Weimaraner Weltbewohner: Zur Genese von Goethes Begriff >Weltliteratur< [Reprint 2012 ed.] 9783110953503, 9783484630291

Goethe's concept of Weltliteratur ('world literature') made its first appearance in his periodical Ȇber

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German Pages 293 [296] Year 2002

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Table of contents :
Einleitung
TEIL I: KONTEXTE
Kapitel 1. Die Vielfalt der Welten in der Kulturanthropologie der Aufklärung
Kapitel 2. Abgedrungene Weltgemeinschaft
Kapitel 3. National- und Weltkultur bei Herder und Wilhelm v. Humboldt
TEIL II: GOETHE
Kapitel 1. Weltliterarische Gedächtnisbildung: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten
Kapitel 2. Liebliche Doppelschrift: West-östlicher Divan
Kapitel 3. Deutsche Welterleuchtung oder globaler Ideenhandel?
Literaturverzeichnis
Siglen
Weitere Quellen
Sonstige zitierte Literatur
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Weimaraner Weltbewohner: Zur Genese von Goethes Begriff >Weltliteratur< [Reprint 2012 ed.]
 9783110953503, 9783484630291

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CÒMMUNICATlC )

Band 29

Studien zur europäischen Literatur- und Kulturgeschichte Herausgegeben von Fritz Nies und Wilhelm Voßkamp unter Mitwirkung von Yves Chevrel und Reinhart Koselleck

Manfred Koch

Weimaraner Weltbewohner Zur Genese von Goethes Begriff >Weltliteratur
Bicentenaire< 148 - Konzeptualisierung des revolutionären Bruchs II: Goethes >Campagne in Frankreich 154 — Das Archiv des alten Erzählers: Die Unterhaltungen deutscher Ausgewandertem 159 - Das Gleichgewicht der Kräfte 164 - Der Prokurator oder die neue Penelope 168 - Tempel und Kanal: das Märchen 171 Kapitel 2 Liebliche Doppelschrift: West-östlicher Divan Das Jahr der Mischungen 177 - Die Braven, die schlafen 180 - Stetes Beziehen 1 8 7 - D a s Land der Dichtung (>Phänomen< und >LieblichesNoten und Abhandlungen 199 - Witzige Weltliteratur: Jean Paul 206 - Weltsprache der modernen Poesie: Goethe 211 - Literarische Weltgeselligkeit 216 - Gewalt und Genuß 219 - Orientalischer Klassizismus 225

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Kapitel 3 Deutsche Welterleuchtung oder globaler Ideenhandel? 231 Weltliterarische Publizistik: >Über Kunst und Altertum< 231 - Europas Herz 233 - Literarisches Weltgeld 237 - Deutsch-französische Kulturtherapie 243 - Konkurrenz und Genuß 248 - Weltliterarische Zivilisierung Deutschlands 250 - Veloziferische Zustände 252 - Das Rettende in der Gefahr 257 - Teufelswerk und guter Wille 262 — Tempel und Kanal: Taust II< 267 Literaturverzeichnis

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Siglen

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Weitere Quellen

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Sonstige zitierte Literatur

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Einleitung

I. Das Goethejahr 1999, mit dem ein Jahrtausend zu Ende ging, fiel in eine Zeit aufgeregtester Diskussion über »Globalisierung«. Goethes Begriff der »Weltliteratur« gewann in diesem Zusammenhang neue Aktualität. In der Globalisierungsdebatte wirkt der Hinweis auf Goethe jedoch meist hilflos nostalgisch. Weltliteratur als Programm kultureller Völkerverständigung war - so der Tenor vieler Interpretationen - schon zu Goethes Lebzeiten illusionär. Im ausgehenden 20. Jahrhundert, das zwei Weltkriege und jahrzehntelangen Kalten Krieg erlebt hat, um mit der Zäsur des Jahres 1989 in eine Periode des permanenten Bürgerkriegs 1 und des fundamentalistischen Kulturkampfs 2 einzutreten, wirken die Hoffnungen des Weisen von Weimar besonders verstaubt. Der weltliterarische Austausch innerhalb einer Menschheit, die sich unendlich über sich selbst informieren kann, hat in dieser Periode tatsächlich gewaltige Ausmaße angenommen. Mit dem rasanten Wachstum der »Fazilitäten« der internationalen Kommunikation 3 hat die Verständigungsfähigkeit zwischen den Völkern aber offenbar nicht Schritt gehalten. Selbst Goethes ernüchterte Zuversicht, die Nationen könnten über die Brücke der Literatur »einander gewahr werden, sich begreifen, und wenn sie sich wechselseitig nicht lieben mögen, sich einander wenigstens dulden lernen« (FA 22, 491), scheint Schnee von gestern. Das »einander gewahr werden« ist im Zeitalter planetarischer Dauerinformation und massiver Migrationsbewegungen kaum mehr vermeidbar. Mündet es nicht in Uberdruß und - bei direkter Konfrontation - in Feindseligkeit, resultiert unter heutigen Bedingungen daraus eher allgemeine Gleichgültigkeit als wechselseitiges Verstehen. >Die Völker< lesen einander nicht, schon gar nicht in Form ihrer anspruchsvollen Literatur. Sie nehmen allenfalls flüchtig Notiz voneinander im modernen Nachrichtenuniversum, das die Fremde vor allem als ein Gewimmel von dreißigsekündigen Naturkatastrophen, Bürgerkriegen und Regierungswechseln vergegenwärtigt. Bei einem großzügig erweiterten Kulturbegriff nimmt die Zahl der am geistigen Austausch Beteiligten zwar sprunghaft zu. Dann stellt sich aber die Frage,

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Vgl. Enzensberger (1993). So jedenfalls die These von Huntington (1996). »Junge Leute werden viel zu früh aufgeregt und dann im Zeitstrudel fortgerissen; Reichtum und Schnelligkeit ist was die Welt bewundert und womach jeder strebt; Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und alle mögliche Fazilitäten der Kommunikation sind es worauf die gebildete Welt ausgeht [...].« (FA 37, 277; an Zelter, Juni 1825).

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Einleitung

was für ein >Geist< es ist, der dort ausgetauscht wird, und ob ihm noch irgendetwas Fremdes anhaftet: den Ankauf von zwanzig brasilianischen Telenovelas durch deutsche Privatsender wird kaum jemand als interkulturelles Ereignis feiern. Weltliteratur als Medium internationaler Verständigung scheint ein Widerspruch in sich. Ist es Literatur, dann verständigt sich nicht die Welt, sondern ein begrenzter Kreis interessierter Leser in begrenzten sozialen Sektoren. Was hingegen das Weltpublikum wirklich massenhaft zur Kenntnis nimmt, ist wohl weder Literatur noch erkennbarer Ausdruck einer individuellen Kultur. Goethes Begriff, so scheint es, hat ausgedient, war schon in seiner Geburtsstunde nicht mehr als der Traum von einer Weltgeistesrepublik der Dichter, die eine internationale Gemeinschaft zu stiften vermag. Uber Weltliteratur spricht man deshalb am besten im Gestus des melancholischen Rückblicks auf ein längst vergangenes, utopiefreudigeres Zeitalter: Wir sollten Abschied nehmen von dem Begriff einer Weltliteratur, wie Goethe ihn geprägt hat. D e n n die Geschichte hat längst von ihm Abschied genommen, hat ihn widerlegt. — Und früh schon meldeten sich Zweifel an seiner idealistischen Tinktur: schon im Jahre 1842 bemängelt Theodor M ü n d t , streitbarer Jungdeutscher, Publizist u n d Historiker und also Literat: >Der Gedanke der Weltliteratur, der besonders durch Goethe eine Zeitlang aufgekommen und mit Vorliebe gepflegt worden war, ist mehr ein schönes Wort oder ein großartiger Traum als ein wahrer Gedanke, der die Möglichkeit seiner Verwirklichung in sich trüge, zu nennen gewesen.^

II. Weltliteratur ist wortgeschichtlich eine Oppositionsbildung zu >NationalliteraturWelt-Hausfrömmigkeit - Weltfrömmigkeit
Weltliteraturwissenschaft< geriert u n d in Wahrheit entweder ausschließlich europäische Literatur vergleicht oder >exotische< Literaturen europäischen Rastern unterwirft, unter der Anklage des »européocentrisme«. 35 Z u r W a r n u n g vor der technisch standardisierten >One World< gesellt sich

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Rüdiger (1972), 39. Rüdiger (1966), 2. Weswegen manche Komparatisten dafür plädierten, den archaischen Begriff >Nationalliteratur< fallenzulassen und stattdessen von >Einzelliteraturen< zu reden. In diesem Zusammenhang wurde gern auf Friedrich Schlegels Warnung im Studium-AaiszXL verwiesen: »Wenn die nationellen Teile der modernen Poesie, aus ihrem Zusammenhang gerissen, und als einzelne fur sich bestehende Ganze betrachtet werden, so sind sie unerklärlich.« (KSA 1, 228) Etiemble (1963). Die Warnung vor Eurozentrismus ist im übrigen so alt wie die Komparatistik selbst. August Wilhelm Schlegel, einer ihrer Gründerväter, beklagt in seinen Berliner Vorlesungen das Mißverhältnis zwischen dem gewaltig gewachsenen Wissen über fremde

Einleitung

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nun die vor der kulturellen Homogenisierung durch die globale Dominanz der abendländischen Rationalität. Wie aber dem Eurozentrismus entrinnen und wirklich der Literatur der Welt gerecht werden, will man nicht eine »Apoplexie infolge Überfullung des geistigen Verdauungsapparates« riskieren?36 Mit Etiemble konstatiert Rüdiger eine schier unlösbare Aporie der Gegenwartskomparatistik. In dem Augenblick, da dank der modernen Kommunikationsmittel die Autoren tatsächlich alle miteinander reden und voneinander lernen können, da die Leser und Philologen problemlos Texte aus den verschiedensten Kulturen beziehen und miteinander vergleichen können, kippt das Ganze um in eine neue Unübersichtlichkeit, die auch den aufrichtigsten Verständigungswillen erstickt: »C'est une des contradictions du monde où nous vivons, où vivront nos étudiants: nous sommes à la fois comblés d'informations, et débordés par l'excès des informations. De sorte qu'au moment précis où la Weltliteratur devient enfin possible, elle devient du même coup quasiment impossible.«37 Dennoch hält Rüdiger tapfer fest am Projekt einer wirklich umfassenden Vergleichenden Literaturwissenschaft und baut auf die internationale Kooperation der Gelehrten. Das sei, so schließt der Artikel, immerhin schon eine der wichtigsten Implikationen von Goethes Begriff gewesen.38 Ein Resümee der Weltliteratur-Diskussion seit 1945 gibt am Ende dieser zweiten Phase der 1985 (ebenfalls in der Arcadia) erschienene Aufsatz von Horst Steinmetz Weltliteratur. Umriß eines literaturgeschichtlichen Konzepts. Wie die Akzente sich verschoben haben, zeigt allein die Tatsache, daß Fritz Strich jetzt nurmehr als Adressat einer Weltliteratur-Festschrift erscheint.39 »Um die >Humanisierung< der Welt und der Beziehungen der Völker und Nationen untereinander«40 kann es laut Steinmetz bei diesem Begriff nicht mehr gehen. Goethe mag dergleichen im Sinn gehabt haben (hier hält sich Steinmetz auffällig bedeckt); heute, »mit der Kenntnis der historisch-gesellschaftlichen Entwicklungen, die sich seit dem Ende des [...] XVIIL Jahrhunderts voll-

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Kulturen und der Unfähigkeit, sich wirklich verstehend auf sie einzulassen: »Der historische Horizont hat sich auch erweitert: wir haben die Geschichten von Nationen in andern Welttheilen kennen gelernt, von denen die Alten nichts wußten; wir haben sie zum Theil mit den Europäischen Begebenheiten in Beziehung gesetzt. [...] Wie weit sind wir aber im wahren Verständniß jener Geschichten gekommen? Wie wird meistens alles ganz subjectiv, von dem Standpunkte Europäischer Cultur aus betrachtet?« (AWSV, Bd. 1, 512). Rüdiger (1972), 38. Etiemble (1974), 32. Rüdiger (1972), 38. Hier berührt sich ein rein quantitativer Begriff von Weltliteratur (>die gesamte Literatur der ganzen WeltNational-BesonderheitenDenkungsarten< herausarbeitete. Kap. 2 gibt einen Überblick über die (wie man etwas modisch sagen könnte) erste Globalisierungsdiskussion, die im Zeitalter der Spätaufklärung geführt wurde. Daß die Welt täglich kleiner wird, die Nationen zusammenrücken, die Menschheit vereinigter (aber nicht unbedingt einiger) wird, ist ein verbreiteter Befund schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (auch daß diese Verstrickungsprozesse mit wachsender Geschwindigkeit ablaufen, wird bereits geraume Zeit vor Beginn der Industrialisierung festgestellt65). Die Frage, ob die zunehmende Weltvernetzung als unerquickliches Fatum bloß hinzunehmen ist oder ob sie die Aussicht auf eine weltweit befriedete Menschheit eröffnet, ist einer der zentralen Aspekte des Humanitätsbegriffs um 1800. Das Kapitel verfolgt an repräsentativen Autoren die jeweilige Gewichtung von historischer Wahrnehmung und moralischem Urteil und lenkt die Aufmerksamkeit dabei besonders auf die Metaphorik des »geistigen Handelsverkehrs^ Da verwirrend viele Stimmen zitiert werden, um so etwas wie die Globalisierungserfahrung im ausgehenden 18. Jahrhundert zu illustrieren, habe ich alle Argumentationslinien auf einen Text hin gebündelt, der - so meine These - aus dem zeitgenössischen Schrifttum das plausibelste theoretische Pendant zu Goethes Weltliteraturidee abgibt: Kants Traktat Zum ewigen Frieden. Wenn Goethe vom »ewigen Frieden der Künste« und ihrer friedensstiftenden Wirkung handelt, geschieht dies in einer ähnlichen Haltung skeptischer Zuversicht wie bei Kant. Kants Friedensschrift wie Goethes Weltliteratur-Entwürfe verfolgt das hartnäckige Mißverständnis, es handle sich um die treuherzigen utopischen Vermächtnisse zweier bedeutender Greise. Beide Konzepte lassen sich indessen rekonstruieren als pragmatische Vorschläge, in denen es um die humane Bändigung einer geschichtlichen Dynamik geht, die in beider Augen ein hohes zerstörerisches Potential aufweist. Kap. 3 behandelt den engeren Weimarer Kontext. Bis weit in die neunziger Jahre hinein ist Herder fur Goethe die wichtigste Instanz in Sachen Kulturphilosophie; ab

65

Vgl. Koselleck ( 2 0 0 0 ) , 157f. Die Kultur der Neuzeit wird eine Kultur unaufhörlicher Beschleunigung sein: Dieser Gedanke findet sich bereits bei Montaigne, Bacon und Leibniz (vgl. die Belege in G G b 2, 4 0 2 und bei Stierle ( 1 9 9 8 ) , 67f.) und wird im Fortschrittsdiskurs des 18. Jahrhunderts schon zur vertrauten Formel. Besondere Prägnanz erhält er jedoch erst bei Rousseau, der die Dynamik der ständigen Überbietung, der hechelnden Zeitverkürzung und der unbändigen Produktvervielfältigung erstmals rein als solche zum Strukturgesetz der modernen Welt erklärt.

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Einleitung

1800 etwa rückt Wilhelm von Humboldt als Kunst- und Sprachtheoretiker, aber auch als Kulturkorrespondent aus Frankreich, Spanien und Italien in den Vordergrund. Weder Herder noch Humboldt verwenden das Wort >WeltliteraturÖfifnung nach Ostern, der Gewinn einer >Weltperspektive< durch das Überschreiten des europäischen Kulturraums oder gar eine vermeintliche »gegenklassische Wandlung« des Z)/W»-Dichters heraufbeschworen wird. Der Divan ist, das soll dieses Kapitel zeigen, zunächst eine Theorie moderner Dichtung (auch und gerade in der praktischen Form poeto logischer Gedichte). Den Noten und Abhandlungen läßt sich entnehmen, warum und in welcher Weise moderne Dichtung Weltliteratur sein muß.68 Der Divan ist sodann eine Theorie ästhetischer Erfah-

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68

Das Wort >Nationalliteratur< hat Herder im Deutschen eingeführt; SWS 2, 118. Schon Fritz Strich hatte die Französische Revolution als »Urquelle« des Weltliteraturkonzepts bezeichnet; Strich (1957), 49. Darüber dürfte - trotz anderer Forschungsvorschläge fiir den point de départ (»seit den Divan-JahrenErlebnis des Ostens< reden. Weit entfernt davon, eine gegenklassische Umkehr zu sein, erweist sich Goethes Hinwendung zum Orient dann als Universalisierung eines Klassizismus, der von den Anfängen bis in die Jahre der Wortfindung das Weltliteratur-Konzept prägt. Wenn interkulturelle Unterhaltung eine Form von Erhaltung

nicht

des Alten im Neuen ist, hat sie in Goethes Augen keine

Substanz. Das Schlußkapitel befaßt sich endlich mit der Zeit, in der Goethe das Wort erstmals verwendet. Der Akzent liegt hier auf Weltliteratur

als publizistischem

Programm, Vor we-

nigen Jahren hat die Frankfurter Goethe-Ausgabe eine integrale Edition der Zeitschrift Uber Kunst und Altertum

vorgelegt (FA 2 0 - 2 2 ) . Seitdem ist klar geworden, daß strengge-

nommen nicht mehr einfach von >verstreuten Äußerungen Goethes zum Thema Weltliteratur gesprochen werden kann. Goethe hat seine Äußerungen in einem >WerkWeltliteratur und deutscher Übersetzungsenthusiasmus«. M i t der unvermeidlichen (und natürlich zuvor schon erkenntnisleitenden) Frage nach der Aktualität von Goethes Weltliteratur endet das Kapitel. Der Titel der Buchs ist ein Zitat aus einem Altersgedicht Goethes: »Gott grüß' euch, Brüder, / Sämtliche O n e r und Aner! / Ich bin Weltbewohner, / Bin Weimaraner [...]« (FA 2 , 6 6 1 ) . Die schöne rhythmische Figur und das poetische Stäben haben mich

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71

Curtius (1984), 55. Das Prädikat >Werk< fur Uber Kunst und Altertum ist sicher geeignet, den publizistischen Zusammenhang der Weltliteratur-Äußerungen bewußt zu machen. Da es sich aber um einen publizistischen (d.h. hochgradig dispersiven) Zusammenhang handelt, sollte man damit vorsichtig umgehen (was auch hier mit Gänsefüßchen angedeutet ist; vgl. Hendrik Birus im Kommentar FA 20, 662). Natürlich gibt es die Briefe (Zelter), die Gespräche mit Eckermann, Müller, Soret u.a., in denen überall auch Wichtiges zum Thema zu finden ist. Die Perspektive dieser Äußerungen ist aber durch Über Kunst und Altertum vorgegeben und auf die Zeitschrift als Goethes weltliterarisches Organ ausgerichtet.

20

Einleitung

bewogen, die zwei Begriffe zum Titel zu küren, auch wenn damit das Mißverständnis provoziert wird, die Arbeit handle von der weltweiten Verbreitung einer Hunderasse. 72 Sollte der Untertitel das Buch nicht vor dem Eingehen in kynologische Bibliographien schützen, bitte ich die Benutzer schon jetzt um Verzeihung. Mein Dank gilt allen, die am Zustandekommen dieses Buchs - einer leicht überarbeiteten Fassung meiner Gießener Habilitationsschrift vom Frühjahr 2001 - mitgewirkt haben. Gerhard Kurz hat seine wahrhaft mäandernde Entstehung über Jahre hinweg mit großer Geduld und bewundernswertem Engagement begleitet. Was ich ihm an Anregungen, aber auch an heilsamer Kritik (bis hin zu Notbremsungen) verdanke, läßt sich für mich im einzelnen fast nicht mehr rekapitulieren, weil vieles, was ich von ihm gelernt habe, mir nun ganz selbstverständlich ist. Wolfgang Braungart blieb auch nach seinem Weggang aus Gießen der (beinahe) tägliche Gesprächspartner, der zahlreiche Entwürfe gelesen, kommentiert und in teilweise herrlich kontroversen Diskussionen mit mir durchgesprochen hat. Günter Oesterle, dessen 1991 erschienener Aufsatz über Wilhelm von Humboldt als Paris-Korrespondent Goethes einen der ersten Anstöße zu dieser Arbeit gab, blieb die ganzen neunziger Jahre hindurch ein zuverlässiger Ideenlieferant, vor allem aber auch ein ungemein verständnisvoller und aufmunternder Gesprächspartner. Danken möchte ich sodann allen Freunden und Kollegen, die mir - sei es in Gesprächen oder Briefen, sei es in Vortragsdiskussionen oder Gutachten - geholfen haben, meine Überlegungen zu präzisieren oder gegebenenfalls zu korrigieren: Bernhard Böschenstein, Renate Böschenstein, Raimund Borgmeier, Jürgen Brummack, Gabriella Catalano, Manfred Frank, Gerhard R. Kaiser, Christine Lubkoll, Ute Oelmann, Harald Schmidt, Martin Seel, Conrad Wiedemann. Der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften danke ich für einen großzügigen Druckkostenzuschuß, Fritz Nies und Wilhelm Voßkamp für die Aufnahme des Bandes in ihre Reihe >Communicatioirreduziblen Vielfalt« oder der inkommensurablen >Alterität< zu machen. Der Gegenbegriff zu »variety« ist »uniformity«, nicht »unity«. Herder verteidigt, so läßt sich Berlin verstehen, das Recht jeder Kultur auf Entfaltung der ihr eigentümlichen Lebensweisen und Lebensentwürfe gegen die Ansprüche einer monolithischen Vernunft, die die eine, schlechthin gültige Ordnung der Welt begriffen und als allgemeinverbindlichen Maßstab anerkannt haben will. Die Argumente für diese moralische Stellungnahme bezieht er aus seiner Sprachphilosophie. Herder propagiert als einer der ersten die Wende von der unitären Vernunft der metaphysischen Tradition, die die Autorität einer objektiv-unverbrüchlichen Seinsstruktur in Anspruch nahm, zu der besonderen Vernunft, die den Sprachen kultureller Gemeinschaften jeweils innewohnt. Diese Zersplitterung der einen Welt des überkommenen Denkens in die vielen Welten, die sich im symbolischen Netzwerk unterschiedlicher Sprachen ausdifferenzieren, wird dennoch von einem Einheitsgedanken übergriffen. Wie Herder fiir das Individuum die unreglementierte Entfaltung aller Bewußtseinsvollzüge im Hinblick auf ihr Zusammenspiel im »ganzen Menschen« fordert, so liegt ihm als Kulturphilosoph an den kommunikativen Übergängen, die die Weltartikulationen der verschiedenen Völker zu einem Universum des Gesprächs zusammenschließen. Die »Stimmen der Völker« sind deshalb im Grunde doch eine »Stimme der Völker« oder eben die Einheit des Menschheitschors in der

1

Berlin (1992), 176.

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Die Vielfalt der Welten in der Kulturanthropologie der Aufklärung

Vielfalt seiner Einzelstimmen.2 Das gilt sowohl auf diachroner als auf synchroner Ebene: die zahlreichen kulturellen Formationen der Vergangenheit sind aufgehoben in der Einheit der Menschheitsgeschichte, die Diversität der gegenwärtigen Weltkulturen und -sprachen sind der facettenreiche Ausdruck jener grundlegenden Produktivität, die den Menschen sein Leben als sprachbegabten Schöpfer von Kultur reproduzieren läßt. Herder, der »champion« der Pluralität, ist zugleich einer der intellektuellen Väter jener großen Begriffs-Singulare, die die Diskussion der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts beherrschen: die Geschichte, die Kultur, die Sprache, die Menschheit. Die Einheit der Welt nicht mehr als objektiv vorgegebene Seinsordnung, sondern als Totalität verschiedener Weltperspektiven zu begreifen, ist ein Gedanke, der in der europäischen Philosophie mit Leibniz' Monadenlehre auftaucht. Die Welt wird hier erstmals zum Resultat einer Verbindung individueller Weltansichten. Im Übergang von der alten Voraussetzung eines invarianten göttlichen Ordo als einheitsstiftendem Prinzip zum neuen Verständnis einer dynamischen Verganzung von Einzelwelten zeigt Leibniz' Philosophie ein charakteristisches Schwanken: der oft beobachtete Widerstreit zwischen einem statisch-geschlossenen und einem teleologisch-offenen Weltbild (>Optimismus< vs. >MeliorismusWelt< ist geschehende Synthesis und doch auch noch unveränderliche, wohlstrukturierte Ganzheit. Die prästabilierte Harmonie sichert immer schon die gelingende Totalisierung der Einzelperspektiven, Gott selbst hält das Bündel der disparaten Weltentwürfe in seiner ordnenden Hand zusammen. In der weiteren Entwicklung wird diese Harmonisierungsleistung zunehmend den geschichtlich handelnden Menschen selbst auferlegt. Die Einheit der Welt wird zum Interaktionsprozeß ohne die Gewährleistungen eines moderierenden Gottes. >Welt< resultiert dauernd neu aus einem Geschehen der Vereinigung auseinandergehender Verständnisse und Praktiken. »Die Welt ist Resultat eines unendlichen Einverständnisses«, heißt es schließlich bei Novalis. (NOV III, 662)

Dezentrierte Vernunft: Die Anerkennung einer perspektivisch aufgefächerten Welt auf der Ebene der verschiedenen Kulturen steht in Zusammenhang mit einer internen Aufspaltung, die der Vernunftbegriff in der Philosophie des 18. Jahrhunderts erleidet. Kulturelle Diversität

2

3

Der Titel »Stimmen der Völker in Liedern«, den Johannes v. Müller 1807 seiner Ausgabe von Herders Volksliedern gab, geht insofern an Herders Intention vorbei; vgl U. Gaiers Kommentar in H W 3, 876. Zum einen hat Gott die beste aller denkbaren Synthesen bereits realisiert, zum andern eignet den Monaden ein Perfektibilitätsdrang, der sie diese optimale Synthese aus ihren inwendigen Kräften erst herstellen läßt. Vgl. Kondylis (1986), 580AF. Die Leibniz-Rezeption der Spätaufklärung bringt Kondylis auf die zutreffende Formel: »Der Gedanke der Harmonie wird an sich beibehalten, zugleich aber in die Sprache der dynamischen Vereinigung übersetzt.« Ebd., 587.

Dezentrierte Vernunft

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kann als theoretisches Konzept erst ausformuliert werden, wenn ein Bewußtsein davon besteht, daß es prinzipiell verschiedene Weltzugänge gibt, die weder eindeutig hierarchisiert noch ineinander aufgelöst werden können. Jürgen Habermas spricht - in Anlehnung an Jean Piaget - von einer »Dezentrierung« des Weltverständnisses,4 die sich im Innern der europäischen Gesellschaften mit dem Eintritt in die entscheidende Phase des Modernisierungsprozesses ergibt. Habermas greift unter diesem Titel Max Webers Theorem einer Ausdifferenzierung eigengesetzlicher kultureller »Wertsphären« auf,5 die charakteristisch für den westeuropäischen Typus gesellschaftlicher Rationalisierung sei. Verfügen traditionale Gesellschaften demnach über ein einheitliches Weltbild, das erlaubt, sowohl die Beziehung zur äußeren Natur wie das gemeinsame Leben im jeweiligen Kollektiv wie auch die subjektiven Erlebnisse und Ansprüche in gleicher Weise auf einen Fundus letztgültiger, werthaltiger religiöser Überzeugungen zurückzuführen (Gott ist Schöpfer der Natur und normative Instanz für die Vorstellung einer nichtigen' Lebensführung sowohl der Gruppe wie des Einzelnen im Umgang mit seinen Gefühlen), so sind für Mitglieder moderner Gesellschaften die wissenschaftlich-technische Welt der Naturbeherrschung, die soziale Welt des Miteinander- und die subjektive Welt des Selbstseins definitiv auseinandergetreten. Das moderne Bewußtsein bewegt sich zwischen mehreren »Sphären« (Weber), die substantiell nicht in einer übergreifenden Vernünftigkeit aufzuheben sind. Die kognitiv-objektivierende Einstellung, die wir als wissenschaftliche Verstandeswesen einnehmen, divergiert sowohl von der sozialen Haltung, die uns als moralische Wesen handeln läßt, wie von dem Umgang mit spontaner Selbsterfahrung, die wir als Gefühlswesen machen. 6 Außen-, Sozial- und Innenwelt sind als Bereiche derart voneinander geschieden, daß Sätze, die wir über objektive Sachverhalte äußern, ihrer immanenten Logik nach in strikter Trennung von Sätzen, die Vorgaben für das gemeinsame Leben machen, und Sätzen über unsere innere Verfassung untersucht werden müssen. Systematisch geschieht dies erstmals in Kants drei großen Kritiken. Jede behandelt jeweils eine dieser Sphären in ihrer Autonomie und spricht damit am Ende des Jahrhunderts das abschließende Urteil über die eine Vernunft der alten Metaphysik (>Kritik< heißt ja unterscheidendes Einweisen jeder Vernunft in den jeweiligen Zuständigkeitsbereich und ist damit v.a. auch ein In-die-Schranken-Weisen gegen totalisierende Anmaßungen 7 ).

4 5 6

7

Habermas (1988), Bd. 1, 106f. Vgl. ebd. das Max-Weber-Kapitel, 205-366. Auch bei Weber lassen sich drei grundlegende strukturelle Handlungsorientierungen unterscheiden: zweckrationale Erfolgsorientierung, Wertorientierung und afFektuelle Orientierung; mit diesem Dreier-Modell konkurrieren allerdings andere, höherzahlige; vgl. Schluchter (1991), Bd. 1, 140 ff. Da in den Titeln >Kritik der reinen/praktischen Vernunft/Urteilskraft< ein doppeldeutiger Genetiv (subjectivus und objectivus) vorliegt, stellt sich die Frage, von welcher Art denn die kritisierende Vernunft ist, die die Vernünfte der einzelnen Kritiken in die Schranken weist. Kant spricht in der Vorrede der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten davon, daß es »am Ende nur« um »eine und dieselbe Vernunft« gehen könne, die — abgeleitet aus »einem ge-

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Die Vielfalt der Welten in der Kulturanthropologie der

Aufklärung

An diesem Differenzierungsprozeß hatte die Literatur des Aufklärungszeitalters entscheidenden Anteil. Die Konstitution einer »Innenwelt«,8 die als unvergleichliche anerkannt wird und in einer moralisch unreglementierten Kunst exemplarisch erfahrbar sein soll, wäre ohne die Artikulationsleistungen der Empfindsamkeit und des Sturm und Drang, die die Sprache dieser »Welt« erst hervorbringen, unvorstellbar. Die Literatur der zweiten Jahrhunderthälfte kann insgesamt bereits als eine einzige Verhandlung über die Parzellierung des modernen Weltverständnisses begriffen werden. »Wie froh bin ich, daß ich weg bin!«, beginnt der erfolgreichste Roman der Epoche, der kurz nach diesem Abschied von der Sozialwelt die Ankunft am Gegenpol meldet: »Ich kehre in mich selbst zurück, und finde eine Welt!« (FA 8, 11 u. 23). Goethes >klassisches< Lebensprogramm läßt sich in diesem triadischen Modell formulieren: es ist der Versuch, die zerreißende Hin- und Herbewegung zwischen Gesellschafts- und Innenwelt in einer dritten Orientierung an Natur als Instanz der Objektivität auszubalancieren. Im gleichen Zeitraum begreift sich Literatur insgesamt, wo sie über ihre Grundformen nachdenkt, nach dem Muster dieser Dreiteilung: es entsteht die gattungstheoretische Gliederung in Epik (Objektivität), Dramatik (Interaktion) und Lyrik als Dimension des subjektiven Ausdrucks.

Reflektierte Tradition Die Auflösung des vormodernen Weltbilds, das eine Interpretation von Natur, Gemeinschafts- und Einzelleben im Ganzen - von einem religiösen Zentrum her9 ermöglicht hatte, vollzieht (gemäß diesem dreifaltigen Rationalisierungsmodell) die

meinschaftlichen Prinzip« — »bloß in der Anwendung unterschieden sein muß«; KWA VII, 16. Statt der erhofften Ableitung der bis dahin eigens traktierten theoretischen und praktischen Vernunft aus einem Prinzip schreibt er jedoch ein Buch über einen dritten, eigenständigen Bereich, der die Domäne der Urteilskraft ist (vgl. den Brief an Reinhold vom 28.12.1787). Das Differenzmoment gewinnt also auf die Weise die Oberhand, daß die Einheit der Vernunft nicht mehr vertikal durch Ableitung aus einem obersten Grund verbindlich demonstriert, sondern horizontal in Übergängen zwischen den aufgespaltenen Vernunftsphären aufgewiesen werden muß. Kant zielt nach Habermas' Rekonstruktion auf die formale Rationalität, die alle drei Bereiche dadurch verbindet, daß Gründe fur die jeweils geäußerten Sätze (Behauptung objektiver Sachverhalte, normative Vorgaben, ästhetische Urteile) vorgebracht werden, die jeweiligen Aussagen also auf verschiedene "Weise für andere argumentativ einsichtig gemacht werden müssen. Das Übergeordnete wäre demnach der Zusammenhang eines auf Verallgemeinerung bedachten Gesprächs, das wir als Verstandes-, Sozial- und Gefühlswesen (und was wir vielleicht sonst noch alles sind) zu führen haben. Kurz: eine Bewegung zwischen unseren verschiedenen Weltbezügen, die man, einem Vorschlag von Martin Seel folgend, vielleicht am besten mit dem Begriff »Interrationalität« belegt. Seel (1985), 23. Der Begriff »Innenwelt« taucht am Ende des 18. Jahrhunderts erstmals bei Jean Paul und Novalis auf. Zum Wortfeld vgl. HWPh, Bd. 4, die Artikel Innerlichkeit« (erstmals bei Klopstock) und >InnigkeitVergangenheit< reflektiert werden. »Indem Aufklärung — praktisch geworden in den industriellen und politischen Revolutionen des 18. Jahrhunderts - den Bruch mit den vorindustriellen, vorbürgerlichen Traditionen vollzieht, verwandelt sie die gebrochenen Traditionen in »Vergangenheit. [...] Nicht mehr bestimmendes Moment des Lebens ist die außer Kraft gesetzte Vergangenheit, sondern Gegenstand des erkennenden und anschauenden Bewußtseins.

Traditionsbruch und

historisches Denken sind verschränkte Leistungen der aufklärerischen Vernunft.« 1 0 Retrospektiv begreift sich das Aufklärungszeitalter als Aufgipfelung einer frühneuzeitlichen Emanzipationsbewegung, die eine überkommene Lebenswelt kritisch in Frage gestellt hat und nun mit der (wie auch immer) selbstbestimmten Gestaltung einer neuen befaßt ist. Die im Prozeß der Aufklärung reflektierte Scheidung einer zukünftigen, von vernünftiger Subjektivität erst zu schaffenden Welt von einer alten, die mit ihrem Versinken am Zeithorizont erst als Ganzheit faßbar wird, führt im Verbund mit der anhaltenden Entdeckung exotischer Welten jenseits Europas zu den ersten Formulierungen moderner »Kulturphilosophie« im 18. Jahrhundert (der Begriff taucht erst im 19. Jahrhundert a u f ) . Deren Ausgangspunkt ist somit die Erfahrung von Fremde unter dem Eindruck eines selbstinitiierten und dennoch schwer durchschaubaren Wandels: die Relativität und Veränderbarkeit von Formen sozialen Zusammenlebens wird bewußt und verlangt nach theoretischer Bewältigung. Die distanzierten Gebilde, die die fremdgewordene Lebenswelt des alten Europa und die befremdlichen überseeischen Gesellschaften der Gegenwart darstellen, werden nun in ihrem inneren Aufbau und ihrer Gesamtverfassung unter jenem transzendentalen Blickwinkel untersucht, der das 18. Jahrhundert auszeichnet: in der Beschreibung und Analyse konkreter Formen kulturellen Zusammenlebens geht es immer zugleich um die Frage, was denn »Kultur« eigentlich ist - wie Menschen vergesellschaftet werden, wie überhaupt erklärbar ist, daß sie in bestimmten Gruppen Praktiken, Gewohnheiten und Meinungen teilen, die für andere unbegreiflich sind. Die »Culturen« und die »Nationen« der eigenen Gegenwart werden von vornherein in diesem sehr weiten Kontext thematisiert; die moderne Gesellschaftslehre entsteht im Rahmen einer historisch und interkulturell angelegten Komparatistik. »Kulturwissenschaft«, »Kulturtheorie« ist deshalb im 18. Jahrhundert zunächst noch ein umfassender, unübersichtlicher Diskussions-

Schlaffer/Schlaffer (1975), l l f .

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Die Vielfalt der Welten in der Kulturanthropologie der Aufklärung

Zusammenhang. Bevor etwa ab 1800 die Ausdifferenzierung der Fachwissenschaften deutlich erkennbar wird, die - unter jeweils eigenen Fragestellungen - das Feld des Soziokulturellen unter sich aufteilen, sind die Ubergänge fließend. Ein anschauliches Beispiel sind in Deutschland die Göttinger Anthropologen, deren wichtigste Vertreter - nach heutigen Termini, die unter den verschiedensten alten Namen ab dieser Zeit erst gegeneinander abgegrenzt werden — oft Historiker und Geschichtsphilosophen, Völkerkundler und Volkskundler, Geographen und Biologen, Soziologen und Volkswirtschaftler, Juristen und Politikwissenschaftler in einer Person waren (mit Übergängen zur Altphilologie, Theologie und Medizin). Einer von ihnen, der »Statistiker«" und Naturrechtslehrer Gottfried Achenwall, hat denn auch seine Arbeitsaufgabe, den Gesamtzustand eines »Reiches« zu bestimmen, auf eine denkbar großzügige Weise umrissen: »Man m u ß alles in zwei Classen absondern. Ein Reich besteht aus Land und Leuten. Unter diese beyde Begriffe läßt sich alles bringen.« 12 Wer über solche Formulierungen schmunzelt, sollte sich daran erinnern lassen, daß gerade diese Allgemeinheit der Kulturwissenschaft der Aufklärung ihre komparatistische Breite verlieh. Solange es so generell um >Land und Leute< und deren spezifische Verbindung ging, konnten Kulturen Europas und Asiens, aber auch Afrikas und Amerikas problemlos auf einer Ebene behandelt werden. Die große Trennung jener Wissenschaften, die die >eigenenDenkungsart< aufeinander ausüben, ist dann eines der Lieblingsthemen u m 1760. Bei Montesquieu lautet die entsprechende Passage: »Verschiedene D i n g e beherrschen die Menschen: Klima, Religion, Gesetze, Regierungsgrundsätze, Vorbilder der Vergangenheit, Sitten u n d Gebräuche; u n d aus alledem entspringt u n d formt sich die Geisteshaltung des Volkes.« 1 7 Die Palette reicht von Lebensbedingungen biologischer u n d geographischer

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Zu Begriffen wie »Nationalgeist«, »Volksgeist« im Deutschland des 18. Jhs. (unter dem Eindruck von Montesquieus Schlüsselbegriffen »esprit general d'une nation« bzw. »caractère d'une nation«) vgl. den Art. >Volk/Nation< in GGb 7; v.a. 307—329 (Β. Schönemann). Zur deutsch-französischen Debatte über die Vorzüge des jeweiligen Nationalcharakters vgl. die Überblicksdarstellung bei Fink (1989), 4 0 ^ 9 . Voltaire Ed. Pomeau (1990), Bd. II, 806 (Chap. CXCVII). Condillac (1746), 196f. Montesquieu (1992), Bd. 1, 413. Voltaire warf Montesquieu wegen Uberschätzung des Klimas Determinismus vor (vgl. den Art. >Climat< in Voltaires Philosophischem Wörterbuch). Der Vorwurf trifft weniger Montesquieu als die sofort heftig einsetzende Rezeption, die angesichts der Komplexität von Montesquieus Entwurf sich gern an die vertraute Klimatheorie hielt. Wie stark Montesquieus Satz »L'empire du climat est le premier des empires« im Gesamtkomplex des Buchs zu relativieren ist, zeigt Fink (1985), 20-23. Die einflußreichste Position in Deutschland vertritt Herder. Das Klima-Kapitel der Ideen (HW 6, 263ff.) unterstreicht die Bedeutung der kulturellen Produktivität des Menschen; die Untersuchung der äußeren Klimabedingungen müsse mit einer kulturvergleichenden Untersuchung der inneren »lebendigen Kräfte« (einer »Klimatologie aller menschlichen Denk- und Empfindungskräfte«; 266) einhergehen: »Nun ist keine Frage, daß wie das Klima ein Inbegriff von Kräften und Einflüssen ist [...] der Mensch auch darin zum Herrn der Erde gesetzt sei, daß er es durch Kunst ändre [...] Das Klima zwinget nicht, sondern es neiget«. (269f.)

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Art (Rasse, Klima, Bodenbeschaffenheit) über sozioökonomische Determinanten (Bevölkerungsgröße und -Zusammensetzung, Wirtschaftsweise), Formen der politischen Organisation (Regierung, Verfassung und Rechtsordnung), eingespielte lebensweltliche Praktiken (Sitten und Gebräuche) bis hin zur Bedeutung von Religion, Sprache und Künsten als dem ideellen Fundus, aus dem eine Kultur schöpft. 1 8 Faßt man die Gesamtdiskussion zusammen, lassen sich grob drei Ebenen unterscheiden, die fiir die Reproduktion von Gesellschaften für wichtig erachtet und in ihrem Zusammenhang untersucht werden. Soziale Einheit stellt sich demnach her: a) über politisch-rechtliche Prozesse auf der Ebene des Staates, d.h. über Verträge, Verfassungen und Gesetze (das ist die Linie des politischen Konstruktivismus in der Tradition des rationalen Naturrechts); b) über funktionale Prozesse hauptsächlich auf der Ebene des Wirtschaftssystems (das ist die zunehmend thematisierte Abtrennung einer Sphäre der »bürgerlichen Gesellschaft vom eigentlichen Bereich des Politischen; d.h. einer Gesellschaft mobiler Wirtschaftssubjekte, die, rechtlich gleichgestellt und als Konkurrenten durch Tauschakte miteinander verbunden, ihre persönlichen Arbeits- und Lebensinteressen verfolgen 1 9 ); und c) über lebensweltliche Kommunikation auf der Grundlage traditionsgesättigter, fraglos geteilter Wertvorstellungen, dem Eingelebtsein in bestimmte Lebensformen usw. (dieses M o m e n t wird vor allem in Deutschland stark gemacht). Grundsätzlich reflektiert die Sozial- und Kulturphilosophie des 18. Jahrhunderts bereits darauf, daß die Komplexität moderner Gesellschaften auf eine Disjunktion dieser Prozesse normativ-politischer, funktional-ökonomischer und lebensweltlich-traditionsgesicherter Sozialintegration zurückzuführen ist. 20 Eine entscheidende Weichenstel-

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Früher sprach man von einer »deutschen Bewegung«, die in Gestalt von Hamann, Herder und Humboldt die besondere Bedeutung der Volkssprache für die Vorstellungswelt einer Kultur entdeckt habe (Angelsachsen nannten dies gern ironisch die »triple Η-theory«). Die deutsche Betonung ideeller Kulturgeneration wurde dann mit einigem Stolz der materialistischen Position des Auslands entgegengestellt. Auch in diesem Modell, das noch in Karl Otto Apels großem Buch über die Geschichte des humanistischen Sprachdenkens durchscheint (vgl. Apel (1980), 368f.), mußte Montesquieu als Kronzeuge für »geographischen Materialismus« herhalten. Dieser moderne Begriff von bürgerlicher Gesellschaft (zur Begriffsgeschichte vgl. die Artikel »Gesellschaft, bürgerliche« von Manfred Riedel in HWPh und GGb) erhielt seine klassische Prägung durch Hegel. Es ist das »System der Bedürfnisse«, das die »Vermittlung des Bedürfnisses und die Befriedigung des Einzelnen durch seine Arbeit und durch die Arbeit und Befriedigung der Bedürfnisse aller Übrigen« leistet. Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 188, HEG 7, 270. Selbst Montesquieu, dessen Kulturtypologie sich ja kaum um geschichtliche Entwicklung kümmert und zumeist unterschiedslos Beispiele aus der Antike, dem Orient und dem modernen Europa nebeneinanderstellt, nennt desintegrative Tendenzen, die charakteristisch für die Neuzeit sind. Die modernen Menschen, schreibt er, litten unter einem gewissen Kleinmut, weil sie schon in ihrer Erziehung auseinanderstrebende Orientierungen zu vereinbaren hätten: »Heute werden wir auf drei verschiedene oder sich widersprechende Weisen erzogen: durch unsere Eltern, unsere Lehrer und durch die Gesellschaft.« Epaminondas dagegen »sagte, hörte, sah und tat« »in seinem letzten Lebensjahr [...] genau dasselbe wie in dem Alter, da seine Erziehung begann.« Montesquieu (1992), Bd. 1, 53 (IV, 4).

Selbsterzeugung

der

Gattung

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lung ergibt sich aus der Frage, w i e w e i t diese Trennungen akzeptiert werden (und entsprechend Modelle einer pluralen gesellschaftlichen Einheit entworfen werden) oder zugunsten holistischer Gemeinschaftskonzepte der totalen Kritik verfallen. An diesem Punkt trennen sich die W e g e eines liberalen Konstitutionalismus, der an Autoren wie M o n t e s q u i e u u n d H u m e anschließt, von denen des Rousseauismus u n d der deutschen Vereinigungsphilosophie.

Selbsterzeugung der Gattung Als sinnvoller Ausgangspunkt für eine Gesamtcharakteristik der kulturalistischen Aufklärung 2 1 kann das sogenannte Vico-Axiom dienen. Es formuliert (in der allgemeineren Fassung der Scienza Nuova von 1 7 4 4 ) die neuentdeckte »Wahrheit«, » d a ß diese historische Welt ganz g e w i ß von den Menschen gemacht worden ist [che questo m o n d o civile egli certamente è stato fatto dagli u o m i n i ] : u n d d a r u m k ö n n e n (denn sie müssen) in den M o d i f i k a t i o n e n unseres eigenen menschlichen Geistes ihre Prinzipien aufgefunden werden.« 2 2 Der Satz benennt in aller Kürze die elementarste Voraussetzung aufklärerischer Kulturphilosophie: 2 3 kulturelle Formationen der Vergangenheit u n d der Gegenwart sind verstehbar (in gewissem Sinn auch rational rekonstruierbar), weil ihre Gestalt nicht auf transzendente, menschlicher Einsicht prinzipiell unzugängliche G r ü n d e zurückgeführt werden m u ß . Geschichte ist nicht mehr D r a m a Gottes mit den M e n s c h e n , sondern selbstinitiierte menschliche Praxis. Ihr eigentlicher Träger sind »die Völker«. D a m i t vollzieht sich die vielbeschworene W e n d e zur Kulturgeschichte, deren D o m i n a n z in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts allein schon an den beständig

wiederkehrenden

Titelelementen

>Volk< u n d

>Nation< abzulesen

ist.

