pare (VN 17, 5–7) sowie Vede perfectamente ogne salute (VN 17, 10–13) wieder auf: volendo ripigliare lo stilo della sua loda (VN 17, 4). Drei Kapitel in der Vita Nova enhalten je zwei Sonette. Ebenso gibt es drei Paragraphen, welche nur aus Prosa bestehen (16, 19, 31), so daß die Übereinstimmung von 31 Kapiteln und 31 Gedichten wieder hergestellt ist. Zwei Gedichte finden sich in den Paragraphen 3, 13 und 17; von diesen handeln die ersten beiden von den Todesfällen der Vita Nova, die dem Sterben Beatrices vorangehen: In VN 3 stirbt eine Freundin von ihr, und zu diesem Anlaß verfaßt Dante die Sonette Piangete, amanti, poi che piange Amore (VN 3, 4–6) und Morte villana, di Pietà nemica (VN 3, 8–11). Die Trauer Beatrices über den Verlust ihres Vaters kommemoriert er in den Gedichten Voi che portate la sembianza umile (VN 13, 9–10) und Se’ tu colui ch’ài tractato sovente (VN 13, 12–15). Während in diesen beiden Fällen die zwei Gedichte innerhalb eines Kapitels nur durch die divisione des ersteren getrennt sind, führt Dante in VN 17 das zweite Sonett durch eine ragione ein, in der er eine Überleitung bzw. eine Verbindung zwischen beiden Gedichten herstellt. Da er das erste ausführlich eingeführt hat und daher sein Inhalt leicht zu verstehen ist (piano a intendere per quello che narrato è dinanzi; VN 17, 8), ist keine divisione nötig. Deswegen geht Dante schnell über zum nächsten, um dessen Inhalt anzukündigen: E però, lasciando lui, dico che questa mia donna venne in tanta gratia, che non solamente ella era onorata e laudata, ma per lei erano onorate e laudate molte (ibd.). Dieses Kapitel ist also das einzige in der Vita Nova, in dem zwei Gedichte miteinander verbunden werden. In der Tat ist ihr Inhalt recht 122
Regn, Dantes Beatrice, S. 135 et passim.
7. Beatrice – miracolo
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ähnlich – offensichtlich wollte Dante deutlich zeigen, daß ein Sonett nicht ausreiche, um Beatrices wunderbare Tugenden zu preisen. In diesen beiden „culmina e si conclude l’esaltazione di Beatrice viva.“123 Das erste, Tanto gentile e tanto onesta pare (VN 17, 5–7), greift die Thematik des Grußes wieder auf und schließt sich inhaltlich eng an das erste Grußsonett Negli occhi porta la mia donna Amore (VN 12, 2–4) an.124 Tanto gentile e tanto onesta pare la donna mia quand’ella altrui saluta, ch’ogne lingua deven tremando muta e gli occhi no l’ardiscon di guardare. Ella si va, sentendosi laudare, benignamente d’umiltà vestuta; e par che sia una cosa venuta da cielo in terra a miracol mostrare. Mostrasi sì piacente a chi la mira, che dà per gli occhi una dolcezza al core, che ’ntender nolla può chi nolla prova; e par che della sua labbia si mova un spirito soave pien d’amore, che va dicendo all’anima: Sospira.
So ziehen sich die Motive der gentilezza, der dolcezza, der Demut, des Seufzens, des Schweigens, des Wunders sowie der Unsagbarkeit durch beide Sonette, um nur einige Beispiele zu nennen. Wie Regn hervorhebt, wird hier „gentilezza zum Schlüsselbegriff einer Innerlichkeit, in der die Frau zwar unberührbare Herrin bleibt, aber gleichwohl weniger durch ihren Stolz ausgezeichnet ist als vielmehr durch Ehrsamkeit, Sanftmut und Demut.“125 Beatrices Gruß wirkt auf jeden, nicht nur auf Dante, veredelnd (Tanto gentile [. . .] pare [. . .] quand’ella altrui saluta; V. 1 f.); in VN 12 hatte es geheißen si fa gentil ciò ch’ella mira (VN 12, 2, V. 2). Derjenige, den sie grüßt, verstummt zitternd und wagt es nicht, die Augen zu erheben (ogne lingua deven tremando muta/e gli occhi no l’ardiscon di guardare; V. 3 f.). Ähnlich wurde dies im ersten Grußsonett ausgedrückt: cui saluta fa tremar lo core, / sì che, bassando il viso, tutto smore (VN 12, 2, V. 4 f.). Sie selbst ist mit Demut „bekleidet“ (d’umiltà vestuta; V. 6), eine marianische Anspielung (cf. Kol. 3, 12). Ein zentraler Begriff ist auch hier wieder der des Wunders (miracol; V. 8), wie in VN 12, 4, V. 14: novo miracolo e gentile. Beatrice erscheint gewissermaßen als Abgesandte des Himmels, um auf Erden ihre „natura prodigiosa“126 zu zeigen (e 123
De Robertis, Il libro della „Vita Nuova“, S. 140. Cf. hierzu auch Warning, Imitatio und Intertextualität, S. 295 und Kablitz, Intertextualität als Substanzkonstitution, S. 50–55. 125 Regn, Dantes Beatrice, S. 136. 126 Vita Nova, hrsg. v. Gorni, S. 160 zu VN 17, 6, V. 7–8. 124
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VI. Vita Nova – auf dem Weg zur Resakralisierung der Allegorie
par che sia una cosa venuta/da cielo in terra a miracol mostrare; V. 7–8). Von ihrem Antlitz geht eine solche Süßigkeit aus, daß der Betrachter sie nicht auszudrücken vermag und in Liebessehnsucht seufzt – der Unsagbarkeitstopos und die Verbindung von Begriffen wie piacente, dolcezza oder soave sind typisch für den stilo della loda.127 Der Imperativ Sospira, der „in fondo un ordine, che l’osservatore impartisce a se stesso“128 ist, steht markant am Ende des Gedichts (V. 14). Dieses letzte Wort gibt sowohl die Süßigkeit, die der Liebende in Gegenwart seiner donna empfindet, wieder, als auch die Sehnucht nach ihr. Zudem schwingt eine gewisse Vorahnung von kommendem Schmerz mit; es klingt bereits der Seufzer an, den Dante im letzten Sonett in den Himmel schickt: Oltre la spera che più larga gira/passa ’l sospiro ch’esce del mio core (VN 30, 10, V. 1 f.). Der Vergleich mit Negli occhi porta la mia donna Amore ließe sich noch fortsetzen, würde aber hier zu weit führen. Sehen wir uns statt dessen noch kurz das zweite Lobesgedicht an (VN 17, 10–13): Vede perfectamente ogne salute chi la mia donna tra le donne vede: quelle che vanno con lei son tenute di bella gratia a Dio render merzede. E sua beltate è di tanta virtute, che nulla invidia all’altre ne procede, anzi le face andar seco vestute di gentilezza, d’amore e di fede. La vista sua fa ogni cosa umile; e non fa sola sé parer piacente, ma ciascuna per lei riceve onore. Ed è negli acti suoi tanto gentile, che nessun la si può recare a mente che non sospiri in dolcezza d’amore.
Hier werden die wunderbaren Wirkungen von Beatrices Schönheit (beltate; V. 5) und Tugend (virtute; ibd.) auf die Damen in ihrer Umgebung beschrieben. Allein schon ihre Gesellschaft ist eine Gnade, für die die anderen Frauen Gott danken müssen (quelle che vanno con lei son tenute / di bella gratia a Dio render merzede; V. 3 f.). Die religiösen Begriffe verdichten sich zunehmend: Während oben miracolo ein zentrales Wort war, kommt hier der Begriff der Gnade (gratia; V. 4) hinzu. Ebenso wird gleich im ersten Vers das Wort Heil (salute; V. 1) wieder aufgerufen, das schon im Zusammenhang mit Beatrices Gruß begegnet war.129 Hier wird dieser Begriff gleichsam intensiviert: Wer
127
Ibd., S. 160 f. zu VN 17, 7, V. 9–14. Spitzer, Appunti, Kap. 22. Il sonetto xv („Tanto gentile e tanto onesta pare“), S. 143–146, Zitat S. 144. 129 Cf. Regn, Dantes Beatrice, S. 139. 128
7. Beatrice – miracolo
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Beatrice sieht, erblickt zugleich das in jeder Hinsicht vollkommene Heil (Vede perfectamente ogne salute; V. 1). Mit dieser gesteigerten Verwendung religiöser Terminologie macht Dante nach und nach immer deutlicher, daß er „eine entschiedene Spiritualisierung der Minnelyrik will.“130 Der Gedanke, daß Beatrices guter Einfluß bei den anderen Damen keinen Neid hervorruft (nulla invidia all’altre ne procede; V. 6), sondern in ihnen die Tugenden weckt, die sie selbst auszeichnen, nämlich gentilezza, amore und fede (V. 8), war uns in etwas abgewandelter Form ebenfalls schon in VN 12 begegnet, wo Beatrice nicht nur Hochmut und Zorn vertreibt (fugge dinanzi allei Superbia ed Ira; VN 12, 2, V. 7), sondern durch ihre Stimme auch Gedanken der Demut hervorruft: ogne pensero umile / nasce nel core a chi parlar la sente (VN 12, 3, V. 8 f.). Dieser ebenfalls religiöse Begriff der Demut (umiltà) zieht sich durch alle drei behandelten Preisgedichte. So ist er sowohl präsent in Tanto gentile: benignamente d’umiltà vestuta (VN 17, 6, V. 6) als auch in Vede perfectamente, wo das Motiv des veredelnden Einflusses der Beatrice fortgeführt wird: La vista sua fa ogni cosa umile (V. 9). Dieser geht soweit, daß Beatrices Gefährtinnen durch ihre Anwesenheit „Ehre“ erfahren (ciascuna per lei riceve onore; V. 11). Das onore-Motiv greift einerseits ebenfalls zurück auf das erste Grußsonett, wo Dante die anderen Damen aufruft, ihn beim Lobpreis seiner Herrin zu unterstützen: Aiutatemi, donne, farle onore (VN 12, 2, V. 8). Zum anderen verweist es voraus auf das letzte Sonett Oltre la spera, wo Beatrice im Himmel nun selbst die ihr gebührende Ehre erfährt: vede una donna che riceve onore (VN 30, 11, V. 6). In den beiden Terzinen überwiegt wieder die stilnovistische Terminologie (piacente, gentile, sospirare, dolcezza, amore), wie wir sie auch oben in Tanto gentile gesehen haben. In den beiden Preisgedichten aus VN 17 scheinen also religiös konnotierte Begriffe mit denen des Frauenlobs ineinander verwoben. Mit dieser Verschränkung zweier Traditionen, nämlich der profanen lyrischen des Dolce Stil Novo und der christlichen, ergibt sich eine neue Art von religiös überhöhter Minnelyrik, in der die geliebte Herrin zugleich als Heilbringerin, als beatrice erscheint. Sie ist sowohl donna della salute (VN 1, 15) als auch la gloriosa donna della mia mente (VN 1, 2); sie bringt Dante Heil schon zu Lebzeiten, doch entfaltet sich ihr Lobpreis besonders nach ihrem Tode, da sie in der Ewigkeit glorifiziert, gloriosa Beatrice (VN 28, 1) wird. Im stilo della loda tritt die Allegorie gewissermaßen in den Hintergrund. Im Vordergrund steht dagegen die „spiritualisierte“ Beatrice, die die mit göttlichen Tugenden ausgestattete Heilbringerin und daher selbst ein Wunder ist. Obwohl Amor seine Gewalt auf sie übertragen hat, kann man sie nicht als „Allegorie der Liebe“ bezeichnen. Sie bleibt die von Dante geliebte „historische“ Person, 130
Ibd., S. 138.
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VI. Vita Nova – auf dem Weg zur Resakralisierung der Allegorie
ein sterbliches Geschöpf, aber mit überirdischen Zügen, wie nicht zuletzt ihr Tod zeigt. Aber gerade dadurch, daß sie stirbt, wird deutlich, daß sie keine „zeitlose“ oder überzeitliche abstrakte Allegorie ist. Denn nachdem im ersten Teil der Vita Nova die „konventionelle“ Allegorie der Dichter in der Person bzw. der Personifikation Amors zugegen war, läßt Dante im zweiten Teil die Allegorie hinter Beatrice „zurücktreten“, die als beatrice im Zentrum steht. Ihr Name wird zum Programm nach dem Grundsatz, den Dante selbst formuliert: nomina sunt consequentia rerum (VN 6, 4). Auch nach dem Tod der Geliebten – soviel darf man vorausgreifend sagen – begegnen wir eine Zeitlang weder der allegoria dei poeti noch derjenigen der teologi, mit Ausnahme einiger gängiger Personifikationen wie Pietà oder Morte, welche aber nicht weiter ausgeführt sind. Es scheint, daß Dante sich zunächst gänzlich von allegorischen Schemata entfernt, um sich dann allmählich auf den vierfachen Schriftsinn zuzubewegen, welcher schließlich in der Divina Commedia von tragender Bedeutung sein wird. Diese Annäherung geschieht durch zahlreiche Anspielungen auf die Bibel; am Schluß der Vita Nova werden die Hinweise vor allem auf den sensus anagogicus im Sonett Oltre la spera expliziter, wie wir noch sehen werden.
8. Beatrice beata a) Der Tod Beatrices Das letzte Gedicht des stilo della lode ist die kurze Kanzone Sì lungiamente m’à tenuto Amore (VN 18, 3–5), in der der Dichter die wunderbaren Wirkungen der Geliebten auf sich selber ausführt. Auch hier wird noch einmal explizit deutlich, daß Beatrice ihm salute bringt, denn er läßt aufgrund der Macht (virtute; V. 9, cf. auch segnoria in V. 2), die Amor auf ihn ausübt, seine spiriti nach ihr rufen, damit sie ihm noch mehr Heil bringe (VN 18, 4, V. 9–12): Poi prende Amore in me tanta virtute, che fa li miei spiriti gir parlando, ed escon for chiamando la donna mia, per darmi più salute.
Es folgt danach keine divisione, sondern das Kapitel endet plötzlich nach der zweiten Strophe, während das darauffolgende Kapitel 20 mit einem Zitat aus den Lamentationes des Propheten Jeremias beginnt (Jer. 1, 1): Quomodo sedet sola civitas plena populo! facta est quasi vidua domina gentium (VN 19, 1). Dante erzeugt mit diesem abrupten Übergang eine eindrucksvolle Wirkung: Der Tod Beatrices bricht unversehens über ihn herein, während er noch dabei ist, die Kanzone (die in der Fiktion länger geplant war131) zu verfassen (ibd.): 131
Cf. auch Carrai, Dante elegiaco, S. 106.
8. Beatrice beata
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Io era nel proponimento ancora di questa canzone, e compiuta n’avea questa soprascripta stantia, quando lo Signore della iustitia chiamòe questa gentilissima a gloriare sotto la ’nsegna di quella Regina benedecta Maria, lo cui nome fue in grandissima reverenzia nelle parole di questa Beatrice beata.
Das Sterben Beatrices wird nicht eigentlich als Tod, sondern als Eingang in die ewige Seligkeit bezeichnet, wie es dem christlichen Geist entspricht: Gott ruft sie zu sich a gloriare, d. h. „,a godere della beatitudine eterna‘132“; sie ist nunmehr die „Selige Beatrice“, Beatrice beata. Die Anklänge an Maria, die mit Leib und Seele in den Himmel aufgenommen wurde, sind unüberhörbar; daher auch der Hinweis auf Beatrices Marienfrömmigkeit, die bereits in VN 2 angesprochen wird, als Dante seine Herrin bei einer Marienandacht in der Kirche sieht (Uno giorno avvenne che questa gentilissima sedea in parte ove s’udivano parole della Regina della gloria, e io era in luogo dal quale vedea la mia beatitudine; VN 2, 6). Die Analogie zwischen Maria und Beatrice kam auch schon vorher zum Ausdruck, beispielsweise wenn sie als regina delle vertudi (VN 5, 2) bezeichnet wird. War die Grußverweigerung bereits ein entscheidendes Handlungsmoment, wie Warning ausführt133, so ist der Tod Beatrices das zentrale Ereignis der Vita Nova. Mit Lotman kann man den Begriff „Ereignis“ definieren als „die Versetzung einer Figur über die Grenze eines semantischen Feldes“134. In der Tat überschreitet Beatrice hier die Grenze zwischen Leben und Tod, zwischen Diesseits und Jenseits. Dante wendet sich nunmehr endgültig von seinen Vorbildern ab, denn es ist gegenüber der lyrischen Tradition völlig neuartig, daß der Tod der Herrin überhaupt thematisiert wird: „Neither Guinicelli nor Cavalcanti had written poems on the death of the beloved.“135 Eine Anzahl Vorzeichen bereiten dieses wichtige Geschehnis vor: Eine Freundin von Beatrice „leitet [. . .] jenen Todeszyklus ein“136 (VN 3, 1); in Kap. 13, 1 verliert sie ihren Vater. Außerdem prophezeien drei Visionen ihren Tod137: zunächst die Erscheinungen Amors in VN 1 und VN 5. Dante selbst sieht schließlich am neunten Tag einer Krankheit (VN 14, 2) im Geiste den Tod Beatrices voraus. In dieser dritten Vision ist ihr Tod von einer Reihe merkwür-
132
Vita Nova, hrsg. v. Gorni, S. 167 zu VN 19, 1. Cf. Warning, Imitatio und Intertextualität, S. 293. 134 J. M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte. Übers. von R.-D. Keil, München 2 1981, S. 332, siehe auch S. 330–336. 135 Singleton, An Essay on the Vita Nuova, S. 95. 136 Wehle, Dichtung über Dichtung, S. 71; cf. auch Carrai, Dante elegiaco, S. 37. 137 Singleton, An Essay on the Vita Nuova, S. 13; siehe auch Branca, Poetica del Rinnovamento, S. 132. 133
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VI. Vita Nova – auf dem Weg zur Resakralisierung der Allegorie
diger Umstände begleitet, die darauf hinweisen, daß sie kein gewöhnlicher Mensch ist (VN 14, 5–10). b) Die Todesvision Dantes Aufgrund seiner Krankheit beginnt Dante, über die Schwäche und Nichtigkeit seines eigenen Lebens nachzusinnen (pensando alla mia deboletta vita; e veggendo come leggiero era lo suo durare; VN 14, 3). Darauf kommt ihm der Gedanke, daß auch Beatrice eines Tages sterben muß: Di necessitade conviene che la gentilissima Beatrice alcuna volta si moia (VN 14, 3). Seine Phantasie beginnt „umherzuirren“ (errare [. . .] la mia fantasia; VN 14, 4), er verfällt in eine Art Wachtraum und sieht erstaunliche und schreckliche Bilder (VN 14, 4 f.): [. . .] chiusi gli occhi e cominciai a travagliare come farnetica persona e a ymaginare in questo modo [. . .] vedere mi parea donne andare scapigliate piangendo per via, maravigliosamente triste; e pareami vedere lo sole oscurare, sì che le stelle si mostravano di colore ch’elli mi facea giudicare che piangessero; e pareami che gli uccelli volando per l’aria cadessero morti, e che fossero grandissimi terremuoti.
In Dantes Vorstellung verdunkelt sich die Sonne, Beben erschüttert die Erde – die Parallelen zwischen dem Tod Beatrices und dem Tod Christi am Kreuz sind unübersehbar. Die trauernden donne in Dantes Vision erinnern an die weinenden Frauen von Jerusalem, denen Jesus auf dem Kreuzweg begegnet sowie an die Frauen, die unter seinem Kreuz stehen.138 Allerdings fügt Dante noch zusätzliche Details ein, die nicht mit dem Tod Christi in Verbindung stehen, wie die vom Himmel fallenden Vögel sowie die Sterne, die zu „weinen“ scheinen.139 Aber auch diese Wunderzeichen, die an eine Sonnenfinsternis gemahnen, drücken aus, daß das Hinscheiden Beatrices ein Ereignis ist, das das Universum bzw. die ganze Natur erschüttert. Tatsächlich erscheint die Stadt durch den Verlust wie „verwitwet“ und aller Würde entkleidet (rimase tutta la sopradecta cittade quasi vedova dispogliata da ogni dignitade; VN 19, 8), wie das Jeremiaszitat am Beginn des Kapitels 19 ausdrückt (facta est quasi vidua). Dieser Gedanke wird verstärkt im Pilgersonett wiederaufgenommen (Deh, peregrini, che pensosi andate; VN 29, 9 f.), wo es heißt, daß die Stadt, die hier sogar als dolorosa cittade (VN 29, 3) bezeichnet wird, ihre beatrice, ihre „Heilbringerin“, verloren hat: Ell’à perduta la sua beatrice (VN 29, 10, V. 12).
138 Das Erdbeben beim Tod Christi wird berichtet bei Mt. 27, 51; die Finsternis bei Mt. 27, 45; Mk. 15, 33; Lk. 23, 44; von den weinenden Frauen am Kreuzweg erzählt Lukas (Lk. 23, 27–31), während die Frauen unter dem Kreuz bei Mt. 27, 55; Mk. 15, 40–42; Lk. 23, 55 sowie Joh. 19, 25 erwähnt sind. 139 Singleton, An Essay on the Vita Nuova, S. 20.
8. Beatrice beata
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Von einem nicht näher bezeichneten Freund erhält Dante, immer noch in seiner Vorstellung, die Todesnachricht: „Or non sai? la tua mirabile donna è partita di questo secolo.“ (ibd.). Die Frage Or non sai? erinnert an die Frage der Jünger an den auferstandenen Christus in der Emmauserzählung, als sie ihn nicht erkennen: Tu solus peregrinus es in Hierusalem et non cognovisti quae facta sunt in illa his diebus? (Lk. 24, 28).140 Übrigens kehrt auch dieses Motiv im Pilgersonett wieder, wo Dante sich mit dieser Frage an die Pilger wendet: venite voi da sì lontana gente / [. . .] / che non piangete [. . .]? (VN 29, 9, V. 3–5).141 Die Formulierung partita di questo secolo ist wohl aus dem Requiem, der Totenmesse, übernommen worden, wo es in der Oration heißt: anima [. . .] quam hodie de hoc saeculo migrare iussisti.142 In der Fortsetzung der Vision sieht Dante, wie Beatrices Seele in Gestalt einer weißen Wolke (una nebuletta bianchissima) von Engeln in den Himmel getragen wird (VN 14, 7): Io imaginava di guardare verso lo cielo, e pareami vedere moltitudine d’angeli li quali tornassero in suso, ed aveano dinanzi da loro una nebuletta bianchissima. A me parea che questi angeli cantassero gloriosamente, e le parole del loro canto mi parea udire che fossero queste: Osanna in excelsis; e altro non mi parea udire.
Der Hosanna-Gesang der Engel am Himmel erinnert zum einen an die Geburt Christi (Lk. 1, 9–11), zum anderen an den Einzug Christi in Jerusalem am Palmsonntag (Mk. 11, 10; Lk. 19, 38 f.; Joh. 12, 13; cf. auch das Sanctus der Hl. Messe).143 Die Analogie Beatrice – Christus wird somit noch fortgesetzt. Zwar handelt es sich bei dieser Beziehung um eine Ähnlichkeitsrelation, und nicht um eine Allegorie144, aber diese Stilisierung Beatrices erscheint auf den ersten Blick dennoch problematisch, könnte man ihr doch vorwerfen, daß sie „fast unabweichlich in den Einzugsbereich theologischer Häresie“ gerät, wie Regn es ausdrückt.145 Allerdings muß man sich vor Augen halten, daß das ganze Mittelalter vom Gedanken der imitatio Christi beseelt war. Möglicherweise folgt Dante diesem Schema, indem er Beatrice als so heiligmäßig darstellt, daß sie in der Nachfolge Christi schon sehr weit fortgeschritten ist. Zudem bedient er sich des Traumes bzw. der Vision gleichsam als „Deckman140
Vita Nova, hrsg. v. Gorni, S. 126 zu VN 14, 5. Cf. auch Vita Nova, hrsg. v. Rossi, S. 213 zu VN 29, 9. 142 Das vollständige Römische Meßbuch. Lateinisch und deutsch mit allgemeinen und besonderen Einführungen im Anschluß an das Meßbuch v. Anselm Schott O.S.B., hg. v. Benediktinern der Erzabtei Beuron (= Schott I), Freiburg i. Br. 1962, S. [207] (Requiem am Begräbnistag). Cf. auch Vita Nova, hrsg. v. Gorni, S. 126 zu VN 14, 5. 143 Vita Nova, hrsg. v. Gorni, S. 127 zu VN 14, 7. 144 Singleton, An Essay on the Vita Nuova, S. 22; siehe auch Took, Dante, S. 54 f. 145 Regn, Dantes Beatrice, S. 138. 141
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VI. Vita Nova – auf dem Weg zur Resakralisierung der Allegorie
tel“.146 Dante gebraucht die Typologie, um „die Liebesgeschichte als ein Heilsgeschehen zu perspektivieren“.147 Indem er Beatrice als Typus oder als figura Christi präsentiert, nähert er sich auch hier implizit dem vierfachen Schriftsinn an. Weniger zutreffend ist daher unseres Erachtens die Interpretation von De Robertis, die dieser selbst als „rovesciamento [. . .] radicale“148 bezeichnet. Der Autor sieht nämlich Christus als „,figura‘ di Beatrice“149 und nicht umgekehrt, wie er auch an anderen Stellen Beatrice und nicht Gott selbst als das letzte Ziel Dantes deutet: „Al di là di Beatrice non c’era altro [. . .]“150, und somit „Beatrice è il fine a cui egli tende: non scala all’eterno, ma eterna essa stessa“151. Es scheint jedoch der Vita Nova nicht gerecht zu werden, wollte man Beatrice an die Stelle Gottes setzen. Vor allem der Schluß mit dem klaren Verweis auf Gott (VN 31, 3) steht offensichtlich in Opposition zu dieser Deutung. Aus dem gleichen Grund ist es auch problematisch, Beatrice mit dem „Modell der Inkarnation“ in Verbindung zu setzen, wie Andreas Kablitz anhand des Sonettes Tanto gentile e tanto onesta pare (VN 17, 5–7) formuliert.152 Der Autor versucht dies anhand der Verse E par che sia una cosa venuta / dal cielo in terra (V. 7 f.) zu belegen. Daß eine Analogie Christus-Beatrice in der Vita Nova an vielen Stellen implizit vorhanden ist, wurde bereits mehrfach erwähnt. Dies bedeutet jedoch nicht, daß Dante Beatrice an die Stelle Christi setzt; vielmehr weist er ihr eine Mittlerfunktion zu153: Als donna della salute hat sie letztlich die Aufgabe, Dante zum Heil, also zu Gott zu führen, und nicht, ihn
146
Singleton, An Essay on the Vita Nuova, S. 20. Regn, Dantes Beatrice, S. 137. 148 De Robertis, Il Libro della „Vita Nuova“, S. 124. 149 Ibd. 150 Ibd., S. 87. 151 Ibd., S. 23. 152 A. Kablitz, Inkarnation. Überlegungen zur Konstitution eines Kulturmusters (Novum Testamentum – Dante: Vita nova, Commedia), in: G. Neumann/R. Warning (Hrsg.), Transgressionen. Literatur als Ethnographie, Freiburg i. Br. 2003, S. 39–79, hier S. 66. In demselben Aufsatz stellt der Autor im übrigen zunächst die These auf, die Inkarnation Christi sei in Parallele zur Erschaffung der Welt durch Gott Vater zu sehen (S. 59, 61 u. 64 et passim). Es sei noch am Rande vermerkt, daß die Vorstellung, Gott Vater habe (verkürzt gesagt) zunächst die Welt, und dann den menschgewordenen Gottessohn „hervorgebracht“, im Gegensatz zur christlichen Lehre von der ewigen, ungeteilten und allmächtigen Dreifaltigkeit steht. Der Johannesprolog (Joh. 1, 1–14) verknüpft nicht „die Geschichte von der Erschaffung der Welt und der Geburt des Erlösers bis zur Ununterscheidbarkeit“ (so Kablitz, Inkarnation, S. 59), sondern er macht deutlich, daß es ein- und derselbe Gott ist, der die Welt erschaffen hat und der Mensch geworden ist. Es sei noch auf die Dreifaltigkeitspräfation verwiesen, die die Lehre von der Trinität in klare Worte faßt: [. . .] Deus: Qui cum unigenito filio tuo et Spiritu Sancto unus es Deus, unus es Dominus: non in unius singularitate personae, sed in unius Trinitate substantiae. Quod enim de tua gloria, revelante te, credimus, hoc de Filio tuo, hoc de Spiritu Sancto sine differentia discretionis sentimus (Das vollständige Römische Meßbuch (= Schott I), Freiburg i. Br. 1962, S. 488). 147
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ihrerseits zu erlösen. Dieses Modell deutet sich in der Vita Nova mit der Spiritualisierung der Liebe Dantes an und findet in der Commedia schließlich seine Erfüllung, da Beatrice Dante tatsächlich in das Paradies führt. In der zur Vision gehörigen Kanzone Donna pietosa e di novella etate (VN 14, 17–28) beschreibt Dante die Todesvision mit denselben Details, nämlich wie sich die Sonne verdunkelt, die Vögel vom Himmel fallen und die Erde bebt. Ebenso begleiten auch hier die Engel Beatrices Seele, die als „Wölkchen“ (nuvoletta; V. 60) dargestellt ist, mit Hosanna-Gesang in den Himmel (VN 14, 24 f., V. 49–62): Poi mi parve vedere a poco a poco turbar lo sole e apparir la stella, e pianger elli ed ella; cader li augelli volando per l’âre, e la terra tremare; e omo apparve scolorito e fioco dicendomi: – Che fai? non sai novella? mort’ è la donna tua, ch’era sì bella –. Levava gli occhi miei bagnati in pianti e vedea, che parean pioggia di manna, gli angeli che tornavan suso in cielo; e una nuvoletta avean davanti, dopo la qual gridavan tutti: „Osanna!“, e s’altro avesser detto, a voi dire’lo.
Diese detailreiche Inszenierung von Beatrices Tod bzw. „Himmelfahrt“ mit vielen biblischen Anklängen erinnert in mancherlei Hinsicht an ihre „Wiederkunft“ im Purgatorio (Purg. XXX). Dort wird die Wiederbegegnung zwischen ihr und Dante im Rahmen eines großen allegorischen Dramas vorgeführt, wie wir noch sehen werden. Möglicherweise hat sich Dante bei der Gestaltung von Beatrices Entrückung von der zeitgenössischen Ikonographie der Entschlafung Mariens inspirieren lassen. Wie Beatrices Tod das ganze Universum erschüttert, so wird sie bei ihrem Wiederauftreten in Purg. XXX als donna della salute für die gesamte Menschheit präsentiert. c) Demut und Todessehnsucht Am Ende seiner Vision von Beatrices Tod und Himmelfahrt sieht Dante, wie Damen das Gesicht der Toten mit einem weißen Tuch verhüllen. Er erblickt ihr Antlitz, das einen solchen Frieden ausstrahlt, daß Dante sich selbst den Tod wünscht (VN 14, 8 f.): 153 So auch Witke: „Beatrice as Dante’s means to revelation, rather than revelation itself [. . .]“ (E. Ch. Witke, The River of Light In the Anticlaudianus And the Divina Commedia, in: Comparative Literature, IX (1959), S. 144–156, hier S. 152).
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VI. Vita Nova – auf dem Weg zur Resakralisierung der Allegorie
E pareami che donne la covrissero, cioè la sua testa, con uno bianco velo; e pareami che la sua faccia avesse tanto aspecto d’umilitade, che parea che dicesse: „Io sono a vedere lo Principio della pace“. In questa ymaginatione mi giunse tanta umilitade per vedere lei, che io chiamava la Morte e dicea: „Dolcissima Morte, vieni a me! E non m’essere villana, però che tu dêi essere gentile, in tale parte se’ stata! Or vieni a me, che molto ti disidero! [. . .]“
Eine der hervorragenden Tugenden Beatrices war schon zu ihren Lebzeiten die Demut (umilitade) – wir erinnern uns noch einmal an die loda-Sonette, wo dieser Begriff mehrfach rekurriert. Nun, im Tode, scheint sich diese umilitade noch zu vervollkommnen: Beatrice ist ganz und gar eins geworden mit dem Willen Gottes, der sie zu sich gerufen hat. Ihr Antlitz strahlt einen überirdischen Frieden aus. Übrigens sind die Worte Io sono a vedere lo Principio della pace die einzigen in der Vita Nova, die ihr direkt, in der ersten Person Singular, in den Mund gelegt werden.154 Diese Unterwerfung unter den Willen Gottes überträgt sich auf Dante (mi giunse tanta umilitade per vedere lei), so daß er sich den Tod wünscht (Dolcissima Morte, vieni a me!). Durch das „Zusammentreffen“ mit Beatrice ist sogar der Tod selbst nicht mehr villana, wie es noch beim Tod der Freundin geheißen hatte (Morte villana, di pietà nemica; VN 3, 8–11), sondern gentile und daher erstrebenswert (E non m’essere villana, però che tu dêi essere gentile, in tale parte se’ stata! Or vieni a me, che molto ti disidero!). Diese beiden Motive, das der umilitade und dasjenige des durch Beatrice veredelten Todes, werden auch in der Kanzone Donna pietosa ausgeführt (VN 14, 26 f., V. 65–79): Lo ymaginar fallace mi condusse a veder madonna morta; e quand’io l’avea scorta, vedea che donne la covrian d’un velo; ed avea seco Umilità verace, che parea che dicesse: – Io sono in pace –. Io divenia nel dolor sì umile veggendo in lei tanta umiltà formata, ch’io dicea: – Morte, assai dolce ti tegno: tu dêi omai esser cosa gentile, poi che tu se’ nella mia donna stata, e dêi aver pietate e non disdegno. Vedi che sì desideroso vegno d’esser de’ tuoi, ch’io ti somiglio in fede. Vieni, che ’l cor te chiede –.
In dieser Kanzonenstrophe wird die Demut Beatrices und deren Wirkung auf Dante noch deutlicher hervorgehoben als im Prosatext, da hier der Wortstamm 154
Gorni, Saggio di lettura zu VN 14, S. 262.
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umil- wie in einer Art Polyptoton dreimal wiederkehrt: Umilità (V. 69), umile (V. 71) und umiltà (V. 72). Wie in der Prosa wird auch hier der Tod als dolce und gentile bezeichnet, da er bei Beatrice gewesen sei (Morte, assai dolce ti tegno: / tu dêi omai esser cosa gentile / poi che tu se’ nella mia donna stata; V. 73–75). Dem Tod selbst werden damit diejenigen Attribute beigelegt, mit denen die Stilnovisten ihre donna zu preisen pflegten: gentile, dolce. Das Motiv des erwünschten Todes stammt allerdings, ebenso wie die hagiographischen Elemente in der Vita Nova, aus der franziskanischen Tradition.155 Nachdem Beatrices Tod analog zum Sterben Christi am Kreuz vorgeführt wurde, gestattet Dante dem Leser (und sich selbst in seiner Vision) einen kurzen Blick auf ihr friedliches Antlitz, bevor es von den Damen verhüllt wird (vedea che donne la covrian d’un velo; V. 68). Der Friede, den Beatrice ausstrahlt (Io sono in pace; V. 70), nimmt gleichsam die Blasphemie wieder zurück: Sie ist nun im Tod mit Gott vereint, ohne sich an dessen Platz stellen zu wollen, wie nicht zuletzt die Betonung der Demut zeigt. Hervorzuheben wäre in diesem Zusammenhang zudem, daß es sich beim Tod Beatrices nicht wie bei Christi Sterben um einen Opfertod handelt. Beatrice stirbt nicht „salvificamente, per il suo fedele“156, denn in der Vita Nova ist nirgendwo von einem Opfer die Rede. Vielmehr ist ihr Tod marianisch modelliert, wie bereits angedeutet. Es bleibt jedoch die Spiritualisierung Beatrices, die Dante bei ihrem wirklichen Tod mit Hilfe der Zahlensymbolik verdeutlicht.157 d) Il „numero amico“ Erst mit Beatrices Tod wird endgültig erkennbar, daß sie – obgleich ein sterblicher Mensch – tatsächlich ein Wunder ist. „The final revelation of miracle came with her death.“158 Dies zeigt sich sowohl an den Umständen ihres Sterbens in Dantes Vision als auch an den geheimnisvollen Beziehungen zwischen ihr und der Zahl Neun. So ist diese Zahl in allen drei Visionen gegenwär155 Branca, Poetica del Rinnovamento, S. 142. S. zur hagiograohischen Tradition auch Branca, ibd., S. 134–148. Stefano Carrai interpretiert die Vita Nova als „elegischen Text“ und macht darauf aufmerksam, daß das Motiv der Todessehnsucht auch bei Boethius zu finden ist. (Carrai, Dante elegiaco, Kap. I: „La Vita Nova come testo elegiaco“, S. 11–41, hier S. 25; siehe auch S. 31 f.). 156 R. Antonelli, La morte di Beatrice e la struttura della storia, in: M. Picchio Simonelli (Hrsg.), Beatrice nell’opera di Dante, S. 35–56, v. a. S. 52. 157 Barbara Nolan geht sogar so weit, Dante als „the evangelist for a spiritualized Beatrice“ zu bezeichnen (B. Nolan, The Vita Nuova: Dante’s Book of Revelation, in: Dante Studies, LXXXVIII (1970), S. 1–77, hier S. 73). 158 Singleton, An Essay on the Vita Nuova, S. 6.
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VI. Vita Nova – auf dem Weg zur Resakralisierung der Allegorie
tig, die ihren Tod vorhersagen; sie ist „the distinguishing mark“159, die diese Prophezeiungen von den anderen Träumen und Erscheinungen der Vita Nova unterscheidet. Als Beatrice wirklich stirbt, ist Dante unfähig, über ihre partita da noi (VN 19, 2) zu schreiben (non sarebbe sufficiente la mia lingua a tractare come si converrebbe di ciò; ibd.). In der Tat enthält das Kap. 19 auch kein Gedicht, sondern statt dessen einen Exkurs über die Zahl Neun, in dem zunächst der Zusammenhang mit ihrem Tod dargelegt wird. Zu diesem Zweck führt Dante drei verschiedene Kalender ein, in denen jeweils ihr Todesdatum mit der Zahl Neun in Verbindung gebracht wird, und zwar secondo l’usanza d’Arabia, secondo l’usanza di Siria und schließlich nach der christlichen Zeitrechnung, secondo l’usanza nostra (VN 19, 4). Dantes Vorliebe für astronomische Umschreibungen tritt auch in der Commedia an vielen Stellen zutage. So stellt Gorni fest: „Dante ama i calendari. Ne cita addirittura tre per definire, in modo insieme simbolico e universale, giorno, mese e anno della morte di Beatrice“.160 Aus diesen Berechnungen ergibt sich der 8. Juni 1290 für Beatrices Tod.161 Im zweiten Teil des Exkurses erklärt Dante, warum die Zahl Neun mit Beatrice so „befreundet“ war (alcuna ragione per che questo numero fu allei cotanto amico; VN 19, 3 bzw. Perché questo numero fosse in tanto amico di lei; VN 19, 5). Wie nämlich Dante im folgenden ausführt, ist Beatrice selbst ein Wunder, das aus der mirabile Trinitade kommt. Zahlensymbolisch wird dies wie folgt ausgedrückt: Neun ist das Quadrat von Drei bzw. Drei mit sich selbst multipliziert ergibt Neun. Drei steht für die Dreifaltigkeit, welche der Ursprung aller Wunder und somit auch der Ursprung Beatrices ist, die somit ihrerseits eine „Neun“ ist (VN 19, 6): Ma più sottilmente pensando, e secondo la infallibile veritade, questo numero fue ella medesima: per similitudine dico, e ciò intendo così. Lo numero del tre è la radice del nove, però che, sanza numero altro alcuno, per sé medesimo fa nove, sì come vedemo manifestamente che tre via tre fa nove. Dunque se lo tre è factore per sé medesimo del nove, e lo factore per sé medesimo delli miracoli è tre, cioè Padre e Figlio e Spirito Sancto, li quali sono tre e uno, questa donna fue accompagnata da questo numero del nove a dare ad intendere ch’ella era uno nove, cioè uno miracolo, la cui radice, cioè del miracolo, è solamente la mirabile Trinitade.
159
Ibd., S. 14. G. Gorni, Anniversari. Dante e il tempo ciclico, in: Letture classensi, 26 (1997), S. 111–123, hier S. 112. 161 Gorni, Saggio di lettura zu VN 19, S. 267. Der Autor verweist zudem noch darauf, daß es sich um einen Donnerstag, und zwar den Oktavtag von Fronleichnam handelt. 160
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Dante macht hier noch einmal ganz deutlich, daß Beatrice in engstem Zusammenhang mit der Dreifaltigkeit steht und direkt aus Gott kommt, auch wenn sie Kreatur bleibt. Mit ihrem Tod kehrt sie zu ihem Ursprung zurück und ist deshalb in pace. Mit den zahlensymbolischen Zusammenhängen gibt er klar zu verstehen, daß Beatrice „a miraculous object of love“162 ist.
