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German Pages 200 Year 2004
Von der Pansophie zur Weltweisheit Goethes analogisch-philosophische Konzepte
Von der Pansophie zur Weltweisheit Goethes analogisch-philosophische Konzepte Herausgegeben von Hans-Jürgen Schräder und Katharine Weder in Zusammenarbeit mit Johannes Anderegg
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2004
Publiziert mit Unterstützung der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-10863-0 © Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2004 http://www.tiiemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimm u n g des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Johanna Boy, Brennberg Druck: Guide-Druck GmbH, Tübingen Einband: Norbert Klotz, Jettingen-Scheppach
Inhalt
Hans-Jürgen Schroder, Katharine Weder Vorbemerkung
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Jean Starobinski Goethe und das Begriffspaar Aktion - Reaktion
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Christa Habrich Von der Alchemie zur Förderung der chemischen Wissenschaft und Technik Goethe zwischen hermetischem Denken und Pragmatismus
9
Margrit Wyder Von der Stufenleiter der Wesen zur Metamorphosenlehre Goethes Morphologie und ihre Gesetze
31
Irmtraut Sahmland »Die Natur in einer schönen Verknüpfung«: Goethes Adaption der »Aurea Catena Homeri«
55
Maximilian Bergengruen Der Sündenfall im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit Zum Teufel mit dem hermetischen Wissen in Goethes Faust I
85
VI
Inhalt
Karl Pestalozzi »... dieses Ganze || ist nur für einen Gott gemacht« Zum Problem des Ganzen bei Goethe (mit Blick auf Karl Philipp Moritz)
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Armin Westerhoff Zwischen Ganzheits- und DifFerenzdenken Goethes Analogie-Verständnis mit Blick auf »Wilhelm Meisters Wanderjahre«
129
Katharine Weder Sympathetische Verbindung: Zum Magnetismus in der Natur, zwischen Körpern und Seelen bei Goethe
147
Johannes Anderegg »Freudig trete herein und froh entferne dich wieder!« Uber Goethes Wahrnehmung von zyklischer Zeit
173
Vorbemerkung
M i t ihrer Vortragsfolge »Von der Pansophie zur Weltweisheit. Goethes analogisch-philosophische Konzepte«, die am 8. und 9. N o v e m b e r 2002 in Zusammenarbeit mit der Faculte des Lettres an der Universite de Geneve stattfand, hat die 1997 in Zürich gegründete Goethe-Gesellschaft Schweiz erstmals eine Tagung in der frankophonen Westschweiz durchgeführt. Vorangegangen waren nach zwei Zürcher Jahresveranstaltungen zu philologisch-interpretatorischen Fragen des »West-östlichen Divan« bzw. zu Gender-Aspekten in den »Wahlverwandtschaften« und den »Wanderjahren« ein erstes umfänglicheres Symposion zum 250. Goethe-Geburtstag 1999 in Verbindung mit der Universität Basel (und in deren Hallen) über »Goethe-Rezeption in kritischer Zeit. Döblin, Jaspers und Thomas Mann zwischen den Jubiläen 1932 und 1949«. Das Modell ein- bis zweitägiger Vortragsveranstaltungen in Verbindung mit Universitäten und Hochschuleinrichtungen bewährte sich auch in den nachfolgenden Jahrestagungen 2000 in Bern (eine Kooperation mit der Hochschule für Musik und Theater: »Goethe und die Musik - Goethe in der Musik«) und 2001 in St. Gallen, wo neben Literaturwissenschaftlern auch Poeten (Alois Brandstetter, Ulrike Längle, Adolf Muschg) »Goethes (schweizerische) Landschaften« reflektierten. Die St. Galler Tagung — am östlichen Rande der Schweiz — war (in gemeinschaftlicher Federführung von Johannes Anderegg und Hans-Jürgen Schräder) von Anfang an mit der Genfer im Jahr darauf - im Westzipfel des Landes - als ein Tandem geplant, beide Male ermöglicht durch großzügige Zuschüsse seitens der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW). Während die Beiträge der früheren Tagungen über die öffentlichen Anlässe hinaus partiell in Fachzeitschriften publik gemacht wurden, ergab sich aus der Pansophie-Tagung spontan der Wunsch, die hier vorgestellten interdisziplinären Zugänge zu einem in der Forschung weniger häufig bedachten bedeutsamen Quellgrund des Goetheschen Denkens und Werks aus germanistischer, philosophischer und theologischer, aus medizin-, pharmazie- und wissenschaftsgeschichtli-
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Hans-Jürgen Schräder, Katharine Weder