»Culturgeschichte« (der Ausdruck findet sich im Deutschen zuerst bei Adelung 2 4 ) zielt

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Ich spreche von >Kulturalismus< in Anlehnung an Herbert Schnädelbach, der unter diesem Oberbegriff die Positionen zusammenfaßt, die im weitesten Sinn den Menschen in einer eigengesetzlichen kulturellen Welt verorten; dies in Abgrenzung gegen >naturalistische< Positionen wie z.B. d'Holbachs mechanischen Materialismus. >Historismus< (der dann eintritt, wenn kulturelle Weltbilder transzendentalen Status erhalten) ist für Schnädelbach ein Spezialfall von Kulturalismus. Schnädelbach (1987), 23—46; hier 26. Vico Ed. Auerbach (1924), 125. Die alte Teilübersetzung von Auerbach ist nicht nur stilistisch anziehender als die neue Gesamtübersetzung von Hösle und Jermann (1990), sondern auch in der Verdeutschung zentraler Termini einleuchtender. »Mondo civile« übersetzt Auerbach mit »historische Welt«. Das erscheint mir sinnvoller als Hösle/Jermanns »politische Welt«. Noch treffender ist allerdings Ferdinand Fellmanns Vorschlag »gesellschaftliche Welt« (bzw. seine Paraphrase mit »geschichtlich-gesellschaftliche Welt«; Vico Ed. Fellmann (1978). Von da aus ist es ein kleiner Schritt zu »kulturelle Weltcolere< ausgedrückt wird). Mit »Kulturwelt« hat bereits Apel im Vico-Teil seines Buchs den Begriff mehrfach paraphrasiert (K.O. Apel (1980), 369). Ich sehe hier ab von dem spezifischen Stellenwert des Axioms in Vicos Neuer Wissenschaft (der Text wurde im 18. Jahrhundert ja auch kaum zur Kenntnis genommen). Vgl. dazu Fellmann (1976). Adelung handelt im Jahr 1782 erstmals von >CulturgeschichteDenkungsart< und >Lebensart< - in einer Gesellschaft zu begreifen). D e r Ausschluß Gottes aus der Geschichte, analog zur diesseitigen Konstitution von >Natur< als Forschungsfeld empirisch-experimenteller Gesetzeswissenschaften, ist bei Vico so wenig wie bei den anderen angeführten Theoretikern mit dem Glauben an eine transparente Machbarkeit geschichtlicher Lebenswelten verbunden. Vicos Hauptgegner ist bekanntlich Descartes, der zur Gewinnung eines methodisch einwandfreien Erkenntnisgangs zunächst einmal den Wust an geschichtlicher Uberlieferung und das wirre Gemenge von Sprachen und Kulturen aus dem Weg zu räumen empfahl. 2 5 Ebenso opponiert Vico gegen Hobbes' voraussetzungslose Konstruktion von Gesellschaftlichkeit: Descartes und Hobbes stellen als Denker des absoluten Anfangs das Recht der Geschichte radikal in Frage, und Vico hat vielleicht als erster den inneren Zusammenhang des methodischen Rationalismus und des politischen Konstruktivismus gespürt und gegen beide Stellung bezogen. Er hat erkannt, daß >Machen< der Geschichte nicht in einer creano ex nihilo bestehen kann, ohne daß der Begriff der historischen Wirklichkeit selbst fragwürdig wird.26 Von Vico ausgehend wird dies der generelle Ansatz v.a. jener Linie der Aufklärungsanthropologie, die durch ihre Einsicht in die sprachliche Verfaßtheit einer kulturellen Welt bereits im 18. Jahrhundert einen frühen linguistic turn< vollzieht. Die soziale Praxis der Menschen ist demnach unabdingbar geschichtlich in dem Sinn, daß sie nicht nur Auseinandersetzung mit der äußeren Welt ist, sondern auch aus einem vorgegebenen Verständnishorizont heraus erfolgt. Die Freiheit des >Selber-Machens< ist Freiheit in konstitutiven Kontexten - sowohl des Denkens wie des Handelns. 2 7 Wohl

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Im Gegenzug italianisiert Vico deshalb gnadenlos den geschichtslosen und über den Einzelsprachen thronenden Methodiker Cartesius als »Renato delle Carte«; vgl. die vorzügliche Vico-Studie von Trabant (1994), 13ff. Fellmann (1976), 88. Der wichtigste Vertreter des politischen Konstruktivismus in Deutschland ist Pufendorf: sind die Prinzipien der wahren Ordnung des Gemeinwesens einmal erkannt, kann der Gesetzgeber unbeschadet aller konkreten Ausgangsbedingungen danach seine Einrichtungen treffen. Vicos Paar Hobbes und Descartes entsprechen in der engeren deutschen Diskussion Pufendorf und WolfF. In diesem Sinn ist die Ratio der kulturalistischen Aufklärung immer schon situierte Vernunft — eingebunden in jene Milieus, die die natürliche Umgebung und die tradierten Handlungs- und Verständigungssysteme darstellen. Kondylis verbucht deshalb auch ihre

Selbsterzeugung der Gattung

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gestalten die Menschen ihren mondo civile - aber auf eine Weise, die ihrerseits immer schon durch ebendiesen mondo civile präformiert ist. Die Unhintergehbarkeit kultureller Weltbilder und das Zusammenspiel sozialer Praktiken mit den jeweiligen kulturellen Deutungsrahmen ist das eigentliche Thema der Scienza Nova.2* Aus der Prozessualisierung dieser Grundkonstellation entsteht die moderne Geschichtsphilosophie. Alle Erfahrung, die Menschen zu einer bestimmten Zeit und in einer bestimmten Gesellschaft machen, und alle Unternehmungen, die sie beginnen, sind demnach von einem vorstrukturierenden Wirkungszusammenhang umgriffen, der nun zwar nicht mehr mit der göttlichen Vorsehung zusammenfällt, aber dennoch eine Art von transzendentem Status hat. Was Menschen erfahren und tun können, wird ihnen von ihrer Kultur, die wiederum ihren Platz in der Geschichte hat, zugespielt. Es ist die Geschichte, die durch die Menschen hindurch handelt, die die Taten der historischen Subjekte auf eine deren jeweilige Intentionen und Reflexionsmöglichkeiten prinzipiell übersteigende Weise ihrem objektiven Werk einverleibt. Der Kollektivsingular >die Geschichteneuezu ihm sprechende« Gestalt aufprägt. Alle analytischen Operationen des menschlichen Geistes beruhen auf diesen ursprünglichen synthetischen Leistungen der Einbildungskraft, diesem ersten dichterischen Verständlichmachen der Wirklichkeit. Nichts kann beurteilt oder begrifflich differenziert werden, was nicht schon aus dem »präreflexiven Sinngehalt einer gelebten Welt« heraus (Apel (1980), 339) als bedeutsames Element fur die menschliche Praxis geformt und anerkannt ist. Fellmann hat überzeugend nachgewiesen, daß dieser symbolische Aspekt sprachlicher Welterschließung bei Vico immer mit einem pragmatischen verbunden ist. Die »poetischen Charaktere«, die die schöpferische Phantasie hervorbringt, schließen sich zur Einheit eines Weltbildes nur zusammen durch ihre Verbindung mit sozialen Praktiken und Institutionen. So ist die Figuration des Himmels als blitzeschleudernder Jupiter geknüpft an die Lebensform der Höhle. Der Mensch, der sich, gleichsam auf Geheiß des schrecklichen Jupiter, zurückzieht und durch Vorsorge sein Leben sichert, artikuliert diese Praxis dann wieder symbolisch, indem er Jupiter auch als Retter und Gesetzgeber interpretiert. Vgl. Fellmann (1995). Vgl. neben dem Artikel >Geschichte< in G G b 2 v.a. die Aufsätze Historia magistra vitae und >Erfahrungsraum' und >Erwartungshorizont< in: Koselleck (1984), 3 8 - 6 6 und 349-375.

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Die Vielfalt der Welten in der Kulturanthropologie der Aufklärung

die Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts träumt den Traum der Machbarkeit menschlicher Lebenswelten sozusagen am anderen Ende des historischen Bewußtseins: nicht als creatio ex nihilo - durch Heraustreten aus der Geschichte und voraussetzungslose Konstruktion des gesellschaftlichen Lebens - sollen die Menschen über ihre Geschicke bestimmen können, sondern aus Einsicht in den >PlanGang< der großen Bewegung selbst. Die Geschichte schenkt am Ende den in sie Verstrickten selbst die Macht, über sie zu herrschen. Zwischen diesem Traum einer vollkommenen Aneignung des geschichtlichen Prozesses und der resignativen Einsicht, daß Geschichte zwar »gemacht wird, aber sich nicht machen läßt«,30 bewegt sich die Geschichtsphilosophie der Sattelzeit. Um 1770 entsteht der Kollektivsingular >die Geschichte« als Ausdruck einer neuen Erfahrung von der Bewegtheit der Zeit. Koselleck hat gezeigt, wie das Gefühl, einem allmählich alle Lebensbereiche erfassenden Wandlungsprozeß ausgesetzt zu sein, sich zunächst in tastenden Formulierungen wie >die Geschichte selben, >die Geschichte überhaupt« oder >die Geschichte an und für sich< niederschlägt, 31 bevor diese deutliche Abhebung von den Geschichten, die immer auch Geschichten von etwas waren (narrative Geschichten von Helden und Königen oder eben Geschichten der Staaten, der Kirchen usw.) sich erübrigt. Im selben Vorgang beginnt man, in einem neuen Sinn von der Kultur zu reden. 32 >KuItur< meint nun mehr und mehr das Selber-Machen der Lebensumstände und - ineins damit — das Selber-Machen der eigenen Persönlichkeit durch den Menschen. Die beiden wichtigsten Traditionsstränge des alten Cultura-Begriffs — cultura agri und cultura animi - kommen hier zusammen in einem neuen Verständnis von den geschichtlichen Gestaltungsmöglichkeiten, die die Gattung Mensch hat. Als prozessualer Begriff für das, was der Mensch aus sich und seiner Umwelt macht, verliert >Kultur< deshalb ebenfalls seine Genitivattribute. 33 Salopp gesagt: >die Geschichte« und >die Kultur« mußten ihre einschränkenden Begleiter loswerden, um jeweils für sich oder zusammen ihre umfassende Bedeutung im Sinn einer Selbsterzeugung der Gattung anzunehmen. Zusammengespannt zur Kulturgeschichte« präzisieren sie sich wechselseitig: Geschichte ist demnach kein diktiertes Geschehen, sondern ein Gemachtes (colere), Kultur ist nichts Statisches, sondern ein historisch Bewegtes. Aus dem Nachdenken über die Möglichkeiten und Grenzen solcher Machbarkeit und der Frage, auf welche Lebensordnung die Gattung sich denn hinentwerfen soll, ergibt

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Blumenberg (1984), 546. Als exemplarische zeitgenössische Formulierung dieser Einsicht vgl. Fergusons Bemerkung, die geschichtlichen Ereignisse seien zwar »durchaus das Ergebnis menschlichen Handelns [...], nicht jedoch die Durchführung irgendeines menschlichen Plans«. Ferguson (1986), 258. G G b 2, 652f. Zum folgenden vgl. v.a. Bollenbeck (1994), 68ff. Vgl. ebd., 58.

Selbsterzeugung der Gattung

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sich das eigenartige Schwanken zwischen Empirie u n d Spekulation, in dem sich die seit Voltaire mit »philosophie de l'histoire« verbundene Kulturgeschichte der Aufklärung hält. W e n n Lebensformen nicht am Reißbrett konstruierbar sind, der historische Prozeß der Moderne vielmehr eine problematische Z u s a m m e n f ü h r u n g verschiedenster Herkunftswelten ist, m u ß eine H i n w e n d u n g zur konkreten Gestalt eines jeweiligen m o n d o civile erfolgen. Z u m andern m u ß das Gewimmel historischer Voraussetzungen u n d der Entwicklungsgang des Ganzen in irgendeiner Weise systematisierbar sein, u m den neuen Anspruch auf reflexives Verstehen u n d die damit verknüpfte Hoffn u n g auf eine aus solchem Verstehen gespeiste Gestaltbarkeit der ü b e r k o m m e n e n Lebenswelt aufrechtzuerhalten. Die Kontexte der Freiheit u n d ihre Eigendynamik müssen genau untersucht u n d begrifflich rekonstruiert werden als jenes angeführte Spektrum natürlicher, sozioökonomischer, politischer u n d mentaler Faktoren, deren Wechselwirkung eine kulturelle Welt ausmacht; 3 4 zugleich geht es aber d a r u m , das Pathos der neuentdeckten Freiheit und Selbstverantwortlichkeit des Menschen für seine Geschicke zu verteidigen. Charakteristisch für Voltaire u n d Montesquieu, deren Werke um die Jahrhundertmitte den Bezugspunkt für die Diskussion in ganz Europa bilden, bleibt, daß die Vermittlung von kulturell Besonderem u n d konkretem Entwicklungsgang der Geschichte mit jenen allgemeinen Entwürfen einer >wahrenKlimaGeschichte hathistorischtranscendentah (KSA 18, 101) geprägt. Mit dem Ubergang zum Historisch-Transzendentalen verschwindet die Möglichkeit, die Differenz geschichtlicher Lebenswelten in einem inhaltlich bestimmten Begriff von >Natur< oder >Vernunft< zu transzendieren. Herder ist einer der ersten, der das Allgemeine der Vernunft so weitgehend entsubstantialisiert, daß daraus ein reines Interaktionsgeschehen zwischen differierenden Einzelmomenten wird. Dies gilt auf mehreren Ebenen: für jenes >Ganzemündige< Aufklärung ist darin naiv geblieben: » P h i l o s o p h im nordischen Erdental,

die Kinderwaage

deines Jahrhunderts

in der Hand, weißt du es besser,

als sie?« ( H W 4, 37) Der Begründungs- und Rechtfertigungszwang der neuzeitlichen Kritik, der alle dogmatischen Sicherheiten aushebeln sollte, holt die richterliche Vernunft selbst ein und läßt sie ihrer unaufgeklärten Bedingungen innewerden. Mit diesem Schritt begreift neuzeitliche Rationalität sich nicht mehr als Organ des wahren Weltverständnisses, sondern als M o m e n t eben jener besonderen Kultur, die ein geschichtliches, durch Wissenschaft geprägtes Weltverständnis entwickelt hat. W i e vor ihm vielleicht nur Vico vermag Herder deshalb mythologische Weltbilder als kohärente >Sprachen< zu interpretieren, deren Leistung nicht in unbeholfener Naturbeherrschung (Magie als Quasi-Wissenschaft bzw. Quasi-Technik) sondern in kollektiver Sinnstiftung liegt. Indem verschiedene Welt-Konzepte auf einer Ebene diskutiert werden und nach ihrem jeweiligen Beitrag zur Reproduktion der Gesellschaft verglichen werden, müssen die Freiheits- und Effizienzgewinne des westlichen Rationalisierungsmodells von nun an mit den Verlusten an stabiler und erfüllter Gemeinschaftlichkeit verrechnet werden.

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Kondylis stellt das ganz lapidar zu Beginn seines vorzüglichen Herder-Kapitels Fest: »Die Vereinigungsforderung ist für Herder einfach selbstverständlich.« (Kondylis (1986), 6 1 5 ) Kondylis' Rekonstruktion eines leibnizianisch aufgeladenen Spinozismus, den Herder in gleichzeitiger Frontstellung gegen die Orthodoxie und gegen die Gefahr einer Nähe zu materialistischen Positionen entwickelt, kann gerade auch die Widersprüche bei Herder (Pantheismus — Panentheismus, Relativismus - Universalismus) überzeugender erklären als dies in Interpretationen geschieht, die sie letztlich aus der Welt schaffen wollen. »Eine traurige Erfahrung [...] gaben mir noch neulich Herders Ideen 4. Theil. Einige Feinheit bei der Geschichte des Christentums und die gut erzählte Geschichte der Araber ausgenommen, ists lauter Salbaderei und k o m m t zu keinem Resultat, außer daß man lernt, daß alle Blüthen welken. Mit den Blumen treibt Herder überhaupt großen Spuk.« (HBRIBr, 72).

Die Vielfalt der Welten in der Kulturanthropolope der Aufklärung

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Vernunft ist für Herder historisch-kulturell gebunden, weil sie unauflöslich an Sprache - und d.h. an Einzelsprachen - haftet. Herder weiß sich einig mit der Kritik seines Lehrers H a m a n n an dem Versuch, eine >reine< Vernunft jenseits der konkreten Verständigungsvorgänge in bestimmten Sprachgemeinschaften zu konstruieren. Sprache ist, so Hamanns epochemachendes Postulat, »das einzige erste und letzte Organon und Kriterion der Vernunft, ohne ein ander Creditiv als Ueberlieferung und Usum«. 50 Demnach müssen sich nicht die natürlichen Sprachen am Exaktheitsideal der mathematisch-naturwissenschaftlichen Zeichensysteme messen lassen; letztere haben vielmehr nur Bedeutung, sofern sie zu einer im Horizont einer natürlichen Sprache ausgelegten gesellschaftlichen Praxis gehören. Künstliche Wissenschaftssprachen können nie als scheinvernünftiges Kriterium den natürlichen Sprachen übergeordnet werden, weil sie in und von diesen gesprochen werden (d.h. eigentlichen Sinn nur haben im Kontext der durch diese Sprachen tradierten Weltentwürfe und Wertüberzeugungen). Die Pointe von Herders Kulturtheorie ist, daß er solche Gebundenheit an Sprache und Tradition nicht mehr als Restriktion und Knebelung, sondern als Bedingung einer expressiven Bereicherung auffaßt. In einer Figur, die auf die spätere idealistische Philosophie vorausweist, wird die Grenze zum unabdingbaren Artikulationsmedium für eine grenzüberschreitende Bewegung, die fixierende Bestimmung zur einzigen Möglichkeit, variable Bestimmbarkeit zu erfahren. In den Worten Ernst Cassirers: »Einschränkung und >Privation< bedeutet jetzt nicht mehr schlechthin Mangel, sondern die notwendige Bedingung jeder individuellen Vollkommenheit. [...] Die Kraft der Schranke widersteht nicht lediglich der Kraft der Vollkommenheit, sondern ist nur ein anderer Ausdruck für sie; beide zugleich verleihen erst allem Besonderen die Bestimmtheit seines Daseins und seines Schaffens.« 51 Die Schranke ist positiv als die hemmende Macht, an der eine prinzipiell schrankenlose Kraft >sich fühlen« und entfalten kann. So ist für Herder die menschliche Intelligenz zwar unaufhebbar eingeschlossen in die Grenzen einer Sprache; diese Klausur ist aber gerade Bedingung und Stachel ihrer Produktivität. Die Grenzen meiner Sprache bleiben zwar immer die Grenzen meiner Welt in dem Sinn, daß ich eine übersprachliche )wahre« Welt nicht erreichen kann. Ich kann aber durch Arbeit an der Sprache und Bewegung zwischen den Sprachen meine Welt prinzipiell endlos erweitern.

D a s M e n s c h e n r e c h t auf B e s o n d e r h e i t Vor diesem Hintergrund m u ß die ethische Auszeichnung gesehen werden, die Herder den besonderen Sprachen, den besonderen >Nationalgeistern< verleiht. »Vor dem ausgehenden 18. Jahrhundert«, schreibt Charles Taylor mit ausdrücklicher Hervorhebung Herders, »ist es niemandem in den Sinn gekommen, den Unterschieden zwischen den

50 51

Hamann (1988), 207. Cassirer (1994), 118. (Herv. M.K.)

Das Menschenrecht auf Besonderheit

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Menschen käme diese Art von moralischer Bedeutung zu.« 52 Kulturelle u n d individuelle Unterschiedenheit sind dabei wechselseitig aufeinander verwiesen. D a eine reine, sprachfreie Intelligenz für Herder ein U n d i n g ist, da somit jeder Einzelne auch sich selbst, in dem was er ist u n d aus sich zu machen gedenkt, nur in der Sprache einer bestimmten Gemeinschaft erschlossen ist, wird die Einbindung in eine besondere Kultur mit ihren spezifischen Lebensformen u n d Mentalitäten zum Konstituens menschenwürdigen Daseins schlechthin. Nicht nur leben wir faktisch u n d unvermeidlich in differenten kulturellen Sphären, die Zugehörigkeit zu diesen Sphären ist vielmehr die elementare Voraussetzung für die Entwicklung eines sinnerfiillten Selbst- u n d Weltverständnisses. Die Sozialisation in einer partikularen Kultur ist ein unschätzbarer Wert u n d ein unverzichtbares Recht für jedes Individuum. Herders pathetischer Volks-Begriff hat deshalb nichts mit zwanghaftem Kollektivismus zu tun, sondern im Gegenteil mit individueller Selbstverwirklichung. D a nur ein Wesen, das von sich weiß, sich selbst bestimmen kann, das Wissen, das wir von uns haben, sich zwangsläufig aber im M e d i u m einer besonderen Sprache u n d den Horizonten ihrer Weltauffassung bildet, lebt die individuelle Entwurfstätigkeit von der welterschließenden Kraft der kollektiven Bedeutungssysteme. Sozialisation ist M e d i u m der Individuierung (vgl. Kap. 3). Die Sprache des Kollektivs wiederum hat eine wirkliche Existenz nur in den Äußerungen individueller Sprecher. Eigentümlichkeit der Sprache u n d Eigentümlichkeit der Menschen bilden ein unauflösliches Syndrom: je unterschiedener von anderen u n d in sich reichhaltiger eine Sprache, desto individueller u n d kreativer (zumindest potentiell) ihre Sprecher, je individueller die Sprecher, desto eigentümlicher u n d vielgestaltiger die Sprache u n d Kultur der ganzen Gemeinschaft. Herder verbindet so auf folgenreiche Weise das neue Ideal subjektiver Authentizität mit einer Inthronisation des kulturell Partikularen. Kulturelle Besonderung hört auf, eine kontingente Beschränkung des übergeordneten Allgemein-Menschlichen zu sein. Von n u n an geht es u m jenes Allgemeine, das durch ausgeprägte Individuation hindurchgeht u n d sich umso reichhaltiger u n d lebendiger als Totalisierung wiedergewinnt. Herder u n d H u m b o l d t als die beiden wichtigsten Vertreter des linguistic turn< u m 1800 gehen zwar davon aus, daß die Interpretationshorizonte einer jeweiligen Sprachgemeinschaft verbindlich sind in dem Sinn, daß kein Rückgang auf eine objektive, von den Einzelsprachen ablösbare Rationalität möglich ist. 53 Welt haben wir nur in der symbolischen O r d n u n g der jeweiligen Sprache, die die kulturelle Gemeinschaft, der wir angehören, spricht. Die Sprachwelten ihrerseits sind aber prinzipiell füreinander

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Taylor (1995), 38. Bei Humboldt gibt es zwar die Unterstellung reiner Gesetze des Denkens, die der grammatische Bau einer Sprache in mehr oder minder unvollkommener Weise zum Ausdruck bringen soll. An dem Versuch, zu zeigen, »wie die Gesetze des Denkens in der Grammatik zum Ausdruck kommen«, ist Humboldt aber »gescheitert«, hat dieses Scheitern auch ausdrücklich reflektiert und fiir notwendig erklärt (Borsche (1981), 230). So bleibt die Verständigung in der Verschiedenheit (und nicht die Gleichheit im Denken) sein letztes Wort.

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Die Vielfalt der Welten in der Kulturanthropologie der Aufklärung

offen, die Objektivität, die ehemals in der Vorgabe einer wahren, gründenden Ordnung für alle bestanden hatte, kehrt wieder als die bewegliche Einheit einer Verständigungspraxis, in der Sprachwelten ihre Ansichten gegeneinander geltend machen und miteinander austauschen. Auf >Objektivität< in diesem Sinn bleibt auch die moderne Welt nach Humboldt verpflichtet: »Denn immer bleibt das Objective das eigentlich zu Erringende, und wenn der Mensch sich demselben auf der subjectiven Bahn einer eigenthümlichen Sprache naht, so ist sein zweites Bemühen, wieder, und wäre es auch nur durch Vertauschung einer SprachSubjectivität mit der andren, das Subjective abzusondern, und das Object möglich rein davon auszuscheiden.« (Hu III, 20f.). Die Autoren, die die transzendentale Wendung von der immer schon bestehenden zur herzustellenden Welt-Einheit, vom göttlichen O r d o zur menschlichen Synthesis vollziehen, bleiben, wie dies Humboldt-Zitat zeigt, an >Humanität< orientiert. Die Einheit der Humanität bezieht sich dann allerdings weder auf einen empirischen Befund noch auf ein übergeschichdiches, >wesentliches< Muster von »Menschheit^ Humanität meint vielmehr den offenen Kontext eines gemeinsamen Lernprozesses, in den die verschiedenen Kulturen ihre sprachvermittelten »Subjectivitäten« einbringen und einander wechselseitig korrigieren und ergänzen. Die Zugehörigkeit zu diesem Prozeß fällt nicht abermals in den Bereich subjektiver Verfügung. Die Menschheit ¿sí ein Gespräch - wie es Hölderlin in dem berühmten Passus der Friedensfeier formuliert - und das heißt: die subjektiven Weltentwürfe sind immer schon vermittelt durch den dialogischen Zusammenhang. Die verschiedenen Kulturen bestehen nicht zunächst für sich als solipsistische Entitäten, die sich sekundär entschließen könnten, ein Gespräch zu >führenGemeindebildung< vollbringt. Die Menschheit rückt zusammen, nicht im Medium eines gemeinsamen Geistes, sondern des weltumspannenden Marktes. Schärfer noch: die wachsende Interdependenz, in die alle Nationen politisch, ökonomisch und kulturell verflochten werden, führt zur Formierung einer Weltgesellschaft, von der man weiß, daß ihre Glieder auf keinen gemeinsamen Glauben und auf keine übergreifenden Vorstellungen eines guten Lebens mehr zu verpflichten sind. In zunehmendem Maß sind alle in ihren Lebensvollzügen ineinander verstrickt und zugleich legitimiert, auf ihrer Besonderheit zu bestehen. Die Dialektik von Globalisierung und Partikularisierung ist ein Thema bereits der Kulturphilosophie des 18. Jahrhunderts. Zwar ist die globale Integration, die die Autoren dieser Zeit vor Augen haben, »noch weitgehend auf das Vernetzen von Küstenregionen

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Abgedrungene

Weltgemeinschaft

beschränkt«, 1 der Ausdruck >Globalisierung< hat deshalb in diesem Kontext etwas von Effekthascherei. Bei allen Unterschieden im Grad der realen Ausdehnung und Verdichtung weltumspannender Kommunikation 2 handelt es sich dennoch strukturell um einen umfassenden Prozeß; die Fragestellungen, die kluge Beobachter um 1800 aufgeworfen haben, sind deshalb bis heute verbindlich geblieben. Kein Teilnehmer an der aktuellen Globalisierungsdebatte kann behaupten, daß die Überlegungen von Autoren wie Montesquieu, Smith, Kant oder eben auch Goethe gänzlich obsolet geworden sind. Das Heraufziehen der modernen Weltzivilisation schlägt sich sprachlich in der Bildung neuer Komposita nieder. Dem Deutschen Wörterbuch zufolge sind zahlreiche Zusammensetzungen mit >Welt- Weltbürger, daß jeder einzelne Mensch gegenüber jedem fremden Staat der Welt bürgerliche Rechte geltend machen kann (z.B. das Recht des Händlers, seine Waren nicht enteignet zu bekommen. Die Rechtssicherheit fiir den Handel ist in der einschlägigen Literatur eines der meistdiskutierten Themen. Montesquieu spricht die Magna Charta als »Grundlage der englischen Freiheitsrechte« sogleich unter diesem Aspekt an: daß sie verbiete, »im Kriegsfalle Waren fremder Kaufleute wegzunehmen«. Je mehr Fernhandel, desto unübersichtlichere Rechtsverhältnisse, desto größerer Rechtsbedarf: Montesquieu zitiert in diesem Sinn Piatons Satz, »in einer Stadt ohne Seehandel brauche man nur die Hälfte an [...] Gesetzen«; Montesquieu (1992) Bd. 2, 17 u. 14). Weltbürger sind und bleiben also immer Bürger von Einzelstaaten, die jedoch weltweit Bürgerrechte reklamieren können (bis hin zu der von Kant nicht gezogenen Konsequenz, den eigenen Staat, wenn er ihnen solche elementaren Rechte vorenthält, zu verlassen, um anderswo wahrhaft citoyen sein zu können). Auch in einem moralisch akzentuierten Sinn ist der Kosmopolit zunächst Patriot seiner besonderen Sozietät (wobei Kants Patriotismus-Begriff in der Tradition des vaterländischen Denkens im 18. Jahrhunden normativ aufgeladen ist: Vaterland im emphatischen Sinn kann nur ein Gemeinwesen heißen, wo der gemeinschaftliche Wille die oberste Gewalt ist; wahre vaterländische Verhältnisse herrschen also nur in Staaten mit republikanischem Geist). »Welt- und Local-Patriotismus« widersprechen sich nicht: »Beides gebührt dem Cosmopoliten, dieser muß in der Anhänglichkeit fiir sein Land Neigung haben, das Wohl der ganzen Welt zu befördern.« Zit. nach Zwi Batscha (1976), 72.

16

In der Friedensschrifl plädiert Kant fiir eine föderative Organisation der Weltstaaten, den Völkerbund, obwohl er kein Hehl daraus macht, daß das Fehlen einer supranationalen Exekutivmacht, die das Recht durchsetzen kann, problematisch bleibt. Die Möglichkeit eines »Völkerstaats«, der »zuletzt alle Völker der Erde befassen« und unter »öffentlichen Zwangsgesetzen« zu wirklichen Sub-jekten des allgemeinen Rechts machen würde, bezeichnet Kant an einer vieldiskutierten Stelle als »in thesi richtig«, erklärt sie aber fur unrealisierbar (da die Völker »dieses [...] durchaus nicht wollen«; KWA XI, 212). Generell ist Kants nicht ganz klare Argumentation in der Frage »Völkerbund« oder »Völkerstaat« (bzw. »Weltrepublik«) offenbar durch zwei widerstreitende Optionen bestimmt: zum einen die Bekümmernis, daß der Naturzustand zwischen den Völkern, in deren Beziehungen sich die »Bösartigkeit« der Gattung besonders »unverhohlen« äußere (ebd., 210), prinzipiell solange nicht überwunden ist, wie es auf internationaler Ebene kein »Schwert« gibt, das dem Recht zum Sieg verhilft; zum andern das gerade auch bei Kant lebhafte Interesse an der Erhaltung einer mannigfaltigen Welt aus vielen unterschiedlichen Kulturen. Kant wünscht keinen durchhomogenisierten Weltstaat, in dem alle politischen und kulturellen Unterschiede eingeebnet wären (der »Völkerstaat«, den er fur »in thesi« richtig hält, müßte ja auch keineswegs kulturelle Homogenisierung bedeuten. Er würde den Einzelstaaten nur weitergehende Souveränitätsverzichte abverlangen; vgl. Höffe (1995), 121 f.) Der »ewige Friede« bezieht sich nur ironisch auf einen konfliktfreien Welt-Sonnenstaat: ein solches Einheitsmonster wäre gefährlich nahe an einer Weltdespotie, die das Ende aller Streitigkeiten tatsächlich als globale Friedhofsruhe herbeiführen würde. Differenz, Wettstreit und Konflikte zwischen den Völkern sind als belebende Faktoren vorgesehen. Es geht einzig darum, anfallende Konflikte friedlich, d.h. rechtskonform auszutragen. Eine Lösung erblickt Kant langfristig im Ideal einer Welt aus Republiken mit repräsentativem System: in ihr würden die Einzelstaaten aufgrund ihrer internen rechtlichen Verfaßtheit von sich aus auch ihren Verkehr rechtsförmig gestalten.

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Abgedrungene Weltgemeinscha.fi

chen Verfassung gehören.« (KWA XI, 203) Die Pointe dieses Satzes ist, daß Kant zufolge der weltgeschichtliche Zustand erreicht ist, wo alle aufeinander >einfließenGeschichteLebensprinzipgeistreicherWeltwirtschaft«). Die ministeriellen Pflichten in Weimar verlangten vertiefende Studien auf diesem Gebiet. Büschs Abhandlung war und blieb dafür über eine lange Zeit der verbindliche Text. Die Metaphorik des »geistigen Handelsverkehrs« (FA 22, 870), durch den Weltliteratur nach Goethe zustande kommt (oder in dem sie geradezu besteht), verfestigt sich in einer Zeit, die den >Umlauf< zum staats- und wirtschaftstheoretischen Schlüsselbegrifif erhebt. Historiker reden vom »Zirkulationstopos«,55 der die systematische Mitte der kameralistischen Theorien bildete. In vielen Schriften ist es selbstverständlich, an die Analyse des Waren- und Geldumlaufs Betrachtungen über den Gedankenumlauf anzuknüpfen. Auch für diese Analogie gibt es frühe Vorbilder in England. Francis Bacon

55 56 57

58 59

Vgl. Sandl (1999), 287f. Ebd., 287. Sandl sieht in Büsch nicht geradezu einen Liberalen, sondern schlägt eine vorsichtigere Kategorisierung vor: »Richtiger ist es, in Büschs Theorie die kameralwissenschaftliche Konzeptualisierung eines »liberalen« Erfahrungshorizonts zu sehen.« Ebd. Zum folgenden vgl. Mahl (1982). Vgl. Sandl (1999), 298£: Zwar war die »Verwendung des Zirkulationstopos keineswegs eine Innovation«, erst hier jedoch stiftet er die systematische Kohärenz des ganzen Theoriegebäudes. »Der Zirkulationstopos ermöglichte es den Kameralwissenschaftlern, die Systematisierung des ökonomischen Diskurses auf eine neue Grundlage zu stellen. Alles das, was bisher auf der Ebene von Wirkung und Gegenwirkung analysiert worden war, ließ sich mit Hilfe der >Zirkulation< in eine nomologische Form bringen. Es entstand das Bild eines »relationalen Ordnungsraums«, in dem jede Wirkung den Status einer Ursache, jede Erscheinung die Signatur einer Begründung bekam.«

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Abgedrungene Weltgemeinschaft

hatte schon in The Advancement

of Learning geraten, den weltweiten Gedankenhandel

in Büchern mindestens ebenso hoch zu achten wie den Güterverkehr auf Schiffen: »so that, if the invention o f the ship was thought so noble, which carrieth riches and commodities from place to place, and consociateth the most remote regions in participation o f their fruits, how much more are letters to be magnified, which, as ships, pass through the vast seas o f time, and make ages, so distant to participate o f the wisdom, illuminations, and inventions, the one o f the other?«60 Den synchronen Austausch von »wisdom« erwähnt Bacon hier nicht; um so interessanter ist jedoch seine metaphorische Auszeichnung des Mediums der Ideenbeförderung. Im 18. Jahrhundert wird man mehr und mehr darauf reflektieren, daß es gedruckte »letters« sind, die den schnellen Gedankentransport in der Neuzeit ermöglichen, und - v.a. im Anschluß an Rousseau - die heilbringenden oder schädlichen Folgen der modernen Wissensakkumulation und -distribution diskutieren. An einem Mann wie Johann Georg Büsch, der zugleich Theoretiker der Geldzirkulation und des Außenhandels, Herausgeber einer Encyclopädie philosophischen

und mathematischen

der

historischen,

Wissenschaften und jahrelanger Leiter der Ham-

burger Handlungsakademie war, ließ sich der Zusammenhang von merkantiler, monetärer und ideeller Mobilität gleichsam mit Händen greifen61 (ein anderer, für Goethe wohl ähnlich illustrativer Repräsentant des neuen Zeitalters war der Weimarer Kaufmann und Verleger Friedrich Justin Bertuch 62 ). Die Homogenisierung der Wirtschaftsräume brachte einen schnelleren und umfassenderen Austausch von Wissen mit sich. Zugleich entstanden neue Verständigungsräume; die Frage war nun, wie die ökonomisch-monetäre-wissenschaftliche Verflechtung sich zur kommunikativen verhält. Oft nur in Form eines metaphorischen Brückenschlags thematisiert die Gesellschaftstheorie der Zeit dauernd die unterschiedliche Vereinigungsleistung der beiden sozialen Interaktionsmedien Sprache und Geld. Die metaphorische Überblendung von Wort und Münze, Dialog und Tausch ist bekanntlich alt und hat seit der Antike eines der reichhaltigsten (!) Bildfelder des abendländischen kulturellen Gedächtnisses hervorgebracht. 63 Die metaphorische Grundoperation, die auf der thesei-Theorie des sprachlichen Zeichens beruht (wie Münzen

60

61

62 63

Bacon (1965), 59. Ein Schiff, das auf den grenzenlosen Ozeanen des >mundus intellectualis< kreuzt, begegnet denn auch auf dem Frontispiz von Bacons Buch. Büsch hat die Universalisierung des Austausche tatsächlich auf beiden Ebenen verfolgt. Zwar befaßte er sich in erster Linie mit dem »Geldsumlauf«, er ist aber auch der Verfasser einer Abhandlung über die Möglichkeit, eine moderne Weltsprache zu etablieren. Die durch Warenund Geldzirkulation zusammengerückte Welt muß sich auch sprachlich schneller austauschen. Da das Ubersetzen von sprachlichen Ausdrücken im allgemeinen nicht so schnell vonstatten geht wie das Umrechnen der nationalen Zahlungsmittel, ist eine Universalsprache vielleicht noch dringlicher als eine globale Währung. Vgl. Kaiser/Seifert ( 2 0 0 0 ) und darin Koch ( 2 0 0 0 ) . Vgl. den klassischen Aufsatz von Harald Weinrich, Münze und Wort. In: Weinrich (1976), 276-290.

Ausgehandelte Wahrheit

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für Waren werden Worte als Zeichen für Dinge bzw. Vorstellungsgehalte >geprägthochwertige< Sprache der Allgemeinheit zur Verfügung steht, desto r e i chen eine Gesellschaft. Die Aufklärung verstand sich als Unternehmen zur Vermehr u n g der Wissensschätze, vor allem aber zu ihrer weitflächigen, gemeinnützigen Verbreitung. Aufklärungsjournalisten charakterisierten ihre Zeitschriften als Schaltstellen einer Ideenzirkulation, in der die »Geldstücke aus den Schatzkammers der Wissenschaften [...] zu Groschen und Dreiern geprägt werden, um als solche durchs ganze Land zu rouliren«. 65 Solche metaphorischen Engführungen werfen mehr Fragen auf, als sie beantworten (wie verhält sich die materielle A r m u t zur ideellen, welche ist vordringlicher zu bekämpfen?). Zugleich drückt sich darin aber wohl eine erste Reflexion des Sachverhalts aus, daß die aufsteigende commercial society eine kommerzielle Wissensgesellschafi sein wird. Das ist die Pointe von Kants Geld-und-Geist-Analogie: ausgangs des Jahrhunderts bringt er ganz selbstverständlich den »Begriff des größten u n d brauchbarsten aller Mittel des Verkehrs der Menschen mit Sachen, Kauf u n d Verkauf ( H a n del) genannt« mit d e m Begriff des »größten Verkehrs der Gedanken« in Verbindung (KWA VIII, 400). Die Medien Geld u n d Schrift rücken in seiner Morallehre zusammen, in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten folgt direkt auf das Kapitel »Was ist Geld?«, in dem auch die »Wissenschaften als Waren« apostrophiert werden, das Kapitel »Was ist ein Buch?« (vgl. ebd., 400-406).

Ausgehandelte Wahrheit Nicht allein die ökonomischen und typographischen Wachstumsprozesse führen um 1800 zu einer Konjunktur der Metaphorik des geistigen Handelsverkehrs. Ein anderer - paralleler u n d zugleich auch gegenläufiger - Strang ist die Herausbildung des modernen prozeduralen Vernunftbegriffs. W e n n Wahrheit nicht mehr substantialistisch als vorab gegebene u n d in einer adaequatio intellectus nur wiederzugebende O r d n u n g verstanden wird, sondern diskursiv - u n d >discurrere< heißt ja >umherlaufenumlaufen< - ausgehandelt werden m u ß , drängt sich die Analogie von Diskussion u n d Markt, von Geltung und Geld auf. 66 Discurrere u n d rationem reddere, die zwei zentralen

64

46

Büsch (1800), Bd. 1, 187 u. 332. Aus einem programmatischen Traktat von Johann Heinrich Campe (1788), zit. nach Raabe (1974), 105. Die Aufsätze von Raabe und - im selben Band — Martens enthalten eine Fülle von Belegstellen zur Umlaufmetaphorik. Der erste, der ausdrücklich die allgemeine Geltung vernünftiger Urteile mit dem >Allgemeinding< Geld zusammenbringt, ist Novalis. Vgl. Hörisch (1980), 397-414; Stadler (1980), 190-194.

60

Abgedrungene

Weltgemeinschafi

Momente des aufklärerischen Rationalitätsbegriffs, haben eine unmittelbare kaufmännische Evidenz. Es kommt - da der Wahrheitsbesitz problematisch geworden ist — nun darauf an, eine Behauptung in Umlauf zu bringen, als Verkäufer dafür geradezustehen und ihren Wert intersubjektiv auszuhandeln. 67 In beiden Dimensionen belebt Konkurrenz/Dissens das Geschäft, steigt der Reichtum mit der Diversifikation der Produktionsstätten und der Intensivierung des Austauschs (der Buchdruck ermöglichte die gleichzeitige Präsentation einer ungekannten Fülle kontroverser Standpunkte). In den modernen Prozeß der Wahrheitsfindung können unendlich viele neue Propositionen eingebracht werden (bei immer kürzeren Verfallsdaten der bereits zirkulierenden), solange sie den jeweiligen Rationalitätskriterien gehorchen. Handelsverkehr und Wahrheitsfindung sind progressive Universalprozesse, weder im Raum auf bestimmte Orte noch in der Zeit auf ein bestimmtes Abschlußdatum festlegbar. Es ist wohl kein Zufall, daß die Metaphorik der konsensuellen Wahrheit, die im >Umlauf< sich bildet und zunimmt, ebenfalls in besonderer Weise mit England verknüpft ist. Die klassische Formulierung findet sich bei Shaftesbury: Der Geist kuriert sich selbst. Freiheit und Austausch führen ihn zu seinem wahren Maßstab. Die einzige Gefahr liegt im Embargo. Hier geschieht dasselbe wie beim Handel. Steuern und Behinderungen fuhren beim Handel zur Ebbe, und nichts ist so vorteilhaft wie ein Freihafen.68 Auch hier ist es die sehr alte Bildlichkeit der zollfreien Gedanken (zurückzuverfolgen bis in die römischen Digesten), die im 18. Jahrhundert neue Brisanz gewinnt. Der immer ausgedehntere freie Tausch nach gerechten Anteilen wird zum anschaulichen Paradigma, das erlaubt, sowohl die realen ökonomischen und typographischen Wachstumsprozesse zu reflektieren als auch die normativen Rahmenbedingungen, die man diesen Prozessen geben will. Dem Aushandeln von Wahrheit auf der Ebene der Erkenntnistheorie entspricht in der politischen Philosophie das Aushandeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Auch der Bürger, den die kontraktualistischen Gesellschaftstheorien seit Hobbes vorstellen, ist ein Händler, der erst über Tauschverträge mit den anderen Individuen dauerhafte Verhältnisse eingeht (und nicht immer schon mit ihnen eine substantielle Gemeinschaft bildet).Wenn die Aufklärung generell darauf ausgeht, daß freigeborene, gleichberechtigte Menschen in selbstbestimmten Beziehungen leben sollen, macht sie die unhinterfragten Verbindungen und Zugehörigkeiten der Vergangenheit (auch diejenigen geistiger Art) zur Verhandlungssache. Aufklärung ist in diesem Sinn Handel, und Handel - vernünftiges Aushandeln der wechselseitigen Leistungen und Verpflichtungen - ist Aufklärung. 6 9

67 68 69

Darauf beruht die Anlage der Kaufmannsfigur in Lessings Nathan der Weise. Zit. nach Brandt (1989), 94f. Die Handelsnation England wird deshalb im 18. Jahrhundert zunehmend als Reich des autonomen Denkens, Handelns und Glaubens zum Aufklärungsland schlechthin stilisiert; vgl. M. Maurer (1987), v.a. 60ff.

Ausgehandelte

Wahrheit

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Bei alledem geht es nicht um eine bloße Analogisierung der beiden Sphären Waren- und Gedankenverkehr.70 Sie stehen vielmehr auch in einer metonymischen Beziehung. Schon der normale Handel, dessen ist man gewiß, erzeugt Geistesreichtum; umgekehrt ist intellektuelle Liberalität nach Ansicht vieler Zeitgenossen durchaus auch eine kommerziell lohnende Angelegenheit. Exemplarisch ließ sich diese Konstellation fur viele Autoren an Holland ablesen, der Händlernation schlechthin (bis England ihr den Rang ablief), die unter all den Waren, die sie ein- und ausführte, selbstverständlich auch Bücher offerierte, die anderswo in Europa verboten waren. Der Händler, der keine Grenzen respektiert, immer neugierig auf Fremdes ist, ist per definitionem AntiDogmatiker. Im holländischen Nationalcharakter verschmolzen für die ausländischen Betrachter händlerischer Wagemut und intellektuelle Offenheit zu einer Mischung, die materiellen und ideellen Wohlstand gewährt. Wie die fruchtbare >Zollfreiheit der Gedanken< am Paradigma Holland festgemacht wird, zeigt kein deutscher Text schöner als Georg Forsters Ansichten vom Niederrhein. Der Reisebericht entfaltet beispielhaft jenes imaginative Feld, in dem Warenumschlag, Freihafen, Kanalsystem, Gedankenverkehr und wissenschaftlicher Fortschritt eine subtile Verbindung eingegangen sind. Die Rede von den >Ideen in Umlauft durchzieht das ganze Buch.71 Wenn Forster generell auch den »Verfall des Holländischen Handels«72 seit 1779 beklagt, so kommt er an Ort und Stelle — in Amsterdam — doch nicht umhin, in Jubel auszubrechen. Also, nicht dem Auge allein, sondern auch dem Verstand erscheint Amsterdam von der Wasserseite in seinem höchsten Glänze. Ich stelle mich in Gedanken in die Mitte des Hafens, und betrachte links und rechts die Gruppen von vielen hundert Schiffen aus allen Gegenden von Europa; ich folge mit einem flüchtigen Blick den Küsten, die sich nach Alk-

70

Für das Wort >Gedankenverkehr< gibt das Deutsche Wörterbuch als frühesten Beleg eine Kantstelle an. Zugrunde liegt ihm das lateinische c o m m e r c i u m mentisCommerciurrn bezog sich ursprünglich auf drei Dimensionen: den gläubigen Herzensaustausch mit Gott, die gesellige Verbindung unter Menschen und ihre Handelsbeziehungen (vgl. Grafton ( 1997), 15). Diese Koppelung des Moralischen an das Merkantile machte wohl die Attraktivität des Wortfelds in der hier skizzierten Entwicklung aus. Die Rede vom >Ideenkommerz< war im Europa des 18. Jhs. verbreitet. Voltaire, um ein in diesem Zusammenhang einschlägiges Beispiel zu geben, regte 1733 in seinem Essai sur L· poésie épique einen »commerce mutuel d'observations« zwischen den europäischen Nationen an; sie sollten »une attention moins superficielle aux ouvrages et aux manières de leurs voisins« entwickeln (zit. nach Κ. Maurer (1997), 47). Als Auslöser einer europaweiten Anglomanie war Voltaire selbst einer der erfolgreichsten geistigen Zwischenhändler des Jahrhunderts. Das französische »commerce« hat dieses Bedeutungsspektrum noch länger bewahrt. Ein beeindruckendes Beispiel ist Valérys bereits erwähnter Aufsatz La liberté de l'esprit (Valéry (1960) Bd. 2, 1077-1099; vgl. v.a. 1084f. über den »commerce des esprits«). Valéry war von 1924 an redaktioneller Mitarbeiter der Kulturzeitschrift Commerce.

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Vgl. Forster (Ed. Steiner), Bd. 2, 500, 554, 588, 689f., 708. In seinen Parisischen Umrissen fuhrt Forster dann die Französische Revolution geradezu auf die lebhafte Ideenzirkulation in der Metropole Paris zurück; vgl. ebd. Bd. 3, 772f. Zur zeitgenössischen Apostrophierung von Paris als Hauptstadt des Wissens und einer neuen, spezifisch modernen Ideenzirkulation vgl. Stierle (1983) und Baxmann (1999; mit Begriffsregister). Ebd., 699.

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Abgedrungene Weltgemeinschaft maar und Enkhuisen erstrecken und auf der anderen Seite hin, den Busen des Texels bilden. Die Stadt mit ihren Werften, Docken, Lagerhäusern und Fabrikgebäuden; das Gewühl des fleißigen Bienenschwarms längs dem unabsehlichen Ufer, auf den Straßen und den Kanälen; die zauberähnliche Bewegung so vieler segelnden Schiffe und Boote auf dem Südersee, und der rastlose Umschwung der Tausende von Windmühlen um mich her - welch ein unbeschreibliches Leben, welche Gränzenlosigkeit in diesem Anblick! Handel und Schiffahrt umfassen und benutzen zu ihren Zwecken so manche Wissenschaft; aber dankbar bieten sie ihr auch wieder Hülfe zu ihrer Vervollkommnung. Der Eifer der Gewinnsucht schuf die Anfangsgründe der Mathematik, Mechanik, Physik, Astronomie und Geographie; die Vernunft bezahlte mit Wucher die Mühe, die man sich um ihre Ausbildung gab; sie knüpfte ferne Welttheile an einander, führte Nationen zusammen, häufte die Produkte aller verschiedenen Zonen — und immerfort vermehrte sich dabei ihr Reichthum von Begriffen; immer schneller ward ihr Umlauf, immer schärfer ihre Läuterung. Was von neuen Ideen allenfalls nicht hier zur Stelle verarbeitet ward, kam doch als roher Stoff in die benachbarten Länder; dort verwebte man es in die Masse der bereits vorhandenen und angewandten Kenntnisse, und früher oder später kommt das neue Fabrikat der Vernunft an die Ufer der Amstel zurück. - Dies ist mir der Totaleindruck aller dieser unendlich mannigfaltigen, zu Einem Ganzen vereinigten Gegenstände, die vereinzelt und zergliedert so klein und unbedeutend erscheinen. Das Ganze freilich bildet und wirkt sich ins Daseyn aus, ohne daß die Weisesten und Geschäftigsten es sich träumen ließen; sie sind nur kleine Triebfedern in der Maschine und nur Stückwerk ist ihre Arbeit. Das Ganze ist nur da für die Phantasie, die es aus einer gewissen Entfernung unbefangen beobachtet und die größeren Resultate mit künstlerischer Einheit begabt; die allzu große Nähe des besonderen Gegenstandes, worauf die Seele jedes Einzelnen, als auf ihren Zweck, sich concentrirt, verbirgt ihr auch des Ganzen Zusammenhang und Gestalt. 73

In den frühen neunziger Jahren, in denen Forster diesen Text schrieb, war es schon selbstverständlich, von der »Gewinnsucht« als Triebfeder des segensreichen Aufschwungs der Ö k o n o m i e u n d der Wissenschaften auszugehen ( d a r a u f k o m m e ich gleich zurück). Aufschlußreich an diesem Passus ist dreierlei. Z u m einen die schon erwähnte Wechselwirkung von ideeller u n d merkantiler Beschleunigung: ohne Geistesinnovation (Kreiselkompaß) keine Handelserweiterung, ohne neue Handelswege kein Zustrom von Ideen. Forster verbindet dies zudem - das ist das zweite M o m e n t — mit dem Modell einer geistigen Arbeitsteilung in Europa. Im Ideenumlauf gibt es nationale Verarbeitungsspezialisten (>was von neuen Ideen nicht verarbeitet werden kann, k o m m t als roher Stoff in die anderen LänderAnsicht< von Amsterdam präsentiert Goethe in einer vergleichbaren Intention den Frankfurter Roßmarkt - den »nützlichsten Warenund Marktplatz« (16. Aug. 1797 an Schiller, FA 31, 388ff.) - als »symbolische« Ansicht der modernen Verhältnisse. 74 Die »gewerbreiche Stadt« Frankfurt soll in ähnlicher Weise sehen

lassen, was nach Forster »nur da [ist] für die Phantasie« (von der

Notwendigkeit, die Szenerie »mit künstlerisch [er] Einheit« zu »begaben«, spricht Forster; Goethe vermutet, daß »poetische Stimmung« am Werk ist). W o Forster von einem »Totaleindruck« handelt, in den die Szenerie überführt werden kann, weist Goethe hin auf die »gewisse Totalität«, die die eminenten Marktplätze »in sich schließen«. U n d ganz selbstverständlich operiert auch Goethe mit der Geld-/Geist-Metaphorik: was er sehe, sei ihm »nicht unangenehm, weil es in der ganzen Masse meiner Kenntnisse mitzählt, und das Kapital vermehren hilft« (FA 31, 389).

Ökonomische und sittliche Weltvereinigung: Imagines des Kaufmanns Handel und Umlauf werden im 18. Jahrhundert zu dem Paradigma für Kommunikation überhaupt. Die Beliebtheit des Bildfelds hat sicher auch damit zu tun, daß ganz verschiedene Lebensordnungen hier unter den Prinzipien von Freiheit und Äquivalenz aufeinander beziehbar erschienen. Gerade deren Auseinandertreten mußte nicht realisiert werden, wenn überall uneingeschränkter Handelsverkehr als verbindendes Medium unterstellt wurde. D a s Aushandeln von Wahrheit in einem wissenschaftlichen Diskurs gehorcht aber ersichtlich anderen Rationalitätskriterien als der Abschluß eines Vertrags über die Lieferung von Wollstrümpfen. Wieder andere Kriterien müssen in Anschlag gebracht werden, wo Individuen über die Form ihres gesellschaftlichen Zusammenlebens verhandeln. Handel steigt gerade deshalb zur Synthese-Metapher schlechthin auf, weil die verschiedenen Arten, wie Menschen verbunden werden, in ihrem antinomischen Charakter in dieser Zeit immer deutlicher hervortreten. Wo zunehmend unsicher wird, wie wissenschaftliche Wahrheitsfindung, wirtschaftlich-mediale Verflechtung und humane Verständigung letztlich zusammenhängen, flüchtet sich auch die Philosophie gern hinter ein Bild. H u m e beginnt seinen Essay Über

gerliche

bür-

Freiheit (1742) mit einem beinahe verwunderten Hinweis auf die ausufernde

Diskussion über den Handel: »Bis ins letzte Jahrhundert« sei es niemand in den Sinn gekommen, »Handel [...] als Angelegenheit des Staates« zu betrachten; kein »Autor zur Politik« habe ihn erwähnt, nicht einmal einer aus den maritimen Stadtrepubliken Italiens. Heute dagegen beanspruche der Handel »die hauptsächliche Aufmerksamkeit von Staatsministern wie auch von spekulativen Denkern«. 7 5

74

75

Vgl. die Interpretation dieses Briefs bei Heinz Schlaffer (1981), 13ff. und Boyle (1999), 6 6 9 ff. Boyle weist d a r a u f h i n , daß »symbolisch« für das gestrichene Wort »regulativ« eingesetzt wird, das M o m e n t der Anschaulichkeit also gar nicht ausschlaggebend ist. H u m e (1988), B d . 1, 95.