9. Trauer und Transzendenz Mit dem Verlust der Geliebten selbst zeigt sich, daß auch das zweite Liebesstadium nicht von Dauer sein konnte, da Beatrice ein sterbliches Geschöpf ist. Durch ihren Tod wird Dantes Liebe zu ihr eine weitere Stufe emporgehoben; das dritte und letzte Liebesstadium ist erreicht: „the last stage of the poet’s new life in love is in Heaven“.163 Dante selbst weist darauf hin, daß das oben genannte lamentationes-Zitat (Jer. 1, 1 bzw. VN 19, 1).) als Einführung der neuen Materie dienen sollte: quasi come entrata della nuova materia che apresso viene (VN 19, 8). Wieder ist es eine lange Kanzone, die den letzten Teil einleitet, nämlich Gli occhi dolenti per pietà del core (VN 20, 8–17). Dante verfaßt sie, um sich seinen Schmerz von der Seele zu schreiben: Ora, s’i’ voglio sfogar lo dolore (VN 20, 8, V. 4) und wendet sich auch hier wieder an die donne gentili (V. 9). Noch eine formale Änderung unterscheidet diesen letzten Abschnitt seines Werkes von den vorhergehenden: Dante stellt von nun an die divisione dem Gedicht voran – während sie in den ersten beiden Teilen der Vita Nova immer am Schluß des jeweiligen Kapitels vorgenommen wurde. Es soll damit der Eindruck erzielt werden, daß das Gedicht noch „verwaister“ erscheint: E acciò che questa canzone paia rimanere più vedova dopo lo suo fine, la dividerò prima ch’io la scriva; e cotale modo terrò da qui innanzi (VN 20, 2). An diese Kanzone schließen sich drei kürzere Gedichte, in denen Dante weiterhin seiner Trauer Ausdruck verleiht: Venite a ’ntender li sospiri miei (VN 21, 5 f.), Quantunque volte, lasso, mi rimembra (VN 22, 5–8) und Era venuta nella mente mia (VN 23, 7–11). Das letztgenannte Sonett verfaßt Dante am ersten Jahrestag von Beatrices Tod164: In quello giorno nel quale si compiea l’anno che questa donna era facta delli cittadini di vita eterna (VN 23, 1), wie es auch in den letzten beiden Versen heißt: O nobile intellecto, / oggi fa l’anno che nel ciel salisti (VN 23, 11, V. 13 f.). Dante ist an diesem Gedenktag dabei, in Erinnerung an Beatrice einen Engel zu zeichnen (ricordandomi di lei, disegnava
162
Singleton, An Essay on the Vita Nuova, S. 80. Ibd., S. 96. 164 In der provenzalischen sowie der sizilianischen und toskanischen Lyrik vor den Stilnovisten war es eher üblich, den Jahrestag des innamoramento zu begehen (Carrai, Dante elegiaco, S. 67 f.). 163
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VI. Vita Nova – auf dem Weg zur Resakralisierung der Allegorie
uno angelo; VN 23, 1), als er von nicht näher bezeichneten uomini alli quali si convenia fare onore (ibd.) überrascht wird. Aus dieser Situtation heraus entsteht das Sonett Era venuta nella mente mia, dem er zwei verschiedene Anfänge verleiht: Es gibt zwei erste Quartette, die in zwei unterschiedliche Richtungen führen: Während der erste Anfang (VN 23, 7) Beatrice im Himmel betrachtet, bleibt der zweite (VN 23, 8) gewissermaßen auf der Erde. Dante erwähnt hier erneut den weinenden Amor (Era venuta nella mia mente / quella donna gentil cui piange Amore; VN 23, 8, V. 1–2); außerdem gibt er, wie er selbst in der divisione ankündigt, den Entstehungsmoment des Gedichtes an, also den Zeitpunkt quando questa donna era così venuta nella mia memoria (VN 23, 6). Diese Zeitangabe wird in den beiden letzten Versen (s. o.) präzisiert. Der Mittelteil des Gedichtes nimmt ein Motiv des letzten Sonettes der Vita Nova vorweg (Oltre la spera), nämlich das der von Amor „hinausgeschickten“ Seufzer (Amor [. . .] / s’era svegliato nel destructo core, / e dicea a’ sospiri: „Andate fore!“; VN 23, 9, V. 5–7). Im Unterschied zu Oltre la spera jedoch, das sehr stark auf die Transzendenz bezogen ist, steht hier die Trauer im Vordergrund, wie auch die Wortwahl zeigt: piange Amore (V. 2), destructo core (V. 6), sospiri (V. 7), dolente (V. 8), Piangendo (V. 9), lagrime dogliose [. . .] occhi tristi (V. 11), con maggior pena (V. 12). Die Anrede an Beatrice O nobile intellecto (V. 13) verweist auf die erhöhte Einsicht, die sie nunmehr im Angesicht Gottes hat, und auf ihre „natura angelica“.165 Letztere soll wohl auch durch die beiden verschiedenen Gedichtanfänge, die an zwei Flügel erinnern, ausgedrückt werden. Nach dem Vorschlag Gornis in seiner Nota al testo soll daher das Gedicht mit den zwei cominciamenti wie „una figura a due ali, come di un angelo“166 präsentiert werden (VN 23, 7–11): [Primo cominciamento] Era venuta nella mente mia la gentil donna, che per suo valore fu posta dall’Altissimo Signore nel ciel dell’umiltate, ov’è Maria.
[Secondo cominciamento] Era venuta nella mente mia quella donna gentil cui piange Amore, entro ’n quel punto che lo suo valore vi trasse a riguardar quel ch’io facia
Amor, che nella mente la sentia, s’era svegliato nel destructo core, e dicea a’ sospiri: „Andate fore!“, per che ciascun dolente si partia. Piangendo uscivan for dello mio pecto con una voce che sovente mena le lagrime dogliose a li occhi tristi. Ma quelli che n’uscian con maggior pena venian dicendo: „O nobile intellecto, oggi fa l’anno che nel ciel salisti“. 165 Vita Nova, hrsg. v. Rossi, S. 180 zu VN 23, 11, V. 13 f. Cf. auch Vita Nova, hrsg. v. Gorni, S. 196 zur selben Stelle. 166 Vita Nova, hrsg. v. Gorni, Nota al testo, S. 340; cf. auch S. 193 f. zu VN 23, 7.
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Nach einiger Zeit der Trauer versucht Dante, sich von einer donna gentile trösten zu lassen, die ihn vom Fenster aus erblickt und Mitleid mit ihm hat: vidi una gentil donna giovane e bella molto, la quale da una finestra mi riguardava sì pietosamente quanto alla vista, che tutta la pietà parea in lei accolta (VN 24, 2). Unter dem Eindruck dieser Mitleidigen verfaßt Dante vier Sonette: Videro gli occhi miei quanta pietate (VN 24, 5–8), Color d’amore e di pietà sembianti (VN 25, 4 f.), L’amaro lagrimar che voi faceste (VN 26, 6–8) und Gentil pensero che parla di voi (VN 27, 8–10). Es ist wohl kein Zufall, daß es sich hier um eine Vierergruppe von Sonetten handelt, während ansonsten die Vita Nova in Dreier- und Neunergruppen eingeteilt werden kann, wie wir gesehen haben. So drückt Dante seine Abschweifung auch zahlensymbolisch aus: Die „göttliche“ Zahl Drei und deren Multiplikation mit sich selbst, die Neun, sind Beatrice vorbehalten. Die Vier dagegen, die mehr auf das Irdische verweist (cf. etwa die vier Elemente, die vier Köpersäfte oder die vier Kardinaltugenden im Unterschied zu den drei göttlichen), wird mit der anderen Frau in Verbindung gebracht. Im Convivio kehrt diese donna gentile übrigens wieder; allerdings als Allegorie der Philosophie. Dante bedient sich dort somit noch einmal des Schemas der abstrakten Personifikation, der allegoria dei poeti. Bei der Interpretation seiner Kanzone Voi che ’ntendendo il terzo ciel movete kommt Dante auf den Trost zu sprechen, den er nach dem Tod Beatrices bei der Philosophie gesucht hat. Zunächst habe er „das Buch des Boethius“ gelesen, sodann den Laelius de amicitia von Cicero.167 Er stellt sich die Philosophie als donna di questi autori und als donna gentile168 vor und, so berichtet er weiter, sucht sie dort auf, wo sie sich wirklich zeigt, bis er in Liebe zu ihr entbrennt (Conv. II, xi, 7): E da questo imaginare cominciai ad andare là dov’ella si dimostrava veracemente, cioè ne le scuole de li religiosi e a le disputazioni de li filosofanti; sì che in picciol tempo, forse di trenta mesi, cominciai tanto a sentire de la sua dolcezza, che lo suo amore cacciava e distruggeva ogni altro pensiero.
Aufgrund dieser Liebe verfaßte Dante schließlich die oben genannte Kanzone, wie er in Conv. II, xi, 9 erläutert. Auch in Conv. II, xv, 3 rühmt er die Philosophie – immer noch im Zusammenhang mit der Auslegung von Voi che ’ntendendo il terzo ciel movete – als donna piena di dolcezza, ornata d’onestade, mirabile di savere, gloriosa di libertade.169 Von dieser Deutung der donna gentile als Philosophie ist allerdings in der Vita Nova noch nicht die Rede; hier ist sie nur eine nicht näher genannte edle Frau, der Dante sich eine Zeitlang zuwendet. 167
Conv. II, xi, 2 f. Conv. II, xi, 5 f. 169 Eine eingehende Interpretation der genannten Stellen würde zu weit vom Thema wegführen. 168
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Als er jedoch eines Tages in einer forte ymaginatione Beatrice so erblickt, wie er sie zum ersten Mal gesehen hat, nämlich con quelle vestimenta sanguigne [. . .] e [. . .] giovane in simile etade (VN 28, 1), erfaßt ihn schmerzliche Reue (lo mio cuore cominciò dolorosamente a pentere) darüber, daß er sich von einem desiderio hat übermannen lassen, das gegen die Vernunft (contra la costanzia della Ragione) gerichtet war (VN 28, 2). Er kehrt „mit allen Gedanken“ zu Beatrice zurück: si rivolsero tutti li miei pensamenti alla loro gentilissima Beatrice (ibd.). Er verfaßt ein Sonett, das erneut seinen Schmerz um Beatrice ausdrückt: Lasso, per forza di molti sospiri (VN 28, 8–10). Danach folgt das bereits erwähnte Pilgersonett Deh, peregrini, che pensosi andate (VN 29, 9 f.), so daß sich mit dem letzten Gedicht Oltre la spera che più larga gira (VN 30, 10–13) nach der donna-gentile-Episode wiederum eine Dreiergruppe von Gedichten ergibt, mit der die lyrischen Teile der Vita Nova abschließen. Dantes Liebe zu Beatrice ist nun weit über die profane Liebe zu einer Frau, wie die Dichter sie vor ihm besungen hatten, hinausgewachsen. Seine Liebe ist völlig in überirdische caritas umgewandelt und damit gleichzeitig auch auf Gott gerichtet: „One after another [. . .] the glosses of the Book of Memory disclose that Beatrice is a miracle, that love of her is a love whose other name is charity, being also love of God.“170 So zeigt sich die Spiritualisierung Beatrices beispielweise in der kurzen Kanzone Quantunque volte, lasso, mi rimembra (VN 22, 8, V. 20–26): per che ’l piacere de la sua biltate, partendo sé dalla nostra veduta, divenne spirital bellezza grande, che per lo cielo spande luce d’amor, che li angeli saluta, e lo ’ntellecto loro alto e sottile face maravigliar, sì v’è gentile.
Hier wird explizit ausgedrückt, daß Beatrices Schönheit im Himmel eine spiritualisierte, eine rein geistige Schönheit wird (divenne spirital bellezza grande; V. 22)171 und sogar die Engel, die ja ein höheres Erkenntnisvermögen haben, in Erstaunen setzt (e lo ’ntellecto loro alto e sottile / face maravigliar; V. 25 f.). Besonders hervorgehoben wird noch, daß Beatrice nunmehr die Engel im Himmel mit ihrem Gruß beglückt: che li angeli saluta (V. 24). Auch der oben erwähnte erste Anfang von Era venuta nella mia mente zeigt, wie Dante nunmehr seinen Sinn ganz auf Beatrice in der Ewigkeit richtet (VN 23, 7, V. 1–4):
170
Singleton, An Essay on the Vita Nuova, S. 75. Gorni paraphrasiert: „,radiosa bellezza di spirito beato‘“ (Vita Nova, hrsg. v. Gorni, S. 190 zu VN 22, 8, V. 22). 171
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Era venuta nella mente mia la gentil donna, che per suo valore fu posta dall’Altissimo Signore nel ciel dell’umiltate, ov’è Maria.
Neben den Epitheta gentile bzw. gentilissima, wie Dante Beatrice schon zu ihren Lebzeiten gerne bezeichnet hatte, tritt nun verstärkt auch das Adjektiv gloriosa auf, das auch ein marianisches Epitheton ist. Es war uns auch schon zu Beginn der Vita Nova begegnet, häuft sich aber gegen Ende des Textes, z. B. in VN 20, 11, V. 31; 21, 1; 22, 1. Am deutlichsten wird dieser Transzendenzbezug jedoch im letzten Sonett der Vita Nova, auf das bereits mehrfach hingewiesen wurde (VN 30, 10–13): Oltre la spera che più larga gira passa ’l sospiro ch’esce del mio core: intelligenza nova, che l’Amore piangendo mette in lui, pur sù lo tira. Quand’elli è giunto là ove disira, vede una donna, che riceve onore, e luce sì, che per lo suo splendore lo peregrino spirito la mira. Vedela tal, che quando ’l mi ridice, io nollo ’ntendo, sì parla sottile al cor dolente, che lo fa parlare. So io che parla di quella gentile, però che spesso ricorda Beatrice, sì ch’io lo ’ntendo ben, donne mie care.
Dieses Sonett ruft einige Schlüsselbegriffe der Vita Nova erneut auf und bietet somit eine Art Zusammenfassung des libello; zugleich verweist es bereits voraus auf die Divina Commedia. So werden die Grundthemen der Vita Nova noch einmal durchgespielt: An erster Stelle natürlich die Liebe zu Beatrice an sich, die aber gleich mit der Trauer um sie verbunden wird, wie das Enjambement der Verse 3–4 zeigt: Amore/piangendo; daher auch der sehnsuchtsvolle Seufzer (sospiro; V. 2). Zugleich schließt Amore / piangendo auch den Kreis zum ersten Sonett, wo Amor weinend weggeht (Apresso gir lo ne vedea piangendo; VN 1, 23, V. 14). Die Thematik der Trauer wird fortgesetzt in cor dolente (V. 11). Der stilo della loda wird wieder aufgerufen in una donna che riceve onore (V. 6) – wir erinnern uns an Aiutatemi, donne, farle onore (VN 12, 2, V. 8) – und am Ende in quella gentile / [. . .] Beatrice (V. 12 f.). Hier stehen die Wörter gentile und Beatrice jeweils markant am Versende, so daß sie zum einen jedes für sich hervorgehoben erscheinen, zum anderen aber eine Parallele bilden, aus der man leicht quella gentile Beatrice herauslesen kann. So wird zum einen noch einmal betont, daß Beatrice der Inbegriff der gentilezza ist, zum anderen wird auch an
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den engen Zusammenhang der Liebeslehre des Dolce Stil Novo mit dem cor gentile erinnert (cf. Amore e ’l cor gentil sono una cosa; VN 11, 3–5). Das Adjektiv nova (V. 3) ist seinerseits ein Schlüsselbegriff, in dem der Titel Vita Nova mitschwingt. Die Anrede an die donne, die das Gedicht in Auftrag gegeben hatten (Poi mandaro due donne gentili a me pregando che io mandassi loro di queste parole rimate; VN 30, 1), spannt den Bogen zu mehreren vorhergehenden Gedichten, hat sich Dante doch stets gerne an edle Damen gewandt, um mit ihnen über die Liebe bzw. über seine Trauer um Beatrice zu sprechen, wie er in der Kanzone nach ihrem Tod Gli occhi dolenti zum Ausdruck bringt (VN 20, 9, V. 7–11): E perché me ricorda ch’io parlai della mia donna, mentre che vivea, donne gentili, volentier con voi, non voi’ parlare altrui, se non a cor gentil che in donna sia.
Als weitere Beispiele wären in derselben Kanzone e voi, donne, à lasciate (VN 20, 10, V. 17) zu nennen, außerdem Donne ch’avete intellecto d’amore (VN 10, 15, V. 1), das bereits genannte Aiutatemi, donne, farle onore (VN 12, 2, V. 8), Ditelmi, donne, che me ’l dice il core (VN 13, 9, V. 7) und schließlich Donne, dicerollo a voi (VN 14, 20, V. 28). Diese uns bereits vertraute Thematik der Vita Nova wird nun in diesem letzten Sonett in einen sakralen bzw. transzendenten Kontext überführt und erhält somit einen neuen, höheren Sinn.172 Das erste Quartett bringt die Aufwärtsbewegung des Gedankens zum Ausdruck: Wie er in der Prosa kommentiert, sendet Dante seinen Gedanken (pensero, VN 30, 3), den er aufgrund seiner Wirkung (effecto; ibd.) im Gedicht als Seufzer (sospiro; V. 2) bezeichnet, zum Firmament, und zwar über die äußerste Himmelssphäre, den Kristallhimmel hinaus: Oltre la spera che più larga gira (V. 1). Ziel des sospiro ist also das Empyreum, der Sitz Gottes und der Seligen, das jenseits der letzten Himmelssphäre liegt.173 Auch in der Divina Commedia wird der Jenseitswanderer Dante seine Reise dort beenden. Im Verb girare wird das Rotieren der Himmelskreise angedeutet, und damit auch die Kosmologie des ptolemäischen Systems, die der Divina Commedia zugrundeliegt. Die Aufwärtsbewegung wird am Ende des ersten Quartetts deutlich: pur sù lo tira (V. 4). Das Subjekt dazu ist intelligenza nova (V. 3), d. h. eine außergewöhnliche „capacità intellettiva che ha funzione 172 Cf. zum letzten Sonett auch R. Guardini, Das letzte Sonett der Vita Nuova [1953], in: ders., Landschaft der Ewigkeit [2. Aufl. 1958], Dantestudien, Bd. 2, Mainz/Paderborn 1996, S. 69–78, v. a. S. 74–76, ferner Branca, Poetica del Rinnovamento, S. 128. 173 Cf. auch Vita Nova, hrsg. v. Rossi, S. 218 zu VN 30, 10, V. 1 f.
9. Trauer und Transzendenz
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motrice come il Primo Mobile appena evocato.“174 Die Liebe verleiht dem Seufzer bzw. Gedanken durch sein Weinen eine neue Einsicht, die das irdische Erkennen übersteigt und ihm die Kraft zum Aufstieg gibt.175 Mit Amore ist hier wohl einerseits die Liebe zu Beatrice gemeint, andererseits könnte der Begriff aber auch auf Gott selbst hindeuten, der die Liebe ist und der später in der Commedia dem Jenseitswanderer Dante Einsicht in die Ewigkeit, also auch eine Art intelligenza nova, verleihen wird, dann allerdings in der Seligkeit und nicht mehr piangendo. Der Gedanke der erhöhten Einsicht (intelligenza) beim Aufstieg in die Himmelssphären kommt übrigens auch in der Himmelsreise der Prudencia des Alanus ab Insulis zum Ausdruck (Acl. V–VI), erhält doch die Klugheit jeweils andere Namen (Fronesis beispielweise in Acl. VI, 7, Sophia bzw. Sophya in VI, 124 und 131). Ob Dante hier tatsächlich auf Alanus anspielt, läßt sich nicht mit Sicherheit beweisen; daß er aber den Anticlaudianus gekannt und sich bei der Gestaltung seines Paradiso daran orientiert hat, kann man wohl annehmen. Wir werden diese Frage an anderer Stelle wieder aufgreifen. Im zweiten Quartett ist die Aufwärtsbewegung beendet. Der Gedanke, nunmehr peregrino spirito genannt, ist an seinem erwünschten Ziel angekommen (Quand’elli è giunto là ove disira; V. 5). Das Motiv des Pilgers (peregrino) weist zum einen zurück auf das unmittelbar vorhergehende Pilgersonett Deh, peregrini176, zum andern voraus auf die Tatsache des „Reisens“ in den Himmel, wie Dante selbst kommentiert: E chiamolo allora „spirito peregrino“, acciò che spiritualmente va lassù e, sì come peregrino lo quale è fuori della sua patria, vi stae (VN 30, 5). Auch in der Divina Commedia ist Dante eine Art „Pilger“.177 In diesem zweiten Quartett wird beschrieben, was Dantes spirito im Himmel sieht, nämlich, um seine eigene Formulierung aus dem Brief an Cangrande zu gebrauchen, in diesem Falle den status animae post mortem178, speziell den „Zustand“ (status) Beatrices. Dieser wird mit einer ausgeprägten Lichtmetaphorik umschrieben, wie sie auch das Paradiso kennzeichnet: vede una donna che riceve onore, / e luce sì, che per lo suo splendore / lo peregrino spirito la mira (V. 6–8). Hervorzuheben sind aus dem Wortfeld „Licht“ hier die Begriffe luce und splendore: Letzterer ist seinerseits durch den Reim mit einem weiteren 174 Vita Nova, hrsg. v. Rossi, S. 218 zu VN 30, 10, V. 3. Der Autor weist auch darauf hin, daß nova hier im Sinn von straordinaria gebraucht werden kann (ibd.); cf. auch Vita Nova, hrsg. v. Gorni, S. 229 zur selben Stelle. 175 Cf. auch Vita Nuova, hrsg. v. De Robertis, S. 245 zu VN XLI, 10. 176 Cf. auch Carrai, Dante elegiaco, S. 105. 177 Cf. zum Pilgermotiv in Convivio, Vita Nova und Divina Commedia auch J. Bolton Holloway, The Pilgrim and the Book. A Study of Dante, Langland and Chaucer, New York u. a. 1987, S. 137–161. 178 Nach Dante, Ep. XIII, 24.
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VI. Vita Nova – auf dem Weg zur Resakralisierung der Allegorie
Schlüsselwort verbunden, onore (V. 6). Außerdem ist auch das Wortfeld „sehen“ stark vertreten mit dem Verbformen vede (6) und mira (8), welche an exponierter Stelle, einmal am Versanfang und einmal am Versende stehen. Damit wird ein besonderer Akzent auf die Kontemplation gelegt: Der peregrino spirito betrachtet Beatrice in der Lichtfülle ihrer Seligkeit, welche ihrerseits Gott betrachtet. Dies kommt am Schluß der Vita Nova noch einmal deutlich zum Ausdruck, wo auch das Verb mirare erneut aufgenommen wird: quella benedecta Beatrice, la quale gloriosamente mira ne la faccia di Colui „qui est per omnia secula benedictus“ (VN 31, 3). Fortgesetzt wird dieses Motiv des Sehens gleich zu Beginn des ersten Terzettes: Vedela tal ( 9) verbindet die vorhergehenden Verse mit den folgenden: Der spirito sieht Beatrice „in einem solchen Zustand“ (tal), daß es mit irdischen Ausdrucksmitteln nicht zu beschreiben ist. Auch dieser Unsagbarkeitstopos kehrt im Paradiso häufig wieder. In diesem Terzett tritt der sospiro-spirito nun gleichsam die „Rückreise“ an. Damit ergibt sich im Kontrast zu den Quartetten eine Abwärtsbewegung: Der peregrino spirito, der immer noch Subjekt ist, kehrt zu dem cor dolente (V. 11) zurück, von dem er ausgegangen ist (esce del mio core; V. 2), und berichtet dem Dichter, was er gesehen hat (quando ’l mi ridice; V. 9). Da dieser jedoch noch in seinem irdischen Denken verhaftet ist und keine intelligenza nova besitzt, kann er ihn nicht verstehen (io nollo ’ntendo; V. 10), denn er spricht von so erhabenen Dingen (sì parla sottile; ibd.). In der Prosa drückt Dante dies mit Hilfe eines Vergleichs aus (VN 30, 6): lo mio pensero sale nella qualità di costei in grado che lo mio intellecto nol può comprendere; con ciò sia cosa che lo nostro intellecto s’abbia a quelle benedecte anime sì come l’occhio debole al sole.
Der Begriff der subtilitas ist aus der Rhetorik entlehnt und „denota profondità e raffinata elaborazione concettuale“.179 Im letzten Terzett ist die Abwärtsbewegung zum Ende gekommen. Nunmehr steht der Dichter im Vordergrund: mit So io (V. 12) wird die Betonung auf das Ich gelegt. Schon in den vorhergehenden Versen hatte es geheißen, daß er nicht versteht, nun wird dies präzisiert: Die unsagbaren Dinge, die ihm von der ewigen Seligkeit berichtet werden, kann er tatsächlich nicht begreifen. Da er aber Beatrices Namen häufig heraushört (però che spesso ricorda Beatrice; V. 13), ist ihm klar, daß von quella gentile (V. 12) die Rede ist, und dies kann er auch gut verstehen (sì ch’io lo ’ntendo ben; V. 14). Mit der Opposition io nollo ’ntendo (V. 10) – sì ch’io lo ’ntendo ben (V. 14) werden die beiden Terzette miteinander verschränkt. Es entsteht eine Art Paradoxon: Auf der einen Seite steht die „ineffabilità della visione“180, auf der anderen ist es erneut der Name
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Vita Nova, hrsg. v. Rossi, S. 219 zu VN 30, 12, V. 10. Ibd., S. 230 zu VN 30, 13, V. 14.
10. Quella benedecta Beatrice – der Blick in die Ewigkeit
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Beatrice, der ihm hier die Einsicht, die intelligenza nova verleiht. Diese „neue Einsicht“ wird Dante schließlich in Fülle zuteil werden, wenn er unter Beatrices Führung in das Paradies eingehen wird. Mit der Anrede donne mie care (V. 14) am Schluß ist der Dichter auch gedanklich wieder auf der Erde angelangt. Das Wortfeld „sprechen“ zieht sich durch die sechs letzten Verse; besonders auffällig ist dabei die dreimalige Verwendung des Verbs parlare: ridice (V. 9), parla (V. 10), lo fa parlare (V. 11), parla (V. 12) und ricorda (V. 13, im Sinn von „erwähnen“). Während also in den Quartetten die Kontemplation im Vordergrund stand, ist in den Terzetten die Wiedererzählung des Geschauten in der Sprache bzw. die Unmöglichkeit der adäquaten Wiedergabe thematisiert. Das letzte Sonett der Vita Nova birgt somit bereits die Grundgedanken in sich, die die dritte Cantica der Divina Commedia durchziehen werden – man könnte es verkürzt als „kleines Paradiso“ bezeichnen.
10. Quella benedecta Beatrice – der Blick in die Ewigkeit Die Gedanken des Dichters verbleiben von nun an in der Ewigkeit bei Beatrice, wie Dante in der Himmelsreise seines Gedankens einprägsam vorgeführt hat. Man könnte daher dieses letzte Gedicht der Vita Nova auch als „anagogisches Sonett“ charakterisieren, da es den sensus anagogicus, der bekanntlich auf die Ewigkeit zielt, erstmals in dichterische Form bringt. Auch die Tatsache, daß Dante, wie bereits erwähnt, in der Prosa zu diesem Gedicht in bezug auf den peregrino spirito den Begriff spiritualmente (VN 30, 5) verwendet, scheint darauf hinzudeuten, daß er „auf dem Weg zum vierfachen Schriftsinn“ ist, klingt doch der sensus spiritualis hier deutlich mit an. Gewiß ist Dante von der Divina Commedia noch weit entfernt: „nonostante la magnanimità dell’intento, il Dante del Paradiso è ancora lontano.“181 Dennoch scheint sich hier das Grundkonzept einer Jenseitsreise, zumindest ins Paradies, oder die Idee einer Wiederbegegnung mit Beatrice im Himmel182 bereits anzudeuten, wenn er im letzten Kapitel sein Vorhaben ankündigt, „würdiger“ von ihr zu sprechen (VN 31, 1 f.): Apresso questo sonetto apparve a me una mirabile visione, nella quale io vidi cose che mi fecero proporre di non dire più di questa benedecta infino a tanto che io potessi più degnamente tractare di lei. E di venire acciò io studio quanto posso, sì com’ella sae, veracemente. Sì che, se piacere sarà di Colui a cui tutte le cose vivono, che la mia vita duri per alquanti anni, io spero di dire di lei quello che mai non fue detto d’alcuna.
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Gorni, Saggio di lettura zu VN 30, S. 278. Cf. auch Carrai, Dante elegiaco, S. 40.
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VI. Vita Nova – auf dem Weg zur Resakralisierung der Allegorie
Mit der Formulierung Apresso questo sonetto wird das vorhergehende Gedicht wie ein eigenes Ereignis behandelt, d. h. es ist von großer Wichtigkeit.183 Die mirabile visione, die darauf folgt, wird nicht näher beschrieben, da die Dinge (io vidi cose), die Dante sieht, unsagbar sind. Das Adjektiv mirabile ist ein typisches Epitheton für Beatrice und weist zurück auf die maravigliosa visione in VN 1, 14.184 Dante faßt daraufhin den Vorsatz, nicht mehr von Beatrice zu sprechen, bis er imstande ist, più degnamente tractare di lei, und nimmt sich vor, von ihr zu sagen, was noch von keiner gesagt wurde (io spero di dire di lei quello che mai non fue detto d’alcuna).185 Dieses Vorhaben ist in der Divina Commedia erfüllt, „in der Beatrice den viator Dante tatsächlich zu Gott führen wird und damit Dantes Poetik des Heils in Erfüllung gehen läßt.“186 Im letzten Abschnitt der Vita Nova überschreitet die Liebe zu Beatrice die Schwelle zur Ewigkeit und geht völlig in der caritas auf. „L’itinerario ideale della Vita Nuova [. . .] è un ,itinerario‘ tutto umano, dall’amore-passione [. . .] all’amore-carità [. . .], come è consacrato nelle ultime righe dell’operetta, come è coronato dalla Comedia.“187 Wir haben anfangs gesehen, daß die drei langen canzoni der Vita Nova bedeutsam für die Textstruktur sind: der Zustand des Dichters, der stilo della loda und schließlich die Erinnerung an die verstorbene Beatrice. Analog dazu könnte man die Frage stellen, ob die drei Kapitel, die keine metrischen Teile enthalten, nicht ebenfalls eine gewisse Bedeutung für die Strukturierung des Textes bzw. für die Entwicklung der Handlung haben. Rufen wir uns den Inhalt der drei Prosateile noch einmal kurz in Erinnerung: In VN 16 fügt der Dichter einen Exkurs über Amor als Personifikation ein, womit er die Darstellung Amors als handelnde Person ex post rechfertigt. Danach wird der Liebesgott aus dem Geschehen entfernt, und Beatrice übernimmt seine Stelle. Amor beginnt sich sozusagen in caritas zu wandeln. Danach folgen drei (!) Preisgedichte bis zum nächsten Prosa-Exkurs. VN 19 berichtet nur sehr knapp von Beatrices wirklichem Tod, den Großteil dieses Kapitels nimmt der Exkurs ein, in dem gezeigt wird, daß Beatrice selbst „eine Neun“ ist. Mithilfe der Zahlensymbolik – Neun
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Vita Nova, hrsg. v. Gorni, S. 230 zu VN 31, 1. Ibd., S. 231 zu VN 31, 1; cf. auch Vita Nova, hrsg. v. Rossi, S. 221. 185 Die Ankündigung eines „größeren Werkes“ führt Carrai zurück auf antike Vorbilder; zum einen auf den Beginn der vierten Ekloge Vergils: paulo maiora canemus (Verg. Buc. IV, 1), zum anderen auf die Aufforderung Ovids: incipe opus maius (Ov. Am. III, 1; s. Carrai, Dante elegiaco, S. 40). 186 Regn, „Allegorice pro laurea corona“, S. 143; cf. auch ders., Dantes Beatrice, S. 135. 187 Branca, Poetica del Rinnovamento, S. 126 f.; cf. auch Picone, La Vita Nova come Macrotesto, S. 230. 184
10. Quella benedecta Beatrice – der Blick in die Ewigkeit
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ist das Quadrat von Drei – wird Beatrice selbst theologisch verankert, da ihr Ursprung Gott selbst ist, auch wenn sie selbst Kreatur bleibt. Das letzte Kapitel (VN 31) deutet mit der Erwähnung der nicht näher ausgeführten mirabile visione auf die Commedia hin, in der Beatrice selbst Dante schließlich zu Gott führen wird. Man könnte also sagen, daß die drei reinen Prosateile der Vita Nova die drei Stufen der Spiritualisierung Beatrices und damit der Liebe repräsentieren. Damit sind wir am Ende des libello weit entfernt von der profanen allegoria dei poeti. Die stilnovistische Thematik hat sich Schritt für Schritt gewandelt und ist einem neuen Liebeskonzept gewichen, das die Liebe des Dichters zu seiner Dame in einen religiösen Kontext stellt. Auch wenn Dante hier weder von einer mehrfachen Sinnschichtung im allgemeinen noch von der Bibelexegese im besonderen spricht, ist in den letzten Zeilen der Vita Nova der sensus anagogicus dennoch greifbar. Denn der Blick des Dichters ist nunmehr ganz und gar nach oben gerichtet, wo Beatrice bereits im Angesicht Gottes weilt. So schließt der libello mit der Hoffnung ab, Beatrice einst in der Ewigkeit wiederzusehen – und die letzten Worte beziehen sich nicht auf sie, sondern auf Gott (VN 31, 3): E poi piaccia a colui che è sire della cortesia che la mia anima sen possa gire a vedere la gloria della sua donna, cioè di quella benedecta Beatrice, la quale gloriosamente mira nella faccia di Colui „qui est per omnia secula benedictus“.
VII. (Re-)Sakralisierung der Allegorie: Die Divina Commedia Bereits am Ende der Vita Nova hebt Dante seinen Blick und den des Lesers für einen Moment von der Erde „nach oben“, zu Gott, wo Beatrice in der ewigen Seligkeit weilt. In der Divina Commedia verläßt er das Diesseits ganz und begibt sich auf eine Jenseitsreise, die ihn schließlich nicht nur mit der Geliebten wieder zusammenführt, sondern an deren Ende ihm auch die Gnade der visio beatifica Gottes selbst zuteil wird. Der Sinn seiner Wanderung ist ein mehrfacher, wie uns Dante selbst in seinem Schreiben an Cangrande mitgeteilt hat. Die Stationen seiner Reise in Inferno, Purgatorio und Paradiso zeigen ihm dem wörtlichen Sinn nach den status animarum post mortem; als allegorischen Sinn nennt der Dichter – wir erinnern uns – das Walten der Gerechtigkeit Gottes (homo prout merendo et demerendo per arbitrii libertatem iustitie premianti aut punienti obnoxius est; Ep. XIII, 25). Dabei übernimmt Dante offenbar auch die Formulierung des Thomas von Aquin in sacra Scriptura manifestatur veritas dupliciter1, wenn er im Brief an Cangrande ankündigt, sein Werk habe ein duplex [. . .] subiectum2. Kann man aus diesem duplex subiectum der Commedia eine weitere Sinnschichtung ableiten? Läßt sich also Dantes Göttliche Komödie nach dem vierfachen Schriftsinn interpretieren, wie das Exempel des Auszugs Israels aus Ägypten im Brief an Cangrande anzudeuten scheint? Bevor wir uns diesen Fragen und damit dem Inhalt der Divina Commedia zuwenden, scheint es angebracht, zum besseren Verständnis ein paar Worte über Dantes Vorstellung vom Universum und über den Aufbau von Hölle, Läuterungsberg und Himmel vorauszuschicken.
1. Aufbau und Rituale der Divina Commedia Die Divina Commedia (verfaßt zwischen 1307 und 1321) gliedert sich bekanntlich in drei große Teile oder Cantiche – nämlich Inferno (Hölle), Purgatorio (Läuterungsberg) und Paradiso (Paradies). Jede Cantica ist unterteilt in 33
1 2
Quodlib. VII, q. 6, art. 1, resp.; Hervorhebung durch den Herausgeber. Dante, Ep. XIII, 23.
1. Aufbau und Rituale der Divina Commedia
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Gesänge oder Canti. Das Inferno umfaßt eigentlich 34, da noch ein Einleitungsgesang vorangestellt ist. Insgesamt kommt man somit auf genau 100 Gesänge.3 Dante stützt sich auf das ptolemäisch-geozentrische Weltbild, „so wie es die aristotelisch-christliche Philosophie übernommen [. . .] hatte“4. Danach bildet die Erde, von der nur die nördliche Hälfte bewohnt, die südliche dagegen ganz vom Ozean bedeckt ist, den Mittelpunkt des Kosmos. Um sie kreisen die Sonne und alle Gestirne. Die Hölle geht trichterförmig von der Oberfläche der nördlichen Hemisphäre nach innen bis zum Erdmittelpunkt. Analog dazu stellt Dante sich das Purgatorio (wörtlich: „Reinigungsort“) nicht als Feuer, sondern als kegelförmigen Berg vor, der sich auf einer Insel mitten im südlichen Ozean erhebt. Auf seinem Gipfel liegt auf einer Art Hochplateau das Irdische Paradies, das beim Sündenfall dorthin entrückt wurde. Die Erde ist selbst unbewegt und von neun konzentrischen Himmelssphären umgeben, die von den in unterschiedlichen Abständen um die Erde kreisenden Planeten bestimmt werden; auf diese folgen der Fixsternhimmel und der Kristallhimmel.5 Auch Alanus ab Insulis arbeitet mit demselben Schema, wie wir bei der Behandlung des Anticlaudianus gesehen haben. Die drei Jenseitsreiche sind bei Dante jeweils nach einem anderen Prinzip gegliedert. So ist die Hölle entsprechend der Ethik des Aristoteles eingeteilt in incontinentia, malitia und bestialitas (krasßa, kakßa, hriüthò)6. Dante legt hier ein heidnisch-philosophisches System zugrunde, vor allem wohl aus dem Grund, weil die Hölle der Ort des Bösen und damit der vollkommenen Gottesferne ist. In der Tat werden die Namen Christi und Mariens im ganzen Inferno nie genannt.7 Das Prinzip, nach dem die Strafen ablaufen, hat Dante äußerst kunstvoll durchgestaltet: Die Sünden werden jeweils durch ihnen entsprechende Strafen abgebüßt. Dieses System wird schon bei Thomas von Aquin als contrapassum8 bezeichnet, bei Dante kommt der Begriff contrappasso allerdings nur 3 Cf. Dante Alighieri, La Divina Commedia, hrsg. v. A. M. Chiavacci Leonardi, 3 Bde., Mailand 1991–1994, Nachdr. 2005, Bd. I: Inferno, Introduzione al Canto I, S. 3. 4 E. Auerbach, Dante als Dichter der irdischen Welt, Berlin 1929, Nachdr. 2001, S. 126. 5 Nach Guardini, Dantes Göttliche Komödie, S. 65–70, Auerbach, Dante als Dichter der irdischen Welt, S. 126–131, Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie, hrsg. v. Gmelin, Bd. IV: Die Hölle, Komm., Einleitung, S. 13, Bd. V: Der Läuterungsberg, Komm., Einleitung, S. 8 f.; Bd. VI: Das Paradies, Komm., Einleitung, S. 7. S. auch H. W. Wittschier, Dantes Divina Commedia. Einführung und Handbuch, Frankfurt am Main u. a. 2004, S. 52 f. 6 Nach Gmelin, Bd. IV: Die Hölle, Komm., Einleitung, S. 13; Einleitung zu Inf. VIII, S. 153. 7 Gmelin, Bd. IV: Die Hölle, Komm. zu Inf. II, 94, S. 57. 8 S. Th., IIa pars 2, q. 61, art. 4. Gnilka weist darauf hin, daß Thomas den bei Aristoteles verwendeten Terminus ntipeponüò mit contrapassum übersetzt hat (Gnilka, Studien zur Psychomachie, S. 51). S. auch F. d’Ovidio, Sette chiose alla commedia, Nr. 5: Studi Danteschi, 7 (1923), S. 27–44, v. a. S. 27–31.
