Wahrheit und Interpretation 9783787342389, 9783787342372

Luigi Pareyson gehört zu den Begründern der modernen philosophischen Hermeneutik. Diese Ausgabe eröffnet erstmals in deu

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German Pages 370 [369] Year 2023

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Wahrheit und Interpretation
 9783787342389, 9783787342372

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Philosophische Bibliothek

Luigi Pareyson Wahrheit und Interpretation

LUIGI PAREYSON

Wahrheit und Interpretation Übersetzt und herausgegeben von

Gianluca de Candia

Mit einer Einführung von

Claudio Ciancio und Ugo perone

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BAND 761

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN  9 78-3-7873-4237-2 ISBN eBook  9 78-3-7873-4238-9

© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 2023. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikro­verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Satz:  mittelstadt 21, Vogtsburg-Burkheim. Druck und Bindung: Beltz, Bad Langensalza. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruckpapier, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

I N H A LT

Geleitwort  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIII Einführung von Claudio Ciancio und Ugo Perone  . . . . . . . . XV 1. Leben  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XV 2. Die philosophische Landschaft Italiens  . . . . . . . . . . . . . . XVII 3. Die frühen Schriften  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXIII 4. Wahrheit und Interpretation  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXIX 5. Die Entwicklung von Pareysons Denken nach Wahrheit und Interpretation  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXXIII 6. Die Aktualität des Denkens von Pareyson  . . . . . . . . . . XXXIX

Literaturverzeichnis von Gianluca De Candia  . . . . . . . . XLIII

LU IGI PARE Y S O N

Wahrheit und Interpretation Vorwort  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Einleitung: Ausdrückendes Denken und Offenbarendes Denken   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1. Historistische Betrachtung und spekulative Diskussion 15 2. Ausdruck der Zeit und Offenbarung der Wahrheit  . . 18 3. Merkmale eines Denkens, das das Band zwischen Person und Wahrheit verkennt  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 4. Kryptischer und semantischer Diskurs: Entmystifizierung und Interpretation  . . . . . . . . . . . . 23 5. Nicht-Objektivierbarkeit der Wahrheit  . . . . . . . . . . . 26

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Inhalt

6. Nicht der Mystizismus des Unaussprechlichen, sondern die Ontologie des Unerschöpflichen  . . . . . . 30 7. Das Scheitern der Entmythologisierung: Irrationalismus der Vernunft ohne Wahrheit  . . . . . . . 32 8. Knechtschaft des technischen und Freiheit des ­offenbarenden Denkens  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 Erster Teil Wahrheit und Geschichte I. Beständige Werte und geschichtlicher Prozess   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 1. Untauglichkeit des Historizismus und Empirismus, die die heutige Kultur charakterisieren  . . . . . . . . . . . 39 2. Geschichtlichkeit der Werte und geschichtliche Beständigkeit   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 3. Jenseits von Werten und von Beständigkeit: Die Seinsanwesenheit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 4. Die Unerschöpflichkeit des Seins als Grund seiner Anwesenheit und sein Darüber-Hinaus in den geschichtlichen Gestalten  . . . . . . . . . . . . . . . . 48 5. Die geschichtlichen Gestalten als Interpretationen des Seins: Zurückweisung des Relativismus  . . . . . . . . 50 6. Ursprünglichkeit der Tradition  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 7. Regeneration und Revolution  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 8. Sein und Freiheit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 II. Ursprünglichkeit der Interpretation   . . . . . . 61 1. Verhältnis zum Sein und Interpretation der Wahrheit: ­Ontologie und Hermeneutik  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61

Inhalt

VII

2. In der Interpretation sind der geschichtliche und der ­offenbarende Aspekt mitwesentlich  . . . . . . . . . . . . . . 62 3. Der weder subjektivistische noch annähernde Charakter der Interpretation  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 4. Unmöglichkeit der Unterscheidung zwischen einem vergänglichen und einem beständigen Kern in der ­Interpretation  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 5. Die Einzigartigkeit der Wahrheit und die Vielfalt ihrer Formulierungen sind untrennbar  . . . . . . . . . . . 69 6. Die Formulierung der Wahrheit ist eine Interpretation, keine Erschleichung durch Monopolisierung oder ­Verstellung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 7. Unzutreffendes Dilemma zwischen Einzigartigkeit der Wahrheit und Vielfalt ihrer Formulierungen  . . . 76 8. Hermeneutischer Charakter des Verhältnisses von Wahrheit und Formulierung  . . . . . . . . . . . . . . . . 79 9. Die Interpretation ist kein Subjekt-ObjektVerhältnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 10. Die Interpretation ist kein Verhältnis von Gehalt und Form oder von Virtualität und Entwicklung  . . . . 85 11. Die Interpretation impliziert kein Verhältnis der Teile zu dem Ganzen: Unzulänglichkeit von Integration und Explikation  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 12. Statut der Interpretation  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 13. Konsequenzen des persönlichen Charakters der ­Interpretation  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 14. Konsequenzen des Darüber-Hinaus der Wahrheit  . . 103

VIII

Inhalt

Zweiter Teil Wahrheit und Ideologie I. Philosophie und Ideologie   . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 1. Ausdrückendes und offenbarendes Denken  . . . . . . . . 109 2. Historisierung des Denkens in der Ideologie  . . . . . . . 110 3. Technisierung der Vernunft in der Ideologie  . . . . . . . 112 4. Untrennbarkeit des geschichtlichen und des offenbarenden Aspekts im ontologischen Denken: ­Wahrheit und Interpretation  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 5. Ursprüngliche Einheit von Theorie und Praxis im ontologischen Denken: Sein und Zeugnis  . . . . . . 121 6. Falsches Bewusstsein und Mystifizierung im ideologischen Denken  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 7. Falsifizierung der Zeit im ideologischen Denken  . . . 132 8. Vollständige Explikation des Verschwiegenen und ­unendliche Interpretation des Mitgemeinten  . . . . . . . 136 9. Das Problem des Endes ideologischer Kämpfe wird weder vom soziologischen Historizismus noch vom historischen Materialismus gelöst  . . . . . . . . . . . . 140 10. Das Ende der ideologischen Kämpfe steigert die ­Technisierung des Denkens  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 11. Nur die Philosophie als Hüterin der Wahrheit ermöglicht den Dialog   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 II. Bestimmung der Ideologie   . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 1. Zweideutigkeit der neutralen oder positiven Bedeutung von Ideologie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 2. Das Problem der konkreten Unterscheidung zwischen Ideologie und Philosophie  . . . . . . . . . . . . . . 158

Inhalt

IX

3. Gezielte Vermengung von Philosophie und Ideologie 162 4. Nicht-philosophischer Charakter der Ideologie  . . . . 166 5. Weltanschauung, Philosophie, Ideologie  . . . . . . . . . . 167 6. Positive Wirklichkeit des Bösen und des Irrtums  . . . 171 7. Die unwiederbringliche Negativität der Ideologie  . . 174 8. Falsche positive Merkmale der Ideologie und ihre ­Aufdeckung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 9. Nicht-ideologischer Charakter der Philosophie  . . . . 182 10. Konkretheit der authentischen Philosophie  . . . . . . . 185 11. Unterschied zwischen geschichtlichem und ideologischem Charakter des Denkens  . . . . . . . . . . . . 189 12. Einzigartigkeit der Wahrheit und Pluralität, aber nicht Partialität der Philosophien  . . . . . . . . . . . . 192 13. Das Problem der negativen Ontologie: Unsagbarkeit vs. Unerschöpflichkeit  . . . . . . . . . . . . . 197 14. Das offenbarende Denken als einziger Vermittler zwischen Wahrheit und Zeit: Zur Notwendigkeit der ­Philosophie im Verhältnis von Religion und Politik  . 201 15. Die rationale Wirksamkeit der Philosophie, nicht der Ideologie: Theorie und Praxis  . . . . . . . . . . . 209 16. Unvermeidbarkeit des moralischen, nicht des ideologischen Einsatzes  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 17. Der Philosoph und die Politik  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 18. Unzulänglichkeit der gegenseitigen Unterordnung von Philosophie und Politik  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 19. Die Ursprünglichkeit der Praxis  . . . . . . . . . . . . . . . . . 226

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Inhalt

Dritter Teil Wahrheit und Philosophie  I. Notwendigkeit der Philosophie   . . . . . . . . . . . . 233 1. Wissenschaft und Religion beanspruchen, die Philosophie zu verdrängen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 2. Kunst und Politik beanspruchen, die Philosophie zu ersetzen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 3. Die Philosophie, indem sie die Grenzen der Wissenschaft markiert, bewahrt deren Natur  . . . . . . 237 4. Nur die Philosophie garantiert die wechselseitige ­Unabhängigkeit von Philosophie und Religion  . . . . . 240 5. Ohne die Philosophie Deformation von Kunst und Politik  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 6. Philosophie erklärt durch exzessive Kritik ihr eigenes Ende  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 7. Krise der Philosophie als Verzicht auf Wahrheit  . . . . 248 8. Alternative zwischen Wahrheit und Technik  . . . . . . . 251 9. Die Philosophie als Bewusstsein des ontologischen Bezuges und das Problem der philosophischen Sprache  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 10. Wirksamkeit der Philosophie als Wiedererlangung der Wahrheit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 II. Philosophie und gemeiner Menschenverstand 258 1. Beispiele für die Verhältnisse zwischen gemeinem ­Menschenverstand und Philosophie  . . . . . . . . . . . . . . 258 2. Zweideutigkeit des gemeinen Menschenverstandes mit seinem Universalitätsanspruch und seiner ­geschichtlichen Bestimmung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260

Inhalt

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3. Unsinnigkeit und Anmaßung eines von der Philosophie getrennten gemeinen Menschenverstandes  . . 265 4. Unmöglichkeit, die Philosophie dem gemeinen ­Menschenverstand zu überlassen  . . . . . . . . . . . . . . . . 268 5. Strenge des philosophischen Wissens  . . . . . . . . . . . . 269 6. Die Philosophie als Problematisierung der Erfahrung und des gemeinen Menschenverstandes selbst  . . . . . . 272 7. Der gemeine Menschenverstand als Gegenstand der Philosophie ist der ursprüngliche ontologische Bezug  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 8. Untrennbarkeit von Universalität und Geschichtlichkeit im gemeinen Menschenverstand  . . . . . . . . . . . . . 278 9. Nur die Wahrheit vereint, ohne dabei zu entpersönlichen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 10. Die Identität von Theorie und Praxis kann nur ursprünglich sein  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 11. Das tiefe Zusammenwirken von gemeinem ­Menschenverstand und Philosophie  . . . . . . . . . . . . . . 285 Personenregister  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289

G E L E I T W O RT

Diese Übersetzung von Luigi Pareysons Werk »Verità e interpretazione« schließt eine zweifache Rezeptionslücke in der deutschsprachigen Forschung: Einerseits ermöglicht sie den für systematische Fragestellungen aufgeschlossenen LesernInnen, seine onto­logische Hermeneutik mit der von Hans-Georg Gadamer und Paul Ricœur zu konfrontieren und sie auf ihre sachlichen Analogien und Differenzen hin zu untersuchen. Zum anderen ermöglicht diese Übersetzung, die eigentliche Inspirationsquelle der bekanntesten Ansätze einiger seiner postmodernen Schüler, wie Gianni Vattimo und Umberto Eco, nachzuvollziehen. Dieser italienischen Konstellation hat der Verfasser schon einige Studien gewidmet und verweist insbesondere auf seine Einleitung zu Luigi Pareyson, »Vom Staunen der Vernunft«, Aschendorff Verlag, Münster 2021. Alternativ zur heutigen Dominanz eines analytischen Verständ­ nisses der Wahrheit, das diese lediglich noch auf der Ebene des Propositionalen und Epistemischen gelten lässt, evoziert der Titel »Wahrheit und Interpretation« ein Spannungsverhältnis, insofern »Wahrheit« einen universalen, »Interpretation« jedoch einen subjektiven Aspekt impliziert. Als Liebhaber von Malerei, Musik und Dichtung war sich Pareyson sehr wohl bewusst, dass sich nur in der Interpretation eine Begegnung mit der Wahrheit ereignen kann. Pareysons Plädoyer für eine pluralistische Konzeption der Wahrheit, ausdrücklich im Unterschied zu ­einer relativistischen, die letztendlich auf den geschichtlichen Ereignis­ charakter des Seins zu reflektieren ist, sollte nicht nur für den immer noch an Metaphysik interessierten Philosophen von großem Interesse sein, sondern auch für den auf die Offenbarung angewiesenen Theologen. Möge das Erscheinen dieser Ausgabe die Aufmerksamkeit beider gewinnen und zu neuen Interpretationen anregen.

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Geleitwort

Vorliegende Arbeit ist im Rahmen des von der DFG großzügig geförderten Projektes »Philosophische Hermeneutik der religiösen Erfahrung in Luigi Pareyson und seiner Schule« entstanden, dem sich der Verfasser von 2018 bis zum 2021 am Seminar für Philosophische Grundfragen der Theologie der Katholischen Theologischen Fakultät in Münster widmete. Für die Aufnahme dieses Werkes in die Philosophische Bibliothek des Meiner Verlags sowie für die hilfreiche Betreuung sei Herrn Marcel Simon-­Gad­ hof recht herzlich gedankt. Desgleichen gilt für die Kollegen und ehemaligen Schüler von Luigi Pareyson, Herrn Prof. Claudio Ciancio und Herrn Prof. Ugo Perone, für ihre Einleitung zu dieser deutschen Ausgabe, die von Frau Dr. Silvia Richter freund­ licherweise Korrektur gelesen wurde. Ebenso herzlich bedankt seien Frau Hannah Schey für die zweisprachige Durchsicht der Übersetzung und Herr Sebastian Wolter für das Lektorat des finalen Textes. Des Weiteren enthielten die Vorarbeiten von Frau Dr. Grazia Dolores Folliero-Metz bei der Herstellung dieser Übersetzung hilfreiche Auskünfte. Abschließend sei dieses Buch Herrn Prof. Thomas Leinkauf gewidmet, der seinen Studierenden nahebrachte, dass es neben der empirischen Realität noch eine geistige gibt, die ebenso widerstandsfähig und kraftvoll zu sein vermag, ganz in jenem Sinne, den Pareyson ins Auge fasst. Münster / Köln, im Oktober 2022 

Gianluca De Candia

EINFÜHRUNG Claudio Ciancio und Ugo Perone

1. Leben Luigi Pareyson wurde 1918 in Piasco (Piemont) geboren. Im Jahr 1935, mit nur siebzehn Jahren, schrieb er sich an der Universität Turin ein und studierte 1936 und 1937 in Deutschland, wo er Gespräche mit Jaspers und Heidegger führte. Im Juni 1939 schloss er sein Philosophiestudium unter der Leitung von A ­ ugusto Guzzo mit einer Arbeit über Jaspers und die Existenzphilosophie ab, die sofort veröffentlicht wurde, was für die damalige Zeit ohne Zweifel ungewöhnlich und ein Zeichen seines Genies gewesen ist. In den folgenden Jahren setzte er seine Arbeit über den Existenzialismus fort. 1943 erschienen seine Studi sul’esistenzialismo (Studien über den Existenzialismus) und 1950 sein erstes wichtiges theoretisches Werk Esistenza e persona (Existenz und Person). In der Zwischenzeit war er 1940 Lehrer für Philosophie und Geschichte am Humanistischen Gymnasium in Cuneo geworden, wo er Studenten kennenlernte, die für den Antifaschismus empfänglich waren. Er selbst hielt in seinem Haus politische Schulungen für einige seiner Schüler ab, die einen tiefen Eindruck bei ihnen hinterließen. Zudem beteiligte er sich an der Gründung einer antifaschistischen poli­tischen Gruppe in Cuneo, obwohl seine schwache körperliche Konstitution ihn daran hinderte, an vielen Aktionen teilzunehmen. Im März 1944 wurde er wegen seiner poli­tischen Tätigkeit vom Schuldienst als Lehrer suspendiert, anschließend verhaftet und für einige Tage ins Gefängnis gesteckt. In der Folge lebte er halb im Verborgenen und arbeitete mit der Partisanenorganisation Giustizia e Libertà zusammen. Nach Kriegsende war er ab dem akademischen Jahr 1945/1946 außenordentlicher Professor für Ästhetik an der Universität Tu-

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Claudio Ciancio und Ugo Perone

rin. In den Jahren 1948/1949 lehrte er Geschichte der modernen und zeitgenössischen Philosophie an der Universität Mendoza (Argentinien). In den Jahren 1951/1952 war er ordentlicher Professor für Geschichte der Philosophie an der Universität Pavia und vom folgenden Jahr bis 1964 ordentlicher Professor für Ästhetik an der Universität Turin. Im Jahr 1954 veröffentlichte er sein grundlegendes Werk über Ästhetik: Estetica. Teoria della formatività (Ästhetik. Die Theorie der Formativität), und von 1956 bis 1984 leitete er die »Rivista di Estetica«. Im Jahr 1964 wurde er zum ordentlichen Professor für Theoretische Philosophie ernannt und übte ab demselben Jahr auch einen Lehrauftrag für Moralphilosophie aus. 1966 gründete er das »Centro studi sul pensiero tedesco« und 1970 das »Centro di studi filosofico-religiosi Piero Martinetti« an der Universität Turin. Ab 1969 war er Mitglied der Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften für die kritische Ausgabe der Werke Fichtes, und ab 1975 war er an derselben Akademie Mitglied des Vorstands der Kommission für die kritische Ausgabe der Werke Schellings. In den 1960er Jahren orientierte sich sein Denken am Aufbau ­einer hermeneutischen Philosophie, die er in Verità e interpretazione (Wahrheit und Interpretation) von 1971 entwickelte. Ab diesen Jahren wurden auch der späte Schelling und die religiösen Themen sowie die Themen der Freiheit und des Bösen, für die er sich nicht nur an Schellings Denken orientierte, sondern auch Pascals und Dostojewskis Werke rezipierte, in seinem Denken wichtig. Das Ergebnis dieser Studien war eine Reihe von Aufsätzen, darunter einige zunächst unveröffentlichte, die 1995 unter dem Titel Ontologia della libertà. Il male e la sofferenza (Ontologie der Freiheit. Das Böse und das Leiden) von Giuseppe Riconda und Gianni Vattimo herausgegeben wurden. In den 1970er Jahren begann sich sein Gesundheitszustand zu verschlechtern, und 1983 war er gezwungen, seine Lehrtätigkeit an der Universität aufzugeben. Zusammen mit dem bereits erwähnten Giuseppe Riconda sowie Valerio Verra gründete er 1985 die Zeitschrift »Annuario filosofico«, in der er einige der

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Aufsätze veröffentlichte, die später Teil von Ontologie der Freiheit wurden. Er starb 1991 in Mailand und hinterließ eine Schule mit zahlreichen Schülern, mit denen er vor allem in seinen letzten Lebensjahren eine intensive Beziehung auf wissenschaftlicher, aber auch auf persönlicher Ebene aufgebaut hatte. Dies entspricht seinem schüchternen, zurückhaltenden und strengen Charakter, der gleichwohl auch zu tiefen geistigen Verbindungen fähig war. Die Vielfalt der Orientierungen seiner Schüler (zu den bekanntesten auch im Ausland zählen u. a. Umberto Eco und Gianni Vattimo), die in einigen Fällen sogar im Widerspruch zu seiner Philosophie stehen, zeugt von der Größe seiner Lehrfigur und seinem tiefen (und seinem Denken entsprechenden) Respekt vor der Freiheit. Um seinem geistigen Erbe ein aktuelles, philosophisches Forum zu schaffen, gründeten einige seiner Schüler 1995 das »Centro Studi filosofico-religiosi Luigi Pareyson«.1

2.  Die philosophische Landschaft Italiens Wie wir gesehen haben, absolvierte Pareyson sein Universitätsstudium noch in der Zeit des Faschismus. In jenen Jahren war die philosophisch dominante Strömung der Idealismus, der in zwei Varianten seine Ausprägung fand: Die eine, sozusagen die offizielle Version, stark von Giovanni Gentile beeinflusst, verstand sich als aktualisierte Wiederaufnahme des Deutschen Idealismus und sah in dem Aktivismus der faschistischen Bewegung den besseren Weg, den Primat des Geistes anzuerkennen; die andere, um Benedetto Croce versammelt, pflegte einen liberalen Historismus und fand in ihrem Interesse für eine militante literarische Ästhetik einen Ort der Distanz gegenüber der Politik. Gentile, 1  Eine Darstellung von Pareysons Denken und seiner Schule findet man in der akkuraten Einführung von G. De Candia, in: L. Pareyson, Vom Staunen der Vernunft, partiell. übers. und hrsg. von Gianluca De Candia (mit einem Vorwort von Gianni Vattimo und Giuseppe Riconda), Aschendorff, Münster 2021, XIII–L [Im Folgenden zitiert als: SV].

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der als Kultusminister eine dauerhafte Reform des italienischen Schulsystems mit einer deutlichen Vorrangstellung der humanistischen Fächer umsetzte, beeinflusste in entscheidender Weise das Panorama der Philosophie an den Universitäten, in denen nur eine winzige Minderheit – unter ihnen als einziger Philosophieprofessor Piero Martinetti (1872–1943) – sich der Aufforderung einer Mitgliedschaft in der faschistischen Partei verweigerte. Croce blieb eher am Rande der Universität und stilisierte sich als moderater und, wegen seines großen Renommees insbesondere im Ausland, geduldeter Gegner des Regimes. Die akademische Ausbildung des jungen Pareyson fand unter den geschilderten Umständen statt und sein Doktorvater ­Augusto Guzzo (1894–1986) kann selbst prima facie als Vertreter des Idealismus betrachtet werden. In der Tat war die Turiner Universität, an der Pareyson studierte, ein Ort relativer Unabhängigkeit. So lehrte z. B. im Bereich der Theoretischen Philosophie Annibale Pastore (1858–1956), der mit seinen Interessen für die Logik und die Wissenschaft sowie seiner Offenheit gegenüber den ersten ausländischen Beiträgen des Existentialismus nicht im Einklang mit dem gängigen Idealismus stand. Selbst Guzzo, der zuerst den Lehrstuhl für Moralphilosophie innehatte und später Nachfolger von Pastore wurde, vertrat eine eher originelle Variante der idealistischen Philosophie, sehr von religiösen, an Augustinus angelehnten Elementen geprägt, die in Opposition mit dem Immanentismus Gentiles standen. Bei ihm war der Versuch erkennbar, den Idealismus von seinen subjektivistischen Zügen zu befreien (und dadurch eine Versöhnung mit der Wissenschaft zu erreichen), den Geist in einer christlichen Perspektive zu verstehen (gegen jede Art von Immanentismus), die autonome und kreative Kraft der Kunst anzuerkennen und dadurch eine Brücke zwischen Croce und Gentile zu schlagen. Man könnte sogar behaupten, dass er eine dritte, sozusagen religiöse Form des Idealismus anstrebte. Bei Augusto Guzzo schrieb Pareyson seine Abschlussarbeit und schon in seinen ersten Schriften, wie wir sehen werden, kann

Einführung

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man erkennen, wie stark sein Bedürfnis war, sich von dem Historismus und dem hegelianischen Idealismus, die bis dahin die kulturelle Landschaft Italiens geprägt hatten, zu emanzipieren. Schon ein Jahr nach Pareysons Abschlussprüfung trat Italien in den Zweiten Weltkrieg ein und während der Kriegsjahre vermehrten sich die Motive einer tiefen kulturellen Veränderung in rasanter Weise. Nach und nach wurde die Generation der »alten« Professoren, die mit dem Idealismus (und oft auch mit dem Faschismus) zu tun gehabt hatten, durch eine neue abgelöst. Und die kritischen Elemente jener neuen Philosophien, die während der Dominanz des Idealismus jahrzehntelang gezwungen gewesen waren, sich mit dieser vorherrschenden Philosophie auseinanderzusetzen, hatten zu ihrer Entfaltung plötzlich freie Bahn. Die ersten philosophischen Werke Pareysons, die ein ausgeprägtes Interesse für den Existentialismus deutlich werden lassen, zeugen von dieser Entfaltung und sind exemplarisch für dieses Änderungsbedürfnis. Die starke theoretische Kraft des jungen Pareyson ermöglichte ihm sehr früh, eine eigenständige philosophische Haltung zu gewinnen, die weit über ein einfaches Änderungsbedürfnis hinausging. So wurde er schon in den 1950er Jahren zu einer sehr angesehenen philosophischen Alternative innerhalb des Spektrums der italienischen Philosophie nach dem Krieg. Nachdem wir kurz das geistige Umfeld erwähnt haben, in dem Pareyson sein Philosophiestudium verbrachte, scheint es nun erforderlich, unseren Blick auf die neue Landschaft der Philosophie in Italien nach dem Zweiten Weltkrieg zu richten. Die Jahre zwischen den beiden Weltkriegen waren keineswegs philosophisch unproduktiv, aber sie fanden unter dem Deckmantel einer dominanten idealistischen und historistischen Philosophie statt. (Sogar ein Marxist und Antifaschist wie Antonio Gramsci (1891–1937) verspürte in seinen Schriften aus dem Gefängnis, Lettere dal carcere, die Dringlichkeit, gegenüber dieser philosophischen Richtung Stellung zu beziehen). Das schlagartige Verschwinden der idealistischen Schule nach dem Krieg

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führte zu einer Spaltung in zwei Lager, die deutlich ideologisch konnotiert waren: einerseits eine religiös geprägte – und in Italien bedeutete dies selbstverständlich eine katholische – Philosophie und andererseits eine nicht religiös (oft sogar anti-religiös) orientierte Philosophie. Die Katholiken, plakativ nennen wir sie so, waren ihrerseits in zwei Hauptrichtungen geteilt: eine neuscholastische, die eine Auseinandersetzung mit der Moderne anhand einer erneuerten thomistischen Metaphysik pflegte und in der katholischen Universität in Mailand mit Gustavo Bontadini2 (1903–1990) ihr Zentrum hatte. Eine verwandte metaphysische Richtung kann man in Padua, bei Marino Gentile (1906–1991) und später Enrico Berti (1935–2022), finden, wobei aber entscheidend der Bezug auf die klassische griechische Metaphysik von Platon und Aristoteles (und nicht auf Thomas) ist. Zweitens eine spiritualistische, die in Michele Federico Sciacca (1908–1975) in Genova ihren bekanntesten Vertreter hatte. Beide Richtungen waren theoretisch sehr engagiert und versuchten den Idealismus von Giovanni Gentile zu ersetzen, entweder mit Hilfe der klassischen, aber neu interpretierten Metaphysik oder mit Rekurs auf eine von Augustinus inspirierte Philosophie der Interiorität, oft mit Vertiefungen, die ihren Ursprung in der italienischen Philosophie des 20. Jahrhunderts (vor allem Antonio Rosmini) fanden. Die nicht religiös orientierten Philosophen gaben dem idealistischen Historismus eine materialistische Richtung und sorgten für eine Wiederaufnahme des Marxismus. Verwandt, aber unabhängig ist das große Interesse an den Ergebnissen der Phänomenologie und, etwas später, an den sogenannten sciences humaines (Psychologie, Soziologie, Anthropologie), das zu einer kaum 2  Schüler von Gustavo Bontadini ist Emanuele Severino (1929–2020). Nach dem Bruch mit der Katholischen Universität (eine Kommission erklärte die Inkompatibilität seiner Lehre mit dem katholischen Glauben) und seiner Versetzung nach Venedig entwickelte Severino ein eigenständiges Denken, das mit Bezug auf Parmenides die Geschichte des Abendlands als Nihilismus versteht, der seine Wurzel in der folgenschweren Spaltung des Scheins vom Sein hat.

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mehr metaphysisch geprägten Philosophie führte. Wenn man die Namen der Vertreter dieser Philosophie nennen will, kann man Antonio Banfi (1886–1957), Galvano Della Volpe (1895–1968) und Enzo Paci (1911–1976) erwähnen. Diese Spaltung zwischen Katholiken und nicht religiös orientierten Philosophen, die noch nicht vollkommen überwunden ist und die sich auch im politischen Bereich widerspiegelt, ließ sich auch in der in Italien rigiden Aufteilung der philosophischen Fächer wiederfinden: Meistens übernahmen Katholiken das Fach der theoretischen Philosophie, während die mit der Geschichte der Philosophie verbundenen Fächer eher mit Bekenntnislosen besetzt waren. Ein Feld, das zunehmend gemischt besetzt bzw. von beiden gepflegt wurde, war die Moralphilosophie, die aber in den ersten Nachkriegsjahren eine eher untergeordnete Rolle spielte. Die hier skizzierte, spannungsreiche Lage hatte oft eine (typisch italienische) Folge: Um Konflikte zu minimieren, bekam jede Universität ein ziemlich eindeutiges Profil mit dem Vorherrschen einer spezifischen philosophischen Richtung. Dies führte zur Entstehung einer jeweiligen philosophischen Schule, die sich mit dem Namen einer Stadt oder einer Universität identifizieren ließ. Die Universität Turin, an der Pareyson seinen Lehrstuhl hatte, blieb allerdings davon unberührt. Dort lehrten gleichzeitig Persönlichkeiten wie Norberto Bobbio (1909–2004) und Nicola Abbagnano (1901–1990) und Katholiken wie Carlo Mazzantini (1895–1971) und Pareyson selbst. Besonders bei deren Nachfolgern wurden aber die geistige Spaltung und die damit einhergehende Spannung immer deutlicher. Wenn man Pareyson innerhalb des hier skizzierten Spektrums verorten will, muss man ihn ohne Zweifel im katholischen Lager mit einer gewissen Nähe zum Spiritualismus einordnen. Gleichzeitig spürt man, wie er die allzu engen Einschränkungen, die dieses Schema mit sich bringt, sprengt. Seine theoretischen Interessen sind offensichtlich, er scheut sich aber vor einer klassisch gedachten Metaphysik und zieht als Terminus immer den Begriff der Ontologie vor. Er strebt eine christliche Philosophie an, aber

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will keine einfach fromme, konfessionsgebundene Philosophie (er meidet lange Jahre das Wort und den Begriff »Gott« und redet immer nur vom Sein). Er kämpft gegen eine materialistische und ideologische Philosophie, verabscheut die Reduzierung der Philosophie auf eine bloße science humaine, aber denkt zugleich an die Möglichkeit eines auf rationeller Basis aufgebauten Dialogs. In einem Wort: Er weiß, dass er faktisch zu einem Lager gehört (dem der Katholiken), aber versteht die Philosophie als universelles und übergreifendes Fach, das von jedem der Suche nach der Wahrheit echt ergebenen Menschen betreten werden kann und in dem jeder, egal aus welcher Position, seinen Beitrag leisten kann. Diese kurze und notwendigerweise vereinfachende Darstellung der Lage der Philosophie in Italien3 kann nicht ohne eine letzte Bemerkung abgeschlossen werden. Wenn man das gesamte Panorama der italienischen Philosophie betrachtet, kann über ihren Reichtum und ihre Vielfalt, auch in den Jahren der Herrschaft des offiziellen Idealismus, nur gestaunt werden. Gleichzeitig sollte aber anerkannt werden, dass sie trotz allem stets am Rande des allgemeinen europäischen Diskurses blieb. Der doch rege, wenn auch vorsichtige Austausch in Italien in der faschistischen Zeit fand nur im Lande Gehör und wurde zudem von den bekannteren Persönllichkeiten, Croce und Gentile, überschattet. Nach dem Ende des Faschismus suchten ihrerseits die neuen Posi­tionen, in einer Art geistigem Befreiungsschlag, eher den Dialog mit ausländischen (französischen, deutschen oder amerikanischen) Philosophien, mit der Folge, dass der Austausch innerhalb Italiens vernachlässigt wurde. In beiden Fällen, aus gegensätzlichen Gründen allerdings, blieb die ausländische Wahrnehmung der italienischen Philosophie sehr begrenzt: einerseits wurde Italien in der Zeit des Faschismus aus politischen Gründen 3  Für ein detailliertes Bild sei an dieser Stelle das Buch La metafisica in Italia tra le due guerre, hg. von P. Pagani, S. D’Agostino, P. Bettineschi, Istituto dell’Enciclopedia Italiana, Roma 2012, empfohlen.

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aus dem Diskurs ausgegrenzt; andererseits bliebt die Wahrnehmung auch nach dem Krieg begrenzt, da eine eindeutige philosophische Linie in Italien nicht zu identifizieren war.

3.  Die frühen Schriften Wenn wir im Folgenden versuchen, die frühen Schriften Pareysons bis zu Verità e interpretazione, dem Werk, das hier zum ersten Mal in deutscher Übersetzung erscheint, vorzustellen, ist das Ziel nicht, eine vollständige Analyse der gesamten Philosophie unseres Autors zu geben, sondern vielmehr Ansätze für ein genaueres Verständnis seines hermeneutischen Denkens zu liefern. Drei Punkte können unseres Erachtens hierfür im Wesentlichen dienen: seine Interpretation der Geschichte der Philosophie; sein Vorschlag, den Personalismus mit dem Existen­tia­lismus zu verknüpfen; und seine Ausarbeitung einer h ­ ermeneutischen ­Ästhetik. Pareyson zufolge befindet sich die Philosophie in einer tiefen Krise. Hegels Denken hat die nachfolgende Zeit so tief geprägt, dass man fast nur vor Variationen seiner Dialektik steht. Der Hegelianismus, noch mehr als Hegel selbst, trug hierfür die Verantwortung und, wie wir gesehen haben, die italienische philosophische Lage mit dem Aktualismus von Gentile und dem Historismus von Croce bestätigte dies paradigmatisch. Selbst der marxistische Hang zur Praxis konnte sich von diesem Erbe nicht befreien. Eine Krise ist aber nicht nur ein Tiefpunkt eines Ereignisses, sondern auch der Moment einer Entscheidung. Wie Pareyson schreibt, mit implizitem Hinweis auf Hegel: »Die strenge Definition des Krisenbegriffs scheint mir die folgende zu sein: Krise bedeutet die Auflösung einer Schlussfolgerung und Problem eines neuen Prinzips«.4 In der Krise kündigt sich auch die Möglichkeit einer Wende an. Um so etwas zu erzwingen, muss 4 Pareyson, Esistenza e persona, Taylor, Torino 1959, 79.

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man sich zurückbegeben in die Zeit Hegels und untersuchen, was nach ihm geschehen ist und was vor ihm zur Verfügung stand. Feuerbach und Kierkegaard sind, alternativ zueinander, Zeugen der Krise des Hegelianismus. Nicht ohne eine gewisse Nähe zu Löwith (Von Hegel bis Nietzsche) beschreibt Pareyson die Philosophie Feuerbachs als den Versuch, die Hegel’sche Dialektik so umzuwenden, dass das Endliche zur Quelle des Unendlichen wird und der Mensch sich als Schöpfer Gottes entdeckt. Die Endlichkeit, wie sie hier verstanden wird, ist jedoch reine Sinnlichkeit, so dass der Mensch ein Verständnis von sich besitzt, das nicht über sich selbst hinaus geht. Monomanisch findet hier eine Reduktion auf das Menschliche statt, durch die der Mensch sich wohl behaupten kann, aber die Möglichkeit verliert, über sich selbst hinauszuweisen und zu fragen: Wer bin ich? Dies ist dann keine Frage mehr, weil die Antwort immer schon faktisch vorausgesetzt ist (nicht zufällig ist der Mensch, ganz trivial und fast tautologisch, was er isst). Ganz anders bei Kierkegaard, der nicht nur nach dem echten, individuellen Ich eines endlichen Seienden fragt, sondern die Angst einer solche Frage erlebt und jede dialektische Lösung dieses Themas verweigert. Hier, in der Vertiefung dieser Existenzauffassung, die von Barth weiter fortgesetzt wurde, ist nicht die Lösung, aber doch ein Hinweis zu finden, der in der Lage ist, uns durch die Krise zu führen. Aber auch vor Hegel, in der Romantik und im klassischen Deutschen Idealismus, sind Elemente zu entdecken, die hilfreich sein könnten. Man würde sonst kaum verstehen, warum Pareyson sich so intensiv mit diesen Autoren (Schiller, Goethe, Fichte, Schelling) beschäftigt hat. Er hat sich immer geweigert, Hegel und seinen Idealismus als Gipfel der Romantik zu lesen. Die ursprüngliche moralische Kraft des Idealismus, die bei Fichte eine kraftvolle theoretische Entwicklung kennt, und eine idealistische Freiheitsphilosophie, die wie bei Schelling über die Existenz posi­ tiv Rechenschaft ablegt, bieten ein Erbe, das letztendlich eine Alternative ist zu jenem Ausgang, der nur mit dem Hegelianis­mus zurückzuführen ist.

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Die Philosophie steckt in der Krise, betont Pareyson. Aber sie bietet zugleich auch Ansätze, um diese Krise zu überwinden. Die neue existenzialistische Strömung, die Pareyson mit einer Arbeit über Jaspers und der Lektüre Heideggers ausgelotet hatte, bot ihm adäquate Mittel dafür. Dazu kamen noch die persönlichen Begegnungen mit beiden deutschen Philosophen sowie mit wichtigen Vertretern des französischen Existentialismus wie Marcel, Lavelle und Le Senne. Dem Existentialismus ist Pareyson immer treu geblieben. Die anfänglich noch bestehende Vermischung des Existentialismus mit spiritualistischen Zügen hat sich im Laufe der Jahre geklärt.5 Beibehalten wurde aber immer als wesentlicher Beitrag des Existentialismus das Prinzip, dass die Existenz ein paradoxes Verhältnis mit sich selbst und mit dem anderen enthält. Pareyson formuliert es so: »Dies scheint mir das dauerhafteste und solideste Ergebnis der Existenzphilosophie zu sein: die Charakteristik der existentiellen Definition, die die menschliche Existenz als die Koinzidenz der Beziehung zu sich selbst und der Beziehung zu anderen begreift.«6 Es gibt eine Koinzidenz von Selbstverhältnis und Heteroverhältnis, wobei die Beziehung zum anderen auch immer ein Verhältnis zum Sein und zur Wahrheit enthält. Man spürt hier, dass es darum geht, einen nicht-dialektischen Weg zu finden, der es ermöglicht, Endliches und Unendliches in ihrer ontologischen Zusammengehörigkeit zu denken. Verdienst des Existentialismus ist die Aufmerksamkeit auf die konkrete, geschichtsgeladene Existenz, mit der Gefahr, die schon bei Kierkegaard zu spüren ist, diese Existenz nur negativ, in einer wiederholten Umkehrung aus dem Absoluten, zu denken: das Endliche als das Nicht-Unendliche. Nur eine ontologische Vertiefung ist in der Lage, uns einen Ausweg zu eröffnen. Und Heidegger, besser als alle anderen, hat mit seiner ontologischen Differenz die 5  Siehe Pareyson, Rettifiche sull’esistenzialismo, in: Studi di filosofia in onore di G. Bontadini, Mailand 1975. 6 Pareyson, Esistenza e Persona, 229.

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Prämissen hierfür aufgestellt (wir werden später sehen, wie Pareyson sich von Heidegger selbst abhebt). Hier kommt der Begriff Person, der dem Wesen einer religiös orientierten Ausrichtung angemessen ist, Pareyson zur Hilfe. Denn Person gibt die ontologische Konsistenz einer Existenz vor und setzt von Anfang an ein Verhältnis des Selbst mit dem anderen voraus. Man könnte den Titel des ersten theoretischen Werkes Pareysons, Esistenza e persona (1950) so paraphrasieren: Die Existenz wird als Person betrachtet und die Person als Existenz untersucht. Das Allerwichtigste ist aber die doppelte, paradoxe Verbindung, d. h. die nicht-lineare Identität der beiden Termini. Man kann die Person nur als solche anerkennen, wenn man die Existenz in ihrer Beziehung zum Sein versteht, und man kann die Existenz nur adäquat beschreiben, wenn sie als existentieller Ausdruck einer Person verstanden wird. Um so etwas zu denken, muss man jedoch jede dialektische Logik aufgeben (Pareyson, unter dem Einfluss von Dostojewski, wird später eine solche Denkart euklidisch nennen) und die Unermesslichkeit dieser Beziehung ergründen. Pareyson selbst hat die hier skizzierte Richtung einen personalistischen Existentialismus genannt. Es war für ihn der Weg, die Krise der Philosophie zu überwinden und einem lebendigen Kontakt mit der geistigen Erneuerung, die die gegenwärtige Zeit verlangte, Ausdruck zu verleihen. Zwei Aspekte sollen in diesem Kontext noch erwähnt werden: Erstens schien ihm die Entscheidung pro oder contra Christentum von brisanter Dringlichkeit, weil er im Christentum die Ressourcen für ein adäquates Verständnis der Beziehung zwischen Zeit und Ewigkeit, zwischen einem endlichen Erlebnis und seiner Verflechtung mit dem Unendlichen sah. Zweitens war für ihn eine ontologische Vertiefung der Philosophie unerlässlich. Er spricht nie von Metaphysik, weil er sich von der klassischen Metaphysik und von deren neuscholastischer Wiederaufnahme absetzen will. Er will jedoch trotzdem keinesfalls ein moralistisches Loblied der Innerlichkeit und der Moralität singen, sondern eine mutige Philosophie entwerfen, die mit den Mitteln der Vernunft das ganze Spektrum

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der Endlichkeit untersucht und sich nach deren Sinn fragt. Beide Aspekte, wie wir sehen werden, prägen deutlich die weitere philosophische Entwicklung seines Denkens. Wenden wir uns nun kurz der bemerkenswerten ästhetischen Produktion von Pareyson zu. Sein Hauptwerk in diesem Kontext ist ohne Zweifel Estetica. Teoria della formatività (Ästhetik. Theorie der Formativität) von 1954, ein Buch, das nur vier Jahre nach Esistenza e persona erscheint. In einer sich von Croce radikal absetzenden Ästhetik – man merkt hier, wie reaktionsfähig seine Philosophie ist – betont Pareyson die formgebende (daher der Begriff Formativität) Dynamik, die dem ästhetischen Tun innewohnt. Der Künstler erfindet beim Tun, bei seinem tastenden Vorgehen, eine Form, der es gelingt, den Stoff, der wesentlich für das Kunstwerk ist, als persönliche Idee darzustellen. Die Form ist kein abstraktes Gebilde, sie ist auch nicht ein Gegensatz zur Materie oder zum Inhalt, sie ist vielmehr die lebendige Struktur, die die Handlung des Künstlers als Eingebung leitet (forma formante; formgebende Form) und als Ergebnis das Gelingen dieser Handlung krönt (forma formata; geformte Form). Das Kunstwerk ist keine darstellerische Vorstellung eines ideellen Musters, sondern Entdeckung einer gelungenen Form, die sich im Werk selbst und sogar in der interpretatorischen Aufführung des Werkes findet und ereignet. Die Unterschiede zu Croce liegen auf der Hand. Bei Croce war die ursprüngliche Ideation des Werkes zentral (so kommt er zu seinem Fazit: Michelangelo wäre ein großer Bildhauer auch ohne Hände gewesen). Die Entwertung der Stofflichkeit war die Konsequenz. Bei Pareyson ist die künstlerische Eingebung von Anfang an ein Ringen mit dem Stoff, um das gelungene Ereignis zu erreichen. Hier, in dieser forma formata, zu der die forma formante endlich gelangt, ereignet sich das Kunstwerk. Subjektivität und Objektivität erlangen dadurch ein Gleichgewicht und verlangen fortgesetzt zu werden, da das Erlebnis eines Kunstwerkes eine ähnliche Handlung und Fortsetzung erfordert. Hier begegnen, noch vor Gadamer und Ricœur, deutliche hermeneutische Akzente. Einerseits haben wir die Eingebung des

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Künstlers (die suchende Person), andererseits das Gelingen des Kunstwerkes (seine Wahrheit). Als forma formante ist die Form, die, wie wir gesehen haben, keiner abstrakten absoluten Norm gleichzusetzen ist, der interpretatorische Weg, durch den die Person des Künstlers die forma formata erreicht, d. h. zu einer gelungenen Formulierung seines Einfalls kommt. Durch diesen tastenden Prozess wird eigentlich nur erreicht, was immer schon da war, aber noch nicht erkannt wurde, und die singuläre, geschichtliche, die Formulierung suchende Eingebung des Subjekts offenbart letztendlich diejenige Universalität, die eben von ­einem gelungenen Meisterwerk sprechen lässt. Man könnte sogar wagen zu sagen: Die künstlerische Handlung ist die hermeneutische Findung dieser Form, die der persönlichen Situation des Künstlers einen universellen, d. h. für alle verständlichen Sinn verleiht. Wie man leicht sieht, enthält gerade diese Prozedur das Wesentliche der Hermeneutik. Hiermit ist auch eine weitere hermeneutische Konsequenz verbunden: Es gibt eine einzige mögliche Deutung des Werkes, nämlich eine hermeneutische. Um die forma formata eines Werkes zu verstehen, z. B. ein Gedicht, muss der Kritiker diese Form nicht im Sinne einer vorausgesetzten Norm messen, sondern sie sich zu eigen machen. Es ist aber nicht möglich, in einer vermuteten Unmittelbarkeit eine idealistische und aktualistische Identität zu erlangen, sondern es wird erwartet, dass man selber in einer persönlichen Weise diese Form ausprobiert. Und etwas Ähnliches geschieht auch in einer Aufführung: Der Musiker, der ein Musikstück spielt, führt es nicht einfach aus, sondern interpretiert es, macht es sich zu eigen und gibt der forma formata des Werkes die Lebendigkeit einer Form, die beides enthält, die forma formata und die forma formante; die Eingebung des Komponisten verschmilzt in diesem Sinne mit der Eingebung des aufführenden Künstlers.

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4.  Wahrheit und Interpretation Wahrheit und Interpretation ist Pareysons wichtigster Beitrag zur Hermeneutik und zur hermeneutischen Ontologie. Das Werk stellt sowohl eine sehr wichtige Neuerung in der Entwicklung seines Denkens dar, ist aber zugleich auch eine Weiterentwicklung des personalistischen Existentialismus und der ästhetischen Theorie der ersten Phase seines Denkens, so wie es in der späteren Ontologie der Freiheit bestätigt und weiterentwickelt wird. Wir haben bereits erwähnt, dass ein wichtiger Beitrag zur Hermeneutik Pareysons in seiner Ästhetik als Theorie der Formativität besteht. Was den Existentialismus betrifft, so bekräftigt die hermeneutische Philosophie Pareysons seine Auffassung von der Existenz als Offenheit zum Sein und damit ihre entscheidende Rolle bei der Gestaltung der Wahrheit, die der Mensch gerade aufgrund dieses konstitutiven Verhältnisses nur durch seine eigenen persönlichen und historischen Charaktere aussprechen kann. Das philosophische Denken kann daher nicht den Anspruch ­erheben, eine spiegelnde und objektive Darstellung der Wirklichkeit zu sein, sondern eine Interpretation, die die Wirklichkeit gestaltet, indem sie von der besonderen und persönlichen Sichtweise des Interpreten ausgeht. Eine der bedeutenden Neuerungen von Wahrheit und Interpretation ist der Unterschied in der polemischen Zielsetzung im Vergleich zu den früheren Schriften. Im Vordergrund steht nicht mehr die Kritik des absoluten Rationalismus (obwohl diese Kritik bestätigt wird), sondern die Kritik des ideologischen Denkens und der technischen Vernunft. Diese Kritik stützt sich auf die Unterscheidung zwischen ausdrückendem Denken (pensiero espressivo) und offenbarendem Denken (pensiero rivelativo). Das rein ausdrückende Denken wird zu einem verfälschenden Denken, indem es als Ausdruck einer besonderen historischen Situation den Anspruch erhebt, eine spekulative Universalität zu erreichen. Wie Pareyson schreibt, erleben wir eine Art »Tarnung, d. h. jene unbewusste Naivität oder Unaufrichtigkeit, durch die

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das Denken eine geschichtliche Situation verabsolutiert, sie der Errungenschaft einer spekulativen Universalität rühmt, während es letztlich nur die Situation in ihrer bloßen Zeitlichkeit ausdrückt«.7 In den Jahren, in denen Pareyson schrieb, gab es eine lebhafte Debatte über Ideologie und Ideologiekritik, eine Debatte mit relevanten politischen Implikationen, und Pareyson widmet diesem Thema einen großen und zentralen Teil des Bandes. Die wichtige Neuerung, die er einführt, ist die zwischen ­einer Ideologiekritik, die vom Standpunkt des offenbarenden Denkens aus erfolgt, und einer Ideologiekritik, die den Horizont der Ideologie nicht verlässt, sich aber der Grenzen des ideologischen Denkens bewusst wird. Die zweite Form der Ideologiekritik entmystifiziert zwar das ideologische Denken, aber da sie den Wahrheitshorizont aufgegeben hat, kann sie dem Denken nur noch eine positive Funktion in einem pragmatischen Sinne zuschreiben (»Ein der Wahrheit entleertes Denken kann – will es einen rationalen Sinn haben, der sich nicht auf eine bloße historische Ausdrücklichkeit (espressività) oder auf eine leere und scheinbare Rationalität beschränkt – keine andere ›Wahrheit‹ finden als ebendiese: sich der Handlung unterzuordnen«8) oder ihm einen technischen Sinn abgewinnen, der jeden Hinweis auf eine letzte Wahrheit ausschließt. In einer solchen Form des Denkens, die zugleich Ausdruck und Offenbarung ist, gibt es weder ein Nachgeben gegenüber dem Relativismus noch eine Rückkehr zum Wahrheitsbegriff der rationalistischen Metaphysik. Und die Verbindung zwischen Expression und Offenbarung verhindert auch die Wiederaufnahme dessen, was Pareyson den »Mystizismus des Unaussprechlichen« nennt, d. h. jene negative Ontologie, die er auch bei Heidegger findet, der einer seiner Referenzautoren ist. Der Begriff des Unaussprechlichen, der jeden positiven Zugang zur Wahrheit ausschließt und daher jede Formulierung derselben verfälscht, sollte 7 Pareyson, Verità e interpretazione, 20; infra, 22. 8  Ebd., 98; infra, 115.

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durch den des Unerschöpflichen ersetzt werden. Dieser erlaubt es, die Wahrheit zu konfigurieren, ohne ihre Transzendenz zu leugnen, die vielmehr gerade durch die Möglichkeit, unerschöpfliche Interpretationen anzubieten, bekräftigt wird. Schließlich sollen drei Aspekte des hermeneutischen Charakters des Wahrheitsverständnisses hervorgehoben werden. Der erste besteht darin, dass er die Möglichkeit und Fruchtbarkeit des Dialogs begründet, weil er eine gemeinsame Teilhabe an der Wahrheit aller interpretativen Perspektiven voraussetzt, die eine fruchtbare Konfrontation und einen Dialog zwischen ihnen ermöglicht, der nicht in dem Versuch besteht, die Unterschiede aufzuheben oder sie in eine übergeordnete Perspektive zu integrieren, sondern vielmehr jede von ihnen zu bereichern und zu vertiefen. Ein solcher Dialog ist dagegen nicht möglich zwischen Theorien, die ohne Bezug auf eine universelle Wahrheit einen Anspruch auf Exklusivität erheben. Die unendliche Wahrheit macht alle Interpretationen dialogfähig, anders als bei den Ideologien, deren »Partialität, als Totalität verschleiert, […] der Grund ihres ununterbrochenen gegenseitigen Kampfes ist«.9 Der zweite Aspekt betrifft das Band zwischen Interpretation und Freiheit, ein wichtiger Punkt, der auch deshalb hervorgehoben werden soll, weil er dazu beiträgt, spätere Entwicklungen im Denken von Pareyson zu erhellen. Das Einführungskapitel von Wahrheit und Interpretation, das die Unterscheidung und den Gegensatz zwischen ausdrückendem und offenbarendem Denken veranschaulicht, schließt mit der Bemerkung, dass der Gehorsam gegenüber der Wahrheit, der das offenbarende Denken kennzeichne, mit der Freiheit zusammenfalle, da »die Wahrheit inspiriert statt dominiert, anregt statt beherrscht, unterstützt statt unterdrückt«;10 sie sei eine Wahrheit, die uns, wie das Evangelium sagt, frei mache; sie »gibt sich nur einem bewussten Akt der

 9  Ebd., 125; infra, 149. 10  Ebd., 31; infra, 36.

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Freiheit hin«.11 Auch hierin liegt ein wesentlicher Unterschied zum expressiven Denken, das eng mit der Situation, die es zum Ausdruck bringt, verbunden und von ihr bestimmt ist. Ein letzter relevanter Aspekt der hermeneutischen Philosophie Pareysons ist eine gewisse Neubewertung des gesunden Menschenverstands im Gefolge von Vico und Pascal. Er schlägt eine demütige Haltung gegenüber der Philosophie vor, indem er die »Aufgeblasenheit der Philosophen« kritisiert, die sich sehr oft anmaßen würden, als Einzige zur Wahrheit vorzudringen, und dabei nicht erkennen würden, dass die Wahrheit unseren Versuchen, sie zu erkennen, vorausgeht, da sie allen Menschen gegeben ist und sie alle vereint. Den gesunden Menschenverstand neu zu bewerten, bedeutet gewiss nicht, seine Deformationen und Fehlformen zu ignorieren, für die er leicht modisch, oberflächlich und unkritisch wird. Aber jenes ursprüngliche Verhältnis zur Wahrheit und zu einer für den Menschen ursprünglich konstitutiven Wahrheit soll anerkannt und ­allen M ­ enschen zugeschrieben werden. In diesem Thema können wir auch eine Vorwegnahme der Beziehung zwischen Philosophie und religiöser Erfahrung sehen, die Pareyson in den späteren Entwicklungen seines Denkens zum Gegenstand machen wird.12 In Wahrheit und Interpretation wird die Beziehung zwischen Philosophie und gesundem Menschenverstand als eine Beziehung der reziproken Implikation dargestellt. Das heißt, die Philosophie hat einen Charakter der Universalität, der Strenge sowie eine kritische Haltung, die sie nicht nur vom gesunden Menschenverstand unterscheidet, sondern sie auch davor bewahrt, in die genannten Entstellungen zu verfallen; der Bezug auf den gesunden Menschenverstand wiederum, insofern er als »ursprüngliche Anwesenheit des Seins und der Wahrheit auf dem Grunde einer jeden menschlichen Tätigkeit«13 11  Ebd., 229; infra, 282. 12  SV, 63–102. 13 Pareyson, Verità e interpretazione, 225; infra, 276.

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verstanden wird, ist die Bedingung der Möglichkeit für die Entwicklung der Philosophie, dafür, dass sie sich der Wahrheit nähert, ohne zu einer autonomen und willkürlichen rationalen Kon­ struk­tion zu werden.

5.  Die Entwicklung von Pareysons Denken nach Wahrheit und Interpretation Um den Übergang zur nächsten Phase von Pareysons Denken, die von der Ontologie der Freiheit repräsentiert wird, zu veranschaulichen und die Kontinuität und Diskontinuität zwischen den beiden Phasen zu erfassen, ist es angebracht, von einer Passage in Wahrheit und Interpretation auszugehen, in der die Rolle der Freiheit bei der Formulierung der Wahrheit dem traditionellen Primat des Seins nicht widerspricht. Pareyson schreibt: »Durch ihre eigene Ausübung bezeugt die Freiheit die ursprüngliche Anwesenheit, die sie anregt, gerade in dem Akt, in dem sich eine solche Anwesenheit der Freiheit anvertraut und sie leitet, wenn die Freiheit sie zum Objekt ihrer Wahl werden lässt. Der Akt, durch den die Freiheit sich für oder gegen das Sein entscheidet, ist auch der Akt, durch den sie sich entscheidet, sich selbst zu bestätigen oder zu verleugnen, denn es geht hier um die Bestätigung oder die Ablehnung des ontologischen Bezuges, der das eigent­liche Sein des Menschen ausmacht«.14 Der Zusammenhang von Sein und Freiheit ist von solcher Art, dass der Mensch durch sein Verhältnis zum Sein konstituiert wird, das Sein jedoch seine Manifestation der Freiheit anvertraut, so dass es ohne Freiheit verborgen bleiben würde. Das Sein geht also der Freiheit ­voraus, ohne Freiheit ist es jedoch nicht gegeben. Dieses reziproke Verhältnis von Sein und Freiheit wird beim späten Pareyson im Hinblick auf die Freiheit des Menschen bestätigt, die als eine Freiheit bezeichnet wird, die sogar das Sein 14  Ebd., 50; infra, 58.

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leugnen und verdunkeln kann. Auf diese Weise wird ein Vorrang des Seins bestätigt, da die Freiheit mit dieser Leugnung des Seins auch sich selbst leugnet. In der posthum veröffentlichten Ontologie der Freiheit wird die ausschlaggebende ontologische Rolle der Freiheit zum absoluten Primat, nicht nur in dem Verhältnis zwischen Menschen und Sein, sondern in dem ursprünglichen Verhältnis von Sein und Freiheit. Seine früheren Schriften hatten diese Beziehung nie vertieft und leugneten erst recht nicht den traditionellen Primat des Seins. Der Wendepunkt in Pareysons späterer Philosophie besteht darin, dass er die Rolle, die die Freiheit in seinem Denken schon immer gespielt hat, bis zu dem Punkt ausweitet, an dem sie zum Prinzip wird – einem Prinzip, dem das Sein selbst untergeordnet ist. Bei dieser Wende spielt der späte Schelling eine entscheidende Rolle, dem Pareyson durch Schriften, Übersetzungen und Editionen immer mehr Raum in seinem Denken eingeräumt hat. Nicht weniger wichtig für diesen Wendepunkt sind die Über­ legun­gen zum Thema des Bösen, wobei nicht nur Schelling, sondern vor allem Dostojewski besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird. Pareyson näherte sich Schelling zunächst in seinen ästhetischen Studien und widmete der Ästhetik Schellings eine 1964 veröffentlichte Studie. Darüber hinaus befasste er sich auch mit dem Schelling der mittleren und späten Periode. So veröffentlichte er 1974 eine Übersetzung von Werken Schellings unter dem Titel Scritti sulla filosofia, la religione, la libertà (Schriften zu Philosophie, Religion und Freiheit) und 1975 Schelling. Presentazione e antologia (Darstellung und Anthologie des Schelling’schen Denkens). Zudem förderte er die Veröffentlichung von Texten des späten Schelling und gab 1977 selbst eine Sammlung kleinerer Schriften Schellings unter dem Titel Schellingiana Rariora heraus. Besonders wichtig für die theoretische Relevanz Schellings im Denken Pareysons ist der Aufsatz Lo stupore della ragione in Schelling (Das Staunen der Vernunft bei Schelling)15 aus dem Jahr 15  SV, 29–45.

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1979, der in der Ontologie der Freiheit, von der er einen wesentlichen Teil darstellt, neu veröffentlicht wurde. Das Erstaunen der Vernunft bestimmt jenen Übergang von der negativen zur positiven Philosophie, der das Herzstück von Schellings später Philosophie bildet. Es stellt eine Überwindung des Rationalismus dar, welche die Vernunft nicht leugnet. Es ist in der Tat die Bewegung der Vernunft selbst, die ihre Ohnmacht angesichts des absoluten Primats des schlechthin Existierenden entdeckt und die nur fortschreiten kann, wenn sie das bloß Existierende in seiner unabweisbaren Geschichtlichkeit akzeptiert und anerkennt. Bei ­Pareyson wird diese Selbstüberwindung der Vernunft zu einer Bejahung des Primats der Freiheit, des Prinzips als Freiheit selbst. Den Primat der Freiheit radikal zu denken, bedeutet jedoch nun nicht nur, das Sein an die zweite Stelle rücken zu lassen (das Sein wird nur von der ursprünglichen Freiheit gesetzt und im Grunde eigentlich nur ihretwegen gesetzt – ein Paradox, für das Pareyson den Schelling’schen Ausdruck »Gott vor Gott« verwendet), sondern es wird auch zum Bestandteil einer Wahl, die als solche auch die entgegengesetzte Möglichkeit enthält. Hier liegt der Ursprung des Bösen, das seine Möglichkeit in jener Negation des Seins findet, die die ursprüngliche Freiheit gerade deshalb ins Auge fasste, weil sie eine positive Wahl traf, indem sie das Sein wählte und das Nichtsein ausschloss. In diesem Sinne muss man also von einem Bösen in Gott sprechen, einem »tollkühnen Diskurs«,16 wie Pareyson selbst sagte, auch wenn er sich nicht auf das reale Böse, sondern auf die Möglichkeit des Bösen bezieht. Ein Böses, das sich als effektive Negation des Seins konfiguriert und daher nicht auf ein ontologisches Defizit und schon gar nicht auf eine bloße Erscheinung reduzierbar ist, sondern auf die Macht der Freiheit zurückgeführt werden muss, die, auch wenn das Sein gesetzt wurde, die ursprüngliche Möglichkeit seiner Negation bewahrt, diesmal durch den Menschen.

16 Pareyson, Ontologia della libertà, Einaudi, Torino 1995, 245.

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Die Ontologie der Freiheit betreibt jene Umkehrung der metaphysischen Tradition, die Schelling eingeleitet hatte und die er mit Nachdruck betonte, als er erklärte, dass derjenige, der mit dem Prinzip der Notwendigkeit beginnt, »die Freiheit für immer verloren hat«.17 Um die Freiheit zu schützen, ist es notwendig, sie als Prinzip an die Stelle des Seins zu setzen. Auf diese Weise wird der anfanggebende Charakter der Freiheit voll verwirklicht, denn sie ist ein Anfang; aber da es sich um einen absoluten Anfang handelt, muss es gleichzeitig eine Freiheit sein, die sich selbst an die erste Stelle setzt, denn »nur die Freiheit geht der Freiheit voraus«.18 Daraus ergibt sich das eben erwähnte Paradoxon »Gott vor Gott«, ein Paradoxon, das viel Kritik an der Ontologie der Freiheit nach sich gezogen hat. Er macht aber unserer Meinung nach nur darauf aufmerksam, dass die Bejahung des Primats der Freiheit eine Wette ist, wie Pascal es formulierte, und dass die rational plausiblere Alternative, die die Notwendigkeit an den Anfang stellt, die Negation der Freiheit ist. Was die Art und Weise betrifft, wie die ursprüngliche Freiheit zu verstehen ist, so bekräftigt Pareyson, gerade um ihre Gleichsetzung mit der Notwendigkeit zu vermeiden, nicht nur, dass sie ein Anfang und damit eine Selbstsetzung ist, sondern auch, wie wir gesagt haben, eine Wahl, eine paradoxe Wahl, weil die Bedingungen der Wahl in denselben Akt gelegt werden, mit dem sich die ursprüngliche Freiheit setzt. Die Ontologie der Freiheit geht auch von einem Überdenken der Beziehung zwischen Philosophie und religiöser Erfahrung aus, die Pareyson in Wahrheit und Interpretation klar zu unterscheiden suchte, obwohl er die Angebrachtheit einer Verbindung zwischen Philosophie und religiöser Erfahrung gleichzeitig anerkannte. Diese Verbindung kommt der Religion zugute, indem 17  F. W. J. Schelling, System der Weltalter. Münchener Vorlesungen 1827/28 in einer Nachschrift von Ernst von Lasaulx, hg. von S. Peetz, Klostermann, Frankfurt a. M. 1990, 8. 18 Pareyson, Ontologia della libertà, 96.

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sie das Risiko vermeidet, dass sie »in die Sphäre der reinen Innerlichkeit gedrängt wird« und »sich sogar in den nebligen Wolken des Unaussprechlichen verliert«19 oder gar den Anspruch erhebt, die Philosophie zu ersetzen.20 Was den Nutzen der Religion für die Philosophie angeht, so bekräftigt Pareyson die Möglichkeit der Konvergenz und der Zusammenarbeit, aber gleichzeitig auch ihre gegenseitige Unabhängigkeit. Ein neuer Akzent kennzeichnet die Beziehung zwischen Philosophie und Religion in der letzten Phase seines Denkens, und zwar in einer Weise, die derjenigen von Pareysons Werk Existenz und Person näherkommt, in dem er von einem christlichen Existentialismus sprach. In Ontologie der Freiheit erklärt er, dass er es in seinen früheren Schriften absichtlich vermieden habe, von Gott zu sprechen, und stattdessen den Begriff der Transzendenz bevorzugt habe.21 Darin steckt auch eine Distanzierung vom »Gott der Philosophen«, einem Gottesbegriff, den er für die Ausarbeitung philosophischer Kategorien für relevant hält, in dem ihm aber der Gott der religiösen Erfahrung völlig abwesend zu sein scheint.22 Die Philosophie sollte sich diesen Gott nicht aneignen, ihn nicht auf ihre ­eigene Begrifflichkeit reduzieren, sondern ihn interpretieren, indem sie anerkennt, dass der Mensch in e­ inem ontologischen Verhältnis zum Sein und zur Interpretation der Wahrheit steht, welches in der religiösen Erfahrung in ursprünglicher Weise offenbart wird. Die ursprüngliche Gestalt der Wahrheit ist im Symbol und im Mythos gegeben, in dem sich Denken, Poesie und Religion vereinen: Der Mythos ist »die ursprüngliche Interpretation der Wahrheit«.23 Die Philosophie darf nicht direkt über Gott sprechen, sondern muss über die religiöse Erfahrung und die symbolischen und mythischen Inhalte nachdenken, in denen diese 19 Pareyson, Verità e interpretazione, 166; infra, 202. 20  Vgl. ebd.; infra, 202  f. 21 Pareyson, Ontologia della libertà, 89; SV, 67. 22  Siehe ebd.; SV, ebd. 23  Ebd., 142  f.

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Erfahrung sich ausdrückt. Es ist wichtig zu betonen, dass diese Beziehung den hermeneutischen Charakter der Philosophie unterstreicht. Die Inhalte der religiösen Erfahrung sind in der Tat nicht objektivierbar und können nur in ihrer Unerschöpflichkeit verstanden werden, und die philosophische Erkenntnis muss diese Eigenschaften respektieren. Das bedeutet, dass sie nicht reduktiv und rationalisierend auf die symbolische und mythische Sprache einwirken kann, in der diese Inhalte ausgedrückt werden. Pareyson führt eine ausführliche Reflexion über das Symbol und den Mythos durch und behauptet, dass die symbolische Sprache gerade wegen ihres sensiblen und anthropomorphen Charakters geeignet ist, die Transzendenz auszudrücken: »Nur die sensible Sprache kann der Sitz des Transzendenten sein, denn nur in ihr kann dieses sich gleichzeitig in seiner unwiderstehlichen Präsenz und in seiner irreduziblen Andersartigkeit manifestieren«.24 Das Symbol bewahrt die Unaussprechlichkeit, doch muss man, um die negative Theologie zu korrigieren, sagen, dass diese Un­ aussprechlichkeit eine unendliche Aussprechlichkeit ist; und dies bestätigt den Vorrang der hermeneutischen Erkenntnis. Diese hermeneutische Natur der Philosophie, die jene Eigen­schaften des mythischen Symbols anerkennt und respektiert, bedeutet, dass ihr nicht die Aufgabe zukommt, die Existenz Gottes zu beweisen oder zu leugnen. Das hermeneutische Denken interpretiert und erklärt diese Erfahrung, aber es kann das Wissen nicht erweitern, und darin bezeugt es auch, dass die Unterscheidung zwischen Philosophie und Religion keine Trennung oder Opposition ist. Pareysons letzte Reflexionen zum Verhältnis von Philosophie und Religion bestätigen also die hermeneutische Perspektive von Wahrheit und Interpretation, fügen sich aber auch perfekt in die Ontologie der Freiheit ein, denn das Denken der Transzendenz durch die religiöse Erfahrung (in Form der christlichen Erfahrung) macht es möglich, das Ursprüngliche als Freiheit zu den24  Ebd., 105; SV, 81.

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ken, da der christliche Gott als »Schöpfer seiner selbst« und als persönlich definiert wird.25

6.  Die Aktualität des Denkens von Pareyson Die Aktualität eines Denkens, und das gilt auch für das von Pareyson, misst sich nicht nur an seiner Übereinstimmung mit den Orientierungen der Gegenwart, sondern auch an seiner Fähigkeit, der Gegenwart ihre negativsten Konsequenzen vor Augen zu halten oder wirksame Lösungen für ihre problematischsten Resultate aufzuzeigen. Wenn wir das hermeneutische Denken von Wahrheit und Interpretation betrachten, müssen wir erkennen, dass es mit der Ideologiekritik insofern einen weniger aktuellen Aspekt gibt, als der Kampf zwischen den Ideologien der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nachgelassen hat. Andererseits bleibt die Dominanz eines pragmatistischen und technik­ fixier­ten Denkens aktuell, die Pareyson als der Ideologie eigen erkannt hat und die sich heute eher in der Abkehr vom spekulativen Denken zugunsten des wissenschaftlichen Denkens oder zugunsten des Relativismus äußert. Das hermeneutische Denken von Pareyson kann dieser Tendenz entgegenwirken, auch weil es die Ablehnung des objektivierenden Rationalismus der traditionellen Metaphysik und die Aufwertung der Subjektivität und der Freiheit akzeptiert. Die hermeneutische Orientierung legitimiert die Möglichkeit einer Pluralität der Sichtweisen auf die Wahrheit, ohne jedoch die letzte Einheit der Wahrheit zu leugnen. Dabei sollte man auch nicht vergessen, dass diese philosophische Orientierung im heutigen Kontext den interreligiösen Dialog in der Überzeugung legitimiert und bereichert, dass die Wahrheit 25 In einer hermeneutischen Perspektive entsteht der Dialog durch die Anerkennung, dass die tatsächliche Zugehörigkeit zu einer Konfession oder Religion die Vielfältigkeit der Ausdrücke der Wahrheit respektvoll anerkennt.

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auf vielerlei Weise erfahren und ausgedrückt werden kann und dass man, da die Beziehung zur Wahrheit durch Freiheit vermittelt wird, nicht zu ihr gezwungen werden kann. Pareyson erkennt und verteidigt das spekulative Denken, die zentrale Bedeutung des Problems des Seins und seines Prinzips, deutlicher als Gadamer und Ricœur, die beiden anderen großen Vertreter des hermeneutischen Denkens im 20. Jahrhundert. Erst in seinem letzten Werk, Die Lektion des Jahrhunderts, stellt Gadamer explizit die These auf, dass Philosophie Denken der Transzendenz ist – eine Transzendenz, die jedoch nicht wirklich in die Hermeneutik passt, da Gadamer sich in seiner Konzeption des Seins auf Heidegger bezieht und betont: »vielleicht weiß ich etwas davon als Ereignis und vielleicht auch als Ereignis nicht, denn jedes Ereignis ist im Grunde unbegreiflich, unbestimmbar«26 und daher nicht richtig interpretierbar. Im Allgemeinen verraten diese beiden Formen der Hermeneutik also, trotz der persönlichen Freundschaft zwischen den beiden Philosophen und Gadamers in Wahrheit und Methode geäußerter Wertschätzung für Pareyson,27 Denkstile, die nicht kongruent sind. Bei ­Pareyson ist die Ästhetik bereits Hermeneutik, bei Gadamer tendiert die Hermeneutik zu ästhetischen Ergebnissen, d. h. zu ­einer Ästhetisierung des philosophischen Diskurses, die auch zu einer Wiederaufnahme von Bausteinen der großen humanistischen Tradition und einer versöhnlichen Interpretation der Geschichte wird. In Bezug auf Heidegger muss man ebenfalls eine Kluft feststellen. Während Gadamer eine Urbanisierung seines Denkens anstrebt, strebt Pareyson eine Überwindung desselben durch Radikalisierung an. In einigen Aspekten, namentlich in der Bedeutung, die er der Hermeneutik religiöser Symbole und dem Thema des Bösen beimisst, scheint Pareyson Ricœur näher zu stehen. Ricœur jedoch, 26  H.-G. Gadamer, Die Lektion des Jahrhunderts, hg. von R. Dottori, Lit, Münster – Hamburg – London 2001, 83. 27  Siehe Gadamer, Wahrheit und Methode, Mohr, Tübingen 19754, 56.

Einführung

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auch wenn er sich Pareyson in der Anerkennung der Existentialität der Philosophie annähert, neigt dazu, eine umfassende Analyse des Symbolischen in all seinen Formen durchzuführen, ohne die Ergebnisse in einer klar definierten ontologischen Perspektive zusammenzufassen. Trotz der ausgeprägten Ähnlichkeiten scheint Pareyson Ricœurs Gedanken nicht übernommen zu haben. Die Gründe dafür sollten besser erforscht und vertieft werden. Aber vielleicht ist eines der Elemente der Dissonanz die fehlende Affinität Pareysons zur Phänomenologie, die er in Gestalt des Heidegger’schen Denkens als bereits überholt ansieht. Ein weiteres könnte das vielfach mündlich bezeugte Misstrauen gegenüber dem ›langen Weg‹ Ricœurs sein, der in den Augen Pareysons auf eine irenische Versöhnung zwischen verschiedenen Positionen (zum Beispiel zwischen Hermeneutik und analytischem Denken) abzielt. Es ist nicht verwunderlich, dass wir auch hier einen Unterschied im menschlichen und philosophischen Stil zwischen dem katholischen Pareyson und dem protestantischen Ricœur feststellen müssen. Der Erstere wirkt über­ raschend schärfer und radikaler, der Letztere besonnener und versöhnlicher. Von großer Aktualität in dem Sinne, dass sie gegen den Strom schwimmt, ist, parallel zu Ricœur, Pareysons Vertiefung des Themas des Bösen und im Allgemeinen der religiösen Themen, deren heutige Zurückstellung den offensichtlichen Effekt hat, dass der Sinn und die Tiefe der Existenz und der menschlichen Beziehungen entleert werden. Und da der metaphysische Rationalismus verschwunden ist, scheint der einzige Weg, spekulatives Denken zu rekonstruieren, zwangsläufig über religiöse Gegenstände zu führen. Das Thema der Freiheit, das im Mittelpunkt von Pareysons spätestem Werk steht und auch religiöse Wurzeln hat, scheint uns sehr aktuell zu sein. Pareysons Darlegung macht es nicht nur zum ersten ontologischen Prinzip, sondern erfasst und begrenzt zugleich auch jene Dimension der Freiheit als Wahlfreiheit, die heute absolut dominant geworden ist. Pareyson akzeptiert die traditionelle These nicht, wonach nur

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Claudio Ciancio und Ugo Perone

die Freiheit zum Guten die wahre Freiheit ist, sondern er zeigt, dass die Freiheit zum Bösen widersprüchlich ist, weil sie nicht nur zerstörerisch, sondern auch selbstzerstörerisch ist. Mit dem Thema der Person wird ein Thema, das sich durch die gesamte Entwicklung des Denkens von Pareyson zieht und vor allem in seinem ersten Werk hervorgehoben wird, neu entwickelt. Angesichts des gegenwärtigen Reduktionismus, der den Vorrang und die ir­redu­zible Würde der Person in Frage stellt, ist es notwendig, die Person wieder als Ort der Manifestation der Wahrheit und einer transzendenten Wahrheit zu denken, was nur möglich erscheint, wenn man sie als Ebenbild Gottes, d. h. der ursprünglichen Freiheit anerkennt.

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Seit 2001 erscheinen im Verlag Mursia (Mailand) die Gesammelten Werke (Opere complete) von Luigi Pareyson, hrgs. vom Centro Studi Filosofico-religiosi Luigi Pareyson. Der Katalog der Werke kann unter folgendem Link abgerufen werden: https:// www.centrostudipareyson.it/OpComp.html. Die Ausgabe der Opere complete, Milano, ist seit 1998 in Arbeit. Noch nicht veröffentlichte Bände sind in Klammern gesetzt: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20.

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L U I G I PA R E Y S O N

Wahrheit und Interpretation

Vorwort Der vorliegende Band versammelt einige meiner in den letzten sechs Jahren erschienenen Beiträge, die ja bereits vorher inhaltlich und in dieser Reihenfolge als Kapitel eines Buches konzipiert und durchdacht worden waren. Sie haben alle einen programmatischen Charakter, insofern sie eine entschiedene Stellungnahme innerhalb der heutigen philosophischen Debatte bieten und zugleich auch ein Forschungsvorhaben darstellen, das ich in den kommenden Jahren weiterführen möchte und das ich den LeserInnen zur eigenen Ausarbeitung vorschlage. Hierfür sind ­jedoch alle Entwicklungslinien bereits vorhanden, wenn sie auch manchmal in bewusster Kürze ausgedrückt oder nur angedeutet werden. Aufgrund der Allgegenwärtigkeit der Massenmedien und der daraus resultierenden Kulturindustrie neigt man heute dazu, mit Blick auf den schnellen und unmittelbaren Konsum der Leserschaft zu schreiben – dies aber ist der Meditation sowie dem Nachlesen und -denken fremd. Im Gegensatz dazu sind die folgenden Seiten für eine langsame und meditative Lektüre gedacht, die bereit ist, die Anregungen dieses Werkes zu sammeln und keimen zu lassen; deshalb vertraut der Autor auf die Mitarbeit des Lesers. Viele der folgenden Seiten sind Ergebnis eindringlicher Bemühungen und damit dem Risiko ausgesetzt, das in dem Diktum zum Ausdruck kommt: »brevis esse laboro, obscurus fio«. Der Band befasst sich mit Themen, die meines Erachtens ­äußerst aktuell sind, so wie auch schon die Aufsätze von Esistenza e persona vor zwanzig Jahren zeitgemäß waren, wie die nachfolgenden Ereignisse zeigten. Es wird die Notwendigkeit und Autonomie der Philosophie verteidigt – und das ist heute mehr denn je nötig, und zwar angesichts der Angriffe, die von allen Seiten gegen sie geführt werden: von Wissenschaft, Religion und Politik. Wenn diese ihren jeweiligen Bereich verlassen, in dem doch die Philosophie sie nur eingrenzen kann, verlieren sie ihr eigent-

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liches Wesen und degenerieren zu Szientismus, Fideismus und Panpolitizismus – also zu den größten Übeln unserer Zeit: zu Aberglaube, zu Fanatismus, sowohl politisch als auch religiös, und zur Ideologie, die als Instrumentalisierung des Denkens zu verstehen ist. Daraus resultieren die verschiedenen Formen von Relativismus, Skeptizismus, Technizismus, Praxismus, verstanden als purer Aktionismus, sowie auch von Nihilismus – Phänomene, die alle mit dem Schein äußerst kritischer Wachsamkeit antreten, jedoch ein Ergebnis der Dekadenz des philosophischen Denkens sind. Nun kann die Verteidigung der Philosophie  – das heißt, diese extreme, aber entschlossene Rechtfertigung ihrer Notwendigkeit – nicht geschehen, ohne das Denken auf sein eigentliches Prinzip – auf Wahrheit – zurückzuführen und es dadurch vor all den heute immer weiter verbreiteten Versuchen zu bewahren, es auf ein bloß pragmatisches und historisches, technisches und instrumentelles, empirisches und ideologisches Denken zu reduzieren. Dieses Buch läuft Gefahr, unpopulär zu sein, weil es von Wahrheit in einer Zeit spricht, in der man nur noch von Handlung und Vernunft redet, oder genauer gesagt, von Handlung ohne Wahrheit, nämlich Praxismus, und von Vernunft ohne Wahrheit, nämlich Technizismus. Man weiß sehr wohl, dass Praxismus und Technizismus gerade diejenigen Merkmale der gegenwärtigen Welt sind, durch die die Verdrängung des Wahrheitsbegriffs heute von der Philosophie selbst herbeigeführt worden ist, die gerade deshalb so weit gegangen ist, sich selbst zu verleugnen und ihr Ende herbei zu theoretisieren. Das Vorurteil des Historizismus kann sich aber nicht damit zufriedengeben, die Negierung der Philosophie und die Verdrängung der Wahrheit für aktuell und damit Wahrheit und Philosophie zu überholten Resten aus der Vergangenheit zu erklären – und dies schon aus dem leicht nachweisbaren Grund, dass der Wille zur Negierung der Wahrheit ebenso alt ist wie die Absicht, sie zu bejahen. Außerdem ist die Verteidigung der Wahrheit nicht notwendigerweise eine bloß kontemplative oder theoretizistische Hal-

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tung, die zu Recht für ausweichend und einseitig gehalten werden könnte. Denn die für das Denken konstitutive Wahrheit ist sowohl für die Theorie als auch für die Praxis unverzichtbar – und das vor allem, wenn man die tiefe und ursprüngliche Einheit dieser beiden Termini zu begreifen weiß. Dabei darf man nicht vergessen, dass das wahre Denken, d. h. das seines Namens würdige Denken, zuallererst ein Denken des Seins ist; gerade daraus gewinnt es seine praktische Potentialität und seine geschichtliche Wirksamkeit. Es ist einerseits ursprüngliche Einheit von Theorie und Praxis noch vor ihrer Trennung und somit auch vor der Opposition oder Reduktion der einen auf die andere; und andererseits ist es ein authentisches Denken, das sich mit dem beschäftigt, was sein Prinzip und sein Ursprung ist, d. h. mit seiner ontologischen Verwurzelung und seinem offenbarenden Charakter. Gerade deshalb ist ein solches Denken in der Lage, die Erfahrung zu leiten und zu nähren und die Situation zu meistern und umzugestalten. Schließlich kann die Wahrheit weder als objektiv noch als rein metahistorisch verstanden werden. Auf der einen Seite ist sie nicht Objekt, sondern Ursprung des Denkens, nicht Ergebnis, sondern Prinzip der Vernunft, nicht Inhalt, sondern Quelle der Inhalte. Auf der anderen Seite zeigt sich die Wahrheit nur innerhalb einer geschichtlichen und persönlichen Interpretation, die sie bereits auf eine bestimmte Weise formuliert und mit der sie jeweils zusammenfällt, ohne sich dabei zu erschöpfen oder sich auf diese zu reduzieren. Sie ist unabtrennbar von dem Zugangsweg, auf dem sie gewonnen wird, und damit von der geschichtlichen Gestalt, durch die sie in der Zeit erscheint. So verstanden scheint mir der Wahrheitsbegriff auch der sorgfältigsten und erfahrensten Kritik von heute standzuhalten und zugleich in der Lage zu sein, dem Denken jenen offenbarenden Charakter wiederzugeben, von dem das Überleben der Philosophie selbst abhängt. Alles hängt von der Aufrechterhaltung und der Weiterentwicklung des Konzeptes des ontologischen Verhältnisses ab, mit dem Heidegger die heutige Philosophie zu Recht wiederbelebt und verstärkt hat. Dabei muss man aber die

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Sackgasse vermeiden, mit der er die Philosophie mit ihrer ausschließlich negativen Ontologie und der totalen Ablehnung der westlichen Philosophie von Parmenides bis Nietzsche gefangen hält. In der Tat gefährden letztlich gerade diese beiden Zurückweisungen die Existenz der Philosophie selbst. Denn einerseits versinkt der philosophische Diskurs in Schweigen, mit der Folge, dass bestimmte philosophische Diskurse unmöglich werden; vor allem aber wird die Möglichkeit einer Ethik geleugnet. Andererseits wird die Ablehnung des gesamten westlichen Denkens eher zur Einladung für eine totale Revolution als zur Aufforderung, sich daran zu erinnern, dass es an jedem Punkt des geschichtlichen Prozesses eine Alternative zwischen Positivem und Negativem gibt und dass das Wichtigste dabei ist, dem Ersteren freie Hand gegenüber Letzterem zu geben. Indem Heidegger die Unerschöpflichkeit mit der Unaussprechlichkeit und die Regeneration mit der Revolution verwechselt, kehrt er unbewusst zur Gleichgültigkeit der historischen Gestalten und zur Univozität des zeitlichen Prozesses zurück, die von eben jenem Historismus behauptet wurden, den er so siegreich bezwungen hatte. Dies geschieht, weil Heidegger, indem er die von einer authentischen Ontologie unabtrennbare personalistische Dimension ignoriert, letztlich die Verhältnisse zwischen Sein und Zeit bzw. zwischen Nicht-Zeitlichem und Geschichte verstellt hat. So ist mein grundlegender Punkt, die ursprüngliche Solidarität von Person und Wahrheit zu denken, die das eigentliche Wesen von »Interpretation« ausmacht. Der Reflexion dieses Interpretationsbegriffs habe ich mich seit etwa zwanzig Jahren gewidmet, genauer seitdem ich über die Frage nach der Einheit von Philosophie überhaupt und der Vielfalt der Philosophien nachzudenken anfing sowie über die Möglichkeit eines Dialogs zwischen den verschiedenen persönlichen Perspektiven, der nur möglich ist, wenn die Auffassung eines objektiven Wahrheitsverständnisses endgültig aufgegeben wird. In Bezug auf den Begriff der Interpretation, der sich aus dieser Reflexion ergab und den ich durch seine Anwendungen in anderen Bereichen, vor allem in der Ästhetik, ver-

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tieft habe, möchte ich an dieser Stelle den hermeneutischen und damit ontologischen Aspekt des Personalismus betonen, der mich von allen Formen von Spiritualismus idealistischer oder subjektivistischer Herkunft trennt. Den Grundgedanken dieses Buches habe ich aus ebendiesem Interpretationsbegriff gewonnen, nämlich aus der Unterscheidung zwischen e­ inem »offenbarenden« und einem »ausdrückenden« Denken, die das Denken gegen die ihm vom gegenwärtigen Technizismus und Ideologismus aufgezwungene Instrumentalisierung wieder auf seine ursprüngliche veritative Funktion zurückzuführt. Diese Interpretationstheorie hat das Glück gehabt, die Aufmerksamkeit ausländischer Denker auf sich zu ziehen, mit denen ich die ursprüngliche existenzialistische Inspiration und die ständige Aus­einander­setzung mit Heideggers Philosophie teile. Darüber ­hinaus wurde die Unterscheidung zwischen offenbarendem und ausdrückendem Denken von einigen italienischen Gelehrten begrüßt, denen ich durch eine tiefe Verbundenheit zugetan bin, wobei unser Konsens für mich eine Bestätigung meiner Arbeit b ­ edeutet. Ich bin mir bewusst, dass ich mit der Verteidigung der Philosophie und der Rechtfertigung der Wahrheit den schwierigsten Weg gewählt habe. In einer kulturellen Lage wie der heutigen ist es viel zu leicht, die Philosophie zugunsten der Wissenschaft oder der Politik oder der Religion aufzugeben oder die Philosophie auf eine empirische Reflexion über die sogenannten Humanwissenschaften wie Soziologie, Psychologie und Anthropologie zu reduzieren oder die Wahrheit zugunsten der mannigfaltigen, aber gleichgültigen Vielfalt historischer Gestalten zu opfern oder die Wahrheit im herrschenden Kult der Handlung und der Effizienz zu leugnen. In der Philosophie aber ist nichts weniger wahr und nichts schändlicher als die Vereinfachung und oft erweist sich die bewusste Suche auch nach dem Komplexen nicht nur als Index, sondern auch als Garantie der Wahrheit. Wenn Platon die Schönheit des Risikos pries, spielte er darauf an, dass die Philosophie Kühnheit und Mut erfordere. Und das ist auch das, was Schelling in neuerer Zeit meinte: »Wer wahrhaft philo-

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sophieren will, muss aller Hoffnung, alles Verlangens, aller Sehnsucht los sein; er muss nichts wollen, nichts wissen, sich ganz bloss und arm fühlen, alles dahingeben, um alles zu gewinnen«.