eher Kompetenz nicht zu zerstreuen. Diesem Bestreben, der zügigen Mitarbeit der Beitragenden sowie der redaktionellen Betreuung durch Katharine Weder verdankt sich der vorliegende Themenband. Auch das französisch Vorgetragene wird darin in deutscher Ubersetzung vorgelegt. Hinter den heute fremd gewordenen, vielleicht geheimnisvoll klingenden Formeln »Pansophie« und »Weltweisheit« verbirgt sich keineswegs eine obskure Geheimlehre oder gar eine sektiererische Heilsbotschaft. Beides sind vielmehr die historisch geläufigen Formeln für Erkenntnisbestrebungen und philosophische Reflexion zwischen früher Neuzeit und Goethezeit. »Pansophie« ist bei all jenen Vordenkern an der Schwelle der Neuzeit, an denen sich Goethes Denken früh und nachhaltig entzündet hat, die Bezeichnung für das Bemühen um eindringende Erkenntis in den Gesamtbereich der Schöpfung, die sich zugleich spiegelt in der Natur und den Bestrebungen des Menschen. Beispielhaft steht dafür als große Vermittlungsposition Paracelsus. Mit ihm, seiner gesamtforschenden und allforschenden Naturkunde, in der die Philosophie, Naturwissenschaft und Theologie, die Physik und Metaphysik noch nicht in unverbundene Sparten auseinandergefallen sind, teilt Goethe die Suche nach dem Fundament dessen (wie es im Eingangsmonolog des »Faust«, Vs. 382f. heißen wird), »was die Welt II Im Innersten zusammenhält.« »Weltweisheit« dagegen (in dieser Bedeutung begrifflich belegt seit dem 16. Jahrhundert) ist der deutsche Name der Philosophie besonders in Goethes eigener Zeit, im 18. und noch im frühen 19. Jahrhundert, zwischen Leibniz, Christian Wolff und Gottsched, zwischen Kant, Semler und Spalding sowie den Naturphilosophen der Romantik. In der Ankündigung der Tagung hatten wir ein neues Befragen von Goethes gedanklichem und poetischem Verarbeiten so divergenter Anregungen in Aussicht gestellt. Vorrangig solle es darum gehen, einige Grundüberzeugungen, Lieblingsvorstellungen oder literarische Motive Goethes in ihrem Spannungsfeld von Alt und Neu zu beleuchten. Positioniert werden diese zwischen einerseits den vor allem in Goethes Jugend (insbesondere während der Frankfurter Krankheitskrise) aufgenommenen, doch bis ins Alter immer wieder neu bedachten vor- oder frühmodernen Traditionen einer ganzheitlichen Weltdeutung (neuplatonische, mystische, paracelsische, spiritualistische Anregungen und Lektüren) und andererseits den mit wachem Interesse verfolgten philosophisch-naturwissenschaftlichen Tendenzen seiner eigenen Zeit. Stichwörter wie analogisches Denken, MikrokosmosMakrokosmos-Bezug, Polarität und Steigerung, aber auch Inspiration, magische, alchimistische, sympathetische Traditionen lassen erkennen, daß es dabei nicht nur um Denkinhalte, sondern auch um Methoden der Erkenntnis geht. Gerade die jüngste Goethe-Forschung, das, was in Kolloquien, Ausstellungen, Monographien und Kommentaren rings um das Goethe-Jubiläum von 1999 neu
Vorbemerkung
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in den Blick getreten ist, hat den erstaunlichen Sachverhalt klarer hervortreten lassen: Nicht nur hat Goethe sich im jugendlichen Formieren seines Weltbildes sehr viel tiefer noch, als dies seine vorsichtig distanzierende autobiographische Rückschau »Dichtung und Wahrheit« einbekennt, in die Traditionen eines längst außer Kurs geratenen spekulativen Weltzusammenhang-Denkens aus Renaissance und Humanismus (und durch sie vermittelt, aus Mystik und Neuplatonismus) hineingedacht (bis hin zu zeitweilig intensivem alchimistischem und magischem Experimentieren). Vielmehr hat er die Grundlagen an Uberzeugungen, die er in früher Jugend dorther gewonnen hatte, bis ins höchste Alter (nach oft längerem zeitlichen Zurücktreten) in mancherlei Abwandlung beharrlich festgehalten, so daß sie noch seine späten Gespräche, namentlich gegenüber dem getreulichen Sekretarius Eckermann, und — jenseits der »Wanderjahre« — insbesondere die Schlußszenen des »Faust« tingieren. Diese Denkmuster zu durchschauen, ist ebenso fundamental für das Verständnis seines poetischen Werks wie seiner gesamten naturwissenschaftlichen Arbeit, die er bekanntlich selbst zeitweise für gewichtiger und bedeutsamer gehalten hat als sein dichterisches Schaffen. Gleichartige Entstehungsgrundlagen, analoge Baumuster und Entwicklungsimpulse hat er im Größten wie im Kleinsten des Kosmos wirksam gesehen: Nach solchen Analogien