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VII. (Re-)Sakralisierung der Allegorie: Die Divina Commedia
einmal vor.9 Dieses Prinzip der „angemessenen Vergeltung“10 ist eine der Arten, den status animarum post mortem bildhaft zu veranschaulichen: So muß in Inf. XXVIII, 112–142 der Troubadour Bertran de Born auf ewig seinen Kopf vom Rumpf getrennt in den Händen tragen, weil er Zwietracht zwischen Heinrich II. von England und dessen Sohn gestiftet hatte. Dantes Inferno ist in neun Höllenkreise eingeteilt, die sich trichterförmig in die Erde „hineinschrauben“, wobei die leichteren Vergehen weiter oben angeordnet sind, die schwereren je nach Gewicht immer weiter unten. Mit Lotman kann man die Hölle also als semantischen Raum deuten, in dem „der Grad der Sünde dem Grade der Tiefe und Abgeschlossenheit entspricht“11. Der erste Kreis gehört noch nicht zur eigentlichen Hölle, denn er ist kein Ort der Strafe, sondern eigentlich nur der Gottesferne: In ihm halten sich die Seelen der gerechten Heiden aus vor- und nachchristlicher Zeit auf. Der zweite bis fünfte Höllenkreis umfaßt die Seelen derjenigen, die aus incontinentia, also aus mangelnder Selbstbeherrschung bzw. Leidenschaft sündigten, sei es körperlicher oder geistiger Art: Wollust/Ausschweifung, Schlemmerei, Habsucht und Zorn. Vom Bereich der incontinentia durch den Unterweltfluß Styx abgetrennt ist die innere Hölle. Hier, in der civitas Diaboli (der Zone der malitia) findet man nacheinander die Ketzer und die Gewalttätigen in drei Unterteilungen. Der achte Höllenkreis, der Sitz des Betrugs, ist ebenfalls nach verschiedenen Unterarten gegliedert. Der neunte und letzte Kreis ist der der Verräter (bestialitas), denn für Dante galt Verrat als die schlimmste Sünde. Ganz unten, in der tiefsten Hölle, ist schließlich der Platz Satans selbst, der im ewigen Eis eingefroren ist.12 Das Purgatorio bildet dem Aufbau nach das Gegenstück zum Inferno. Es ist ebenfalls in neun Bereiche untergliedert: Der Vorraum des Bereiches der Buße erstreckt sich nach Dantes Vorstellung zwischen dem Meer und dem Anstieg des Berges. Hier müssen die ankommenden Seelen warten, bis sie zur Buße zugelassen werden, und zwar je nach Schwere ihrer irdischen Vergehen unterschiedlich lange. Das eigentliche Purgatorio besteht aus sieben übereinanderliegenden Stufen, die sich terrassenartig übereinander um den Berg herum anordnen. Im Gegensatz zur Hölle werden hier die schwereren Sünden zuerst abgebüßt, die leichteren später – bis die Seele ganz geläutert ins Irdische Paradies eintreten kann. Die Einteilung erfolgt nach dem christlichen System der sieben Haupt- oder Kapitalsünden: superbia (Stolz), invidia (Neid), ira (Zorn), accedia
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Inf. XXVIII, 142. Gmelin, Bd. IV: Die Hölle, Komm., Einleitung, S. 14. 11 Lotman, Die Struktur literarischer Texte, S. 350. 12 Nach Guardini, Dantes Göttliche Komödie, S. 144 f. und Auerbach, Dante als Dichter der irdischen Welt, S. 135–140. 10
1. Aufbau und Rituale der Divina Commedia
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(Trägheit), avaritia (Geiz), gula (Unmäßigkeit/Schlemmerei), luxuria (Wollust/ Ausschweifung). Es gibt im Purgatorio ein bestimmtes Bußritual, das zwar dem Ablauf nach immer gleich ist, jedoch von Bereich zu Bereich ein wenig variiert. Die ankommenden Seelen wissen, inwiefern sie in ihrem Leben gegen Gott gefehlt haben und empfinden darum von sich aus den Wunsch nach Läuterung. Wenn sie in das eigentliche Purgatorio eingetreten sind, müssen sie sich von Stufe zu Stufe emporarbeiten. Auch Dante ist, obwohl er noch lebt, von dieser inneren Ordnung nicht ausgenommen. Wie den anderen Seelen ritzt ihm der Wächterengel am Eingang zu Beginn des Aufstiegs sieben P auf die Stirn, die die sieben Hauptsünden symbolisieren. Während der Läuterung und des Aufstiegs werden sie eines nach dem anderen entfernt. Die Buße in den einzelnen Zonen läuft dabei folgendermaßen ab: Sie beginnt jedes Mal mit einer Meditation über die jeweilige Sünde, wobei den Büßern Beispiele der entgegengesetzten Tugend vorgehalten werden. In den meisten Fällen sind es drei solcher exempla: eines aus der heidnischen Antike, eines aus dem Alten und eines aus dem Neuen Testament; bei letzterem handelt es sich immer um die Mutter Gottes selbst. Darauf folgt die eigentliche Strafe, wieder nach dem Prinzip des contrappasso, und abschließend werden den Weiterwandernden weitere Beispiele, diesmal der jeweiligen bestraften Sünde, mitgeteilt. Beim Verlassen des Bereiches tritt jeweils ein Engel als Repräsentant der entsprechenden Tugend auf, der die Büßer mit einer Seligpreisung aus der Bergpredigt13 ermutigt und je ein P von der Stirn auslöscht. Oft wird die Buße auch noch von bestimmten liturgischen Gesängen wie Psalmen oder Hymnen begleitet.14 Das Paradiso besteht wiederum aus neun „Wertzonen“15, von denen sieben nach den um die Erde kreisenden Planeten benannt sind: Mondhimmel, Merkurhimmel, Venushimmel, Sonnenhimmel, Marshimmel, Jupiterhimmel und Saturnhimmel. Dazu kommen als achte und neunte Sphäre der Fixsternhimmel und der Kristallhimmel. Das Empyreum schließlich, der Sitz Gottes, liegt jenseits davon in der „absoluten Transzendenz“16 mit der Himmelsrose der Seligen. Bossard bezeichnet es als „lumen purum, sanctorumque hominum vita defunctorum beatam sedem“.17 Wie in den beiden anderen Teilen gibt es auch hier eine Art „Vorraum“, obwohl natürlich alle Seelen erlöst sind. Die ersten drei Sphären hängen nämlich
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Mt. 5, 3–10. Siehe dazu Gmelin, Bd. V: Der Läuterungsberg, Komm. zu Purg. II, 46, S. 53 f. 15 Guardini, Dantes Göttliche Komödie, S. 146. 16 Ibd., S. 68. 17 Abbé E. Bossard, Alani de Insulis Anticlaudianus cum Divina Dantis Alighieri Comœdia collatus, Andegavi 1885, S. 81. 14
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VII. (Re-)Sakralisierung der Allegorie: Die Divina Commedia
noch etwas stärker am irdischen Leben als die anderen.18 Die folgenden drei umfassen die Seelen, die ein gutes aktives Leben geführt haben – so ist der Sonnenhimmel der Sitz der Weisheit, der Marshimmel der der Tapferkeit, vor allem des Glaubenskampfes, und Jupiter die Sphäre der Gerechtigkeit. Vom Saturnhimmel an aufwärts befinden wir uns im Bereich der Kontemplation. Die Seelen, denen Dante in den verschiedenen Kreisen des Paradiso begegnet, haben ihren eigentlichen Sitz in der Himmelsrose des Empyreums. Sie erscheinen jedoch „gleichsam symbolisch vorübergehend auf den Sternen, [. . .] um dem Menschengeist faßbar zu sein“19. Diese Präsenz der Seelen sowohl in den Sphären als auch in der Himmelsrose weist wohl auf die Zeit- und Raumlosigkeit des Paradiso hin; gleichzeitig drückt sie auch den Visionscharakter aus.
2. Historizität bzw. der sensus litteralis der Divina Commedia Im folgenden werden wir uns nun mit dem sensus litteralis, d. h. dem Inhalt der Divina Commedia befassen, um von diesem aus zu ihrer allegorischen Bedeutung bzw. zu ihren allegorischen Bedeutungen zu gelangen. Hauptaugenmerk soll daher immer auf der Frage liegen, wie Dante den status animarum post mortem darstellt und inwiefern man daraus einen oder mehrere sensus allegorici deduzieren kann. Nur soviel sei vorweggenommen: Wie bereits ausgeführt, legt Dante im Schreiben an Cangrande den vierfachen Schriftsinn als Interpretationsmuster für die Divina Commedia zumindest implizit nahe und weist im Convivio ebenfalls indirekt darauf hin, daß eben diesem vierfachen Schriftsinn, also der allegoria dei teologi, ein wahrer oder historischer sensus litteralis zugrundeliegt. Nimmt man diese Faktoren zusammen, so deutet alles darauf hin, daß er einen solchen Wahrheitsanspruch auch für seine Commedia geltend zu machen scheint. Dies soll nun zunächst anhand des Inferno näher untersucht werden. a) Inferno aa) Die ewigen Höllenstrafen – contrappasso unter der Aufsicht mythologischer Gestalten In der Mitte seines Lebens – so beginnt der Dichter die Schilderung seiner Visionsreise durch die drei Jenseitsreiche – findet er sich in einem finsteren Wald wieder, in dem er sich verlaufen hat. Er begegnet drei wilden Tieren, die ihm Angst einjagen: Panther, Löwe und Wölfin. Sie symbolisieren allegorisch 18 19
Nach Gmelin, Bd. VI: Das Paradies, Komm., Einleitung, S. 11. Ibd., S. 10.
2. Historizität bzw. der sensus litteralis der Divina Commedia
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die Laster der Fleischeslust, Hochmut und Habgier.20 Wir bewegen uns hier also im Rahmen der „traditionellen“ dichterischen Allegorik. Auch die selva oscura ist als Allegorie für die sündhaften Verstrickungen des Lebens zu deuten.21 Als er sich nicht mehr zu retten weiß, tritt ihm plötzlich der von ihm sehr verehrte antike Dichter Vergil entgegen, der mit göttlichem Einverständnis Dante durch das Jenseits führen soll (Inf. I). Dante fürchtet sich zunächst, wird aber von Vergil ermutigt, der ihm eröffnet, daß er von drei heiligen Frauen, nämlich Beatrice, Lucia und der Jungfrau Maria selbst, zu seiner Rettung entsandt worden ist (Inf. II). Denn in einer ausführlichen Rede schildert Vergil, wie er in der Vorhölle, wo sein Platz bei den gerechten Heiden ist, von Beatrice selbst aufgesucht wurde, die diesen Weg aus Liebe angetreten hat (Inf. II, 70– 72): I’ son Beatrice che ti faccio andare; vegno del loco ove tornar disio; amor mi mosse, che mi fa parlare.
Gleich zu Beginn der Divina Commedia stellt Dante also seine Jenseitsreise in einen persönlichen Kontext. Die Liebe, die Beatrice bewegt (amor mi mosse), persönlich in Dantes Leben einzugreifen, ist ihre persönliche Liebe zu ihm; allerdings läßt sie sich nicht mehr von der göttlichen Liebe trennen, in die die Seligen des Himmels, also auch Beatrice, gleichsam eingetaucht sind. Der Liebesseufzer, den Dante im letzten Sonett der Vita Nova zum Himmel emporschickt, um Beatrice dort zu suchen, wird hier gleichsam durch ihr Herabsteigen in den Limbus, d. h. in die Vorhölle, beantwortet. Durch eine textuelle Parallele wird dies deutlich: Hier wie dort ist Liebe der Beweggrund. So hatte es in Oltre la spera geheißen: Intelligenza nova, che l’amore / piangendo mette in lui, pur su lo tira (VN 30, 10, V. 3 f.). Im vorliegenden Fall wird nun der Gedanke, daß die Liebe gewissermaßen die Initiative ergreift, noch prägnanter ausgedrückt: amor mi mosse. Der zweite Teil dieses Verses (che mi fa parlare) ist ein direkter Anklang an das erwähnte Sonett: [. . .] che lo fa parlare. Übrigens wird hier wie dort Beatrice namentlich erwähnt. Im folgenden erhält nun Dantes Jenseitsreise eine weiter gefaßte Bedeutung, denn wir erfahren aus Vergils Mund, der wiederum Beatrices Worte referiert, daß sie es nicht nur von sich aus unternommen hat, für Dante zu intervenieren, sondern daß Beatrice von der Heiligen Lucia dazu aufgefordert wurde, welche ihrerseits einen Auftrag von der Gottesmutter selbst erhalten hatte (Inf. II, 93–102). In Par. XXXIII schließt sich der Kreis zu dieser Szene, wo Maria auf Bitten des Hl. Bernhard von Clairvaux für Dante bei Gott Fürsprache einlegt.22 Die Heilige 20 21 22
Nach Gmelin, Bd. IV: Die Hölle, Komm. zu Inf. I, 31–60, S. 32. Ibd. Cf. Purgatorio, hrsg. v. Chiavacci Leonardi, zu Inf. II, 94, S. 63.
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VII. (Re-)Sakralisierung der Allegorie: Die Divina Commedia
Lucia hatte offenbar für Dante persönliche Bedeutung, wohl nicht zuletzt aufgrund ihres Namens, in dem luce und damit die Bedeutung der erleuchtenden Gnade mitschwingt.23 Sie wird in allen drei Cantiche erwähnt (Inf. II, 97, Purg. IX, 55, Par. XXXII, 137); im Purgatorio spielt sie eine besondere Rolle, wirkt sie doch dort aktiv an Dantes Aufstieg mit, wie wir noch sehen werden. In Inf. II tritt Beatrice nicht selbst auf, sie wird nur indirekt durch Vergil zitiert. Dante ist gleichsam noch nicht reif für das Wiedersehen mit ihr; er muß zunächst durch seine Wanderung durch Inferno und Purgatorio geläutert werden, bevor er sie in ihrer himmlischen Glorie erblicken darf. Dennoch hat Dante dadurch, daß er sie hier durch den Bericht Vergils in der Seligkeit noch wie verhüllt zeigt, bereits einen Teil seiner Ankündigung eingelöst, di dire di lei quello che mai non fue detto d’alcuna (VN 31, 2). Nach der Erzählung Vergils treten er und Dante ihre große Wanderung an, die sie durch das Höllentor und über den Höllenfluß Acheron – sie werden übergesetzt vom Fährmann Charon (III) – in das „höllische Elysium“, also den bereits erwähnten Limbus führt, wo Dante einer Gruppe von Dichtern und Weisen des heidnischen Altertums begegnet, unter ihnen Homer, Horaz, Ovid und Lukan (IV). Darauf steigen die beiden weiter ab in den 2. Höllenkreis, wo die Wollüstigen in dunkler Nacht und heulendem Sturm als contrappasso ihrer Zügellosigkeit büßen. Sie werden von dem sagenhaften antiken Kreterkönig Minos bewacht, der bereits bei Homer als Wächter und Richter der Toten gilt.24 Dante, der Homer selbst nie gelesen hatte25, kannte diesen wohl aus Vergil26 und hat ihn ebenso wie den Fährmann Charon27 „mittelalterlich dämonisiert“28. Beide stehen noch nicht für ein bestimmtes Laster, sondern bekleiden eine Art „höheres Amt“ im Höllenpersonal: der eine eben als Richter, der andere als Wächter über alle Ankommenden. Einige mythologische Figuren des Inferno hat Dante samt ihrer Aufgabe unmittelbar aus der antiken Literatur übernommen, während er bei anderen Gestalten des Mythos eine hervorstechende Eigenschaft herausgegriffen hat, um sie als Bestandteil in sein allegorisches System einzupassen, wie wir noch sehen werden. Grundsätzlich muß man sich bei der Untersuchung des „allegorischen Personals“ im Inferno vor Augen führen, daß das Mittelalter dazu neigte, die heidnisch-antiken Mythen für historisch zu halten.29 23
Ibd., zu Inf. II, 97, S. 64. Nach H. v. Geisau, Art. Minos, in: Kl. Pauly, Bd. 3, Sp. 1332–1335, hier 1334. 25 Nach Auerbach, Dante als Dichter der irdischen Welt, S. 61; Guardini, Dantes Göttliche Komödie, S. 287. 26 Aen. VI, 432. 27 Inf. III, 83–99. 28 Gmelin, Bd. IV: Die Hölle, Komm. zu Inf. V, 1–24, S. 107. 29 Cf. Pépin, Dante et la tradition de l’allégorie, S. 114. Zum Mythos in der Commedia siehe auch K. Stierle, Das große Meer des Sinns. Hermenautische Erkundungen in Dantes „Commedia“, München 2007, S. 85–90. 24
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Im Kreis der Wollüstigen nun treffen Dante und Vergil auf das berühmte Liebespaar Paolo und Francesca aus Rimini, die als Strafe für ihre unerlaubte Liebesbeziehung (sie waren Schwager und Schwägerin) in Ewigkeit zusammenbleiben müssen (V).30 Dante führt hier erstmals in der Divina Commedia historische Personen ein, die das Wirken der Gerechtigkeit Gottes symbolisieren sollen. Man könnte also diese beiden Figuren, die Dante offenbar zu Lebzeiten gekannt hat31, als Repräsentanten für den status animarum post mortem in der Hölle deuten. Wir werden noch mehrere Beipiele dieser Art sehen. Im nächsten Kreis liegen die Schlemmer unter der Oberaufsicht des antiken Höllenhundes Cerberus, der zugleich die Gefräßigkeit versinnbildlicht, in stinkendem Kot unter finsterem Regen; eine der vielen bildhaften Abwandlungen des contrappasso (VI). Cerberus bewacht die Gefräßigen und steht gleichzeitig als Allegorie für die Schlemmerei. Dies ergibt sich aus seiner antiken Darstellung: Schon bei Vergil32 hat er mehrere Rachen, die viel fressen können. Allerdings hat Dante ihn viel dämonischer dargestellt.33 Betrachten wir daher den Passus als Beispiel für die Beschreibung eines der höllischen Monster aus der antiken Mythologie, die zugleich am contrappasso mitwirken (Inf. VI, 13– 33)34: Cerbero, fiera crudele e diversa, con tre gole caninamente latra sovra la gente che quivi è sommersa. Li occhi ha vermigli, la barba unta e atra, e ’l ventre largo, e unghiate le mani; graffia li spirti ed iscoia ed isquatra. Urlar li fa la pioggia come cani; de l’un de’ lati fanno a l’altro schermo; volgonsi spesso i miseri profani. Quando ci scorse Cerbero, il gran vermo, le bocche aperse e mostrocci le sanne; non avea membro che tenesse fermo. E ’l duca mio distese le sue spanne, prese la terra, e con piene le pugna la gittò dentro a le bramose canne. Qual è quel cane ch’abbaiando agogna, 30 Cf. auch H. Friedrich, Die Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie. Francesca da Rimini, Frankfurt a. M. 1942, v. a. S. 68–86, und B. Vinken, Encore: Francesca da Rimini – Rhetoric of Seduction, Seduction of Rhetoric, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 62 (1988), S. 395–415. 31 Nach Gmelin, Bd. IV: Die Hölle, Komm. zu Inf. V, 73–142, S. 114 f. 32 Aen. VI, 417 f: Cerberus haec ingens latratu regna trifauci; cf. auch V. 421: tria guttura; Dante zitiert die beiden Vergilverse direkt in Inf. VI, 14 (s. o. im Text). 33 Nach Gmelin, Bd. IV: Die Hölle, Komm. zu Inf. VI, 1–36, S. 124. 34 Zitiert wird nach Dante Alighieri, La Divina Commedia, hrsg. v. A. M. Chiavacci Leonardi, 3 Bde., Mailand 1991–1994, Nachdr. 2005.
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VII. (Re-)Sakralisierung der Allegorie: Die Divina Commedia e si raqueta poi che ’l pasto morde, ché solo a divorarlo intende e pugna, cotai si fecer quelle facce lorde de lo demonio Cerbero, che ’ntrona l’anime sì, ch’esser vorebber sorde.
Cerberus bewacht die Verdammten nicht nur, sondern trägt durch zusätzliche Quälerei zu ihrer Strafe bei: Der contrappasso der Schlemmer ist der finstere, schmutzige Regen. Cerberus erschreckt sie durch seine häßliche Gestalt und sein Gebell (V. 13–17) und erhöht ihre Qualen durch Kratzen und andere Schindereien (18). Seine Wildheit zeigt sich auch bei der Begegnung mit Dante und Vergil: Als er über sie herfallen will (22–24), wirft Vergil ihm einen Brocken Erde in seine drei Mäuler, die ihn gierig verschlingen. Im vierten Graben erblicken die beiden Wanderer die Geizigen und die Verschwender, die sinnlos Steine wälzen müssen, wobei sie von Plutus, dem Repräsentanten des Reichtums, beobachtet werden; im folgenden sehen sie die Zornigen, die sich ewig im trüben Sumpf aufhalten (VII). Auch Plutus, der schon in der Antike teils als Gott des Reichtums, teils als dessen Allegorie galt35, hat Dante ähnlich wie die vorigen dämonisiert und in Inf. VII, 1–15 als Wächter über die Geizigen eingesetzt. Er stellt ihn als eitel und aufgeblasen, ohne individuelle Züge dar. Auf die Anrede Vergils fällt Plutus zu Boden, und seine ganze Prahlerei sackt in sich zusammen – damit wird die Nichtigkeit irdischen Reichtums veranschaulicht. Einige andere Figuren hat Dante hingegen zu Allegorien bestimmter Laster umfunktioniert und sie – nach eigenem Gutdünken, aber passend zu ihrem jeweiligen Charakter – als Wächter in die Hölle versetzt: In Inf. VIII, 13–30 werden Dante und Vergil vom Fährmann Phlegyas, der aber auch die Verdammten dieses Kreises bewacht, über den Styx zur inneren Hölle gebracht. Nach der Mythologie war er ein Sohn des Kriegsgottes Ares.36 Dante macht ihn zum Symbol des Zornes, weil er aus Rache am Gott Apollo, der seine Tochter verführt hatte, in Delphi dessen Tempel angezündet hatte.37 Im Unterschied zu Cerberus ist er jedoch kein „Plageteufel [. . .], sondern wesentlich Diener des Höllenreiches“38. Allerdings stürzt er sich bei Dantes Ankunft mit einer gewissen teuflischen Habgier bzw. Freude auf ihn, in der Meinung, der Neuankömmling „gehöre“ ihm, und wird erst von Vergil zurückgerufen (V. 18–21). Nach der Überfahrt über den Styx gelangen die beiden Jenseitswanderer vor das innere Höllentor, wo sie von einer Meute wütender Teufel aufgehalten werden
35
Nach H. v. Geisau, Art. Plutos, in: Kl. Pauly, Bd. 4, Sp. 957 f. Ibd. Sp. 791 f. s. v. Phlegyas 37 La Divina Commedia, hrsg. u. komm. v. E. Pasquini/A. Quaglio, 3 Bde., Mailand 1988, Bd. I: Inferno, S. 93. 38 Gmelin, Bd. IV: Die Hölle, Komm. zu Inf. VIII, 1–30, S. 155. 36
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(VIII). Erst als ein Engel ihnen das Tor öffnet, kommen sie in die innere Höllenstadt und damit in den sechsten Höllenkreis, wo die Ketzer in Flammengräbern büßen (IX). Auf dem Weg zwischen diesen trifft Dante zwei Florentiner, den Ghibellinenführer Farinata degli Uberti und den Guelfen Cavalcante Cavalcanti, den Vater seines Freundes Guido Cavalcanti. Als ehemals politische Gegner sind sie nun in einem Flammengrab vereint (X). Wie schon bei Paolo und Francesca, wird auch hier wieder an historischen Personen das Walten der göttlichen Gerechtigkeit gezeigt – und zwar an Personen, die für Dante persönlich eine Bedeutung hatten.39 Nach einem Gespräch mit Dantes Landsleuten gelangen die Wanderer zum Rande der inneren Hölle, deren Aufbau Vergil Dante erklärt (XI). Anschließend gehen sie weiter zu den Gewalttätigen gegen den Nächsten, also Tyrannen und Räuber, im ersten Streifen des 7. Kreises. Der Eingang zu dieser Zone wird von Minotaurus bewacht, der als brutale und bestialische Allegorie der Gewalt bzw. Bosheit dargestellt ist (Inf. XII, 11–27). Dieses mythologische Ungeheuer, das der widernatürlichen Verbindung von Pasiphaë, der Frau des Minos, mit einem Stier entstammte und von Menschenfleisch lebte, hat im griechischen Mythos eine menschliche Gestalt mit Stierkopf40. Dante stellt es dagegen als Stier mit Menschenkopf dar und läßt es sich dementsprechend wie ein wütender Stier gebärden, wohl um die rohe und bestialische Gewalt zum Ausdruck kommen zu lassen. Als er Vergil und Dante erblickt, beißt er sich vor lauter Wut selbst (V. 14), was offenbar einerseits ein Zeichen für seine Rohheit ist, andererseits allegorisch darauf verweist, daß die Strafe für Gewalttätigkeit an anderen auf den Schuldigen selbst zurückfällt. Je nach Schwere ihrer Taten sind die Bestraften unterschiedlich tief in den antiken Höllenstrom Phlegethon, der aus kochendem Blut besteht, eingetaucht, den Dante – wie andere mythologische Elemente – allegorisch umgestaltet hat, nämlich zu einer „universalen Allegorie alles durch Gewalttat vergossenen Blutes der Erde“41. Möglicherweise kann man dieses Blut der Hölle als Gegensatz zum Blut Christi deuten, das er für die Erlösung der Menschheit am Kreuz vergossen hat: Diejenigen Menschen, welche durch Sünde und Gottesferne diese Erlösung nicht angenommen haben, für die also Christi Blut gleichsam nicht wirksam werden konnte, müssen nun in der Hölle büßen – hier zusätzlich allegorisch repräsentiert und zusammengefaßt durch den Höllenstrom aus kochendem Blut.
39 Cf. zur genaueren Untersuchung dieser Szene E. Auerbach, Farinata und Cavalcante, in: ders., Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Bern/Stuttgart 81988. 40 Nach H. v. Geisau, Art. Minotauros, in: Kl. Pauly, Bd. 3, Sp. 1335 f. 41 Gmelin, Bd. IV: Die Hölle, Komm., Einleitung zu Inf. XII, S. 203.
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Belebt wird die Höllenlandschaft, die hier mit dem Blutstrom besonders plastisch ausgemalt ist, zudem durch das Auftauchen der Kentauren, ebenfalls Gestalten aus der antiken Mythologie, die, halb Mann, halb Pferd, am Phlegethon entlang „reiten“ und ihrerseits die Aufgabe haben, die hier Büßenden zu bewachen (XII).42 Nach Durchschreiten des Stromes gelangen sie in den zweiten Streifen, den Wald der Selbstmörder, deren Seelen in Sträucher gebannt sind und von den Harpyien angegriffen werden.43 Daneben finden sie hier als weitere Kategorie der Gewalttätigen gegen sich selbst die Vergeuder eigenen Guts, die in wilder Jagd durch den Wald rasen (XIII). Im dritten Teil müssen die Sünder gegen Gott und die Natur, also Gotteslästerer, Sodomiten und Wucherer, in einer Sandwüste unter ewigem Feuerregen leiden. Hier treffen sie – als Repräsentanten aller Gotteslästerer und gewissermaßen als Allegorie dieser Sünde – den Riesen Capaneus an, der nach der Sage „Sieben gegen Theben“ Zeus herausgefordert hatte. Da dieser für Capaneus der höchste Gott war, übernimmt Dante einfach den Mythos und paßt ihn in das christliche System ein, indem er die Tat als Blasphemie hinstellt. Während Vergil mit seinem Schützling weiter durch die Wüste den Blutfluß Phlegethon entlang wandert, beschreibt er ihm den sagenhaften Greis von Kreta, der ein Sinnbild der gesamten sündhaften Menschheit ist und mit seinen Tränen die verschiedenen Höllenflüsse speist.44 (XIV). Am Ufer des Flusses treffen sie Dantes Lehrer Brunetto Latini unter den Sodomiten (XV), und etwas weiter, am Rande des dritten Streifens, drei Florentiner Feldherren, die nach dem Zustand der Heimatstadt fragen (XVI). Gleich darauf gelangen sie an den Felsabsturz vom siebten zum achten Höllenkreis, wo Vergil den Geryon herbeiruft (XVII). Dieser geflügelte Drache symbolisiert zum einen den Betrug, zum anderen ist er wieder eine Art Fährmann, diesmal allerdings durch die Lüfte; denn er trägt die beiden Wanderer auf seinem Rücken in die Tiefe zum achten Höllenkreis hinunter. Die Begegnung mit ihm (Inf. XVI, 106–126) wird herbeigeführt „durch eine tiefsinnige allegorische Handlung Virgils“45. Um das Monstrum herbeizuholen, wirft Vergil ihm nämlich ein Seil zu, mit dem Dante vorher gegürtet war. Es steht symbolisch für Selbstüberwindung und Zucht (cf. den Franziskanerstrick); gleichzeitig bedeutet die Geste auch eine Art Opfer an das Ungeheuer Geryon, das damit gewonnen werden soll46.
42 Cf. zur naturgetreuen Darstellung der Landschaften in der Divina Commedia A. Buck, Die Wirklichkeitsgestaltung in der „Göttlichen Komödie“, in: J. Splett (Hrsg.), Höllenkreise – Himmelsrose, S. 33–47, vor allem S. 40–43. 43 Die Harpyien sind mythologische Vogelungeheuer, die Dante auch aus Vergil kennt (Aen. VI, 289). 44 Cf. G. Mazzotta, Dante, Poet of the Desert. History and Allegory in the Divine Comedy, Princeton 1979, S. 14 f. 45 Gmelin, Bd. IV: Die Hölle, Komm. zu Inf. XVI, 88–136, S. 263. 46 Nach Gmelin, Bd. IV: Die Hölle, Komm. zu Inf. XVI, 106, S. 265.
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Mit dieser Begebenheit endet der XVI. Gesang; die Beschreibung des Geryon erfolgt zu Beginn des nächsten (Inf. XVII, 1–15; 25–27): „Ecco la fiera con la coda aguzza, che passa i monti e rompe i muri e l’armi! Ecco colei che tutto ’l mondo appuzza!“. Sì cominciò lo mio duca a parlarmi; e accennolle che venisse a proda, vicino al fin d’i passeggiati marmi. E quella sozza imagine di froda sen venne, ed arrivò la testa e ’l busto, ma’n su la riva non trasse la coda. La faccia sua era faccia d’uom giusto, tanto benigna avea di fuor la pelle, e d’un serpente tutto l’altro fusto; due branche avea pilose insin l’ascelle; lo dosso e ’l petto e ambedue le coste dipinte avea di nodi e di rotelle. [. . .] Nel vano tutta sua coda guizzava, torcendo in sù la venenosa forca ch’a guisa di scorpion la punta armava.
Interessant ist hier, daß Dante die Gestalt des Geryon ausdrücklich als „Bild“, d. h. als Allegorie kennzeichnet, und zwar als Bild für den Betrug: quella sozza imagine di froda (7). Es folgt eine eingehende Beschreibung des Monstrums, das aus mehreren Gestalten zusammengesetzt ist (Menschenantlitz, Schlangenkörper, Skorpionschwanz), wodurch das Trugbild auch äußerlich gut zum Ausdruck kommt. Unterstützt wird diese Erscheinung noch durch den bemalten Körper, der das Schillernde, Vage der Täuschung symbolisiert. Vom griechischen Mythos hat Dante allerdings bis auf den Namen nichts übernommen. Der Mythos dient daher in diesem Falle nur dazu, den als wahr angenommenen sensus litteralis zu untermauern und damit den Wahrheitsanspruch von Dantes Bericht zu legitimieren. Der Mythologie nach war Geryon nämlich ein Riese mit drei Leibern und Besitzer „stattliche[r] Herden roter Rinder“47, die von Herakles geraubt wurden. Er hat also ursprünglich nichts mit Betrug zu tun, sondern wurde offenbar von Dante absichtlich als „Zwischenwesen“48, in dem sich „heraldische, mythologische und biblische Züge“49 überkreuzen, konzipiert. Nachdem Geryon Dante und Vergil im Kreis der Betrüger abgesetzt hat, sehen sie nach und nach in dessen zehn konzentrischen Gräben Kuppler und Ver47 48 49
H. v. Geisau, Art. Geryon (es, -eus), in: Kl. Pauly, Bd. 2, Sp. 776 f., Zitat Sp. 776. Gmelin, Bd. IV: Die Hölle, Komm. zu Inf. XVII, 1–30, S. 269. Ibd.
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führer, Schmeichler und Dirnen (XVIII), Simonisten50 (XIX), Wahrsager und Zauberer (XX), Schieber, hier Staatsbetrüger51 (XXI und XXII), Heuchler (XXIII), Diebe (XXIV), unter ihnen den Kentauren Cacus52, der als Allegorie der Dieberei dargestellt ist (XXV). Vom Damm des achten Grabens aus können sie die hinterlistigen Ratgeber, allen voran Odysseus53, erkennen, die in Flämmchen gehüllt durch den Graben schweben (XXVI). Nach einer Unterhaltung mit Odysseus begegnen sie dort auch dem listigen Ghibellinenfeldherrn Guido von Montefeltro (XXVII). Der neunte Graben ist der Sitz der Zwietrachtstifter, unter anderem Mohammeds (XXVIII). Im Weiterschreiten blicken Dante und Vergil von einer Felsenbrücke zum zehnten Graben des achten Höllenkreises hinunter, wo die Fälscher büßen (XXIX), die zum Teil der Raserei verfallen sind (XXX). Am Rand des neunten Höllenkreises ragen Riesen wie Türme in die Höhe; einer von ihnen setzt die beiden hinunter in den tiefsten Höllengrund (XXXI). Dort unten sind die Verräter in einem Eissee eingefroren, der Cocytus genannt wird. Die Verräter sind wiederum in einzelne Gruppen unterteilt: In der Caina liegen die Verräter an Verwandten, die politischen in der Antenora54 (XXXII), unter ihnen Graf Ugolino della Gherardesca, der Verräter seiner Heimatstadt Pisa. Im innersten Kreis des Eissees, der Tolomea55, sind die Verräter an Tischgenossen (XXXIII). Schließlich gelangen die Wanderer nach Durchschreiten des Bereiches der Giudecca, der Verräter an Wohltätern, in die unterste Hölle, wo Luzifer im ewigen Eise feststeckt und in seinen drei Mäulern die drei schlimmsten Veräter aller Zeiten zermalmt, nämlich Judas, den Verräter am Heiland selbst, sowie Cassius und Brutus, die Cäsar, also die gottgewollte Macht des Imperium Romanum, verrieten. Der Satan selbst ist als grausiges Gegenbild
50 Simonie bedeutet die Erschleichung kirchlicher Ämter durch Betrug, vor allem durch Ämterkauf. Der Name ist abgeleitet vom Zauberer Simon Magus aus Apg. 7, 18, der die durch den Hl. Geist verliehenen Fähigkeiten kaufen wollte (nach Gmelin, Bd. IV: Die Hölle, Komm., Einleitung zu Inf. XIX, S. 292 u. 294 f. zu Inf. XIX, 1; cf. auch M. Musa, Aesthetic Structure in the „Inferno“, Canto XIX, in: ders. (Hrsg.), Essays on Dante, Bloomington 21965, S. 145–171). 51 Siehe Gmelin, Bd. IV: Die Hölle, Komm., Einl. zu Inf. XXI, S. 320. 52 Der antiken Mythologie nach lebte der Kentaur Cacus auf dem Aventin, stahl Herkules seine Rinder und wurde von ihm getötet (nach Gmelin, Bd. IV: Die Hölle, Komm. zu Inf. XXV, 18, S. 369 f.). 53 Cf. zu Odysseus in der Hölle Stierle, Das große Meer des Sinns, S. 23–60 und S. 86 f. sowie B. Vinken, Unentrinnbare Neugierde. Die Weltverfallenheit des Romans. Richardsons Clarissa, Laclos’ Liaisons dangereuses, Freiburg i. Br. 1991, S. 10– 14. 54 Der Name „Antenora“ ist von dem trojanischen Verräter Antenor abgeleitet (nach Gmelin, Bd. IV: Die Hölle, Komm. zu Inf. XXXII, 70–123, S. 465); „Caina“ kommt vom Brudermörder Kain. 55 Dieser Name stammt von dem Ptolemäus aus I. Makkab. 16, 11 ff., der aus Herrschsucht einige seiner Familienmitglieder bei einem Gastmahl ermordete (nach Gmelin, Bd. IV: Die Hölle, Komm. zu Inf. XXXIII, 91–157, S. 479).
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Gottes dargestellt: So bilden seine drei Köpfe mit den drei Mäulern eine groteske Parodie der Dreifaltigkeit. Das Besondere an der danteschen Hölle ist, daß ihr Innerstes nicht aus glühendem Feuer (wie in den herkömmlichen Vorstellungen) besteht, sondern aus tiefstem Eis. Durch die Kälte soll die größtmögliche Gottesferne und damit auch die höchste Entfernung von der Gnade, die Summe alles Bösen und Lieblosen ausgedrückt werden. Zugleich symbolisiert der eisige See auch die Herzenshärte der Verräter, die als contrappasso darin eingefroren sind56. Durch einen Höhlengang, der sie aus der innersten Hölle auf der anderen Seite herausführt, gelangen Dante und Vergil an das Gestade des Läuterungsberges, wo sie das Licht der Sterne wieder erblicken (XXXIV). bb) Zwischenbilanz: Das „Personal“ des Inferno und Dantes allegorisches Verfahren der „fiktiven Historizität“ Wir haben deutlich zu machen versucht, daß der Dichter bereits im Inferno eine Fülle von historischen und mythologischen Persönlichkeiten einführt, die er sehr real und lebendig darstellt. Die Seelen der Verstorbenen, in diesem Falle der Verdammten, behalten im Großen und Ganzen ihren irdischen Charakter, aufgrund dessen sie sich ihren jeweiligen status post mortem erworben haben.57 Zum einen gibt diese realistische Schilderung Dantes Jenseitsreise eine historische Dimension. Zum anderen haben wir gesehen, daß Dante im Inferno Wächterfiguren aus der antiken Mythologie als „Personal“ einsetzt, die sowohl die Büßenden der jeweiligen Zone bewachen als auch das entsprechende Laster, das bestraft wird, allegorisch repräsentieren. Diese Wächterfiguren sind keine herkömmlichen Personifikationen und stellen die Sünden nicht in Form abstrakter Allegorien dar, wie es etwa im Rosenroman der Fall ist – man denke an die Porträts der „Untugenden“ auf der Außenmauer des Gartens oder an den Kampf der Vassallen Amors gegen Dangiers, Honte oder Peor. Dante hat sie statt dessen konkret mit Inhalt gefüllt und sie gewissermaßen „historisiert“, indem er einer für ihn bereits existierenden Figur, sei sie historisch oder mythologisch, eine zusätzliche allegorische Bedeutung zuwies. Während also die Personifikationen des Roman de la Rose nur eine allegorische Bedeutung haben, „verschafft“ Dante gewissermaßen seinen Gestalten auch einen sensus litteralis, eben indem er ihnen „Historizität“ verleiht. Man könnte also sagen, daß Dantes neuem allegorischen Verfahren eine „fiktive Historizität“ zugrunde liegt. Zusätzlich zu den bereits erwähnten Wächtern des Inferno, also Cerberus (Inf. VI, 13–33), Plutus (Inf. VII, 1–15), Phlegyas (Inf. VIII, 13–30), Minotau56 57
Nach Gmelin, Bd. IV: Die Hölle, Komm., Einleitung zu Inf. XXXII, S. 458. Cf. auch Auerbach, Dante als Dichter der irdischen Welt, S. 135–140.
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rus (Inf. XII, 11–27) und Geryon (Inf. XVI, 106–126 und XVII, 1–27), treten auch weitere Gestalten aus der Mythologie auf, wie etwa der Riese Capaneus als Repräsentant der Blasphemie (Inf. XIV, 49–72), der Kentaur Cacus als Allegorie der Dieberei (Inf. XXV, 17–33) oder Odysseus als Vertreter der hinterlistigen Ratgeber (Inf. XXVI, 55–142). Dante hat den genannten mythologischen Gestalten in der Hölle die Funktion zugewiesen, nicht nur die jeweiligen Laster allegorisch-symbolisch darzustellen, sondern auch in gewisser Weise die göttliche Gerechtigkeit zu vertreten. Denn sie alle haben teil an der Aufgabe, den status animarum post mortem sichtbar zu machen und dadurch das Wirken der iustitia puniens aufzuzeigen, indem sie am „Mechanismus“ der Hölle mitwirken – sei es als Wächter der Verdammten, sei es als zusätzliche „Quälgeister“, sei es selbst als Bestrafte, wie die drei zuletzt Erwähnten. Der sensus litteralis der Hölle wird durch eine Reihe fiktiver Gestalten repräsentiert, die aber Dante nicht selbst erfunden, sondern nur teilweise umgestaltet hat. Er kannte sie aus der antiken Mythologie, d. h. für ihn „existierten“ sie bereits – ob als literarische Fiktion oder als historisch bezeugte Persönlichkeiten, spielte offenbar keine große Rolle, zumal das Mittelalter sie eher als geschichtlich ansah. Daher konnte er sie für seinen sensus historicus verwenden und sein Zusammentreffen mit diesen Figuren als „wahr“ hinstellen. Diese als „historisch wahr“ erzählten Begegnungen der Hölle liefern den sensus litteralis, d. h. sie zeigen den status animarum post mortem, wie Dante selbst im Brief an Cangrande ankündigt. Daraus kann bzw. soll der entsprechende sensus allegoricus abgeleitet werden: Aus dem Zustand der Seelen, hier der Verdammten, kann der Jenseitswanderer Dante – und mit ihm natürlich zugleich der Leser der Divina Commedia – Rückschlüsse auf das Walten der göttlichen Gerechtigkeit, hier der iustitia puniens, ziehen: Diese Gerechtigkeit teilt den verdammten Seelen die entsprechende Bestrafung für die Sünden zu, die sie während ihres Erdenlebens begangen haben. Unter der Aufsicht der jeweiligen allegorischen Figuren laufen die Strafen nach dem Prinzip des contrappasso ab. Gerechtigkeit ist für Dante ein wichtiges Thema, wie Gilson hervorhebt: „La justice est en effet dans son œuvre comme une sorte de thème, de ,leit-motiv‘, qui ne reste jamais longtemps sans reparaître [. . .].“58 Den sensus moralis dazu kann nun jeder Leser leicht selbst herausfinden: Man soll im Leben die jeweilige Sünde vermeiden, sonst wird man einst in der Hölle ebenso bestraft werden. Den anagogicus kann es im Inferno eigentlich per se nicht geben, da dieser immer auf den Himmel verweist. Er wäre höchstens folgendermaßen denkbar: Es wird in der Hölle gezeigt, wo die Sünden
58
Gilson, Dante et la philosophie, S. 181; cf. auch S. 276–279.
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hinführen.59 Damit fällt er aber mit dem moralis mehr oder weniger zusammen. Es liegt nahe, in der Hölle Gestalten aus der antiken Mythologie als Allegorien für die Laster zu nehmen, da sich auch, wie bereits erwähnt, ihre Einteilung nach einem heidnischen Prinzip richtet. Christliche Schemata dagegen werden erst für das Purgatorio angewendet – sowohl was dessen Einteilung, als auch was die Repräsentanten betrifft. b) Purgatorio aa) Aufstieg und Bußrituale In der Morgendämmerung finden sich Dante und Vergil auf der Insel des Läuterungsberges wieder, an dessen Fuße sie als erstem Cato dem Älteren begegnen, der, obwohl Heide, doch erlöst worden ist und im Vorpurgatorio nun den Eingang zum eigentlichen Läuterungsort bewacht. Bevor er die Wanderer ihre Reise fortsetzen läßt, muß Dante sich von Vergil mit dem Schilf der Demut gürten und sein Antlitz im Tau waschen lassen: damit wird der Bußritus eingeleitet (Purg. I). Während des Sonnenaufgangs erleben sie die Ankunft des Fährmannengels, der eine Schar neuer Seelen in einem kleinen Boot ans Ufer bringt, während diese den Psalm 113 In exitu Israel de Aegypto singen. Offensichtlich evoziert Dante hier den anagogischen Sinn dieses Psalmes, den er bereits im Convivio und im Brief an Cangrande dargelegt hatte: ne l’uscita de l’anima dal peccato, essa sia fatta santa e libera (Conv. II, i, 7; cf. auch Ep. XIII, 21: exitus anime sancte ab huius corruptionis servitute ad eterne glorie libertatem). Denn genau dies ist ja das Grundthema des Purgatorio bzw. der Läuterung: Die Seelen sollen sich hier von ihren Sünden befreien, um heilig und frei zu werden. Unter den Ankömmlingen ist auch Dantes Jugendfreund Casella, ein Musiker; beide wärmen die Erinnerung an gemeinsame Stunden auf – bis die Casellas Gesang verzückt lauschenden Seelen von Cato ob ihrer Saumseligkeit zur Ordnung gerufen werden, duldet doch ihr „Weg zum Heil [. . .] keinen Aufschub“60 (II). Gleich darauf begegnen Dante und Vergil den ebenfalls noch im Vorpurgatorio verweilenden Seelen der Exkommunizierten, unter ihnen König Manfred von Sizilien und Apulien (III). Nun steigen die Wanderer in einer Felsspalte auf in Richtung der ersten Stufe des eigentlichen Purgatorio. Unter59 Da sowohl die allgemein verbreiteten Vorstellungen als auch Dantes Einteilung die Hölle „nach unten“ verlegen, müßte man diesen sensus hier allerdings eher als „catagogicus“ bezeichnen. 60 A. Kablitz, Uhrzeiten. Überlegungen zu einer Semantik der Zeit in Dantes Purgatorio, in: ders./W. Oesterreicher/R. Warning (Hrsg.), Zeit und Text. Philosophische, kulturanthropologische, literarhistorische und linguistische Beiträge, München 2003, S. 208–235, hier S. 210.