Ergänzungen Die in diesem Buch gesammelten Beiträge sind ursprünglich erschienen in: Pensiero espressivo e pensiero rivelativo, Eröffnungsrede zum Kurs in Theoretischer Philosophie, gehalten an der Universität von Turin am 12. November 1964 und veröffentlicht im Giornale Critico della Filosofia Italiana, 2 (1965). Valori permanenti e processo storico, gehalten im Campidoglio in Rom am 3. Oktober 1968 als Eröffnungsrede zum Convegno Internazionale sui valori permanenti nel divenire storico, organisiert vom Istituto Accademico di Roma und veröffentlicht unter dem Titel Valori permanenti e storia in den Akten dieser Tagung, Rom, 1969. Originarietà dell’interpretazione, erweiterte Fassung des Aufsatzes erschienen mit dem gleichen Titel in: Hermeneutik und Dialektik (Tübingen: Mohr, 1970). Filosofia e Ideologia, Einführungsvortrag zum XXI. Convegno del Centro di Studi Filosofici di Gallarate, gehalten am 5. September 1966 und veröffentlicht in Filosofia, 2 (1967) und auch in Ideologia e Filosofia, Atti del XXI Convegno del Centro di Studi Filosofici di Gallarate (Brescia: Morcelliana, 1967). Hier erscheint unter dem Titel Destino dell’ideologia die Antwort auf und die Synthese der Diskussionen der oben erwähnten Tagung, veröffentlicht ohne Titel in Ideologia e Filosofia, Atti del XXI Convegno del Centro di Studi Filosofici di Gallarate (Brescia: Morcelliana, 1967).

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Necessità della filosofia, Vortrag, gehalten im Februar 1967 an der Assoziazione culturale Italiana unter dem Titel Elogio della filosofia, veröffentlicht in Le conferenze dell’Associazione culturale italiana, 19 (1967). Filosofia e senso comune, Akademische Rede, gehalten am 6. November 1967 zum Beginn des akademischen Jahres 1967–1968 an der Universität Turin und veröffentlicht in Annuario dell’Università degli Studi di Torino per l’anno accademico 1967–68: anno 564 della fondazione (Torino, 1968). Die in diesem Buch dargelegte These wurde im ständigen Dialog mit den wichtigsten Theorien von heute und mit jenen Philosophien aus der Vergangenheit entwickelt, die meines Erachtens weiterhin aktuell geblieben sind. Die Verweise sind nicht immer explizit und oft wird eine ganze Debatte in wenige Zeilen komprimiert. Der informierte Leser wird sie bemerken und die nötigen Bezüge selbst herstellen. Jeden­falls habe ich in den Fußnoten die diesbezüglichen Referenzen angegeben, um einige der vielleicht weniger offensichtlichen Anspielungen entzifferbar zu machen. Darüber hinaus habe ich mich in den folgenden Anmerkungen darauf beschränkt, auf die im Text expliziten Zitate zu verweisen und nur einige nützliche Anmerkungen zum besseren Verständnis des Textes zu geben. Die erste Ausgabe meines Buches Esistenza e persona, das auf Seite 3 zitiert wird, erschien 1950: In diesem Jahr ist ein Nachdruck der dritten Auflage erschienen (Turin: Taylor, 1970). Ich möchte auf einige der Themen verweisen, die in diesem Buch diskutiert wurden und die dann in der kulturellen und spekulativen Debatte der folgenden Jahre immer zentraler wurden. Es handelt sich vor allem um Probleme, die durch die Auflösung des Hegelianismus auftauchten und aktuell wurden: die Vielfältigkeit und historische Bedingtheit der Philosophien und das sich daraus ergebende Problem eines Konzepts der philosophischen Historiographie; der Dialog zwischen den verschiedenen Perspektiven auf die Wahrheit; die Vermeidung des Fanatismus wie des Skeptizismus; ein pluralistisches, aber nicht relati-

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vistisches Verständnis von Wahrheit; die Möglichkeit einer aktuellen »Wiederentdeckung« und einer »Wiederherstellung« (und eben nicht einer »Erneuerung« oder eines »aggiornamento«) des Christentums; die zwangsläufig antichristliche Folge der modernen Kultur als Säkularisierung des Christentums; die Frage nach der Unabhängigkeit des Christentums von kulturellen Kontexten und die Wiederbehauptung seines rein religiösen Wertes, nicht aber als bloß intimistisch und »privat« gedacht; das Christentum als die unausweichliche Alternative jeder gegenwärtigen Konzeption, die sich der Probleme der Gegenwart bewusst ist; der Atheismus als das unumstößliche »innere« Problem jedes gegenwärtigen Bekenntnisses zum Christentum; die Probleme eines heutigen Personalismus als Konvergenz scheinbar gegensätzlicher, aber tatsächlich untrennbarer Begriffe, wie Singularität und Gemeinschaft, die Möglichkeit einer zwischenmenschlichen Kommunikation, das Verhältnis von Person, Gesellschaft und Transzendenz usw. Die folgenden Bemerkungen betreffen die Zentralität des Begriffs von »Interpretation«, auf den ich auf Seite 6  f. anspiele. Die Aufmerksamkeit, die ich in meinen frühen Arbeiten dem Existentialismus widmete, prädisponierte mich bereits zu einer Theorie der Interpretation: Zum einen hatte mich die Rezeption von Heidegger (die ich seitdem nie aufgegeben habe) zur Lektüre von Dilthey zurückgeführt; zum anderen betonte ich die Relevanz der theoretischen Standpunkte von Jaspers, sei es aus der Psychologie der Weltanschauungen oder aus dem antiperspektivistischen Pluralismus seiner Philosophischen Logik, wie mein Buch La filosofia dell’esistenza e Carlo Jaspers (Neapel: Loffredo, 1940) und der Aufsatz: Ultimi sviluppi del pensiero di Jaspers, in Rivista di filosofia, 4 (1948) zeigen, der in der ersten Ausgabe von Esistenza e persona wiederveröffentlicht wurde. Die Grundzüge einer Interpretationstheorie habe ich im Kontext der Frage nach der Einheit der Philosophie und der Vielheit der Philosophien skizziert, um das Wesen des philosophischen Denkens zu bestimmen und ein neues Konzept der philosophischen Geschichtsschreibung vorzuschlagen. In diesem Sinne verweise ich vor allem auf Il compito della filosofia oggi in Esistenza e persona; Fichte (Turin: Editio­

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nen der »Filosofia«, 1950), XLV–LIII; Unità della filosofia in Filosofia, 1 (1952); Prefazione e Conclusione a G. W.  F. Hegel, Introduzione alla storia della filosofia (Bari: Laterza, 1953). Weitere Präzisierungen ergaben sich, als ich den Begriff Interpretation auf das Verhältnis zwischen dem Universellen und dem Partikularen sowie auf zwischenmenschliche Beziehungen ausdehnte, wie es bereits in Esistenza e persona und in dem Aufsatz La conoscenza degli altri von 1953 geschah. Die entscheidenden Vertiefungen gewann ich jedoch aus der Ästhetik, in der der Begriff von Interpretation mir besonders produktiv zu sein schien und damit nicht nur zur Lösung von Fragen nach dem Kunstverständnis beitrug, sondern auch zu anderen Problemen, wie etwa zum Studium der Natur, zur historischen Erkenntnis, zum sozialen Leben und so weiter (Filosofia della persona, 1958; nun in der dritten Auflage von Esistenza e persona, 1966). Die Ästhetik, der ich viele Jahre lang meine Forschung gewidmet habe, erschien mir nicht als der eigentliche Bereich des Interpretationsbegriffs, sondern als die größte Überprüfung seines ursprünglichen und allumfassenden Charakters. Es geht nämlich nicht darum, einen eigentlich ästhetischen Begriff auf andere Bereiche auszudehnen, sondern aus der besonderen Klarheit, die die Gültigkeit des Interpretationsbegriffs im Bereich der Ästhetik erreicht, eine Bestätigung der Gültigkeit abzuleiten, die er in allen Bereichen menschlicher Tätigkeit und in jedem menschlichen Verhältnis ausweist. Im Folgenden verweise ich auf die Schriften, in denen ich mich spezifisch mit dem Begriff der Interpretation im Kontext der Ästhetik beschäftige: Arte e conoscenza. Intuizione e interpretazione, in Filosofia, 2 (1950) und Sui fondamenti dell’estetica, in Atti del VII Convegno di Studi Filosofici di Gallarate 1951 (Padua: Liviana, 1952), beide nun in Teoria dell’arte: Saggi di estetica (Mailand: Marzorati, 1965); Estetica. Teoria della formatività (Turin: Edizioni di Filosofia, 1954; zweite Auflage: Bologna: Zanichelli, 1960) veröffentlicht, insbesondere auf den Seiten 35–37, 146–149, 151–238; Il concetto di interpretazione nell’estetica crociana, in Rivista di filosofia, 3 (1953), auch in L’esperienza artistica: saggi di storia dell’estetica (Milan: Marzorati, erscheint demnächst); L’interpretazione dell’opera d’arte, Vortrag zum

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III. Congresso Internazionale di Estetica (Venezia, 1956), in Rivista di Estetica, 3 (1956), und Interprétation et jugement, in Revue philosophique, 2 (1961), beide nun in Teoria dell’arte bereits zitiert; I problemi dell’estetica, geschrieben 1958, veröffentlicht 1961, und in der zweiten Auflage: Mailand: Marzorati, 1966, 189–231; Conversazioni di estetica (Mailand: Mursia, 1966), insbesondere die Seiten 33–39, 41–47, 55, 68–69, 71–78, 107–108, 112–113. Ich hoffe, dass die in diesem Buch aufgestellten explizit weitergeführten Entwicklungen des Interpretationsbegriffes zu einem besseren Verständnis der Interpretationstheorie beitragen, die ich schon in meinen Büchern zur Ästhetik skizziert habe. Vor allem hoffe ich, dass nun der/die Leser/in sie als eine allgemeine Theorie der Interpretation auffasst, die nicht auf den Bereich der Ästhetik beschränkt ist, da man sie mit einem auf die gesamte menschliche Tätigkeit gerichteten Blick »lesen« und ihre Gültigkeit in allen menschlichen Situationen und Verhältnissen feststellen kann. Unter den ausländischen Denkern, die für die von mir vorgeschlagene Interpretationstheorie Interesse gezeigt haben, erinnere ich an eine Art besonderer Wahlverwandtschaft mit Hans-Georg Gadamer, der eine solche in seinem Hauptwerk Wahrheit und Methode: Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen, Mohr (Paul Siebeck) 1960, 113 und auch in seinem Aufsatz Hermeneutik, in Contemporary Philosophy, herausgegeben von R. Klibansky (Florenz: La Nuova Italia, 1969), 367 zum Ausdruck brachte. Die italienischen Denker, die meine Unterscheidung zwischen ausdrückendem und offenbarendem Denken wahrgenommen haben, sind: Augusto Del Noce, Riforma cattolica e filosofia moderna: I. Cartesio (Bologna: Il Mulino, 1965), 670–676 und Sergio Cotta, La sfida tecnologica (Bologna: Il Mulino, 1968), 105–106, 123  ff. Die Schärfe ihrer eindringlichen Meditationen, die sie aus meiner Unterscheidung gewannen, ist für mich die aussagekräftigste Bestätigung meines Vorschlags. In gewisser Weise scheint mir analog zu dieser Unterscheidung die Analyse, die M. F. Sciacca in seinem Buch Filosofia e antifilosofia (Mailand: Marzorati, 1968) so ausführlich dargestellt hat; siehe auch Sto-

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ricismo o storicità dei valori?, in: I valori permanenti nel divenire storico, Atti del convegno promosso dall’Istituto Accademico di Roma (Rom, 1969). Auf Seite 7: Platons berühmtes καλὸς γὰρ ὁ κίνδυνος bezieht sich auf die Kühnheit der Philosophie und kommt im Phaidon (114 D) vor. Das Zitat von Schelling stammt aus den Erlanger Vorträgen (Schröter V 12), die meines Erachtens zu den besten seiner Schriften zählen. In der Tat hatten diese Vorträge von 1821 unter den Zuhörern großen Erfolg, wie etwa bei dem Dichter von Platen. Eine hervorragende Arbeit hat der Schellingexperte Horst Fuhrmans mit der Veröffentlichung unter dem Titel Initia philosophiae universae (Bonn: Bouvier, 1969) der Nachschrift dieses Kurses vom Wintersemester 1820–1821 geleistet. Zum besseren Verständnis der zitierten Passage ist es angebracht, an das zu erinnern, was Schelling unmittelbar davor schreibt: »Selbst Gott muss der lassen, der sich in den Anfangspunkt der wahrhaft freien Philosophie stellen will. Hier heisst es: Wer es erhalten will, der wird es verlieren, und wer es aufgibt, der wird es finden. Nur derjenige ist auf den Grund seiner selbst gekommen und hat die ganze Tiefe des Lebens erkannt, der einmal alles verlassen hatte, und selbst von allem verlassen war« (V 11; Initia philosophiae universae, 18–19).

Einleitung Ausdrückendes Denken und Offenbarendes Denken 1.  Historistische Betrachtung und spekulative Diskussion Einer der geläufigsten Gemeinplätze in der heutigen Kultur ist eine generische und doch ganz und gar historistische Auffassung, der zufolge jede Epoche ihre eigene Philosophie hat und deren Bedeutung des philosophischen Denkens in der Bindung an die eigene Zeit liegt. Dabei handelt es sich nicht mehr um den klassischen Historismus, der die Geschichte als fortschreitende Manifestation der Wahrheit und die einzelnen Philosophien als Entwicklungsschritte zur allumfassenden Wahrheit interpretierte und dann am Ende der Übereinstimmung zwischen einer bestimmten Philosophie und ihrer geschichtlichen Situation ihr eine spekulative Bedeutung zuwies. Vielmehr handelt es sich heute um einen radikalen Historismus, der der Philosophie den Wahrheitswert abspricht, dem sie aufgrund der Beschaffenheit ihres Denkens zustrebt und ihn dabei lediglich als Ausdruck ihrer eigenen Zeit ansieht. Diese Art von Historismus gewinnt seine Stärke weniger aus einer stringenten begrifflichen Begründung, sondern vielmehr daraus, dass er der heute vorherrschenden Mentalität entspricht und das – mehr oder weniger – bewusste Einschätzungskriterium eines großen Teils der kulturell bedeutenden Menschen widerspiegelt, d. h. dass er ein echtes idolum theatri ist. Ich glaube, man braucht diesen Historismus weder anzunehmen noch ganz abzulehnen; vielmehr muss die Grenzlinie bestimmt werden, innerhalb derer diese Art von Historismus noch angewandt werden kann und außerhalb derer er abgelehnt werden muss. Meines Erachtens findet sich dieses Unterscheidungskriterium in derselben geschichtlichen Wirklichkeit des philosophischen Denkens. Es

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gibt Philosophien, die zwar mit ihrem Anspruch auf eine universalgültige Formulierung einen Wahrheitswert anstreben, aber dennoch nichts anderes tun als ihre eigene Zeit auszudrücken. Mit diesen eine spekulative Diskussion zu führen, erweist sich als nutzlos und unangemessen. Sie können lediglich hinsichtlich ihrer engen Bezugstreue zur historischen Situation gewertet werden. Demgegenüber erweist sich die kritische Funktion der historistischen Methode als positiv und nützlich. Ein tiefes Bedürfnis nach Aufrichtigkeit erlaubt es uns, in ihren theoretischen Behauptungen nicht mehr zu sehen als vergebliche Ansprüche, unbewusste Illusionen oder zweideutige Tarnungen. Ein authentischer historischer Sinn kann also diesem Denken, das jedweder Wahrheit radikal entleert ist, wieder Bedeutung verleihen, indem er ihre Fähigkeit anerkennt, Ausdruck ihrer eigenen Zeit zu sein. Aber es gibt auch Philosophien, die gerade im Akt des Ausdrucks ihrer eigenen Zeit auch und vor allem Enthüllung der Wahrheit sind. Man kann die so verstandene historistische Methode nicht auf diese Philosophien anwenden, ohne damit ihr Wesen völlig zu verfälschen – ein Wesen, das nach einer entsprechenden historischen Erörterung eine wirklich spekulative Diskussion ­erfordert. Daher sollen historistische Betrachtung und spekulative Diskussion nicht als zwei verschiedene Arten des philosophiegeschichtlichen Denkens aufgefasst werden. Es handelt sich dabei nicht um zwei sich gegenseitig ausschließende Methoden, die um die Betrachtung der gesamten Philosophiegeschichte konkurrieren, sondern um zwei nebeneinander komplementär bestehende Methoden, deren Aufgabe es ist, sich diese zu teilen. Wirklich gibt es Philosophien, die sozusagen lediglich »ausdrückende« sind, und Philosophien, die vorwiegend »offenbarende« sind. Nur die ersteren müssen der von der historistischen Methode geforderten Historisierung unterzogen werden und all ihr Anschein und ihr Anspruch auf Wahrheit reicht nicht aus, um sie ­einer philosophischen Diskussion würdig zu erweisen. Und nur die letzteren erheben sich auf diese Ebene und verdienen und

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provozieren zugleich eine spekulative Diskussion. Nicht genügt die »ausdrückende« Seite, die unweigerlich neben der »offenbarenden« Seite auch diesen Philosophien eigen ist, um so deren historistische Kritik zu legitimieren, die letztlich darauf abzielt, ihnen die Wahrheit abzusprechen und sie einfach in ihrer Übereinstimmung mit der historischen Situation Bewährung finden zu lassen. Deshalb ist es angemessen, den Unterschied zwischen dem Denken, das ein bloßes historisches Produkt ist, und dem Denken, das die Wahrheit offenbart, zu ergründen, ohne dabei zu vergessen, dass diese Unterscheidung nicht nur die Philosophie betrifft, sondern ein Dilemma darstellt, dem der Mensch in allen seinen Tätigkeiten gegenübersteht: Der Mensch muss sich entscheiden, entweder Geschichte zu sein oder Geschichte zu haben; ob er sich mit seiner eigenen Situation identifizieren will oder diese als ein Mittel zum Schöpfen aus dem Ursprung betrachten; ob er auf die Wahrheit verzichten will oder ob er selbst ihr eine einmalige, unwiederholbare Offenbarung gibt. Dies hängt davon ab, wie frei der Mensch sich in seiner eigenen Situation verortet – an dieser Stelle kann ich nicht die ganze spezifische Natur dieser ursprünglichen Freiheit untersuchen, in der nicht nur das Sein des Menschen, sondern auch sein Bezug zum Sein besteht. Diese Verortung kann der Mensch als rein geschichtliche oder aber als eine zuvorderst metaphysische Position ansehen, als einfache Schranke der Existenz oder als Grenze zum Sein, als unvermeidliche und fatale Beschränkung oder als Zugangsweg zur Wahrheit. Von diesen Alternativen hängt die Möglichkeit ab, dass die Person sich selbst entweder auf ein bloßes historisches Produkt reduziert oder selbst zur lebendigen Perspektive der Wahrheit wird und dem Denken die Möglichkeit eröffnet, entweder ein bloßer Ausdruck der Zeit oder eine persönliche Offenbarung des Wahren zu sein.

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2.  Ausdruck der Zeit und Offenbarung der Wahrheit Das offenbarende Denken ist immer zugleich ausdrückendes, da sich die Wahrheit immer nur innerhalb der jeweiligen einzelnen Perspektive anbietet. Die Wahrheit ist nur durch ein unersetzliches persönliches Verhältnis zugänglich und kann nur über den persönlichen Weg zu ihr formuliert werden. Das aus dieser ursprünglichen Solidarität von Person und Wahrheit ausgehende Denken ist ontologisch und persönlich und somit sowohl offenbarend als auch ausdrückend zugleich: Es drückt die Person aus, indem es die Wahrheit enthüllt, und offenbart die Wahrheit in dem Maße, in dem es die Person ausdrückt, ohne dass einer der beiden Aspekte gegenüber dem anderen überwiegt. Wir könnten uns selbst über die Wahrheit setzen, aber dann würde sie eher verdunkelt als offenbart und die Zeit verkäme zu einem matten, undurchdringlichen Schleier und wir könnten uns selbst nicht mehr verstehen. Wir könnten meinen, die Wahrheit zu entdecken, indem wir von uns selbst und unserer Situation uns abwenden. Aber dann müsste die Wahrheit entschwinden, weil wir das einzige uns gegebene Instrument, um sie zu erfassen, nämlich unsere eigene Person, nicht eingesetzt haben. Die historische Situation kann die Erkenntnis der Wahrheit keineswegs verhindern, so als ob diese durch die historisierende Betrachtung deformiert oder vervielfältigt werden könnte. Die historische Situation ist vielmehr das einzige Medium für sie, voraus­gesetzt, es wird die ursprüngliche ontologische Offenheit der historischen Situation wiedererlangt. Dann wird die ganze Person in ihrer Einzigartigkeit zum enthüllenden Medium, das – weit entfernt davon, sich über die Wahrheit hinweg zu setzen – sie vielmehr in ihre eigene personale Perspektive einfasst und so die Formulierung der Wahrheit gerade durch den Akt vervielfältigt, der sie einzigartig sein lässt. Auf diese Weise bezeugt das offenbarende Denken seine eigene Fülle: Im Sein verankert und in der Wahrheit verwurzelt leitet es seine eigenen Inhalte und seine eigene Bedeutung unmittelbar aus ihr ab, und die Situation wird

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nur insofern zum Zugang zur Wahrheit, als sie zur geschicht­ lichen Substanz der Person wird. So ergibt sich, dass im offenbarenden Denken einerseits alle die gleiche Sache sagen und andererseits jeder eine einzige Sache sagt. Wohl sagen alle dasselbe, nämlich die Wahrheit, die ja nur einzig und identisch sein kann; und doch sagt jeder Einzelne nur E ­ ines, nämlich die Wahrheit auf seine ausschließlich eigene Weise. Ein authentischer Denker ist derjenige, der nicht nur die einzige Wahrheit sagt, die ja in ihrer Unendlichkeit alle Per­spek­ tiven trotz ihrer Verschiedenheit wohl miteinander verbinden kann, sondern der, der sein ganzes Leben lang danach strebt, das Eine zu sagen und zu wiederholen, das seine Interpretation der Wahrheit ist. Denn diese ständige Wiederholung ist das Zeichen dafür, dass er sich keineswegs darauf beschränkt, Ausdruck der Zeit zu sein, sondern vielmehr, dass er zur Wahrheit gelangt ist. Die Wahrheit ist also einzigartig und zeitlos innerhalb der vielfältigen und geschichtlichen Formulierungen, die von ihr gegeben werden. Diese Einzigartigkeit jedoch, die sich nicht durch die Vervielfältigung der Perspektiven beeinträchtigen lässt, kann nur eine Unendlichkeit sein, die all diese Perspektiven anregt und nährt, ohne sich in einer der Formulierungen zu erschöpfen oder irgendeine davon zu bevorzugen. Dies bedeutet, dass die Wahrheit im offenbarenden Denken eher als Quelle und Ursprung denn als Objekt der Entdeckung liegt. Wie es keine Offenbarung der Wahrheit gibt, die nicht persönlich ist, so gibt es auch keine Wahrheit, die nicht als unerschöpflich erahnt wird. Nur als Unerschöpfliche vertraut sich die Wahrheit dem Wort an, das sie offenbart, und gewährt ihm eine Tiefe, die sich niemals völlig explizieren oder erklären lässt.

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3.  Merkmale eines Denkens, das das Band zwischen Person und Wahrheit verkennt Das offenbarende Denken wird also durch die völlige zwischen Sagen, Enthüllen und Ausdrücken bestehende Harmonie charakterisiert. Das Sagen ist zugleich und untrennbar Offenbaren und Ausdrücken. Dass das Wort nun aber offenbarend ist, entspricht einem spekulativen, jedoch nicht in die Seinsvergessenheit geratenen Denken; und dass das Wort ausdrückend ist, ist Zeichen der historischen Konkretheit eines Denkens, das nicht zeitvergessend ist. Im offenbarenden Denken offenbart das Wort die Wahrheit in dem Akt, in dem es die Person und ihre Zeit ausdrückt, und umgekehrt. Der ausdrückende und historische Aspekt beeinträchtigt keineswegs den offenbarend-theoretischen Aspekt, sondern vielmehr unterstützt und nährt er diesen, weil hier die Situation selbst als geschichtliche Aufgeschlossenheit für die zeitlose Wahrheit angesehen wird. Der offenbarende Aspekt kann seinerseits nicht auf den ausdrückend-historischen Aspekt verzichten, weil es keine objektive Manifestation der Wahrheit gibt, sondern sie ist stets innerhalb einer historischen Perspektive bzw. der persönlichen Auslegung zu erfassen. Dies alles ändert sich dann, wenn die Freiheit aufhört, das ursprüngliche Band zwischen Wahrheit und Person zu bilden. Die Wahrheit verschwindet und lässt das Denken leer und unverankert; und auch die Person verschwindet, wird reduziert auf die bloße historische Situierung. Die zwischen Sagen, Enthüllen und Ausdrücken bestehende Harmonie zerbricht und alle Verhältnisse werden davon betroffen und tiefgreifend verändert. Es kommt zur endgültigen Trennung von Offenbarung und Ausdruck: Ohne Wahrheit ist der offenbarende Charakter des Wortes bloß scheinbar und wird auf eine leere und gehaltlose Rationalität reduziert. Der Ausdruck, der sich nicht mehr auf die Person und deren offenbarende Öffnung, sondern auf die Situation in ihrer bloßen Zeitlichkeit bezieht, wird unbewusst und verborgen. Die Natur des Wortes wird deformiert und zerfällt: Auf der

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einen Seite bleibt ein Diskurs, dessen leere Rationalität nur noch einer technischen und instrumentellen Verwertung dient, auf der anderen Seite steht – hinter dem expliziten Diskurs verborgen – seine eigentliche Bedeutung, nämlich der Ausdruck der Zeit. Diese Peripetie, in der das ontologische Denken durch das historische, der spekulative Diskurs durch den ausrückenden, das offenbarende Wort durch das instrumentelle ersetzt wird, soll nun näher betrachtet werden. Von der Wahrheit getrennt bewahrt das Denken von seinem offenbarenden Charakter lediglich den Anschein, d. h. eine leere Rationalität, deren Begriffe sich nun auf den anderen Aspekt des Denkens beziehen müssen, nämlich auf seinen ausdrückenden Charakter. Aber die Trennung zwischen Offenbarung der Wahrheit und Ausdruck der Person, die die innere Prägnanz des Wortes zerstört, erzeugt eine Aufsplitterung in den expliziten Diskurs und den tiefen Ausdruck: das Wort sagt zwar etwas, bedeutet aber etwas anderes. Um die wahre Bedeutung des Diskurses zu finden, muss man nicht das betrachten, was das Denken sagt, sondern das, was es verrät. Das aber heißt, nicht seine expliziten Schlussfolgerungen, seine rationale Kohärenz und die Universalität seiner Begriffe zu betrachten, sondern die unbewusste Basis, die in ihm zum Ausdruck kommt, d. h. die Situierung, den geschichtlichen Moment, die Zeit, die Epoche. Daraus ergibt sich eine zweite Konsequenz: die Identifizierung des Denkens mit der Situation. Das Denken wird völlig historisiert, weil es ja lediglich die historische Situation zum Ausdruck bringt und sich nur nach seiner Adhärenz an die Zeit, in der es entsteht, bewerten lässt. Es öffnet sich der Weg zum Kulturalismus, der ­alles Denken in eine allgemeine Kulturgeschichte einschließt, die allein seinen ausdrückenden Aspekt hervorhebt, ohne jedes Interesse für seinen möglichen spekulativen Wert; der Weg zum Biographismus, der das Denken auf einen nicht-kommunizierbaren Ausdruck einer Situation reduziert, in der jeder wie in einem unentrinnbaren Gefängnis eingemauert wäre; und schließlich der Weg zu einem mehr oder weniger extremen Historizismus, der alles Denken auf einen einfachen Ausdruck der geschichtlichen

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Situation reduziert und ihm die Möglichkeit abspricht, seiner eige­nen Zeit zu entkommen. Auf diese Weise bemerken wir eine dritte Konsequenz: der Zwischenraum, der sich zwischen explizitem Diskurs und tiefem Ausdruck auftut, ist einer der Tarnung, d. h. jener unbewussten Naivität oder Unaufrichtigkeit, durch die das Denken eine geschichtliche Situation verabsolutiert, sie der Errungenschaft ­einer spekulativen Universalität rühmt, während es letztlich nur die Situation in ihrer bloßen Zeitlichkeit ausdrückt. Der begriffliche Diskurs des geschichtlichen Denkens, der immer Wahrheitsgehalte – wie degradiert und entleert diese auch sein mögen – in sich trägt, und der immer eine spekulative Absicht – wie vereitelt und unrealisiert sie auch sein mag – voraussetzt, tut nichts anderes, als dem, was eigentlich pragmatisch und zeitlich ist, den Anschein von Rationalität und Ewigkeit zu geben, d. h. historische Bedingungen zu konzeptualisieren und praktische Haltungen zu rationalisieren. Hiermit zeigt das historische Denken seine unvermeidlich pragmatische und instrumentelle Bestimmung. Hier finden wir die vierte Konsequenz, die sich deutlich in den sogenannten entmystifizierenden Philosophien zeigt, wie z. B. in dem panpolitischen Praxismus, der die Ideologien vom bloßen Ausdrücken der Zeit in passende Handlungsmittel umwandelt, sowie in den verschiedenen Formen des Experimentalismus, der die Funktion des Denkens in die Ausarbeitung von verschiedenen rationalen Techniken auflöst. Diese Philosophien sind die Wiedergewinnung des Rationalismus nach der Entmystifizierung des bloßen ausdrückenden Denkens. Wenn dieses der Wahrheit beraubte Denken eine rationale Bedeutung haben will, die nicht auf die Tarnung der historischen Situation reduziert ist, kann es nichts anderes als technische und pragmatische Vernunft werden. Damit ist die Peri­petie des ausschließlich ausdrückenden und historischen Denkens abgeschlossen: Der bewusste Verzicht auf Wahrheit gipfelt notwendigerweise in der bewussten Annahme der ausschließlich instrumentellen Funktion des Denkens.

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4.  Kryptischer und semantischer Diskurs: Entmystifizierung und Interpretation Bei einer näheren Untersuchung der beiden Denkweisen, die ich kurz skizziert habe (wobei ich die Wissenschaft absichtlich beiseitelasse, da sie ein Problem an sich darstellt), nämlich auf der einen Seite das veritative Denken, das sowohl ontologisch als auch persönlich und daher untrennbar offenbarend und ausdrückend ist, auf der anderen Seite das bloß historische Denken, bei dem das Fehlen des Offenbarungscharakters sogar den Ausdruck kompromittiert und ihn auf eine indirekte Rationalisierung der zeitlichen Situation und damit auf eine unvermeidlich technische und instrumentelle Tendenz reduziert. Dabei fällt als erstes auf, dass zwischen dem Gesagten und dem Nicht-Gesagten ein Abstand besteht: In beiden Fällen impliziert das Wort etwas Nicht-Gesagtes, das die echte Bedeutung des Diskurses enthält. Die Bedeutung und Funktion dieses Nicht-Explizierten ist ­jedoch in beiden Fällen recht unterschiedlich. Erstens sagt das Wort im historischen Denken etwas aus, bedeutet jedoch etwas anderes; im offenbarenden Denken enthüllt das Wort weit mehr als das, was es ausdrücklich sagt. Im ersten Falle drückt das Wort eine begriffliche Konstruktion aus, deren wahre Bedeutung auf der Ebene des unbewussten und maskierten Ausdrucks der historischen Situation gesucht werden muss: Das Wort enthüllt nicht, es bekundet nicht und es erleuchtet nicht, sondern es verdeckt, verbirgt und versteckt: Sein λέγειν ist ein κρύπτειν.1 Im zweiten Fall ist hingegen das Wort offenbarend und es ist bedeutsam nicht nur wegen dem, was es sagt, sondern auch wegen dem, was es nicht sagt. Denn das, was das Wort sagt, ist die ihm innewohnende unerschöpfliche Wahrheit, und zwar weitaus mehr als etwas Nicht-Gesagtes denn als etwas 1  Vgl. Plutarch, De Pyth. or. 404 D/E (22 B 93 Diels): »Der Fürst, dem das Orakel von Delphi gehört, erklärt nicht, verbirgt nicht, sondern deutet an« [Anm. d. Übers.].

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Ausgesagtes. Die Wahrheit liegt dem Wort unerschöpflich zugrunde, ohne sich mit ihm zu identifizieren, behält sie sich doch stets eine κατὰ παρουσίαν ἐπιστήμης vor.2 Sie ist eine Anwesenheit, die nicht mit dem Ausgesprochenen restlos koinzidiert und damit einen weiteren und stets neuen Diskurs ermöglicht. Dieses dem Wort Innewohnen der Wahrheit hat einen ursprünglichen Charakter: Es ist die Quelle, aus der das Denken ununterbrochen hervorgeht, so dass jede neue Enthüllung weniger einem gänzlichen Kundwerden nahekommt, was unmöglich ist, sondern die Verheißung einer neuen Enthüllung ist, und daher ist ihr Charakter eher aufschließend als annähernd. Es handelt sich dabei um ein λέγειν, welches ein σημαίνειν ist. Das Wort wird durch seine vielsagende Prägnanz bedeutsam, die über die Sphäre des Ausgesprochenen, ohne sie zu schmälern, hinausgeht, sondern vielmehr von ihr ausgreift. Im Denken ohne Wahrheit ist das Explizierte so wenig Bedeutung stiftend, dass es seine eigentliche Bedeutung in etwas anderem suchen muss und sich somit auf den vom Diskurs selbst verborgenen Ausdruck bezieht. In einem solchen Fall bedeutet Verstehen Demaskieren, d. h. Ersetzen des Explizierten durch das Verschwiegene. Im offenbarenden Denken ist hingegen das Explizierte bedeutungsstiftend, so dass die Anwesenheit einer unerschöpflichen Quelle dabei deutlich erahnt wird: Verstehen bedeutet hier Interpretieren, d. h. Ergründen des explizit Gewordenen, um in ihm jene Unendlichkeit des Mitgemeinten zu erfassen, die es selbst verkündet und enthält. Zweitens sagt das historische Denken nicht, was es tut; das offenbarende Denken hingegen sagt nicht alles. Im ersteren Fall besteht eine echte Diskrepanz zwischen Sagen und Tun, die entweder auf Naivität oder auf Unaufrichtigkeit beruht, so dass die rationale Behauptung die wahre Motivation verbirgt: Der explizierte Aspekt, der zur Offenbarung der Wahrheit deklariert wird, steht im offenen Widerspruch zur verschwiegenen Wirklichkeit, d. h. zur Situation, die in ihm zum Ausdruck kommt. Im letzte2  Vgl. Plotin, Enneaden VI, IX, 4.

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ren Fall hingegen trägt der Diskurs seine eigene Bedeutung als ein unaufhörlich Ursprüngliches in sich, so dass ein kontinuierlicher Abstand zwischen dem Gesagten und dem noch zu Sagenden besteht. Die Termini »Teil« und »Ganzes« sind nicht die geeignetsten, um die Offenbarung der Wahrheit zu beschreiben: Die Wahrheit offenbaren bedeutet weder, sie völlig zu erkennen, indem der Schleier weggezogen wird, der eine klare Sicht verhindert, noch ihre einfachen Teile zu ergreifen, in dem Bestreben ihrer progressiven Integration oder der Klage über ihre fatale Unzulänglichkeit zu erheben. Das offenbarende Denken erreicht sein Ziel auch dann, wenn es nicht bis zum »alles gesagt« gelangt, οὕτω βαθὺν λόγον ἔχει:3 Sein Ideal ist nicht die vollständige Darlegung einer mehr oder weniger erreichbaren Wirklichkeit, sondern die unaufhörliche Manifestation eines unerschöpflichen Ursprungs. Die Wahrheit lässt sich nur als unerschöpflich erfassen und eben dies ist die einzige Art und Weise, um sie »ganz« zu erfassen. Es gibt keine andere Offenbarung als die des Un­ erschöpf­lichen, und vom Unerschöpflichen kann es nichts anderes als eine Offenbarung geben. Denn es handelt sich dabei nicht darum, die Wahrheit ein für alle Mal zu erfassen, noch darum, die Unmöglichkeit zu beklagen, ihr eine endgültige Formulierung zu geben. Es geht darum, eine Öffnung zu ihr zu finden, und diesem einen Schimmer oder einen Funken abzugewinnen, der, wie schwach und flüchtig auch immer, äußerst weit fällt, da die in ihm aufscheinende Wahrheit unerschöpflich ist. Drittens liegt im historischen Denken das Nicht-Gesagte außerhalb des Wortes, während im offenbarenden Denken es im Wort selbst wohnt. Im ersten Fall bedeutet Verstehen, das Nicht-Gesagte aufzuheben und es zu seiner vollen Explikation zu bringen und damit die Diskrepanz zwischen Sagen und Tun zu beheben; im zweiten Fall bedeutet hingegen Verstehen, zu er3  Diog. Laert. 9,7 (22 B 45 Diels): »Der Seele Grenzen kannst du gehend nicht herausfinden, auch wenn du jeden Weg erwandertest: einen so unerschöpflichen Logos hat sie« [Anm. d. Übers.].

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kennen, dass man die Wahrheit nur in der Aufgabe besitzt, sie weiterhin suchen zu müssen. Wenn es im historischen Denken um die Vernichtung des mit einbegriffenen Verschwiegenen (sottinteso) durch seine Aufdeckung geht, um die Demaskierung des Unterschiedes zwischen dem Gesagten und dem Nicht-Gesagten, um die Wiedererlangung der Totalität des Diskurses und seiner Bedeutung – wenn es also um die Entmystifizierung geht, die das Ende der Aufgabe bedeutet – so ist umgekehrt die Aufgabe des offenbarenden Denkens unendlich, weil die Wahrheit sich dem Wort gerade nicht als etwas vollständig Explizierbares anbietet und den Diskurs nur insofern möglich macht, als sie sich dort aufhält, ohne sich je in ihm zu erschöpfen. Sie lässt sich nicht ­einer vollständigen Äußerung anheften, da sie eine fortwährende Offenbarung anregt und als Hinweis für ihre Anwesenheit gerade den Abstand zwischen dem Explizierten und Mitgemeinten hervorbringt. Somit vertraut sich die Wahrheit der einzigen Form der Erkenntnis an, die fähig ist, ein Unendliches zu beherbergen und zu erfassen: die Interpretation. Die Entmythologisierung kompensiert die minderwertige Irrationalität des historischen Denkens mit dem rationalistischen Kult des Expliziten, während die Interpretation die Anwesenheit der Wahrheit in einem unaufhörlichen Enthüllungsprozess und in einer Unendlichkeit von durchdringenden Perspektiven sich bewähren lässt. Die Entmystifizierung stellt eine Totalität wieder her, während die Interpretation hingegen das Unerschöpfliche sich zeugen lässt.

5.  Nicht-Objektivierbarkeit der Wahrheit An dieser Stelle könnte man folgende Analogie vermuten: Insoweit das historische Denken nur dann seine eigentliche Bedeutung enthüllt, wenn es einem Entmystifizierungsprozess unterworfen wird, so könnte auch das offenbarende Denken nur dann seine wahre Natur zeigen, wenn es einer Entmystifizierung unterworfen wird. In der Tat scheint das offenbarende Denken

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Merkmale des Mythos aufzuweisen: Da die Wahrheit sich nur innerhalb einer Perspektive anbietet und nur als unerschöpflich erfasst wird, hat der sie betreffende Diskurs die doppelte Eigenschaft, stets vielfältig (d. h. persönlich und ausdrückend) und niemals vollständig explizit (also indirekt und bedeutungsvoll) zu sein. Und sind dies nicht gerade die dem Mythos zuzuschreibenden Merkmale, in dem die vis veri im Ausdruck der Person das geeignetste Milieu findet, um sich zu verkünden, und spricht der Diskurs indirekt von seinem Gegenstand, in dem er diesen eher blitzartig enthüllt, anstatt ihn objektiv auszusprechen? An dieser Stelle ist eine Klarstellung unbedingt erforderlich, um zu vermeiden, dass eine Nebelhaftigkeit aufgrund eines missverstandenen Mystizismus in unserem philosophischen Diskurs geargwöhnt wird. Gewiss, wenn behauptet wird, dass die Wahrheit sich nur innerhalb jeder einzelnen Perspektive anbietet, ohne sich jemals mit einer von ihnen zu identifizieren, und somit die Wahrheit nur als unerschöpflich erfasst werden kann, dass sie also im Wort nicht als vollständig explizierte Anwesenheit vorliegt, sondern als Ursprung und Quelle, so heißt dies, zu behaupten, dass die Wahrheit grundsätzlich nicht-objektivierbar ist. Wenn sich also die Wahrheit ausschließlich innerhalb einer persönlichen Perspektive gibt, die sie bereits interpretiert und bestimmt, so ist ein Vergleich zwischen der Wahrheit an sich und der ihr gegebenen Formulierung unmöglich. Für uns ist die Wahrheit unabtrennbar von der persönlichen Interpretation, die wir ihr geben, so wie wir selbst unabtrennbar von der Perspektive sind, in der wir sie erfassen. Wir können uns nicht von unserem Gesichtspunkt entfernen, um die Wahrheit in einer vermeintlichen Unabhängigkeit zu erfassen, die als Kriterium gelte, an dem wir unsere Formulierung der Wahrheit von außen messen könnten. Wird die Wahrheit dagegen nur als unerschöpflich verstanden, so ist sie eher Ursprung und Impuls als Objekt und Ergebnis. Das Denken darf nicht von der Wahrheit sprechen, als sei sie ein geschlossenes Ganzes, sondern immer schon ein In-ihr-Sein, ein Von-ihr-her-Kommen, Sich-von-ihr-nähren, indem es in ihr die

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Triebkraft des eigenen Laufs, die Quelle seiner eigenen Inhalte und das Maß seiner eigenen Ausübung entdeckt. Die Wahrheit wohnt im Denken als eine Anwesenheit, die umso aktiver und wirksamer ist, je weniger darstellbar und definierbar sie ist. All dies geht nicht über die Grenzen der üblichen Erfahrung hinaus und der weite Bogen der menschlichen Tätigkeit bietet dazu zahlreiche Analogien. Die Unmöglichkeit des Vergleichens charakterisiert die Auslegung im Allgemeinen. Nehmen wir zum Beispiel die Aufführung eines Kunstwerkes oder die Rekon­struk­ tion eines geschichtlichen Ereignisses. Die Aufführung zielt darauf ab, das Kunstwerk in der Fülle seiner sinnlichen Realität wiederzugeben und die historische Rekonstruktion darauf, das Ereignis so darzustellen, wie es tatsächlich war. Beide tun dies in einem Maße, dass diese Tätigkeiten selbst ihr Gegenstand sind und nicht eine Kopie desselben. Es gibt also keinen möglichen Vergleich zwischen der zu interpretierenden Wirklichkeit und ihrer Interpretation selbst, denn sowohl das Werk für den Künstler als auch das geschichtliche Ereignis für den Historiker bieten sich nicht außerhalb der Interpretation an, die sie geben. Und dem gesamten Bereich menschlicher Tätigkeit sind diese höchst aktiven, wenn auch nicht darstellbaren »Präsenzen« inne, auch wenn sie nicht einfach dargestellt werden können. Nehmen wir zum Beispiel den Prozess des künstlerischen Schaffens, bei dem das Kunstwerk schon als formgebend wirkt, bevor es überhaupt als geformt existiert; oder das Lesen eines Buches, bei dem das Verständnis seiner Teile erst durch die Idee des Ganzen ermöglicht wird, das aber auch am Ende der Lektüre, nach dem Durchwandern aller Teile, nicht erreicht wird, wenn man es nicht schon von Anfang an vorgeahnt hat; oder denken wir an die sehr häufigen Fälle einer glücklichen Übereinstimmung von Erwartung und Entdeckung, wie die Lösung eines Problems, eine plötzliche Erleuchtung, eine Zuneigung auf den ersten Blick, die alle aus einem Fruchtbarkeitszustand fließen, in dem die Entdeckung nichts anderes ist als das Wiedererkennen von etwas, das man schon aus einer unbestimmten Vorahnung kannte, und sie

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nichts anderes tut, als jene Erwartung zu erfüllen und zu erklären, die es schon enthielt und verlangte. Der Fall der Wahrheit ist jedoch radikaler als diese schon so eindringlichen Beispiele; ihre Nicht-Objektivierbarkeit ist ursprünglich und tiefgründig und sie zeigt sich in einem unaufhaltsamen Darüber-Hinaus (ulteriorità). Deswegen gibt sich die Wahrheit den unterschiedlichsten Perspektiven nur insofern hin, als sie sich mit keiner von ihnen identifiziert, und sie ermöglicht den Diskurs nur insofern, als sie sich nicht auf ihn reduzieren lässt. Es ist also kein Wunder, dass die Wahrheit oft eher der Undurchdringlichkeit des Schweigens und der Geheimnisträchtigkeit des Nichts als der vis vocabuli anvertraut wurde. Man sagte deswegen, dass die Wahrheit keine andere Weise habe, sich dem Wort hinzugeben, als sich ihm zu entziehen, um im Geheimnis Zuflucht zu suchen. Nur durch diesen Entzug wäre das Wort so beredsam, so dass nur das Schweigen, der stumme Ursprung jedes Diskurses, wahrhaft sprechend sei. Man sagte auch, dass es von der Wahrheit keine Enthüllung ohne Verhüllung gäbe, und dies nicht nur, weil sie ausschließlich im »Anderen ihrer selbst« erscheint (während das, was sie in sich ist, nur verborgen sein kann), sondern auch, weil jede ihrer Manifestationen, die zur Identifizierung und Verwechslung ihrer mit dem sie enthüllenden Wort einlädt, selbst Quelle von Trübung und Irrtum sei. Es wurde weiter behauptet, dass das Denken die Wahrheit nicht wirklich enthalten könne, wenn es sie nicht in ihrer Unaussprechlichkeit bewahre: Die Wahrheit komme uns entgegen, wenn sie aus dem Geheimnis heraustritt, nur um dorthin zurückzukehren und dort zu bleiben, denn ihre Art des Gegenwärtigseins sei letztendlich eine Abwesenheit, und ihre Nicht-Objektivierbarkeit sei nichts anderes als das Indiz ihrer ursprünglichen Solidarität mit dem Nichts und ein beständiges Zeichen der Mutter Nacht.

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6.  Nicht der Mystizismus des Unaussprechlichen, sondern die Ontologie des Unerschöpflichen Diese Thesen der negativen Theologie, so suggestiv und auf ihre Weise sinnvoll sie auch sein mögen, eignen sich eher für die religiöse Erfahrung als für den philosophischen Diskurs, in den sie nicht ohne das Risiko eines radikalen Missverständnisses übertragen werden können. Zunächst einmal berechtigt die Tatsache, dass die Wahrheit untrennbar mit der einzelnen Interpretation verbunden ist, ohne sich jemals mit ihr zu identifizieren, weder zu der Behauptung, dass sich die Wahrheit niemals als sie selbst, sondern nur als etwas anderes offenbart, noch zu der Behauptung, dass das Wort ein für die Wahrheit ungeeigneter Platz ist. Wenn es einerseits wahr ist, dass man die Wahrheit nur als interpretierte und bestimmte enthüllen kann, dann ist auch wahr, dass diese Interpretation und Formulierung selbst gerade eine Offenbarung der Wahrheit ist und daher nicht etwas anderes als die Wahrheit, sondern die Wahrheit selbst als persönlich zugehörig. Und die Tatsache, dass die Interpretation eine Offenbarung der Wahrheit ist, bedeutet nicht, dass sie als Veränderung oder sogar Verfälschung der Wahrheit angesehen werden muss, da es sich ja hier nur um einen »Besitz« von ihr handelt, der umso authentischer ist, je persönlicher und vielfältiger er ist. Wenn es andererseits wahr ist, dass das Wort niemals eine erschöpfende Äußerung der Wahrheit sein kann, so ist ebenso wahr, dass es der am besten geeignete Ort ist, um sie als unerschöpflich zu empfangen und zu bewahren; indem die Wahrheit sich dem Wort nicht entzieht, um sich ins Verborgene zurückzuziehen, gibt sie sich vielmehr allein dadurch dem Wort hin, dass sie es dazu anregt, weitere Enthüllungen zu ermöglichen. Die Wahrheit ist eben nicht reine Nicht-Erfassbarkeit, die gegenüber unserem Diskurs unvermeidbar heterogen und damit im Grunde indifferent bliebe und nur insofern bedeutend wäre, als sie sich als Symbol oder Chiffre oder Andeutung reduzieren ließe. Wahrheit ist vielmehr eine Ausstrahlung von Bedeutungen, die sich eher durch eine

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Umwertung des Wortes und eben nicht durch eine Abwertung desselben zur Geltung bringen lassen und dem Wort eine neue Tiefe und Weite verleihen, in der das Explizite seine Enge verliert, somit der Versuchung entgeht, sich in einer anmaßenden Selbstgenügsamkeit zu isolieren, und selbst den Reichtum des Mitgemeinten verkündet, den es in sich trägt. Darüber hinaus läuft die philosophische Überbetonung des Geheimnisses, des Schweigens und der Chiffre Gefahr, den ratio­ nalistischen Kult des Expliziten einfach umzukehren und damit eine Art Fernweh für diesen zu bewahren. Wenn die Wahrheit dem Wort innewohnt, ohne sich mit diesem zu identifizieren, dann nicht deswegen, weil sie sich, enttäuscht vom Diskurs, zu verbergen liebt, sondern weil sie von keiner Offenbarung, die diesen Namen verdient, ausgeschöpft werden kann. Das Denken, das alles wissen will, führt unweigerlich zum Nichtwissen, d. h. gerade zum unwissenden Wissen, während nur das sich selbst vernichtende Wissen, ein Wissen, das sich des Unerschöpflichen, des Überschwänglichen bewusst ist und auf seine eigene Anmaßung zu verzichten weiß, zum vollendeten Wissen wird.4 Dass die Offenbarung eine Untrennbarkeit von Enthüllung und Verhüllung voraussetzt, ist außer Frage; doch der wahre Grund dieses Zusammenhanges ist die Unerschöpflichkeit. Diese verhindert, dass die Enthüllung, die sich nicht mehr von ihrer Herkunft nährt, sich in Offenbarungspositivismus verliert und die Verhüllung, die jeden Diskurs nunmehr für unmöglich erklärt, im Geheimnis unterzugehen droht. Es ist eben kraft der Unerschöpflichkeit, dass das Darüber-Hinaus (ulteriorità), anstatt unter dem falschen Anschein des Verbergens, der Abwesenheit und der Dunkelheit zu erscheinen, seinen wahren Ursprung, seinen Reichtum, seine Fülle und seinen Überschuss zeigt. Das Darüber-Hinaus zeigt also nicht das Nichts, sondern das Sein, nicht die στέρεσις, sondern die ὑπεροχή; nicht den Abgrund, sondern 4 Vgl. Schelling, Münchner Vorlesungen zur Geschichte der modernen Philosophie, hrsg. Schröter, V 250.

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den Urgrund, nicht den μυστικὸς γνόφος τῆς ἀγνωσιας,5 sondern den ἀνεξιχνίαστον πλοῦτος.6 Es handelt sich also nicht um den Mystizismus des Unaussprechlichen, sondern um die Ontologie des Unerschöpflichen.

7.  Das Scheitern der Entmythologisierung: Irrationalismus der Vernunft ohne Wahrheit Derjenige aber, der sich mit diesen Klarstellungen nicht zufriedengibt und darauf besteht, das offenbarende Denken zu entmythologisieren, würde mit dem kaum aufzulösenden Dilemma konfrontiert, sich zwischen einem prekären Rationalismus und einem fragwürdigen Irrationalismus entscheiden zu müssen. Einer­seits könnte man es für möglich halten, den Mythos durch den Logos zu ersetzen, ohne zu bedenken, dass dies das größte aller rationalistischen Vorurteile ist, weil Logos und Mythos unter­ schiedliche Funktionen haben, so dass weder der Logos den Platz des Mythos einnehmen noch der Mythos als eine minderwertige Form des Logos betrachtet werden kann. Der Mythos, der sich vom Logos zerstören lässt, ist kein Mythos, sondern ein embryonaler Logos; und der Logos, der den Mythos zerstören will, ist kein Logos, sondern unbewusster Mythos. Andererseits wäre es absurd, aus dem sozusagen »mythischen« Charakter des offenbarenden Denkens die nur scheinbar ehrlichere und kritischere Folgerung einer bewussten und programmatischen Mythologie abzuleiten. Das würde bedeuten, die Aufmerksamkeit der Wahrheit auf den Zugang zu ihr zu verlagern und das, was nur Wir5  Pseudo-Dionysius, Migne, P. G. 1001 A: Die »mystische Finsternis des Nichtwissens«. 6 Paulus, Eph. 3,8: der »unausforschliche Reichtum«, die »investigabiles divitiae«. Weiterhin könnte man das ὑπέρφωτος σιγῆς γνόφος, d. h. die »mehr als leuchtende Dunkelheit des Schweigens« von Pseudo-Dionysius (Migne, P. G. 997), der »unendlichen Fülle« von Platon gegenüberstellen: πλῆθος ἄπειρον (Platon, Parmenides 144 A).

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kung sein kann, mit dem Zweck zu verwechseln – mit der Folge, dass das Wort nicht mehr offenbarend, sondern willkürlich und irrationell wird und sich in der unsicheren Andeutung der Chiffre und der Analogie verliert. In beiden Fällen wird das ursprüngliche Band von Person und Wahrheit unterbrochen, entweder weil aus Misstrauen gegenüber dem Denken der persönliche Aspekt überbetont wird und dieser der Nicht-Kommunizierbarkeit einer Allegorie oder einer Erfahrung gleichgesetzt wird, oder weil man aus Überbewertung der Vernunft die Unerschöpflichkeit des Denkens unterdrücken will, indem man es auf perfekte Entsprechung und vollständige Explikation reduziert. In beiden Fällen ist das Ergebnis ein und dasselbe, nämlich der Irrationalismus. Denn was verloren geht, ist genau das, was das Denken vor einer irrationellen Bestimmung bewahrt, nämlich sein ontologischer Charakter, seine Verwurzelung in der Wahrheit. Was zählt, ist nicht die Vernunft, sondern die Wahrheit; Vernunft ohne Wahrheit führt schnell zum Irrationalen, weil es sich dabei um ein bloß historisches oder technisches Denken handelt, in dem selbst die »theoretischen« Aspekte, wie z. B. das rein kulturelle Interesse an der Begriffsgeschichte oder die wissenschaftliche Strenge der methodologischen Forschung, nicht ­einer Radikalisierung widerstehen, die sie unweigerlich zum irrationalistischen Ergebnis eines integralen Historismus oder eines expliziten Praxismus drängt. Aus der berechtigten Notwendigkeit einer Entmystifizierung des bloß historischen und ausdrückenden Denkens folgt daher keineswegs die Notwendigkeit, das offenbarende Denken zu entmythisieren; vielmehr gewinnt man dadurch das Bewusstsein, dass man, sofern man das Denken nicht auf ein bloßes Instrument der Handlung oder auf bloßen Ausdruck der Zeit reduzieren will, dessen untrennbar persönlichen und ontologischen Charakter bewahren und seine ursprüngliche Verwurzelung in der Wahrheit verteidigen muss.

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8.  Knechtschaft des technischen und Freiheit des offenbarenden Denkens Man könnte behaupten, dass bei der hier aufgestellten These die Problematik der menschlichen Natur verloren geht, weil die Realität eines sicheren und garantierten Besitzes der Wahrheit die Unsicherheit der menschlichen Situation und den Versuchscharakter seines Forschens beseitigen würde. Die Ontologizität des Denkens und die Nicht-Objektivierbarkeit der Wahrheit bieten aber keineswegs einen so unproblematischen und unbestrittenen Besitz, weil sie vielmehr die Freiheit fordern und an sie appellieren. Sie provozieren die Freiheit, sich auf ein Abenteuer einzulassen, das zwar den Mut einer persönlichen Formulierung der Wahrheit verlangt, sich aber nur insofern als erfolgreich bei ihrer Entdeckung erweist, als es das Risiko des Scheiterns nicht ignoriert. So wird der Mensch mit seiner eigenen Verantwortung konfrontiert und muss bereit sein, persönlich zu bezahlen; denn was er tut, ist weniger eine Entdeckung als ein Zeugnis. Risiko, Mut und Verantwortung sind ja Begriffe, die nur angesichts der Wahrheit Bedeutung gewinnen und die Problematik des Menschseins verschärfen und diese auf den Höhepunkt der Spannung bringen und sie so vor dem kalten und unpersönlichen Prozess retten, durch den das technische Denken sich selbst beweist und korrigiert. Im offenbarenden Denken spielt zweifellos die Wahrheit die Hauptrolle. Unpersönlich und zeitlos überragt sie den Menschen und appelliert an seine Zustimmung, regt seine Forschung an, unterstützt sein Bemühen und bewertet seine Ergebnisse. All dies bewahrheitet sich jedoch innerhalb jener Tätigkeit, mit der der Mensch die Wahrheit sucht und formuliert, so dass die Wahrheit die Freiheit des Menschen anspricht und ihn in seiner Freiheit bewahrt, ihm die Initiative nicht nur gewährt, sondern auch abverlangt und einfordert. Im radikalen Humanismus des historischen Denkens, des instrumentellen Diskurses und der technischen Vernunft scheint es, als ob der Protagonist der Mensch

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wäre, weil es sich hier um ein echt »menschliches« Denken handelt, das auf die absolute Wahrheit verzichtet hat, das nur historische Situationen zum Ausdruck bringt, das Bedingungen der Existenz analysiert und rationalen Verfahren ausarbeitet. Wenn sie jedoch der Wahrheit beraubt sind, überwältigen die Kon­ struk­tionen der Vernunft den Menschen und wachsen immer weiter an, bis sie eine grausame und schreckliche Herrschaft über ihn gewinnen und ihn als den Unterdrücktesten von allen der Sklaverei unterwerfen. Zweifellos ist die Wirksamkeit des historischen und pragmatischen Denkens und der technischen und instrumentellen Vernunft offensichtlich und prominent, da sie aus Wirkungskraft und Erfolg besteht. Dies ist jedoch nicht der Maßstab, an dem man das offenbarende Denken messen kann; denn eine Idee kann mächtig sein, auch wenn sie nicht Ausdruck der Wahrheit ist. Eigent­lich können nur mächtige Ideen, also die Produkte der technischen und historischen Vernunft, richtig »Erfolg haben«. Sie haben ihn aber nur unter der Bedingung, dass sie eine Macht ausüben, die den Menschen versklavt. Die Wahrheit inspiriert die Menschen, während die Ideen sie beherrschen. Die Wahrheit hebt und erhöht die Menschen über sich selbst hinaus und macht selbst den Bescheidenen zu Großem fähig. Die Ideen vereinnahmen die Menschen, bedienen sich ihrer zur Ausführung ihrer Programme und reduzieren sie auf ein bloßes Werkzeug, sei es als kosmisch-geschichtlicher Held oder als gesichtslose Masse. Keine Sklaverei ist vergleichbar mit der Sklaverei der Menschen gegenüber ihren eigenen Ideen: Man denke hier an die Herrschaft der Mode, der Gemeinplätze, des Kultus der Aktualität, der verschiedenen Formen des Konformismus, vor allem aber an die Gewalt der ideologischen Kämpfe, des politischen und religiösen Fanatismus und der sogenannten Religionskriege, die man besser als Kriege des Aberglaubens bezeichnen sollte, der eine rein menschliche Verfälschung der Religion darstellt. Der Mensch wird zum Sklaven nur seiner selbst und seiner Ideen. Während der Gehorsam gegenüber der Vernunft ohne

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Wahrheit die unerträglichste Tyrannei ist, gibt es am Gehorsam des Menschen gegenüber der Wahrheit nichts Unterwürfiges. In diesem Fall fällt der Gehorsam mit der Freiheit zusammen, da die Wahrheit inspiriert statt dominiert, anregt statt beherrscht, unterstützt statt unterdrückt. Sie ist ein Aufruf, der eine Antwort und ein Zeugnis verlangt, nicht aber eine Auferlegung, die unterdrückt und zwingt. Sie ist ein Appell, der den Menschen vor seine Verantwortung stellt und ihn dazu drängt, freiwillig den Akt der Selbstbehauptung zu unternehmen, der sein eigenes Wesen bestätigt, seinen Ursprung zurückgewinnt und das Band zwischen Wahrheit und Person unauflöslich befestigt: ἡ ἀλήθεια ἐλευθερώσει ὑμᾶς.7

Ergänzungen § 2  Dass in der Philosophie alle dasselbe sagen und jeder nur eines sagt, sind Thesen, die sich in gewissem Sinne einerseits bei ­Heidegger und andererseits bei Bergson finden; jedoch behauptet Heidegger diese Thesen nur auf rein ontologischer Grundlage und Bergson auf einer nicht-personalistischen Grundlage. Dagegen ist meine Absicht, sie auf der Grundlage eines ontologischen Personalismus zu stellen, wobei die beiden Aspekte, der ontologische und der personalistische, nicht nur nicht getrennt, sondern auch nicht anders als zusammen gedacht werden können. § 4  Die indirekten Zitate sind leicht zu erkennen. Die Terminologie des »Sagens«, »Verbergens« und »Deutens« gehört zu Heraklit [zu Plutarch, Anm. d. Übers.]: Das Orakel von Delphi »οὔτε λέγει οὔτε πρύπτει ἀλλὰ σημαίνει«: »erklärt nicht, verbirgt nicht, sondern deutet an« (22 B 93 Diels). Das Konzept einer Anwesenheit, »die höher als Erkenntnis ist«, stammt von Plotin (»κατὰ παρουσίαν ἐπιστήμης κρείττονα«: VI, 9, 4). Vincenzo Cilento übersetzt ins Italienische fol-

7 Johannes, Evangelium, 8,32: »Die Wahrheit wird euch frei machen«.

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gendermaßen: »per via di una presenza che vale ben piú della scienza / aufgrund einer Anwesenheit, die wertvoller als die Wissenschaft ist« (Plotino, Enneadi, Vol.  III, Laterza, Bari 1949, 424). § 6  Was den Auftakt dieses Abschnitts betrifft, so wird man an Schellings Behauptung erinnert, dass »vor solchen Mysterien zu warnen Pflicht ist«, eine Behauptung, die von einem Denker aufgestellt wurde, der ebenfalls sehr in der Verherrlichung des Unklaren und des Nichtwissens verweilte (V 260). Schelling zeigte eine Umsicht, die der Einsicht gleichkommt, die Cusanus veranlasste zu bekennen: »Veritas quanto clarior tanto facilior, putabam ego aliquando ipsam in obscuro melius reperiri« (De apice theoriae) und die vis vocabuli nur in der theologia sermocinalis zu verteidigen (Idiota: De sapientia, II). § 6  Die Zitate stammen aus Schellings Münchner Vorlesungen zur Geschichte der modernen Philosophie (V 250). Es folgen Ausdrücke, die mit der gesamten Geschichte der negativen Theologie (und auch mit Heideggers negativer Ontologie, auf die schon auf Seite 29 verwiesen wurde) zusammenhängen und für die keine weiteren genauen Hinweise gegeben werden, da sie in der Geistesgeschichte reichlich vorhanden sind.

ERSTER TEIL WA H R H E I T U N D G E S C H I C H T E

I. Beständige Werte und geschichtlicher Prozess 1.  Untauglichkeit des Historizismus und Empirismus, die die heutige Kultur charakterisieren Der weit verbreitete Historismus und der grassierende Empirismus, zwei der häufigsten Merkmale der heutigen Kultur, erhalten eine besondere Relevanz im Hinblick auf das Problem der Beständigkeit der Werte in der Geschichte. Die heutige historistische Denkweise nimmt nicht die Form einer strengen und präzisen Theorie an, obwohl sie sich vom Historismus des XIX . und XX . Jahrhunderts ableitet, sei es in seiner idealistischen, materialistischen oder kulturalistischen Gestalt; vielmehr gewinnt sie ihre Stärke daraus, dass sie das mehr oder weniger bewusste heutige Beurteilungskriterium der Mehrheit der Intellektuellen ist, und kompensiert ihren Mangel an philosophischer Strenge dadurch, dass sie eine wirklich inte­grale Form des Historismus ist. Diese Denkweise treibt das historistische Prinzip veritas filia temporis bis zu seiner extremen Folgerung: Eine historische Form hat keinen anderen Wert als ihre exakte Entsprechung mit der Zeit, in der sie entsteht und deren Produkt sie einfach ist. Sie besitzt also eine momentane und flüchtige Aktualität und wird schnell auf eine unwiderrufliche und endgültige Vergangenheit beschränkt.

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Diese historistische Denkweise verbindet sich oft und nicht ohne Kohärenz mit einer Form von Praktizismus. Als Nietzsche den Historismus der Sterilität beschuldigte, wollte er zu Recht zeigen, dass es unmöglich ist, die Gegenwart mit Kategorien zu behandeln, die der Vergangenheit angehören: Ein Verständnis, das alles rechtfertigt und damit auf Urteilen und Handeln verzichtet, ist vielleicht zur Durchdringung der Vergangenheit geeignet, aber auf die Gegenwart wird es nur lähmend wirken. Nichts anderes als eine gefährliche Spaltung zwischen Denken und Handeln könnte daraus folgen: Einerseits wird das Handeln, das an sich für die Gegenwart bestimmt ist, vom Denken losgelöst, d. h. es löst sich in reine Praxis auf; andererseits wird das Denken, sobald es vom Handeln befreit ist, in der Vergangenheit gehalten, ja auf sie beschränkt und bleibt dort steril und ­unfruchtbar. Und so ist die gegenwärtige Art Politik zu treiben oft nichts anderes als bloße Praxis, blind für jedes Verhältnis zur Theorie, das sich nicht auf eine vollständige Instrumentalisierung von Doktrinen reduziert. Und die gegenwärtige Art Geschichte zu treiben ist oft von einer künstlichen Neutralität beseelt, die es aus berechtigtem Misstrauen gegenüber der Rhetorik unmöglich macht, die Probleme der Gegenwart zu bewerten. Damit ist ein weiterer Gemeinplatz in der heutigen Kultur erklärt, nämlich der, wonach Ideen auf die Vergangenheit beschränkt sind, während die Gegenwart nur Raum für Ideologien bietet. Demzufolge sind Theorie und spekulative Diskussion Dinge der Vergangenheit und die Gegenwart schätzt nichts anderes als konkrete Debatten, seien sie politisch, praktisch oder religiös. Daraus ergibt sich das immer häufigere Auftreten von Philosophen, die sozusagen zweigeteilt sind: teils sind sie kulturalistisch, teils ideologisch, insofern bei ihnen die spekulative Fähigkeit und die Weltanschauung voneinander getrennt bleiben, weil die erste, die auf eine neutrale (wenn auch sehr kritische) Technik reduziert ist, nur dazu dient, mit Doktrinen aus der Vergangenheit umzugehen, die zweite nichts anderes als eine praktische Wahl darstellt,

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die nur in der Gegenwart gültig ist. Unter dem Schutzschild des Historismus hat sich das auf diese Spitze getriebene Denken der Wahrheit entledigt. Auch das andere Merkmal der heutigen Kultur, der grassierende Empirismus, ist leicht zu verstehen, denn er ist nichts anderes als die logische Folge des von den sogenannten Humanwissenschaftlern erhobenen Anspruchs, die Philosophie zu ersetzen. Sofern das heutige Denken nicht seinen Platz der Handlung überlässt, neigt es dazu, sich im empirischen Denken aufzulösen, was genau der Vorgehensweise von Humanwissenschaften wie Psychologie, Soziologie, Ethnologie, Kulturanthropologie, Sprachwissenschaft, Kulturgeschichte und so weiter entspricht. Diese Wissenschaften sind von höchster Legitimation, wenn sie innerhalb ihrer eigenen Grenzen bleiben, innerhalb derer sie tatsächlich unersetzlich sind und eine wichtige, auch für die Philosophie äußerst nützliche Funktion erfüllen. Die Daten, die sie sammeln, miteinander vergleichen und interpretieren, erreichen ein so hohes Maß an Verallgemeinerung, dass sie damit stabile Elemente, wiederkehrende Merkmale, dauerhafte Strukturen im Fluss der Menschheitsgeschichte aufzeigen und so einen gültigen Beitrag zum immer weiter anwachsenden Wissen über den Menschen leisten. Die mit dieser Art von Studien durchgeführte Erforschung menschlicher Kulturformen führt sicherlich zu einer Intensivierung der Erfahrungen, die der Mensch von sich und von der Welt hat. Man könnte sogar sagen, dass die heutige Philosophie vom Erfolg dieser Wissenschaften nur profitieren kann – und in diesem Sinne sind sie für die Philosophie auch nützlich, insofern sie die Pluralität der Erfahrungsfelder ausweiten, über die das philosophische Denken im Kontakt mit konkreten Fragen und spezifischen Problemen nachdenken muss. Einige würde sich heute allerdings freuen, wenn die Humanwissenschaften sich nicht auf diese Funktionen beschränkten und vielmehr die Philosophie ersetzen und sogar den Anspruch erheben wollten, die einzige heute noch mögliche Philosophie zu sein. Übrigens hat die Philosophie selbst dies zugelassen, als sie

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ihre Rolle als Methodologie der spezifischen Wissenschaften akzeptiert hat. So verstanden wird die Philosophie zu einer für sich selbst transparenten Rationalität, soweit sie in den einzelnen Erfahrungsbereichen technisch wirkt, d. h. sie wird zu einer sich ihrer selbst bewussten, aber wahrheitslosen Vernunft. Mit einem Wort, sie wird zum leeren Denken und als solches ist sie nicht nur unfähig, der Invasion der an konkreten Gehalten so reichen Humanwissenschaften zu widerstehen, sondern auch bereit, ihnen ihr eigenes Feld zu überlassen. An diesem Punkt übernimmt das empirische Denken – das durchaus nützlich ist, wenn man es als Anwendungsgebiet einer philosophischen Reflexion versteht, die ihrem eigenen, vorzüglich spekulativen Charakter verpflichtet ist – die Rolle der Philosophie vollständig, beraubt sie immer mehr ihrer Wahrheit und reduziert sie auf den entschiedensten Empirismus. Wenn es also in der heutigen Kultur Hindernisse gibt, die uns davon abhalten, das Vorhandensein bleibender Werte innerhalb des geschichtlichen Prozesses anzuerkennen, dann sind es die historistische Denkweise und der triumphierende Empirismus. Aus der Sicht des Historismus besteht der Wert historischer Formen ausschließlich in ihrer Entsprechung zu jener Zeit, in der und aus der sie entstanden sind, also in ihrer Fähigkeit, die ­eigene Epoche auszudrücken. Es handelt sich also um eine durch und durch transitorische Gültigkeit, die sich streng auf das bestimmte Gebiet und auf die kurze Dauer der historischen Situation beschränkt. Aus empiristischer Sicht gibt es sicherlich in der Menschheitsgeschichte konstante Strukturen, die über die subtilsten Unterschiede hinsichtlich Situation, Verhalten und Kultur hinaus nachweisbar sind; aber diese Konstanten sind dennoch nur empirisch nachweisbar und können nicht über das Niveau einer bloßen Tatsache erhoben werden. Alles in allem gäbe es in der Geschichte einerseits Werte, die nicht dauerhaft sind, und andererseits Konstanten, die keine Werte sind.

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2.  Geschichtlichkeit der Werte und geschichtliche Beständigkeit An dieser Stelle ist es notwendig, die These von beständigen Werten in der Geschichte einer strengen philosophischen Kritik zu unterziehen – nicht nur, um sie vor dem Ruin durch Historizismus und Empirismus zu bewahren, sondern auch, um ihre Bedeutung herauszukristallisieren und scharf zu stellen. Viel zu oft nehmen wir unkritisch die keineswegs naive Vorstellung von Geschichte als zeitlicher Realisierung überzeitlicher Werte an, zusammen mit der daraus folgenden vereinfachenden Unterscheidung zwischen bleibenden, insofern überzeitlichen Werten und historischen, damit zeitlich fixierten Tatsachen. Wenn das Problem darin besteht, in der Geschichte das wirklich Dauerhafte als übergeschichtlichen Wert von dem zu unterscheiden, was als historisches Faktum nur zeitlich ist, muss man anerkennen, dass in der Geschichte alles gleichermaßen historisch und zeitlich ist – und dies gilt auch für Werte, so dass in der menschlichen Welt auch die Beständigkeit nichts anderes als historische Dauerhaftigkeit bedeuten kann. Man muss zugeben, dass in der Geschichte alle Werte historisch sind: Sie entstehen in der Zeit, strömen aus der Geschichte hervor und leben in der Zeit, in der sie neue Geschichte erwecken. Es ist Geschichte sowohl das, was in sie einfließt, als auch das, was aus ihr hervorgeht, d. h. sowohl die Substanz, aus der die Werte gebildet werden, als auch die Tätigkeit, die sie gemäß ihrer Natur befördern. Denn jeder Wert ist zugleich Ergebnis und Vorbild, Vollendung und Anfang, schließt also zugleich eine Vergangenheit ein und eröffnet eine Zukunft, schließt einen Prozess ab und beginnt einen neuen. Die Beständigkeit der Werte besteht gerade darin, dass sie sowohl in Bezug auf ihren Ursprung als auch auf ihre Wirksamkeit ganz und gar historisch sind. Sie besteht sowohl in ihrer Fähigkeit, in der Zeit gültig zu bleiben, nachdem sie in ihr geboren wurden, wie auch in ihrer gewissermaßen immerwährenden Existenz, wodurch sie die Geschichte,

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die sie doch genährt hat, zur Stabilität einer historischen Form verdichten und zugleich eine neue Tätigkeit anregen, die sich von ihnen inspirieren und gestalten lässt. Mit einem Wort: Die Beständigkeit der Werte besteht in dieser Anwesenheit, die in der Zeit Bestand hat, insofern sie Geschichte erzeugt. Zur Erklärung dieser Art von Beständigkeit genügt die Dialektik von Exemplarität und Geistesverwandtschaft, die das historische Verhalten des Menschen charakterisiert. Einerseits wird ein nicht nur neues, sondern wahrhaft originelles Werk – wobei Originalität die glückliche und unauflösliche Verbindung zwischen dem universellen und unbestreitbaren Aspekt des Wertes mit dem einmaligen und unwiederholbaren Aspekt des Gelingens – geradezu exemplarisch und es verlangt, in einer neuen Tätig­keit wiederaufgenommen und fortgesetzt zu werden; und andererseits ist diese Exemplarität nur dann wirksam, wenn sie in einem historischen Milieu aufgenommen wird, das geistig mit demjenigen verwandt ist, aus dem der ursprüngliche Wert hervorgegangen ist, so dass nur die Geistesverwandtschaft seine originelle Fortführung ermöglicht. Einerseits scheint es unmöglich, die immer noch recht weitverbreitete Vorstellung zu akzeptieren, dass der Rhythmus des menschlichen Geistes in einer Dynamik von innovativen Impulsen und inaktiven Pausen besteht, so als ob die Aufrechterhaltung eines Gelingens einer passiven Gewohnheit anvertraut wäre. Die Exemplarität eines Wertes ist nicht die unbewegliche Vollkommenheit einer Perfektion, die nur ihre bloße Nachahmung zulassen könnte; sie ist vielmehr die schöpfende Kraft der Originalität, die ein sorgfältiges und eifriges Nacheifern nicht nur fordert, sondern auch in Gang setzt. Andererseits kann die Exemplarität nur dann fruchtbar wirken, wenn sie in einem Akt der Zustimmung und Teilnahme aufgenommen wird, der nur von der Sympathie und vom Bewusstsein der Zugehörigkeit zu einer ihm gleichen geistigen Gemeinschaft inspiriert werden kann. Nur dann ist die neue Tätigkeit ihrerseits originell, weil sie keineswegs dem Vorbild unterworfen ist, sondern dieses entdeckungsfreudig auf-

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nimmt und es assimiliert, so dass die Exemplarität des Wertes, obwohl sie eine unabhängige Kraft ist, nur als innerer Impuls und Stütze für diejenige Tätigkeit wirkt, die diese Exemplarität entdecken und übernehmen könnte. So entstehen Stile und Sitten in allen menschlichen Tätigkeiten. Sie sind wahrhaft dauerhafte Spuren in der Geschichte des Menschen, lebendige Inkarnationen in der Verstetigung von Werten. Aber ihre Dauer ist eben historisch: Sie dauern so lange, wie die Entsprechung von Exemplarität und Geistesverwandtschaft ein Gleichgewicht zwischen Bewahrung und Erneuerung gewährleistet. Wenn die Geistesverwandtschaft nachlässt, zerbricht dieses Gleichgewicht und die Synthese, die Bewahrung und Erneuerung untrennbar verband, weicht dem Dilemma von Wiederholung und Revolte, der Alternative von Konformismus und Bruch. Stile und Sitten, die zu Manieren und Gewohnheiten erstarrt sind, degenerieren unter den Festschreibungen und Verweigerungen eines rebellischen Willens und kommen zu Tode.

3.  Jenseits von Werten und von Beständigkeit: Die Seinsanwesenheit Wenn man von der Beständigkeit von Werten in der Geschichte spricht, meint man jedoch nicht die oben erwähnte Stetigkeit. In diesem Fall will man auf eine viel ursprünglichere und tiefere Anwesenheit anspielen, von der die historische Dauerhaftigkeit an sich weder Wirkung noch Erkennungszeichen sein kann. Es handelt sich dabei um eine der menschlichen Tätigkeit innewohnende, sie anregende und regulierende Kraft, die so tiefgreifend ist, dass sie untrennbar mit Handlungen verbunden ist, die sie anregt, und zugleich von der Antwort nicht zu scheiden ist, die mit ihr gegeben wird; zudem ist sie so unumstößlich, dass sie auf die menschliche Tätigkeit sich nicht reduzieren lässt und dieser als ihr Ausgangspunkt und ihre Normierung gegenwärtig ist. Mit einem Wort: Es handelt sich um die Anwesenheit ohne

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Gestalt, aber mächtig und unerschütterlich, um: Seinsanwesenheit. Eine solche Kraft braucht sich nicht auf äußere und präexistente Werte zu berufen, da sie ja untrennbar mit der Tätigkeit verbunden ist, die sie anregt und leitet. Und sie braucht auch nicht als Wert an sich erfasst zu werden, so evident und stark ist die von ihr ausgehende Macht. Wir brauchen nicht zu Heideggers ­äußerst strenger und doch überzeugender Kritik des Wertbegriffs zurückgehen, um uns davon zu überzeugen, dass die Ontologie keine Axiologie braucht – und auch nicht, um zu verstehen, dass das Sein als Wert zu begreifen nicht dessen Erhöhung, sondern dessen Entwertung bedeutet. Der Wert ist also eine Qualität menschlicher Werke und die Exemplarität ist die Kraft historischer Werte. Zu behaupten also, dass das Sein exemplarisch sein muss, um eine anregende Kraft zu haben und ebenso, dass das Sein ein Wert sein soll, um normative Kraft zu besitzen, bedeutet, dem Sein Eigenschaften zuzuschreiben, die seiner Natur untergeordnet sind, und zu vergessen, dass seine anregende und regulierende Kraft eher von der Un­erschöpf ­lichkeit und Ursprünglichkeit des Seins als von der Exemplarität und Originalität des Wertes herrührt. Wird das Sein als Wert verstanden, so werden alle Dinge umgekehrt: Das Sein wird dann den menschlichen Bedürfnissen untergeordnet und der Mensch aus dem Dienst des Seins entlassen; dadurch wird das Sein entwertet und gerät in Vergessenheit, während der Mensch degradiert und dem Negativen ausgeliefert wird. Denn zu glauben, den Menschen durch die Unterdrückung des ontologischen Charakters seiner Tätigkeit erheben zu können, bedeutet in Wirklichkeit, den Menschen unter das Niveau seines eigenen Selbst zu drücken. Anders gesagt: Es ist Schicksal, dass der Mensch, der Übermensch sein will, zum Untermenschen wird. Auch ist die Annahme unzutreffend, dass die geschichtliche Dauerhaftigkeit Zeichen oder Wirkung von Seinsanwesenheit ist. Zunächst einmal wäre es übertriebener Optimismus zu glauben, dass das Dauerhafte an sich positiv ist. Häufig ist die Wahrheit in der menschlichen Welt weder wirksam noch anerkannt und das

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Böse ist oft populärer und erfolgreicher als das Gute. Auch sollte man nicht verschweigen, dass auch das Negative dauerhaft sein kann: In der Geschichte des Menschen ist sicher das Negative beharrlicher und hartnäckiger als das Positive. In einem gewissen Sinne ist tatsächlich wahre Beharrlichkeit gerade die Negativität, denn Hartnäckigkeit und Sturheit eignen sich am besten für das Böse und den Irrtum. Wir müssen, wenn auch gegen unseren Willen, das naive Vertrauen aufgeben, dass das Beständige immer positiv ist und dass das Gute an und für sich beständig sein sollte. Dieses Vorurteil widerspricht sich selbst, da es selbst eine Wirkung der Beharrlichkeit des Negativen ist: diabolicum est diabo­lum negare. Außerdem hat die Anwesenheit des Seins so wenig mit der geschichtlichen Dauerhaftigkeit zu tun, dass man sie genauso gut einem einfachen Augenblick zuschreiben könnte. Es gibt keinen Grund, warum das Sein eher dem Dauerhaften als dem Augen­ blicklichen innewohnen sollte, und seine Anwesenheit macht weder das Dauerhafte länger, noch lässt es das Augenblickliche langsamer vergehen. Es macht wenig aus, ob das Sein in der Schnelligkeit des Augenblicks oder in der Ausdehnung der Zeit erscheint, denn es kann in einem einzigen Augenblick anwesend sein oder eine ganze Epoche lang abwesend bleiben. Daher reicht die rein zeitliche Unterscheidung zwischen Dauerhaftem und Vergänglichem nicht aus, um die ontologische Tragweite irgendeines Zeitabschnittes zu bestimmen. Wenn es wahr ist, dass die Zeit der einzige Ort für die Erscheinung des Seins ist, so ist es ebenso wahr, dass die äußeren Merkmale der Zeitlichkeit nicht durch die Anwesenheit des Seins verändert werden. Es gibt auch kein Zeichen, das von außen her den genauen Träger des Seins unter den Zeitmomenten identifizieren könnte, da der zeitliche Aspekt dabei stets gleichbleibt. Auch für Kierkegaard ändert der Besitz des Ewigen nicht das Alltägliche der Zeit und der Ritter des Glaubens hat alle Züge eines Steuereintreibers oder eines Drogeriebesitzers im Urlaub, eines Ladenbesitzers, der sich mit irdischer Ausdauer seiner Arbeit widmet und abends seine Pfeife

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raucht und sich über den gut verlaufenen Tag freut. Er besitzt das Unendliche, aber nichts davon lässt sich von außen ahnen und kein Zeichen des Unermesslichen verrät es, wiewohl er sein Leben ganz dem Endlichen anvertraut hat, wie es nur der tun kann, der das Ewige in sich trägt. Das Problem besteht also nicht darin, das, was in der Geschichte als überhistorischer permanenter Wert gelte, von dem zu unterscheiden, was als historische Tatsache rein zeitlich wäre. In der Geschichte ist alles gleichermaßen historisch und zeitlich. Das Problem besteht vielmehr darin, die Anwesenheit des Seins in der Geschichte zu erkennen und somit zu unterscheiden – bei dem, was alles gleichermaßen geschichtlich und die eigene Zeit ausdrückend ist – zwischen dem, was nur historisch und ausdrückend ist, und dem, was auch ontologisch und offenbarend ist; zwischen dem, dessen Natur und Wert sich in der Geschichtlichkeit erschöpft und dem, dessen Geschichtlichkeit Öffnung und Weg zum Sein und damit sein Sitz und seine Erscheinung ist.

4.  Die Unerschöpflichkeit des Seins als Grund seiner Anwesenheit und sein Darüber-Hinaus in den geschichtlichen Gestalten Wie ist nun das Sein in der Geschichte anwesend? Zuallererst müssen wir die metaphysische Gleichsetzung des Absoluten mit dem Endlichen ausschließen, die der Geschichte eine eindeutige und progressive Richtung aufzwingen und die Manifestation des Absoluten in der Reihe der geschichtlichen Momente erkennen könnte. Denn die Problematik des Verhältnisses von Mensch und Sein hat nichts mit der Auffassung einer objektiven Metaphysik zu tun, die beansprucht, das Absolute in der Vielfalt seiner Manifestationen zu begreifen. Obwohl das Sein immer nur in der Zeit erscheint, erweist sie sich nicht alle Zeit als offenbarend, weil das Sein diejenigen verlässt, die es verraten, und so bleiben ganze Epochen ohne Wahrheit.

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Auch ist die Anwesenheit des Seins nicht an die Anwendung einer reinen Form gebunden, die nach einem neuerlichen Tran­ szen­dentalismus ihren Inhalt nur aus den Umständen erhalten und den Erfolg menschlicher Aktivitäten auf der Grundlage eines intrinsischen und autonomen Kriteriums der Vernunft und des Verhaltens sicherstellen würde. Trennt man sie von der Kraft ihrer ursprünglicheren ontologischen Verwurzelung, sinken das menschliche Denken und die Freiheit auf die Neutralität einer rein instrumentellen Vernunft oder einer bloßen Verhaltenstechnik herab. Darüber hinaus ist das Sein nicht durch seine eigene Bestimmtheit in der Geschichte anwesend, d. h. in einer Form, die als einzigartig und endgültig erkennbar ist und die dann den Vergleich historischer Gestalten ermöglichen und so ihre Beurteilung einfach, schnell und unfehlbar machen könnte. Die Anwesenheit des Seins kann nur historisch konfiguriert werden und das Sein hat keine andere Möglichkeit zu erscheinen als in den historischen Gestalten. Das Sein wohnt diesen in seiner Unerschöpflichkeit inne, d. h. einerseits mit einer Anwesenheit, die diese Gestalten zu ihrer einzigen Erscheinungsform macht, und andererseits mit einem Darüber-Hinaus (ulteriorità), das es keiner von ihnen erlaubt, es ausschließlich zu enthalten. Das Sein wohnt dort so, dass es sich einerseits den Gestalten, die es zu offenbaren fähig ist, anvertraut, bis zu dem Punkt, an dem es von ihnen unabtrennbar ist; andererseits löst sich das Sein niemals in einer geschichtlichen Gestalt auf, obwohl es sich ihr hingibt. Das bedeutet aber nicht, dass man in einer geschichtlichen Gestalt, wenn sie offenbarend ist, einen zeitlichen und vergänglichen Aspekt von einer ewigen und unveränderlichen Substanz trennen kann, denn alles in ihr ist gleichermaßen zeitlich und offenbarend. Es bedeutet auch nicht, dass das Sein sich von der geschichtlichen Gestalt so unterscheiden könnte, dass es diese Form mit einer anderen vergleichen könnte, um sie zu beurteilen. Es bedeutet vielmehr, dass das Sein in den geschichtlichen Gestalten als eine immer darüberhinausgehende Anwesen-

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heit wohnt, in der ganzen unbändigen Kraft seiner Unerschöpflichkeit. Aber man muss ebenso wenig annehmen, dass diese Unerschöpflichkeit des Seins eine Art metakultureller Dauerhaftigkeit sei, wie man heutzutage zu sagen pflegt, die stets ungeformt und unzugänglich über allen geschichtlichen Ereignissen schwebe, als fürchte sie die Kontamination durch den Kontakt mit der Zeit und würde ihre Innovations- und Anregungskraft nur behalten, wenn sie gegen jeden geschichtlichen Fall immun bliebe. Abgesehen davon, dass sich die Meta-Historizität weniger durch ihre Macht, die eigenen historischen Gestalten zu transzendieren, zeigt als vielmehr dadurch, sich in immer neuen Gestalten zu verkörpern, bleibt es jedoch so, dass sich das Sein so wenig der Gestaltung widersetzt, dass es nur in historischen Bestimmungen erscheint, mit denen es wirklich zusammenfällt. Gewiss, das Sein ist in solchen Bestimmungen auf die einzige Weise gegenwärtig, in der es sich ganz aufhalten kann, nämlich in seiner Unerschöpflichkeit, die es daran hindert, sich in eine dieser Gestalten aufzulösen. Diese Unerschöpflichkeit ragt aber nicht über die geschichtlichen Formen hinaus, sondern sie erscheint nur innerhalb jeder einzelnen von ihnen. Und wenn das Sein nur als historische Gestalt erscheinen kann, von der es unabtrennbar ist, ohne sich darin zu erschöpfen, so muss gesagt werden, dass diese Gestalt eine Offenbarung des Seins ist, also weder Verfälschung noch Maskierung oder Surrogat, sondern das Sein selbst als g­ eschichtlich bestimmt.