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Abgedrungene

Weltgemeinschaft

Die politökonomische Dynamik der Verflechtung von Regionen zu Nationen und von Nationen zu einer >respublica mundana«, in deren Gefolge auch die traditionellen Sozialgefiige ins Wanken gerieten, ließ schon früh die Frage aufkommen, welche Art von Verkehr die Menschen in diesen vergrößerten Räumen verbinden solle. Lange Zeit wurde dem weltumspannenden Handel zugetraut, die moralische Weltvereinigung gleich mitzubesorgen. In England bildet sich in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Ideologie des kaufmännischen Geistes heraus, die den Transfer religiöser Einheitssehnsüchte in die Sphäre des Ökonomischen besonders anschaulich illustriert. Als Agenten der »großen Zirkulation«, die durch alle Weltteile geht,76 vollbringen die Kaufleute ein Vereinigungswerk, dem in der einschlägigen Literatur deutlich die Aura einer göttlichen Mission verliehen wird. Der Handelsgeist, der das Getrennte vielfach miteinander in Berührung bringt, kann Anspruch erheben, der schlechthin humane Geist zu sein. Großen Erfolg hatte um die Jahrhundertmitte George Lillos Trauerspiel The London Merchant — ein Stück, das dank der naiven Unverblümtheit, mit der seine kaufmännischen Protagonisten (sie tragen die redenden Namen Thorowgood und Trueman) als Repräsentanten des moralischen Welthandels auftreten, historisch von besonderem Interesse ist.77 Den ideellen Hintergrund von Lillos Drama bildet das physikotheologische Konstrukt eines Gottes, der eine Vielfalt von Früchten auf die verschiedenen Nationen verteilt hat, dem Menschen (v.a. dem Engländer) zugleich aber den Unternehmungsgeist einblies, die Fülle dieser Spezialitäten wieder kreuz und quer auf dem Globus einzusammeln und der ganzen Gattung verfügbar zu machen. Die Zweckmäßigkeit einer solchen auf den Handel angelegten und in ihm kulminierenden Welteinrichtung verhilft dem britischen Commonwealth zu hohen moralischen Weihen. Exemplarisch zeigt das ein Zitat aus Addisons Spectator. Nature seems to have taken a particulare Care to disseminate her Blessings among the different Regions of the World, with an Eye to this Mutual Intercourse and Traffick among Mankind, that the Natives of the several Parts of the Globe might have a kind of Dépendance upon one another, and be united together by their common Interest. [...] For these Reasons there are not more useful Members in a Commonwealth than Merchants. They knit Mankind together in a mutual Intercourse of good Offices, distribute the Gifts of Nature, find Work for the Poor, add Wealth to the Rich, and Magnificence to the Great.78

Im London Merchant nimmt sich dasselbe Programm einer Humanisierung durch den »mutual intercourse« des Welthandels folgendermaßen aus (es spricht der brave Handelsgehilfe Trueman): »Ich sehe es wohl ein, daß in denen Ländern, wo man dem Commercewesen aufzuhelfen suchet, dasselbe eine Quelle vieler nützlicher Entdek-

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77 78

So der Ausdruck, den Wilhelm Meisters Schwager Werner in den Lehrjahren gebraucht (FA 9, 390). Eine wichtige Rolle in der Herausbildung dieser Ideologie des »trade« und seiner wohltätigen »circulation« spielen Daniel Defoes Zeitschriften Review und Mercator, vgl. Schulin (1969), 330f., der auf die scholastische Tradition der Verklärung des gottgewollten Handels« hinweist. Vgl. Szondi (1973); Müller in den Erläuterungen zu Lillo (1981), 118-150. Zit. nach K.-D. Müllers Ausgabe der deutschen Übersetzung des London Merchant, Müller (1981), 129.

Ökonomische und sittliche Weltvereinigung: Imagines des Kaufmanns

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kungen ist, daß es Freundschaften stiftet, die Menschen gesitteter und höflicher macht, und daß es die verschiedenen Nationen die Kunst lehret, durch einen billigen Tausch sich untereinander die notwendigen Sachen mitzutheilen, welche die Natur dem einen Lande versaget, und womit sie das andere reichlich versehen hat.« 79 Eine für die Handlung des Stücks völlig bedeutungslose Szene fugt Lillo eigens ein, um die Londoner Kaufleute als Friedensstifter zu präsentieren (sie verhindern durch ihren Einfluß auf Genueser Bankiers, die der spanischen Krone Militärkredite gewähren sollen, einen Waffengang zwischen England und Spanien). Der angestrengte Kunstgriff zeigt, daß die bis ins 16. Jahrhundert hinein selbstverständliche Identifizierung des Handels mit negativen Eigenschaften - unchristlichem Gewinnstreben und kriegerischen Plünderungsbedürfnissen — untergründig virulent geblieben war. Es bedarf noch eines spürbaren propagandistischen Aufwands, um den Kaufmann als das moralische Wesen schlechthin durchzusetzen. Bereits bei Montesquieu zeichnet sich jedoch jene Wende im Bild des humanen Kaufmanns ab, die die Schotten Ferguson und Smith dann deutlich vollziehen: die Trennung des Handels und seiner systemischen Effekte von den moralischen Intentionen seiner Agenten. Montesquieu beginnt sein großes Kapitel über den Handel im Geist der Gesetze mit Ausführungen, die eine Ideologie des »doux commerce« im Sinn der Engländer zu verkünden scheinen. Der Händler ist demnach immer auch ein Reisender, der nicht nur um der materiellen, sondern auch um der kulturellen Bereicherung willen in die Welt hinauszieht. Seine Weltoffenheit trägt wesentlich dazu bei, daß Informationen über fremde Kulturen in Fluß kommen. So eignet schon dem gewöhnlichen Konsumgüterhandel eine höhere geistige Dimension. Wer tauscht mit den Fremden, muß sie - wenigstens in gewissem Umfang - zu verstehen trachten, wer hingegen ihre Güter aneignen will, schlägt sie tot. Handel, Verstehen und Zivilisierung des interkulturellen Umgangs gehen Hand in Hand. Montesquieu eröffnet sein Kapitel über den Handelsgeist mit diesem Topos: »Der Handel beseitigt störende Vorurteile, und es gilt beinahe allgemein die Regel, daß es da, wo sanfte Sitten herrschen, auch Handel gibt und daß überall, wo es Handel gibt, auch sanfte Sitten herrschen.« 80 Pointiert gesagt: die moralische Tiefe des »esprit de commerce« liegt darin, daß er einen unablässigen »commerce des esprits« eröffnet. Bereits im nächsten Absatz führt Montesquieu aber Begriffe ein, die das moralische Pathos dämpfen: »Interesse« und »wechselseitige Abhängigkeit«. Die friedensstiftende Wirkung des Handels hat demnach eher mit Kalkül als mit Menschenliebe zu tun. »Die natürliche Wirkung des Handels besteht darin, zum Frieden geneigt zu machen. Zwei Völker, die miteinander Handel treiben, werden wechselseitig abhängig voneinander: hat das eine Interesse zu kaufen, so liegt dem anderen daran zu verkaufen«. 81 Montesquieu befaßt sich allein mit der sittlichen Wirkung des Handels, ohne sie naiv

79 80 81

Ebd., 36. Montesquieu (1992), Bd. 2, 2. Ebd., 3

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mit der moralischen Vortrefflichkeit der Händler gleichzusetzen. »Wenn auch der Geist des Handels die Völker eint, so eint er nicht in gleicherweise die einzelnen.« 82 Handel u n d Verständigung sind n u n nicht mehr einfach miteinander identifiziert, sondern auf eine Weise ineinander verschränkt, die mehrere Optionen offenhält. Die Verstetigung der Handelsbeziehungen schafft wechselseitige Abhängigkeiten, institutionalisiert einen beständigen Dialog u n d kann so irgendwann zu einem Klima größerer interkultureller Toleranz 83 führen; eine handeltreibende Kultur kann also insgesamt immer weltoffener werden, während die direkt mit dem Handel Befaßten vielleicht immer verhärteter u n d habgieriger werden. Die moralischen Fortschritte des Handelsgeists sind demnach Folge und nicht Grundlage des »Interesses«, sie bewegen sich außerdem auf einer abstrakteren, atmosphärischeren Ebene u n d haften nicht unmittelbar an den konkreten Tauschakten u n d ihren Protagonisten. Bei Lillo hingegen war das kaufmännische Wesen per se mit Lauterkeit verbunden. »Sollte auch jemals ein niederträchtiger Gedanke in euch aufsteigen«, sagt Thorowgood zu Trueman, »so müste doch die Vorstellung eures Standes euch alles das, was der Vortreflichkeit desselben nachtheilig ist, ihn großmüthig verachten lehren.« 84 Adam Ferguson in seinem Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft (1767) reinigt den Fernhändler noch energischer von allen philanthropischen u n d patriotischen Motiven. Ferguson zeigt, daß sachlich das unmittelbare Handelsinteresse u n d der Geist der Verbrüderung nicht zusammengehen. Liebe zur Menschheit oder zur Nation sind schlechte Ratgeber fürs Geschäft. »Vergißt der K a u f m a n n sein Eigeninteresse, u m große Pläne für sein Vaterland zu schmieden, so ist der Zeitpunkt der Visionen u n d Hirngespinste nahe, die solide Basis von Handel u n d Gewerbe aber untergraben.« 85 Als wolle er Lillo direkt kontern, erinnert Ferguson daran, »welch mächtige Armeen vom Ladentisch aus in Bewegung gesetzt werden können, wie oft menschliches Blut gegen Wechselbriefe gekauft u n d verkauft wird, ohne daß zwischen den Nationen überhaupt Feindseligkeiten bestehen.« 86 Wenn Handelserweiterung u n d Friedenssicherung langfristig konvergieren, d a n n aufgrund von Lernprozessen, die die Menschen unter dem Eindruck sachlicher Interessen u n d Zwänge durchlaufen. »Man hat die Beobachtung gemacht, daß es bei einigen Völkern der Handelsgeist gewesen ist, der, ganz darauf bedacht, seine Gewinne zu sichern, gerade dadurch der politischen Weisheit den Weg gebahnt hat.« 87

Ebd. »Der Handelsgeist weckt in den Menschen ein gewisses Gefühl für strenge Rechtlichkeit, das sich einerseits jeder Ausbeutung, andererseits aber auch jenen sittlichen Anschauungen widersetzt, die einen veranlassen, nicht immer starr auf seinen Ansprüchen zu bestehen, sondern sie auch einmal zugunsten der anderen zurückzustellen.« Ebd. Lillo (1981), 7. Ferguson (1986), 286. Ebd., 295. Ebd., 448.

Ökonomische und sittliche Weltvereinigung: Imagines des Kaufinanns

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Adam Smith schreibt diese Figur einer umwegigen Moralisierung konsequent fort. Bei ihm verliert das Fernhändlertum endgültig die Aura einer göttlichen Misssion. Nicht einmal die alte physikotheologische Funktion, die Schätze der verschiedenen Erdzonen zu versammeln, bleibt strenggenommen erhalten, weil moderne Produktionstechniken die Erzeugung fast aller Früchte in fast allen Regionen der Welt ermöglichen. In einer etwas drollig wirkenden Passage spielt Smith mit dem Gedanken, daß auch die Schotten »in Treibhäusern, Mistbeeten und mit erwärmtem Mauerwerk [...] recht gute Trauben ziehen und daraus auch sehr gute Weine keltern« könnten, die nicht einmal hinter den beneideten französischen Vorbildern zurückstehen müßten. 88 Nur — so beschließt Smith lakonisch seine nordische Vision — »würden sie etwa dreißigmal soviel kosten wie ein zumindest gleich guter aus dem Ausland.« 89 Das Beispiel ist aufschlußreich, weil es zwei Verschiebungen in der gängigen Kaufmannstopik illustriert. Zum einen allgemein die das Jahrhundertende faszinierende Vorstellung, WeltTotalität nicht durch Ausschweifen zusammenlesen zu müssen, sondern künstlich an einem Punkt zu produzieren bzw. zu präsentieren - in Gewächshäusern, Museen und Weltausstellungen 90 (die Züchtung und Sammlung von Weltkuriositäten an einem Ort ist ein Phänomen, das die europäische Expansion von Beginn an begleitet; neu ist der Wunsch, dies alles der Öffentlichkeit verfügbar zu machen). Z u m andern, speziell bei Smith, die Abwertung der Distributions- gegenüber der Produktionssphäre. Smiths Wealth of Nations polemisiert generell gegen den Mythos des reichtumschenkenden Außenhandels; wieviel Kapital mit welchen Verwertungschancen in die Kanäle des Fernhandels fließt, hängt von Entwicklungen der inländischen Produktion und des Binnenhandels ab. Weder ist der »universal merchant« 91 bei Smith die Figur, die der Nation ihren Wohlstand verschafft, noch ist er Held und Abenteurer (jeder Handelsmann wird — solange Rentabilitätsinteressen ihm nichts anderes gebieten — eher im sicheren, überschaubareren Binnenhandel investieren), noch ist er Menschheitsfreund oder Patriot. Patriotisches Gebaren war, wie Smith schonungslos aufdeckt, im Gegenteil der Deckmantel für »die unverschämte Eifersucht von Kaufleuten und Unternehmern«, 92 die sich Monopole sichern und ausländische Kaufleute aus ihrem Einflußbereich verbannen wollten. Im merkantilistischen Protektionismus pflegten ganze Staaten das »nationale Vorurteil«, das »von einzelnen Kaufleuten aus persönlichem Interesse

88 89 90

92

Smith (1978), 3 7 3 . Ebd. D i e Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts sind gleichsam der Versuch, der Metapher des geistigen Handelsverkehrs zur massenwirksamen Anschaulichkeit zu verhelfen. D i e erste Weltausstellung in L o n d o n 1852 präsentierte zwar vor allem Produkte des britischen E m pire, den anderen N a t i o n e n wurde aber immerhin so viel Platz eingeräumt, daß die Leitvorstellung, globale Warenzirkulation führe zu globaler wechselseitiger Kenntnisnahme und trage damit zur friedlichen Verständigung der Menschheit bei, an der Produktenvielfalt ablesbar schien. So der Titel eines Buchs von Meggens, das Smith öfters zitiert. Ebd., 4 0 7 .

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Abgedrungene

Weltgemeinschaft

stets gefördert und entfacht« worden sei.93 So wurde der »Handel, der seiner Natur nach unter Völkern wie unter einzelnen Menschen eigentlich ein Band der Eintracht und Freundschaft knüpfen sollte, [...] zu einer höchst starken Quelle für Uneinigkeit und Feindschaft.« 94 Die Überwindung solcher Borniertheit fordert Smith nicht um der Menschenliebe, sondern um der Produktivität willen. Die Nationen, die glauben, Reichtum nur durch Pauperisierung ihrer Nachbarn erlangen zu können, schneiden sich ins eigene Fleisch. »In Wirklichkeit ist [...] der Wohlstand eines benachbarten Volkes, wenngleich im Kriege und in der Politik gefährlich, im internationalen Handel ganz sicher nur von Vorteil.«95 Die naive Identifikation von Welthandel, Weltverbrüderung und Weltfrieden, die Smith aus der Tradition seiner Heimat so gut kannte, ist damit am konsequentesten zurückgenommen. Weltvergesellschaftung ist ein ökonomisch-technisches Geschehen, das unmittelbar mit Moralität nichts zu tun hat. Auch die berühmte Metapher der »unsichtbaren Hand« zielt nicht darauf, den sachlichen Prozeß automatisch in eine sinnvolle humanitäre Angelegenheit zu verwandeln. Die unsichtbare Hand hat nichts von einer göttlichen Vorsehung, die zugleich mit der Vermehrung des Reichtums durch dynamisch expandierende Märkte der Menschheit universelles Glück und versöhnte Einigkeit schenkte. 96 Smith greift einen Terminus aus dem Umkreis der alten Geschichtstheologie nur auf, um das neue Modell einer selbstregulativen Ordnung, zu der sich die blinden, interessegetriebenen Einzelaktivitäten der modernen Wirtschaft zusammenschließen, zu illustrieren.97 Da das zentrale Gesetz dieser Ordnung ein Aquivalenzprinzip ist (Austausch zu gleichen Tauschwerten), da weiterhin dieses Gesetz nur in einer verbindlichen Rechtsordnung funktionieren kann, ist es möglich, den sachlichen Prozeß mit der Aussicht auf moralische Fortschritte zu verbinden. Gewißheit gibt es darüber aber keine. Wer äquivalent tauscht, muß mit Gerechtigkeit nichts im Sinn haben, allenfalls mit Recht. Der Austausch von gleichen Werten ist gegenüber moralischen Werten weitgehend indifferent. Erst durch Smiths Ausnüchterung des Welthandels (der Weltwirtschaft) wird die Frage deutlich konturiert, an der sich die folgende Geschichtsphilosophie abarbeitet: »ob und wie diesem unkontrollierbaren Prozeß ein humanes Ziel zugewiesen werden kann.«98 Die Vermittlung von systemischer

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97 98

Ebd., 389. Ebd., 406f. Ebd., 407. In der »invisible hand«-Passage im Wealth of Nations (ebd., 371) geht es ja auch nur um die Zunahme, die der allgemeine materielle Wohlstand der Nation dadurch erfährt, daß die Einzelnen konsequent ihren privaten Geschäftsinteressen nachgehen (wobei Smith die ungleiche Verteilung dieses Reichtums keineswegs verschweigt). Smith weist darauf hin, daß die Kaufleute mittlerweile wohl selbst keinen allzugroßen Wert mehr darauf legten, patriotische Motive unterstellt zu bekommen: »Alle, die jemals vorgaben, ihre Geschäfte dienten dem Wohl der Allgemeinheit, haben meines Wissens niemals etwas Gutes getan. Und tatsächlich ist es lediglich eine Heuchelei, die unter Kaufleuten nicht weit verbreitet ist, und es genügen schon wenige Worte, um sie davon abzubringen.« (Ebd.) Vgl. Kittsteiner (1980) 164. Ebd., 163.

Kriegsgeist und Handekgeist

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geschichtlicher Bewegung und moralischen Lernprozessen wird jetzt erst zum klar erkannten Problem. In der Theory ofmoral sentiments unterscheidet Smith drei Medien zwischenmenschlicher Verbindung: Sympathie, Gespräch und Tausch. Im Wealth of nations ist vom Gespräch oder gar der Liebe zwischen den Völkern nicht die Rede. Auch ein Handelsverkehr, bei dem Schöngeistiges« in Umlauf gebracht würde, kommt in den langen Handelskapiteln dieses ökonomischen Jahrhundertwerks nicht vor. Smith thematisiert allein die Zirkulation der produktionsrelevanten Ideen, den »gegenseitige [n] Austausch von Wissen und technischen Kentnissen aller Art«.99 Diesen Austausch bringt, so Smith, »ein umfassender Handel aller Länder untereinander ganz von selbst, ja fast zwangsläufig, mit sich.«100 Da »Wissenschaft und Forschung« unter Bedingungen der commercial society zu Produktionsfaktoren ersten Ranges werden,101 fuhren die Gesetze der Konkurrenz »von selbst« zu ihrer übernationalen Verbreitung. Keiner kann es sich leisten, die intellektuellen Innovationen der anderen nicht zu erwerben. Vielleicht, so deutet Smith abschließend an, hat die Verdichtung des technischwissenschaftlichen Ideenverkehrs moralisch wohltätige Folgen. Der beständige Fluß von Forschungsergebnissen und technischen Kenntnissen über den ganzen Erdball könnte die Unterlegenheit der nichteuropäischen Völker aufheben und zu einem planetarischen »Gleichgewicht der Kräfte« fuhren: »Vielleicht können künftighin die Eingeborenen jener Länder [in Übersee; M.K.] stärker und machtvoller, die Macht der Europäer aber schwächer werden, so daß die Bewohner aller Regionen der Welt den gleichen Mut und die gleiche Stärke erlangen, wodurch es zu einem Gleichgewicht in der Abschreckung kommt, das allein die Ungerechtigkeit unabhängiger Nationen in eine Art Respekt vor den gegenseitigen Rechten umzuwandeln vermag.«102 Die allgemeine Verbreitung von Wissenschaft und technischem know how führt zu Effizienzsteigerungen auch im militärischen Bereich. So ergibt sich die Utopie einer gerechteren Welt, die durch ein »Gleichgewicht in der Abschreckung« in Balance gehalten wird. Vom »mutual intercourse« seiner Landsleute, der mit den Waren gleich auch die Völkerverständigung und den Frieden bringt, ist die Smithsche Weltordnung des Interesses denkbar weit entfernt. Kriegsgeist und Handelsgeist Wenn Autoren wie Lillo und Addison die englischen Händler zu internationalen Friedensstiftern machen, antworten sie auf eine traditionelle Diskriminierung des Kaufmannsstands: die aristokratische Entgegensetzung von feurigem Kriegs- und berech-

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Smith (1978), 527. Ebd. Vgl. ebd., 14 Ebd., 527.

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Abgedrungene Weltgemeinschafi

nendem Handelsgeist. 103 In dieser idealtypischen Kontrastierung der Edelleute war der Kaufmann - wenn ihm denn ein friedliches Wesen attestiert wurde - allenfalls die Verkörperung einer langweiligen, durchschnittlichen Krämerseele.104 Selbst beim Baron von Montesquieu ist dieses Denkmuster noch zu spüren, wenn er z.B darauf besteht, daß der Adel mit kaufmännischen Umtrieben sich nicht befassen solle (jedenfalls in einer Monarchie) 105 ; ritterliche »Ehre« und Handelsgeist vertragen sich nicht. Auf der anderen Seite gibt es für Montesquieu durchaus die Figur des heroischen Kaufmanns. Die größere Rechtssicherheit, die das kaufmännische Eigentum in Republiken genießt, fuhrt Montesquieu zufolge sogar zu einer Stärkung der Risikobereitschaft. Der republikanische Händler beginnt »Unternehmungen von einer Größe und Kühnheit, wie man sie in den Monarchien nicht findet«.106 Wo der Handel in Texten des 18. Jahrhunderts positiv konnotiert wird, muß - um die Stereotype des feigen Krämers abzuwehren - der Wagemut oft eigens betont werden. Ein spätes Beispiel für diese Assoziation gibt Hölderlins hymnischer Gesang Andenken.

Von den Seehändlern heißt

es dort zunächst ganz im Sinn des Weltvereinigungstopos: »Sie, wie Maler, bringen zusammen das Schöne der Erd«. Der nächste Vers präzisiert sofort: »Und verschmähn den geflügelten Krieg nicht«. Die emphatische Auszeichnung der Händler als WeltKünstler genügt offenbar nicht. Handelsgeist ohne Heroismus käme in den Verdacht der schlauen Geschäftstüchtigkeit. Der Krieg, der den Geist beflügelt und damit die wahre Quelle kultureller Produktivität ist, bleibt generell ein zentrales Denkmodell im 18. Jahrhundert. China, die »schlaffe Despotie«, ist immer wieder das abschreckende Beispiel für kulturelle Lethargie, hervorgerufen durch allzulange Friedenszeiten. »Die Völker schwiegen, schlummerten, da kam der Krieg«, beginnt ein Gedichtentwurf Hölderlins aus dem Jahr 1798. Das Schreckgespenst einer >mechanischen< durchkommerzialisierten Kultur, die befriedet, aber leblos geworden ist, weil sie vom Pathos der großen Leidenschaften und der Energie der selbstlosen Kämpfe nichts mehr weiß, beschwören sowohl die alte adlige Oberschicht wie die jungen Protestbewegungen des Sturm und Drang und der Frühromantik. Zum Gegentypus des friedlichen, aber leblosen Kaufmanns wird in der Kritik der jungen Generation der Bürger (v.a. der Jüngling) der antiken Polis.107 Ab der Jahrhundertmitte verdrängt diese Abwertung merkantilen Geistes, die selbst aus bürgerlichen Aufbruchsbewegungen kommt, die alte aristokratische Position. Ab sofort geht es dar-

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105 w6 107

Vgl. hierzu Hirschmann (1984). Der Kaufmann konnte aber aus dieser Perspektive genausogut als habgieriger Räuber diffamiert werden. Im Unterschied zum Adligen ging es ihm aber nicht um die zweckfreie Schönheit der großen Tat, sondern um kalkulierte Gewalt im Hinblick auf Gewinn. Der Krämer >kämpft< nach dieser Topik am liebsten im Rücken adliger Heere. Montesquieu (1992), Bd. 2, 18f. Ebd., 6. Auch der freie Bürger der Antike definiert sich ja durch die Muße, die den Einsatz für Politik und Krieg ermöglicht. Der Geschäftsmann hat sie nicht (neg-otium).

Kriegsgeist und Handekgeist

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um, das Pathos und die exzessive Größe der kriegerischen Tat nicht im Sinn aristokratischer Selbstbezogenheit zu retten (in der großen Tat zeigt sich die edle Person), sondern im Hinblick auf den Gemeingeist. Der schlechten Vereinigung moderner Gesellschaften aus >kaltem< merkantilen Geist wird die leidenschaftliche Vereinigung der alten Stadtstaaten aus >heißem< patriotischem Geist entgegengestellt. Die PatriotismusWoge der zweiten Jahrhunderthälfte (mit dem beliebten Motiv des Todes fürs Vaterland) hat so zugleich eine antiaristokratische und antikommerzielle Stoßrichtung. Patrioten sind Bürger, die gegen absolutistischen Despotismus für die Freiheit kämpfen; Patrioten sind aber zugleich Bürger, die unter Freiheit etwas anderes verstehen als die Möglichkeit, ungehindert ihren Geschäften nachzugehen, und die sich deshalb mit Inbrunst für das freie Gemeinwesen opfern. Die mächtigsten Impulse bezog dieses Denken aus dem Rousseauismus. In Rousseaus Schriften verliert der Handel nicht bloß seine moralische Aureole; er wird in einem radikalen Gegenschlag sogar zum Inbegriff der Desintegrationskräfte der modernen Gesellschaft. Für die Ideologie des völkerverbindenden Handels hat Rousseau nur Hohn und Spott übrig. Die Katastrophe tritt für ihn schon dadurch ein, daß Völker über die Grenzen ihres angestammten Raums hinausbegehren und miteinander in Berührung kommen. Sogleich beginnt ein geistiger Handelsverkehr der übelsten Art. »Alles, was den Austausch zwischen den verschiedenen Nationen erleichtert, trägt nicht zu den einen die Tugenden der anderen, sondern ihre Verbrechen, und verändert bei allen die Sitten, welche ihrem Klima und der Beschaffenheit ihrer Regierung angemessen sind.«108 Die moralische Vortrefflichkeit des Wilden beruht zu einem Gutteil darauf, daß er keinen Begriff von Eigentum hat und deshalb auch keine berechnenden Tauschbeziehungen unterhält. Die Sphäre des Tauschs ist für Rousseau die Sphäre der Täuschung: Eigenliebe (amour propre), Interesse und Konkurrenz bestimmen das Verhalten und führen zu wechselseitigem Belauern. Der Handel gehört - wie das geistreiche Salongespräch, bei dem das Individuum sich selbst verkauft - in die Dimension des sozialen Scheins; er ist das Gegenbild zur Vereinigung in Liebe und spontaner Herzenseröffnung. Die Intensivierung der internationalen Beziehungen durch Handel verwandelt die Welt in ein unwahres Ganzes: »Ich glaube, man kann eine genaue Schätzung der Sitten der Menschen nach der Vielzahl der Geschäfte machen, die sie miteinander haben: je mehr sie ihre Talente und ihren Kunstfleiß bewundern, um so mehr begaunern sie sich mit Anstand und Geschicklichkeit und um so mehr verdienen sie Verachtung. Ich sage es mit Bedauern: der gute Mensch ist der, der niemanden zu täuschen braucht, und der Wilde ist dieser Mensch.«109 Äußerlich mag es in der modernen Gesellschaft friedlicher zugehen, die Welt nähert sich vielleicht wirklich einer Verfassung, in der das Geschäftsinteresse den Krieg verdrängt haben wird. Lebenswert ist die verwissenschaftlichte und kommerzialisierte Welt, die das Zeitalter der Aufklärung heraufführt, für Rousseau indessen nicht. 108 109

Rousseau (1978b), Bd. 1, 153. Ebd., 159.

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Abgedrungene Weltgemeinschaft Es gibt keine aufrichtigen Freundschaften mehr, keine wirkliche Hochachtung, kein festes Zutrauen. Argwohn, Mißtrauen, Furcht, Kälte, Zurückhaltung, Haß und Verleumdung werden sich ewig unter diesem einförmigen und betrügerischen Schleier der Höflichkeit, dieser gepriesenen Feinheit der Sitten verstecken, welche wir der Aufklärung unseres Jahrhunderts zu danken haben. [...] Der Nationalhaß der Völker wird verlöschen, zugleich aber auch die Liebe zum Vaterland."0

Gegen diese Vision einer in Frieden erkalteten Welt setzt Rousseau sein Bild der kleinen, überschaubaren, durch leidenschaftlichen Geist zusammengehaltenen Gesellschaften. Das antike Sparta erscheint im Ersten Discours als Hort einer Männergemeinschaft, die weder durch Wissenschaft, noch durch Handel, noch - was ebenfalls eine ernstzunehmende Gefahr darstellt — durch eitle Gefallsucht gegenüber Frauen in ihrem Zusammenhalt bedroht ist: das Ideal einer Republik, in der die Männer, wie es an anderer Stelle heißt, zugleich Freunde, Bürger und Soldaten sind." 1 Rousseaus Apotheose umgrenzter, erfüllter Gemeinschaftlichkeit ist die Extremposition in der Globalisierungsdebatte des 18. Jahrhunderts. D a ß das Zuhalten auf die moderne >Weltrepublik< eine fatale Entwurzelung der Menschen bedeutet, durch die auch die mögliche Befriedung der internationalen Verhältnisse wertlos gemacht würde, hat kein anderer Autor so rigide (und mit solcher Ausstrahlung in die anderen europäischen Länder) behauptet. Rousseaus »Theorie des Verstrickungszusammenhangs der modernen W e l t « " 2 ist die Folie, vor der Herders Argumentation zu sehen ist (vgl. Kap. 3); in Abhebung gegen Rousseau lassen sich auch einige Grundzüge der britischen Entwicklung sehr viel besser charakterisieren. Ich wähle als Beispiel noch einmal Ferguson. Im Hintergrund seiner Überlegungen steht deutlich jenes Leitbild des Gentleman, das im Britannien des 18. Jahrhunderts gerade durch eine konsequente Entheroisierung des kriegerischen Adelsideals durchgesetzt worden war. 113 Für eine Repristination leidenschaftlich-militanter Volksverbundenheit fühlt sich Ferguson schlicht zu sehr als Repräsentant einer »polished nation«. In einem mentalen Klima, das durch die Orientierung auf c o m m o n sense, pragmatischen Ausgleich und die kultivierte Selbstbeherrschung ihrer Autonomie sehr wohl bewußter Individuen geprägt ist, wirkt das hitzige Gemeinschaftspathos mancher kontinentaler Patriotismen eher befremdlich. Das Menschengeschlecht sei, schreibt

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1.1 1.2 1.3

Ebd., 36; vgl. die parallele Kritik Herders an einem laschen, aus allen ursprünglichen Bindungen gelösten Weltbürgertum (HW 4, 75). Ganz analog ist auch Herders Argumentation in dem frühen Aufsatz Haben wir noch jetzt das Publikum und Vaterland der Alten? (HW 1, 40-55). Dieses Rousseau-Motiv - die allein motivierende Kraft des kleinen, sinnlich erfahrbaren Gemeinwesens — bildet später auch einen wiederkehrenden Gegenstand der Diskussion zwischen Goethe und Herder. Im Kommentar zu einer Stelle aus Herders Ideen (HW 6, 359f.) spricht Goethe einmal von der möglichen Überforderung durch eine abstrakte, planetarische Humanität, in der am Ende »die Welt ein großes Hospital und einer des anderen humaner Kranckenwärter werden« könnte (FA 30, 306). Rousseau (1978b), Bd. 1, 442. Stierle (1998), 67. Vgl. Schwanitz (1995), Bd. 2, 19.

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Ferguson, zu beglückwünschen, »daß es einem Zustand barbarischer U n o r d n u n g u n d Gewalttätigkeit entronnen ist und in einen Zustand inneren Friedens u n d regelmäßiger Politik gelangt ist.«114 Deshalb bleibt es für diesen Autor richtig, wenn im öffentlichen Ansehen als exemplarisch »zivilisierte Menschen« v.a. »Gelehrte, Leute von Welt u n d Händler« anerkannt werden. 115 Zwar machen die verfeinerten Gesellschaften der Moderne Ferguson zufolge die Erfahrung, daß die »Teilung der Berufe in gewissem M a ß e dazu [fuhrt], die Bande der Gesellschaft zu zerbrechen. [...] Es k o m m t dahin, daß die Gesellschaft nur aus Teilen besteht, von denen kein einziger vom Geist der Gesellschaft selbst beseelt ist.«116 Mitglieder solcher Gesellschaften »sind mit keinen gemeinsamen Angelegenheiten außer mit denen des Handels befaßt«. 117 Soziale Synthesis durch Handel (oder allgemeiner: durch bloß funktionale Beziehungen in einer hochgradig arbeitsteiligen Gesellschaft) kann die »Bande politischer Einigung«," 8 die die antiken Gemeinwesen in einem »kriegerischen Geist«" 9 zusammenhielten, nicht ersetzen. Trotz dieser Einsicht in das drohende »Nachlassen des Nationalgeistes«' 20 in den modernen Gesellschaften stimmt Ferguson aus den erwähnten G r ü n d e n aber in die sehnsüchtige Beschwörung von »Hingebung u n d Geisteskraft«, die »das einende Band u n d die Stärke« der Gesellschaften des Altertums ausmachten, 1 2 1 nicht ein. Die »kriegerischen Maximen«, die die griechische D i c h t u n g uns vorstellt, seien »dieselben, wie sie in den Wäldern Amerikas herrschen«; 122 durchaus beeindruckend, wo sie »brennende Liebe [zum] Vaterland« u n d »Geringschätzung von Leiden u n d Tod in dessen Dienst« 123 vorstellen, erschreckend, wo sie in archaischer Grausamkeit gegen die »auswärtigen Nebenbuhler u n d Feinde« 124 schwelgen. Die neuzeitliche Errungenschaft, »die Gesittungen des Friedens auch in die Praxis des Krieges einzubringen«, möchte Ferguson nicht missen. »Betrachtet m a n die Völker der Antike von dieser Seite, so verdienen sie kaum die H o c h a c h t u n g der Völker des modernen Europa.« 125 Ferguson hat vor Adam Smith, den er emphatisch als seinen nationalökonomischen Vollender ankündigt, 1 2 6 mit dem theoretisch feinsten Instrumentarium unter den Zeit-

Ferguson (1986), 398f. Ebd., 370. Ebd., 388. Ebd., 390. Ebd., 391. Ebd., 407. Titel des Fünften Teils, Kapitel 3 u. 4. Ebd., 371. Ebd., 364. Ebd., 361. Ebd. Die stereotype Konfrontation von feurig-kriegerischem Einheitsgeist und zersetzender Krämerrationalität wurde im Ersten Weltkrieg endgültig zum ideologischen Kampfmittel; vgl z.B. Werner Sombarts Buch Händler und Helden, das 1915 den deutschen »Militarismus« gegenüber dem englischen »Kommerzialismus« rühmt. Beide Zitate Ferguson (1986), 361. Ebd., 287.

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genossen das Schwinden des »public spirit« in den »kommerzielle[n] Nationen«127 analysiert. »Handel und gewinnbringende Künste« werden zu Hauptgegenständen des »Interesses«, das Betreiben des Allgemeinen (ta politika prattein) ist nicht mehr konstitutives Moment bürgerlicher Existenz,128 der produktive Geist wandert »an den Ladentisch und in die Werkstatt« ab.'29 In den »zivilisierten Nationen« obwalten funktionale Zwänge, »die den Bürger der Gelegenheit berauben, sich als Mitglied der Öffentlichkeit zu betätigen, die seine aktive Gesinnung zerstören, seine Gefühle erniedrigen und seinen Geist zum Betreiben der öffentlichen Angelegenheiten unbrauchbar machen«.130 Trotz dieser dezidierten Kritik eines Zivilisationsprozesses, in dem der Menschheit der jugendliche Geist enthusiastischer Gemeinschaftlichkeit abhanden zu kommen scheint,131 hat Ferguson auf der Bedeutung der modernen Fortschritte im Rechtsbewußtsein bestanden. Der im modernen Naturrecht formulierte Freiheitsanspruch, der auf eine Festigung durch ein entsprechendes System politischer Institutionen angelegt ist, stellt eine hohe Stufe im moralischen Lernprozeß der Gattung dar. Wenn auch Verfassung und öffentliche Institutionen keine Garantie für ein lebendiges demokratisches Gemeinwesen abgeben — dazu bedarf es einer engagierten, diskutierenden Öffentlichkeit132 - , gibt ihre Existenz der Freiheit erst den Rahmen einer verbindlichen Ordnung. Deshalb kann Ferguson sagen, daß »Freiheit [...] in gewissem Sinn allein den verfeinerten Nationen gegeben zu sein [scheint].«133 Perspektiven der Weltöffentlichkeit Kants Traktat Zum ewigen Frieden bündelt im Ausgang des Jahrhunderts fast alle hier skizzierten Diskussionsstränge. Schon durch den Titel stellt es sich in eine Traditionslinie mit älteren Entwürfen zu einer europäischen, ja letztlich globalen Friedensordnung, wie sie im 17. Jahrhundert der Herzog von Sully und im frühen 18. der Abbé de SaintPierre entworfen hatten.134 Als eifriger Adam Smith-Leser ist sich Kant darüber im

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Vgl. ebd., 398. »Wir betrachten allein jene Menschen als völlig unbedeutend, die kein Interesse fur den Staat haben«, zitiert Ferguson zur Veranschaulichung des antiken Politikverständnisses den Athener Perikles; ebd., 389. Ebd., 388. Ebd., 382. Trotz prinzipieller Skepsis gegenüber der Lebensalter-Metaphorik für den Geschichtsprozeß (vgl. ebd., 375) arbeitet Ferguson mit der Antithese von aufbrausender, allzu wilder >Jugend< (die alten Völker) und reifer, vielleicht allzu nüchterner >ErwachsenenzeitBösen< für den Fonschritt der Kultur - genausogut a n w e n d e n w i e auf jeden Verbund, der aus der u n g e s e l l i g e n Geselligkeit des Menschen hervorgeht. Die »Idee« einer »allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht« kann deshalb, wie der Beginn von Kants Aufsatz zeigt, auch f o r m u l i e r t w e r d e n als d i e Idee einer a b g e d r u n g e n e n W e l t gemeinschaft: eine erzwungene funktionale Weltverflechtung, aus der womöglich gleichsam durch die Hintertür - eine sittliche Weltgemeinschaft hervorgehen kann. Voraussetzung ist, d a ß die Menschheit ihre moralischen Fortschritte, die sich in der Formulierung der Menschenrechte niedergeschlagen haben, politisch-institutionell

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Vgl. z.B. KWA XI, 365. Gerhardt (1995). Die folgenden Ausführungen stützen sich auf diese Interpretation der Friedensschrift. Kant selbst betont mehrfach, daß sein Text nicht einfach ein gutgemeinter Friedensruf sein soll, sondern auf wirkliche historische Entwicklungen und damit verknüpfte Lernprozesse des Rechtsbewußtseins aufbaut: »Es ist hier [...] nicht von Philanthropie, sondern vom Recht die Rede.« KWA XI, 213. Vgl. als ein Beispiel KWA XI, 2l4f. über das »inhospitale Betragen der gesitteten [...] Staaten unseres Weltteils«, deren »Ungerechtigkeit, die sie in dem Besuche fremder Länder und Völker (welches ihnen mit dem Erobern derselben fur einerlei gilt)« an den Tag legen, bis zum Erschrecken weit gehe. Die fulminanteste Kritik der europäischen Untaten ist wohl die (unter Mitarbeit von Diderot) vom Abbé Raynal verfaßte Histoire philosophique et politique des établissements et du commerce des Européens dans les deux Indes (1770).

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umsetzt und so jener »Denkungsart« Dauer verleiht, die »eine pathologisch-abgedrungene Zusammenstimmung zu einer Gesellschaft endlich in ein moralisches Ganze verwandeln kann«. 138 Pathologisch abgedrungen< wird den Völkern eine Welt-Geselligkeit, weil sie Kant zufolge auf dem modernen Globus einander nicht mehr ausweichen können. Die Ausf ü h r u n g e n des >Dritten Definitivartikels· der Friedensschrift übet die Erdkugel, die auf-

grund ihrer begrenzten Fläche die Menschen zwingt, »endlich sich doch neben einander [zu] dulden« (KWA XI, 214), wirken zunächst eher befremdlich. Sie werden verständlich, wenn man an die Wertschätzung des Kriegs bei den Zeitgenossen erinnert. Auch Kant macht da keine Ausnahme. Kriegen kommt eine hohe Bedeutung für den zivilisatorischen Fortschritt zu: sie zwingen die Völker, ihre angestammten Plätze zu verlassen und neue Länder zu erschließen. Die fundamentale Niederträchtigkeit der menschlichen Natur, die in Kriegen explosiv nach außen tritt, führt zur Zerstreuung der Gattung in alle Weltwinkel: so wurde die Erde extensiv urbar gemacht. Auch hier m u ß - wie in Kants Interpretation des Sündenfalls - das Böse sich von einer höheren Naturabsicht als Baumeister von Kultur in Dienst nehmen lassen.139 Krieg und Handel (bzw. Kriegsgeist und Handelsgeist) avancieren auch bei Kant zu den zwei Motoren des planetarischen Zivilisationsprozesses. Wo der erste eine différentielle Verteilung (und abgesonderte Entwicklung) menschlicher Produktivkraft über die ganze Erdkugel hinweg bewirkt, führt der zweite die getrennten Welten in Form ihrer Erzeugnisse wieder zusammen. Soweit hält sich Kant an die Topik des weltvereinigenden Handels. Wie für Ferguson und Smith zeichnet sich der Handelsgeist aber auch für ihn nicht durch hohe sittliche, ja religiöse Qualitäten aus. D a n k einer List der Natur trägt er aber zur Förderung moralischer Prozesse bei: er »vereinigt [...] Völker [...] durch den wechselseitigen Eigennutz.« (KWA XI, 226) 140

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KWA XI, 38. Das Wirken der »Naturabsicht«, die - so Kant im »Ersten Zusatz« zum Ewigen Frieden — eine »Garantie« fur das sinnvolle Zulaufen der Geschichte auf die weltbürgerliche Gesellschaft gewährt, hat auch in dieser Schrift keinen ontologischen, sondern bloß regulativen Status. Es ist eine »Idee«, die wir »hinzudenken« (KWA XI, 218) - »in theoretischer Hinsicht überschwenglich« (d.h. dergleichen läßt sich nicht in der Natur erkennen), »in praktischer aber [...] wohl gegründet« (ebd., 218f.). Im weitesten Sinn meint dieses »wohl gegründet« das fundamentale, all unser erkennendes und weltveränderndes Handeln tragende Vertrauen, daß menschliche Praxis in das Ganze der Natur >paßtweltlicher Streits >UnfriedenabgedrungenSchließung< durch den Nationalstaat ist das organisatorische Komplement zur radikalen »Öffnung« vormoderner Lebenswelten — zu jenem ungeheuren »Dehnungsvorgang« 7 also, in dem der alte Typus lokaler, persönlicher Interaktion im neuen Typus ferner, schriftvermittelter u n d anonymer Interaktion aufgeht. Nationalstaaten sind Formen politischer, rechtlicher, administrativer u n d kultureller Einhegung der je schon aufs Weltganze gerichteten Waren-, Geld- u n d Kommunikationsströme. I m Nationalen machen die M e n schen sich etwas >zu eigenunivers imaginaire* für Massen von Menschen, die einander persönlich kaum je kennenlernen - hat strukturell das Übergewicht über die sozioökonomische u n d politisch-rechtliche Seite der Nationsbildung gewonnen. Gellners vielzitierter Satz: »Es ist der Nationalismus, der die Nationen hervorbringt, u n d nicht umgekehrt« 8 wird derart radikalisiert, daß Nationalismus u n d M o d e r n e n u n zunehmend nicht mehr als interdependente Phänomene erscheinen, sondern in ein einseitiges Bedingungsverhältnis einrücken: Nationalismus wird zur Voraussetzung der Moderne erklärt. Die Konzentration auf jene kulturellen Faktoren wie Alphabetisierung, Buchdruck, vereinheitlichte Erziehung, Wachstum der Presse, Sprachpflege etc., die im Verein mit der Erfindung gemeinschaftlicher Traditionen gleichsam subkutan die Homogenisierung der nationalen Bewußtseine besorgten, führte zu einer Schwerpunktverlagerung auf die Frühe Neuzeit. Die Französische Revolution - der Fixpunkt der älteren Nationalismusforschung - rückte in den Hintergrund u n d mit ihr das Interesse an einem Begriff von Nation, in dem es weniger auf die imaginierten kulturellen als auf die herzustellenden politischen Gemeinsamkeiten a n k o m m t . Schon Gellner u n d Anderson waren auffallend wenig auf das republikanische Potential im modernen Verständnis von Nation eingegangen. 9 Indem die Nationalismusforschung immer mehr Gewicht auf die langsame Genese besonderer Sinnwelten legte, die wie eine zweite N a t u r das Denken u n d Handeln der Menschen durchdringen u n d sie zu modernen Engländern, Deutschen oder Franzosen machen, geriet ihr jener U m b r u c h u m 1800, mit d e m politisch-institutionell der moderne Nationalstaat erst hervortrat, beinahe aus dem Blick. Z u Recht wurde gegen diese Forschungstendenz eingewandt, d a ß sie Gefahr läuft, bei einem sowohl anachronistischen (Nationalismus ohne nationale Infrastrukturen) wie normativ verkürzten Begriff des Nationalen zu enden. 1 0 2.) Bei aller Begeisterung über Andersons Formel stellt sich nach wie vor die Frage, was »imagined communities«, also (vorgestellte Gemeinschaften*, eigentlich sind.

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Gellner (1995), 87. Das republikanische Modell ist die Nation von Staatsbürgern, die sich unter leitenden Ideen wie individuelle Freiheit, Autonomie der Gesetzgebung und rechtliche Gleichheit konstituiert — im Gegensatz zum naturalistischen Modell der Nation als gewachsener Gemeinschaft von Volksgenossen. Gellner definiert Nation als »Fusion von Wille, Kultur und staatlicher Einheit«. Gellner (1995), 87. >Wille< heißt fur Gellner genauer, daß unter nationalen Vorzeichen »Menschen mit all jenen - und nur mit denjenigen — politisch vereinigt werden [wollen], die ihre Kultur teilen«. Ebd., 86f. Gellner macht leider nicht klar, ob er sich hier auf eine gemeinsame politische Kultur oder auf die Vielfalt kultureller Lebensformen bezieht. Der Satz läßt sich deshalb auch so verstehen, daß für Gellner die gewollte Gemeinschaft von Staatsbürgern, die sich - bei kultureller Verschiedenheit - unter Berufung auf republikanische Prinzipien zusammenschließen, unter den Tisch fällt. Gellner nimmt das republikanische Moment, fur das er große Sympathie hegt (vgl. die schöne Würdigung Kants, 181fF.), aus seinem Begriff des Nationalen heraus, statt Nation als spannungsvolle Einheit von Universalismus und Partikularismus zu diskutieren. Einen überzeugenden Versuch, kulturanthropologische und politische Lesart von »Nation« zu integrieren, stellt Langewiesche (2000), 14-34 vor.

Imagined Communities: Zur neueren Nationalismusforschung

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Andersons Buch erhielt in Deutschland den Titel Die Erfindung der Nation. Der seit geraumer Zeit grassierende Pansemiotismus, der jeden Unterschied zwischen Phänomenen für eine kulturelle »Konstruktion« hält,11 hat auch dem Wort >Erfindung< eine beachtliche Karriere verschafft.12 Unbestreitbar ist, daß die Erfindung der Nation* als Gegenbegriff zum Modell ursprünglicher Nationalität ein verdienstvolles Konzept ist. Schon zwischen Anderson und Gellner herrschte indessen Uneinigkeit über den spezifischen Sinn dieser Metapher. »Nationalismus ist keineswegs das Erwachen von Nationen zum Selbstbewußtsein; man erfindet Nationen, wo es sie vorher nicht gab.«13 Anderson zitiert diesen markanten Satz Gellners, um ihm gleich darauf zu unterstellen, er verstehe >Erfindem im Sinn von >Täuschung< und lege damit nahe, »daß es >wahre< Gemeinschaften gebe, die sich von Nationen vorteilhaft unterscheiden.«14 Das trifft jedoch nicht zu. Zwar finden sich bei Gellner Sätze, in denen die lokal geschlossenen, agrarischen Sozietäten der Vergangenheit als »echte Gemeinschaften«15 gegenüber den kalten anonymen Massengesellschaften der Moderne ausgezeichnet werden. Es geht dabei aber nicht um romantische Sehnsüchte des Autors Gellner, sondern um die Sehnsüchte der neueren Nationen selbst. Die imagined communities der Neuzeit imaginieren sich geradezu zwangsläufig als das, was sie nicht sind: uralte, naturwüchsige, warme, von einem Geist erfüllte Gemeinwesen.16 Allein diesen Sachverhalt meint Gellner, wenn er vom »falsche[n] Bewußtsein« des modernen Nationalismus handelt.17 Die )wahr-falschPansemiotismus< verstehe ich eine erkenntnistheoretische Position, die Deconstruction, Diskursanalyse und Konstruktivismus gleichermaßen einnehmen. Ihre Grundthese lautet: Die Wirklichkeit ist eine Konstruktion (oft heißt es: eine semiotische, mediale, diskursive, kulturelle Konstruktion - je nach Theoriestrang differieren die Begleitwörter). Diese These ist falsch. Nicht die Wirklichkeit ist eine Konstruktion, sondern unsere Auffassung der Wirklichkeit. Wer die Unterscheidung von Wirklichkeit und sprachlich-kultureller Erschließung der Wirklichkeit aufgibt, müßte die absurde Behauptung vertreten, unsere Diskurse könnten jedes beliebige Unterscheidungs- und Beziehungssystem in die Welt hineinweben, ohne daß unsere Praxis daran Schaden nähme. Demgegenüber gilt: Zwar ist uns nicht anders als in einer bestimmten Sprache überhaupt so etwas wie Wirklichkeit erschlossen. Unsere sprachlichen Entwürfe haben sich aber an einer wirklichen Welt zu bewähren. Daß wir von dieser gründenden Realität nicht anders als in unseren Zeichenordnungen wissen, ändert nichts an ihrer wirksamen Wirklichkeit. Es gibt realistische Grenzen semiotischen Unterscheidens. Zwar mag die eine Kultur die Zeit in Minuten messen, die andere in Einheiten wie >Dauer eines Reiskochens< oder >Länge einer Schafschur*. Wir mögen (um das seit Borges/Foucault beliebte Beispiel der Tierklassifikation aufzugreifen) in unseren Schemata verunsichert werden, wenn ein Angehöriger einer fremden Kultur uns fragt, warum wir einen Chihuahua für einen >Hund< und nicht eher für eine Art von Ratte halten. Wir werden aber niemals eine Kultur finden, deren Angehörige ihre Hasen verwenden, um Nägel in die Wand zu klopfen, und zum Abendessen Steine mit Meerwasser verzehren.