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wegs treffen sie zwei weitere Gruppen säumiger Seelen, zunächst die Trägen (IV) und darauf die plötzlich Getöteten (V). Nachdem eine Schar von ihnen vorbeigezogen ist, geraten Dante und Vergil in ein Gespräch mit dem Troubadour Sordello (VI), der sie in das Tal der Fürsten, die ihre Aufgabe vernachlässigt haben, begleitet und ihnen einige von diesen mit Namen nennt (VII). Während die Nacht hereinbricht, singen die Seelen im Fürstental den Hymnus Te lucis ante aus der Komplet, dem abendlichen Stundengebet der Kirche. Zwei Wächterengel treten auf und verscheuchen mit ihrem Flügelschlag die Schlange, die sich angeschlichen hat (VIII). Die abendliche Szene im sogenannten Tal der säumigen Fürsten verdient eine eingehendere Betrachtung (Purg. VIII, 10–30): Ella giunse e levò ambo le palme, ficcando li occhi verso l’orïente, come dicesse a Dio: ,D’altro non calme‘. ,Te lucis ante‘ sì devotamente le uscìo di bocca e con sì dolci note, che fece me a me uscir di mente; e l’altre poi dolcemente e devote seguitar lei per tutto l’inno intero, avendo li occhi a le superne rote. Aguzza qui, lettor, ben li occhi al vero, ché ’l velo è ora ben tanto sottile, certo che ’l trapassar dentro è leggero. Io vidi quello essercito gentile tacito poscia riguardare in sùe, quasi aspettando, palido e umìle; e vidi uscir de l’alto e scender giùe due angeli con due spade affocate, tronche e private delle punte sue. Verdi come fogliette pur mo nate erano in veste, che da verdi penne percosse traean dietro e ventilate.
Auffällig an dieser Passage ist unter anderem der Hinweis auf die allegorische Verhüllung, den Dante selbst gibt (V. 19–21): Er spricht den Leser sogar direkt an, was er nur an sehr wichtigen Stellen tut61, und macht ihn darauf aufmerksam, daß der „Schleier“ (’l velo) sehr dünn ist. Zugleich spielt er mit den Worten velo und vero.62 Das bedeutet, daß sich hinter dem wörtlichen Sinn der folgenden Stelle ein allegorischer verbirgt, auf den der Leser seine Aufmerksamkeit richten soll.
61
Cf. Gmelin, Bd. V: Der Läuterungsberg, Komm. zu Purg. VIII, 20, S. 147. Cf. auch P. Oster, Der Schleier im Text. Funktionsgeschichte eines Bildes für die neuzeitliche Erfahrung des Imaginären, München 2002, S. 61 f. 62
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Die Szene läuft folgendermaßen ab: In der Abendstimmung des Fürstentales singen die Seelen, wie oben angedeutet, unter der Leitung eines Vorsängers den ambrosianischen Hymnus aus der Komplet63: Te lucis ante terminum, Rerum Creator, poscimus, Ut pro tua clementia Sis praesul et custodia. Procul recedant somnia, et noctium phantasmata; Hostemque nostrum comprime, Ne polluantur corpora. Praesta, Pater piissime, Patrique compar Unice, Cum Spiritu Paraclito Regnans per omne saeculum. Amen.
Die erste Zeile ist direkt zitiert (V. 13); die anderen Seelen stimmen mit ein und singen den ganzen Hymnus (16 f.). Darin wird Gott gebeten, die Schlafenden zu behüten und vor nächtlichen Schreckgespenstern, ganz besonders aber vor den Versuchungen des Teufels, des Feindes der Menschen (hostemque nostrum) zu bewahren. Gleichsam als Antwort Gottes auf dieses Gebet kommen vom Himmel zwei Engel herab (25–30), deren grüne Kleidung und Flügel die Hoffnung symbolisieren64, und stellen sich als Wächter an zwei Seiten des Tales auf (31–33). Sordell kündigt das Kommen der Schlange an (39); Dante unterhält sich mit seinem Jugendfreund Nino Visconti (47–84), bis er von Sordell aufmerksam gemacht wird: Vedi là il nostro avversaro (95). Das Wort adversarius bezeichnet ebenso wie hostis im christlichen lateinischen Sprachgebrauch den „Widersacher“, also den Teufel. Ebenso ist die Schlange ein uraltes Symbol für diesen65 – daher wohl auch Dantes Hinweis auf den leicht zu durchschauenden allegorischen Schleier. Die Bezeichnung adversarius für den Teufel taucht explizit auch im ersten Petrusbrief auf: Sobrii estote et vigilate: quia adversarius vester diabolus tamquam leo rugiens circuit, quaerens quem devoret: cui resistite fortes in fide (1 Petr. 5, 8 f.). Im Breviarium Romanum66 beginnt das Abendgebet der Kirche mit dieser Lesung. Ob sie auch im Mittelalter schon fester Bestandteil dieser Hore war, konnte nicht mit Sicherheit festgestellt werden. Es gibt aber einige Hinweise: So schreibt Pascher über die Lectio, die die Komplet einleitet: „Besonders beliebt war dafür schon im Mittelalter die heute für das römische Brevier vorgeschriebene Lesung aus 63 Breviarium Romanum, ex decr. SS. Conc. Trid. restit., Pars hiemalis, Regensburg 1929, S. 36 (Hymnus). 64 Nach Gmelin, Bd. V: Der Läuterungsberg, Komm. zu Purg. VIII, 20, S. 148. 65 Cf. Gen. 3, 1–15; Apk. 12, 9. 66 Breviarium Romanum, Pars hiemalis, 1929, S. 34 (Lectio brevis).
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dem ersten Petrusbrief“.67 Bäumer behandelt in Kapitel V die „Gestaltung des Offiziums am Ende des 12. oder Anfang des 13. Jahrhunderts“68 und erwähnt, daß die Lesung Sobrii estote in dieser Epoche nicht regelmäßig verwendet worden sei, jedoch bereits existiert habe69 und daß sie im Codex 109 (10. Jh.) der Kapitelbibliothek zu Verona alia lectio genannt wird70. Das heißt, sie wurde beim abendlichen Stundengebet alternativ zu anderen lectiones vorgetragen. Der Autor weist zudem noch daraufhin, daß auch der Hymnus Te lucis ante dazugehörte. Möglicherweise hat Dante also diese Fassung des Abendgebets bereits gehört. Die Worte il nostro avversaro (V. 95) könnten sich also darauf beziehen, zumal ja bereits in V. 13 mit dem direkten Zitat Te lucis ante die Komplet evoziert wird. Während sich die Schlange nähert, erheben sich die beiden Engel in die Lüfte und vertreiben sie mit ihrem Flügelschlag. Daraufhin kehren sie an ihren Platz zurück, wohl um einen möglichen weiteren „Anschlag“ zu verhüten71. Pasquini/Quaglio72 interpretieren die beiden Engel sogar als Allegorien für die Hilfe Gottes gegen den Versucher, wie auch die anderen Engel des Purgatorio eine allegorische Funktion haben. Man könnte ihnen damit sogar einen mehrfachen Sinn zuweisen: wörtlich wären es zwei Engel, die von Gott geschickt werden, um den Menschen bzw. die Seelen zu beschützen, allegorisch eben die Hilfe Gottes selbst bzw. sein Eingreifen in das Geschick der Menschen. Dem sensus moralis nach bedeutet die Stelle, daß der Mensch ohne Gottes Hilfe den Nachstellungen Satans nicht widerstehen kann. Erstaunlich erscheint an dieser Szene zunächst die Tatsache, daß die Seelen Verstorbener, die bereits im Purgatorio (und sei es auch nur im Vorraum desselben) angelangt und damit gerettet sind – wenn sie auch erst der Läuterung bedürfen – noch vom Teufel versucht werden können bzw. dürfen. Hierfür bieten sich verschiedene Erklärungen: Nach Mattalìa73 repräsentiert die Schlange die Versuchungen, denen besonders die Fürsten (alle Staatsoberhäupter und Regierenden sind gemeint), um die es sich hier handelt, während ihres Erdenlebens ausgesetzt waren, wie Hochmut, Stolz, Neigung zur Tyrannei oder Schmeichelei. Die Erinnerung daran, die 67
J. Pascher, Das Stundenbuch der römischen Kirche, München 1954, S. 244. S. Bäumer, Geschichte des Breviers, Freiburg i. Br. 1895, Nachdr. Bonn 2004, Kap. V, S. 337–348. 69 Ibd., S. 343 f. 70 Ibd., Anm. 8. 71 La Divina Commedia, hrsg. u. komm. v. D. Mattalìa, 2 Bde., Mailand 21966, Bd. I: Inferno/Purgatorio, Komm. zu Purg. VIII, 25–27, S. 776. 72 Purgatorio, hrsg. v. Pasquini/Quaglio, Komm. zu Purg. VIII, 15, S. 131. 73 Divina Commedia, hrsg. v. Mattalìa, Bd. I, zu Purg. VIII, 108, S. 776 f. 68
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sich mit der Schlange einstellt, soll nun Reue hervorrufen und ist somit Bestandteil des Läuterungsritus. Dadurch, daß die Seelen im Vorpurgatorio von ihrem irdischen Leben gedanklich noch nicht so weit entfernt sind, hat die Versuchung vielleicht besonders große Bedeutung für sie, indem sie ihnen ihre Verfehlungen noch einmal vergegenwärtigt. An mehreren Stellen der Divina Commedia kommt zum Ausdruck, daß für Dante schlechte Fürsten ein besonderes Übel sind.74 Vielleicht hat er ihnen deshalb noch vor Beginn der eigentlichen Bußrituale eine Art „Vor-Buße“ auferlegen wollen, die genau auf sie zugeschnitten ist. Pasquini/Quaglio deuten die Versuchung als „ideale contrappasso“75, d. h. als Buße für das Versäumnis der Fürsten auf Erden oder als „figura“76 der menschlichen Schwäche angesichts der Lockungen des Bösen, gegen die Gott selbst eingreifen muß. Zudem müssen die „anime purganti“77 auch noch für die Lebenden fürchten, die weiterhin den Anfechtungen des Widersachers ausgesetzt sind. All diese Faktoren weisen auf die menschliche Unvollkommenheit hin, die im Purgatorio mit Gottes Hilfe, d. h. hier durch die Intervention der Engel, gereinigt werden muß. Der Übergang vom Vorpurgatorio zum eigentlichen Purgatorio (Purg. IX) wird durch den ersten Morgentraum Dantes gleichsam allegorisch verhüllt dargestellt (Purg. IX, 19–33): Während er träumt, er werde wie Ganymed vom Adler Jupiters emporgehoben, trägt ihn die Heilige Lucia auf ihren Armen nach oben zum Eingang des Purgatorio, wo er sich beim Aufwachen wiederfindet und von Vergil über die „Reise“ aufgeklärt wird. Der Traum bedeutet zum einen den Aufstieg selbst (sensus allegoricus), zum anderen verweist die Ganymed-Symbolik auch noch auf eine höhere Ebene, die man mit dem sensus anagogicus gleichsetzen könnte: „Ganimede raffigurava infatti [nella tradizione christiana] l’anima umana portata da Dio stesso a partecipare al banchetto celeste, cioè alla vita divina.“78 Bevor Dante zum eigentlichen Bußbereich zugelassen wird, muß er wieder ein bestimmtes Ritual vollziehen: Auf Vergils Geheiß steigt er die drei verschiedenfarbigen Stufen zum Eingangstor empor, wo der „Pförtnerengel“ sitzt. Vor diesem kniet er nieder, schlägt sich an die Brust und bittet demütig um Einlaß. Als äußeres Zeichen der stufenweise durchzuführenden Entsündigung ritzt der
74 Z. B. in Par. VI, 97–111; Par. XIX, 100–148. Cf. auch A. Kablitz, Zeitlichkeit und Ewigkeit in Dantes Purgatorio. Das Fürstental am Fuß des Läuterungsbergs, in: D. Ingenschay/H. Pfeiffer (Hrsg.), Werk und Diskurs. Karlheinz Stierle zum 60. Geburtstag, München 1999, S. 33–72, hier S. 67 f. 75 Purgatorio, hrsg. v. Pasquini/Quaglio, Lettura del canto ottavo, S. 139. 76 Ibd. 77 Ibd. 78 Purgatorio, hrsg. v. Chiavacci Leonardi, zu Purg. IX, 22–24, S. 266.
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Engel mit der Schwertspitze Dante sieben P in die Stirn, wie oben bereits geschildert. Danach gewährt er ihnen Zutritt. Die Wanderer betreten die erste Zone, wo ihnen der Gesang des Te Deum entgegenschallt (IX), und erleben hier zum ersten Mal den Ablauf der Läuterung: Die Terrasse der superbia ist von Reliefbildern umgeben, auf denen Beispiele für die entgegengesetzte Tugend, in diesem Falle für die Demut, zu sehen sind. Dante hat sich hier offensichtlich vom Rosenroman inspirieren lassen, und zwar von der Darstellung der Laster an der Außenmauer des vergier de Deduit.79 Eines dieser Bilder zeigt die Szene von Mariä Verkündigung. Der contrappasso der Hochmütigen besteht darin, daß sie unter schweren Steinlasten zu Boden gedrückt dahinziehen (X). Dabei beten sie gemeinsam das Vaterunser (XI). Zum Abschluß der Läuterung erblicken sie schließlich noch Bilder bestraften Hochmuts als Reliefs auf dem Boden, über den sie gehen, da sie sich aufgrund der Bürde, die sie tragen, nicht aufrichten können. Der Engel der Demut erscheint und löscht das erste P auf Dantes Stirne aus, was der ersten Absolution gleichkommt (XII). Dann steigen Dante und Vergil weiter auf in den Kreis der Neidischen, denen als Strafe für ihre irdische Blindheit die Augen zugenäht sind, weshalb sie die Beispiele der entgegengesetzten Tugend, der Nächstenliebe, auch nicht sehen, sondern nur hören können: Es sind unsichtbare Stimmen aus den Lüften. Nach einem Gespräch mit der büßenden Seele der Sapìa aus Siena, einer mißgünstigen Alten (XIII), wird der Ritus wie üblich mit den Negativbeispielen zu Ende geführt: Erneut zählen Geisterstimmen Fälle bestraften Neides auf (XIV). Nachdem der Engel der Nächstenliebe das nächste P von Dantes Stirn getilgt hat, läßt er sie mit der Seligpreisung der Barmherzigkeit weitergehen zum Gürtel der Zornigen, wo ihnen Bilder der Milde, diesmal in Form einer Vision, entgegengehalten werden (XV). Die Zornigen selbst müssen in beißenden Rauchwolken gehen, eine besonders sinnfällige Version des contrappasso, denn der Rauch steht zugleich allegorisch für den Zorn (XVI). Nach den Visionen bestraften Zornes erscheint der Engel des Friedens, der das Läuterungsritual mit der Seligpreisung der Friedfertigen und dem Auslöschen des nächsten P beendet. Während des Überganges zum Bereich der Trägheit belehrt Vergil seinen Schützling über das System der Buße und die Willensfreiheit (XVII/XVIII). Die Buße der Trägen besteht in eiligem Lauf; sie haben keine Zeit für Tugendexempla oder Gegenbeispiele, sondern erleben diese nur in kurzen mahnenden Zurufen (XVIII).80 Zwischen der vierten und der fünften Purgatorio-Terrasse verbringen die beiden die zweite Nacht, und Dante hat wieder einen Morgentraum, der ihm diesmal das Folgende bildhaft vorhersagt: Er sieht nämlich zwei Frauen, eine häß-
79 K. Münchberg, Dante. Die Möglichkeit der Kunst, Heidelberg 2005, S. 71 f. Cf. auch Stierle, Das große Meer des Sinns, S. 182 f., S. 206. 80 Cf. zur Trägheit bzw. accedia auch Agamben, Stanze, S. 5–14 („Il demone meridiano“).
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liche, lasterhafte in Gestalt einer Sirene und eine tugendhafte. Auch dieser Traum soll ein wenig interpretiert werden (Purg. XIX, 7–33): mi venne in sogno una femmina balba, ne li occhi guercia, e sovra i piè distorta, con le man monche, e di colore scialba. io la mirava; e come ’l sol conforta le fredde membra che la notte aggrava, così lo sguardo mio le facea scorta la lingua, e poscia tutta la drizzava in poco d’ora, e lo smarrito volto, com’ amor vuol, così le colorava. Poi ch’ell’ avea il parlar così disciolto, cominciava a cantar sì, che con pena da lei avrei mio intento rivolto. „Io son“, cantava, „io son dolce serena, che’ marinari in mezzo mar dismago; tanto son di piacere a sentir piena! Io volsi Ulisse del suo cammin vago al canto mio; e qual meco si ausa, rado sen parte; sì tutto l’appago!“. Ancor non era sua bocca richiusa, quand’ una donna apparve santa e presta lunghesso me per far colei confusa. „O Virgilio, Virgilio, chi è questa?“, fieramente dicea; ed el venìa con li occhi fitti pur in quella onesta. L’altra prendea, e dinanzi l’apria fendendo i drappi, e mostravami ’l ventre; quel mi svegliò col puzzo che n’uscia.
Die femmina balba deutet sich selbst als Sirene81, die, obwohl äußerlich häßlich, mit ihrem süßen Gesang alle in ihren Bann zieht und deshalb „alles haben“ kann82. Deshalb wird sie von den Kommentatoren auch als Personifikation von Habsucht, Schlemmerei und Wollust interpretiert83. Zu beachten ist, daß in der Antike Morgenträume als wahr bzw. als Ankündigung eines wahren Ereignisses galten, so Horaz, Sat. I, X, 33 und Ovid, Her. XIX, 195 f.84 Dieser Traum der zweiten Purgatorio-Nacht beinhaltet eine allegorische Vorankündigung des Folgenden und steht an einer einschneidenden Stelle, nämlich 81 Der Sage nach waren die Sirenen eine Art von Meerdämonen (Vögel mit Menschenkopf), die mit ihrer Sangeskunst die Seefahrer betörten (nach H. v. Geisau, Art. Seirenes, in: Kl. Pauly, Bd. 5, Sp. 79). 82 Cf. Divina Commedia, hrsg. v. Mattalìa, Bd. I, zu Purg. XIX, 19, S. 942. 83 Cf. z. B. Purgatorio, hrsg. v. Pasquini/Quaglio, Lettura del canto diciannovesimo, S. 289. 84 K. Taylor, Chaucer reads ,The Divine Comedy‘, Stanford (California), 1989, S. 38 und Anm. 50.
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vor dem Eintritt in den oberen Teil des Purgatorio, wo diese eben erwähnten Sünden gebüßt werden. Interessant ist, daß hier zwei verschiedene Arten von Allegorien auftreten: Wieder einmal „schlüpft“ die des Lasters in eine mythologische „Verkleidung“, wie wir es schon aus dem Inferno kennen. Es handelt sich bei der Sirene zwar um eine Allegorie des Lasters, aber nicht um eine abstrakte Personifikation, sondern um eine Gestalt des Mythos, die eine allegorische Funktion annimmt. Eben die Charakteristika aus der Sage (körperliche Häßlichkeit, aber verlockend schöne Stimme) werden hierbei allegorisch umfunktioniert85: Das abstoßende Äußere verweist allegorisch auf die moralische Häßlichkeit der oben genannten Laster. Die süße Singstimme, die einst Odysseus vom Wege abkommen ließ (V. 22 f.), bezeichnet wohl die weltlichen Lockungen, zu denen die jeweilige Sünde den Menschen verführt (Reichtum bzw. leiblich-sinnliches Vergnügen). Der Gestank, der von ihrem Leib ausgeht, als dieser entblößt wird, ist als die schlechte Auswirkung der entsprechenden Untugenden zu verstehen. Die entlarvte Sünde „stinkt“ und enthüllt nun erst ihre Schlechtigkeit, die vorher hinter dem schönen Äußeren der Sirene verborgen war. Schwieriger wird es mit der zweiten Person des Traumes, der donna santa e presta, die das Gegenstück zur anderen bildet. Ist sie nicht eine abstrakte Personifikation, eine allegoria dei poeti? Mattalìa resümiert die verschiedenen Bedeutungen, die ihr zugeschrieben werden: „Prudenza; Temperanza; Ragione; Verità; Lucia; Beatrice; la Vergine, ecc.“86 Er macht auch darauf aufmerksam, daß Vergil, obwohl er im Traum präsent ist (die donna santa spricht ihn in Vers 28 an), nicht selbst eingreift. Hier ergibt sich allerdings ein Problem des Textverständnisses: Während Mattalìa l’altra (V. 31) offensichtlich als Nominativ auffaßt und auf die donna bezieht, verstehen Chiavacci Leonardi und Gmelin es als Akkusativ und lassen Vergil selber eingreifen.87 Mattalìa deutet daher die „heilige Frau“ als eine „entità superiore e più potente della Ragione stessa“88. Wenn sie selbst handelt, wieso tritt Vergil, der Vertreter der Ragione, im Traum überhaupt auf? Andererseits, wenn es Vergil ist, der den Leib der Sirene entblößt und damit ihre moralische Häßlichkeit, symbolisiert durch den Gestank, aufdeckt, fällt der „heiligen Frau“ nur die Aufgabe zu, ihn dazu zu animieren. Sie muß also in jedem Fall eine Instanz sein, 85 Die Gestalt der Sirene war ebenso wie die Gegenüberstellung zweier allegorischer Frauengestalten als gute und schlechte Seelenkräfte in der ganzen mittelalterlichen Literatur beliebt. Sie findet sich u. a. schon in Ciceros De officiis (nach Gmelin, Bd. V: Der Läuterungsberg, Komm. zu Purg. XIX, 1–33, S. 301, leider ohne Stellenangabe). Dante konnte somit auf eine lange Tradition zurückgreifen. 86 Divina Commedia, hrsg. v. Mattalìa, Bd. I, zu Purg. XIX, 26, S. 943. 87 Purgatorio, hrsg. v. Chiavacci Leonardi, zu Purg. XIX, 31, S. 561; Gmelin, Bd. V: Der Läuterungsberg, Komm. zu Purg. XIX, 1–33, S. 301 f. 88 Ibd.
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die die Ratio, also Vergil, zum Handeln veranlaßt, und sie muß einen Bezug zum Folgenden haben wie die Sirene, die die Laster symbolisiert. Ähnlich wie später Matelda89 (immerhin hat diese einen Namen!) bleibt die donna jedoch unbestimmt, abstrakt – im Gegensatz zu den anderen Figuren, von denen Dante umgeben ist. sie wäre demnach eher eines der wenigen Beispiele für eine allegoria dei poeti; allerdings kann man ihr keine genaue Personifikation zuordnen. Ob nun Vergil oder die „heilige Frau“ die entscheidende Geste vollzieht – nämlich die Sirene zu entblößen –, die donna santa e presta ergreift auf jeden Fall zunächst die Initiative, indem sie Vergil anspricht. Typisch für einen Traum ist es übrigens auch, daß Vergil „plötzlich da ist“, ohne daß seine Gegenwart vorher erwähnt worden wäre oder eine Rolle gespielt hätte. Einige Verse später deutet nun Vergil seinem Schützling den Traum, wenn auch nur in knapper Form (V. 58–60): „Vedesti“, disse, „quell’antica strega che sola sovr’ a noi omai si piagne; vedesti come l’uom da lei si slega.“
Er bezeichnet die Sirene als antica strega, wobei antica wohl einerseits auf den alten Mythos, andererseits auf das Alter des Lasters hindeutet, dem die Menschen seit Urzeiten erliegen. Strega (Hexe) hingegen verweist auf „ihren trügerischen Zauber“90 und auf ihre Bosheit; möglicherweise auch auf die Zauberin Kirke, die das Mittelalter zu den Sirenen zählte91. Das Ende des Traumes kommentiert Vergil mit den Worten vedesti come l’uom da lei si slega (V. 60), ohne dabei auf die heilige Frau oder sich selbst einzugehen. Das Entscheidende am Traum ist also die Entdeckung des Lasters, dargestellt durch die Entblößung des Leibes, und wie der Mensch sich davon losreißt: Der Gestank, der vom Leib der Sirene ausgeht, symbolisiert wohl auch die „Abschreckung“. Die Abkehr des Menschen vom Laster ist auf zwei Faktoren zurückzuführen: einerseits auf das Eingreifen Gottes selbst oder zumindest auf einen übernatürlichen Anstoß, andererseits auf den Gebrauch des Verstandes, mit dessen Hilfe er das Verwerfliche einsieht. Während Vergil also auch an dieser Stelle die Ratio verkörpert, steht die Frauengestalt für die hilfreiche Intervention „von oben“; daher auch die Epitheta santa und presta. Gmelin interpretiert sie deshalb auch als „höhere Tu-
89 90 91
Cf. Purg. XXVIII. Gmelin, Bd. V: Der Läuterungsberg, Komm. zu Purg. XIX, 58, S. 307. Ibd., Komm. zu Vers 19, S. 303.
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gend, die dem Menschen zu Hilfe kommt“92, und als „Allegorie der helfenden Mächte“93. Sie rückt damit in die Nähe Beatrices und bildet eine Art typologischen Vorverweis (figura) auf sie.94 Man könnte mit Chiavacci Leonardi auch an die Hl. Lucia denken „o se si preferisce alla grazia, che illumina la ragione e le dà la forza di squarciare i veli ingannatori della seduzione.“95 Zugleich handelt es sich bei dieser donna um eines der wenigen Beispiele abstrakter Personifikationen in der Divina Commedia. Die ganze Traumszene nimmt in gewisser Weise das persönliche Erleben Dantes auf und stellt es allegorisch dar: Wie wir im Irdischen Paradies erfahren werden, hat auch er sich auf Erden in Schuld verstrickt und kann nur durch das Einschreiten einer „heiligen Frau“ vom Himmel, nämlich Beatrices, gerettet werden – und zwar, indem er das Laster erkennt und sich von ihm abwendet, es also bereut (cf. Purg. XXX–XXXIII). Man könnte demnach die donna santa e presta aus dem zweiten Traum als „Allegorie der Allegorie“ bezeichnen, steht sie doch allegorisch für Beatrices Handeln an Dante: Denn sie ist es ja, die Vergil zu Dante schickt, damit er ihn auf seiner Jenseitsreise begleite. Diese Wanderung bedeutet wiederum allegorisch die Rettung aus der Schuld durch Erkenntnis und Reue. Der Traum vereint also in sich die wichtigsten Elemente der ganzen Divina Commedia, sowohl äußerlich (Vision), als auch innerlich (Entdeckung des Lasters und Abkehr davon). Damit ist auch der vierfache Schriftsinn an dieser Stelle greifbar: der sensus litteralis wäre der konkrete Inhalt des Traumes, der allegoricus dessen übertragene Bedeutung. Als moralis könnte man die Interpretation Vergils (V. 58–60) verstehen, der anagogicus liegt ja eigentlich in der Grundidee des ganzen Purgatorio: das Reinigen von Schuld und der Aufstieg zu Gott. Nachdem Dante aus diesem Traum erwacht ist, mahnt ihn Vergil zum Weitergehen, und sie vernehmen im Aufbruch die Stimme des Engels der Gottesliebe, der noch zum vierten Kreis gehört und die Betrübten selig preist. An ihm vorbei schreiten sie durch eine Maueröffnung in den nächsten Kreis, den der Geizigen und der Verschwender, die weinend am Boden liegen und dazu passend den Psalmvers Adhaesit pavimento anima mea96 singen. Dante beginnt ein Gespräch mit einem Geist, der sich als Papst Hadrian V. entpuppt (XIX). Einige Schritte weiter trifft er auf die Seele des Stammvaters der französischen Könige, Hugo Capet, der ganz allein die üblichen drei Tugendbeispiele nennt und dann in eine heftige Klagerede über die französische Geschichte ausbricht, in 92
Ibd., Komm. zu Vers 1–33, S. 301. Ibd., Einleitung zu Purg. XIX, S. 299. 94 Cf. auch R. Hollander, Purgatorio XIX: Dante’s Siren/Harpy, in: A. Bernardo/ A. Pellegrini (Hrsg.), Dante, Petrarch, Boccaccio. Studies in the Italian Trecento In Honor of Charles S. Singleton, Binghamton (New York) 1983, S. 77–88, v. a. S. 79 f. 95 Purgatorio, hrsg. v. Chiavacci Leonardi, zu Purg. XIX, 26, S. 560. 96 Ps. 118, 25. 93
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die Dante durch einige Ausrufe miteinstimmt. Auch die Beispiele bestrafter Habgier – diesmal sind es nicht nur drei, sondern sogar sieben – hört Dante aus Hugo Capets Mund. Der Gesang endet mit einem Erdbeben, das Dante in tiefe Verwirrung stürzt, weil er es sich nicht erklären kann (XX). Während sie jedoch an weiteren büßenden Habgierigen vorübergehen, gesellt sich ein Schatten zu ihnen, der sich nach einiger Zeit als der römische Dichter Statius97 vorstellt und ihnen das Beben erläutert: Es begleitet die Erlösung einer Seele – hier seiner eigenen! –, die die Läuterung vollendet hat und in den Himmel aufsteigen darf (XXI). Während die beiden antiken Dichter ihr Gespräch fortführen, steigt die Gruppe vorbei am Engel der Gerechtigkeit, der mit dem ersten Teil der Seligpreisung der Dürstenden nach Gerechtigkeit (Beati qui sitiunt98) wieder ein P von Dantes Stirne auslöscht, zur sechsten Stufe auf, wo Schlemmerei und andere Ausschweifungen gebüßt werden. Hier erblicken sie als ersten Bestandteil des Bußritus einen Wunderbaum mit duftenden Früchten an einem rauschenden Wasserfall, der bei den Schlemmern Hunger und Durst erregt. Aus dem Baum hören sie eine Stimme, die zur Enthaltsamkeit mahnt und diesmal fünf Beispiele dieser Tugend erwähnt: Maria bei der Hochzeit zu Kana, die alten Römerinnen, Daniel, das Goldene Zeitalter und Johannes den Täufer in der Wüste (XXII). Gleich darauf begegnen sie einer Schar ausgemergelter Büßer, die beim Anblick der Früchte Tantalusqualen erleiden und die den Psalm Labia mea, Domine99 intonieren. Einer von ihnen tritt aus der Gruppe hervor: Forese Donati, ein Jugendfreund Dantes, den dieser aufgrund seines entstellten Äußeren – die Abgezehrtheit gehört zum contrappasso – zunächst nur an der Stimme erkennt (XXIII). Forese nennt die Namen einiger vorbeieilender Büßer und nimmt nach einer düsteren Prophezeiung über den Tod und die Verdammung seines verbrecherischen Bruders Corso Abschied von seinem Freund. Bevor sie den Kreis der Schlemmer verlassen, erblicken die drei Dichter einen zweiten Wunderbaum, aus dem wieder eine Stimme erschallt, die drei Beispiele bestrafter Genußsucht aufzählt. Schließlich löscht der Engel des Maßes das vorletzte P von Dantes Stirne und spricht den zweiten Teil der obigen Seligpreisung aus: Beati qui esuriunt iustitiam100 (XXIV). Statius steigt mit Dante und Vergil zur siebten und letzten Stufe des Läuterungsberges auf, der aus einer Art Feuerwand besteht, in der die Wollüstigen geläutert werden. Erst hier, beim letzten Kreis des Purgatorio, ist also die Idee des eigentlichen Fegefeuers verarbeitet, und zwar in Form des contrappasso für diejenigen, die auf Erden vom
97 Nach einer mittelalterlichen Sage galt er als heimlicher Christ (nach Gmelin, Bd. V: Der Läuterungsberg, Komm., Einleitung zu Purg. XXXI, S. 331). C. S. Lewis drückt dies prägnant mit „hidden Christianity“ aus: Lewis, Dante’s Statius, in: ders., Studies in Medieval and Renaissance Literature, S. 94–102, hier S. 94. 98 Mt. 5, 6. 99 Ps. 50, 17 100 Mt. 5, 6.
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Feuer der sinnlichen Leidenschaften verzehrt wurden. Sie singen ihren Bußhymnus Summae Deus clementiae101 und rufen zwischendurch Beispiele der Keuschheit aus (XXV). Nach der Begegnung mit einer Schar büßender Seelen trifft Dante seinerseits auf einen Dichterkollegen – ebenso wie vorher Vergil auf Statius – nämlich den Verfasser von Liebesgedichten Guido Guinizelli aus Bologna, und kurz danach noch auf den Troubadour Arnaut Daniel (XXVI). Mit dem siebten Kreis lassen die Wanderer das Purgatorio überhaupt hinter sich. Der Engel der Keuschheit erscheint und spricht die Seligpreisung Beati mundo corde aus. Die Tilgung des letzten P wird nicht mehr ausdrücklich erwähnt, stattdessen wird Dante von Vergil freigesprochen. Als letzte Läuterung muß er nun den Feuergürtel durchschreiten, der ihn noch vom Irdischen Paradies trennt. Er fürchtet sich zunächst, doch Vergil ermuntert ihn, indem er ihn auf die bevorstehende Begegnung mit Beatrice hinweist. So beginnt Dante zwischen Vergil und Statius den Gang durch das Feuer zum Gipfel des Läuterungsberges, wo sie ankommen, als es gerade Abend wird. Deshalb legen sie sich zur Ruhe, und Dante erlebt seinen dritten Morgentraum: Er sieht die alttestamentliche Lea als schönes junges Mädchen blumenpflückend auf einer Wiese, während sie von sich selbst und ihrer Schwester Rachel singt. Wie bereits der vorhergehende, so beinhaltet auch dieser Traum eine allegorische Vorankündigung des Folgenden und steht an einer einschneidenden Stelle, nämlich vor dem Eintritt in das Irdische Paradies (Purg. XXVII, 97–108): giovane e bella in sogno mi parea donna vedere andar per una landa cogliendo fiori; e cantando dicea: „Sappia qualunque il mio nome dimanda, Ch’i mi son Lia, e vo movendo intorno le belle mani a farmi una ghirlanda. Per piacermi a lo specchio qui m’adorno; ma mia suora Rachel mai non si smaga dal suo miraglio, e siede tutto giorno. Ell’è d’i suoi belli occhi veder vaga com’io de l’adornarmi con le mani; lei lo vedere, e me l’ovrare appaga“.
Dante sieht im Traum Lea aus dem Alten Testament, die erste Frau Jakobs, die auch in der mittelalterlichen Bibelexegese als Allegorie für die vita activa galt102. Hier wird dies ausgedrückt durch das Blumenpflücken und das Herstellen der Girlande mit ihren eigenen Händen. Sie schmückt sich damit wie mit 101 Der Hymnus stammt aus der Samstags-Matutin und thematisiert ebenfalls das Feuer als Heilung von sinnlichen Leidenschaften (nach Gmelin, Bd. V: Der Läuterungsberg, Komm. zu Purg. XXV, 121, S. 401 und Gnilka, Studien zur Psychomachie, S. 56). 102 Nach Purgatorio, hrsg. v. Pasquini/Quaglio, zu Purg. XXVII, 101, S. 372.
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Tugendwerken, „opere virtuose“103. Ihre Schwester Rachel hingegen, die zweite Frau Jakobs, sitzt den ganzen Tag vor dem Spiegel in Betrachtung ihrer Schönheit versunken, wie wir aus Leas Gesang erfahren. Sie symbolisiert somit die vita contemplativa. Gegenstand der christlichen Kontemplation ist natürlich Gott, und nicht die eigene Person. Daher repräsentiert der Spiegel hier die menschliche Seele, die Gott geistig schaut.104 Die betrachtenden Seelen spiegeln sich gewissermaßen in Gott, aber auch die vita activa ist auf Gott ausgerichtet: Lea erwähnt ausdrücklich, daß sie sich schmückt, um sich nachher im Spiegel zu gefallen (per piacermi allo specchio; V. 103). Zudem präfigurieren die beiden Frauengestalten Matelda und Beatrice – hierin sind sich die Kommentare im wesentlichen einig105. Dante greift damit innerhalb der Divina Commedia auf das traditionelle bibelhermeneutische Schema der Typologie zurück. Mit der Ankunft im Irdischen Paradies ist die „aktive Phase“ abgeschlossen, die unter der Führung Vergils stattfand; es beginnt ein neuer Abschnitt unter der Leitung Beatrices, die für „Rivelazione – Magistero religioso e dottrinale della Chiesa“106 steht. Die Gestalt der Matelda ist schwer zu deuten, ebenso ihr Name – Beatrice nennt ihn erst in Purg. XXXIII, 119 –, für den es verschiedene Erklärungsversuche gibt107. Auf jeden Fall ist sie aber eine Art Vorläuferin Beatrices und gleichzeitig auch – wie die Engel des Purgatorio – Repräsentantin ihrer Stufe, also des Irdischen Paradieses.108 Rachel ist dagegen figura für Beatrice. Diese hatte schon in der „Vorgeschichte“ der Divina Commedia, als sie von Maria und Lucia zu Vergil entsandt wurde (Inf. II, 91–114), ausdrücklich erwähnt, daß ihr Platz im Himmel neben Rachel ist – so berichtet Vergil, der wiederum Beatrice direkt zitiert (Inf. II, 100–102): Lucia, nimica di ciascun crudele, si mosse e venne al loco dov’ i’ era, che mi sedea con l’antica Rachele.
Die Parallele Rachel–Beatrice zieht sich durch alle drei Cantiche hindurch. Denn auch im Paradiso wird noch einmal darauf Bezug genommen, als Bernhard von Clairvaux darauf hinweist, daß Beatrice in der Himmelsrose neben Rachel sitzt (Par. XXXII, 7–9): 103
Ibd. Purgatorio, hrsg. v. Chiavacci Leonardi, zu Purg. XXVII, 103, S. 811. 105 Ibd., Introduz. al canto XXVII, S. 795, Gmelin, Bd. V: Der Läuterungsberg, Komm. zu Purg. XXVII, 91–109, S. 428; Purgatorio, hrsg. v. Pasquini/Quaglio, Lettura del canto ventisettesimo, S. 375. 106 Divina Commedia, hrsg. v. Mattalìa, Bd. I, zu Purg. XXVII, 101, S. 1091. 107 Cf. Gmelin, Bd. V: Der Läuterungsberg, Komm. zu Purg. XXVIII, 37–75, S. 441 f. 108 Ibd., S. 440; siehe auch Purgatorio, hrsg. v. Chiavacci Leonardi, Introduz. al canto XXVIII, S. 823 f. 104
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VII. (Re-)Sakralisierung der Allegorie: Die Divina Commedia Ne l’ordine che fanno i terzi sedi, siede Rachel di sotto da costei con Bëatrice, sì come tu vedi.
Nach Dantes Erwachen aus dem dritten Morgentraum folgt der letzte Aufstieg und die Ankunft im Irdischen Paradies, wo Vergil Dante feierlich zum Herrn über sich selbst erklärt (Purg. XXVIII, 139–142): Non aspettar mio dir più né mio cenno; libero, dritto e sano è tuo arbitrio, e fallo fora non fare a suo senno: per ch’io te sovra te corono e mitrio.
Da dem Jenseitswanderer nun der sündenlose Urzustand des Menschen wiedergegeben ist, darf er sich im Irdischen Paradies frei bewegen, und Vergils Rolle als Führer ist somit beendet (XXVII). Daraufhin begibt sich Dante auf einen Erkundungsgang weiter in den zauberhaften Wald109 hinein, bis ihn das Bächlein der Lethe am Weitergehen hindert (XXVIII). Vom gegenüberliegenden Ufer her erscheint die Gestalt einer schönen Frau110, die sich langsam auf Dante zu bewegt, wobei sie singt und Blumen pflückt, ebenso wie es Lea im Traum getan hatte (Purg. XXVIII, 37; 40–42): e là m’apparve [. . .] una donna soletta che si gia e cantando e scegliendo fior da fiore ond’era pinta tutta la sua via.
Dante hat die Erscheinung der Matelda im Irdischen Paradies mit allen Kennzeichen „seiner jugendlichen Minnewelt“111 ausgestattet: eine schöne junge Frau, die in einem zauberhaften Garten wandelt – all dies sind typische Elemente der Minneallegorie. Als locus amoenus wird dieser Garten schon in der Rede Vergils charakterisiert (Purg. XXVII, 133–135): Vedi lo sol che ’n fronte ti riluce; vedi l’erbette, i fiori e li arbuscelli che qui la terra sol da sé produce.