5.  Die geschichtlichen Gestalten als Interpretationen des Seins: Zurückweisung des Relativismus Diese Anwesenheit des Seins in der Geschichte verweist auf jenen Begriff der Interpretation, in dem sich die ursprüngliche Soli­ darität von Mensch und Wahrheit verwirklicht. Auch die Interpretation ist zugleich offenbarend und historisch, denn einerseits

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ist die Wahrheit nur innerhalb der jeweiligen einzelnen Perspektive zugänglich, andererseits ist eben diese historische Situation der Zugangsweg zur Wahrheit. Die Wahrheit kann also nicht offenbart werden, wenn man sie nicht bereits bestimmt und formuliert, was nur persönlich und historisch geschieht. Auch die Interpretation der Wahrheit ist ein Besitz des Unendlichen. Die Wahrheit bietet sich nur innerhalb der ihr gegebenen Formulierung an und ist von dieser untrennbar, so dass sie nicht mit einer Bestimmtheit und Objektivität dargestellt werden kann, mit der die Formulierung selbst von außen verglichen und beurteilt werden könnte. Und diese Formulierung – obwohl sie nicht in der Lage ist, die Wahrheit zu monopolisieren (denn diese regt kraft ihrer Unerschöpflichkeit unendlich viele weitere Formulierungen an) – ist die Wahrheit selbst in Form eines persönlichen Besitzes und ist nichts anderes als diese: weder ihr Abbild noch ihre Verzerrung noch ihr Ersatz. Die Interpretation entsteht also als offenbarend und plural zugleich und entzieht sich deshalb jedem Vorwurf des Relativismus: Ihre Pluralität ergibt sich aus der Überfülle der ihr innewohnenden Wahrheit, das heißt, sie entspringt derselben Quelle, der auch die Manifestation der Wahrheit entspringt; und weit davon entfernt, die Wahrheit in eine Reihe von gleichgültigen Formulierungen aufzulösen, offenbart diese Pluralität die Wahrheit in ihrem unerschöpflichen Reichtum. In ihrer Unendlichkeit kann sich die Wahrheit den verschiedenartigsten Perspektiven anbieten und die Interpretation bewahrt deren Einzigartigkeit gerade in dem Akt, der ihre Formulierungen vervielfältigt – so wie ein Kunstwerk, weit davon entfernt, sich in einer Vielzahl von willkürlichen Aufführungen aufzulösen, dasselbe Werk bleibt, während es sich immer neuen Interpretationen anvertraut, die es zu erfassen und wiederzugeben wissen, und mit ihnen zusammenfällt. Die endgültige Beseitigung des Relativismus wird dann möglich, wenn man die zugleich offenbarende und pluralistische Natur der Interpretation begreift, wenn man also vollends versteht, dass

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in der Interpretation der offenbarende Aspekt von dem historischen unabtrennbar ist. Das interpretative Verhältnis von Wahrheit und Formulierung ist eines von Identität und Darüber-Hinaus zugleich und das in einem perfekten Gleichgewicht. Einerseits fällt die Wahrheit mit ihrer Formulierung zusammen, so dass dieser möglich wird, sie auf offenbarende Weise zu besitzen; doch dieser Besitz geht nicht so weit, dass er ihre exklusive und vollständige, einzigartige und endgültige Darstellung autorisierte. Denn in einem solchen Fall wäre sie nicht mehr Interpretation, sondern ein Surrogat der Wahrheit, d. h. eine der vielen historischen Formulierungen, die den Anspruch erheben, absolut zu sein und die Wahrheit zu ersetzen. Andererseits greift die Wahrheit stets über ihre Formulierungen hinaus, aber nur in dem Sinne, dass sie eine Pluralität von Formulierungen erfordert und eben nicht in dem Sinne einer absoluten Unaussprechlichkeit, nach der alle Formulierungen fatal indifferent und bedeutungslos in einer gemeinsamen und resignierten Gleichwertigkeit und Gleichgültigkeit wären, wie es der Relativismus will, wodurch kein anderer Ausweg außer einer willkürlichen oder praxistischen Wahl bliebe. In gleicher Weise kann eine historische Gestalt – eine Epoche, eine Zivilisation oder eine Idee – Interpretation des Seins sein, nämlich des Seins selbst als historisch bestimmt, ohne eine Bejahung des Relativismus zu implizieren. Selbst das Verhältnis von Sein und historischer Gestalt, die es offenbart, ist interpretativ. Das zeigt zudem, dass die Anwesenheit des Seins in der Geschichte etwas viel Radikaleres und Tiefgründigeres ist als jede historische Dauerhaftigkeit. Die Interpretation begründet gerade in dem Akt, der erklärt, wie eine historische Gestalt Epiphanie des Seins sein kann, eine Wirklichkeit, die von außen betrachtet wohl eine gewisse Ähnlichkeit mit der historischen Dauerhaftigkeit haben mag, die jedoch einen viel wesentlicheren und ursprünglicheren Charakter besitzt: die Tradition.

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6.  Ursprünglichkeit der Tradition Die Interpretation der Wahrheit ist notwendigerweise an die Möglichkeit einer Tradition gebunden. In der Tat gibt die Interpretation eine Formulierung der Wahrheit, besitzt sie jedoch als unerschöpflich. Das bedeutet, dass sie zugleich eine unendliche Reserve an impliziten Möglichkeiten und den Hinweis auf eine bestimmte Art und Weise ihrer Realisierung enthält. Als Besitz eines Unerschöpflichen impliziert die Interpretation ­einen unüberbrückbaren Abstand zwischen Explizitem und Mitgemeintem, Gesagtem und Nicht-Gesagtem, zwischen bereits Gedachtem und noch nicht Gedachtem. Dieser Abstand begründet den Unterschied zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Da er aber aus der gleichen Unerschöpflichkeit des Wahren stammt, die die Interpretation ursprünglich besitzt, entzieht er der Gegenwart die Möglichkeit, den authentischen Sinn der Vergangenheit zu finden, es sei denn, dieser wird auf den Ursprung zurückverwiesen, und gleichzeitig bietet er der Gegenwart die Möglichkeit, den Ursprung durch seinen eigenen Bezug auf die Vergangenheit zu erreichen. Daher begründet die Interpretation notwendigerweise eine Tradition; denn das unaufhörliche Ergründen, zu dem sie auffordert, bindet die Entfaltung der gegenwärtigen Möglichkeiten nicht nur an das Erbe der bereits entwickelten Möglichkeiten, sondern auch an die Quelle der unendlichen Möglichkeiten selbst. So ist eine geschichtliche Gestalt gleichzeitig eine bestimmte Interpretation des Seins und ein Vorrat an zu entdeckenden und zu entwerfenden Möglichkeiten; und die Anregung, diese zu entwickeln, sowie die der Art und Weise, sie zu entdecken, wird gleichzeitig von der Vergangenheit und dem Sein evoziert: von der Vergangenheit nicht als vergangene Zeit, sondern als geschichtliche Wirklichkeit, die auf ihren Ursprung zurückverwiesen wird; und vom Sein nicht in seiner angeblichen Nicht-Gestaltbarkeit, sondern als dasjenige, welches geschichtlich bestimmt ist. Und so entspringt und strömt eine Tradition gerade aus jener Vergangenheit, die in ihrer ontologischen Ver-

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wurzelung wiedergefunden und in die zeitliche Erscheinung des Seins eingeordnet wurde. Dies zeigt, wie weit die wahre Tradition von der historischen Dauerhaftigkeit entfernt ist, auch wenn sie deren Form und Aspekt annehmen kann. Man denke zum Beispiel an die Treue zur Vergangenheit, die als zu bewahrendes Erbe, als zu bearbeitendes Vermächtnis und als auszuwertendes Vermögen verstanden wird; oder an die Geistesverwandtschaft, die als Aufgabe verstanden wird, damit man die Vergangenheit in ihrer Exemplarität damit man die Vergangenheit sich in ihrer Exemplarität bewähren lassen kann und auf originelle Weise fortzuführen weiß; oder an die ständige Absicht, das Gleichgewicht zwischen Bewahrung und Erneuerung gewissenhaft zu pflegen: Dies sind alles edle und würdige Dinge, aber sie haben weniger mit der Tradition zu tun, von der sie bestenfalls die subjektive Form und das äußere Gewand sein können, die dazu bestimmt sind, ohne die Tradition sich selbst im Leeren zu verlieren. Die Tradition ist etwas viel Tiefgründigeres, weil sie sich nicht darauf beschränkt, die Überlieferung eines historischen Ergebnisses zu sein, sondern im Grunde ein Hören auf das Sein selbst ist; das heißt, sie ist nur insofern Dialog mit der Vergangenheit, als sie ein Appell an den Ursprung ist. Sie durchquert die Jahrhunderte nicht, weil sie in der Zeit verortet ist, sondern weil sie in das Herz des zeitlichen Aufkommens des Seins eingefügt ist. Die Tradition hat also einen wesentlich ursprünglichen und ontologischen Charakter. Sie beschränkt sich nicht darauf, die Treue zur Vergangenheit und die Weitergabe eines Erbes zu ermutigen; vielmehr zeigt sie die Bedingungen einer solchen Treue und Weitergabe auf, in dem sie diese von einer bloß zeitlichen Dimension befreit und sie zu ihrer Ursprünglichkeit zurückführt. Sie zeigt, dass die Verknüpfung der Gegenwart mit einer Vergangenheit und die Fortsetzung einer Vergangenheit in der Gegenwart nur dann wirklich möglich und fruchtbar ist, wenn die Vergangenheit von ihrer bloßen Zeitlichkeit losgelöst und in ­einer ursprünglicheren Weise wiedergewonnen wird, und zwar nur

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dann, wenn die Vergangenheit als Träger eines Mitgemeinten betrachtet und aus diesem Grund mit einer ontologischen Relevanz versehen wird, und auch nur dann, wenn die Vergangenheit nicht als Vorläufer der Gegenwart, sondern als dem Sein nahe angesehen wird. Sie zeigt, dass nur die Treue zum Sein eine Möglichkeit aufzeigen kann, die es wert ist, in einer historischen Gestalt entwickelt zu werden, und dass ein authentisches Wachrufen der Vergangenheit bedeutet, die ursprüngliche Gegenwart, die sie enthält, zu evozieren. Das bestimmende Element in der Tradition ist also der Ruf zum Ursprung und die Rückgewinnung der ontologischen Dimension der Zeit; dies zeigt sich daran, dass die großen Traditionen ihren eigenen Anfängen gerne einen mythischen Charakter und ihren eigenen Überlieferungsmitteln ­einen esoterischen Charakter zuschreiben. Die Allegorie darin ist klar: Einerseits stellt man das Ursprüngliche und dem Sein Nahestehende als anfänglich und weit in der Zeit zurückliegend dar, andererseits stellt man sich dasjenige als esoterisch vor, das aufgrund seines offenbarenden Charakters einen Schutz verdient, der es vor zeitlicher Auflösung bewahren kann.

7.  Regeneration und Revolution Die Tradition enthält in sich die Möglichkeit einer ständigen Erneuerung aufgrund ihres ursprünglichen Charakters, die sie in direkten Kontakt mit dem Sein bringt. Die wahre Erneuerung einer Vergangenheit besteht nicht so sehr in einem subjektiven Akt von Originalität, der von der Geistesverwandtschaft inspiriert ist, mit der jemand die Vergangenheit aufnimmt und weiterführt, sondern eher in der Tatsache, dass die Tradition ihrer eigenen Natur nach nichts überliefern kann, sofern es nicht durch Erneuerung geschieht, denn ein solcher Akt schöpft direkt aus der ersten Quelle jeglicher authentischer Neuheit, die immer eine frische und unerschöpfliche Quelle des Seins ist, für das »jede[r]

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Tag so ist, als sei es sein erster Tag«.8 Weit mehr als um eine Erneuerung handelt es sich dabei, und zwar um eine wahre Regeneration, die auch tiefgehende Veränderungen implizieren oder erfordern kann, die nur von denen gefürchtet werden, die auf die Dauerhaftigkeit historischer Werte und auf Konstanten im menschlichen Verhalten zählen. Der Hüter der Wahrheit fürchtet diese Wandlungen nicht, denn er weiß, dass sie der Verpflichtung geschuldet sind, die Unerschöpflichkeit des Seins zu vertiefen. Auf dieser Ebene besteht das Problem nicht mehr darin, den Verlust des Gleichgewichtes zwischen Bewahrung und Erneuerung zu vermeiden, sondern, viel radikaler, in der Entscheidung, dem Sein treu zu bleiben oder es zu verleugnen, denn die Treue ist nicht einer historischen, zeitlichen Form als solcher geschuldet, sondern der in ihr verborgenen ursprünglichen Anwesenheit. Die Tradition ist das Gegenteil der Revolution, nicht weil sie der Revolution die Bewahrung entgegensetzt, sondern gerade weil die von ihr geforderte Regeneration völlig anderer Natur ist als die von der Revolution vorangetriebene, denn sie ist von ­einem ursprünglichen und ontologischen Charakter, letztere hingegen nur von einem sekundären und zeitlichen. Erstere will mit der Revolution wieder von vorne neu beginnen, während die Tradition eine ständige Wiedererlangung des Ursprungs ist. Der wahre Gegenstand einer revolutionären Haltung ist die Vergangenheit als solche, während dieser in der Tradition vor allem das Sein ist. Die Revolution sehnt sich nach einem neuen Beginn in der Zeit, während die Tradition sich auf jenen Ursprung bezieht, aus dem nur eine Regeneration der Zeit kommen kann.

8  M. Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Niemeyer, Tübingen 1953, 74. Nachdem er behauptet »in der Geschichte der Philosophie sagten im Grunde alle Denker dasselbe«, bemerkt er, dass daraus keineswegs folgt, dass »eine Philosophie [genügt]«, als würde »alles immer schon gesagt«, denn »dieses dasselbe hat allerdings den unausschöpfbaren Reichtum dessen zur inneren Wahrheit, was in jedem Tag so ist, als sei es sein erster Tag.«

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Darüber hinaus erreicht die Tradition aufgrund des offenbarenden und pluralistischen Charakters der Interpretation die Ebene, auf der eine Formulierung der Wahrheit und eine historische Formulierung sich auf die Erkenntnis anderer Formulierungen und anderer Formen stützen und mit diesen in freier Diskussion stehen können. Die Revolution hingegen, indem sie ihre eigene Idee auf die radikale Ablehnung anderer gründet, entzieht eine solche Idee der pluralistisch angelegten Ebene der Interpretation und macht sie so zu einem Surrogat der Wahrheit, wodurch sie sich selbst auf die Ebene einer sich selbst überlassenen und in die Seinsvergessenheit eingetauchten Zeitlichkeit herabsetzt. Schließlich ist die Revolution ihrem strengsten heutigen Sinne nach ein radikaler Praxismus, der die Einheit von Theorie und Praxis nach ihrer Trennung herstellen will und der, indem er im Grunde nichts anderes als ihre Wiedervereinigung vorschlägt, immer noch in die Unterkategorie der Trennung verstrickt bleibt und sich als unfähig erweist, sich zu einem ontologischen Bezug zu erheben, der seinerseits die ursprüngliche Einheit von Theorie und Praxis ist, weil er untrennbare Offenbarung von Wahrheit und Entschluss für das Sein ist.

8.  Sein und Freiheit Gewiss, indem das Sein uns nicht in einer eigenen, einzigen und endgültigen Gestalt, sondern immer in historischen, von ihm untrennbaren Formen erscheint, öffnet es den Weg zu jener scheinbaren Unordnung, in welcher das Fehlen eines äußeren und objektiven Kriteriums, das als unfehlbarer Bezugspunkt dienen könnte, alles der Unsicherheit und Bestreitbarkeit zu überlassen scheint, also genau dem, was man vermeiden will, wenn man von beständigen Werten in der Geschichte spricht. Diese Unsicherheit und Fragwürdigkeit sind jedoch das äußere Zeichen einer wichtigen und entscheidenden Tatsache: Die Interpretation der

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Wahrheit und die Offenbarung des Seins sind unserer Freiheit anvertraut. Das bedeutet nicht, sogar das Sein der Freiheit zu überlassen und damit die Freiheit sich selbst zu überlassen: Durch ihre eigene Ausübung bezeugt die Freiheit die ursprüngliche Anwesenheit, die sie anregt, gerade in dem Akt, in dem sich eine solche Anwesenheit der Freiheit anvertraut und sie leitet, wenn die Freiheit sie zum Objekt ihrer Wahl werden lässt. Der Akt, durch den die Freiheit sich für oder gegen das Sein entscheidet, ist auch der Akt, durch den sie sich entscheidet, sich selbst zu bestätigen oder zu verleugnen, denn es geht hier um die Bestätigung oder die Ablehnung des ontologischen Bezuges, der das eigentliche Sein des Menschen ausmacht. Die Freiheit ist so an das Sein gebunden, dass sie es in ihrer eigenen Entscheidung dafür oder dage­ gen bestätigt, und sie bejaht es, wenn auch in Form eines Verrats, selbst wenn sie es verleugnet und damit sich selbst verneint und zerstört. Es gibt also etwas Stabiles, auch wenn es sich nicht zu einem absoluten und beständigen Wert oder zu einer einzigen und endgültigen Formulierung festigen lässt. Dies ist jene innere Anregung und Regulierung, die der menschlichen Tätigkeit innewohnt und doch nicht auf diese reduzierbar ist, die der Anwesenheit des Seins geschuldet ist und doch von unserer Freiheit in Gang gesetzt wird. Eine solche zeigt sich in jenen seltenen und glücklichen Augenblicken menschlicher Tätigkeit, in denen sich einander so ferne Haltungen wie die Kühnheit und die Demut untrennbar verbinden, wenn das stillste und demütigste Hören auf das Sein den Mut verlangt, eine persönliche Formulierung der Wahrheit zu wagen.

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Ergänzungen § 2  Zur Dialektik von Exemplarität und Geistesverwandtschaft verweise ich auf Luigi Pareyson, Estetica. Teoria della formatività (2. Auflage, 115–150); Tradizione e innovazione, in Luigi Pareyson, Conversazioni di estetica (Mailand: Mursia, 1966). Alles, was ich dort zur Ästhetik behaupte, gilt auch für die gesamte menschliche Tätigkeit. Zu der Idee, dass Formen Stile hervorbringen, verweise ich auf die gesamte Philosophie von Augusto Guzzo. § 3  Heideggers Kritik des Wertbegriffs findet sich vor allem in Martin Heidegger, Einführung in die Metaphysik, zit., 150–152; Brief über den Humanismus, nun in Wegmarken, Klostermann, Frankfurt a. M. 1967, 177; 179–180; Holzwege, Klostermann, Frankfurt a. M. 1950, 93– 94, 205–210, 238–243. Heideggers Kritik basiert auf der These, dass durch die Einschätzung von etwas als einem Wert und somit von Sein als Wert, das Gewertete nur als Gegenstand für die Schätzung des Menschen zugelassen wird, was zu einer absoluten Subjektivierung und also zur »Seinsverlassenheit« führt. Auf der einen Seite ist der Wertbegriff die Degradierung des Seienden in das Mengenhafte, was die Vergessenheit der Wesenheit des Wesens und noch mehr des Seins selbst bedeutet, da dieses auf eine bloße Tatsache reduziert wird, das vergeblich mittels einer künstlichen Zuschreibung des Wertes auf das Sein und des Seins auf den Wert gestützt wird. Auf der anderen Seite wird dadurch gerade der Mensch entwürdigt und degradiert, da er das Sein verlässt und zum »Mörder Gottes« wird, der die größtmögliche Lästerung gegen das Sein ausspricht und damit unter sein Wesen selbst zurückfällt und verloren geht. Auch Gabriel Marcel verteidigt das Primat der Ontologie: Eine Axiologie, die nicht in der Onto­logie verwurzelt ist, sei falsch, weil sie die authentischen Werte (die »Vermittler der Transzendenz«, »inkarnierte Wesenheiten« und »aktive Evidenzen« sind) durch künstliche Werte ersetzt, die in ihrer trügerischen Objektivität nichts anderes als subjektive Projektionen sind. So können Sein, Wert und Freiheit nur gemeinsam gerettet werden: Gab-

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riel Marcel, Aperçus sur la liberté, in La Nef, 19, 1946 und Ontologie et axiologie, in Esistenzialismo cristiano, Cedam, Padua 1949. § 3  Der lateinische Ausdruck, den ich zur Klärung des Begriffs der Beharrlichkeit des Negativen verwendet habe, nämlich »diabolicum est diabolum negare«, erinnert unter einem anderen Gesichtspunkt und mit einer anderen Betonung an den Ausdruck von Franz von Baader: »Diabolum negare est Diabolo credere« [den Teufel zu leugnen heißt, an den Teufel zu glauben] Franz von Baader, Sämtliche Werke IV, 360. § 3  Die beeindruckenden Reflexionen Kierkegaards über die alltägliche und irdische Natur des Ritters des Glaubens finden sich in Furcht und Zittern, in Gesammelte Werke, Diederichs Verlag, IV Abteilung, Düsseldorf 1962, 37–41.

II. Ursprünglichkeit der Interpretation 1.  Verhältnis zum Sein und Interpretation der Wahrheit: Ontologie und Hermeneutik Jedes menschliche Verhältnis, sei es Erkennen oder Handeln, Kunstverständnis oder zwischenmenschliche Beziehung, historisches Wissen oder philosophische Reflexion, hat immer einen interpretativen Charakter. Dies wäre nicht der Fall, wenn die Interpretation nicht in sich selbst ursprünglich wäre: Sie qualifiziert jenes Verhältnis zum Sein, in dem das eigentliche Wesen des Menschen liegt; in ihr verwirklicht sich die ursprüngliche Solidarität von Mensch und Wahrheit. Diese Ursprünglichkeit der Interpretation erklärt nicht nur den interpretativen Charakter jedes menschlichen Verhältnisses, sondern auch den ontologischen Charakter jeder Interpretation, wie bestimmt und spezifisch auch immer sie sein mag. Interpretieren heißt transzendieren; man kann nicht authentisch von dem Seienden sprechen, ohne sich zugleich auf das Sein zu beziehen. Mit einem Wort: Das ursprüngliche ontologische Verhältnis ist notwendigerweise hermeneutisch und jede Interpretation hat notwendigerweise ­einen ontologischen Charakter. Das bedeutet, dass es von der Wahrheit immer nur Interpretatio­ nen gibt und: dass es keine Interpretation gibt, wenn nicht die von der Wahrheit. In der Interpretation sind die Originalität, die aus der Neuheit der Person und der Zeit sich ergibt, und die Ursprünglichkeit, die aus dem ursprünglichen ontologischen Bezug herkommt, unteilbar und mitwesentlich. Die Interpretation ist jene Form der Erkenntnis, die zugleich und untrennbar veritativ und geschichtlich, ontologisch und persönlich, offenbarend und ausdrückend ist.

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2.  In der Interpretation sind der geschichtliche und der offenbarende Aspekt mitwesentlich Daraus folgt zunächst, dass die einzige für die Wahrheit geeignete Erkenntnis die Interpretation ist, verstanden als eine geschichtliche und persönliche Wissensform, in der die individuelle Persönlichkeit und die geschichtliche Situation, weit davon entfernt, ein Hindernis oder gar eine Schranke für die Erkenntnis zu sein, ihre einzig mögliche Bedingung wie auch ihr einzig geeignetes Vermögen sind. Die Interpretation kann gewissermaßen als jene Erkenntnisform bezeichnet werden, in der sich das »Objekt« in dem Maße enthüllt, wie sich das »Subjekt« ausdrückt, und umgekehrt. Der Name »Interpretation« ist also nicht zutreffend, wenn Person und Zeit, anstatt zum Medium und zur Öffnung für Wahrheit zu werden, das einzig wirkliche Objekt des Denkens sind, das dann lediglich historisch wird – sei es ideologisch oder technisch – und dazu bestimmt, mit der Zeit zu vergehen, da es nichts anderes ist als ihr Abbild und Produkt. Der eigentliche Charakter der Interpretation ist daher, zugleich offenbarend und geschichtlich zu sein; ihre Natur wird also nicht vollständig verstanden, wenn man die Mitwesentlichkeit dieser beiden Aspekte nicht in ihrer vollen Tragweite versteht, das heißt, wenn in der Interpretation der offenbarende Aspekt nicht untrennbar mit dem geschichtlichen Aspekt verbunden ist. Die Interpretation ist also jene Erkenntnisform, die insofern offenbarend und ontologisch ist, als sie geschichtlich und persönlich ist. Denn der personale und geschichtliche Charakter der Interpretation ist keine oberflächliche Färbung, kein unnötiger Zusatz, kein nachlässiges Beiwerk oder – schlimmer noch – eine willkürliche Überlagerung, eine wesentliche Einschränkung oder gar eine unheilbare Verstellung, so dass man sich ihre Beseitigung wünschen, ihre Unterdrückung planen oder ihren fatalen Charakter verharmlosen könnte. Denn in Bezug auf die Wahrheit sind Person und Situation kein fatales oder lästiges Hindernis, sondern vielmehr der einzige Zugangsweg zu ihr und das ein-

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zige Erkenntnismittel – also ein Instrument der Durchdringung, das bei richtiger Anwendung leistungsfähig wie kein anderes ist und vollkommen für den Zweck geeignet. Jener Antihistorismus, der der Suche und Entdeckung der Wahrheit unweigerlich innewohnt, kann und darf aufgrund der Interpretation keinen »asketischen« Charakter haben, denn der einzige Zugangsweg zur Wahrheit besteht nicht darin, aus der Geschichte herauszugehen – was unmöglich ist, denn das würde bedeuten, aus sich selbst und aus der eigenen Situation herauszugehen –, sondern darin, sich der Geschichte zu bedienen, was durchaus möglich ist, auch wenn es unbequem und mühsam ist und Ursache aller Schwierigkeiten, die nicht nur die Erkenntnis der Wahrheit herausfordern, sondern auch jede Art von Interpretation, wie spezifisch und bestimmt sie auch sein mag. Darüber hinaus sind Offenbarung der Wahrheit und Ausdruck der Zeit in der Interpretation so untrennbar miteinander verbunden, dass sie in einem direkten und nicht in einem umgekehrten Verhältnis stehen, gerade weil der geschichtliche Aspekt der Interpretation, weit davon entfernt, den offenbarenden Aspekt zu unterdrücken, seine einzig mögliche Bedingung ist. Das bedeutet nicht, dass die Interpretation weniger offenbarend wäre, wenn sie persönlicher wäre; denn sie ist vielmehr umso offenbarender, je mehr sie persönlich und geschichtlich ist. Es ist sogar unmöglich, in ihr einen zeitlichen und vergänglichen Aspekt von einem unwandelbaren und dauerhaften Kern zu unterscheiden oder gar abtrennen zu wollen, da ja alles dort zugleich und gleichzeitig geschichtlich und offenbarend, persönlich und ontologisch ist. Wer die Wahrheit erfasst, tut dies nicht, indem er aus der Geschichte heraustritt, sondern indem er sich ihrer als Zugang und Anlass bedient, und zwar nicht, indem er sich seiner selbst entblößt, sondern indem er selbst zum Mittel der Öffnung für Wahrheit wird. In der Interpretation stehen Offenbarung der Wahrheit und Ausdruck der Zeit nicht in einem Verhältnis von Kontiguität oder Kontinuität oder Abstufung, sondern von Synthese, in dem Sinne, dass die eine die Form der anderen ist: Wenn es wahr ist, dass die

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Offenbarung der Wahrheit nur persönlich und geschichtlich sein kann, so ist es ebenso wahr, dass sie – und nur sie allein – auch die Wahrheit der Zeit und der Person enthält, so dass die Interpretation ganz und gar offenbarend und ganz und gar ausdrückend und alles zusammen persönlich und ontologisch ist.

3.  Der weder subjektivistische noch annähernde Charakter der Interpretation Es ist hilfreich, bei der Tatsache zu verweilen, dass dem geschichtlichen und persönlichen Charakter der Interpretation keineswegs ein willkürlicher und annähernder Charakter zu verleihen ist, aus dem sich ein von relativistischen oder skeptischen Konsequenzen beladener Subjektivismus ergäbe. Wenn aber die Interpretation immer geschichtlich und persönlich ist, so ist sie notwendigerweise auch vielfältig. Diese Pluralität der Interpretation fällt als erstes ins Auge (nach dem Motto: tot capita tot sententiae: meine, deine, seine, ihre Interpretation) und wird dabei oft auf eine Weise erklärt, die auf den ersten Blick sehr natürlich und fast für jeden offensichtlich erscheint, und die dann allgemein akzeptiert und wiederholt wird, was zu einer Reihe von gefährlichen Zweideutigkeiten und ungünstigen Missverständnissen führt. So meint man zum Beispiel, dass die Interpretation aufgrund ihrer Pluralität die Wahrheit vertreibt und zerstreut oder unvermeidlich außerhalb von ihr bleibt. Einer­seits sagt man, dass die Interpretation deswegen stets neu und vielfältig sei, weil sie uns nicht die Wahrheit gibt, sondern nur ihr Ebenbild, das durch unsere verschiedenen Persönlichkeiten und veränderlichen Reaktionen erzeugt wird. Andererseits sagt man, dass die Interpretation sich deswegen nie als einzig und endgültig zeigt, weil sie nicht in das Herz der Wahrheit eindringt, sondern nur um sie herum kreist und ihre innere Natur entgleiten lässt. Auf diese Weise wird die Wahrheit auf den Bereich des Willkürlichen und des Ungefähren beschränkt: Auf

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der einen Seite haben wir die gleichgültige Relativität des Meinens, auf der anderen Seite die Unzulänglichkeiten einer oberflächlichen und verstellenden Erkenntnis. Es ist wohl wahr, dass die Interpretation den beiden Extremen des Relativismus und des Skeptizismus zum Opfer fallen kann, wenn sie sich zur subjektivistischen Zerstreuung willkürlicher Bilder oder in der vergeblichen Annährung an ein nie erreichtes Objekt entwickelt; jedoch in diesem Fall ist das, was wegfällt, die Interpretation selbst, weil die Persönlichkeit – die mehr zum Objekt des Ausdrucks als zum Organ der Durchdringung geworden ist – sich über die Wahrheit stellt und dazu neigt, sie zu verbergen und zu verdunkeln, anstatt sie zu empfangen und zu enthüllen. Tatsache ist, dass die Pluralität der Interpretation keineswegs ein Mangel oder Nachteil ist, sondern vielmehr das sicherste Zeichen für den Reichtum menschlichen Denkens. Nichts ist absurder, als die Interpretation für einzig und endgültig halten zu wollen, wie diejenigen behaupten, die der Meinung sind, dass die Erkenntnis nur dann vollständig und vollendet sei, wenn sie einzig ist, und dass der persönliche Charakter der Erkenntnis eine verwerfliche und verhängnisvolle Einschränkung sei. Die Unrichtigkeit dieser Vorurteile besteht darin, dass Genauigkeit und Evidenz in einer so banalen und augenscheinlichen Weise begriffen werden, dass sie dann keine von diesen dort auffinden können, wo gerade die Vielfalt und Neuigkeit des menschlichen Lebens gedeiht. Der subjektivistische und mutmaßende Charakter der Erkenntnis wird nicht durch die unmögliche Forderung nach ­einer »einzigen« Interpretation behoben, da zwischen diesen beiden Extremen kein Dilemma besteht, sondern sich die Interpretation selbst als die einzig echte Möglichkeit dazwischen stellt; sie ist aufgrund ihrer Pluralität, ihrer geschichtlichen Wahrheit und Persönlichkeit nicht weniger aufnahmebereit und offenbarend gegenüber dem Wahren und gibt ihren persönlichen, geschichtlichen und pluralistischen Charakter nicht preis, um die Wahrheit zu erreichen und zu besitzen. Das Reich der Deutbarkeit beruht auf der Unmöglichkeit einer eindeutigen und unmit-

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telbaren Erkenntnis, durch die alle ohne Streit und ohne Dialog zu einer Übereinstimmung gelangen würden; vielmehr setzt ein solches Reich vor­aus, dass es keine andere Form authentischer Erkenntnis als die Interpretation gibt, die ja an und für sich geschichtlich und persönlich und damit konstitutiv vielfältig und nicht endgültig ist; es kommt noch hinzu, dass diese Merkmale der Interpretation nicht verworfen werden können und dass diese Eigenschaften nicht nur als wesentlich und unterdrückbar, sondern auch als nützlich und vorteilhaft zu betrachten sind. Das Grundprinzip der Hermeneutik ist eben, dass die einzige adäquate Erkenntnis der Wahrheit die Interpretation ist. Das bedeutet, dass sie auf vielerlei Art zugänglich und erreichbar ist und keine dieser Arten, solange sie den Namen »Interpretation« verdient, gegenüber den anderen privilegiert ist, so dass sie den Anspruch erheben könnte, die Wahrheit auf eine exklusive, vollständigere oder bessere Weise zu besitzen. Um ihr eigentliches Ziel zu erreichen, braucht die Interpretation ihre Merkmale der Geschichtlichkeit und Persönlichkeit nicht abzulegen – was sie auch gar nicht könnte, denn diese Merkmale können nicht eliminiert werden. In der Interpretation besteht die Funktion der Person nicht in der Selbstunterdrückung, um ihren Platz einer unpersönlichen oder entpersönlichten Erkenntnis zu überlassen bzw. um die Wahrheit »sein zu lassen«. Gewiss, die Aufgabe der Person in der Interpretation ist genau dies, die Wahrheit »sein zu lassen«; aber das bedeutet keineswegs, eine unpersönliche oder entpersönlichte Erkenntnis zu erreichen. Das bisschen »Entpersönlichung«, das die »Treue« einer Interpretation notwendigerweise zu implizieren scheint, will nur verhindern, dass Geschichtlichkeit und Persönlichkeit die Oberhand gewinnen und so eher zum Selbstzweck als zu Wegen für Wahrheit werden, so dass sie das Wahre eher verbergen als den Zugang zu ihm eröffnen. Aber um dieses Ziel zu erreichen, muss die geschichtliche Situation vertieft und die Person so verstanden werden, dass sie zum Instrument für den Einklang, zum Organ der Ergreifung der Wahrheit wird. So wird die Wahrheit »sein gelassen«, eben

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weil sie »abgestimmt und empfangen« wird, und sie gibt sich der Interpretation in dem Maße hin, wie die Interpretation durch ihre Aufgeschlossenheit und Empfänglichkeit die Wahrheit aufgenommen und ihr zugestimmt hat.

4.  Unmöglichkeit der Unterscheidung zwischen einem vergänglichen und einem beständigen Kern in der Interpretation An dieser Stelle befassen wir uns mit der anderen oben erwähnten Tatsache, nämlich dass es in der Interpretation unmöglich ist, e­ inen zeitlichen und vergänglichen Aspekt von einem unveränderlichen und beständigen Kern zu unterscheiden oder beide voneinander trennen zu wollen. Eine solche Unterscheidung wäre nur dann möglich, wenn der geschichtliche Aspekt der Interpretation vom offenbarenden Aspekt zu trennen wäre. Da die Interpretation aber gerade deshalb eine solche ist, weil sie sich der Wahrheit über die Geschichtlichkeit der Situation und zur Persönlichkeit des Denkers nähert, kann in ihr die Offenbarung der Wahrheit nicht unabhängig vom Ausdruck der Zeit erfolgen, noch kann die letztere ohne die erstere sein. Aus diesem Grund ist es nicht möglich, in ihr einen nicht-zeitlichen und übergeschichtlichen »Kern«, der als solcher ewig und unvergänglich wäre, von einer vorübergehenden, vergänglichen »Hülle«, insofern diese geschichtlich und zeitlich ist, zu unterscheiden. Im menschlichen Denken ist alles gleichermaßen geschichtlich und zeitlich. Will man hier einen Unterschied machen, könnte man zwischen der Geschichtlichkeit, die sich im Ausdruck der Zeit erschöpft, und der Geschichtlichkeit, die eine ontologische Tragweite besitzt, unterscheiden, d. h. zwischen dem rein Geschichtlichen (das die eigene Zeit ausdrückt, ohne damit die Wahrheit zu enthüllen) und jenem Geschichtlichen, dass auch offenbarend ist, in dem Sinne, dass die Offenbarung der Wahrheit auf der Basis der Geschichtlichkeit

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und der Persönlichkeit der Interpretation nur eine geschichtliche Gestalt annehmen und einen ausdrückenden Aspekt haben kann. Aber eine solche Unterscheidung besteht gerade darin, zwischen dem, was Interpretation ist, und dem, was keine Interpretation ist, zu unterscheiden. Das rein Geschichtliche kann nichts anderes als seine eigene Zeit ausdrücken und ist somit vorübergehend, vergänglich, so dass es allmählich von der Zeit überwältigt wird, von der es nichts anderes als deren bloßes Produkt und Abbild ist. In der Interpretation hingegen sind der geschichtliche und der offenbarende Aspekt derart unlösbar – untrennbar verbunden durch die Initiative der Person, die sich selbst und ihre eigene Situation zum Medium für Wahrheit macht –, so dass das zur Offenbarung und Formulierung der Wahrheit unabdingbare Element gewissermaßen dem Fluss der Zeit sich entzieht. Die Wahrheit ist zweifellos übergeschichtlich und überzeitlich, aber diese beiden Eigenschaften gewinnen ihre Gültigkeit nur innerhalb der geschichtlichen und zeitlichen Formulierung, die sie nach und nach aufnimmt. Jede Formulierung der Wahrheit ist immer geschichtlich und zeitlich, aber eine solche Geschichtlichkeit und Zeitlichkeit – die wohl keine unmittelbare Äußerung, Manifestation oder Verwirklichung der Wahrheit ist – ist nicht von jener Art, die mit der Zeit vergeht, da sie Öffnung und Weg zum Wahren ist und daher geprägt von der ursprünglichen und tiefen Anwesen­heit des Seins. Die Hermeneutik schließt dezidiert die These aus, dass das Geschichtliche an sich vorübergehend und vergänglich sei, ebenso wie die Vorstellung, dass die Erkenntnis und Formulierung der Wahrheit keine geschichtlichen und zeitlichen Elemente enthalte. Einerseits ist in der Interpretation das geschichtliche Element – wenn es auch nicht aufhört, Ausdruck der Zeit zu sein – so wenig an den Zeitfluss gebunden, dass es niemals seine Aktualität verliert, da es ja von der Formulierung der Wahrheit nicht abzutrennen ist. Andererseits ist die Offenbarung der Wahrheit so wenig von der Zeit abstrahiert, dass sie eben diese als unentbehrliches Mittel und als Weg zur Erreichung ihres eigenen Zieles annimmt.

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Man sollte nicht aufhören, im menschlichen Denken zwischen dauerhaften und beständigen Elementen und vorübergehenden und vergänglichen zu unterscheiden, noch sollte man aufhören, dieses nur Zeitliche und Geschichtliche als vergänglich zu betrachten. Man sollte jedoch bedenken, dass diese Erwägung – weit davon entfernt, einen historischen und vergänglichen »Teil« von einem ewigen und immerwährenden »Teil« in der Interpretation der Wahrheit zu trennen – nichts anderes tut, als die unverfälschte und authentische Interpretation der Wahrheit von den Schlacken des bloß historisch-technischen Denkens zu läutern, ohne dass hierdurch die Erfordernis beeinträchtigt würde, jenen Zusammenhang zu erfassen, der den geschichtlichen und zeitlichen Aspekt unlöslich mit dem ontologischen und offenbarenden Aspekt verbindet, da beide für den Begriff der Interpretation wesentlich sind.

5.  Die Einzigartigkeit der Wahrheit und die Vielfalt ihrer Formulierungen sind untrennbar Die Untrennbarkeit von offenbarendem und geschichtlichem Aspekt der Interpretation erklärt auch, wie in ihr die Einheit der Wahrheit und die Vielfalt ihrer Formulierungen nicht nur widerspruchslos, sondern sogar untrennbar miteinander verbunden werden können. Zu behaupten, dass die Interpretation zugleich und unteilbar offenbarend und geschichtlich ist, bedeutet zu behaupten, dass die Wahrheit nur innerhalb einer einzelnen Perspektive zugänglich ist, während ebendiese wiederum der Zugangsweg zur Wahrheit ist. Man kann die Wahrheit nicht offenbaren, ohne sie bereits zu formulieren und zu bestimmen, was aber nur geschichtlich und persönlich geschieht. Daher zeigt sich die Wahrheit, obwohl sie gerade eine ist, niemals in einer ihr eigenen Bestimmtheit, in ­einer Formulierung, die als die einzig endgültige erkennbar wäre, sondern sie bietet sich nur innerhalb der ihr jeweils gegebe-

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nen Formulierungen und ist von diesen nicht zu trennen, so dass ihr einziger Erscheinungsmodus gerade die Einzigartigkeit ihrer persönlichen und geschichtlichen Formulierung ist. Die Interpretation entsteht als sowohl offenbarend als auch plural, gerade weil sie zugleich und untrennbar ontologisch und persönlich ist. Ihre Vielfältigkeit gefährdet ihre Einzigartigkeit nicht, sondern bekräftigt und bestätigt sie. Die Wahrheit ist einzig, ihre Formulierung jedoch stets vielfältig. Zwischen der Einzigartigkeit der Wahrheit und der Vielfältigkeit ihrer Formulierungen besteht kein Widerspruch, da sie aufgrund der Interpretation, die immer zugleich geschichtlich und offenbarend ist, nur innerhalb ihrer gegebenen geschichtlichen und einzelnen Formulierungen gilt. Und es ist gerade die Interpretation, die die Wahrheit als eine aufrechterhält, indem sie ihre Formulierungen unendlich vervielfältigt. Die Interpretation ist also nicht, kann nicht und darf nicht einzig sein, denn sie ist ihrer Definition nach vielfältig. Aber die Vielfältigkeit der immer neuen und verschiedenen Formulierungen der Wahrheit ist eben jene, die die Einzigartigkeit der Wahrheit keineswegs gefährdet und zerstreut, sondern sie vielmehr aufrechterhält und sich zugleich von ihr nährt, sie beschützt und von ihr Inspiration und Keimung (spunto) erhält. Was schwierig zu verstehen ist, aber unbedingt verstanden werden muss, ist, dass aufgrund der Interpretation die Einzigartigkeit der Wahrheit und die Vielfältigkeit ihrer Formulierungen nicht nur kompatibel, sondern sogar mitwesentlich sind und dass jede der beiden nur in der anderen ihre adäquate Form und ihre wahre Bedeutung findet. Die Formulierungen der Wahrheit sind vielgestaltig, aber ihre Vielfältigkeit beeinträchtigt keineswegs die Einzigartigkeit der Wahrheit, sondern setzt sie voraus und lebt von ihr, ebenso wie die Einzigartigkeit der Wahrheit nicht die Vielheit ihrer Formulierungen negiert, sondern in ihnen lebt und sie erfordert. Einerseits gäbe es keine geschichtlichen Wahrheiten ohne jene einzige, deren Interpretationen sie sind; ohne diese Wahrheit wären sie nur Ausdrücke der Zeit ohne Offenbarungswert und ihrer her-

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meneutischen Funktion entleert und sogar auch ohne spekulativen Charakter. Sie wären nichts anderes als ein rein historisches, also ideologisches, technisches und instrumentelles Denken. Andererseits aber wäre das, wovon es nur ein Wissen geben kann, keine Wahrheit: Die einzige Formulierung ist die Aufhebung der Wahrheit selbst, weil sie behauptet, sich mit ihr zu identifizieren, während sie nichts anderes als eine Interpretation von ihr ist, das heißt: eine einzige Formulierung, die neben einer unendlichen Anzahl anderer steht.

6.  Die Formulierung der Wahrheit ist eine Interpretation, keine Erschleichung durch Monopolisierung oder Verstellung Um diese Grundlage der Hermeneutik genauer verstehen zu können, müssen zwei grundlegende Umstände beachtet werden. Zunächst darf nicht vergessen werden, dass die Wahrheit und ihre Formulierungen einander bedürfen, dass sie so eng miteinander verbunden sind, dass sie letzten Endes miteinander zusammenfallen. Man darf sie jedoch nicht verwechseln, wie es geschehen würde, wenn die Formulierung, verstanden als etwas anderes als die Wahrheit, den Anspruch erheben würde, an die Stelle der Wahrheit zu treten oder ihre bloße Verkleidung zu sein. Es ist nun nicht so, dass es die einzige Wahrheit auf der einen Seite und ihre vielfältigen Formulierungen auf der anderen Seite gäbe wie zwei völlig voneinander verschiedene Ordnungen von Dingen, die sich nur zufällig an einem bestimmten Zeitpunkt der Geschichte treffen und verbunden werden. Wäre dies der Fall, gäbe es keinerlei wahren Zusammenhang zwischen der Wahrheit und ihren Formulierungen. Nicht nur würde sich die Wahrheit in ihrer eigenen Abgetrenntheit verlieren – dies würde die gegenwärtige und sich immer mehr durchsetzende Tendenz, die Einzigartigkeit der Wahrheit zu leugnen und sie schließlich ganz abzuschaffen, voll und ganz rechtfertigen; sondern auch jenes un-

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auflösliche Band, das sie so aneinander bindet und beinahe identifiziert, weil die Wahrheit nur als formulierte erscheinen kann und die Formulierung der Wahrheit nur diejenige ist, die sie als interpretierte erfasst, würde verloren gehen. Das soll nicht heißen, dass es eine einzige Wahrheit mit nur einer wahren Formulierung gibt, die sich in vielfältigen historischen Formulierungen brechen könnte, die diese mehr oder weniger getreu wieder­geben. Die einzige Art, wie die eine Wahrheit erscheint und erscheinen kann, ist gerade in ihren vielfältigen und geschichtlichen Formulierungen, die jedoch nicht bloße Kopien und schale Spiegelungen sind, sondern ihre wirkliche Inkarnation und ­realer Besitz. In der Interpretation kommen Wahrheit und ihre Formulierung so zusammen, dass zwischen ihnen Identität möglich, ja sogar notwendig ist; ihre Verwechslung hingegen ist unmöglich, ja sogar unzulässig. In ihrer konstitutiven Aufeinanderbezogenheit sind sie weder so »verschieden«, dass sie sich nicht miteinander identifizieren dürfen, noch so »ähnlich«, dass sie vermischt werden können: Gerade weil sie untrennbar sind, sind sie sich weder ähnlich noch voneinander verschieden, und gerade weil sie identisch sind, können sie nicht verwechselt werden. Es ist nicht so, dass die Wahrheit sich nur in etwas anderem als sich selbst offenbart oder dass sie sich nur als etwas anderes als sich selbst besitzen lässt. Vielmehr vertraut sich die Wahrheit den geschichtlichen Formulierungen, die sie zu erfassen vermögen, in einem solchen Maße an, dass sie sich allmählich mit jeder einzelnen von ihnen identifiziert. Jede Formulierung der Wahrheit, die dieser Bezeichnung wert ist, ist die Wahrheit selbst als persönlich interpretiert und besessen, so dass die immer neuen und verschiedenen Formulierungen der Wahrheit zugleich die einzige Art ihrer Erscheinung und Existenz und unsere einzige Art sind, sie zu bekennen und zu begreifen. Eine Wahrheitsformulierung ist eine solche, sofern sie Inter­ pretation der Wahrheit ist. Das bedeutet zum einen, dass sie nichts anderes als Interpretation ist, d. h. eine singuläre, geschichtliche und persönliche Formulierung, die als solche neben einer unend-

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lichen Zahl anderer Formulierungen steht. Sie hat also nicht das Recht, das zu ersetzen, was eigentlich zur Wahrheit gehört, nämlich ihre Einzigartigkeit und Zeitlosigkeit, da selbst die Wahrheit ihre eigene Einzigartigkeit und Zeitlosigkeit ausschließlich innerhalb jeder der von ihr erreichten und erhaltenen, sogar angeregten und geforderten Formulierungen geltend machen kann. Andererseits bedeutet dies auch, dass die Formulierung eben Inter­pretation der Wahrheit ist, also authentischer und realer Besitz, der nicht aufhört, authentischer und effektiver Besitz zu sein, auch wenn er sich – wie wir sehen werden – als eine unbestimmbare und unendliche Aufgabe erweist, so dass die von ihr schon erfasste Wahrheit keinerlei Bedürfnis hat, sich als verschieden von sich selbst zu zeigen und sich mit ihren eigenen Formulierungen zu verwechseln, indem sie sich in ihnen wie unter einer veränderlichen und bunten Maskierung verberge, die sie eher verschleierte und verformte als sie zu enthüllen und zu äußern. Entstellung (alterazione) ist derjenige Begriff, der dem genauen Verständnis von Hermeneutik am meisten abträglich und daher am meisten irreführend ist, wenn es zu definieren gilt, was eine Formulierung der Wahrheit ist. Das Verhältnis der Wahrheit und ihrer Formulierung ist nicht das einer Andersheit (alterità), als ob die Wahrheit sich nur in etwas anderem offenbaren oder sich nur als etwas anderes als sich selbst zeigen könnte; oder als ob die von ihr gegebene Interpretation nichts anderes wäre als ihre Kopie oder ihr Reflex, ein Bild oder Abbild; oder sogar als ob sie ihr eigenes Wesen verändern und sich modifizieren, umwandeln und verformen müsste, wenn sie formuliert wird; oder als ob die Tatsache, dass die verschiedenen geschichtlichen und persönlichen Formulierungen sie auf ihre eigene spezifische Art und Weise enthalten und besitzen, sie zu einer unaufhörlichen und chamäleonartigen Verkleidung bestimmte; oder als ob sich der Reichtum ihrer Offenbarungen in einen phantasmagorischen Transformismus auflöste. In der Tat lassen sich die beiden typisch unangemessenen Denkweisen zur Interpretation und Formulierung von Wahrheit – Monopolisierung und Verschleierung – auf

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den in die Irre führenden Begriff der Entstellung (alterazione) zurückführen. Eine Formulierung der Wahrheit, die den Anspruch erhebt, die einzige zu sein – das heißt, die den Anspruch erhebt, die Wahrheit in einem exklusiven Besitz zu monopolisieren –, würde damit ihre eigene Fremdheit, ihr Anderssein der Wahrheit gegenüber anerkennen, da sie ja diese ersetzen zu können meint. Die verschiedenen Formulierungen der Wahrheit als ihre unaufhörlichen Verwandlungen oder kaleidoskopischen Veränderungen aufzufassen, bedeutet immer noch, sie als etwas anderes als die Wahrheit zu betrachten, etwas anderes von einem solchen Ausmaß, dass sie einfach ihre bloße Kopie, ja ihre Maske oder sogar ihr Abbild, ja ihr Anschein seien oder aber ihr Reflex, sogar auch ihre Verformung. Die Interpretation der Wahrheit und ihr Surrogat sind nicht dasselbe. Als Interpretation ist die Formulierung der Wahrheit die Wahrheit selbst und nichts anderes als nur sie. Gewiss, sie ist die Wahrheit als persönlich besessen und geschichtlich formuliert und nicht Wahrheit in einer abstrakten und unmöglichen Isolation. Die Wahrheit verändert und verwandelt sich jedoch nicht einfach aufgrund der Tatsache, dass sie persönlich empfangen und geschichtlich anwesend ist, da die persönliche Natur und die Geschichtlichkeit eher den Zugang und den Modus des Besitzens betreffen als die Quelle und den Inhalt des Wahren; so, dass die Formulierung der Wahrheit, insofern sie fähig ist, diese bis zu jenem Punkt zu erfassen, an welchem sie sich mit ihr identifiziert, ihre wirkliche Offenbarung wird, ihr authentischer Besitz. Als Surrogat ist die Formulierung der Wahrheit ihre Entstellung (alterazione), d. h. nichts anderes als ihre Kopie, ihr Reflex oder ihr Abbild. Hieraus resultiert die Möglichkeit der Verwechslung, die beides vertauscht, insofern sie nur einer der zahlreichen Formulierungen den Charakter der Einzigartigkeit zuschreibt, der nur der Wahrheit zukommt, oder die die Wahrheit in eine Vielheit auflöst, die eigentlich zu ihren Formulierungen gehört. Dies führt einerseits zur Ersetzung der Wahrheit durch eine ihrer unrichtigerweise verabsolutierten Formulierungen und an-

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dererseits zur Verstellung der Wahrheit unter der wechselnden und vielgestaltigen Vielfalt ihrer Formulierungen, hereingerissen in den Wirbel einer unendlichen und illusorischen Metamorphose. Was hier klargestellt werden muss, ist, dass sowohl das Monopol als auch die Maskierung, weit davon entfernt, in irgend­einer Weise Offenbarung der Wahrheit zu sein, ihre radikale und vollständige Verfälschung sind: Anstatt den hermeneutischen Zusammenhang zu zeigen, der die Wahrheit mit ihrer Formulierung untrennbar verbindet, stellen sie die eine der anderen als trügerische Zweiheit entgegen, was lediglich auf eine offene Zweideutigkeit hinausläuft. So erhebt eine bestimmte Formulierung den Anspruch, die Wahrheit zu ersetzen, das heißt, sie exklusiv zu besitzen, und die Wahrheit verbirgt sich hinter ihren Formulierungen wie unter der instabilen Veränderlichkeit einer ständigen Verschleierung. Dies sind eben zwei Beispiele dafür, wie solche Zweiheit eine Täuschung erzeugt; denn auf dieser Ebene sind Monopol und Maskierung Ausdruck vollkommenster Vergessenheit und entschiedenster Verleugnung der Wahrheit: das Monopol aufgrund seines exklusivistischen Charakters, der durch Verabsolutierung und Verewigung einer einzelnen individuellen Formulierung der Wahrheit, dieser ihre eigene Offenbarungskraft entzieht und damit zum Verschwinden bringt; die Maskierung weniger infolge ihrer Unbeständigkeit und Vielfältigkeit als vielmehr wegen ihres vielschichtigen und vielgestaltigen Charakters, der die Allegorien und Symbole unfähig macht, die unerschöpfliche Vielfältigkeit der Wahrheitsperspektiven und die subtile Dialektik von Verhüllung und Enthüllung auszudrücken, wie sie nicht nur bei Heidegger, sondern vor allem bei Pascal zu finden ist. So ist Maskierung bestenfalls dazu geeignet, Chamäleontismus und Täuschung, Transformismus und Fiktion darzustellen, das heißt, ein weites Reich der Verstellung auszubreiten, in dem die Wahrheit keinen Platz hat, selbst wenn man absurderweise denken wollte, dass die Quelle der Verstellung g ­ erade die Wahrheit selbst wäre.

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7.  Unzutreffendes Dilemma zwischen Einzigartigkeit der Wahrheit und Vielfalt ihrer Formulierungen Nur derjenige, der sich des interpretativen Charakters des Verhältnisses zwischen Wahrheit und Formulierung nicht bewusst ist  – und dies ist der zweite in Betracht zu ziehende Umstand –, wird von der These überrascht, dass die Formulierungen des Wahren in ihrer geschichtlichen Vielfältigkeit ein wirklicher Besitz der einzigen und nicht-zeitlichen Wahrheit sein können. Aufgrund eines illusorischen Wunsches nach Kohärenz vergisst er, dass die Einzigartigkeit eben zur Wahrheit, nicht aber zu ihrer Formulierung gehört und dass die Vielfältigkeit zur Formulierung gehört und eben nicht zur Wahrheit. Indem er das eine mit dem anderen verwechselt, schafft er ein falsches Dilemma bezüglich der beiden Termini – ein Dilemma, das die Quelle für ständige Irrtümer über das Wesen der Interpretation ist, besonders wenn es dabei um Wahrheit geht. Auf der einen Seite stehen also diejenigen, die die Wahrheit aufgrund ihrer Einzigartigkeit nicht nur als nicht-zeitlich betrachten, sondern sie völlig außerhalb der Zeit stellen; auf der anderen Seite stehen diejenigen, die die Wahrheit als vielfältig und in sich selbst veränderlich betrachten und sie sogar auf ein bloßes Produkt der Zeit reduzieren, weil die Wahrheit immer nur in ihren geschichtlichen Formulierungen erscheint. Das Ergebnis ist, dass man entweder unzulässigen und unnützen Verzicht auf die vielen Formulierungen zugunsten der einen Wahrheit übt oder Verzicht auf die überzeitliche Wahrheit zugunsten ihrer historischen Formulierungen. Genauer gesagt besteht die Alternative zwischen denen, die die Wahrheit als eine nicht-zeitliche Instanz annehmen und somit behaupten, dass nur eine wahre Philosophie, die selbst nicht-zeitlich und einzigartig ist, existiert, und denen, die feststellen, dass Philosophien selbst vielfältig und geschichtlich sind, so dass die Wahrheit selbst nur plural sein kann und daher nur historische Wahrheiten existieren. Hieraus ergibt sich, dass man entweder eine übermäßig verabsolutierte

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Geschichts­philosophie zu einem zeitlosen Empyreum erhebt oder die Geschichte auf eine bloße zeitliche Abfolge reduziert, die ihre eigenen Produkte mit sich schleppt. Anders gesagt: Entweder man beraubt die Philosophie ihres geschichtlichen Charakters und damit die Wahrheit ihrer zeitlichen Erscheinung, oder man eliminiert die Offenbarungsfähigkeit der Philosophie und damit die ontologische Öffnung der Geschichte. So ergibt sich ein Dilemma zwischen denen, die zur Rettung der absoluten Natur der einen und zeitlosen Wahrheit bewusst riskieren, in Dogmatismus zu verfallen, und denen, die, um die Geschichtlichkeit der immer neuen und vielfältigen Formulierungen bewahren zu können, bereitwillig in Relativismus verfallen. Dieses Dilemma wird auf die Spitze getrieben – und hier zeigt sich der Argumentationsfehler –, dass im ersten Fall der Dogmatismus nicht dem Relativismus vorgezogen wird – wie es sinnvoll erscheinen würde –, sondern jedweder Anerkennung der Geschichtlichkeit und Vielfältigkeit, sogar in der Formulierung des Wahren, während im zweiten Fall hingegen der Relativismus nicht dem Dogmatismus vorgezogen wird – wie es selbstverständlich erscheinen müsste –, sondern jedweder Anerkennung der Einzigartigkeit und Zeitlosigkeit der Wahrheit, sogar der­ jenigen, die gegenwärtig und wirksam in ihren historischen Gestalten ist. Diese beiden Positionen sind eindeutig gegensätzlich und in der Tat tun sie nichts anderes, als sich in ständiger Polemik zu verwickeln. In Wirklichkeit aber stehen und fallen sie miteinander. Beide vernachlässigen die Möglichkeit anderer Positionen und vergessen, dass es zur Bewahrung der Vielfältigkeit der historischen Wahrheiten überhaupt nicht nötig ist, die Einzigartigkeit der Wahrheit zu verneinen, sowie es zur Bewahrung der Einzigkeit der Wahrheit keineswegs nötig ist, die Vielfalt der historischen Wahrheiten zu verleugnen. Man braucht weder den Relativismus hinzunehmen, um den Dogmatismus zu vermeiden, noch den Dogmatismus zu riskieren, um den Relativismus zu vermeiden. Denn einerseits hat die eine Wahrheit keine andere Mög-

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lichkeit, sich zu zeigen, als in ihren einzelnen Formulierungen, und andererseits ist es gerade die Einzigartigkeit der Wahrheit, die die historischen Wahrheiten in ihrer Partikularität bewahrt und zwischen ihnen Verbindung und Dialog ermöglicht. In der Tat treffen sich diese beiden Positionen an einem Kernpunkt, nämlich mit der Trennung der Wahrheit von ihrer Formulierung und der Trennung der Formulierung von der Wahrheit und dabei in der Verwechslung des einen mit dem anderen, wobei die Tatsache ignoriert wird, dass sie unverwechselbar und unvergleichbar sind, gerade weil sie untrennbar sind, so dass man weder der Philosophie jene Einzigartigkeit zuschreiben kann, die nur zur Wahrheit gehört, noch der Wahrheit jene Vielheit, die nur zur Philosophie gehört. Wenn man also die Einzigartigkeit und die Zeitlosigkeit, die zum Wesen der Wahrheit gehören, auf die Formulierung der Wahrheit überträgt, so werden sie zu nichts weiter als zu einer absurden Anmaßung. Und wenn man die Vielheit und Geschichtlichkeit, die zur Formulierung der Wahrheit gehören, auf die Wahrheit selbst überträgt, so wird die Wahrheit selbst eingeschränkt. Eben aus dieser unzulässigen Verwechslung ergibt sich das Dilemma zwischen der Einzigartigkeit der Wahrheit und der Vielheit ihrer Formulierungen, so als ob es, da die Wahrheit einzig ist, von ihr eine einzige legitime Formulierung geben sollte und es, da es viele historische Formulierungen der Wahrheit gibt, mehrere Wahrheiten geben müsste. Mit anderen Worten: Es ist so, als gäbe es keine andere Möglichkeit als entweder Fanatismus oder Relativismus, so als dürfe jede Behauptung der Wahrheit keine andere Form als die des Sektierertums annehmen und als dürfe Toleranz keinen anderen Grund haben als Skeptizismus.

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8.  Hermeneutischer Charakter des Verhältnisses von Wahrheit und Formulierung Die alltäglichste Erfahrung sollte ausreichen, um uns vor solchen, leider recht weit verbreiteten Positionen zu warnen; denn sie bietet offensichtlich ein Beispiel für die Eigenart des Interpretations­ verhältnisses: die musikalische Aufführung. Auch in der Musik ist die Interpretation offenbarend und vielfältig zugleich; das Werk ist nur innerhalb einer seiner Aufführungen zugänglich; die Vielfalt der Aufführungen beeinträchtigt nicht die Einzigartigkeit des Werkes; die Aufführung ist weder eine Kopie noch ein Abbild, sondern vielmehr das Leben und das Eigentum eines Werkes. Schließlich ist auch in der Musik die Aufführung weder einzig noch willkürlich. Dieser Verweis auf die Ästhetik sollte uns nicht überraschen. Er wird durch die Tatsache begründet, dass in der künstlerischen Erfahrung die Struktur des Interpretationsbegriffs in ihrer besonderen Evidenz auftritt. Dabei geht es nicht darum, einen Begriff, der primär im Bereich der Ästhetik entstanden und gerade deshalb eng und begrenzt ist, auf andere Gebiete auszudehnen oder ihn zu verallgemeinern. Es geht vielmehr darum, aus der besonderen Evidenz und besonderen Wirksamkeit, die der Interpretationsbegriff auf dem Gebiet der Kunst erweist, den Grund seiner tiefen Ursprünglichkeit zu erforschen – eine Ursprünglichkeit, die ihm eine weitreichende Gültigkeit und fruchtbare Anwendbarkeit auf allen Gebieten verleiht. Die Existenz des musikalischen Werkes besteht nicht in den unbeweglichen und stummen Seiten der Partitur, sondern in seiner lebendigen und klangvollen Aufführung, die – aufgrund ihres notwendigerweise persönlichen und interpretativen Charakters – immer neu und anders ist, also vielfältig. Aber ihre Vielfältigkeit gefährdet in keiner Weise die Einzigartigkeit des musikalischen Werkes: Vielmehr ist es das Ziel der Aufführung, die Partikularität und Einzigkeit des Werkes zu bewahren, ihm nichts Fremdes hinzuzufügen und es auch nicht in verschiedene Aufführungen zu

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zersplittern. Die Aufführung will das Werk in seiner eigentlichen Wirklichkeit wiedergeben; sie will das Werk selbst sein, weder Abbild noch Kopie noch nur eine einfache Annäherung – und eben dies ergibt ihren »offenbarenden« Charakter. Die Aufführung gelingt gerade insofern, als sie sich auf eine performative Tätigkeit, auf eine Inbesitznahme einlässt, die als eine Verwirklichung ausgerichtet ist, sich als unwiederholbar und persönlich der Möglichkeit anderer persönlicher und neuester Aufführungen bewusst – hierhin besteht ihr »pluraler« Charakter. Das Werk, weit davon entfernt, sich in eine Vielzahl beliebiger Aufführungen zu verlieren, bleibt mit sich selbst identisch in dem Akt, in dem es sich den Aufführungen anbietet, die es wiederzugeben und zum Leben zu erwecken wissen. Diese immer neuen und vielfältigen Darbietungen sind ihrerseits weit davon entfernt, bloße Annäherungen oder einfacher Nachhall einer einzigen Darbietung zu sein, von der behauptet wird, sie sei optimal oder beispielhaft, sondern sie sind das eigentliche Leben des Werks, das heißt das Werk, wie es zu jedem so spricht, wie er es am besten verstehen kann. Analog dazu nährt die Wahrheit, weit davon entfernt, sich in ihren eigenen Formulierungen aufzulösen, genau diese Pluralität, während sie sich selbst als einzig und identisch bewahrt, gerade weil sie in jeder von ihnen verkörpert ist, die sie zu erfassen und zu offenbaren weiß; ihre historischen und vielfältigen Formulierungen verzichten keineswegs – zugunsten einer subtilen und absurden Sehnsucht nach einer exklusiven und vollkommenen Formulierung – auf die einzige und nicht-zeitliche Wahrheit, sondern sind vielmehr die zeitliche Ankunft der Wahrheit, nämlich jeder Wahrheit, die zu allen spricht, jedoch zu jedem in seiner einzigen und unwiederholbaren Sprache. Das Verhältnis zwischen der Wahrheit und ihren Formulierungen ist also ebenso interpretativ wie das Verhältnis zwischen dem Musikwerk und seinen Aufführungen. Dies erklärt vor allem, wie die Wahrheit, die sich nur innerhalb einer individuellen Perspektive offenbaren kann, von ihren historischen Formulierun-

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gen untrennbar ist, und überdies, wie die Wahrheit nicht über eine einzige und endgültige Formulierung verfügt, was nur durch eine unzulässige Verewigung des Historischen oder eine Monopolisierung des Gemeinsamen geschehen könnte; und schließlich, wie all dies nicht nur die Wahrheit nicht gefährdet, sondern sie in ihrer Einzigkeit und Zeitlosigkeit voraussetzt. Die Behauptung des hermeneutischen Charakters des Verhältnisses von Wahrheit und ihrer Formulierung bedeutet folglich, dass ein solches Verhältnis mit den gängigen Begriffen von Subjekt und Objekt, Form und Inhalt, Virtualität und Entwicklung, Ganzem und Teilen nicht adäquat erklärt werden kann

9.  Die Interpretation ist kein Subjekt-Objekt-Verhältnis Vor allem handelt es sich hier nicht um ein Subjekt-Objekt-Verhältnis, wie in Analogie zur Kunst noch einmal aufgewiesen werden kann. Von einem Interpreten, ob Schauspieler oder Musiker, erwarten wir weder, dass er sich einzig und allein vom Kriterium der Originalität leiten lässt, so als ob seine neue Aufführung interessanter als das Werk selbst sei, noch, dass er die Unpersönlichkeit anstrebt, so als ob die Aufführung für uns überhaupt nicht von Interesse wäre. Weder verlangen wir, dass er auf sich selbst verzichten solle, noch gestatten wir ihm, dass er sich selbst ausdrücken dürfe: Wir möchten, dass eben er dieses Werk interpretiert, so dass seine Aufführung sowohl das Werk als auch dessen Interpretation ist. Außerdem ist das Werk für den Interpreten kein Objekt, das so vor ihm steht, dass er seine Aufführung damit vergleichen und ihren Wert daran messen könnte. Für ihn ist seine Aufführung das Werk selbst, das er getreu und eindringend erfasst in seiner vollen Wirklichkeit hat wiedergegeben wollen. Das ist insoweit wahr, als sich das Werk ganz der Aufführung hingibt, die es mit dem ihr eigenen Leben zu beleben vermag, bis es mit dieser zusammenfällt; doch das Werk wohnt in der Aufführung mit einem Überschuss, einem Darüber-Hinaus (ulteriorità),

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das es daran hindert, sich in dieser einen zu erschöpfen, denn das Werk, was seine eigenen Aufführungen anbetrifft, erlaubt keiner von ihnen, es zu monopolisieren, und auch nicht, es in einer privilegierten oder ausschließenden Weise zu vereinnahmen, sondern es erfordert sie alle und regt sie an. Es ist klar, dass ein solches Verhältnis nicht mit den Begriffen von Subjekt und Objekt bestimmt werden kann: Der Interpret ist nicht »Subjekt«, welches das Werk weder in seine Aufführung auflöst noch sich selbst entpersönlichen sollte, um das Werk so wiederzugeben, wie es in sich selbst ist. Sondern er ist vielmehr »Person«, die sich ihrer eigenen geschichtlichen Wirklichkeit, unersetzlichen Tätigkeit und Initiative zu bedienen weiß, um in die Realität des Werks eindringen und es mit ihrem Leben beleben zu können. Das Werk ist auch kein »Objekt«, dem der Interpret seine eigene Darstellung von außen angleichen sollte; denn das Werk zeichnet sich vielmehr durch eine »Nicht-Objektivierbarkeit« aus, die es dadurch gewinnt, dass es untrennbar mit seiner Aufführung verbunden ist, die es erst zum Leben erweckt, so dass es zugleich irreduzibel auf jede seiner eigenen Aufführungen bezogen ist. In Bezug auf die Wahrheit ist die Unanwendbarkeit des Subjekt-Objekt-Verhältnisses noch radikaler und tiefgreifender. Zunächst einmal ist klar, dass das Verhältnis einer Person zur Wahrheit nicht eines von Subjekt zu Objekt ist, in dem das Subjekt das Objekt nur dann erreichen kann, wenn es dieses auf seine eigene Aktivität reduziert, oder in dem das Objekt dem Subjekt nur dann gegenwärtig sein kann, wenn das Subjekt sich seiner eigenen Determiniertheit entledigt. Das Subjekt ist entweder in seiner eigenen partikularen Aktualität eingeschlossen, die jedes Objekt auf subjektive Aktivität reduziert, oder in einer unpersönlichen Universalität, die allein die Garantie einer gültigen und mitteilbaren Erkenntnis wäre. Umgekehrt ist die Person offen und immer für Anderes aufgeschlossen, und gerade indem sie verlangt, dass ­alles, auf das sie sich bezieht, verinnerlicht werden muss, hält sie jedes Ding in einer irreduziblen Unabhängigkeit und bedient sich

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hierzu seiner eigenen, unwiederholbaren und völlig einmaligen geschichtlichen Materie. Das Verhältnis der Person zur Wahrheit ist also weitaus ursprünglicher, da die Person als solche durch den Bezug zum Sein konstituiert wird, d. h. durch ihre Verwurzelung in der Wahrheit. Ihre Bestimmung ist eben die Erkenntnis der Wahrheit selbst in dem Maße, wie diese nur persönlich formuliert werden kann. Und so ist das Problem der Wahrheit primär metaphysisch, bevor es epistemologisch ist, und verlangt die Bezugnahme auf die ontologische Aufgeschlossenheit der Person, nicht aber auf die dem Subjekt eigene gnoseologische Verschlossenheit. Damit werden die Nachteile, die sich aus dem voreiligen in sich selbst Abschließen des Subjekts ergeben, vollständig überwunden, nämlich der Subjektivismus mit all seiner Willkürlichkeit wie auch der Nicht-Personalismus mit all seiner Abstraktheit. Indem die ontologische Öffnung der Person der persönlichen Aktivität einen Charakter zugesteht, der mehr erfassend als reduzierend ist, und indem sie der Persönlichkeit selbst eine Fähigkeit zuspricht, die mehr ein- und durchdringend als deformierend ist, weist sie darauf hin, dass die Offenbarung [der Wahrheit] weder durch ein narzisstisches Ideal der Originalität noch durch eine absurde Verpflichtung der Unpersönlichkeit erfolgt, wie es der Fall wäre, wenn man die Interpretation mehr auf Selbstdarstellung und Suche des Neuen als auf Begegnung mit der Wahrheit ausrichten würde, oder aber wenn man die Entdeckung eher durch eine allgemeine Bemühung um Entpersönlichung als durch die Intensivierung des eigenen, höchst persön­ lichen Blicks erwarten würde. Noch weniger kann die Wahrheit als ein Objekt betrachtet werden, da sie ihrem Wesen nach nicht-objektivierbar ist; zwischen ihr und der Person besteht kein solcher Abstand, der es dieser gestatten würde, sich so weit zurückzuziehen, bis sie der Wahrheit in einer vollständigen und endgültigen Gestalt gegenübersteht; diese lässt sich nicht in eine Formulierung einschließen, die sie vollkommen erklärt und somit als endgültig zu gel-

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ten hätte. Zunächst einmal existiert die Wahrheit nicht in einer objektiven Form, mit einer eigenen Bestimmtheit, der sich unsere Formulierungen annähern oder an der sie sich orientieren sollten. Jede geschichtliche und persönliche Formulierung von Wahrheit ist ebenso und untrennbar die Wahrheit selbst wie die Interpretation, die von ihr gegeben wird. Es ist daher unmöglich, die Wahrheit in irgendeiner Art und Weise von der Interpretation und die Interpretation von der Wahrheit abzuspalten und die eine der anderen gegenüberzustellen, also die Wahrheit als objektives Beurteilungskriterium für die Gültigkeit der Formulierung zu nehmen und die Formulierung als Abbild und Wiedergabe ­einer objektiven Gestalt. Einerseits ist es unmöglich, die Wahrheit in einer angenommenen Bestimmtheit zu fassen, an der wir unsere Formulierung von außen messen könnten; andererseits gibt sich die Wahrheit nur innerhalb einer persönlichen Perspektive, die sie bereits interpretiert und bestimmt. Auf der einen Seite ist jede historische Formulierung eine Offenbarung der Wahrheit, also die Wahrheit selbst als persönlich bessessen; auf der anderen Seite ist die Wahrheit als interpretierte so wenig von ihrer Formulierung abzuscheiden, dass sie sich sogar mit ihrer Formulierung identifiziert; somit ist Wahrheit nicht objektivierbar, vor allem nicht in dem Sinne, dass sie unabtrennbar von der ihr gegebenen Interpretation und dabei mit der ihr gegebenen Formulierung unvergleichbar sei. Darüber hinaus wohnt die Wahrheit jeder Formulierung inne, auf die Art einer irreduziblen Transzendenz, der sie sich ergibt und mit welcher sie sich identifiziert, auf die sie sich jedoch nicht beschränkt – in der sie sich noch weniger erschöpft. In ihren Formulierungen wohnt die Wahrheit in ihrer ganzen Un­erschöpf­ lichkeit, d. h. einerseits mit einer Anwesenheit, die die Formulierungen zur einzigen Art und Weise macht, wie die Wahrheit erscheinen und existieren kann, und zur einzigen Art und Weise, wie wir die Wahrheit besitzen und verkünden können, sowie auch andererseits mit einem Darüber-Hinaus (ulteriorità), das es keiner der Formulierungen erlaubt, die Wahrheit auf exklusive Weise

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enthalten und darstellen zu wollen, sondern vielmehr immer neue und vielfältige Formulierungen erfordert und anregt. Damit ist sie zugleich anwesend wie auch darüberhinausgehend, das heißt sowohl thematisch als auch athematisch, gesagt und nicht gesagt, existierend als Gedanke, der formuliert und bestimmt ist, wie auch im Gedanken wohnend, da er selbst unbestimmt und nicht-formuliert ist; eher als Quelle und Ursprung im Gedanken gegenwärtig als dem Gedanken ein Objekt der Entdeckung. So ist die Wahrheit auch aufgrund ihrer Unerschöpflichkeit nicht-objektivierbar, was auch ihren offenbarsten Formulierungen jegliches Privileg oder Monopol abspricht und die Interpretation selbst zum nie definierbaren Besitz eines Unendlichen macht.

10.  Die Interpretation ist kein Verhältnis von Gehalt und Form oder von Virtualität und Entwicklung Am wenigsten geeignet, den hermeneutischen Charakter des Verhältnisses von Wahrheit und Formulierung zu erklären, sind die Begriffe von Form und Gehalt oder Virtualität und Entwicklung. Denn diese beiden Begriffspaare führen die Frage wieder auf die Termini von Subjektivismus und Objektivismus zurück, und zwar in dem Sinne, dass subjektivistisch zu nennen diejenige Auffassung wäre, die Wahrheit als einen konstanten und allgemeinen Gehalt betrachtet, dem jeder einzelne eine ihm gemäße Form geben kann, und objektivistisch hingegen die andere Auffassung wäre, die in der Wahrheit eine unendliche Virtualität von Perspektiven sieht, von denen jede einzelne eine Potenzialität entwickeln könnte. Die erste Auffassung macht sich des Subjektivismus schuldig, wenn sie das Eingreifen der Person als Überlagerung eines bereits existierenden, aber ungeformten Gehaltes sich ereignen lässt, nicht aber als Organ für die Durchdringung einer Wahrheit, die sich nur dann offenbart, wenn man sich ihrer Perspektive hingibt. Damit wird die Untrennbarkeit des ontologischen

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und offenbarenden Aspekts wie auch des ausdrückenden und geschichtlichen Aspekts beeinträchtigt, die die interpretative Formulierung der Wahrheit kennzeichnet und sie vor der Gefahr von Subjektivismus und Willkür beschützt. Die zweite Auffassung macht sich des Objektivismus schuldig, wenn sie einen Standpunkt annimmt, von dem aus sie nicht nur die Unendlichkeit des Absoluten betrachtet, das sich in der Vielfältigkeit seiner Erscheinungsformen entfaltet, sondern auch eine Übereinstimmung zwischen der unerschöpflichen Virtualität des Wahren und der Pluralität seiner Entwicklungen und Perspektiven erkennt. Damit würden die verschiedenen Perspektiven, wenn sie das existentielle und persönliche Band zurücknehmen – das sie interpretativ an die Wahrheit bindet und ihnen eine unendliche Aufgabe des Dialogs und des Austauschs mit anderen möglichen Interpretationen zuweist –, nichts anderes tun, als sich in die Serie und Gleichgültigkeit einer bloßen Auszählung aufzureihen, um sich auf einer imaginären, künstlichen Bühne zur Schau zu stellen. Darüber hinaus machen sich beide Auffassungen einer unzureichenden Vertiefung schuldig, nicht nur hinsichtlich der Unerschöpflichkeit der Wahrheit, sondern auch hinsichtlich jenes unlösbaren Bandes zwischen Unerschöpflichkeit und menschlicher Freiheit, die das Erfordernis einer grundlegenden Theorie der Interpretation ist. In der ersten Auffassung wird die Person in einem isolierten Individualismus betrachtet, bei dem die Freiheit sich bestenfalls in der Behauptung eines willkürlichen Subjektivismus erschöpft, während die Unerschöpflichkeit des Wahren auf das Niveau des Ungeformten herabsänke und allenfalls den Anschein chaotischer Verwirrung mit sich führte. In der zweiten Auffassung verlöre die Unerschöpflichkeit der Wahrheit ihren authentisch originären und innovativen Charakter und sänke zu einer Art Totalität ab, die, wie dynamisch und vorgeformt auch immer, eher zu einem einfachen Ausdruck führen würde als zu einer authentischen Offenbarung. In der Tat bringt Virtualität im eigentlichen Sinn verstanden und zu Recht das Moment von

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Totalität und Notwendigkeit mit sich, so dass das Unerschöpfliche eher als Reservoir und Vorrat für künftige Möglichkeiten sich darstellt denn als die Quelle selbst der Neuheit oder des Neubeginns unerhörter Möglichkeiten, während die Person eher als das leblose Werkzeug einer notwendigen Manifestation angesehen wird denn als die freie Initiative der Suche und der Entdeckung. Beide Auffassungen vergessen, dass die Unerschöpflichkeit des Wahren und die Freiheit der Person untrennbar sind, denn die Wahrheit zeigt sich und wirkt nur innerhalb der einzelnen Formulierung, die ihr einen gleichermaßen offenbarenden und ausstrahlungsmächtigen Charakter verleiht, wobei die individuelle Perspektive die Möglichkeit einer ständigen Erneuerung findet und die lebendige Verwirklichung der Unerschöpflichkeit des Wahren nur in der Freiheit der eigenen persönlichen Vertiefung und einem unaufhörlichen Dialog mit anderen Perspektiven vonstattengeht.