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Der Sammelband von Hobsbawm und Ranger The Invention of Tradition erschien ebenfalls im Jahr 1983. Gellner, zitiert bei Anderson (1998), 15. Ebd. Gellner (1995), 183. Das sieht Anderson nicht anders; vgl. Anderson (1998), 16. Vgl. Gellner (1995), 183.

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National- und Weltkultur bei Herder und Wilhelm v. Humboldt

ten Gesellschaften, sondern auf den Grad reflexiver Aufgeklärtheit, den die modernen Nationen übet ihre eigene Verfassung erreicht haben. Das Mißverständnis ist indessen aufschlußreich. Es zeigt, wie sehr neue Theorien darauf angewiesen sind, geistreiche Metaphern für komplexe P h ä n o m e n e zu finden, wie sehr sie damit aber auch riskieren, auf die Metapher u n d deren Eigendynamik festgelegt zu werden. W i e Gellners »invention« in den Ruch der Täuschung, geriet Andersons »imagination« in den der >bloßen Einbildung!. 1 8 Andersons Ansatz lief fur einige Kritiker darauf hinaus, die habituellen Gemeinsamkeiten u n d das spezifische Solidaritätsgefiihl, auf das die Rede von einer n a t i o n a l e n Identität zielt, z u m »Phantasma« zu erklären. Auch hier liegt wohl ein Mißverständnis vor. M i t »imagination« meinte Anderson n u r den Sachverhalt, daß nationale Identität letztlich nichts ist als ein Ensemble von Denk- u n d Empfindungsmustern im Bewußtsein von Individuen. Die Gleichförmigkeit medial verbreiteter Einstellungen u n d Verhaltensweisen sichert den Zusammenhalt moderner Gesellschaften, in denen - mit Alfred Schütz zu sprechen eine gemeinsame Lebenswelt sich nicht mehr vorwiegend im unmittelbaren U m g a n g mit »Mitmenschen«, sondern im komplexen Verkehr mit anonymen »Zeitgenossen« bildet. 19 Die Typisierungen u n d Schematismen, die ein Kollektiv aus bloßen »Zeitgenossen« zu einer - wie auch immer - fragilen Einheit zusammenschließen, haben, trotz ihres subjektiven Status, eine unbestreitbare objektive Macht. Obgleich »Vorstellungen«, sind sie in gewissem Sinn Realität. »Imagined Community« ist jene Einheit eines kulturellen Weltbilds, die die Philosophie u m 1800 unter Leitbegriffen wie gemeinsame »Weltansicht« oder verbindliche »Mythologie« eines Kollektivs untersucht hatte. Schelling beschreibt in seiner Philosophie der Mythologie ihren Status mit W o r ten, über die, befürchte ich, auch die neuere Diskussion nicht weit hinausgekommen ist: »Die Mythologie erzeugende Bewegung ist eine subjektive, inwiefern sie im Bewußtseyn vorgeht, aber das Bewußtseyn vermag nichts über sie; es sind v o m Bewußtseyn (wenigstens jetzt) unabhängige Mächte, welche die Bewegung erzeugen u n d unterhalten; also die Bewegung ist im Bewußtseyn selbst doch eine objektive.« 20 Partiell ist dieses Gefüge von Vorstellungen zu reflektieren, totaliter nie, da auch der reflektierende Blick von ihm selbst ausgeht. Im folgenden skizziere ich die Konzepte nationaler Identität bei den zwei >Weimaranerneigengesetzlich< geworden ist und der immanenten Logik von Forminnovationen gehorcht, will Herder nicht wahrhaben. Goethes Weltliteraturkonzept hingegen beruht auf >Entsagung< auch gegenüber den Bildungshoffnungen, die in die Literatur gesetzt werden. Der Sinn, den Literatur anbietet, kann das Gemeinwesen nicht in der Weise unmittelbar und innig durchdringen, wie Herder sich das vorstellt. Was in Literatur an Erfahrung erschlossen wird, gerät durch die Kanäle eines eigengesetzlichen Literaturbetriebs in sozialen Umlauf und trägt nur in hochkomplexen Vermittlungsprozessen mit anderen kulturellen Teilsystemen zum >Geist< eines Gemeinwesens bei. Goethes Weltliteratur macht Ernst mit der Idee eines kulturellen Weltmarkts, auf dem die Stile und Techniken der verschiedensten Literaturen verfugbar sind und für die Experimente in diesem autonomen Teilsystem Literatur eingesetzt werden können. In Herders Traum einer individuellen Nationalpoesie, die die Stimme eines eigentümlichen Volkes ist und mit den Stimmen der anderen harmonisch akkordieren soll, ist für diese Modernität der Weltliteratur kein Platz.

Humboldt Unter Goethes Zeitgenossen ist es vor allem Wilhelm von Humboldt, der im 19. Jahrhundert eine Theorie des >Nationalgeists< entwickelt, die die Höhe der Herderschen Sprach- und Kulturphilosophie hält. Die Grundthese von Humboldts Nationsbegriff

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Wefelmeyer (1984), 102.

Humboldt

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läßt sich schlagartig mit dem diesem Kapitel als M o t t o vorangestellten Hamann-Satz wiedergeben: So viele Menschen, so viele Welten. Strenggenommen gibt es keine Nationen, sondern nur Individuen. Genauer: ein verbindlicher Nationalgeist existiert nur in u n d durch die Vorstellungstätigkeit von Individuen. Zwar begreift H u m b o l d t Individualität als ein Phänomen, das sinnvoll nur in einem soziokulturellen Kontext zu denken ist, er behauptet in dieser Konstellation aber einen grundsätzlichen Primat des Individuellen. D e n n , so H u m b o l d t : »Ohne die reelle Kraft, die bestimmte Individualität an die Spitze der Erklärung aller menschlichen Zustände zu setzen, verliert m a n sich in hohle u n d leere Ideen.« (Hu III, 161)

Die Macht kultureller Weltbilder H u m b o l d t geht davon aus, daß der Einzelne über eine äußere Wirklichkeit u n d eine innere psychische Welt nur verfügt in einer Sprache. Sprache ist - so H u m b o l d t - »das Mittel, durch welches der Mensch zugleich sich selbst und die Welt bildet oder vielmehr seiner dadurch bewußt wird, daß er eine Welt von sich abscheidet.« ( H S C H B r , Bd. 2, 207 84 ) Sprache ist das M e d i u m von Selbst- und Welterkenntnis. »Der Mensch denkt, fühlt u n d lebt allein in der Sprache [...]«. ( H u III, 77) Der Titel der H u m b o l d t schrift, der dieser Satz entstammt - Uber den Nationalcharakter der Sprachen — zeigt an, was genauer darunter zu verstehen ist: der Mensch denkt, fühlt u n d lebt nicht in der Sprache generell, sondern in einer bestimmten Sprache. N u r indem er in die Sprache einer besonderen Gemeinschaft hineinsozialisiert wird u n d damit das Gesamt der in dieser Sprache tradierten kulturellen Deutungs- u n d Handlungsmuster ü b e r n i m m t , weiß er überhaupt von sich u n d einer Welt, mit der es eine bestimmte Bewandtnis hat, in der m a n sich in bestimmten Situationen so oder so verhält, mit deren Gegebenheiten das Gefühl gewöhnlich auf diese oder jene Weise umgeht. Im Spracherwerb, der ja immer zugleich praktische Sozialisation in die Lebensformen einer Gemeinschaft ist, 85 entsteht für den einzelnen eine Innen- und Außenwelt; die vorgegebene Sprache, die ihn mit seiner G e b u r t gleichsam vereinnahmt, ermöglicht ihm erst ein artikuliertes

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Dieser große Brief an Schiller gilt allgemein als der Gründungstext der eigentlichen Humboldtschen Sprachphilosophie. Die Bedeutung dieser Formulierung wird noch faßlicher, wenn man den zentralen Satz des Humboldtschen Sprachdenkens mit Goethes berühmter Charakteristik seines gegenständlichen Denkens konfrontiert: »Der Mensch kennt nur sich selbst, insofern er die Welt kennt, die er nur in sich und sich nur in ihr gewahr wird.« (HA 13, 38) Bei Goethe bleibt das Medium, das diese Innen-Außen-Dialektik vermittelt, ausgespart. Friedrich Schleiermacher spricht sehr schön von der »Natur der Sprache und des mit ihr zugleich entwickelten und an sie gebundenen gemeinsamen Lebens.« SHK, 337 (Herv. M.K.) Schleiermacher hat in derselben Zeit (weitgehend unabhängig von Humboldt) eine verblüffend ähnliche Sprach- und Kulturphilosophie ausgearbeitet. Besonders prägnante Formulierungen Schleiermachers gebe ich im folgenden parallel zu den entsprechenden HumboldtZitaten, sie sind manchmal noch besser geeignet, den beide verbindenden Gedanken zu verdeutlichen.

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National- und Weltkultur bei Herder und Wilhelm ν. Humboldt

Selbst- und Wirklichkeitsverständnis. Was ich bin, was das alles zu bedeuten hat und was zu tun ist, erfahre ich ursprünglich durch eine Zeichenordnung, die mich buchstäblich überkommt. H u m b o l d t nennt dies die »Macht der Sprache« über das Individuum.(Hu III, 439) »Die Sprache [...] ist, als ein Werk der Nation, und der Vorzeit, für den Menschen etwas Fremdes«. (Hu III, 20) Wie im individuellen Bewußtsein die Welt aufgefaßt wird, ist durch die jeweilige Sprachgemeinschaft zu einem gegebenen Zeitpunkt vorgezeichnet. Das Subjekt ist in dieser Perspektive »nur ein O r t [...], in dem die Sprache erscheint«. (SHK, 78) In seinem Bewußtsein erzeugt es Vorstellungen und verbindet sie miteinander 86 in einer Weise, die sich seiner willentlichen Steuerung dennoch weitgehend entzieht. Humboldt attestiert deshalb der Sprache ein »eigenthümliches Daseyn«, »das zwar immer nur in jedesmaligem Denken Geltung erhalten kann, aber in seiner Totalität von diesem unabhängig st« (Hu III, 437; Herv. M. K.). Die Sprache ist »der Seele fremd und ihr angehörend, von ihr unabhängig und abhängig« (ebd., 437f.). Das »symbolische Gewebe« der Sprache (Hu III, 396), in dem dem Subjekt überhaupt erst eine sinnvolle Welt erschlossen ist, 87 kann deshalb in der Metaphorik des Spinnennetzes beschrieben werden. In all unserem Empfinden, in all unserm Sprechen und Handeln bewegen wir uns immer schon in den Bahnen, die durch das sprachliche Weltbild unserer Kultur vorgegeben sind. »Der Mensch lebt mit den Gegenständen hauptsächlich, ja, da Empfinden und Handeln in ihm von seinen Vorstellungen abhängen, sogar ausschliesslich so, wie die Sprache sie ihm zuführt. Durch denselben Act, vermöge dessen er die Sprache aus sich herausspinnt, spinnt er sich in dieselbe ein, und jede zieht um das Volk, welchem sie angehört, einen Kreis [...].« (Hu III, 434) 88

Individuelle W e l t a n s i c h t e n Steht somit fest, daß jede Einzelrede aus einer gegebenen Sprache und Kultur heraus ergeht, so gilt für Humboldt (wie für Schleiermacher) nicht minder das Umgekehrte: »die Sprache wird durch das Reden.« (SHK, 78) Es gibt nicht eigentlich die Sprache, sondern nur das »jedesmalige Sprechen« des Einzelnen (das ist Humboldts feste Formel) oder - in Schleiermachers erstaunlicher Terminologie - den individuellen »Sprech-

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»Denn die Sprache ist nicht nur ein Complexus einzelner Vorstellungen, sondern auch ein System von der Verwandtschaft der Vorstellungen.« SHK, 78. H u m b o l d t spricht von den »eigenthümlichen Wahlverwandtschaften, nach welchen sich bei verschiedenen Nationen Gedanken und Empfindungen an einander reihen« (Hu III, 77). D a ß die Individualität einer Kultur in der ihr eigenen »Kombinationsweise« (SHK, 92) von »Vorstellungen« begründet ist, hat in der Kulturphilosophie des 20. Jahrhunderts zur Abwendung von Dürkheims Begriff der »représentation collective« geführt. Was Schleiermacher mit »System der Vorstellungen« u n d H u m b o l d t mit »Wahlverwandtschaften« umschreiben, wird d o r t als »Konnotations-» bzw. »lebensweltlicher Verweisungszusammenhang« gefaßt. Die Sprache - so Humboldts Formulierung - »eröffnet« dem Einzelnen u n d seiner Gemeinschaft »die Welt« (Hu III, 159). Vgl. die frühere Fassung H G S V, 387.

Humboldt

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akt«. ( S H K , 8 9 ) " »Die Sprache ist, als wirklich und individuell, nur fragmentarisch im einzelnen Sprechen vorhanden, als Ganzes muss sie, wie ein wahres Gedankenwesen, aus dem Sprechen der Einzelnen auf irgend einem Räume und in irgendeiner Zeit zusammengetragen werden.« (Hu III, 2 9 7 ) Individuelles Sprechen heißt für Humboldt nicht, daß bruchlos die Ordnung des Allgemeinen durch Einzelwesen, die sie verinnerlicht haben, in konkrete Sprechhandlungen umgesetzt wird. Das »jedesmalige Sprechen« begreift er in der Tradition frühidealistischer Philosophie vielmehr als fortwährende

produktive

Selbsttätigkeit.

Der

Einzelne kann seine Sprache ebensowenig allein hervorbringen, wie er sie bloß passiv aus seiner Vor- und Mitwelt empfängt (vgl. Hu III, 28). 9 0 Schon Kinder im Spracherwerb handeln nicht einfach imitatorisch, sondern innovativ: Sie sind »ursprünglich Erfinder«. ( S H K , 3 6 7 ) " Jede Rede ist für Humboldt und Schleiermacher die immer erneute Erzeugung einer gegenständlichen Welt (Reden von etwas), der im Vollzug dieses Sprechens eine bestimmte Bedeutung beigelegt wird (dies etwas wird als so oder so beschaffen qualifiziert). 92 Sofern der Sprecher Vorstellungen von einer Welt und ihrer sinnhaften Beschaffenheit nur als Mitglied einer Sprachgemeinschaft gewinnt, werden seine Auswahl und Qualifizierung der Gegenstände sich in den Bahnen halten, die durch das Lexikon und die mentale Grammatik des jeweiligen Kollektivs vorgegeben sind. Sofern diese Vorstellungen Erzeugnisse

seines individuellen Bewußtseins sind,

wird sein Gebrauch des vorliegenden Vokabulars und der konventionellen Satz- und Redemuster jedoch immer auch eine >eigentümliche< Abweichung mit sich bringen. 93 Jede Rede ist unabdingbar individuell, weil kein Wort und kein Textgenre ihre identische Wiederholung in allen Sprechern erzwingen können. Die Sprache ist keine mechanische Macht, die eine stereotype Reproduktion ihres Regelwerks exekutiert. Das System der »fertigen* Sprache ist nach Humboldt vielmehr als »tote Masse« zu betrachten, die je und je durch freie Akte des Sprechens und Verstehens zum Leben erweckt werden muß. Dieser Aspekt einer unhintergehbaren »Apriorität des Individuellen über das

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M. Frank (Anm. in SHK, 180) und W. Struth (Art. .Sprechakt. in HWdPh) zufolge ist dies das erste Vorkommen des Begriffs im Deutschen (>Sprache - Sprechakt< im Sinn der späteren >langue - paroleEinschreibung< der Struktur ins individuelle Bewußtsein gedeutet. Das ist auch Humboldts Meinung. Den Kindern wird nicht eine tote Sprachordnung eingeimpft; sie erzeugen vielmehr aus ursprünglicher »Sprachkraft« heraus Welten, die sie in Interaktion mit den Erwachsenen sukzessiv deren komplexen Standards angleichen. Vgl. Hu III, 221; 431. »Die Rede als ganze macht Gedanken deutlich, indem sie Gegenstände unterscheidet.« Borsche 1981, 255. In diesem Gedanken liegt die Abweichung vom >Vorstellungsbildet< sich erst im artikulierten Laut. Auf der anderen Seite wird eine Flut von »Schällen« jedoch nur dadurch zu einer Sequenz unterscheidbarer Bedeutungsträger, daß eine »intellectuelle Thätigkeit« mit bestimmten Lauten bestimmte in der individuellen Einbildungskraft synthetisierte »Begriffe« 95 verbindet. Auch der sinnliche Sprachlaut ist ein geistiges Phänomen, wie eben »Alles in der Sprache geistig [ist]«.96 Die Sprache ermöglicht, im Denken Objekte zu bilden — dies geschieht aber durch

»subjective

Thätigkeit«?1

Da es immer die individuelle Ein-

bildungskraft ist, die im Medium der Sprache bestimmte Vorstellungseinheiten generiert, 98 voneinander unterscheidet und miteinander verknüpft, wirken die sprachlichen Schemata nicht wie Raster, die dem Bewußtsein gleichsam eingestanzt wären, sondern eher wie regulative Muster. >Die Sprache< bildet die Gedanken nur in der Weise, daß das Denken die Sprache unablässig neu formiert. 99 Kein Ausdruck hat eine bestimmte Bedeutung, die alle Sprechenden identisch realisieren; »das Wort« ist vielmehr, so Humboldt, »nichts als eine Anregung

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zum Denken«. 100 In jedem Sprechen

Vgl. bei Schleiermacher: »So ist auch in jedem das völlige Bilden der Vorstellung und das Bilden des Worts dasselbe.« SHK, 381. Humboldt nennt die signifié-Seite des sprachlichen Ausdrucks »Vorstellung« oder »Begriff« (wie Saussures »concept«). HGS V, 395. Die signifiant-Seite versteht Humboldt deshalb auch nicht einfach als Laut, sondern - wiederum wie später Saussure mit seinem Begriff einer » i m a g e acoustique« - als »artikulierten«, d.h. geistig durchdrungenen Laut. Vgl. ebd. 377. »Subjective Thätigkeit bildet im Denken ein Object.« Hu III, 195. »Das Wort ist [...] nicht ein Abdruck des Gegenstandes an sich, sondern des von diesem in der Seele erzeugten Bildes.« Hu III, 433. Die Einbildungskraft synthetisiert die diffuse Mannigfaltigkeit sinnlicher Daten am Leitfaden der Sprachbegriffe zu »Bildern«. Schleiermacher spricht von »Schemata«, die »auf mannigfaltige Weise verschiebbare [...] Bilder« seien, »nach denen sich die einzelnen Wahrnehmungen gruppieren«. SHK, 437. »Schemata« haben eine allgemein-begriffliche und eine sinnlich-anschauliche Seite. Allgemein-begrifflich, sofern die Synthesis der Vorstellungsgehalte am Leitfaden der Sprache geschieht (»Hineinbildung einer allgemeinen Gestaltung« in den individuellen Sinn nennt das Schleiermacher [ebd., 444)). Sinnlich-anschaulich, sofern es um das »wirkliche Denken« geht, das aktuell seine Erfahrungsdaten zu eigenen Bildern einer Welt verarbeitet. Zu Schleiermachers Rezeption des Schematismuskapitels aus Kants Kritik der reinen Vernunfi vgl. detailliert Frank (1985), 185fiF.; zu den entsprechenden Gedankengängen Humboldts Borsche (1981), 305f£ Diesen »Energeia«-Aspekt der Sprache (Hu III, 418) umkreist Humboldt in zahlreichen wechselnden Formulierungen. Die Sprache ist nicht statisch, sondern »dynamisch«, eine »Verrichtung, ein geistiger Process« (HGS V, 369; Hu III, 184), »ein immer neues Erzeugnis des Augenblickes« (III, 556), »die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den articulirten Laut zum Ausdruck des Gedankens fähig zu machen« (III, 418); der Mensch ist ein Wesen, das »beständig in symbolisierender Tätigkeit« begriffen ist (III, 650) usw. HGS V, 420 (Herv. M.K.). Vgl. ebd., 422: »[Eigentlich aber wird unter demselben Schall jedesmal ein andres Wort ausgesprochen. Denn nur das wirklich gedachte oder gesprochene ist das eigentliche Wort, das sich gleichsam todt in der Sprache forterbende nur die immer

Humboldt

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wird im G r u n d e jedesmal neu die Vereinigung bestimmter Lautkörper mit bestimmten geistigen Gehalten vollzogen, differenziert jeder anhand der konzeptuellen >Vorschlägeirrationales< Moment. 1 0 2 Es ist der G r u n d dafür, daß es ein gänzliches Verstehen zwischen Menschen nicht geben kann. 1 0 3 Eine Verallgemeinerung des Wissens ist dennoch möglich, weil zum einen die freie Konstruktion der Individuen in einer gegebenen Sprache stattfindet, 104 der einzelne seine Entwürfe an tradierte Bedeutungen >anbilden< m u ß , die ihm »nur in gewissen Grenzen der Analogie Fortbildung« erlauben. (Hu III, 18f.) Z u m andern verfügt jeder über den Sinn seiner Rede nur in d e m Maß, in d e m ihm seine Bedeutungsgebung in aktuellen Verständigungsprozessen mit und von anderen anerkannt wird. 105 So leben Kollektive in einer homogenen Sprache u n d einer verbindlichen Welt durch die perennierende Angleichung der individuellen Sinnentwürfe zu einem gemeinsamen Wirklichkeitsverständnis. »Eine [...] Sprache geht [...] immerfort aus der Verschiedenheit aller Einzelnen im Volk hervor.« ( H u III, 251) Wer die Bedeutung der Ausdrücke, die andere verwenden, verstehen will, realisiert nicht identische Vorstellungsgehalte, sondern versucht, seine Schemata der Gegenstandskonstitution u n d -Verknüpfung mit denen der

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wieder, und immer etwas anders belebte Hülle.« (Herv. M. K.) Vgl. Schleiermacher SHK, 108; Borsche (1981), 266. Das Wort >artikulieren< enthält ja die Bedeutungskomponenten >gliedem< und >sich äußernGeist< eines Volkes, einer Sprache, einer Nation. Für H u m b o l d t gilt: die Sprache ist nicht selbst Geist, sondern Produkt des individuellen Geistes. 108 W o H u m b o l d t die beliebte Rede vom >génie de la langue«109 dennoch aufgreift, versieht er sie mit einschränkenden Vorzeichen: Das Besondere einer Sprache sei »gleichsam der Geist, der sich in der Sprache einheimisch macht«. ( H u III, 562; Herv. M . K.) M0 W e n n die Sprache eines Kollektivs durch die »gleichzeitige Selbstthätigkeit Aller« ( H u III, 410) fortwährend neu hervorgebracht wird, kann von der Identität

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Zu Humboldts musikalischer Metaphorik vgl. Trabant (1986), 60f. Auf denselben Sachverhalt zielt - sehr viel lakonischer - Schleiermacher, wenn er über das gemeinsame Wirklichkeitsverständnis schreibt: »Wir sind beständig in der Probe begriffen, und so auch in der Wahrnehmung der Identität der Konstruktion. Alle Mitteilung über äußere Gegenstände ist beständiges Fortsetzen der Probe, ob alle Menschen ihre Vorstellungen identisch konstruieren.« SHK, 460. Vgl. Borsche (1981), 268. Mit der Akzentuierung des »génie d'une langue« gab Condillac der Debatte um den »esprit des nations« eine sprachphilosophische Wendung. Die Sprachverschiedenheit ist bei Condillac auf zwei Ebenen angesiedelt: semantisch auf der der Konnotationen (jede Nation assoziiert mit einem bestimmten Terminus andere >NebenideenProbeGesichtspunktdas Fremde< kein monolithischer Block, sondern ein in immer neuen Anläufen konstituierter u n d ad infinitum zu konstituierender Gegenstand. Das Verstehen hält Différentes fest, versucht es zu beschreiben u n d reflektiert zugleich die eigene Differenzerfahrung. Das adäquate Verständlichmachen des Fremden (das H u m b o l d t im Unterschied zu heutigen modischen Alteritätstheorien nicht nur für möglich, sondern für ausgesprochen beglückend hält) schlägt durch Wechsel der Perspektiven immer wieder u m in Unwissen, damit aber auch in frische Neugier u n d Deutungslust. Das Hineinbegeben ins Fremde beschreibt auch H u m b o l d t nach dem Muster des hermeneu tischen Zirkels. 141 Der Begriff taucht verblüffend früh bei ihm auf: In der im Sommer 1799 auf französisch verfaßten Anzeige seiner >Ästhetischen Versuche< spricht H u m b o l d t von einem »cercle continuel«, in dem der Interpret eines Kunstwerks sich bewege ( H G S 3, 17). Allerdings betont H u m b o l d t hier nicht die Bewegung vom G a n zen zum Einzelnen u n d zurück, sondern das kontinuierliche H i n - u n d - H e r g e h e n zwischen den »Teilen« eines Kunstwerks. Das Verstehen vollzieht sich dieser Abhandlung zufolge nicht auf einer »ligne progressive« - als addierendes Einsammeln von Ideen gleichsam -; Progression im Verstehen ist vielmehr eine beständige Vorwärts-Rückwärts-Bewegung, in der die Elemente sich wechselseitig anreichern. In den späteren

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Diese genetische Intention aufs Ganze - nicht die Klärung einer Einzelstelle, sondern die kongeniale Erfassung des >Geists< eines Autors, einer Epoche, einer Nation - macht nach Szondi die hermeneutische Wende in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aus. Vgl. Szondi (1975), 139; 157ff Die Rede vom »Zirkel« - der notwendigen Bewegung des Verstehens vom Einzelnen zu einem Ganzen, das wiederum im Einzelnen begründet ist - wird meist auf Friedrich Ast zurückgeführt, dessen Hermeneutik den Ausgangspunkt fur Schleiermachers Akademiereden bildete. Ob bereits Ast die Zirkelstruktur als produktive Verstehensbedingung begriff, ist in der Forschung umstritten. Schleiermacher selbst gehört zur kritischen Fraktion: Ast hat für ihn eine Entdeckung gemacht, deren Gehalt er selbst noch nicht entfalten konnte (SHK 328).

Humboldt

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Überlegungen zum fremdkulturellen Verstehen stellt Humboldt dann die Kategorie des »Totaleindrucks« obenan. Eine einzelne fremdkulturelle Äußerung ist adäquat nur zu verstehen im Rahmen eines Vorentwurfs des Gesamtcharakters der fremden Sprachwelt. Die Eigentümlichkeit einer Sprache und Kultur kann nicht begrifflich bestimmt, sondern »nur in ihrem Zusammenwirken gefühlt« (Hu III, 185) werden. Auszugehen ist von einer »Anschauung der lebendigen Eigenthümlichkeit«: »Es ist daher der bessere Weg, die Prüfung einer Sprache bei ihrem Totaleindruck anzufangen, es verbreitet sich alsdann wenigstens jenes Gefühl [ihrer Individualität; M.K.] auf die ganze Folge der Untersuchung.« (Hu III, 185) Von dort muß aber sogleich wieder zum Einzelnen zurückgegangen werden, denn: »es sind [...] lauter in sich kleinliche Einzelnheiten, auf welchen der Totaleindruck der Sprachen beruht, und nichts ist mit dem Studium derselben so unverträglich, als bloss in ihnen das Grosse, Geistige, Vorherrschende aufsuchen zu wollen.« (HGS V, 379) Daß das Einzelne nur verstanden wird von einer »Ahndung! des Ganzen her, die wiederum nur durch das Einzelne sich in rechter Weise bildet, verhält auch bei Humboldt die Verstehensbewegung in einer unabschließbaren Hin-und-Herbewegung. Zwar finden sich bei ihm keine ausführlichen Reflexionen, die etwa den Überlegungen Schleiermachers zur Zirkelstruktur des Verstehens vergleichbar wären.142 Was Humboldt als Pendeln zwischen »Totaleindruck« und »Einzelheiten« beschreibt, geht aber in dieselbe Richtung. Daß etwas logisch Befremdliches aufgrund seiner Fruchtbarkeit anerkannt werden muß, war ihm ein vertrauter Gedanke.

Sprachkreise Das beherrschende Thema des Sprach forschers Humboldt ist die Verschiedenheit der Sprachen. Die leitende Idee des Sprachphilosophen Humboldt ist die Verschiedenheit in der Sprache. Beides zusammen verleiht seiner vergleichenden Sprachkunde ihr besonderes empirisch-spekulatives Profil. Verschiedenheit in der Sprache meint zunächst natürlich die Verschiedenheit der Individuen. Zwischen der Allgemeinheit einer Landessprache und der Besonderheit der in ihr sich verständigenden Individuen gibt es nach Humboldt (und Schleiermacher) jedoch noch eine Vielzahl von Mittelstufen, die - je nach Blickrichtung - als kleinere >Sub-Sprachen< oder als spezifischere Medien sozialer Verallgemeinerung für den Einzelnen angesprochen werden können. Humboldt und Schleiermacher bezeichnen sie

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Einschlägig ist hier vor allem der Beginn der zweiten Akademierede vom Oktober 1829 (SHK, 329ff.) Schleiermacher spricht zwar an anderer Stelle von einem »scheinbaren Zirkel« (vgl. SHK 97), aber nicht, weil er glaubt, daß der »Kreis« auflösbar oder vermeidbar wäre. Vielmehr zeigt sich für ihn im Wechselverweis von Einzelnem und Ganzem aufeinander die unvordenkliche Einheit, die alles Entgegengesetzte je schon in seinem anderen enthalten sein läßt (vgl. Birus (1982), 34f.).

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National- und Weltkultur bei Herder und Wilhelm v. Humboldt

als »Sprachkreise« 143 oder sprachliche »Sphären« ( H G S V, 3 8 2 ; Hu III, 2 1 8 ) . Solche Sphären sind die Dialekte sowie die vielfältigen Schicht-, Fach- und Gruppensprachen, deren Bedeutung immer dann ins Auge fällt, wenn nicht das virtuelle Regelsystem, sondern die wirkliche Verständigung innerhalb einer Sprachgemeinschaft untersucht wird. Den Begriff »Sphäre« übernimmt Humboldt von Herder, der in seiner Sprachursprungsschrift das menschliche Leben in wechselnden und beweglichen Sphären dem lebenslangen Eingeschlossensein der Tiere in ihren artspezifischen »Kreis« konfrontiert hatte ( H W 1, 712). 1 4 4 Sphären sind Wirkungskreise des Einzelnen, in denen er sowohl die einzig mögliche Anerkennung seiner Individualität wie ihre Einschränkung durch die Gegenwirkung der anderen erfährt. 145 Sie bilden sich, wie Herder schreibt, als voneinander unterscheidbare Bereiche des sozialen »Kommerzes« (vgl. H W 1, 7 0 9 ) : durch beständigen »Umgang« bestimmter Menschengruppen in bestimmten Regionen, sozialen Milieus und Praxisfeldern. Analog definiert Humboldt Sphären als »Kreise« einer »geistige[n] Verwandtschaft«, die »durch Einwirkung gemeinsamen Handelns« ( H G S V, 3 8 1 ; Hu III, 138f.) Zustandekommen. 146 In einer berühmten Passage der Dualis-Schrift,

die richtungsweisend für die philo-

sophische Anthropologie des 2 0 . Jahrhunderts wurde, 147 macht Humboldt klar, daß die kleinste gesellschaftliche Einheit nicht einer, sondern mindestens zwei sind. (Hu III, 139ff.) 1 4 s Die Pronomina Ich, Du, Er, Sie und Es machen, wie Humboldt zeigt, nur Sinn in dialogischen Verhältnissen, die Jemeinigkeit individueller »Gedankensphären« bildet sich nur in der Gemeinsamkeit sprachlich vermittelten Umgangs. 145 So konfiguriert sich für jeden einzelnen seine >Welt< als raumzeitliches Gefüge von Sphä-

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»Was aber die Relativität des Denkens in einer und derselben Sprache betrifft: so ist auch dies eine unleugbare Erfahrung; in jeder Sprache gibt es eine Menge exzentrischer Kreise, die sich einander teilweise ausschließen.« SHK, 4 1 0 . Das war die geniale Grundeinsicht von Herders Anthropologie: Das in ein fixes Umweltgehäuse eingelassene Tier lebt in problemloser Instinktsicherheit; der Mensch, von seiner Naturanlage her ein Mängelwesen, muß sich seine Umwelt selbst erschaffen. Da menschliche Gemeinsamkeiten auf kulturelle Formung zurückgehen, ist der Mensch auch prinzipiell fur alle kulturellen Sphären offen. Herders Überlegungen gehen ihrerseits auf Rousseau zurück, vgl. den Kommentar von Gaier in H W 1, 1296. Vgl. auch HGS V, 386: »Indess entstehen [...] bloss durch den Umgang und gemeinsames Leben eigene Mundarten«. »Mundart« ist im 18. Jahrhundert meist synonym mit »besondere Sprachen V.a. für die in den zwanziger Jahren vorgelegten Entwürfe einer »Ich-Du-Dialogik« (M. Buber) oder einer »Strukturanalyse des Miteinanderseins« (K. Löwith). Früher schon H G S V, 380ff. An einer anderen wichtigen Stelle bezeichnet Humboldt deshalb die Personalpronomina (unter Berufung auf Bernhardt) als »hypostasirte Verhältnisbegriffe« (Hu III, 204), einer der vielen Belege dafür, daß es fiir Humboldt keine >verinselte< Individualität gibt. Was »Ich« bin, erfahre ich in sprachlichem Umgang mit anderen (Ich — Du), mit denen ich mich »verbinde« zur Gestaltung der jeweils gegebenen Sozial- (Er) und Arbeitswelt (Es). Vgl. Löwith (1981), 122f.

Humboldt

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ren, die von den unmittelbaren, täglich kontaktierten Bezugsgruppen bis zu abstrakteren, übergreifenden O r d n u n g e n w i e Nationen u n d Kulturkreisen reichen. Der Begriff der >Sphäre< bzw. des >Lebens-< oder >Sprachkreises< erlaubt u m 1 8 0 0 Autoren w i e Hölderlin, 1 5 0 H u m b o l d t u n d Schleiermacher, das starre Gegensatzpaar Individ u u m u n d Gesellschaft höchst subtil zu differenzieren. W e n n die Einheit einer Nationalsprache (einer N a t i o n a l k u l t u r ) als bewegliche G e m e n g e l a g e teils

einander

ausschließender, teils einander überlappender Sprachkreise begriffen wird, tritt der performative Charakter soziokultureller Grenzziehungen in den Blick. Schon zwei Menschen, die durch beständige »Wechselrede« eine Art von »geistige[r] Verwandtschaft« ausbilden, sondern i m G r u n d e sich als »Einheimische« von jenen »Fremden« ab, die schlicht die »anders Redenden« sind. D i e Eigen-Fremd-Distinktion ist, w i e H u m b o l d t lakonisch bemerkt, »die Grundlage aller ursprünglichen geselligen Verbindung«. 1 5 1 Sie durchzieht das gesellschaftliche Leben von den kleinsten Einheiten (Fam i l i e n ) bis hin zu den größten Identifikationsverbänden (Nationen, Religionen). In e i n e m solchen K o n t i n u u m fließender Grenzziehungen gibt es nicht einfach feste, u n veränderliche Zugehörigkeiten. Alles k o m m t vielmehr darauf an, welche Unterscheid u n g e n auf welche Weise u n d a u f g r u n d welcher Kriterien u m so viel stärker markiert werden als die anderen, d a ß sie z u m beherrschenden Distinktionsschema aufsteigen. A u c h in H u m b o l d t s S p r a c h p h i l o s o p h i e läßt sich das Problem der N a t i o n a l i t ä t reformulieren als die Frage, wie es dazu k a m , d a ß in der Fülle der Eigen/Fremd-Abgrenzungen, die jeder i m gesellschaftlichen Leben dauernd vollzieht, die nationale U n terscheidung (Landsleute/Ausländer) die Selektion nach anderen Bezugsgrößen w i e Stand, Klasse, 152 Region, Religion u n d Konfession allmählich marginalisiert oder in sich verschlungen hat. Der Vielfalt der Sprachkreise versucht H u m b o l d t , durch einen vorsichtigen, geradezu umständlichen Gebrauch des Begriffs >Nation< gerecht zu werden. Zwar finden

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Zur Sphäre bei Hölderlin vgl. Gaier (1986/87), 30ff; Hühn (1997), 76ff.. Vgl. auch Hühns Artikel -Sphäre, in HWdPh. »Besonders entscheidend fur die Sprache ist es, dass die Zweiheit in ihr eine wichtigere Stelle, als irgendwo sonst, einnimmt. Alles Sprechen ruht auf der Wechselrede [...]. Der Mensch spricht, sogar in Gedanken, nur mit einem Andren, oder mit sich, wie mit einem Andren, und zieht danach die Kreise seiner geistigen Verwandtschaft, sondert die, wie er, Redenden von den anders Redenden ab. Diese, das Menschengeschlecht in zwei Classen, Einheimische und Fremde, theilende Absonderung ist die Grundlage aller ursprünglichen geselligen Verbindung.« Hu III, 137f. Der Marxismus versuchte von Anbeginn seine Zielgruppen davon zu überzeugen, daß Gesellschaften nach dem Klassengegensatz zu interpretieren sind. Dabei wurde auch von herausragenden Theoretikern stets übersehen, daß die nationale Distinktion ftir die Massen attraktiver blieb, weil sie sich gerade nicht auf bewußte Entscheidung, sondern auf unvordenkliche Abstammung zurückführen ließ. Die nationale Option stach, wie Isaiah Berlin ausfuhrt, die anderen aus, weil sie sich selbst eine andere Grundunterscheidung zunutze machte: sie gerierte sich als >Natur< gegenüber den >künstlichen< Zugehörigkeiten in modernen Gesellschaften. Vgl. Berlin (1990), 6 6 f f .

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National- und Weltkultur bei Herder und Wilhelm v. Humboldt

sich in seinem Werk mehrere Stellen, die an Jacob Grimms plakative Gleichsetzung von Sprache und Nation/Volk anklingen. 153 Die Sprache ist für Humboldt jedoch nur eine mögliche Bezugsgröße fur ein angemessenes Verständnis von Nation. In einer wichtigen Passage der ersten Abhandlung Uber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus fuhrt er aus, daß eine Definition, die den »Begriff der Nation [...] als ganz mit dem der Sprache zusammenfallend« (Hu III, 233) bestimmt, vor allem methodologischen Status hat. Die vergleichende Sprachkunde ist mit >Nationalsprachen< als Forschungsgegenstand befaßt; das Ausgehen von >Nationen< und >ihren Sprachen< ermöglicht es dem Sprachwissenschaftler, klare Grenzen zwischen den zu untersuchenden Einzelsprachen zu ziehen (vgl. Hu III, 234). 154 Geht es aber um die konkrete Verständigung im gesellschaftlichen Leben, entdeckt man schnell, daß »der Begriff [...] ein relativer« ist. (ebd.) Es gibt aus dieser Sicht nicht ein Kollektiv, das eine Sprache in einem gemeinsamen Geist spricht, sondern vielfältige Kommunikationsgemeinschaften, die auf unterschiedlichen Stufen Sphären der Gemeinsamkeit ausbilden. Innerhalb eines politisch-rechtlich konstituierten Nationalstaats kann es demnach durchaus verschiedene >Nationen< geben, wie - in der anderen Richtung - mehrere Nationalstaaten in Hinblick auf Ubereinstimmung der Weltansicht wieder als eine Nation angesprochen werden können. Soweit kulturelle Homogenität (eine erkennbare, von anderen klar unterscheidbare umfassende Gemeinschaftssphäre) gegeben ist, begreift Humboldt sie als Ergebnis geschichtlicher Bildungsprozesse. Die Definition, die er dann gibt, bleibt aber bewußt sehr allgemein und führt nur formelhaft die Eckpunkte eines sprachlich-kulturell-historisch fundierten Verständnisses von >Nation< auf. Da es im konkreten Kontext nur um diesen Nationsbegriff geht, beginnt sie mit einem einschränkenden »in diesem Sinn«: In diesem Sinn ist eine Nation ein solcher Theil der Menschheit, auf welchen so in sich gleichartige und bestimmt von andren verschiedene Ursachen einwirken, dass sich ihm dadurch eine eigenthümliche Denk-, Empfindungs- und Handlungsweise anbildet. (Hu III, 234)

Humboldts Aussagen sind an dieser Stelle nicht spezifischer als zahlreiche andere zeitgenössische Bestimmungen von Nation. In ihrer lakonischen Allgemeinheit erinnern sie an Schillers berühmte Definition des Nationalgeists im Aufsatz über die Schaubühne: »Nationalgeist eines Volks nenne ich die Ähnlichkeit und Ubereinstimmung seiner Meinungen und Neigungen bei Gegenständen, worüber eine andere Nation anders meint und empfindet.« (SWB 8, 198) Für den Argumentationszusammenhang eines Kapitels, das generell von der »Sprache in Beziehung auf die Vertheilung des Menschengeschlechts in Nationen« (Hu III, 230) handelt, genügt indessen eine solche

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Sprache als das »allgemeine, uns [die deutsche Nation; M.K.] verknüpfende Band« stellt Grimm in seiner Eröffnungsrede als Vorsitzender der deutschen Germanistenversammlung 1846 vor: »Lassen Sie mich mit der einfachen Frage anheben: was ist ein Volk? und ebenso einfach antworten: ein Volk ist der Inbegriff von Menschen, welche dieselbe Sprache reden.« Grimm (1846), I I ; vgl. als ähnliche Formulierung bei Humboldt H u III, 160f. Dazu und zum folgenden vgl. Borsche (1981), 318ff.

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idealtypische Festlegung. M i t ihr ist das Elementarste über >Nationen< als Subjekte von >Nadonalsprachen< gesagt: d a ß sie nicht n u r eine lexikologisch u n d grammatikalisch abgrenzbare Sprache sprechen, sondern in u n d m i t dieser Sprache auch eine e i g e n t ü m liche Weltansicht u n d eigentümliche Lebensformen entwickeln. W i e die »verschiedenartigen Umstände«, unter denen kollektive Identitäten sich bilden, historisch jeweils beschaffen sind, steht hier nicht zur Debatte. H u m b o l d t s U m g a n g mit d e m W o r t >Nation< ist, w i e es d e m Sprachgebrauch der Zeit entspricht, höchst variabel u n d noch keineswegs auf das Bedeutungsspektrum fixiert, das sich i m Nationalitätsdiskurs des 19. Jahrhunderts durchsetzt. D a auch er >Nation< u n d >Volk< weitgehend s y n o n y m verwendet, figurieren als »Nationen« bei i h m Frankreich, England u n d das zersplitterte Deutschland so gut w i e malaiische Völker u n d amerikanische Indianerstämme. 1 5 5 »Die Nation« ist aber auch - in e i n e m Sinn, der an den Sprachgebrauch der Französischen Revolution erinnert - die d e m »Staat« (der M o n a r c h i e ) gegenüberstehende Sozietät der Bürger, die in ihrer freien Kraftentfaltung nicht durch Reglementierung von oben behindert werden darf. Diese Verwendungsweise findet sich durchgängig; prominenteste Beispiele sind die frühen Ideen zu

einem

Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen (vgl. hier v. a. Hu I, 71 ff.) u n d der Antrag a u f Errichtung der Berliner Universität vom M a i 1809. 1 5 6 Was H u m boldt mit >Nation< meint, m u ß also jeweils nach d e m Kontext bestimmt werden. Bisweilen deutet er Definitionen an, die sich bei näherem Hinsehen sogleich wieder auflösen. 157 Eine terminologisch präzise Unterscheidung zwischen modernen Nationalstaaten u n d >Nationen< bzw. >VölkernNation< auch nicht mehr allein nach seiner Etymologie (nasci) verstehe, sondern »vorzüglich« im Blick auf zeitgenössische Nationalstaaten wie Frankreich, das doch in sich »nationenartige Verschiedenheiten (er nennt »Nieder-Bretagner« und »Gascogner«) enthalte. Statt einer Definition also der Hinweis auf die verschiedenen Verwendungsweisen.

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National- und Weltkultur bei Herder und Wilhelm v. Humboldt

würde. Die Phänomene des Modernisierungsprozesses hat Humboldt jedoch gesehen und in seiner Theorie sprachlicher Weltbilder an verschiedenen Stellen reflektiert. Daß die Verbindlichkeit des Weltbilds einer Ethnie in jenen Ländern, die sein Bruder bereist hat, von gänzlich anderer Art ist als die Ubereinstimmungen, die man im Lebensstil, in grundlegenden Deutungs- und Orientierungsmustern bei zeitgenössischen Engländern oder Franzosen entdecken kann, war ihm bewußt. Wie und durch welche Mechanismen die modernen Massen-Gesellschaften zu Einheiten verbunden werden, fragt Humboldt nicht weiter. In der bereits mehrfach erwähnten Passage der ersten Abhandlung Uber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus beläßt er es bei einer Aufzählung der wichtigsten Parameter sozialer Integration in den modernen Nationen (den »Nationen im Grossen«): Was nun die Nationen im Grossen gestaltet, lässt sich auf allgemeine Punkte zurückfuhren. Obenan stehen in diesen Einwirkungen Abstammung und Sprache. Dann folgen das Zusammenleben und die Gleichheit der Sitten. Die dritte Stelle nimmt die bürgerliche Verfassung ein, und die vierte die gemeinschaftliche T h a t und der gemeinschaftliche Gedanke, die nationeile Geschichte und Literatur. Der durch diese gebildete Geist tritt nicht sowohl zu den übrigen Einwirkungen hinzu, als er vielmehr alle zusammenschliessend vollendet. Eine Nation wird erst wahrhaft zu einer, wann der Gedanke es zu wollen in ihr reift, das Gefühl sie beseelt eine solche und solche zu seyn. (Hu III, 234f.)

Daß »Abstammung und Sprache« »obenan« stehen, heißt nicht, daß sie die wichtigsten Faktoren sind.158 Es sind vielmehr die Kriterien, die gewöhnlich zuerst ins Feld geführt werden. Dem ethnisch-sprachlich-kulturellen Komplex (Abstammung, Sprache, Zusammenleben, Sitte) stellt Humboldt dann die politische Einheit des modernen Verfassungsstaats zur Seite. Für den wirklich vereinigenden »Geist« aber sorgen Nationalgeschichte und Nationaliiteratur (hier im weiteren Sinn der gesamten geistigen Produktion eines Landes), die somit in der Tradition des »voluntaristischen NationsbegrifFs« der deutschen Intelligenz159 nicht als Indikatoren einer bestehenden, sondern als Faktoren einer zu bildenden Nationalität fungieren. Erst indem moderne Kollektive sich eine zusammenhängende Geschichte ihrer »Thaten« und »Gedanken« zuschreiben und aus diesem Horizont heraus ihr weiteres Denken und Handeln entwerfen, verstehen und fühlen sie sich als die einige Nation, die sich von anderen eigentümlich

158

Bei allem Gespür fur das Artifizielle der modernen Nationalität spielte für Humboldt die naturwüchsige, stammhafte Zugehörigkeit weiter eine wichtige Rolle. Kants rigide Trennung von >pragmatischer< und >physischer< Anthropologie hat er nicht akzeptiert, an einer physiologisch ciefsitzenden Komponente der Eigentümlichkeit hielt er ungebrochen fest. Man muß in diesem Zusammenhang allerdings daran erinnern, wie lange es gedauert hat, bis z.B. die Vorstellung von deutschen Stämmen< mit gleichsam eingeborenen kulturellen Determinationen wissenschaftlich erledigt war. Erst die Rheinische Kulturraumforschung in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts hat mit historischen, linguistischen und kulturwissenschaftlichen Untersuchungen gezeigt, wie weitgehend sich die alten Stammesräume in den neuzeitlichen — politisch, konfessionell und verkehrstechnisch bedingten — Gliederungen aufgelöst haben, und wie sehr die Stammesmentalität im modernen Deutschland als Reaktionsbildung und Anpassung an Rollenerwartungen zu begreifen ist.

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G G b B d . 7, 3 0 8 .