Einige klassische Merkmale des locus amoenus – Sonne, Blumen, Sträucher, Bäume – sind hier bereits genannt, im nächsten Gesang kommen noch der Fluß 109 Die sündenlose Urzustand der divina foresta (Purg. XXVIII, 2) steht in direkter Opposition zur selva oscura der irdischen Sündhaftigkeit, in der sich Dante zu Beginn verstrickt findet (Inf. I, 1). 110 Ihr Name, Matelda, wird erst von Beatrice in Purg. XXXIII, 191 genannt. 111 Gmelin, Bd. V: Der Läuterungsberg, Komm. zu Purg. XXVIII, 37–75, S. 439. Auch der Einfluß der pastorella ist bei dieser Szene spürbar (cf. Singleton, Matelda, in: ders., Dante Studies, Bd. 2: Journey to Beatrice, Cambridge (Mass.) 1958, S. 204– 221, hier S. 214).
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Lethe (un rio; Purg. XXVIII, 25), die singenden Vögel (li augeletti [. . .] / [. . .] con piena letizia [. . .] / cantando [. . .]; Purg. XXVIII, 14–21) und der Windhauch (Un’ aura dolce; Purg. XXVIII, 7; soave vento; ibd., 9) hinzu.112 Somit weist dieser Garten Eden große Ähnlichkeit mit dem Vergier de Deduit aus dem Rosenroman auf, in dem ebenfalls besonders der Gesang der Vögel hervorgehoben wird (RR 478–486; 643–682). In Vers 636 bezeichnet Guillaume de Lorris den Garten explizit als parevis terrestre, nachdem er zunächst dessen Schönheit, Freude und seinen Reichtum an Bäumen und Vögeln betont hatte (RR 475–483): Car tel joie ne tel deduit Ne vit mais on, si con je cuit, Come il avoit en cel vergier; Car li leus d’oisiaus herbergier N’estoit ne desdeigneus ne chiches; Onc mais ne fu nus leus si riches D’arbres ne d’oisillons chantanz, Qu’il i avoit d’oisiaus trois tanz Qu’en tot li reiaume de France.
Während bekanntlich im Roman de la Rose die Personifikation der Oiseuse dem Dichter die Tür zum Garten öffnet (RR 525), begegnet Dante der Matelda. Beide sind als schöne junge Mädchen charakterisiert; allerdings beschreibt Guillaume seine Gestalt wesentlich ausführlicher als Dante (RR 525–574). Der italienische Dichter gibt dagegen keine Details zu Mateldas Aussehen; er nennt sie nur bella donna (Purg. XXVIII, 43). Dennoch klingt bei ihm ein weiteres Motiv aus dem Rosenroman an: Kurz nachdem der Dichter den vergier de Deduit betreten hat, trifft er auf eine höfische Gesellschaft, die soeben einen Tanz beginnt (RR 727 f.), von dem im folgenden erzählt wird. Von dieser Tanzszene hat Dante sich offenbar inspirieren lassen, denn er stellt Mateldas Näherkommen ebenfalls wie einen Tanz dar (Purg. XXVIII, 52–56): Come si volge, con le piante strette, a terra e intra sé, donna che balli, e piede innanzi piede a pena mette, volsesi in su i vermigli e in su i gialli fioretti verso me, [. . .].
Dante verlegt also den Vergier de Deduit aus der profanen Minneallegorie auf den Gipfel des Läuterungsberges, ins Irdische Paradies, und schreibt ihn damit in einen religiösen Kontext ein. Matelda ist weder eine historische Person noch eine mythologische Gestalt wie die meisten anderen Figuren der Divina Commedia, sondern eine eigene Erfindung Dantes. In gewisser Weise ist sie eine Personifikation, denn sie ver112 Cf. zum locus amoenus Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, S. 202.
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VII. (Re-)Sakralisierung der Allegorie: Die Divina Commedia
körpert mit ihrer Reinheit und Schönheit den Zustand, den die Seelen nach der Läuterung im Irdischen Paradies erlangt haben. Obwohl sie somit Züge einer allegoria dei poeti trägt, wird ihre abstrakte Gestalt durch den Eigennamen, Matelda, konkretisiert. Sie hat, so könnte man sagen, sowohl eine menschlichirdische als auch eine transzendente Komponente und symbolisiert damit den Übergang zwischen Diesseits und Jenseits. Trotz ihres Namens kann man ihr keine historische Person zuordnen, obwohl dies immer wieder versucht wurde, so etwa die Markgräfin Mathilde von Tuszien oder die beiden deutschen Mystikerinnen Mathilde von Magdeburg und Mechthild von Hackeborn.113 Offensichtlich wollte Dante eine genaue Identifikation seiner Matelda vermeiden und hat ihre Bedeutung bewußt vage und vielschichtig gelassen. Auf dem Gipfel des Läuterungsberges, im Irdischen Paradies, an einer sehr wichtigen Stelle greift Dante also auf die allegoria dei poeti zurück, wobei er allerdings auch dieser seine eigene Prägung verleiht. Denn zugleich hat Dante Matelda überhöht, indem er sie eben in den höchsten Teil des Purgatorio, also in die Transzendenz versetzt hat. Wie Lea im Traum steht auch Matelda für aktives Leben: Sie ist die Hüterin des Irdischen Paradieses, sie erklärt dessen Natur und sie wird schließlich an Dante den letzten Entsündigungsritus vollziehen, nämlich das Bad in der Lethe. Danach wird sich Beatrice seiner annehmen und ihn durch alle Himmelssphären hindurch bis zur Anschauung Gottes führen. Die Kontemplation Gottes wiederum ist durch die Gestalt der Rachel im letzten Traum vorgezeichnet. Während Dante nun mit Matelda – der Bach der Lethe fließt zwischen ihnen – weiter in den Wald hineingeht, nähert sich die allegorische Prozession der Kirche, die diesen und die folgenden Gesänge beherrscht. Der Zug beginnt mit einem allegorischen Wagen, der von einem Greifen (Symbol für Christus) gezogen wird; das Gefolge bilden Allegorien der Bücher des AT, NT und der sieben Tugenden. Als die Prozession bei Dante angekommen ist, ertönt plötzlich ein Donner, und der ganze Zug steht still (XXIX). Der folgende Gesang ist einer der persönlichsten der gesamten Divina Commedia, wenn nicht der persönlichste überhaupt, schildert er doch die Wiederbegegnung mit Beatrice.114 Er soll daher etwas ausführlicher behandelt werden. Auf dieses Wiedersehen führt Dante von der Vita Nova an über das ganze Inferno und das Purgatorio hin: In der Begegnung mit der seligen Beatrice wird nun endgültig eingelöst, was Dante am Ende der Vita Nova angekündigt 113 Cf. M Schmidt, Art. Mechthild v. Hackeborn, in: LThK2 7, Sp. 224. Der Verfasser weist ausdrücklich daraufhin, daß sich Dantes Matelda sowohl auf Mechthild als auch auf Mathilde beziehen könnte. 114 A. M. Chiavacci Leonardi spricht von „il cuore stesso del poema“ (Purgatorio, hrsg. v. Chiavacci Leonardi, Introduz. al canto XXX, S. 875). Cf. auch C. S. Singleton, The Pattern at the Center, in: ders., Dante Studies, Bd. 1, S. 45–60.
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hatte: [. . .] spero di dire di lei quello che mai non fue detto d’alcuna (VN 31, 2). In der ersten Hälfte des Gesanges läßt er sie in der Herrlichkeit des Himmels wieder auftreten (Purg. XXX, 1–69). Beatrice erscheint im Rahmen der im vorigen Gesang beschriebenen allegorischen Prozession der Kirche auf einem Wagen inmitten einer Schar jubilierender und blumenstreuender Engel. Ihr Auftritt wird „liturgisch“ präludiert durch drei Begrüßungsgesänge: Der erste (Veni, sponsa, de Libano; Purg. XXX, 11) stammt aus dem Hohelied der Liebe (Cant. 4, 8) und wird allegorisch auf die Kirche bezogen. Der zweite Anruf Benedictus qui venis (Purg. XXX, 19) spielt auf den Einzug Jesu Christi in Jerusalem am Palmsonntag an, wo ihm die Volksscharen zurufen: Benedictus qui venit in nomine Domini (Mt. 21, 9). Der dritte Ausruf schließlich (Manibus, oh, date lilïa plenis; Purg. XXX, 21) ist aus Aeneis VI, 883 übernommen: Anchises spricht diesen Vers zum Lobpreis des früh verstorbenen Marcellus aus der Familie des Augustus. Wie schon bei den Tugendexempla des Purgatorio wird hier ebenfalls je einmal das Alte Testament, einmal das Neue und ein antikes Beispiel zitiert. Auch den ersten Anblick Beatrices hat Dante feierlich gestaltet (Purg. XXX, 28–33): così dentro una nuvola di fiori, che da le mani angeliche saliva e ricadeva in giù dentro e di fori, sovra candido vel cinta d’uliva donna m’apparve, sotto verde manto vestita di color di fiamma viva.
Wie Dante in seiner Todesvision Beatrices Seele in einer nebuletta in den Himmel schweben sah115, so erblickt er sie hier in einer Blumenwolke wieder. Beatrice – hier wird sie zunächst als donna bezeichnet (V. 32), wie auch im Dolce Stil Novo üblich – ist gekleidet in die Farben der drei göttlichen Tugenden: Weiß (candido vel; V. 31) steht für den Glauben, Grün (verde manto; V. 32) für die Hoffnung und Rot (color di fiamma viva; V. 33) für die Liebe. Noch bevor Dante Beatrices Gesicht sehen kann (sie ist ja verschleiert und außerdem fast verborgen in der Blumenwolke!), fühlt er seine alte Liebe neu erwachen (Purg. XXX, 39): d’antico amor sentì la gran potenza.
Voller Mitteilungsdrang wendet sich Dante zu Vergil, um ihm zu sagen: „Ich erkenne die Zeichen der alten Flamme“ (cognosco i segni dell’antica fiamma; V. 48) – ein direktes Vergilzitat116 –, muß aber feststellen, daß dieser ihn bereits verlassen hat. 115 VN 14, 7; cf. auch nuvoletta in VN 14, 25, V. 60. Siehe auch La Divina Commedia, hrsg. v. N. Sapegno, Mailand/Neapel 1957, S. 737, zu Purg. XXX, 28–33. 116 [. . .] agnosco veteris vestigia flammae (Aen. IV, 23).
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VII. (Re-)Sakralisierung der Allegorie: Die Divina Commedia
Mit diesem Zitat verabschiedet sich Dante von Vergil und richtet in der folgenden Terzine noch eine Huldigung an ihn, indem er zum einen dreimal Vergils Namen nennt und zum anderen diese Strophe analog zu einer weiteren Vergilstelle gestaltet, diesmal aus den Georgica, wo Orpheus um seine verstorbene Gattin Eurydike klagt, deren Name dort ebenfalls dreimal ausgerufen wird (Georg. IV, 525–527).117 Wie Orpheus Eurydike in die Unterwelt verschwinden sieht, so hat sich Vergil nun von Dantes Seite entfernt, um an seinen Platz im Limbo zurückzukehren. Die Terzine lautet (Purg. XXX, 49–51)118: Ma Virgilio n’avea lasciati scemi di sé, Virgilio dolcissimo patre, Virgilio, a cui per mia salute die’mi;
Beatrice reißt Dante aus seiner Trauer um Vergil, indem sie ihn direkt mit Namen anspricht (Purg. XXX, 55–57): „Dante, perché Virgilio se ne vada, non pianger anco, non piangere ancora; ché pianger ti conven per altra spada“.
Zum ersten Mal hören wir hier Beatrices Stimme – zum ersten Mal in Dantes Gesamtwerk, denn auch in der Vita Nova hat sie nie direkt mit ihm gesprochen, und das erste Wort, das sie sagt, ist „Dante“! Zugleich ist dies auch die erste und einzige Nennung von Dantes eigenen Namen in der ganzen Divina Commedia. In Vers 63 gibt er zu, daß er ihn aus Notwendigkeit hier genannt hat (che di necessità qui si registra).119 In dieser ergreifenden Terzine mahnt Beatrice, Dante solle seine Tränen für die Reue über seine Sünden „aufsparen“; denn der Schmerz darüber wird ihn wie ein scharfes Schwert (spada; V. 57) durchbohren. Offensichtlich spielt Dante hier auf die Prophezeiung des greisen Simeon an, die dieser bei der Darstellung Jesu im Tempel an Maria richtet: tuam ipsius animam pertransibit gladius (Lk. 2, 35). Besonders eindringlich wirkt der mittlere Vers mit der Wiederholung non pianger anco, non piangere ancora (V. 56). Mit diesen Worten leitet Beatrice ihre Bußpredigt ein, die den zweiten Teil des Gesanges einnimmt (70–145). Sie hält Dante mit ernster Miene seine irdi117 Gmelin, Bd. V: Der Läuterungsberg, Komm. zu Purg. XXX, 49, S. 478 f. Cf. auch J. Freccero, Dante. The Poetics of Conversion, Cambridge (Mass.) u. a. 1986, S. 208. 118 Der Latinismus patre ist als eine weitere Huldigung an den antiken Dichter stilistisch beabsichtigt (nach Gmelin, Bd. V: Der Läuterungsberg, Komm. zu Purg. XXX, 49, S. 479). 119 A. M. Chiavacci Leonardi weist darauf hin, daß Dante selbst im Convivio die Regel aufstellt, man solle ohne dringenden Grund nicht von sich selbst sprechen (Conv. I, ii, 2–3; Purgatorio, hrsg. v. Chiavacci Leonardi, zu Purg. XXX, 55, S. 889). Siehe auch Regn, Dantes Beatrice, S. 130.
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schen Verfehlungen vor; er vergleicht sie in Vers 58 gar mit einem Admiral (quasi ammiraglio). In ihrer zweiten Anrede an Dante nennt sie ihren eigenen Namen (73–75): „Guardaci ben! Ben sem, ben sem Beatrice. Come degnasti d’accedere al monte? non sapei tu che qui è l’uom felice?“
Mit dieser herben Kritik weist sie Dante darauf hin, daß er noch nicht würdig ist, sich auf dem Berge (al monte; V. 74), also im Irdischen Paradies aufzuhalten, da er noch der Läuterung bedarf. Denn felice (V. 75) ist man dort, da man von aller Schuld gereinigt ist. Dante bricht daraufhin in Reuetränen aus, während Beatrice ihre Ansprache mit einem Überblick über Dantes früheres Leben fortführt. In seiner vita nuova (V. 115), also in der Jugend – gleichzeitig ist dies eine Anspielung auf sein gleichnamiges Werk – war er aufgrund der Einwirkung göttlicher Gnade (per larghezza di grazie divine; V. 112) auf dem rechten Weg. Solange Beatrice am Leben war, hielt sie Dante aufgrund seiner Liebe zu ihr auf dem Pfad der Tugend (Purg. XXX, 121–123): Alcun tempo il sostenni col mio volto: mostrando li occhi giovinetti a lui, meco il menava in dritta parte vòlto.
Der veredelnde Einfluß der gentilissima kam ja in der Vita Nova an vielen Stellen zum Ausdruck, z. B. in Negli occhi porta la mia donna Amore (VN 12, 2–4) oder in Tanto gentile e tanto onesta pare (VN 17, 5–7). Nach Beatrices Tod hat Dante sich von ihr ab- und einer anderen zugewandt (diessi altrui; V. 126), wohl eine Anspielung auf die Episode mit der donna gentile in VN 24–27. Ihre Rede gipfelt schließlich in Dantes Jenseitsreise, die er Beatrices eigenem Eingreifen zu verdanken hat, wie wir bereits in Inf. II erfahren haben. Um ihn von seinen Sünden „wegzureißen“, gab es keine andere Möglichkeit, als ihm die perdute genti (V. 138), also die verlorenen Seelen selbst vor Augen zu führen, wie im Inferno geschehen. Beatrice berichtet hier noch einmal ausdrücklich, wie sie l’uscio d’i morti (V. 139) aufgesucht und Vergil zu Dantes Rettung entsandt hat (Purg. XXX, 136–141): Tanto giù cadde, che tutti argomenti a la salute sua eran già corti, fuor che mostrarli le perdute genti. Per questo visitai l’uscio d’i morti, e a colui che l’ha qua su condotto, li preghi miei, piangendo, furon porti.
Mit dieser Bußpredigt stachelt Beatrice Dante zur Reue (pentimento, letzter Vers, 145) an, die im nächsten Gesang zum Eingeständnis seiner Schuld, das einer Beichte gleichkommt, führt.
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VII. (Re-)Sakralisierung der Allegorie: Die Divina Commedia
Die Absolution erfolgt nach einer kurzen Ohnmacht, die Dante aufgrund seiner tiefen Reue übermannt hat, in Form des Bades im Wasser der Lethe, das alle Erinnerung an böse Taten auslöscht, und dies bedeutet zugleich, daß Gott dieselben „vergißt“, also vergeben hat.120 Es ist Matelda, die Dante – wie in einer Art zweiter Taufe – ins Wasser taucht und ihn auch davon trinken läßt. Ein Reigen von vier Frauen, die die Kardinaltugenden symbolisieren, nimmt Dante mit zum Wagen des Greifen, wo Beatrice, die bisher verschleiert war, sich nun in ihrer ganzen himmlischen Schönheit enthüllt (XXXI). Dante wird durch die Fortsetzung der allegorischen Prozession der Kirche aus der seligen bzw. beseligenden Anschauung Beatrices gerissen: Der Greif bindet den Wagen an den kahlen Baum des Lebens, der darauf wieder grünt: Dies bedeutet die Wiederherstellung der Menschheit durch Christus und seine Kirche.121 Dante sinkt in Schlaf und erwacht zu einer neuen Vision. Diesmal sind es apokalyptische Bilder, die die Entartung der Kirche zeigen122: ein Adler stürzt sich zweimal vom Himmel her auf den Wagen und läßt viele Federn auf ihm – ein Sinnbild für die „Konstantinische Schenkung“. Dazwischen will sich ein Fuchs eindrängen, der die Ketzerei symbolisiert, er wird jedoch von Beatrice verjagt. Aus der Erde taucht plötzlich ein Drache auf, der für Satan oder Mohammed steht, sticht mit seinem Schwanz wie mit einem Stachel in den Wagen und verschwindet wieder. Daraufhin verwandelt sich das Gefährt in ein grausiges Ungeheuer mit mehreren Köpfen, das Ungeheuer der Apokalypse123. Obenauf sieht Dante eine Dirne mit einem Riesen sitzen, der sie erst küßt und dann auspeitscht. Daraufhin bindet der Riese das Ungeheuer vom Baum los und verschwindet damit im Wald. Diese letzte Szene bedeutet die Verlegung des Papsttumes nach Avignon und seine Unterdrückung durch das französische Königtum124 (XXXII). Mit diesem großen allegorischen Drama, das sich über mehrere canti hinzieht, repräsentiert Dante die Geschichte der Kirche und die Heilsgeschichte der Menschheit in groben Zügen und stellt damit eine Parallele zwischen der sündhaften Verstrickung des einzelnen, dargestellt an seiner eigenen Person, und der Entartung der Menschheit im allgemeinen her. Somit kommt Dantes Sendungsidee zum Ausdruck, die darin besteht, seine Jenseitsreise in Worte zu fassen, um alle Menschen daran teilhaben zu lassen und dadurch zum Heil zu führen. So gibt ihm Beatrice den Auftrag (Purg. XXXIII, 52–54):
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Purgatorio, hrsg. v. Chiavacci Leonardi, Introduz. al canto XXXI, S. 907. Ibd., Introduz. al canto XXXII, S. 930. 122 Ibd., S. 931 f. 123 Apk. 12, 3. 124 Nach Gmelin, Bd. V: Der Läuterungsberg, Komm., Einleitung zu Purg. XXXII, S. 502, Auerbach, Dante als Dichter der irdischen Welt, S. 154 f., Purgatorio, hrsg. v. Chiavacci Leonardi, Introduz. al canto XXXII, S. 905–908. 121
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Tu nota; e sì come da me son porte, così queste parole segna a’ vivi, del viver ch’è un correre a la morte.
Gewissermaßen als Kommentar zu der vorhergehenden Schreckensszene intonieren die sieben Frauen, die die drei göttlichen und die vier Kardinaltugenden personifizieren, den Psalm Deus, venerunt gentes125. Während Beatrice sich mit ihrem Gefolge zum Aufbruch wendet, prophezeit sie das Kommen eines Retters der Menschheit und damit auch der Kirche. In einer letzten Mahnung fordert sie Dante noch einmal auf, seine Sendung auf Erden auszuführen und sich vor weiteren Verfehlungen zu hüten. An die bisherigen kann er sich nach dem Bad im Lethefluß jedoch nicht mehr erinnern. Endgültig abgeschlossen wird der Läuterungsprozeß, indem Dante nun von Matelda auch in das Wasser der Eunoë getaucht wird, das die Erinnerung an alle guten Taten wiedererweckt. Nach dieser Erneuerung ist Dante puro e disposto a salire a le stelle (Purg. XXXIII, 145), also bereit, zum Paradies aufzusteigen (XXXIII). bb) Der allegorische Gehalt des Purgatorio (1) Die Engel als „allegorisches Personal“ Im Purgatorio erfüllen die Engel eine ähnliche Funktion wie die mythologischen Gestalten im Inferno, denn sie fungieren sowohl als Wächter oder Pförtner als auch als Repräsentanten der jeweiligen Tugend.126 Es sei allerdings noch darauf hingewiesen, daß im Vorpurgatorio kein Engel, sondern Cato als Wächter über die ankommenden Seelen eingesetzt ist. Dies könnte damit zusammenhängen, daß wir uns hier erst im Vorraum zum eigentlichen Bußsystem befinden, das nach den sieben christlichen Kapitalsünden angeordnet ist. Cato wacht als edler Heide über die Seelen, die noch „halb heidnisch“ sind, d. h. diejenigen, welche soeben angekommen und noch nicht für das Bußzeremoniell „reif“ sind127. In Opposition zum Greis von Kreta (Inf. XIV), der das sündhafte Menschengeschlecht in seiner Ganzheit repräsentiert, steht, so Mazzotta, Cato nun für die erlöste Menschheit: „Cato, a pagan, is the emblem that unfolds the process of the new creation of man: secular history is theologized.“128 Pépin dagegen interpretiert den Repräsentanten des Vorraums der Buße als figura der christlichen Freiheit: „La liberté politique et terrestre 125
Ps. 78, 1. Cf. auch R. Guardini, Der Engel in Dantes Göttlicher Komödie [2. Aufl. 1952], Dantestudien, Bd. 1, Mainz/Paderborn 1995, S. 45–58, v. a. S. 45–49 („Die Wächter an den Übergängen des Läuterungsberges“). 127 Siehe Gmelin, Bd. V: Der Läuterungsberg, Komm. zu Purg. I, 28–108, S. 32. 128 Mazzotta, Dante, Poet of the Desert, S. 21. Cf. auch ders., Dante’s Theology of History, Cornell Univ. [Diss. phil.] 1969, S. 6–48. 126
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VII. (Re-)Sakralisierung der Allegorie: Die Divina Commedia
est conçue comme la préfiguration de la liberté chrétienne“129; denn er hatte sein Leben für die Freiheit geopfert. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, daß Dante bereits im vierten Traktat des Convivio Cato als ein paganes „Modell einer gelungenen Rückkehr zu Gott“ darstellt, indem er ihn – in Anlehnung an Cicero, De senectute XXIII, 83 – sein (Catos) eigenes Hinübergehen ins Jenseits ankündigen läßt.130 Kehren wir zu den Engeln zurück: Sie sind nicht als eigentliche Allegorien aufzufassen, aber auch sie repräsentieren die Gerechtigkeit Gottes gegenüber den büßenden Seelen: In jeder der sieben Bußzonen ist ein Engel als Wächter eingesetzt, der das Ritual beaufsichtigt bzw. auch daran teilnimmt. Durch das Auslöschen des jeweiligen P vollendet er nämlich die Zeremonie, bevor er die Seele in den folgenden Kreis entläßt. Die Seligpreisungen, die den Seelen dabei mit auf den Weg gegeben werden, sind es, die die Wächterengel in erster Linie charakterisieren. Durch das Aussprechen derselben tun sie kund, welche Tugend sie den Büßern jeweils vor Augen halten sollen, ansonsten haben sie keine allegorischen Attribute bei sich. Anstatt abstrakter Personifikationen der jeweiligen Tugend setzt Dante Wesen des Himmels bzw. Boten Gottes für diese Aufgabe ein. Auch hier sind es also wieder „reale“ Wesen, denen eine zusätzliche allegorische Funktion zugewiesen wird. Zur Darstellung der Engel bedient sich Dante besonders gern verschiedener „Lichteffekte“. So tritt beispielsweise in Purg. XII, 88 der Engel der Demut auf (la creatura bella): Er ist weiß gekleidet und sein Gesicht strahlt wie der Morgenstern. Auch der Vertreter der Barmherzigkeit erscheint Dante als strahlendes Licht (XV, 10–27), das Vergil als famiglia del ciel (29) deutet, eine poetische Umschreibung für den Gottesboten. Die Begegnung mit dem Friedensengel läuft in ähnlicher Weise wie die vorige ab: Dante hört zunächst eine Stimme, die zum Steigen auffordert; dann erblickt er wieder ein strahlendes Licht, und schließlich folgt die Erläuterung Vergils: Questo è divino spirto (XVII, 55). Dante fühlt das Auslöschen des P wie einen Flügelschlag des Engels, der ihn streift, und die Szene endet mit der Seligpreisung der Friedfertigen (68 f.). Die nächsten beiden Engel werden jeweils als l’angel bezeichnet: derjenige der Gottesliebe in XIX, 54 und derjenige der Gerechtigkeit in XXII, 1 u. 2. Den Engel des Maßes nimmt Dante wiederum als rotglühendes Licht wahr (XXIV, 138). Der Engel der Keuschheit schließlich erscheint ihm fröhlich (l’angel di Dio lieto; XXVII, 6) und preist mit lebhafter Stimme (voce [. . .] viva; 9) die Herzensreinheit: Beati mundo corde (8).
129 Pépin, Dante et la tradition de l’allégorie, S. 33; siehe auch Auerbach, Figura [1939], in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Romanischen Philologie, 1967 S. 85 f. 130 Conv. IV, xxviii, 6. Zitat: Th. Ricklin, Inhaltsübersicht des IV. Traktates, in: Dante Alighieri, Das Gastmahl. Viertes Buch, hrsg. unter der Leitung von R. Imbach, Hamburg 2004, S. XCIII zu Conv. IV, xxviii. S. auch ibd., S. 288, Anm. 361.
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Trotz einiger Variationen in der Darstellung der Engel als Lichtwesen, mit sanfter Stimme oder voller Freude erscheinen sie nicht so bunt und vielschichtig wie die mythologischen Allegorien des Inferno. Dies mag am Charakter des Purgatorio liegen, das im Gegensatz zu Hölle und Paradies eine Art „Durchgangsstadium“ ist: Die Seelen bleiben hier nicht ewig, sondern nur so lange, bis sie in den Himmel eingehen dürfen. Alle müssen jedoch das ganze Purgatorio durchlaufen, von einer Stufe zur nächsten. Auf jeder dieser Stufen wiederholt sich äußerlich das Bußritual, allerdings mit variiertem Inhalt. Die büßenden Seelen haben ein klares Ziel vor Augen: zu Gott zu gelangen. Die Engel, die die jeweiligen Bußzonen repräsentieren, bedeuten nur einzelne Stationen auf diesem Weg. Deshalb wäre es weder möglich noch nötig, sie ebenso vielfältig wie die Allegorien des Inferno darzustellen. Denn dort sind die Sünder bis in alle Ewigkeit einer bestimmten Strafform unterworfen. Um diese möglichst plastisch darzustellen und wohl auch, um das Schreckliche daran hervorzuheben, bedient sich Dante des vielfach abgewandelten, bunt schillernden, aber grausigen höllischen „allegorischen Personals“. (2) Die Aufwärtsbewegung zu Gott Im Purgatorio ist das Prinzip des Aufstiegs und der damit verbundenen Läuterung der zentrale Gedanke. Die Aufwärtsbewegung beinhaltet einen konkreten und übertragenen Sinn, wie anhand der behandelten Szenen zu zeigen versucht wurde. Wörtlich wird die Besteigung des Läuterungsberges erzählt. Dabei sieht Dante die Seelen, die im Aufsteigen begriffen sind. Der Litteralsinn ist also hier der Zustand der Seele, die zwar gerettet ist, aber noch geläutert werden muß. Der Läuterungsvorgang wird von Engeln überwacht; im Fürstental sind zwei von ihnen sogar ganz konkret zum Schutz vor dem Widersacher eingesetzt. Der Anstieg zieht sich über drei Tage hin; während der drei dazwischenliegenden Nächte hat Dante jeweils einen Traum. Der Allegorie nach bedingen Aufstieg und Läuterung einander. Denn erstens steht die Aufwärtsbewegung allegorisch für die Läuterung: Das Ziel, nämlich Gott und das Paradies, ist das gleiche. Zweitens ist die Buße zugleich mit der Anstrengung des Steigens verbunden, wenn sie auch auf jeder Stufe je nach contrappasso variiert. Hier zeigt sich die iustitia Gottes sowohl als puniens als auch als praemians131: Die Seelen müssen zwar für ihre irdischen Verfehlungen noch sühnen, doch sie haben Aussicht auf ewige Glückseligkeit. Vertreten wird die Gerechtigkeit allegorisch durch die Engel, die die Büßer überwachen, ihnen
131
Cf. Ep. XIII, 25.
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VII. (Re-)Sakralisierung der Allegorie: Die Divina Commedia
aber gleichzeitig in den Seligpreisungen den Lohn verheißen. In der Abendszene im Fürstental repräsentieren die zwei Engel nicht nur Gottes Gerechtigkeit, sondern auch seine Hilfe im Kampf gegen die Versuchung. Die Morgenträume allegorisieren zusätzlich bestimmte Elemente, die das Purgatorio wesenhaft kennzeichnen: So ist im ersten der Aufstieg selbst thematisiert. Im zweiten geht es um das Erkennen und Bereuen von Schuld, also die Voraussetzung dafür, daß man überhaupt ins Purgatorio kommt; diese beiden Faktoren führen sodann zur Läuterung. Im dritten Traum schließlich werden vita activa und vita contemplativa allegorisch dargestellt, also die beiden Stufen christlichen Lebens, die nach Thomas von Aquin aufeinander aufbauend zur Vollkommenheit führen132. Diese Motive finden sich auch im Paradiso wieder, wie wir sogleich sehen werden. Zudem hat dieser dritte Morgentraum für Dante noch eine persönliche allegorische Komponente, denn er weist figural auf das Wiedererscheinen Beatrices hin und bereitet den Dichter darauf vor. Der sensus moralis nun beinhaltet die Ausrichtung des menschlichen Lebens auf Gott hin und damit auch eine geistige Aufwärtsbewegung: das christliche Tugendstreben und das Bemühen um Freisein von Schuld, um Gott wohlgefällig zu sein. Die Seligpreisungen der Engel bieten dazu eine Ermutigung auch an die Leser Dantes, ebenso wie die Träume die Loslösung vom Laster und das Bemühen um ein gutes Leben, sei es aktiv oder kontemplativ, veranschaulichen. Zusätzlich könnte dem sensus moralis nach aber auch die Läuterung durch Schmerzen schon im Diesseits gemeint sein, da Schmerz und die damit verbundene Reue eine positive Wirkung auf den Menschen haben können133. Der sensus anagogicus schließlich liegt in der Aufwärtsbewegung selbst (nagoge¦n heißt wörtlich „hinaufführen“); er bezeichnet die geläuterte Seele, die endlich zu Gott aufsteigt und die ewige Seligkeit erlangt. c) Paradiso aa) Licht und Seligkeit Aus diesen Feststellungen ergibt sich, daß das allegorische System des Paradiso sich von dem der beiden anderen Cantiche ein wenig unterscheidet. Da das Paradies ja schon wesenhaft die Vereinigung mit Gott bedeutet, geht es hier nicht mehr darum, darauf hinzuarbeiten bzw. die Seelen dort hinzuführen. Dargestellt wird daher der Zustand der reinen Seligkeit, und zwar durch bestimmte Selige selber, die als Repräsentanten dieses status animarum post mortem fungieren. Da sie ihr Ziel bereits erreicht haben, müssen sie auch nicht wie in der
132 133
Cf. Guardini, Dantes Göttliche Komödie, S. 387–390. Siehe auch ibd, S. 186.
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Hölle bewacht oder wie im Purgatorio angeleitet werden. Damit ist der sensus anagogicus bereits erfüllt bzw. zielt er auf den Leser ab, der sich ja seinerseits die Ewige Seligkeit als Ziel des Christen vor Augen führen soll: Dante ist „oben“ angelangt, und alles, was er im Paradies sieht, ist in gewisser Weise der bildhafte Ausdruck des sensus anagogicus. Den verschiedenen Himmelssphären ordnet Dante jeweils bestimmte Eigenschaften zu und versetzt die Seelen dorthin, je nachdem, mit welcher Tugend sie sich die ewige Seligkeit erworben haben. Zugleich setzt er, wie bereits Alanus, eine kunstvolle, immer wieder variierte Lichtmetaphorik ein, die auf verschiedene philosophische Quellen zur Metaphysik des Lichts zurückgeht, so etwa auf Platon, Augustinus, Dionysius und Plotin134. Aber auch von Bonaventura wurde Dante beeinflußt.135 Die Seelen sind ebenfalls als Lichter dargestellt, da sie ihre eigentliche Gestalt erst am Jüngsten Tag bei der Auferstehung und Verklärung des Leibes wieder erhalten werden. Daher müssen sie sich Dante jeweils vorstellen. Ihre Freude und Gesprächsbereitschaft tun sie durch Aufleuchten bzw. noch stärkeres Strahlen kund. Ebenso erhöht sich Beatrices Schönheit beim Aufstieg von Sphäre zu Sphäre immer mehr, d. h. je näher sie mit Dante zu Gott aufsteigt, desto größer wird ihre Seligkeit.136 Der Blick in Beatrices Augen, die ihrerseits nach oben zu Gott gerichtet sind, gibt Dante in mystischer Weise Kraft zum Aufstieg. Das Thema des Höhenfluges wiederholt sich nun auf jeder Stufe, wobei sich Beatrices Schönheit immer
134 Ps. Dionysius Areopagita etwa preist Gott als das höchste Gut, das mit seinem Licht alles erleuchtet (Pseudo-Dionysius Areopagita, Die Namen Gottes, hrsg. v. B. R. Suchla, Stuttgart 1988, Kap. IV. 4, S. 44). Diese Gedanken hat auch Suger von SaintDenis in seinen Schriften über den Bau der Abtei Saint-Denis übernommen. Bei ihm geht es allerdings um „die Umsetzung neuplatonischer Lichtmetaphysik in eine Lichtarchitektur, in der das überirdische göttliche Licht in irdischer Materialität aufscheint und auf diese Weise dem menschlichen Intellekt den Aufstieg zur Erkenntnis Gottes ermöglicht“ (A. Speer/G. Binding (Hrsg.), Abt Suger von Saint-Denis. Ausgewählte Schriften: Ordinatio, De consecratione, De Administratione, Darmstadt 2005, Einleitung, S. 15). Cf. beispielsweise die Verse, die Suger über den Türen der Kirche anbringen ließ: Nobile claret opus, sed opus, quod nobile claret,/Clarificet mentes, ut eant per lumina uera/Ad uerum lumen, ubi Christus ianua uera (Suger, De administratione 174, v. a. V. 778–780). Siehe auch H. H. Glunz, Die Literarästhetik des europäischen Mittelalters. Wolfram – Rosenroman – Chaucer – Dante, Frankfurt am Main 21963, S. 376. Zur Lichtmetaphysik bei Platon u. a. cf. W. Beierwaltes, Lux intelligibilis. Untersuchung zur Lichtmetaphysik der Griechen, München [Diss. phil.] 1957, S. 61–79. 135 Auch im Proöm zu Bonaventuras Itinerarium Mentis in Deum wird Gott als Urgrund allen Lichts gesehen: In principio primum principium, a quo cunctae illuminationes descendunt tanquam a patre luminum [. . .] invoco (Bonaventura, Itinerarium Mentis in Deum, hrsg. u. übers. v. J. Kaup O.F.M., München 1961, Kap. 1). Siehe auch Witke, The River of Light, S. 144–147, Baig, Vision and Visualization, S. 102– 108, vor allem S. 103 u. 106, und Münchberg, Dante, S. 55 sowie S. 56–62. 136 Zum Aufbau der drei Jenseitsreiche cf. auch B. Binggeli, Primum mobile. Dantes Jenseitsreise und die moderne Kosmologie, Zürich 2006, S. 91–102 („Topographie des Jenseits“).
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mehr erhöht, je weiter sie aufsteigen. Somit wird der sensus anagogicus von Anfang an im Paradiso bildhaft konkretisiert (Par. I). Dante und Beatrice tauchen in die erste Sphäre, den Mondhimmel, ein und führen dabei ein nach scholastischer Manier gestaltetes Lehrgespräch über die Mondflecken und, daran anknüpfend, über die Lehre vom Weltall und Gottes Wirken darin (II). Es folgt die erste persönliche Seelenbegegnung Dantes im Himmel, und zwar mit Piccarda Donati, der Schwester seines Jugendfreundes Forese Donati, den er bereits im Purgatorio getroffen hatte137. Sie erzählt von ihrem Schicksal: Aus dem Kloster, in das sie eingetreten war, wurde sie von ihrem anderen Bruder, dem verbrecherischen Corso Donati, gewaltsam entführt und zu einer Ehe gezwungen, starb aber bald darauf. Aus dem Bericht Piccardas ergibt sich eine Unterhaltung über Gelübde (III/IV), woraufhin Dante und Beatrice zum Merkurhimmel aufsteigen (V). Dort begegnen sie dem oströmischen Kaiser Justinian, der unter dem mythologischen Bild des über die Erde fliegenden Kaiseradlers in großen Zügen die Geschichte des römischen Imperiums von Äneas über Augustus bis hinein ins Mittelalter schildert und den Mißbrauch des Kaisertums in Dantes eigener Zeit angreift (VI). Nachdem Beatrice Dante die Lehre von der Doppelnatur Christi, von der Erbsünde und von den Schöpfungswerken vorgetragen hat (VII), steigen beide weiter auf in den Venushimmel, der durch einen weiteren Jugendfreund Dantes, Karl Martell, repräsentiert wird. Er erzählt zunächst von seinem Schicksal und entwickelt dann, auf Dantes Frage hin, die Lehre von der gottgewollten Verschiedenheit der Anlagen der Menschen (VIII). Nach Abschluß des Gesprächs mit Karl Martell erscheint die „Liebesheldin“138 Cunizza da Romano, die Schwester des Tyrannen Ezzelino139, die Dante als eigentliche Repräsentantin der Liebessphäre140 eingesetzt hat (IX). Mit dem Venushimmel verlassen Dante und Beatrice auch das „Vorparadiso“ und gelangen in den Sonnenhimmel, den Sitz der Weisen, wo sie der ersten Gruppe von zwölf Weisheitslehrern begegnen, die sich ihnen in einem feierlichen Reigen nahen und sie umkreisen. Einer von ihnen ist Thomas von Aquin, der zunächst sich selbst und Albertus Magnus vorstellt (Par. X, 94–99):
137
Cf. Purg. XXIII und XXIV. Gmelin, Bd. VI: Das Paradies, Komm., Einleitung zu Par. IX, S. 166. 139 Cf. Inf. XII, 110. 140 Sie mußte auf Geheiß ihres Bruders mehrere politische Ehen schließen und lebte später als fromme Greisin in Florenz. Dante muß sie als Kind gekannt haben und sah offenbar in ihr eine Art Kämpferin für die Liebe (nach Gmelin, Bd. VI: Das Paradies, Komm., Einleitung zu Par. IX, S. 166 f. bzw. Komm. zu Par. IX, 1–66, S. 167–169). 138
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Io fui de li agni de la santa greggia che Domenico mena per cammino u’ ben s’impingua e non si vaneggia. Questi che m’è a destra più vicino, frate e maestro fummi, ed esso Alberto è di Cologna, e io Thomas d’Aquino.