11.  Die Interpretation impliziert kein Verhältnis der Teile zu dem Ganzen: Unzulänglichkeit von Integration und Explikation Man könnte denken, dass zwischen der Wahrheit und ihren Formulierungen ein Verhältnis von Totalität bestünde, und zwar in dem Sinne, dass die verschiedenen Formulierungen – die die Wahrheit nicht vollständig, sondern nur in einem ihrer Aspekte erfassen können – notwendigerweise partiell und mangelhaft sind, so dass sie nur in ihrer wechselseitigen Integration oder mittels ihrer gänzlichen Vervollständigung einen Offenbarungswert erzielen können. Auf der einen Seite würde man damit behaupten, dass die verschiedenen Formulierungen der Wahrheit, insofern sie sich darauf beschränken, jeweils einen Teil von ihr zu erfassen, notwendigerweise partial und fragmentarisch sind, so dass ihr Wahrheitswert beeinträchtigt würde, wenn sie nicht

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in die Gesamtheit der Perspektiven integriert wären, da nur dieser die Wahrheit in ihrer Ganzheit zukommt. Auf der anderen Seite würde man damit jedoch behaupten, dass jeder Diskurs der Wahrheit gegenüber zu kurz greift, dass dieser eine solche Aufsplitterung (sfasamento) und einen solchen Abstand zwischen Gesagtem und Nicht-Gesagtem nach sich ziehe, dass der Diskurs notwendigerweise mangelhaft und unvollständig sein müsse; das einzige Mittel dagegen wäre somit eine Vervollständigung, die den Abstand zwischen Unausgesprochenem und Ausgesprochenem auslöschen würde, denn nur auf diese Weise können die Ganzheit des Diskurses und die Gesamtheit der Bedeutung wiedererlangt werden. Diese Vorstellung ist weiter verbreitet, als man glaubt, und schleicht sich auch auf völlig unverdächtige Art und Weise in scheinbar einwandfreie Auffassungen ein. Es gibt jedoch nichts, was dem interpretativen Charakter der Wahrheitserkenntnis und den Grundprinzipien einer angemessenen Hermeneutik entgegengesetzter sein könnte. Erstens ist das keine Wahrheit, was nicht in jedem seiner Aspekte ganz und vollständig anwesend ist, gleichviel wie minimal oder klein diese Aspekte auch sein mögen; ebenso wenig ist Wahrheit das, was zu seiner Offenbarung die Beseitigung des Nicht-Gesagten erforderte; und darüber hin­aus ist Interpretation weder das, was nicht die ganze Wahrheit aus ihrer lateralen Perspektive erfasst, noch das, was sein eigenes Ideal in vollständiger Explizitheit erreicht hat. Vor allem ist die Wahrheit so beschaffen, dass ein einfacher Blitzstrahl von oben oder der Fokus von unten her nach oben gerichtet nicht schon ein »Teil« von ihr sein kann, denn schon die extreme Diffusionskraft und die unendliche Weite der Unergründlichkeit beweisen, dass man ihrer inne ist. Tatsächlich ist der einzige Weg, die ganze Wahrheit zu erfassen, sie als unerschöpflich zu besitzen, sie in ihrem wogenden und ursprünglichen Charakter, an der Quelle ständiger Erneuerung aufzusuchen, aber nicht in einem ihrer unhaltbaren Gesamtbilder, sondern in e­ iner ganz bestimmten Perspektive, die aus einem

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Richtungsstrahl stammt, ohne deswegen einseitig zu sein, und daher keiner Ergänzung bedarf, da sie vom Quellpunkt aus an sich bereits eine Totalität ist. Die vielfältigen und verschiedenen Formulierungen der Wahrheit bedürfen keiner wechselseitigen Integration, um ihren Wahrheitswert zu erhöhen oder zu erlangen, weil jede von ihnen bereits eine Totalität ist, die sich als solche nicht an die anderen in einem allumfassenden System anschließen kann, sondern mit den anderen in einen Dialog tritt und auch sie ihrerseits als Totalität anerkennt. Die Interpretation ist weder ein Teil der Wahrheit noch eine Teilwahrheit, sondern sie ist die Wahrheit selbst als persönlich besessen, die als solche keine Integration benötigt oder auch nur duldet, sondern sie vielmehr zurückweist, da sie bereits alles hat, was sie haben kann und muss. Der Begriff selbst der Interpretation lehnt die Totalität als extern und als einzig ab: Entweder wirkt die Totalität im Einzelnen, oder sie ist in sich selbst einzeln und plural. Die Wahrheit ist nicht die Totalität als das System aller ihrer Formulierungen: Jede dieser Formulierungen ist eine Totalität, weil sie die Totalität selbst des Wahren in sich enthält, d. h. jede ist ein Ganzes, weil sie die ganze Wahrheit enthält, selbstverständlich in dem mehrfach bestätigten Sinn ihrer Unerschöpflichkeit. Die Wahrheit teilt und zersplittert sich nicht in eine Vielzahl von Formulierungen, deren Totalität man dann von außen wiedergewinnen müsste; vielmehr wohnt die Wahrheit ganz in jeder einzelnen von ihnen. Aus diesem Grund kann sich die Wahrheit nur in derjenigen Interpretation bieten, die die Ganzheit der Wahrheit selbst aufrechterhält, während sie sich selbst als individuelle Interpretation verwirklicht, so dass jede Formulierung der Wahrheit eine Totalität ist, gerade und allein, weil sie die ganze Wahrheit besitzt. Darüber hinaus ist die Wahrheit weder eine Totalität, die so beschaffen ist, dass das Denken, das sie offenbart, als minderwertig betrachtet werden muss, weil es sie nicht ganz ausspricht, noch ist unsere Formulierung der Wahrheit so beschaffen, dass wir sie als unangemessen und mangelhaft betrachten sollten, wenn sie keine

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vollständige Explizitheit erreicht. Die Wahrheit liegt in i­hrer Formulierung nicht als Objekt einer, wenn auch idealen, vollständigen Aussage, sondern als Anregung (stimolo) einer unendlichen Offenbarung. Und wenn es wahr ist, dass es dort keine Interpretation gibt, wo kein Nicht-Gesagtes (non detto) mehr bleibt, dann gilt erst recht nicht, dass gerade das Unausgesprochene der Interpretation ein stillschweigend miteinbegriffener Rest ist, der leicht ausgesagt werden könnte, sondern vielmehr handelt es sich um ein implizites Unendliches, das einen fortdauernden und unendlichen Diskurs nährt. Das Ideal der Formulierung von Wahrem ist weder eine vollständige Explikation noch eine endgültige Aussage, sondern die unaufhörliche Manifestation eines unerschöpflichen Ursprungs, so dass man der Interpretation ihre Verweigerung nach einer endgültigen Äußerung nicht als Unvollkommenheit oder als Mangel anrechnen kann. Zu glauben, dass man die Interpretation zur Vollkommenheit bringt, wenn man ihr eine angenommene Vollständigkeit und Endgültigkeit der Aussage verleiht, bedeutet, ihr etwas Fremdartiges aufzuzwingen, das sie, anstatt sie zu vervollständigen, zerstört. Ihre vermeintliche Unzulänglichkeit oder Mangelhaftigkeit zu beklagen oder zu bedauern, heißt, die Natur der Interpretation nicht zu verstehen und das, was dagegen ihre Vollkommenheit und ihr Wesen ausmacht, als Mangel oder Entbehrung anzusehen. Das, was nicht als unerschöpflich besessen wird und sich in einer endgültigen Äußerung vollständig explizieren lässt, ist ­ keine Wahrheit; und es ist keine Interpretation diejenige, die ­alles Nicht-Gesagte zu eliminieren und den Diskurs in einer voll­ ende­ten und vollständigen Totalität abzuschließen glaubt, um die Wahrheit zu besitzen. Die Wahrheit weist als Zeichen ihrer Anwesenheit gerade auf die unendliche und immer weiterführende Natur des Diskurses hin: Sie in einer vollständigen Darlegung äußern zu können, wäre gerade das Zeichen, sie überhaupt nicht erfasst zu haben. Nur als unerschöpfliche bietet sich die Wahrheit ihren Formulierungen hin, so dass es unmöglich ist, ihre vollständige Explikation zu versuchen, ja sogar absurd ist, sie rea­

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lisieren zu wollen – wohingegen äußerst wünschenswert und rea­ lisier­bar ihre unendliche Offenbarung ist. Diese charakteristische Unaufhörlichkeit der Interpretation, weit davon entfernt, Fehler oder Mangel zu sein oder Unvollständigkeit oder Unzulänglichkeit zu bezeugen, macht vielmehr ihre Vollkommenheit und Vollendung, sogar ihren Reichtum aus. Hingegen erweist sich als trügerisch und hinfällig die Vorstellung, eine Totalität erreichen zu können, indem man die Mängel des Gesagten durch die vollständige Explikation des Nicht-Gesagten vervollständigt. Doch gerade diese Vorstellung verbirgt sich hinter der Theorie vieler Relativisten, sowohl erklärtermaßen als auch unbewusst, die aus dem offenkundig nicht-endgültigen und unaufhörlichen Charakter der Formulierung des Wahren nicht die Bestätigung der unauflöslichen Verbindung (nesso) zwischen der Unerschöpflichkeit der Wahrheit und der Freiheit der Person ziehen, sondern die Schlussfolgerung, dass die einzigen existierenden Wahrheiten historische sind, die in einer relativistischen und gleichgültigen Vielfalt betrachtet werden. Damit zeigen sie, dass sie noch Gefangene des rationalistischen Mythos der endgültigen Äußerung und der vollständigen Explikation der Wahrheit sind und unbewusst die Sehnsucht danach bewahren. Die Kategorie der Totalität ist daher nicht zureichend, um das Verhältnis zwischen der Wahrheit und ihren Formulierungen zu erklären, weder in dem Sinne, dass die vielen und damit partiellen Formulierungen in ihrer gegenseitigen Integration Wahrheit finden könnten, noch in dem Sinne, dass die einzelne Formulierung in einer Vervollständigung der semantischen Unzulänglichkeit des Ausgesprochenen durch die erschöpfende Explikation des Unausgesprochenen Wahrheit finden könnten, so als ob das totale System oder die vollständige Explikation das Ideal der Interpretation der Wahrheit wäre. Integration und Vervollständigung sind weder möglich noch wünschenswert, wenn man Interpretation richtig versteht, denn sie ist schon, dezidiert gesagt, vollständig und in sich vollendet, so dass jede Integration von außen dazukäme und jede Vervollstän-

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digung eine fremde Hinzufügung wäre, und beide kämen nicht nur als überflüssig und unnütz hinzu, sondern auch als indiskret und lästig, im Grunde als schädlich und tödlich, so dass dadurch die Formulierung des Wahren in ihrem eigentlichen Charakter gefährdet wäre. Es ist nicht so, dass die Interpretation, weil sie vollständig und vollendet ist, sich von jedem Verhältnis zu einem anderen isolierte und jede Klärung des Nicht-Gesagten ablehnte. Ihre Natur schließt nur aus, dass dieses Verhältnis und diese Klärung jeweils eine totale Integration und eine vollständige Explikation werden. Wenn aber das Verhältnis zum anderen ein dialogisches ist und die Selbsterklärung eine Vertiefung des Unausgesprochenen ist, besteht diese Gefahr nicht. Auf die Wahrheit als Bedürfnis nach Dialog und auf die Vertiefung des Mitgemeinten (implicito) als etwas vom Verschwiegenen (sottinteso) Unterschiedenes ist noch zurückkommen. An dieser Stelle möchte ich jedoch Folgendes hervorheben. Erstens verbindet der persönliche und interpretative Charakter der Wahrheitserkenntnis jede individuelle Perspektive unauflöslich mit der Notwendigkeit, unendlich viele andere mögliche Formulierungen anzuerkennen und ein ständiges Gespräch mit ihnen zu führen. Der Vergleich mit dieser Vielfalt von Perspektiven kann nur und muss auch innerhalb jeder einzelnen Perspektive erfolgen – und das ist eine reale Erfahrung des Dialogs und eine konkrete Einübung in die Wahrnehmung von Andersheit: Nur so können alle Perspektiven wirklich Formulierungen von Wahrheit sein und somit ihren interpretativen und offenbarenden Charakter bewahren. Die Anerkennung anderer Perspektiven muss auf der Basis der Bejahung der eigenen erfolgen, sonst geht das Wesen der Perspektive als solches – als persönlicher Wahrheitsbezug – verloren, sei es, soweit es die anderen betrifft, sei es, was die eigene angeht, die dann zu einem einfachen und hypothetischen Standpunkt verkäme, von dem aus man die anderen betrachtet. Auf diese Weise müsste sowohl die Andersheit (alterità) als auch die

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Eigenheit (proprietà), d. h. die Persönlichkeit verschwinden, die selbst als existenzielle Einwurzelung und interpretatives Band jede Formulierung der Wahrheit charakterisiert und qualifiziert. Es bliebe nur eine von außen betrachtete Vielheit übrig, nämlich eine schiere Anzahl von ersetzbaren, austauschbaren und vertauschbaren und somit gleichgültigen und gleicherweise gültigen Möglichkeiten, die alle auf dieselbe Ebene als Gegenstand einer unpersönlichen, objektiven und letztlich verfälschenden Betrachtung gestellt werden. Es gibt aber ein wechselseitiges Verhältnis zwischen den verschiedenen Wahrheitsformulierungen, das nichts mit einer totalen Integration zu tun hat, was der Würde der Interpretation ­sicher unangemessen wäre. Dieses Verhältnis ist der Dialog, verstanden in dem bereits geklärten Sinn, d. h. als Ausübung einer Kommunikation, die alle Perspektiven zusammennimmt, ohne sie von außen zu summieren oder sie in ein totales System zu integrieren, sondern sie auf eine Weise zusammenhält, dass jede in Bezug zur anderen steht und diese als Gesprächspartnerin und Mitarbeiterin bei einer gemeinsamen Suche ansieht und somit eine jede in ihrer unwiederholbaren Totalität als ganz persönliches Innesein des Wahren respektiert. Nur eine solche freie Öffnung des beieinanderhaltenden Dialogs kann man als ein zum Niveau und zur Natur der Interpretation angemessenes Verhältnis betrachten. Außerdem ist die Interpretation ein unendlicher Prozess, der eine ständige und unaufhörliche Vertiefung erfordert, und er ist gerade deshalb so, weil er ein wahrheitsbesitzender, Wahrheit innehabender Prozess ist. Denn die Wahrheit, insofern sie unerschöpflich ist, bietet sich nur einem solchermaßen gearteten Besitz an, der nicht aufhört, ein solcher zu sein, insofern er sich als eine unendliche Aufgabe stellt. Tatsächlich ist ein solcher gerade deshalb eine unendliche Aufgabe, weil er nicht eine einfache Annäherung oder ein Abbild der Wahrheit ist, sondern ihr wirklicher und effektiver Besitz. Gewiss, diese Eigenschaft der Interpretation kann widersprüchlich und paradox erschei-

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nen: Sie ist zugleich effektiver Besitz und unendlicher Prozess, und somit vereint sie im selben Augenblick Stabilität und Mobilität, Festigkeit und Fortdauer, Erfüllung und Suche. Hier ist wieder die Analogie zur Kunst hilfreich, bei der das Lesen zweifellos ein wahrer Besitz des Werkes ist, dessen Sinn aber in einer Einladung zum Wiederlesen besteht; in der das Bewusstsein, das Werk durchdrungen zu haben, von dem Wissen begleitet ist, zu einer weiteren Vertiefung übergehen zu müssen, in der jede Offenbarung ein Lohn und ein Erfolg ist, jedoch nur als Anregung (stimolo) und Verheißung neuer Enthüllungen. Und wenn in der Kunst das, was es erlaubt, Besitz und Suche miteinander widerspruchslos zu verbinden, die Unerschöpflichkeit des Werkes ist, dann versteht man umso mehr, wie dies bei der Interpretation der Wahrheit geschehen kann, da deren Unerschöpflichkeit noch intensiver, tiefer und ursprünglicher ist als bei jener. Hier tritt die Vereinbarkeit von Besitz und Prozess, von Eroberung und Suche, von Beherrschung und Vertiefung – ja, ihre Mitwesentlichkeit – nun deutlich als eine der grundlegenden Säulen der Hermeneutik hervor. 12.  Statut der Interpretation An dieser Stelle ist es hilfreich, die bisherigen Ergebnisse unserer Untersuchung zusammenzufassen, um die Grundprinzipien der Hermeneutik zu umreißen und die Struktur der Interpretation zu klären. Das Verhältnis zwischen der Wahrheit und ihrer Formulierung ist also interpretativ: Die Formulierung des Wahren ist auf der einen Seite ein persönlicher Besitz der Wahrheit und auf der anderen Seite der Besitz eines Unendlichen: Einerseits ist das, was man besitzt, die Wahrheit; und sie wird auf die einzige Weise besessen, in der man sie besitzen kann, nämlich persönlich, so dass die von ihr gegebene Formulierung die Wahrheit selbst ist, d. h. die Wahrheit als persönlich besessen und formuliert. Andererseits ist die Formulierung der Wahrheit wirklich ein Besitz, ein

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Innesein, und nicht eine einfache Annäherung; und doch liegt die Wahrheit in einer solchen Formulierung auf die einzige Art und Weise, in der sie in ihr liegen kann, nämlich als unerschöpfliche, so dass das, was man besitzt, geradezu ein Unendliches ist. Die Interpretation ist nämlich die einzige Erkenntnisform, die einerseits in der Lage ist, eine persönliche und damit plurale Formulierung von etwas zu geben, das einzig und unteilbar ist, ohne damit seine Einheit zu gefährden oder zu verlieren, und die andererseits in der Lage ist, ein Unendliches zu erfassen und zu offen­baren, indem sie es wirklich besitzt, anstatt es nur anzudeuten oder zu umkreisen. Das, wovon nur eine einzige adäquate Erkenntnis möglich wäre, oder was sich jeder möglichen Erkenntnis entziehen würde, wäre keine Wahrheit. Interpretation findet nur dann statt, wenn die Wahrheit sich tatsächlich mit ihrer Formulierung identifiziert, ohne sich mit ihr zu verwechseln, so dass die Pluralität der Formulierungen aufrechterhalten wird; ferner findet Interpretation nur dann statt, wenn die Wahrheit irreduzibel jenseits ihrer Formulierung bleibt, ohne jedoch aus ihr ganz herauszutreten, so dass ihre dortige Anwesenheit gewahrt bleibt. Die Wahrheit bietet sich nur innerhalb einer Formulierung an, mit der sie sich jedes Mal identifiziert und der sie immer als unerschöpflich innewohnt; wenn aber zwischen der Wahrheit und ihrer Formulierung die Identifikation ihren Platz der Verschmelzung überlässt, oder wenn das Darüber-hinaus-Verhältnis auf eine starre Äußerlichkeit reduziert wird, verschwindet das interpretative Verhältnis, weil in solchen Fällen die Untrennbarkeit der Wahrheit und ihrer Formulierung zerstört wird: Entweder ersetzt die eine die andere, indem die Formulierung beansprucht, die Wahrheit zu ersetzen, oder beide trennen sich und bleiben ohne Verhältnis zueinander, weil eine von den beiden unzugänglich ist[, nämlich die Wahrheit]. Im ersten Fall geht der Zusammenfall von der Wahrheit und ihrer Formulierung verloren, nach welchem die Einzigartigkeit der Wahrheit und die Pluralität ihrer Formulierungen zugleich

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garantiert ist, indem in jeder Formulierung die als persönlich besessene und geschichtlich formulierte Wahrheit identifiziert wird. Eine Formulierung stellt sich als einzige und exklusive dar und verdrängt alle anderen, d. h. sie verabsolutiert sich, indem sie jene Einzigartigkeit beansprucht, die nur der Wahrheit zukommt; damit tritt eine Verwechslung zwischen den beiden Termini ein, und zwar, anstatt die Wahrheit zu interpretieren und zu offenbaren, beabsichtigt die Formulierung, sie zu ersetzen und ihren Platz einzunehmen, und so verschwinden beide, nämlich die verratene Wahrheit und die scheinbare Formulierung. Letztere, die eher eine Erschleichung (surrogazione) der Wahrheit als ihre Interpretation ist, verliert jeden Offenbarungscharakter und drückt nichts anderes als sich selbst aus, und so verschwindet nicht nur die Pluralität der Formulierungen, sondern auch die Wahrheit in ihrer Einzigartigkeit. Im zweiten Fall ist das Darüber-Hinaus der Wahrheit ihren Formulierungen gegenüber so betont, dass jeder Rest von ihrer Anwesenheit in der ihr gegebenen Interpretation fehlt: Beide Termini werden voneinander abgetrennt und in einer gegenseitigen Äußerlichkeit versteift, die sie voneinander entfernt und sie eines jeden gegenseitigen Verhältnisses beraubt: Die Wahrheit wird in eine metahistorische Unzugänglichkeit gedrängt. Angesichts dieser Unaussprechlichkeit bleiben die verschiedenen Formulierungen der Wahrheit unverbesserlich unpassend und unzureichend, bis zu dem Punkt, an dem sie nicht mehr von irrigen mangelhaften und untreuen Formulierungen unterschieden werden können, wodurch jede Unterscheidung zwischen wahr und falsch aufgehoben wird. Damit verschwindet sowohl die Interpretation, ihres Offenbarungscharakters beraubt, als auch das eigentliche Darüber-Hinaus des Wahren, von ­Nebeln des Unaussprechlichen umhüllt. Wie wir gesehen haben, ist dagegen das Verhältnis zwischen der Wahrheit und ihrer Formulierung in der Interpretation e­ ines der Identität und des Darüber-Hinaus zugleich, und das in vollkommenem Gleichgewicht. Einerseits stimmt die Wahrheit mit ihrer Formulierung überein und erlaubt letzterer dadurch, sie auf

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eine offenbarende Weise zu besitzen, aber niemals bis zu dem Punkt, dass sie die Wahrheit als vollständig und exklusiv oder sogar einzigartig und endgültig repräsentieren könnte, denn somit wäre sie keine Interpretation mehr, sondern eher eine Erschleichung (surrogazione) der Wahrheit, d. h. eine der vielen geschichtlichen Formulierungen, die beansprucht, sich zu verabsolutieren und sich auf den Platz der Wahrheit zu stellen. Anderer­seits ist die Wahrheit immer jenseits ihrer Formulierung, aber nur so, dass sie eine Pluralität von Formulierungen erfordert und zulässt, und niemals im Sinne einer absoluten Unaussprechlichkeit, gegenüber der alle Formulierungen verhängnisvoll unpassend und unverbesserlich bedeutungslos blieben, in einer gemeinsamen und resignierten Gleichheit und Gleichgültigkeit. Es wäre noch nützlich, die Persönlichkeit der Interpretation und das Darüber-Hinaus des Wahren, die einer reichen Problematik Raum geben, weiter zu vertiefen; aber diesbezüglich mögen die folgenden sehr kurzen Bemerkungen genügen.

13.  Konsequenzen des persönlichen Charakters der Interpretation Die These, dass jede Perspektive immer ein persönlicher Besitz der Wahrheit ist, d. h. die Wahrheit als persönlich formulierte, bedeutet, dass die Person in der Interpretation vor allem als Zugangsweg und Organ der Erkenntnis, als Organisationsinstrument und Empfangsantenne, als sein Licht werfender Leuchtturm und Mittel der Durchdringung zutage tritt. In diesem Sinne fügt die Interpretation der Wahrheit nichts Äußerliches hinzu, auch nichts, was dort nicht hingehört, denn ihre eigentliche Aufgabe ist es gerade, sie zu offenbaren, sie zu besitzen, ja sie zu sein. Das bedeutet nicht, dass die Interpretation kein äußerst aktiver und arbeitsamer Prozess sei, weil die Person in ihr nicht weniger Initiative als Organ ist, da es von ihrer Freiheit abhängt, ob sie aus ihrer geschichtlichen Individualität ein Ge-

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fängnis und ein Hindernis für die Erkenntnis des Wahren oder ein äußerst gültiges Instrument macht, um das Wahre aufzuzeigen und zu offenbaren, und weil die Formulierung der Wahrheit eine eifrige und intensive Einübung in die Kreativität erfordert, die darauf abzielt, Schemata zu erfinden und zu gestalten, ihre Angemessenheit zu überprüfen und ihnen Kohärenz und Struktur zu geben, bis der persönliche Besitz der Wahrheit in ­einer organischen und lebendigen Form zusammenwächst, die zu eige­nen Reaktionen fähig und mit einem autonomen Leben und fruchtbaren Vermehrungen ausgestattet ist. Aber der Sinn dieser freien und fleißigen Tätigkeit besteht doch immer im Hören, denn die Wahrheit ist nicht etwas, das der Mensch erfindet oder produziert oder das überhaupt erfunden oder produziert werden könnte. Man muss die Wahrheit sein lassen, nicht verlangen, sie zu erfinden; und wenn sich die Person zum Organ ihrer Offenbarung macht, dann dies vor allem, um der Sitz ihres Ankommens (avvento) sein zu können. Gewiss kann die Persönlichkeit ein Hindernis für die Durchdringung der Wahrheit sein, insofern sie sich in der bloßen Zeitlichkeit verschließt oder sich mehr darum sorgt, sich selbst auszudrücken, als das Wahre zu erfassen; und dann verschwindet die Wahrheit, vernachlässigt und verdunkelt, zusammen mit der Person, die zu einem Produkt der Zeit reduziert und für sie selbst unverständlich wird. Die Interpretation ist also eine Erkenntnisform, die wesentlich vom Risiko des Misserfolgs bestimmt ist, bei dem die Offenbarung nur als Sieg über die allgegenwärtige Drohung der Verhüllung erzielt wird. Diese Unsicherheit der Interpretation beruht nicht auf ihrer Persönlichkeit und Pluralität, die eher ein Reichtum als eine Unvollkommenheit darstellt, sondern auf derjenigen Alternative, die von der Freiheit der Person selbst gesetzt ist: entweder aus sich ein enges, finsteres Gefängnis für das Ankommen (avvento) des Wahren zu machen, oder eine luftige, offene Öffnung für ihre Offenbarung zu sein. Wenn die Person sich tatsächlich dafür entscheidet, zum Vermittler der Wahrheit zu werden, gibt es kein anderes Erkenntnismedium, das so

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scharf, durchdringend und sicher sein kann. Diese ursprüngliche und tiefe Zerklüftung liegt in der Natur der Interpretation, so dass ihre Bedingung auch ihre Grenze sein kann; und umso eher kann ihr der Erfolg zulächeln und die Wahrheit sich ihr anbieten, je mehr die Möglichkeit der Verfälschung und das Risiko des Irrtums droht, bis zu dem Punkt, dass niemals die Gefahr des Irrtums so bedrohlich ist als in der unmittelbaren Nähe des Wahren und dass an die gelungenste Eroberung der Wahrheit unerbittlich die Möglichkeit des abgründigsten und irreführendsten Fehlers gebunden ist. Hierin zeigt sich die Gültigkeit von Heideggers Diktum: »Wer groß denkt, muss groß irren«. In diesem Sinne ist der Begriff der Interpretation der einzige, der Wahrheit und Geschichte vereinigen kann, ohne die eine auf die andere zurückzuführen oder die eine der anderen zu opfern, was bedeuten würde, sie beide zu verlieren. Dies geschieht, wenn man aus übertriebener Sorge um die Einzigartigkeit des Wahren die Veränderlichkeit und Vielfalt geschichtlicher Situationen überhaupt nicht beachtet oder wenn man aus Sorge um das Verständnis der verschiedenen geschichtlichen Formulierungen die Existenz des Irrtums leugnet und damit die Wahrheit in der Geschichte zerstreut. Insbesondere erlaubt es der Begriff der Interpretation, der zugleich und untrennbar die hervorquellende und ursprüngliche Einzigartigkeit der Wahrheit und die wesentliche und konstitutive Pluralität ihrer Formulierungen bejaht, dem Indifferentismus des Historismus zu entgehen, weil er die Unterscheidung zwischen wahr und falsch aufrechterhält, in dem er der Geschichte ihre Rechte zugesteht und sie als Zugangsweg zur Wahrheit anerkennt. Der historische Indifferentismus entsteht mit dem Spruch »veritas filia temporis«, der durch die Aufhebung des Irrtums – denn alles in der Geschichte ist gleichermaßen Ausdruck der Zeit – auch die Wahrheit aufhebt. Bei genauer Analyse kann man jedoch nicht sagen, dass die Zeit die Wahrheit erzeugt, wohl nur, dass sie das geschichtliche Ankommen (avvento) der Wahrheit begünstigt, fördert und erleichtert, denn wie Milton sagt, ist die Zeit eher die Hebamme als die Mutter der

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Wahrheit: »the midwife rather than the mother of Truth«.9 Das ist gerade das, was im Begriff der Interpretation enthalten ist, der sich so als einzige Weise darstellt, die Pluralität geschichtlicher Wahrheiten mit der Unterscheidung zwischen wahr und falsch zu vereinbaren. Das Ideal der Interpretation kann also nicht die Entpersönlichung sein. Eine solche würde die Interpretation ihres Organs berauben, denn um die Wahrheit zu erfassen, kann die Interpretation auf nichts anderes als auf die Vertiefung der Person in ihrer geschichtlichen Substanz zurückgreifen: Zeitverständnis und Besitz des Wahren, Situationsbewusstsein und Wahrheitsdurchdringung, Selbstbewusstsein und Seinsoffenbarung schreiten gemeinsam fort und bedingen sich gegenseitig. Wenn es um Wahrheit geht, haben die Förderung nach »Objektivität« der Wissenschaft und die proklamierte »Neutralität« des Wissens überhaupt keinen Sinn. Als Interpretation ist die Erkenntnis der Wahrheit immer kompromittierend, indem sie eine persönliche Wahl und eine Stellungnahme erfordert. Dies ist die offensichtlichste und lebhafteste Konsequenz der Tatsache, dass Wahrheit nur innerhalb einer einzelnen Formulierung zugänglich ist und dass sie nur als persönlich interpretierte in Besitz genommen werden kann. Die Wahrheit zu erkennen und zu besitzen ist nicht möglich, ohne sich einzusetzen, Partei zu ergreifen und sich persönlich ihr auszusetzen. Dies geschieht nicht nur in der als Formulierung des Wahren verstandenen Philosophie, sondern auch in jeder einzelnen Interpretation, die diesen Namen verdient, so gering und unbedeutend sie auch sein mag. Denn die Wahrheit ist in ­jedem hermeneutischen Prozess involviert, und selbst die geringfügigste Interpretation hat an sich eine onto­logische Tragweite. Aber wenn es wahr ist, dass die Wahrheit – da sie sich nur innerhalb einer einzelnen Perspektive anbietet – nur von einem 9  J. Milton, The Doctrine and Discipline of Divorce, in Complete Works, II, Yale University Press, New Haven 1954, 225.

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persönlichen und konkreten Gesichtspunkt aus erfasst werden kann, dann ist es auch wahr, dass man nur von einem persönlichen und konkreten Gesichtspunkt aus eine Perspektive als persönlichen Besitz der Wahrheit annehmen und somit den Gesichtspunkt eines jeden verstehen kann. Das heißt, dass nicht nur die persönliche Formulierung des Wahren kompromittierend ist, sondern auch die Kommunikation zwischen den verschiedenen und unterschiedlichen Formulierungen von ihm; denn nur wenn man die Wahrheit in einer eigenen Formulierung besitzt, kann man verstehen, wie die Wahrheit auch in einer anderen Formulierung anwesend ist. Man muss Stellung nehmen oder Stellung genommen haben, um eine andere Position zu verstehen, und jede Interpretation kann nur von einer anderen Interpretation verstanden werden, so dass nur derjenige, der seine eigene Philosophie hat, an die Philosophie eines anderen herankommen und im Allgemeinen, als Philosoph, die Philosophien verstehen kann – ja, nur die Philosophie versteht die Philosophie. Ähnlich kann nur derjenige, der eine Religion hat, eine andere Religion verstehen, und nur, wer religiös ist, kann eine religiöse Erfahrung verstehen, und so weiter. All das widerspricht offensichtlich einer der hartnäckigsten und starrsten Gemeinplätze der gegenwärtigen Kultur, der nicht nur alles Wissen auf die Geschichte reduziert, sondern auch den Historiker zum Vorbild des Intellektuellen idealisiert hat, der mit »historischer Objektivität« begreifen soll, ohne zu urteilen, verstehen, ohne zu diskutieren, schlussfolgern, ohne Partei zu ergreifen, also letztlich der Wahrheit gegenüber gleichgültig sein müsse. Aufgrund ihres interpretativen Charakters kann eine Formulierung der Wahrheit allein durch Einfühlung, Kongenialität und Wahlverwandtschaft vermittelt werden. Sie kann sich nicht auf eine vorausgesetzte Universalität stützen, wie etwa eine vorgängige unpersönliche Vernunft oder eine gegebene geschichtliche Gemeinschaft, sondern vielmehr auf die einigende und verbreitende Kraft der Wahrheit selbst, nämlich auf jene Einzigartigkeit und Allgemeingültigkeit des Wahren, wie sie sich in jeder einzel-

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nen Formulierung als Appell an die Freiheit und nicht als Zwang zur Evidenz, als Bedürfnis nach Gemeinschaft und Dialog und nicht als Hochachtung vor gewohnten Konventionen zeigt. Es handelt sich also nicht um eine präexistierende, sondern um eine herauszubildende Universalität. Diese kann nur durch die Gründung einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten erreicht werden, die durch eine ähnliche Interpretation der Wahrheit verbunden sind und gerade deshalb in der Lage sind, sich gegenseitig zu verstehen und miteinander zu kommunizieren. Daraus folgt der begründende und erneuernde Charakter der Interpretation, die niemals eine Situation verändern und noch weniger eine Epoche einleiten könnte, wenn sie sich darauf beschränken würde, ihre Zeit auszudrücken und historisches Bewusstsein zu sein. Ihr gelingt das nur, insofern sie selbst eine Perspektive auf das Sein und eine Offenbarung der Wahrheit ist und damit der heutigen, von Aktivismus und Praxismus geprägten Welt das Beispiel für eine Erkenntnis bietet, die als solche initiierend und transformierend ist. Sie ist dies umso mehr, je mehr sie sich als Theorie bewahrt und umso weniger, als sie sich in bloße Praxis auflöst. Denn die Interpretation ist kontemplativ nicht im trägen Sinne des einfachen Bewusstseins der Vergangenheit oder des bloßen Ausdrucks der Gegenwart, sondern im wirksamen Sinne der Offenbarung der Wahrheit, die gerade die Quelle der Erneuerung und das Prinzip für jede gültige Transformation ist  – jenseits jeder sterilen und sekundären Gegenüberstellung von Praxismus und Theoretizismus und jeder künstlichen und abgeleiteten Auflösung der Theorie in die Praxis: Sie ist mehr Anfang als Ende der Geschichte, mehr herrschend als der Zeit folgend, mehr Situationen hervorrufend als ihr Abbild.

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14.  Konsequenzen des Darüber-Hinaus der Wahrheit Hinsichtlich dem in jeder einzelnen Formulierung vorhandenen Darüber-Hinaus (ulteriorità) der Wahrheit ist zu bemerken, dass es keine Interpretation gäbe, wenn die Wahrheit entweder ganz verborgen oder ganz offenkundig wäre. Denn sowohl die totale Verborgenheit als auch die vollständige Offenbarung müssten die Wahrheit verbergen, indem sie sie in eine eher zum Verstellen als zum Darlegen geeignete Definition einschlössen oder in eine Unaussprechlichkeit auflösten, die nicht weniger verstellend ist als jede ausschließende Definition. Die Offenbarung setzt eine Untrennbarkeit von Enthüllung und Verhüllung voraus, denn der Prozess der Erleuchtung könnte nicht von einer so dichten Dunkelheit ausgehen, dass sie nicht einmal die Vorahnung ­eines Schimmers enthielte, und umgekehrt ginge der ursprüngliche Charakter der Wahrheit als unerschöpfliche Quelle verloren, wenn die Evidenz so offenkundig wäre, dass ihr selbst das kleinste Geheimnis fehlte. Eine totale Geheimhaltung, in der allein das Schweigen als sprechend angesehen würde und der Wahrheit keine andere Eigenschaft zugestanden würde als die Unaussprechlichkeit, müsste im dichtesten Nebel des Mysteriums entschwinden und der rücksichtslosesten Willkür der Symbole Tür und Tor öffnen. Eine vollständige Enthüllung, die im »Alles-Gesagten« gipfelte und für die die Wahrheit eine endgültige Evidenz anstrebte, müsste auf jedes Unausgesprochene verzichten, das die Quelle des Neuen ist, und würde in der objektiven Univozität der Aussage enden. Auf der einen Seite hätten wir einen Kult des Mysteriums, der letztlich zur Schwärmerei führt, d. h. sich vorsätzlich der mythologischen Phantasie hingibt; denn das abgründige Schweigen und die stockdunkle Nacht sind ein falscher Reichtum, der, weit entfernt von Augustinus »canorum et facundum silentium veritatis«,10 sich für nichts anderes eignet 10 Augustinus, De libero arbitrio II, 13, 35.

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als für die Verschwommenheit willkürlicher und verschwindender Anspielungen. Auf der anderen Seite gäbe es einen Kult der Evidenz, der bis zum Aberglauben reichte, der das Explizite an sich bevorzugte; das ist reiner Götzendienst, weil das gänzlich ausgesagte Wort, ohne jeglichen Rest von Tiefe und Unausgesprochenem, äußerst arm ist; es aber als offenbarend, d. h. als Sitz der Wahrheit zu werten, käme einer Überbewertung gleich. Auf der einen Seite haben wir die Tiefe ohne Evidenz, auf der anderen die Evidenz ohne Tiefe: Beides sind Degenerationen, weil sie die Natur der Interpretation nicht kennen und entweder auf den Irrationalismus der absoluten Unaussprechlichkeit und der willkürlichen Anspielung der Chiffren vertrauen oder auf den Rationalismus der vollständigen Äußerungen und der objektiven Kommunikabilität des Expliziten. Aber die Untrennbarkeit von Enthüllung und Verhüllung gewinnt nur dann ihre ganze hermeneutische Bedeutung zurück, wenn sie die Unerschöpflichkeit des Seins als ihr eigenes Fundament voraussetzt und eine radikale Unterscheidung zwischen dem Unausgesprochenen und dem Verschwiegenen (sottinteso) einschließt. Einerseits ist die Dunkelheit, von der der Prozess der Erleuchtung ausgeht, nicht die Abwesenheit von Licht, sondern die Kompaktheit seiner Fülle: Es ist jene des Lichts selbst, die, soweit sie Quelle des Sehens ist, sich der Sicht entzieht, und je mehr sie der Sicht entflieht und diese geradezu blendet, umso intensiver erleuchtet sie diese. Andererseits ist die von der Erleuchtung gegründete Evidenz nicht die Unterdrückung des Unausgesprochenen, sondern sein Sitz und sein Aufbewahrungsort, nicht als ein einfaches Verschwiegenes (sottinteso), das man leicht aufzeigen und erklären könnte, sondern als das Nicht-Gesagte, in dem der eigentliche Sinn des Gesagten liegt. Wenn sich die Wahrheit entzieht, dann tut sie das nur, um sich selbst anzubieten; mehr noch als sich zu entziehen, hält sie sich im Grunde zurück. Weit davon entfernt, sich zu verbergen, um zu verschwinden, sammelt sie sich vielmehr, um sich besser offenbaren zu können. Zu ihr gehört keine habsüchtige Eifer-

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sucht ihrer Verborgenheit, sondern die Großzügigkeit einer Verheißung und eines Appells, was eher ein Zeichen von Fülle als von Abwesenheit ist. Der Grund des Darüber-Hinaus (ulteriorità) des Wahren ist die Unerschöpflichkeit und eben nicht die Unaussprechlichkeit, ist der Reichtum und nicht die Armut. Das, was ursprünglich ist, ist die Positivität, und jede Negativität ist Verrat, Erniedrigung, Vergessenheit. Zu sagen, dass die Wahrheit als Ursprung in ihrer eigenen Formulierung liegt, bedeutet, dass die Wahrheit drängt, indem sie sich entzieht, und sich entzieht, indem sie drängt. Ihr Darüber-Hinaus (ulteriorità) ist nicht so sehr die ironische und negative Möglichkeit, ihre eigenen Formulierungen allmählich abzuschaffen, indem sie sie verlässt und sie alle übersteigt, um sich in eine ferne und nächtliche Unthematisierbarkeit zu flüchten; es ist vielmehr die äußerst freie und produktive Möglichkeit, sich in immer neuen Formen zu verkörpern, mit einer unerschöpflichen Fülle, wodurch sie nie aufhört, sich jeweils mit jeder einzelnen von ihnen zu identifizieren, obwohl sie alle hervorruft und transzendiert. Das ist das Gegenteil von der Unaussprechlichkeit der negativen Ontologie, die als logische Konsequenz das Lob des Schweigens, die Verherrlichung der Nacht, die Erhebung des Nichts, d. h. konkreter die historische Indifferenz, das Primat der Praxis, die Praktik der Negation mit sich bringt: letztlich den skeptischen Relativismus, den revolutionären Praxismus und den radikalen Nihilismus, die durch ihren gemeinsamen Ursprung im Unaussprechlichen eng mit­ einan­der verbunden sind. Das, was die Interpretation ausmacht, ist also die Differenz zwischen dem Mitgemeinten (implicito) und dem Verschwiegenen (sottinteso). Das Verschwiegene ist ein Rest, der der Vollkommenheit der Erkenntnis nur vorläufig fehlt und der seine eigene Überwindung fordert, da er an sich dazu bestimmt ist, in vollständiger Explikation und totaler Evidenz aufzugehen. Dagegen existiert weder Explizitheit noch Evidenz, die das Mitgemeinte erschöpfen könnten, das sich in ihnen doch gerade deshalb aufhält, um seine Bedeutungen immer wieder zu erneuern und das

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somit das Unausgesprochene miteinschließen muss, so dass die Interpretation dazu bestimmt ist, die Wahrheit als unerschöpflich zu enthalten, und sie eben nicht in einer objektiven Aussage zu erschöpfen. Sowohl »Entmystifizierung« als auch »Interpretation« bestehen darin, das »Nicht-Gesagte« sprechen zu lassen; aber während die Entmystifizierung es sprechen lässt, indem sie das Verschwiegene (sottointeso) in der totalen Evidenz unterdrückt, lässt die Interpretation es sprechen, indem sie das Mitgemeinte vertieft und dabei seine Unerschöpflichkeit aufrechterhält. Eine Philosophie der Interpretation kann nichts anderes sein als eine Philosophie des Mitgemeinten, die sich bewusst ist, dass man die Wahrheit nicht besitzen kann, außer in der Weise, sie weiter suchen zu müssen; denn die Interpretation ist nicht die vollständige Äußerung des Verschwiegenen, sondern die unendliche Offenbarung des Mitgemeinten, so dass man die Armut, Geringfügigkeit und Begrenztheit des Ersteren in Vergleich zum Reichtum, zur Fülle und Unendlichkeit des Letzteren sieht.

Ergänzungen § 8  Über die musikalische Aufführung als Interpretation verweise ich auf meine: Estetica. Teoria della formatività, zit., 189–214, 226–233; I problemi dell’estetica, zit., 195–223; Il concetto di interpretazione nell’estetica crociana, in Rivista di filosofia 3 (1953). § 9  Ein Beispiel für jene Dialektik von Innerlichkeit und Unabhängigkeit, auf die ich verweise und die jede intimistische und subjektivistische Auffassung von Personalismus ausschließen soll, findet sich sowohl in meiner diesbezüglichen Kritik an der Ästhetik von Luigi Stefanini (vgl. Conversazioni di estetica, 92–102) als auch in der von mir vorgeschlagenen Theorie des Dialogs der Künstler mit der Materie (Teoria dell’arte, 151–158), die sich leicht vom Bereich der Ästhetik auf jeden anderen Bereich menschlicher Tätigkeit »übertragen« lässt.

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§ 13  Der Spruch »Wer groß denkt, muss groß irren« entstammt aus Martin Heideggers Aus der Erfahrung des Denkens (Pfullingen: Neske, 1954), 17. Übrigens, wie Schelling bemerkt, kann nur derjenige einen Irrtum begehen, der sich auf das Abenteuer des Denkens einlässt, so dass es eine Ehre ist, jemanden für irrtumsfähig zu halten: »Wer irren will, der muss wenigstens auf dem Wege sein; wer aber gar nicht einmal sich auf den Weg macht, sondern völlig zu Hause sitzt, kann nicht irren« (V 5). Das wird vielleicht noch deutlicher in der von Hermann Fuhrmans veröffentlichten Nachschriftausgabe: »Auch Irren ist ehrenvoll. Wer irren, vom Weg abirren kann, der kann doch gehen. Wer hinter dem Ofen sitzen bleibt, ist nicht fähig zu irren« (Initia philosophiae universae, zit., 11). Zur extremen Nähe von Wahrheit und Irrtum sollte man sich immer Pascals tiefgründige Beobachtungen vor Augen halten: »Die Wahrheit ist, wie wir wissen, so fragil, dass man bei der geringsten Abweichung von ihr in einen Irrtum verfällt; der Irrtum aber ist so subtil, dass man, nicht einmal davon abweichend, sich in der Wahrheit findet.« Blaise Pascal, Briefe in die Provinz, III. § 8  Die Passage, aus der der Ausdruck vom Hl. Augustinus »canorum et facundum silentium veritatis« entnommen wurde, lautet: »Mentibus nostris sine ullo strepitu, ut ita dicam, canorum et facundum quoddam silentium veritatis illabitur« (De libero arbitrio, II, 13, 35): »In unserem Geist fließt leise und geräuschlos die klingende und sozusagen sprechende Stille der Wahrheit.«

ZWEITER TEIL WA H R H E I T U N D I D E O L O G I E

I. Philosophie und Ideologie 1.  Ausdrückendes und offenbarendes Denken Den Begriff »Ideologie« gibt es seit mehr als anderthalb Jahrhunderten, und in dieser Zeit hat er nach und nach die unterschiedlichsten und oft widersprüchliche Bedeutungen angenommen, bis hin zu dem semantischen Chaos, in das er heute geraten ist, was nicht an der natürlichen Abnutzung des Begriffs liegt, sondern vielmehr an der Unverschämtheit und Ungenauigkeit der Redner. Durch diese wechselnde Vielfalt hindurch kann man jedoch sagen, dass von den ersten Ideologen bis zu den jüngsten Soziologen zwei Vorstellungen in der langen Geschichte des Begriffs relativ konstant geblieben sind: erstens ein gewissermaßen »materieller« Ursprung der Ideen und zweitens die politische Bestimmung der Ideologie. Im Laufe der Zeit haben sich diese beiden Begriffe, ohne ihre Bestimmtheit auch nur ein wenig zu ändern, zu dem allgemeineren Rahmen der Historizität und der Nützlichkeit (pragmaticità) des Denkens erweitert und somit der Philosophie mit unbeirrbarer Beharrlichkeit die zwei Pro­bleme des Verhältnisses von Denken und Situation und von Theorie und Praxis zugeordnet. Unter diesen Voraussetzungen ist klar, dass dieses Thema unvermeidlich eine politische Tragweite hat; dennoch kann es außer der streng philosophischen, welche ich im Folgenden ausführe, keine angemessene Behandlung haben.

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Die beiden Merkmale, auf die ich soeben hingewiesen habe, gehören zu den Eigenschaften dessen, was ich bereits als »ausdrückendes Denken« bezeichnet habe. Es gibt »Philosophien«, die nichts anderes tun, als ihre Epoche auszudrücken, deren Konzeptualisierung und Führung, deren Produkt und Bewusstsein, deren Bild und Instrument sie gleichzeitig sind. Sie sind nur Ergebnisse der menschlichen Vernunft, die einerseits untrennbar mit der historischen Situation verbunden sind, aus der sie hervorgehen und in der sie leben, und die andererseits nach Macht streben, das heißt nach Wirksamkeit in der Geschichte. Gegen diese vermeintlich historischen und pragmatischen Philosophien stellt sich das authentische philosophische Denken, das aufgrund seines spekulativen Charakters die Aufgabe übernimmt, die Wahrheit zu offenbaren. Ich glaube, dass der Unterschied zwischen Ideologie und Philosophie vollständig erklärt werden kann, wenn man ihn auf den von mir vorgeschlagenen Unterschied zwischen ausdrückendem Denken und offenbarendem Denken zurückführt. Zu diesem Zweck beabsichtige ich vor allem, die beiden grundlegenden Merkmale des ideologischen Denkens zu untersuchen, indem ich sie auf die beiden grundlegenden Eigenschaften des ausdrückenden Denkens zurückführe.

2.  Historisierung des Denkens in der Ideologie Befassen wir uns zunächst mit der Historizität. In der rein ausdrückenden Rede erschöpft sich das Wesen des Denkens selbst in die Historizität. So ist es von einem ideologischen Gesichtspunkt aus gesehen die Funktion von Ideen, die nichts anderes tun, als die historische Situation auszudrücken, diese in Begriffe zu übersetzen, und deshalb fordern sie, nur nach ihrer Zugehörigkeit zu der Zeit, aus der sie hervorgehen, bewertet zu werden. Das ist historisch belegt durch die Entwicklung des Ideologiebegriffs, von Destutt de Tracy ausgehend, der seine Aufmerksamkeit nicht so sehr auf den Wert und den Inhalt der Ideen gelenkt

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hat als vielmehr auf ihren Ursprung und ihre sinnliche Bildung, über Marx, der einen organischen und dialektischen Zusammenhang herstellte zwischen der materiellen Grundstruktur und dem ideellen Überbau, der Produkt von jener ist, bis hin zu Mannheim mit seinem Konzept einer Seinsverbundenheit nicht nur von Ideen und Überzeugungen, sondern auch von Prinzipien, Kategorien und Bewertungen. Die erste Aufgabe, die sich dem ausrückenden Denken stellt, ist also seine »Historisierung«: seine »Bedeutung« zu bestimmen, insofern es Darstellung seiner Zeit ist, seinen »Wert« in der Fähigkeit zu erkennen, Existenzzustände zu konzeptualisieren sowie seine »Wahrheit« in seiner Entsprechung oder Einhaltung oder Übereinstimmung mit der historischen Situation zu sehen. Das ausdrückende Denken ist für diese Betrachtungsweise gut geeignet, weil es bereits radikal und ausschließlich historisch ist, das heißt frei von jeder Sorge, die Wahrheit zu erforschen, und lediglich mit der einzigen Fähigkeit ausgestattet, die Situation auszudrücken. Gerade das ist diejenige Betrachtungsweise, der man üblicherweise die Ideologien zuzurechnen pflegt, von denen man gerade die grundsätzliche »Geschichtlichkeit« zeigen will, die nicht so sehr in der bloßen historischen Bedingtheit des Denkens liegt als eher in seiner vollständigen Identifikation mit der Situation. Um in diesem Punkt eine ebenso primitive wie eitle Wider­ legung des Marxismus zu vermeiden, sei angemerkt, dass die Historisierung, von der ich spreche, nichts mit einer verkürzenden Erklärung zu tun hat, für die eine Rückführung der geistigen Produkte auf ihre materielle Basis darauf hinausliefe, sie in einer bloß zufälligen und überflüssigen Erscheinung aufzulösen, anstatt sie in ihrer historischen Wesentlichkeit und unbestreitbaren Realität zu sehen. Das ausdrückende Denken mit der geschichtlichen Situation zu verknüpfen, heißt nicht, es zu vernichten, sondern es in seiner »Ausdrucksmächtigkeit« (espressività) und in seiner »Besonderheit« (specificità) als integralen Bestandteil der Situation zu bedenken, die ohne diese nicht wäre, was sie ist. Das be-

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deutet, eine strukturelle Einheit und eine organische Gesamtheit wiederherzustellen, die, während sie die Unzertrennlichkeit des Bewusstseins von der Realität sichert, die geistigen Produkte in ihrer Unauflösbarkeit und Unersetzbarkeit bewahrt, bis zu dem Punkt, dass man sagen könnte, dass es im »Überbau« nichts gibt, was nicht schon in der Basis war, außer der Überstruktur selbst. Wenn es wahr ist, dass die so verstandene Historisierung jeden verkürzenden Charakterzug verliert, ist es nicht weniger wahr, dass sie gerade die Tatsache bestätigt, dass das ausdrückende Denken, eben weil es durch organische und notwendige Verbindungen mit den anderen Aspekten der Situation verbunden ist, nur insofern in dieser Situation lebt, als es sich nicht von ihr l­ ösen kann, und es ist unabtrennbar von ihr, weil es in ihr gefangen ist; und umso gültiger ist es in der Situation, je mehr es in sich selbst leer ist, und obwohl es voll von der geschichtlichen Wirklichkeit ist, deren Reflex oder Bewusstsein es ist, so ist es doch wahrheitslos.

3.  Technisierung der Vernunft in der Ideologie Als Zweites wenden wir uns nun der Pragmatik zu. Das ausdrückende Denken hat notwendigerweise einen pragmatischen Charakter, denn seine grundlegende Geschichtlichkeit, die logischerweise eine Abwertung des theoretischen Aspekts des Denkens mit sich bringt, ruft jedoch im Gegenzug eine Übertreibung seines praktischen Aspekts hervor und erweitert ihn bis zu einer extremen Pragmatik, die sich im schärfsten Instrumentalismus oder im radikalsten Praxismus ausdrückt. Das wird von der Geschichte des Ideologiebegriffs selbst bestätigt, in der der praktische und politische Aspekt immer stärker hervortreten, bis hin zu den extremen Positionierungen, die sich in der reinen Technisierung des Denkens als Panpolitizismus finden lassen. Bereits Destutt de Tracy hatte die Relevanz einer Untersuchung in Bezug auf diese Konsequenzen erkannt, die sie seiner Meinung

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nach unweigerlich auf pädagogischem, sozialem und politischem Gebiet hervorrufen; und die bekannte Verachtung, die Napoleon für die Ideologen hatte, die von ihm als bloße Theoretiker und sterile dogmatische Gelehrte verstanden wurden, war eine implizite Anerkennung der politischen Bestimmung ihres Denkens, und nicht umsonst hat er sich ihnen widersetzt. Für Marx hat ferner das Verhältnis von Ideologie und Philosophie selbst eine praktische und politische Wirksamkeit. Daraus folgen die inzwischen klassischen Vorstellungen über den instrumentellen Charakter, den alle Ideologien im Laufe der Geschichte durchgängig zeigten, um die Erhaltung oder den Umsturz einer Ordnung zu rechtfertigen, und über die Wechselwirkung zwischen Überbau und Basis, der zufolge gerade die von der Wirklichkeit produzierte Idee auf diese reagiert, bis sie sie schließlich lenkt. Daraus folgt eine Form des Marxismus, die, indem sie das Moment des Kampfes betont und das Proletariat als Klasse betrachtet, sich als Ideologie konkret-historisch manifestiert, nämlich als engagierte und kämpferische Konzeption, mit der die Philosophie der politischen Macht unterworfen wird, sie sich also zu einem ausdrücklichen Instrumentalismus bekennt. Es gibt aber auch eine Form des Marxismus, die, das finalistische Moment betonend und den vollständigen Menschen im Proletariat erkennend, sich als Verwirklichung der Philosophie darstellt und Philosophie und Politik identifiziert, die in einem integrierten Praxismus gipfelt. Das heißt, es gibt einen Marxismus, der die Philosophie auf Ideologie ohne jeden Rest reduziert und diese somit nur als Mittel für politisches Handeln begreift. – Auf diese Weise leugnet er jedoch Philosophie, ohne sie zu verwirklichen, und zwar in dem Sinne, dass sie zu einem bloßen Instrument der politischen Macht degradiert wird. Und es gibt einen Marxismus, der, zwischen Philosophie und Ideologie unterscheidend, das Ende der Ideologien verkündet, weil er die endgültige Einheit von Theorie und Praxis erreicht zu haben meint. Indem er die Philosophie gerade durch die vollständige Verwirklichung derselben überwunden hat, identifiziert er diese restlos

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mit Politik, und zwar in dem Sinne, dass Philosophie die Revolution selbst ist. Endlich gibt es einen »metaphysischen« Marxismus, der – um eine Verwirklichung der Philosophie zu vermeiden, die sie verwirklicht, ohne sie zu überwinden, indem sie sie unterdrückt, oder aber sie überwindet, indem sie sie unterdrückt, ohne sie zu verwirklichen – darauf abzielt, die Philosophie als »technisches Denken« zum Tragen zu bringen. Es gibt nun auch noch die Variante eines »prophetischen« Marxismus, für den das ideologische Wissen in seiner Zuspitzung nicht nur die Reflexe der geschichtlichen Wirklichkeit enthält, sondern auch eine »belehrte Hoffnung«, ein noch nicht klares Wissen, das auf das Noch-nicht-Gewordene kritisch vorgreift. Bei Karl Mannheim werden schließlich diese verschiedenen Ideologien, die sich immer weiter ausbreiten, bis hin zu jenen vitalen oder organischen oder systematischen Ideenkomplexen, die unter den Namen Weltanschauung fallen, in ihrer praktischen Wirksamkeit und in ihrer politischen Bedeutung betrachtet, was sie zu gültigen Instrumenten einer Handlung werden lässt, die sowohl bewahrend und rechtfertigend als auch revolutionär und anregend sein kann, um die Bewegung der Geschichte aufzuhalten oder zu lenken. Es gibt eine notwendige Verbindung zwischen der Ausdrücklichkeit (espressività) und der Geschichtlichkeit des Denkens und seiner pragmatischen Bestimmung. Der Begriff des Ausdrucks hat an sich einen derart instrumentellen Charakter, dass seine Verwendung in der Metaphysik selbst nicht umhinkommt, Zweideutigkeiten zu erzeugen, wie der Pantheismus zeigt. Eine Meta­ physik, die den Begriff des Ausdrucks anstelle von Offenbarung verwenden will, sieht sich unweigerlich gezwungen, in einer Art Pantheismus zu gipfeln, in dem individuelle Seiende nichts anderes als Instrumente des Absoluten sind. Der Ausdruck ist in sich selbst so instrumentalistisch, dass er nicht auf das Verhältnis zwischen Endlichem und Unendlichem angewendet werden kann, ohne das Endliche in ein Instrument des Unendlichen zu verwandeln: Indem der Pantheismus den Begriff der Offenbarung

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durch den des Ausdrucks ersetzt, unterdrückt er die Transzendenz des Absoluten, gerade weil er endliche Seiende als Ausdruck und damit als Instrumente des Unendlichen begreift. Darüber hinaus bereitet die Historizität, indem sie das Denken gerade dessen beraubt, was es zum Denken macht, nämlich seines Verhältnisses zur Wahrheit, seine vollständige Pragmatisierung vor und verursächlicht sie. Selbst wenn man die Verbindung zwischen Denken und Situation als organisch begreifen wollte, besteht kein Zweifel daran, dass die Historizität den theoretischen Aspekt des Denkens entwertet, ihn seines wahren spekulativen Wertes beraubt und ihn in die Lage versetzt, eine Vergeltung in seiner pragmatischen Effizienz zu suchen, nämlich in seiner Fähigkeit, auf die Situation selbst einzuwirken, d. h. als Instrument der Handlung sowie als Spiegel der Situation. Der Verlust der Wahrheit und die Pragmatisierung des Denkens sind eng und unauflöslich miteinander verbunden und wachsen direkt proportional: Ein der Wahrheit entleertes Denken kann keine ­andere »Wahrheit« finden als ebendiese: sich der Handlung unter­zuordnen; und umgekehrt kann das Denken nicht seine vollständige Technisierung erreichen, wenn nicht in dem Maß, in dem es allmählich sein Verhältnis zur Wahrheit verliert. Das der Wahrheit entleerte Denken kann – will es einen ratio­ nalen Sinn haben, der sich nicht auf eine bloße historische Ausdrücklichkeit (espressività) oder auf eine leere und scheinbare Rationalität beschränkt – nichts anderes tun, als sehr wohl pragmatische und technische Vernunft zu werden, jedoch nicht nur im eingeschränkten Sinne der Fähigkeit, eine Handlung zu planen und zu prüfen, soweit es sich selbst kontrollieren und korrigieren kann, sondern vor allem in dem eminenten Sinne, dass es sich der Handlung bemächtigt, indem es sie geradezu erst erforderlich macht und dabei leitet, ja sogar dahingehend, dass es sich in der Handlung entfaltet und mit ihr zusammenfällt. An diesem Punkt haben wir es nicht mehr mit demjenigen Pragmatismus zu tun, in dem die Wahrheit noch besteht, entweder in dem Sinne, dass die Wahrheit das Kriterium der Effizienz

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ist, oder in dem Sinne, dass die Effizienz das Zeichen der Wahrheit ist: Hier gibt es keine andere Wahrheit mehr als die der Effizienz, sei sie nun instrumentell oder pragmatisch. Das heißt, es gibt keine Wahrheit, weil die Praxis entweder das Ziel oder das Wesen der Theorie vollständig ausschöpft. Die Frage, ob Ideologien wahr oder falsch sind, oder die Behauptung, dass sie weder wahr noch falsch sind, macht nur insofern Sinn, als sie sämtlich als falsch angesehen werden, nämlich als grundlegend korrumpiert durch den fundamentalen Fehler, auf die Wahrheit verzichtet und damit angenommen zu haben, dass sie von der Historizität und Nützlichkeit (pragmaticità) erschöpfend qualifiziert werden, bzw. als Produkte der Geschichte und Instrumente der Handlung. Die Technisierung der Vernunft entspricht der Historisierung des Denkens. Dem Denken ohne Wahrheit – und das ist letztlich die Ideologie – entspricht das Handeln ohne Wahrheit, was eigentlich nurmehr Technik ist, so dass man aufgrund der Ausschaltung der Wahrheit nur zur Technisierung der Vernunft kommen kann, entweder in einem instrumentellen Sinn als Versklavung der Idee innerhalb von Handlungen, der Ideologie innerhalb von Politik, der Philosophie innerhalb von poli­ti­ scher Macht, oder in einem praxistischen Sinn als Identifikation von Denken und Handeln, Theorie und Praxis, Philosophie und Politik.

4.  Untrennbarkeit des geschichtlichen und des offenbarenden Aspekts im ontologischen Denken: Wahrheit und Interpretation Die Historisierung des Denkens und die Technisierung der Vernunft sind also die beiden Züge des ausdrückenden und ideologischen Denkens, in dem die Abwesenheit von Wahrheit dazu geführt hat, dass die Probleme des Verhältnisses von Denken und Situation und von Theorie und Praxis keine andere Lösung finden konnte als die Überbetonung eines der beiden Aspekte zum

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Nachteil des anderen, so dass die Situation über das Denken und die Praxis über die Theorie siegen musste. Das Offenbarungsdenken jedoch, auf das allein das philosophische Denken zurückgeführt werden kann, setzt ihnen zwei völlig unterschiedliche Züge und Verhältnisse entgegen. Der erste Unterschied betrifft die unterschiedliche Funktion der Geschichte in den beiden Diskursformen. Während im ideologischen Diskurs, der lediglich ausdrückend ist, die Historizität das Wesen des Denkens ausschöpft, kommt hingegen die geschichtliche Situation in den philosophischen Diskurs so weit hinein, als der Mensch sie aus Freiheit als Zugang zur Wahrheit ansieht, was diesen Diskurs zugleich offenbarend und ausdrückend werden lässt, weil er die Wahrheit im gleichen Moment offenbart, wie er die Person ausdrückt. Dieses Denken geht von einer ursprünglichen Solidarität von Person und Wahrheit aus und ist somit zugleich ontologisch und persönlich: Eine solche ursprüngliche Verbundenheit erklärt innerhalb dieses Denkens die Unzertrennlichkeit des ausdrückenden vom offenbarenden Aspekt und qualifiziert diese beiden in ihrem wechselseitigen Verhältnis. Der geschichtliche Aspekt des philosophischen Denkens ist untrennbar mit dem offenbarenden verbunden, weil das, was sich hier ausdrückt, die Person selber ist soweit sie ihre eigene Situation als eine historische Öffnung zur nicht-zeitlichen Wahrheit sieht; und der offenbarende Aspekt des philosophischen Denkens ist untrennbar mit dem ausdrückenden verbunden, weil es keine objektive Manifestation der Wahrheit als vollständiges und evidentes Ganzes gibt, da sie ja nur durch ein unersetzliches persönliches Verhältnis zugänglich und nur durch den persönlichen Zugangsweg formulierbar ist. Daraus ergeben sich zwei Konsequenzen. Die erste Konsequenz ist, dass die Ausdrücklichkeit des Denkens nicht mehr in der einfachen Fähigkeit besteht, seine eigene Zeit auszudrücken, und seine Historizität nicht mehr darin besteht, sich vollständig mit der geschichtlichen Situation zu identifizieren. Denn das, was hier ausgedrückt wird, ist die Person,

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die einerseits ihre eigene Zeit interpretiert und andererseits sich selbst zum einzigen Offenbarungsorgan der Wahrheit macht. Erstens wird die Zeit nicht unmittelbar ausgedrückt, sondern nur durch die freie Vermittlung der Person, die nicht unter den Problemen der Zeit leidet, als ob die Zeit sie ihr schon gestaltet aufdrängen würde, sondern sie sich von der Zeit vorschlagen lässt, und es ist die Person selbst, die sie hervorbringt und gestaltet, so dass es einen Sprung von der Situation zur Frage gibt, noch bevor es einen Sprung von der Frage zur Antwort gibt. Außerdem hängt von der Person die Art der Betrachtung der Situation ab, die sie entweder in eine verhängnisvolle und verdunkelnde Abgrenzung oder in eine leuchtende Öffnung zur Wahrheit verwandeln kann, indem sie diese in eine vermeintliche Selbstgenügsamkeit isoliert, die das Denken auf einen reinen Reflex oder ein Bewusstsein der Zeit zurückführte, oder diejenige ursprüngliche ontologische Öffnung der Situation wiedererlangt, die dem Denken seine Offenbarungsfunktion zurückgäbe. Und es bleibt in der Macht der Person, ihre eigene Individualität in einen Zugangsweg zur Wahrheit zu verwandeln, d. h. ihre Formulierungen zu vervielfältigen, indem sie gleichzeitig die Wahrheit einzig in ihrer nicht-objektivierbaren und doch anregenden Anwesenheit sein lässt. Die zweite Konsequenz ist, dass die Wahrheit nicht objektivierbar ist, d. h. sie bietet sich nur innerhalb einer persönlichen Perspektive an, die sie bereits interpretiert und bestimmt. Das bedeutet vor allem, dass man die Wahrheit nicht erfassen und offenbaren kann, es sei denn, man formuliert sie bereits, und somit ist sie unabtrennbar von der persönlichen Interpretation, die wir ihr geben. Weiter ist es unmöglich, die Wahrheit in ihrer imaginären Unabhängigkeit und Bestimmtheit zu erfassen, die es uns erlauben würde, von außen unsere Formulierung zu be­urteilen und ihren Wert abzuwägen, und folglich kann sie der von uns gegebenen Formulierung gar nicht gegenübergestellt werden. Und weiterhin sind die Interpretationen der Wahrheit, da sie immer persönlich sind, vielfältig, und so sind Einzig­artig­keit,

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Nicht-Zeitlichkeit und Universalität der Wahrheit ebensolche nur innerhalb der vielfältigen, historischen und gültigen Philosophien, die sie formulieren. Und schließlich setzt die e­ igene Existenz der Wahrheit als ausformuliertes und bestimmtes Denken voraus, dass sie im Denken als nichts anderes denn als nicht-definiert und nicht-formuliert innewohnen kann. Das alles impliziert nun aber das Ende der ontischen und objektiven Metaphysik und ihre Ersetzung durch eine ontologische und indirekte Metaphysik, die heute die einzige Möglichkeit ist, den universellen und spekulativen Charakter der Philosophie zu bewahren und damit das Überleben der Metaphysik zu sichern. Die Tatsache, dass das ideologische Denken nur geschichtlich und ausdrückend ist, und dass die Historisierung des Denkens die Technisierung der Vernunft bewirkt, zeigt in der Ideologie, die behauptet, die Philosophie zu ersetzen, das endgültige und kohärente Ergebnis des Historismus, nämlich das Ende der Meta­physik tout court. Wie das heutige Ende der Metaphysik mit der Ersetzung der Philosophie durch die Ideologie und mit dem Zusammenhang zwischen dem nur ausdrückenden und geschichtlichen Denken und seiner pragmatischen und instrumentellen Bestimmung verbunden ist, so ist das Überleben der Meta­physik an die Wiederherstellung des spekulativen Charakters der Philosophie gebunden, die nur durch die Aufgabe der ontischen und objektiven Metaphysik, durch die Behauptung der Nicht-Objektivierung der Wahrheit und durch die Anerkennung der Unteilbarkeit von Offenbarung und Ausdruck aufrechterhalten werden kann. Die erklärte Nicht-Objektivierbarkeit der Wahrheit gefährdet deshalb keineswegs die Transzendenz, denn der Personalismus – der weit davon entfernt ist, ein Subjektivismus oder ein mehr oder weniger aus idealistischen oder spirituellen Ursprüngen kommender Intimismus mit seiner unvermeidbar narzisstischen Tendenz zu sein –, zeigt seine Natur nur dann vollständig, wenn er als »ontologischer Personalismus« verstanden wird, dem zufolge die Person durch den Bezug zum »Sein« konstitu-

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iert wird, ein Verhältnis, das wesentlich ein aktives und offenbarendes Hören der Wahrheit ist: Die Bestimmung der Person ist die Anerkennung der Wahrheit in dem Maße, in dem diese nur persönlich formuliert werden kann. Jener Subjektivismus und jener Intimismus sind dagegen das genaue Gegenteil des ontologischen Personalismus, der, statt sich um den stets subjektiven Charakter jeder Behauptung oder um die Innerlichkeit des Wahren im menschlichen Verstand zu kümmern, eher einen Charakter der Persönlichkeit verleihen will, zwar nicht der Wahrheit selbst, die für sich überpersönlich ist, wohl aber der immer individuellen Interpretation, die man ihr gibt und die diese selbst anregt, hervorruft, von der sie nicht abzutrennen ist. Jener Personalismus beschäftigt sich eher mit der Vielfalt der Zugangswege zur Wahrheit, unter denen jedoch der Dialog aufgrund der einigenden Kraft der Wahrheit selbst garantiert ist, die eine Gemeinsamkeit bildet, die ebenso weit vom Subjektivismus wie vom Impersonalismus entfernt ist, weil sie sich jedem anbietet und jeden auf seine Weise anspricht. Dies ist das am schwierigsten zu verwirklichende Konzept von Sozialität und Gemeinschaft, aber auch das wahrhaftigste und authentischste. Der Personalismus befasst sich demnach mehr als alles andere mit der Tatsache, dass sich die Wahrheit, obwohl sie nicht auf eine einzige Interpretation zurückzuführen ist, dennoch nur innerhalb der ihr gegebenen persönlichen Formulierung anbieten kann. Das alles bestätigt eher, dass die Wahrheit ursprünglich ist und gerade als solche nicht-objektivierbar und dass sie im Denken eher als Quelle und Ursprung anwesend als dem Denken ein Objekt der Entdeckung ist. Die Wahrheit ist so darüber-hinaus (ulte­riore), dass sie sich mit keiner der Perspektiven identifiziert, die sie offenbaren und formulieren, und in der Tat entzieht sie sich jeder Betrachtung, die den Anspruch erhebt, von ihr als von ­einem vollständigen und offensichtlichen Objekt zu sprechen und sie auf eine einzige und ausschließliche Weise zu besitzen; sie ist so unerschöpflich, dass sie die verschiedensten Offenba-

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rungen anregt und sich einer unendlichen Vielfalt von Formulierungen anvertraut, ohne jemals Gefahr zu laufen, ihre Einzig­ artig­keit zu verlieren. Gerade deshalb ist die Interpretation das erste Merkmal des offenbarenden Denkens, in dem das Verhältnis zwischen Denken und Situation sehr wohl der Geschichtlichkeit einen Platz einräumt, ohne sie ungebührlich zu akzentuieren: Ebendies kann nur und ist die Interpretation. Sie ist immer von der Untrennbarkeit von Ausdruck und Offenbarung gekennzeichnet, d. h. einerseits durch die Persönlichkeit ihres Subjekts, das sie ausdrückt, indem es sich zum Offenbarungsorgan macht, und andererseits durch die Unerschöpflichkeit ihres Objekts, das sich offenbart, indem es seine Nicht-Objektivierbarkeit als unabtrennbar von der Interpretation, die von ihm gegeben wird, erweist und doch immer außerhalb der Interpretationen liegt, die es hervorbringt.

5.  Ursprüngliche Einheit von Theorie und Praxis im ontologischen Denken: Sein und Zeugnis Der zweite Unterschied, der das offenbarende und philosophische Denken vom ausdrückenden und ideologischen Denken trennt, liegt in einer verschiedenartigen Betrachtungsweise des Verhältnisses von Theorie und Praxis. So wie die Historizität des ideologischen Denkens nicht durch seinen umgekehrten Fehler verhindert wird, nämlich die Ausschaltung von jeglichen historischen Aspekten aus dem philosophischen Denken, so widerlegt man seinen Pragmatismus nicht durch die Aufwertung der reinen Theorie, die alle praktischen Elemente ignoriert. Auch hier betrifft das Problem nicht einfach das Verhältnis von Theorie und Praxis, sondern die Frage nach der Wahrheit selbst, einer Wahrheit, die so ursprünglich ist, dass sie sich jenseits der Unterscheidung von Theorie und Praxis stellt, und die als solche auf die ursprüngliche Einheit der beiden Begriffe hinweist, die allein in der Lage ist, ihre abgeleitete Unterscheidung und ihr

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authentisch wechselseitiges Verhältnis auf jeder Ebene zu erklären und zu regeln. Angesichts der Technisierung der Vernunft, die vor allem in den extremen Konzeptionen der Pragmatisierung des Denkens auftaucht – sei es im instrumentellen Sinne, Ideen für die politische Handlung zu liefern, sei es vor allem im praxistischen Sinne, die Philosophie selber mit der Politik zu identifizieren – geht es nicht darum, den rein spekulativen oder kontemplativen Charakter der Philosophie zurückzufordern, als ob man dies in bloßer Antithese zu einer unangemessenen Akzentuierung oder zu einer mehr oder weniger radikalen Übertreibung ihrer möglichen praktischen Aspekte tun müsse. Diesen Auffassungen liegt nämlich nicht eine Privilegierung der praktischen Tätigkeit im Gegensatz zu einer Privilegierung der erkennenden Tätigkeit zugrunde, wie es im sogenannten »Vulgärmarxismus« erscheinen könnte, sondern das Bedürfnis, die Einheit von Theorie und Praxis zu erfassen und zu verwirklichen, um das Problem des Verhältnisses von Philosophie und geschichtlicher Wirklichkeit zu lösen. Nicht, dass man heute angesichts des überbordenden Aktivismus und Praxismus nicht das Bedürfnis, ja die Notwendigkeit von Theorie und Kontemplation betonen sollte: Man muss sogar die Nicht-Reduzierbarkeit der Kontemplation auf die Praxis sowie der Praxis auf die Kontemplation verteidigen, denn auf einer bestimmten Ebene der Spezifikation ist die Vermischung dieser beiden verwirrend und missverständlich. Dennoch darf man nicht vergessen, dass beim wahren Menschen Theorie und Praxis auf jeder Ebene untrennbar sind, weil jedes Denken letztlich praktische Konsequenzen hat und jede Handlung ein Denken voraussetzt, so dass sowohl der Theoretizismus als auch der Aktivismus nur Bedeutung gewinnen, wenn sie als Reaktion verstanden werden. Aber vor allem muss man anerkennen, dass es eine berechtigte Forderung gibt, die Einheit von Theorie und Praxis zu postulieren. Um ihr wirklich gerecht werden zu können, muss man auf eine tiefere und ursprünglichere Ebene hinabsteigen: Das heißt, man muss zum

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onto­logischen Bezug gelangen, der gerade in dem Akt, in dem er die Wahrheit sowohl der Theorie als auch der Praxis bietet, die Unterscheidung zwischen ihnen bei weitem überschreitet, da er Wurzel und ursprüngliche Normierung der beiden ist. Der Praxismus erreicht jedoch nie eine solche ursprüngliche Tiefe, obwohl er das Verdienst hat, die Einheit von Theorie und Praxis zu fordern. Wenn man eine solche Einheit als zukünftigen Aspekt der gegenwärtigen Dualität auffasst, also als – im Grunde scheinbares – Heilmittel für eine – im Grunde andauernde – Degradierung, bleibt man in der ontischen Sphäre, die, weit davon entfernt, sich zum Ursprung zu erheben, das Ursprüngliche durch das Chiliastische ersetzt und gerade deshalb die Verwirklichung der Philosophie, die sie als bloße Theorie überwinden sollte, auf ihre wirkliche Unterdrückung reduziert. Auf der onti­ schen Ebene sollte man Theorie und Praxis genau voneinander unterscheiden, und wenn überhaupt, sollte man ihre Untrennbarkeit in ihrer Verschiedenheit betonen. Doch der ursprüngliche Sinn einer solchen Verschiedenheit – und der Notwendigkeit, diese sorgfältig auseinanderzuhalten, ohne sie zu verwechseln oder miteinander zu verderben, und deren Untrennbarkeit als tiefen Sinn derselben Unterscheidung aufrechtzuhalten – wird dennoch nur auf der ursprünglichen Ebene erreicht, weil eine solche Ebene der Unterscheidung zwischen Theorie und Praxis vorausgeht und die Einheit, um eine solche überhaupt zu sein, vor der Dualität erfasst werden muss. Von der ontologischen Ebene aus gesehen wird das Problem des Verhältnisses von Theorie und Praxis auf ein tieferes zurückgeführt, nämlich das des ursprünglichen Bandes von Person und Wahrheit. Und hier spaltet sich das Problem in zwei Fragen, die man besser getrennt behandelt. Erstens: Im Praxismus ist nicht so sehr die Theorie als die Wahrheit im Spiel. Worum es dabei geht, ist nicht nur die Reduktion der Theorie auf Praxis, sondern vor allem auch die Verdrängung der Wahrheit in der Praxis. Was in Frage gestellt wird, ist nicht so sehr die Verwirklichung der Philosophie oder das Verhältnis zwischen Philosophie und

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geschichtlicher Wirklichkeit als vielmehr die ontologische Tragweite der ganzen menschlichen Tätigkeit, sei es theoretisch oder praktisch, in dem Sinne, dass man sich hier vor eine Alternative gestellt sieht, für die sich alles entweder auf Technik reduziert (auch die Philosophie), oder alles, auch das praktische Handeln, eine ontologische Tragweite hat. Man kann die Wahrheit unmittelbar in jeder der menschlichen Tätigkeiten erreichen, sei es in der Philosophie oder in der Moral oder in der Kunst. Jede von ihnen hat ihre eigene ursprüngliche Wahrheit, weil jede gleichermaßen und mit gleichem Recht offenbarend sein kann. Wesentlich ist, dass in allen diesen Aktivitäten das eigentliche Denken selbst wohnt und wirkt, d. h. der ontologische Bezug, die ursprüngliche Verbindung von Person und Wahrheit, die Offenbarung der Wahrheit in ursprünglicher Weise, die der Unterscheidung der verschiedenen Aktivitäten vorausgeht. Es geht darum, die ontologische Tragweite und den Offenbarungscharakter jeder menschlichen Tätigkeit herauszustellen. Das gelingt nur, wenn man in jeder von ihnen die Anwesenheit jenes ursprünglichen Denkens wiedergewinnt, das die Offenbarung der Wahrheit ist. Es geht also darum, die Wahrheit des Denkens wie des Handelns zu finden, die authentische ontologische Dimension sowohl der Theorie als auch der Praxis zu gewährleisten, ohne dass beide auf Technik reduziert und beide mit der universellen Technisierung der Vernunft identisch werden. Das ist es, was der panpolitische Praxismus anstrebt. In diesem Sinne bedeutet die Wiedergewinnung des spekulativen Charakters der Philosophie nicht, die Praxis der Irrationalität zu überlassen, sondern vielmehr, der Praxis eine ontologische Dimension zurückzugeben. Die Alternative besteht nicht zwischen einer derart verdünnten Spekulation, dass sie in eine wissenschaftliche Gleichgültigkeit mündete, und einer so undurchsichtigen Pragmatik, dass sie der Irrationalität verfallen müsste, wie es das Ansinnen des soziologischen Historismus zu sein scheint; die Alternative besteht vielmehr zwischen Wahrheit und Technik, zwischen der Offenbarung der Wahrheit

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und der Technisierung der Vernunft, zwischen dem offenbarenden und ontologischen Charakter und dem instrumentellen oder praktischen Charakter des Denkens, der jeder menschlichen Tätigkeit innewohnt. Zweitens: Die Einheit von Theorie und Praxis einer ontischen Planung der Zukunft zu unterziehen und ihr die ursprüngliche ontologische Dimension zurückzugeben, bedeutet, in eine noch tiefere Ebene einzutreten, in das Herz des ontologischen Verhältnisses, das nur Theorie und Praxis zusammen sind. Wenn man von dieser Ebene sprechen kann, die an sich vor jeglicher Unterscheidung liegt, so ist diese theoretische Offenbarung der Wahrheit und zugleich praktische Entscheidung für das Sein. Es ist auch nicht das eine ohne das andere, denn die Offenbarung der Wahrheit als persönliche Interpretation derselben ist ursprünglicher Freiheitsakt und es gibt keinen ursprünglicheren Freiheitsakt als dieselbe Entscheidung für das Sein. Zunächst einmal verlangt die Wahrheit, da sie nur auf einem persönlichen Weg zugänglich ist, eine Wahl und eine Option, so dass der Mensch sich entscheiden muss, ob er sich mit der eigenen Situation identifiziert und sich auf ein bloßes historisches Produkt reduziert oder ob er jener Situation eine Offenbarungskraft zugesteht und sich selbst zu einer lebendigen Perspektive der Wahrheit erhebt; ob er dem Denken, das jeder menschlichen Tätigkeit innewohnt, einen instrumentellen und praxistischen Charakter zugesteht und es damit auf bloße Technik einschränkt, oder ob er es mit ontologischer Tragweite und mit ­einer offenbarenden Fähigkeit ausstattet und zur Wahrheit hin öffnet. Als nicht-objektivierbar verlangt die Wahrheit nach Freiheit und Entscheidung, weil es nicht darum geht, ein bestimmtes Objekt wiederzuerkennen, sondern eine gestaltlose Anwesenheit zu bestimmen – dies aber stellt den Menschen in die Verantwortung, die Wahrheit persönlich zu formulieren. Darüber hinaus fällt die Offenbarung der Wahrheit, indem sie den Mut miteinschließt, der Wahrheit eine eigene Formulierung zu geben, und damit eher den Charakter eines Zeugnisses als den einer Entde-

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ckung annimmt, mit der Entscheidung für das Sein zusammen; d. h. sie fällt mit der Ausübung jener radikalen und tiefen Freiheit zusammen, durch die man das Sein zum Ziel einer Zustimmung oder einer Ablehnung macht. Es handelt sich gewiss um jene ursprünglichste Freiheit, in der die Gabe des Seins immer innen ist, so wie die Wahrheit immer der ihr gegebenen Interpretation innenliegt, in dem Sinne, dass insofern es keine Interpretation gibt, wenn nicht die von der Wahrheit, es ebenso keine Freiheit gibt, ohne die Gabe des Seins. Wegen dieser Freiheit ist der Mensch initiierte Initiative (iniziativa iniziata), sich selbst gegeben wie auch sich selbst gebend, Selbstverhältnis und Fremdverhältnis in einem, Zusammentreffen von Empfang und Ausübung der Freiheit, Synthese von Empfänglichkeit und Tätigkeit, Antwort auf einen Appell, schöpferischer Gehorsam (obbedienza crea­trice); Freiheit, durch die der Mensch sich in seinem Sein verdoppelt, in dem Sinne, dass er gleichzeitig ist und seinem Sein zustimmt, zugleich ist und das Sein empfängt, zugleich in einem Bezug zum Sein steht und dieser Bezug selbst ist. Aber es handelt sich auch um jene nicht minder ursprüngliche Freiheit, durch die der Mensch in Bezug auf das Sein zwischen Zustimmung und Ablehnung wählt, und zwar mit einer grundlegenden und tiefgreifenden Wahl, die alle bewussten und bestimmten Entscheidungen ermöglicht, so dass die Zustimmung, die in der bewussten Bestätigung des eigenen Seins besteht, offenbarende Öffnung zur Wahrheit und Treue zum Sein ist, während die Ablehnung, die sich oft im Unbewussten abspielt, der bewusste und bedachte oder der unbewusste und geheime Weg der Seinsvergessenheit und des Verrats der Wahrheit ist. Hier finden wir den zweiten Charakter des offenbarenden Denkens, in dem das Verhältnis von Theorie und Praxis das praktische Element ohne ungehörige Übertreibungen annimmt: Es ist ein Zeugnis; ein Zeugnis, welches die Alternative zwischen Wahrheit und Technik auf die Wahl der Wahrheit und welches die in der Offenbarung der Wahrheit notwendigerweise implizierte Freiheit auf die Entscheidung für das Sein zurückführt.

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Das Zeugnis ist so Einheit von Theorie und Praxis, doch ist es eine ursprüngliche Einheit, die jeder Unterscheidung vorausgeht und so vor der Gefahr geschützt ist, sich auf scharfe Entgegenstellung zu versteifen und Reduktion des einen Aspekts zugunsten des anderen zu betreiben.

6.  Falsches Bewusstsein und Mystifizierung im ideologischen Denken Der konstituierenden Geschichtlichkeit und dem Pragmatismus des ideologischen und ausdrückenden Denkens stehen also die Begriffe der Interpretation und des Zeugnisses gegenüber, die das offenbarende und philosophische Denken charakterisieren. Ich werde nun einige Punkte vertiefen, die, während sie mit neuer Deutlichkeit den Unterschied zwischen Ideologie und Philosophie sichtbar machen, die Haltung des offenbarenden Denkens im Gegensatz zur Vielfältigkeit der Ideologien offenlegen werden. Vor allem wenden wir uns dem Problem der »Mystifizierung« zu. Mit der Geschichtlichkeit des ausdrückenden Denkens ist notwendigerweise jener Charakter der Mystifikation verbunden, den die Geschichte des Ideologiebegriffs im 19. Jahrhundert immer weiter getrieben hat, bis hin zu seiner Typisierung. Zum Begriff des ausdrückenden Denkens selbst gehört die Unter­schei­ dung zwischen einem bewussten und expliziten Denken und ­einer tiefen und verborgenen Wirklichkeit und damit genauso eine Unterscheidung zwischen der ausgedrückten Bestimmung und der geheimen Motivation, so dass die ausdrückende Tragweite des Diskurses bezüglich einer gegebenen Situation nur entsprechend der Entdeckung dieser verschwiegenen und maskierten Bedingungen verstanden werden kann. Bekanntlich handelt es sich hier nicht mehr um den vereinfachenden Heuchelei-Vorwurf der Aufklärer, mit dem damit verbundenen und altbekannten rhetorischen Ballast der Aufklärung, die die »Lügen der

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Priester« entlarvte (»notre crédulité fait toute leur science«11). Denn die »Lüge« geht tiefer; sie ist dem bewussten Berechnen entzogen und hinabgesunken auf die Ebene des Unbewussten, dabei nicht auf einzelne Auffassungen und Motivationen beschränkt, sondern ausgedehnt auf die Ableitung des Denkens aus seinen geschichtlichen Bedingungen. Die Erklärung, die man vom Unbewussten gibt, muss so auch die Gleichzeitigkeit von Ausdruck und Maskierung erklären, der die Ideologie im Hinblick auf die Situation verfällt. Dazu genügt nicht die »Psychologie der Interessen«. Gerade im Bereich der Psychologie ist die Psychoanalyse weiter vor­ gedrungen, indem sie indirekte Wege aufgezeigt hat, anhand derer die instinktiven Bedürfnisse zum Bewusstsein zu kommen versuchen – wie z. B. Lapsus, Fehlleistungen, das Traumgeschehen –, und durch das Auffinden von unbewussten Mechanismen zur Selbstverteidigung des Ichs, wie etwa Abwehr, Verdrängung, Projektion, Rationalisierung; das sind alles Mechanismen, die durch ihre Unbewusstheit dem Ausdruck die Form der Maskierung verleihen und in der Maskierung einen Wert des Ausdrucks anzeigen. Diese notwendig unbewusste Untrennbarkeit von Ausdruck und Maskierung wird von Nietzsche dahingehend theoretisiert, dass die verbergende Funktion wesentlich für die Vernunft ist, die als Instrument des Willens zur Macht durch eine spontane und unbewusst fabulierende Tätigkeit jene Fiktionen produziert, die durch Verfälschung und Deformation der Wirklichkeit die Triebe gerade im Akt des Verbergens manifestieren. Dies geschieht durch Ersetzung wahrer Motive durch akzeptable, so dass jede geistige Gestalt zwei Bedeutungen hat: eine bekannte, offensichtliche und unmittelbare im Unterschied zu einer anderen verborgenen, geheimen und versteckten. Gerade aufgrund dieser Differenzierung konnten einige Psychologen eine schizophrene Interpretation des ideologischen Diskurses offenlegen. 11 Voltaire, Oedipe, Akt IV, Sz. 1.

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Derselbe soziologische Historismus weist auf die »Seinsverbundenheit« als Schlüssel zur Erklärung des Prozesses der ideologischen Deformation hin, und zwar in dem Sinne, dass »das vorstellende und denkende Subjekt die Inkongruenz seiner Vorstellungen mit der Wirklichkeit deshalb nicht entdecken kann, weil die Gesamtaxiomatik seines historisch und sozial bestimmten Denkens so gelagert ist«.12 Hieraus ergibt sich das scheinbare Paradoxon eines anachronistischen Denkens, das seine ­eigene Zeit ausdrückt, was offensichtlich nur in Form einer Kaschierung geschehen kann. Denn als Anachronismus maskiert und deformiert es, insofern es aber unbewusst geschichtlich bestimmend ist, wird es sie ausdrücken und repräsentieren. Eine Typologie der verschiedenen Formen der Maskierung, durch die der Mensch seine Instinkte im Akt der Rechtfertigung seiner Befriedigung mit scheinbarer Rationalität versteckt, ist in der bekannten Theorie der Rückstände und Ableitungen von Vilfredo Pareto dargelegt. Demgegenüber erkennt Hans Kelsen – indem er Ideologien als widersprüchlich beurteilt, weil sie die Wirklichkeit gerade im Akt ihrer teilweisen Widerspiegelung maskieren – immer noch die Untrennbarkeit von Ausdruck und Verstellung, die sich aus einer notwendigen Unbewusstheit (incoscienza) ergeben muss. Für Marx, den tiefgründigsten Theoretiker und luzidesten Darsteller dieser Problematik, liegt »Falschheit« noch tiefer als auf der Stufe der Unbewusstheit (incoscienza). Sie nistet sich ins Prinzip des ideologischen Denkens selbst ein, denn sie stammt aus jener fundamentalen Entfremdung, die die Ursache für die Notwendigkeit der Unbewusstheit (incoscienza) selbst ist. Aufgrund einer Verfremdung verfälscht und deformiert das Denken die geschichtliche Wirklichkeit, denn es ist ihr »falsches Bewusstsein«, obwohl es nicht aufhört, von ihr produziert zu sein, und sie somit ausdrückt und darstellt.

12  K. Mannheim, Ideologie und Utopie, Cohen, Bonn 1929, 173.

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Das Denken, das sich seines eigenen materiellen Ursprungs nicht bewusst ist, ist sich auch seiner eigenen Natur nicht bewusst. Es glaubt und fordert also, auf sich selbst gegründet zu sein, und stellt sein eigenes Produkt als Wirklichkeit dar; das aber heißt, es verwandelt die Dinge in Ideen, und nachher betrachtet es sie als Dinge: Es hypostasiert seine reinen idealen Produkte und mit diesen verdeckt und verstellt es die Wirklichkeit in ­einem Prozess der Skotomisierung, der umso stärker ist, je tiefgreifender der Prozess der Hypostasierung war. Da es sich der Wirklichkeit, die es widerspiegelt, nicht bewusst ist, drückt es sie auf eine unangemessene und unzureichende, ja sogar auf eine illu­sorische und deformierende Weise aus und ist somit konstitutiv mystifizierend. Das falsche Bewusstsein ist daher eine Art von tiefer böser Absicht, durch die gerade das Verbergen, Verdecken und Verstecken eine ausdrückende Funktion erhalten und die Transformation sich nur als Deformation erweist, bei der die Repräsentation den Anschein einer Verkleidung annimmt, so dass man das Geschichtliche ins Ewige, das, was partikular und einzeln ist, ins Universale und Totale schiebt, und das, was materiell ist, als rational ansieht. Daraus ergibt sich der grundlegende Zug der ideologischen Mystifikation: Die Existenz eines Unterschieds zwischen dem Expliziten und dem Verborgenen, dem Ausgesprochenen und dem Unausgesprochenen, dem Oberflächlichen und dem Tiefgründigen wird als Diskrepanz zwischen dem Scheinbaren und dem Realen, dem Falschen und dem Wahren dargestellt. Daraus entspringt die Notwendigkeit der Entmystifizierung. Unbewusstheit des eigenen geschichtlichen Ursprungs; Unfähigkeit, sich selbst als das zu bezeichnen, was man ist; Illusion und Anspruch der Unbedingtheit; Hypostasierung der eigenen Produkte und Verleugnung der Wirklichkeit; verewigende, universalisierende und rationalisierende Mystifizierung; Abweichung des ausgesprochenen vom verborgenen Sinn: Eben das ist der komplexe Mechanismus der ideologischen Mystifizierung, der von Marx theoretisch vorgestellt wurde.