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unterscheidet. Über das konkrete Bedingungsverhältnis von Tradition, Konstitution sowie politischem und geistigem Selbstentwurf ist damit noch wenig gesagt. Wichtig in unserem Zusammenhang ist vor allem Humboldts Betonung der imaginierten Gemeinsamkeiten: Eine Nation ist genau dann eine, wenn sie sich als solche fühlt und begreift. Unter welchen der aufgeführten Prärogativen dies überwiegend geschieht, ist von Land zu Land verschieden und kann nur durch historische Einzelanalysen geklärt werden. Wer nationalen Zusammenhalt auf ideelle Selbstzuschreibungen und Abgrenzungen als ausschlaggebende Faktoren zurückführt, gibt ihm eine luftige Grundlage. Keineswegs entwickelt Humboldt solche Gedanken erst nach dem Ausscheiden aus dem Staatsdienst im Tegeler Eremitendasein. Gerade die Äußerungen des preußischen Diplomaten in der Zeit der antinapoleonischen Erhebung zeigen, wie sehr Humboldt damals schon die politische Kraft des Nationalgefühls mit seiner konstitutiven Fragilität zusammendachte. Als Indiz für Humboldts häufig behauptete nationale Aufwallung im Jahr 1813 1 6 0 wird immer wieder der Satz aus der Frankfurter Denkschrift an den Freiherrn vom Stein zitiert, »Deutschland« werde »in seinen, nach den Zeitumständen erweiterten, oder verengten Gränzen immer, im Gefühle seiner Bewohner, und vor den Augen der Fremden, Eine Nation, Ein Volk, Ein Staat bleiben«. (Hu IV, 304) Auch hier geht es aber offensichtlich um eine imagined community: »im Gefühle seiner Bewohner und vor den Augen der Fremden« hat diese Nation Bestand; verlieren sich Gefühl und Unterscheidungsbedürfnis (oder kommen sie gar nicht in ausreichendem Maß zustande), kann es mit der Nation sehr bald vorbei sein. Trotz des »immer« ist diese Formulierung, wieTilman Borsche zu Recht kommentiert, »nicht überzeitlich zu verstehen. Sie besagt vielmehr, daß das Nationalgefuhl ein Faktum ist, das fiir die gegenwärtige Politik nicht zur Disposition steht. Gleichwohl ist es, eben als kontingentes Faktum, einmal entstanden, und Humboldt weiß sehr wohl, daß es wieder vergehen könnte.« 161

G l o b a l i s i e r u n g u n d Partikularisierung In der Einleitung zu seiner Schrift über die Basken konstatiert Humboldt mit einer gewissen Trauer, es sei offenbar »in dem Gange der menschlichen Cultur unwiderruflich bestimmt, dass auf einer gewissen Stufe der Bildung die Unterschiede hinwegfallen

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Berglar z.B. handelt von Alexander als »dem toleranten Kosmopoliten« im Gegensatz zu »dem zeitweise national entflammten Bruder im Gefolge der Sieger«. Berglar (1970), 119. Borsche (1990), 55. Die Schrift plädiert ja auch fiir einen deutschen »Staatenverein«, weil H u m b o l d t die ideellen »Bindungsmittel« ( H u IV, 3 0 5 ) fiir die Großnation in der Mentalität der Deutschen nicht ausmachen kann (vgl. ebd., 3 0 8 ) . D a s kulturelle H a u p t a r g u m e n t ist, daß Deutschlands wohltätiger geistiger Einfluß auf ganz Europa sich »jener Mannigfaltigkeit der Bildung« verdankte, »welche durch die grosse Zerstückelung entstand« (ebd.). Politisch ging es H u m b o l d t u m eine sinnvolle Austarierung der europäischen Mächtebalance.

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National- und Weltkultur bei Herder und Wilhelm v. Humboldt

müssen, welche kleine Völkerhaufen von einander absondern, und dass nur grosse Massen in gemeinschaftliche Wirksamkeit treten dürfen.« (Hu II, 423) Anschließend versucht er diese Entwicklung in einer an Herder anklingenden Formulierung zu rechtfertigen: »der menschliche Geist wäre ohne das erweckende Schauspiel einer heftigen und fast allgemeinen Reibung der menschlichen Kräfte vielleicht nie zu einigen seiner erhabensten Entdeckungen gelangt.« (ebd.) Der Absatz schließt mit einer Frage, die bis heute nichts an Dringlichkeit eingebüßt hat: O b indess nicht auch dies eine Gränze kennt, ob nicht die Bildung wiederum einen Punkt erreicht, auf dem es eben so nothwendig ist, Einbildungskraft und Gefühl in einen engen Kreis einzuschliessen, als den Verstand in eine weite Sphäre zu fuhren, um dem Charakter die W ä r m e und Kraft zu erhalten, ohne die nichts in ihm Frucht tragen kann? ist eine andre und gewiss nicht unwichtige Frage, (ebd.)

Globale Öffnung befördert das Bedürfnis nach partikularer Einschließung (eine Konstellation, die man in der aktuellen Globalisierungsdebatte mit dem Kunstwort >glocalization< belegt hat). Humboldt, der Theoretiker des Zugleich von Verbindung und Vereinzelung, hatte für diese Widerstrebigkeit ein feines Gespür. In die Jahrhundertklage über das Verschwinden der Nationalcharaktere stimmt er nicht ein; das Aneinanderrücken der Nationen, der potenzierte Austausch von Gütern, Informationen und Ideen wird ihm zufolge keineswegs eine Nivellierung der Lebensformen und mentalen Einstellungen mit sich bringen. Gerade die durch wechselseitiges Sich-Abgrenzen energisch vorangetriebene Ausbildung nationaler Identitäten im Europa des 18. Jahrhunderts beweist ihm, daß auch in Zukunft die Vereinzelung von Kollektiven — auf welcher Ebene auch immer - eine erhebliche Rolle spielen wird. In einem großen Brief vom 18. März 1799 schreibt er aus Paris an Goethe, es müsse »gerade mit der zunehmenden Leichtigkeit allgemeiner Mitteilung das innigere Verstehen verschiedener Nationen schwerer und das Bedürfnis danach allgemeiner werden. Jede muß bestimmtere Charakterzüge annehmen, und ihre Verschiedenheit muß zunehmen, wie sie denn offenbar in diesem Jahrhundert bereits zugenommen hat.« (HGBr, 62) Vermutlich war es Humboldts Paris-Erfahrung, die ihm bewußt machte, daß moderner Weltverkehr nicht automatisch in kulturelle Homogenisierung mündet. Ausgerechnet die Großstadt, die bei Rousseau noch als Schreckbild der Entwurzelung und gesichtslosen Traditionsvergessenheit firmierte, wird Humboldt zum Übungsfeld einläßlicher Studien über den französischen Nationalcharakter (immer in Abhebung zu einer Deutschheit, der er sich jetzt erst richtig vergewissert).162 Hier diskutiert er mit den Idéologues, die ein erstaunliches Sensorium für die Attraktivität und Aussagekraft unterschiedlicher >genres de vie< (Volney) an den Tag legen.163 Hier hält er die »metaphysische Konferenz« vom 27. Mai 1798 ab, in der er als befugter Repräsentant deutscher Transzendentalphilosophie vergeblich versucht, seinen französischen Gesprächs-

162 163

Vgl. hierzu einläßlich G. Oesterle (1991). Vgl. Moravia (1989).

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partnern zu vermitteln, was man im Nachbarland unter >Selbsttätigkeit< und Einbildungskraft versteht (HGS XIV, 483ff.)· Hier hat er regelmäßig Kontakt mit Mme. de Staël, an der sich zum einen »unendliche Aufschlüsse und Bestätigungen über den Französischen Geist und Sprache« (ebd., 625) gewinnen lassen, die ihn zum anderen aber als Deutschland-Informanten immer wieder auch auf die eigene Kultur zurücktreibt. In dieser Zeit findet Humboldt die vielleicht prägnanteste Formel für sein Konzept dialogischer Individualität. »Nicht durch Absondern, sondern durch Kontrastiren im Umgehn muss sich der Charakter bilden«, heißt es in den Aufzeichnungen (ebd., 599). Humboldts Pariser Komparatistik ist gerade deshalb so aufschlußreich, weil sie ehrlich zeigt, daß das >Kontrastieren im Umgang< eben nicht nur die Bereicherung durch unterschiedliche, möglichst sogar kontroverse Ansichten umfaßt, sondern auch die Verstehensblockade und den erschöpften Abbruch des Gesprächs. Spricht Humboldt später lakonisch von der »allemal zugleich Absonderung hervorrufende[n] Verbindung der Nationen« (Hu III, 409), bleibt vielfach offen, ob es um die >gute< oder die >schlechte< Vereinzelung geht. Das Ideal wäre natürlich die Individualisierung im ständigen Umgang, die Besonderung durch Austausch. Das vorsätzliche Sich-Verschließen, oft auch aus Uberforderung, ist aber, wie Humboldt nur zu gut weiß, eine jederzeit naheliegende Möglichkeit. Während Goethe in den Weltliteratur-Äußerungen meist Kunst und Wissenschaft in einem Atemzug als Medien eines übernationalen Denkens beschwört, macht Humboldt in seinen Pariser Aufzeichnungen gerade die Schriftsteller und Philosophen fur die neue Diversifikation Europas mitverantwortlich: »Mathematik, Chemie, Naturwissenschaften sind noch ein allgemeines Band Europas, indess Kunst und Philosophie es in ganz heterogene Stücke schneiden.« (HGS XV, 44) In der auf wissenschaftlich-technischer Ebene zunehmend unifizierten Welt der Moderne wachsen die Abgrenzungs- und Identifikationsbedürfnisse; Literatur hat in diesem Zusammenhang als Distinktionsmittel gewirkt und wird es weiter tun. Humboldts drastische Metaphorik (in Stücke schneiden) klingt allerdings, als habe er bereits die nationalistische Funktionalisierung von Kunst und Literatur als Kampfinstrument vor Augen. Gegen diese Form von >Absonderung< hat er selbst das beste Heilmittel genannt: erotischen Umgang der Menschen miteinander und erotischen Umgang der Leser mit literarischen Texten - woher auch immer sie kommen.

Teil II: Goethe

Kapitel 1: Weltliterarische Gedächtnisbildung: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten

Le temp! présent est l'arche du Seigneur. Aus den Schemata zu Kunst und Altertum, IV Stück

Vorbemerkung Die Ausführungen des Ersten Teils konzentrierten sich auf den Doppelaspekt von merkantiler u n d moralischer Weltvereinigung im Schrifttum des 18. Jahrhunderts. Gezeigt werden sollte vor allem eines: W o die Rede von Nationalgeistern u n d Nationalliteraturen gebräuchlich wird, wird ihre Differenz immer schon bedacht als Abgrenzungsvorgang in einer sich bildenden Weltkultur. Die Sozialphilosophen der zweiten J a h r h u n d e r t h ä l f t e haben ein klares Bewußtsein davon, daß die Vereinheitlichungsprozesse, die in den modernen Nationalstaaten homogene Kulturräume erst hervorbringen, von einer funktionalen Dynamik leben, die über die avisierten Kulturgrenzen hinaustreibt. Fortan ist die Frage, wie diese zusammenwachsende Welt zu deuten ist: als Möglichkeit bewahrter, ja gesteigerter Individuation der Einzelkulturen in einem immer dichteren Gesprächszusammenhang - oder als drohende H o m o g e n i sierung. Der Französischen Revolution k o m m t in diesem Reflexionsprozeß eine Schlüsselrolle zu. Wie ein Brennspiegel bündelt das weltgeschichtliche Ereignis schlechthin die verschiedenen Aspekte, unter denen in dieser Zeit die Bildung einer neuen Weltordn u n g diskutiert wird. Ein einzelnes Volk konstituiert sich als Nation der Freien, Gleichberechtigten und solidarisch Verbundenen. Der Geltungsanspruch dieser Ideen übersteigt kraft ihrer immanenten Logik das besondere Gemeinwesen, das sich zuerst auf sie beruft. Ihr Adressat ist immer schon eine Weltöffentlichkeit, der n u n aufgetragen ist, das Zusammenleben der Menschen in planetarischem Maßstab vernünftig zu gestalten. Realpolitisch fuhrt die Französische Revolution indessen zur ersten nationalen Massenmobilisierung der Neuzeit u n d einer Folge von Kriegen, die - betrachtet man die Erschütterungen ganz Europas u n d die Auswirkungen bis in die überseeischen Kolonien — durchaus den Charakter eines frühen Weltkriegs haben. Uber die Bedeutung der Revolution fur Goethes Werk der zweiten Lebenshälfte m u ß nicht viel gesagt werden. Goethes 1823 erschienener Aufsatz Bedeutende

Fordernis

durch ein einziges geistreiches Wort bringt seine lebenslange Auseinandersetzung mit dem politischen Erdbeben im Nachbarland auf die bekannteste Formel. Der Autor spricht von der »vieljährigen Richtung meines Geistes gegen die Französische Révolu-

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Weltliterarische Gedächtnisbildung:

Unterhaltungen deutscher

Ausgewanderten

tion« und seiner »grenzenlosen Bemühung dieses schrecklichste aller Ereignisse in seinen Ursachen und Folgen zu gewältigen«. (HA 13, 39) Aufschlußreich ist der Kontext, der bei diesem Zitat oft nicht mehr erwähnt wird. Das »geistreiche Wort«, für das Goethe sich in dem Artikel bedankt, ist Heinroths Qualifizierung seiner »Verfahrungsart« als »gegenständliches Denken«. Die Revolution - deshalb kommt der Verfasser in diesem Zusammenhang darauf zu sprechen - war ihm besonders zuwider, da es sich um einen »unübersehlichen Gegenstand« handelte. »Unübersehlich« meint wohl zweierlei: Die Revolution war ein diffuser Gegenstand, mit dem er sich unausweichlich befassen mußte. Die Revolution zu »gewältigen«, hieß für Goethe, diesem gewaltigen amorphen Geschehen eine Form zu geben. Weltliteratur - so die These dieses Kapitels — ist eines der bereits in den neunziger Jahren entwickelten Konzepte, aus der revolutionären Auflösung neue literarische und gesellschaftliche Formen hervorgehen zu lassen, die in den Entgrenzungsprozessen der Moderne ein Mindestmaß an Kontinuität und Halt gewährleisten können. Um verständlich zu machen, was >Formung der revolutionären Auflösung« bedeutet, gehe ich in drei Schritten vor. Ich erinnere zunächst an die im Vorfeld des Gedenkjahres 1989 geführte Debatte der französischen Geschichtsschreibung um den »Mythos« Französische Revolution. Denn Goethes Bemühung, die Revolution zum einen als einschneidende Zäsur herauszustellen und ihr zugleich durch Kontinuitätsbeschwörung den letzten Schrecken zu nehmen, hat in den Auseinandersetzungen der Historiographen des 20. Jahrhunderts erstaunliche Parallelen gefunden. Umgekehrt läßt sich diesem Streit der Revolutionsforscher ein begriffliches Instrumentarium entnehmen, das Goethes »Verfahrungsart« präziser zu beschreiben erlaubt. In einem zweiten Schritt untersuche ich dann Goethes Revolutionsdarstellung in der Schrift, die aus seiner engsten Berührung mit dem Umsturz im Nachbarland hervorging: der Campagne in Frankreich. Vom Historiographen Goethe aus erfolgt dann der Übergang zum Novellenautor und seiner Figur des »Alten« — jenem Geschichtenerzähler in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, an dem erstmals die Idee der Weltliteratur zu greifen ist. Konzeptualisierung des revolutionären Bruchs I: D i e französische Geschichtsschreibung vor d e m >Bicentenaire< Im wahrsten Wortsinn altfränkisch mutete geraume Zeit an, wer die Französische Revolution als Zäsur, epochale Wende oder instantanen Ausgangspunkt für die Entwicklung der modernen Gesellschaften begriff. 1971 veröffentlichte François Furet in der Zeitschrift: Annales einen Aufsatz, der die bis dato schärfste Abrechnung mit der in Frankreich dominierenden linken Revolutionshistoriographie enthielt.' Im Zentrum

Der Aufsatz mit dem Titel Der revolutionäre Katechismus wurde von Furet später aufgenommen in seinen einflußreichen Band Penser la Révolution Française (1978). Das Buch beginnt mit einer Abhandlung, deren Titel fast schon alles sagt: »La Révolution Française est terminée«. Ich zitiere Furet künftig nach der zweiten deutschen Ausgabe dieses Buchs (1989).

Die französische Geschichtsschreibung vor dem >Bicentenaire>

149

der Attacke stand der »Mythos vom revolutionären Bruch«, 2 dem, so Furet, eine ganze Traditionslinie marxistisch inspirierter Forscher — von Jaurès über Georges Lefebvre bis hin zu Albert Soboul - gehuldigt habe. Furet sparte nicht mit polemischer Metaphorik, wenn es darum ging, die jakobinische Zäsurideologie seiner Kontrahenten bloßzustellen. Die bis in die siebziger Jahre hinein weithin akzeptierte Darstellung der Revolution war demnach eher ein »Heldenlied von den Ursprüngen« 3 als seriöse Geschichtsschreibung; wie bei allen Gründungsgeschichten, aus denen Gesellschaften das Bewußtsein ihrer gemeinschaftlichen Abstammung und Zusammengehörigkeit beziehen, sei es bei dieser Art von Revolutionserzählung vor allem auf die mythische Prägnanz der Ursprungsfigur angekommen. So wurde »1789« zum Geburtsdatum, zum »Jahr Null der neuen Welt« 4 und blieb es dank einer Geschichtswissenschaft, die dem Selbstverständnis der Revolutionäre »aufs Wort glaubte«. Vom »Mythos« der Französischen Revolution hatte zuerst der englische Historiker Alfred Cobban in den fünfziger Jahren gesprochen. 5 Cobban verstand darunter die von der materialistischen Geschichtsphilosophie verordnete Vorgabe, die Französische Revolution als ein Ereignis zu rekonstruieren, in dem »die Feudalordnung verschwand und die Herrschaft der Bourgeoisie an ihre Stelle trat«. Aus diesem Grundansatz, der im Rahmen eines teleologischen Geschichtsmodells - die Französische Revolution als Schaltstelle am Ubergang zum vorletzten Stadium des Geschichtsprozesses verortete, folgten nach Cobban zwei weitere Partialmythen: a.) die Notwendigkeit

der Revoluti-

on, die Unausweichlichkeit, mit der die Krise des Feudalismus nach dieser linearen Richtschnur in die revolutionäre Lösung zu münden hatte; sowie b.) die Bündelung der verschiedenartigen, oft gegenläufigen Ereignisreihen zu dem einen

monolithischen

Block französische Revolutions der alte und neue Zeit voneinander scheiden sollte. So fanden sich bei Cobban bereits die Schwerpunkte der spätestens seit den siebziger Jahren erfolgreichen neuen Revolutionshistoriographie versammelt: 1.) die Befreiung der Ereignisse und Strukturen, die das Phänomen >1789« ausmachten, aus dem Prokrustesbett eines )finalistischen Diskurses< (wie man das damals nannte); 2.) die Rehabilitierung der historischen Kontingenz; und 3.) die Zerlegung der Revolution in eine Vielfalt von Prozessen unterschiedlicher Herkunft, Entwicklungsrichtung und Geschwindigkeit. Die Dekomposition des Monuments >1789< wurde zum Lieblingsgeschäft der »revisionistischen« Geschichtsschreiber (so nannte Soboul seine Gegner). Das Hauptinteresse galt den unterschiedlichen Tempi der verschiedenen Schichten historischer Prozessualität. Dem gewaltigen und schockierend schnellen Umbruch auf der Ebene der Politik und des Rechts konfrontierte man zunehmend die zähe Beharrlichkeit alter Strukturen und eingespielter Lebensformen in den meisten anderen Sektoren des ge-

2 3 4 5

Furet (1989), 22. Ebd., 13. Ebd., 9. Cobban (1972).

150

Weltliterarische Gedächtnisbildung:

Unterhaltungen deutscher Atisgewanderten

seilschaftlichen Lebens. Weder im ökonomischen noch im sozialen Bereich stellte die Revolution demnach einen gravierenden Einschnitt dar. Die alten Formen der Landbewirtschaftung wurden, so argumentierte man nun, noch weit bis ins 19. Jahrhundert hinein praktiziert, ebenso überlebte trotz juristischer Neuregelungen das System der seigneurialen Abgaben beinahe in der Gestalt, die es im Lauf des 18. Jahrhunderts angenommen hatte. Die vorkapitalistischen Strukturen der ländlichen und städtischen Industrie blieben diesselben, partiell bremste die Revolution bereits in Gang gekommene Modernisierungsprozesse. Sozialer Sieger der Revolution war keine aufsteigende Bourgeoisie, die als neue herrschende Klasse den reaktionären Adel beseitigt hätte, sondern eine Führungsschicht, die sich bereits unter dem Ancien Régime im Vollzug eines »langfristigen Angleichungs- und Verschmelzungsprozesses« 6 bürgerlicher und adliger Gruppen gebildet hatte. Noch weniger schien vom revolutionären Bruch übrigzubleiben, wenn man den Blick auf die Ebene der alltäglichen Gewohnheiten und traditionellen Einstellungen richtete. Wenn ein junger französischer Bauer um 1 8 3 0 nicht anders lebte, dachte und fühlte als sein Großvater unter Louis X V I . , war dann jener kurze Zeitraum, in dem sein Vater vielleicht einmal Schlösser angezündet hatte, wirklich viel mehr als eine Episode? Es war wieder ein englischer Historiker, Richard Cobb, der den Verdacht äußerte, daß das >grand spectacle< wohl allzulange überschätzt worden war.7 Langfristig gesehen hatte sich demnach nicht viel mehr ereignet als der mitnichten

flächendeckende

Aufstand einer Minderheit - eine Exaltation, die nach

einiger Zeit weitgehend folgenlos verpuffte und in die Bestätigung einer altvertrauten Alltagswelt gemündet war. Die Revolution, die das Leben der ganzen Nation bis in die Grundfesten erschüttert haben sollte, entpuppte sich in dieser Perspektive als bloßes Oberflächengekräusel. Die wenigsten Franzosen hatten davon etwas mitbekommen. Solche Überlegungen liefen offensichtlich darauf hinaus, einen Gegenmythos der unerschütterlichen Kontinuität in die Welt zu setzen. Die Annales-Schule hatte gelehrt, dem »pathétisme« der große Ereignisse mit Mißtrauen zu begegnen. Fernand Braudel, dem Inaugurator der Bewegung, war es zwar keinesfalls darum gegangen, die plötzlichen Veränderungen, die das geschichtliche Handeln der Menschen bewirkte, einfach in die Gefängnisse der langen Dauer zurückzuholen. D i e vehemente Betonung jener »Strukturen«, die die Geschichte »blockieren« (»biologische Gegebenheiten«, »geographische Rahmen« und »Denkverfassungen« 8 ), kam zustande als Reaktion auf eine ausschließliche »Ereignisbezogenheit«, die Braudel in den Geschichts- und Sozialwissenschaften seiner Zeit dominieren sah. Das Ideal der Braudelschen Historik war eine Geschichtsschreibung, die das ganze Spektrum historischer Temporalstrukturen entfalten würde und auf diese Weise »das vielseitige Spiel des Lebens« in der Geschichte wiederfinden sollte: »alle seine Bewegungen, alle seine Zeitabläufe, alle seine Brüche,

6 7 8

Reichardt/Schmitt (1980), 300. Cobb (1970). Vgl. die entsprechenden Passagen in Braudels berühmtem Aufsatz La longue Durée (1958); abgedruckt in Wehler (1972), 188-215; hier 194.

Die französische Geschichtsschreibung vor dem >Bicentenaire
weltliterarisch< gespiegelt sah. Derselbe Effekt stellt sich später in seiner Lektüre Carlyles, der Mailänder Zeitschrift L'Eco und des französischen Le Globe ein. Ein Aspekt ist dabei in den Divanjahren vermutlich noch wichtiger als 1826/27: die

17 18

G . R. Kaiser, M a d a m e de Staël als Dolmetscherin Weimars. Typoskript. D e Staël ( 1 9 8 5 ) , 166f..

Stetes Beziehen

187

Anteilnahme der anderen kann gerade auch Goethes Einsamkeit unter den Deutschen kompensieren. 19 Die Umbruchsituation des Jahres 1814 verlangte nach einer neuen Literatur- bzw. Kunstpolitik. Unter dem Eindruck von De l'Allemagne begreift Goethe das Deutschland-Bild (Goethe-Bild) des Auslands als Möglichkeit für einen eigenen, freieren Umgang mit den Deutschen: Er kann sich mit ihrer Hilfe der Definitionsmacht des einheimischen Kulturbetriebs entziehen. Unter diesem Aspekt geht der Weltliteratur-Begriff weniger auf zunehmende Alterseitelkeit zurück (das unterstellte die spätere nationale Literaturgeschichtsschreibung 20 ) als auf ein Selbstschutzbedürfnis. Die Erweiterung auf Gesamt-Europa ist paradoxerweise einer der Goetheschen Modi, einen >Kreis um sich zu ziehenc sie macht ihn unbetreffbar durch das deutsche Gezänk. Die Hegire in die Weltöffentlichkeit hat begonnen.

Stetes Beziehen Der Titel »West-oestlicher Divan« erscheint zum ersten Mal in Goethes Ankündigung des Gedichtbands im Morgenblatt fiir gebildete Stände vom Februar 1816. Dort wird ihm die ältere Titelgebung des Jahres 1815 in generalisierter Form noch zur Erläuterung angehängt: »West-oestlicher Divan oder Versammlung deutscher Gedichte in stetem Bezug auf den Orient« (FA 3.1, 549). 21 Die zweite Titelhälfte, die die erste in etwas bürokratischer Manier übersetzt und erläutert, fällt später weg; die Formel »westöstlich« wird dadurch zugleich prägnanter und vieldeutiger. Der »stete Bezug« rutscht gleichsam in den Bindestrich hinein, eine Verrätselung, die Goethe nun öfters in Titeln und Untertiteln praktiziert (»chinesisch-deutsch«, »klassisch-romantisch«). 22 Der Lakonismus des Titels der Erstausgabe von 1819 »West-oestlicher Divan. Von Goethe« läßt offen, von welcher Art der Bezug eigentlich ist. Geht es um Einflüsse, Vergleichung, Ubersetzung, Mischung? Zwar gibt es auch diesmal einen präzisierenden Nebentitel. Der erscheint aber ironischerweise in arabischer Schrift auf dem Titelkupfer nebenan (übersetzt: »Der östliche Divan des westlichen Verfassers«) — in Gestalt von

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»Sie lassen mich alle grüssen / und hassen mich bis in Tod«, heißt es im Z)iM«-NachIaß über die Deutschen (FA 3.1, 610). So z.B. Gervinus: »Seit sich dieser [Carlyle; M . K . ] mit Göthe in Relation setzte, italienische Dichter zu dessen Fahne schwuren, der Globe sein Lobpreiser ward, Byron und Scott seine Werke benutzten, gefiel sich der alte Herr in dem Gedanken einer Weltliteratur, denn in der That war es nun dahin gekommen, d a ß das geistige Eigenthum von Deutschland unter d e m Schutze des Friedens und der Allianzen in die Länder Europas ausgefahren, und umgekehrt dem Fremden zu erneutem Zuflusse zollfreier Eingang gestattet ward.« Gervinus (1842), 577. Die Formulierung im >Wiesbadener Register ( M a i 1815) hatte gelautet: »Versammlung deutscher Gedichte mit stetem Bezug auf den Divan des persischen Saengers M a h o m e d Schemseddin Hafis« (FA 3.1, 4 5 7 ) . Die Polaritätstitel signalisieren, d a ß das folgende Werk sich nicht an eine Zeit, einen Kulturraum, einen Kunststil bindet, sondern eine Bewegung zwischen kulturellen und historischen »Welten« vollzieht: »Sinnig zwischen beyden Welten / Sich zu wiegen lass ich gelten / Also zwischen Ost und Westen / Sich bewegen sey zum besten.« (FA 3.1, 6 1 5 )

188

Liebliche Doppelschrift: West-östlicher Divan

Lineamenten also, die die meisten deutschen Leser wohl gar nicht als sprachliche Zeichen erkennen konnten. Die Ornamentik auf Titelblatt und Titelkupfer scheint auch die deutsche Schrift mit Auflösung zu bedrohen. Der Divan gibt sich von vornherein als Rätsel- und Spielbuch, das den Leser auf verschlungene Wege zwischen zwei Schriftwelten führt. Die Zumutung für die Zeitgenossen bestand gerade darin, eine Lektüre des »steten« Doppelbezugs zu entwickeln und durchzuhalten. Denn dieses Buch war keine OrientLiteratur des vertrauten Typs: weder wurden hier westliche Gesellschaftsprobleme in orientalischem Gewand verhandelt, noch europäische Helden auf abenteuerliche Reisen in den Osten geschickt. Einen eigentlichen Ort des Sprechens, eine fixierbare Perspektive gab diese Lyrik nicht mehr vor. Zudem mußte jedem nach kurzer Lektüre klar werden, daß Orient und Okzident nur eines von zahlreichen Doppelverhältnissen sind, mit denen der Band aufwartet. Es gibt Liebespaare, Dichterpaare, Religionspaare, geschichtliche Epochen werden genauso als Paare zusammengestellt wie historische Individuen, Naturerscheinungen, Pretiosen und Gemütszustände. Damit korrespondieren die in den Texten selbst häufig thematisierten Doppelungen im Bereich der Sprachform: Reim, Frage-Antwort, Rede-Gegenrede, Parallelgedichte. In all diesen Paarungen wiederum ist das Verhältnis von Opposition und Entsprechung jeweils unterschiedlich gelagert, alle bilden flir sich eine Spiegelrelation, in die die Spiegelungen der anderen auf vielfältige Weise hineinwirken. Eine Reihe von Grundoppositionen, die die verschiedenen Sinnbezirke der menschlichen Erfahrungswelt abdecken, läßt sich immerhin ausmachen: Neben den zwei Hauptachsen West-Ost (Kultur) und VergangenheitGegenwart (Geschichte) sind dies die anthropologischen Urdifferenzen Gott-Welt (Religion), sowie Mann-Frau und Natur-Gesellschaft (also das unaufhebbare Ineinander von bedürftiger Leiblichkeit und sprachlicher Sozialität). Individualität und Gemeinschaft, ein Grundverhältnis, das hier anschließt, erscheint sogleich in mehrere Aspekte aufgefächert: Intimität und Öffentlichkeit (»Geheimnis« und »Verrat«), Stimme und Schrift, Herrschaft und Knechtschaft, Krieg und Frieden, Liebe und Haß (»Unmut«). Auf intrikate Weise ist dies alles wiederum verknüpft mit der dualen Struktur des Sprachkunstwerks Divan selbst, das - für die Zeitgenossen befremdlich - in einen Poesie- und Prosateil zerfällt. Aufgrund der Allgemeinheit und unabsehbaren Interdependenz all dieser Gegensatzpaare evoziert ihr ständiger Aufruf im Text nicht den Eindruck fester Gefügtheit. Der Leser findet sich weniger in erkennbare Ordnungen als vielmehr in ein variables Spiel mit Ordnungsformen versetzt. Die Vielzahl und unendliche Beziehbarkeit der dualen »Wechselverhältnisse« im Divan treibt das Spiegelungsgeschehen bis an die Grenze der Lichtüberflutung. »Alles ist doppeltblickend«, schreibt Hofmannsthal mit Goethes Metapher (FA 3.1, 86) und konstatiert beinahe verwundert, was geschieht, wenn sich die Doppelblicke potenzieren: »Jegliches führt jegliches herbei, [...] dem Gemüte müßte es fast schwindeln.« 23

23

Hofmannsthal (1979), 440/442.

Das Land der Dichtung

189

Neben >Spiegelung< verwendet Goethe noch andere Metaphern fur das Wechselverhältnis zwischen den Gliedern seiner Paare. Im Briefkonzept an Cotta vom Mai 1815 findet sich die berühmte Erklärung, seine Absicht im Divan sei es, »aufheitere Weise den Westen u n d Osten, das Vergangene u n d Gegenwärtige, das Persische u n d Deutsche zu verknüpfen, und beiderseitige Sitten u n d Denkarten über einander greifen zu lassen.« (FA 34, 451) Auch hier wird eigentlich nichts erklärt; der Satz vollzieht eher das >Übereinandergreifen< in einem kaum merklichen Umschlagen der Briefprosa ins Lyrische. Gerade bei den W ö r t e r n , deren Semantik Dualität anzeigt, breitet sich ein Klangteppich der Einheit aus: »heitere Weise...beiderseitig...über einander greifen«. Die inhaltlichen Angaben sind wie immer vage u n d allgemein; sprachmagisch hat indessen das Spiel »Aus zwei mach eins, aus eins mach zwei« bereits begonnen. 2 4 Diese Erfahrung bestätigt die DzW/z-Lektüre: die Sammlung präsentiert sich als Orientdichtung, Liebeslyrik u n d noch einiges andere mehr; viel eher geht es aber um eine sprachreflexive Phänomenologie verstehender u n d ordnender Beziehbarkeit in einer zersplitterten Welt. 25

Das Land der Dichtung Wie ist das »Ubereinandergreifen« von Doppelbezügen im Divan n u n konkret gestaltet? An zwei Gedichten aus dem Buch des Sängers, Phänomen u n d Liebliches, sollen im folgenden Grundzüge der Goetheschen Reflexionstechnik erörtert werden. Erst deren Verständnis erlaubt eine genauere Bestimmung der interkulturellen Spiegelung, die der Band so ostentativ als sein Grundverhältnis vorgibt. Phänomen

u n d Liebliches sind Texte, die als Parallelgedichte zusammengehören.

Das läßt sich an einigen simplen Daten festmachen: Sie folgen in allen

Divan-Kn&^z-

ben direkt aufeinander, der Titel »Liebliches« des zweiten n i m m t das Schlußwort »lieben« des ersten wieder auf; beide handeln von Nebelerscheinungen, in beiden geht es um die Vision eines Bunten in weißen Nebelschleiern. 26 a) Phaenomen Wenn zu der Regenwand Phoebus sich gattet, Gleich steht ein Bogenrand Farbig beschattet. Im Nebel gleichen Kreis Seh ich gezogen, Zwar ist der Bogen weiß, Doch Himmelsbogen. 24

25

26

Vgl. auch Verspaare wie »Gottes ist der Orientl/Gottes ist der Occident!« (FA 3.1, 15); der Effekt von >eins und doppelt« beruht auf der minimalen Differenz von drei Buchstaben. »Splittern«, »bersten«, »zittern« sind ja Schlüsselworte gleich am Eingang des Bandes (FA 3.1, 12). Beide sind auch auf denselben Tag datiert: den 25. Juli 1814, den ersten Tag der Reise. (FA 3.1, 475f.)

190

Liebliche Dopfeischrift: West-östlicher Divan So sollst du, muntrer Greis, Dich nicht betrüben: Sind gleich die Haare weiß, Doch wirst du lieben. (FA 3.1, 19)

Wer den Titel ernstnimmt, m u ß sich sogleich fragen, was hier eigentlich das Phänom e n ist. M a n könnte versuchen, den G a n g des Gedichts in eine Erfahrungschronologie zurückzuübersetzen: Strophe 2 gibt dann die W a h r n e h m u n g eines Lichtbogens im Nebel; der assoziiert sich mit einem (erinnerten) Regenbogen (Str. 1), woraus (Str. 3) die symbolische Ausdeutung auf die Lebensgeschichte des Greises hervorgeht. Diese R ü c k f ü h r u n g des Gedichts auf das, was m a n sich unter Goethes >Symbolik< gewöhnlich vorstellt, würde unterschlagen, was das Spezifische des Vorgangs in diesem Text ausmacht: die Doppelung in zwei Naturerscheinungen. Das Gedicht präsentiert nicht — wie der Titel erwarten läßt — ein Phänomen, dessen anschaulicher Evidenz der subjektive Sinn zu e n t n e h m e n ist. Ein Phänomen reicht offenbar nicht aus. Die Sinnsuche in der Erscheinungswelt begibt sich auf Umwege: zwei N a t u r p h ä n o m e n e legen einander wechselseitig aus u n d werden so >bedeutend< für die menschliche Lebenserfahrung. Dabei wird mit jeder Lektüre unklarer, wie die Prioritäten zu setzen sind. Ist die emphatische W a h r n e h m u n g des Nebelstreifens nicht schon gelenkt durch das Bild des Regenbogens u n d seine hermeneutische Ergiebigkeit? »Begatten« sich die P h ä n o m e n e aus eigenem Antrieb u n d entlassen auf diese Weise gnädige Sinnimpulse ins menschliche Leben oder steht hinter allem nicht ein höchst konstruktiver Wille zum Sinn? Das Gedicht macht ja kein Hehl daraus, daß die Analogien, aus denen zuletzt die tröstliche Botschaft hervorgeht, prekär sind. In jeder Strophe taucht einmal das M o n e m »gleich« (Str. 2: »gleichen«) auf, als ginge es darum, den Eindruck einer stimmigen »Vergleichung« suggestiv zu verstärken. Tatsächlich aber liegt n u r in der 2. Strophe die komparative Bedeutung vor; das temporale >gleich< in Strophe 1 (sogleich) u n d das konzessive in Strophe 3 (obgleich) sind bloße H o m o n y m e , alle drei haben semantisch nichts miteinander gemein. Das Gedicht, eine Sequenz von Gleichnissen, zeigt am Wortmaterial ungeniert die Fragwürdigkeit des Gleich-Setzens auf. Entsprechend gerät auch auf der Ebene der Syntax die Folgerichtigkeit der gleichsetzenden Übergänge ins Zwielicht. Die drei Strophen k o m m e n im Gestus eines syllogistischen Dreischritts daher. Die Einzelelemente sind wie bei einer übersichtlichen Versuchsanordnung strikt getrennt: A - Β — C, jedes eine Strophe. Der D u k t u s des Gedichts ist dermaßen lakonisch, daß das Konditionalgefüge aus Strophe 1 sich beinahe naturwüchsig fortzupflanzen scheint. Die Kausalität, in der Sonne u n d Regen den b u n t e n Bogen hervorbringen, wirkt wie selbstverständlich weiter in der Assoziation der zwei Naturphänomene u n d deren Verknüpfung mit dem Subjekt. Das eine scheint sich zwingend aus dem anderen zu ergeben: »wenn«, d a n n »gleich« (Str. 1) - des«gleichen« (Str. 2) »so« (Str. 3). U n d doch ist ja die Differenz der Bereiche klar faßbar, u n d das Heikle dieser pseudokausalen Verknüpfung bleibt evident. Phänomen erweist sich so k a u m als ein Gedicht über eine äußere Erscheinung u n d ihre symbolische Valenz. Vielmehr ist

Das Land der Dichtung

191

es ein Text über die Möglichkeiten der Sprache, Erscheinungen zu deuten und miteinander zu verbinden. Es stellt ein sinnerfülltes phänomenales Geschehen so vor, daß die sprachlichen Prozeduren der Bedeutungsstiftung auffallend hervortreten. Das Gedicht gibt damit sich - die spezifische Textur, in der es Phänomene der Erfahrungswelt aufeinander bezieht - als das eine »Phänomen« zu erkennen, von dem der Titel spricht. Dennoch entsteht, aufs Ganze gesehen, nicht der Eindruck subjektiver Willkür oder Beliebigkeit. Zwar verleugnet das Gedicht das sprachliche Arrangement nicht, das Phänomene so auslegt und zusammenstellt, daß sie Lebenssinn verlauten. Die verlorene unmittelbare Evidenz der Welt-Phänomene ersetzt es aber durch die Evidenz seines eigenen Erscheinens. Nichts stimmt in diesem Text fiir den kritisch sondierenden Blick, »doch« alles ist stimmig. Es ist, als ob die Sprache auf sich, ihre Differenz zur Natur, nur aufmerksam machte, um desto strahlender ihre synthetische Kraft zu bekunden. Die umwegige Gleichsetzung von Phänomenen, die aus dem nebligen Weiß ein Farbenspiel hervorzaubert, vollzieht sich auf knappstem Raum, in konzentriertester Form. Phaenomen kommt mit 45 Wörtern aus, zwischen denen sich ein überwältigendes Beziehungsspiel auf allen Ebenen (Semantik, Klang, Rhythmus) entfaltet. Entscheidend ist auch hier die Verflechtung von Oppositions- und Entsprechungsstrukturen. Die »Begattung« des Gegensätzlichen (lichtspendende Sonne und verdunkelnde Regenwand), mit der das Gedicht einsetzt, führt im Sprachmaterial gerade nicht zu einer Vereinigung. Das Prädikat >buntbunt< wird - deutlich im Klang, verhaltener in der Bedeutung - durch den »muntre[n] Greis« der 3. Strophe wiederaufgenommen. In unmittelbarer Nachbarschaft findet sich als semantisches Echo auf »beschattet« das Verb »betrüben«. Der Naturvorgang - die Konstellation von Farbe, Schatten und Trübem - hat so untergründig in der moralischen Welt bereits eine Korrespondenz hervorgerufen, bevor explizit vom liebenden Aufblühen des Greises die Rede ist (das »lieben« des Schlußverses wiederum setzt rückbezüglich die mythische Überhöhung des Naturgeschehens als Begattungsakt ins Recht). Indessen ist diese Entsprechung fiir sich genommen nicht ausschlaggebend. Das Gedicht setzt ja gerade nicht die einfache Analogie: >Farbentstehung im trüben Medium (durch Sonneneinstrahlung) - Ermunterung des betrübten Mannes (durch Liebesimpulse)«. Über diese (wie gezeigt) nur verhalten evozierte Spiegelung schiebt sich das in der zweiten Gedichthälfte dominierende Bildfeld des Alters und der entdifferenzierenden Weißheit/Weisheit, als solle bedeutet werden, daß alles Aufblühen und alle affektive Belebung hier jederzeit in einer eigentümlichen Dämpfung gehalten sind. Der distanzierende Nebel, die Sphäre des »Weißen«, wird nicht negiert: die Farben der Liebe, die der Schlußvers beschwört, kommen nur vermittelt — wie über Akte der Erinnerung — zum Tragen. Die Verjüngung, die der liebende Greis erleben wird, ist nicht spontane Überwältigung durch großes Gefühl, sondern ein ungleich diffizileres Spiel, das die Lebensalter im Subjekt miteinander begin-

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Liebliche Doppelschrift: West-östlicher Divan

nen: ein Hin-und-Her zwischen Vitalisierung und abständiger Deutung, zwischen Erregung und selbstgenügsamer Sublimation.27 In dieser Entfernung vom bewegten Leben der Jüngeren findet sich das Alter auf der anderen Seite in überraschender Nähe zum Ursprung wieder. Es sieht das Licht, zwar >nur< im weißen Abglanz, aber doch in der deutlichen Figuration eines Umgreifenden (»Himmelsbogen«), das über allem sich wölbt. So durchläuft der »Greis« im Angesicht des Nebel-»Kreises« einen persönlichen Lebens-Kreis,28in dem das sinnliche Kolorit der Jugend auf mysteriöse Art in der weisen Indifferenz des Alters wiederaufscheint. Das Gedicht endet futurisch offen und schafft es doch, gerade aus dem Ausgriff in die Zukunft die klassische Figur der geschlossenen Vollkommenheit hervorgehen zu lassen. Plausibilität gewinnt diese Lebensdeutung allein durch die Erfahrung des Lesers, sich in den ständigen Vor- und Rückverweisen auf allen Ebenen des Sprachmaterials selbst in ein >kreisendes< Geschehen versetzt zu finden. Im Bild des Kreises ist die regulative Idee vorgezeichnet, die im Divan nicht nur die Linie eines auf den Tod zuhaltenden individuellen Lebens, sondern auch die einer haltlos in die Zukunft stürzenden Geschichte im Blick auf menschliche Sinnbedürfnisse zurückzubiegen, zu >ründen< erlaubt. Auch die Sammlung des westlichen Dichters will ein »Lied [...] drehend wie das Sterngewölbe« (FA 3.1, 31) sein, ein eigener Kosmos aus Lichtbahnen, die einander auslösen, zurück- oder in Brechungswinkeln weiterstrahlen, und sich in mehreren Schichten so überlagern, daß sich Konstellationen sowohl der Sinnpluralisierung wie der Sinnverdichtung ergeben (vorstellbar etwa im Bild eines langsam gedrehten Kristalls). Die Kreisform meint hier also eine unabschließbare kreisförmige Bewegung, die die Bezüge im Innern des Texts generieren. Kreis bzw. Kugel - die traditionellen Figuren der Vollkommenheit - sind hier nicht als Ordnungsmuster einfach vorausgesetzt. Nicht um anschauliche Totalisierung (die harmonische Versammlung aller Aspekte) im Kreis geht es, sondern um die punktuelle Beziehbarkeit verstreuter Elemente. Der Rundungseffekt verdankt sich allein der gesteigerten Interaktion zwischen diesen Elementen, der zunehmenden Dichte ihrer Correspondances. Phaenomen ist ein Text von solch komplexer Prägnanz, daß an ihm die Unabschließbarkeit analytischer Bestimmungen exemplarisch greifbar wird. Die Sprache des Gedichts zeigt geradezu lustvoll ihre Macht über das gewöhnliche Unterscheiden und Identifizieren. Die Schlußverse von Str. 2 und 3 — um ein letztes Beispiel zu geben haben den gleichen syntaktischen Bauplan. Die Identität des einleitenden Nebensatzes (V. 11 könnte heißen: >Zwar sind die Haare weiß...Nebel - Lebensteten Bezüge< hineinholt. Die Selbstdarbietung der artistischen Gleichsetzungen in Phaenomen macht deutlich, daß der Text vor allem von jenen Verwandlungen spricht, die die Weltphänomene beim Ubergang ins Land der ästhetischen Phänomenalität erfahren. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum Phaenomen auch als poetologisches Gedicht gelesen werden kann, in dem Goethe sein eigenes Verfahren im Divan (und im Alterswerk überhaupt) thematisiert. Seit der Natürlichen Tochter, so seine Selbsteinschätzung, sei bei ihm ein Ubergang von der >spezifischen< zur >generischen< Darstellung erfolgt. Diese Goethe-Periodisierung durch Goethe - Riemer hat sie festgehalten - fällt ebenfalls in das Jahr 1814 und veranschaulicht die generische Technik nicht zufällig an der Entwicklung Tizians, des genialsten Koloristen der Renaissance: »Merkwürdige Äußerung Goethes über sich selbst, bei Gelegenheit des Meister. >Daß nur die Jugend die Varietät und Spezifikation, das Alter aber die Genera, ja die Familias habe.< An sich und Tizian gezeigt, der zuletzt den Samt nur symbolisch malte.« (FA 34, 328) Phaenomen spricht vom Aufgehen des Kolorits im Alters-Weiß und fuhrt zugleich vor, wie das Spezifische der konkreten Phänomene nur berührt wird, um ein Beziehungsspiel der freigesetzten Klänge und Bedeutungen zu eröffnen, b)

Liebliches

Was doch buntes dort verbindet Mir den Himmel mit der Höhe? Morgennebelung verbündet Mir des Blickes scharfe Sehe. Sind es Zelten des Vesires, Die er lieben Frauen baute? Sind es Teppiche des Festes, Weil er sich der Liebsten traute? Roth und weiß, gemischt, gesprenkelt Wüßt' ich schönres nicht zu schauen; Doch wie Hafis kommt dein Schiras Auf des Nordens trübe Gauen?

194

Liebliche Doppelschrift: West-östlicher Divan Ja es sind die bunten Mohne, Die sich nachbarlich erstrecken Und, dem Kriegesgott zum Hohne, Felder streifweis freundlich decken. Möge stets so der Gescheute Nutzend Blumenzierde pflegen, Und ein Sonnenschein, wie heute, Klären sie auf meinen Wegen! (FA 3.1, 19f.)

In Liebliches fuhren die Umwege der Bedeutungsstiftung in andere Regionen. Tröstlicher Lebenssinn ergibt sich hier nicht aus der Spiegelung von Naturerscheinungen, sondern aus einem veritablen Übereinandergreifen von Westlichem u n d Östlichem. Stärker noch als in Phaenomen erscheint die weiße Transparenz des Nebels als M e d i u m einer beziehungsmächtigen Einbildungskraft. Der Sachverhalt ist klar: Über den Anblick einer vom Morgennebel verhüllten Thüringer Landschaft 2 9 schiebt sich die Vision einer orientalischen Zeltstadt. Der Blick aus d e m Fenster der Kutsche — so kann m a n sich mit älteren Interpretationen die Ausgangssituation zurechtlegen - projiziert auf die Felder draußen, was drinnen Gegenstand der Lektüre war. Von Weimar westwärts auf Erfurt zuhaltend, erfährt der Passagier in seinem schwankenden Vehikel die M a c h t der Lesereise in den Osten u n d verfertigt eine eigenwillige Synthese. Aber worin besteht die genau? Die Parallelen zu Phaenomen liegen auf der H a n d . Auch hier zu Beginn eine heilige Hochzeit von O b e n und U n t e n ( H i m m e l u n d Erde, Licht u n d Dunkel), auch hier Schlüsselwörter wie »lieben«, »trübe«, »weiß«, »Sehe« u n d »Sonnenschein«. Das in Phänomen

beständig evozierte, aber niemals genannte »bunt« ist, rechnet m a n den

früheren Titel »Bunte Felder« (FA 3.2, 935) hinzu, dreimal vertreten. Auch hier geht es also u m ein liebendes Aufblühen im durchsichtigen Nebelgespinst. N u r ist das Subjekt diesmal kein betrübter Greis, sondern eine Landschaft der »trüben Gaue« des europäischen Nordens. Die ältere Forschung hat gern eine Zweistufigkeit in der Gedichtgenese unterstellt. 30 Am Anfang stand demnach ein normales Erlebnisgedicht, bestehend aus den drei >WestStrophen< 1, 4 u n d 5. Die erneute Blüte der Felder bei Erfurt hätte dann im klassischen 1:1-Maßstab die Wiederbelebung Deutschlands nach den napoleonischen Kriegen symbolisiert. Später seien die zwei Orient-Strophen (2 u n d 3) eingeschoben worden. D a kein handschriftlicher Befund diese These stützte, berief m a n sich auf die formale Abweichung der Hafis-Strophen, die beide n u r den zweiten u n d vierten Vers aufeinander reimen. Die Uneinheitlichkeit im Reimschema zeige, d a ß Heterogenes in zwei Stufen verbunden worden sei.

29 30

In der ersten Reinschrift lautete V. 14: »Die um Erfurt sich erstrecken« (FA 3.2, 940). Vgl. Burdach (1926), 300. Dagegen Neumann (1973), 149f., der allerdings auch an der Zweistufigkeit festhält (was fur seine überzeugende Argumentation gar nicht nötig wäre).