Sodann zeigt Thomas Dante die übrigen zehn Weisen: Gratian, Petrus Lombardus, Salomon, Dionysius Areopagita, Orosius, Boethius, Isidor von Sevilla, Beda Venerabilis, Richard von St. Viktor, Siger von Brabant (X). Nach einer Klage Dantes über die nichtigen Sorgen des Erdenlebens ergreift Thomas wieder das Wort, um eine Lobrede auf den Heiligen Franziskus und die Franziskaner zu halten, wobei er die allegorische Hochzeit des Heiligen mit der Armut schildert. Abschließend klagt er über den Verfall seines eigenen Ordens, der Dominikaner (XI). Nachdem Thomas seine Rede beendet hat, erscheint der zweite Reigen von Weisheitslehrern, aus dem sich der Franziskanerheilige Bonaventura löst, um nun seinerseits – in Parallele zum XI. Gesang – ein Lob auf die Dominikaner und den Heiligen Dominikus vorzutragen. Auch das allegorische Thema der Hochzeit kehrt wieder, diesmal mit dem Glauben. Ebenfalls parallel zur vorhergehenden Rede des Heiligen Thomas endet Bonaventura mit einer Invektive gegen seinen eigenen Orden. Anschließend präsentiert er die übrigen 11 Weisheitslehrer seiner Gruppe: die beiden Franziskaner Illuminatus und Augustinus, außerdem Hugo von St. Viktor, Petrus Comestor, Petrus Hispanus, Nathan, Chrysostomos, Anselm von Canterbury, Donatus, Rhabanus Maurus, Joachim von Fiore (XII). Darauf ergreift Thomas von Aquin erneut das Wort und erklärt die Weisheit des Salomo, das stufenweise Herabsteigen der göttlichen Weisheit und die Unterschiedlichkeit der menschlichen Geister. Er warnt vor der Torheit der Menschen, mahnt zur Bescheidenheit im Wissen und zählt als Negativbeispiele einige heidnische Philosophen und christliche Irrlehrer auf, z. B. Parmenides, Sabellius und Arius (XIII). Die Gespräche mit den Weisen klingen mit Dantes Frage nach der Auferstehung des Leibes aus, die auf Bitten Beatrices von Salomon beantwortet wird. Dann werden Dante und Beatrice in den Marshimmel, die Sphäre der Glaubenskämpfer entrückt, wo Dante von der Vision eines strahlend leuchtenden Kreuzes mit dem Bilde Christi überwältigt wird. Die beiden Strahlen, die die Kreuzesbalken darstellen, bestehen aus lauter einzelnen Lichtern, den Seelen der Martyrer und Glaubenshelden (XIV). Eines von ihnen nähert sich nun Dante, stellt sich als sein Urahn Cacciaguida vor und berichtet vom Leben im Florenz seiner Zeit und von seinem Martertod als Kreuzfahrer (XV). Im folgenden Gesang setzt er seine Florentiner Geschichte fort, nennt Ursachen für den Zerfall der Stadt und erzählt von den Zwistigkeiten der Adelsgeschlechter (XVI). Vor diesem historischen Hintergrund wird das Gespräch nun persönlicher und wendet sich Dantes eigenem Schicksal zu. Nachdem er bereits in der Hölle ver-
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schiedene düstere Prophezeiungen über sein weiteres Leben gehört hatte, bittet er Cacciaguida nun um Aufklärung derselben. Dieser sagt ihm sein hartes Verbannungslos voraus, aber auch die freundliche Aufnahme, die er am Hofe der Scaliger in Verona finden wird141 (XVII). Am Ende des Gesanges fordert Cacciaguida Dante auf, seine Jenseitsvision zum Heil für alle Menschen bekannt zu machen (tua visïon fa manifesta; V. 128), damit ihnen daraus vital nodrimento (V. 131) werde (Par. XVII, 127–132): Ma nondimen, rimossa ogne menzogna, tutta tua visïon fa manifesta; e lascia pur grattar dov’è la rogna. Ché se la voce tua sarà molesta nel primo gusto, vital nodrimento lascerà poi, quando sarà digesta.
Deutlich kommt in diesen Versen auch erneut der Wahrheitsanspruch Dantes zum Ausdruck, fordert ihn sein Urahn doch auf, ohne Lüge, sei sie nun „schön“ oder nicht, zu sprechen (rimossa ogne menzogna; V. 127). Es folgt der Aufstieg zum Jupiterhimmel, die Sphäre der Gerechtigkeit. Auch hier bilden die Seelen, die ja als Lichter dargestellt sind, wieder eine Figur, wie im Mars das Kreuz: zunächst eine lateinische Inschrift (diligite iustitiam qui iudicatis terram), die sich darauf in ein großes M (für Monarchia) und schließlich in das bereits bekannte Symbol der gerechten Herrschaft, nämlich den Kaiseradler, verwandelt. Dieser Anblick veranlaßt Dante zu einem Zornausbruch über die Entartung des Papsttums und dessen Mißbrauch der Macht (XVIII). Es entwickelt sich danach ein Gespräch zwischen Dante und dem Adler, der, obwohl aus vielen Einzelseelen geformt, doch als „Kollektivwesen“ spricht. Der Adler liest Dante die unausgesprochene Frage nach der Gerechtigkeit Gottes gegenüber den unerlösten edlen Heiden von den Augen ab und weist auf den unergründlichen Ratschluß Gottes und die Beschränktheit des menschlichen Geistes hin. Anschließend nennt er in einem kurzen geschichtlichen Abriß 15 Gestalten schlechter christlicher Fürsten aus der Zeit Dantes (XIX). In Opposition dazu folgt nun eine Aufzählung guter Fürsten, deren Seelen die Augen des Adlers bilden, nämlich je zwei Juden, zwei Heiden und zwei Christen. Die Qualität der Fürsten hängt hier offenbar nicht von deren Bekenntnis ab (XX). Der Übergang zum Saturnhimmel bringt zugleich den Aufstieg in den Obersten Teil des Himmels, die Sphäre der Kontemplation. Auch hier erblickt Dante wieder ein Symbol, das den Charakter der Betrachtung veranschaulichen soll: Nach den noch recht konkreten Bildern in dem Teil des Himmels, der der vita 141 Dante verwendet diesen Passus als Huldigung an seinen Gönner Cangrande della Scala. Da die Divina Commedia ja erst in den Verbannungsjahren verfaßt wurde, kann der Dichter hier seinen Urahn in Form eines vaticinium ex eventu sprechen lassen.
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activa zugeordnet ist (Kreuz und Adler), erblickt Dante im Saturnhimmel die Jakobsleiter aus Gen. 28, 12, die im Mittelalter oft mystisch-allegorisch interpretiert wurde142 und auf der die Seelen zu Gott aufsteigen. Der Übergang zur kontemplativen Sphäre wird so durch ein mehrdeutiges Symbol veranschaulicht: Nach dem wörtlichen Sinn ist es die Leiter, die Jakob im Traum sah; nach dem allegorischen steht sie für die Kontemplation selbst: Bei der Betrachtung erhebt sich der Geist zu Gott. Gleichzeitig symbolisiert sie Dantes Aufstieg durch alle Himmelskreise143 und damit den Weg aller Menschen, den der Wanderer Dante hier als Stellvertreter für die gesamte Menschheit unternimmt (sensus moralis). Die Leiter reicht so weit in den Himmel hinein, daß Dante ihr Ende nicht zu erkennen vermag (Par. XXI, 30) – damit verweist sie auf die Ewigkeit. Man könnte sie also letztlich als das Symbol für den sensus anagogicus schlechthin sehen. Eine von den Seelen löst sich aus den Scharen und wendet sich Dante zu: der heilige Benediktiner Petrus Damianus, der von seiner eigenen Biographie zum inzwischen entarteten Mönchtum überleitet. Die anderen Seelen stimmen mit Donnerton ein (XXI). Dante ist davon so betäubt, daß Beatrice ihn wieder aufrichten muß, indem sie ihn erneut auf die Himmelsleiter hinweist. Als zweiter Repräsentant des Saturnhimmels tritt der Heilige Benedikt von Nursia hervor, der das kontemplative Klosterleben rühmt und den Verfall seiner Ordensregel beklagt. Nachdem er sich wieder in die Schar der Seelen auf der Leiter eingereiht hat, ermuntert Beatrice Dante zum Aufstieg in den Fixsternhimmel und läßt ihn dann zurückschauen durch alle sieben Sphären, die sie durchschritten haben, bis hinunter zur Erde, die er weit unten ganz klein erblickt (XXII). Mit den Fixsternen erreichen Dante und Beatrice den oberen Teil des Himmels, den „Vorraum des Empyreums“144, wo Dante in zwei Visionen den Triumphzug Christi und den Triumphzug der Jungfrau Maria erblickt (XXIII). In den folgenden drei Gesängen erfolgt die Prüfung Dantes über die drei göttlichen Tugenden. Zunächst befragt ihn der Apostel Petrus in Form eines scholastischen Lehrgesprächs über den Glauben; die Prüfung mündet – nach dem Hymnus Te Deum – in ein persönliches Glaubensbekenntnis Dantes (XXIV). Im zweiten Teil wird er, parallel zum ersten, vom Apostel Jacobus über die Hoffnung geprüft; daran schließt sich der Psalm Sperent in te (Ps. 9) an, den die Scharen seliger Geister intonieren. Als dritter Apostel erscheint nun Johannes und wird wie die beiden vorigen von Beatrice eingeführt (XXV). Dieser befragt nun Dante über das Wesen der Liebe. Auf Dantes persönliches Bekenntnis seiner Liebe zu Gott folgt der Gesang des Sanctus aus der Hl. Messe. Dann gesellt sich ein viertes Licht zum Kreise der Apostel und wird von 142 143 144
Nach Gmelin, Bd. VI: Das Paradies, Komm., Einleitung zu Par. XXI, S. 379. Nach Guardini, Dantes Göttliche Komödie, S. 404. Gmelin, Bd. VI: Das Paradies, Komm., Einleitung zu Par. XXIII, S. 406.
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VII. (Re-)Sakralisierung der Allegorie: Die Divina Commedia
Beatrice als Adam, Stammvater aller Menschen, vorgestellt. Gewissermaßen als Belohnung für das Bestehen der theologischen Prüfung gibt er Dante Antwort auf einige Fragen, die den Zeitpunkt der Schöpfung sowie die Dauer seines (Adams) ersten Aufenthalts im Paradies betreffen (XXVI). Bevor Dante den Fixsternhimmel hinter sich läßt, ergreift der Heilige Petrus noch einmal das Wort, um in einer letzten Invektive erneut das entartete Papsttum zu geißeln. Während Dante den sich wie Schneeflocken entfernenden Seelen der Apostel nachblickt, wird er von Beatrice in die oberste Sphäre, den Kristallhimmel, entrückt, wo die Engel herrschen. Nach einer Klage über die verdorbene Menschheit spricht Beatrice in einer dunklen Prophezeiung aus, daß die Zeit, die hier entsteht, eine Besserung bringen wird (XXVII). Dann erläutert sie die Kreisbewegung des ganzen Universums sowie die Hierarchie der neun Engelkreise und nennt deren einzelne Namen (XXVIII).145 Sie fährt fort mit der Schöpfung der Engel, dem Abfall Luzifers und dem Wesen der Engel, was zu einer erneuten Invektive gegen Irrlehrer führt. Kurz vor dem Aufstieg zum Empyreum versenkt sich Dante noch einmal in den Anblick der um Gott kreisenden Engelscharen, die er zunächst in Beatrices Augen gespiegelt gesehen hatte (XXIX). Dann kehrt sein Blick zurück zu der noch schöner gewordenen Beatrice, und er wird aus dem Kristallhimmel emporgehoben in das Empyreum, das nur aus Licht besteht und zugleich Gott selber ist. Dante verläßt somit Raum und Zeit und begibt sich in die absolute Transzendenz.146 Hier haben die Seligen ihren eigentlichen Sitz vor dem Antlitz Gottes. Dante erblickt sie zunächst in einem Lichtstrom, der sich zu einem Rund formt, aus dem schließlich die Himmelsrose entsteht (Par. XXX, 115–117): E se l’infimo grado in sé raccoglie sì grande lume, quanta è la larghezza di questa rosa ne l’estreme foglie!
Interessant ist, daß der Dichter die Himmelsrose mit den Worten questa rosa einführt, „come già l’aspettassimo“147. Das Bild der die menschliche Vorstellungskraft übersteigenden Rose, auf der die Heiligen mit ihren bianche stole (Par. XXX, 129) selbst die Blütenblätter bilden, ist eine eigenständige und einzigartige Erfindung Dantes.148 Dieses Motiv durchzieht die letzten vier Gesänge der Commedia. Beatrice führt Dante in den Mittelpunkt der Rose (Nel giallo de la rosa sempiterna; Par. XXX, 124) und zeigt ihm den künftigen Sitz des Kaisers Heinrich VII., den Dante als Retter Italiens erwartet hatte; damit wird zum 145 Bei der Gestaltung der Engelkreise hat sich Dante an Pseudo-Dionysius Areopagita orientiert: Pseudo-Dionysii Areopagitae De Caelesti Hierarchia ed. P. Hendrix, Leiden: Brill 1959 (Deutsch von G. Heil, Stuttgart 1986). 146 Paradiso, hrsg. v. Chiavacci Leonardi, Introduz. al canto XXX, S. 817. 147 Ibd., Kommentar zu Par. XXX, 115–117. 148 Ibd. Cf. zur Himmelsrose auch Münchberg, Dante, S. 88 f.
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letzten Mal in der Commedia auf die säkulare Geschichte Bezug genommen149 (XXX). Der nächste Canto (XXXI) schließt unmittelbar an und nimmt das Rosenbild wieder auf (Par. XXXI, 1–3): In forma dunque di candida rosa mi si mostrava la milizia santa che nel suo sangue Cristo fece sposa;
Dante versenkt sich ganz in die Betrachtung der Himmelsrose mit den darüber kreisenden Scharen von Engeln, die mit einem Bienenschwarm verglichen werden (come schiera d’ape; Par. XXXI, 7). Während er in ihren Anblick versunken ist, nimmt der Heilige Bernhard von Clairvaux Beatrices Platz an Dantes Seite ein (Par. XXXI, 59–63): credea veder Beatrice e vidi un sene vestito con le genti glorïose. Diffuso era per li occhi e per le gene di benigna letizia, in atto pio quale a tenero padre si convene.
Bernhard ist damit die letzte große Führergestalt in der Divina Commedia und gleichzeitig auch die letzte Seele, der Dante begegnet, bevor er sich ganz in die Gottesschau versenkt. Seine Beschreibung faßt in wenigen Worten noch einmal den status animarum der Seligen des Paradieses zusammen: Er gehört zu den genti gloriose (V. 60); d. h. er repräsentiert deren ewige Glorie. Aus seinen Augen und von seinen Wangen strahlt benigna letizia (62), Fröhlichkeit und Güte – die Merkmale, die alle Seligen und Heiligen besonders auszeichnen, ebenso wie seine fromme Haltung: atto pio (ibd.). Dante legt also in diese letzte Seelenbegegnung noch einmal alle wichtigen Kennzeichen, die die Heiligen des Paradieses bestimmen, hinein. Dazu kommt bei Bernhard nun eine gewisse Würde und Erhabenheit aufgrund seines Alters, ausgedrückt durch den Begriff sene (59) und unter einem leicht veränderten Aspekt wiederaufgenommen durch tenero padre in 63. Die Bezeichnung padre ist bemerkenswert, hatte Dante diese doch an vielen Stellen für Vergil verwendet, z. B. Purg. XXX, 50: Virgilio dolcissimo patre. Bernhard übernimmt nun die Rolle des Führers und Lehrers, die zunächst Vergil und dann Beatrice innegehabt hatten. „Durch den Wechsel der FührerFigur kurz vor dem Ende des Werkes soll deutlich werden, dass die Jenseitsreise Dantes nicht eine Reise zu Beatrice ist, sondern vielmehr eine solche zum dreifaltigen Gott“150, wie Regn hervorhebt. Bernhard erklärt auf Dantes Frage nach Beatrice deren Verschwinden und lenkt seinen Blick zur Himmelsrose, wo Beatrice ihren Platz wieder eingenommen hat. Damit ist sie für Dante eine 149 150
Paradiso, hrsg. v. Chiavacci Leonardi, Introduz. al canto XXX, S. 822 f. Regn, Dantes Beatrice, S. 130.
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Heilige, und er kann sein Abschieds- und Dankgebet an sie richten, welches mit der Bitte um künftige Seelenreinheit endet. Hierbei kommt noch einmal die Grundidee seiner ganzen Jenseitsreise zum Ausdruck: die Läuterung von Schuld, um endlich die ewige Seligkeit zu erwerben. Er bittet Beatrice, sie möge ihn davor bewahren, wieder in Sünde zurückzufallen, wenn er auf die Erde zurückkehrt, damit bei seinem Tode seine Seele „ihr wohlgefällig“ (piacente a te; V. 90) und damit auch Gott wohlgefällig sei. Beatrice bekundet ihre Zustimmung durch ein letztes Lächeln. Man könnte dieses Gebet Dantes an Beatrice wohl als eine Vorwegnahme des Gebetes deuten, das im letzten Gesang Bernhard an die Heilige Jungfrau Maria richtet: Dort bittet nämlich Bernhard seinerseits um Gnade für Dante und darum, daß die Gottesmutter es ihm ermöglichen wolle, selbst zur Anschauung Gottes zu gelangen (Par. XXXIII, 1–39). Bernhard übernimmt nun die Führung Dantes im letzten Teil und lenkt seinen Blick auf den Platz der Himmelsrose (hier: questo giardino; V. 97), wo die Himmelskönigin (la regina del cielo; 99) thront (Par. XXXI, 94–102): E ’l santo sene: „Acciò che tu assommi perfettamente“, disse, „il tuo cammino, a che priego e amor santo mandommi, vola con li occhi per questo giardino; ché veder lui t’acconcerà lo sguardo più al montar per lo raggio divino. E la regina del cielo, ond’ïo ardo tutto d’amor, ne farà ogne grazia, però ch’i’ sono il suo fedel Bernardo“.
Die Bezeichnung sene (94) für Bernhard wird hier noch einmal aufgegriffen (cf. 59). Er erklärt sich für die Vollendung von Dantes Weg verantwortlich: Das Wort cammino (96) bedeutet hier einerseits ganz konkret seine Wanderung durch die drei Jenseitsreiche, die kurz vor ihrem letzten Ziel ist, andererseits übertragen auch seinen Lebensweg. Damit schließt sich auch der Kreis zum Beginn der Jenseitsreise, beginnt doch die Divina Commedia mit den Worten Nel mezzo del cammin di nostra vita (Inf. I, 1). Zum vollkommenen Abschluß der Reise führt Bernhard Dante nun in die Betrachtung der Heiligen Maria ein, als Vorbereitung auf die Gottesschau selbst. Er ist für Dante „nicht nur der Vertreter der kontemplativen Ekstase, sondern auch der höchste Vertreter des Marienkults“151. Als Marienverehrer charakterisiert sich der Mystiker auch selbst in den folgenden Versen: Er brennt in Liebe zu ihr (ond’io ardo/tutto d’amor; 100 f.), und er ist ihr Getreuer: io sono il suo fedel Bernardo (102). Erst hier wird übrigens sein Name genannt. 151
Gmelin, Bd. VI: Das Paradies, Komm. zu Par. XXXI, 94–142, S. 536.
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Dante ist vom Anblick und der Person Bernhards so ergriffen, daß er sich sogar mit einem Pilger vergleicht, der das Schweißtuch der Veronika mit dem Antlitz Christi sieht (103–108). Nach diesem Ausbruch von Begeisterung und Bewunderung faßt er das Wesen des Heiligen noch einmal in wenigen gewichtigen Worten zusammen (109–111): tal era io mirando la vivace carità di colui che ’n questo mondo, contemplando, gustò di quella pace.
Die vivace carità (109 f.) ist es in erster Linie, die Bernhard auszeichnet, also eine lebendige Liebe – man darf wohl ergänzen: zu Gott und zur Gottesmutter, wie er ja oben selbst betont hatte (100–102). In diesen Versen wird auch deutlich, daß Dante ihn als einen weiteren Repräsentanten der vita contemplativa auftreten läßt, allerdings einer mystisch überhöhten. Daher trifft Dante ihn erst hier, im Empyreum152. Ausdrücklich wird hervorgehoben, daß er durch Kontemplation (contemplando; 111) bereits auf Erden jenen himmlischen Frieden genoß (gustò di quella pace; ibd.). Gleich im Anschluß an diese Verse wird Bernhard für Dante zum „Lehrer“ wie vorher Vergil und Beatrice, indem er seinen Blick nach oben lenkt und ihn damit selbst zur Betrachtung anhält (112– 117): „Figliuol di grazia, quest’ esser giocondo“, cominciò elli, „non ti sarà noto, tenendo li occhi pur qua giù al fondo; ma guarda i cerchi infino al più remoto, tanto che veggi seder la regina cui questo regno è suddito e devoto“.
In der liebevollen Anrede Figliuol di grazia (112) wird noch einmal die ganz besondere Gnade ausgedrückt, die Dantes Sendung ermöglichte und begleitete153. Maria wird erneut als regina (116) bezeichnet, der das Himmelreich (questo regno, 117) untertan ist. Auf die Aufforderung Bernhards hin hebt Dante die Augen und versenkt sich in den Anblick Mariens und der sie umkreisenden Engelchöre. Er tut es damit Bernhard gleich, und beide bestärken sich gegenseitig in ihrer mystischen Verzückung. Auf dem Höhepunkt dieser von glühender Liebe durchdrungenen Betrachtung endet der Gesang (XXXI, 139–142): Bernardo, come vide li occhi miei nel caldo suo caler fissi e attenti, li suoi con tanto affetto volse a lei, che ’ miei di rimirar fè più ardenti.
152 153
Nach Gmelin, Bd. VI: Das Paradies, Komm. zu Par. XXXI, 111, S. 538. Ibd.
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Auffällig ist an diesem letzten Passus die Verdichtung der Begriffe aus dem Wortfeld „sehen“ (vide und occhi in 139; rimirar in 142), vor allem aber aus dem Wortfeld „Glut“: Nel caldo suo calor (140), più ardenti (142). Dazu kommt noch, daß Dantes Augen fissi ed attenti (140) sind, d. h. er hat sich jetzt völlig der Betrachtung hingegeben. Darauf versenkt sich auch Bernhard wieder ganz in seine Liebe (con tanto affetto; 141), und beide überbieten sich am Schluß geradezu an mystischer Liebe und Verzückung. So scheinen im letzten Vers das Schauen und die Liebesglut zu verschmelzen: Che i miei di rimirar fè più ardenti (142). Bernhard beschreibt nun die Rose in ihren Einzelheiten: Sie besteht zu einer Hälfte aus Seelen des Alten Bundes, zur anderen aus denen des Neuen Testamentes. Die „Scheidewand“ bilden auf der einen Seite sechs alttestamentliche Frauengestalten: Eva, Rachel, Sara, Rebecca, Judith und Ruth, auf der anderen die Heiligen Johannes der Täufer, Franziskus, Benedikt und Augustinus; die übrigen werden nicht genannt. Im untersten Teil der Rose sind die Unschuldigen Kinder angesiedelt. Zuletzt lenkt Bernhard Dantes Blick wieder zur Madonna, die in einem Kreis von besonders auserwählten Heiligen im oberen Teil der Rose thront, nämlich mit Adam und Petrus, Moses und Johannes dem Evangelisten, Anna und Lucia (XXXII). Der Heilige Bernhard spricht zu Beginn des letzten Gesanges für Dante ein Gebet zu Maria als Mittlerin aller Gnaden, um für ihn die letzte Vollendung, nämlich die beseligende Gottesschau, zu erwirken (Par. XXXIII, 1–39). Der Anfang dieses Gebetes ist ein Lob Mariens, das wesentliche mariologische Inhalte in dichterische Form bringt (Par. XXXIII, 1–6): Vergine Madre, figlia del tuo figlio, umile e alta più che creatura, termine fisso d’etterno consiglio, tu se’ colei che l’umana natura nobilitasti sì, che ’l suo fattore non disdegnò di farsi sua fattura.
Nach dem Lobpreis Mariens, der sich über die ersten vier Terzinen hinzieht (Vers 1–12) kommt Berhard von Clairvaux auf die Gnadenmittlerschaft Mariens zu sprechen (Par. XXIII, 13–18): Donna, se’ tanto grande e tanto vali, che qual vuol grazia e a te non ricorre, sua disïanza vuol volar sanz’ ali. La tua benignità non pur soccorre a chi domanda, ma molte fïate liberamente al dimandar precorre.
Bernhard hebt hier besonders hervor, daß Maria die Bitten der zu ihr Flehenden stets erhört. Der gleiche Gedanke durchzieht auch das bekannte Marienge-
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bet Memorare154, das Bernhard von Clairvaux zugeschrieben wird, was Dante offenbar bewußt war: Memorare, o piissima Virgo Maria, non esse auditum a sæculo, quemquam ad tua currentem praesidia, tua implorantem auxilia, tua petentem suffragia esse derelictum. Ego tali animatus confidentia ad te, Virgo Virginum, Mater, curro; ad te venio; coram te gemens peccator assisto. Noli, Mater Verbi, verba mea despicere, sed audi propitia et exaudi. Amen.
Besonders das Motiv des zu Maria eilenden Beters (ad tua currentem praesidia; ad te [. . .] curro) hat Dante an der vorliegenden Stelle aufgenommen und durch drei verschiedene Komposita des Verbums noch einmal überhöht: ricorre (V. 14), soccorre (16), precorre (18). Mit einem Blick gibt Maria zu erkennen, daß sie das Gebet erhört hat (V. 40– 42), und Dante wendet von sich aus die Augen zu Gott und ist nun fähig, dem Licht standzuhalten. Er ist nun am Ziel seiner Reise angelangt, ein Ziel, das er allerdings mit menschlichen Worten nicht auszudrücken vermag. Die Ineffabilität Gottes wird hier deutlich. Die mystische Gottesschau wird am Schluß noch einmal gesteigert und gipfelt in einer Vision der Dreifaltigkeit, die sich in drei feurigen Farbenkreisen äußert. Im Inneren der Kreise erscheint für einen Augenblick ein menschliches Antlitz, das Symbol für den menschgewordenen Gottessohn und auch für die Personalität des Dreifaltigen, dann verschmilzt das ganze Bild wieder in ein einziges Licht, das den Geist des Betrachters trifft wie ein Blitz. Mit der Erfüllung aller seiner Wünsche geht Dante gleichsam ein in die Liebe Gottes und damit in die von Gott gelenkte kreisende Bewegung des ganzen Universums (XXXIII). bb) Das allegorische System des Paradiso Wir haben gesehen, daß sich der vierfache Sinn auch auf den dritten Teil der Divina Commedia anwenden läßt, wenn auch in leicht abgewandelter Weise: Den Zustand der Seligen zeigt Dante anhand historischer Gestalten wie beispielsweise Thomas v. Aquin oder Bernhard v. Clairvaux auf. Von diesem sensus litteralis gelangt man zum allegoricus: Die genannten Figuren repräsentieren die Belohnung Gottes in der Ewigkeit, also die Seligkeit in den verschiedenen Sphären. Daraus läßt sich auch der moralische Sinn leicht ableiten: Die Schilderung des Paradieses in seiner Herrlichkeit soll den Leser dazu ermuntern, durch das eigene Handeln ebenfalls diese Seligkeit anzustreben. Der sensus anagogicus liegt nun, wie bereits angedeutet, im Wesen des Paradiso selbst – denn er ist es ja, der nach „oben“ verweist (de le superne cose de l’etternal
154
Das vollständige Römische Meßbuch (= Schott I), Freiburg i. B. 1962, S. [266].
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VII. (Re-)Sakralisierung der Allegorie: Die Divina Commedia
gloria; Conv. II, i, 6). Darum fällt der anagogische Sinn hier sozusagen mit dem allegorischen zusammen: Denn alles, was Dante im Himmel sieht, verweist allegorisch auf die ewige Herrlichkeit, und eben dies ist auch der Inhalt des anagogischen Sinnes.
3. Zusammenfassung: „Fiktive Historizität“ oder das allegorische System der Divina Commedia a) Die Begegnungen mit historischen Persönlichkeiten Anhand der vorgeführten Textbeispiele wurde zu zeigen versucht, daß der vierfache Schriftsinn auf die gesamte Divina Commedia angewendet werden kann, indem man Dantes Vorgaben zugrunde legt. Diese Prämissen sind zunächst die Unterscheidung zwischen dichterischer und theologischer Allegorie, wie Dante sie im Convivio formuliert hatte. Die allegoria dei poeti definiert er nach der integumentum-Lehre: In der literarischen Fiktion ist eine Wahrheit verhüllt, die die allegorische Bedeutung des jeweiligen narrativen Textes konstituiert. Im Unterschied dazu – so lesen wir bei Thomas von Aquin – kommt in der Heiligen Schrift bereits auf der Litteralebene eine Wahrheit zum Ausdruck, zumeist ein historisches Ereignis, weshalb der sensus litteralis der Bibel auch als sensus historicus bezeichnet wird.155 Auf diesem wahren Buchstabensinn bauen die drei anderen Sinne, sensus allegoricus, moralis und anagogicus, auf, welche ihrerseits auf weitere Wahrheiten verweisen. Auf eben diesen vierfachen Schriftsinn rekurriert Dante, wie wir wissen, im Begleitschreiben zu seiner Commedia, der Epistel an Cangrande. Denn auch wenn er darin „offiziell“ nur ein zweifaches subiectum angibt156, führt er gleich darauf anhand des Psalms 113, 1 das vierfache Modell aus. Allerdings spricht auch Thomas zunächst von einer zweifachen Wahrheit157, der wörtlichen und der allegorischen, und unterteilt letztere in einem weiteren Schritt in die drei sensus mystici.158 Dante verfährt im Schreiben an Cangrande analog, ohne dies jedoch direkt zu erkennen zu geben, da er keine explizite Verbindung zwischen seinem duplex subiectum und dem vierfachen Schriftsinn herstellt. Allerdings spricht auch Dante von sensus historialis, womit er in der Tat Thomas folgt.159 Im Convivio dagegen hatte er nur den Ausdruck litterale ver155
Thomas, S. Th., Ia pars, q. 1, art. 10, ad tertium. duplex [. . .] subiectum (Ep. XIII, 23). 157 [. . .] in sacra Scriptura manifestatur veritas dupliciter (Quodlib. VII, q. 6, art. 1, resp.; Hervorhebung durch den Herausgeber). 158 S. Th., Ia pars, q. 1, art. 10, resp. 159 Dante, Ep. XIII, 22 und Thomas, S. Th., Ia pars, q. 1, art. 10, resp. 156
3. Zusammenfassung
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wendet.160 Damit muß es in der Divina Commedia einen „wahren“ Litteralsinn nach biblischem Vorbild geben, auf welchem der allegorische aufbauen kann. Daraus, daß Dante die allegoria dei teologi auf ein literarisches Werk anwendet, ergibt sich nämlich, daß er ein neues allegorisches System einführen muß: „Dante fut en quelque sorte contraint d’inventer une formule orignale.“161 Worin besteht nun diese „neue Formel“ und inwieweit markiert Dante seine Wanderung durch die drei Jenseitsreiche als „wahr“? Dante selber kündigt in seinem Brief an Cangrande an, sein Litteralsinn sei der status animarum post mortem162, also nicht der Bericht seiner Jenseitsreise an sich, sondern das, was er während derselben sieht: der jeweilige Zustand der Seelen nach dem Tode.163 Dies ist nun allerdings eine Wahrheit, die für Dante außer Frage steht, da er als Christ fest an die Existenz von Hölle, Fegefeuer und Paradies glaubt. Von dieser Tatsache kann er seinen Litteralsinn abhängen lassen; erfunden daran ist dann nur noch der Bericht von der Wanderung selbst. Der sensus historicus der Divina Commedia beinhaltet daher eigentlich die Erzählung von Dantes Jenseitsreise mit allem, was er dabei gesehen und erlebt hat. Aber diese Visionsreise ist eben kein wirklich historisches Ereignis, sondern er berichtet sie nur als solches, wie in der ganzen mittelalterlichen Visionliteratur die einmalige Wanderung eines Menschen durch das Jenseits als „historisch“ dargestellt wird164. Also ist der Litteralsinn der Divina Commedia ein „erfundener sensus historicus“. Robert Hollander spricht in diesem Zusammenhang von einer „menzogna vera“ 165, einer „wahren Lüge“, während Charles Singleton ebenfalls treffend formuliert: „The fiction of the Divine Comedy is that it is not fiction.“166 Diese fiktive Historizität ist damit die Grundlage für das gesamte allegorische Verfahren der Divina Commedia. Untermauert wird der Wahrheitsanspruch durch die Begegnungen mit reellen, historischen Persönlichkeiten, die für Dante die einzelnen Stationen auf seiner Reise markieren. Damit werden ihm alle Fi160
Nach Pépin, Dante et la tradition de l’allégorie, S. 61 Anm. 8. Ibd., S. 29. 162 Ep. XIII, 24. 163 Cf. Pépin, Dante et la tradition de l’allégorie, S. 78, ferner M. Barbi, Allegoria e lettera nella Divina Commedia (1940), in: ders., Problemi fondamentali per un nuovo commento della Divina Commedia 1955, S. 115–140 (deutsch von U. Barkemeyer: Allegorische und wörtliche Bedeutung in der ,Divina Commedia‘, in: H. Friedrich (Hrsg.), Dante Alighieri, Darmstadt1968, S. 462–498). 164 Nach Jauss, Entstehung und Strukturwandel der allegorischen Dichtung, in: GRLMA, Bd. VI/1, S. 182 und S. 186. 165 Hollander, Allegory in Dante’s Commedia, S. 61. 166 C. S. Singleton, Substance of Things seen, in: ders., Dante Studies, Bd. 1, S. 61– 83, hier S. 62; siehe auch ders., „The Irreducible Dove“, in: Comparative Literature, IX (1957), S. 129–135, hier S. 129. 161
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VII. (Re-)Sakralisierung der Allegorie: Die Divina Commedia
guren zu Repräsentanten der göttlichen Gerechtigkeit, die sich an ihnen je nach ihrem Verdienst, merendo aut demerendo167, manifestiert. Konkrete Gestalten, keine Personifikationen verkörpern im Inferno die einzelnen Sünden. Analog dazu werden die Tugenden im Purgatorio, die es durch die Läuterung wiederzuerlangen gilt, durch Engel dargestellt – auch diese keine abstrakten Personifikationsallegorien, sondern „wirkliche“ himmlische Wesen. Im Paradiso sind es die Seligen selbst, die die jeweiligen Stufen anzeigen; allerdings erhalten auch diese Figuren für Dante einen konkreten Sinn: Denn die Heiligen zeigen sich eigens für ihn in den verschiedenen Himmelsspären, um diese für ihn deutlich zu machen, während der eigentliche Sitz aller Seligen die Himmelsrose ist, wie wir am Schluß erfahren. Besonders sinnfällig zeigt sich Dantes allegorische Methode an der Auswahl und Darstellung seiner Führergestalten, Vergil, Beatrice und Bernhard von Clairvaux. Bevor wir uns mit diesen eingehender beschäftigen, müssen wir uns die Himmelsreise im Anticlaudianus des Alanus ab Insulis in Erinnerung rufen. Denn auch die personifizierte Klugheit legt ihren Weg wie Dante in mehreren Etappen zurück: In Begleitung der Racio gelangt Prudencia bis an den Fixsternhimmel. Hier, gleichsam an der Schwelle zur absoluten Transzendenz, wo die menschliche Einsicht versagt, muß die Racio zurückbleiben. Eine weitere allegorische Figur tritt auf: die regina poli, die teils als Theologie, teil als göttliche Weisheit interpretiert wird (Acl. V, 40–264). Mit ihrer Hilfe beginnt PrudenciaFronesis, die Geheimnisse des Himmels zu erkunden, doch bei der Ankunft im Empyreum kann ihr auch die regina poli nicht mehr Genüge tun. Im höchsten Himmel, vor dem Thron Gottes bleibt nur noch der Glaube; daher führt schließlich Fides die Klugheit zu Gott selbst und vermittelt ihr mit Hilfe eines Spiegels Einsicht in die ewigen Wahrheiten (Acl. VI, 1–137). Bei diesem Schema zeigen sich einige Parallelen zur Divina Commedia, die schon Abbé Bossard in seiner 1885 erschienenen Studie herausgearbeitet hat: „In Anticlaudiano exhibetur mentis humanae, seu Phronesis, ascensus, Philosophia seu Ratione duce, iter facientis per mundum, qui ad interitum vergit, moxque, Theologia duce, relictis iam huius orbis caduci finibus, per Paradisum, aut, ut ait poeta, per Empyræum, usque ad Dei Creatoris unius et trini pedes scandentis. In Divina vero Comœdia videmus Dantem, duce Virgilio, Philosophiae vices gerente, iter facientem per tristes locos, in quibus cruciantur aut purgantur animae vita defunctae; deinde ad Deum unum et trinum ascendentem: unde vel primum apparet in utroque poemate mentem humanam eodem genere instituere iter ad Deum, ac per similem viam, imo per eadem astra, nobile incœptum perficere.“168 167
Ep. XIII, 25. Abbé E. Bossard, Alani de Insulis Anticlaudianus cum Divina Dantis Alighieri Comœdia collatus, Andegavi 1885, S. 75. 168
3. Zusammenfassung
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Bossard stellt also zunächst zahlreiche Analogien zwischen der Himmelsreise der Fronesis und der Dantes fest: Bei beiden ist das Ziel Gott, beiden liegt das Schema der neun Himmelssphären (sieben Planeten, Fixstern- und Kristallhimmel) mit dem darüber befindlichen Empyreum zugrunde.169 Zudem nennt der Autor bei beiden den gleichen Ausgangspunkt, nämlich die Erde; dies bedarf jedoch einer Korrektur: Während Prudencia tatsächlich von der Erde in den Himmel reist, muß Dante zunächst seine Wanderung durch die beiden anderen Jenseitsreiche absolvieren. Ein weiterer Unterschied zwischen beiden Werken besteht darin, daß im Anticlaudianus die Handlung nach der Rückkehr der Klugheit zur Erde noch länger fortgesetzt wird, während die Divina Commedia bekanntlich mit Dantes seliger Gottesschau endet. Vor allem aber, so Bossard weiter, liegen die Ähnlichkeiten zwischen Alanus und Dante in den Führergestalten. Während im Anticlaudianus die Klugheit zuerst von der Racio geleitet wird, erfüllt in der Divina Commedia Vergil diese Rolle, der somit die Philosophie allegorisch verkörpert: „Dantes [. . .] philosophiae tribuit Virgilii vultus“.170 Als Grund, weshalb Dante sich Vergil als Begleiter ausersehen habe, gibt Bossard an, Vergil habe bei Dante und seinen Zeitgenossen solch hohes Ansehen genossen, „ut summus ille vir videretur omnes humanas doctrinas, omnem itaque philosophiam continere atque exhibere.“171 Parallel dazu deutet er Beatrice als Allegorie der Theologie, übersieht dabei aber, daß im Anticlaudianus nie explizit von einer personifizierten Theologia, sondern nur von einer regina poli bzw. einer puella poli die Rede ist.172 Wie oben angemerkt, hat Alanus möglicherweise bewußt mehrere Deutungsmöglichkeiten für diese Gestalt zugelassen. Der Auftritt Beatrices in Purg. XXX im Rahmen der Prozession mit den 80 Greisen des Alten Testaments und den vier Evangelisten sei ein Beweis dafür, so Bossard weiter, „quod Beatrix illa nihil aliud repraesentet nisi Theologiae veram effigiem, aut, ut aiunt, imaginem symbolicam.“173 Der Autor hebt sodann hervor, daß in beiden Gedichten inhaltlich an der gleichen Stelle die Führergestalt wechselt.174 Hierbei fällt nun allerdings wiederum ein gewichtiger Unterschied ins Auge: Denn während bei Alanus die Racio erst am Fixsternhimmel von der regina poli abgelöst wird, findet der Wechsel bei Dante schon wesentlich früher statt, nämlich im Irdischen Paradies, also noch bevor er überhaupt die Himmelssphären betritt.
169 170 171 172 173 174
Cf. ibd., S. 78 und S. 81. Ibd., S. 82. Ibd. Acl. V, 83; V, 166, 178. Bossard, Anticlaudianus cum Divina Comœdia collatus, S. 93. Ibd., S. 88.
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VII. (Re-)Sakralisierung der Allegorie: Die Divina Commedia
Bei beiden Dichtern erfolgt noch ein zweiter Führerwechsel. Bei Alanus ist es die Fides, die den Part der regina poli übernimmt.175 Eigenartigerweise setzt Bossard diese nun mit Matelda gleich176, obwohl diese doch im Purgatorio vor Beatrice auftritt und den Dichter auch nicht in den Himmel zu Gott geleitet, denn ihr Platz ist das Irdische Paradies, wo sie schließlich verbleibt.177 Dennoch gibt es auch in der Divina Commedia kurz vor dem Ende, bereits im Empyreum einen weiteren Wechsel, als Bernhard von Clairvaux die Rolle der Beatrice übernimmt.178 Er ist es, der Dante in die letzten Geheimnisse einweiht und ihn schließlich der Muttergottes anempfiehlt, bevor Dante aus eigener Kraft die Augen zu Gott erheben kann. Daher erscheint es angebracht, eher Bernhard als die vage, unbestimmte Gestalt der Matelda mit der Fides des Alanus zu vergleichen. Unzweifelhaft hat sich Dante jedoch bei der Gestaltung seiner Himmelsreise an Alanus orientiert, wie Bossard mehrfach feststellt. Sicherlich hat er sich auch bei der Konzeption seiner Führergestalten – Vergil, Beatrice und Bernhard – von seinem mittellateinischen Vorgänger inspirieren lassen. Allerdings geht der italienische Dichter auch hier eigene Wege, indem er eben nicht, wie in der Tradition der allegorischen Literatur üblich, die abstrakten Personifikationen der Ratio, Theologia und Fides übernimmt. Die grundlegende Neuerung ist, daß Dante als Führer seiner Jenseitswanderung konkrete historische Gestalten erwählt. Zwei von diesen sind auch bei seinen Zeitgenossen bekannt und berühmt: der im ganzen Mittelalter verehrte, von Dante besonders geliebte antike Dichter Vergil179, der ihm auch für seine Dichtung als Vorbild dient, und der bedeutende Prediger, Mystiker und Reformator des Zisterzienserordens, der Heilige Bernhard von Clairvaux. Beatrice schließlich hat für Dante die tiefste persönliche Bedeutung, ist sie doch die Geliebte seiner Jugend, die schon in der Vita Nova übernatürliche Züge trägt.180 Ihnen fügt Dante nun eine zusätzliche Bedeutung hinzu. So vertritt Vergil die menschliche Wissenschaft und Erkenntnis, die Ratio und die Philosophie, die nicht in die Geheimnisse des Himmels eindringen kann (dov’io per me più oltre non discerno; Purg. XXVII, 129). Er darf Dante daher nur durch das „ewige und das zeitliche Feuer“ (Il temporal foco e l’etterno; Purg. XXVII, 127), also
175
Acl. VI, 19–28. Bossard, Anticlaudianus cum Divina Comœdia collatus, S. 92. 177 Cf. auch Purgatorio, hrsg. v. Chiavacci Leonardi, Introduz. al canto XXVIII, S. 824. 178 Par. XXXI, 59–63. 179 Cf. auch A. Kablitz, Dantes poetisches Selbstverständnis (Convivio – Commedia), in: W. Wehle (Hrsg.), Über die Schwierigkeiten, (s)ich zu sagen. Horizonte literarischer Subjektkonstitution, Frankfurt a. M. 2001, S. 17–57, hier S. 52–54. 180 Cf. auch Regn, Dantes Beatrice, S. 131. 176
3. Zusammenfassung
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durch Hölle und Fegefeuer begleiten, wie Vergil selbst kurz vor dem Abschied auf dem Gipfel des Läuterungsberges in Worte faßt (Purg. XXVII, 127–129): [. . .] Il temporal foco e l’etterno veduto hai, figlio; e se’ venuto in parte dov’io per me più oltre non discerno.