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Dass die Mystifizierung eine notwendige Folge der Geschichtlichkeit des ausdrückenden Denkens ist, zeigt sich an der Tatsache, dass der Verlust der ursprünglichen Bindung an die Wahrheit das Denken unweigerlich zu einer Art Degradierung verurteilt. Indem die Geschichtlichkeit das Denken der Wahrheit beraubt, die sein natürliches Element ist, betreibt sie eine Entleerung der Vernunft, überlässt sie ihrer bloßen Diskursivität und beraubt sie ihrer ontologischen Tragweite, d. h. sie reduziert Vernunft auf die leere Form des Diskurses und entzieht ihr die Quelle ihrer Inhalte. Abgetrennt von der Wahrheit behält das Denken nur den Anschein seines Offenbarungscharakters, das heißt eine leere Rationalität, deren Begriffe, um Bedeutung zu bekommen, auf den anderen Aspekt des Denkens verweisen müssen, und zwar auf seinen ausdrückenden Charakter. Das bedeutet, dass der Diskurs in die Lage versetzt wird, etwas anderes auszudrücken als das, was er sagt, und zwar dahingehend, dass der gehaltvolle Ausdruck, vom ausdrückenden Aspekt des Diskurses verstellt, unbewusst und verborgen wird, während gleichzeitig der rationale Apparat nichts anderes tut, als bloß die geschichtlichen Bedingungen, aus denen er hervorgeht, zu konzeptualisieren. Die wahrheitslose Vernunft verfinstert und maskiert also die geschichtliche Situation, statt sie zu klären, und gerade in dem Akt, in dem sie vollständig von ihr abhängt und ihre ganze Substanz von ihr ableitet, kann sie sie als nichts anderes ausdrücken als in der verstellten Form von Maskierung und Mystifizierung. Nun, das Denken von der Wahrheit abzulenken und es auf eine leere Rationalität zurückzuführen, ist also eine Aufforderung, seinen Sinn in etwas anderem als dem expliziten Diskurs zu suchen und seine auf den bloßen Schein reduzierte begriffliche Universalität dazu zu bestimmen, eine geheime Geschichte zu rationalisieren, indem man sie gleichzeitig ausdrückt und verbirgt. Geschichtlichkeit im radikalen und eminenten Sinn bedeutet daher notwendigerweise, von Mystifizierung und falschem Bewusstsein zu sprechen.

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7.  Falsifizierung der Zeit im ideologischen Denken Wenn das so ist, könnte man also denken, dass das ideologische Denken, soweit es ausdrückend und geschichtlich ist, die echte Wahrheit der Zeit enthält, und dass, um sie zu finden, eine angemessene Entmystifizierung genügen müsste und die wahre Bedeutung ans Licht bringen könnte, die im ausgesprochenen Diskurs verschwiegen wird. Aber allem gegenteiligen Anschein zum Trotz ist es nicht das bloß geschichtliche und ausdrückende Denken, das die Wahrheit über die Zeit sagt, denn es fehlt ihm der interpretative Charakter; Interpretation aber findet nur im onto­ logischen Denken statt, d. h. mit dem ursprünglicheren Band von Person und Wahrheit. Echte geschichtliche Verwurzelung und authentischer ontologischer Bezug sind mit dem ursprünglichen Band von Person und Wahrheit unzertrennlich: deshalb verliert die von der Wahrheit entleerte Idee, nämlich die von Seinsvergessenheit geprägte, auch ihren wahren Kontakt mit der Geschichte, und wird so nicht nur zum Prinzip der Maskierung des Realen, sondern auch zum Grund der Verfälschung der Zeit. Es kann keinen wahren Kontakt mit der Geschichte ohne Kontakt mit der Wahrheit, noch eine Interpretation der Zeit ohne das offenbarende Denken geben: Geht die ontologische Einwurzelung verloren, verfälscht sich auch die geschichtliche Verwurzelung, und der Ausdruck der Zeit nimmt einen falsifizierenden Charakter an. Das von der Wahrheit entleerte Denken kann somit auch nicht die Wahrheit über die Zeit sagen. Und zu sagen, dass ein solches Denken, wie wahrheitslos es auch sein mag, dennoch voller Zeit ist, nützt nichts; er ist sicherlich voller Zeit, aber verfälschter Zeit. Das ideologische Denken, insofern es eine auf leerer Rationalität und rein formaler Diskursivität basierte Denkfigur ausarbeitet und zum Tragen bringt, ist Fälschung der Wahrheit, und gerade als Fälschung der Wahrheit ist es auch Fälschung der Zeit. Auch wenn es mit der geschichtlichen Situation übereinstimmt, enthält dieses Denken nicht die Wahrheit über die Zeit, denn der aus-

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gesprochene Diskurs in ihm maskiert das, was dort ausgedrückt wird, und verfälscht es also, und das geschieht gerade deshalb, weil es nichts anderes ist als Ausdruck der Zeit. Man sollte auch nicht glauben, dass die Suche des wahren Sinnes des Ausgesprochenen im Mitgemeinten bedeuten könnte, die Wahrheit zu finden: Die Ideologie ist so radikal verfälschend, dass ihre Entmystifizierung eine Denunziation ist, nicht aber eine Bewahrheitung. Keineswegs lässt sich die Unterscheidung zwischen Scheinbarem und Realem, Ausgesprochenem und Mitgemeintem, Erklärtem und Geheimem, Offensichtlichem und Verborgenem auf die Unterscheidung zwischen wahr und falsch zurückführen. Gewiss, es gibt kein anderes Verständnis der Ideologie als die Entmystifizierung, denn diese reduziert sie auf die Zeit, deren Produkt, Ausdruck und Maskierung sie zugleich ist; aber das bedeutet nicht, die Wahrheit zu finden, sondern schwache und trübe Surrogate der Wahrheit, d. h. die »Wahrheit« der reinen Geschichtlichkeit als Angleichung der Idee an die Situation; die »Wahrheit« des falschen Bewusstseins als Entmaskierung, die die tiefe Motivation verrät; die pragmatische und technische »Wahrheit« als Effizienz der Handlung und experimentelle Wirksamkeit. Die Ideologie kann also nicht zu einem authentischen Wissen gelangen oder ein echtes Zeitverständnis liefern, denn es kann keine Interpretation der Zeit außer im Rahmen der Interpretation der Wahrheit geben, d. h. in einem Denken, das – um ontologisch und offenbarend zu sein – im eigentlichen Sinne philosophisch ist. Nur mit der Unterscheidung zwischen ausdrückendem und offenbarendem Denken kann man also den Grund der Mystifizierung verstehen; die sogenannten entmystifizierenden Auffassungen vermochten diese letztlich nicht zu erklären. Dass die Unbewusstheit (incoscienza) nicht ausreicht, um die Gleichzeitigkeit von Ausdruck und Maskierung zu erklären, weil sie ihrerseits ­eines weiteren Grundes bedarf, hat Marx treffend gezeigt, indem er einen solchen Grund mit Entfremdung identifiziert hat. Marx hat gut daran getan, die ideologische Mystifikation zu denunzieren, sie auf Entfremdung zurückzuführen und diese als

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Trennung des Denkens von der Wirklichkeit zu begreifen. Die wahre Entfremdung ist jedoch Seinsvergessenheit und der Verlust von Wahrheit, also genau das, was das ausdrückende oder ideologische Denken vom offenbarenden oder philosophischen Denken unterscheidet. Die wahre »Entfremdung« ist die Trennung des Menschen vom Sein und die Spaltung des ursprünglichen Bandes von Person und Wahrheit, die ontologische Geschlossenheit und der Verzicht auf Interpretation: Mit seiner Freiheit verwirft der Mensch das Sein und verzichtet auf Wahrheit. So identifiziert er sich einerseits mit seiner eigenen Situation und reduziert sich auf ein bloßes geschichtliches Produkt und ersetzt somit seine eigene Freiheit durch seine eigene »Verdinglichung«; andererseits macht er sich unfähig, seine eigene Situation in eine Öffnung zum Sein und einen Weg zur Wahrheit zu verwandeln, und ersetzt die Interpretation, die das tiefe Wesen des Denkens ist, durch Abstraktion, nämlich die »Veräußerlichung« des eigenen Denkens. Nur der Gegensatz von offenbarendem und ausdrückendem Denken erklärt also die ideologische Mystifizierung, und nur offenbarendes Denken spricht auch die Wahrheit über die Zeit aus, wie Giambattista Vico bestätigt. Dessen Denken könnte uns heute dazu einladen, die Mystifizierung durch den Mythos, die Maskierung der geschichtlichen Wirklichkeit von Seiten des Denkens durch die Anwesenheit der vis veri in den ­Fabeln, die momentane und flüchtige Geschichtlichkeit der Ideologie durch die Beständigkeit des gemeinen Menschenverstandes und der Tradition, und die Verkleidung und Verstellung unserer Interessen durch ihre Verklärung und Sublimierung zu ersetzen. Wie weit die Philosophie als ontologisches Denken und Offenbarung der Wahrheit vom ideologischen Denken als ausdrückendem Denken und einer Mystifizierung der Realität entfernt ist, zeigt sich an dem Abstand, der Vico von Marx trennt. Denn für Vico ist die Idee in der geschichtlichen Wirklichkeit nicht Produkt, sondern Anregung, kein Reflex, sondern Modell, nicht Maskierung, sondern Erhebung. Zwischen Marx und Vico wird

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der Lauf geradezu umgekehrt. Denn während Marx sich bemüht, das »Irrationale« unter der Rationalität zu finden, beabsichtigt Vico, die Vernunft im »Irrationalen« aufzuzeigen, das wirkende Wahre auch in den elementarsten Äußerungen menschlicher Tätigkeit aufzufinden, so dass, während ersteres an jene Philosophie des Mitgemeinten gebunden bleibt, die letztlich ohne Entwicklung verbleibt, letzteres den Weg zu jener Philosophie des Ausgesprochenen öffnet, die so reich an Möglichkeiten, Erklärungen und Hinweisen für das Leben des Menschen ist. Die Anwesenheit der vis veri im Mythos, im gemeinen Menschenverstand und in der Tradition ist das, was der Mystifizierung am schärfsten entgegensteht. Denn sie besteht nicht darin, dass ein Denkapparat die geschichtliche Wirklichkeit und die materiellen Bedingungen maskiert, sondern in der Tatsache, dass die Wahrheit in ­einer inchoativen, aber nicht weniger wirksamen Weise schon innerhalb der grundlegendsten Äußerungen der Menschheit wirkt: Die Poesie ist die erste wirkende Äußerung der vis veri; die »gemeinen Traditionen« (tradizioni volgari) beinhalten »öffentliche Motive des Wahren« (pubblici motivi di vero), und der gemeine Menschenverstand bietet ein solches »Kriterium der Wahrheit«, demgegenüber »die Volksweisheit keine sicherere Regel für die zivile Klugheit« hat (»non ha la sapienza volgare regola più certa per la prudenza civile«). Die Verdunklung des Wahren geht also nicht vom Denken aus, sondern von der Unwissenheit, die uns »das Wahre unter der Decke des Falschen erreichen« lässt (ci fa »pervenire il vero ricoverto di falso«); und es handelt sich nicht um Maskierung, sondern um die Sublimierung des Interesses, denn die Idee wirkt nicht, um die Interessen zu verdecken, sondern um aus einem Laster eine Tugend zu machen.

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8.  Vollständige Explikation des Verschwiegenen und unendliche Interpretation des Mitgemeinten Man könnte nun aber auch meinen, dass der Unterschied zwischen Ideologie und Philosophie nicht so groß ist, da es sowohl im ausdrückenden als auch im offenbarenden Denken eine Aufsplitterung (sfasamento) zwischen dem Gesagten und dem Nicht-Gesagten gibt, weil in beiden das Wort auf etwas nicht Explizites verweist, das den wirklichen Sinn des Diskurses enthält. Doch der Unterschied könnte nicht größer sein, denn der Abstand zwischen Gesagtem und Nicht-Gesagtem stellt sich im ersten Fall als Divergenz zwischen dem Expliziten und dem Verschwiegenen dar, im zweiten Fall als Kluft (scarto) zwischen dem Expliziten und dem Mitgemeinten. Im ausdrückenden Denken sagt das Wort nicht alles, weil es den zeitlichen Grund, der sich hier verborgen ausdrückt, maskiert; und im offenbarenden Denken sagt das Wort nicht alles, weil die Wahrheit, die ihm innewohnt, unerschöpflich ist und sich nur in der Form gibt, in der sie weiter aufgesucht werden muss. Im ersten Fall – da ein Unterschied zwischen Sagen und Ausdrücken besteht – offenbart das Wort nicht, sondern verbirgt, und zwar so, dass es eines sagt, aber etwas anderes bedeutet. Bedeutsam ist hier nicht das Explizite, sondern das Mitgemeinte, das mit dem ersten nichts zu tun hat, so dass Verstehen bedeutet, einerseits das Explizite vollständig loszuwerden und andererseits das Mitgemeinte als solches zu vernichten und seine vollständige Explikation zu erreichen. Im zweiten Fall – da es ein Zusammenfallen von Sagen, Ausdrücken und Offenbaren gibt – offen­ bart das Wort die Wahrheit, aber als unerschöpflich, und somit ist es aussagekräftig nicht nur durch das, was es sagt, sondern auch durch das, was es nicht sagt. Das Explizite ist so bedeutend, dass es als ein kontinuierliches Ausstrahlen von Bedeutungen erscheint, das unaufhörlich vom unendlichen Reichtum des Mitgemeinten genährt wird, so dass Verstehen bedeutet, das Ausge-

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sprochene zu vertiefen, um den unerschöpflichen Reichtum des Mitgemeinten mit einzufangen, ohne jemals zu einer vollständigen Explikation zu gelangen; dies aber trifft aufgrund der Überfülle von Wahrheit zu – jedoch eben nicht wegen eines Mangels an Worten, im Gegenteil, das Explizite ist fähig, ein Unendliches zu besitzen –, also aufgrund einer Prägnanz von Offenbarungen, die sich trotz wachsender Anzahl keineswegs einer totalen Manifestation annähern kann, denn ebendas ist an sich unmöglich. Daraus folgt, dass die Mystifizierung, gerade weil sie das Verschwiegene mit dem Expliziten überdeckt und das Nicht-Gesagte als ein einfaches, verstecktes Verschwiegenes begreift, einer vollständigen Explikation nicht nur nicht entgegensteht, sondern diese sogar fordert und verlangt; während die Offenbarung, gerade weil sie dem Expliziten mehr Bedeutung beimisst als es seiner eigenen Ausdrücklichkeit zukommt und das Nicht-Gesagte als den endlichen Reichtum des Mitgemeinten versteht, sich somit jedem Versuch einer totalen Explikation entzieht. Im ersten Fall besteht das Verhältnis zwischen dem Expliziten und dem Verschwiegenen darin, dass das Letztere fortschreitend und endgültig das Erstere ersetzen muss. Im zweiten Fall besteht das Verhältnis zwischen dem Expliziten und dem Mitgemeinten darin, dass die Bedeutung des Ersteren von der Unerschöpflichkeit des Letzteren konstituiert wird. Das Verständnis einer Ideologie reduziert sich also auf die Entmystifizierung, d. h. es besteht nur im Entlarven des durch den Diskurs verborgenen Ausdrucks und in der endgültigen Ersetzung des Verschwiegenen durch das Explizite. Umgekehrt ist das Verstehen einer Philosophie eine wahre und eigentliche Interpretation, denn sie besteht in der unaufhörlichen Vertiefung eines Diskurses, der durch eine unendliche Anwesenheit sich als unerschöpflich erweist. Diese Unterscheidung sollte dasjenige beseitigen oder zumindest einschränken, was zu einer der Sehnsüchte der heutigen philosophischen Geschichtsschreibung geworden ist, die sich fast ausschließlich auf Nietzsches »Kunst des Misstrauens« und

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»Schule des Verdachts«13 stützt. Diese hindern den Interpreten daran, den expliziten Diskurs genauer in Betracht zu ziehen, und verführen dazu, die philosophischen Theorien einer Art psychoanalytischer Behandlung zu unterziehen, mit der jedoch keine Theorie hinsichtlich dessen betrachtet wird, was sie sagt, sondern dessen, was man vermutet, dass sie unbewusst und heimlich ausdrücke. Diese Behandlungsweise, die für das ideologische und ausdrückende Denken im Allgemeinen sehr geeignet ist, gilt gerade nicht für echtes philosophisches Denken, mit dem doch das Vorhandensein des Nicht-Gesagten – weit davon entfernt, jene Explikation des Verschwiegenen zu berechtigen, die letztlich der Beweis der Falschheit des ausdrückenden Denkens ist – eben jene Interpretation des Mitgemeinten verlangt, die das sichere Zeichen für die Tiefsinnigkeit des offenbarenden Denkens ist. Mit einer entsprechenden philologischen und historischen Vorbereitung, aber ohne historizistische Bedenken, soziologische Besorgnisse oder kulturalistische Vorurteile müsste man sich daran machen, die Philosophen so zu lesen, wie man die Bibel liest. Das aber heißt, man sollte sie für das lesen, was sie explizit und erklärtermaßen sagen, und man sollte nur darum besorgt sein, nicht der unendlichen Tiefe ihres Wortes entsprechen zu können, d. h. man sollte zugleich auf Buchstaben und Geist achten, auf Deutlichkeit und Tiefe des Wortes, auf das, was es ausdrücklich sagt, und somit auf die unendliche Botschaft, die es enthält und verkündet; man sollte das eine nicht vom anderen trennen, indem man das Wort mit seiner Zeit relativiert und ihm keinen anderen Sinn gibt als den der Relativierung. An dieser Stelle ist eine Klarstellung angebracht, die für diejenigen wichtig ist, die Heideggers Werk aus der Sackgasse der negativen Ontologie herausführen wollen, zu der er leider und ­dabei unfruchtbarer Weise geführt hat. Die Tatsache, dass sich die Wahrheit einer vollständigen Explikation entzieht, sollte 13  F. Nietzsche, Die Unschuld des Werdens, hrsg. A. Baeumler, Frg. 1246; und Schule des Verdachts, in Menschliches, Allzumenschliches, KGA IV, II 7.

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nicht dazu zwingen, sie als unaussprechlich zu betrachten, als ob ihr natürlicher Sitz das Schweigen wäre, als ob ihre einzige Art, sich dem Wort mitzuteilen, die wäre, sich ihm zu entziehen, und als ob sie sich niemals offenbaren könnte, ohne sich zu verbergen, sei es, weil sie keine andere Möglichkeit hätte anwesend zu sein als die Abwesenheit, sei es, weil jede ihrer Erscheinungen letztlich deren Verrat wäre. Das Wort ist nur dann der unzulängliche Sitz der Wahrheit, wenn man es rationalistisch als totale Explikation versteht; nimmt man aber seine unendlichen Erschließungs­ potentiale in den Blick, so erscheint es als die angemessenste In­ stanz, um die Wahrheit aufzunehmen und sie als unerschöpflich zu bewahren. Ich bin mir der Bedeutung wohl bewusst, die dem Begriff der Unaussprechlichkeit der Wahrheit in der Philosophiegeschichte zukam, aber ich denke, dass sein Ziel nicht so sehr die Betonung des Schweigens als einzige dem Sein adäquate Erscheinungsform war als vielmehr, den Sinn für die Unerschöpflichkeit der Wahrheit zu wecken. Und in der Tat, wenn ich das Darüber-Hinaus (ulteriorità) des Seins und die Nicht-Objektivierbarkeit der Wahrheit betont habe, dann nicht, um ihre Unaussprechlichkeit zu behaupten, sondern um ihre Unerschöpflichkeit festzustellen, d. h. ihre Fähigkeit im Wort zu wohnen, ohne sich mit ihm zu identifizieren, sich stattdessen als Ressource zu halten, um sich jeder Formulierung übergeben zu können, ohne sich gänzlich in ihr zu erschöpfen, sich also in den Diskurs nur hinein zu begeben, um immer neue Bedeutungen auszustrahlen. Ich bin mir auch darüber im Klaren, dass die Unaussprechlichkeit nichts anderes als reine und einfache Umkehrung der vollständigen Explikation sein mag, und folglich könnte sie die Probleme, die mit dieser verbunden sind, nicht vermeiden. Man muss sich jedoch bewusst sein, dass die einzige Möglichkeit, die Wahrheit zu besitzen und zu bewahren, gerade darin besteht, sie als unendliche anzunehmen: Das, was nicht als unerschöpflich aufgefasst wird, kann nicht Wahrheit sein. Die Offenbarung der Wahrheit widersteht sowohl dem rationalistischen Ideal der totalen Explikation

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– weil es sich sonst nicht mehr um die unerschöpfliche Wahrheit handeln würde – als auch dem irrationalistischen Ergebnis der Unaussprechlichkeit – weil es sonst eben keine Offenbarung bzw. kein Besitz mehr wäre. Das offenbarende Denken setzt keinen Mystizismus des Unaussprechlichen voraus, sondern die Ontologie des Unerschöpflichen.

9.  Das Problem des Endes ideologischer Kämpfe wird weder vom soziologischen Historizismus noch vom historischen Materialismus gelöst Ein zweites und letztes Problem, dem man sich noch stellen muss, betrifft das Ende der ideologischen Kämpfe, das nach Ansicht vieler eine positive Tatsache im heutigen Leben darstellen solle. Diese Auffassung scheint wesentlich und hauptsächlich zwei Formen anzunehmen: die des soziologischen Historizismus und die des historischen Materialismus. Die erste schlägt auf der Grundlage eines im Grunde relativistischen Perspektivismus eine Entmystifizierung und Partikularisierung der Ideologien vor, die ihre Integration und Synthese ermöglichen könnte. Die zweite will auf der Grundlage einer Identifikation der Philosophie mit der Politik die Vielfalt der Ideologien auf eine entfremdete Vergangenheit beschränken. In beiden Fällen könnte die Vielheit der historischen Ideologien von der Totalität ihrer erwünschten Integration oder von der Einheit der endlich realen Philosophie ersetzt werden. Der Zusammenhang zwischen Partikularisierung und Integration wird vom soziologischen Historismus nicht richtig verstanden. Die Partikularisierung von Ideologien – d. h. das Bewusstwerden der Geschichtlichkeit nicht nur anderer Ideologien, sondern auch der eigenen – erfordert die Einnahme eines Standpunktes, der sich durch die Eliminierung von Ideologie als solcher logischerweise als höher zeigt als derjenige der jeweiligen Ideologien selbst. Man könnte aber fragen, welchen Sinn es noch

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haben könnte, dass der soziologische Historizismus von diesem überlegenen Standpunkt aus sich weder bemüht, die Integration der Ideologien weiter zu treiben, noch sich ihrer kritisch bewusst zu werden. Zunächst einmal kann das Bewusstwerden der Historizität der eigenen Ideologie praktisch nützlich sein, da es Motivationsgründe und unbewusste Überzeugungen der Kontrolle des Bewusstseins unterzieht; aber weit davon entfernt, die Ideologie zu bewahrheiten, zerstört eine solche Bewusstwerdung genau das, wofür die Unbewusstheit oder das falsche Bewusstsein wesentlich ist. Die Ideologie muss wie Wahrheit geglaubt werden, sonst wird sie zu einem Spielzeug für Gelehrte oder zum Hilfsmittel für Zyniker. Als Entlarvung verschwindet die Ideologie, weit davon entfernt, in einer vermeintlich neuen Wahrheit und Echtheit ihrer zu bleiben, und erfüllt nicht mehr ihre Funktion, die darin besteht, ein Instrument der Aktion zu sein, soweit sie unbewusster Ausdruck historischer Bedingungen ist. Dies bedeutet, dass die Bewusstwerdung der Geschichtlichkeit der Ideologien nur von einem Standpunkt aus erfolgen kann, der außerhalb der Ideologien liegt und ihnen übergeordnet ist. Worin aber dieser Standpunkt bestehen könnte, will und kann der soziologische Historizismus nicht sagen, weil er ohne kritische Rechtfertigung des eigenen Standpunktes nur in der Entmystifizierung endet: auf der einen Seite den historischen Bedingungen in ihrer schieren Pragmatik verhaftet, auf der anderen Seite dem begrifflichen Apparat mit seiner leeren Rationalität. Und wessen Integration will er? Die der nackten Interessen, die offenbar miteinander in Konflikt stehen und nur von einer Realpolitik geführt werden können? Die der leeren Ideen, die sinnlos und überflüssig gemacht wurden? Es fehlt die eigentliche Möglichkeit der Inte­ gra­tion, der Synthese und des Dialogs, denn es existieren keine integrierbaren, offenen und kommunizierenden Elemente. Der Marxismus leugnet mit der angestrebten Verwirklichung der Philosophie, dass Perspektiven, die sich ihrer eigenen Historizität bewusst sind, immer noch genug positiven Wert haben könnten, um ihre Integration wünschenswert zu machen. Dar-

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über hinaus bietet er einen kritischen Standpunkt an, von dem aus man gleichzeitig die geschichtliche Vielfalt der Ideologien, die Notwendigkeit ihrer Entmystifizierung und die Unvermeidbarkeit ihres Endes erklären kann – einen Standpunkt, der die Ankunft der Entfremdung bedeutet, d. h. die Einheit von Theorie und Praxis, von Bewusstsein und Wirklichkeit, die Verwirklichung / Abschaffung der Philosophie durch ihre Identifizierung mit der Politik. Der Marxismus fällt aber auch dem Problem zum Opfer, die Einzigartigkeit und Endgültigkeit einer Philosophie zu behaupten – einer pragmatisch realisierten und endgültig »weltgewordenen« Philosophie, die sich mit dem Prozess der Geschichte und des politischen Handelns identifiziert –, wodurch die Pluralität der Perspektiven und zugleich die Möglichkeit ­eines Dialogs abgeschafft wird. Der soziologische Historizismus und der historische Materialismus sind also immer noch an archaische philosophische Lösungen gebunden, denn ersterer rechtfertigt den Standpunkt nicht, von dem aus er die Pluralität der Perspektiven zusammenfassen will, während letzterer die Auffassung der Einzigartigkeit und Endgültigkeit der Philosophie nicht aufgibt. Ersterer hat in dem Begriff der Perspektiven sowohl die Ideologien als auch die Philosophien vereint; er hat diese Identifizierung in einer Weise zustande gebracht, dass ihm der kritische Standpunkt der Vielfalt der Perspektiven verloren ging, ein Standpunkt, der ihm nur von einem solchen philosophischen Denken angeboten werden kann, das sich deutlich von dem ideologischen unterscheiden lässt. Der Zweitgenannte aber hat zwischen Ideologie und Philosophie unterschieden und damit kritisch den Standpunkt erreicht, von dem aus man die Vielfalt der Ideologien betrachten könnte; aber er konnte dies nur tun, indem er die Philosophie mit der Praxis identifiziert hat, d. h. indem er Philosophie in Praxis aufgelöst und die Praxis selbst als Philosophie betrachtet hat. Das heißt aber immer noch, wenn auch unfreiwillig, die Philosophie als einzig und endgültig aufzufassen und folglich im Namen des praktischen Denkens die Natur des philosophischen Denkens zu

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verraten, die als solche die Pluralität der Philosophien erfordert. Entweder durch die unkritische Verwechslung von Ideologie und Philosophie oder durch die extreme Pragmatisierung der Philosophie haben beide letztlich das offenbarende und ontologische Denken auf ein historisches und technisches Denken reduziert und damit die Hoffnung zunichte gemacht, dass das Ende der Ideologien einen Dialog mit sich bringe, mit dem man Konflikte und Kampf schlichten könnte.

10.  Das Ende der ideologischen Kämpfe steigert die Technisierung des Denkens Tatsächlich bestehen Ideologien weiter fort und kämpfen heftig gegeneinander. Sogar die Idee einer Integration der Perspektiven wird selbst zu einer Ideologie, wenigstens in dem Sinne, dass sie sich des eigenen Programms bedient, um eine andere Ideologie, die es nicht übernimmt, zu kritisieren. Selbst der Marxismus präsentiert sich am Ende als Ideologie, ja er spaltet sich in eine Vielzahl von Ideologien auf, die sich sogar gegenseitig angreifen. Aber das ist Funktion und Schicksal von Ideologien. Sie sind geschlossene und ausschließende Systeme und stehen im Grunde genommen miteinander im Konflikt. Sie ertragen keine spekulative Kritik, kennen nur die Fehler der anderen und ignorieren jede Widerlegung, die nicht in Form eines Kampfes erfolgt. Sie stellen ihr eigenes Prinzip als unhinterfragbar dar und lassen keine anderen Prinzipien zu, deren Existenz also für sie keine Einladung zur Suche nach einer Kompatibilität ist, sondern nur ein Grund zur negativen Kritik. Die Vielfalt der Ideologien lehrt nicht Dialog, Kommunikation und Zusammenarbeit, sondern lässt – wenn sie nicht zu Kompromiss, Absprachen und Komplizenschaft rät – nur Kampf, Widerstand und Konflikt zu. Dies geschieht, weil Ideologien ihrer Natur nach totalisierend sind, das heißt, sie erheben den Anspruch, eine vollständige und totale Weltanschauung zu bieten. Dies hängt notwendigerweise

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mit ihrer Art zusammen, das Denken aufzufassen und auszuüben, insofern sie einem Ideal vollständiger Explikation gehorchen und dabei Wahrheit als restlos explikabel betrachten, nämlich als mögliches Objekt eines exklusiven Besitzes. Daher entsteht das Spektakel, dass jeder sich im ideologischen Bereich für den einzigen Besitzer der Wahrheit hält und alle anderen als Ideologen anklagt. Dies ist offensichtlich eine Verfälschung und eine Parodie der Interpretation von Wahrheit, die, obwohl sie einzig ist, in ihrer Unerschöpflichkeit alle Perspektiven, so unterschiedlich sie auch sein mögen, vereinigen und eine Vielfalt von ihnen gründen kann, die vom einfachen Kompromiss ebenso entfernt ist wie vom erklärten Kampf, die Mitmöglichkeit, Dialog und Kommunikation ist. Man könnte meinen, dass es für eine gesunde Zusammen­arbeit genügen würde, den Ideologien jenen totalisierenden Charakter zu nehmen, der sie zu einer Verfälschung und zugleich zum Surrogat von Philosophie oder Religion macht. Gerade das ist die Absicht des zeitgenössischen Soziologismus, wenn er einerseits, von der Auffassung von Wissenschaft als einem neutralen Denken ausgehend, wünscht, dass sich die politischen Programme durch eine politische Theorie oder eine Soziologie wissenschaftlicher Art gleichschalten ließen, und der andererseits, indem er in der immer technologischer werdenden Natur der heutigen Gesellschaft ein Einschlafen der ideologischen Kämpfe sieht, auch eine Technisierung des politischen Lebens voraussagt. Denn er glaubt so, zweierlei einrichten zu können: unter dem Schutzschild der Wissenschaft eine Art von unbestimmtem Liberalismus, der den Intellektuellen einen Primat sicherte, und unter dem Schutz der Technik ein politisches Leben, zwar frei von Mythen und Ideen, aber umso versierter in der Durchführung von Selbstkontrolle und Überprüfung. Es ist wohl gewiss, dass in einer Gesellschaft, die tatsächlich diese wissenschaftliche Neutralität und diese Technisierung der Politik anstrebt, Ideologien als totalisierende und ersetzende Auffassungen an Bedeutung verlieren und verschwinden könnten

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(schwach werden und aussterben würden) und sich somit auch der ideologische Kampf abschwächen und auslöschen müsste. Es ist aber zu bedenken, dass jede Theoretisierung doch immer aus einer spekulativen Absicht heraus erfolgt, wenn auch in einer inchoativen Form und mit prekärem Ausgang und folglich – wenn auch verfälscht – dennoch für eine spekulative Erlösung anfällig ist. Das ideologische und historische Denken selbst bedienen sich immerfort philosophischer Behauptungen, auch wenn es sich dabei um degradierte, entleerte und instrumentalisierte Behauptungen handelt. In diesem Zusammenhang kann man sehen, dass ein soziologisches Programm, das die »Neutralität« der Wissenschaft und der Technik anstrebt, nichts anderes bewirkt, als jene Technisierung der Vernunft zur Vollendung zu bringen, die zusammen mit der Historisierung des Denkens das ins Ex­ trem getriebene Ergebnis von Seinsvergessenheit und Verdunkelung der Wahrheit ist. Damit wird deutlich, dass der Punkt, den es zu treffen gilt, tiefer liegt. Wenn also die Verführungskraft der Ideologie zunimmt – wenn sie nicht sogar durch ihre totalisierenden Forderungen geradezu begründet wird –, muss man vor allem Missverständnisse über den ontologischen Charakter der Wahrheit und Verwirrungen zwischen offenbarendem und ausdrückendem Denken vermeiden.

11.  Nur die Philosophie als Hüterin der Wahrheit ermöglicht den Dialog Lassen wir also die Ideologien sich selbst begraben und wenden wir uns lieber der Bewahrung der Wahrheit zu. Hierbei müssen wir darauf achten, dass der Name »Ideologie« auf keine Weise, auch nicht indirekt, zur Qualifizierung des offenbarenden Denkens verwendet wird, und dass diesem vor allem keinerlei ideologische Funktion zugeschrieben wird. Erstens: Wenn die Ideologie ein einfaches Surrogat für die Philosophie ist, braucht man keine Ideologie, wo es Philosophie gibt.

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Der Hüter der Wahrheit braucht die Ideologie nicht und darf nicht einmal ihren Namen verwenden, auch nicht, wenn er den Unterschied angeben will, der ihn von den Anhängern irgend­ einer Ideologie trennt, wie es der Fall ist, wenn er achtlos von »ideologischen Unterschieden« spricht, die ihn von den anderen trennten. Wir haben es nicht mit »ideologischen Unterschieden« zu tun, sondern mit einer radikal anderen Weise, das Denken zu verstehen, das für die einen ausdrückend und für die anderen offenbarend ist. Den Namen »Ideologie« als gemeinsame Diskussionsplattform zu akzeptieren, heißt, das Spiel schon verloren zu geben, weil es bedeutet, von vornherein darauf zu verzichten, den grundlegenden Punkt der Divergenz zu verteidigen. Zweitens: Der Hüter der Wahrheit darf auf keinen Fall zulassen, dass die Philosophie zur Ideologie wird. Um Ideologien zu bekämpfen, reicht es nicht, die an sich nicht ideologischen Posi­ tionen von Philosophie oder Religion zu ideologisieren, so als ob sie auf diese Weise erfolgreicher in ihrem Kampf sein könnten. Im Allgemeinen bekämpft man eine Ideologie gerade nicht mit einer anderen. Die Philosophie ist nicht nur keine Ideologie, sondern hört vielmehr auf zu sein, was sie ist, wenn sie eine wird. Schon die Historisten und die Soziologen reduzieren alles Denken auf ausdrückendes und ideologisches Denken, sei es, dass sie dies aus wissenschaftlichen oder historiographischen Gründen tun, wie die verschiedenen Ideen- und Kulturhistoriker zeigen, oder sei es, dass sie dies aus rein politischen Gründen tun, wie Theoretiker und Praktiker der Politik. Sollten wir also, um Ideologien zu bekämpfen, zu dieser Verzerrung des philosophischen Denkens noch eine programmatische Ideologisierung der Philosophie hinzufügen? Selbst wenn das ausdrückende Denken das offenbarende Denken ersetzen will und die Ideologien zum Surrogat der Philosophie werden, sind das keine guten Gründe, warum die Philosophie sich von selbst zum Rang der Ideologie degradieren sollte oder warum man das offenbarende Denken ideologisieren müsste. Nur wenn die politische Ideologie die Philosophie nicht verdrängen will und nur wenn die Philosophie

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nicht direkt in die Politik eingreift, d. h. nur dann, wenn alles in seiner eigenen Funktion wiederhergestellt wird, ohne gegenseitige Invasionen und Verwirrungen der Bereiche, kann der Organismus die Gesundheit wiedererlangen. Es gibt keine guten Ideologien, mit denen man die schlechten bekämpfen kann. Alle Ideologien sind schlecht, und sie sind alle falsch, denn sie haben das Wesen des Denkens verraten. Den Kampf gegen die Ideologien kann man nicht auf der ideologischen Ebene führen, sondern nur auf der Ebene der Philosophie, die, um zu siegen, sich keineswegs zu ideologisieren braucht, denn in diesem Fall würde sie den Kampf unvermeidlich verlieren: Was bekämpft werden muss, ist nicht eine einzelne Ideologie, sondern das, was dem Begriff der Ideologie zugrunde liegt, nämlich die Ersetzung des offenbarenden und ontologischen Denkens durch das historische und pragmatische, ausdrückende und mystifizierende, instrumentelle und technische Denken. Die Philosophie braucht die Ideologie nicht, weil sie mit Ideologien radikal unvereinbar ist. In diesem Sinne gibt es keinen Übergang zwischen Ideologie und Philosophie: So wie die Ideologie sich nicht in die Philosophie verwandeln kann und darf, auch wenn sie versucht, sie zu ersetzen, so kann und darf sich auch die Philosophie nicht in die Ideologie verwandeln, auch wenn sie sich dem Kampf gegen sie verschreibt. Die Philosophie aber, auch wenn sie sich dem Versuch einer eige­nen Ideologisierung entzieht, verzichtet dennoch nicht darauf, in der Welt zu wirken. Der Philosoph als solcher ist kein Theoretiker der Enthaltung (disimpegno), wie man meint, wenn man ihn einer Flucht anklagt: Sich für die Wahrheit zu entschließen, erfordert mehr Mut, als den äußerlichen Erfolg zu wählen. Das offenbarende Denken fordert einen ursprünglichen Einsatz, um dem Sein zuzustimmen, anstatt es abzulehnen, und um zu akzeptieren, vom Sein Zeugnis zu geben, anstatt es der Geschichte zu opfern. Es fordert das klare Bewusstsein, dass es je an der Zeit ist, sich würdig zu machen, um dem Ewigen zuzuhören und eben nicht dem Ewigen zuzumuten, sich von der Zeit hören zu lassen.

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Es fordert eine radikale Entscheidung, aus der eigenen Person in einer für die Zeit annehmbaren Weise ein Organ der Wahrheit zu machen, und nicht zu einem Propagandisten jener ideellen Mächte, die die Zeit beherrschen und deren Produkt er ist. Man wird zum Verkünder einer Erneuerung, die vor allem persönlich ist, statt zum Propheten einer bloß irdischen Wiedergeburt. Gewiss, wenn man, um die Ideologie zu bekämpfen, die Philosophie ideologisieren muss, d. h. auf den Philosophen als solchen verzichten und ihn nur insoweit als wirklichen Philosophen betrachten will, als er zu einem politischen Kämpfer wird, dann ist der Kampf bereits verloren, denn damit ist die Wahrheit kompromittiert, insofern man riskiert, ein dem Moment angepasstes Denken und erfolgsorientiertes Handeln der Wahrheit vorzuziehen. Diesen Kampf kann man jedoch nur auf der philosophischen Ebene gewinnen. Ebenso wahr ist auch, dass die besten Verbündeten des panpolitischen Praxismus die sogenannten Theoretiker des »Einsatzes« sind, die, gerade indem sie die Verteidiger der offenbarenden und ontologischen Funktion des Denkens der Flucht anklagen, letztlich die Technisierung der Vernunft herbeiführen, was genau zum Ziel der Praxisten führt. Außerdem ist es gerade die Philosophie als ontologisches und offenbarendes Denken, die jenen Dialog ermöglicht, den das mystifizierende und instrumentelle Denken der Ideologien nicht nur nicht erlaubt, sondern sogar ausschließt; daher kommt die ausschließende und polemische Kraft der historischen und technischen Vernunft gegenüber der vereinigenden und zusammenarbeitenden Kraft des ontologischen und offenbarenden Denkens. Die Wahrheit als unerschöpfliche bietet sich unendlichen Interpretationen an, die sie alle persönlich anregt und alle gleichzeitig für den Dialog öffnet. Das Partikulare hingegen, so sehr es sich seiner eigenen Geschichtlichkeit und Parteilichkeit auch bewusst sein mag, wird sich niemals der Kompatibilität einer Vereinbarung oder der Eröffnung einer Kommunikation anbieten. Es gibt hier ein scheinbares Paradoxon: Es scheint, dass die Philosophien auf ausschließende Weise miteinander im Kampf ste-

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hen müssten, weil sie ganzheitlich sind, während sie doch im Gegenteil gerade mit-möglich sind, insoweit sie aus einer Wahrheit schöpfen, die als unendliche alle Interpretationen überhaupt erst zum Dialog bringt; und es scheint so, als ob die Ideologien mit-möglich sein könnten, weil sie partiell und daher integrierbar seien; im Gegenteil aber ist es gerade ihre Partialität, als Totalität verschleiert, die der Grund ihres ununterbrochenen gegenseitigen Kampfes ist. Die Aktion aber, die die Philosophie in der Welt betreiben kann, ist die Verwirklichung des Dialogs; dieser ist auf der ideologischen Ebene jedoch nicht möglich, insofern einerseits die Anerkennung der Vielfalt der Perspektiven es unmöglich macht, eine einzige einnehmen zu können, während andererseits die Annahme eines einzigen Standpunktes den der anderen ausschließt. Die »totalisierenden« Tendenzen der Philosophie zu kritisieren und ihnen eine »Öffnung« entgegenzusetzen, heißt – auch wenn man es leugnet – einem Ideal der ontischen Metaphysik und der rationalistischen Explikation verhaftet zu bleiben. Der Begriff des offenbarenden Denkens als persönliche Interpretation der unerschöpflichen Wahrheit korrigiert ein extrinsisches Konzept der Vielfalt durch einen tieferen Begriff von Singularität, in dem sich Totalität und Pluralität versöhnt finden. So ist es auf der Ebene der Philosophie möglich, eine Philosophie der Philosophie zu betreiben, während es auf der ideologischen Ebene unmöglich ist, eine Ideologienlehre zustande zu bringen. In der Tat entsteht die Philosophie als Bewusstsein des ontologischen Bezuges, in dem die Verbindung mit der Wahrheit total ist und die Formulierung, die von ihr gegeben wird, persönlich ist. Das ontologische Denken ist das einzige, das es dem philosophischen Denken erlaubt, sowohl Philosophie der Philosophie zu sein, d. h. einen kritischen Standpunkt zu haben, der – sich der Vielheit der Philosophien bewusst und durch diese gerechtfertigt – die Persönlichkeit, Andersartigkeit und Intersubjektivität der Perspektiven anerkennt, als auch zugleich selbst Philosophie zu sein, d. h. Stellungnahme, Ablehnung einer pseudowissen-

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schaftlichen Neutralität, persönliche und verantwortete Formulierung der Wahrheit. Nur in der Philosophie ist es also möglich, andere Philosophien anzuerkennen und zugleich eine von ihnen zu ergreifen, und damit wahrhaft diese Perspektiven für einen orga­nisch-umfassenden Dialog zu öffnen.

Ergänzungen In diesem Kapitel wurden alle wichtigen Theorien zum Ideologie­ begriff berücksichtigt und oft explizit diskutiert: die mittlerweile klassischen Texte der Ideologen wie Karl Marx, Friedrich Engels und Max Scheler und der Wissenssoziologen wie Karl Mannheim und Vilfredo Pareto. In Bezug auf den Marxismus verweise ich insbesondere auf die Beiträge von Karl Korsch, Ernst Bloch, Kostas Axelos; unter den Soziologen auf die Interpretation von R. K. Merton, Social Theory and S ­ ocial Structure (1957) und von Werner Stark, The Sociology of Knowledge (1958) und natürlich auf den Beitrag der Frankfurter Schule mit den Arbeiten von Max Horkheimer und Theodor Wiesengrund Adorno in den »Frankfurter Beiträgen zur Soziologie«. Zum Problem der Ideologie im Allgemeinen beschränke ich mich auf folgende Verweise: Hans Barth, Wahrheit und Ideologie (Erlenbach-Zürich: Rentsch, 1945, 1961); Leo Kofler, Marxismus und Sprache (Köln: Verlag für politische Publizistik, 1952); Hans Joachim Lieber, Wissen und Gesellschaft (Tübingen: Niemeyer, 1952); Theodor Geiger, Ideologie und Wahrheit (Stuttgart: Humboldt-Verlag, 1953); Helmut Plessner, Zwischen Philosophie und Gesellschaft (Bern: Francke, 1953); Werner Knuth, Ideen, Ideale, Ideologien (Hamburg: Holsten, 1955); Jeanne Hersch, Die Ideologien und die Wirklichkeit (München: Piper, 1957); Ernst Topitsch, Vom Ursprung und Ende der Metaphysik (Wien: Springer, 1958); Leszek Kolakowski, Der Mensch ohne Alternative (München: Piper, 1960); Carl August Emge, Das Wesen der Ideologie (Wiesbaden: Steiner, 1961); Kurt Lenk, Ideologie (Neuwied: Luchterland, 1961, 1964); Daniel Bell, The End of Ideology (New York: Free Press, 1961, 1965); Ernst Topitsch, Sozialphilosophie zwischen Ideologie und Wissenschaft (Neuwied:

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Luchterland, 1961); Robert E. Lane, Politische Ideologie (New York: Free Press, 1962, 1967); Joseph Gabel, La fausse conscience (Paris: Editions de Minuit, 1962); Jürgen Habermas, Theorie und Praxis (Neuwied: Luchterland, 1963); Jakob Barion, Was ist Ideologie? (Bonn: Bouvier, 1964); Reinhard Lauth, Zur Idee der Transzendentalphilosophie (München-Salzburg: Pustet, 1965); Hans Joachim Lieber, Philosophie Soziologie Gesellschaft (Berlin: De Gruyter, 1965). § 2  Es wäre müßig, die äußerst bekannten Werke von Karl Marx zu zitieren. Zu Karl Mannheim siehe: Ideologie und Utopie (Bonn: Cohen, 1929). Ein markantes Beispiel für die in diesem Paragraphen in Frage stehende materialistische Geschichtsauffassung des Marxismus, die jedes historische Moment und damit den spezifischen Charakter der geistigen Produktionen organisch verbinden will, ist die Auffassung (der Marxismus) von Karl Korsch. Bei dem Versuch, den sogenannten verunglimpften »Vulgärmarxismus« zu vermeiden bzw. gerade mit der Behauptung des organischen Zusammenhangs, der in der Totalität der Situation ihre unterschiedlichen Aspekte und damit auch den ideellen Apparat untrennbar miteinander verbindet, besteht Korsch auf der These der Unmöglichkeit, die ideellen Produkte als chimärisch zu betrachten, in dem Sinne, dass ihre Spezifizität von der geschichtlichen Situation als ihr integrierender Teil und als differenziertes Element ihrer Komplexität gefordert wird, bis hin zu dem Punkt, dass man von einer »geistigen (ideologischen) Struktur der Gesellschaft« sprechen muss. Damit wird immerhin (zwar) behauptet, dass die dialektische Betrachtung von Ideologie deren organische Einfügung in das Gesamtbild der Situation impliziert und Handlungsvollzüge nicht nur auf der Ebene der ökonomischen Strukturen, sondern auch auf der Ebene der philosophischen Kritik erfolgen. Dazu siehe insbesondere: Karl Korsch, Marxismus und Philosophie (Leipzig: Hirschfeld, 1923). Die These, dass »im Überbau nichts ist, was nicht schon in der Basis angelegt ist, mit Ausnahme des Überbaus selbst«, hat Habermas in Bezug auf Ernst Bloch aufgestellt (Habermas, Theorie und Praxis, zit., 338).

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§ 3  Unter »metaphysischem Marxismus« verstehe ich eine Konzeption wie die von Kostas Axelos, Marx penseur de la technique (Paris: Editions de Minuit, 1961); Ders., Vers la pensée planétaire (Paris: Editions de Minuit, 1964). Mit »prophetischem« Marxismus meine ich natürlich das Denken von Ernst Bloch (generell die Gesamtausgabe in 15 Bänden und im Besonderen: Das Prinzip Hoffnung (Berlin: Aufbau Verlag, 1954–1959; 2 Auflage, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1959). § 4  Die Betonung der »Teilnahme« findet sich übrigens auch bei Augu­stinus, dem großen Theoretiker der Innerlichkeit: »Veritas tua nec mea est nec illius aut illius, sed omnium nostrum, quos ad eius communionem publice vocas, terribiliter admonens nos, ut eam nolimus habere privatam, ne privemur ea. Nam quisquis id, quod tu omnibus ad fruendum proponis, sibi proprie vindicat et suum vult esse quod omnium est, a communi propellitur ad sua, hoc est a veritate ad mendacium – [Und deshalb, o Herr,] sind deine Gerichte so furchtbar, weil deine Wahrheit nicht mir, nicht diesem oder jenem, sondern uns allen gehört; uns alle hast du öffentlich zur Teilnahme an ihr berufen mit der furchtbaren Warnung, sie nicht ausschließlich für uns beanspruchen zu wollen, da wir sonst ihrer verlustig gingen. Denn jeder, der für sich in Anspruch nimmt, was du allen zum Genusse bestimmst, und als sein alleiniges Eigentum ansehen will, was allen gehört, der wird von dem gemeinsamen Besitztum weg zu dem seinigen verwiesen, das ist von der Wahrheit zur Lüge.« (Augustinus, Bekenntnisse, XII, 25, 34); »Communis est omnibus veritas. Non est nec mea, nec tua, non est illius, aut illius: omnibus communis est – Die Wahrheit ist uns allen gemeinsam. Sie gehört nicht mir oder dir, diesem oder jenem, sondern uns allen gemeinsam« (Enarrationes in Psalmos, 75, 17). Diese Zitate bestätigen den eindeutig antisubjektivistischen Charakter des Personalismus und die Möglichkeit, dieselbe augustinische Lehre von der Innerlichkeit der Wahrheit im Verstand eher im ontologischen als im intimistischen Sinne zu interpretieren. Dennoch fehlt bei Augustinus ein hermeneutischer Begriff der Wahrheit, nämlich die Idee, dass sich die Wahrheit nur innerhalb der persönlichen und historischen Formulierung zeigt, die von ihr gegeben wird. Dazu siehe auch weiter S. 280.

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§ 5  Für die Begriffe von »Gabe« und »Zeugnis«, die mit dem Begriff der Freiheit verbunden sind, verweise ich auf die dritte Auflage meines Buches Esistenza e persona, zit., 176–182. § 6  Die schizophrene Interpretation von Ideologie findet sich bei J. Gabel, La fausse conscience, zit., 68–96. Vilfredo Paretos Theorie der »sozialen Residuen« und »Derivationen« findet sich im seinem großen Trattato di sociologia generale von 1916 (3. Aufl.: Milano: Edizioni di Comunità, 1964). Zu Hans Kelsens Ideologietheorie siehe seine Reine Rechtslehre von 1934 und General Theory of Law and State von 1945. Siehe auch seine Aufsätze zur Ideologiekritik, hrsg. von Ernst Topitsch (Neuwied: Luchterhand, 1962). Was Marx betrifft, ist es m. E. überflüssig, seine bekanntesten Werke zu zitieren. § 8  Der Ausdruck »Kunst des Misstrauens« stammt aus einem der posthumen Fragmente Nietzsches aus den Jahren 1885 bis 1888 (Die Unschuld des Werdens, hrsg. von Bäumler, Fr. 1246): »Hier kommt eine Philosophie – eine von meinen Philosophien – zu Wort, welche durchaus nicht ›Liebe zur Weisheit‹ genannt sein will, sondern sich, aus Stolz vielleicht, einen bescheideneren Namen ausbittet […] Diese Philosophie nämlich heißt sich selber: die Kunst des Misstrauens und schreibt über ihre Haustür: μέμνης᾽ἀπιστεῖν«. Das griechische Zitat stammt von Epicharmos, 250 K (G. Kaibel) und bedeutet: Erinnere dich daran, zu misstrauen. Der Ausdruck »Schule des Verdachts« stammt aus dem Vorwort des ersten Bandes von Menschliches, Allzumenschliches (Ed. Colli-Montinari, IV, II, 7): »Man hat meine Schriften eine Schule des Verdachtes genannt, noch mehr der Verachtung, glücklicherweise auch des Mutes, ja der Verwegenheit«. Gewiss, das »Misstrauen« von Nietzsche meint etwas anderes als die sogenannte »Entlarvung«, der gewisse Kritiker von heute auch die große Spekulation unterwerfen wollen, auch weil Nietzsches Bedürfnis nach »Wahrheit« oder nach »Wahrhaftigkeit« viel radikaler und großzügiger ist und vor allem jeder projektiven und autobiographischen Prägung entbehrt. Dasselbe kann man dagegen von vielen der heutigen selbsternannten »Entmystifizierungen« nicht

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sagen. Man denke daran, dass Nietzsche in Also sprach Zarathustra dem höheren Menschen genau dieses Misstrauen empfiehlt: »Habt heute ein gutes Misstrauen, ihr höheren Menschen!«. In der Tat ist das »Misstrauen« »der einzige Weg zur Wahrheit«, es gilt »als Quelle der Wahrhaftigkeit«, bis dahin, dass man behaupten kann: »So viel Misstrauen, so viel Philosophie« (Ed. Colli-Montinari, IV, III, 283; VII, III, 383; V, II, 262). § 8  Über die Auslegung der Bibel als Interpretation einer unendlichen Botschaft siehe Gianni Vattimo, Poesia e ontologia (Mursia: Milano 1967).

II. Bestimmung der Ideologie 1.  Zweideutigkeit der neutralen oder positiven Bedeutung von Ideologie In den Debatten über Ideologie herrscht über die eigentliche Bedeutung dieses Begriffs die größte Uneinigkeit. Sicherlich gibt es eine primäre und konstante Bedeutung, die von einem jahrhundertelangen Gebrauch gefestigt wurde und die man als abwertend bezeichnen könnte, denn sie eignet sich besonders für eine deflationierte und minderwertige Form von Denken. Das ist Ideologie dann, wenn sie als begriffliche Abstraktion verstanden wird, die dazu bestimmt ist, bestimmte Ziele zu verdecken und zugleich auszudrücken, oder wenn sie als Theorie betrachtet wird, die der Politik vollständig untergeordnet ist oder sich in ihr völlig auflöst. Neben diesem abwertenden, negativen Sinn wurde allmählich ein anderer, neutraler oder zumindest tendenziell positiver Sinn mit dem Gebrauch geltend gemacht, der jene verderbliche Abschwächung des theoretischen Charakters des Denkens, der in der Ideologie stattfindet, nicht nur nicht für gefährlich hält, sondern vielmehr jene praktische und politische Bestimmung, die dem ideologischen Denken wesentlich innewohnt, geradezu ermutigt oder gar hervorhebt. Um diese Behauptung überzeugend zu machen, müssen ihre Befürworter darlegen, dass Ideologie der Beweis der praktischen Wirksamkeit des Denkens und der Macht der Ideen in der menschlichen Welt ist – und dies im Gegensatz zur Sterilität eines abstrakten und von der Realität losgelösten Denkens wie auch im Gegensatz zur Nutzlosigkeit einer akademischen und lebensfernen Philosophie. Ich bleibe der ersten Bedeutung treu und denke, dass Ideologie nichts anderes ist als ein besonderer Fall eines allgemeineren, leider sich immer weiter ausbreitenden Phänomens, nämlich einer Historisierung und Technisierung des Denkens, dessen Ergebnis die Verdunkelung der Wahrheit und

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die Aufgabe des spekulativen Denkens zugunsten einer rein technischen und instrumentellen Vernunft oder einer hybriden Vermischung und Verwirrung von Theorie und Praxis ist. Ob so oder so, klar ist, dass aus der Vervielfältigung verschiedener und äquivoker Bedeutungen für denselben Begriff nur Missverständnisse und Verwirrung entstehen können. Dies geschieht zum Beispiel, wenn das begriffliche Instrumentarium der »Ideologien« als ein System von »Ideen« und ihre praktische Bestimmung als Verwirklichung von »Idealen« angesehen wird: Ideologien wären im Wesentlichen Weltanschauungen, die sich in praktische Schemata oder in Programme politisches Handelns übersetzen ließen; niemand wird übersehen können, wie oberflächlich und verwirrend diese vorschnelle Angleichung so verschiedenartiger Begriffe ist wie »Ideen«, »Ideale«, »Weltanschauungen«, praktische Schemata, »Aktionsprogramme« usw. In einer solchen Situation ist die Philosophie dazu berufen, Eckpunkte der Fragestellung zu definieren und zu klären, und die Philosophen würden eine ihnen eigentümliche Pflicht versäumen, wenn sie, statt einen Beitrag zur Präzisierung und Klärung zu leisten, nichts anderes täten als die Verwirrung noch zu vergrößern, indem sie bei dem Missbrauch von Wörtern nachsichtig sind bzw. den ungenauen Vorwand gelten lassen, dass die Bedeutung eines Begriffs von dem Gebrauch abhänge, den man von ihm mache, und dass man sich dem Gebrauch nicht entgegenstellen könne, sondern ihn nur anzunehmen und zu bestätigen hätte. Die Klärung, die die Philosophie in dieser Situation vornehmen muss, besteht meines Erachtens genau darin, zwischen spekulativem und technischem Denken zu unterscheiden. Ersteres ist weit davon entfernt, abstrakt, vom Leben losgelöst, »akademisch« oder »professoral« zu sein, denn ein solches Denken ist offenbarend und ontologisch, im Sein und in der Wahrheit eingewurzelt. Und wenn sein spekulativer Charakter von seinem Wahrheitsgehalt her bestimmt ist, dann ist sichergestellt, dass es gerade deshalb zur Anleitung des Handelns wird und es ihm gelingt, eine ebensolche zu sein. Das technische Denken ist dage-

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gen nur dem Schein nach ein Denken, denn es kann nicht anders, als seine Zeit auszudrücken und sich der Handlung zu bedienen oder sich in sie aufzulösen, d. h. sein begriffliches Reservoir hat keinen anderen Wert als einen ausdrückenden und instrumentellen, historischen und technischen. Deswegen kennt und enthüllt es einerseits nichts, sondern drückt nur zeitliche Situationen aus, und andererseits ist es keine Anleitung des Handelns, sondern nur ihr technisches oder operatives Instrument. Der erste Typ des Denkens ist der philosophische, während der zweite der ideologische ist. Die Ideologie ist keine gerechtfertigte Alternative zur Philosophie, auch wenn man dieser eine vermeintliche Abstraktheit und eine angebliche Lebensferne vorwerfen wollte. Es ist klar, dass eine Philosophie, die auf solche Weise abstrakt und lebensfremd wäre, den Namen »Philosophie« nicht verdiente, noch könnte man sagen, dass sie dann wirklich einen spekulativen Charakter hätte. In der Tat erreicht Philosophie – wenn sie dieses Namens würdig ist – die Konkretheit und Lebensnähe durch Wahrheit, deren immer zugleich geschichtliche und persönliche Offenbarung sie ist. Daher ist für den Menschen die Philosophie konkreter und fruchtbarer als Ideologie, insofern erstere kraft der Wahrheit verdient, Anleitung des Handelns zu sein, während letzterer es nicht wirklich gelingt, Instrument der Handlung zu sein, denn sie hat die Wahrheit verraten. Man kann sogar noch weiter gehen. Das sogenannte professorale und akademische Denken kann nicht vermeiden, Teil des ideologischen Denkens zu sein, weil es in seiner abstrakten und leeren Begrifflichkeit, die keinen Inhalt hat, einfach von der historischen Situation getragen wird, die es unbewusst auf seine Weise ausdrückt; noch hat es keine andere Funktion als Rationalisierung von Interessen, die verborgen und unbewusst bleiben, dennoch aber gegenwärtig und wirkend sind. Das auffälligste Merkmal des »akademischen« Denkens ist gerade seine Leere und Abstraktheit, und der naheliegendste Weg, diese Leere und Abstraktheit zu füllen, besteht darin, seinen Begriffshaushalt als Maskierung eines sogenannten »geheimen Lebens« zu betrachten.

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Angesichts dieser grundlegenden Differenz zwischen spekulativem und technischem Denken scheint es klar, dass Ideen und Ideale, Weltanschauungen und Handlungsprojekte nicht ohne weiteres mit Ideologie gleichgesetzt werden können. Nur durch eine ihnen vorhergehende Degradierung können Ideen und Weltanschauungen ideologisch werden, und nur durch eine tendenziöse Überhöhung kann man meinen, Ideologien könnten zum Reichtum eines Ideals und zur Prägnanz eines praktischen Schemas erhoben werden. Was die Ideologie als solche charakterisiert, ist ihr radikal historisierender und potentiell praxistischer Charakter; ebendies kann man offensichtlich weder von Ideen und von Weltanschauungen noch von Idealen und auch nicht von Aktionsprogrammen sagen. Die von mir vorgeschlagene Unterscheidung aufzuweichen, in dem man neben einem negativen Sinn von Ideologie, auch e­ inen neutralen oder geradezu positiven einführt und der Ideologie eher ideologieferne Realitäten wie die von mir erwähnten gleichstellt, bedeutet, die Dringlichkeit des von der Wirklichkeit der Ideologien gestellten Problems abzuschwächen und ein wirklich philosophisches und mehr als konkretes Problem, das aus der unruhigen Realität unserer Zeit hervorgeht, loszulassen. Letztlich bedeutet es, Begriffe, die mit einer wirklich spekulativen Problematik beladen sind, durch Begriffe zu ersetzen, die zu sehr neutralen und abgegriffenen sind, um für die Philosophie von Interesse zu sein.

2.  Das Problem der konkreten Unterscheidung zwischen Ideologie und Philosophie Fragt mich jemand, und das geschieht oftmals, wie man denn konkret unterscheiden könne, ob ein bestimmtes Denken philosophisch oder ideologisch sei, d. h. offenbarend und ontologisch oder ausdrückend und technisch, dann antworte ich, dass genau diese Frage keine philosophische ist. Zunächst einmal kann man nicht erwarten, dass aus einer Definition – z. B. einer Definition

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von Kunst – wie selbstverständlich eine Unterscheidung zwischen schönen und hässlichen oder gelungenen und misslungenen Werken folgt. Diese Unterscheidung, die nur von Fall zu Fall und von Mal zu Mal möglich ist, ist ein einziger Urteilsakt, die Verantwortung für welchen nicht einer als Kriterium geltenden Definition zuzuschreiben ist, sondern der Person, die das Urteil fällt, und der gerade deshalb Objekt ständiger Revisionen und Diskussionen und häufiger Widersprüche und Widerrufe ist. In diesem Sinn ist es absurd, von der philosophischen Differenz zwischen Philosophie und Ideologie ein unfehlbares Kriterium zu erwarten, um konkret die eine von der anderen in bestimmten Fällen zu unterscheiden und die geschichtliche Zuordnung dieses oder jenes bestimmten Denkens zur Philosophie oder zur Ideologie auf diese Unterscheidung zurückzuführen. Außerdem ist die geschichtliche Wirklichkeit immer sehr komplex, so dass in ihr die Unterscheidung nicht immer mit strengen und präzisen Begriffen durchführbar ist. In ihr finden sich spekulative und pragmatische Absichten vermischt und vermengt, so eng miteinander verwoben, dass man sie nur schwer trennen und unterscheiden kann, denn jede Theoriebildung, auch wenn sie sich an offen oder scheinbar praktischen Zielen orientiert, geht immer von einer spekulativen Absicht aus, und auch das ideologische Denken besteht aus begrifflichen Elementen, wie degradiert oder instrumentalisiert sie auch sein mögen. Die von der Philosophie erarbeiteten Begriffe und Unterscheidungen haben gerade die Aufgabe, die geschichtliche Wirklichkeit so weit zu klären und zu erhellen, wie es in dem chaotischen und verwirrten Zustand möglich ist, in dem sich die geschichtliche Wirklichkeit aufgrund ihrer extremen Komplexität befindet. Übrigens ist es eigentlich nicht die Definition, die als Kriterium dienen muss, sondern die Wahrheit selber, die sich dem offenbarenden Denken anvertraut und sich dem rein ausdrückenden Denken entzieht, und in diesem Sinn ist sie »index sui«. Es handelt sich aber nicht um ein äußeres Kriterium – das ist klar –, das von außen die verschiedenen Theorien genau messen

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und abmessen könnte, und dabei die einen unwiderruflich dem Bereich des ontologischen und philosophischen Denkens und die anderen dem Bereich des ideologischen und pragmatischen Denkens zuordnen könnte; denn die Wahrheit zeigt sich immer und nur innerhalb einer Interpretation und nur dort kann sie »index sui« sein. Die Wahrheit zeigt sich nur dem, der sie zu sehen weiß, und sie zu sehen heißt bereits, ihr eine eigene Interpretation zu geben, so dass sie nicht wirken kann, wenn nicht als inneres Kriterium – und wir können es sogar doppelt inneres nennen: d. h. potenziell der Sache selber angeboren, die es zu beurteilen gilt, und gegenwärtig nur in der Interpretation der Person selber, die urteilen muss. Kurz gesagt, das Kriterium ist letztlich sowohl vom »Objekt« als auch vom »Subjekt« des Urteils unabtrennbar. Offensichtlich ist eine solche Position nicht nur die unbequemste, um die Unumstößlichkeit eines Urteils zu erreichen und zu gewährleisten, für die man dagegen eine klare Unterscheidung und Trennung zwischen beurteiltem Objekt, urteilendem Subjekt und Kriterium des Urteils erfordert; sondern sie ist auch Anlass, ja Einladung und geradezu eine Aufforderung für dezidiert offene Diskussionen und für schärfsten Streit. Wir sind also weit davon entfernt, ein Kriterium zur Verfügung zu haben, das rigoros ist, weil es zu starr wäre, oder unfehlbar, weil es extern wäre. Wir haben auch nicht jene »lesbische Regel«, die Vico oft erwähnt, nämlich ein dehnbares und flexibles Kriterium, das durch seine Formbarkeit und die Ablehnung von Starrheit dennoch Präzision zulässt. Hier befinden wir uns auf einer viel tieferen Ebene, auf der die Wahrheit selbst auf die menschliche Freiheit trifft und sie zugleich wachruft und sich ihr anbietet, und auf der die Freiheit des Menschen unmöglich erscheint wenn nicht als Sitz der Wahrheit: Wir sind an der Wurzel selbst der Interpretation, d. h. an der Wurzel von »Offenbarung« und »Widerlegung« zugleich. Gewiss hat der Mensch den großen Vorteil, immer in irgendeiner Weise in der Wahrheit, mit ihr durch ein ursprüngliches Band verbunden zu sein, das sich immer geschichtlich konkretisiert, entweder durch die Situation, sofern

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sie ontologisch orientiert ist, oder durch eine Tradition, sofern sie ständig erneuert und aufgefrischt wird. Aber die Möglichkeit, dass er diesem Bezug nicht treu bleibt – und das gerade durch diejenige Freiheit, die diesen Bezug einlösen kann – setzt den Menschen jener Fraglichkeit (die nichts mit dem Zweifel zu tun hat) und jener Unsicherheit (die nicht mit der Mehrdeutigkeit zu verwechseln ist) aus, die von jenem Band stammen, das – wie wir gesehen haben – Offenbarung und Widerlegung in der Interpretation unauflöslich miteinander verbindet. Aber wer fragt, wie man konkret unterscheiden kann, ob ein bestimmtes Denken philosophisch oder ideologisch sei, den kann vielleicht ein anderer feinerer und genauerer Grund zu einer solchen Frage antreiben. Es könnte sein, dass man in den von der Philosophie erarbeiteten Definitionen und Unterscheidungen nicht nur nach einem Wahrheitsgehalt, sondern nach der Funktionshaftigkeit (operatività) sucht und daher bereit ist, die oben vorgeschlagene Unterscheidung zwischen offenbarendem und ausdrückendem Denken nur insoweit zu akzeptieren, als sie funktional (operativa) ist, d. h. zur Formulierung geeigneter historischer Urteile beiträgt. Es ist jedoch klar, dass dieser Vorbehalt bereits eine offenkundige und klare Verletzung der vorgeschlagenen Unterscheidung ist, denn er akzeptiert als Wesentliches des Denkens nur den Charakter der Funktionshaftigkeit (operatività) und der Nützlichkeit (pragmaticità). Die Unterscheidung zwischen Philosophie und Ideologie dem Kriterium der Funktionshaftigkeit (operatività) zu unterstellen, bedeutet bereits, diese zu vernichten und zu verwerfen, denn das hieße, der Philosophie ­einen offenbarenden und veritativen Charakter abzusprechen und ihr einen bloß technischen und pragmatischen Charakter zuzuschreiben. Die Unterscheidung zwischen Philosophie und Ideologie ist nur vom Standpunkt der Philosophie aus möglich, nicht vom Standpunkt der Ideologie aus. Und so erscheint der offenbarende Charakter des Denkens nur dem, der ihn vom ausdrückenden Denken zu unterscheiden weiß. Das bedeutet, dass sich auf der Ebene der Ideologie und der technizistischen

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Auffassung des Denkens die Frage nach der Funktionshaftigkeit (operatività) dieser Unterscheidung gar nicht stellen kann, und dass derjenige, der sie aufwirft, sobald die Unterscheidung vorgebracht ist, dies nur tut, um eine negative Antwort zu geben oder von ihr zu erhalten.

3.  Gezielte Vermengung von Philosophie und Ideologie Anstatt auf Philosophie zurückzugreifen, um angesichts der Vielzahl von Bedeutungen des Ideologiebegriffs einige notwendige Klarstellungen erreichen zu können, könnte man sagen, dass es sich um nichts anderes als eine Frage der Bezeichnung handele. Ein und dasselbe Wort für verschiedene, wenn nicht sogar gegensätzliche Bedeutungen zu verwenden, ist jedoch immer unratsam, denn es erzeugt eine unnötige und schädliche Verwirrung; außerdem löst es nichts, da die Aufgabe der Definition nicht nur bestehen bleibt, sondern immer dringlicher und sich aufdrängender wird. Mehr denn je kann man in diesem Fall sagen, dass es sich hier um eine Frage der Begriffe handelt. Es steht geradezu die Weise auf dem Spiel, in der sich die Philosophie versteht: ob sie als einzige und endgültige aufgefasst oder auf reine Methodologie oder einfache Technik zurückgeführt werden soll, oder ob sie vielmehr als plural und veritativ zugleich aufzufassen ist. Aber gerade deshalb darf man auch die Möglichkeit nicht ­außer Acht lassen, dass man bewusst mit dem gleichen Wort zwei Dinge anzeigen will, die anfangs nur gleich scheinen aber stattdessen toto coelo verschieden, ja diametral entgegengesetzt sind. In einem solchen Fall hätte die vielfältige Bedeutung des Begriffes von »Ideologie« eine tiefere Absicht und eine dezidiert philosophische Bedeutung, weil es dann darum ginge, herauszufinden, welches Problem sich hinter der Möglichkeit oder der Absicht verbirgt, dasselbe Wort zu verwenden, um gegensätzliche Dinge

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zu bezeichnen, von denen das eine eindeutig negativ und das andere zumindest potentiell positiv ist. Der Gebrauch des Begriffs »Idee« bei Dostojewski liefert ein anschauliches Beispiel dafür, wie ein und dasselbe Wort dazu dienen kann, sowohl eine negative als auch eine positive Realität zu bezeichnen. Tatsächlich können Ideen für Dostojewski entweder göttlich oder dämonisch sein, d. h. sie können, wie es der Starez Zosima in den Brüdern Karamazow sagt, jene »Samen einer anderen Welt« sein, die »Gott auf diese Erde gesät hat, als er seinen Garten pflegte«, oder sie können Ideen sein, die von den Menschen Besitz ergreifen, ähnlich wie Dämonen, die beim Austritt aus dem Besessenen in Schweine eindringen, womit die ganze Herde in den See stürzt und dort ertrinkt – wie es an der Stelle im Evangelium heißt, die zur Erläuterung der Dämonen als Motto dient, wie Stepan Trofimovic vor seinem Sterben erläutert. Für Dostojewski sind die göttlichen Ideen ursprüngliche und tiefe Wahrheiten, die dazu fähig sind, dauernde Inspiration für Menschen zu sein und damit die Aufgabe eines ganzen Lebens bilden, die also eine Hingabe zu provozieren vermögen, mit der sich eine Person konstruktiv einsetzt, indem sie sich in ihrer eigenen Kohärenz und Kraft bestätig. Umgekehrt sind dämonische Ideen Illusionen eines irrenden und verfallenen Menschen; sie sind künstliche Konstruktionen, die man treffender als »Ideologie« denn als »Idee« bezeichnen sollte. Es handelt sich um zerstreute und zerstreuende Meinungen, in denen sich die Persönlichkeit des Menschen verliert und vernichtet oder sich zu einer hartnäckigen und anmaßenden Individualität verfestigt. Wenn nun Dostojewski mit nur einem Wort zwei so verschiedene Realitäten des geistigen und geschichtlichen Lebens bezeichnet hat, dann geschah dies nicht aus Unaufmerksamkeit oder Nachlässigkeit, sondern gerade, um die zweideutige und widersprüchliche Natur aller menschlichen Angelegenheiten zu zeigen, in denen sich unter nur einem Schein oft entgegengesetzte Realitäten verbergen, wobei alles den Aspekt seines Gegenteils annehmen kann. Dies ist Ausdruck der tiefsten Überzeugungen Dostojewskis, sowohl von

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dem dialektischen Charakter der Realität als auch von der antinomischen Natur des Menschen wie auch hinsichtlich des menschlichen Vollzugs der Freiheit. Nun könnte die Kopräsenz von entgegengesetzten Bedeutungen in ein und demselben Begriff von »Ideologie« – obwohl sie kein so tiefgreifendes Problem verbirgt wie das von Dostojewski wahrgenommene – dennoch das Zeichen eines absichtsvollen Willens zum Missverständnis sein, der eine in der heutigen Welt verbreitete Tendenz kundtut, nämlich den Willen, die Ideologie zu einer Philosophie zu erheben und die Philosophie zu einer Ideologie herabzustufen; den Willen, den offenbarenden Charakter des Denkens seinem rein geschichtlichen und ausdrückenden Charakter zu opfern, d. h. sein Band mit der Wahrheit seiner Kollokation in der Zeit zu opfern; den Willen, Denken und Handlung zu vermischen, bis zu dem Punkt, sie zu verwechseln, sich des Ersteren für das Zweite zu bedienen oder es geradezu in ihr aufzulösen; und schließlich den Willen, das Denken zu poli­tisieren, und zwar nicht nur in dem Sinne, es in eine Form des panpolitischen Praxismus aufzulösen, sondern auch im Sinne, ihn nur in dem Maße zu bewerten, als er sich selbst als Norm und Leitfaden für das politische Handeln aufstellt – oder vorgibt, sich selbst aufzustellen. Und leider muss man eingestehen, dass dieser Wille als Missverständnis sich überall breitmacht, auch dort, wo man es am wenigsten erwartet, also nicht nur in Zugeständnissen an diese Formen von Historismus, Soziologismus und Praxismus, sondern sogar bei den Verfechtern des spekulativen und offenbarenden Charakters des philosophischen Denkens. Es kommt sogar so weit, dass er sich Personen aufzwingt – wenn auch unbewusst –, die ihn aus Kohärenz niemals annehmen sollten, wie zum Beispiel einem Christen, der – wäre er seinen Prinzipien treu – keinesfalls von »ideologischen Unterschieden« sprechen dürfte, die ihn von den Anhängern irgendeiner Ideologie trennten, wie zum Beispiel Kommunisten oder Anhängern der Aufklärung. Er sollte – wenn überhaupt – eher von »doktrinären Unter­schieden« sprechen, weil die Religion nicht nur

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keine Ideologie ist, nicht nur kein Bedürfnis hat, sich zu ideologisieren, um wirksamer in ihrem Kampf gegen Ideologien zu sein, sondern radikal unvereinbar ist mit jedweder Ideologie, d. h. mit einer Denkform, die auf jede Wahrheit verzichtet hat, um nichts als einen geschichtlichen, technischen und pragmatischen Charakter anzunehmen. Und wenn das Christentum berufen ist, sich in der Welt einzusetzen, wo es Philosophie, Moralität und Kunst beleben soll, dann ideologisiert es sich deswegen dennoch nicht. Denn es tut dies, indem es sich den Gewissen einprägt, insofern es nicht versäumt, eine totale Erneuerung zu bewirken, die in ­allen Bewegungen tiefer religiöser Erfahrung »Wieder­ geburt« genannt wurde; und eine solche persönliche »Wiedergeburt«, weit davon entfernt, Philosophie, Kunst oder Moral auf reine Technik oder auf rein ausdrückendes Denken zu reduzieren, hebt sie hingegen hervor und stärkt sie in ihrem Wesen. Schließlich kam es dazu, dass Benedetto Croce sogar wegen dem verurteilt wurde, was seine größte Anerkennung während seiner langen Präsenz in der italienischen Philosophie begründete, und zwar seinem doppelten und im Grunde einheitlichen und unteilbaren Kampf, den er mutig und unermüdlich unternahm, auf der einen Seite gegen die abstrakte und leere Philosophie und auf der anderen gegen die pragmatische und empirische Philosophie. Denn er sagte mit erfreulich fester Entschlossenheit einerseits, dass »der Gelehrte der Philosophie, um wahrhaft ein solcher zu sein, kein reiner Philosoph sein darf, sondern irgendein Handwerk ausüben muss, vor allem aber das Handwerk des Menschen« und andererseits, dass er »Widerwillen und manchmal Hass für jene Philosophien [spürte], die unmittelbar, aus ihrem verdorbenen Schoß, praktische Aktionsprogramme ­gebären«.

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4.  Nicht-philosophischer Charakter der Ideologie Man könnte mir entgegnen, dass überall dort, wo das Denken ist, wenigstens potentiell die Philosophie wäre und somit auch in der Ideologie Philosophie wäre, die immer Denken ist, auch wenn es geschichtlich und ausdrückend ist. Meine Antwort ist: Ich kann zugestehen, dass die Ideologie ein philosophischer Versuch ist, aber es handelt sich um einen völlig gescheiterten Versuch, der sich in einen wahren und eigentlichen Verrat dessen auflöst, was das Wesen des philosophischen Denkens ist, und zwar dahingehend, dass das ideologische Denken ein unauthentisches und verfälschendes Denken ist. Gewiss, am Ursprung jeder Theoretisierung steht eine spekulative Absicht, und es sind doch immer die Ideen und Auffassungen, die den begrifflichen Apparat einer Ideologie bilden. Deshalb habe ich sogar eingeräumt, dass das Ende der Ideologien die Technisierung der Vernunft zur Vollendung bringen würde, damit auch die vollkommene Auslöschung der Kultur der Wahrheit mit sich bringen würde und damit schließlich auch den Fall von Ideen und Idealen als wesentlichen Werten im Sinn des Lebens. In der ideologischen Formulierung verliert sich jedoch der primitive spekulative Versuch in der substantiellen und ausschließlichen Geschichtlichkeit und Nützlichkeit (pragmaticità), die jeder Behauptung zugeschrieben wird; die begriffliche Architektonik der Ideologien ist aus degradierten Ideen und entleerten Begriffen sowie aus instrumentalisierten Rationalisierungen zusammengesetzt; und das Ende der Ideologie schließt das Ende der Spekulation nur insofern ein, als die Ideologie eng mit der Philosophie verbunden ist, soweit sie ihre negative Möglichkeit repräsentiert, und nur insofern als das technische und pragmatische Denken an jenen Hindernissen und Irrungen und Entgleisungen teilnimmt, die den Weg zur Wahrheit zwar abwechslungsreich und abenteuerlich, aber vor allem uneben, schwierig und sogar unmöglich machen. Trotzdem ist festzuhalten, dass der primitive spekulative Versuch, der am Ursprung einer Ideologiebildung

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steht, gerettet und eingelöst werden könnte und möglicherweise mit einer angemessenen Behandlung diesem Verfall und dieser Entleerung der Idee, die durch Ideologie entsteht, doch noch abzuhelfen wäre. Denn die Forderung nach Wahrheit, mit der, wenn auch im negativen Sinn, sogar der Irrtum irgendwie verbunden ist, könnte immer wieder neu belebt werden, da innerhalb der conditio humana die Wahrheit so sehr mit dem Irrtum verbunden ist, dass es unmöglich ist, die Möglichkeit des Fehlers auszuschalten, außer mit der reinen und einfachen Ausschaltung der Suche nach der Wahrheit. Gleichviel, Ideologie ist – auch verstanden als Versuch der Philosophie – ein gescheiterter Versuch und somit ist sie – wie gesagt – ein unauthentisches und verfälschendes Denken. Sie ­erreicht nichts als Verfälschung und Parodie: Philosophie im Karikatur-Kleid, und somit in negativer Form. Und gerade aufgrund ihres mimetischen und parodierenden Charakters ist sie nichts anderes als ein Ersatz: simulierte und verfälschte Philosophie, vorgebliche und missbräuchliche Philosophie und somit, ein weiteres Mal, in negativer Form. Wenn sie Philosophie ist, dann ist sie es nicht in keimhafter und inchoativer Form, sondern nur in angestrebter, jedoch gescheiterter Form: apokryphe und nicht authentische Philosophie, Pseudophilosophie und – noch einmal: Philosophie in negativer Form.

5.  Weltanschauung, Philosophie, Ideologie Die Philosophie in inchoativer Form ist im eigentlichen Sinne keine Ideologie, sondern Weltanschauung, die bereits keimhaft und potentiell jene umfassende Fülle und damit den ganzen Reichtum enthält, den das philosophische Denken in e­ inem reifen und vollendeten Bewusstsein entwickeln wird. Die Welt­ anschau­ung geht der bewussten und gezielten Ausübung des Denkens voraus, während dagegen die Ideologie ein Ergebnis von ihr ist. Das bedeutet, dass die Weltanschauung sich an je-

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nem Punkt befindet, an dem der ontologische Bezug und die geschichtliche Situation sich treffen und unauflöslich verbinden, dahingehend, dass sich das Band mit der Wahrheit konkretisiert und sich in einer personalen und einzelnen Interpretation individualisiert, und die geschichtliche Situation sich in der eigenen Unwiederholbarkeit bestätigt, indem sie sich einer ontologischen Dimension öffnet. Das ist es, was im »gemeinen Menschenverstand« geschieht, wenn er sich nicht in die scheinbar gutmütige Form von plattem Alltagsreden auflöst, sondern wie bei Vico als Konvergenz von Singularität und Ähnlichkeit, Individualität und Kommunikation erscheint, die die fruchtbare Kopräsenz von persönlicher und ontologischer Dimension anzeigt. Dasselbe geschieht im »Mythos«, wenn er nicht nur als primitiv und anfänglich, sondern vielmehr und primär als ursprünglich und originär verstanden wird, d. h. als eine ursprüngliche und ahnende Ergreifung des Wahren (captazione del vero), die undeutlich und vage ist, nicht so sehr weil sie elementar und inchoativ ist, sondern deswegen, weil sie fruchtbar und prägnant ist, und in diesem Sinne die gemeinsame Wurzel der höchsten menschlichen Tätigkeiten, wie Kunst, Philosophie, Ethik und Religion, die aus dem Mythos schöpfen, ohne ihn je völlig zu erschöpfen, und die sich aus ihm entwickeln, ohne ihn jemals aufzulösen, und die, weit davon entfernt, ihn ersetzen zu wollen, sich auf seine dauernde Anwesenheit berufen, die für sie die einzige Garantie einer ständigen Nahrung und sicheren Inspiration ist. Und so geschieht es auch im »Herzen«, wenn man diesem Begriff nach Pascal jeden psychologischen, affektiven, gefühlsmäßigen und sentimentalen Charakter entzieht und stattdessen auf jenes »Vermögen des Unendlichen« anspielt, das nur deshalb verborgene und latente Aspekte enthält, weil es totale und globale Anschauung ist und als solche besonders einleuchtend und erhellend. Mit einem Wort, es ist die ontologische Dimension des Menschen und sein persönlicher Zugang zur Wahrheit. Eine so verstandene Weltanschauung besitzt nicht nur den Reichtum dessen, was inchoativ, keimhaft und potentiell ist, son-

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dern auch die Verlässlichkeit und Echtheit dessen, was ursprüng­ lich, anfänglich und hervorquellend ist. Eine Philosophie ist nichts anderes als eine Weltanschauung, die intentional und bewusst in begriffliche und spekulative Termini übersetzt wird. Umgekehrt ist Ideologie gleichursprünglich mit Philosophie und stellt deren negative und verfehlte Alternative dar: Während die Philosophie die persönliche Interpretation der Wahrheit, nämlich eine Weltanschauung, in spekulative Begriffe übersetzt, das heißt, während die Philosophie das Band sichert, das den Menschen persönlich an die Wahrheit bindet und die ontologische Dimension des ganzen menschlichen Seins bekräftigt, entsteht die Ideologie gerade als Seinsvergessenheit, Verdunkelung der Wahrheit, Ablehnung des ontologischen Bezuges und Verrat am ursprünglichen Band. Die Ideologie beschränkt sich nicht darauf, eine reduzierte, verwässerte oder degradierte Philosophie zu sein, sondern ist gerade Negation der Philosophie. Ihrem Wesen nach entsteht sie als Surrogat der Philosophie, so dass, wo sie ist, keine Philosophie sein kann und kein Platz mehr für sie bleibt, wo Philosophie ist. Philosophie und Ideologie sind zwei Optionen einer Wahl, zwei Möglichkeiten einer Alternative. Das Denken ist in seiner Ausübung unmittelbar, von Anfang an, mit dem Dilemma konfrontiert: entweder eine persönliche Offenbarung der Wahrheit zu sein, eine Bestätigung der ontologischen Dimension des Menschen, eine Behauptung des veritativen Charakters der Philosophie oder ein einfacher Ausdruck der Zeit, eine vollständige Instrumentalisierung der Vernunft und ihre Reduzierung auf Technik, Methodologie, Ideologie. In Bezug auf Weltanschauung hat also der Denker die Möglichkeit, sie zur Philosophie zu erheben oder sie zur Ideologie zu pervertieren, je nachdem, ob der ontologische Bezug, den sie enthält, von der Spekulation des philosophischen Denkens bekräftigt wird, oder ob er durch die vollständige Technisierung des ideologischen Denkens verleugnet wird. Gegenüber der Welt­ anschauung ist der Philosoph der »Gelehrte«, der, weit davon entfernt, sich in seiner »Aufgeblasenheit« zu verstecken, nichts

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anderes tut, als mit Worten und Denken das zu erreichen, was der einfache Mensch bereits weiß und was der gewöhnliche Mensch auch nur mit dem Leben sagen kann. Damit beweist er mit angemessener Offensichtlichkeit das, was übrigens schon Pascal tiefsinnig über »Wissenschaften, die zwei Extreme haben, die sich berühren« äußert, insoweit »die großen Geister, die alles, was die Menschen wissen können, durchgemacht haben«, gelehrsam zu jener Unwissenheit zurückkehren, die das Wissen enthält, von dem sie ausgegangen ist. In Bezug auf Weltanschauung scheint dagegen die Ideologie die Haltung des »Halbgelehrten« zu vertreten, von dem Pascal spricht: »Diejenigen zwischen den beiden Extremen, die aus der natürlichen Unwissenheit hervorgetreten sind und nicht zu der anderen gelangen konnten, haben eine oberflächliche Kenntnis dieser ausreichenden Wissenschaft und spielen die Klugen. Diese bringen die Welt in Aufruhr und urteilen über alles schlecht«.14 Es ist kein Zufall, dass Dostojewski gerade in den Dämonen – ein Werk, das man wirklich als Tragödienroman der Ideologie betrachten kann, der als solcher nicht unbeachtet bleiben darf, da er sich ernsthaft mit dem Problem der Ideologie von einem philosophischen Standpunkt aus befasst – die »Halbwissenschaft« verurteilt: »[Die] Halbwissenschaft […], diese furchtbarste Geißel der Menschheit, die schlimmer ist als Pest, Hunger und Krieg und die vor Beginn unseres Jahrhunderts noch gar nicht bekannt war. Die Halbwissenschaft ist ein Despot, wie es bis jetzt noch keinen schlimmeren gegeben hat. Sie ist ein Despot, der über eigene Priester und Sklaven verfügt, ein Despot, vor dem sich alles in Liebe und mit einem früher undenkbarem Aberglauben beugt, ein Despot, vor dem sogar die Wissenschaft selbst zittert und dem sie in der schmählichsten Weise Handlangerdienste leistet.«15 14  B. Pascal, Gedanken, 83 / 327, übers. von Ulrich Kunzmann, Reclam, Stuttgart 2012, 69. 15  F. Dostojewski, Die Dämonen, übers. von Gregor Jarcho, Liwi Verlag, Göttingen 2021, 240.