Das Land der Dichtung

195

Diese Argumentation wirkt heute eher belustigend. Als hätte Goethe, wenn er denn ein organisches Ganzes< verfertigen wollte, zu große M ü h e gehabt, auch noch Reime für die verbliebenen Verse zu finden! Plausibler ist sicher die Annahme, daß die Reimabweichung von Anfang an intendiert war. Die Ost-Strophen (um diesen Sprachgebrauch beizubehalten) werden dadurch im Gedicht als Fremdkörper markiert. Sie treten in den westlichen Verband vierhebig trochäischer, gleichmäßig kreuzgereimter Verse nur partiell ein. Sie stiften (zumindest ein wenig) orientalische Verwirrung in der säuberlichen Anlage der deutschen Kunst. Es ist auffällig, daß die Reimwörter der OrientStrophen zu einem Vokabular der Vertrautheit gehören, das dank der alle vier umfassenden Assonanz noch eingängiger klingt: bauen, trauen, schauen, Gauen. Gegen diese A n m u t u n g des Heimeligen macht sich in den ungereimten Versen Unbekanntes, U n ruhiges geltend: »Vesires«, »Festes«, »gesprenkelt«, »Schiras«. Damit wird zwar ein vorgegebenes Schema orientalischer Lyrik aufgegriffen (ein einziger Reim alterniert mit reimlosen Versen), im deutschen Kontext wirkt diese Form aber eher als Auflockerung. Ein H a u c h von Turbulenz durchzieht die sichergebaute Anlage des Reisegedichts. Der Text wird selbst bunter, gemischter, u n d erst dieses leichte Aus-der-Form-Gehen macht plausibel, was dann paradox behauptet wird: daß die Mohnfelder bei Erfurt die Rosengärten von Schiras sind. 31 Die Affirmation des »Doppelblicks«, der in die Landschaftsbetrachtung Lektürereminiszenzen einfließen läßt, ergibt, so betrachtet, ein überraschendes Resultat. Die überlegene Weltsicht verdankt sich einer Auflösungsbewegung: jenem Augenblick der Destabilisierung, in dem mit der H a f i s - N e n n u n g einzelne N a m e n u n d Sachverhalte aus einem ganz anderen Bereich beinahe impressionistisch den Text zum Flimmern bringen. A m Ende steht - dies zumindest läßt sich den handschriftlichen Varianten entnehmen 3 2 - eine ihrer Spezifika entkleidete Landschaft. Der O r t s n a m e Erfurt ist verschwunden, aus den »Höhen« bei Erfurt wird eine abstrakte »Höhe«, die wie eine Einladungsgeste der mythischen Erde hin zum H i m m e l wirkt. D o m i n a n t sind die substantivierten Adjektive >BuntesSchönesLieblichesschön< (»wüßt ich schönres nicht zu schauen«) wird ja gerade dem amorph Verstreuten, dem Punktuellen und Gemischten erteilt. Deutlicher wird dieser Befund, wenn man auch Liebliches als poetologisches Gedicht liest. Der Text handelt vom Lesbarwerden einer Landschaft. Uber die Farbe Rot (Goethes Farbe der Mitte) vollzieht sich die Artikulation eines bestimmten — unterstellt man den Fensterblick aus der Kutsche als Wahrnehmungssituation·, sogar gerahmten Naturausschnitts. Wenn »Felder streifweis« gedeckt werden, liegt es dann um so näher, auch eine Textlandschaft zu assoziieren, in der Verse buchstäblich wie Blumenzeilen dem Papier implantiert werden. Thematisiert das Gedicht damit seine eigene Struktur, so wird die angedeutete orientalische Deformation noch beredter: nur durch die gemischte, gesprenkelte Textur, die die Öffnung nach Osten hervorzaubert, gelangt der deutsche Text zu seiner Wohlgestalten Form. Wie in einem Palimpsest erscheinen seine Schriftzüge als Uberschreibung orientalischer Verschlingungen. Nur weil ein Moment von Verwirrung »verbündet« (und als Subtext weiter hindurchschimmert), kommt es zu jener Klärung des Gedichts, das sich am Ende als freundliches Gebilde mit einer faßlichen Schlußmoral präsentiert. Mit der metaphorischen Gleichsetzung von Versen und Blumenreihen beansprucht der Text, selbst Teil jener hoffnungsvoll beschworenen Kultivierungsarbeit zu sein, die die friedfertigen Menschen unverdrossen den Erschütterungen der Geschichte entgegensetzen. Wie die Thüringer Bürger dem kriegsverwüsteten Boden gleich wieder neue Blumenzierde abgewinnen, legt der Dichter sorgsam die Vers-Rabatte seiner Poesie an und betreibt damit in aufgeregten Zeiten cultura animi. Auch diese Analogie bleibt aber ironisch eingefärbt. Die Identifikation mit den braven Landschaftspflegern wirkt nicht ganz überzeugend, wo unmittelbar zuvor das Schönste mit der Freude an frei beweglichen Impressionen und Sprachelementen verbunden worden war. Die sentenziose Wendung der Schlußstrophe gibt insofern weniger einen Abschluß als die Formulierung einer Frage: Worin besteht der >Nutzen< jener besonderen >ZierdeIieblichenschöneneinfachen< Botschaften vom welterzeugenden und weltvereinigenden Eros, von der Identität des Alten und Neuen, des kulturell Fernen und Nahen, des Sublimen und Derben usw. stehen in einem durchgängigen Spannungsverhältnis zu den raffinierten Sprachfigurationen, die sie verkünden. Die Divan-LyuV. gibt zwar allenthalben noch >Sinn zu kostenhöheren< Sinn auf der einen, spielerische Verwandlung des geschichtlichen Materials in ästhetischen Effekt auf der anderen Seite.37 Der Divan ist, wie schon früh bemerkt wurde, ein Text an der Grenze zur Lyrik der Moderne. Norbert Altenhofer spricht von der »prekären Balance«,38 die Goethes Sammlung zwischen unübersehbarer Autonomisierung der künstlerischen Mittel und der aufrechterhaltenen Intention auf >Mitteilung< einzuhalten versuche. Ziemlich unproblematisch nahm dieser Balanceakt sich noch bei Max Kommerell aus: »Manchmal leidet die moderne Dichtung daran, daß die Sprache in sich selbst eine Möglichkeit der Verzauberung entdeckt hat und darüber die Demut verliert. Sie ist nicht mehr Medium. 39 Im Divan beginnt das, aber in köstlicher Frische und Unschuld.«40 Wie immer man die Dramatik dieses Auseinandertretens von Artistik und Bedeutungsgebung beurteilen mag, eines ist evident: Die Gedichte des Divan stehen nicht nur in jener grundsätzlichen Spannung zwischen Selbstbezug und Weltbezug, die für alle Literatur charakteristisch ist. Diese Spannung wurde vielmehr für die Divan-Lesei in einer zu Beginn des 19. Jahrhunderts wohl kaum gekannten Weise selbst zur Erfahrung. Der Leser findet sich in eine Sprachwelt versetzt, deren Materialität sich nicht sogleich verflüchtigt, um den Blick auf eine dargestellte Welt freizugeben. Das Textgeschehen behauptet in auffälliger Weise sein Eigenrecht gegenüber jenem Geschehen, von dem der Text spricht. Wenige Jahre nach Erscheinen des Divan hat Hegel diese Entzweiung

37

38 39 40

Altenhofer hat diese Ambiguità! der »poetischen Assimilation von Geschichte« am Buch Timur aufgedeckt. Er spricht von einem Schwanken zwischen »Sublimierung und Verdrängung« der Geschichte, das sich »in der extrem ästhetizistischen Wendung« vom Timur-Gedicht zu An Suleika zeige. Goethe mache »die Amoralität einer sich selbst genügenden Kunstübung« in An Suleika grell bewußt; das Buch des Timur exponiert in der Zusammenstellung seiner zwei Gedichte die Grundspannung des Divan. Alle Zitate Altenhofer (1993), 32. Ebd., 34. Also: nicht mehr Instrument der Bedeutungsvermittlung. Kommereil (1985), 275L

Land des Dichters: Die >Noten und

Abbhandlungem

199

als den »Widerstreit« bestimmt, den Kunstwerke der M o d e r n e zwischen ihrer Zeichen- u n d ihrer Bedeutungsebene auszutragen haben. 4 1 Goethes Divan

gestaltet ihn

i m Poesie-Teil, er reflektiert ihn i m Prosa-Teil. 42 Das Land der D i c h t u n g als Region einer freigesetzten Selbstmächtigkeit der Sprache w i r d in den Noten

und

Abhandlungen

zurückbezogen auf das L a n d des Dichters: die konkrete geschichtliche Lebenswelt, die solche Poesie hervorbringt.

L a n d d e s D i c h t e r s : D i e >Noten u n d A b b h a n d l u n g e m Der West-östliche

Divan

ist ein Stück explizit intertextuelle Literatur. Der Leser m u ß

nicht aus seinem W i s s e n Bezüge zu möglichen Prätexten herstellen; das W e r k präsentiert sich vielmehr selbst in einer ans Kapriziöse grenzenden Bescheidenheit als Dichtung aus Dichtung. 4 3 O b e n a n steht ohne Zweifel der Zwillingsbruder Hafis; die Gesamtlektüre des Divan

konfrontiert aber m i t einer derartigen Fülle von N a m e n - östliche

Originale und westliche Vermittler - , d a ß a u f m e r k s a m e Leser schon i m m e r über die Doppelbödigkeit des Worts >Quellen< in der Einleitung

gestolpert sein dürften. Der

Kenner des Orients, so heißt es dort, bedürfe der Noten

gar nicht, da er »die Quellen

u n d Bäche leicht bezeichnen [wird], deren erquickliches N a ß ich auf m e i n e B l u m e n beete geleitet« habe. (FA 3.1, 138) Diese M e t a p h o r i k n i m m t den Leser offenbar in mehrfacher Hinsicht auf den A r m . Z u m einen sind die nassen »Quellen« eben trockene Schriftquellen, u n d die Uberleitung nach Westen führte nicht über blühende Gärten, sondern die kargen Gefilde der Philologie. Z u m andern braucht selbstredend auch der Orientalist die Noten

und Abhandlungen.

D e n n in ihnen geht es, w i e schon die

kleine Einleitung zeigt, weniger u m die besonderen Informationen über den Orient (über die der Experte tatsächlich verfügt) als die Reflexion jenes Transfers, an d e m er selbst beteiligt ist. Der Autor verkleinert sich gegenüber den Gelehrten als OrientDilettant, schickt sich aber zugleich an, die Fachleute über den epochalen Stellenwert ihrer Arbeit aufzuklären. Explizite Intertextualität ist, für sich g e n o m m e n , natürlich kein Indikator für M o derne. >Klassische< Literatur definiert sich geradezu durch die ständige, oft ausdrückliche Bezugnahme auf verbindliche Vorlagen. Bis weit ins 18. Jahrhundert hinein be-

HEG 13, 76ff. Spezifisch modern ist, wie gesagt, nicht, daß diese Dualität existiert (das tut sie seit jeher), sondern daß Kunstwerke sie bewußt inszenieren, sie zu ihrem eigentlichen Gegenstand machen. Diese Gegenüberstellung ist sicher zu plakativ und unterschlägt sowohl die Reflexivität der Gedichte wie das Poetische der Prosa. Für die Profilierung der These ist sie aber hilfreich. Ich spreche im folgenden wie Goethe und seine Zeitgenossen von >Orient< und »orientalischer Poesie«, obwohl diese europäische Ordnungskategorie seit Saids Orientalism-Buch unter Anklage steht. Wie unbegründet der Kulturimperialismus-Vorwurf gegenüber der Aufldärungstradition ist (in der Goethe steht), hat Jürgen Osterhammel (1998) gezeigt. >Der Orient< des 18. Jahrhunderts ist dem europäischen Denken ein wesentlich differenzierteres Gebilde als der seit 1820 zunehmend als Gegentyp zu Europa thematisierte Einheits-Orient des 19. Ein Resümee des Orientalismus-Streits gibt Osterhammel (1997).

200

Liebliche Doppelschrift: West-östlicher Divan

greift sich Literatur als eine einzige > Umschrift basaler Prätexte. Neu an Goethes Orientdichtung ist, daß 1.) bewußt der traditionelle Kanon der europäischen Literatur verlassen wird und 2.) - viel wichtiger - die dadurch entstehende Verunsicherung des Lesers in einem Prosakommentar eigens zum Thema gemacht wird. Die Noten und Abhandlungen stellen sich vor als Hilfe zu »besserem Verständniss«.44 Da sie aber alles andere als ein bloßer »Nachtrag« mit Sacherläuterungen sind, exponieren sie viel stärker das Verstehensproblem als solches denn die konkreten Verstehenshürden, die sie beseitigen sollen. Schleiermachers hermeneutische Wende - der Ubergang von Spezialhermeneutiken, die auf einem bestimmten Gebiet lehren, wie man unverständliche Stellen verständlich macht, zu einer Reflexion dessen, was Verstehen überhaupt ist — hat in Goethes Orient-Abhandlung ein eigenwilliges Pendant. Das Wortfeld »Verstehen«/« Verständnis« begegnet massiv am Eingang der Noten und Abhandlungen. Der Titel und das Motto (FA 3.1, 137) zeigen bei genauerem Hinsehen, daß es im folgenden Text wohl kaum nur um die Verständnisschwierigkeiten von Europäern angesichts orientalischer Namen und Begebenheiten gehen wird. 45 Mindestens vier verschiedene Verstehensebenen werden nach dieser Ankündigung in den Noten behandelt: 1.) »Wer das Dichten will verstehen/ M u ß ins Land der Dichtung gehen«: Das Verstehen einer neuen, modernen Form von Lyrik durch den einzelnen Leser; 2.) Das Sich-Verstehen auf solches Dichten, die Entwicklung der Technik also durch den Divan-Autor; 3.) »Wer den Dichter will verstehen/ M u ß in Dichters Lande gehen«: das Verstehen der dauernd zitierten östlichen Autoren und ihres kulturellen Umfelds; 4.) die Verständigung über den westlichen Autor und sein Werk im Massenpublikum der neuen Zeit. Dieser Auffächerung des Verstehensbegriffs korrespondiert die Vielzahl der Rollen, in denen sich das Divan-Ich präsentiert: Emigrant, Reisender, Kaufmann und - die drei übergreifend - natürlich Dichter. Die Flucht in die Formenwelt einer zunehmend selbstbezüglichen Poesie wird ermöglicht durch die Adaption östlicher Texte (Reise)·, auf das damit verbundene doppelte Befremden des heimischen Publikums reagiert der Autor mit Überlegungen zu neuen Strategien der Literaturvermittlung. Die Werke werden als poetische »Waren« auf den Markt gebracht; der Dichter als »Handelsmann« (FA 3.1, 139) ist sich darüber im klaren, daß unter den neuen Bedingungen der Buchdistribution das Leserinteresse besonders stimuliert und gelenkt sein will.46 Bereits in den Gedichten, vor allem aber in den Noten und Abhandlungen entwirft der Divan seinen eigenen Rezeptionshorizont. Für ein vielschichtiges Werk, das dem Massen-

44 45 46

Das war auch der ursprüngliche Titel des Prosateils. Zum folgenden vgl. Altenhofer (1993), 19ff. Davon handelt in zeremoniösem Understatement der Passus über den »Handelsmann«: »Damit aber alles was der Reisende zurückbringt den Seinigen schneller behage, übernimmt er die Rolle eines Handelsmanns, der seine Waaren gefällig auslegt und sie auf mancherley Weise angenehm zu machen sucht; ankündigende, beschreibende, ja lobpreisende Redensarten wird man ihm nicht verargen.« (FA 3.1, 139) Altenhofer resümiert dies treffend als Hinweis auf den zeitgenössischen Autor, der auch in »rhetorischen Reklamekünsten« versiert sein sollte. Altenhofer (1993), 169.

Land ¿les Dichters: Die >Noten und Abbhandlungen
Freunden und LiebhabernBuch fur die Welt< - wird unten noch eine Rolle spielen. Ein zweites Mal taucht die Handelsmetaphorik im Kapitel Allgemeines auf; nun aber in veränderter Akzentuierung. Der Kaufmann steht hier nicht mehr für den marktabhängigen Autor, der auch noch den Absatz seiner Produkte zu bedenken hat. Intellektueller Tauschhandel wird jetzt zum Bild fur das Arrangement der dichterischen Produktion. Die Marktmetaphorik rückt ins Zentrum einer Poetik der Moderne. Wieder geht Goethe jedoch zunächst von der Rezeptionsseite aus. Allgemeines handelt von der »Verwirrung«, die die persischen Dichtungen in der Einbildungskraft des Lesers hervorrufen. Ihre kühnen »Vergleichungen« entferntester Dinge, ihre Verknüpfungen von Edlem und Abgeschmacktem gemahnen, so heißt es, an den Eindruck, der beim Gang »durch einen orientalischen Basar, durch eine europäische Messe« entsteht: »Nicht immer sind die kostbarsten und niedrigsten Waaren im Räume weit gesondert, sie vermischen sich in unsren Augen, und oft gewahren wir auch die Fässer, Kisten, Säcke, worin sie transportirt worden. Wie auf einem Obst- und Gemüsmarkt sehen wir nicht allein Kräuter, Wurzeln und Früchte, sondern auch hier und dort allerley Arten Abwürflinge, Schalen und Strunke.« (FA 3.1,179) Der folgende Abschnitt Allgemeinstes nennt das Vermögen, eine solche von »unendlichem Reichthum« (ebd., 178) disparatester Gegenstände überfüllte Einbildungskraft produktiv zu gebrauchen. Es handle sich um das, »was wir Deutsche Geist nennen, das Vorwaltende des oberen Leitenden« (ebd., 181), eine schwerelose, disponible Intelligenz, die »vorzüglich dem Alter oder einer alternden Weltepoche« angehöre und sich durch »Übersicht des Weltwesens, Ironie« und »freien Gebrauch der Talente« auszeichne.

202

Liebliche Doppehchrifi: West-östlicher Divan

»Wir Deutsche« heißt offenbar >Wir Kantianern Der Geist-Begriff der Noten Abhandlungen

und

geht zurück auf die berühmten Ausführungen des § 49 der Kritik der

Urteilskraft, die in Deutschland die weitere Diskussion über Termini wie >IdeeIdealGenieGeistGeschmackSpiel< u n d >Manier< nachhaltig geprägt haben. 4 7 Goethe n e n n t weder Kant noch Schiller oder Fichte, tritt ü b e r h a u p t in breite begriffsgeschichtliche Erörterungen nicht ein. Er beschränkt sich vielmehr auf zwei Aspekte der Kantschen Bestimmungen. Die aber sind für die Selbstreflexion dieser Dichtung zentral. a) »Das Vorwaltende des oberen Leitenden« zielt deutlich auf den Einheitssinn, der den geistreichen Kunstprodukten der Orientalen trotz ihrer dispersiven Mannigfaltigkeit innewohnen soll. Geist ist nach Kant »das belebende Prinzip im Gemüte«, die Instanz, die »die Gemütskräfte zweckmäßig in Schwung versetzt, d.i. in ein solches Spiel, welches sich von selbst erhält u n d selbst die Kräfte dazu stärkt«. (KWA X, 249) Geist initiiert demnach die freie Überschreitung unserer gewöhnlichen Erfahrungswelt; er versetzt in ein anders geartetes Zusammenspiel von Vorstellungen, das in derartigem M a ß eine Wirklichkeit fur sich bildet, daß das spielende Bewußtsein in ihm gehalten u n d allein aus ihm immer wieder aufs neue >gestärkt< wird. 48 >Zweckmäßig< ist dieser Vollzug, sofern bei allem Reichtum der beteiligten Vorstellungen ihr Zusammenspiel doch eine eigentümliche Struktur, eine Art von Gravitationskern hat. Das Spiel zerstreut die Bewußtseinsmomente nicht, sondern integriert sie auf neue, ungekannte Weise. D e r Eintritt ins Spiel ist nicht Sinnverlust, sondern E r f a h r u n g von Sinnverdichtung; deshalb öffnet sich das ästhetische Spiel in seiner Selbstbezüglichkeit doch auch wieder für die Verständigung in der Alltagswelt. U m diesen Bezug geht es Kant in seiner Bestimmung des >Geistesschön< e m p f u n d e n (worüber sich strenggenommen in vernünftiger Rede gar nichts sagen läßt), sondern auf die Dimension begrifflicher Auslegung u n d Sinn vermittlung bezogen. Zwar ist die »ästhetische Idee«, die an einem geistreichen Kunstwerk aufgeht, auf keinen bestimmten Begriff reduzierbar. Gerade indem sie aber »soviel zu denken veranlaßt«, daß die Deutungsentwürfe der Rezipienten nie an ein Ende gelangen, gerade indem die ästhe-

47 48

49

Vgl. Art. >Geist< in HWdPh, Bd. 3, Sp. 182ff. (Abschn. VII). Wo das nicht der Fall ist, kann im emphatischen Sinn kaum von >Kunst< die Rede sein. Wenn ein Gedicht den Betrachter nicht gänzlich in sein eigenes Erscheinungsspiel hineinziehen kann, ist es nach Kant vielleicht »nett«, »elegant« oder »zierlich«, aber »ohne Geist«. Zu der These, Kant entwickle in der KdU zwei Konzeptionen ästhetischer Erfahrung, die er nicht vermitteln könne (lustvolle Empfindung des Schönen vs. bedeutungsorientiertes Verstehen des Geistes) vgl. Kern (2000), 99.

Land des Dichters: Die >Noten und Abbhandlungen
Launisch< ist einer, dessen Gemüt unkontrollierbar in bizarre Stimmungen gerät, >launicht< hingegen derjenige, der solche ungewöhnlichen Gemütskonstellationen willkürlich hervorbringt und gestaltet. KWA X, 277. Heute würde man vielleicht >Stimmigkeit< sagen. Daß Geist kommunikativ ist, unterstreicht Goethe noch, indem er über die Dichtung hinaus eine geistreiche Mentalität der Orientalen konstatiert (FA 3.1, 182). Ihre ganze Gesprächs-

204

Liebliche Doppelschrift: West-östlicher Divan

Goethe folgt Kant, so läßt sich zusammenfassend sagen, in der Installierung eines ästhetischen Grenzwächters, der eine entfesselte, »gesetzlose« Einbildungskraft immer wieder aufs Terrain des Sinnhaften zurückzufuhren hat. Wo das Flügelspiel des ästhetischen Genius irre zu werden droht, greift der Zuchtmeister Geschmack regulierend ein. Kants Ästhetik und Goethes Divan-Poetik können jedoch beide nicht verhehlen, daß erst die enorme Ausweitung des ästhetischen Möglichkeitsraums in ihren Theorien die Grenzinstanz überhaupt notwendig macht. Auch Goethes Noten und Abhandlungen erteilen in der Abwehr des Extrems eine grundsätzliche Lizenz zum Un-Sinn. Denn auch in ihnen vollzieht sich jene riskante Umkehrung der Gewichte, die Winfried Menninghaus für Kant festgestellt hat: »Der produktive Möglichkeitsgrund schöner und das Verstehen ohne Ende beschäftigender Kunst ist die Tendenz zum Unsinn bei gleichzeitiger Beschneidung dieser Tendenz [,..].«54 Kant sucht, so Menninghaus, in der Kritik der Urteilskraft: »den Unsinn [...] nicht einfach zu entlarven und auszuschließen, sondern lediglich durch Hinzufügung eines Gegengewichts zu zähmen«.55 In analoger Weise entwerfen Goethes Geist-Bestimmungen eine heimliche Poetik des Unsinns, die die ästhetischen Energien nicht a priori dem Bezirk des Verstehbaren zuordnet, sondern sie aus dessen Jenseits immer wieder dahin zurückholen läßt. Poetisches Sinnverstehen ist nicht das Einhalten, sondern das Umspielen der Grenze, die Hin-und-Herbewegung zwischen dem Aufgehen von Bedeutung und einem Bedeutungsentzug, der grundsätzlich anhält. Die >tollsten< Gedichte markieren nur prägnant jenen Grund von Nicht-Sinn, der aller gelungenen Dichtung innewohnt: »Sag' ich euch absurde Dinge,/Denkt, daß ich Abraxas bringe.« (FA 3.1, 14) Goethes Zutat zum Kantschen Geist-Begriff ist die Zuordnung zum Alter, zur Spätzeit. Die entfesselte Einbildungskraft ist demnach nicht die Potenz eines jugendlichen Genies; sie entspringt vielmehr der Vertauschungslust weiser Geister, die zur sogenannten Wirklichkeit und ihren Zwängen auf Distanz gegangen sind. Rückblickend historisiert der Alte aus Weimar damit die in der Kritik der Urteilskraft entwickelte Ästhetik. Kunst als Spiel, als abständiges Schweben in einer Sphäre unendlichen Bezügestiftens ist, das behauptet die Divan-Poetik, die Konzeption einer »alternden Weltepoche«. Die Kunst der Moderne, deren maßgebliche Philosophie als erster Kant entwickelt hat, wird eine Reflexionskunst sein. Das Impulsive, Inbrünstige erscheint in dieser Kunst nurmehr gebrochen und äußerst sublimiert in den formalen Zuordnungen, die ein Kunstwerk vornimmt. Kant hatte in der Kritik der Urteilskraft sofort nach dem Geist-Abschnitt wieder den Bezug zum »Genie« hergestellt (KWAX, 254fF.). Goethe vermeidet im Divan tunlichst das Wort >GenieNoten und

205

Abbhandlungent

wendet er nur an dieser Stelle (FA 3 . 1 , 182). Die Botschaft ist klar: geistvolle Kunst ist eine genialische Reflexionsbewegung, nicht aber das Sprudeln eines expressiven Genies. 56 In Kontinuität und seltsamem Kontrast zu diesen Ausführungen steht das Kapitel Vergleichung

über die »Orientalität« Jean Pauls. Es bildet das Zentrum der zweiten aus-

führlichen Passage der Noten und Abhandlungen,

die unter dem Stichwort »Witz« 57 die

sprachspielerische Grenzüberschreitung in die Räume des »baare[n] Unsinnjs] «(FA 3.1, 198) thematisiert. Die Gefahr des Sinnverlusts wird nun aber nicht mehr allein an den östlichen Dichtern verhandelt; 58 der Hinweis auf den Zeitgenossen Jean Paul (der damit unversehens zu einem der Zwillingsbrüder des Z)mw2-Dichters avanciert) macht sie zu einem Signum der modernen Literatur. Einer >normalen< Argumentationslogik folgend hätte Goethe den Jean Paul-Abschnitt unmittelbar an Allgemeinstes

anschließen können. Die wichtigsten Begriffsbe-

stimmungen - Geist, Witz, Geschmack — wären so in einem Durchgang erörtert und in einem komparativen Verfahren als zeitgeschichtlich relevante Termini herausgestellt worden. Es gehört zu den merkwürdigen Kunstgriffen der Noten

und

Abhandlungen,

daß Goethe stattdessen den ganzen Block über orientalischen Despotismus dazwischenschaltet, um dann - gleichsam im zweiten Anlauf - wieder auf die Artistik der orientalischen (und der modernen) Literatur zu sprechen zu kommen. Zudem ist der Ansatzpunkt fur die »Vergleichung« Jean Pauls mit den Orientalen eben nicht die in Allgemeinstes resümierte persische Dichtung der Saadi, Hafis und Dschami, obwohl hier - wie Goethe verschiedentlich behauptet - auf beiden Seiten Literatur einer »verwickelten« Spätzeit vorliegt." Stattdessen der Rekurs auf die Poesie der Araber, für deren verwegene ars combinatoria Goethe eine »völlig verschiedene« kulturelle Grundlage postuliert. 60 Zusätzliche Verwirrung stiftet die generelle Warnung vor »Vergleichung« und deren sofortige Rücknahme fur den Ausnahmefall Jean Paul (mit der schwachen Begründung,

56

57 58

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60

In Opposition zu »Geisti steht >Genie< also nur, wenn damit die Autochthonen-Ideologie, das spontane Schöpfen und Verströmen, gemeint ist. Der eigentliche Gegenbegriff, das deutsche Unwort, in dem der alte Goethe eine ganze Kultur schwüler Subjektivität bekämpft, ist >GemütGemüt< (Bd. 3, 1427-1431) eine deutliche »kritische Distanzierung vom Wort >Gemütbel espritespritGemüt< und britischem >Humor< liegt den einschlägigen Paragraphen als die Denkschablone zugrunde, von der die Vorschule

sich absetzt.

Richter attestiert den Deutschen ein ambivalentes Verhältnis zum Witz. An einheimischen witzigen Autoren (wie Hamann und Lichtenberg) nehmen sie Anstoß, den Ausländern aber neiden sie ihn. 64 Geistiger Handelsverkehr mit England und Frankreich soll deshalb herbeischaffen, was man entbehrt, aber eigentlich doch nicht mag: »Daher erhebt und bestellt er [der Deutsche; M.K.] Witz — so wie Laune — so häufig, weil sie noch nicht als Artikel seines innren Handels umlaufen. Hat sich ein Deutscher mit diesen Artikeln reichlich versehen und legt sie aus: 65 so wird er von den Rezensenten als ein Staatsbürger abgestraft, der auswärtige Akademien bezogen hat oder auswärtige Lottos besetzt.« (JPV, 196) Die deutsche Witz-Aversion hält Jean Paul für eine schlechte Denkgewohnheit. Zwar gibt es nationale Unterschiede der Witz-Kultur, 66 die »Notwendigkeit deutscher witziger Kultur« 67 steht fur ihn jedoch außer Frage. Denn die Deutschen neigten dazu, sich in ihren Ideen wie in Immobilien zu verhausen. 68 »Aber, Himmel, welche Spiele könnten wir gewinnen, wenn wir mit unsren einsiedlerischen Ideen rochieren

könnten!« (JPV, 200) Deutschland braucht ein chemisches

Losungsbad, das seine angepflockten Ideen in freie Zirkulation versetzt, denn: »nur die Flüssigkeit gibt die Freiheit zu neuer Gestaltung« (ebd.) Es folgt ein Passus, der den Verfasser im Jahr 1813 in ähnlicher Weise zum Deutschland-Emigranten stempeln mußte wie Goethe. Jean Paul wertet die französische Okkupation der Rheinlande zur geistigen Befreiungsreise um: Da dem Deutschen folglich zum Witze nichts fehlet als die Freiheit: so geb' er sich doch diese! Etwas glaubt' er vielleicht für diese dadurch zu tun, daß er neuerer Zeiten ein und das andere rheinische Länder-Stück in Freiheit setzte, nämlich in französische, und wie sonst den Adel, so jetzo die besten Länder zur Bildung sozusagen auf Reisen schickte zu einem Volke, das gewiß noch mehr frei ist als groß; und es ist zu hoffen, daß noch mehr Länder oder Kreise reisen [...]. OPV, 200f.)

Auf ihrer Bildungsreise in den französischen esprit konnten die Deutschen also lernen, was ihnen fehlt: Ideen-Freiheit, Ideen-Gleichheit 69 und witzige Ideen-Geselligkeit.

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»Über keinen Mangel an Vorzügen beklagt sich der Deutsche so häufig als über den an ausländischen« (JPV, 196); offenbar eine Kontrafaktur zu F. Schlegels: »Über nichts wehklagt der Deutsche mehr als über Mangel an Deutschheit«. Also nicht: er interpretiert sie, sondern er bietet sie feil, wie Goethes Handelsmann in der

Einleitung.

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So haben die Franzosen eher »Reflexion-Witz«, die Engländer und Deutschen eher eine Anlage zum »Bilder-Witz« (JPV, 188). Titel von § 54 des IX. Programms. »Alle Nationen bemerken an der deutschen, daß unsere Ideen wand-, band-, niet- und nagelfest sind und daß mehr der deutsche Kopf und die deutschen Länder zum Mobiliarvermögen gehören als der Inhalt von beiden.« JPV, 199. Im Sinn einer Enthierarchisierung der Denkordnungen.

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Liebliche Doppelschrift: West-östlicher Divan

2.) Originell ist diese Konzeption eines europäischen Witzim- und exports offenbar vor allem durch die ihrerseits extrem witzige Darlegung. Jean Paul nimmt die Metaphorik des geistigen Handelsverkehrs in all ihren Varianten auf und schlägt durch weitergehende Differenzierung und Verknüpfung immer neue Funken daraus. So gibt es natürlich nicht nur Ideen-Zirkulation zwischen den Nationen. Auch Jean Paul wendet die Umlauf-Metapher auf den individuellen Kopf und dessen Assoziationsvermögen an. »Durch die Übung der geistigen Springfiiße, durch das leichtere Verbinden aller Ideen, durch den Tauschhandel in allen Teilen des Gehirns«, so heißt es weiter hinten (JPV, 296), sei die Metaphernproduktion der neueren Autoren (und damit der Tropenschatz ihrer Sprachen) ins Unermeßliche gestiegen. Gestiegen ist freilich auch das Risiko, Bildbrüche oder absurde Mischungen zu kreieren, wie Jean Paul an seiner eigenen Beschreibung des Phänomens verdeutlicht: Görres, ein Millionär an Bildern, obwohl als Prosaist, drückt freilich, wenn er jedes Bild zum Hecktaler eines neuen hinwirft, zuweilen auf die Kehrseite seiner Bildmünze ein mit der Vorseite unverträgliches Bild; und ich brauche in dieser Allegorie nur länger fortfahren, so ahm' ich ihn nach. OPV, 297)

Für diese Steigerung der metaphorischen Produktion und das Überangebot an poetischer Gleichnisware gibt es Jean Paul zufolge sachliche Gründe. Durch die Ausdifferenzierung immer neuer Tätigkeitsfelder und wissenschaftlicher Disziplinen, durch die ständige Einfuhr fremden Kulturguts steht dem witzigen Spracharbeiter zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine ungeheure Masse an Material - Wissen, Wörter, Redefiguren - zur Verfügung. Der Witz, ein rasanter Fernhändler zwischen den verschiedenen Geistesbereichen, prosperiert auf der Grundlage eines wachsenden Wissens, das in sich heterogen, kulturell vielstimmig und dank der Druckerpresse omnipräsent ist. »Darum wird auch die Welt täglich witziger«, schreibt Jean Paul (JPV, 201) und rechtfertigt sein Schreiben aus Collectaneen (das zu den wunderlichen Komposita führt, die auch Goethe exemplarisch zitiert; FA 3.1, 203) als Ausdruck eines neuen Polyhistorismus, den die Massenmedien erzwingen: Und herrscht nicht jetzo dazu noch eine besondere Vielwisserei, ja eine größere Allwissenheit und Enzyklopädie in Deutschland, und dies nicht bloß durch Hofmeister, sondern auch durch unsere allgemeinen Literatur-Zeitungen und Bibliotheken, welche jeden, der im Journalistikum mit ist und zahlt, ohne sein Wissen zu einem Vielwisser unter der Hand ausprägen OPV, 205f.)

In einer Gesellschaft, in der die einzelnen Handlungssphären sich verselbständigen und immer weniger durch ein übergeordnetes lebensweltliches Orientierungswissen zusammengehalten werden, ist der Witz womöglich der letzte Vermittler, der dank seiner Beweglichkeit die auseinanderdriftenden >Lebenskreise< in Kontakt erhält: Der Gottes- und der Rechtsgelehrte fassen einander nicht - der Großstädter fasset tausend Kunstanspielungen, die dem Kleinstädter entwischen - der Weltmann, der Kandidat, der Geschäftsmann, alle haben verschiedene Kreise des Wissens - der Witz, wenn er sich nicht aus einem Kreis nach dem andern verbannen will, muß den Mittelpunkt aller fodern und bilden. OPV, 205)

Witzige Weltliteratur: Jean Paul

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Die Sprunghaftigkeit des Witzes, seine punktuellen Brückenschläge zwischen entferntesten Wissensbereichen, all das, was liederlich, dilettantisch u n d unverantwortlich an ihm erscheint, erhält in dieser Argumentation beinahe den Status eines Therapeutikums. Der W i t z ist ein Mittel individueller u n d sozialer Selbstbehauptung 7 0 unter Bedingungen der Moderne. »Eklektizismus ist die lebenspraktisch notwendige Form der Partizipation an verschiedenen, sich überlagernden Diskursen.« 71 Je fortgeschrittener die funktionale Differenzierung in der modernen Gesellschaft, desto größer der Bedarf an witziger Integration. Jean Paul steht nicht an, den Absatz mit einer Vision des Witzes als Weltvereiner zu beschließen: Nämlich zuletzt muß die Erde ein Land werden, die Menschheit ein Volk, die Zeiten ein Stück Ewigkeit; das Meer der Kunst muß die Weltteile verbinden; und so kann die Kunst ein gewisses Vielwissen zumuten. (JPV, 205) Ein so verstandener W i t z ist natürlich nicht selbstverliebtes Spielen, 72 sondern fast schon eine moralische Instanz. D e n n o c h bleibt der Status dieser synthetischen Kraft zweifelhaft. D e n n die Verbindungsleistungen des Witzes setzen eben Zersplitterung nicht n u r in h o h e m Grad voraus; sie leben geradezu vom Wirklichkeitszerfall. Die »Gleichnisse« des Witzes entspringen einer ins Extrem getriebenen Differenz, die in der Überbrückung sowohl aufgehoben wie grell beleuchtet erscheint. Von der traditionellen Definition des Witzes (»ein Vermögen, entfernte Ähnlichkeiten zu finden«, JPV, 169) hatte Jean Paul sich gleich zu Beginn distanziert. Die Rede von »ferner Ähnlichkeit« sei, so sein lakonischer Einwand, ein Etikettenschwindel. Wenn die Ä h n lichkeit so fern war, daß wir sie vor der witzigen Gleichsetzung nicht sahen, deutet alles darauf hin, daß der Witz sie nicht aufgewiesen, sondern allererst erzeugt hat. Mit diesen wenigen Bemerkungen ist der ontologische Hintergrund des alten Witz-Begriffs abgetan. 7 3 W i t z ist nicht mehr das Vermögen, einen verborgenen Wesenszusammenhang zu enthüllen, Witz »erfindet« vielmehr durch sprachliche Kopulation »unvermittelt« Zusammenhänge, die es vorher nicht gab. (JPV, 171) Mit Friedrich Schlegel bezeichnet Richter ihn daher als »fragmentarische Genialität«, für die es »Mitnamen« wie »Geist, esprit, spirit, ingeniosus« gebe. (JPV, 171) Eine Unterscheidung von >witzig< u n d >geistreich< trifft das ganze Kapitel nicht.

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»Manierismus als Selbstbehauptung« heißt der Aufsatz von Wolfgang Braungart, der dieses Selbstverständnis von Jean Pauls Schreibart eindrucksvoll dargelegt hat. Braungart (2000), 307-322. Ebd., 317. Der Witz spiele »aus besseren Gründen als denen seines Vorteils«, schreibt Richter in dem zitierten Absatz. (JPV, 205) Das barocke Verständnis witziger Kombinatorik beruhte auf der Vorstellung einer durchgängig analogisch strukturierten Welt. »Die schöne Verfassung dieses gantzen Weltgebäus ist an sich selbsten nichts anders / als eine durchgehende Vergleichung in allem und jedem; und hat der höchstmächtige Gott dem Menschen eine sondere Begierde eingepflantzet / solche Wunderfugnissen zu erlernen«, Harsdörffer (bei Wölfel (1989), 276). Kombiniert wird also immer im Rahmen eines ontologisch verbürgten Zusammenhangs (wie aberwitzig die Kombinationen im einzelnen auch sein mögen).

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Liebliche Doppekchrift: West-östlicher Divan

Wo Jean Pauls Überlegungen um jene empfindliche Grenze witzigen Bezügestiftens kreisen, die Goethe und Kant mit ihren Warnungen vor Witz und Manier markieren, erscheint bei ihm eine auffällige Mischung von religiösem und politischem Vokabular. § 54 der Vorschule hebt die chaotische Grundlage des Witzes als diabolische Deformation von seiner segensreichen synthetischen Seite ab: Der Witz — das Anagramm der Natur - ist von Natur ein Geister- und Götter-Leugner, er nimmt an keinem Wesen Anteil, sondern nur an dessen Verhältnissen; er achtet und verachtet nichts; alles ist ihm gleich, sobald es gleich und ähnlich wird; er stellt [...] sich in die Mitte und will nichts als sich und spielt ums Spiel - jede Minute ist er fertig - seine Systeme gehen in Kommata hinein - er ist atomistisch, ohne wahre Verbindung [...]. OPV, 201)

Als »bloßes Spiel mit Ideen« (ebd.) wird Witz deswegen auch deutlich von der »Poesie« unterschieden. Witz (an diesem Extrempol) will nur sich, spielt ums Spiel, im Gegensatz zur »Poesie, welche sich und etwas darstellen will« (JPV, 201 ; Herv. M.K.) Wichtig sind beide Momente: Auch Poesie ist durchaus selbstbezogen, will in ihren Darstellungen den Blick vor allem auf das Darstellen selbst lenken. Zugleich aber soll dieses Textgeschehen, das den Leser in seine Figurationen hineinzieht, ihm doch auch »etwas« be-deuten. Von der grenzenlosen Freiheit und Gleichmacherei des entfesselten Witzes,74 der mit einer Art von semantischer Guillotine die alte Bedeutungswelt niedermäht, setzt Poesie sich ab, indem ihr Selbstbezug zuletzt doch wieder einen Weltbezug aus sich entläßt. Unter diesem Aspekt kann Jean Paul den revolutionären Textprozeß, der gegen das Regime der Referenz wütet, plötzlich umdeuten in ein apokalyptisches Heilsgeschen. Das Chaos wird heiliges Chaos, wenn eine neue Weltsicht entsteht. Die poetische Intelligenz hält ein Jüngstes Gericht über die Dingwelt ab, aber nur, um eine neue Welt zu zeugen.75 Die »allgemeine Auflösung« geht über in die Re-generierung von Sinn. Richters subtile Analogie von revolutionärer Terreur und dichterischer Einbildungskraft hat in der Poetik der Moderne Karriere gemacht. Unter den Namen des >SchrecklichenErhabenenDekomposition< wurde fortan jene sinnzerstörende Gewalt diskutiert, die in Kunstwerken gleichursprünglich mit der Konstitution neuen Sinns aufscheint. Albrecht Wellmer spricht (unter Berufung auf Kant) vom unauflöslichen Ineinander eines »semiotischen« und eines »energetischen«, ja »explosiven«

In unüberhörbarer Anspielung auf die Revolution heißt es vom atomistischen Witz, er schaffe »allgemeine Gleichheit und Freiheit« (JPV, 202); d.h. er reißt die Wörter und Ideen aus ihrem angestammten Kontext, setzt sie frei und behandelt sie gleichberechtigt als bloßes Spielmaterial. »Wenn nämlich der Geist sich ganz frei gemacht hat - [...] wenn eine Gemeinschaft der Ideen herrscht wie der Weiber in Piatons Republik und alle sich zeugend verbinden — wenn zwar ein Chaos da ist, aber darüber ein heiliger Geist, welcher schwebt [...] — wenn in dieser allgemeinen Auflösung, wie man sich den Jüngsten Tag außerhalb des Kopfes denkt, Sterne fallen, Menschen auferstehen und alles sich untereinandermischt, um etwas Neues zu gestalten«, dann sei »der Weg zur dichterischen und zur philosophischen Freiheit und Erfindung aufgetan«. (JPV, 202).

Weltsprache der modernen Poesie: Goethe

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Moments in ästhetischer Erfahrung.76 Kunst ist Entgrenzung als Restrukturierung, ist gestaltete Form als energetisches Überschreiten. So heiter Jean Pauls Reflexionen über das sinnfremde Spiel des Witzes daherkommen, so greifbar wird auch bei ihm die besondere Gefahr, die der revolutionären Kunst der Moderne droht. Je mehr sie sich gegen die Zumutung der Repräsentation sträubt, je radikaler sie >Darstellung< allein durch das ungewöhnliche Arrangement ihres spezifischen Materials (Wörter, Klänge, Farben) sein will, desto entschlossener setzt sie sich dem Schrecken des Nicht-Sinns aus. Vor diesem Hintergrund ist die unaufgelöste Ambivalenz des Richterschen Witzbegriffs zu verstehen.77 Eine vorgängige saubere Scheidung des >guten< synthetischen Witzes vom >bösen< chaotischen ist nicht möglich. Ob der heilige Geist das Chaos befruchtet hat, müssen Autor und Leser vielmehr immer wieder von neuem entscheiden.

Weltsprache der modernen Poesie: Goethe Unter dem Leitbegriff »Orientalität« reflektiert auch Goethe in den Noten und Abhandlungen das Schicksal einer Literatur, die auf ein Jenseits der signifikativen Sprache zuhält. Zentral ist auch bei ihm die lapidare Feststellung, daß die Grenze zwischen UnSinn und Tiefsinn, zwischen dem Zerspielen von Bedeutung und letzter, geistiger Weltdeutung rigide nicht gezogen werden kann. Dreimal stellt Goethe diese Behauptung in den Raum und nimmt damit die klare Unterscheidung von »Geist« und »Witz« aus dem Abschnitt Allgemeinstes zumindest partiell wieder zurück. Zunächst wird an Beispielen aus der östlichen Dichtung gezeigt, wie schmal der Grat ist zwischen »höchst geistreichen« Gleichnissen und solchen, wo »es uns doch zu bunt« wird. (FA 3.1, 199) Auf die Formulierung der erwähnten These78 folgt dann sofort die Applikation auf die zeitgenössische Literatur: Wollen wir an diesen Productionen der herrlichsten Geister Theil nehmen, so müssen wir uns orientalisiren, der Orient wird nicht zu uns herüber kommen. Und obgleich Uebersetzungen höchst löblich sind um uns anzulocken, einzuleiten, so ist doch aus allem Vorigen ersichtlich, daß in dieser Literatur die Sprache als Sprache die erste Rolle spielt. Wer möchte sich nicht mit diesen Schätzen an der Quelle bekannt machen! (ebd., 200)

Auch diese Passage ist mehrdeutig. Vordergründig geht es um ein authentisches Verständnis orientalischer Poesie, das auch die löblichsten Übersetzungen nicht gewähren. Deshalb muß man >sich orientalisierenOrientalisierung< verhandelt wird — charakteristischerweise aber eben in Spiegelungen. Indem Jean Paul als Exponent moderner »Orientalität« figuriert, kann Goethe die eigene, hochgradig sprachexperimentelle Dichtung in zwei Richtungen - Schiras und Bayreuth - reflektieren, ohne über die Radikalität seiner Grenzüberschreitung irgendwelche verbindlichen Aussagen zu machen. Er piaziert sich »in der Nähe des wohldenkenden Mannes«, gibt aber zu erkennen, daß er Jean Paul wesentlich als Medium der Selbstvergewisserung braucht: »Unsere Einbildungskraft erregt er, schmeichelt unseren Schwächen und festiget unsere Stärken.« (ebd., 204) Das klingt sehr nett, läßt sich aber auch recht unfreundlich verstehen. Man kann am anderen die eigenen »Schwächen«, die gefährlichen Versuchungen so gestalthaft zu fassen bekommen, daß man ihrer erst dadurch Herr wird. Extreme Verirrungen des eigenen Witzes, hieße das, hilft Jean Paul vermeiden, indem er sie auslebt. Bei aller neuen Offenheit für die sprühende Kombinationsgabe jenes Mannes, den er einst das »personifizierte Albdrücken der Zeit« (FA 33, 256) genannt hatte, signalisiert Goethe doch eine aufrechterhaltene Distanz. Entscheidend ist aber und das ist der Grund für das Versteckspiel - , daß rigide Festlegungen nicht mehr möglich sind. Der Geschmack kann sich nicht mehr vorab eines Terrains des Schicklichen sicher sein, er realisiert sich vielmehr allein als experimentierende, selbstreflexive Hin-und-Herbewegung zwischen dem Einlassen auf die avanciertesten Verfahrensweisen der Moderne und dem Versuch, ihren drohenden Untiefen zu entkommen. Seltsam doppelbödig ist deshalb auch die anschließende Unterscheidung von »Poet« und »Prosaist«. Auch sie erlaubt eine verläßliche Grenzziehung nur um den Preis vermehrter Unsicherheit. Der Prosaist, heißt es, habe »die Ellebogen gänzlich frei«, der Poet hingegen bewege sich immer in einem Kosmos zwingender Formen: Dem Poeten, welchem Takt, Paralellstellung, Sylbenfall, Reim die größten Hindernisse in den Weg zu legen scheinen, gereicht alles zum entschiedensten Vortheil, wenn er die Räthselknoten glücklich löst, die ihm aufgegeben sind, oder die er sich selbst aufgiebt; die kühnste Metapher verzeihen wir wegen eines unerwarteten Reims und freuen uns der Besonnenheit des Dichters, die er in einer so nothgedrungenen Stellung behauptet.

Die »Besonnenheit« des Poeten besteht keineswegs (wie man bei diesem Wort zunächst vermuten würde) in größerer Nähe zur referentiellen Sprache. Kühne Meta-

»Da nun aber, wie wir umständlich nachgewiesen, in einer solchen Dicht- und Schreibart das Schickliche vom Unschicklichen abzusondern unmöglich ist...«; ebd., 204.

Weltsprache der modernen Poesie: Goethe

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phern und unerwartete Reime sind ja gleichermaßen Kombinationen, die das gewöhnliche Verstehen irritieren: Metaphern erzeugen semantische Dissonanz, Reime sind asemantische Synthesen. Goethe konfrontiert der Ellbogenfreiheit des Prosaisten, der - wie Jean Paul selbst herausgestellt hatte - sich in einer »Sündflut von Gleichnissen« verlieren kann, nicht die Verständlichkeit des Gedichts, sondern dessen Musikalität. Die semantisch unerhörtesten Verbindungen goutieren wir — wegen eines unerwarteten Klangs! Musikalische Stimmigkeit, heißt das, kann Gedichten, die auf der Ebene des Sinns alles riskieren, eine Kohärenz ganz besonderer Art verleihen. Witzige Prosa hingegen droht bei ihren Sinnexperimenten sich in alle möglichen Richtungen und schließlich ins Unendliche zu verlaufen. Lyrik als verdichtende Gestaltgebung wird also ganz traditionell einer tendenziell zerfließenden Prosa entgegengesetzt. Wie beiläufig - und das ist typisch für die Divan-Poetik - fuhrt Goethe dabei aber einen radikalen Begriff lyrischer Form ein, der sonst nur von den Romantikern ins Auge gefaßt worden war: das Gedicht als autonomes musikalisches Gebilde, zusammengehalten allein durch eine Struktur rhythmischer und klanglicher Entsprechungen. In der berühmten Formulierung Friedrich von Hardenbergs: »Gedichte blos wohlklingend und voll schöner Worte - aber auch ohne allen Sinn und Zusammenhang« (NOV III, 572). 80 Das ist der Grenzwert, auf den — ohne viel Aufhebens davon zu machen — die poetologischen Überlegungen des Divan zuhalten. Charakteristisch ist auch hier Goethes Abstinenz gegenüber programmatischen Verkündigungen und begrifflichen Festlegungen. An den Beispielen, die er anfuhrt (kühne Metaphern und unerwartete Reime) wurde später in den Diskussionen über die Möglichkeiten moderner Lyrik immer wieder gezeigt, daß Poesie niemals gänzlich Abschied von der Bedeutung nehmen kann. 81 Die Noten und Abhandlungen fuhren diskret in diesen Problemhorizont hinein; wie das Widerspiel von Sinnverflüchtigung und -innovation genauer zu fassen ist, lassen sie offen. Goethes Divan-Poetik bezeichnet den Punkt, an dem traditionelle Poesie ins Laboratorium einer neuen, experimentellen Dicht-Kunst eintritt. »Wir müssen uns orientalisieren« ließe sich, wenn das Gesagte zutrifft, frei übersetzen mit: >wir müssen uns modernisieren. An der östlichen Literatur vergangener Jahrhunderte entdeckt Goethe die Möglichkeiten einer selbstreflexiven, artistischen Dichtung, die der kom-

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Novalis hatte übrigens schon im Allgemeinen Brouillon eine »höchst interessante Vergleichung zwischen Jean Paul und Göthe« geplant (NOV 11,5 56), damals zur Verteidigung Jean Pauls gegen die Angriffe aus Weimar. Man könnte sich ein Geistergespräch ausmalen, in dem Novalis die im Divan von Goethe selbst implizit vorgenommene Vergleichung kommentiert. Noch die extremste semantische Dissonanz, mit der eine Metapher konfrontiert, wird vom Leser eines Gedichts als Aufforderung verstanden, Sinn darin zu suchen. Solange er den Text als Gedicht annimmt (und eben nicht als tatsächlich unsinnige Wortklitterung verwirft), kann er gar nicht anders. Ebenso ist ein Reim niemals bloß eine phonologische Entsprechung, sondern immer auch die Behauptung eines besonderen semantischen Zusammenhangs ; gerade das macht ja seinen poetischen Reiz aus. Das von aller Referenz gereinigte Klanggedicht wäre nicht mehr zu unterscheiden vom bloßen Geräusch.