Beatrice verkörpert die Theologie, die göttliche Weisheit und Lehre von Gott. Sie geleitet Dante durch die Himmelssphären und erläutert ihm dabei die Zusammenhänge des Universums; somit gewährt sie Dante Einblick in Gottes Walten. Bernhard von Clairvaux nun steht für die selige Gottesschau selbst, die visio beatifica. Er übernimmt daher Dantes Führung in dem Moment, in dem dieser im Empyreum, am Sitz Gottes angekommen ist, wo es keiner Worte, keiner Erklärungen mehr bedarf. Unter seiner Anleitung versenkt sich Dante endgültig in die Kontemplation der Dreifaltigkeit. Man könnte also sagen, daß Dante zwar die abstrakten Personifikationen des Alanus ihrer Bedeutung nach übernimmt, ihnen aber eine lebendige, historische Existenz und damit einen sensus litteralis verleiht. b) Die Symbolik der Rose Zur zusätzlichen Visualisierung und Konkretisierung dienen Dante die verschiedenen Symbole, die im Paradies aufscheinen: das Strahlenkreuz (Par. XIV), die Inschrift diligite iustitiam qui iudicatis terram, das M und der Adler (Par. XVIII), die Jakobsleiter (Par. XXI) und zuletzt die Himmelsrose (Par. XXX– XXXIII). Man könnte auch die Triumphzüge Christi und Mariens in Par. XXIII hinzuzählen, nehmen diese doch wie eine Art Typologie den Anblick der Seligen, auch der Gottesmutter in der Himmelsrose, und schließlich die Gottesschau selbst vorweg. Im Purgatorio hatte Dante an entscheidenden Stellen die Morgenträume eingeführt, mit deren Hilfe er bestimmte Aspekte bildlich darstellt, die für das christliche Leben entscheidend sind: den Aufstieg zu Gott, die Abkehr von der Sünde und den Übergang von der vita activa zur vita contemplativa. In ähnlicher Weise greift der Dichter im Paradiso nun zu den genannten Symbolen und Visionen, die gewisse „Elemente“ des Himmels bildhaft konkretisieren bzw. die ewige Seligkeit für die menschliche Sprache ausdrückbar machen. So steht etwa das Strahlenkreuz für den Triumph der tapferen Glaubenskämpfer, die sich ihr Seelenheil durch Teilnahme am Leiden und Kreuz Christi erworben haben. Ebenso wie dieses Kreuz stehen die Symbole des M und des Adlers, welche auf gerechte Herrschaft verweisen, erneut für die vita activa. Die Jakobsleiter dagegen repräsentiert, wie bereits erwähnt, die vita contemplativa, allerdings noch in abstrakter Weise. Konkretisiert wird die Kontemplation und damit die Gottesschau sodann durch die Triumphzüge Christi und Mariens.
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VII. (Re-)Sakralisierung der Allegorie: Die Divina Commedia
Der letzte, geniale Kunstgriff Dantes in dieser Hinsicht ist die Himmelsrose, wie bereits angedeutet. Nachdem diese in Par. XXX, 115–117 bzw. Par. XXXI, 1–3 eingeführt wurde, nimmt Bernhard in seinem Gebet an die Jungfrau wieder Bezug auf questo fiore (Par. XXXIII, 7–9): Nel ventre tuo si raccese l’amore, per lo cui caldo ne l’etterna pace così è germinato questo fiore.
Die Himmelsrose der Heiligen konnte nur deshalb „erblühen“, weil Maria Christus zur Welt gebracht hat, der die Menschen erlöst und ihnen damit den Zugang zum Paradies eröffnet hat. Als „Blume“ wurde die Rose bereits in Par. XXXI, 10 (nel gran fior) und 19 (’l fiore) bezeichnet. Die Begriffe rosa und fiore bringen uns nun wieder auf die profanen Vorgänger Dantes. Gewiß ist das Symbol der Rose in der christlichen Tradition gängig und wurde vor allem auch gerne auf Maria angewandt; man denke nur an die Rosa mystica aus der Lauretanischen Litanei.181 In diesem marianischen Zusammenhang kommt übrigens das Wort rosa in Par. XXIII, 73 vor: Quivi è la rosa in che ’l verbo divino carne si fece; [. . .]
Allerdings ist es doch bedeutsam, daß im größten profanen Werk aus der allegorischen Tradition vor Dante die Rose im Zentrum steht und diesem Gedicht auch seinen Titel gab: Le Roman de la Rose. Sicherlich ist es kein Zufall, daß Dante als letztes einer Reihe ausdrucksstarker Bilder im Paradiso die Rose eingesetzt hat. Es ist sogar gut möglich, daß er bewußt die Rose, die im Rosenroman ein rein profanes Liebessymbol ist, theologisiert oder „spiritualisiert“, d. h. absichtlich in einen religiösen Kontext eingeschrieben hat. Contini bezeichnet Dante als den „cantore della rosa mistica“182 und spricht in diesem Zusammenhang treffend von der mystischen Rose der Divina Commedia als einer „,antiparodia‘ della rosa carnale“ des Roman de la Rose.183 Weitere Anhaltspunkte für die Idee dieser Spiritualisierung der Rose bieten Il Fiore und Il Detto d’Amore. Denn an diesen beiden italienischen Bearbeitungen des Rosenromans ist eben der Umgang mit der Rose selbst auffällig: Während sich nämlich das ausführlichere Werk, Il Fiore, ansonsten sehr eng an das allegorische System des Rosenromans anlehnt, übernimmt es nun gerade die Alle-
181 Erwähnt sei in diesem Zusammenhang auch das Patrozinium des Domes von Dantes Heimatstadt Florenz, S. Maria del Fiore. Möglicherweise hat sich der Dichter auch davon inspirieren lassen. 182 Il Fiore e Il Detto d’Amore, hrsg. v. Contini, Einleitung, S. XCV. 183 Ibd., S. XCV.
3. Zusammenfassung
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gorie der Rose nicht, sondern gibt sie nur allgemein mit fiore184 wieder. Im Detto d’Amore ist die Blumensymbolik sogar ganz weggelassen. Es scheint, als hätte der Verfasser des Fiore – sei es nun Dante oder einer seiner Zeitgenossen – ganz bewußt fiore an die Stelle von rosa gesetzt. Sicherlich entstand die Divina Commedia wesentlich später als Il Fiore (zwischen 1280 und 1293). Doch hatte Dante, wie wir wissen, am Ende der Vita Nova indirekt ein größeres, erhabeneres Werk angekündigt, und aus eben dieser Andeutung geht hervor, daß dieses Werk in einem wie auch immer gearteten religiösen Rahmen anzusetzen sei, sollte es doch die verherrlichte Beatrice zum Thema haben. Falls Dante wirklich der Verfasser des Fiore ist, wäre es möglich, daß er die „Blume“ des Rosenromans absichtlich nicht konkret wiedergegeben hat – vielleicht um ihr viel später, in der Commedia, also in einem spirituellen Zusammenhang, einen würdigeren Platz zuzuweisen. Auch wenn Il Fiore doch nicht von Dante selbst stammt, bleibt es dennoch interessant zu sehen, wie er die profanen Allegorien des Roman de la Rose, nicht zuletzt die Rose selbst, in der Divina Commedia in einen religiösen Kontext eingeschrieben hat.
184 Das Wort Fiore kommt u. a. in den Sonetten XV, 10, XX, 9, XXVI, 5, XL, 14, XCIV, 13, CCIV, 12, CCVII, 10 vor.
VIII. Exkurs: „Re-Profanierung“ der allegoria dei teologi – Chaucers House of Fame Die allegoria dei teologi soll im folgenden noch von einer anderen Perspektive aus beleuchtet werden, nämlich anhand einer profanen Imitation von Dantes Divina Commedia, die etwa 150 Jahre später verfaßt wurde. Es handelt sich um The House of Fame, ein Werk des mittelenglischen Dichters Geoffrey Chaucer (ca. 1340–14001), das exemplarisch herausgegriffen wurde, um Dantes Einfluß auf die profane Literatur seiner Nachwelt aufzuzeigen – und um im Kontrast zu dieser sein theologisches allegorisches System noch einmal hervorzuheben. Als Geoffrey Chaucer im Jahre 1372 oder 1373 erstmals nach Italien kam, galt Dante dort bereits als „Klassiker“.2 Der mittelenglische Dichter orientierte sich sowohl an lateinischen spätantiken und mittelalterlichen Dichtern als auch an seinen romanischen Vorgängern. So hat er beispielweise De consolatione philosophiae des Boethius und den Rosenroman unter den Titeln Boece bzw. The Romaunt of the Rose ins Englische übersetzt.3 Wie bereits erwähnt, hat er sich im Parliament of Fowls von Alanus ab Insulis inspirieren lassen. Nicht zuletzt jedoch griff er auf die Werke der Tre Corone Dante, Petrarca und Boccaccio zurück. Er kannte nicht alle Werke Dantes, beschäftigte sich jedoch besonders intensiv mit dem Convivio, vor allem mit dessen vierten Traktat, sowie mit der Divina Commedia.4 Er übernahm von dem italienischen Dichter zum einen kürzere Szenen oder Textstellen, bisweilen auch Bilder oder Metaphern. Zum anderen arbeitete er einige längere Stücke um und setzte sie zu seinen eigenen Zwecken ein.5 Durch diese Art der Umgestaltung bewahrte er seine Eigenständigkeit und Originalität. Das wohl prominenteste Beispiel einer solchen Adaptierung einer längeren
1 Zum Leben Geoffrey Chaucers cf. The Riverside Chaucer, ed. L. Benson, Oxford 1987, Paperback Oxford 1988, Introduction, S. xi–xxii. 2 P. Boitani, What Dante meant to Chaucer, in: ders. (Hrsg.), Chaucer and the Italian Trecento, Cambridge 1983, S. 115–139, hier S. 115. 3 G. Chaucer, Boece, in: The Riverside Chaucer, ed. L. Benson, S. 397–469 sowie ders., The Romaunt of the Rose, in: ibd., S. 686–767. 4 Boitani, What Dante meant to Chaucer, S. 116; cf. zum Convivio auch ibd., S. 130 f. 5 H. Schless, Transformations: Chaucer’s Use of Italian, in: D. Brewer (Hrsg.), Writers and their Background: Geoffrey Chaucer, London 1974, S. 184–223, hier S. 218. 1
VIII. Exkurs: „Re-Profanierung‘‘ der allegoria dei teologi
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Textstelle ist die Übernahme der Erzählung vom Grafen Ugolino (Inf. XXXIII, 1–90) in der Monk’s Tale (Canterbury Tales 2407–2452)6. Das früheste Werk Chaucers, in dem der Einfluß Dantes deutlich spürbar wird, ist jedoch The House of Fame7, das zwischen 1374 und 1379 verfaßt wurde.8 Die Parallelen sind sowohl inhaltlicher als auch formaler Natur. Was die Struktur betrifft, hat Chaucer insbesondere die Dreiteilung Dantes übernommen: Die Divina Commedia hat drei Cantiche, The House of Fame besteht aus drei Büchern.9 Gleichsam unterstützt wird diese Gliederung sowohl bei Dante als auch bei Chaucer durch sehr ähnlich konstruierte Invokationen zu Beginn jeder Cantica bzw. jedes Buches. Denn beide Dichter wenden sich jeweils an die Götter, die Musen oder die eigene Geisteskraft (mente/ingegno bzw. thought/memory).10 So ruft Dante zu Beginn des Inferno sowohl die Musen als auch seinen eigenen alto ingegno und seine mente an (Inf. II, 7–911): O muse, o alto ingegno, or m’aiutate; o mente che scrivesti ciò ch’io vidi, qui si parrà la tua nobilitate.
Chaucer dagegen wendet sich in der ersten Invokation, die sich unmittelbar an das Proöm (HF I, 1–65) anschließt, zunächst an den Gott des Schlafes, der ihm sozusagen als „Herr der Träume“ gilt (HF I, 66–69; 77–80): But at my gynnynge, trusted wel, I wol make invocacion, With special devocion, Unto the god of slep anoon, [. . .] And to this god that I of rede Prey that he wol me spede My sweven for to telle aryght, Yf every drem stonde in his myght.
6 G. Chaucer, The Canterbury Tales, in: The Riverside Chaucer, ed. L. Benson, S. 23–328 (The Monk’s Tale: S. 241–252; De Hugelino Comite de Pize: S. 247 f.). 7 G. Chaucer, The House of Fame, in: The Riverside Chaucer, ed. L. Benson, S. 348–373. 8 H. H. Schless, Chaucer and Dante. A Revaluation, Norman (Oklahoma) 1984, S. 29. Zur Datierung cf. ibd. S. 36–41. Siehe auch R. A. Shoaf, Dante, Chaucer and the Currency of the Word. Money, Images, and Reference in late medieval Poetry, Norman (Oklahoma) 1983, S. 105. 9 In der Riverside-Ausgabe setzt sich allerdings die Verszählung durch die drei Bücher hindurch fort. 10 Cf. auch Boitani, What Dante meant to Chaucer, S. 121 f. 11 Hier zählt Inf. II als der eigentliche Beginn, da der erste Gesang die Funktion eines Prologs oder Proöms hat.
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VIII. Exkurs: „Re-Profanierung‘‘ der allegoria dei teologi
Am Anfang des Purgatorio erwähnt Dante erneut seinen ingegno; zudem erbittet er sich die Unterstützung der Musen, vor allem der Kalliope (Purg. I, 1–3; 7–10): Per correr miglior acque alza le vele omai la navicella del mio ingegno, che lascia dietro a sé mar sì crudele; [. . .] Ma qui la morta poesì resurga, o sante Muse, poi che vostro sono; e qui Calïopè alquanto surga, seguitando il mio canto [. . .]
Chaucer folgt seinem Vorbild im Proöm zu seinem zweiten Buch, indem er ebenfalls an die Musen und an seine eigene Geisteskraft appelliert. Letztere bezeichnet er einmal als Thought (HF II, 523) und einmal als engyn (HF II, 528), eine direkte Übersetzung des italienischen Begriffs ingegno. Bemerkenswert ist an dieser Invokation (ye [. . .] that on Parnasi duelle; 520 f.) noch die Tatsache, daß die Musen hier erstmals in der englischen Dichtung auftauchen. „It is thanks to Chaucer’s reading of the Comedy that English verse joins the mainstream of European poetry, which does indeed rise on Helicon.“12 Zunächst ruft Chaucer jedoch Venus an, hier Cipris genannt (HF II, 518–28): [. . .] O Cipris, So be my favour at this tyme! And ye, me to endite and ryme Helpeth, that on Parnaso duelle, Be Elicon, the clere welle. O Thought, that wrot al that I mette, And in the tresorye hyt shette Of my brayn, now shal men se Yf any vertu in the be To tellen al my drem aryght. Now kythe thyn engyn and myght!
Die Formulierung O Thought, that wrot al that I mette ist ein Beispiel dafür, wie Chaucer bisweilen Stellen aus Dante so gut wie wörtlich übersetzt, hatte es doch bei der ersten Invokation im Inferno geheißen: o mente che scrivesti ciò ch’io vidi (Inf. II, 8). Die Fortsetzung And in the tresorye [. . .] / Of my brayn geht ebenfalls direkt auf Dante zurück, der zu Beginn des Paradiso ankündigt (Par. I, 10–12): Veramente quant’io del regno santo ne la mia mente potei far tesoro, sarà ora materia del mio canto.
12
Bennett, Chaucer, Dante and Boccaccio, S. 108.
VIII. Exkurs: „Re-Profanierung‘‘ der allegoria dei teologi
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Unmittelbar im Anschluß an diese Stelle folgt die dritte Anrufung, die Dante nunmehr an Apollo selbst richtet, da ihm die Musen allein (l’un giogo di Parnaso; V. 16) nicht mehr genügen. Gemeint ist hier, daß es einer erhöhten Kunstfertigkeit bedarf, um die unaussprechlichen Geheimnisse zu künden, die Dante im Paradies schauen darf; der Gott Apollo repräsentiert hier also allegorisch die Dichtkunst, die nun gewissermaßen zu einer divina virtù geworden ist (Par. I, 13–19; 22): O buono Appollo, a l’ultimo lavoro fammi del tuo valor sì fatto vaso, come dimandi a dar l’amato alloro. Infino a qui l’un giogo di Parnaso assai mi fu; ma or con amendue m’è uopo intrar ne l’aringo rimaso. Entra nel petto mio, e spira tue [. . .] O divina virtù, [. . .]
Dante bittet hier ausdrücklich um die Inspiration Apollos (Entra nel petto mio, e spira tue; V. 19). Diesen Gedanken nimmt er im folgenden Gesang noch einmal auf, wo er erneut hervorhebt, daß seine Reise nun von Minerva, Apollo und den neun Musen gelenkt wird (Par. II, 8 f.)13: Minerva spira, e conducemi Appollo, e nove Muse mi dimostran l’Orse.
Die dritte Invokation im House of Fame ist wiederum analog zu Dante gebildet, denn Chaucer ruft zu Beginn des dritten Buches ebenfalls Apollo an – auch wenn es bei ihm nicht um eine so erhabene Thematik wie bei Dante geht, hat er doch nicht die ewigen Geheimnisse Gottes, sondern „nur“ das Haus der Fama zu beschreiben (HF III, 1091–1093; 1101–1109): O God of science and of lyght, Appollo, thurgh thy grete myght, This lytel laste bok thou gye! [. . .] And yif, devyne vertu, thow Wilt helpe me to shewe now That in myn hed ymarked ys – Loo, that is for to menen this, The Hous of Fame for to descryve – Thou shalt se me go as blyve Unto the nexte laure y see, And kysse yt, for hyt is thy tree. Now entre in my brest anoon!
13 Cf. auch J. A. W. Bennett, Chaucer, Dante and Boccaccio (1977), in: P. Boitani (Hrsg.), Chaucer and the Italian Trecento, Cambridge 1983, S. 89–113, hier S. 107.
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Auch in diesem Textbeispiel hat Chaucer einige Stellen wörtlich aus Dante übernommen, etwa devyne vertu (V. 1101); in Par. I, 22 heißt es ebenfalls divina virtù. Dantes Bitte Entra nel petto mio (Par. I, 19) gibt Chaucer mit Now entre in my brest anoon (V. 1109) wieder. Auch mit der Erwähnung des Lorbeers folgt er seinem italienischen Vorgänger, allerdings unter anderem Vorzeichen. Denn während Dante den amato alloro (Par. I, 15) als Lohn für seine Dichtkunst ersehnt – wie er es auch in Par. I, 25 f. noch einmal ausdrückt14 – stellt Chaucer umgekehrt dazu dem Gott in Aussicht, daß er zum Dank für die erhaltene Hilfe den Lorbeer küssen werde, da dieser Baum dem Apollo heilig ist (Unto the nexte laure y see,/And kysse yt, for hyt is thy tree; V. 1107 f.).15 Wenden wir uns nun etwas genauer dem Inhalt von The House of Fame zu. Der Dichter findet sich im Traum in einem Tempel aus Glas wieder (But as I slepte, me mette I was/Withyn a temple ymad of glas; HF I, 119 f.), den er als Heiligtum der Venus identifiziert (Hyt was of Venus redely,/The temple [. . .]; HF I, 130 f.) und an dessen Wänden Szenen aus Vergils Aeneis gemalt sind, insbesondere die Zerstörung Trojas, die Flucht des Äneas und seiner Familie aus der Stadt und seine Liebe zu Dido. Auf einer Wand sieht der Erzähler zunächst den Anfang der Aeneis geschrieben (HF I, 143 f.)16: I wol now synge, if I kan, The armes and also the man
Besonderes Gewicht wird auf die ersten vier Bücher des Vergil’schen Epos gelegt; vor allem die Dido-Episode ist äußerst detailreich beschrieben.17 Bei der Gestaltung dieser Darstellungen hat sich Chaucer offenbar an den Tugendexempla orientiert, die Dante im Purgatorio vorführt: Im zehnten Gesang erblicken Dante und Vergil die Beispiele der Demut als in Marmor gemeißelte Reliefs (di marmo candido e addorno/d’intagli sì; Purg. X, 31 f.) an der Flanke des Läuterungsberges, an welcher sie ihr Aufstieg entlangführt.18 Der Dichter – so die Fortsetzung des Traumes in The House of Fame – verläßt den Tempel (HF I, 480) und gelangt in eine verlassene Gegend. Als er zum 14 vedra’mi al piè del tuo diletto legno/venire, e coronarmi de le foglie (Par. I, 25 f.). 15 Cf. auch J. A. W. Bennett, Chaucer’s Book of Fame. An Exposition of ,The House of Fame‘, Oxford 1968, S. 101 f. Für eine genaue Gegenüberstellung von einander entsprechenden Stellen im House of Fame und der Divina Commedia siehe Schless, Chaucer and Dante, S. 42–76. 16 Karla Taylor weist darauf hin, daß der Einschub if I kan „distinctly un-Virgilian“ und typisch für Chaucer ist (Taylor, Chaucer reads ,The Divine Comedy‘, S. 28). 17 Cf. R. Neuse, Chaucer’s Dante. Allegory and Epic Theater in The Canterbury Tales, Berkely u. a. 1991, S. 25. 18 Cf. auch G. Chaucer, Das Haus der Fama, übers. u. hrsg. v. A. v. Düring (Geoffrey Chaucers Werke, Bd. I), Straßburg 1883, Einleitung, S. 134 und Taylor, Chaucer reads ,The Divine Comedy‘, S. 23–25.
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Himmel um Hilfe fleht („O Christ [. . .] / Me save!“ And with devocion/Myn eyen to the hevene I caste; HF I, 492–495), begegnet ihm ein Adler mit goldenen Federn, die in der Sonne gleißen (Buch I). Der Vogel ergreift den Dichter mit seinen Krallen und erhebt sich mit ihm hoch in die Lüfte (HF II, 545–547): Me caryinge in his clawes starke As lyghtly as I were a larke, How high, I can not telle yow,
Diesen Adler, der bei Dante zum einen die gerechte Herrschaft symbolisiert19, zum anderen aber auch für göttliche Hilfe in schwierigen Situationen steht20, hat Chaucer gewissermaßen an die Stelle Vergils gesetzt. Da es sich bei Chaucers Himmelsreise um einen Flug handelt, wird ein „geflügeltes Wesen“21 als Begleiter benötigt. Offensichtlich hat sich Chaucer in erster Linie vom ersten Morgentraum im Purgatorio inspirieren lassen, in welchem Dante bekanntlich im Traum von einem Adler mit goldenen Flügeln (un’aguglia nel ciel con penne d’oro; Purg. X, 20) zum Himmel emporgehoben wird, der allegorisch für das göttliche Eingreifen steht (Purg. IX, 19–33).22 Dieses Motiv wird bei Chaucer ebenso wie im ersten Morgentraum Dantes thematisiert. Denn als der Erzähler gegen den Himmelsflug protestieren will, erfährt er vom Adler, daß dieser auf Jupiters Geheiß handelt (HF II, 605–613): [. . .] „Now wel“, quod he, „First, I, that in my fet have the, Of which thou hast a fere and wonder, Am dwellynge with the god of thonder, Which that men callen Jupiter, That dooth me flee ful ofte fer To do al hys comaundement. And for this cause he hath me sent To the. [. . .].
Während des Fluges ermahnt der Adler den Dichter mehrmals, keine Angst zu haben; ähnlich wie Dante häufig von Vergil ermutigt wird, so etwa: „Non aver tema“, disse il mio segnore;/„fatti sicur [. . .]“ (Purg. IX, 46 f.), um nur ein Beispiel zu nennen.
19 Dies kommt v. a. in Par. XVIII zum Ausdruck, wo Dante sieht, wie sich die Seelen in Form eines Adlers anordnen: la testa e ’l collo d’un’aguglia vidi/rappresentare a quel distinto foco (Par. XVIII, 107 f.). In Par. XIX und XX wird das Thema der Gerechtigkeit fortgeführt. 20 Diese Bedeutung hebt Anna Maria Chiavacci Leonardi bei der Interpretation des ersten Morgentraumes (Purg. IX, 19–33) hervor (Purgatorio, hrsg. v. Chiavacci Leonardi, Introduzione al Canto IX, S. 258). 21 Das Haus der Fama, übers. v. Düring, Einleitung, S. 133. 22 Cf. auch Taylor, Chaucer reads ,The Divine Comedy‘, S. 20–23.
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In den Gesprächen zwischen Chaucer und dem Adler wird auch auf frühere bekannte Jenseitsreisen angespielt23; ebenso wie Dante in Inf. II zunächst Äneas (di Silvïo il parente; Inf. II, 13) als Beispiel für eine Höllenfahrt und später Paulus (lo Vas d’elezïone; Inf. II, 28) evoziert, der eine Entrückung in den Himmel repräsentiert.24 Dante fühlt sich nicht berufen, diesen großen Vorbildern zu folgen: Io non Enëa, non Paolo sono (Inf. II, 32). Chaucer übernimmt genau seine Formulierung, allerdings nennt er andere Jenseitsreisende als Dante (HF II, 588 f.): I neyther am Ennok, ne Elye, Ne Romulus, ne Ganymede,
Dennoch behält Chaucer Dantes Bezugsrahmen, indem er sowohl Beispiele aus der klassisch-heidnischen Mythologie, als auch aus der Bibel anführt. Chaucer multipliziert die bei Dante genannten exempla gewissermaßen mit zwei, da er jeweils zwei Beispiele bringt, wo Dante nur eines erwähnt: Ennoch und Elias als Figuren aus dem Alten Testament anstelle von Paulus aus dem Neuen, Ganymed und Romulus statt Äneas als mythologische Gestalten. Auch die Anrede mit Namen hat eine unmittelbare Entsprechung in der Divina Commedia: In Purg. XXX, 55 wendet sich Beatrice direkt an den Dichter mit den Worten Dante, perché Virgilio se ne vada, während der Adler den Erzähler in HF II, 729 mit Geffrey anspricht. Dies ist ein weiteres Indiz dafür, daß der Vogel Jupiters analog zu den Führergestalten Dantes als Begleiter und Mentor des träumenden Dichters fungiert.25 Das Ziel ihres Fluges ist das Haus der Fama, wo Geffrey für die Mühen des Dichtens entlohnt werden soll (HF II, 661–666): And therfore Joves, thorgh hys grace, Wol that I bere the to a place Which that hight the Hous of Fame, to do the som disport and game, In som recompensacion Of labour and devocion
Den Großteil des zweiten Buches nehmen Dialoge zwischen dem Dichter und dem Adler ein, die vielfach an die Gespräche zwischen Dante und Vergil erinnern26: Auf die Fragen des Ich-Erzählers hin bereitet ihn der Adler auf das vor, was ihn im House of Fame erwartet (Buch II).
23 Bei der Gestaltung der Himmelsreise hat Chaucer sich nicht nur an Dante, sondern auch an Boethius, Alanus ab Insulis und Martianus Capella orientiert (so Taylor, Chaucer reads ,The Divine Comedy‘, S. 36). 24 Chiavacci Leonardi, Kommentar zu Inf. II, 28. Cf. 2 Kor. 11, 19–33; 12, 1–9. 25 Boitani, What Dante meant to Chaucer, S. 118 f. Cf. auch Neuse, Chaucer’s Dante, S. 37. 26 Cf. Neuse, Chaucer’s Dante, S. 28.
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Nach der Ankunft im Haus der Fama trifft der Dichter viele Erzähler und Spielleute an, die der Ruhmesgöttin huldigen (HF III, 1405 f.): Heryed be thou and thy name, Goddesse of Renoun or of Fame
Denn Fama ist sowohl für einen guten Ruf, den sie nach Gutdünken gewährt oder verweigert, als auch für Gerüchte und Neuigkeiten aller Art zuständig. Mit ihrer Willkürlichkeit hat die Fama auch Züge der boethianischen Fortuna.27 Die Bittsteller sind eine satirische Anspielung auf die verschiedenen „Seelenkategorien“28, denen Dante in den drei Jenseitsreichen begegnet, und parodieren diese.29 Die Ruhmesgöttin sitzt auf einem Thron, vor welchem vier Tiere stehen – eine eindeutige Anspielung auf die Apokalypse30, die auch explizit erwähnt wird (HF III, 1383–1385): Or weren on the bestes foure That Goddis trone gunne honoure, As John writ in th’Apocalips.
Außerdem entdeckt der träumende Dichter im Haus der Fama Standbilder antiker Dichter, u. a. Homer (HF III, 1477), Vergil (HF III, 1483), Ovid (HF III, 1487) und Lukan (HF III, 1499). Diese verweisen auf Dantes Limbus, wo sich die gelehrten Heiden aufhalten, u. a. ebenfalls Homer (Inf. IV, 88), Ovid und Lukan (Inf. IV, 90); außerdem nennt Dante noch Horaz (Inf. IV, 89). Gleichzeitig fällt hier ein Unterschied zur Divina Commedia ins Auge: Während der Florentiner die Begegnungen mit den Seelen lebendig schildert, bleibt Chaucer ein „spectator and outsider among the statues.“31 Geffrey selbst hält sich im Hintergrund und wird später von einem Unbekannten zu einem anderen castel (HF III, 1919) gebracht, das an das Labyrinth des Dädalus erinnert (HF III, 1920 f.). Dieses dreht sich und ist von Lärm erfüllt (HF III, 1925–1927): This queynte hous aboute wente, That never mo hyt stille stente. And therout com so gret a noyse
Chaucer parodiert32 hier offensichtlich die kreisende Bewegung des Universums, die Dante am Ende des Paradiso wahrnimmt (Par. III, 143–145); der Lärm scheint jedoch eher die Hölle zu evozieren (Inf. III, 25–28): 27
Schless, Chaucer and Dante, S. 34 f. Das Haus der Fama, übers. v. Düring, Einleitung, S. 134. 29 Neuse, Chaucer’s Dante, S. 28. Cf. zum Humor Chaucers auch Schless, Chaucer and Dante, S. 32 f. und S. 35 f. 30 Apk. 19, 4. 31 Neuse, Chaucer’s Dante, S. 29. 32 Cf. Genette, Palimpsestes, S. 23–32. 28
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VIII. Exkurs: „Re-Profanierung‘‘ der allegoria dei teologi Diverse lingue, orribili favelle, parole di dolore, accenti d’ira, voci alte efioche, e suon di man con elle facevano un tumulto, [. . .]
In diesem Haus der Gerüchte, von Neuse auch einmal als „House of Aventure“ bezeichnet33, sieht Geffrey alle möglichen Aspekte des menschlichen Lebens (HF III, 1959–1974), welche ihm neuen Stoff (tydynges; HF III, 1957 et passim) zum Dichten verschaffen. „Chaucer is now prepared to sing not only of love, but also of all aspects of the natural, animal and human world.“34 Dort begegnet er auch dem Adler wieder und vertraut sich erneut seiner Führung an (HF III, 1990; 1993–2001). Der Adler zeigt ihm das Gebäude, schließlich bricht das Werk unvollendet ab mit dem schwer zu deutenden Hinweis auf einen angesehenen Mann35 (Buch III). Die genannten Beispiele mögen genügen, um zu zeigen, wie Dantes Allegorien aus einem religiösen Kontext wieder in einen säkularen Zusammenhang überführt werden. Dabei übernimmt Chaucer offensichtlich Elemente aus der Divina Commedia und parodiert diese, wie etwa die soeben erwähnte Drehbewegung.36 Besonders bemerkenswert ist die Thematik der göttlichen Intervention und der Himmelsreise, welche bei beiden Dichtern eng zusammenhängen. Damit ergibt sich auch eine Parallele, was ihre „Sendungsidee“ betrifft. Bei Chaucer geht es nicht um die Ewigkeit, aber seine Situation ist gewissermaßen analog zu der Dantes: Trotz der Widrigkeiten des Lebens will er „dem von ihm gewählten Dichterberufe treu [. . .] bleiben“37 und wird durch die Reise zum Haus der Fama darin bestärkt. Während Dante auf Betreiben Beatrices hin die göttliche Gnade der Jenseitsvision zuteil wird, erfährt Chaucer das Eingreifen Jupiters in sein Leben in Gestalt des Adlers, der zu ihm geschickt wird, um ihn auf seiner Reise in die Lüfte zu begleiten. Dieser Adler Chaucers ist, so könnte man sagen, aus verschiedenen von Dante stammenden allegorischen Elementen kombiniert. Zum einen steht er an der Stelle Vergils, ist daher Führer und Mentor. Zugleich symbolisiert er wohl ebenfalls die Ratio, eine höhere (aber nicht übernatürliche) Vernunft, die den Dichter anleitet. Zum andern steht er wie bei Dante für göttliche Hilfe; allerdings handelt es sich um den heidnischen Jupiter und nicht um den christlichen Gott – auch dies ein Beispiel für die Reprofanierung der Allegorie bei Chaucer.
33 34 35 36 37
Neuse, Chaucer’s Dante, S. 35. Boitani, What Dante meant to Chaucer, S. 118. A man of gret auctorite (HF III, 2158). Cf. Neuse, Chaucer’s Dante, S. 26. Das Haus der Fama, übers. v. Düring, Einleitung, S. 133.
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Der allegorische Sinn von The House of Fame ist damit rein profaner Natur, er bezieht sich nur auf das eigene Leben des Dichters, der sich Gedanken über seine Kunst und sein Schaffen macht.38 „[. . .] despite the eagle’s energetic flight we seem not to have left earth at all.“39 Während Dante den status animarum post mortem sichtbar macht, geht es für Chaucer darum, seinen eigenen status als Dichter zu zeigen, und zwar auf das Diesseits bezogen. Seine Reise führt ihn zwar in den Himmel, aber nicht explizit ins Jenseits, er begegnet nicht den Seelen der Verstorbenen. „Geoffrey is denied the ,trasumanar‘, the passing beyond humanity that Dante undergoes in Paradiso, I.“40 Chaucer bleibt somit ein Außenstehender, seine „Himmelsreise“ bringt ihn nicht in persönlichen Kontakt, sei es mit Seelen Verstorbener, sei es mit anderen Dichtern, die als seine Vorbilder dienen könnten. Die Gruppe berühmter Dichter des Altertums etwa erblickt er nur als Statuen. Dante dagegen ist in ein lebendiges Geschehen eingebunden: Bei den Begegnungen mit den Seelen in den drei Jenseitsreichen lernt er diese gleichsam in ihrem innersten Wesen und Charakter kennen, denn deren jeweiliger status post mortem ist ja dadurch bestimmt, wie sie auf Erden gelebt und gehandelt, wie sie sich verhalten haben. Die Zusammentreffen mit den vielen verschiedenen Repräsentanten in der Hölle, auf dem Läuterungsberg und im Himmel sind zwar sehr individuell gestaltet: der Leser erlebt sie aus der subjektiven Sicht des Florentiner Dichters aus dem 13./14. Jh. mit. Vor allem kommt dies natürlich in den Begegnungen mit den Figuren zum Ausdruck, die für Dante persönliche Bedeutung haben, etwa seine Jugendfreunde Karl Martell oder Forese Donati, sein Urahn Cacciaguida oder auch sein Dichtervorbild Guido Guinizelli. Zum anderen hat die Divina Commedia aber auch eine durchaus universelle, man könnte fast sagen „globale“ Komponente. Dantes „Sendung“ dient nicht nur ihm selbst, nicht er allein soll zum Heil geführt werden. Denn seine eigene fingierte Jenseitsreise soll die ganze Menschheit auf ihr eschatologisches Ziel hinführen. Dazu setzt Dante konkrete sprachliche Bilder in einem religiösen Zusammenhang ein, um erhabene Tatsachen wie etwa Gottes Gnade, die helfend ins menschliche Leben eingreift, zu veranschaulichen. Diese Bilder, beispielsweise den Adler, führt Chaucer nun in einen irdischen Kontext zurück, geht es ihm doch nicht um theologische, sondern um poetologische Themen – aus der allegoria dei teologi ist hier wieder eine allegoria dei poeti geworden.
38 39 40
Boitani, What Dante meant to Chaucer, S. 120; siehe auch S. 124–126. Neuse, Chaucer’s Dante, S. 28. Boitani, What Dante meant to Chaucer, S. 120.
Resümee Zu dem Zeitpunkt, da Dante in seinem Convivio den Dichtern eine andere Art der Allegorie zuschrieb als den Theologen, war dieses Genre längst fest in der profanen Literatur etabliert, obwohl es sich ursprünglich aus der christlichen Tradition entwickelt hatte; Prudentius mit seiner Psychomachia war hier ein wichtiger „Meilenstein“. In diesem christlichen Kontext sind auch die Allegorien des Alanus ab Insulis anzusiedeln, allerdings sind diese stark von platonischem Gedankengut durchdrungen. Wir haben dies vor allem anhand des Anticlaudianus exemplifiziert: Allegorische Verkörperung von irdischem Wissen und übernatürlicher Erkenntnis sind Hauptgegenstand der Werke aus dem Umkreis der Schule von Chartres. Das herausragendste Werk der weltlichen allegorischen Literatur ist dagegen der Rosenroman: Auf ihn trifft Dantes Definition von der veritade ascosa sotto bella menzogna voll und ganz zu. Die allegorischen Schemata der Vorgänger, etwa die Personifikationen, werden profaniert, da sie nicht mehr christliche, sondern höfische Tugenden verkörpern. Die Wahrheit, die hier allegorisch hinter der Erzählung verhüllt ist, zielt auf die Einweihung des Protagonisten – und des Lesers – in die höfische Liebe ab, vor allem im ersten Teil von Guillaume de Lorris. Auch der zweite Teil von Jean de Meun bewegt sich in dieser Thematik, bezieht allerdings philosophische Elemente mit ein und hebt somit die Liebeslehre auf eine höhere, universale Ebene. Der italienische Imitator des Roman de la Rose hat dagegen seinerseits die Unterweisung in der Liebe wieder mehr ins Zentrum gerückt, wenngleich auch mit einem unüberhörbaren komisch-satirischen Unterton. Ebenso wie das französische Original stehen Il Fiore und Il Detto d’Amore in der Tradition der allegoria dei poeti, allerdings mit einigen Unterschieden zum Rosenroman, die nicht zuletzt die Rose selbst betreffen. Mit der Vita Nova befinden wir uns gleichsam in einer Art Übergangsstadium zwischen der profanen Allegorie der Dichter und der religiösen allegoria dei teologi. Zu Beginn dieses Jugendwerks von Dante steht die Herrschaft des Liebesgottes Amor über den liebenden Dichter im Zentrum, wie bei den Stilnovisten üblich. Amor ist offensichtlich eine allegoria dei poeti. Doch nach und nach rückt Beatrice, die Geliebte selbst, in den Vordergrund. Ihr Name bedeutet „Heilbringerin“, sie ist für Dante donna della salute. Doch was ist salute? Hatte Dante zunächst auf die Eingebungen Amors hin gedichtet, wird es nun mehr
Resümee
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und mehr Beatrice selbst, die ihn inspiriert, denn Dantes beatitudine ist es geworden, zum Ruhme Beatrices zu dichten. Er tut dies, indem er sie als „Wunder“ feiert, das Gott selbst auf die Erde gesandt hat, um dem Liebenden Heil (salute) zu bringen. Damit erhält Beatrice eine erste übernatürliche Komponente. Durch ihren Tod – Dante sieht in einer Vision ihre Seele in den Himmel aufsteigen – wird auch Dantes Liebe zu ihr auf eine noch höhere, spirituelltranszendente Ebene gehoben: Da seine Gedanken sie im Himmel bei Gott suchen, verschmilzt Dantes Liebe zu ihr gleichsam mit der Gottesliebe, der caritas. Die Vita Nova bildet gewissermaßen eine erste Station auf dem Weg zur Resakralisierung der Allegorie. Damit ist der Weg für die Jenseitsreise der Divina Commedia bereitet. Beatrice selbst ist es, angeleitet von der Heiligen Lucia und der Jungfrau Maria, die Dante diese Gnade vermittelt. Durch ihre, Beatrices, Intervention erhält Dante die Möglichkeit, die aufgrund ihrer Sünden auf ewig in die Hölle verbannten Seelen zu erblicken. Dies führt ihn zur Reue über seine eigenen Sünden, von denen er auf dem Läuterungsberg gereinigt wird, so daß er ohne Schuld unter Führung Beatrices in die Herrlichkeit des Paradiso eingehen kann. Die Divina Commedia spielt sich in einem christlichen Kontext ab. Wir haben versucht zu zeigen, wie sich der vierfache Schriftsinn auf das ganze Werk anwenden läßt. Der sensus litteralis besteht in den historisch geschilderten Seelenbegegnungen, die Methode der fiktiven Historizität durchzieht das ganze Werk. Auf dieser Darstellung des wörtlichen Sinnes bauen die drei weiteren sensus auf, wie anhand der Beispiele gezeigt wurde. Konkrete Gestalten, deren historische Existenz ihren sensus litteralis ausmacht, erhalten einen zusätzlichen sensus allegoricus, und hierbei handelt es sich wieder um die von Singleton prägnant so bezeichnete „allegory of ,this and that‘“1, eben um die allegoria dei teologi. Wie wir gesehen haben, finden sich in der Divina Commedia auch einige Anklänge an die profane Tradition der allegoria dei poeti: die drei wilden Tiere in Inf. I oder das Symbol des Adlers in Par. VI und XVIII, um nur wenige Beispiele zu nennen. Auch die donna santa e presta (Purg. XIX, 26) aus dem zweiten Morgentraum und Matelda im Irdischen Paradies (Purg. XXVIII–XXXIII) tragen bestimmte Züge einer allegoria dei poeti: Erstere bleibt abstrakt, sie ist nicht historisch; letztere hat viele Merkmale der Minneallegorie an sich. Am bedeutsamsten in dieser Reihe erscheint die Sakralisierung der Rose des Rosenromans in der Himmelsrose der Seligen (Par. XXX–XXXIII). Dante fügt somit die Elemente der allegoria dei poeti in das Gesamtsystem der Divina Commedia ein und teilt ihnen eine Funktion innerhalb der allegoria dei teologi zu. Er nimmt also die allegoria dei poeti in sein neues System auf 1
Singleton, Two Kinds of Allegory, S. 89.