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Die Philosophie ist also getragen von dem Gelehrten, der das wiederfindet, was der Ungelehrte ursprünglich weiß, während der Ideologe, sozusagen als Halbgebildeter, es verleugnet, verrät und ausarten lässt. Ideologie bedeutet also Verrat und Vergessenheit: Von der Wahrheit bewahrt sie nichts mehr, auch nicht das Bedürfnis nach ihr. Zu behaupten, dass überall dort, wo Denken ist, Philosophie sei, auch in der Ideologie, ist Optimismus um jeden Preis. Man versteht dabei dann nicht, dass in der Ideologie das Denken gerade deswegen eingesetzt wird, um Philosophie zu leugnen, da sie davon ausgeht, das Sein abzustreiten und die Wahrheit zu verleugnen. Dies ist der Punkt, an dem der Philosoph jede irenische Absicht und jeden versöhnenden Geist auf­ geben muss, denn hier befinden wir uns wirklich im Irrtum.

6.  Positive Wirklichkeit des Bösen und des Irrtums Optimismus und Irenismus verleiten oft dazu, nur die positiven Merkmale des Menschen zu betonen, ja zu behaupten, dass es im Menschen vornehmlich Positives gebe. Dies hat zu allen Zeiten zu den bekannten Theorien geführt, die beabsichtigen – wie in einem Würfelspiel – den Irrtum und das Böse verschwinden zu lassen, entweder weil sie als dialektische Momente für die Wahrheit oder zum Guten notwendig wären, oder weil sie sich nicht auf sich selbst stützen könnten und in irgendeiner Weise von der Wahrheit und dem Guten gestützt werden müssten – sei es nur, um den Anschein des Guten anzunehmen oder auf ihn abzielen zu können. Denn es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass der Mensch das Böse und den Irrtum intentional und gezielt wollen kann. Hier öffnet sich der Weg für eine Diskussion zur Wirklichkeit von Irrtum und dem Bösen, die, um nicht erschöpfend, aber doch gerade ausreichend zu sein, schon in sich eine endlos umfangreiche Behandlung erfordern würde. Ich werde mich auf die folgenden Bemerkungen beschränken.

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Was die Möglichkeit betrifft, den Irrtum und das Böse beseitigen zu können, indem man sie beide in notwendige dialektische Momente verwandelt, so ist zunächst festzustellen, dass das positive Ergebnis, das sie nach sich ziehen können, ganz und gar außerhalb ihres Charakters von Falschheit und Bosheit liegt, weil es keineswegs das Ergebnis eines ihnen inneren Prozesses ist oder die Folgerichtigkeit einer ihnen innewohnenden Logik. Das geht so weit, dass in den transzendentaltheoretischen Auffassungen die Möglichkeit, das Gute aus dem Bösen zu gewinnen, nicht nur völlig außerhalb der Reichweite des Menschen liegt, sondern einen überaus klaren Beweis von der Allmacht Gottes erbringt. Zweitens ist Folgendes zu beachten: Die Tatsache, dass die menschliche Formulierung des Wahren immer mit der Möglichkeit des Irrtums behaftet ist und die menschliche Ausübung des Guten immer die Möglichkeit des Bösen mit sich bringt, darf nicht als eine dialektische Integration missverstanden werden. Denn zu jener Situation von »insecuritas«, von Unsicherheit und Risiko gehört, dass sie das wesentlich Tragische der conditio humana ausmacht: Der Mensch ist unfähig, das Positive zu verwirklichen, wenn nicht durch einen Akt, der die ständige und effektive Möglichkeit des Negativen miteinschließt. Die Abschaffung der Möglichkeit des Bösen wäre überhaupt nicht mehr möglich, außer als Abschaffung der Freiheit selbst. Das aber würde die Abschaffung der einzigen Quelle bedeuten, über die der Mensch verfügt, um das Gute überhaupt verwirklichen und so auch zu ­einem Verdienste zu gelangen. Was die Möglichkeit betrifft, den Irrtum und das Böse zu beseitigen, insofern sie notwendigerweise von dem ihnen vorausliegenden Guten sowie der Wahrheit gestützt sind – bzw. indem sie den Anschein von dieser annehmen und die Zustimmung der Vernunft und des Gewissens fordern –, so müssen folgende zwei Bemerkungen genügen. Erstens gehört diese Möglichkeit zum notwendig parodistischen und simulierenden Charakter des Irrtums und des Bösen, die konstitutiv Verfälschungen und Karikaturen der Wahrheit und des Guten sind und gerade deswe-

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gen umso zerstörender und verfehlter wirken. Eine solche Verschleierung zeigt noch einmal mehr ihre Negativität. Denn es gibt nichts Teuflischeres als die Existenz des Teufels zu leugnen. Somit auch nichts Negativeres als das Gute und die Wahrheit als Maskierung und Alibi des Bösen und des Irrtums zu instru­ mentalisieren. Sie bedienen sich eben dieser Verstellung, um sich als Besseres ausgeben zu können und annehmbarer zu machen. Ganz so, wie der Antichrist das Aussehen Christi annehmen muss, und die Macht der Finsternis als Engel des Lichts erscheint. Zweitens hängt ein solcher parodistischer Charakter des Irrtums und Bösen noch von der Verfasstheit der conditio humana ab. Sie drückt sich in der zweideutigen und widersprüchlichen Natur des Menschen aus, welcher in Gegensätzen gefangen und zwischen Extremen eingespannt ist. So ist er immer Opfer von der Abspaltung, in die er gestellt ist. Dennoch ist man in dieser Verfasstheit immer wieder versucht, beides miteinander zu vermengen und das eine als das andere auszugeben. Die menschliche Natur ist an sich zweideutig: fähig, das Gute unter dem Anschein des Bösen zu verbergen und das Böse mit den Zügen des Guten zu kaschieren und darüber hinaus noch, Gut und Böse in der Motivation ein und derselben Tat zusammenzuwerfen, die deshalb je nach Standpunkt weder weniger gut als schlecht noch weniger schlecht als gut ist. Die menschliche Natur ist sogar dazu fähig, nicht nur das Gute in das Böse zu verkehren und damit sogar die ursprünglich authentischen und großzügigen Impulse zur Fehlform gerinnen zu lassen, sondern auch das Böse in das Gute zu verkehren. So als ob die überwältigende Kraft der Bekehrung sich gerade nur im Geist des hartnäckigsten Sünders offenbart und ankündigt oder als ob man – um mit Karl Barth zu sprechen – die Ekstase geradezu im Trivialen trifft.

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7.  Die unwiederbringliche Negativität der Ideologie Mit der Ideologie sind wir eigentlich mit dem Irrtum und dem Bösen konfrontiert, in der ganzen effektiven Wirklichkeit ihrer negativen Kraft: Das Vorhandensein der Ideologie in der heutigen Zeit würde ohne weiteres ausreichen, um uns von der unausweichlichen Wirklichkeit des Irrtums und des Bösen sowie von ihrer schrecklichen Wirksamkeit in der Lebenswelt zu überzeugen. Lassen wir zunächst den Gesichtspunkt des Bösen beiseite, um die Aufmerksamkeit auf die Ideologie als Irrtum zu lenken. Die Versuchung, den Irrtum zu leugnen, entsteht erstens aus der Forderung, der Geschichte Rechnung tragen zu müssen, bis zu dem Punkt, dass für den Historizismus und den Soziologismus der Irrtum nicht mehr existiert, da von ihnen jede kulturelle Form nach dem einzigen Kriterium ihrer Anpassung an die Zeit und an die geschichtliche Umgebung, in der sie statt hat und aus der sie hervorgeht, beurteilt wird; zweitens aus der Forderung, die Positivität des Menschen betonen zu müssen – bis zu dem Punkt, dass für den Optimismus der Irrtum höchstens noch eine materielle und objektive Existenz haben kann (wenn man so etwas überhaupt sagen kann). Denn subjektiv kann der Irrtum nicht anders als aus Wahrheit bezeichnet werden und rational würde das grundlegende menschliche Bedürfnis nach Wahrheit genügen, um ihn mit einem Prozess von Korrekturen und Integrationen zu erlösen. Auf diese Weise verschwindet der Irrtum gänzlich; er zeigt sich höchstens noch als etwas Unzulängliches, Anachronistisches, Partielles, Vorläufiges oder Ähnliches. Gewiss, es gibt nichts Bequemeres und Tröstlicheres, als die Nicht-Existenz des Irrtums zu behaupten. Denn wenn es wirklich eine »tröstende und erbauende Philosophie« gibt – würdiges Objekt der ironischen Angriffe des heutigen Geistes, der so kritisch und ernüchternd daherkommt –, dann besteht sie gerade in einem rationalistischen Optimismus und insbesondere in jenem tendenziösen Historizismus von einer dezidiert soziologistischen Art, der mehr oder weniger die bewusste Basis des größten

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Teils der zeitgenössischen Kultur bildet. Aber der Irrtum existiert; er ist das unauthentische Denken, dasjenige, das sich als Denken aktuiert, um sich als solches selbst zu negieren; es ist das rein ausdrückende, geschichtliche, technische und instrumentelle Denken – wie es hier bereits definiert wurde –, das unter anderem als Ideologie aufkommt. Gerade deshalb plädiere ich für die von mir ins Auge gefasste Deutung der ontologischen Dimension des Menschen – und zwar als ursprünglicher Zusammenhang des Bandes von Person und Wahrheit und somit als dasjenige Denken, das zugleich offenbarend und ausdrückend, ontologisch und geschichtlich ist. Dies ist als die einzige Weise zu betrachten, sowohl der Geschichte als auch dem notwendigen Vorhandensein des Irrtums Rechnung tragen zu können. Es ist die einzige Weise, der Wirklichkeit des Irrtums zustimmen zu können, ohne deswegen die Veränderlichkeit und Vielfalt der geschichtlichen Situationen zu vergessen; es ist auch die einzige Weise, die Pluralität der Interpretationen mit der Unterscheidung zwischen wahr und falsch zu versöhnen. Tatsächlich ist das rein ausdrückende, geschichtliche, technische Denken wirklich ein Irrtum im radikalen und tiefen Sinn. Es ist kein Irrtum, weil es nur eine bloße und vorläufige Annäherung an das Wahre wäre, ein reiner, mehr oder weniger gelungener Versuch, es zu fassen und zu formulieren, ein reines Scheitern auf dem Weg einer an sich prekären und unsicheren Suche. Es handelt sich auch nicht um einen Irrtum als Schwächung und Abschwächung, Zersplitterung oder Zerstreuung der Wahrheit, eine fast schon besessene aber jetzt abgeschwächte Wahrheit, als solche verblichen und auf dem Wege der Zersetzung. Sondern jenes Denken ist dementgegen – offen und entschieden  – Verdunkelung und Vergessenheit, Vergessen und Verlassen der Wahrheit, ein Denken der Abwendung und Abscheu von ihr. Es ist ein Denken, das sich als Denken aktuiert, gerade um die Wahrheit zu verraten, verleugnen, um sie zu ersetzen, um ihr Ende und ihre Nutzlosigkeit zu erklären. Man sollte nicht sagen, dass es nur deshalb Irrtum sei, weil es auch kein Denken ist, da ein

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rein historischer, technischer und instrumenteller Diskurs des Namens »Denken« nicht würdig zu sein scheint; damit tut man nichts anderes, als – um es noch einmal zu sagen – den Irrtum auf eine einfache Abschwächung der Wahrheit zurückzuführen. Gewiss, man kann den Namen »Denken« in seinem eigentlichen und vollständigen Sinn nur dem ontologischen und offenbarenden Denken beimessen. Doch auch dieses ausdrückende und geschichtliche, technische und instrumentelle Denken ist Denken. Zwar ein Denken, das gerade dazu ausgeführt wird, um das onto­ logische und offenbarende Denken zu leugnen. Und damit die Wahrheit, an die die Person ursprünglich gebunden ist, sowie die Philosophie als eine verbale und spekulative Wieder­gewinnung jenes ursprüng­lichen Bandes, leugnet. Kurz gesagt, der Irrtum und das Böse sind nicht reine mutmaßliche Annäherungen an das Wahre und Gute oder deren einfache Deformation oder Schwächung, sondern sie sind jeweils ein Denken – wenn auch als Fehlform –, das gezielt ausgeübt wird, um das Wahre zu leugnen, und Freiheit – wenn auch in verminderter Form –, die gezielt ausgeübt wird, um das Gute zu leugnen: Sie sind positive Einsetzung einer negativen Realität und negativer Gebrauch positiver Vermögen; Effizienz negativer Kräfte und Verkehrung positiver Möglichkeiten. Mit einem Satz: Sie sind eine solche Verflechtung von Positivität und Negativität, wodurch beide, anstatt sich gegenseitig aufzuheben, sich gegenseitig verstärken, so dass die Negativität, weit davon entfernt, unvollständige und partielle Positivität zu sein, von der Positivität weitere Schubkraft erhält und die Positivität, indem sie ihr eigenes Vorzeichen wechselt, nur dazu dient, die Negativität in ihrem schwachen und ungewissen Zustand in offene und erklärte Destruktivität zu verwandeln. Gegenüber dem Irenismus (und dem daraus logisch folgenden Eklektizismus) des rationalistischen Optimismus und dem Technizismus, in den notwendigerweise der soziologistische Historizismus mündet, habe ich eine dramatische Position vorgeschlagen, und damit eine, die mehr mit der Tragik der conditio humana

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übereinstimmt: Der Mensch muss mit der Realität des Bösen und des Irrtums und mit der dämonischen Destruktivität, die daraus folgt, rechnen. Die unsichere und prekäre Situation, in der er sich befindet, wird nicht durch den unpersönlichen Prozess, in der das technische Denken sich selbst prüft und korrigiert, geheilt, sondern sie fordert einen persönlichen Einsatz, besonnenen Kampf, gezielte Entscheidung, die zur Eroberung und zum Sieg nur durch das ständige Risiko von Verlust und Besiegt-werden führen kann.

8.  Falsche positive Merkmale der Ideologie und ihre Aufdeckung Wenn die Dinge so stehen, hat es keinen Sinn, in den Ideologien nach positiven Instanzen und Merkmalen zu suchen. Es ist nämlich klar, dass sich in der historischen Wirklichkeit des menschlichen Zusammenlebens Gut und Böse, Versuch und Gelingen, Suche und Scheitern miteinander vermischen, so dass es mit der verstehenden mens des Historikers immer möglich ist, Keime von Gutem in der Wirklichkeit des Bösen zu sehen und umgekehrt, wie ich bereits gezeigt habe. Hier ist wichtig klarzumachen, dass die Genauigkeit des philosophischen Bestimmens – aufgrund seiner Präzision, die frei von Verwirrungen ist – die einzige ist, die in der Lage wäre, ein wenig Licht in die Komplexität der menschlichen Welt zu werfen. So wird man sehen, dass es in der Tat wahr ist, dass das ideologische Denken in gewisser Weise die Wahrheit bejaht, an die es durch eine, wenn auch negative, Beziehung gebunden ist; gerade deshalb aber bejaht es die Wahrheit in der gleichen Weise, wie auch das Böse in gewisser Weise das Zeugnis des Guten sein kann, wenn auch nicht in anderer Form als in einem Kontrast. Man wird so einsehen, dass zugleich auch wahr ist, dass auch das ideologische Denken in gewisser Weise die Wahrheit bestätigt, an die es mit einem, wenn auch eben nur negativen, Bezug gebunden ist; gerade deshalb bestätigt es sie

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und dies in gleicher Weise, wie auch das Böse in gewisser Weise das Zeugnis des Guten sein kann, wenn auch in keiner anderen Form als im zu durchschauenden Gegensatz. Vor allem wird man sehen, dass ein gewisser Optimismus verbleibt, die Effizienz der Ideologien auf erstrebte Wahrheit und ihre Faszination auf das Denken zurückzuführen, als ob überall dort, wo Effizienz und Faszination ist, notwendigerweise auch etwas Positives, Wahres, Echtes sein müsste. Man darf nicht glauben, dass die Effizienz und Faszination nur zum Wahren und zum Guten gehören. Im Gegenteil, wenn man genau hinschaut, sind sie dem technischen und instrumentellen Denken eigen, das gerade Anerkennung und tiefgreifende Durchsetzung anstrebt; während doch dem Wahren und Guten eher Wirksamkeit und Überzeugungskraft zukommt, d. h. ein eigener Wert, auch wenn er verleugnet und verkannt wird, sowie die dezidierte Überzeugung, die immer streng persönlich und unersetzbar ist. Eine Idee kann mächtig sein, auch wenn sie kein Wort der Wahrheit ist, und die Kinder der Finsternis sind klüger als die Kinder des Lichts; daraus ergibt sich der größere – wenn auch vorübergehende und flüchtige – Erfolg der Ideologien gegenüber der echten Philosophie, die ihren Einfluss eher auf die einzelnen als auf die Masse ausübt, eher auf die uneigennützige Kultur als in der technischen und politischen Welt, eher auf den langen Lauf der Zeit als auf das kurze Strohfeuer des Augenblicks. Wie Effizienz und Faszination eine Parodie auf Wirkmächtigkeit und Überzeugung sind, so entstammen sie auch der verstellenden Natur des ideologischen Denkens: nicht der Wahrheit, sondern der Verfälschung derselben; nicht dem Denken, sondern der Verkehrung des Denkens. Das ideologische Denken ist vor allem deshalb effizient und verführerisch, weil es zeitgemäß ist, auf den Erfolg abzielt und eine vollständig explizierte und tendenziell totalisierende Konzeption ist. Diese drei Merkmale sind aber nichts anderes als die Verfälschung der drei Merkmale des offenbarenden Denkens, das der Zeit Rechnung trägt, nicht um den Zeitaltern nachzugehen, sondern um aus ihnen einen Zugangs-

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weg zur Wahrheit zu machen, d. h. eine immer neue und unterschiedene Interpretation von ihr. Es bemüht sich um eine Entscheidung nicht um des Erfolgs willen, sondern um der Wahrheit Zeugnis zu geben; es strebt nach Totalität, nicht um sie in das Ergebnis einer vollständigen Explikation zu verwandeln, sondern um sie als eine unerschöpfliche Quelle zu betrachten, aus der es seine eigenen Inhalte schöpft. Man kann auch nicht sagen, dass ein positives Element des ideologischen Denkens seine – wenn auch leere – Rationalität ist oder seine – wenn auch scheinbare – Universalität, d. h. jener Charakter der rationalen Kohärenz und des technischen Experimentierens, der ihm notwendigerweise durch seinen unverzichtbaren begrifflichen Apparat und seine konstitutive pragmatische Intentionalität verliehen wird. Diese leere und rein pragmatische Rationalität ist kein positives Element, denn sie ist eher das, was das ideologische Denken noch mehr mystifiziert, indem sie seine Funktion darauf eingrenzt, eine geheime Geschichte zu rationalisieren und eine praktische Bestimmung zu verbergen. Das, was zählt, ist nicht die Vernunft, sondern die Wahrheit: Ohne Wahrheit wird die Vernunft zum reinen Ausdruck oder zur bloßen Technik; das aber bedeutet, dass sie Gefangene der sterilen Antithese zwischen Rationalismus und Irrationalismus bleibt. Denn wenn der Rationalismus den Anspruch auf eine vollständige Explikation des Diskurses erhebt, dann verlangt die Ideologie notwendigerweise ein rationalistisches Ergebnis. Sie zu verstehen bedeutet dann, sie zu entmystifizieren, d. h. das Verschwiegene zu erklären, und somit die geheime Geschichte zu vernichten, indem man sie zur vollständigen Explikation bringt. Und wenn die Vernunft ohne Wahrheit in eine rein pragmatische Anwendung oder in eine rein technische Ausübung des Denkens mündet, hat sie unausweichlich ein irrationalistisches Ergebnis – und genau das ist der Fall der Ideologie, die gerade als Ausdruck der Zeit Instrument der Handlung wird. Kurz gesagt, die Vernunft ohne Wahrheit, nachdem sie den extremen Rationalismus der vollständigen Explikation und der

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Selbstkorrigierbarkeit des Denkens gestreift hat, mündet letztlich ins Irrationale, denn sie ist ein nur geschichtliches oder technisches Denken, bei dem der kritische Zug der Entmythologisierung und des Experimentierens nicht ausreicht, um sie vor dem mächtigen Irrationalismus des soziologischen Historizismus, des panpolitischen Praxismus und des radikalen Empirismus zu bewahren. Man kann auch nicht sagen, dass auch das ideologische Denken einen offenbarenden Charakter habe, dahingehend, dass es wenigstens die Zeit enthüllt, deren Ausdruck es ist. Zuzugeben, dass die Ideologie die Zeit enthüllen oder wenigstens auch nur erleuchten könne, deren Abbild und Bewusstsein, Produkt und Instrument sie zugleich ist, bedeutet, sich der ausschließlich ausdrückenden und pragmatischen und somit nicht veritativen Natur der Ideologie nicht bewusst zu sein. Zunächst einmal gibt es von der Wahrheit nichts anderes als Offenbarung und von der Zeit nichts anderes als Ausdruck, und die Offenbarung kann es von nichts anderem geben als von der Wahrheit, genauso wie es Ausdruck von nichts anderem geben kann als von der Zeit. Diese Termini können auch nicht ausgetauscht werden, denn von der »Offenbarung der Zeit« zu sprechen, würde bedeuteten, die Zeit nicht als Zugangsweg zu betrachten, der sie nur sein kann, sondern als Ursprung, was sie gewiss nicht ist; und vom »Ausdruck der Wahrheit« zu sprechen, würde bedeuten, sie auf eine menschliche oder sub-humane Ebene herabzusetzen – sei sie nun soziologisch oder psychologisch oder natürlich –, mit dem Ergeb­nis, die Metaphysik in eine Form von Pantheismus oder Naturalismus ontischer Art umzuwandeln. Außerdem kann die Wahrheit über die Zeit nicht anders erscheinen als im offenbarenden Denken, und zwar in jenem Denken, das die Zeit genau in dem Akt ausdrückt, in dem es zur Wahrheit gelangt. Die Wahrheit über die Zeit erreicht man nur, indem die Zeit selbst als der Zugangsweg zur Wahrheit betrachtet wird. Das nur ausdrückende Denken ist notwendigerweise verfälschend und mystifizierend: Es drückt die Zeit nur aus, in-

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dem es sie verstellt; es hat ja keine andere Möglichkeit, die Zeit auszudrücken, als sie zu verbergen. Es handelt sich hier nicht um jene Verhüllung, die notwendigerweise mit der Enthüllung einhergeht: Wenn es sich um das Unerschöpfliche handelt und folglich um das Mitgemeinte, muss man gewiss sagen, dass es keine Enthüllung ohne Verhüllung gibt und auch keine Erscheinung, die nicht einen Aspekt der Erhellung hat, die im Moment ihres Hervortretens die Dunkelheit zerstreut. Es handelt sich vielmehr um die Tatsache, dass der Ausdruck selbst die Form der Verstellung annimmt, und dass eben die Verstellung selbst einen Charakter von Ausdruck gewinnt, so dass die Ideologie die Zeit nur ausdrückt, indem sie sie verfälscht, und ihre Ausdrucksfähigkeit (espressività) erscheint nur mit einer opportunen Entmystifizierung. Die Entmystifizierung kann sicher ihren Anfang in ­einer Ideologie haben, die sich im Gegensatz befindet, zu der in Frage stehenden, die diese gerade dadurch bekämpft, dass sie das in ihr liegende Verschwiegene aufzeigt; aber die Entmystifizierung kann eine angemessene Vertiefung nur von einem höheren Standpunkt aus als der Ebene der Ideologien und dem Rahmen ihres gegenseitigen Kampfes finden; ihre Vollendung kann sie nur im ontologischen Denken erreichen, das die Beschränktheit der Entmystifizierung zugunsten der Tiefe der Interpretation aufgibt. Eine wahrhaft durchdringende Erkenntnis erreicht man nur durch die Interpretation; aber wo es Interpretation gibt, ist veritatives Denken, die ontologische Dimension, die das Band von Person und Wahrheit bildet. Weder der einfache und reine Ausdruck noch die Entmystifizierung können daher Erkenntnis, Verstehen und Durchdringen der Zeit sein, denn der Ausdruck ist notwendigerweise Verstellung und Maskierung und die Entmystifizierung ist nur eine Denunziation der Irrationalität des geheimen und impliziten Lebens und zudem ein Versuch, die Totalität der Explikation zu erreichen; nur die Interpretation kann die Wahrheit über die Zeit sagen. Sie kann dies tun, weil sie eine Form offenbarender Erkennt­nis ist, die mit der Wahrheit zu tun hat, d. h. mit der Un-

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erschöpflichkeit des Ursprungs und der Unendlichkeit des Unausgesprochenen.

9.  Nicht-ideologischer Charakter der Philosophie Der vorangehende Einwand kann auch anders ausgedrückt werden, und zwar folgendermaßen: Die Ideologie ist so weit davon entfernt, eine ausschließlich negative Realität zu sein, dass – wie überall, wo Denken ist, es auch Philosophie gibt und somit auch in der Ideologie – auch die Philosophie selbst in gewisser Hinsicht einen ideologischen Charakter und Aspekt hat: Wie es in der Ideologie ein offenbarendes Moment gibt, so gibt es auch in der Philosophie ein ideologisches Moment. Zusammengefasst: Wenn es wahr ist, dass das offenbarende Denken immer auch ausdrückend und geschichtlich, vielfältig und persönlich, situiert und interpretativ ist, dann muss man auch zugeben, dass die Philosophie in ihrer Geschichtlichkeit, die aus der menschlichen Bedingtheit des Philosophierens erwächst, immer einen unvermeidlich ideologischen Aspekt hat. Der Sinn dieses Einwandes ist – wenn ich ihn gut verstehe – folgender: Gleichgültig, ob man nicht nur den ausdrückenden Charakter der Philosophie, sondern auch ihren ideologischen Charakter als etwas wesentlich Positives betrachtet, welches das Denken als solches qualifiziert, oder ob man nicht nur den ideologischen Charakter der Philosophie, sondern auch ihren ausdrückenden Charakter als etwas Fehlerhaftes und Mangelhaftes betrachtet, das es besser nicht gäbe. In beiden Fällen wird erstens darauf hingewiesen, dass dem Menschen die Philosophie nicht als reine Rationalität zureicht, und zweitens, dass der ideologische Aspekt des Denkens sich restlos mit seinem ausdrückenden und geschichtlichen Charakter identifiziert. Dazu muss ich sagen, dass ein solcher Einwand den zentralen Punkt der von mir vorgeschlagenen und vertretenen These übersieht, nämlich die Bejahung des ursprünglichen Bandes von

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Person und Wahrheit, des untrennbar offenbarenden und ausdrückenden Charakters des philosophischen Denkens sowie der ungeteilt persönlichen und ontologischen Natur des veritativen Diskurses. Aus den vor mir vorgeschlagenen Prämissen geht jedoch zunächst hervor, dass die Philosophie – insofern sie immer persönlich und damit auch historisch und ausdrückend wie auch offenbarend und ontologisch ist –, nicht den Charakter einer reinen Rationalität und einer exklusiven Logizität hat. Deshalb erfolgt meine Polemik gegen die Ideologie keineswegs im Namen eines »intellektualistischen Angelismus« oder gemäß dem rationalistischen Mythos des unpersönlichen oder entpersönlichten reinen Denkens. Dagegen habe ich schon bei der Bestimmung der Philosophie gezeigt, wie die Anforderungen der geschichtlichen Situation und der lebenden Personen stark berücksichtigt werden, indem ich sie als eine persönliche Offenbarung des Wahren betrachtet habe, deren Anerkennung nun aber davon abhängt, wie die einzelne Person ihre eigene geschichtliche Situation frei in den Blick nimmt. Es folgt zweitens, dass die Begriffe »ideologisch« und »ausdrückend« keinesfalls als Synonym betrachtet werden können, weil die Ausdrucksmächtigkeit (espressività) und damit die Geschichtlichkeit und die Vielheit auch zur Philosophie gehören, die ontologisches und offenbarendes Denken ist. Diese Begriffe gewinnen nur dann eine ideologische Bedeutung, wenn sie isoliert, von der Wahrheit entleert und ihrer onto­logischen Dimension beraubt werden. Dementsprechend, insoweit überhaupt die Verwendung der Begriffe »geschichtlich« und »ausdrückend« angebracht sein mag, kann man sie nur dann durch den Begriff »ideologisch« ersetzen, wenn es sich bei der Geschichtlichkeit und Ausdrucksmächtigkeit (espressività), um die es geht, nicht um jene handelt, die von der Person als Zugangsweg zur Wahrheit frei angenommen werden, d. h. nicht um die geschichtliche Situation in ihrer ontologischen Öffnung und in ihrer Offenbarungsmöglichkeit. Man kann also den Begriff »ideologisch« nur verwenden, nachdem festgestellt wurde, dass es sich dabei um jene Form der Geschichtlichkeit handelt,

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in der die Person in ihrer Zeit eingeschlossen bleibt, und es um jene Ausdrucksmächtigkeit (espressività) geht, in der das Denken sich mit der historischen Situation identifiziert. Die von mir vorgeschlagene Unterscheidung zwischen offenbarendem und ausdrückendem Denken ist – um es genauer zu sagen – eine Unterscheidung zwischen einem vor allem offenbarenden und einem nur ausdrückenden Denken: Das erstere ist zugleich ontologisch und persönlich und damit authentisch philosophisch, während das zweite bloß geschichtlich und pragmatisch ist und somit ideologisch oder technisch. Das offenbarende Denken kann nicht anders als auch ausdrückend sein und das geschieht kraft der ursprünglichen Solidarität von Person und Wahrheit, der zufolge Wahrheit nur durch ein unersetzbares persönliches Verhältnis zugänglich und formulierbar ist. Daraus folgt, dass das offenbarende Denken notwendigerweise ein geschichtliches und praktisches Element enthält, aber deshalb noch kein historizistisches und praxistisches Element, wie es nur ein nicht-ontologisches und nicht-offenbarendes Denken haben könnte, soweit es bloß zeitlich und pragmatisch bestimmt wäre. Und tatsächlich kann es ein nur ausdrückendes Denken geben, nämlich ein Denken, das vorsätzlich auf die Wahrheit verzichtet und sich erschöpfend von der Geschichtlichkeit her qualifizieren lässt. Mit einem solchen Denken ist das geschichtliche und praktische Element nicht mehr Zugangsweg zur Wahrheit oder eine mögliche ontologische Öffnung, sondern wird in sich selbst verabsolutiert und wird so erklärterweise historizistisch und praxistisch und damit typisch für das ideologische und technische Denken. Aus dieser Position ergeben sich einige Konsequenzen, von denen ich hier zwei kurz hervorheben möchte. Die erste Konsequenz ist, dass nur im philosophischen Denken, d. h. in einem Denken, das an sich zugleich ontologisch und persönlich ist, der Ausdrucks- und der Offenbarungsaspekt untrennbar und unteilbar sind, während das ideologische und technische Denken dagegen sich gerade aus einer missbräuchlichen Trennung dieser

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beiden Aspekte ergibt, die aus einer expliziten Ablehnung des Offenbarungsaspektes hervorgeht. Die zweite Konsequenz ist, dass das geschichtliche und praktische, situative und vielfältige, individuelle und soziale Element an sich nicht negativ ist. Denn während es einerseits positiv in einer ontologischen Dimension angenommen werden kann, als mögliche Öffnung zur Wahrheit und folglich als Ausgangspunkt für eine persönliche Interpretation des Wahren – das geschieht gerade im philosophischen Denken –, wird es andererseits nur dann negativ, wenn es als unvermeidbare Abgrenzung oder als unüberwindliche Verschließung erscheint – das geschieht gerade im ideologischen Denken. Also entleert es sich der Wahrheit nur, um sich mit Zeit zu füllen; es befreit sich vom Sein nur, um der Situation Herr zu werden; es verzichtet auf den Ursprung nur, um sich im Augenblick aufzulösen. Schließlich aber ist dieses Denken unfähig zu verstehen, dass nichts anderes als Freiheit auf die ursprüngliche Anregung (stimolazione originaria) antworten kann. Es ist auch unfähig zu begreifen, wieviel Instabiles und Unsicheres dieser bewusste und verantwortliche Bezug zum Sein in sich birgt. Insofern sieht es in der Wahrheit nichts anderes als das Extrem eines Zwanges und der Unterdrückung und daher den Umschwung in das andere Extrem vorzieht, d. h. in das Vergängliche und Willkürliche.

10.  Konkretheit der authentischen Philosophie Meine Polemik gegen die Ideologie will ich also nicht im Namen einer rationalistischen und unpersönlichen oder gar »angelistischen«, d. h. das menschliche Leben vergessende Philosophie führen. Dies ist gerade deshalb nicht der Fall, weil ich die Philosophie nur als ein Denken begreifen kann, das nur eine einzige Möglichkeit hat, offenbarend zu sein und zur Wahrheit zu gelangen. Dies geschieht, indem es die geschichtliche Situation in ein Medium der Annäherung an die Wahrheit umwandelt, wodurch die geschichtliche Substanz der Person in einen enthüllenden

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Leuchtturm der Wahrheit verwandelt wird und dem Leben der Person selbst in ihrer Zeit und ihrem Umfeld eine ontologische Öffnung und eine wahrheitstragende Prägnanz eindrückt. Dieses Denken nimmt dementsprechend an, dass die Wahrheit nur innerhalb der Interpretation zugänglich ist, die notwendigerweise immer geschichtlich und persönlich ist, weil sie mit dem einhergeht, was die Person ist, tut, denkt, hört, sagt – all das verwandelt sich in eine enthüllende Linse, in eine Empfangsantenne, in ein Dispositiv des Einklangs. Dem ursprünglichen Band von Person und Wahrheit und dem ontologischen Verhältnis die Eigenschaft der Interpretation das Wort zu reden, bedeutet gerade dies: von der Konkretheit der geschichtlichen Situation ausgehend sich der Wahrheit zu nähern und die Wahrheit im Gehört-werden-­ Können der Zeit sprechen zu lassen. Deshalb ist es eine unnötige und überflüssige – ich möchte sogar sagen, eine beleidigende – Forderung, von der Philosophie zu verlangen, zur Zeit herabzusteigen und sich dem pulsierenden Leben zu nähern. Denn wenn eine Philosophie ihres Namens würdig ist, dann befindet sie sich immer schon in der Zeit und in der Geschichte, und von der Geschichte und von der Zeit hat sie bereits das angenommen, was sie annehmen konnte und musste, und in der Zeit und in der Geschichte wirkt und arbeitet sie bereits so, wie es ihr angemessen und eigen ist. Zu sagen, dass die Philosophie die Ideologie braucht, um sich in der Geschichte zu konkretisieren und lebensnahe zu werden, ist eine Behauptung, die der Tatsache keine Rechnung trägt, dass das Denken überhaupt nicht offenbarend sein kann, wenn es nicht zugleich ausdrückend und geschichtlich ist. Zur Einfügung der Philosophie in die Geschichte und zur geschichtlichen Qualifizierung der Philosophie sind jene verabsolutierte Geschichtlichkeit, Ausdrücklichkeit und Nützlichkeit, die die Ideologie kennzeichnen, überhaupt nicht notwendig. An sich schon ist Philosophie geschichtlich und lebendig, persönlich und vielfältig, situiert und aktiv, ausdrückend und wirkend. Noch mehr: Nur wenn man sie rationalistisch und »angelistisch« als reine unpersönliche Rationalität auf-

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fasst, scheint es nachher notwendig, um die Philosophie zu vergegenwärtigen und sie lebensnahe werden zu lassen, sie am Feuer der Ideologie zu erwärmen und erst diese dann als »pulsierende Form« der geschichtlichen Existenz des Menschen aufzufassen und eine »ideologische Struktur« für das menschliche Zusammenleben für unvermeidbar zu halten. Angesichts der Tatsache, dass auf diese Weise die Philosophie ihre eigene Funktion nicht mehr erfüllt und ihr Wesen nicht verwirklicht, wird es notwendig, sie durch ein Surrogat zu ersetzen und die ihr eigenen Aufgaben einer bloßen Karikatur von ihr anzuvertrauen, d. h. nur dann wird es notwendig, auf die Ideologie zurückgreifen, das aber bedeutet im Grunde genommen, das Leben dem Irrationalen zu überlassen. »Personalisierung« bedeutet nicht »Ideologisierung; weder ist die Geschichtlichkeit der Ideologie eigen noch gewinnt das Denken eine praktische Prägnanz erst dadurch, dass es sich selbst ideologisiert. An sich ist die Philosophie, die diesen Namen verdient, schon persönlich und somit vielfältig, geschichtlich, ausdrückend, wirkend. Wer die geschichtliche und praktische Qualifizierung der Philosophie der Ideologie überlässt, zeigt damit, dass er von der Philosophie eine »angelistische« und rationalistische Auffassung hat, als ob die Philosophie im »Paradies der reinen Rationalität« destilliert wäre und nur eine einzige Philosophie möglich wäre, die nur aus abstrakten Elukubrationen bestünde, deren nur »monastische« Philosophen oder »Kleriker der eigenen Ideen« – wie Vico sagt – würdig wären. Damit entkommt er nicht der Antithese von Rationalismus und Irratio­ nalis­mus, denn er stellt auf der einen Seite die Philosophie in ihrer reinen Rationalität und in ihrer endgültigen Einzigartigkeit dar und auf der anderen die Geschichte in ihrer veränderlichen Vielfalt und in der gemischten und trüben Komplexität des Lebens; er verbirgt den tendenziellen Manichäismus dieses Gegensatzes nicht, der zwischen der Sehnsucht nach einer ideellen und erwünschten Rationalität und Einzigartigkeit einerseits und dem Bedauern über die reale und unerwünschte Vielfalt und Irratio­nalität andererseits gespannt ist. Damit leugnet er die ver-

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mittelnde Funktion der Philosophie – die einzig die beiden Pole eini­gen könnte, indem sie der ersten ihre angebliche Abstraktheit nimmt und die zweite von einer ungerechtfertigten Abwertung befreit –, um somit der Ideologie eine solche vermittelnde Funktion zuzuschreiben. Eine solche Ideologie, die auf die Wahrheit verzichtet hat, ist nicht in der Lage, der Irrationalität der »nicht unterdrückbaren Motivationen« standzuhalten, und gerät daher auf die Seite einer extremen Irrationalität als unvermeidbarer Gegenschlag einer in sich versteiften Rationalität, die über das gerechtfertigte Maß hinaus akzentuiert wird. Meine Polemik gegen die Ideologie erfolgt daher im Namen des ontologischen und offenbarenden Charakters, den das philosophische Denken hat und auch haben muss, da die Ideologie ­einen solchen Charakter nicht nur verfehlt, sondern sogar gerade als Verzicht auf ihn entsteht. Ich habe keineswegs die Absicht, den geschichtlichen und praktischen Aspekt der Ideologie anzugreifen, die beide übrigens auch im philosophischen Denken vorhanden sind, und zwar nicht als geradehin vereinbar mit einem spekulativen Zug der Philosophie, sondern weil sie ihr unentbehrlich sind, da sie ohne den spekulativen Charakter nicht mehr eine solche Philosophie wäre, sondern in Abstraktion und Leere verfiele. Das, was ich an der Ideologie angreifen will, ist die Verabsolutierung des geschichtlichen und praktischen Elements des Denkens, nämlich die Technisierung der Vernunft, die ich »historizistisches« und »pragmatizistisches Denken« genannt habe. Meine Verteidigung der Philosophie gegen die Ideologie ist nicht die absurde Verteidigung einer abstrakten Vernunft gegen die Konkretheit der Geschichte und des Lebens, sondern sie ist die Verteidigung des ontologischen und offenbarenden Denkens gegen das eingeschränkt geschichtliche und instrumentelle Denken, die Verteidigung der sich aus dem Ursprung nährenden Vernunft im eminenten Sinne gegen die nur experimentelle und selbstkorrigierende Vernunft, also die Verteidigung des »vollen« Denkens gegen das »leere«, letztlich die Verteidigung der emphatischen Wahrheit gegen die Technik.

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Die geschichtliche Situation, weit davon entfernt, eine fatale und unvermeidbare Einschränkung zu sein, ist – um es nochmals zu wiederholen – der einzige Zugangsweg, über den der Mensch verfügt, um zur Wahrheit zu gelangen. Denn diese ist immer nur innerhalb einer einzelnen und konkreten Interpretation zugänglich und formulierbar, und das, was der Erkenntnis einen interpretativen Charakter aufdrückt, ist gerade ihre Persönlichkeit, ihre Situiertheit und ihre Geschichtlichkeit. Die Wahrheit lässt sich also nicht unabhängig von der Zeit erfassen: Die Zeit bietet ihr zugleich den Zugang und den Sitz an, Eingang und Wohnung, Figur und Ausübung. Aber wehe, wenn die Zeit, ermutigt durch ihre eigene Unerlässlichkeit, sozusagen hochmütig wird und die Grenze der ihr angemessenen Rechte überschreitet. Eine Verabsolutierung der Geschichte wäre die unmittelbare Folge, mit den von mir oben angezeigten Konsequenzen, die auf die Natur des Denkens selbst zurückschlagen, das sich – seiner ontologischen Tragweite und Wahrheitsfähigkeit beraubt – auf die Ausdrücklichkeit und die Nützlichkeit (pragmaticità) begrenzt und bloß technisch und rein empirisch wird.

11.  Unterschied zwischen geschichtlichem und ideologischem Charakter des Denkens Geschichtlichkeit, Situiertheit, Ausdrücklichkeit, Nützlichkeit, Persönlichkeit sind nicht dasselbe wie Ideologie; und wenn man von historischer Bedingtheit oder von Situationsbedingtheit oder – wie ich zu sagen pflege – vom ausdrückenden Charakter und der Persönlichkeit der Philosophie spricht, bedeutet dies keineswegs, dass die Philosophie an sich einen ideologischen Charakter hat. Von »sozialer Konditionierung und von der ideologischen Matrix eines jeden unserer Diskurse« zu sprechen – wie manche sagen – heißt zwei verschiedene Dinge zu vermischen: Die soziale oder, weiter gefasst, die geschichtliche Konditionierung aller menschlichen Tätigkeit kann auf der Grundlage einer freien per-

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sönlichen Entscheidung entweder zu einer bloßen Begrenzung auf Existenz oder zu einer wirklichen Öffnung zum Sein werden, je nachdem, ob die Person entscheidet, Geschichte zu sein oder Geschichte zu haben, sich mit der eigenen Situation zu identifizieren oder diese zu einem ontologischen Medium und Interpretationsschlüssel zu machen. Diese geschichtliche Bedingtheit ist also nicht an sich die ideologische Matrix eines jeden unserer Diskurse; vielmehr kann sie – je nachdem, welchen Charakter man ihr frei zuschreibt – entweder den ausdrückenden und interpretativen Charakter des offenbarenden und philosophischen Diskurses oder den rein historischen und pragmatischen Charakter des instrumentellen und ideologischen Diskurses annehmen. Die so verstandene geschichtliche Situation ist keine fatale Konditionierung, die besser nicht existieren sollte; sie ist vielmehr jene geschichtliche Situierung, deren ontologische Öffnung man frei wiedergewinnen muss. Somit ist sie das einzige, enthüllende Organ, über das der Mensch verfügt, um zur Wahrheit zu gelangen, die ihrerseits nur zu dem spricht, der sie persönlich zu befragen weiß, und sich nur dem offenbart, der sie mit der eigenen geschichtlichen Konkretheit in Einklang zu bringen weiß. Die historische Bedingtheit ist also nicht an sich verwerflich – denn das hieße, den persönlichen Charakter der menschlichen Tätigkeit zu verachten –, sondern die reine, verabsolutierte Geschichtlichkeit, die aus der Zurückweisung einer ontologischen Dimension der Situation und einer Wahrheitsfähigkeit des Denkens hervorgeht. Die geschichtliche und soziale und damit persönlich-menschliche Konditionierung ist konstitutiv, wesentlich und positiv; ihr ideologischer Ausgang ist dagegen eine Möglichkeit, aber eine negative und bedauernswerte Möglichkeit. Aus diesen Gründen kann ich der These nicht zustimmen, dass zwischen Philosophie und Ideologie »nicht ein Verhältnis der Opposition und der gegenseitigen Ausschließung, sondern eines der Komplementarität und der gegenseitigen Integration« besteht, wie einige vorschlagen. Die Aspekte, die sich gegenseitig integrieren können, sind innerhalb des philosophischen

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Denkens der ausdrückende, geschichtliche und persönliche Aspekt und der offenbarende, veritative und ontologische Aspekt. In einem solchen Fall handelt es sich nicht einmal um Integration und Komplementarität, sondern um eine wahre und eigentliche Untrennbarkeit und Unteilbarkeit, so dass der eine Aspekt seine Konfiguration und die Möglichkeit seiner Ausübung nur in dem anderen finden kann. In der Tat ist der ausdrückende Aspekt des philosophischen Denkens untrennbar mit dem offenbarenden Aspekt verbunden, denn das, was sich damit ausdrückt, ist nicht die geschichtliche Situation als solche, sondern die Person selbst, soweit sie ihre eigene Situation als geschichtliche Öffnung zur nicht-zeitlichen Wahrheit betrachtet. Und der offenbarende Aspekt des philosophischen Denkens ist untrennbar mit dem ausdrückenden Aspekt verbunden, denn es gibt keine objektive Manifestation der Wahrheit, sondern es geht immer darum, sie innerhalb einer geschichtlichen Perspektive, d. h. einer persönlichen Interpretation zur Gestalt zu bringen. Die Ideologie resultiert dagegen aus einer künstlichen Trennung dieser beiden Aspekte des Denkens, d. h. aus einer angeblichen Dissoziation des ausdrückenden Aspekts, der somit abgetrennt und isoliert ist. Man kann also meines Erachtens weder behaupten, dass »die Philosophie eines Menschen immer etwas Ideologisches und seine Ideologie immer etwas Philosophisches haben wird«, noch die These als völlig irrig betrachten, dass »die Ideologie nicht offenbarend, sondern nur aktiv ist, und dass die Philosophie nicht aktiv, sondern nur offenbarend ist«. Gewiss, die Philosophie hat auch einen ausdrückenden und aktiven, geschichtlichen und praktischen Charakter, aber sie hat deswegen keinen ideologischen Charakter. Denn Ideologie ist die Verabsolutierung des ausdrückenden, geschichtlichen, aktiven und praktischen Charakters des Denkens und steht als solche im Gegensatz zur Philosophie und hat nichts Philosophisches an sich, wenn nicht einen bloßen, falschen und karikaturistischen Anschein. Die so verstandene Ideologie steht nicht nur unweigerlich im Gegensatz zur Philosophie, sondern sie ist auch ihr anmaßendstes und gefähr-

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lichstes Surrogat, das darauf abzielt, sie zu ersetzen, und sogar in der Lage ist, sie in den naiven Köpfen derjenigen zu verdrängen, die sich von den auffälligen und effizienten Aspekten des Denkens angezogen fühlen. Es ist wahr, dass »zu behaupten, Ideologie könne den Platz der Philosophie einnehmen, Irrationalismus wäre«; aber es ist kein »Rationalismus, Ideologie so abzutrennen, als ob sie keine Funktion innerhalb der Philosophie hätte«. Dagegen wäre es Rationalismus, zu meinen, dass das philosophische Denken einen offenbarenden Charakter haben könne ohne einen ausdrückenden Charakter, oder dass es nach der vollständigen Explikation streben könne (wie es das technische Denken beabsichtigt, und mit ihm auch, wenigstens indirekt, das ideologische Denken), da so der unerschöpfliche Charakter der Wahrheit vergessen wird. Wer das ursprüngliche Band von Person und Wahrheit und die ontologische Dimension der Existenz vernachlässigt, ist notwendigerweise gefangen – wie wir gesehen haben – in der Antithese von Rationalismus und Irrationalismus, und springt von einem Extrem zum anderen hin und her, ohne dem Gegensatz jemals entkommen oder das Dilemma überwinden zu können.

12.  Einzigartigkeit der Wahrheit und Pluralität, aber nicht Partialität der Philosophien Mit allem Gesagten bewahrheitet sich, dass die Metaphysik immer zwei entgegengesetzte Aspekte enthält, nämlich den Anspruch, die Ideologie zu überwinden, sowie die Gefahr, der Ideologie zu verfallen, und dass die Dialektik der Metaphysik gerade darin besteht, sowohl den Relativismus der Ideologien zu vermeiden – in denen ihre Geschichtlichkeit sie stets einzufangen droht – als auch den Absolutismus einer angeblich erschöpfenden Manifestation des Seins, die dem Menschen unmöglich ist. Mit anderen Worten, es ist zu erkennen, dass im philosophischen Denken der offenbarende und der geschichtliche Aspekt untrennbar

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sind und Ideologie aus der Seinsvergessenheit, aus der Unterdrückung der ontologischen Dimension, aus der Entpersönlichung des Menschen hervorgeht. Aber zuzugeben, dass die Philosophie immer einen ausdrückenden und geschichtlichen Charakter hat, bedeutet noch nicht, dass »jede geschichtliche Form der Metaphysik immer ein ideologisches Moment hätte.« Zu dieser Schlussfolgerung kommt derjenige, der von der Voraus­setzung ausgeht, dass die Vielfalt der Formen, in denen sich die Philosophie geschichtlich repräsentiert sieht, eine fatale und unvermeidbare (und mehr noch eine schädliche bedauerliche) Konsequenz des Menschseins sei und die interpretative und damit vielfältige Natur der menschlichen Erkenntnis eine Begrenzung wäre, die zu beseitigen erstrebenswert sei; kurz, dazu kommt derjenige, der die Sehnsucht nach der einzigen und endgültigen Philosophie bewahrt und somit noch eine ontische Konzeption des Seins und eine objektive Konzeption der Wahrheit aufrechterhält. Zu sagen, dass es überhaupt nicht die eine Metaphysik geben kann, sondern dass es immer nur die Metaphysiken gibt und keine von ihnen – die immer partikulär und geschichtlich sind – jene erschöpfen kann, die in ihrer Einzigartigkeit überzeitlich ist, bedeutet, das Verhältnis zwischen Ausdrückendem und Offenbarendem als Verhältnis zwischen Zeitlichem und Überzeitlichem aufzufassen – was ich für unmöglich halte. Man kann nicht sagen, dass sich das Ausdrückende zum Offenbarenden wie das Zeitliche zum Überzeitlichen verhält, erstens, weil die Offenbarung ohne den Ausdruck nicht möglich ist, so dass das, was offenbarend ist, immer auch ausdrückend und geschichtlich ist; und zweitens, weil das Offenbarende an sich nicht überzeitlich ist, sondern es vielmehr eine geschichtliche und zeitliche Offenbarung jener Wahrheit, die an sich zwar überzeitlich, aber immer in geschichtlichen Erscheinungen gegenwärtig ist. Es ist die Wahrheit, und nicht die Philosophie oder die Metaphysik, die einzigartig, unerschöpflich, überzeitlich ist. Als menschliche und somit als interpretierende Erkenntnis der Wahrheit ist die Philosophie an sich konstitutiv, wesentlich viel-

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fältig und zeitlich, plural und geschichtlich, oder – wie man treffender sagen könnte – immer individuell und persönlich; und sie ist dies nicht wegen eines Mangels, sondern aufgrund ihrer Natur. Die Philosophien, die ihres Namens würdig sind, sind keine geschichtlichen, partikularen, vielfältigen Konfigurationen der einzigen und unerreichbaren Philosophie, die als solche weder geschichtlich noch überzeitlich existiert noch existieren kann, so wie per definitionem eine einzige Interpretation nicht existiert, denn die Interpretation impliziert die immer neue und andere Persönlichkeit ihres Subjekts und die unergründliche Unendlichkeit ihres Objekts. Die Philosophien sind vielmehr immer neue und andere Formulierungen der unerschöpflichen Wahrheit, und deshalb sind sie zugleich offenbarend und ausdrückend, veritativ und geschichtlich; sie sind gerade nicht allein deshalb schon ideologisch, weil sie geschichtlich sind. Das, was den einzelnen Philosophien, die diesen Namen verdienen, anvertraut ist – obwohl es sie in ihrer Unerschöpflichkeit immer übersteigt –, ist nicht die angeblich einzige Philosophie (fast als ob sie ihre eigene Unerreichbarkeit ausgleichen wollte, indem sie sich in ­bestimmten Verkörperungen verwirklicht), sondern das Sein, die Wahrheit selbst, die sie alle hervorruft und anregt, die sich an alle übergibt und sich allen anvertraut, aber keine von diesen vorzieht oder privilegiert und sich in keiner festsetzt oder erschöpft. Ich denke auch nicht, dass die Geschichtlichkeit, die Situiertheit und die Ausdrücklichkeit (espressività) notwendigerweise zur Ideologie führen müssen, soweit sie jenen Charakter der Besonderheit und Parteilichkeit mit sich bringen, der wesenhaft der ideologischen Erkenntnis inhärent zu sein scheint. Manche behaupten, dass die soziale und geschichtliche Konditionierung und somit der ideologische Charakter jedes menschlichen Diskurses den unpassenden und parteilichen Charakter einer jeden unserer Wahrheiten notwendigerweise impliziert. Bezugnehmend auf Transzendenz – die kohärent im Sinne der negativen Ontologie begrifflich gestaltet wird – suchen sie nicht nur eine Garantie gegen die Verabsolutierung der Ideologien, sondern auch ein Heil-

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mittel gegen den skeptischen Relativismus, der sich aus dieser Anerkennung zu ergeben scheint. Ich denke jedoch nicht, dass man von einem notwendigerweise unpassenden und partiellen Charakter einer jeden unserer Wahrheiten sprechen kann, weder formal noch substantiell. Man kann formal deshalb nicht davon sprechen, weil es unmöglich ist, einen Vergleich zwischen zwei so unterschiedlichen Dingen anzustellen wie Wahrheit und Wahrheitsformulierung. Man kann einen Vergleich zwischen einer Wahrheitsformulierung und einer anderen anstellen. Ein solcher Vergleich geschieht jedes Mal, wenn eine philosophische und spekulative Diskussion stattfindet; aber ein Vergleich zwischen der Wahrheit und der Wahrheitsformulierung wäre eine wahre und eigentliche μετάβασις εἰς ἄλλος γένος und als solche absurd. Substantiell kann man deshalb nicht davon sprechen, da die Wahrheit zu offenbaren bedeutet, sie weder ganz zu kennen wie in einer vollständigen Erscheinung – die auf das Heben einer Art von Schleier der Maya folgt –, noch ihre einfachen Teile zu erfassen, deren fortschreitende Integration anstreben oder deren fatale Unzulänglichkeit man beklagen müsste. Die Wahrheit ist keine derart bestimmte Totalität, dass das Denken, das sie offenbart, dadurch kompromittiert oder vermindert wird, dass es sie nicht ganz ausdrückt; und unsere Wahrheitsformulierung ist nicht so gemacht, dass sie als unpassend und partiell betrachtet werden sollte, da sie nicht zu einer vollständigen Explikation gelangt. Einerseits ist das Ideal des philosophischen Denkens keine vollständige Äußerung einer Wirklichkeit, der etwas mehr oder weniger ähneln kann: Es handelt sich nicht darum, die Wahrheit ein für alle Mal zu definieren, sondern sie als Wahrheit und somit als unerschöpflich zu erfassen, so dass man also das Fehlen jener vollständigen Explikation – die keine Behauptung der Wahrheit beabsichtigt – nicht der Partialität oder Unzulänglichkeit anklagen kann. Andererseits liegt es in der Natur der Wahrheit, unerschöpflich zu sein und somit eher anregend als befriedigend, eher Ursprung als ­Objekt, eher Orientierung als Entdeckung zu sein. Sie in i­hrer Unerschöpf-

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lichkeit zu erfassen, heißt gerade, sie ganz zu fassen, und gerade deshalb ist der geringste Schimmer von Wahrheit schon weithin erhellend. Zusammengefasst: Jegliche Behauptung der Wahrheit kann weder unangemessen noch partiell sein, denn die Wahrheit wird entweder erfasst oder nicht, und wenn man sie erfasst, erfasst man sie ganz. Sie ganz zu erfassen, bedeutet aber nicht, sie in einer vollständigen und endgültigen Explikation aussprechen zu können – das wäre gerade ein Zeichen dafür, sie überhaupt nicht gefasst zu haben –, sondern bedeutet, einen Diskurs zu beginnen, der immer wieder aus seiner eigenen Quelle hervorgeht, der stets seine eigenen Fragen problematisiert, der immer auf etwas anderes und mehr anspielt als das, was er explizit aussagt. Sie ganz zu fassen bedeutet letztlich, sie in ihrer Unerschöpflichkeit zu erfassen, und daraus ergibt sich der wesentlich unendliche, sich ausbreitende und darüber-hinausgehende Charakter des philosophischen Diskurses, der somit weit davon entfernt ist, ideologisch, partiell, unangemessen zu sein, weil er durch seine ontologische Dimension und seine veritative Matrix am unerschöpflichen Reichtum seiner Quelle partizipiert und jeder Begrenzung einen empfangenden und öffnenden Charakter verleihen kann. Es bedarf also keiner Garantie gegen den skeptischen Relativismus, der aus dem stets partiellen und unpassenden Charakter der menschlichen Wahrheitsformulierung folgte, weil ein solcher Charakter gar nicht existiert. Die Natur der menschlichen Wahrheitsformulierung ist weit davon entfernt, eine »negative Ontologie« zu erfordern, die – um die angebliche Partialität jeder unserer Wahrheiten zu rechtfertigen – genötigt ist, auf der Unsagbarkeit (ineffabilità) des Wahren zu bestehen. Sie verlangt vielmehr eine »Ontologie des Unerschöpflichen«, um den unaufhörlichen, sich erweiternden und darüber-hinausgehenden Charakter des philosophischen Diskurses zu erklären.

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13.  Das Problem der negativen Ontologie: Unsagbarkeit vs. Unerschöpflichkeit Wenn ich mich zum Gegner der negativen Ontologie erkläre, dann nicht deshalb, weil ich die Relevanz eines Diskurses »jenseits des Diskurses« verkennen würde, d. h. einer Einheit des Diskurses, die nicht ausgesprochen werden kann, einer Anwesenheit, die wirksam ist, obwohl sie unausgesprochen ist und bleibt. Vielmehr behaupte ich, dass die Weise, in der die Wahrheit dem Wort innewohnt, gerade diese Anwesenheit ist, die die Quelle eines immerwährenden und unendlichen Diskurses und die unaufhörliche Ausstrahlung immer neuer Bedeutungen darstellt. Zunächst ist die Anwesenheit der Wahrheit im Wort nicht jene des Objektes des Diskurses, sondern jene seines Ursprungs: Sie wohnt dem Wort inne nicht als explizierte, sondern als mitgemeinte; nicht als Objekt einer (wenn auch ideellen) vollständigen Explikation, sondern als Anregung einer unendlichen Explikation. Auf der anderen Seite ist aber Träger dieser unerschöpflichen Quelle von Diskursen und Bedeutungen gerade das Wort in seiner Explizitheit, die deshalb mit einer breiteren Hintergründigkeit und einer reichen Resonanz konnotiert ist. So kann man wirklich sagen, dass die Explizitheit des Wortes nicht mit der Explikation der Wahrheit zusammenfällt, sondern vielmehr der Träger der Ausstrahlungen des Mitgemeinten ist, die Stütze des Darüber-Hinaus (ulteriorità) des Unerschöpflichen, der Drehpunkt des Sinnes des Diskurses jenseits des Diskurses. Es ist nicht meine Absicht, die Begriffe »indirekt« und »anspielend« abzuschaffen, die notwendigerweise der Offenbarung der Wahrheit bzw. jeder Untrennbarkeit von Enthüllung und Verhüllung innewohnen, die mit der Erscheinung des Verborgenen einhergeht, wie das Licht die Finsternis durchbricht, aus der es zum Vorschein kommt. Vielmehr beabsichtige ich die Begriffe von »Chiffre«, »Symbol«, »Allegorie« insofern zu vermeiden, als sie Organe eines Mythos sind, der sich als bewusst und absichtlich vorstellt, und der gerade deshalb falsch und künstlich

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ist. Solche Begriffe, genauso wie »Unzulänglichkeit« und »Partialität« stehen meines Erachtens in direktem Gegensatz zu den Begriffen »Offenbarungsfähigkeit des Denkens« (rivelatività del pensiero) und »Unerschöpflichkeit der Wahrheit«. Der positive und tiefe Sinn der sogenannten negativen Ontologie ist nicht die Unaussprechlichkeit der Wahrheit oder die fatale Unzulänglichkeit des Wortes oder der unausweichlich symbolische und allegorische Charakter des philosophischen Diskurses, sondern die Unerschöpflichkeit der Wahrheit und die Anwesenheit des Mitgemeinten im Wort und, wenn überhaupt, der anspielende und mythische Charakter des philosophischen Diskurses. Unaussprechlichkeit, Unzulänglichkeit und Symbolizität sind missverständliche und unzureichende Begriffe, wenn sie auf die Wahrheit und auf ihre Formulierung angewandt werden: Die Unaussprechlichkeit der Wahrheit ist noch nicht das fruchtbare Reservoir eines unerschöpflichen Geheimnisses, das enthüllt wird; die Unzulänglichkeit und Parteilichkeit des Wortes ist noch nicht der unendliche und sich mitteilende Reichtum des Mitgemeinten; die Symbolizität des philosophischen Diskurses ist noch nicht das Darüber-Hinaus des veritativen Denkens. Das ist erstens so, weil diese Begriffe im Grunde negativ sind, so sehr, dass angesichts einer radikal unaussprechlichen Wahrheit alle Worte gleichermaßen unzulänglich und partiell sind und alle Diskurse gleichermaßen allegorisch und symbolisch sind, so dass jede mögliche Unterscheidung wegfällt, sogar die Unterscheidung zwischen wahr und falsch; und zweitens ist das so, weil diese Begriffe aus einer schlichten und einfachen Umkehrung hervorgehen, da klar ist, dass die Behauptung der Unvermeidbarkeit und Endgültigkeit des Schweigens ein offensichtliches Zeichen der unerklärten Sehnsucht nach vollständiger Explikation des Impliziten ist. Wiederum bleibt nichts anderes übrig, als zum Begriff der Interpretation zurückzukehren, denn nur diese kann die gegensätzlichen Forderungen untrennbar verbinden, die einerseits von der negativen Ontologie und andererseits von der rationalistischen

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Auffassung der Explikation eher verraten als ausgedrückt werden. In der Tat stellt sich die Interpretation als Besitz eines Unendlichen dar: zum einen ist sie ein wahrer Besitz und damit Empfang (captazione) und Durchdringung; zum anderen ist sie Besitz eines Unendlichen und damit notwendigerweise vielfältig, ohne dass dabei diese Vielfalt eine Unzulänglichkeit und Unvollständigkeit bedeuten müsste. Es ist ein Besitz, aber von einem Unendlichen; so ist dieser Besitz stets zu vertiefen, aber nicht partiell darüber-hinausgehend, aber nicht allegorisch, mythisch, jedoch nicht symbolisch. Für eine moderne Formulierung der Ontologie des Unerschöpflichen konnte ich keine fruchtbarere und angesehenere Bestätigung als in der Spätphilosophie Schellings finden, die in vielen Texten aufkommt, aber in den Erlanger Vorträgen von 1821 auf ganz besonders inspirierende Weise. Dort stellt sich unter vielen Unsicherheiten und Verzögerungen, unter den vielen bei Seite gelassenen, ohne jede Entwicklung hervorbrechenden genialen Geistesblitzen, unter vielen scheinbar fruchtbaren, aber im Wesentlichen sterilen Vorschlägen die entscheidende Forderung, den Begriff des Unbestimmbaren und Unaussprechlichen in den des Ursprünglichen und Unerschöpflichen umwandeln zu müssen. Denn einerseits erreicht die Übersteigung einer jeden Definition eine Wesentlichkeit und Reinheit, die vielleicht kein negativer Theologe je zuvor erreicht hat. Andererseits wird die Unendlichkeit des Ursprungs gerade aus der reinen Abwesenheit jeglicher Definition hervorgehoben, nämlich aus der Unmöglichkeit selber, dass das Undefinierbare durch seine Undefinierbarkeit definiert wird. Es wird sowohl auf eine wirklich beeindruckende Weise Heideggers ontologische Differenz vorweggenommen und es wird der Diskurs über Heidegger hinaus fortgeführt, ich würde fast sagen, wieder eröffnet nach der Sackgasse, in die er uns unfreiwillig und zu großem Schaden geführt hat. Im Kern will Schelling sowohl die mystische negative Ontologie als auch die Hegel’sche absolut vollendete Ontologie vermeiden. Und zwar will er sowohl die Definition des Seins mittels seiner Un-

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zulänglichkeit, d. h. das totale Erlöschen von Wort und Denken (die ἀλογία παντελῆ καὶ ἀνοησία, von der Dionysius spricht16), als auch die vollständige Entfaltung des Seins, nämlich die daraus resultierende Identität von Sein und Denken vermeiden. Zu diesem Zweck schlägt Schelling eine Dialektik vor, die weder beim Nicht-Wissen stehen bleibt noch in das absolute Wissen mündet, und für die das Wissen als Nicht-Wissen das Sein als seine Kehrseite hat und damit das Sein aufzeigt, ohne es in sich erlöschen zu lassen. Er drängt also das Denken auf einen so radikalen Weg, dass es nicht anders kann, als seine Umkehrung anzustoßen und seinen ursprünglichen Inhalt wieder in Erinnerung zu rufen, ohne sich dabei aufhalten zu können, weder beim Objekt noch bei Gott als dem Seienden noch beim Nichterkennbaren oder Unbestimmbaren, aber dennoch zumindest die Unerschöpflichkeit des eigenen Grundes andeutet und entfaltet. Aus dieser kurzen Skizze ist zu ersehen, welcher Reichtum von Anregungen und Bestätigungen sich von Schelling her gewinnen lässt, wenn man ihn nicht nur als posthegelschen Denker betrachtet – der er in Wirklichkeit war, auch wenn dies oft und gerne vergessen wird –, sondern auch als postheideggerschen Denker, der er heute werden könnte, auch wenn manche, getrieben von sehr spezifischen Interessen, ihn als typischen »Zerstörer der Vernunft« zu diffamieren versuchen. Es sei mir erlaubt, diese Gelegenheit zu nutzen, die überraschende Modernität und Aktualität dieses Denkers zu unterstreichen, der auch in seinem Spätwerk – das zu Unrecht zuerst von der hegelianischen und dann von der marxistischen Tradition in Misskredit gebracht wurde – eine bewundernswerte Genialität und eine erstaunlich spekulative Kraft beweist. Wenn die Originalität von Kierkegaard und Marx in Bezug auf Hegel die Wiedererlangung des Seins gegenüber dem Denken war, so verdient Schelling die gleiche Anerkennung, weil er eine solche Wiedererlangung im idealistischen Kontext schon lange 16  Migne, P. G. 1033 C.

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vor ihnen und auf besonders wirksame Weise ausgeführt hatte. Wenn der Ruhm und der Verdienst von Kierkegaard und Nietzsche in der Betrachtung des tragischen Charakters der conditio humana besteht, dann können sie einen Verbündeten in Schelling finden, der gegen den Hegel’schen Optimismus bereits die problematische und dramatische Natur der Existenz hervorgehoben hatte, indem er eine Philosophie der Freiheit vorschlug. Wenn eine der Forderungen des heutigen Denkens die Ablehnung des Totalitätsgedanken ist, dann sollte man nicht all das vergessen, was Schelling diesbezüglich schon erreicht hatte, insofern er erkannte, dass das, was Hegel ans Ende setzte, an den Anfang gestellt werden müsse, und dass die Einheit, die als nachträgliche Synthese einer Dualität gedacht wird, nichts als die Form der Totalität annehmen kann, die letztlich abstrakt und völlig unzureichend bleibt, wenn man sie mit dem unerschöpflichen Reichtum der ursprünglichen Einheit vergleicht. Wenn weiterhin ein Anliegen der heutigen Philosophie die Analyse menschlicher Tätigkeiten ist, was nicht nur von der phänomenologischen Schule, sondern auch von der Kulturanthropologie vorgeschlagen wird, so sollte man an die vielen Anregungen und Klärungen denken, die sich dazu in Schellings »positiver Philosophie« finden lassen; und diese Liste könnte man leicht fortsetzen.

14.  Das offenbarende Denken als einziger Vermittler zwischen Wahrheit und Zeit: Zur Notwendigkeit der Philosophie im Verhältnis von Religion und Politik Ich möchte nur kurz auf die Frage der negativen Ontologie zurückkommen, um eine letzte Klarstellung vorzunehmen. Die Behauptung der Unaussprechlichkeit der Wahrheit würde u. a. die Abschaffung der Metaphysik zugunsten partikularer und spezialistischer philosophischer Diskurse zur Folge haben. Das würde der elementaren Feststellung widersprechen, dass partikulare philosophische Diskurse entweder auf rein technische und em-

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pirische Weise geführt werden können und damit ihren philosophischen Charakter verlieren, oder aber auf eine wirklich philosophische Weise, die eindeutig einen metaphysischen Diskurs erfordert – d. h. jene Ontologie, die erklärt, wie ein Diskurs auf philosophischer Ebene verbleibt und nicht in reine Technik verfällt, und so die Merkmale der Unerschöpflichkeit und des Darüber-Hinaus bewahrt, die wir analysiert haben. Diese Bemerkung ist wieder heranzuziehen hinsichtlich einer bestimmten Weise, das Verhältnis zwischen Ideologie und Religion aufzurollen, die leider immer wieder vertreten wird. Es gibt diejenigen, die Ideologien dem geschichtlichen und sozialen Feld der Politik zuordnen und die metakulturelle Permanenz absoluter Werte der reinen Innerlichkeit des religiösen Glaubens vorbehalten. Auf diese Weise bleibt das menschliche Feld zwischen Politik und Religion geteilt und lässt keinen Platz für die Philosophie. Daraus erwächst die Gefahr, dass die ersteren nur durch die Tatsache, dass sie der Philosophie den ihr zustehenden Platz nicht gewähren, die Grenzen ihres eigenen Bereichs überschreiten und für das menschliche Leben Funktionen beanspruchen, die über die ihnen zustehenden hinausgehen. Ist aber die Philosophie jeglicher Bedeutung beraubt, ja ihres Reiches entthront und ihrer legitimen Funktion enthoben, kann sie ersteren nicht mehr Unterstützung und Kontrolle bieten, die, während die Philosophie ihr rechtmäßiges Gebiet innehatte, die ungerechtfertigten Ansprüche und absurden Überschreitungen von Religion und Politik verhinderte. Ich hingegen meine, dass zwischen dem Feld der Politik und dem Feld der Religion es unbedingt einen Platz für die Philosophie geben muss. Es muss Raum für ontologisches Denken und veritativen Diskurs geben, und dies gerade deshalb, damit die Religion nicht zu sehr in die Sphäre der reinen Innerlichkeit gedrängt wird und ihren »metakulturellen« Charakter nicht hinreichend betont, bis sie sich sogar in den nebligen Wolken des Unaussprechlichen verliert, also in einer neuen verfehlten Form von »negativer Theologie«. Denn damit wird die Politik, die sich der bloßen Geschichtlichkeit und Pragmatik der Ideolo-

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gien anheimgibt, nicht dem reinen und harten Kampf der pragmatischen Entscheidungen, der unbewussten wie erklärten Interessen, sondern dem bloß »Partikularen« überlassen, das als solches keinesfalls dialogfähig ist, sondern entschieden in sich selbst verschlossen ist und nur mittels Gewalt und Krieg kommuniziert. Das wahrhaft Metakulturelle ist gerade das, was sich allmählich in verschiedenen kulturellen und geschichtlichen Gestalten verkörpert, ohne jedoch sich jemals mit ihnen zu identifizieren, sondern indem es sie alle hervorruft und fördert und sie von sich aus ausdrückt und sie aus seiner eigenen, unendlichen Virtualität erzeugt und in ihnen nicht nur den einzigen Sitz findet, sondern auch die einzige Weise, sich zu enthüllen, ja seine einzige Weise zu leben. Denn es hat kein anderes Leben als eben jene Gestalten, denen es innewohnt, in denen es sich verkörpert. Man kann sogar sagen, dass der metakulturelle Charakter einer Realität dieser Art sicher nicht aus einer rein negativen Transzendenz hervorgeht, aus einer Art Unzulänglichkeit, die über den geschichtlichen Ereignissen schwebt, aus einem Zustand dauernder Nichtgestaltbarkeit und ständiger Nicht-Definierbarkeit. Im Gegenteil, gerade aus der Möglichkeit geht sie hervor, sich in immer neuen und verschiedenen Gestalten zu verkörpern, sich in die Welt der Geschichte mit einer stets erneuerten und aktuellen Gegenwart einzufügen, aus dem eigenen Inneren die Stimme und das Timbre zu gewinnen, die im spezifisch geschichtlichen Moment am wirksamsten sind und sich im historischen Jetzt am meisten Gehör verschaffen. Die Möglichkeit der Befreiung aus der Gestalt ist einfach das andere Gesicht einer solchen Möglichkeit der Verkörperung, sie ist die andere Seite der Medaille. Denn die Kraft, die eingesetzt wird, um aus einer geschichtlichen Gestalt auszubrechen, die zu einem rein oberflächlichen Gewand und mehr zu einem Hindernis und einer Hemmung als zu einer gegenwärtigen und lebendigen Realität geworden ist, ist von der gleichen Natur wie diejenige, die bei der Verkörperung aufgewandt wurde. Sie ist sogar entschieden dieselbe. Diese Kraft leuchtet viel mehr in der Verkörperung als in der Befreiung [aus der Gestalt], mehr

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in der Annahme einer neuen Gestalt als im Verschwinden-Lassen der alten Gestalt, mehr im Erfinden des Aspekts, in dem sie sich zeigt, d. h. im Erfinden der Gestalt, mit der sie sich darstellt, der Stimme, mit der sie spricht, als im Verlassen des alten Aspekts, der alten Gestalt und der alten Stimme. Kurzum, daraus ergibt sich: Die Metageschichtlichkeit einer Realität zeigt sich weniger in ihrer Macht, ihre eigenen geschichtlichen Gestalten zu transzendieren, als in ihrer Macht, sich in immer neuen geschichtlichen Gestalten zu verkörpern. Auch hier möchte ich Schelling zitieren, wenn er sagt, dass in einer solchen Wirklichkeit das Positive nicht aus dem Außerhalb-von-jeder-Gestalt-Sein besteht (freilich muss es, um sich in eine Gestalt einschließen zu können, außerhalb jeder Gestalt sein, denn, wie schon Plotin sagte, nur das Geformte hat eine Form, während das Formgebende unförmig ist: τὸ εῖδος ἐν τῶ μορφθέντι, τὸ δὲ μορφῶσαν ἄμορφον17), sondern gerade aus dem Sich-­in-­eine-Gestalt-einschließen-Können, d. h. aus der Freiheit, sich in eine Gestalt einzuschließen oder eben auch nicht: »Um sich in eine Gestalt einschließen zu können, muss es freilich ­außer aller Gestalt sein, aber nicht dieses, das außer aller Gestalt, das unfasslich-Sein ist das Positive an ihm, sondern, dass es sich in eine Gestalt einschließen, dass es sich fasslich machen kann, also dass es frei ist, sich in eine Gestalt einzuschließen und nicht einzuschließen.«18 Nun kann die Verkörperung der metakulturellen Wirklichkeit des religiösen Glaubens nur durch ontologisches Denken erfolgen, nämlich durch offenbarendes Denken, sei es, dass es sich in der explizit spekulativen Form der Philosophie präsentiert, sei es, dass es veritativ innerhalb einer moralischen Haltung wirkt. Nur das offenbarende Denken kann als Vermittler dienen und sowohl die gewaltsame Unterdrückung des religiösen Elements durch die praktische Haltung als auch den Rückzug des religiö17 Plotin, Enneaden, VI, VII, 17. 18 Schelling, Erlanger Vorlesungen, hrsg. Schröter, V, 13.

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sen Elements in eine übergeschichtliche, nebulöse und unwirksame Weite vermeiden. In der Tat bewirkt das offenbarende Denken auf der einen Seite, dass die geschichtlichen Gestalten, in denen sich der religiöse Glaube einfindet, nicht aus einem äußeren Zwang seitens der geschichtlichen Situation (als wäre die Zeit etwas, das man eher erträgt als interpretiert, etwas, das man eher passiv empfängt als aktiv annimmt), sondern vielmehr aus einer Findung hervorgehen. Darin realisiert sich jene philosophische Suche des Wahren, die unweigerlich vom religiösen Besitz der Wahrheit angeregt wird, nur durch eine Interpretation der Bedürfnisse der Zeit und eine Vertiefung der geschichtlichen Situation. Auf der anderen Seite aber ist das offenbarende Denken, gerade mit der Fähigkeit der geschichtlichen Situation eine ontologische Öffnung verleihen zu können, in die Lage versetzt, die unendliche Potentialität eines übergeschichtlichen Inhalts auf geschichtliche und konkrete Weise zu entfalten. Ferner ist das Partikulare, für sich genommen, in sich selbst geschlossen und unfähig zum Dialog und zur Kommunikation. Das politische Feld den Ideologien zu überlassen, bedeutet, es als Reich der »Partikularitäten« zu betrachten, in dem das Denken keine andere Funktion hat, als pragmatische Entscheidungen zu rationalisieren oder die Interessen von Gruppen zu rechtfertigen oder die Wahrheit zum eigenen Vorteil zu monopolisieren. Kurz gesagt, das politische Feld wird identifiziert »mit dem Beet«, »drum so wild hier tobt der Streit«.19 Denn es ist sinnlos, vom ideologischen Denken, das seiner Natur nach auf Wahrheit verzichtet, die Fähigkeit zu erwarten, das Partikulare aus seiner eige­ nen Verschlossenheit treten zu lassen. Ebenso ist nicht zu erwarten, die Mitmöglichkeit der Perspektiven zu gewährleisten oder auch nur anzustreben. Das meint die Möglichkeit – wenn nicht die Wirklichkeit – eines gegenseitigen Dialogs herzustellen und die gegenseitige Vereinbarkeit oder geradezu die Übereinstim19  Vgl. Dante Alighieri, Divina Commedia III, XXII, 151, dt. Üb. von F. F. von Falkenhausen.

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mung zu garantieren oder vorauszusagen. Um all dies leisten zu können, müsste der ideologische Diskurs philosophisch und das geschichtliche und pragmatische Denken offenbarend und veritativ werden. Das erfordert offensichtlich eine höhere Ebene als die der Ideologien: eine Ebene, auf der das Partikulare, das sich auf die Ebene der Person erhebt, wirklich offen und dialogisch und integrierbar mit den anderen zeigt. Das erfordert eben das Partikulare und nicht die Ideologie, die als solche die Partikularitäten in ihrer eigenen Partikularität verschlossen hält, und wenn sie überhaupt die Partikularität der anderen entlarvt, dann die der anderen und nicht die eigene. Denn das ideologische Denken ist unfähig, die Partikularisierung mit der Integration zu verbinden, und es stellt in einem dauernden Zustand des Kampfes sie alle gegeneinander, ohne irgendeine Hoffnung auf Frieden außer einem bloßen Kompromiss. Ohne das offenbarende Moment, also nur als ideologisches Denken, ist Politik dem mehr oder weniger deutlichen Kampf der Interessen, dem reinen Spiel der Kräfte, der substanziellen Pragmatik der Entscheidung überlassen. Mit einem Satz, das Band zwischen Moral und Politik wird zertrennt, ein Band, das so prekär geknüpft, feinfaserig und leicht zerreißbar wie kein anderes ist, das beseitigen zu wollen jedoch völlig unmenschlich wäre. Zusammenfassend: Ohne das Eingreifen des offenbarenden Denkens und einer mehr oder weniger entfalteten Philosophie brächte die Teilung der menschlichen Welt in Religion und Poli­ tik eine so radikale und tiefe Trennung der zwei Felder mit sich, dass jegliche Kommunikation verhindert würde. Diese könnte keine andere existentielle Form annehmen als die gleichzeitige Reduktion der Moral auf die Politik und die Aufhebung der Philosophie in die Religion. Ohne Philosophie würde Politik in das Irrationale des allzu Menschlichen abfallen und Religion sich im Irrationalen einer wahren und echten Schwärmerei verlieren; man könnte dann jene monströsen Nebeneinanderstellungen von hier »Gottesreich« und dort »Naturzustand« beobachten, von denen die Geschichte nicht wenige Beispiele liefert.

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Wer die Philosophie vernachlässigt, um nur die Religion auf der einen Seite und Wissenschaften und Technizismus auf der anderen zuzulassen, läuft Gefahr, in eine Mischung von Fideismus und Technizismus zu verfallen. Dadurch entfernt sich die Religion auf der einen Seite so weit von sich selbst, dass sie nicht nur ihre Fähigkeit, in der Geschichte wirken zu können verliert, sondern auch ihre reale Relevanz für die Innerlichkeit des Menschen. Andererseits wird die geschichtliche Welt dem Irratio­ nalen überlassen, ohne eine andere Hoffnung auf Rettung als durch bloße Technik zu haben. Es versteht sich von selbst, dass es mit einer solchen Perspektive unmöglich wird, im Lauf der Geschichte die Momente und Aspekte zu unterscheiden, mit denen die Religion, mehr als sich in kulturellen Gestalten zu verkörpern, zum Kompromiss mit der allzu menschlichen Wirklichkeit der Zeiten heruntergekommen ist und damit ihr eigenes Wesen heillos beschädigt hat. Dies geschah, indem sie sich entfernt hat von jenen kulturellen Gestalten, die als die wahren und eigentlichen Verkörperungen der Religion zu gelten haben. In diesen Gestalten hat sie ansonsten, durch den Akt, diese aus ihrer eigenen Virtualität heraus auszudrücken und sie von innen her zu inspirieren, Form und Gestalt, Gegenwart und Wirksamkeit, Sitz und Wirklichkeit angenommen. Ohne Philosophie und ohne offenbarendes Denken kann es keinen Dialog geben und schon gar nicht eine »dialogische Integration und Artikulation der Ideologien«, wie man sich dies vergeblich wünscht. Damit es dennoch einen Dialog geben kann, sind zwei Dinge notwendig: Wahrheit und Andersheit (alterità). Das wiederum ist nur durch den grundlegenden Begriff der Interpretation möglich. Denn einerseits ist die Interpretation ­ihrem Wesen nach vielfältig und unendlich, weil es keine Interpretation ohne Pluralität oder ohne Andersartigkeit gibt, und andererseits ist Interpretation immer die der Wahrheit, so wie es von der Wahrheit nichts anderes gibt als Interpretation und das aufgrund des unendlichen und unerschöpflichen Charakters der Wahrheit. Für das Zustandekommen eines Dialoges genü-

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gen weder Sympathien noch Ideen. Denn die Sympathie neigt dazu, sich in einem allgemeinen Wohlwollen zu erschöpfen, das in sich unfähig ist, einen Respekt für die Person zu begründen, und die Ideen können rein geschichtliche Produkte ohne Wahrheit sein und somit unfähig, eine gemeinsame Basis für das Verständnis zu bilden. Der Dialog erfordert einerseits das, was ich an anderer Stelle eine wahre und eigentliche Einübung in die Wahrnehmung der Andersheit (esercizio di alterità) genannt habe, sowie die Anwesenheit der Wahrheit in der Pluralität von Interpretationen. Auf der Grundlage von Ideologien gibt es keinen Dialog. Welchen Respekt verdienen Ideologien? Keinen, denn sie sind ein unauthentisches und verfälschendes Denken. Welche Ebene von gegenseitigem Verständnis schaffen sie? Keine, denn sie teilen und trennen eher: Nur die Wahrheit trägt eine verbindende Kraft in sich. Wir müssen zur Achtung vor der Person zurückkehren, die vor allem ein Tribut an die große Wahrheit ist, die aus der Behauptung besteht, dass der Besitz der Wahrheit immer persönlich ist. Der Dialog wird durch das ursprüngliche Band von Person und Wahrheit ermöglicht, das dem offenbarenden und ontologischen Denken zugrunde liegt und das den Respekt, der der Person gebührt, wie auch den Respekt, der der Wahrheit gebührt, unteilbar und solidarisch macht, weil diese beiden Termini selbst erst das werden, was sie meinen, insoweit sie sich in ihrer Aufeinanderbezogenheit gegenseitig respektieren: Die Person, indem sie ihre eigene Würde und ihre eigene Aufgabe darin gründen lässt, sich zur Hörerin der Wahrheit zu machen, und die Wahrheit darin, dass sie sich nichts anderem hingibt als der Freiheit und der Interpretation, die an sich immer persönlich sind.