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Liebliche Doppelschrift: West-östlicher Divan

plexen Bewußtseinslage seiner unendlich verklausulierten, zersplitterten, verwickelten und vertrackten Epoche entspricht. 82 Ein >Dichten von der Sprache her< (um Hugo Friedrichs Terminus aufzugreifen) verdrängt das von Goethe selbst inthronisierte Modell persönlicher Ausdrucksdichtung. Zahlreich sind im Divan die Stellen, die auf die >Produktivität< der Sprache verweisen (vgl. z.B. FA 3.1, 197), schalkhaft wird des öfteren gewarnt vor der Verwechslung von Sprachverliebtheit und Sprache der Liebe.83 Die Fülle des Worts, das einem Fächer gleich seine Bedeutungsvarianz in verschiedenen Kontexten entfaltet (vgl. Wink), interessiert offenbar mehr als die Fülle des Herzens in den unterschiedlichen Erlebnissituationen. Mit einem Kunstgriff, der diese Sprachmacht noch einmal illustriert - dem ironischen Ausspielen der philologischen Bedeutung von »Quelle« gegen die naturale - macht der Divan deutlich, daß für den modernen Autor das Leitbild des autochthonen Schöpfers verabschiedet ist und der Dichter als Zwischenhändler die Szene betreten hat. Wenn Dichtung aus Dichtung im Divan konkret als westliche Umschrift (oder Doppelschrift) orientalischer Prätexte vorgestellt wurde, waren damit für die ersten Leser weitreichende Konnotationen verbunden. Das Wort >Orient< stellte, wie Barbara Stemmrich-Köhler festhält, »nach dem Zeitverständnis fast ein Synonym für fremde Kultur überhaupt« dar.84 Der Divan verwies demnach auf die Verfertigung von Dichtung aus immer ferneren, unbekannteren Dichtungstraditionen. Die Handelsmetaphorik der Einleitung stellt vollends heraus, daß in die poetischen Produkte des deutschen Buchmarkts alle möglichen, weit hergeholten Materialien eingearbeitet sein können, die nun auf dem Weltkulturmarkt mühelos zu haben sind. Vom Titel angefangen bis hin zu den zahlreichen exotischen Namen, Redefiguren und Geschichten, mit denen sie aufwartet, macht Goethes Gedichtsammlung das gewaltige Textuniversum bewußt, aus dem jedes Werk der Moderne hervortritt. Das zeitlich und räumlich Entlegenste steht unter Bedingungen moderner Kommunikation zur Verfügung; eine Literatur, die an keine normativen Vorgaben mehr gebunden ist, die keinem klassischen Kanon mehr verpflichtet ist, kann dieses Angebot als Modell, Materialstätte oder Spielwiese nutzen. Vor diesem Hintergrund sind Goethes Äußerungen über das Rhetorische orientalischer Poesie (und damit implizit der modernen »Orientalität«) zu sehen, denen sofort die »Verwahrung« gegen Hammers Identifizierung der Genres im Begriff »schöne Rede-

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Zu Versuchen in der Orientalistik, Hafis als frühen Vertreter der Poetik des französischen Symbolismus zu lesen, vgl. Bürgel (1972), 17f.. Vgl. z.B. FA 3.1, 225 oder die Stelle über Pietro della Valle: »Ein Reisender gesellt sich zu ihm, der von der Schönheit und Liebenswürdigkeit einer jungen georgischen Christinn [...] nicht genug zu erzählen weiß, und Valle verliebt sich, nach acht orientalischer Weise, in ein Wortbild«, (ebd., 253) In die gleiche Richtung zielt auch die Bemerkung über die Lizenz des Dichters, »nicht geradezu alles denken und leben« zu müssen, »was er ausspricht« (ebd., 174): Dichtung als Sprachspiel kann eine Gefühlswelt figurieren, die mit der Gefühlswelt des empirischen Autors nicht zusammenfallen muß. Stemmrich-Köhler (1992), 48.

Weltsprache der modernen Poesie: Goethe

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künste« folgt (FA 3.1, 204f.). >Rhetorisch< wird die D i c h t u n g in der Epoche der Weltliteratur, sofern auch für sie gilt, daß n u n »poetische Technik den größten Einfluß« ausübt (ebd., 200) Das Arsenal an Tropen, Gleichnissen, Redefiguren, Gedicht- u n d Reimformen unterschiedlicher Herkunft, aus d e m jeder Autor sich bedienen kann, wächst, wie erläutert, ins Unermeßliche. M i t der Ausweitung der Produktionsmittel nehmen die Anforderungen an die technische Kompetenz der Produzenten zu. Poeten sind Spezialisten, die die Anverwandlung einer immer breiteren Palette neuer sprachlicher Mittel leisten müssen. Im Divan dominiert noch die Metaphorik des DichterHändlers, der Heterogenes zusammenbringt; in der nächsten Autorengeneration (Poe) taucht schon der Dichter-Ingenieur auf, der nach Maßgabe einer besonderen, die poetische W i r k u n g genau kalkulierenden Logik konstruiert. Valéry hat diese Traditionslinie auf den Punkt gebracht, wenn er die »langue littéraire« als eine jener technischen Fachsprachen (langages techniques) bezeichnete, die sich in der modernen Gesellschaft ausdifferenzieren u n d von den jeweiligen Experten zu immer komplexeren Idiomen weiterentwickelt werden. 8 5 Charakteristisch für diese Fachsprachen ist ihre Internationalität: m a n wird nicht in ihnen sozialisiert, sondern erlernt sie im Z u s a m m e n h a n g mit technischen Verfahren, die überall gleich ablaufen. In einer prekären Analogie kann davon gesprochen werden, daß auch die Dichter als Poesietechniker Verfahren abweichender Sprachorganisation entwickeln, die interkulturell vergleichsweise leicht übertragbar sind. W e n n dies tatsächlich der Horizont der sprachreflexiven Poetik des Divan ist, käme mit ihm auch jenes P h ä n o m e n in den Blick, das H a n s Magnus Enzensberger im Jahr 1960 als »Weltsprache der modernen Poesie« bezeichnet hat. 8 6 Enzensberger hat später den »ahnungslosen Eurozentrismus« seiner Formel kritisiert 87 u n d zu verstehen gegeben, daß der vollmundige Internationalismus, der sie beseelt hatte, ihm mittlerweile abhanden g e k o m m e n sei. D a ß eine Lyrik, die zunehmend sich selbst zum Gegenstand wurde, die ihre Einheit nicht mehr durch Bezug auf eine fiktive Welt, sondern allein durch die dichte Konfiguration der semantischen, klanglichen und rhythmischen Elemente des Wortmaterials gewinnen will, zumindest im westlichen Kulturkreis so etwas wie eine »lingua franca« 88 der neueren Dichtkunst hervorgebracht hat, läßt sich jedoch kaum bestreiten. Ihre Charakteristika sind oft beschrieben worden, Enzensberger gibt folgende Stichwörter: »Montage und Ambiguität; Brechung u n d U m f u n k t i o n i e r u n g des Reimes; Dissonanz u n d Absurdität; Dialektik von Wucherung u n d Reduktion; Verfremdung u n d Mathematisierung; Lang-

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Bei Stierle (1997), 217, zur Kritik dieser Analogie vgl. Stierle, Gibt es eine poetische Sprache?; ebd., 217-224. Enzensberger (1980), 773. Ebd., 786. Das war 1979, im Nachwort zur Neuausgabe des Museums der modernen Poesie, Im selben Jahr erschien auch Lyotards La condition postmoderne·, seitdem ist modernité als stete innovatorische Überbietung im Zeichen der Standards, die die westlichen Metropolen setzen, noch stärker in Verruf geraten. Ebd., 773.

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Liebliche Doppelschrifi: West-östlicher Divan

verstechnik, unregelmäßige Rhythmen; Anspielung und Verdunklung; Wechsel der Tonfälle; harte Fügung; Erfindung neuer metaphorischer Mechanismen; und Erprobung neuartiger syntaktischer Verfahren.«89 Der Katalog listet Verfahrensweisen auf, die - krasser noch als im Divan vorausgesehen - den Zustand einer »zersplitterten« Welt reflektieren. Nicht anders als die Sprachfiguren der rhetorischen Tradition können diese »Mechanismen« studiert und eingeübt werden.90 Mit dem Hinweis auf den erweiterten sprachtechnischen Horizont ist fur Goethe indessen nur das Umfeld der neueren Poesie umrissen. Die Verfugung über ein wachsendes Reservoir von Sprachmaterialien und die Optimierung linguistischer Effekte machen das gelungene Gedicht nicht aus. Gegen die Gleichsetzung von poetischer Technik und Poesie macht Verwahrung geltend, daß Dichtung - wie gut sich einer auch auf das Handwerk versteht - keine lehrbare »Kunst« sei, sondern »immer wahrhafter Ausdruck eines aufgeregten erhöhten Geistes, ohne Ziel und Zweck«. (FA 3.1, 205) Individualität und »Ausdruck« bleiben Leitbegrifife auch für den Z)zW«-Dichter. »So kommt hier alles auf das Individuum an« (ebd., 204), hatte das Resümee derJeanPaul-Vergleichung gelautet. Auf die Bedeutung des Individuums hob auch die Formel vom »geheimen ethischen Faden« ab, der sich durch Jean Pauls Schriften schlinge, (ebd., 202). Ethisch im Sinn von individuell ist dieser Faden, indem die Texte bei aller Verspieltheit durch einen ethos (einen Charakter) geprägt sind," sie also, wie befremdlich und unzugänglich sie zunächst auch wirken, doch als hörenswerte Stimme eines Einzelnen aufzufassen sind. Damit weist solche Literatur aber auch ein Ethos im moralischen Sinn auf: sie ist Ansprache, Mitteilung, die an die Teilnahme der Leser appelliert. Literarische Weltgeselligkeit Trotz Goethes beinahe avantgardistischer Offenheit für die geschichtlichen Gewalten der »Zersplitterung« und der »Zerstreuung«, die unweigerlich auch die Form der Kunst verändern, bestehen die Noten und Abhandlungen auf einer Poetik des singulären, geschlossenen Werks. Das Rauschen der Intertextualität und die individuelle Stimme, die allein daraus Sinn macht, sind die Pole der Dichtungstheorie des Divan?2 Die Divan-Lyrik präsentiert sich, wie Gerhart von Graevenitz prägnant formuliert, als »Kette ornamental kombinierte[r] Sinnverdichtungen«.93 Arabeske Kombinatorik und sub-

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Ebd., 770. Z.B. indem man wie Jean Paul Tropenkataloge anlegt, versuchsweise neue Komposita zusammenmixt, Vergleichsanleitungen entwirft und alles Abstruse oder irgendwie anders Interessierende aus Lexika, Zeitungen etc. sammelt. Vgl. Bims (1986), 23. Zum Intertextualitätsbegriff, der meinen Ausführungen zugrundeliegt, vgl. Stierle, Werk und Intertextualität. In: Stierle (1997), 199-210. Graevenitz (1994), 208. Zum Verhältnis von Intertextualität und Individualität im Divan vgl. ebd., 120ff.

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Literarische Weltgeselligkeit

jektiver Ausdruckswille sollen je und je ein empfindliches Gleichgewicht eingehen — das ist die regulative Idee des ganzen Buchs. Darauf verweist bereits der Titel »Divan« - deutsch: Sammlung — in seiner Mehrdeutigkeit: Sammeln als Hingabe ans Verstreute und Sammeln (Sich-Sammeln) als Akt der Konzentration. 94 Das Insistieren auf »Ausdruck«(FA 3.1, 186 9 5 ), Mitteilung, Teilnahme und Verstehen ist so auch die andere Seite der provokanten Marktmetaphorik in den Noten Abhandlungen.

und

Literarischer Austausch bleibt doch immer noch Herzens-Austausch,

auch wenn diese Lyrik beileibe nicht mehr im Gestus der spontanen Herzensergießung daherkommt. Zwar wurde die Vermittlung von West und Ost ermöglicht durch überkontinentalen Wirtschaftsverkehr, durch die Expansion des Buch- und Zeitschriftenmarkts, durch die Institutionalisierung neuer Wissenschaften. Ursprung des Divan ist aber die Lektüre eines Einzelnen durch einen Einzelnen: Goethe - Hafis. 96 Verstehen ist eine Begegnung von Individuen; nicht >der Westen< versteht »den Ostens sondern ein Mensch einen anderen. Dasselbe gilt dann auch für die Rezeption der Texte des westlichen Verfassers in seiner Heimat. Zwar erscheint das Buch für ein modernes Massenpublikum, dem es durch neue Marketingstrategien nahegebracht werden muß. Sobald ein Leser aber nur einigermaßen mit einer interessierten, gutwilligen Lektüre beginnt, ist es im Grunde wieder »ein Manuscript fur Freunde« (FA 3.1, 214). Darauf zielt Goethe mit dem Hinweis, daß »am Ende jedes Buch nur für Theilnehmer, fur Freunde, für Liebhaber des Verfassers geschrieben sey« (ebd.). Dem Dichter als Handelsmann zu Beginn wird kontrapunktisch der Dichter als Freund am Schluß der Noten und Abhandlungen

gegenübergestellt. Jede individuelle Lektüre seiner Texte ist ein

Akt der Verständigung, der »Teilnahme« (mit Goethes Lieblingswort), der Befreundung zwischen Partnern, die sich so gut wie nie persönlich kennenlernen. Das Dialogische, das die Gedichte des Divan so überdeutlich exponieren, steht auch im Zentrum der Noten und Abhandlungen.

Literatur ist praktizierte Geselligkeit, wenn auch der moder-

ne Autor nicht entfernt mehr ahnen kann, wer zu seiner Gesellschaft gehört. Literatur bildet Netzwerke der Verständigung aus; höchst fragile, flüchtige, ja unsichtbare Gebilde, die aber immerhin doch eine Sphäre des geselligen Umgangs darstellen. An verschiedenen Stellen wird deutlich, daß mit dieser Freundschaftstopik nicht umstands-

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Stemmrich-Köhler ( 1 9 9 2 ) , 2 8 8 fuhrt als dritte Bedeutung noch die politische >Versammlung< an (von dieser politisch-institutionellen Bedeutung kommt das französische Wort »douane«). Das bedeutet, daß auch die Dimension der Verständigung allein durch das Titelwort evoziert wird. »Divan«-Poesie heißt also dreifach: Poesie als Einsammeln einer gewaltig angewachsenen Menge von Prätexten (»herrlich zerstreute Stellen«); Poesie als individuelles Sich-Sammeln und konzentriertes Formen; Poesie, das poetische Erzeugnis, als Ratschlag an die Versammlung der Leser. Auch hier wird ostentativ das Wort »Gemüt< vermieden; stattdessen spricht Goethe, um die witzigen kombinatorischen Bahnen anzudeuten, auf denen das Subjektive sich hier zugleich versteckt und offenbart, vom »aufgeregten erhöhten Geist« (FA 3.1, 205). W i e weitgehend auch immer in dieses Verstehen die Arbeit des Übersetzers, der kommentierenden Geschichtsschreiber und Philologen einfließen, Sinn machen die Gedichte allein, indem sie als intendierte Äußerungen dieses Einen (Hafis) aufgenommen werden.

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Liebliche Doppekchrift: West-östlicher Divan

los die Liebe zu D i c h t u n g u n d wahre Menschlichkeit ineins gesetzt werden. Nicht alle Leser sind wohlwollende Leser, u n d nicht alle wohlwollenden Leser sind gute Menschen. Es gibt die »Knitterer« u n d »Zersplitterer« (FA 3.1, 56), die das literarische Geschehen zum Marktplatz der Sensationen u n d die Kritik zum Kampfinstrument machen. U n d es gibt unter denen, die seine Poesie goutieren, moralisch fragwürdige Existenzen, die der Autor aber offenbar den gutmütigen Unverständigen vorzieht: »Mir gefällt zu conversiren/ mit Gescheiten, mit Tyrannen« (ebd., 54). Der Aristokratismus dieser Verse läßt keinen Zweifel daran bestehen, daß die Beschwörung vom LeserFreund anspruchsvoll gemeint ist: es sind eben auch nicht alle wohlwollenden Leser ästhetisch sensible Leser. Der Kreis der Freunde hat deshalb etwas von einer über Deutschland u n d die Welt verstreuten Gemeinschaft der Eingeweihten: 9 7 ein Bund derer, die verstehen, worauf es in diesen Texten a n k o m m t - o h n e Satzung, ohne gegenseitige Kenntnis, aber durch das Band einer gemeinsamen ästhetischen Erfahrung vereinigt. In Goethes Werk tauchen immer wieder (Geheim-) Bünde auf, deren Angehörige zum Teil über große Distanzen hinweg kommunizieren u n d kooperieren. Die skizzierte Leser-Gemeinde gehört im weitesten Sinn dazu; als spontan entstehende, ständig fluktuierende

u n d kaum institutionalisierbare Verbindung bildet sie den Gegenpol zu

den straff gegliederten u n d programmbewehrten Weltorganisationen, die vor allem in den Wilhelm Meister-Romanen

begegnen. Auch hier geht es Goethe darum, ein Spek-

t r u m sozialer Synthesis unter den veränderten Bedingungen der M o d e r n e zu entfalten. Ästhetische Erfahrung verbindet, weil das Glück, das in ihr aufgeht, keines wäre ohne die Möglichkeit, es mit anderen zu teilen. D a m i t gibt die Literatur gewiß kein Fundam e n t für den Zusammenhalt moderner Gesellschaften ab. Wie schon in den

Unterhal-

tungen dementiert Goethe jedoch holistische Konzepte einer versöhnenden oder gar erlösenden Kunst nur, um den bescheideneren, aber doch effektiven Beitrag des Ästhetischen zu einem friedlicheren Zusammenleben zu unterstreichen. I m Divan geschieht dies ganz einfach als Danksagung an alle Freunde der alten östlichen Poesie, die i h m geholfen haben, u n d Einladung an alle Freunde seiner neuen, westöstlichen Dichtung, die ihm in Z u k u n f t helfen werden. Die Noten und Abhandlungen

sind darin selbst der

Aufweis eines solchen Netzwerks der Verständigung durch, über u n d in Literatur. In der Formulierung von Adolf Muschg: Das iBuch der Freunde« ist im Gedichtteil nicht geschrieben worden, es steht aber doch da. Die >Noten und Abhandlungen« sind dieses Buch der Freunde. Sie sind nicht nur die genialste und unauffälligste Poetik in deutscher Sprache, [...] sondern ein Wink zur rechten Lebenskunst [...]. Sie sind auch ein Rechenschaftsbericht über die Gesellschaft, in der sich Goethe damit befindet, und, dank seiner Hinweise, der Leser. Es ist die Gesellschaft der persischen und biblischen Dichter, gewiß — aber auch der westlichen Morgenlandfahrer, die Goethes

Das berühmteste und geheimnisvollste Divan-Gedicht beginnt ja mit einer Wendung an die Eingeweihten: »Sagt es niemand, nur den Weisen« (FA 3.1, 24).

Gewalt und Genuß

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Interesse geweckt haben; von Marco Polo über das heimliche Alter ego Pietro della Valle bis zu den geistigen Reiseführern und Eideshelfern, den deutschen, englischen, französischen Gewährsleuten, Forschern, Philologen, Übersetzern, ohne die der Funke der Hafis-Botschaft nicht auf Goethe übergesprungen wäre. Diese Gesellschaft wird in den >Noten und Abhandlungen zur Ahnengalerie nicht nur von Goethes Interesse, sondern auch zu Bürgen eines künftigen DivanWelt-Frömmigkeit< allerdings mag man manchmal nicht recht glauben. Was heißt es eigentlich, daß der Advent der Weltliteratur in einem Organ verkündet wird, das aus handfesten kulturpolitischen Auseinandersetzungen hervorging? Wird der Sta-

Ausfuhrlich gezeigt hat das Osterkamp (1991), 229-317.

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Deutsche Welterleuchtung oder globaler Ideenhandel?

tus der Versöhnungsappelle nicht noch fraglicher? Ist Weltliteratur nicht in erster Linie ein strategischer Begriff, entwickelt angesichts der Frage, wer es letztendlich schafft, »den Geschmack der Nation wirklich [zu] lenken« (FA 20, 106). Goethe macht kein Hehl daraus, daß unheilvolle künstlerische Strömungen eingedämmt werden müssen und daß er gewillt ist, seine nicht unbeträchtliche Macht im deutschen Kulturbetrieb dafür einzusetzen. Die »Theilnahme« des Auslands an seiner Tätigkeit rückt, so gesehen, ins Zwielicht. Die von jenseits der Grenzen die deutsche Literatur beobachten, eignen sich glänzend als Kronzeugen seiner Partei. Sicher soll eine solche Auseinandersetzung letztlich dazu dienen, der deutschen Literatur ihre starke internationale Stellung zu erhalten. Daß die Deutschen in der künftigen Weltliteratur am meisten zu verlieren haben, ist eine der dunklen Prophezeiungen des alten Goethe. Aber auch unter diesem Aspekt geht es in erster Linie um Koalitionen, Ausgrenzungen und Machtpositionen. Pascale Casanova (vgl. Einleitung, S. 16) scheint recht zu behalten. Welditeratur ist ein komplexer Verdrängungswettbewerb: Die Konkurrenz der Einzelliteraturen auf dem Welditeraturmarkt ist verschränkt mit grenzüberschreitenden Bündnissen gegen jeweils einheimische Gegner. Aus dieser Gemengelage können sich die verschiedensten Effekte ergeben, ein Bild des literarischen Friedens bietet sich auf jeden Fall nicht dar. Es gibt viele Wege, sich dem Weltliteraturbegriff in Kunst und Altertum zu nähern. Wenn Konkurrenz, kultureller Machterhalt (bzw. -Verlust) thematisiert werden, bietet sich allerdings ein Motiv besonders an: Goethes Umgang mit der Apostrophierung der Deutschen als Volk von Ubersetzern. Denn die überragende Rolle, die die Deutschen bei der Herausbildung einer »allgemeinen Weltliteratur« spielen sollen, hat auch für Goethe vor allem mit ihrer historischen Qualifikation als Übersetzer zu tun. Ihre spezifische Gefährdung hingegen durch die neue Weltkultur liegt für ihn zu einem Gutteil darin begründet, daß sie - die Vermittler schlechthin - ihre Rolle in der literarischen Kommunikation Europas nach einem falschen Modell begreifen. Allein mit der spirituellen Kraft ihrer Ideen glaubt die deutsche Intelligenz Europa einigen zu können. Sie vergißt darüber, daß Ideen (um noch einmal Jean Paul zu zitieren) keine nationalen Immobilien sind, sondern sowohl aus dem europäischen geistigen Handelsverkehr bezogen wie wirksam wieder in ihn zurückgebracht werden müssen. Darin sind die Franzosen den Deutschen mittlerweile überlegen. Mit diesen Überlegungen führt Goethe nicht nur seine Komparatistik des weltliterarischen Paares Deutschland - Frankreich in dem Sinn fort, wie er sie 1795 in den Unterhaltungen begründet und Ende der neunziger Jahre im Briefwechsel mit Wilhelm von Humboldt ausgebaut hatte.2 Er demonstriert zugleich die richtige Praxis als publizistischen Dialog seines eigenen Periodikums Kunst und Altertum mit seiner erklärten ausländischen Lieblingszeitschrift, dem Pariser Le Globe. Erst diese pragmatische Dimension verleiht dem Weltliteraturkonzept in den zwanziger Jahren sein spannungsreiches Profil. Goethes Weltliteratur will tatsächlich

2

Vgl. hierzu v.a. G. Oesterle (1991).

Europas

Herz

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beides zusammenbringen, schnelle, publizistische Aktualität auf der einen und langsame Besinnung auf das >alte Gute» auf der anderen Seite. Wer will, kann diese Polarität schon in den N a m e n der beiden Zeitschriften ausmachen: »Le Globe« aus der weltliterarischen Hauptstadt Paris und »Über Kunst und Altertum« aus dem beschaulichen Weimar. 3 U m diese Konstellation ausgehend von der deutschen >Übersetzungswut< u m 1800 genauer zu entwickeln, ist es nötig, etwas weiter auszuholen. D i e Herkunft des Topos von der Ubersetzernation Deutschland ist genauso zu klären wie seine spezifische Gestalt in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts. Erst vor diesem Hintergrund ist Goethes Weltliteratur-Praxis in Kunst und Altertum angemessen zu verstehen.

Europas Herz A m Anfang der neueren deutschen Literatur steht eine Übersetzung: Luthers >Eindeutschung< der Bibel. D a s ist eine triviale Feststellung, die nur gewöhnlich zu wenig beachtet wird. A u f den ersten Blick scheint damit auch nichts Spezifisches über die deutsche Entwicklung gesagt zu sein. Bibelübersetzungen spielen im frühneuzeitlichen Europa in vielen Ländern eine entscheidende Rolle bei der Herausbildung einer nationalen Schriftsprache und der Entwicklung einer volkssprachlichen (also nichtlateinischen) Literatur. Dennoch kann mit Fug und Recht behauptet werden, daß in keiner anderen Literatur die Abhängigkeit vom Übersetzen derart betont und die Übersetzungspraxis mit vergleichbarem theoretischem Aufwand vorangetrieben wurde. Spezifisch deutsch ist vor allem eine Figur, die zunächst paradox anmutet: Die deutsche Nationalliteratur begründet ihr Selbstbewußtsein im 18. Jahrhundert zu einem Gutteil auf dem Anspruch, aus Übersetzungen entstanden und durch Übersetzer zur Reife gebracht worden zu sein. Der Vorzug des Eigenen liegt in der Anverwandlung des Fremden - so ließe sich die gängige Selbstbeschreibung der deutschen Intelligenz in der zweiten Jahrhunderthälfte zusammenfassen. Die Deutschen übertreffen die anderen dadurch, daß sie sie zur Kenntnis nehmen und fleißig übertragen. Sie sind ihnen voraus, indem sie sich schon lange an ihre Fersen geheftet haben. »Es ist ein angeborener Trieb des Deutschen, daß er das Fremde liebt«, sagt August Wilhelm Schlegel (unter Berufung auf seinen Bruder 4 ) in den Berliner Vorlesungen von 1802/03 (AWS, Bd. 4, 35). »Die Deutschen [...], wie in allen Dingen treu und redlich«, seien deshalb vor allem auch »treue Übersetzer« (ebd.). Gerade die deutsche Sprache, lange verspottet als barbarisch-plumpe Mundart rückständiger Tölpel, ist für Schlegel die ideale Übersetzersprache. Denn was man ihr als Unkultiviertheit angekreidet hatte, erweist sich, von einem anderen Standpunkt aus betrachtet, als vielschichtige Offenheit und Freiheit. 5 Weil Deutschland, so die einschlägige Argumentation, nicht wie die anderen

3 4 5

In den Belegstellen kürze ich Über Kunst und Altertum künftig ab: KuA. Vgl.: Europa, 1. Bd., 2. Heft, 4 9 . Z u m folgenden vgl. den vorzüglichen Aufsatz von W i e d e m a n n ( 1 9 9 3 ) .

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Deutsche Welterleuchtung oder globaler Ideenhandel?

westeuropäischen Nationen seine kulturelle Blütezeit schon hinter sich hatte, suchte es umso intensiver in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nach neuen Ausdrucksformen. 6 Weil Deutsch als Gelehrtensprache das Latein nicht hatte verdrängen können, blieb es lange von den begrifflichen Fixierungen der Wissenschaftssprache verschont. Weil das rüpelhafte Deutsch in den französischsprechenden Residenzen verpönt war, gingen die artifiziellen Stilisierungen der höfischen Kommunikation in diese Sprache nicht ein. Deshalb eigne gerade dem unfertigen Deutschen, so noch einmal Schlegel, eine »vielfache Biegsamkeit«, wodurch es »geschickt wird, sich den verschiedensten fremden anzuschmiegen, ihren Wendungen zu folgen, ihre Silbenmaße nachzubilden, ihnen beinahe ihre Töne abzustehlen« (AWS, Bd. 4, 34). Deutsch wird für Schlegel damit zur wahrhaft pfingstlichen Sprache des modernen Europa. Das »höhere künstlerische Nachbilden« seiner Landsleute (das mit dem traditionellen »handwerksmäßigen Übersetzen« nichts gemein habe; AWS, Bd. 4, 36) sei, heißt es am Ende, »auf nicht Geringeres angelegt, als die Vorzüge der verschiedensten Nationalitäten zu vereinigen, sich in alle hineinzudenken und hineinzufühlen, und so einen kosmopolitischen Mittelpunkt für den menschlichen Geist zu stiften. Universalität, Kosmopolitismus ist die wahre deutsche Eigentümlichkeit« (ebd., 36). Diese Denkfigur ist um 1800 in der deutschen Intelligenz so weit verbreitet, daß man getrost von einem Gemeinplatz sprechen kann. Deutschland ist das »Land der Liebe« ( H ö W B , Bd. 1, 224), das Herz Europas, von dem die universelle Versöhnung der Völker ihren Ausgang nehmen soll. In dieser Grundform findet sich der Topos, außer bei den Schlegel-Brüdern, bei Herder, Schiller, Hölderlin, Wilhelm v. Humboldt, Novalis, Schleiermacher und Fichte (um nur die prominentesten zu nennen). 7 Auch die Begründung für die Sonderstellung Deutschlands stimmt bei den meisten Autoren überein: Deutschland ist das universellste Land, weil sein Nationalcharakter so lange darin bestand, keinen zu haben. Aus Mängeln werden Vorzüge. Die zurückgebliebenen Deutschen, die jahrhundertelang die überlegenen Italiener, Franzosen und Engländer sklavisch verehrt, übersetzt und nachgeahmt haben, erwarben dadurch eine Vielseitigkeit, die sie nun, am Ende des Jahrhunderts, vor kultureller Erstarrung (»Einseitigkeit«) bewahrt. 8 Die barbarischste der »Hauptnationen« Europas im 17. und 18.

Die Italiener hatten ihren rinascimento, die Spanier ihren siglo de oro, die Engländer ihr Elizabethan age, die Holländer ihr goude eeuw, die Franzosen ihren siècle classique. Und die Deutschen, weil sie bis ins Zeitalter der Aufklärung nichts dergleichen vorzuweisen hatten, hechelten ihnen hinterher (vor allem den Franzosen). Dieser Topos der zu spät gekommenen und dauerimitierenden Deutschen wird am Ende des 18. Jahrhunderts, wie Wiedemann exemplarisch an Herder zeigt (Wiedemann ( 1 9 9 3 ) , 545ff.), geradezu euphorisch — nach dem eschatologischen Muster >Die Letzten werden die Ersten sein< — positiviert. Die umfassendste und immer noch hilfreichste Gesamtdarstellung dieses Zusammenhangs stammt von dem bedeutenden finnischen Nationalismusforscher Aira Kemiläinen ( 1 9 5 6 ) . Für die neuere Diskussion vgl. v.a. Wiedemann ( 1 9 9 3 ) . Vgl. wieder A. W. Schlegel: »Was uns solange im äußeren Glänze gegen die einseitige, beschränkte, aber eben darum entschiedene Wirksamkeit anderer Nationen hat zurückstehen lassen: der Mangel einer Richtung, welcher in ein Positives verwandelt, zur Allseitigkeit der Richtungen wird: muß in der Folge die Überlegenheit auf unsere Seite bringen.« (AWS, Bd. 4, 36)

Europas Herz

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Jahrhundert wird zum kulturellen Vorreiter im 19. Es sei keine Übertreibung anzunehmen, schreibt Schlegel, »daß der Zeitpunkt nicht so gar entfernt ist, wo das Deutsche allgemeines Organ der Mitteilung für die gebildeten Nationen sein wird« (AWS, Bd. 4, 36). Heute muten diese Formulierungen verstiegen, ja ausgesprochen komisch an. Bezieht man sie auf den zeitgeschichtlichen Kontext, werden sie zumindest ein wenig plausibler. Zum einen sind sie eine Antwort auf die noch das ganze 18. Jahrhundert durchziehende Frage, welche Sprache Allgemeingültigkeit für Europa beanspruchen könne. 1784 hatte der französische Schriftsteller Antoine de Rivarol den Preis der Berliner Wissenschaftsakademie mit einer Schrift davongetragen, die ganz selbstverständlich auf dem Primat des Französischen beharrte.' Das Schlegelsche (bzw. deutsche) Argumentationsmuster ist in dieser Debatte insofern neu, als der Universalitätsanspruch nicht mehr mit gegebenen Qualitäten der eigenen Sprache (die >natürlichste< Wortstellung, die >logischste< Weltabbildung) begründet wird, sondern mit ihren historischen Verdiensten in der Aneignung des Fremden. Deutsch soll für alle verbindlich sein, weil es von allen das Trefflichste absorbiert hat und es ihnen nun, gleichsam zum Allgemeinen geläutert, wieder zurückgeben kann. Deutsch ist nicht einfach die europäische Universalsprache, es hat sich durch Omni-Verstehen dazu gemacht. Zum zweiten hatte die deutsche Intelligenz ja tatsächlich Grund, auf ihre Neugier und Aufnahmefähigkeit stolz zu sein. Spätestens mit der Shakespeare-Übertragung Wielands hatte in Deutschland eine Konjunktur literarischer Übersetzung begonnen, die entscheidend zu jener Blütezeit deutschen Geistes um 1800 beitrug, aus der die Nation fortan ihr Selbstbewußtsein bezog. Das Übersetzen war überhaupt, glaubt man den Aussagen der Zeitgenossen, zur epidemischen Leidenschaft der Gebildeten Deutschlands geworden. Zwar nimmt sich in den Statistiken, die anhand der Leipziger und Frankfurter Meßkataloge erstellt wurden, der Anteil der Übersetzungen eher bescheiden aus. Nach einer Tabelle von Goldfriedrich waren zwischen 1765 und 1795 gerade einmal 5, 4 bis 8, 4% des Meßangebots Übertragungen aus lebenden Sprachen. 10 Die Messen und ihre Verzeichnisse sind aber bekanntlich mit den realen, schwer eruierbaren Verhältnissen auf dem anarchischen Büchermarkt des 18. Jahrhunderts nicht gleichzusetzen. Bedenkt man, daß in diesem Zeitraum die Zuwachsrate an Neuerscheinungen sich verzehnfachte, der Markt in unerhörtem Maß expandierte, läßt sich leicht imaginieren, wie sehr auch das Übersetzergeschäft florierte. Selbst bloße 7% wären bei 5.000 jährlichen Neuerscheinungen - von dieser Zahl geht man fiir die achtziger und neunziger Jahre aus' 1 - 350 neuübersetzte Bücher in jedem Jahr. Die wirkliche Zahl dürfte indessen um einiges höher liegen. Die Klagen zeitgenössischer Verleger über regelrechte Übersetzungsfabriken 12 und die Wut der renommierten Übersetzer über eilfertige Ein-

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" 12

»De l'universalité de la langue française«. Vgl. Kemiläinen (1956), 39f. Abgedruckt in: Kiesel/Münch ( 1 9 7 7 ) , 196. W i t t m a n n (1999), 122. A m bekanntesten ist Nicolais Satire Sebaldus Nothanker.

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Deutsche Welterkuchtung oder globaler Ideenhandel?

deutschungen französischer oder englischer Schundromane 13 mögen im einzelnen übertrieben sein; grundlos waren sie sicher nicht. 1 4 »Nach einer ziemlich sichern Berechnung«, schreibt der Bibliograph Ersch im Jahr 1794, »bestehen zwey Drittheile von den in Teutschland jährlich erscheinenden Schriften aus Übersetzungen.« 15 Wie auch immer man die Sicherheit von Erschs Berechnung einschätzen mag, eines ist evident: Die >Lesewut< des (überwiegend weiblichen) Publikums um 1800 verlangte nach Stoff, der steigende Konsum von Unterhaltungsliteratur konnte ohne massive Importe vor allem aus England und Frankreich nicht befriedigt werden. 16 Mit diesem quantitativen Aspekt korreliert ein qualitativer. Denn es gab natürlich nicht nur das schnelle Übersetzen um des Geldes willen. In diesen Jahren entwickelte sich auch eine deutsche Übersetzungskultur, deren besonderes Profil eine höchst anspruchsvolle Verbindung von Übersetzungstheorie und -praxis ausmachte. Es gab in Deutschland ja schon lange die gewissenhaften Übersetzer, die die wichtigsten wissenschaftlichen und philosophischen Neuerscheinungen des Auslands rasch auf Deutsch verfugbar machten. Und geradezu selbstverständlich war für die deutsche Literatur der frühen Neuzeit die Personalunion von bedeutendem Autor und Übersetzer. Neu an der literarischen Übersetzungskunst im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts ist die Veränderung des Bewußtseins, in dem übersetzt wird, die Ausbildung einer historischen Hermeneutik des Übersetzens. 17 Herder ist der erste, der postuliert, daß es beim Übersetzen nicht um die Herstellung von Identität, sondern die Kreation von Verschiedenheit geht. Jede Übersetzung stellt, da immer schon Ausdruck eines Anders-Verstehens, eine Sinnvermehrung, Sinnbereicherung dar; die literarisch gelungene Übersetzung, die selbst Anspruch auf Originalität erheben kann, 18 vollzieht die Sinnentfaltung des übersetzten Werks als Transformation von Kunst in Kunst. Ausgangs- und Zielsprache geraten durch Übersetzen in eine produktive Bewegung. Dem übersetzten Werk wächst in der fremden Gestalt neue Bedeutung zu; die Übersetzung selbst kann im Versuch, dem Original gerecht zu werden, zum revolutionierenden Fremdkörper in der eigenen Sprache werden. Die auffällige Geniehäufung in der deutschen Intelligenz um 1800 ist wesentlich auch eine Häufung genialer Übersetzer. Alle wichtigen Autoren übersetzten, beinahe alle reflektierten das Übersetzen in theoretischen Schriften (oder Skizzen), und beinahe alle verknüpften die deutsche kulturelle Selbstfindung eng mit der übersetzerischen Aneignung fremder Literatur. Die Entstehung einer neuen deutschen Literatursprache und die Herausbildung eines charakteristischen kulturellen Profils des zerrissenen Lan-

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Vgl. die Auslassungen Wielands, die Wittmann ( 1 9 9 9 ) , 173f. anführt. Erich Schön greift nicht zufällig die Diskussion um die deutsche >Übersetzungsindustrie< als Beispiel dafür auf, »wie weit entfernt man [...] von auch nur einigermaßen gesicherten Vorstellungen vom Buchmarkt im 18. Jahrhundert noch ist.« Schön (1987), 3 0 3 . zitiert nach Schön, ebd. Vgl. Wittmann ( 1 9 9 9 ) , 21 Iff. Vgl. die Darstellung dieser Wende bei F. Apel ( 1 9 8 2 ) , 5 3 - 6 3 . Vgl. Kurz (1996b).

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Literarisches Weltgeld

des wurde schon von den Zeitgenossen immer wieder im Zusammenhang mit drei paradigmatischen Übersetzungsleistungen des 18. Jahrhunderts diskutiert: 1.) Bodmers Verdeutschung von Miltons

Paradise Lost, die

auf Klopstock so großen Einfluß hatte;

2.) Wielands Prosa-Übersetzung der Shakespeare-Dramen, die in Goethes

Meister

Wilhelm

eine zentrale Rolle spielt; 3.) die Hexameter-Übertragung der Homerischen

Epen durch Johann Heinrich Voß. Drei wesentliche Punkte im Selbstverständnis der Kulturnation gingen demnach auf Übersetzungen zurück bzw. wurden in der Beschäftigung mit Übersetzungen entwickelt: der Durchbruch zu einer Sprache erhabener Innerlichkeit (Milton - Klopstock); die Hamlet-Identifikation der Deutschen als >tatenarmeri, aber gedankenvollen Nation' 9 - in Anlehnung an Wilhelm Meisters (nicht Goethes) identifikatorische Lektüre und Auslegung des Stücks; 20 der von Wmckelmann inspirierte und durch Voß offenbar so überzeugend bestätigte Mythos einer tiefsitzenden >Griechheit< der Deutschen. 2 1

Literarisches Weltgeld D a ß Goethes Begriff durch den Übersetzungsenthusiasmus seiner Freunde und Zeitgenossen wesentlich angeregt wurde, hat die Marbacher Ausstellung

Weltliteratur

von

1 9 8 2 mit reichem Material demonstriert. 22 Dauernde, rasante Übersetzungstätigkeit in planetarischem Maßstab war fur den Weimarer Alten ja geradezu das Signum der neuen Epoche. Die Moderne würde ein Zeitalter der Übertragungen sein: vom sprachlichen Dolmetschen im engeren Sinn über die Transmissionen der neuen (Tele)Kommunikationsmittel bis hin zu den Metaphernlaboratorien moderner Dichtung. W i e verhält sich Goethe nun zu jener Vision der Deutschen als abendländischer Vereinigungsmacht? In der älteren Forschung wurde hier im Blick auf das suggestive Modell eines Patriotismus in weltbürgerlicher Absicht« zu wenig scharf unterschieden. Viele Interpreten betonten Goethes Wendung gegen den Nationalismus der Befrei-

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20

21 22

Als »tatenarm und gedankenvoll« wird die Nation in Hölderlins Gedicht An die Deutschen (HöWB, Bd. 1, 235) charakterisiert; diese Zurückhaltung, dieses meditierende »Schweigen« deutet das Gedicht aber als esoterische Vorbereitung einer Offenbarung, die vom »Genius unsers Volks« ausgehen soll: »Und das Schweigen im Volk, ist es die Feier schon/Vor dem Feste? die Furcht, welche den Gott ansagt?« (ebd., 236). Entscheidend ist, daß die Hamlet-Passagen in Wilhelm Meisters Lehrjahre gerade diese Figur vorführen: das Zu-Sich-Selbst-Kommen in der Übersetzung und Auslegung des Fremden (vgl. F. Apel (1982), 1 14£). Wilhelm Meister glaubt zum ersten Mal wirklich zu wissen, wer er ist und was er will, als er Hamlet in der Wieland-Ubertragung liest. Um sich dessen wahrhaft zu vergewissern, beginnt er selbst zu übersetzen. Der Roman insgesamt ironisiert die Interpretation seines Helden, denn Wilhelm Meister wechselt die imaginären Leitbilder wie die Hemden. Für die Wilhelm-Meister-Kezepúon der Romantiker aber wurde das Bild des Intellektuellen, der in einer gänzlich aus den Fugen geratenen Zeit sich auf die Reflexion zurückgeworfen sieht und aus einem unendlichen Reflexionsprozeß heraus die Erlösung der Vergangenheit (der Geist des Vaters) vollbringen soll, paradigmatisch. Vgl. Landfester (1996). Vgl. den Katalog: Zeller (1982).

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Deutsche Welterleuchtung oder globaler Ideenhandel?

ungskriege und sahen ihn - als »kosmopolitischen Klassiken - in Übereinstimmung mit dem Universalismus der Frühromantik. Immer wieder wurde in diesem Zusammenhang auch auf den jungen Friedrich Schlegel verwiesen, dessen Diktum aus dem Studium-Axikzu., wonach »die nationeilen Teile der modernen Poesie« »unerklärlich« werden, wenn sie »aus ihrem Zusammenhang gerissen, und als einzelne für sich bestehende Ganze betrachtet werden« (KSA 1, 228), geraume Zeit eine Art Leitsatz der bundesrepublikanischen Komparatistik bildete. Eben dieser Friedrich Schlegel vertrat aber seit der Jahrhundertwende immer entschiedener die Ansicht, daß eine revolutionäre Wiedervereinigung der europäischen Poesie anstehe, die allein das Werk der Deutschen sei.23 Nicht gemeinsam mit den Franzosen (und den anderen europäischen Nationen), sondern nur gegen deren belanglose, heruntergekommene Kultur sei das wahre Europa zu verwirklichen. 1802 zieht Schlegel nach Paris, nicht um die Verständigung mit den Franzosen zu suchen, sondern um die vorgebliche »Hauptstadt der Welt< endlich mit dem Universalismus des deutschen Geistes zu erleuchten. Die Zeitschrift, die er dort herausgibt, heißt programmatisch »Europa«. Die wahre, nämlich messianische Bedeutung von Europa aber ist - Deutschland.24 »In Deutschland Europa ganz in sich vollendet - der eigentliche] Kem von Europa. Frankreich glaubt das freil.[ich] auch zu sein.« (KSA 19, 31) Andreas Huyssen hat in seiner Studie zur frühromantischen Ubersetzungstheorie diese und ähnliche Äußerungen zusammenfassend als die »Utopie« einer »deutschen Weltliteratur« bezeichnet.25 Weltliteratur in diesem Sinn wäre nicht der grenzenlose Austausch und das wechselseitige Ubersetzen zwischen den verschiedenen Literaturen. Weltliteratur ist nach diesem Konstrukt vielmehr schon verwirklicht in der deutschen Literatur, die die anderen übersetzt, in sich aufgenommen und eigentümlich vertieft hat. Deshalb ist sie nun, an der Wende der Zeit, dazu berufen, den Rest der Welt mit ihrem Einheitsgeist zu erfüllen.26 Ein solcher Bekehrungseifer lag Goethe fern. Nirgendwo in seinen Äußerungen zur Weltliteratur taucht das Phantasma einer »deutschen Sendung« auf.27 Sehr wohl geht jedoch auch er von einer Sonderstellung Deutschlands, des Landes der Übersetzer, aus.

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Die »Legende« von Schlegels Gang nach Paris als Versöhnungswerk im Geist eines »europäischen Patriotismus« hat Günter Oesterle eindrucksvoll widerlegt. G. Oesterle (1989), 163. Allerdings weniger das real existierende Deutschland (in dem es für Schlegel einfach auch zu viele >Nullen< gab; vgl. G. Oesterle ebd., 168f.) als das künftige, an dem er insgeheim wirkte. Huyssen (1969). Dieser Unterschied zu Goethes Konzept wird von Huyssen (ebd., 152) verwischt. Im Nazi-Sammelband Von deutscher Art in Sprache und Dichtung behandelte Heinz Otto Burger das Thema unter dem Titel »Die deutsche Sendung im Bekenntnis der Dichter«. Goethe erscheint hier unter Berufung auf einen Passus aus der Farbenlehre als einer der Hauptprotagonisten. Burger zitiert Goethe: »so wird man ihm [dem Deutschen, M.K.] früher oder später die erste Stelle in Wissenschaft und Kunst nicht streitig machen« (Burger (1941), 320), unterschlägt aber, daß dies »so« Teil eines Konditionalgefuges ist: »Nähert er sich andern Nationen an Bequemlichkeit der Behandlung und übertrifft sie an Aufrichtigkeit und Gerechtigkeit, so...«. (FA 23.1, 606).