264
Resümee
und überhöht bzw. resakralisiert diese, indem er ihr einen Platz innerhalb der allegoria dei teologi zuweist: Die wenigen poetischen Allegorien, die vorkommen, werden ein Teil des allegorischen Gesamtprinzips Dantes, das im Ganzen der allegoria dei teologi entspricht. Chaucer verfährt im House of Fame gewissermaßen umgekehrt, indem er einige Elemente aus Dantes allegorischem System herausgreift, etwa die Himmelsreise, und diese wieder in einen profanen Zusammenhang einbringt. Die Divina Commedia ist zwar Dichtung, aber sie ist ein poema sacro/Al quale ha posto mano e cielo e terra (Par. XXV, 1 f.). Der „Anteil“ der Erde ist der Dichter Dante selbst, der die Geheimnisse, die er im Jenseits gesehen hat, in menschliche Sprache bringt. Das „Mitwirken“ Gottes besteht zum einen in der Gnade, die Dante eben in der Offenbarung der drei Jenseitsreiche zuteil geworden ist, zum anderen in der göttlichen Inspiration, die ihm erst die Worte eingibt, mit denen er das Gesehene in Worte kleidet. Hier beschreitet Dante den kühnen Weg zum poeta vates. Unübersehbar bleibt eine gewisse Spannung zwischen dem theologischen Modell bei Thomas von Aquin und dem dichterischen Modell Dantes im Schreiben an Cangrande und vor allem in der Commedia. In eben dieser dichterischen Wiedergabe des poema sacro liegt auch Dantes Sendung, hat er doch die Wanderung durch Inferno, Purgatorio und Paradiso stellvertretend für alle Menschen unternommen. Jedem seiner Leser soll daher der Einblick in die ewigen Strafen, die Reue über ihre Sünden und dadurch das ewige Seelenheil ermöglicht werden. Daraus geht klar hervor, daß der Litteralsinn hier keine bella menzogna beinhalten kann, auch wenn die Divina Commedia ein poema ist. An die Stelle der schönen Lüge ist eine verhüllte Wahrheit getreten – und diese verweist auf die eschatologische Bedeutung von Dantes Wanderung für die gesamte Menschheit, für uns und nostra vita (Inf. I, 1): Finis totius et partis esse posset et multiplex, scilicet propinquus et remotus; sed, omissa subtili investigatione, dicendum est breviter quod finis totius et partis est removere viventes in hac vita de statu miserie et perducere ad statum felicitatis. (Ep. XIII, 39)
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Namenregister Kursive Seitenzahlen verweisen auf Fundstellen in Fußnoten. Agamben, Giorgio 105–107, 150, 214, 272 Alanus ab Insulis/Alain de Lille 7, 14 f., 24, 26 f., 43, 45 f., 48–50, 52 f., 60–70, 72–84, 91, 100, 104 f., 108 f., 189, 195, 197, 233, 246–249, 252, 258, 262, 265 Albertus Magnus (Albert d. Große) 27, 119 f., 234 f., 281 f. – frate Alberto 118–120, 130 f. Alighieri, Dante 7, 13 f., 16, 21, 25, 29, 30–40, 45, 52, 57, 58 f., 67, 73, 82, 84, 99 f., 111–125, 128 f., 131, 132, 134 f., 139, 143–193, 194–251, 252– 261, 262–264, 265, 267–269, 272–285 d’Alverny, Marie-Thérèse 60, 83, 266 Aquin, Thomas v., s. Thomas v. Aquin, Hl. Aristoteles 63, 76 f., 150, 163, 195 Auerbach, Erich 19, 195 f., 200, 203, 207, 228, 230, 272 Augustinus, Aurelius 14, 18–21, 25 f., 40, 49, 54, 63, 165, 233, 235, 242 Baran´ski, Zygmunt G. 115, 272, 277 Barbi, Michele 144, 151, 154, 245, 267, 272 Bassermann, Alfred 113, 116, 129, 269, 272 Batany, Jean 90, 94, 272 Baumgartner, Matthias 61, 273 Beatrice 67, 124, 143, 145–152, 154– 193, 194, 199 f., 216, 218, 220–222, 224–229, 232–235, 237–241, 246–249, 251, 258, 260, 262 f., 277, 281–283 Beda Venerabilis 14, 23, 25 f., 40, 235
Beierwaltes, Werner 45 f., 81, 233, 273 Benedetto, Luigi F. 116, 140, 273 Bernardus Silvestris 49–53, 61, 63, 68, 79, 105, 266 Bernhard v. Chartres 49 Bernhard v. Clairvaux, Hl. 55, 165, 199, 221, 239–243, 246, 248–250 Boethius, Anicius Manlius Severinus 41, 45 f., 48, 61, 65, 70, 74, 85, 143, 150, 181, 185, 235, 252, 258, 267 Boitani, Piero 252, 253, 255, 258, 260 f., 273 Bolton Holloway, Julia 189, 273 Bonaventura, Hl. 27, 72, 233, 235, 267 Bossard, Eugène 197, 246–248, 273 Bossuat, Robert 60, 70, 75, 82, 84, 265 Brague, Rémi 7, 273 Branca, Vittore 146, 151, 175, 181, 188, 192, 273, 281 Brinkmann, Hennig 17 f., 25, 50 f., 56, 61, 63, 84, 273 Cangrande della Scala 15, 30, 34 f., 37, 39, 189, 194, 198, 208 f., 236, 244 f., 264, 268, 277, 282 Capellanus, Andreas 59, 122, 266 Carrai, Stefano 59, 143, 145, 147 f., 150, 154, 159, 162, 174 f., 181, 183, 189, 191 f., 274 Casciani, Santa 112–116, 134, 136, 138 f., 269 Castets, Ferdinand 111 f., 113–115, 116 f., 118 f., 120, 269 Cavalcanti, Cavalcante 203 Cavalcanti, Guido 59, 124, 135, 154, 160, 162, 169, 175, 203, 269
Namenregister Chaucer, Geoffrey 7, 45, 67, 189, 215, 233, 252–261, 264, 267, 273 f., 276, 283 f. Chiavacci Leonardi, Anna M. 195, 199, 201, 213, 216, 218, 221, 224, 226, 228, 238 f., 248, 257 f., 268 Chydenius, Johan 26, 274 Cicero, M. Tullius 18, 52, 76 f., 79, 89, 185, 216, 230 Claudianus, Claudius 41, 43, 70 Contini, Gianfranco 45, 59, 111 f., 113– 121, 124, 134, 135, 144, 154, 161, 169, 250, 267–269, 274 Curtius, Ernst R. 13, 31, 42–45, 52, 60, 64, 223, 275 Dahan, Gilbert 25–27, 66, 69, 275 Dante, s. Alighieri, Dante De Robertis, Domenico 118, 144, 150– 155, 159 f., 169, 171, 178, 189, 267– 269, 275 Dionysius Areopagita 21, 233, 235, 238, 271 Durante 111, 112, 114, 117, 123, 128, 132, 269 Freccero, John 226, 275 Friedrich, Hugo 135, 145 f., 161, 201, 245, 272, 275, 284 Fuhrmann, Manfred 17, 43, 45, 275 Genette, Gérard 16, 259, 276 Gigon, Olof 46 f., 265, 267 Gilbert v. Poitiers 49 Gilson, Etienne 31, 99, 208, 276 Gmelin, Herrmann 34, 195–207, 210 f., 216 f., 219–222, 226, 228 f., 234, 237, 240 f., 268 Gnilka, Christian 42, 195, 220, 276 Gorni, Guglielmo 117, 120, 132, 143, 144, 146–148, 150, 152, 153–155, 159, 162 f., 171, 175, 177, 180, 182, 184, 186, 189, 191 f., 268, 276 Guardini, Romano 57 f., 188, 195–197, 200, 229, 232, 237, 276 Guillaume de Conches 49 f.
287
Guillaume de Lorris 14 f., 45, 54, 58, 85–91, 94, 99–104, 106, 108–110, 114 f., 117, 122, 125, 133, 140, 223, 262, 270, 277 f., 284 Guinizelli, Guido 59, 124, 153, 160 f., 175, 220, 261, 278 Guittone d’Arezzo 135, 270 Gunn, Alan 91, 106, 108 f., 133, 276 Halfwassen, Jens 71, 82, 276 Häring, Nikolaus 61, 64 f., 67, 265 Haug, Walter 17–20, 21, 33, 50, 68, 71 f., 276 f., 279 f. Hausmann, Frank-Rutger 31, 59, 133 Hempfer, Klaus W. 145, 152, 153, 159, 277, 284 Heraklit 21 Hesiod 13, 22, 41 Hollander, Robert 30, 143–148, 160 f., 163, 165, 218, 245, 277 Homer 13, 22, 41, 58, 200, 259, 279 Horaz (Qu. Horatius Flaccus) 46 f., 164, 200, 215, 259 Hugo v. St. Victor 23, 26, 30, 235 Huizinga, Johan 60–63, 67, 70–72, 74, 277 Hult, David F. 94, 102, 277 Ineichen, Gustav 88, 92, 94, 95–97, 270 Isidor v. Sevilla 23, 235 Jauss, Hans Robert 41 f., 43, 44 f., 49, 53–59, 68, 71, 89, 93, 98, 100, 111, 126, 163, 245, 277 f. Jean de Meun 14 f., 45, 52 f., 58, 64, 85 f., 99, 101–103, 105–110, 114 f., 120, 127 f., 132 f., 140 f., 262, 270, 284 f. Johannes Cassianus 24 Johannes Chrysostomos 24 Johannes de Altavilla 49, 52 f., 270 Johannes d. Täufer, Hl. 150, 162, 219, 242 Johannes d. Evangelist, Hl. 178, 242
288
Namenregister
Jung, Marc-René 42, 44, 49, 51–53, 62 f., 64, 74, 83 f., 91, 94–96, 278 Kablitz, Andreas 59, 169, 171, 178, 209, 213, 248, 278 Kapp, Volker 7, 31, 59, 133, 278 Kleinhenz, Christopher 112–116, 134, 136, 138 f., 269 Klingner, Friedrich 45, 278 Köhler, Erich 41, 278 Köhler, Johannes 66, 265 Krüger, Manfred 85, 104, 270 Kurz, Gerhard 19, 21, 54, 94, 279 Lamberton, Robert 22, 279 Langlois, Ernest 85, 110–112, 270, 279 Latini, Brunetto 111, 116, 119, 139, 204, 278 Lausberg, Heinrich 17, 279 Lecoy, Félix 85, 101, 270 Lewis, Clive S. 13, 41, 44, 58, 63, 94 f., 101, 163, 219, 279 Lieberknecht, Otfried 30–32, 37–40, 279 Lorris, Guillaume de, s. Guillaume de Lorris Lotman, Jurij M. 175, 196, 279 Lubac, Henri de 23 f., 26, 30, 50, 73, 79, 279 Lucia, Hl. 199 f., 213, 216, 218, 221, 242, 263 Lukan 164, 200, 259 Macrobius 31, 79, 89 Marchiori, Claudio 117, 126 f., 131, 138, 269 Maria, Hl. 52, 76, 84, 171, 175, 179, 181, 184, 187, 195, 199, 219, 221, 226, 237, 240–243, 249 f., 263, 273 Marie de France 17, 53, 57 f., 270 Martianus Capella 41, 44 f., 49, 62, 70, 81, 258, 270 Matelda 217, 221–224, 228 f., 248, 263
Mattalìa, Daniele 212, 215, 216, 221, 268 Mazzotta, Giuseppe 204, 229, 280 McKenzie, Kenneth 147, 156, 280 Meier, Christel 56, 66, 68, 72, 78, 280 Meun, Jean de, s. Jean de Meun Monaci, Ernesto 111, 112, 114, 280 Morpurgo, Salomone 134, 269 Nardi, Bruno 144, 280 Narziß 86, 88, 92 f., 105 f. Nitzsche, Jane Ch. 63 f., 104, 280 Ochsenbein, Peter 48, 70, 74, 80, 81, 83, 281 Odysseus 52, 77, 206, 208, 216 Ohly, Friedrich 19, 33, 40, 53, 270, 281 Origenes 22, 23 f., 26 Orpheus 32 f., 37, 226 Oster, Patricia 210, 281 Ott, Karl August 85, 109, 111, 270, 281 Ott, Ludwig 29, 281 Ovid (P. Ovidius Naso) 32, 50, 58, 86, 92 f., 101, 106, 128, 164, 192, 200, 215, 259, 271 Parodi, Ernesto G. 31 f., 113, 116, 120, 134, 267, 269 Pasquini, Emilio 202, 212 f., 215, 220 f., 268 Paulus, Hl. 19, 22, 27, 36, 42, 57, 72, 258 Pazzaglia, Marco 143 f., 146–148 Peirone, Luigi 115, 116, 281 Pépin, Jean 13, 21–24, 29–31, 36, 200, 229 f., 245, 281 Philon v. Alexandria 21, 22–24, 281 Picone, Michelangelo 143, 146–148, 192, 281 Pietrobono, Luigi 144, 281 Pindar 41 Platon 31, 46, 49 f., 52, 61, 63, 71 f., 75, 77, 81–83, 149 f., 233, 263, 265, 271, 276 f. Plotin 71, 233, 276
Namenregister Poirion, Daniel 55, 85, 89, 101 f., 109 f., 270, 282 Prudentius (Aurelius Prudentius Clemens) 14, 41 f., 262, 276 f. Pseudo-Dionysius Areopagita, s. Dionysius Areopagita Pygmalion 105–107 Quaglio, Antonio 202, 212 f., 215, 220 f., 267 f. Quintilian (M. Fabius Quintilianus) 18, 25, 41, 79, 271 Raynaud de Lage, Guy 60 f., 63–65, 70, 80, 83, 282 Regn, Gerhard 143, 145 f., 152, 156, 162, 166, 168, 170, 171 f., 177 f., 192, 226, 239, 282, 284 Reinhardt, Karl 13, 21 f., 41, 282 Reventlow, Henning Graf 22–25, 282 Richard v. St. Victor 23, 235 Richards, Earl Jeffrey 113 f., 118, 282 Ricklin, Thomas 7, 30–32, 33–35, 37, 39, 119, 230, 267 f., 282 Rossi, Luca Carlo 145, 152, 155, 157, 177, 184, 188–190, 192, 268 Scala, Cangrande della, s. Cangrande della Scala Seitschek, Hans Otto 7 f., 71 Sheridan, James J. 60, 65, 67, 265 f. Singleton, Charles S. 38, 146, 147 f., 159, 160–163, 165–168, 175–178, 181, 183, 186, 218, 222, 224, 245, 263, 268, 277, 283 Smalley, Beryl 22–26, 283 Spitzer, Leo 149, 159, 172, 283
289
Statius (P. Papinius Statius) 41, 50, 58, 219 f., 271 Stierle, Karlheinz 200, 206, 214, 283 Stolz, Michael 7, 70, 73, 76 f., 79, 84, 283 Strubel, Armand 18–20, 25 f., 41, 44 f., 49, 52 f., 54, 56, 58, 61, 69, 85, 103, 106, 109 f., 270, 284 Teuber, Bernhard 7, 14, 17, 19, 22, 38, 41, 53, 93 f., 280, 284 Thierry v. Chartres 49 Thomas v. Aquin, Hl. 25, 26–31, 33, 36, 38 f., 73, 119, 194 f., 232, 234 f., 243 f., 264, 271, 282 Took, John 112, 113, 114 f., 116, 117– 119, 121, 123 f., 126, 129, 131, 146, 160, 177, 269, 284 Vanossi, Luigi 111, 116 f., 122–125, 128 f., 131 f., 135–141, 284 Vergil (P. Vergilius Maro) 13, 50–52, 57 f., 76 f., 134, 164, 192, 199–207, 209 f., 213 f., 216–222, 225–227, 230, 239, 241, 246–249, 256–260, 272 Vinken, Barbara 7, 201, 206, 284 Warning, Rainer 152, 156, 161, 166, 169, 171, 175, 178, 209, 278, 284 Wehle, Winfried 150, 157, 159, 162, 166, 175, 248, 278, 284 Wetherbee, Winthrop 46, 49–53, 61, 68, 108, 266, 285 Wunderli, Peter 112 f., 114, 116, 285 Zumthor, Paul 41, 49, 88, 101, 106, 108 f., 285
Sachwortregister Kursive Seitenzahlen verweisen auf Fundstellen in Fußnoten. abstracta 13 abstrakt 15, 17, 41, 43, 49, 99, 131, 160 f., 174, 185, 207, 216–218, 224, 230, 246, 248 f., 263 Abstraktion 44, 95 Adler 213, 228, 234, 236 f., 249, 257 f., 260 f., 263 aktiv 77, 160, 198, 200, 221, 224, 232 – vita activa 220 f., 224, 232, 236 f., 249 allegoria/Allegorie/Allegory 13–15, 17– 19, 23–27, 30, 32, 35, 37–41, 43, 47 f., 54, 56, 64, 68–70, 73, 75, 80, 82 f., 85 f., 88, 94, 97–101, 103 f., 108, 110 f., 113, 122 f., 127, 129, 130, 133, 138, 140 f., 143, 149, 158, 161 f., 164, 173 f., 177, 185, 194, 199, 201– 209, 212, 216, 218, 220, 224, 230 f., 247, 260, 262 f. – allegoria dei poeti, poetische A. 14, 30, 39 f., 60, 85 f., 88, 110 f., 131, 133, 141, 156, 158, 161, 164, 174, 185, 193, 216 f., 224, 244, 261–264 – allegoria dei teologi, theologische A. 14, 30, 39 f., 198, 244 f., 252, 261–264 – allegoria in facto/factis 14, 17, 19, 23, 25 f., 38, 40 – allegoria in verbis 14, 17, 19, 25, 38, 40 – Blumen- 141 – Minne- 54, 58 f., 98 f., 125, 222 f., 263 – Personifikations- 14, 41, 46, 68, 115, 127, 150, 246 – profane A. 15, 85, 251, 262 – Traum- 90
allegorisch 7, 13, 16, 18–20, 22 f., 25, 35 f., 38, 40, 42 f., 50 f., 53–57, 59, 62, 65, 68 f., 75, 79 f., 83, 88–91, 93, 98, 100 f., 104, 109, 111, 118, 123 f., 131 f., 140, 149, 153, 198 f., 203 f., 207 f., 212–216, 218, 220, 224 f., 228 f., 231 f., 237, 244, 247, 250, 255, 257, 260, 262, 264 – Bedeutung 36, 54, 117, 146, 152, 198, 207, 244 – Darstellung 44, 64, 69 – Deutung 35, 37 – Dichtung/Gedicht 14 f., 41 f., 49 f., 111 – Drama 95, 99, 179, 228 – Einkleidung/Verkleidung, s. integumentum – Festung 43, 87, 99, 101–106, 127– 129, 131 f., 137, 141 – Figur, Gestalt 44, 90, 103, 125 f., 200, 208, 216, 229, 231, 246 – Funktion 212, 216, 230 – Handlung 88, 99, 105, 108, 133 – Hochzeit 45, 53, 235 – Interpretation 22 f., 39 f. – Literatur, Werke 14, 41, 53 f., 60, 84 f., 122, 248, 262 – Methode 24, 88, 246 – Schema, System 45, 54, 70, 78, 86, 101, 107, 132, 140, 174, 200, 232, 243–245, 250, 252, 262, 264 – Schreibweise 14 f., 83 – Sinn/sensus allegoricus 14, 22, 24– 29, 31–37, 69, 75, 100, 194, 198, 208, 210, 213, 218, 243–245, 261, 263
Sachwortregister – Verfahren 207, 245 – Wissensvermittlung 74–76 Ami/Amico/Freund 87, 97, 99, 101 f., 114, 125, 128, 131–133, 135, 139, 152, 154, 162, 168, 170, 175, 177, 180, 203, 219 Amor/Amore/Liebesgott 13, 31, 55, 59, 62, 86–94, 97, 99–104, 106–108, 111, 115, 122–129, 131–140, 142, 148–175, 184–189, 192, 199, 207, 215, 225, 227, 240, 250, 262 anagogeîn 232 anagogia 30 anagogisch 191 – Sinn/sensus anagogicus 25, 27–29, 33–37, 39, 57, 168, 174, 191, 193, 208 f., 213, 218, 232–234, 237, 243 f. antik 13, 17, 21, 41 f., 46, 49 f., 59, 63, 83, 85, 105, 192, 199–201, 203 f., 206, 207–209, 219, 225 f., 248, 259 Antike (Altertum) 14, 17, 22, 53, 58, 79, 164 f., 197, 200, 202, 215, 261 – spätantik 18 f., 43, 45, 49, 58, 89, 252 – Spät- 40 f. Attribut 13, 44, 47 f., 68, 78, 125, 131, 181, 230 Aufstieg 21, 47, 71 f., 74 f., 80, 82, 189, 197, 200, 209, 213, 218, 222, 231–233, 236–238, 249, 256 Bedeutung 19, 20, 23 f., 28, 32, 49, 54, 57, 66–69, 73, 78, 79, 86, 89, 103, 107, 109 f., 119, 131, 135, 150, 153, 159 f., 174, 192, 199 f., 203, 213, 216, 224, 248 f., 261, 264 – allegorische –, s. allegorisch – übertragene – 13, 20, 24, 28, 37, 54, 88, 117, 218 – senefiance 57, 88–90, 101, 108–110 Bel Acueil/Bellacoglienza 87, 95–102, 106, 115, 125–128, 131 f., 140 Bibel, s. a. Schrift, Hl. 14, 18, 24, 26– 28, 33, 37–40, 40, 53, 69, 85, 110, 122, 131, 150, 158, 162, 174, 179, 193, 205, 220 f., 244 f., 258
291
Bild 13, 47, 62, 65–68, 71 f., 74, 77, 79, 81, 90 f., 93, 102, 106, 141, 176, 201, 204–206, 214, 228, 232–236, 238 f., 243, 250, 252, 256, 261 – sprachliches – 261 – Vor- 7, 19, 28, 42, 49, 56–58, 68, 135, 160, 165, 175, 192, 245, 248, 254, 258, 261 bildhaft 17, 196, 249 bildlich 13, 17, 21, 69, 249 Blume/fleur/fiore 15, 67, 78, 95, 105, 107, 111–141, 151, 155, 160 f., 220, 222 f., 225, 235, 250 f., 262 „Buch der Natur“ 69 Buchstabe 47 – Buchstabenebene 37, 146 – Buchstabensinn 35, 244 Buße 66, 121, 196 f., 213 f., 220, 226 f., 229–231 Bußritual 197, 209, 213, 231 Bußritus 219 büßen 200, 203, 206 Büßer, Büßender 197, 204, 207, 214, 219 f., 230 f. canzone, s. Kanzone Chartres, Schule von 26, 45, 49 f., 61, 108, 262 contrappasso 195, 197 f., 200–202, 207 f., 213 f., 219, 231 Dämon 55, 214 f. dämonisch 201 Dichtungslehre 17, 21 Dolce Stil Nuovo 59, 135, 140, 142, 144, 151, 153, 160 f., 173, 188, 225 – Stilnovisten 114, 124, 133, 153, 158, 161, 173, 181, 183, 193, 262 Dunkelheit, sprachliche 17, 21 Elysium, höllisches 200 Engel 31, 43, 52, 72 f., 124, 158, 160 f., 168, 177, 179, 183, 186, 197, 203,
292
Sachwortregister
209–214, 218–221, 225, 229–232, 238 f., 241, 246, 276 Enzyklopädie 85 enzyklopädisch 30, 82, 111 episch 41–43, 83 Epos 14, 44, 52, 70, 74, 83, 150, 256, 266, 284 Erkenntnis 21, 47, 71–75, 80, 82–84, 167, 186, 218, 233, 248, 262 Eros 72, 98, 106 Exegese 14 f., 18, 22–24, 27, 33, 37, 40, 54, 110, 193, 220 Fackel 98, 106, 126, 132 Farbe 27, 65–67, 72, 78, 156, 225, 243 Faus(-x) Semblant/Falsembiante 102, 109, 114, 119, 124, 125, 128–131, 133 Feuer 66, 73, 156, 195, 204, 207, 219 f., 248 – -himmel, s. Himmel – Fege- 29, 57, 219, 245, 249 Figur/figura 19, 21, 23, 25, 29, 43, 52, 63 f., 68, 70, 78, 88, 90, 92, 95, 100, 102–104, 108 f., 115, 125 f., 129, 133, 140, 152, 156, 164, 166, 175, 178, 184, 200–202, 207 f., 213, 217 f., 221, 223, 229 f., 232, 236, 239, 243, 246, 258, 261 – Rede-, s. Rede Fiktion 17, 50, 55, 89, 90, 100, 164, 174, 208, 244 fiktional 39 f. Fortuna 13, 46, 48, 74, 137, 259 Freund, s. Ami/Amico Garten 59, 86, 91–94, 99 f., 123, 127, 207, 222 f. Gemütszustand 13, 88, 104, 150, 166 Genius 63 f., 104 f., 108–110, 115, 133 Gerechtigkeit/iustitia 36, 175, 194, 198, 201, 203, 208, 219, 230–232, 236, 246, 249, 257
Glaube/fides 27, 29, 37, 42 f., 45, 66 f., 71–74, 80 f., 83 f., 93, 124, 129, 198, 211, 225, 235, 237, 246, 248 f. Glorie 28, 33, 35 f., 200, 209, 239 Gnade 36, 81, 103, 172, 194, 200, 207, 227, 240–242, 260 f., 263 f. – Un- 45 Heide 196, 199, 209, 229, 236, 259 heidnisch 22, 52, 57, 195, 197, 200, 209, 229, 235, 258, 260 Himmel 29, 39, 47, 57, 65–68, 72 f., 80–82, 93, 152, 154 f., 168, 171–173, 175–177, 179, 184, 186, 188 f., 191, 194, 199, 208, 211, 218 f., 221, 225, 228, 230 f., 234, 236 f., 241, 244, 246–249, 257 f., 261, 263 – Feuer- 73 – Fixstern- 72 f., 83, 195, 197, 237 f., 246 f. – Jupiter- 197, 236 – Kristall- 73, 76, 188, 195, 197, 238, 247 – Mars- 197 f., 235 – Merkur- 197, 234 – Mond- 197, 234 – Saturn- 197 f., 236 f. – Sonnen- 197 f., 234 – Venus- 197, 234 – Wasser- 73 Himmelfahrt Christi 158 – Beatrices 179 Himmelskönigin/Regina coeli 175, 240 f. Himmelskreise 188, 237 Himmelsleiter (Jakobsleiter) 237, 249 Himmelsreise 75, 80, 82 f., 189, 191, 246–248, 257, 258, 260 f., 264 Himmelsrose 197 f., 221, 238–240, 246, 249 f., 263 Himmelssphäre 45, 72 f., 188 f., 195, 224, 233, 247, 249 Himmelswagen 77, 79
Sachwortregister historisch 15, 23–26, 28, 36, 38 f., 52, 113, 173, 198, 200 f., 203, 208, 223 f., 235, 243–245, 248 f., 263 – sensus historicus 26–28, 208, 244 f. Historizität 24, 198, 207, 244 f., 263 höfisch 55, 59, 71, 74, 86–88, 91 f., 94, 100, 108, 129, 133, 136, 139–141, 151, 157, 160 f., 223, 262 – höfische Liebe, s. Liebe Hölle/Inferno 52, 57, 120–122, 147, 194–196, 198–204, 206–209, 216, 224, 227, 229, 231, 233, 235, 245 f., 249, 253 f., 259, 261, 263 f. – Vor- 199 Höllenfahrt 258 Höllenfluß, Höllenstrom 200, 203 f. Höllenkreis 196, 200, 203 f., 206 Höllenpersonal 200 Höllenstrafen 198 Höllentor 200, 202 integumentum 18, 50, 61, 80, 90, 101, 109 f., 210, 244 integumental 52, 89 involucrum 18, 50 Jenseits 56 f., 175, 199, 224, 230, 261, 264 – -erzählung 58 – -reich 195, 198, 233, 240, 245, 259, 261, 264 – -reise, -wanderung 57 f., 191, 199, 207, 218, 227 f., 239 f., 245, 258, 261, 263 – -reisender, -wanderer 32, 188 f., 208, 222, 258 – -vision 57, 236, 260
245,
247, 194, 248, 202,
Kanzone/canzone 31, 34, 135, 143, 147 f., 161, 168, 170, 174 f., 179 f., 183, 185 f., 188, 192 Kirche 23, 25, 29, 56, 175, 206, 210 f., 224 f., 228 f. Kirchenväter 18, 23, 26
293
Klage 61 f., 65, 68, 84, 87, 97, 101, 103–105, 127, 218, 235, 238 Klugheit, s. Prudencia/Prudentia konkret 14 f., 88 f., 132, 145, 207, 218, 231, 236, 240, 246, 248 Konkretisierung 13, 17, 49, 224, 234, 249, 251, 261, 263 Kontemplation 26, 166, 190 f., 198, 221, 224, 236 f., 241, 249 kontemplativ 232, 237, 240 – vita contemplativa 51, 221, 232, 241, 249 Kosmos 47, 69, 195 – Makro- 52, 68 – Mikro- 52 Kosmologie 7, 49, 52, 61, 188 Kristall 86, 92 f., 99 – -himmel, s. Himmel Kunst 13, 17, 19, 41, 42, 43, 44, 47, 56, 60, 76–79, 87 f., 94, 100–102, 128, 137, 140, 161 f., 195, 215, 233, 250, 255 f., 261 Künste, die Sieben Freien/septem artes liberales 13, 24, 26, 44, 49, 62, 72, 74–77, 80, 82 f. Laster 42–44, 51 f., 62 f., 70, 86, 91, 100, 169, 199 f., 202, 207–209, 214– 218, 232 Läuterung 197, 209, 212, 214, 219 f., 224, 227, 231 f., 240, 246 Läuterungsberg/Purgatorio 52, 58, 120, 179, 194–197, 200, 207, 209, 212– 216, 218–221, 223–225, 229, 231–234, 246, 248 f., 254, 256 f., 261, 263 f. Läuterungsritual 213 f. Lehrgedicht 55, 85, 90 Licht 21, 66, 73, 81 f., 189 f., 207, 230–233, 235–237, 243 – -metaphorik 82, 189, 233 – -metaphysik 233 Liebe 27, 61–63, 66 f., 86, 88, 90, 92– 101, 106–110, 117, 122–129, 132 f., 136–141, 143, 146, 149–169, 172 f., 178 f., 183, 185–189, 192 f., 199, 201,
294
Sachwortregister
214, 218, 220, 225, 227, 230, 234, 237, 240–243, 250, 256, 262, 263 – höfische –/fin’amors/amor cortese 59, 88, 91, 94, 129, 133, 136, 140 f., 151, 160 f., 262 Liebesdichtung 152, 156, 160, 164 f. Liebesgott, s. Amor Liebeskunst/Liebeslehre/ars amatoria/art d’amors 58 f., 87 f., 90 f., 97, 100– 102, 108, 114 f., 123, 128, 131, 140 f., 188, 262 Limbus 199 f., 259 Litteralsinn/sensus litteralis 15, 24–26, 28 f., 31 f., 36–39, 41, 57, 66, 69, 75, 82, 110, 198, 205, 207 f., 218, 231, 243–245, 249, 263 f. Lüge/menzogna 32, 38 f., 89, 100, 236, 245, 264 – bella menzogna 13–15, 31 f., 38, 99 f., 164, 262, 264 Minne 59, 84, 87 f., 100, 157, 162, 170, 173, 222 – -allegorie, s. Allegorie Moral 124 moralisch 24, 53, 61 f., 64, 74, 82, 91, 104, 216 – Sinn, tropologischer Sinn/sensus moralis, sensus tropologicus 25–30, 33, 35– 37, 39, 53, 57, 75, 82, 208 f., 212, 218, 232, 237, 243 f. Morgentraum, s. Traum Mythologie 59, 85, 201 f., 204–209, 258 mythologisch 198–200, 203–205, 207 f., 216, 223, 229, 231, 234, 258 Mythos 62, 86, 92, 105–107, 200, 203– 205, 216 f. Natur/Natura/Nature 14, 20, 22, 26, 45, 48, 52 f., 56, 60–72, 74, 76 f., 83, 91– 93, 102, 104 f., 108–110, 115, 133, 150, 160, 166, 171, 176, 204, 224, 242, 253, 260 f.
– -gesetz 32, 62 – Doppelnatur Christi 234 Neuplatonismus, s. Platonismus Paradies/Paradiso 29, 34–36, 57, 59, 86, 120 f., 166, 179, 189–191, 194, 197 f., 221, 229, 231–234, 238 f., 243, 245 f., 249 f., 254 f., 259, 261, 263 f. – Irdisches – 67, 92, 99, 195 f., 218, 220–224, 227, 247 f., 263 Personifikation 13 f., 41, 43 f., 46–48, 52, 62 f., 68 f., 73, 75, 78, 95, 99– 101, 105, 108 f., 115, 125–127, 131, 133, 137 f., 140, 142, 149 f., 156–158, 160 f., 164, 174, 185, 192, 207, 215– 218, 223, 230, 246, 248 f., 262 Pilger 106, 132, 158, 176 f., 186, 189, 241 – -fahrt 54 – -metapher 132 – -metaphorik 106 – -motiv 189 Platonismus 22, 46, 49–53, 61, 68, 285 – Neu- 22, 71 – neuplatonisch 21, 47, 81, 233 poetologisch 162, 261 profan 14 f., 22, 24, 29, 33, 37, 39, 43, 50, 54 f., 60, 85, 99, 124 f., 137, 141, 158, 160, 162, 173, 186, 193, 201, 223, 250–252, 261–254 Profanierung 262 – Re-Profanierung 252 f., 260 Prophet 174 prophetisch 89, 148 prophezeien 23, 34, 102, 175, 229 Prophezeiung 23, 57, 150, 182, 219, 226, 236, 238 Prosa 26, 45 f., 48, 64, 67 f., 70, 74 f., 82, 143, 145, 153–155, 158, 161–164, 169 f., 180 f., 188, 190–193 Prosimetrum 14, 44 f., 51, 61, 143 f. Prudencia/Prudentia/Klugheit 48, 71– 78, 80, 82–84, 189, 216, 246 f. Psychomachia/Psychomachie 14, 41–44, 54, 82, 103, 262
Sachwortregister Ratio / Racio / Raison / Ragione / Vernunft 22, 32, 48, 67, 71–76, 78, 80 f., 83 f., 87, 97, 101, 109 f., 114 f., 123, 125, 128, 134, 136 f., 139 f., 151, 186, 216–218, 246–248, 260 Rede 21, 62, 68, 72, 76, 79, 81, 85, 87, 91, 97, 99, 101 f., 104, 109 f., 114, 124, 128, 129, 131–133, 137 f., 140, 154, 164, 181, 185, 190, 199, 218, 222, 227, 235, 247 Redefigur, s. a. Tropus 13, 17, 164 Redekunst, s. a. Rhetorik 19, 78 f. Redeschmuck/ornatus 17, 78 Religion 13, 42, 59, 124, 140 religiös 140, 221 Re-Profanierung, s. Profanierung Retheologisierung, s. Theologie Rhetorik, s. a. Redekunst 13, 17–19, 25, 62, 72, 76–80, 190 rhetorisch 17–19, 21, 38, 40 f., 78 f., 164 Ritual 160, 194 f., 197, 209, 213 f., 230 f. Rose/rosa 43, 66 f., 86 f., 90, 93–100, 102, 105–110, 113, 122 f., 140 f., 238 f., 242, 249–251, 262 f. – Himmels-, s. Himmel Schleier 99, 210 f., 225, 228 Schönheit 65, 68, 72, 78, 86, 93, 98, 140, 172, 186, 221, 223 f., 228, 233 Schrift 15, 25 f., 33, 45, 70, 89, 111 f., 118, 134, 144 f., 233, 236, 249 – Heilige – 14 f., 17, 19–29, 35, 38 f., 67, 69, 75, 151, 158, 244 – -sinn 14, 19, 22–24, 26 f., 29–35, 37– 40, 66, 174, 178, 191, 194, 198, 218, 244, 263 Seele 23, 25, 34, 36, 42, 51, 70, 74, 83, 93, 100, 139, 149, 151, 153, 175, 177, 179, 183, 196–198, 204, 207–214, 216, 218–221, 224 f., 227, 229–240, 242, 245, 249, 257, 259, 261, 263 f. – Welt- 61
295
selig 175, 188, 197, 199, 218, 224, 228, 232, 237–239, 242 f., 246 f., 249, 263 – arm- 158 Seligkeit 149, 165–168, 175, 189 f., 194, 200, 232 f., 240, 243, 249 – Glück- 166, 231 – Saum- 209 Seligpreisungen (aus der Bergpredigt) 197, 214, 219 f., 230, 232 Simonie, Simonist 206 Sinn/sensus 14–16, 18, 20–29, 32–39, 50, 57, 60, 67, 69, 72, 75 f., 80, 82 f., 93, 100 f., 106, 110, 118–120, 128, 136, 144–146, 150, 153–155, 157, 160, 186, 188, 191, 193 f., 204, 208– 210, 212, 214, 216, 220, 228, 231 f., 237, 243–246, 261–263 – allegorischer –, s. allegorisch – anagogischer –, s. anagogisch – Litteral-, s. Litteralsinn – moralischer –, s. moralisch – Schrift-, s. Schrift – -ebene 14, 24 f., 27, 37, 39, 69, 75, 82 Sonett/sonetto 111, 112, 114–121, 123– 125, 127–129, 131 f., 135, 137, 143, 145, 147, 149, 152–156, 158, 162, 165, 167–174, 176–178, 180, 183–189, 191 f., 199, 251 Spätantike, s. Antike Spiegel 66, 69, 71, 73, 78, 81, 82, 86, 93, 106, 221, 246 – Kristall- 93 – Zauber- 93 Spiritualisierung 149, 156, 161, 165, 168, 173, 179, 181, 186, 193, 250 Spiritualität 168 spirituell 168, 251, 263 Sprache, bildhafte 21, 191 Sprechen, bildhaftes 17 status animarum post mortem 36, 194, 196, 198, 201, 208, 232, 239, 245, 261 Stilebene 21
296
Sachwortregister
stilo della loda 146, 166, 170, 172–174, 187, 192 Sünde 34, 36, 195–197, 203 f., 207– 209, 216, 222, 226 f., 240, 246, 249, 263 f. – Erb- 234 – Haupt- 63, 197 – Kapital- 196, 229 Sünder 57, 204, 231 Symbol 25, 81, 94, 98, 131, 152, 156, 160 f., 202, 211, 224, 236 f., 243, 249 f., 263 Symbolik 27, 56, 99, 107 f., 121, 147, 169, 181, 192, 213, 249, 251 – Blumen- 251 – Farben- 27 – Zahlen- 121, 147, 169, 181–183, 185, 192 Theologie 26, 39, 49, 70, 73, 80, 165, 246 f., 249 – Amor- 152 Theologisierung 250 – Re- 15 Transfiguration 33 transzendent 71, 149, 161, 188, 224, 263 Transzendenz 71, 72, 84, 183 f., 187, 197, 224, 238, 246 Traum 58, 86, 89–91, 94, 97, 100, 107, 123, 152, 155, 157, 165, 176 f., 213, 215–218, 220, 222, 224, 231 f., 237, 256 f. – -Allegorie, s. Allegorie – -vision 64, 152 f. – Morgen- 213, 214, 220, 222, 232, 257, 263 Tropus 13, 17–19, 25, 40 Troubadour 94, 160 f., 192, 210, 220 – -dichtung 90, 145, 161 Tugend 13, 27, 42–44, 53, 55, 66 f., 70 f., 73 f., 80, 82, 88, 91, 100 f., 102, 129, 139, 168 f., 171–173, 180, 197,
214 f., 218 f., 221, 224 f., 227, 229 f., 232 f., 237, 246, 256, 262 – Kardinal- 71, 185, 228 f. – Un- 207, 216 Typologie 15, 19, 23, 28 f., 178, 221, 249 typologisch 18–20, 24 f., 38, 42 f., 56, 68, 218 Typos 19, 23, 29, 178 Universum 20, 68, 104 f., 176, 179, 194, 238, 243, 249, 259 vaticinium ex eventu 34, 102, 236 Verhüllung 17, 21, 40, 210 Verkörperung 7, 75, 80, 157, 169, 262 Vernunft, s. Ratio/Racio/Raison/Ragione Verstand 97, 217 Viktoriner 26, 55 visio/Vision 56–58, 64, 84, 148, 151– 156, 159, 165, 175–177, 179, 181, 190–193, 198, 214, 218, 225, 228, 235–237, 243, 245, 249, 260, 263 – -sliteratur 54, 56–58 Vorbild, s. Bild Wahrheit 17, 21, 29, 32, 37–39, 50, 55, 75, 82, 89 f., 99 f., 110, 141, 163, 165, 198, 205, 236, 244–246, 262, 264 Welt 42, 51 f., 61, 65, 69, 71, 74, 84, 88, 92, 100, 108, 133, 178, 234, 250 – -bild, ptolemäisches-geozentrisches 195 – Unter-, s. a. Hölle/Inferno 33, 57 f., 196, 226 weltlich 55, 60, 85, 99, 125, 131, 161, 216, 262 Wissen 7, 13, 21, 30, 46, 49, 54, 73, 80, 85, 111, 235, 262 – -svermittlung 74 f. Wissenschaft 26, 37, 73, 79, 82–84, 248 Zeichen 20, 23, 98, 160, 170, 175 f., 203, 213, 225, 239, 256 – -theorie, zweistufige 18, 21