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15.  Die rationale Wirksamkeit der Philosophie, nicht der Ideologie: Theorie und Praxis Die von mir vorgeschlagene Auffassung des philosophischen Denkens schließt die Merkmale der Geschichtlichkeit und der pragmatischen Angemessenheit (praticità) im menschlichen Denken in dem Maße ein, in dem sie nicht nur nicht gefährden, sondern vielmehr die Offenbarungsfähigkeit gerade des seines Namens würdigen Denkens enthalten. Dazu ist es notwendig, dass die Geschichtlichkeit und die pragmatische Angemessenheit (praticità) nicht verabsolutiert werden, wie es dagegen im historistischen und pragmatistischen Denken geschieht, die eigent­lich die Ideologie prägen. Es ist die Aufgabe des offenbarenden Denkens, die Wahrheit vom Standpunkt unserer Zeit aus wiederzufinden, ohne sie deshalb durch ungerechtfertigte Historisierungen zu entstellen, und die Wahrheit unserer Zeit zugänglich zu machen, ohne sie deshalb durch unangemessene Instrumentalisierungen zu herab­zuwürdigen. Das erfordert offensichtlich einen Appell an die Freiheit und damit einen Einsatz, eine Entscheidung, eine Stellungnahme, ein bewusstes und aktives Wollen, die nichts mit pessimistischem Verzicht, mit egoistischer Flucht, mit narzisstischer Betrachtung zu tun haben. Aber das bedeutet auch die Abwertung, ja die Ablehnung der Ideologie. Hierbei erreicht die Übertreibung des geschichtlichen und praktischen Aspekts des Denkens eine solche Überbetonung von Geschichte und Praxis, von technizistischem Historismus und panpolitischem Praxismus, dass sie den viel diskreteren und zurückhaltenderen, aber auch viel tiefgreifenderen und schwierigeren Einsatz des offenbarenden Denkens in den Schatten stellt. Im Licht dieser Überlegungen möchte ich eine letzte Frage in Angriff nehmen. Und zwar soll der Eindruck beseitigt werden, der vielleicht bei einigen LeserInnen entstanden ist, dass meine Definition des offenbarenden Denkens mit der daran anschließenden Abwertung der Ideologie eine Haltung politischer Indifferenz mit sich bringen müsste. Einige scheinen zu glauben, dass

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das Fehlen von Ideologie ein politisches Engagement unmöglich mache. Es ist natürlich, dass ihnen der Kampf gegen die Ideologie als eine Aufforderung zum politischen Rückzug und die Hervorhebung des offenbarenden Denkens als Verteidigung einer abstrakten, akademischen, scholastischen Philosophie erscheint. Ich hingegen denke, dass der Anspruch, der sie zur Behauptung der politischen Notwendigkeit von Ideologie bewegt, ein durchaus wichtiger Anspruch ist, die geschichtliche, soziale, politische Welt nicht dem Irrationalen zu überlassen. Darin stimme ich nicht nur mit ihnen überein, indem ich diesen Anspruch voll und ganz teile, sondern ich bin vielmehr überzeugt, dass ich ihnen voraus bin, denn gerade aus diesem Anspruch ist die von mir vorgeschlagene Definition des offenbarenden Denkens im Unterschied zum bloß ausdrückenden Denken hervorgegangen. Ich denke nicht, dass das sicherste Mittel, um das geschichtliche, soziale, politische Feld dem Irrationalen zu entziehen, darin besteht, diese Aufgabe der Ideologie anzuvertrauen. Denn das ideologische Denken, das ab initio auf die Wahrheit verzichtet hat, ist nicht nur eine äußerst zerbrechliche Barriere gegen die Invasion des Irrationalen, sondern es kann nicht einmal den Anspruch erheben, diesem zu widerstehen und es einzudämmen, da es selbst nichts anderes ist als dasselbe Irrationale, eben nur maskiert und verkleidet und daher umso trügerischer und gefährlicher. Ich bezweifle, dass dasjenige, was die Ideologie an Begriffen besitzt, ausreicht, um als rationaler Wegweiser in der sozialen und politischen Wirklichkeit dienen und gültige Handlungsprogramme in der menschlichen Welt im Allgemeinen aufstellen zu können. Dies meine ich angesichts der Tatsache, dass die Ideologie mit ihrer ungezwungenen, geschichtlichen Anpassungsfähigkeit und ihrer geschickten, pragmatischen Technik nichts anderes tut, als vorherbestehende Situationen zu rationalisieren und zu rechtfertigen oder bereits etablierte Projekte effizienter zu machen. Die Rationalität der Ideologie ist sehr indirekt, so wie der Respekt, den die Heuchelei der Tugend zollt, indirekt ist, oder die Anerkennung, die der Tyrann der Überzeugungskraft zuge-

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steht, um die Unterdrückung, die er vollzieht, effizienter zu machen. In diesem Sinne ist die Ideologie nichts anderes als ein Alibi einer unmoralischen oder als amoralisch bekannten Politik oder eine mehr oder weniger bewusst und mehr oder weniger raffinierte Technik des politischen Kampfes und der Machtausübung. Diese Schlussfolgerung ist selbst für jemanden unvermeidlich, der zu Recht eine »Haltung absoluter wissenschaftlicher Neutralität gegenüber jeglicher ideologischer Sicht« als absurd vermeiden will. Er wird dann dazu verleitet, Wahrheit auf Ideologie zu reduzieren, indem er letztere von Urteilen über Wahrheit und Falschheit befreit. Damit behauptet er, dass der ideologische, nicht beschreibende, sondern überzeugende und führende, nicht wissenschaftliche, sondern praktische und bewertende Diskurs als mehr oder weniger vernünftig oder plausibel in Bezug auf als letzte gedachte Ziele betrachtet werden muss. Es ist schließlich klar, dass diese Plausibilität, Vernünftigkeit und Überzeugungskraft gerade die Instrumentalität und Technizität des ideologischen Diskurses beweisen, denn die Festlegung von Zielen, auf die die Ideologie ausgerichtet ist, wird als der Ideologie äußer­lich und ihr vorausgesetzt angesehen. Die rationale Wirksamkeit der Ideologie in der Welt der Geschichte und der Handlungen und in der sozialen und politischen Sphäre in Zweifel zu ziehen, bedeutet weder die praktische Tragweite des Denkens noch das theoretische Gewicht der Handlung zu leugnen. Dies heißt vielmehr, sich bewusst zu werden, dass die Verhältnisse zwischen Theorie und Praxis sehr viel komplexer sind als der Begriff der Ideologie erahnen lässt. Es steht daher auf dem Prüfstand politischer Wirklichkeit, ob Ideologie ihre Unzulänglichkeit zeigt. Dies zeigt sich z. B. in der offensichtlichen Unzulänglichkeit des marxistischen Begriffs der »Wechselwirkung« zwischen Basis und Überbau oder dem spiritualistischen Begriff der Vermittlung zwischen der Abstraktheit des Universellen und der Konkretheit der Situation. Diese Konstruktion repräsentiert sicher keine lebendige und wirksame Gegenwart der Vernunft in der Geschichte. Sie repräsentiert weder einen begrifflichen Ap-

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parat, der zum Werkzeug der Handlung wird, insofern er Ausdruck der Situation ist, noch eine solche Auffassung, die letztlich nichts anderes ist als ein Kompromiss zwischen der platonischen Republik und der Gosse20 des Romulus. Das kann geschehen, wenn sich die Ideologie entweder aus einem dezidierten Verzicht des Denkens auf die Wahrheit oder aus der künstlichen Ableitung eines praktischen politischen Schemas von einer voraus­ gesetzten philosophischen Auffassung hingibt. Ganz anders verhält es sich, wenn der politische Einsatz von einem moralischen Einsatz getragen wird und dieser in seiner ganzen ontologischen Tragweite gesehen wird: Dabei steht er in seiner ganzen »pragmatischen Angemessenheit« (praticità) in direktem Verhältnis zur Wahrheit, in einer ursprünglichen Einheit-Unterscheidung von Theorie und Praxis. Dadurch werden einerseits eine Philosophie der Politik und eine Philosophie der Moral möglich, ohne dass deshalb die Moral und die Politik aus einer vorausgesetzten Philosophie »abgeleitet« werden müssten. Andererseits sind eine Moral und eine Politik möglich, die auch ohne Bezug auf eine explizite Philosophie einen »Wahrheitswert« und einen klaren offenbarenden Charakter haben. Das heißt, sie sind auf der e­ inen Seite eine konkrete und engagierte Philosophie, die jedoch den Politikern nicht direkt Normen diktiert. Auf der anderen Seite sind sie eine Poli­tik und eine Moral, die so von der Wahrheit geprägt sind, dass sie sich auf keinen Fall auf pragmatistische und instrumentalistische Technik reduzieren lassen.

20 Cicero, Atticus 2.1.8: »dicit enim tamquam in Platonis πολιτεία, non tamquam in Romuli faece, sententiam«; M. Rebello, Romulus in der lateinischen Literatur von Ennius bis Ovid, wbg Academic, Darmstadt 2019, 144– 146; hier: 145; Shackleton Bailey, David R. (Hg.). Cicero’s Letters to Atticus. Volume I: 68–59 B. C. 1–45 (Books I and II), Cambridge 1965: »Faex hat ein Bedeutungsspektrum von Bodensatz über Abschaum bis hin zu Kot […] Als Bezeichnung für einen schlechten Staat ist Gosse im Deutschen unüblich.« [Anm. d. Übers.].

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16.  Unvermeidbarkeit des moralischen, nicht des ideologischen Einsatzes Um diesen Punkt besser zu klären, will ich im Folgenden mit eini­gen Klarstellungen schließen, die mir für alles bisher Besprochene angemessen erscheinen. Zuerst ergibt sich aus dem Vorhergehenden, dass der ideologische Einsatz überhaupt nicht notwendig ist. Denn der moralische Einsatz, nicht der ideologische Einsatz ist das, was notwendig ist, sei er nun ein ethisch-religiöser Einsatz oder ein ethisch-politischer. Nun ist weder für einen ethisch-religiösen noch für einen ethisch-politischen Einsatz die Ideologie nötig. Denn das, was bei der Entscheidung und beim religiösen Leben auf der einen Seite und bei der Wahl und der politischen Tätigkeit auf der anderen Seite notwendig ist, ist die Wahrheit, nicht aber die »Ideen«, das offenbarende und ontologische Denken, nicht das technische und instrumentelle Denken, die Bezeugung des Seins und nicht die bloße Vertrautheit mit den Seienden. Einige behaupten, dass »die Sozialität des Menschen unvermeidlich eine ideologische Struktur annimmt«, dass die Ideologie »die pulsierende Form des menschlichen Zusammenlebens« sei, dass im sozialen, politischen, rechtlichen Bereich der ideologische Einsatz unvermeidlich sei, da es »eitel und gefährlich [wäre zu glauben,] gegen ideologische Faktoren immun sein zu können«. Kurz und gut: Auf verschiedenen Seiten wird von ­einer Unvermeidbarkeit des ideologischen Einsatzes gesprochen. Nun, ich erkenne ohne weiteres die Unumgänglichkeit des Einsatzes an, aber ich verstehe nicht, warum der Einsatz notwendigerweise ideologisch sein muss. Sicherlich gilt aus marxistischer und neoaufklärerischer Sicht – d. h. aus der Sicht derjenigen, die keine andere Denkform zulassen als geschichtliche und praktische Vernunft oder technische und experimentelle Vernunft – als ideologischer Einsatz nicht nur eine politische Stellungnahme, sondern auch eine philosophische Theorie oder ein religiöser Glaube. Das trifft nicht auf die Weise derjenigen zu, von ideologischem

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Einsatz zu sprechen, die – durch ein Verlangen nach Wahrheit motiviert – eine Unterscheidung zwischen authentischem und unauthentischem Denken nicht lassen können. Das ist angesichts dessen umso mehr wahr, dass die sogenannte Unvermeidbarkeit des ideologischen Einsatzes sich am Ende auf etwas viel Einfacheres und »Allzumenschliches« reduziert, nämlich auf die Tatsache, dass »man nicht darauf verzichten kann, sich jeweils bei der Verwirklichung praktischer Interessen einzusetzen«. Was verlangt man also – ehrlich und ohne Verstellungen – vom Denken? Verlangt man von ihm, diese Interessen in einem rationalen Diskurs zum Ausdruck zu bringen, sie zu »rationalisieren«, zu rechtfertigen und sie in der Suche nach der eigenen Befriedigung und des eigenen Erfolges wirksam zu machen? Genau das ist die Funktion und das Ziel des ideologischen Diskurses, d. h. des unauthentischen Denkens, das sich im Grunde mit der eigenen geschichtlichen Situation identifiziert und durch die praktische Handlung instrumentalisiert wird. Oder verlangen wir vom Denken, der geschichtlichen Situation, der jene Interessen angehören, eine breitere Dimension und eine breitere Perspektive zu verleihen, in der sie nicht nur ausgedrückt, sondern auch beurteilt werden, nicht nur befriedigt, sondern sogar erlöst, nicht nur effizient gemacht, sondern auch zum zivilen Zusammenleben herangezogen werden? Diese sind hingegen Funktion und Ziel eines philosophischen Diskurses, der keinen praktischen Einsatz ohne den Bezug auf Wahrheit kennt. Wenn man aber von der Unvermeidlichkeit des ideologischen Einsatzes spricht, verwendet man den Begriff »Ideologie« vielleicht, um jede Art von Denken zu bezeichnen, oder vielleicht auch nur, um dem Denken als solchem eine größere praktische Akzentuierung zu verleihen. Warum sorgt man sich dann so sehr darum, die Verabsolutierung der Ideologie zu vermeiden, dass man sogar behauptet, dass »die Möglichkeit eines Dialogs mit anderen von dem bewussten Bemühen nach Nicht-Verabsolutierung bedingt ist«, und dass die Garantie gegen eine solche Verabsolutierung aus

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dem Verweis auf die Transzendenz bestehe? Wenn jedes Denken ideologisch ist, dann ist auch diese Forderung nach Dialog, nach Nicht-Verabsolutierung und nach Transzendenz eine Art Ideologie. Oder aber sie ist es nicht, und dann kann man nicht sagen, dass jeder Einsatz unvermeidlich ideologisch sein muss. Andere könnten die Notwendigkeit des ideologischen Einsatzes mit der Ohnmacht des menschlichen Geistes rechtfertigen, insofern der Mensch aufgrund seines Zustandes sich vor der tragischen Alternative befindet, den Wert in einer nicht weniger unfruchtbaren wie unerreichbaren Reinheit aufrechtzuerhalten oder aber seine Verwirklichung durch das Eingreifen nicht-axiologischer Faktoren zu suchen: Die Verwirklichung des Wertes erfordere eine unvermeidbare »Kontaminierung« und diese »Demütigung« sei Ideologie, die dann »zum notwendigen Werkzeug für die Verwirklichung des Wertes in der Gesellschaft und in der Geschichte« werde. Damit anerkennt man bereits, dass das ideologische Denken ein unauthentisches Denken ist. Man meint nämlich, dass die vermittelnde Funktion zwischen der Republik Platons und der Gosse des Romulus keinem anderen anvertraut werden kann als einer Denkform, die an sich der Tierhaftigkeit (ferinità) des Menschen nähersteht als der Wahrheit. Sie dem offenbarenden und der Wahrheit nächststehenden Denken anzuvertrauen, wäre nichts anderes als Utopie und »Angelismus«. Abgesehen davon, dass in der geschichtlichen Welt zu handeln gar keine »Kontaminierung« bedeutet und dass sich das menschliche Denken nur dann kontaminiert und demütigt, wenn es sich auf Unternehmungen einlässt, die durch den Verzicht auf die Wahrheit gekennzeichnet sind, muss man anerkennen, dass eine Auffassung dieser Art eine Form von »Realismus« ist. Diese Form ist zwar das genaue Gegenteil des »Perfektionismus« (perfettismo), bringt aber dennoch – wenn auch mit umgekehrtem Vorzeichen – alle Unannehmlichkeiten des letzteren mit sich, insofern eine wahre und eigentliche Unterscheidung zwischen Wert und Unwert unmöglich wird, gesetzt dass die ganze Geschichte gleicherweise Dekadenz, Irrtum, Böses ist. Eines ist sehr wahr:

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damit die »Idee« in der Geschichte wirken kann, ist laut Hegel »Leidenschaft« erforderlich. Aber das heißt überhaupt nicht, dass das Denken seine ursprüngliche ontologische Verwurzelung und seine ursprüngliche veritative Tragweite verraten müsste, um sich als reines Instrument der Handlung zu vertechnisieren. Die Ausübung der Tugend kann genauso wenig von jenem indirekten Respekt der Tugend ausgehen, der Heuchelei ist, – außer durch ­einen gezielten Sprung. Ebenso kann von ­einem Denken, das von vornherein auf die Wahrheit verzichtet hat, kein Bedürfnis nach Wahrheit, kein Verlangen nach Urteil, kein moralisches Streben, keine Sorge um Gerechtigkeit ausgehen, sondern nur eine Reihe von praktischen Anpassungen, technischen Zweckmäßigkeiten, empirischen Kompromissen. Vom offenbarenden Denken, das von der Unerschöpflichkeit der Wahrheit erfüllt ist, kommt eine weitaus dehnbarere und findungsfreudigere, reichere und unvorhersehbarere Fähigkeit her als von der scheinbaren Fruchtbarkeit des technischen und pragmatischen Denkens, das so sehr der Situation verhaftet ist, dass es von ihr gefangen bleibt, und so sehr im Dienst der Handlung steht, dass es sie nicht wirklich inspirieren kann. Dagegen findet das offenbarende Denken mit seiner ursprünglichen Natürlichkeit und Spontaneität von selbst die Handlungsweise seiner Realisierung, schöpft seine neuen Möglichkeiten aus sich selbst ­heraus und sorgt von sich aus dafür, das Universale konkret zu machen. Wie bescheiden, niederträchtig, abgefallen und wild der Zustand des Menschen auch sein mag, die ontologische Dimension der menschlichen Tätigkeit oder der offenbarende Charakter des menschlichen Denkens werden niemals verhindern, dass sich für ihn auch in einem solchen Zustand ein Licht der Wahrheit und Rationalität anzünden oder eine gültigere Moralität oder ein zivileres Zusammenleben verwirklichen könnten. Das, was den Bezug zum Sein und dem offenbarenden Denken charakterisiert, ist nicht die Unerreichbarkeit einer abstrakten und idealen Vernunft, sondern eher die Fruchtbarkeit der konkreten Vorschläge, der erfinderische Reichtum von Handlungen, die die Wahrheit

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und das Sein nicht einfach deshalb vergessen, weil sie sich an die reale Situation halten. Die Technik und das ideologische Denken wird nicht durch etwas charakterisiert, das einfach die Entsprechung zur Situation und die konkrete Kenntnis desjenigen Realitätsbereiches ist, in dem man dann die dehnbare Erfindungskraft des Denkens einsetzen kann. Sondern eher durch eine experimentelle und pragmatische Rationalität, die so sehr von der Situation gefangen ist, dass sie sich nicht mehr weit genug über sie emporheben kann, um diese noch inspirieren, leiten und kontrollieren zu können.

17.  Der Philosoph und die Politik Zweitens ist einerseits zu beachten, dass die Kriterien für die poli­ tischen Entscheidungen nicht unmittelbar von der Philosophie geliefert werden, die zuallererst versuchen muss, Philosophie zu sein und nichts anderes. Wenn Philosophie und Politik keine unmittelbare Verbindung haben, bedeutet dies nicht, dass sie toto coelo bis zu dem Punkt getrennt sind, an welchem die Rationalität des Denkens in die Vorhölle der Abstraktheit flüchtet und die soziale und politische Realität im Treibsand der Irrationalität versinkt. Das Verhältnis zwischen Philosophie und Politik ist nicht direkt, sondern entsteht aus einer tiefen und ursprünglichen Solidarität von Theorie und Praxis, die an sich derselben Unterscheidung zwischen Denken und Handeln, zwischen theo­retischem und praktischem Leben, zwischen erkennender und aktiver Welt vorangeht. Wäre das Verhältnis direkt und folgte nach der Unterscheidung von Theorie und Praxis, könnte es zwischen Philosophie und Politik nichts anderes geben als entweder eine absurde gegenseitige Unterordnung oder eine monströse Vermischung der beiden: Dies sind zwei Möglichkeiten, die sich recht oft in der Geschichte von Denken und Handeln gezeigt haben und die schnell ihren verderblichen Einfluss ausgeübt haben. Wenn aber das Verhältnis indirekt ist und von der fernen (aber deshalb nicht

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weniger wirksamen) Inspiration einer ursprünglichen Solidarität, verstanden als Übereinstimmung von Theorie und Praxis, diktiert wird, dann wird zwischen Philosophie und Politik, in ihrer notwendigen und unerlässlichen Unterscheidung, eine fruchtbare und für beide vorteilhafte Zusammenarbeit möglich. Der Philosoph ist weder der abstrakte und »monastische« Denker im Elfenbeinturm noch derjenige, der zugleich Philosoph und Politiker ist. Zu sagen, der Philosoph dürfe nicht zurückgezogen von der Gesellschaft, also nicht der Geschichte entwurzelt sein, bedeutet nicht, dass er Politik treiben müsse, gerade weil es nicht möglich ist, gleichzeitig Philosoph und Politiker zu sein, außer im Falle einer kontingenten, zufälligen persönlichen Eventualität. Der Philosoph muss philosophieren und nichts anderes, und gerade darin liegt seine zivile Aufgabe und seine poli­ tische Relevanz. Seine Aufgabe ist nicht die der aktiven Politik, sondern uns daran zu erinnern, dass die Gosse Romulus’ uns die Republik Platons nicht vergessen lassen darf; weiterhin, dass die geschichtliche Wirklichkeit nicht so zu verabsolutieren ist, dass sie sich in der Seinsvergessenheit und im Verrat der Wahrheit verliert, und letztlich, dass allen praktischen Schemata und allen Handlungsprogrammen ein ethischer Charakter zukommt und eine jede Handlung ohne moralische Dimension undenkbar ist. Darüber hinaus gilt, dass Ideen nur dann wirklich Ideen sind, wenn sie nicht instrumentalisiert werden; dass es einen Bezug zum Sein gibt, dem man sowohl im Denken als auch im Handeln treu bleiben muss; dass die Technik niemals Selbstzweck sein kann und sich das Experimentieren nicht auf sich selbst gründet; dass der Dialog, der das Zusammenleben sichert, nur in der Wahrheit möglich ist. Wenn der Philosoph die Aufgabe hat, uns an all dies zu erinnern, gehört es zur Aufgabe des Politikers, es in der Geschichte und in der sozialen Wirklichkeit zu verwirklichen. Das bedeutet aber gerade nicht, dass der Philosoph dem Politiker Normen zuweise, denn dies alles erfindet der Philosoph nicht. Vielmehr ruft er es in Erinnerung und erinnert alle daran, so dass jeder einzelne sich daran erinnern muss. Denn der Offen-

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barungscharakter des Denkens ist nicht ausschließliche Domäne des philosophischen Denkens, sondern wohnt jedem seines Namens würdigen Denkens inne, so dass der rein theoretische und spekulative Charakter des Denkens nur eine von seinen Formen und Spezifizierungen ist. Die Aufgabe des Philosophen, an all dies zu erinnern, ist umso bedeutender, je mehr der Mensch es schon vergessen haben könnte, so dass es in Seinsvergessenheit und im Verrat an der Wahrheit verloren und in der bloßen Ausdrücklichkeit und Pragmatizität des technischen Denkens untergegangen ist. Es ist von Nutzen, dass es gerade der Philosoph in Erinnerung bringt. Doch schon der einfachste gemeine Mensch hätte sich selbst daran erinnern können, wenn er nur dem ursprünglichen Band, das ihn an Wahrheit und die wesentliche ontologische Dimension seines eigenen Menschseins bindet, treu geblieben wäre. In diesem Sinne braucht der Philosoph keinesfalls eine Ideologie, um politische Relevanz zu haben: Es genügt, dass er wahrhaft ein Philosoph ist; denn allein dadurch, dass er wahrhaft philosophiert, bekämpft er implizit die Ideologien und nimmt damit eine explizit politische Stellung ein. Seine Weise, an der politischen Debatte teilzunehmen, ist nämlich seine Stellungnahme gegen die Ideologien im Namen der echten Philosophie; und es ist gerade seine Verweigerung, seine Philosophie direkt in den politischen Kampf eingreifen zu lassen – die er damit zur Ideologie degradierte und somit dem echten Wesen seines Denkens nicht treu bliebe. Die politische Tragweite der Position des Philosophen besteht gerade in der Sorge, mit der er die Philosophie von der Ideologie unterscheidet, indem er in der Ideologie den Verrat des Denkens im voreiligen Dienst an der Handlung sieht – d. h. die Wirklichkeit selbst der Gosse von Romulus überlässt und dem Beet, »drum so wild hier tobt der Streit«21 –, während in der Philosophie der Appell an den ontologischen Bezug und das Band zur 21  Vgl. Dante, Divina Commedia III, XXII, 151, dt. Üb. von F. F. von Falkenhausen.

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Wahrheit, die dem Handeln selbst innewohnt, angezeigt wird. Damit bezeugt er ein Denken, das nicht wegen der Tatsache, dass es dezidiert spekulativ ist, abstrakt oder akademisch oder ausweichend wird. Die politische Tragweite der Position des Philosophen besteht also darin, dass er Hüter der Wahrheit auch in der Handlung sein will und eben nicht Paladin der Handlung ohne Wahrheit; dass er fürchtet, nicht, dass die Handlung die Kontemplation zerstöre, sondern nur, dass die Handlung das Sein vergesse. Denn die Handlung, die das Sein in Erinnerung zu rufen weiß, die also nicht nur sich selbst in ihrem eigenen Sein als Handlung bestätigt, sondern auch einen Wahrheitswert gewinnt, bedroht damit nur die unfruchtbare und träge, solipsistische und narzisstische Kontemplation, nicht aber jene tiefe und radikale Kontemplation, die das Gedächtnis der Wahrheit ist und die nicht nur als spekulatives Denken, sondern in jeder menschlichen Tätigkeit realisierbar ist. Die Unterscheidung, die dem Philosophen am Herzen liegt, ist also nicht die Unterscheidung zwischen Denken und Handeln – so als ob nur dem Philosophen das Denken gehören könnte und er sich von jedem Auftauchen der Handlungen bedroht fühlte, so als ob die Handlung eine indiskrete und ungelegene Störung der spekulativen Ruhe wäre –, sondern die Unterscheidung zwischen der Treue zur Wahrheit und dem Verrat an ihr, zwischen dem Hören auf das Sein und dem Ignorieren desselben – sei es, dass dies im Denken geschieht oder in der Handlung.

18.  Unzulänglichkeit der gegenseitigen Unterordnung von Philosophie und Politik So gesehen kann man weder akzeptieren, dass der Philosoph den Anspruch erhebe, als solcher den Politikern Gesetze vorzuschreiben, noch, dass er akzeptiere, seine Philosophie der aktiven Poli­ tik zu unterwerfen. In der heutigen Gesellschaft scheinen sich zwei verschiedene Weisen des Verhältnisses zwischen dem In-

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tellektuellen und dem Politiker herauszubilden und sich in eher steifer und extremer Typisierung abzuzeichnen: einerseits der Politiker als Vollzieher des Intellektuellen – und dies ist das von den Neoaufklärern angestrebte Verhältnis; andererseits der Intellektuelle als Instrument des Politikers – und dies ist das von den Kommunisten praktizierte Verhältnis. In Wirklichkeit sind Neoaufklärer wie auch Kommunisten in gewissem Sinne Anhänger des Historismus und des Panpolitizismus, da sie das Denken nur soweit schätzen, insofern es eine eher kulturelle als spekulative Bedeutung hat und schon an sich eine immanente und wesentlich politische Bestimmung aufweist. Sie sind es aber beide in veralteter, ja geradezu vormarxistischer Weise, im Sinne einer radikal anti-metaphysischen, wenn auch regulativen und exemplarischen Vernunft. A ­ ugusto Del Noce22 hat sachkundig dargelegt, dass die gegenwärtigen Soziologen, wie die Ideologen des Konsulats, als eine Wiederaufnahme der Aufklärung nach dem Scheitern der Revolution zu verstehen sind, (Komma) sowie als Versuch der Ersetzung der politischen Revolution durch eine wissenschaftliche Revolution. Wenn dies wahr ist, dann muss man sagen, dass die wahre Neu-Aufklärung heute von der Soziologie repräsentiert wird, soweit sie die Metaphysik durch Wissenschaft ersetzt und sich direkt auf die Aufklärung des 18. Jahrhunderts beruft, während sie den Marxismus völlig außerhalb ihrer eigenen Entstehungsgeschichte belässt. Daraus ergeben sich verschiedene Konsequenzen: Erstens erklärt sich dadurch die Armut der Neu-Aufklärung im Vergleich zum Marxismus. Ist dieser doch von der romantischen Erfahrung bereichert worden, obwohl er diese verdrängt hat, sowie er von ihrem offensichtlich metaphysischen Ursprung geprägt worden ist, obwohl er ihn verworfen hat. Zweitens erklärt sich dadurch die Sterilität der antimarxistischen Züge der Neu-Aufklä22  A. Del Noce, Intorno alle origini del concetto di ideologia, in Atti del XXI Convegno del centro di studi filosofici tra professori universitari, Morcelliana, Brescia 1967, 75–86.

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rung, die weder eine Alternative zum Marxismus anbieten kann (da sie kein Problem mit ihm teilt), noch seine Überwindung darstellen kann, da sie die Erfahrung des Marxismus in ihre eigene Entstehungsgeschichte nicht einbezieht. Schließlich erklärt sich auch der hybride und absurde Charakter einer Zusammenarbeit oder einer Übereinstimmung oder eines Bündnisses zwischen Neu-Aufklärer und Marxisten, die nur unter der Bedingung etwas Gemeinsames finden könnten, insofern jeder seine eigene Position verleugnet. Kurz und gut: In der Neu-Aufklärung zeigt sich im Grunde das Verhältnis zwischen Denken und Handeln – trotz jeder scheinbaren Abweichung – in genau den Termini der Aufklärung des 18. Jahrhunderts: Die Theorie gilt als Norm für die Praxis, und dies aufgrund ihrer abgeleiteten Unterscheidung, ihrer künstlichen Trennung und ihrem vermeintlichen Vorrang der Praxis gegenüber. Vorrang ist hier in dem Sinne zu verstehen, dass es nicht die Wahrheit ist, sondern die Philosophie, die der Handlung, die an sich blind und irrational ist, ein Gesetz vorschreiben müsse. Im Übrigen ist es wohl wahr, dass der tiefe Sinn der Marx’schen Auffassung eine Identität von Theorie und Praxis, von Denken und Handlung, von Philosophie und Politik, meint. Dazu komme man einerseits durch das Erfordernis, das Wesen der Philosophie nach dem Aufkommen des Historismus neu bestimmen zu müssen. Andererseits durch die eingestandene Unmöglichkeit, die Philosophie bloß als Denken zu begreifen, und durch die sich daraus ergebenden Notwendigkeit, sie verwirklichen zu müssen, indem man sie überwindet, ohne sie zu beseitigen. D.h. sie aus der Handlung selbst bestehen zu lassen, aus einem integralen Praxismus, in dem die Philosophie als Philosophie umso mehr bestätigt ist, je mehr sie mit der Handlung identifiziert wird, und die Handlung umso mehr aktiv und praktisch ist, je mehr sie als eine endliche, verwirklichte Philosophie angesehen wird. Darin besteht der ursprüngliche metaphysische Charakter des Marxismus, der als Geschichtsphilosophie geboren ist. Von hier her ergibt sich die Tiefe der Unzulänglichkeit jener Interpretationen

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des Marxismus, die man als verwässert bezeichnen könnte, nämlich die methodologische, die ideologische, die soziologische oder die empiristische Interpretation, die überhandgenommen haben oder -nehmen. Was jedoch im Marxismus auftritt, ist Folgendes: Aufgrund der Tatsache, dass die Identität von Theorie und Praxis als nachträglich und nicht als ursprünglich behauptet wird, und die Funktion der Wahrheit, die an sich letztendlich negiert wird, der Philosophie – auch wenn sie pragmatisch aufgefasst wird – zuzuschreiben ist, nimmt die Identität von Theorie und Praxis die Form der Unterwerfung der Theorie unter die Praxis an, mit der anschließenden Ersetzung des Praxismus durch den Instrumentalismus. Die Verneinung der ursprünglichen Wahrheit verleiht der »Verwirklichung« der Philosophie eher den Charakter praktischer Unterdrückung als deren theoretischer Überwindung, bzw. eher die Form ihrer vollständigen Unterordnung unter die Politik als die Form ihrer vollständigen Identifikation mit der Politik. Daraus ergibt sich die Auffassung des für den Politiker instrumentalisierten Intellektuellen, eine Auffassung, die in Wirklichkeit eher die Praxis des Kommunismus als die eigentliche Überzeugung von Marx darstellt. So finden wir also in der heutigen Gesellschaft und mit nunmehr unverwechselbaren Charakteristiken einerseits den Intellektuellen, der seine eigene Aufgabe in dem Anspruch sieht, dem Politiker Gesetze zu geben, und andererseits den Politiker, der in seinem Realismus den Intellektuellen in seinen eigenen Dienst stellt: Auf der einen Seite begegnen wir der Vorstellung der Philosophie als Anleitung für die Politik und auf der anderen Seite der Vorstellung der Philosophie als ein Instrument der Politik. Diese beiden Auffassungen haben vor allem die Tatsache gemeinsam, als Ausgangspunkt die Trennung von Denken und Handeln vorauszusetzen, ohne sich darum zu kümmern, eine vorherige Sphäre zu berücksichtigen, von der aus die abgeleitete Unterscheidung zugleich ihre Erklärung und ihre Norm gewinnen könnte. Es ist klar, dass Denken und Handlung, wenn sie ein-

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mal in ihrer Getrenntheit und in einer nunmehr versteiften Bestimmung betrachtet werden, nicht mehr in einen direkten Bezug zueinander gebracht werden können, es sei denn durch eine gegenseitige Unterordnung. Wenn die ursprüngliche Identität von Theorie und Praxis außer Acht gelassen wird, dann wird ihre Unter­scheidung zu einem wahren und eigentlichen Gegensatz, der nur durch eine Degradierung eines der beiden Begriffe in Bezug auf den anderen vermittelt werden kann: So ergibt sich einerseits die Idee, dass das Denken der Handlung vorangeht, und andererseits die Idee, dass die Handlung dem Denken vorangeht bzw. auf der einen Seite die zur bloßen und einfachen »Anwendung« der Theorie degradierte Praxis (die sozusagen eine Form des Fanatismus ist) und auf der anderen Seite die zum reinen Instrument der Praxis degradierte Theorie (die sozusagen eine Form des Zynismus ist). In der Tat macht die Aufklärung, in dem sie die Praxis als reine und einfache Anwendung einer vorausgesetzten Theorie auffasst, die Theorie zu einer abstrakten und unerbittlichen Vernunft, der man in jedem Fall eine unfolgsame und widerspenstige Wirklichkeit entsprechen lassen muss. Ohne jene moralische Findungsgabe, die den einzelnen Fall zu verstehen und zu interpretieren weiß und das Gesetz in ihm wirksam und wohlwollend aktiv werden lässt, die die Norm in einer so gelungenen Weise zu gestalten weiß, dass sie so nah wie möglich an der konkreten Situation ist und dennoch imperativ und verbindlich bleibt, wird die einfach vorausgesetzte und der Praxis auferlegte Vernunft zur Norm, nur durch den unerbittlichen Aspekt des Rigorismus, die unbeugbare Strenge des Moralismus, die grausame Wildheit des Fanatismus. Und der Panpolitizismus beraubt nicht umsonst jede Handlung jeglichen veritativen Kriteriums, indem er das Denken in der Handlung auflöst, sondern er erlaubt auch die Instrumentalisierung der Theorie für die Praxis, indem er radikal und endgültig den ideologischen Charakter einer jeden Denkform bekennt. Das führt unweigerlich zum Zynismus, weil man sich hier nicht mit der Realpolitik begnügt, die völlige Unabhängigkeit der Poli­

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tik von der Moral zu behaupten, sondern sogar zu sagen wagt, dass es keine andere Form der Moral als die Politik gebe. Jenen beiden Auffassungen ist zudem gemeinsam, dass sie die Wahrheit mit der Philosophie verwechseln, oder besser: Sie unterdrücken die Wahrheit und verlangen von der Philosophie das, was nur die Wahrheit geben kann. Es ist gerade deshalb, dass sie entweder – getäuscht – die Philosophie zur direkten Anleitung der Handlung (guida dell’azione) und der Politik erheben oder  – enttäuscht – sie zu einem Instrument der Handlung und der Poli­tik degradieren. Die Aufklärung vergisst, dass es die Wahrheit und nicht die Philosophie ist, die der Praxis und der Politik das Gesetz gibt. Das bedeutet, dass sich nicht nur der Praktiker und der Politiker, sondern auch die Philosophen zu fügsamen und weisen Zuhörern der Wahrheit machen müssen. Wenn der Philosoph dem Politiker und dem Menschen, der handeln muss, etwas zu sagen hat, so geschieht das nur insofern, als er sie an das erinnert, was sie selbst schon von sich aus wissen oder wissen sollten, aber vielleicht vergessen haben, und es kann hilfreich sein, wenn jemand sie daran erinnert. Es würde jedoch genügen, wenn sie der ursprünglichen ontologischen Tragweite des Menschseins selbst treu blieben, um sich daran zu erinnern und um sicherzustellen, dass die Anwesenheit des Seins und der Wahrheit in ihrer Tätigkeit zur Geltung kommt. Die Aufklärung erteilt der Philosophie jedoch nicht die Aufgabe, sich an die Wahrheit zu erinnern – das ist Aufgabe aller –, sondern vielmehr die Aufgabe, der menschlichen Tätigkeit Gesetze zu geben. Das aber nährt als verächtlicher und rücksichtslos aristokratischer Geist die Überheblichkeit der menschlichen Vernunft und den Hochmut der Philosophen. Der Marxismus wiederum ist gefangen zwischen der unglücklichen Entscheidung, jede Wahrheit aus dem Denken ausschalten, und der gerechten Forderung, den tieferen Zusammenhang von Theorie und Praxis erfassen zu wollen. So will er einerseits die Philosophie als etwas rein Gedachtes ablehnen und andererseits sie durch die bloße Praxis ersetzen, in der sich die Philo-

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sophie verwirklicht. Damit vergisst er, dass die Philosophie nur etwas Gedachtes sein kann, weil sie die Übersetzung in verbale und spekulative Termini jenes offenbarenden und ontologischen Denkens ist, das ursprünglich in jeder menschlichen Tätigkeit gegenwärtig ist, sofern es nicht durch einen Akt der Rebellion oder des Verrats ausgelöscht wurde. Und er vergisst, dass das, was es zu erreichen gilt, nicht so sehr die Verwirklichung der Philosophie in der Praxis ist, sondern vielmehr die authentische Anwesenheit der Wahrheit auch in der Praxis.

19.  Die Ursprünglichkeit der Praxis Das Verhältnis von Philosophie und Politik ist also nicht so, wie es jene vereinfachenden Ansätze zum Verhältnis von Theorie und Praxis erscheinen lassen möchten. Sicherlich gibt es auf der ­einen Seite die Philosophie, und sogar eine Philosophie der Poli­ tik, während auf der anderen Seite die Politik in actu steht, die Handlungsschemata und praktische Projekte voraussetzt. Aber weder hat die Philosophie der Politik die Aufgabe, diese Handlungsschemata direkt zu bestimmen, als ginge es darum, die Praxis aus einer Theorie »abzuleiten« oder eine Theorie auf die Praxis »anzuwenden«. Noch stellen diese praktischen Schemata das Ergebnis einer von der Politik unterworfenen Philosophie dar, einer Praxis, die aus sich selbst heraus ihre eigene Theorie erzeugt. Nun übersetzt die Philosophie in reflexive, verbale, spekulative Termini jenes offenbarende und ontologische Denken, das in jeder menschlichen Tätigkeit gegenwärtig sein kann. Jene Handlungsschemata und praktischen Projekte haben ein Wahrheitspotential inne, wenn sie nicht auf ein ideologisches, rein technisches und instrumentelles Denken reduziert werden. Ein solches Potential zu klarem Bewusstsein und thematischer Reflexion zu bringen, d. h. es in spekulative Termini zu übersetzen, ist Aufgabe und Wesen der Philosophie der Politik. Innerhalb dieser Grenzen nur kann Philosophie zum Vorteil für Politik werden.

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Das führt mich zum dritten Punkt der Untersuchung. Wenn die Philosophie nichts anderes ist als die verbale und spekulative Übersetzung des offenbarenden und ontologischen Denkens, dann besteht die Aufgabe darin, den offenbarenden und ontologischen Charakter zu verteidigen, den jede menschliche Tätigkeit, auch die praktische Handlung, an sich haben kann. Letztlich handelt es sich darum, jene nicht vereinfachende und »alltägliche« (buonsensistico), wohl aber ganz menschliche Auffassung des »gemeinen Menschenverstandes« – von dem ich schon gesprochen habe – zu verteidigen. Denn das offenbarende und ontologische Denken kann von jedem erreicht werden, wenn auch nicht in seiner genuin philosophischen Formulierung, und diesem ist, was offensichtlich äußerst schwierig ist, treu zu bleiben und es nicht in Seinsvergessenheit oder Technisierung des Denkens zu verlieren. So findet sich der Mensch vor eine Alternative gestellt: Entweder wird alles auf Technik reduziert, auch die Philosophie, oder alles hat eine offenbarende Tragweite, auch die praktische Handlung. In dem Fall, den wir gerade untersuchen, handelt es sich darum, das der Handlung innewohnende Wahrheitspotenzial ans Licht zu bringen, d. h. das zu behaupten, was man Ursprünglichkeit der Praxis nennen könnte. Um sich zur Wahrheit in Beziehung zu setzen, bedarf die Praxis keineswegs der Vermittlung der Philosophie, denn sie besitzt ursprünglich ihre Wahrheit und kann diese in sich selbst finden und beanspruchen. Man sollte den offenbarenden Aspekt des ontologischen Denkens nicht mit dem spekulativen Aspekt des philosophischen Denkens verwechseln, auch wenn letzteres nicht wahrhaft spekulativ sein kann, sofern es nicht ursprünglich offenbarend ist. Vor allem aber zählt die »Offenbarungsfähigkeit« des Denkens, d. h. die Wahrheit, und nicht so sehr seine Spekulativität, d. h. die Philosophie. Man sollte nicht in einen Theoretizismus verfallen, als ob der Bezug zum Sein nur kognitiv wäre. Die Praxis wäre in einem solchen Fall nichts anderes als einfache Ableitung, Anwendung und Konsequenz einer vorausgesetzten Theorie und die Wahrheit müsste

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angesichts einer absurden, bedrückenden, arroganten Verabsolutierung der Philosophie verschwinden. Es gibt eine Wahrheit auch in der Handlung als solcher und diese gilt es wiederzuerlangen und wieder zu behaupten. Gewiss, das Bewusstsein, das man davon haben kann, und die thematische Behandlung, die man vornehmen kann, sind philosophischer Diskurs im eigentlichen Sinn des Wortes; aber ein solcher Diskurs könnte nicht ohne die bejahte Ursprünglichkeit der Praxis durchgeführt werden. Unter dem Gesichtspunkt einer solchen Ursprünglichkeit hat es keine Relevanz mehr, ob der philosophische Diskurs der Handlung vorausgehend oder folgend ist. Einerseits würde dieses Vorausgehen (anteriorità) die Praxis nicht zu einer bloßen Anwendung einer vorausgesetzten Theorie degradieren. Noch würde dieses Nachfolgen (posteriorità) der Theorie einen einfach ideologischen Charakter verleihen, da der offenbarende Charakter des philosophischen Diskurses und nichtsdestoweniger auch der der praktischen Handlung schon abgesichert ist. Die Ursprünglichkeit der Handlung wird durch die Tatsache bestätigt, dass in der geschichtlichen Welt die Praxis die Macht hat, die Bedingungen zu verändern, unter denen das offenbarende Denken ausgeübt wird. Diese Tatsache stellt natürlich keineswegs die Wahrheit in Frage, sondern betrifft nur unseren Zugang zu ihr in ihrem Werden und Sich-Erneuern. Gäbe es nicht eine solche Ursprünglichkeit der Praxis, dann wäre die erklärte geschichtliche Bedingtheit des Denkens eine bloß irrationale und negative Tatsache, gedacht als etwas, das besser gar nicht existieren sollte. Daher erklären sich die verderblichen Folgen ­einer beständigen, wenn auch unbewussten und versteckten Sehnsucht nach einer einheitlichen, endgültigen, unbeweglichen und vollständig erklärten Metaphysik. Eine Sehnsucht, die somit die Abwertung der geschichtlichen Welt mit sich bringt, die sie eher als einen unangenehmen Schleier betrachtet, den es wegzuziehen gilt, denn als eine mögliche Öffnung – eher als eine unverbesserliche, bedauernswerte Dekadenz, denn als Ort unserer Entscheidungen.

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Ich möchte mit einer vierten und letzten Bemerkung schließen. Es ist offensichtlich, dass schließlich jedermann Begriffe so anwenden kann, wie er will; aber man muss dann die Risiken in Kauf nehmen, die mit diesem willkürlichen und unaufmerksamen Gebrauch einhergehen. So wird von vielen der Begriff Ideologie in einem Sinn gebraucht, für den das traditionelle Wort »Moral« oder »Ethik« bestens geeignet wäre, d. h. als Konkretisierung des Universalen in der partikularen Situation; andere wiederum betrachten »Ideologie« als Vermittlung zwischen der Republik Platons und der Gosse von Romulus und damit als Wesentlich für den, der in der Welt wirken will. Sie vergessen dabei jedoch, dass gerade in dieser Vermittlungsfunktion bereits die moralische Inspi­ration für die einzelnen Handlungen und die moralische Findungsgabe für die konkreten Fälle besteht. Den Begriff von Ideologie in diesem Sinne zu gebrauchen, um Vorgänge zu bezeichnen, in denen das Erinnern des Seins und die Treue zur Wahrheit entscheidend sind, kann einen unbewussten oder verschwiegenen Willen zur Entfernung der Politik von der Moral und der Moral von der Wahrheit bedeuten, was äußerst bedauerlich wäre. So könnte man auch diese Handlungsschemata und praktische Projekte »Ideologien« nennen, in denen Interpretation der Zeit und Offenbarung der Wahrheit auf entscheidende Weise verbunden sind, in denen die geschichtliche und die ontologische Dimension in so fruchtbarer Weise zusammenwirken und so die Ursprünglichkeit der Handlung bezeugen können. Wenn man so vorgeht, dann setzt man sich jedoch der Gefahr des Historismus aus, d. h. dem Risiko, das offenbarende Denken als nur ausdrückendes Denken zu behandeln, mit der Folge, den Anspruch zu erheben, es zu entmystifizieren und zu historisieren, und man setzt sich der Gefahr des Soziologismus aus, d. h. dem Risiko, auf eine nachgiebige und unvorsichtige Weise die gegenwärtige Verwechslung von Wahrheit und Technik, oder vielmehr die heutige Ersetzung von Wahrheit durch die Technik zu unterstützen. Gewiss, die Gefahr der Ideologie und damit der Mystifizierung und der Instrumentalisierung ist konstant und jede kritische Sorgfalt

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diesbezüglich, die auf sich und auf die anderen angewendet wird, ist nie zu viel. Aber wenn diese Handlungsschemata und diese praktischen Projekte einen Wert haben, dann nicht als Konzeptualisierungen der geschichtlichen Bedingungen oder als Technisierung der praktischen Handlungen, sondern als – wenn auch vorläufige – Konzeptualisierung der ontologischen Tragweite der Handlung und als – wenn auch flüchtige – Zeugnisse einer Treue zum Sein.

Ergänzungen Dieses Kapitel wurde als Abschluss der Diskussion geschrieben, die nach meinem Vortrag zu ebendiesem Thema »Ideologie und Philosophie« am Centro di Studi Filosofici di Gallarate folgte. Auf diesen Seiten finden sich deshalb Spuren der mir dort gestellten Fragen, wie an einigen Zitaten ohne genaueren Verweis deutlich wird. Generell handelt es sich um die Beiträge von Lotz, Gironella, Muñoz, Alonso, Lazzarini, Prini, Bagolini, Piemontese, Rigobello, Giannini, Nicoletti usw. § 2  Zur »Lesbischen Regel« von Vico verweise ich auf folgenden Passus aus seinem De nostri temporis studiorum ratione: »Non ex ista recta mentis regula, quae rigida est, hominum facta aestimari possunt; sed illa Lesbiorum flexili, quae non ad se corpora dirigit, sed se ad corpora inflectit, spectari debent« (Opere, I 91). § 3  Zur Bedeutung der Verwendung des Begriffs »Idee« bei Dostojewski hat F. Stepun beeindruckende Seiten geschrieben: F. Stepun, Dostojewski: Weltschau und Weltanschauung (Heidelberg: Pfeffer, 1950), 38–54. § 5  Das Zitat von Pascal (Pensées, B. 327) lautet im Original: »Les sciences ont deux extrémités qui se touchent. La première est la pure ignorance naturelle où se trouvent tous les hommes en naissant. L’autre extrémité est celle où arrivent les grandes âmes, qui, ayant parcouru tout ce que les hommes peuvent savoir, trouvent qu’ils ne savent rien,

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et se recontrent en cette même ignorance d’où ils étaient partis; mais c’est une ignorance savante qui se connâit. Ceux d’entre eux, qui sont sortis de l’ignorance naturelle, et n’ont pu arriver à l’autre, ont quelque teinture de cette science suffisante, et font les entendus. Ceux-là troublent le monde, et jugent mal de tout.« § 13  Die Kritik an Schelling als »Zerstörer der Vernunft« stammt bekanntlich aus Lukács, Die Zerstörung der Vernunft (Aufbau-Verlag, 1954). Die Verbissenheit, mit der Lukács Schelling angreift, zeigt, inwiefern für ihn Schelling der wahre Gegner ist und dies aus gutem Grund. Denn der nachhegelianische Schelling ist in seiner Kritik an Hegel eine gültige Alternative, ebenso wie – oder sogar: besser noch als Kierkegaard. Schellings Alternative ist deshalb zutreffender, da er die andere Möglichkeit der Auflösung des Hegelianismus, nämlich die Linie von Feuerbach – Marx enthält und damit absorbiert und negiert. § 14  Das Zitat entstammt aus Plotinus Enneaden, VI, VII, 17 und bedeutet: »Die Form ist in dem Gestalteten, während das Gestaltende formlos war.« In der Tat darf nach Plotinus die wahre Wirklichkeit einerseits »nicht begrenzt sein«, so dass »das Ursprüngliche […] formlos ist« (Δεῖ … τὸ ὄντως … μὴ μεμορφῶσθαι μηδὲ εἶδος εἶναι. Ἀνείδεον ἄρα τὸ πρώτως: ebd., 33); andererseits: »Prinzip und Quelle ist das Formlose, das einer Gestalt nicht bedarf, sondern von dem alle vernünftige Gestalt herstammt« (Ἀρχὴ δὲ τὸ ἀνείδεον, οὐ τὸ μορφῆς δεόμενον, ἀλλ᾽ἀφ᾽οὖ πᾶσα μορφή: ebd., 32), so dass »die Gestalt die Spur des Gestaltlosen« ist (τὸ γὰρ ἴχνος τοῦ ἀμόρφου μορφή: ebd., 33). Das Zitat von Schelling ist den Erlanger Vorlesungen (V 13) entnommen. Die Unbestimmbarkeit, in einem negativen Sinne verstanden als »bloße Unabhängigkeit von äußerer Bestimmung«, kann nicht für die Bestimmung des Prinzips genommen werden. Die Unbestimmbarkeit kann nur dann eine Bestimmung des Prinzips werden, wenn sie einen positiven Sinn annimmt wie »die Freiheit, sich in eine Gestalt einzuschließen«. Zu dieser Problematik kann man immer wieder auf den achten Abschnitt der sechsten Enneade von Plotin zurückgreifen.

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Das für den Dialog wesentliche Konzept zur Einübung in die Wahrnehmung der Andersheit (esercizio di alterità) habe ich in dem Aufsatz La conoscenza degli altri (1953) entwickelt, der nun in der zweiten und dritten Auflage von Esistenza e persona enthalten ist. Dieses Konzept wurde von mir auch als Einübung in die Kongenialität (esercizio di congenialità) als ein für jedes Verstehen, jedes Gespräch und jede Kommunikation wesentliches Element vertieft: Vgl. die 2. Auflage von Estetica. Teoria della formatività, zit., 210–212 und meine anderen Beiträge zur Ästhetik. Zu einem als wesentlich und ursprünglich verstandenen Interpretationsbegriff gehört die Notwendigkeit, für jede Form des Dia­logs (von Personen mit Personen, von Personen mit Dingen, von Personen mit Werken) offenbarende Gesichtspunkte zu erfinden, die nicht als abstrakte Gesichtspunkte, sondern als Einblicke von lebenden Personen gelten. In diesem Sinne ist die Interpretation eine Ein­übung in die Andersheit und in die Kongenialität, analog zur Rolle eines Dramaturgen, der ja »in die Schuhe« jenes realen oder idealen Gesprächspartners schlüpft. Vgl. in diesem Buch S.  92  f.

DRITTER TEIL WA H R H E I T U N D P H I L O S O P H I E

I. Notwendigkeit der Philosophie 1.  Wissenschaft und Religion beanspruchen, die Philosophie zu verdrängen Die Philosophie befindet sich heute eindeutig in einer Krise. Die gegenwärtige Kultur scheint ihr weder irgendeine Funktion noch irgendeinen Platz zuweisen zu wollen. Andere Wissensformen und andere Arten von Tätigkeit teilen das regnum hominis unter sich auf, ja sie wetteifern miteinander um die Vorherrschaft und sind darin sich einig, der Philosophie keinerlei Aufgabe zuerkennen zu wollen. Aus der heutigen Sichtweise hat die Philosophie nunmehr gar nichts mehr zu sagen, weil das Feld zunehmend von der invasiven Präsenz von Wissenschaft, Kunst, Politik und ­Religion beherrscht wird. Vor allem scheint sich die Wissenschaft dem zeitgenössischen Menschen aufzudrängen, der als verwunderter Betrachter ihrer immer überraschenderen Ergebnisse dazu neigt, sie als die vorbildliche, wenn nicht sogar einzig gültige Wissensform zu betrach­ten. Mehr fasziniert vom Spektakel der technischen Anwendungen als vom wirklich erfinderischen Moment des wissenschaftlichen Denkens neigt der Mensch von heute dazu, jede Erkenntnisform abzuwerten, die nicht folgende Merkmale von Wissenschaft besitzt: die Abgrenzung ihres Forschungsfeldes, die Funktionstüchtigkeit (operatività) ihrer Begriffe, die Selbstkorrektur der von ihr angewandten Vernunft und die intersubjektive

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Gültigkeit ihrer Schlussfolgerungen. Ein solcher Wissenschaftler ist offener für die Versuchung der Hybris, die dem technischen Fortschritt innewohnt, als für die Lehre der Demut, die dem erfinderischen und erkennenden Moment der Wissenschaft innewohnt. Er neigt deshalb dazu, sein wissenschaftliches Wissen zu verabsolutieren, indem er die anderen Wissensformen nach den Kriterien seiner Wissenschaft beurteilt und so unrechtmäßigerweise von ihnen verlangt, was sie weder leisten können, noch wollen, noch sollen. Somit ist die Philosophie gezwungen, sich die Züge und Verfahren der Wissenschaft anzueignen, indem sie sich lieber in bestimmte Forschungsgebiete aufteilt, als die gesamte menschliche Existenz in Frage zu stellen, sich in eine objek­tive, aber auch immer wieder revidierbare Gültigkeit entpersonalisiert und damit andere Wahrheitskriterien als die Funktionalität von Begriffen und die Fähigkeit zur Selbstkorrektur der Vernunft ­ignoriert. Verhielte sie sich nicht so, müsste sich die Philosophie damit abfinden, für phantasievoll und nutzlos gehalten zu werden: schön und suggestiv vielleicht, wenn man sie als künstlerischen Traum ansieht, aber nicht schlüssig und wohl auch überflüssig, wenn man sie als Erkenntnisform nimmt. Es sei denn, sie erklärt sich bereit, sich auf die Philosophie der Wissenschaft zu reduzieren, nämlich auf das kritische und methodische Bewusstsein, das das wissenschaftliche Denken von sich selbst hat. Auf der anderen Seite erhebt die Religion heute, nach der Ansicht von vielen, den Anspruch auf eine unumstößlich allumfassende Präsenz, um jene der Philosophie für überflüssig zu erklären. Heute bemüht sich die Religion, die Reinheit ihres ewigen Inhalts jenseits jeder geschichtlichen Inkarnation wiederzugewinnen, um dort die Inspiration für neue Inkarnationen zu finden, die dem aktuellen Zeitbewusstsein besser entsprechen. Daraus ergibt sich einerseits die Ablehnung des Bündnisses zwischen Religion und den verschiedenen Philosophien, die in der Geschichte des westlichen Denkens entstanden sind, und andererseits ein Zurücktreten in die reine Innerlichkeit des Men-

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schen, der den genuin religiösen Glaubenssprung vollbracht hat, woraus man gültige Impulse zum Aufbau einer neuen, religiös inspirierten Kultur entnimmt. So entsteht auf der einen Seite die Versuchung eines Fideismus, der sich kaum um die Gründe der Glaubwürdigkeit des Glaubens und um die Vernünftigkeit der religiösen Zustimmung kümmert und stattdessen die Kühnheit des Glaubens betonen will; auf der anderen Seite entsteht das Misstrauen gegenüber jeder Übereinstimmung zwischen religiösem Glauben und einer bestimmten Philosophie, insofern derjenige, der den Glaubenssprung gemacht hat, nicht mehr an einem Wahrheitsinhalt interessiert ist, den die Philosophie anbietet. Es scheint also heute, dass, wenn das Feld von der Religion beherrscht wird, kein Platz mehr für die Philosophie ist, weil nunmehr alles beschlossene Sache ist und der Beitrag der Philosophie – sei es, dass es sich um eine Vorbereitung oder um eine Bestätigung handelt – nutzlos ist: Nachdem der Philosophie jeder fundamentale und entscheidende Charakter genommen ist, bleibt ihr keine andere Aufgabe übrig als eine neutrale und beschreibende Untersuchung der religiösen Zustimmung und i­ hrer Ablehnung.

2.  Kunst und Politik beanspruchen, die Philosophie zu ersetzen Als reichte die Aufdringlichkeit von Wissenschaft und Religion nicht schon, wohnen wir heute sogar einer gekünstelten Übertreibung von Kunst und Politik bei, die den Anspruch erheben, die Philosophie zu ersetzen, indem sie ihre Funktionen übernehmen. Dies macht eines der Hauptmerkmale der heutigen Kultur aus, die im Wesentlichen eine Kultur der Surrogate ist. Man braucht sich nur umzuschauen, um sich dessen vergewissern zu können: In jedem Bereich wird die spezifisch genuine Tätigkeit von einer untergeordneten oder anderen Tätigkeit ersetzt, die die ursprüngliche Intention der ersteren korrumpiert,

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indem sie selbst an ihre Stelle mit verminderten und unangemessenen Kräften tritt. So wird zum Beispiel die Ethik zum Surrogat der Religion, die die menschliche Vernunft als autonome und hinreichende verabsolutiert, mit der Folge, dass diese, stolz auf ihre ­eigene Absolutheit, entweder in der Aufhebung der Schuld und der damit verbundenen universellen Rechtfertigung oder in der Errichtung eines abstrakten Moralismus endet, der vergebens unerbittlich und rigoristisch ist. So erhebt die Vernunft sich als Surrogat der Wahrheit, mit der Folge, dass sie aufgrund des Vergessens jenes ursprünglichen Verhältnisses zum Sein, das ihr allein Inhalt und Kriterium verleihen kann, grenzenlos und unsicher wird und wegen der Unsicherheit ihrer Schlussfolgerungen somit prekär, so dass sie auch die letzte Kraft verliert, die man ihr zugestehen will, nämlich die Fähigkeit zur Selbstkorrektur. So wird auch die Toleranz zum Surrogat der Liebe (carità) und vergisst, dass der Glaube an die eigenen Ideen und die Anerkennung der Ideen anderer ebenso wie der Kult der Wahrheit und die Nächstenliebe untrennbar sind, mit der Folge, dass man mit dem Vergessen der Wahrheit auch das Motiv des Respektes vor den Personen verliert. Und schließlich wird die Technik in jedem Bereich zum Surrogat schlechthin: in der Kunst, in der die geschickte Manipulation künstlerischer Mittel den Anschein von Kunst erweckt, ohne deren Substanz zu vermitteln; in der Wissenschaft, in der das technische Moment gegenüber dem erkennenden und erfinderischen Moment betont wird; in der Ethik, in der die Technik des Verhaltens den kreativen Prozess ersetzt, durch den sich der ursprüngliche moralische Appell in Normen übersetzt; und in der Philosophie selbst, die auf eine prozedurale Rationalität von Techniken reduziert wird, die jeweils den bestimmten Forschungsgebieten angepasst werden. Unter diesen Bedingungen ist es nicht verwunderlich, dass die Philosophie Surrogate in Kunst und Politik findet; und das vor allem deshalb, weil uns die philosophischen Wechselfälle der letzten hundertfünfzig Jahre dorthin geführt haben. Als die Philosophie bei Hegel eine Art Idealisierung der ganzen Wirklichkeit

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und der reinen Selbstbetrachtung erreicht hatte, blieb ihr, um sich in der Welt zu verwirklichen, kein anderer Weg als jener, sich in der konkreten Wirklichkeit zu verleugnen, d. h. in Nicht-Philosophie umzuwenden: Davon geht gerade die Nicht-Philosophie von Marx aus, die Politik ist, die Nicht-Philosophie von Kierkegaard, die Glaube ist, die Nicht-Philosophie von Nietzsche, die Wille zur Macht ist und die Nicht-Philosophie eines gewissen Ästhetizismus, die Kunst ist. So kommt es, dass Kunst und Politik – typische Formen von Nicht-Philosophie – zum Surrogat für Philosophie geworden sind. Und tatsächlich hat die Kunst den Anspruch erhoben, eine allumfassende Grundhaltung des Menschen zu werden, die für sich nicht nur jene Fülle der ethischen Verpflichtung beansprucht, die zu einer entscheidenden Wahl oder einem radikalen Protest gehört, sondern auch jenen Charakter totalen und exklusiven Wissens, das allein die Philosophie oder sogar nur die Religion erstreben kann. Ferner ist Politik unabtrennbar von der Ideologie geworden, und zwar so sehr, dass es heute keine politische Stellungnahme gibt, die sich nicht als ideologische Wahl versteht, und keinen politischen Konflikt, der nicht die Form eines ideologischen Kampfes annimmt. Offensichtlich muss man nicht daran erinnern, dass Ideologie gerade eines der typischsten Surrogate der Philosophie ist.

3.  Die Philosophie, indem sie die Grenzen der Wissenschaft markiert, bewahrt deren Natur Mit der Bedrohung von Wissenschaft und Religion verdrängt und durch Kunst und Politik ersetzt zu werden, gerät die Philosophie in eine Krise. Aber gerade in dem Zustand extremer Verwirrung kann sie doch den geeigneten Boden für ihre fruchtbare Wiederbelebung finden. Unter diesen Bedingungen ist die Philosophie mehr denn je notwendig: Sie hat nicht nur die Aufgabe, sondern auch die Fähigkeit, jeder Tätigkeit ihren eigenen Bereich und ihre richtige Funktion zurückzugeben. Angesichts der über-

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mäßigen Ansprüche von Wissenschaft und Religion und der absurden Überschreitungen von Kunst und Politik kann die Philosophie ihre eigene Aufgabe gerade darin finden, die Grenzen zu hüten, über die hinaus diese Tätigkeiten offensichtlich ausarten und degenerieren, während sie innerhalb dieser sich vielmehr in ihrer authenti­schen Natur verwirklichen. Zunächst ist die Philosophie in der Lage zu zeigen, dass zwischen Wissenschaft und Philosophie streng genommen kein möglicher Konflikt besteht, weil die Grenze, die die Wissenschaft in ihrem Bereich hält und in ihrer Gültigkeit begründet, genau die ist, die auch den Bereich und die Gültigkeit der Philosophie bestimmt. Es ist nicht so, dass die Wissenschaft bis zu einem gewissen Punkt gelangt und darüber hinaus die Philosophie beginnt, als ob man es mit zwei aufeinanderfolgenden Graden desselben Wissens zu tun hätte, und als ob Wissenschaft und Philosophie die Gegenstände der Untersuchung aufteilten, von denen einige nur der Wissenschaft und andere nur der Philosophie eignen würden. Alles kann Gegenstand der Philosophie sein, auch die Wissenschaft selbst, und die Wissenschaft begrenzt sich von selbst oder kann sich selbst sogar ihren eigenen Gegenstand geben. Es handelt sich also eher um zwei verschiedene Wissensformen, die auf unterschiedlichen Ebenen liegen, zwischen denen es keine mögliche Begegnung und damit keinen möglichen Konflikt gibt. Wenn es einen Konflikt zwischen Wissenschaft und Philosophie gibt, dann deshalb, weil die eine ihre spezifische Aufgabe verfehlt, die Grenze zum Gebiet der anderen überschreitet und dabei Philosoph und Wissenschaftler – vergessend, dass sie einander nur einfach zuhören müssten –, jeweils den Anspruch erheben, stattdessen in das Gebiet des anderen hineinzureden. Das geschieht vor allem, wenn der Philosoph das ihm zustehende Recht, über die Wissenschaft zu philosophieren und sich der wissenschaftlichen Methoden zu vergewissern, mit dem ihm nicht zustehenden Recht verwechselt, sich in wissenschaftliche Fragen einzumischen, indem er entweder dem Wissenschaftler

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die Methode vorschreibt und deren Anwendung leitet oder indem er die Ergebnisse der Wissenschaft in sein eigentliches Wissen aufnimmt und diese so für seine Zwecke nützt. Zwar kann der Philosoph eine Definition von Wissenschaft geben und eine Theorie der wissenschaftlichen Methode aufstellen, aber dazu ist er nur imstande, insofern es die Wissenschaft selbst ist, die ihn über ihre eigenen Methoden und wirklichen Vorgehensweisen unterrichtet. Wenn der Philosoph auch über die Wissenschaften nachdenkt und von der Wissenschaft spricht, so hat er doch überhaupt nichts in der Wissenschaft zu sagen, noch kann er verlangen, auf den Verlauf der wissenschaftlichen Forschungen Einfluss zu nehmen. Tut er dies aber, so hört er selbst auf zu philosophieren, um nichts anderes als eben schlechte Wissenschaft zu betreiben. Der Konflikt kann auch entstehen, wenn der Wissenschaftler das ihm zustehende Recht, die für seinen Forschungsgegenstand passende Methode festzulegen, mit dem ihm nicht zustehenden Recht verwechselt, die einzig gültige Erkenntnisform zu bestimmen. Der Wissenschaftler hat sicherlich das unbestreitbare Recht zu erklären, dass das wissenschaftliche Wissen das einzige ist, das den Gegenständen seiner Forschung entspricht. Aber er kann das wissenschaftliche Wissen nicht so weit ausdehnen und bis zum Anspruch verabsolutieren, dass es als die einzig mögliche Wissensform zu betrachten sei. Wenn er das tut, hört er auf, Wissenschaft zu betreiben, denn der Satz »Es gibt keine andere Form von Wissen als das wissenschaftliche Wissen« ist kein wissenschaftlicher Satz, sondern ein philosophischer Satz, der den Grund des Szientismus bildet. Er betreibt also Philosophie, aber er tut es, ohne es zu wissen, d. h. er betreibt eine unkritische und unbewusste Philosophie, kurz: eine schlechte Philosophie. Die Wissenschaft, die sich selbst verabsolutiert, indem sie den Anspruch erhebt, die Philosophie zu verdrängen, verfehlt also völlig ihr Ziel, weil sie es nicht nur nicht schafft, die Philosophie zu verneinen, sondern sogar sich selbst als Wissenschaft verleugnet. Daraus folgt: So, wie der Szientismus die Philosophie nicht

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vernichtet, weil er sie, wenn auch indirekt und inkohärent, anerkennt, so bedeutet auch die Verneinung des Szientismus nicht, die Wissenschaft zu beeinträchtigen, sondern sie auf dem Bereich anzuerkennen, der ihr zukommt und innerhalb dessen sie souverän ist. Ohne Philosophie überschreitet die Wissenschaft ihre eigene Sphäre und degeneriert zum Szientismus: Nur die Philosophie kann sie vor dieser Fehlform schützen und sie als Wissenschaft bewahren.

4.  Nur die Philosophie garantiert die wechselseitige Unabhängigkeit von Philosophie und Religion In gleicher Weise deformiert sich Religion, die die Philosophie verdrängen will, und verliert ihr religiöses Wesen, das allein von der Philosophie wiederhergestellt und erhalten werden kann. In der Tat ist der religiöse Besitz von Wahrheit so beschaffen, dass er die philosophische Erforschung der Wahrheit nicht nur weder auslöscht noch ausschließt, sondern vielmehr zulässt und zustimmt, ja sogar impliziert und eigens hervorruft. Der Glaube ist an sich doppelseitig, denn er kann von einem religiösen Standpunkt aus als Gott zugewandt und von einem philosophischen Standpunkt aus als der Welt zugewandt betrachtet werden. Aus der ersten Perspektive ist er Gabe Gottes, aus der zweiten ist er Akt des Menschen. Aus der ersten ist er Fülle, Vertrauen und Hingabe, aus der zweiten ist er Option, Kühnheit, Sprung; aus der ersten ist er, ich will nicht sagen eine Gewissheit – denn ein solcher wissenschaftlicher Begriff passt nicht zu einer Hoffnung wie jener des Glaubens –, aber sicherlich ein Besitz. Aus der zweiten werde ich nicht sagen ein Zweifel – denn ein mit dem Skeptizismus bloßgestelltes Wort passt nicht zu einem so mutigen Sprung –, aber doch sicherlich eine Wette. Hier ist der Grund, warum das, was in religiöser Hinsicht ein Besitz ist, in philosophischer Hinsicht eine Suche sein kann: Durch den Glauben kann der Mensch Wahrheit schöpfen und in ihr mit vertrauensvoller Hin-

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gabe in einer Fülle von Wissen und Leben schwelgen, die keine andere Erkenntnisform gewährleisten kann; dennoch geschieht dies durch eine Wahl, die nicht ein für alle Mal auf eine endgültige und sichere Weise getroffen werden kann und die stattdessen in jedem Augenblick mit einem unerschrockenen Kampf und einem ständigen Triumph über den Zweifel wiederholt werden muss. Der Glaube vereint paradoxerweise securitas und insecuritas, die Fülle des Besitzes und das Bedürfnis nach Bestätigung, die Ruhe des Erfolgs und die Unsicherheit der Wette, die Gelassenheit der Entdeckung und die Unruhe der Suche. In eine solche Dialektik eingefügt findet sich die Philosophie, die selbst von der Religion wachgerufen, ja in ihrer Unabhängigkeit geradezu erst aufgeweckt wird. Es gibt solche religiösen Geister, die die Fülle und die Ruhe des Besitzes so sehr betonen, dass sie nicht mehr das Bedürfnis nach Philosophie empfinden, weil sich in ihnen der Glaube mit ursprünglicher und ungestümer Vehemenz ständig selbst regeneriert. Es gibt auch solche nicht minder religiösen Geister, bei denen derselbe Besitz aufgrund ihres inneren Bedürfnisses nach Wiederbestätigung zur Anregung der Suche wird, und je tiefer ihre Religiosität ist, desto intensiver empfinden sie das Bedürfnis nach Philosophie. Die Erfahrung der Erstgenannten ist kein Beweis für eine Überflüssigkeit der Philosophie gegenüber der Weite der Religion, sondern eher ein Beweis für ihre wechselseitige Unabhängigkeit. Dies wird auch durch die Erfahrung der hier Zweitgenannten bestätigt, die die Philosophie keineswegs als abhängig von der Religion betrachten, sondern sie als Klärung einer besonders eindringlichen existentiellen Situation verstehen, die gerade der Glaube ist. Und auf dieser gegenseitigen Unabhängigkeit – die umso mehr durch die Existenz philosophischer Geister bestätigt wird, die kein Bedürfnis nach Religion verspüren und sie daher nicht als überflüssig oder minderwertig ablehnen, sondern einfach ignorieren – kann sich die Konvergenz und Zusammenarbeit von Philosophie und Religion gründen, die die Religion

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davor bewahrt, zu deformieren, sollte sie versuchen, die Philosophie zu verdrängen. Um sich jedoch gegen Aufdringlichkeiten vonseiten der Religion zu verteidigen, hat es die Philosophie nicht nötig, ins Gebiet der Religion einzudringen und diese als eine minderwertige und mythische Form der Philosophie herauszustellen, die für einfache Menschen und für weniger entwickelte Zivilisationen gut wäre und dazu bestimmt, in der Philosophie vollständig aufgelöst zu werden. Diese rationalistische Philosophie, die den Sprung des Glaubens nicht anerkennt, sieht sich schlecht gerüstet gegenüber einer solchen Religion, die den Weg der Philosophie für zusammengebrochen hielte und vorhätte, ihre Überflüssigkeit zu behaupten. Diese Philosophie riskierte sogar, ihre Domäne ebendieser Religion zu überlassen, und zwar nicht nur zum Schaden der Philosophie, die nicht mehr in ihren Rechten anerkannt würde, sondern auch der Religion selbst, die sich über das rechte Maß hinaus ausweitete. Dies alles zeigt sich besonders deutlich im geistigen Drama des zeitgenössischen Menschen, der sich des Scheiterns der Aufklärung – namentlich jener Form des Rationalismus, der die Religion zu überwinden beanspruchte – wohl bewusst ist, aber nicht mehr an das zu glauben vermag, was die Aufklärung zerstört hat. Gefangen zwischen der Sehnsucht nach dem alten Glauben und der aktuellen Unmöglichkeit, an ihm festzuhalten, gleichermaßen unzufrieden mit der Religion und mit ihrer Negation, zugleich begehrend und doch unfähig zu glauben, wandert der heutige Mensch von einer Erfahrung zur nächsten und entweiht einer­seits jeglichen Glauben, indem er ihn mit Zweifeln zersetzt, und drückt andererseits gerade dem Bekenntnis des Rationalismus den Charakter des Glaubens auf. Und er bewegt sich von den gegenwärtigen rationalistischen und sophistischen Ersetzungen des Glaubens, wie Ästhetizismus, Moralismus und poli­ tischer Praxismus, hin zu den zeitgenössischen, postulatorisch aufgestellten und konfessionell gebündelten Behauptungen von Rationalismus: zum Atheismus, Nihilismus und Unglauben. Alle

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diese Möglichkeiten werden auf derselben Ebene gleichgesetzt und sind gleichzeitig sowohl rationale Schlussfolgerungen (einer Vernunft ohne Wahrheit) als auch Glaubensakte (eines Glaubens ohne Wahrheit), oder besser gesagt, zerebrale Entscheidungen und willkürliche Begründungen. Sie sind die verworrenen Abenteuer des heutigen Menschen, der nicht in der Lage ist, den Zusammenhang zu ahnen, der zwischen Besitz und Suche, Fülle und Unruhe, Vertrauen und Kühnheit besteht und der gerade deshalb unruhig, unzufrieden, unsicher ist und resigniert hat.

5.  Ohne die Philosophie Deformation von Kunst und Politik Es wäre ein Leichtes, abschließend zu zeigen, wie Kunst und Politik, die beanspruchen, die Philosophie ersetzen zu können, nicht nur dieses Ziel verfehlt haben, sondern mit dem Verlust ihrer eigenen Natur bezahlt haben, indem Kunst zum Ästhetizismus und Politik zum Panpolitizismus degeneriert. Die Kunst hat sich als etwas Absolutes behaupten wollen, indem sie den Anspruch erhob, alle menschlichen, spekulativen, praktischen und religiösen Werte sich selbst einzuverleiben. Auf diese Weise hat sie auch den künstlerischen Wert korrumpiert und zu immer schwächeren und geringfügigeren Manifestationen herabgesetzt. Der Wechselfall des Ästhetizismus in der zeitgenössischen Welt ist bezeichnend: Sobald die Kunst zum absoluten Wert wird, der alle anderen Werte in sich absorbiert, kann sie – die also für sich in Anspruch genommen hat, allein die Fülle des Lebens aufnehmen zu können – sich leisten, sich zu verallgemeinern, und solchermaßen entleert kann sie behaupten, sich über das Leben selbst erheben zu können. Auf diese Weise, nachdem sie zum reinen Spiel, zur bloßen Technik, zum einfachen Experimentieren, zur äußersten Spezialisierung geworden ist, kehrt sie beinah zu ihrer Kindheit zurück, aber ohne die Stütze des Mythos und der Magie, die in den primitiven Gesellschaften

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­jenen elementaren Manifestationen der Kunst eine Bedeutung verliehen. Nicht weniger bezeichnend ist die vertauschende Umkehrung, mit der die Politik die Philosophie ersetzen wollte, indem sie sie in eine politische Revolution auflöste, wie es im Marxismus geschah, oder in ein Instrument politischer Handlung, wie es im Soziologismus geschah. Durch diesen Prozess entarten Philosophie und Politik völlig ihrem Wesen nach: Die Philosophie verliert ihre spezifisch spekulative Natur; die Politik vergrößert sich bis zur ungeheuerlichen Erstreckung über die ganze menschliche Tätigkeit in einer panpolitischen und für den Menschen äußerst düsteren Vision, in der keine andere Tätigkeit als die Revolution zu bleiben scheint, keine andere Überzeugung als der Kampf, keine andere Kommunikation als der ideologische Konflikt. Nur wenn sich die Philosophie nicht durch Kunst und Politik ersetzen lässt, gelingt es den letzteren schließlich, wirklich sie selbst zu sein, sich wieder in jene Grenzen eingesetzt zu finden, die sie nicht nur bestimmen, sondern sie auch in ihrer eigentlichen und unersetzbaren Funktion erhalten. Zusammenfassend: Die Unabhängigkeit der Philosophie ist gegenüber Wissenschaft, Religion, Kunst und Politik ein Erfordernis. Denn nur, wenn die Philosophie sich nicht als auf diese zurückführbar versteht, können sich diese vier Tätigkeiten gemäß ihrer eigentlichen Natur verwirklichen und vor der Deformation bewahrt werden, die aus ihren illegitimen Ansprüchen resultiert. Nur dank der wirkenden Präsenz einer genuinen Philosophie ist Wissenschaft wirklich Wissenschaft und nicht Szientismus, ist Religion wirklich Religion und nicht Fideismus, ist Kunst wirklich Kunst und nicht Ästhetizismus und ist Politik wirklich Poli­tik und nicht Panpolitizismus. Die Philosophie gewinnt daher ihre irreduzible Funktion zurück, indem sie die verschiedenen Tätigkeiten auf die ihnen eigenen Aufgaben zurückführt und sie vor der heutigen Versuchung ihrer Verabsolutierung rettet und sie damit vor der Gefahr schützt, sich zu verirren und zu verfehlen.

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6.  Philosophie erklärt durch exzessive Kritik ihr eigenes Ende Ob die Philosophie in der Lage ist, Ordnung in die verschiedenen menschlichen Tätigkeiten zu bringen, darf an dieser Stelle allerdings bezweifelt werden, denn wir sehen uns heute mit einer neuen und paradoxen Tatsache konfrontiert: Die Philosophie erklärt sich selbst als an ihrem Ende. Die Philosophie hat ihre Naivität verloren: Sie hat eine so radikale Selbstkritik geübt, dass ihre eigene Existenz in Frage steht. Das alles begann mit Kants Kritizismus, mit dem die Philosophie erkannte, dass sie nicht den Anspruch erheben konnte, die menschliche Erkenntnis der Kritik zu unterwerfen, ohne sich selbst auch der Kritik zu unterziehen. Sie zögerte dann nicht, sich dem Problem ihrer eigenen Möglichkeit zu stellen und begriff dabei, dass sie sich, um das zu tun, ihrer eige­nen Bedingungen bewusst werden musste. Nachdem sie sich auf diesen Weg begeben hatte, blieb die Philosophie nicht mehr stehen und führte die Kritik mit immer weiter greifender Strenge bis hin zu den letzten Konsequenzen. Eine der ersten Bedingungen der Philosophie ist, dass sie sich  – und sie kann nicht anders – des Denkens bedient. Es war der Idealismus, der sich dieser Bedingung bewusst wurde: So wurde die Metaphysik als spiegelhafte und totale Vision der Wirklichkeit in eine Krise gebracht und für immer zerstört. Denn es ist undenkbar, dass die Philosophie ihr Objekt so als äußeren Gegenstand vor sich haben und in seiner äußeren Totalität erfassen kann, wie das Gemeindenken die Gegenstände der Erfahrung vor sich hat und versteht. Es war ein kritischer Moment erreicht: Es schien, als müsse sich das Objekt der Philosophie in eine Behauptung des universellen Subjektivismus auflösen; doch der Philosophie, geschärft durch diese Kritik, gelang es, die Totalität ihres Objektes und die Absolutheit ihrer Erkenntnis in einer neuen, den neuen Anforderungen kompatiblen Form wiederzugewinnen. Daraus entstand die Hegel’sche Auffassung der Philosophie

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als Selbstbewusstsein der am Ende ihrer Entwicklung angelangten Wirklichkeit. Hierzu entstand gleich ein neues Bewusstsein: jenes der geschichtlichen Bedingtheit der Philosophie. Dies war die Aufgabe des Historizismus von Hegel bis Croce und von Marx bis Dilthey. Damit wurde die Vorstellung einer endgültigen und überzeitlichen Philosophie, die immer und für alle als die einzige wahre gelte, entsprechend zerstört, da dies im extremen Gegensatz zu dem Pluralismus der Kulturen, der Standpunkte und Philosophien steht, der in den menschlichen Dingen gilt. Auch dies war ein kritischer Moment. Denn es schien, dass die Philosophie selbst in einer Form des radikalen Relativismus verschwinden müsste. Aber auch hier fand die Philosophie einen Weg, um den Sturm zu überwinden, d. h. um ihre eigene absolute Gültigkeit gerade durch die Anerkennung der Vielfältigkeit und Zeitlichkeit der Philosophien zu schützen. Einen weiteren Schritt machte der Existentialismus, der von Kierkegaard bis Heidegger, von Nietzsche bis Jaspers, der Philosophie ihre eigene persönlichen Bedingtheit bewusst werden ließ. Es schien, als müsste sich alles im reinen Biographismus auflösen, der den Tod der Philosophie selbst zu bestätigen hätte: Reduktion des Denkens auf das gelebte Leben, Ausnahmecharakter der individuellen Erfahrung und Unkommunizierbarkeit zwischen den Personen. Letztlich wurde aber nur die Idee der reinen Kontemplativität und der objektiven Kommunizierbarkeit der Philosophie zerstört; und das war auch gut so, denn die Philosophie ist keine Wissenschaft, die sich in völlig entpersonalisierte Sätze übersetzen lässt, sondern sie setzt ein streng persönliches Engagement voraus, in dem sich sehr wohl die Grundlagen für zwischenmenschliche, persönliche Kommunikation finden lassen. Nun stellt die Bedingung, deren sich die zeitgenössische Philosophie bewusst geworden ist, ein noch schwerer zu überwindendes Problem dar und scheint sogar die Möglichkeit der Philosophie selbst in Frage zu stellen. Diese Bedingung ist in der Tat die Sprache, nämlich die Sprache, mit der die Philosophie von ihrem

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eigentlichen Objekt, ja von sich selbst, ja von derselben Sprache, mit der sie spricht, sprechen soll. Diesmal befindet sich die Philosophie in einen endlosen Prozess verwickelt, dessen Ergebnis die Endgültigkeit des Schweigens, das Ende des Diskurses, der Tod der Philosophie selbst zu sein droht. Die Kritik ist zur Krise geworden: Die Philosophie ist in eine Situation geraten, aus der es keinen Ausweg zu geben scheint. Um sich ihrer eigenen Bedingungen bewusst zu werden und um sich ihrer eigenen Möglichkeit zu vergewissern, hat sich die Philosophie narzisstisch auf sich selbst zurückgewandt: Sie hat sich selbst aufgezwungen, nur noch über sich selbst zu sprechen, und dieser Diskurs hat sich dermaßen abgeschwächt und verdünnt, bis er sich im Gewahrwerden der eigenen Unmöglichkeit erschöpfte. Kurz gesagt, die Philosophie ist so sehr kritisch geworden, dass sie sich der Inhalte entleert: Sie hat kein anderes Objekt als sich selbst und kein anderes Ergebnis als ihre eigene Destruktion. Dem kann man eine weitere Bedingung hinzufügen, deren Bewusstsein in der zeitgenössischen Philosophie zutage gekommen ist: die Pluralität der Erfahrungsfelder. Die Erfahrung – so weiß man – ist offen, unabgeschlossen, unvorhersehbar, in eine unzählbare Pluralität von Bereichen unterteilt, und in ihr arbeitet unser Denken an der Lösung der bestimmten Fragen, die, immer neu und anders, nach und nach ans Licht kommen. Nun also wird behauptet, die Philosophie sei nichts anderes als dieses operative, sich selbst bewusst gewordene Denken, ein Denken zweiter Potenz, fast eine doppelte Erkenntnis oder eine Reflexion zweiten Grades, die den einzelnen Erfahrungsfeldern innewohnt und beabsichtigt, die bestimmten Probleme methodisch in Angriff zu nehmen. Die Philosophie spaltet sich auf diese Weise in partikulare Diskurse auf und wird von Mal zu Mal Philosophie der Kunst oder der Wissenschaft oder der Religion oder der Moral oder der Politik usw. Und in jedem Bereich will sie sich als Methodologie präsentieren, als ein zur Selbstkorrektur und Selbstkontrolle fähiges Experimentieren, als flinke und flexible und zu den einzelnen Erfahrungsfeldern anpassungsfähige Tätigkeit, die

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im engen Kontakt mit empirischen Daten steht, die sich gegen Verallgemeinerungen sträubt und sich technischen und präzisen Lösungen widmet. Die »zweite Potenz« besteht nun darin, dass dieses Denken in dem Moment, in dem es innerhalb eines Erfahrungsfeldes operiert, sich seiner selbst bewusst ist, das heißt, es nimmt sich selbst und nur sich selbst zum Objekt: Es ist eine für sich selbst transparente Rationalität, insofern es technisch wirksam ist, und das heißt, es ist im Grunde ein leeres Denken. Das erklärt, warum es dem Eindringen der sogenannten Sozialwissenschaften, die sich so gehaltvoll präsentieren, nicht widerstehen kann; das heißt, es erklärt, warum es bereit ist, sich der Soziologie, der Psychologie, der Kulturanthropologie, der Ethnologie, der Kulturgeschichte usw. zu unterwerfen. Auch auf diese Weise ist die Philosophie auf dem Weg zur völligen Abdankung.

7.  Krise der Philosophie als Verzicht auf Wahrheit Die Situation scheint also folgende zu sein. Auf der einen Seite wird die Kritik so destruktiv, dass sie die Philosophie – nunmehr gezwungen, über nichts als sich selbst zu sprechen – zur Selbstvernichtung zwingt. Auf der anderen Seite wird die Sachlichkeit der Erfahrung – die sich einem Denken anbietet, das nur sein eige­nes Experimentieren betreiben will – so zerstreuend, dass sie die Philosophie in partikulare Diskurse auflöst. Einerseits führt das Übermaß an Kritik zur Unmöglichkeit der Philosophie als autonomes Wissen: Die Generalität des philosophischen Diskurses ist so leer, dass die Philosophie, die einer immer raffinierteren und lähmenderen Selbstkritik zum Opfer fällt, ihre eigene Existenz verliert. Andererseits führt die Faszination der Sachlichkeit dazu, dass die Philosophie ihren Platz an die Sozialwissenschaften abtritt: Die Partikularität der philosophischen Diskurse ist so spezialisiert, dass die Philosophie selbst – immer mehr gefangen in den Erfahrungsfeldern, in denen sie arbeitet – auf ihre eigene Unabhängigkeit verzichtet.