Literarisches Weltgeld

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D e r Topos von der deutschen Fremdenliebe und der unendlich anpassungsfähigen deutschen Sprache findet sich selbstverständlich auch bei ihm: »Es liegt in der deutschen Natur, alles Ausländische in seiner Axt zu würdigen und sich fremder Eigentümlichkeit zu bequemen. Dieses und die große Fügsamkeit unserer Sprache macht denn die deutschen Übersetzungen durchaus treu und vollkommen.« So 1 8 2 5 gegenüber Eckermann (Eck, 132f.). D a ß sich für Goethe daraus andere Konsequenzen ergeben als fur die Vertreter der deutschen Mission, zeigt die Metaphorik des geistigen Handelsverkehrs. »Wer die deutsche Sprache versteht und studiert befindet sich auf dem Markte wo alle Nationen ihre Waren anbieten, er spielt den Dolmetscher indem er sich selbst bereichert«, schreibt er in dem berühmten Brief an Carlyle vom Juli 1 8 2 7 (FA 3 7 , 4 9 8 ; in KuA: FA 2 2 , 4 3 4 ) . Die Deutschen sind nicht die Menschheitsvereiniger in einem Geist, sondern die Vermittler zwischen verschiedenen Nationalgeistern, die tüchtigsten Händler im europäischen Ideenkommerz. Deutschland ist aufgrund seiner Übersetzungsleistungen das Land, in dem man sich derzeit am einfachsten auf dem Weltliteraturmarkt bedienen kann. Wer deutsch lernt, kann am meisten fremde Literatur in einer Sprache lesen. Die deutsche Sprache ist für Goethe zu Beginn des 19. Jahrhunderts schlicht das Weltgeld der internationalen Literatur. Deutschland wird damit zwar als herausragender Umschlagplatz der Kulturen ausgezeichnet, ist aber mitnichten die Kirche des Weltgeists. In diesem bescheideneren Sinn sind jene Äußerungen Goethes zu verstehen, wonach den Deutschen »eine ehrenvolle Rolle« bei der Bildung einer »allgemeinen Weltliteratur« vorbehalten sei (FA 2 2 , 356 2 8 ), die Deutschen in diesem Kontext »am meisten wirken« könnten und müßten (FA 3 7 , 4 4 3 ) . Metaphern eröffnen Sichtweisen und lenken Bewertungen. Goethes Insistieren auf der Metaphorik des geistigen Handelsverkehrs stellt suggestiv ein Zirkulationsmodell europäischer Kommunikation gegen das Phantasma einer pfingstlichen Überwältigung durch den deutschen Geist. 25 Die Entscheidung für >Umlauf< und gegen >Erleuchtung< ist geeignet, ein ganzes Bündel von Grundunterscheidungen im nationalen Begriffsund Gefuhlshaushalt in Frage zu stellen. Betroffen sind damals bereits eingespielte Oppositionspaare wie >deutsche Tiefe/französische Oberflächlichkeit^ >deutsche Subjektivität/ französische Förmlichkeit; >deutsche Bedächtigkeit/französische QuirligkeitWesten< erobert die äußere Welt, während der >Norden< die Gründe der Innenwelt erschließt. Der faktischen Zusammenftihrung der Menschheit durch internationale Handelsbeziehungen korrespondiert die Luthersche Universalisierung der inneren Freiheit des Christenmenschen. »Während die übrige Welt hinaus ist nach Ostindien, Amerika, - aus ist, Reichthümer zu gewinnen, eine weltliche Herrschaft zusammenzubringen, deren Land die Erde rings umlaufen und wo die Sonne nicht untergehen soll; ist es ein einfacher Mönch, der das Dieses, das die Christenheit vormals in einem irdischen, steinernen Grabe suchte, vielmehr in dem tieferen Grabe der absoluten Identität alles Sinnlichen und Äußerlichen, in dem Geiste findet, und dem Herzen zeigt [...].«30 Diese Denkfigur ist offen für mehrere Optionen. Dominierend in der idealistischen Philosophie blieb der Versuch, die östlich des Rheins entwickelte Kultur der Subjektivität mit der westlichen Kultur politischer Rationalität zusammenzubringen und sie als komplementäre Bewegungen aus einem gemeinsamen Grund zu deuten. 31 Die Moderne hat demnach ihr gründendes Prinzip der Freiheit in einer Art europäischer Arbeitsteilung in England und Frankreich vorwiegend ökonomisch-politisch und in Deutschland individuell-innerlich artikuliert. 32 In der Gleichzeitigkeit von Französischer Revolution und Deutschem Idealismus kommen die Wege wieder zusammen. Fortan darf die Hoffnung auf eine Gesellschaft genährt werden, in der die rechtlich institutionalisierte Freiheit ihre notwendige Fundierung in einem alle Gemütsbereiche einbeziehenden Selbstverständnis freier Individuen hätte. Eine Vereinigung der getrennten Traditionslinien würde in einer europäischen Kulturgemeinschaft erfolgen, die sich auf liberale Freizügigkeit unter dem Schutz der Menschenrechte gründet (England und Frankreich); die Menschenrechte ihrerseits hätten durch das protestantische Freiheitsverständnis eine Fundierung im Innersten des Subjekts erhalten (Deutschland). Obwohl Hegel auf Wechselseitigkeit und weltgeschichtliche Ergänzung im europäischen Kontext hinauswill, gibt es auch bei ihm eine unüberhörbare Auszeichnung des deutschen Geistes. Die Frage, warum in Frankreich die Reformation keinen Erfolg hatte, beantwortet er mit Sätzen, in denen der germanische Indigenitätsmythos fröhliche Urstände feiert: »Die reine Innigkeit der germanischen Nation war der eigentliche Boden für die Befreiung des Geistes, die romanischen Nationen dagegen haben im innersten Grunde der Seele, im Bewußtseyn des Geistes die Entzweiung beibehalten:

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HEG 11,522. Vgl. Henrich (1990). Genauer wird die europäische Arbeitsteilung als Dreierordnung gefaßt: England hat die ökonomisch-soziale, Frankreich die politisch-verfassungsrechtliche und Deutschland die geistige Revolution vollbracht (so faßt es Moses Heß 1841 in seiner Schrift Die europäische Triarchiezusammen; vgl. Brandt (1998), 87f ). Das Muster begegnet in neuerer Literatur in interessanten Varianten; vgl. z.B. R. Engeisings Lesergeschichte, in der England die industrielle Revolution, Frankreich die politische und Deutschland die Leserevolution übernommen hat; Engelsing (1970), 133.

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Literarisches Weltgeld

sie sind aus der Vermischung des römischen und germanischen Blutes hervorgegangen und behalten dieses Heterogene immer noch in sich.«33 Die Romanen kennen demnach nicht die deutsche »Totalität des Geistes, des Empfindens, die wir Gemiith heißen, nicht dieß Sinnen über den Geist selbst in sich, - sondern sie sind im Innersten außer sich.«34 Diese Rhetorik zeigt eine prekäre Tendenz, die in den Dualismen innerlich/äußerlich und Geist/Tat von vornherein angelegt ist. Der Geist neigt dazu, sein Wirklichkeitsdefizit spätestens dann zum Segen zu verklären, wenn die geschichtliche Tat sich als unattraktiv erweist. Diese Verschiebung vollzog sich unaufhaltsam im Deutschland der neunziger Jahre. Mit wachsender Enttäuschung über die Folgen der Französischen Revolution erhielt selbst bei den Autoren, die grundsätzlich am Republikanismus festgehalten und noch lange hoffnungsvoll über den Rhein geschaut hatten (wie z.B. Hölderlin), der rein spirituelle Universalismus der Deutschen eine heilsgeschichtliche Dimension. D a diese Stimmungslage sich leicht mit dem alten, festsitzenden Inferioritätsgefiihl aus der Zeit französischer Kulturhoheit über Europa verbinden konnte, entstand fast zwangsläufig jene pueril anmutende Glorifizierung »Deutscher Größe« (SWB 1, 735-741 3 5 ) die aus der deutschen Schüchternheit Allseitigkeit, aus dem deutschen Hinterherhinken Unverbrauchtheit und aus der >Nullität< der deutschen politischen Zustände eine durch keine irdische Gemeinheit getrübte seelische Tiefe machte. Der deutschen Kultur, die »den Geist bildet [...] muß zuletzt die Herrschaft werden [...] das langsamste Volk wird alle / die schnellen flüchtigen einholen« (SWB 1, 736). Werden die Deutschen auf diese Weise zu den Spezialisten fürs Menschheitliche geadelt, liegt auch der Schritt nicht mehr fern, die anderen beim Aufbau des Humanitätsgebäudes fur entbehrlich zu halten. Resteuropa hat auf den Zuschauerrängen Platz zu nehmen. Goethe hat (via Meyer) in dem Aufsatz über die neudeutsche, religiös-patriotische Kunst die entscheidende Wende im kulturellen Selbstverständnis der deutschen Intelligenz genau datiert: »Im Jahr 1803 trat Friedrich Schlegel, in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Europa

genannt, zuerst als schriftlicher Lehrer des neuen

alterthümelnden, catholisch-christelnden Kunstgeschmacks auf [...].« (FA 20, 116) Nach langen Jahren öffentlicher Zurückhaltung macht der Herausgeber von Kunst und Altertum nun den jüngeren Schlegel zum Hauptverantwortlichen für die Durchsetzung einer fatalen Fehleinschätzung von deutschem Geist. Der Aufsatz entstand noch unter dem Eindruck nationaler Euphorie im Gefolge der Befreiungskriege. Von neuen Tyrtäen wie Arndt oder Körner ist aber nicht die Rede; es geht hier um ein

33 34 35

H E G 11, 528f. Ebd., 529. Wobei Schillers Größenphantasie von anderen Weimarern noch übertroffen wird. »Wenn wir«, schreibt Herder in einem Text, der immerhin den Begriff »Humanität« im Titel trägt, uns »von allen Völkern ihr Bestes zu eigen machten; so wären wir unter ihnen das, was der Mensch gegen alle die Neben- und Mitgeschöpfe ist, von denen er Künste gelernt hat. Er kam zuletzt, sah Jedem seine Art ab, und übertrifft oder regiert sie alle.« ( H W 7, 551) Der Konjunktiv rettet hier auch nichts mehr.

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Deutsche Welterleuchtung oder globaler Ideenhandel?

tieferliegendes, über Jahrzehnte sich entwickelndes Phänomen: Die Übersteigerung einer deutschen Kultur des >GemütsSchlegelschen Clique< völlig verfallen, wittern die Schlegel-Brüder selbst schon 1805 eine >Verschwörung< Goethes gegen ihre »neue Schule« (vgl. FA 33, 17).

Deutsch-französische

Kulturtherapie

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on, sondern Eintreten in den einen, umfassenden >positiven< Glauben, der Gesamteuropa durchdringen und von seiner sündhaften Gegenwartskultur erlösen sollte. Schlegel ging mit der seit 1803 geplanten Konversion im Wortsinn aufs Ganze. Auch daran mußte Goethes empfindlicher Sinn für Gleichgewichtsordnungen Anstoß nehmen. 1808, in einem Gespräch mit Riemer über die militärische >Vereinigung< Europas durch die Franzosen, verkündet er sein Credo der Gewaltenteilung, die Überzeugung, daß in einer »Republik [...] Europa« jede Einzelmacht durch andere ausgewogen werden muß: >Europa< - äußerte Goethe - >war sonst eine der seltensten Republiken, die jemals existiert, und ging dadurch zugrunde, daß ein Teil das sein wollte, was das Ganze war, nämlich Frankreich wollte Republik werden. - Jetzt nirgends Schutz und Hilfe.< (FA 33, 305)

Der Traum von der deutschen Welterleuchtung konnte fur Goethe nichts anderes sein als die Umkehrung dieser französischen Hybris: Ein Teil will sich zum Ganzen aufwerfen, wenn auch in diesem Fall auf spirituellem Weg. Auch dagegen stellt sich das Weltliteraturprogramm: die Teile sollen Teile bleiben und sich in Konkurrenz und Austausch, Sympathie und Abstoßung immer wieder >ins Gleiche setzentief< ihre Gehalte auch immer sein mögen). Die Franzosen hingegen, denen Humboldt in sei-

Zur Vernichtungswut der deutschen Intellektuellen im Gegensatz zum »feinen« und »galanten« Ton französischer Kritik vgl. Eck, 178. Das bedeutet für Goethe natürlich nicht, daß die Deutschen jetzt auch eine Kulturhauptstadt brauchen; dagegen — wie überhaupt gegen jede Form von nationalstaatlichem Zentralismus in Deutschland — hat er sich weiter konsequent ausgesprochen (vgl. Eck, 702f.). Vielmehr müßte unter den besonderen Gegebenheiten Deutschlands ein analoger Ideenverkehr in Gang gebracht werden. Vgl. die bekannte Klage in dem Brief an Hitzig, die deutsche Literatur bringe eigentlich »nur Ausdrücke, Seufzer und Interjektionen wohldenkender Individuen [...]; am wenigsten merkt man einen häuslichen, städtischen, kaum einen ländlichen Zustand«. Demgegenüber trenne sich die französische Literatur »nicht einen Augenblick von Leben und Leidenschaft der ganzen Nationalität«. FA 38, 192f.

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Deutsche Welterleuchtung oder globaler Ideenhandel?

nen Pariser Jahren noch bescheinigt hatte, »vom Ich auch nicht einmal eine Ahndung«44 zu haben, scheinen nun diejenigen zu sein, die vom kulturellen Austausch profitieren. Die junge Autorengeneration hat in der Auseinandersetzung mit deutscher Transzendentalphilosophie und romantischer Universalpoesie das »freye Walten der Einbildungskraft« (FA 22, 373) sich so weit zu eigen gemacht, daß ein Ausbruch aus dem starren Gefüge der écriture classique möglich wurde. Goethe bewundert Le Globe als Ausdruck einer gelungenen kulturellen Synthese, die Paris zumindest fur einige Zeit zur Hauptstadt der Weltliteratur machen könnte. 45 Das Pariser Journal zeigt, wie die Bewahrung des Eigenen mit einer lebhaften, ja unstillbaren Neugier auf fremde Ideen einhergehen kann. Die über Jahrhunderte gewachsene französische Kultur der >Konversation< (jenes leichte, witzige, auf ein aristokratisches Publikum gebildeter Dilettant(inn)en ausgerichtete Idiom, dessen sich Frankreichs Intellektuelle — Philosophen, Gelehrte, Dichter und Journalisten gleichermaßen - bedienten) ist glücklich in die Sprache eines modernen, auf Breitenwirkung angelegten Mediums eingegangen.46 In dieser Sprache aber geht es vielfach um die Durchsetzung eines anderen, in Frankreich noch schwer vermittelbaren Individualitätskonzepts. Der Globe-AivkA,

bei des-

sen Besprechung Goethe erstmals öffentlich das Wort »Weltliteratur« verwendet, behandelt eine französische »Nachbildung« seines Tasso, gegen die das Journal du commerce heftig polemisiert hatte: ein Dichter-Subjekt wie Tasso war diesem Kritiker als eine unbegreifliche Mischung aus »weinerlicher Salbaderei« und Besessenheit (»maniaque«) erschienen. Dagegen versucht der Referent des Globe, Verständnis fur die »Entwickelung des schwersinnigen Mißtrauns« in Tasso und die Revolte der »dichterischen Einbildungskraft« gegen den »Hofgeist«, die der »deutsche Dichter« bezeichnenderweise zum einzigen Inhalt des Stücks gemacht habe, zu erwecken (alle Zitate FA 22, 3 5 3 357). Ahnlich geht es in Ampères Goethe-Portrait über weite Strecken um die »Originalität« und die »bis zum Uebermaaß« getriebene »Unabhängigkeit«, die der junge Goethe und die von ihm geschaffenen Ikonen aufsässiger Subjektivität (Werther, Götz, Tasso, Faust) vorgelebt hätten. Auch Ampère hat keinen Zweifel, daß dieses befremdliche Individualitätskonzept »an der Langsamkeit, mit welcher Goethes Ruf sich bei uns verbreitet hat«, die Schuld trägt (alle Zitate FA 22, 2 6 0 - 2 6 5 ) . Wenn Goethe Mitte der zwanziger Jahre solche Interpretationen aus dem Nachbarland ohne Vorbehalt anführt, geht es ihm offenbar nicht um Übereinstimmung. Denn er selbst hat zu diesem Zeitpunkt vom Bild des ingeniösen Schöpfersubjekts längst

HSBr, 156. Humboldt fugt bezeichnenderweise aber gleich hinzu, daß ihm das immer noch lieber sei als jener Typus des Deutschen, der »das reine Ich in allen Fingerspitzen zu fühlen glaubt« (ebd.). Vgl. zur Deutung von Paris als Hauptstadt der neuen Zeit und neuen Kunst I. Oesterle ( 1 9 8 8 ) , 398ff. »Die »höchste Gewandtheit und Schicklichkeit des geselligen Lebenss die in den prärevolutionären Salons des Ancien Regime entwickelt wurde, lebt nun im bürgerlichen postrevolutionären Zeitalter in den Zeitschriften und Journalen wieder auf.« G. Oesterle ( 1 9 9 8 ) , 134.

Deutsch-französische

Kulturtherapie

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Abschied genommen. 4 7 Das Programm einer »Entprometheisierung des Dichters« 4 8 ist so weit vorangeschritten, daß das ganze Bildfeld des Ursprungs, des Quellens, des Aussich-selbst-Schöpfens geradezu mit H o h n und Spott verfolgt wird. 49 Provokant präsentiert sich der alte Goethe den Deutschen als Autor, der eher Sammler, Redakteur und Arrangeur von Texten und Textfragmenten ist als kreatives Genie. Das kollektive M o ment literarischer Produktion wird nun herausgestrichen. Sowohl im Innern der Werke (durch die Unendlichkeit der Prätexte, die in das Werk hineinspielen) wie in ihrer medialen Verbreitung und Deutung walten Prozesse, die sich der individuellen Verfügungsmacht des Autors entziehen. Im unabsehbaren Textuniversum der modernen Weltliteratur 50 muß sich der Einzelne zwangsläufig als »Kollektivwesen« bekennen und bescheiden. W a r u m dann aber der befriedigte Verweis auf die französische Entdeckung des Individuums? Offenbar verfolgt Goethe eine Doppelstrategie. D e n Deutschen, die durch ihre Originalitätssucht oft in zentnerschwere tragische Dichtung getrieben werden (vgl. z.B. Eck, 5 8 ) , hält er rühmend die rhetorische Leichtigkeit der französischen Tradition entgegen. Die Verabschiedung des Originalgenies wird jedoch relativiert durch die gleichzeitige Anführung einer subjektiven Wendung in Frankreich. Nicht mehr stehen sich, wie in den neunziger Jahren, die beiden Nationen als Reich der konventionellen Zeichen und Reich der individuellen Einbildungskraft gegenüber. 51 Die Konstellation ist nun komplexer. Der synchrone interkulturelle Austausch erhält durch Phasenverschiebungen der Rezeption eine historische Tiefendimension. Der alte Goethe vergewissert sich der Modernität seiner Kunstauffassung im Blick auf die jungen zeitgenössischen Autoren von Paris. Diese wiederum verstehen sich als Erneuerer Frankreichs gerade unter Berufung auf den jungen

Goethe

(worin der alte, der unmittelbar von seiner Genieperiode nichts mehr wissen will, sie bestärkt). Im französischen Medium sieht G o e t h e sich und die Entwicklung der

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In den angeführten Jugendwerken geht es vor allem ja auch um eine Distanzierung von der pathologischen Dimension solcher Subjektivität. Goethes Empfindlichkeit gegen die subjektive Richtung der deutschen Literatur entspringt der eigenen Auseinandersetzung mit den Abgründen einer weit- und selbstverzehrenden Innerlichkeit. Blumenberg (1984), 4 8 8 . »Man sagt wohl zum Lobe des Künstlers, er hat alles aus sich selbst. Wenn ich das nur nicht wieder hören müßte!« FA 13, 242 (1829). Hendrik Birus hat darauf hingewiesen, daß Goethe hierbei auch Benjaminsche Fragestellungen vorwegnimmt. Wie verhält es sich mit dem Verlust von substantiellem Sinn, von unmittelbarer, auratischer Aussagekraft in einer Kunst, die unendlich vervielfältigt wird (analog etwa dem Schwinden des Goldwerts im Papiergeld)? Die neue Technik der Lithographie ist ein Dauerthema in KuA. Vgl. Komm. FA 20, 663f. Exemplarisch für diese philosophische Vertiefung des damals schon gängigen Gegensatzes von französischem »Form«-Bewußtsein und deutschem »Gemüt« sind Humboldts Pariser Aufzeichnungen. Für den deutschen Beobachter »gehen [die Franzosen] mit den Zeichen um ohne zu sehen, dass ihnen die Sachen fehlen«. (HGS XIV, 506) Mit den »Sachen« meint Humboldt nicht naiv-realistisch die >Dinge, wie sie sind11 faut être absolument moderne< verstanden werden. Bei Strafe der Verknöcherung muß ein Autor, muß ein Land das weltliterarische Geschehen zur Kenntnis nehmen und sich zugleich, gegen die Gefahr der »Zersplitterung« (Eck, 84) individuellproduktiv dagegen verhalten. Autoren müssen demnach 1.) ein professionelles Interesse am Studium fremder Literatur und 2.) ein nicht minder starkes Interesse an der weltliterarischen Durchsetzung ihrer eigenen Literatur haben. Letzteres nicht allein aus Kulturpatriotismus, sondern weil sie angewiesen sind auf ein vitales intellektuelles Umfeld, weil sie Anregungen aus der Sprache brauchen, in der sie Neues versuchen. Und nicht zuletzt sind sie es, die von starken Verlagen, international renommierten Zeitschriften, finanzkräftigen Institutionen des Kulturexports profitieren (oder auch einmal angewiesen sind auf Großschriftsteller ihres Landes, die sie im Ausland bekannt machen).

Man sollte deshalb der Versuchung widerstehen, die Dezentrierung des Autors beim späten Goethe auf neuere Theorien über die Subjektlosigkeit der literarischen Produktion abzubilden. Goethe hält durchaus am Autor und der Auszeichnung >ineffabler< Individualität fest. Dieser Autor muß aber neue, bisher unbekannte Rollen übernehmen und v.a. mehrere Rollen kombinieren. Der alte Goethe sah sich wohl als möglicherweise letzte Instanz, die den Spagat von deutscher Subjektivitätskultur zu weltliterarischer Geltung vollbringt. Der Dichter Goethe schreibt Werke wie die Wanderjahre und Faust II, deren Deutung der Moderne durchaus >tief< angelegt und alles andere als leichtverständlich ist; der Literaturpolitiker Goethe macht Weimar mit seiner Zeitschrift, seiner ausgedehnten Korrespondenz und seinen Audienzen zum weltliterarischen Zentrum. Davon gingen auch die Globisten aus. Der programmatische Einfuhrungsartikel der Zeitschrift beginnt mit den Worten: »Les peuples sont aujourd'hui unis par les intérêts; la civilisation entretient entre eux un utile échange de conaissances comme de produits [...].« Zit. nach der Dokumentation von Hamm (1998), 161. Auch den Globisten war die Rede von einem »commerce intellectuel« geläufig; vgl. ebd., 440.

Konkurrenz und Genuß

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Selbstverständlich betreibt auch Goethe Weltliteraturpolitik. Noch die Prägung des Begriffs (er selbst war wohl überzeugt, das Wort als erster zu verwenden) und seine Einspeisung in den europäischen Ideenverkehr (Mai 1827; KuA VT 1) lassen sich als strategischer Zug im entstehenden Weltliteratur-Betrieb verstehen. Die Mitarbeiter des Globe reagieren auch prompt und verkünden im November desselben Jahres dem französischen Publikum, Goethe habe die »aurore d'une littérature occidentale ou européenne« am Horizont der Zeitgeschichte ausgemacht. 54 Mit der Rede von Weltliteratur und der Präsentation des Phänomens in Kunst und Altertum entwirft Deutschlands berühmtester Autor ein Deutungsmodell literarischer Modernisierung, das die Entwicklung der Literatur und das Verhältnis der Literaturen untereinander selbst beeinflussen kann. Ausländischen Journalen wie dem einheimischen Publikum werden Wertungskriterien suggeriert, nach denen Literatur, in der nichts von dem erweiterten Horizont zu verspüren ist, sich aburteilen läßt. Schreiben unter Bedingungen der Weltliteratur ist durch ein höheres Maß an Reflexivität geprägt. Bestimmte Provinzialismen sind nun nicht mehr tragbar, die Weiterverwendung überkommener Techniken ohne Kenntnis der Veränderungen, die ein Land im Bereich der Narration, ein anderes im Bereich der Dramaturgie usw. hervorgebracht hat, provoziert dann berechtigte Kritik. Goethe thematisiert mit Weltliteratur nicht nur das wechselseitige Korrigieren der Literaturen, er stimuliert und forciert es als Partei, im Hinblick auf eine literarische Entwicklung, die seinen Vorstellungen entspricht. Trotz der Einsicht in die Bedeutung solcher Mechanismen wäre es jedoch absurd, das literarische Interesse rein strategisch zu begreifen. Es ist letztlich doch immer »Genuß«, der Verbindungen herstellt, der Goethe an Béranger, Mérimée, Stendhal und Balzac, an Byron, Scott, Cooper und Manzoni >teilnehmen< läßt. Strategische Momente sind zwar nie unwirksam. So liegt Manzoni, um ein Beispiel herauszugreifen, Goethe auch deshalb so am Herzen, weil sich an ihm gegen die neureligiösen deutschen Autoren zeigen läßt, wie ein originär katholischer Dichter eine im besten Sinn eingängige, klare, schlichte Sprache ohne jeden Mystizismus schreibt. Der ausländische Mitstreiter in Goethes inländischer Kunstfehde ist Manzoni aber nur, weil er eben für den Leser Goethe irgendwann zum Ereignis wurde. Nur als ästhetisches Ereignis kann er auch korrigierend auf den Geschmack der deutschen Autoren und Leser wirken.

H a m m (1998), 441. Von »littérature d u monde« spricht später der Schriftsteller Saint-René Taillandier (Strich (1957), 225). Es gibt zwar bis heute vielfältige Ubersetzungsversuche des Wortes >Weltliteratur< in die anderen europäischen Sprachen (world literature, littérature mondiale, letteratura universale etc.), wenn ich recht sehe, ist die direkte Übernahme des deutschen Terminus (»la notion de > Weltliteratur«; »il concetto goethiano di > Weltliteratur««) aber mindestens so gebräuchlich. Mattenklotts überpointierte Feststellung trifft in der Tendenz wohl zu: »Der Begriff wird in andere Sprachen nicht übersetzt, sondern aus dem Deutschen importiert, wie etwa >KindergartenGemütlichkeit< oder >BlitzkriegGenuß< bleibt auch in Goethes letztem Lebensabschnitt eine ethisch maßgebliche Kategorie. Ästhetischer Genuß ist das Einfallstor for Berichtigungen nicht nur des Kunstgeschmacks, sondern auch der kollektiven Einstellungen und Verhaltensmuster in einer Nation. Denn darauf will Goethe, wie seine Skizze einer behutsamen Gallisierung der deutschen Literatur zeigt, in der Tat hinaus. Die Deutschen seien, sagt er im Gespräch, im Lauf der letzten Jahrzehnte vielleicht kultivierter geworden, von einer »höheren Kultur« jedoch noch weit entfernt (Eck, 632). Vor allem gegenüber Eckermann, aber auch in den Wanderjahren häufen sich die Invektiven: ein Volk von ungehobelten Kartoffelessern (vgl. FA 10, 327), dem jede »Art von allgemeiner Durchbildung« (Eck, 284) fehlt; eine Gesellschaft von >ParticuliersSelbstigkeitsdünkel< viel darauf zugute tun, nicht gesellig zu sein. »Die Deutschen [...] gehen jeder seinem Kopfe nach, jeder sucht sich selber genug zu tun; er fragt nicht nach dem andern, denn in jedem lebt, wie Guizot richtig gefunden hat, die Idee der persönlichen Freiheit, woraus denn, wie gesagt, viel Treffliches hervorgeht, aber auch viel Absurdes.« (Eck, 344). Goethes Klagen über die deutsche Tendenz zur »Verisolierung« (ebd.) und die eigentümliche Gesellschaftslosigkeit, die gerade auch die Werke der begabten Nachwuchsautoren prägt, nehmen nach 1800 beständig zu. Im Blick auf die westlichen Nachbarn konstatiert er das Fehlen einer aristokratisch-bürgerlichen Verhaltenskultur, die - wie in Frankreich und England - den gesellschaftlichen Verkehr der Menschen in einem Repertoire gepflegter, nobler Umgangsformen vermittelt. Das drohende Verschwinden des >Repräsentativengute Gesellschaft machen.55 Die Wandeήahre erzählen über weite Strecken von Konflikten, die durch Mangel an »Takt«, durch idiosynkratische Verbissenheit oder aufbrausende Selbstüberschätzung verursacht werden. Wenn deutsche Autoren sich am eingängigen und doch stilbewußten Ton der Franzosen sowie an der Distinguiertheit der Briten orientieren würden, könnten sich — das scheint Goethes Hoffnung gewesen zu sein - bis in die Alltagskultur hinab Veränderungen im Sozialverhalten ergeben. Die Milderung der

Norbert Elias greift bei seiner Darstellung der Genese des nationalen Habitus der Deutschen nicht zufällig auf die Eckermann-Stelle (3. Mai 1827) zurück, in der Ampères Besuch in Weimar geschildert wird; Elias (1978), 33f. An dem blutjungen, aber souveränen, weltläufigen Globe-Mitarbeiter ließ sich ftir Goethe studieren, was deutschen Intellektuellen fehlte.

Weltliterarische Zivilisierung

Deutschlands

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Sitten, von der in den Weltliteratur-Äußerungen die Rede ist, hat Goethe sich zunächst vor allem für das eigene Land gewünscht. Gänzlich abwegig war dieser Gedanke nicht. Gerade der Richardson-Fielding-Sterne-Adept und Werther-Autor Goethe wußte gut, wie ganze Gefühlskulturen durch Literatur geschaffen und modelliert sein können. Für eine erfolgreiche Zivilisierung Deutschlands wäre aber unabdingbar gewesen, daß weite Teile des Bürgertums ihren kulturellen Führungsanspruch im Licht dieser westlichen Werte und Geschmackskriterien gedeutet und ihren sozialen Aufstieg mit deren Durchsetzung verbunden hätten. Dazu kam es aus den bekannten Gründen nicht. Am Ende triumphierte jenes deutsche Konzept von >Bildungäußerlichenhöfisch< diskriminierten Höflichkeit. Auch an diesem Punkt muß man sofort wieder auf Goethes Praxis zurückkommen. Den Tonfall und die Umgangsformen, die gegen das vorherrschende Klima in Deutschland allgemein werden sollen, führt er als öffentliche Person allenthalben vor.56 Der Herausgeber von Kunst und Altertum, der Großautor, der in Weimar die Literaten aller Länder empfängt, der Briefpartner von Carlyle und anderen europäischen Interessenten - in jeder dieser Rollen besticht Goethe durch dermaßen gute Manieren, daß das Umkippen ins Manierierte manchmal fast naheliegt. Wo er sich als Publizist oder offiziöser Repräsentant der deutschen Literatur über »Weltliteratur« äußert, überwiegen deshalb auch die hoffnungsreichen WorteluziferischProjektemacher< ( Faust II, V. 4887f. 6 1 ), der über der habitualisierten Vorwegnahme des Möglichen in der Phantasie die Fähigkeit zur Muße und liebevollen Versenkung in die Fülle der Erscheinungswelt verloren hat. Das veloziferische Moment der Weltliteratur ist von hier aus leicht zu beschreiben. Der Bekenntnisbrief an Zelter vom Juni 1825, der die von den »Fazilitäten« moderner Kommunikation geprägte neue Epoche in düsteren Farben skizziert, faßt zusammen, worin Goethe die Hauptgefahr sah: »daß eine mittlere Kultur gemein werde«, daß die »gebildete Welt« in einem ständigen Uberbietungstaumel schließlich nichts Substantielles mehr hervorbringe, sondern sich und das fügsame Massenpublikum daran gewöhnen werde, »in der Mittelmäßigkeit zu verharren« (FA 37, 277). Da der literarische Austausch zwischen den Nationen sich keineswegs allein an den hehren Kriterien künstlerischer Qualität und kultureller Anteilnahme ausrichtet, wird literarische Konfektionsware den Weltmarkt dominieren: »Was der Menge zusagt wird sich gränzenlos ausbreiten und wie wir jetzt schon sehen sich in allen Zonen und Gegenden empfehlen.« (FA 22, 866) Die »neuste Art momentsweise zerstückt zu lesen« (FA 22, 184) ist dann die vorherrschende Rezeptionshaltung, »kurrente Romane« und anderes »hohles Zeug« (FA 38, 385) deren liebster Gegenstand. Analog zu den anderen Wirtschaftsbranchen haben auch in der Literatur die schnell produzierten, wohlfeilen »Fabrikarbeiten« (FA 37, 407) die besten Absatzchancen. Das ist der erste Punkt. Es geht Goethe aber nicht in erster Linie um die Globalisierung des Trivialen. Noch beunruhigender ist, daß auch begabte Autoren vom Zeitgeist der >Uberreizung< befallen werden können. Der Gefahr, zu sehr auf den Effekt hin zu produzieren, sind - so Goethe in einem Gespräch mit S o r e t - gerade die jungen Poeten Frankreichs im Strudel des Pariser

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Die eindrucksvollste Passage: FA 3 7 , 333f.; für weitere Belegstellen »zum >Veloziferischen< der Gegenwart« vgl. das Register in FA 38, 1204. Zugrunde liegt das ftz. >vélocifère< (Eilpostbeförderung). Vgl. Hennis (1999); Kaiser (1994) 25, 40, 51.

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Deutsche Welterleuchtung oder globaler Ideenhandel?

Literaturbetriebs ausgesetzt. Ihre fruchtbare, gesellschaftskultivierende Publikumsnähe kann allaugenblicklich umschlagen in die fatale Abhängigkeit von einem nervösen, novitätssüchtigen Modegeschmack: Alles wird nur darauf angelegt, dem Leser oder Zuschauer von heute Beifall abzulocken, darunter geht die Eigenart des Schriftstellers zugrunde, das schöpferische Feuer sinkt zusammen; er verkauft seine literarische Ehre. Und was hat er davon? Er überreizt seine Arbeitskraft, seine Phantasie, und erschöpft sich vor der Zeit, zu ruhiger Überlegung, zu stiller Sammlung kommt er nicht, daher auch nie zu völliger Reife; so leuchten und gehen sie alle dahin wie Meteore, ein Blitz, ein Glanz, und alles ist vorüber. (FA 38, 242)

Ein Korrektiv gegen die mit Sorge beobachtete »Verwahrlosung des Theaterrepertoires« u n d die »Verwilderung der Theaterschriftsteller« in Paris (FA 38, 243; vgl. auch ebd. 99) wäre frankreichintern - so lassen sich die vagen Hinweise in diesem Gespräch interpretieren - die Besinnung auf die klassizistische Tradition. Ein anderes, vielleicht noch wirksameres (aber das wird nicht ausdrücklich gesagt) könnten behutsame kritische Hinweise aus Weimar sein (die eventuell wieder Reaktionen aus anderen literarischen Metropolen auslösen würden). D e n n so ließ sich für Goethe wohl am ehesten »die Verehrung, die Frankreichs junge Dichter u n d Künstler dem Patriarchen der deutschen Literatur darbringen« (Soret; FA 38, 241), in einen weltliterarisch heilsamen Faktor verwandeln. Noch bei Goethes wüstesten Ausfällen gegen - in seinen Augen - pathologische Entwicklungstendenzen der jüngsten französischen Literatur ist diese Perspektive der Korrektur, des wechselseitigen >Zu-Hülfe-Kommens< (bewußt oder unbewußt) das ausschlaggebende M o m e n t . »Auch ist die Bemerkung nicht zu versäumen daß mit d e m Romantischen zugleich das Krankhafte bey ihnen [den Franzosen; M.K.] überhand g e n o m m e n u n d daß von uns doch eher Genesung zu hoffen ist da jene schon ganz u n d gar in Fäulniß u n d Verwesung überzugehen angefangen.« (FA 22, 723) Diese Bemerkung, datiert auf den »11. Septbr. 1829«, wird im selben Jahr flankiert von einer Schar großteils unpublizierter Attacken gegen das, was Goethe für ultraromantische Auflösungsliteratur hielt. Das dubiose Herrscherwort »Das Klassische nenne ich das Gesunde u n d das Romantische das Kranke« (Eck 332, 2. Apr. 1829; vgl. FA 13, 239) äußert er in einem Gespräch »über die neuesten französischen Dichter« (Eck, 332). Auch an dieser Stelle läßt er aber keinen Zweifel daran, daß es u m die französische Literatur in der sich bildenden Weltliteratur geht. D a ß die >Nacht- u n d Grabdichten aller Länder sich wechselseitig stimulieren u n d zur machtvollen europäischen Ström u n g vereinigen, ist einer der sinistren Effekte des neuen, teuflisch weitverzweigten u n d beschleunigten Literaturbetriebs. Paris, die Kapitale der modernen Überreizung, ist nur der exemplarische O r t für die in mehreren Ländern sich abzeichnende H i n w e n d u n g zu einer Dichtung der Verunstaltung, des Schauerlich-Grotesken, des Morbiden u n d Makabren. 6 2 »Engländer u n d Franzosen haben uns darin überboten, Körper die

Harald Fricke nennt in seinem Kommentar als repräsentative Autoren, die Goethe wohl vor Augen hatte, für Deutschland E. T. A. Hoffmann (mit Vorbehalt), für Britannien William

Veloziferische Zustände

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bey Leibesleben verfaulen und sich in detaillirter Betrachtung ihres Verwesens erbauen. Todte, die zum Verderben anderer am Leben bleiben und ihren Tod am Lebendigen ernähren, dahin sind unsre Producenten gelangt.« (FA 13, 239) Unter Bedingungen veloziferischer Kommunikation werden solche »Krankheitsfälle«, wie das nächste Notât festhält, rasch »endemisch und epidemisch« (ebd.). Auf der anderen Seite progrediert aber auch die weltliterarische Medizin: die massive Ausbreitung des Unheils kann nicht weniger schnell und publizistisch breitenwirksam angegangen werden. Die holzschnittartige Unterscheidung von >romantisch/krank< und >klassisch/gesund< wird von Goethe offenbar im Hinblick auf die strategische Brauchbarkeit von Begriffen in diesen übernationalen literarischen Richtungskämpfen getroffen. Im Gespräch mit Eckermann betont er ja ausdrücklich, er habe unabhängig von dem, was gewöhnlich unter >klassisch< und >romantisch< verstanden werde, eine neue Definition gefunden (»mir ist ein neuer Ausdruck eingefallen«). Jede historische und ästhetische Differenzierung (die in einem spezifisch theoretischen Kontext weiter erfolgen kann) wird beiseitegeschoben, um das Begriffspaar proklamatorisch zur Markierung einer letzten Geschmacksgrenze einzusetzen, die die europäischen Literaturen bei ihren vielfältigen Experimenten und Innovationen nicht überschreiten sollen.»Klassische« Werke kann demnach ohne weiteres ein Autor produzieren, der in einem spezifischeren Sinn dem romantischen Lager zuzurechnen ist. Weit davon entfernt, den Graben zwischen Klassizisten und Romantikern zu vertiefen, zielt Goethes Diktum eher auf eine Verflüssigung dieser Entgegensetzung in der gemeinsamen Abhebung von »tüchtigen« Autoren unterschiedlicher Provenienz gegen den ästhetischen Exzeß (bzw. das, was ihm als solcher erschien). Wie schwierig die Trennlinien konkret zu ziehen sind, die das simple Raster r o m a n tisch-pathologisch* vs. >klassisch-stark< vorzugeben scheint, zeigt Goethes Reaktion auf die drei großen französischen Romane des frühen 19. Jahrhunderts, die er in seinen letzten Lebensjahren las. Für Dezember 1830 ist die Lektüre von Stendhals Le rouge et le noir vermerkt (FA 38, 343; vgl. 794), für Juni 1831 die Beschäftigung mit Victor Hugos Notre-Dame de Paris (ebd., 411), am 9. Oktober desselben Jahres schließlich beginnt Goethe, Balzacs La Peau de chagrin zu lesen (ebd., 474f.). Alle drei Romane lassen sich, wie Goethes Wanderjahre, als literarische Gestaltungen moderner Mobilität begreifen; die zwei Paris-Romane von Balzac und Hugo hat Goethe offenbar kontrastiv im Sinn seiner >gesund/krankÜbereilung< aufgeführt wird. 63 Goethes Angst vor den deformativen Kräften des großstädtischen Lebens, die er auch in der überhitzten Phantasie vieler Pariser Autoren am Werk sah, erklärt seine fast panische Reaktion auf Hugos großen Roman. Entsetzt über jenes Ensemble von Mißgestalten, Exzentrikern, Verbrechern, Huren und Heiligen, das Notre-Dame de Paris am Leser vorbeiparadieren läßt, bleibt ihm nur die Möglichkeit, Hugos unleugbare Sprachgewalt ex negativo anzuerkennen: die Ausnahmebegabung, die ästhetische Ungeheuer gebiert. Was führt demgegenüber zu Goethes >Teilnahme< an La Peau de chagrin, einem Roman, in dem Rastignac, der Freund des Protagonisten Raphaël de Valentin, sich mokiert über eine dicke Elsäßer Witwe, die sich in die »deutsche Rührseligkeit« verliebt hat und »ganze Wolkenbrüche weint, wenn sie Goethe liest«?64 Die Frage ist angesichts der spärlichen Kommentare in den Briefen und Tagebüchern nur hypothetisch zu beantworten. Zweifellos war Goethe neugierig allein aufgrund des Teufelspaktmotivs, das Balzac in genialer Manier auf das Inferno der Großstadt bezogen und ausdrücklich mit dem Goetheschen Faust in Verbindung gebracht hatte. 65 In den Jahren, in denen Goethe den Faust des Zweiten Teils mit teuflischer Hilfe eine fieberhafte Umwälzung der herkömmlichen, vertrauten Ordnungen vollbringen läßt, begegnet

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Zur Ambivalenz von Idealisierung und Dämonisierung der Metropolen bei Goethe vgl. Boerner (1988). »Elle lit Kant, Schiller, Jean-Paul, et une foule de livres hydrauliques. Elle a la manie de toujours me demander mon opinion, je suis obligé d'avoir l'air de comprendre toute cette sensiblerie allemande, de connaître un tas de ballades, toutes drogues qui me sont défendues par le médecin [...] elle pleure des averses à la lecture de Goethe [...]..« Balzac (1979), 167; Herv. M. K. Ebd., 222.

Das Rettende in der Gefahr

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ihm bei Balzac eine Figur, die sich in diabolischer Selbstzerstörungslust dem grenzenlosen Tosen der Großstadt Paris ergibt. Raphaels Schwindsucht, die zugleich das unaufhaltsame Schwinden des Chagrinleders und darin die Furie des Verschwindens als geheimes Prinzip des modernen Fortschritts ist, wird von den ohnmächtigen Ärzten am Ende vor allem an zwei physischen Symptomen festgemacht: permanente »Uberreizung« und »Uberhitzung«.66 Goethe muß an La Peau de chagrin die tiefe Affinität des Autors Balzac zur eigenen Modernitätskritik gespürt haben. Wie Goethe geht Balzac davon aus, daß der Mensch unter allen Lebewesen durch eine anthropologische Veränderungsenergie gekennzeichnet ist, die rein als solche aber erst unter Bedingungen der Moderne hervortritt.67 Menschliche Gestaltungsfähigkeit wird nun zur exzessiven Praxis permanenter Umgestaltung, das anthropologisch konstitutive >Machen< (colere) der eigenen Lebensumstände zum Machbarkeitswahn. Wie Goethe setzt auch Balzac gegen den besinnungslosen Taumel moderner Zeitverkürzung seine »Idee des langsamen Lebens«.68 La Peau de chagrin entfaltet sie an der mythischen Figur des Antiquars,69 der ostentativ - und gerade aus seinem unheimlichen, prophetischen Wissen um die infernalische Dynamik der modernen Welt heraus — sich auf die Position des Sammlers und Betrachters zurückgezogen hat. Wie weit Goethe in diesem weissagenden Dichter-Antiquar eine Spiegelung seiner Figurationen panoramatisch-schwebender Altersweisheit gesehen hat, wissen wir nicht. Die Nähe zu Balzacs Konzept einer therapeutischen Verlangsamung und kontemplativen Sistierung des modernen Lebens dürfte es ihm jedenfalls leicht gemacht haben, sich auch mit der »schnellen« Kombinatorik dieses Autors zu befreunden. Den romantischen Paris-Roman in der Form der »Arabeske« — La Peau de chagrin — hat Goethe begrüßt, den romantischen Paris-Roman in Form der »Groteske«70 — Notre-Dame de Paris — mußte er um seiner basalen Uberzeugungen vom Heilen, Unversehrbaren des menschlichen Körpers willen von sich weisen. Das Rettende in der Gefahr In den kulturpessimistischen Äußerungen zur Weltliteratur dominiert eine ozeanische (Sintflut, breite Tagesflut des Gedruckten etc.) oder militärische Metaphorik. Auf die Frage, wie man sich am besten freischwimmt bzw. gegen die »anmarschierende Weltli-

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»De là«, so lautet die Diagnose des berühmten Doktors Brisset, »partent des irradiations constantes et flagrantes, le désordre a gagné le cerveau par le plexus nerveux, d'où l'irritation excessive de cet organe.« Ebd., 260. Dieser skizzenhafte Vergleich stützt sich für Goethe auf die Interpretation von Kaiser (1994; dort S. 10—17 die Ausführungen zur »anthropologischen Veränderungsenergie«), fur Balzac auf diejenige Stierles (1998), v.a. 509-514. Stierle (1998), 510. Vgl. ebd., 432f. Auch diese kategoriale Unterscheidung der beiden Romane übernehme ich von Stierle; vgl. ebd., 440 (Balzac); 521-529 (Hugo).

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Deutsche Welterleuchtung oder globaler Ideenhandel?

teratur« (FA 38, 99) behauptet, gibt Goethe keine einheitliche Antwort. In einer kleinen Denkschrift, die er 1829 fur den Berliner Juristen und de Stael-Übersetzer Julius Eduard Hitzig aufsetzt,71 macht Goethe unverhohlen klar, dal? man der >Flut< nicht ausweichen sollte. Weltliterarische Anteilnahme ist ein hartes Stück Arbeit. Um die »schöne Literatur einer fremden Nation« zu würdigen, müsse man sich »den Komplex ihres ganzen Zustandes [...] vergegenwärtigen«. Das bedeutet: Zeitungen lesen, Standardwerke der Allgemein- und der Geistesgeschichte studieren (für Frankreich nennt Goethe Guizot, Villemain und Cousin), und - um jederzeit zu wissen, was die Franzosen augenblicklich »von sich selbst und von den übrigen Nationen« denken — die »schneller erscheinenden Blätter und Hefte« wie Le Globe, La Revue française und Le Temps beziehen (alle Zitate FA 38, 192f.). Das extensive, an der Front der Aktualität sich vorankämpfende Lesen, wie Goethe selbst es ostentativ an Le Globe (und später Le Temps) vorexerziert hatte, wird hier ohne Einschränkung einem weltliterarisch orientierten Lektürezirkel verordnet. Das veloziferische Durcheinander im neuesten Schrifttum ist demnach nicht durch Ignoranz, sondern nur durch weitestmögliche Umsicht und Aufnahme zu bewältigen.72 In der Hitzig-Denkschrift sieht Goethe den ausschlaggebenden Vorteil schon in der Selbstaufklärung, die die ausländische Publizistik und Literatur der einheimischen Intelligenz zuteil werden läßt; »daß wir uns mit ausländischen Dichtern in Korrespondenz setzen wollten« (ebd.), ist gar nicht vonnöten. In anderen Äußerungen überwiegt hingegen die genossenschaftliche Tendenz: »die lebendigen und strebenden Literatoren« sollen demnach einander möglichst persönlich »kennenlernen und durch Neigung und Gemeinsinn sich veranlaßt finden gesellschaftlich zu wirken« (FA 25, 79). Das Ziel ist in beiden Fällen dasselbe: Aus der Flut der Publikationen in den europäischen Ländern sollen durch wechselseitige Lektüre, Auslegung und Bewertung die haltbaren Texte ausgesondert werden, die Masse des Trivialen oder modernistisch Überdrehten muß beiseite geschafft werden, um das »Vortreffliche* festzuhalten. In den Entwürfen zur Einleitung für Carlyles Schiller-Buch schreibt Goethe, daß »es überall auf der Welt solche Männer [giebt] denen es um das Gegründete und von da aus um den wahren Fortschritt der Menschheit zu thun ist« (FA 22, 866). Was den »wahren Fortschritt der Menschheit« ausmacht, verdeutlichen die folgenden Sätze: Es handelt sich um ein besonnenes, im Alten »gegründetes* Progredieren, im Gegensatz zu der sinnleeren Geschwindigkeit, die der reale Fortschrittsprozeß angenom-

Hitzig hatte 1824 in Berlin eine »Gesellschaft fur in- und ausländische Literatur« gegründet, der Schriftsteller, Künstler, Übersetzer und interessierte Gebildete angehörten (darunter Freunde Goethes); Carlyle wurde 1830 ehrenhalber zum »Fellow« dieses Kreises ernannt (vgl. FA 38, 401). Mit der zunehmenden Politisierung des Globe nimmt allerdings Goethes eigenes Engagement zum Ende des Jahrzehnts hin deutlich ab. Ab 1830 verkündet der Alte immer wieder, daß er Le Globe lind Le Temps und überhaupt die Tagespresse nicht mehr zur Kenntnis nehme; vgl. FA 38, 238; 248; 258; 291; 302; 349. Wenn es allerdings Mitte 1831 heißt, er habe das Zeitungslesen »seit drei Monaten« eingestellt (ebd., 472), läßt sich daraus schließen, daß es zu Rückfällen gekommen sein muß.

Das Rettende in der Gefahr

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men hat. Die Autoren, auf die die H o f f n u n g zu setzen ist, sind deshalb Verlangsamer: »Aber der Weg den sie einschlagen der Schritt den sie halten ist nicht eines jeden Sache; die eigentlichen Lebemenschen wollen geschwinder gefördert seyn und deshalb lehnen sie ab und verhindern die Förderniß dessen was sie selbst fördern könnte.« (ebd.) A m Ende spricht Goethe diesen Weltbund der Verständigen in beinahe religiösem Tonfall an: D i e Ernsten müssen deshalb eine stille, fast gedrückte Kirche bilden, da es vergebens wäre der breiten Tagesfluth sich entgegen zu setzen; standhaft aber m u ß man seine Stellung zu behaupten suchen bis die S t r ö m u n g vorüber gegangen ist. D i e Haupttröstung ja die vorzüglichste E r m u n t e r u n g solcher M ä n n e r müssen sie darin finden, daß das Wahre auch zugleich nützlich ist; wenn sie diese Verbindung nun selbst entdecken und den Einfluß lebendig vorzeigen und aufweisen können, so wird es ihnen nicht fehlen kräftig einzuwirken und zwar auf eine Reihe von Jahren. (FA 2 2 , 866f.)

Der defensive Charakter des Weltliteraturprogramms ist an dieser Stelle deutlich zu greifen. Wirkliche H o f f n u n g wird letztlich auf Individuen gesetzt, die die Kraft haben, ihre »Stellung zu behaupten«. Dieses Standhalten ist fur Goethe beileibe kein Verharren auf unverrückbaren Positionen. Auch die Besonnenen, die Anspruch auf Mitgliedschaft in dieser stillen Kirche machen können, sind »mobile Individuen« (FA 34, 558) des 19. Jahrhunderts, offen für neue Entwicklungen der internationalen Literatur und jederzeit bereit, Vielversprechendes zu fördern. 7 3 Was sie auszeichnet, ist jedoch die Fähigkeit, den literarischen Tagesbetrieb von vornherein aus einer gewissen Distanz zu überschauen, sich von den Aufgeregtheiten der konkurrierenden Strömungen und ihrer Reklamemacher nicht mitreißen zu lassen und zielsicher aus der Masse des Erscheinenden das Vortreffliche herauszugreifen. Goethe hat, so stellt er es selbst gern dar, eine solche »panoramic ability« 74 allein aufgrund seines Alters: beinahe ein Jahrhundert umfaßt seine Lebensgeschichte, und geistig lebt er sowieso in Jahrtausenden (vgl. Eck, 253). Der veloziferische Literaturbetrieb der Gegenwart kann ihn kaum konfus machen. Für eine Erweiterung und Klärung des Blicks sorgen aber auch die weltliterarischen Mechanismen selbst. Zwar vervielfältigt sich die Schriftproduktion ins Unabsehbare, in gleichem Maßstab aber multiplizieren sich auch die Kontakte derjenigen, die die Übersicht behalten. Die Beschleunigung der modernen Kommunikationsverhältnisse hat das Gute, daß die Entschleuniger schneller zueinander finden und effektiver zusammenwirken können: »diejenigen aber die sich dem höheren und dem höher Fruchtbaren gewidmet haben werden sich geschwinder und näher kennen lernen«. (FA 22, 866) Diese Doppelgesichtigkeit des Fortschritts beobachtet Goethe auf mehreren Ebenen. Die modernen Reproduktionsmittel, die die typographische Sint-

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Weber (1977), 6 1 1 , bringt zu Recht Goethes »stille Kirche< in Verbindung mit Diderots »unsichtbarer Kirche