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Kurzum, die Philosophie steht heute vor folgender Alternative: Entweder wird sie zum allgemeinen Diskurs und spricht dann über nichts anderes als über sich selbst, so dass sie nur noch zur Philosophie der Philosophie wird und damit ihr Diskurs leer ist, oder besser gesagt, sie hat kein anderen Gehalt als die Erklärung ihres eigenen Endes; oder aber, gesetzt, sie will zu einem gehaltvollen Diskurs werden, der von etwas spricht, dann zerstreut sie sich in partikulare Diskurse, die nicht mehr philosophisch sind, weil die Art ihrer mit sich beschäftigten Reflexion keine Philosophie ist, sondern Soziologie oder Psychologie oder Anthropologie usw. In beiden Fällen scheint Philosophie am Ende zu sein, entweder aufgrund der Unmöglichkeit eines allgemeinen und auto­nomen genuin philosophischen Diskurses oder aufgrund der Degradierung zu partikularen und konkreten philosophischen Diskursen. Das ist wieder einmal ein kritischer, ja ein wirklich dramatischer Moment für die Philosophie. Aber in dieser Situation das Ende der Philosophie zu erklären, das ist zu einfach, ich würde sagen: zu oberflächlich. Somit ist das Spektakel der Philosophen komisch, die sich ereifern, den Tod der Philosophie zu verkünden und die Aufgabe von Philosophie auf die Demonstration ihrer e­ igenen Nutzlosigkeit zu reduzieren. Gewiss, einige Idole werden im Durchgang durch die gegenwärtige Krise endgültig zerstört werden müssen, und selbst dieser negative Teil wird eine Errungenschaft sein; aber vor allem wird sich daraus die Möglichkeit einer noch festeren und sichereren Wiedererlangung ergeben, und das ist die Arbeit, zu der wir alle – ob Philosophen oder nicht – beitragen können und müssen. Vor allem muss man erkennen, dass die gegenwärtige Krise darin besteht, dass die Philosophie auf Wahrheit verzichtet hat. In der Tat liegt der negative Charakter der oben beschriebenen Alternative in einer verarmten Auffassung von Philosophie: Philosophie, die zugäbe, nur Philosophie der Philosophie oder nur Philosophie der Wissenschaft oder der Religion oder der Moral oder der Politik usw. zu sein, ist nicht mehr Philosophie, ist nicht einmal

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Philosophie. Um Philosophie zu sein, muss sie nicht nur von sich selbst und von einem Bereich der Erfahrung sprechen, sondern, während sie von sich selbst und von diesem Bereich spricht, muss sie auch etwas anderes sagen, das viel radikaler und ursprünglicher ist: dasjenige, das – obwohl es die Philosophie in ihrer eigenen Möglichkeit begründet – ihr die Kriterien liefert, durch die sie ihre eigene Reflexion innerhalb der Erfahrung durchführen kann. Das Denken kann nur dann wirklich zu »zweiter Potenz« werden, wenn es voll, tiefgründig und radikal ist: also nur, wenn es Denken der Wahrheit ist. Nur so kann es die Erfahrung erhellen, indem es ihr ein wahrhaft kritisches Bewusstsein gibt und dabei den einzelnen Bereichen in solcher Weise innewohnt, dass es nicht dort gefangen bleibt und diese als bloßes Instrument unterwirft, sondern als Anhalt und Kontrolle, Korrektur und Überprüfung, Norm und Richtung wirkt. Nur so kann es die Exaktheit der technischen Lösungen für die Universalität öffnen und sich nicht als spezialisierte Reflexion oder bloß partikulärer Diskurs, sondern eher als die ganze, auf einen Punkt konzentrierte Philosophie erweisen. Daraus ergeben sich zwei Konsequenzen: Einerseits muss man die Idee, dass Wahrheit »Gegenstand« der Philosophie sein könne, als endgültig – und glücklicherweise – zerstört ansehen; andererseits ist die Wahrheit der Philosophie auf eine neue Weise wiederzugewinnen, indem man berücksichtigt, dass die Philosophie innerhalb vielfältiger Erfahrungsfelder und in Bezug auf bestimmte Fragestellungen operieren muss. Letztendlich ist das Problem, auf das wir antworten müssen, das folgende: Ob einerseits der philosophische Diskurs aufgrund der Tatsache, dass er nicht die Wahrheit zum Gegenstand hat, ohne Wahrheit bleiben muss; und andererseits, ob er sich aufgrund der Tatsache, dass er sich bestimmten Bereichen und ganz spezifischen Problemen widmet, damit zufriedengeben soll, ausschließlich technisch zu sein.

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8.  Alternative zwischen Wahrheit und Technik Und hier ist zusammenfassend die Antwort, die ich vorschlage. Erstens, wenn die Wahrheit nicht Gegenstand der Philosophie sein kann, soll das nicht heißen, dass es der Philosophie an Wahrheit fehlt. Die Wahrheit ist nicht Gegenstand, sondern Ursprung des philosophischen Diskurses und der philosophische Diskurs ist nicht Äußerung, sondern Sitz der Wahrheit. Die Philosophie spricht nicht direkt von der Wahrheit, welche kein Akkusativ oder Genitiv ist, von dem man »de veritate« sagen und von dem und über das man sprechen könnte: Die Wahrheit ist Impuls und nicht Ergebnis des Diskurses und daher entzieht sie sich diesem gerade in dem Akt, der ihn nährt und begründet. Ein objektiver Diskurs über die Wahrheit ist nicht nur nicht-philosophisch, sondern genaugenommen unmöglich, insofern die Wahrheit gerade dann verschwindet, wenn sie zum Gegenstand eines Diskurses genommen wird, und das, von dem und über das man sprechen kann, ist nicht mehr Wahrheit: Vielmehr ist die Wahrheit im Diskurs gegenwärtig als dessen unerschöpfliches Reservoir, um ihn anzuregen. Die Wahrheit lässt sich zwar von der Philosophie aneignen, aber nicht mit einer absoluten und endgültigen Äußerung, die für alle und immer als einzig wahre gälte. Vielmehr steht der Philosophie zu, eine persönliche Interpretation von ihr zu geben und eine Formulierung auf eigenes Risiko und eigene Gefahr zu wagen – mit dem Bewusstsein, dass nicht die Interpretation die Wahrheit erschöpft und monopolisiert, sondern die Wahrheit, die sich der Interpretation hingibt und diese unaufhörlich erneuert. Zweitens reduziert sich der philosophische Diskurs nicht auf einen bloßen technischen Diskurs, nur weil er sich bestimmten Fragen in bestimmten Erfahrungsbereichen stellt und diese löst. Der technische Diskurs hält sich genau an die Bestimmtheit seiner Gegenstände und wenn nach der angebrachten Formulierung, dem angemessenen Experimentieren und den adäquaten

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Operationen das einzelne Problem gelöst wird, ist der Diskurs erschöpft und es bleibt nichts mehr zu sagen. Ganz anders verhält es sich mit dem philosophischen Diskurs, der an sich problematisch ist und deshalb so beschaffen, dass er, einmal eröffnet, niemals aufhört und immer wieder neu entsteht, so dass von allem, was er in Angriff nimmt – so definitiv es auch sein mag – immer noch weiteres zu sagen bleibt. Das ist so, weil der philosophische Diskurs, während er von seinem Gegenstand spricht, der bestimmt ist, sich auf den Ursprung bezieht, der unerschöpflich ist. Wenn der philosophische Diskurs vor einer konkreten Frage steht, beschränkt er sich nicht darauf, diese Behandlung mit dem Selbstbewusstsein zu begleiten; vielmehr macht er dieses Selbstbewusstsein zum Ort eines umfassenderen Besitzes, der ihm sowohl Fruchtbarkeit als auch Dehnbarkeit, sowohl Tiefe als auch Entsprechung zum Konkreten, und schließlich sowohl Unerschöpflichkeit als auch die Fähigkeit zur Lösung verleiht. Der Diskurs ist dann philosophisch, wenn er auch das Sein offenbart, während er von den Seienden spricht, wenn er auch die Wahrheit sagt, während er von den Dingen spricht, wenn er das existenzielle Band zwischen Menschen und Sein bzw. Person und Wahrheit zum Tragen kommen lässt, indem er währenddessen sich einzelnen Erfahrungsfeldern und bestimmten Fragenstellungen widmet. Sagen wir also nicht, dass die Philosophie tot ist: Ihre Unmöglichkeit, von der Wahrheit zu sprechen, ist nur ein Zeichen dafür, dass die Wahrheit etwas weitaus Ursprünglicheres ist als der Gegenstand eines Diskurses. Die Philosophie kann die Wahrheit auf eine tiefe, ich würde sogar sagen: ursprüngliche Weise innehaben und sie immer gegenwärtig halten, auch und vor allem dann, wenn sie in partikularen Diskursen bestimmte Fragen und definierte Gegenstände behandelt. Dies ist eben ein Punkt, an dem die Philosophie mit größter Evidenz ihre entscheidende Bedeutung in der heutigen Welt erweist, weil sie uns vor jener größeren Alternative, der gegenüber jeder einzelne von uns – unabhängig von der eigenen Tätigkeit – sich heute befindet, Ori-

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entierung anbieten kann: der Alternative zwischen Wahrheit und Technik. Die einzelnen Diskurse sind nicht univok, denn von jeder Sache kann entweder nur technisch oder wirklich philosophisch gesprochen werden, je nachdem, ob man sich nur an die Bestimmtheit des Problems und des Gegenstandes hält oder ob man stattdessen die Sache im Horizont eines weiteren und tiefgründigeren Darüber-Hinaus betrachtet. Auch bezüglich der kleinsten Angelegenheit befindet sich der Mensch einer entscheidenden Alternative gegenüber, in der er nicht neutral bleiben kann und sich entscheiden muss: Es ist die Alternative zwischen dem Denken, das offenbarend ist, auch wenn es von der kleinsten Erfahrungstatsache spricht, und dem Diskurs, der empirisch ist, auch wenn er sich auf die Wahrheit bezieht. Es ist die Alternative zwischen dem philosophischen Diskurs, der, worüber auch immer er spricht, immer zugleich auch etwas anderes mitsagt, und dem technischen Diskurs, der nur davon spricht, wovon er spricht. Es ist auch die Alternative zwischen dem Erfordernis, dem Sein treu zu bleiben oder nur Wesenheiten zu beherrschen, sich an die Wahrheit zu erinnern oder auf jeweilige Erfahrungen zu beschränken, den Ursprung wiederzufinden oder sich im Augenblick einzuschließen.

9.  Die Philosophie als Bewusstsein des ontologischen Bezuges und das Problem der philosophischen Sprache Fragt man sich dann, auf welche Weise die Philosophie die Wahrheit erlangen und besitzen könne, so sieht man, dass sie es nicht in der Form der Erkenntnis (conoscenza) tun kann, weil die Wahrheit kein eingeschlossenes Objekt einer totalen Vision ist, sondern in der Form des Bewusstseins (coscienza) subsistiert; und zwar eines Bewusstseins nicht etwa im Hegel’schen Sinne, als Bewusstsein von der schon vollendeten Wirklichkeit, sondern allenfalls im Schelling’schen Sinne, als Bewusstsein nicht vom Letzten, sondern vom Ersten, nicht von einer vollendeten Geschichte,

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sondern von einem unerschöpflichen Ursprung, nicht von der vermeintlichen Totalität des menschlichen Geistes, sondern von seiner unendlichen ursprünglichen Potentialität. Die Philosophie ist nichts anderes als Bewusstwerden durch das Denken und die Sprache jener Bezug zum Sein und zur Wahrheit, der der Mensch ist und den der Mensch in Zustimmung oder Ablehnung in jeder seiner Tätigkeiten lebt. In diesem Sinne lässt uns die Philosophie nicht mehr erkennen als das, was wir schon wissen; aber vielleicht haben wir es vergessen und dementsprechend erinnert uns die Philosophie daran. Das ist einer ihrer großen Verdienste, dass nur durch sie und durch nichts anderes der Mensch sich dessen, was er ist, kritisch bewusst werden kann. Die Philosophie übersetzt in spekulative Begriffe das, was auch der einfache Mensch schon weiß. Das bedeutet, dass sie, auch wenn sie formal für nur wenige gilt, inhaltlich doch allen gehört, so dass der Begriff der Philosophie als Methodologie und Reflexion »zweiter Potenz« wenig nützlich und übermäßig aristokratisch ist und ein größerer Unterschied zwischen dem philosophischen Denken und dem technischen Denken als zwischen der Philosophie und dem gemeinen Menschenverstand besteht. Tatsächlich sind Methodologie und Technik – wenn sie sich als die einzig mögliche Philosophie ausgeben wollen – Formen von »Halbwissenschaft«, das heißt vom Vergessen der Wahrheit, und erweisen sich als viel ungelehrter in ihrer Anmaßung als jene belehrte Unwissenheit, die von der Philosophie behauptet und realisiert wird. Gewiss, mit Worten und Denken das sagen zu können, was der Gemeinmensch nur mit dem Leben sagen kann, ist nicht leicht, und die Forderung des größten Teils der zeitgenössischen Philosophie, dass wir mit einer Analyse der Sprache beginnen müssten, ist mehr als berechtigt. Was genau aber die philosophische Sprache sein soll, wenn man davon ausgeht, dass Philosophie eine spekulative und verbale Wiedererlangung des Ursprünglichen ist, kann man durch das aufweisen, was ich bereits gesagt habe: Erstens muss die Sprache so beschaffen sein, dass sie die Wahrheit besitzt, ohne sie dadurch auf einen Gegenstand des Diskurses zu reduzie-

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ren; und zweitens muss sie so beschaffen sein, dass sie nicht über die wirklichen Objekte sprechen kann, ohne zugleich die Wahrheit zu sagen. Letztlich braucht man eine Sprache, die einerseits besitzt, ohne zu erschöpfen, und so die Unendlichkeit des Mitgemeinten enthalten kann, ohne sich jemals im »Alles-Gesagten« aufzulösen, und die sich andererseits nicht darauf beschränkt, nur das zu bestimmen, wovon sie spricht, sondern die immer auch etwas Anderes mitsagt, während sie von etwas Bestimmtem spricht. Die Evidenz der Philosophie ist nicht die der Wissenschaft, die alles sagt, was sie zu sagen hat, und die das, wovon sie redet, auch völlig zur Aussage bringt. Es ist also nicht jene Evidenz des »Alles-Gesagten«, dem ein »alles klar« entspricht, mit dem die Information übermittelt und die Kommunikation – ohne wirklichen Dialog – geschlossen wird. Vielmehr handelt es sich um jene Evidenz, bei der das Wort immer etwas zu sagen hat, weil aus seiner Explizitheit unaufhörlich eine neue Beredsamkeit hervorgeht, die es immer zum Sprechen treibt und einen wahren Dialog als unaufhörliche Befragung, als ein ständiges Gespräch und unendliche Interpretation anregt. Das bedeutet aber nicht, dass das philosophische Wort unbestimmt und unpräzise sei, denn seine Kohärenz besteht gerade darin, dass es Evidenz und Tiefe unauflöslich zu vereinen weiß; es bedeutet auch nicht, dass es nur Metapher oder Allegorie sei – als ob Zeichen und Bedeutung zwei so heterogene Dimensionen wären, dass sie nur durch die unendliche Vieldeutigkeit der Chiffre verbunden werden könnten –, denn glücklicherweise muss das Wort kein Symbol sein, um tiefgründig zu werden. Die äußerst dichte Prägnanz des philosophischen Wortes ist dank der Wahrheit gegeben, die es besitzt, die somit kein bloßes, zu entzifferndes Verschwiegenes (sottinteso) ist, sondern ein unerschöpflich Mitgemeintes (implicito), das zum Sprechen zu bringen ist.

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10.  Wirksamkeit der Philosophie als Wiedererlangung der Wahrheit So verstanden, kann die Philosophie in der heutigen Welt eine entscheidende Rolle spielen und einige ihrer Funktionen sind bereits ans Licht gekommen. Es bleibt noch zu sagen, dass die Philosophie, und nur sie allein, die Grundlage für einen wahren Dia­ log zwischen den Menschen legt, denn ihr Diskurs ist persönlich und offenbarend zugleich, d. h. sie setzt eine Vielfalt von individuellen und unwiederholbaren Interpretationen des Wahren frei und hält sie gleichzeitig in einer gegenseitigen, unaufhörlichen Kommunikation zusammen, die auf der einigenden Kraft der Wahrheit beruht. Strenggenommen gibt es Dialog weder in der Wissenschaft, weil in ihr die Kommunikation unpersönlich ist, noch in der Religion, weil in ihr der Dialog in etwas viel Tieferem aufgeht, und zwar in der Liebe; auch nicht in der Kunst, weil in ihr das wahre Gespräch nur mit dem Werk geschieht; auch nicht in der Politik, weil es in ihr – solange die Ideologien herrschen – nichts anderes als Kampf und Kompromiss, Fanatismus und Parteilichkeit gibt. Die Philosophie schafft hingegen den Dia­log, weil sie gerade in dem Akt, indem sie die persönlichen Interpretationen der Wahrheit unendlich vermehrt, diese alle in dem gemeinsamen Bewusstsein vereint, an der Wahrheit zu partizipieren, ohne sie zu erschöpfen, ja sich aus ihr stets zu nähren. Schließlich bleibt noch zu sagen, dass die Philosophie, indem sie auf so ursprüngliche Weise die Wahrheit wiedererlangt, sich nicht nur in ihrer eigenen Möglichkeit bestätigt, sondern auch als fähig erweist, die verschiedenen Tätigkeiten des Menschen an das zu verweisen, woraus sie die Kraft zur Fülle der Bedeutungen schöpfen können. Hiermit können wir einsehen, warum die reine Präsenz der Philosophie genügt, um einer jeden dieser Tätigkeiten ihre wahre Natur wiederzugeben: Das gelingt der Philosophie nur deshalb, weil sie etwas Weitreichenderes leistet, insofern sie dafür sorgt, dass die Anwesenheit des Seins und der Wahrheit in jeder menschlichen Tätigkeit authentisch zur Gel-

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tung kommt, sie diese sich immer wieder erneuern lässt und sie davor bewahrt, sich im Technizismus, in der Spezialisierung, in einer Leere zu verlieren. Die Philosophie hält die wirksame Anwesenheit der Wahrheit lebendig, jener Wahrheit, »die groß ist und alles überwindet«: μεγάλη ἡ άλήθεια καὶ ὑπερισχύει.23

23  Das griechische Zitat stammt aus der Septuaginta, genauer ist es eine Passage aus dem Buch Esra (IV, 41), die weder in der hebräischen Bibel noch in der Vulgata eine Parallele hat. Sie wird aber häufig zitiert: Schopenhauer z. B. stellte sie als Motto zu Die beiden Grundprobleme der Ethik (1841). Selbst Shaftesbury erwähnt sie in seinem Sensus communis (IV 3), allerdings auf Lateinisch: »magna est veritas et praevalebit.« Und Schopenhauer tut dasselbe im Kapitel XX des zweiten Bandes von Die Welt als Wille und Vorstellung: »magna est vis veritatis et praevalebit« (Sämtliche Werke, Ed. Hübscher, III, 313).

II. Philosophie und gemeiner Menschenverstand 1.  Beispiele für die Verhältnisse zwischen gemeinem Menschenverstand und Philosophie Die gesamte Geschichte der Philosophie ist von der Frage nach dem Verhältnis von dem philosophischen Denken und dem gemeinen Menschenverstand und dabei von der Verschiedenartigkeit der Lösungsvorschläge durchdrungen. Nicht selten sind die Fälle, in denen die Philosophie sich vom gemeinen Menschenverstand nicht nur distanziert hat, sondern sich ihm explizit mit scheinbar paradoxen Theorien widersetzt hat, wie etwa mit der Verneinung der Bewegung und der Vielheit oder der Behauptung der Immaterialität der Welt und der Idealität des Raumes. Nicht seltener sind aber die Fälle, in denen die Philosophie vom gemeinen Menschenverstand ausgehen und ihm treu bleiben wollte oder sich wenigstens sich mit ihm versöhnen wollte, nachdem sie ihn vorübergehend aufgegeben hatte. Der gemeine Menschenverstand wurde einerseits als Ursprung des totalen Skeptizismus betrachtet, wie dies die lange Liste von Moralisten aller Zeit­alter deutlich macht, die die bizarrsten und unsinnigsten Torheiten aufzählen, die im öffentlichen Gebrauch zu finden sind. Er wurde andererseits als Quelle sicheren und gewissen Wissens gegen die Absurditäten der Gewohnheit und die Sophismen der Spekulation geschätzt. Da es wahres Wissen nur der Philosophie vorbehielt, hat das antike klassische Denken die Ideen der Mehrheit argwöhnisch betrachtet und sie für bloße Meinungen gehalten. Währenddessen war ein bemerkenswerter Teil der hellenistischen und römischen Philosophie einer Neubewertung des Wirklichkeitsnahen (verisimile) und des Gewöhnlichen gewidmet, die den weiten Bereich des gemeinen Menschenverstandes abstecken. Von den vielen Möglichkeiten, die Verhältnisse zwischen Philosophie und dem gemeinen Menschenverstand zu gestalten, er-

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scheinen mir zwei als besonders bedeutsam: Nikolaus von Kues, der den Idioten, d. h. den Laien einführt, um den Redner wie den Philosophen zu belehren, weil die Weisheit nicht »in arte oratoria aut in voluminibus magnis«24 zu finden ist, sondern auf den Plätzen schreit: »foris clama in plateis«25. Und Hegel, der den schärfsten Gegensatz zwischen der wahren Philosophie und dem gemeinen Menschenverstand behauptet, der wegen seiner Geist­ losig­keit der Verhöhnung wert ist.26 Der Standpunkt des Cusanus fand im Laufe der Jahrhunderte weite Zustimmung, weil er eine gerechte Forderung nach der echten Philosophie gegen die leere Bücherweisheit des Scholastikers und des Rhetors war. Aber an den verächtlichen Worten Hegels scheint sich derselbe common sense zu rächen, der in den angelsächsischen Ländern die tendenziöse Meinung verbreitete – eine Vorstellung, die sich heute auch in Italien immer mehr durchsetzt –, dass die deutsche Philosophie etwas Extravagantes an sich habe, so wie schon Schopenhauer konstatiert: »Wenn man in England etwas als sehr dunkel, ja, ganz unverständlich bezeichnen will, sagt man: It is like German metaphysics«.27 Zwei typische Positionen zu dieser Problemstellung werden meines Erachtens heute von der analytischen Philosophie und der phänomenologischen Schule vertreten. Dass die analytische Philosophie in eine Art Umwertung des gemeinen Menschenverstandes mündet, scheint mir offensichtlich, seitdem sie einerseits auf die Suche nach einer logisch-perfekten Sprache verzichtet hat, um ihre Analyse auf die gewöhnliche Sprache zu konzentrieren, und seitdem sie andererseits auf die Suche nach der Bedeutung von Worten verzichtet hat, um allein deren effektiven Gebrauch 24 Cusanus, Idiota de sapientia, I, 27, 1–3. 25 Cusanus, Idiota de sapientia, I, 3, 11: »Ego autem tibi dico, quod sa-

pientia foris clamat in plateis, et clamor eius, quoniam ipsa habitat in altissimis.« Vgl. auch Prov. 1, 20; 8,1 [Anm. d. Übers.]. 26  Vgl. G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Vorrede. 27  A. Schopenhauer, Über die Universitäts-Philosophie, in Parerga und Paralipomena, SW, Ed. Hübscher, V, 174.

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zu beschreiben. Indem die philosophische Reflexion die Wörter von ihrem genuin metaphysischen Gebrauch auf ihren alltäglichen Gebrauch reduziert, zielt sie nicht so sehr auf die Lösung, sondern eher auf die Auflösung philosophischer Pro­bleme ab, die gerade durch den verworrenen und unsachgemäßen Gebrauch der Wörter entstünden und die zu dem gehörten, was Wittgenstein mit pittoreskem Ausdruck »die Beulen« nennt, »die sich der Verstand beim Anrennen an die Grenze der Sprache geholt hat«.28 Allein dadurch, dass die analytische Philosophie eine bloße Beschreibung der gewöhnlichen Sprache ist, erreicht sie am Ende also nur die Aufhebung der Philosophie selbst; dies geschieht zu Gunsten des täglichen Lebens und des gemeinen Menschenverstandes. Ihrerseits wendet sich die Phänomenologie direkt gegen den gemeinen Menschenverstand, weil sie das prononcierte Fehlen von Voraussetzungen für den wesentlichen Bestandteil der Philosophie hält: Der Philosoph müsse zunächst den eingespielten Überzeugungen, d. h. allen vorgefassten und dem gemeinen Menschverstand entsprechenden Urteilen die Geltung entziehen, oder anders gesagt, die der allgemeinen »natürlichen Haltung« gegenüber der Welt unvermeidlich impliziten Vor-Urteile suspendieren. Nur wenn man die »Welt in Klammern« setzt  – um den bezeichnenden Ausdruck Husserls zu übernehmen –, kann Philosophie zu einer wirklich kritischen Reflexion werden.

2.  Zweideutigkeit des gemeinen Menschenverstandes mit seinem Universalitätsanspruch und seiner geschichtlichen Bestimmung Was der gemeine Menschenverstand sei, ist eine alles andere als eindeutig beantwortete Frage. Auffällig ist, dass selbst dasjenige, mit dem allen Menschen die gleiche Rationalität zugesprochen 28 L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Nr.  119, Oxford 1968, 48.

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wird, nicht einer gewissen Ironie entbehrt, wenn vom Alltagsverstand (buon senso) oder vom gemeinen Menschenverstand gesprochen wird. So kommt es, dass Descartes gerade dort, wo er feststellt, dass die Vernunft von Natur aus bei allen gleich sei: »der gemeine Verstand ist die bestverteilte Sache der Welt«, er zudem bemerkt: »jedermann meint, damit so gut versehen zu sein, dass selbst diejenigen, die in allen übrigen Dingen sehr schwer zu befriedigen sind, doch gewöhnlich nicht mehr Verstand haben wollen, als sie wirklich haben« und das bestätigt somit also, dass »[es nicht ausreicht], einen gut funktionierenden Verstand zu haben; das Wichtigste ist, ihn auch gut zu nutzen«.29 Selbst Kant behauptet, dass es »eine große Gabe des Himmels [ist], einen geraden (oder, wie man es neuerlich benannt hat, schlichten) Menschenverstand zu besitzen. Aber man muß ihn durch Thaten beweisen, durch das Überlegte und Vernünftige, was man denkt und sagt, nicht aber dadurch, daß, wenn man nichts Kluges zu seiner Rechtfertigung vorzubringen weiß, man sich auf ihn als ein Orakel beruft.«30 Die höfliche Ironie von Descartes und Kant reicht aus, um uns zu warnen, dass der Alltagsverstand – angenommen er existiert – doch nur aufgrund des Gebrauches gilt, der von ihm gemacht wird; da nun aber dieser Gebrauch immer geschichtlich eingebettet ist, folgt daraus, dass der Begriff des gemeinen Menschenverstandes schon bei einer ersten oberfläch­ lichen Betrachtung zu zerfallen und sich aufzulösen droht. Sicher hat der gemeine Menschenverstand eine zu zweideutige und flüchtige Realität, einen zu unpräzisen und instabilen Bereich, eine zu fragile und unsichere Definition, um ihn als ein Vermögen philosophischen Denkens ausmachen zu können. Einer­seits möchte er als Alltagsverstand bzw. als Fähigkeit zum rechten Urteilen mit der Universalität der Vernunft übereinstimmen, andererseits aber muss er als allgemeines Erbe von Ideen, 29  R. Descartes, Discours de la Méthode, A. T. VI, 1, 2. 30  I. Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, Vorwort,

AA IV, 259.

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Urteilen und Überzeugungen verstanden und dabei mit dem kollektiven Bewusstsein einer bestimmten Gruppe oder einer bestimmten Periode identifiziert werden. Er befindet sich also im Zwiespalt zwischen dem Anspruch auf Universalität und der Bestimmung von Geschichtlichkeit. Es ist nicht leicht, ein Parallelogramm zu finden, das diese beiden unterschiedlichen Kräfte in eine singuläre positive und konstruktive Richtung versetzt. Je nachdem, ob man beim gemeinen Menschenverstand den Anspruch auf Universalität oder die Bestimmung der Geschichtlichkeit betont, wird man ihm eine rationalistische oder eine historistische Interpretation geben, die es beide letztendlich unmöglich machen, das Problem des Verhältnisses von gemeinem Menschenverstand und Philosophie konsistent zu lösen. Wenn auf der einen Seite der Appell an den Alltagsverstand in der Forderung besteht, sich von Verkrustungen der Kultur und Tradition zu befreien, um zu einer authentischen menschlichen Anschauung der Wirklichkeit zu gelangen, dann kann man zweierlei leicht einwenden: Erstens, dass auch der gemeine Menschenverstand nicht weniger geschichtlich bedingt ist als die historischen Vorurteile, aus denen er befreit werden soll. Zweitens, dass diejenige einzige und authentische Auffassung der Wirklichkeit, aus der die echte Philosophie bestehen sollte, nicht existiert, weil der Mensch nicht von seiner geschichtlichen Situation getrennt werden kann und sich somit eine solche Auffassung bestenfalls nur als Produkt einer Mystifizierung erweist, die das bloß Zeitliche als Ewiges verabsolutiert. Wenn man auf der anderen Seite, um der Abstraktheit einer solchen rationalistischen Position zu entgehen, die vom Historismus gelieferten Interpretationen akzeptiert, muss man jegliche Differenz zwischen der besten spekulativen Philosophie und dem beschränktesten Vor­urteil für unmöglich halten, da beide gleichermaßen Zeitprodukte sind: Der Philosoph und der gewöhnliche Mensch wären – jeder auf seine Weise – gleichermaßen dazu bestimmt, nur eine geschichtliche Situation zum Ausdruck zu bringen. Man könnte auch keine Position für wahrer erklären als eine andere, da es kein anderes

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Urteils­kriterium gäbe als ihre Entsprechung mit ihrer Entstehungszeit; bestenfalls hätte das Denken keine andere Funktion, als einer geschichtlichen Epoche die Möglichkeit der Selbst­ erklärung und des Selbstbewusstseins zu verleihen. Zu all diesen Schwierigkeiten, die beim Rückgriff auf den gemeinen Menschenverstand auftauchen, kommt man aufgrund seiner doppelten und unausgeglichenen Natur, die aufgespalten ist zwischen dem Universellen und dem Historischen, dem Individuellen und dem Überpersönlichen, dem Theoretischen und dem Praktischen. So kann die Geschichtlichkeit des gemeinen Menschenverstandes nicht nur als Bestimmung, sondern sogar als eine Grenze betrachtet werden, die sich gerechtfertigterweise gegenüber der Universalität des Alltagsverstandes errichtet. Das ist die von Alessandro Manzoni so treffend beschriebene Situation, wenn er, von der törichten, aber allgemein verbreiteten Überzeugung zur Pest sprechend, sagt: »Der Alltagsverstand (buon senso) war da, aber er hielt sich aus Furcht vor dem gemeinem Menschenverstand (senso comune) verborgen«.31 Im Gegensatz dazu kann es sein, dass der vom Alltagsverstand (buon senso) vorgebrachte Anspruch auf Universalität sich als nichts anderes als eine Anforderung und Anmaßung erweist, weil auf ihm dieselbe Bestimmung der Geschichtlichkeit lastet, die den gemeinen Menschenverstand (senso comune) bedroht. Dies geschieht, wenn das, was evident zu sein scheint, nur offensichtlich ist, d. h. Resultat einer passiven und unreflektierten Annahme. Das ist der Fall, wenn die Gewohnheit das Geschichtliche ins Natürliche umwandelt, woraus die scharfe Beobachtung vieler französischer Moralisten resultiert, dass das, was Natur zu sein scheint, oft nur Geschichte ist: »Eine anders­ artige Gewohnheit wird andere natürliche Prinzipien ergeben«.32

31  A. Manzoni, Die Verlobten, Kap.  XXXII. 32 Pascal, Gedanken, 125 / 92, 85. Das Zitat spiegelt aber das Denken

­aller französischen Moralisten, angefangen von Montaigne, wider.

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Außerdem kann der Appell an den Alltagsverstand als eine willkürliche Ausübung der Vernunft angesehen werden, während eine Tradition, die von einem dauerhaften Konsens getragen wird, eine gültige Stütze wäre. Das ist etwa der Fall bei der Polemik der Traditionalisten gegen die Aufklärer, die die echte Universalität nicht in der individuell ausgeübten Vernunft, sondern in der allgemein aufgenommenen Tradition aufzeigen wollen. Umgekehrt kann es geschehen, dass die Generalität des gemeinen Menschenverstandes, weit davon entfernt, mit der Universalität der Vernunft übereinzustimmen, auf die Mittelmäßigkeit einer zufälligen öffentlichen Stimme oder auf die Anonymität der Massenmeinung zurückgeführt wird. Dies sind die Fälle, die Shaftesbury anprangert, wenn er die Möglichkeit in Betracht zieht, dass sich »in einem unförmigen Gesindel eine gewisse Anzahl an Stimmen befindet, die bezeugen, eine auf einem Besen reitende Hexe gesehen zu haben«;33 ebenso Kant, wenn er bemerkt: »Und beim Lichte besehen, ist diese Appellation nichts anders als eine Berufung auf das Urtheil der Menge; ein Zuklatschen, über das der Philosoph erröthet, der populäre Witzling aber triumphirt und trotzig thut«.34 Schließlich ist der Appell an den gemeinen Menschenverstand das offensichtlichste Beispiel für die Unsicherheit zwischen ­einer theoretischen Auffassung, die vom Denken erste und grund­ legende Prinzipien verlangt, auf denen ein System spekulativer Philosophie aufgebaut werden kann, und einer praktischen Auffassung, die von der Vernunft die Kriterien verlangt, nach denen das individuelle, soziale und politische Leben geordnet werden sollte, vielleicht indem sie sich in praktische Weisheitsregeln wie etwa Sprüche und Sprichwörter ausdifferenziert.

33  A. A. C. Shaftesbury, Sensus Communis, IV, 3. 34 Kant, Prolegomena, Vorwort, AA IV, 259.

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3.  Unsinnigkeit und Anmaßung eines von der Philosophie getrennten gemeinen Menschenverstandes Wenn man den gemeinen Menschenverstand zum Ausgangspunkt philosophischen Denkens machen will, etwa indem man sich auf die unbestreitbare Tatsache beruft, dass die Philosophie sich mit Dingen befasst, die jeden interessieren, gerät man in Verwirrung und läuft Gefahr, nicht nur den gängigsten Klischees Tür und Tor zu öffnen, sondern auch die unkontrolliertesten Vorurteile zu philosophischen Behauptungen zu erheben; nicht nur, dass man jedem das Recht zugesteht, in Sachen Philosophie mitzureden, sondern auch, dass man der Philosophie eine ihr eigene Kompetenz abspricht, die doch jeder anderen Erkenntnisform zugestanden wird. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Analogie zwischen gemeinem Menschenverstand und Improvisation bemerkenswert. Bei der Improvisation, also genau dort, wo aus dem Stegreif Originalität die Oberhand gewinnen sollte, erfordert oft die Notwendigkeit, sich mit unvorhergesehenen Situationen auseinanderzusetzen, auf Gedächtnis und Konvention zurückzugreifen und die bequemsten und einfachsten Lösungen zu akzeptieren. Deshalb läuft man Gefahr, eine Sammlung von abgenutzten Ideen, automatischen Assoziationen, altverbrauchten Formeln und abgestandenen Reminiszenzen zusammenzustellen. Analog dazu läuft der Rückgriff auf den gemeinen Menschenverstand in Sachen Philosophie – d. h. das Streben nach Tiefgründigkeit in Fragen von tiefstem menschlichem Interesse – Gefahr, in einer Sammlung von einfachen und offensichtlichen Gedanken, von oberflächlichen und vereinfachenden Urteilen, von vorhersehbaren und altbekannten Diskursen sich selbst zu schwächen: Denn der gewöhnliche Mensch glaubt, umso origineller und unabhängiger zu sein, wenn er ein paar abgedroschene Ideen anbietet oder das letzte, was er gehört hat, erzählt – und das geschieht vor allem heute, da die Techniken der subtilen Überredung eine große Perfektion und Wirksamkeit erreicht haben, so dass es jedem so vor-

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kommt, als entspringe sein Gedanke plötzlich aus seinem Geist, während er ihm in Wirklichkeit nur mechanisch aus dem Gedächtnis auftaucht. Das ist der Grund, warum die größten Philosophen – trotz ihrer Anerkennung der großen Relevanz der Philosophie für das Menschsein – niemals zugelassen haben, dass der gemeine Menschenverstand als Vermögen oder zur Überprüfung des philosophischen Denkens diente. Kant hat auf polemische Weise bemerkt: »sich auf den gemeinen Menschenverstand zu berufen, das ist eine von den subtilen Erfindungen neuerer Zeiten, dabei es der schalste Schwätzer mit dem gründlichsten Kopfe getrost aufnehmen und es mit ihm aushalten kann.«35 Man muss sich überzeugen, sagt er, dass jedes Vermögen sein spezifisches Gebiet hat: Der gemeine Menschenverstand dient der Erfahrung wie der Meißel zum Schnitzen von Holz; doch wie man zum Einschneiden eine Ahle braucht, so ist für die Spekulation kritische Vernunft nötig. Ansonsten sind die Türen der Philosophie auch dem Urteil der Inkompetenten geöffnet. Das ist es, was Fichte vermeiden will, wenn er beklagt, dass es nach allgemeiner Meinung »mit dem Philosophieren ebenso von selbst [gehe] wie mit Essen und Trinken, und dass über philosophische Gegenstände jeder eine Stimme hat, der nur überhaupt das Vermögen der Stimme hat«.36 Er bemerkt, dass der Rückgriff auf den gemeinen Menschenverstand in der Philosophie so ist wie »den nicht-wissenschaftlichen Intellekt einzuladen, über begreifliche Dinge nur in der Wissenschaft zu urteilen« und wünscht sich, dass man sich »enthalten [soll] über Philosophie mitzusprechen, wie er sich enthält über Trigonometrie oder Algebra mitzusprechen, wenn er diese Wissenschaft nicht gelernt hat.«37

35 Kant, Prolegomena, AA IV, 259. 36  J. G. Fichte, Sonnenklarer Bericht, SW II, 324. 37  Ebd., 326.

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Noch drastischer bemerkt Hegel, dass die Philosophie nur Philosophie sei, weil sie dem gemeinen Menschenverstand in seiner Beschränktheit entgegengesetzt sei: »Von allen Wissenschaften, Künsten, Geschicklichkeiten, Handwerken gilt die Ueber­zeugung, daß, um sie zu besitzen, eine vielfache Bemühung des Erlernens und Uebens derselben nöthig ist. In Ansehung der Philosophie dagegen scheint itzt das Vorurtheil zu herrschen, daß, wenn zwar jeder Augen und Finger hat, und wenn er Leder und Werkzeug bekommt, er darum nicht im Stande sey, Schuhe zu machen, – jeder doch unmittelbar zu philosophiren, und die Philosophie zu beurtheilen verstehe, weil er den Maßstab an seiner natürlichen Vernunft dazu besitze«.38 Der gemeine Menschenverstand, »der sich weder mit andrem Wissen noch mit dem eigent­lichen Philosophiren bemüht und gebildet hat, [will] sich unmittelbar als ein vollkommenes Equivalent und so gutes Surrogat ansehen«, während er »eine Rhetorik trivialer Wahrheiten« liefert, deren Ungenauigkeit, Unbedeutendheit und Tendenziosität nicht schwer zu bemerken ist, und dazu die Anmaßung sich erlaubt, die Philosophie als »Sophistereyen« und »Träumereyen«39 beurteilen zu können. Hegel schließt mit folgender Feststellung: »Wahre Gedanken und wissenschaftliche Einsicht ist nur in der Arbeit des Begriffes zu gewinnen. Er allein kann die Allgemeinheit des Wissens hervorbringen, welche [nicht] die gemeine Unbestimmtheit und Dürftigkeit des gemeinen Menschenverstands, sondern gebildete und vollständige Erkenntniß«40 ist.

38 Hegel, Phänomenologie des Geistes, Vorrede, GW 9, 46. 39  Ebd., 47. 40  Ebd., 48.

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4.  Unmöglichkeit, die Philosophie dem gemeinen Menschenverstand zu überlassen Ich hätte nicht so sehr auf diese Zitate hingewiesen, so bedeutend sie auch sind, wenn ich nicht überzeugt wäre, dass die heute so weitläufig verbreitete Idee, in den Wissenschaften die einzige Erkenntnisform zu sehen, zu einer starken Abwertung der Philosophie führt und zwar nicht nur dahingehend, dass die Philosophie, nur weil sie offenbar nicht die der Wissenschaft eigene Strenge besitzt, auch nicht als eine genuine Erkenntnisform betrachtet wird, sondern auch in dem Sinne, dass sie gerade deshalb völlig dem gemeinen Menschenverstand, also dem Alltagsgespräch ­aller Menschen, überlassen wird. Während aber der Philosoph, gerade weil er ein solcher ist, vermeidet, sich in die Wissenschaft einzumischen, und bestenfalls nur, gerade von den Wissenschaftlern selbst methodisch-inhaltlich instruiert, über die wissenschaftliche Methodologie reflektiert, geschieht es durchaus, dass der Wissenschaftler in philosophische Fragen eintritt. Dies geschieht entweder in dem Sinne, dass er – unzulässigerweise – die Wissenschaftsphilosophie auf dieselbe Methode zurückführt, die er als Wissenschaftler betreibt, oder in dem Sinne, dass er glaubt, aus jenem einfachen gemeinen Menschenverstand heraus sprechen zu können, den er selbst bereits sorgfältig methodisch aus dem Rahmen seiner eige­ nen Wissenschaft verdrängt hat, oder schließlich in dem Sinne, dass ihm die Philosophie nur als leeres Gerede erscheint. Diese letzte Behauptung könnte er jedoch nur aufgrund des Satzes behaupten, dass es kein anderes Wissen als das wissenschaftliche gibt – und dieser Satz ist, wie man anmerken sollte, nicht wissenschaftlich, sondern philosophisch. Somit ist es angebracht, länger bei diesem Problem zu verweilen. Zunächst einmal impliziert Philosophie, auch wenn sie auf Wissenschaftsphilosophie reduziert wird, eine weitere Reflexion, durch die der Begriff der Wissenschaft und die wissenschaftliche Methode in einen Kontext eingefügt werden, der nicht nur

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nicht mehr jener der Wissenschaft ist, sondern wenigstens implizit Vollständigkeit und Ganzheit der Philosophie voraussetzt. Ferner kann man nicht für gerechtfertigt halten, dass derjenige, der gerade auf dem eigenen Gebiet ein so gewissenhafter Wächter der Methode ist, den gemeinen Menschenverstand als Legitimierung anführt, um ohne Methode in andere Bereiche hineinzureden. Und schließlich ist es deshalb auch nicht verwunderlich, dass gewisse Wissenschaftler, nachdem sie auf diese Weise ohne Mühe philosophiert haben, sich noch mehr von der Idee überzeugen lassen, dass es keine andere Erkenntnisform als die wissenschaftliche gebe, und deshalb die Philosophie für P ­ oesie oder Rhetorik oder geradezu für eine unbegründete und sogar nutzlose Tagträumerei halten. Niemand ist bewundernswerter als ein Wissenschaftler, der auch Philosophie betreibt, und heute scheint es ein großes Bedürfnis nach solch umfassend orientierten höheren Gestalten zu geben. Jedenfalls muss auch ein solchermaßen aufgestellter Wissenschaftler die Philosophie als Philosoph betreiben, nicht aber als Wissenschaftler, was er nicht tun könnte, ohne dabei seine Pflicht gegenüber der Wissenschaft selbst zu verletzen, und was er noch viel weniger mit dem gemeinen Menschenverstand tun könnte, ohne dabei den genuinen Begriff der Philosophie selbst zu leugnen.

5.  Strenge des philosophischen Wissens Das soll nun nicht heißen, dass die Philosophie keine Erkenntnisform sei oder es ihr an eigener Strenge mangele. Sicherlich ist wegen der tiefgründigen Differenz, die die wissenschaftliche Wahrheit von der philosophischen Wahrheit trennt, weder das der Philosophie eigene Wissen noch die ihr eigene Strenge eben jene der Wissenschaften. Diese Differenz kann ich nicht besser ausdrücken als mit den suggestiven Betrachtungen von Jaspers über die zu unterscheidenden (verschiedenen) Fälle von Gali-

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leo Galilei und Giordano Bruno.41 Die wissenschaftliche Wahrheit ist unpersönlich und beweisbar: Es wäre deshalb absurd, für sie sterben zu wollen. Galilei hatte keine Schwierigkeiten, seine Aussagen zu widerrufen. Sein Widerruf gefährdete nicht die von ihm vertretene Wahrheit, die auch ohne ihn bestehen und sich durchsetzen konnte. Umgekehrt ist die philosophische Wahrheit persönlich und entscheidend: Sie zu bejahen bedeutet bereit zu sein, für sie zu sterben. Bruno glaubte, nicht widerrufen zu können: Sein Widerruf hätte seine Wahrheit aufs Spiel gesetzt, die ohne ihn nicht existieren konnte. Galileis Wahrheit wäre mit seinem Tod nicht wahrer geworden; aber Brunos Tod war der einzig mögliche Beweis für seine Wahrheit. All dies bedeutet nicht, dass Philosophie willkürlich, unpräzise, ermahnend und deshalb dem unvorhersehbaren Spiel der Gefühle, der emphatischen Rhetorik der Überzeugung, den voreiligen Bemerkungen des Alltagsverstandes, kurz, der gewöhnlichen Sprache des gemeinen Menschenverstandes geschuldet ist. Die Philosophie ist eine Erkenntnisform, hat einen universellen Charakter und besitzt ihre eigene Strenge. Die Tatsache, dass Wissen, Universalität und Strenge so verstanden nicht die der Wissenschaft sind, ist nicht ihr Mangel, sondern eine wesentliche Bedingung für ihren normalen Vollzug. Ihr Wissen ist das, was es ist, weil es Besitz der Wahrheit ist. Aber da die Wahrheit nur über einen geschichtlichen Weg und mittels eines persönlichen Verhältnisses zugänglich ist, handelt es sich um ein Wissen, das sich in eine Pluralität von Perspektiven aufteilt, und es kann niemals in einer absoluten und endgültigen 41  Jaspers’ Theorie über den Unterschied zwischen philosophischer Wahrheit und wissenschaftlicher Wahrheit findet sich in Über meine Philosophie (1951) in Rechenschaft und Ausblick. Reden und Aufsätze, R. Piper & Co., München 1951; 339–340; Von der Wahrheit, R. Piper & Co., München 1947, 651; Der philosophische Glaube, R. Piper & Co., München 1948, 11. Vgl. dazu mein Werk: Esistenza e persona, 1950, 58  f.; X. Tilliette, La vérité de Galilée, la vérité de Giordano Bruno, in L’infallibilité, hrsg. von E. Castelli, Aubier, Paris 1970, 257–270.

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Äußerung formuliert werden und auch nicht die Einzigkeit der Äußerung als Kriterium für die Unterscheidung zwischen wahr und falsch akzeptieren. Ihre Universalität ist dieselbe der Wahrheit, die zu allen spricht, aber zu jedem auf seine Weise, und deshalb ist sie immer innerhalb einer einzelnen Interpretation gegenwärtig, die ihrerseits nur persönlich und historisch kommunizierbar ist, d. h. durch eine neue Pluralität, ja durch eine Unendlichkeit von Interpretationen sich entfaltend in einem unaufhörlichen Dialog, in dem jede Enthüllung eine solche nur ist, wenn sie als Verheißung neuer Enthüllungen auftritt. Ferner ist nichts härter als ihre Strenge, die in einer Problematisierung besteht, die vor nichts Halt macht, da die Philosophie vor allem sich selbst in Frage stellt. Sie ist keine Philosophie, wenn sie nicht zugleich Philosophie der Philosophie ist, so dass sie mit nichts anderem beginnen kann als mit einer Rechtfertigung des eigenen Gesichtspunktes und mit einer Begründung ihrer eigenen Möglichkeit. Sie kann auch nicht fortfahren, ohne sich selbst unaufhörlich über die Legitimität ihrer eigenen Operationen zu befragen und ohne sich all dessen kritisch bewusst zu werden, was implizit in ihrem notwendigen Selbstbewusstsein ist. Schließlich aber kann sie ihre Arbeit nicht vollenden, ohne sich dabei auf das zu besinnen, was ihr ständiges und hartnäckiges Fragen anregt, begleitet und besiegelt, und ohne dabei sich bewusst zu werden, dass ihr Wort der Sitz einer viel weiteren Bedeutungsfülle ist als die, die sie explizit ausdrücken kann. Es ist genau dieser nicht zu befriedigende und beständige Problematisierungssog, der die Philosophie vom gemeinen Menschenversand unterscheidet, der in seiner Unmittelbarkeit keine solchen Fragen stellt. Und eben darin sieht der Philosoph den Grund dafür, warum der gemeine Menschenverstand kein Vermögen, sondern eher ein Problem ist. Er sieht darin eher eine Pflicht, d. h. eine Verpflichtung zu strenger Vertiefung und reflektierender Wiedergewinnung, als ein Recht, das jedem differenzierungslos die Fähigkeit zugesteht, in Sachen der Philosophie mitzusprechen. Die Philosophie stellt also den gemeinen

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Menschenverstand in Frage, wie sie übrigens die ganze menschliche Erfahrung und alle Tätigkeiten des Menschen in Frage stellt, und zwar nicht nur gründlich, sondern auch ganzheitlich.

6.  Die Philosophie als Problematisierung der Erfahrung und des gemeinen Menschenverstandes selbst Erfahrung und Philosophie sind deutlich voneinander unterschieden und doch miteinander eng verbunden, und es ist nun angemessen, den Berührungspunkt zwischen beiden zu bestimmen und dabei sowohl ihre Trennung als auch ihre Vermischung zu vermeiden, d. h. sowohl die Philosophie als leeren Verbalismus als auch die Philosophie als plumpen Empirismus zu vermeiden. Die Philosophie hat einen spekulativen und konkreten Charakter zugleich, wobei der eine die Garantie des anderen ist. Dies ist in dem Sinne gemeint, dass sie keine Philosophie, sondern bloße Empirie wäre, wenn sie sich nicht als reine Spekulation über die Erfahrung erhöbe, um von ebendieser Rechenschaft zu geben; und sie wäre keine wahre Spekulation, sondern Wortspiel, wenn sie sich nicht an die Erfahrung in ihrer Konkretheit wendete, um aus ihr Inhalt und Anregung für ihre eigene Problematik zu gewinnen. Der Bezug auf die Erfahrung unterdrückt keineswegs den spekulativen Charakter der philosophischen Reflexion, sondern ist vielmehr ihre notwendige Bedingung. Die Reflexion erreicht jedoch nicht das Niveau der philosophischen Spekulation, wenn sie nicht über die Erfahrung durch eine gründliche und ganzheitliche Problematisierung hinausgeht, die darauf abzielt, erste und irreduzible Instanzen zu entdecken und unerschöpfliche und ursprüngliche Potentialität wiederzufinden. Das bedeutet zunächst, dass sich die Philosophie nicht auf Erfahrung beschränken kann, weder als Methodologie der verschiedenen menschlichen Tätigkeiten, wie es eine Form des verfei­nerten Empirismus will, noch gar als Erforschung der verschiedenen Kulturformen des menschlichen Lebens, wie es die

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anthropologischen und soziologischen Disziplinen wollen. Gewiss ist die Methodik für eine sachgerechte und nutzenbringenden Ausübung der verschiedenen Tätigkeiten unerlässlich, und das Studium der verschiedenen Kulturen sagt auch etwas über den Menschen als solchen aus. Dennoch kann die Philosophie nicht innerhalb dieser Grenzen eingezwängt werden, denn eine Reflexion, die die Funktionalität der Begriffe überwacht und die Ausübung der Vernunft korrigiert, ohne jedoch die Ziele dieser Operationen festzulegen, endet in einem bloß technischen und instrumentellen Denken. Eine Erforschung der menschlichen Kulturformen aber, auch wenn sie zu einer Intensivierung der Erfahrung führt, die der Mensch von sich und der Welt macht, ist im Grunde nichts anderes als eine Verdoppelung der Bedeutungen durch Reflexion. In beiden Fällen ist das Denken nichts anderes als die Bewegung, mit der die Erfahrung zu sich zurückkommt, ohne jene radikale und ganzheitliche Problematisierung, die die Philosophie anstrebt. Es kann aber auch nicht gesagt werden, dass die Philosophie die Erfahrung so sehr überrage, dass sie ihr Normen gebe und Ziele vorschreibe und somit eine führende Rolle in Bezug auf die verschiedenen Tätigkeiten beanspruchen könne, wie es der aufklärerische Rationalismus ihr zugesteht. Indem dieser nicht nur die Vernunft, sondern sogar die Wahrheit mit der Philosophie identifiziert, spricht er dem Philosophen die Aufgabe zu, inner­ halb der menschlichen Tätigkeiten Gesetze zu erlassen, anstatt ihm seine im weitesten Sinne menschliche und ihn besonders beanspruchende Aufgabe zuzuerkennen, sich der Wahrheit zu ­besinnen und auf das Sein hinzuweisen. Dieser übermäßig aristokratische Geist nährt leider nicht nur die Überheblichkeit der Philosophen, sondern auch die Anmaßung der Vernunft. Denn die Philosophie ist nicht imstande, die Norm der verschiedenen menschlichen Tätigkeiten festzusetzen und durchzusetzen: Sie findet diese mehr oder weniger wirksam oder verborgen in der Erfahrung selbst. Ihre Aufgabe besteht dann darin, diese Norm aus der Finsternis zu befreien, in die sie

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die Vergessenheit und Nachlässigkeit der Menschen eingehüllt haben, und sie dem persönlichen Gehorsam und der verantwortlichen Ausführung eines jeden vorzuschlagen. Wird man also sagen müssen, dass die Philosophie weder innerhalb noch über der Erfahrung steht, sondern sie abschließt? Sollte man also sagen, dass sie »nach« der Wirklichkeit kommt, die sich ohne sie entfaltet hat, indem die Philosophie vollendete Tatsachen antrifft, ohne die Möglichkeit und die Aufgabe zu haben, innerhalb der Erfahrung einzugreifen, wie es im Grunde die verschiedenen Formen des Historismus behaupten? Es ist wohl wahr, dass die Philosophie als letzte kommt, wie »die Eule der Minerva, die ihren Flug erst mit der einbrechenden Dämmerung beginnt« – so das bekannte und suggestive Bild Hegels. Die Philosophie kommt aber weder nach der Erfahrung, um sie geradezu in sich aufzusaugen, noch, um sich darauf zu beschränken, sie widerzuspiegeln, sondern, wie ich sagte, um sie von ihrer Wurzel her und in ihrer Gesamtheit zu problematisieren und ihre erste und ursprüngliche Potentialität wiederzuerlangen. Die Philosophie kommt zuletzt, gerade um ungehinderter das Erste erfassen zu können. In diesem Sinne ist sie, weit davon entfernt, Abschluss zu sein, Wiedererlangung des Ursprungs – nicht die Schließung des reflektierten Bewusstseins, sondern die Morgenfrische eines Weltanfangs. Nach dem Historizismus hingegen löst die Philosophie in dem verspäteten Bewusstsein, das sie der Geschichte liefert, entweder die ganze Wirklichkeit im Denken auf, wie bei Hegel, oder sie reduziert das Denken auf den bloßen Ausdruck der Geschichte, wie bei Marx. Wie schwierig es ist, solche Auffassungen zuzulassen, zeigt sich daran, dass in beiden Fällen – sei es, dass die Philosophie zur höchsten und absoluten Ratifizierung des Wirklichen, d. h. zu einer vollständigen Rechtfertigung der Geschichte erhoben wird, sei es, dass sie zur bloßen Ideologie degradiert wird, d. h. zu einer Überstruktur, die sich darauf beschränkt, ein geschichtlich feststehendes Moment auszudrücken und widerzuspiegeln – das Ergebnis dasselbe ist: Es bleibt keine andere philo-

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sophisch mögliche Widerlegung mehr als die Gewalt. In der Tat bleibt keine andere Möglichkeit als die Revolution, um das geschlossene System Hegels wieder zu öffnen. Um eine bestimmte Ideologie zu widerlegen, die eine gegebene geschichtliche Situation widerspiegelt, gibt es keine andere Möglichkeit, als die geschichtliche Situation selbst, deren Ausdruck die bestimmte Ideologie ist, durch Handlung zu verändern. An dieser Stelle könnte es scheinen, als bliebe für eine als radikale und ganzheitliche Problematisierung verstandene Philosophie kein anderer Weg als jener eines erneuerten Transzendentalismus, der die Möglichkeit, den Wert und die Bedeutung der verschiedenen menschlichen Tätigkeiten definiert und sich der Aufrechterhaltung jeder dieser Tätigkeiten in ihrem eigenen Bereich, in ihrer echten Natur und in ihren formellen unwiderruflichen Strukturen widmet. Aber die Philosophie würde ihre ihr selbst eignende Natur der Problematisierung verfehlen, wenn sie hier stehen bliebe. Sie muss zum Grunde zurück gehen und den diversen menschlichen Tätigkeiten die Quelle aufzeigen, aus der sie ihre Inhaltsfülle und Kraft schöpfen können. Der Impuls zur Problematisierung würde in der Tat gar nicht entstehen, wenn er nicht von einer ursprünglichen Solidarität mit der Wahrheit befördert wäre, die der Philosophie einen ständigen Willen zu Vertiefung und Wiedererlangung gibt; und das Denken müsste sich damit begnügen, die interne Reflexion einzelner menschlicher Tätigkeiten zu sein, die dazu bestimmt wäre, leer, technisch und neutral zu sein, wenn sie nicht eine ontologische Dimension hätte, durch die der Mensch, obwohl er aus der Situation nicht herauskommen kann, nicht nur nicht auf sie reduziert wird, sondern diese nur insofern als Situation qualifizieren kann, als er sie ausarbeitet und modifiziert.

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7.  Der gemeine Menschenverstand als Gegenstand der Philosophie ist der ursprüngliche ontologische Bezug Dies ist genau der Punkt, an dem der gemeine Menschenverstand, wenn er in seiner tiefen und authentischen Natur aufgenommen wird, nicht nur der Philosophie eine gültige und sichere Stütze bietet, sondern sie auch dazu bringt, sich mit ihm zu versöhnen und dabei seine produktive Prägnanz und entscheidende Bedeutung wiederzuentdecken. Wenn in der Tat das philosophische Denken allzu weit vom gemeinen Menschenverstand abgelöst wird, dann wird sich die Frage nicht umgehen lassen: Beschäftigt sich die Philosophie vielleicht mit Dingen, die nicht für jeden von Interesse sind? Kann man wirklich glauben, dass die Wahrheit ausschließliches Privileg von einem Einzelnen sein könnte und dass die einzige Art, sie zu besitzen, jene der philosophischen Reflexion sei? Wenn ferner der gemeine Menschenverstand zu strikt in die Sphäre der gewöhnlichen Meinungen und unsinnigen Vorurteile zurückgedrängt wird, wird man fragen: Ist nicht die grundlegende Ähnlichkeit, die die Menschen miteinander verbindet und von der die Pluralität der Kulturen eher eine Realisierung als eine Verleugnung ist, doch auch ein Zeichen ihrer ursprünglichen Solidarität mit jener Wahrheit ist, die allen gehört, gerade weil sie niemandem im Besonderen gehört? Kann man die Wahrheit nicht in einer Weise besitzen, die nicht weniger wirksam ist, auch wenn sie nicht den spekulativen Charakter des philosophischen Denkens hat? Auf diese Fragen kann der gemeine Menschenverstand eine gültige Antwort geben, wenn er zu Recht verstanden wird als ursprüngliche Anwesenheit des Seins und der Wahrheit auf dem Grunde einer jeden menschlichen Tätigkeit – eine Anwesenheit, die der Mensch in Übereinstimmung oder Ablehnung zum Leben bringen kann und so zum Tragen kommen lässt, und der gegenüber die Philosophie vor die schwierige Aufgabe gestellt ist, sie in begriffliche und spekulative Termini zu übersetzen. Daran erinnert Vico, wenn er die gesamte Lebenswelt vom gemeinen

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Menschenverstand abhängig macht, verstanden als Grund konkreter menschlicher Gemeinschaften und als geschichtliche Inkarnation der Wahrheit und deshalb als Zeichen der ursprünglichen ontologischen Öffnung des Menschen und des offenbarenden Charakters seines Denkens. Indem ich Vico als den großen Denker des gemeinen Menschenverstandes vorstelle, erlaube ich mir, dem größten der italienischen Philosophen eine besondere Ehre zu erweisen, indem ich in ihm, dem letzten der Humanisten und dem ersten der Romantiker, die lebendige Verneinung des in unserer Kultur verbreiteten Klischees aufzeige, dem zufolge die moderne Welt auf der erklärten Kontinuität von Humanismus, Reformation und Aufklärung aufbaute. Tatsächlich zeigt er, dass zwischen Humanismus und Romantik eine direkte Kontinuität besteht, deren Studium für die Lösung vieler heutiger Probleme äußerst fruchtbar sein könnte und deren Vertiefung diese beiden großen Bewegungen der modernen Kultur von den negativen Ansichten reinigen könnte, die bisher ihr Schicksal bestimmt haben. Dies kann erreicht werden, indem man die authentische humanistische Meditation von jener Überbewertung des Wortes trennt, die die europäische und besonders die italienische Zivilisation mit ­einer Last von unerträglicher Rhetorik oder trockener Philologie beschwert hat. Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass der Romantizismus, wenn er auf angemessene Weise von Schwärmerei befreit wird, die ihm mehr Schaden als Antrieb gebracht hat, seinen Kreislauf noch nicht geschlossen hat und auch heute noch viel zu sagen hat, trotz der Verunglimpfungen von Hegel von den Lehrstühlen herab und von Marx auf den Plätzen davor. Im gemeinen Menschenverstand sieht Vico auf der einen Seite nicht die abstrakte Universalität einer in allen Menschen gegenwärtigen Vernunft, sondern die konkrete Universalität ­einer geschichtlichen, von Konsens in der Teilnahme der Individuen am sozialen Leben zusammengehaltenen Gemeinschaft, und auf der anderen Seite nicht die Identität eines Systems spekulativ mitteilbaren Denkens, sondern die geschichtliche und vielfache Inkar-

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nation der vis veri, verstanden vor allem als formgebende Kraft, die viel früher in der »Volksweisheit« des »Geistes der Nationen«, d. h. in der bürgerlichen Klugheit, als im reflektierten und bewussten Wissen der Philosophen wirksam wird. Wenn man den Deutungsvorschlag von Vico frei aufnimmt, kann man vom von der Philosophie angemessen ergründeten gemeinen Menschenverstand aus den Weg finden, um einige der dringendsten Probleme der heutigen Welt in Angriff nehmen zu ­können.

8.  Untrennbarkeit von Universalität und Geschichtlichkeit im gemeinen Menschenverstand Zunächst wenden wir uns dem Problem des Verhältnisses von Universalität und Geschichtlichkeit zu. Es ist klar, dass, wenn die Universalität diejenige eines vollständigen und explizierten Systems von Ideen ist, während die Geschichtlichkeit jene einer beschriebenen Situation ist, die den Menschen fatalerweise in die Zeit einschließt, Universalität und Geschichtlichkeit niemals als miteinander vereinbar betrachtet werden können. Immer wird ein Abgrund sich auftun zwischen der Wahrheit, verstanden als einzig mögliche Philosophie – die so ideal ist, dass sie sich in den rauchigen Nebeln der Phantasie verliert – und der Situation, die als ein derart unvermeidbares, unüberschreitbares Hindernis für die Erreichung des Wahren verstanden wird, dass sie vermeint, sich selbst als einzig wirklich menschliche Wahrheit präsentieren zu können. Der allgemeine Menschenverstand – auch wenn er weder ein stabiles Erbe antritt, an dessen Besitz alle in einer Form von integrierter und friedlicher Teilhabe partizipieren könnten, noch ein Reservoir an expliziten Ideen und übertragbaren Normen anbietet, an denen Denken und Handeln ausgerichtet werden könnten – besteht dennoch in einem deutlichen Bezug auf ein einziges und festes Zentrum, das sich nicht auflöst, sondern sich im geschichtlichen Prozess stets erneuert, einem Bezug, der nicht

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zerbricht, sondern sich in der Pluralität der Stimmen, die von ihm inspiriert werden, vervielfältigt. So verstanden, manifestiert der gemeine Menschenverstand die ursprüngliche ontologische Öffnung des Menschen, d. h. den wesentlich ontologischen Charakter aller menschlichen Tätigkeiten, die ihre Authentizität nur durch eine glückliche Konvergenz der Kraft des Seins im menschlichen Handeln mit dem menschlichen Hören von Sein erreichen. Aufgrund dieser ontologischen Dimension ist die Wahrheit nicht so sehr eine Sicherung des Besitzes als vielmehr ein Appell zur Wiedergewinnung, nicht so sehr eine Reserve, aus der man schöpft, als vielmehr ein Ruf, dem man antwortet. Die menschlichen Formulierungen der Wahrheit treffen jedoch dabei ihr Ziel, selbst wenn sie sich in einer Pluralität von Interpretationen vervielfältigen und sich entschieden einer eindeutigen und endgültigen Festschreibung entziehen. Nur mit der ontologischen Öffnung des Menschen stellen sich also Universalität und Geschichtlichkeit als voneinander untrennbar verbunden dar, weil sich dann die Situation als einziger Zugangsweg zur Wahrheit zeigt und die Wahrheit als in der von ihr ausgelegten Formulierung in ihrer wirksamen Energie sich eröffnet, während beide sich begegnen in der konstitutiven Pluralität der Interpretation, die so ihren Reichtum offenbart, und zwar den Reichtum, der uns und der Wahrheit gehört. Die Interpretation ist nur deshalb vielfältig, weil sie zugleich die Pluralität der Personen enthält, die sie zu gestalten wissen, wie auch die Unendlichkeit der Wahrheit, die sich darin manifestiert. Kraft dieses Interpretationsbegriffs können Geschichtlichkeit und Pluralität den Manifestationen des gesunden Menschenverstandes zuerkannt werden, ohne dass diese dabei auf in Klammern gesetzte Vorurteile oder auf geläufige Meinungen ohne philosophische Bedeutung reduziert werden müssten. Dass die Wahrheit nicht Gegenstand, sondern Ursprung des Denkens ist, bedeutet keineswegs ihre Erniedrigung, denn gerade so kann ihr eine wirksame Anwesenheit in der menschlichen

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Welt gesichert werden, d. h. jene Unendlichkeit, die alle Perspektiven, so verschieden sie auch sein mögen, ohne Schwierigkeit zusammenführen kann. Dass der Mensch keinen anderen Zugang zur Wahrheit als seine geschichtliche Situation hat, ist kein Mangel, denn nur so kann er die Wahrheit auf eine partizipierende und unersetzbare Weise besitzen. Dass die Interpretation der Wahrheit gerade nicht einzig sein kann, sondern an sich vielfältig ist, ist nicht ihr Nachteil oder ein Zeichen ihres bedauernswerten, nur annäherungshaften Charakters, weil sie eben nur auf diese Weise, eben: vielfältig, die Wahrheit zu ergreifen vermag. Ich will also weder auf der verströmenden Unerschöpflichkeit der Wahrheit noch auf ihrer Innerlichkeit im menschlichen Geist bestehen,42 was immer noch eine Form von objektiver oder intimistischer Metaphysik wäre. Auch will ich nicht allein auf die erfinderischen Verfahren und Forschungsversuche abzielen, denn auch das wäre immer noch eine transzendentalistische Phänomenologie oder eine empiristische Analyse, sondern vielmehr auf die Tatsache, dass sich die Wahrheit nur innerhalb der persönlichen und geschichtlichen Formulierung offenlegt, die man von ihr gibt, was gerade eine Ontologie des Unerschöpflichen ausmacht.

9.  Nur die Wahrheit vereint, ohne dabei zu entpersönlichen Als Zweites wenden wir uns dem Problem des Verhältnisses zwischen der Person und dem, was über ihr steht, zu. Der Aufweis des gemeinen Menschenverstandes bedeutet zunächst auch die Warnung, dass ohne die Anerkennung einer überpersönlichen Grenze die Freiheit in Anmaßung umschlagen und der Personalismus in Narzissmus degenerieren müsste. Das aber bedeutet für das Bewusstsein, dass die Persönlichkeit diese Grenze nicht vernichten darf. So wird klar, dass der gemeine Menschenver42  Vgl. in diesem Buch S.  120 und § 4, S.  152.

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stand zu einer Unterdrückung der Person führen würde, wenn sein Gegenstand nichts anderes als ein kulturelles Erbgut oder ein Gedankeninhalt wäre, denn solche Gegenstände könnten nur um den Preis einer Erniedrigung des Niveaus und einer seichten Vulgarisierung von allen geteilt werden, d. h. nur durch eine Reduktion auf eine Masse, auf Anonymität und Entpersonalisierung. Man könnte denken, dieser Gefahr zu entgehen, indem man auf den Inhalt verzichtet und nur auf die Form zurückgreift, d. h. indem man den gemeinen Menschenverstand der Vernunft selbst in ihrem Vollzug anvertraut. Aber auch diese formale Vernunft gehört nicht zum Reich der Personen, weil sie nur technisches und instrumentelles Denken ohne Kriterien und Ziele ist: Sie ist die von Pascal erwähnte Vernunft ployable à tous sense [in jede Richtung biegsam],43 die also nicht die Wahrheit in sich besitzt, sondern höchstens die Fähigkeit zur Kohärenz und die Bestätigung des Erfolges. Welche Gemeinsamkeit und Ähnlichkeit könnte aber eine solch technische, den Personen gegenüber an sich gleichgültige Vernunft bewirken, selbst wenn sie persönlich ausgeübt würde? Welchen Respekt sollte die Person diesem bloß technischen Instrument entgegenbringen, das zum Gelingen von Experimenten nützlich ist, bei denen man höchstens einen momentanen Misserfolg riskiert, aber nicht selbstverantwortlich entscheidet? Die Unterwerfung der Person unter diese unpersönliche und entpersönlichende Vernunft bringt eine Tyrannei mit sich, die noch größer ist als die, die von einer Autorität ausgeübt wird, der der Konsens gleichgültig ist oder als die, die von der unkontrollierten Herrschaft der Masse ausgeübt wird. Das, was vereinen kann, ohne dabei zu entpersönlichen, ist daher etwas Ursprünglicheres und Tiefgründigeres, und zwar die grundlegende ontologische Öffnung des Menschen. Die Person wird zwar durch den Bezug zum Sein konstituiert, ein Bezug, der im Wesentlichen ein – wenn auch aktives und offenbarendes – 43 Pascal, Gedanken, 530 / 274, 333.

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Hören (ascolto) der Wahrheit ist. Nur die Wahrheit steht über der Person, ohne sie zu unterdrücken, denn die Wahrheit gibt sich nur einem bewussten Akt der Freiheit hin, ohne dadurch die unvorhersehbaren Launen einer willkürlichen Originalität zu autorisieren, wie diejenigen zu glauben scheinen, die die Freiheit verteidigen, aber das Sein vergessen. An dieser Stelle sind folgende Präzisierungen angebracht. Zunächst bedeutet Gemeinsamkeit (comunanza) weder empirische Universalisierung noch angewandte Rationalität, also weder entpersönlichende Vermassung noch rationale Unpersönlichkeit. In seiner authentischen Bedeutung ist der gemeine Menschenverstand nicht das Reich des Anonymen, des Massenhaften und des Vulgären. Wahrer gemeiner Menschenverstand ist Ähnlichkeit, nicht Nivellierung, nicht Entpersönlichung, sondern die unter den Personen gegründete Gemeinsamkeit. Dieses Gemeine im Zwischen ist unter Gleichen gemeinsam, d. h. unter Personen: Es findet sich auf dem Niveau der Personalität und nicht der Masse, in welcher es keine wahre Gemeinsamkeit gibt, weil keine Singularität besteht. Die wahre Gemeinschaft ist Ähnlichkeit, Vertiefung der Personalität und der Singularität, nicht aber ihre Negation. Die menschliche Ähnlichkeit wird gerade auf der Gemeinsamkeit des universalen Menschenverstandes als einem ontologischen Verhältnis gegründet, das schlechthin allen gemeinsam ist: Nichts ist gemeiner als dieses, weil es sich um jenen Bezug zum Sein handelt, der der Mensch ist. Die Gemeinsamkeit ist der Bezug auf die einzige Wahrheit seitens ähnlicher Personen, die nicht nur die Ähnlichkeit unter ihnen erkennen, sondern sich gerade durch jenen gemeinsamen Bezug als begründet ansehen. Dies wird dadurch bestätigt, dass eine solche Menschlichkeit und Ähnlichkeit eher eine Aufgabe als eine Natur ist, so wie die Wahrheit und das Sein mehr Ursprung als objektive Realität oder definierte Form sind: Wie es keine Wahrheit außerhalb der Interpretationen gibt, die man ihr gibt, so gibt es keine Menschlichkeit außerhalb der Ausübung, die jeder von uns mit ihr zum Leben

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bringt. Wie sich die Wahrheit nicht auf eine vorgeblich willkürliche und subjektive Interpretation reduzieren lässt, sondern Richter der Interpretationen ist, in denen sie ihren Sitz hat, so lässt sich die Menschlichkeit nicht auf den geschichtlichen Menschen und auf sein Werden zurückführen, sondern sie ist vielmehr Richter der Verwirklichungen, in denen sie jeweils Gestalt und Realität annimmt. Gegen die Entpersonalisierung und die Unpersönlichkeit gilt es, die Person und den Einzelnen zu verteidigen. Dabei gibt man aber keineswegs den gemeinen Menschenverstand auf. Er vereint an sich, ohne zu entpersönlichen. Er einigt, ohne zu vermassen. Er gehört allen, ohne erniedrigt zu werden. Gerade indem man sich auf den gemeinen Menschenverstand – ebenso wie auf die onto­logische Öffnung, die jeden ursprünglich qualifiziert – beruft, kann man den Grund für den Respekt vor allen, auch vor ­alten Weiblein und Unwissenden entdecken, der auf etwas mehr als bloßem Humanismus oder einer größtenteils sentimentalen Rhetorik beruht. Die Demütigen und Unwissenden werden von der aufklärerischen Rationalität unterdrückt, die, indem sie behauptet, dass die Vernunft in allen Menschen gleichermaßen zu finden ist, eine Bejahung von Freiheit und Gleichheit zu sein scheint; in Wirklichkeit ist sie jedoch Herrschaft der reinen Intelligenz und Vorherrschaft des Intellektuellen, wie man an der Anwendung dieser spezifisch philosophischen Verfolgungsart sieht, nämlich dem ständigen Rückgriff auf Ironie, das Lächerliche und den Spott, die typischen Waffen der Gelehrten und Intellektuellen. Am Ende ist es eine Hierarchie der reinen Intelligenz, die die fragwürdigste Aristokratie ist, da sie unweigerlich in eine Art Tyrannei mündet, die von Intellektuellen und Technikern ausgeübt wird. Diese für die Aufklärung typische »Grausamkeit« hat keinen besseren Ausweg gefunden als durch den rührseligen und sentimentalen Humanitarismus der Philanthropie oder die kränklich-süße und rhetorische Ethik der Sympathie. Es ist daher nicht verwunderlich, dass das Tragische der menschlichen Situation sich dieser Haltung entzieht, die, so deutlich Herz und Ver-

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stand trennend, sich zwischen Spott und Tränen, zwischen Hohn und Weinen, zwischen Ironie und Sentimentalität aufteilt. Zum Glück bringt der Appell an den gemeinen Menschenverstand alles wieder ins Gleichgewicht: Wie er Demütige und Unwissende respektiert, so zügelt er auch den Kult der Originalität und die Elefantiasis der Persönlichkeit. Das muss angemessen geschehen, denn es kann dazu kommen, dass derselbe Personalismus – indem er vergisst, dass die Wahrheit die Freiheit erst zur Freiheit macht – in einen Narzissmus der Selbstanbetung oder in die Willkürlichkeit eines Vitalismus gerät, so wie gewisse Formen eines intimistischen Spiritualismus und minderwertigen Existenzialismus zeigen, die jenes ontologische Verhältnis vergessen, das allein schon eine so schwierige Haltung wie die Demut eindringlich lehren kann, die ja immer droht, in Depression zu verfallen oder sich in Hochmut zu verkehren oder sich hinter Heuchelei zu verbergen.

10.  Die Identität von Theorie und Praxis kann nur ursprünglich sein Als Drittes wenden wir uns dem Problem des Verhältnisses von Theorie und Praxis zu. Der gemeine Menschenverstand bezeugt, dass die theoretische Tätigkeit in Bezug auf Wahrheit gegenüber der praktischen Tätigkeit nicht privilegiert ist, denn auch die Handlung hat ihre eigene ursprüngliche ontologische Dimension, die es ihr erlaubt, die Norm direkt aus ihrer Tiefe zu schöpfen, ohne Vermittlung des reflektierenden Denkens und noch viel weniger der Philosophie. Wenn es nicht so wäre, müsste man die eklatante Absurdität einräumen, dass ein ethisches Genie notwendigerweise ein Denker sei und dass die Existenz eines unwissenden Heiligen unmöglich sei. Das bedeutet, dass die Ebene des ontologischen Verhältnisses der Unterscheidung zwischen Theo­ rie und Praxis vorausgeht, und dass die grundlegende und wichtigste Unterscheidung immer die entscheidende Wahl ist, treu

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zur Wahrheit zu bleiben oder sie zu verraten, das Sein zu vernehmen  /  hören oder es zu vergessen, gleich ob das im Denken oder im Handeln geschieht. Dies ist wegen seiner möglichen politischen Konsequenzen von großer Bedeutung, vor allem heute, wo die Einheit von Theorie und Praxis aus vielen Perspektiven postuliert wird und man von den Beziehungen zwischen dem Intellektuellen und dem Politiker spricht. Wenn man nämlich von der ursprünglichen Identität von Theorie und Praxis absieht, die im ontologischen Verhältnis enthalten ist, neigt die Unterscheidung zwischen der einen und der anderen dazu, sich in einen Gegensatz zu versteifen, der nur durch eine wechselseitigen Unterordnung aufzulösen ist. Man hat dann einerseits die Vorstellung, dass das Denken der Handlung vorausgeht, und andererseits, dass die Handlung dem Denken vorausgeht. Im ersten Fall wird Praxis auf die bloße und einfache »Anwendung« einer vorausgesetzten Theorie reduziert, im zweiten Fall wird die Theorie zum bloßen Instrument der Praxis degradiert. Hier liegt der Ursprung zweier Haltungen, die in der heutigen Gesellschaft immer deutlicher und unverwechselbarer werden: auf der einen Seite die Intellektuellen, die ihre Aufgabe in dem Anspruch begründet sehen, den Politikern Gesetze geben zu müssen, auf der anderen Seite die Politiker, die sich der Intellektuellen auf realpolitische Weise als ihre eigenen Instrumente bedienen. Beide vergessen, dass auf jedem Gebiet die Aufgabe eines jeden darin besteht, die Instanz der Wahrheit in jeder menschlichen Tätigkeit geltend zu machen.

11.  Das tiefe Zusammenwirken von gemeinem Menschenverstand und Philosophie Wie ist nun das Verhältnis des gemeinen Menschenverstandes und der Philosophie? Wir haben zunächst die Schwäche des gemeinen Menschenverstandes gesehen: seine unzulässige Vereinfachung, seine Bonhomie, seine Problemlosigkeit, seine Fadheit

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und seine Anmaßung. Daraus hat sich die Unmöglichkeit ergeben, den gemeinen Menschenverstand als Vermögen der Philosophie aufzufassen, die sich mit einer entschiedenen Überlegenheit über ihn erhebt, und sei es nur deshalb, weil die Philosophie den gemeinen Menschenverstand zu einem ihrer Probleme macht. Sobald aber der gemeine Menschenverstand jener radikalen Problematisierung unterworfen wurde, aus der die Philosophie besteht, hat er sich plötzlich als das wahre und tiefe »Objekt« der Philosophie offenbart, und zwar als jene ontologische Dimension, die allen menschlichen Tätigkeiten eigen ist und die in begriffliche und spekulative Termini zu übersetzen, Aufgabe der Philosophie ist. Es handelt sich also darum, eine nicht vereinfachende und »all­tagsredende«, sondern eine umfassende menschliche Auffassung des gemeinen Menschenverstandes zu verteidigen. Denn das ontologische Denken, das allen menschlichen Tätigkeiten zugrunde liegt, ist für jeden erreichbar, wenn auch nicht in seiner philosophischen Formulierung; selbst dann, wenn das viel einfachere und simplifizierende technische Denken dazu neigt, seine Anwesenheit vergessen zu lassen und seine potentielle Kraft zu unterdrücken. Die Schlussfolgerung ist, dass der gemeine Menschenverstand ohne Philosophie degeneriert und dabei zu einem einfachen Gemeinplatz werden kann, während er sich mittels der Philosophie geradezu entwickeln kann, indem er sich in seiner echten und tiefen Natur als Vermittler zwischen Wahrheit und Zeit erweist, als Quelle der Einheit von Denken und Handeln, und dabei als ursprüngliche ontologische Öffnung des Menschen zum Tragen kommt. Man kann also sagen, dass gemeiner Menschenverstand und philosophisches Denken einander begegnen und zusammenwirken, dass das eine nicht ohne das andere bestehen kann und dass das höchste philosophische Denken den tiefsten gemeinen Menschenverstand bestätigt. Es ist notwendig, so Pascal, dass sich die beiden Extreme berühren: Nachdem die Philosophen alles, was Menschen wissen können, durchdacht haben, kehren

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sie auf gebildete Weise zu jener belehrten Unwissenheit zurück, von der sie ausgegangen waren. Das Wesentliche dabei ist, nicht auf halbem Wege stehen zu bleiben, und zwar bei jener Halbwissenschaft, die immer mehr an Popularität gewinnt, weil sie in den Prozess der Vermassung hineinpasst, der unsere Zeit kennzeichnet. Es ist noch einmal mit Pascal zu sagen: »Diejenigen zwischen den beiden Extremen, die aus der natürlichen Unwissenheit hervorgetreten sind und nicht zu der anderen gelangen konnten, haben eine oberflächliche Kenntnis dieser ausreichenden Wissenschaft und spielen die Klugen. Diese bringen die Welt in Aufruhr und urteilen über alles schlecht«.44

44 Pascal, Gedanken, 83 / 327, 69.

PERSONENREGISTER

Adorno, Theodor W.  150 Augustinus v. Hippo  103, 107, 152 Axelos, Kostas  150, 152

Dionysius Areopagita (Pseudo)  32, 200 Dostojewski, Fjodor M.  163  f., 170, 230

Baader, Franz von  60 Bagolini, Luigi  230 Barion, Jakob  151 Barth, Heinrich  150 Barth, Karl  173 Bell, Daniel  150 Bergson, Henri  36 Bloch, Ernst  150–152 Bruno, Giordano  270

Emge, Carl August  150 Engels, Friedrich  150 Epicharmos v. Kos  153

Castelli, Enrico  270 Cicero, Marcus Tullius  212 Cilento, Vincenzo  36 Colli, Giorgo  153  f. Cotta, Sergio  12 Croce, Benedetto  165, 246 Cusanus, Nicolaus  37, 259 Del Noce, Augusto  12, 221 Descartes, René  261 Destutt de Tracy, Antoine Louis Claude  110, 112 Diels, Hermann  23, 25, 36 Dilthey, Wilhelm  10, 246 Diogenes Laertios  25

Feuerbach, Ludwig  231 Fichte, Johann Gottlieb  10, 266 Fuhrmans, Hermann  13, 107 Gabel, Joseph  151, 153 Gadamer, Hans-Georg  12 Galilei, Galileo  270 Geiger, Theodor  150 Giannini, G.  230 Guzzo, Augusto  59 Habermas, Jürgen  151 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  9, 11, 199–201, 216, 231, 236, 245  f., 253, 259, 267, 274  f., 277 Heidegger, Martin  5–7, 10, 36  f., 46, 56, 59, 75, 99, 107, 138, 199  f., 246 Heraklit 36

290

Personenregister

Hersch, Jeanne  150 Horkheimer, Max  150 Hübscher, Arthur  257, 259 Husserl, Edmund  260

Montaigne, Michel Eyquem de  263 Montinari, Mazzino  153  f. Muñoz, Alonso A.  230

Jaspers, Karl  10, 246, 269  f. Johannes (Evangelist)  36

Napoleon Bonaparte  113 Nicoletti, E.  230 Nietzsche, Friedrich  6, 40, 128, 137  f., 153  f., 201, 237, 246

Kant, Immanuel  245, 261, 264, 266 Kelsen, Hans  129, 153 Kierkegaard, Sören  47, 60, 200  f., 231, 237, 246 Klibansky, Raimund  12 Korsch, Karl  150  f. Lane, Robert E.  151 Lauth, Reinhard  151 Lazzarini, R.  230 Lenk, Kurt  150 Lieber, Hans-Joachim  150  f. Lotz, Johann Baptist  230 Lukács, Georg  231 Mannheim, Karl  111, 114, 129, 150  f. Manzoni, Alessandro  263 Marcel, Gabriel  59  f. Marx, Karl  111–114, 122, 129– 135, 141–143, 150–153, 200, 211, 213, 221–225, 231, 237, 244, 246, 274, 277 Merton, Robert K.  150 Milton, John  99  f.

Paulus v. Tarsus  32 Pareto, Vilfredo  129, 150, 153 Parmenides von Elea  6, 32 Pascal, Blaise  75, 107, 168, 170, 230, 263, 281, 286  f. Piemontese, F.  230 Platen, August von  13 Platon  7, 13, 32, 212, 215, 218, 229 Plessner, Helmut  150 Plotinus  24, 36  f., 204, 231 Plutarch  23, 36 Prini, P.  230 Rigobello, A.  230 Roig Gironella, Joan  230 Scheler, Max  150 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph  7, 13, 31, 37, 107, 199–201, 204, 231, 253 Schopenhauer, Arthur  257, 259 Schröter, Manfred  13, 31, 204 Sciacca, Michele Federico  12

Personenregister

291

Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, Earl of  257, 264 Stark, Werner  150 Stefanini, Luigi  106 Stepun, Fedor  230

Vattimo, Gianni  154 Vico, Giambattista  134  f., 160, 168, 187, 230, 276–278 Voltaire, François-Marie Arouet  128

Tilliette, Xavier  270 Topitsch, Ernst  150, 153

Wittgenstein, Ludwig  260