sucht er in seinem naturwissenschaftlichen Bemühen um Stein und Blatt, um Wolke oder Zwischenkieferknochen und im Lichtspiel der Farben, oder, um die Wissenschaftssparten zu benennen, in seinen Arbeiten zur Mineralogie und Botanik, zur Meteorologie und Osteologie sowie in der Entoptik- und Chromatik-Forschung seiner Farbenlehre. Die Poesie aber ist das in Bild und Andeutung, dichterischer Umkleidung und Gleichnis angemessene Medium, das zum Ausdruck und zur ahnenden Anschauung zu bringen, was sich dem eindeutigen experimentellen Erweis entzieht oder durch jede begriffliche Fixierung vergröbert und eingeschränkt würde. Halbverhüllt kann sie auch das benennen, was als zu profund, geheimnisvoll, gar geheim, erscheint, als daß es durch Promulgation vor unverständigem Publikum banalisiert werden dürfte: »Sagt es keinem, nur den Weisen, II Weil die Menge gleich verhöhnet.« Die Fragen nach Goethes Eintreten in die Traditionen frühneuzeitlichen Denkens und nach deren Abwandlungen in seinem Werk sind außer in den drei großen »Faust«-Kommentaren der letzten Jahre (Albrecht Schöne, Jochen Schmidt, Ulrich Gaier) besonders im Goethe-Jahr 1999 nochmals in ein neues Licht getreten durch die Ausstellungen der Franckeschen Stiftungen in Halle über Goethes theologisch-frömmigkeitliche Hintergründe und Kontexte (»Separatisten, Pietisten, Herrnhuter. Goethe und die Stillen im Lande«) sowie durch den ebenfalls in Halle durchgeführten, mittlerweile in einem Themenband dokumentierten
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Hans-Jürgen Schräder, Katharine Weder
Kongreß »Goethe und der Pietismus« (Hg. v. Hans-Georg Kemper und Hans Schneider, Tübingen 2001, Hallesche Forschungen, Bd. 6) und durch Paul Raabes verdienstvolle Anthologie jener Schriften, Briefe und Äußerungen Goethes, die vornehmlich auf Religion, Pansophie und Frömmigkeit Bezug haben (Goethe: Träume und Legenden meiner Jugend, Texte über die Stillen im Lande, Leipzig 2000, Kleine Texte des Pietismus, Bd. 3). Uberall dort, aber auch andernorts wurden neue Forschungen und Einsichten vorgestellt über Goethes jugendliche Auseinandersetzungen mit alchimischer und magischer Tradition, seine späteren Experimente mit magnetischen und elektrischen Polaritäten, in denen er wie seine oft obskuren Gewährsleute die Grundimpulse für Leben und Veränderung suchte, Wechselwirkungen von Kräften und Gegenkräften, Kontraktion und Entspannung, Systole und Diastole, die Goethe im Atemholen ebenso wirksam sah wie in Ebbe und Flut, im Rhythmus der wechselnden Jahreszeiten. Die intensive Auseinandersetzung mit der frühneuzeitlichen theosophischen Tradition, von der Goethe in »Dichtung und Wahrheit« mit Recht betont, daß er »ihren Stammbaum in gerader Linie bis zur neuplatonischen Schule verfolgen konnte« (»Der neue Piatonismus lag zum Grunde; das Hermetische, Mystische, Kabbalistische gab auch seinen Beitrag her, und so erbaute ich mir eine Welt, die seltsam genug aussah«), diese Auseinandersetzung verbindet ihn in der eigenen Zeit mit den Weltdeutungsbemühungen der romantischen Naturphilosophen, mit Schelling, Baader, Ritter, Hufeland, Schubert, mit denen er teilweise auf Zeit enge Kontakte unterhält, von denen er aber doch auch - fern ihrem Enthusiasmus einer hemmungslosen Spekulation - markierten Abstand wahrt. Hierfür gab, auch im Goethejahr, die Frankfurter Ausstellung im »Freien deutschen Hochstift« über »Goethe und die Romantik« neuen Anschauungsunterricht ebenso wie die auf Goethes Wirken in der Naturwissenschaft ausblickenden Expositionen in Weimar (Stiftung Weimarer Klassik) und in Düsseldorf (Goethe-Museum). Als neue umfassend-monographische Studie auf diesem Feld sei hingewiesen auf die kurz zuvor erschienene Abhandlung von Margrit Wyder: Goethes Naturmodell. Die Scala Naturae und ihre Transformationen, Köln - Weimar - Wien 1998. Neben die Denkimpulse aus so ferngerückter, in ihren pietistischen, arkanspiritualistischen oder romantisch-spekulativen Transmissionen ftir Goethe aber noch sehr gegenwärtiger Tradition tritt bei ihm zeitlebens eine ebenso wache und fruchtbare Auseinandersetzung mit den (weithin aufklärungsentwachsenen) Positionen der zeitgenössischen Philosophie. Ihnen bleibt er in aller Abwehr populäraufklärerischer Seichtigkeit doch entschieden verbunden durch seine beständige Teilhabe an der idealistischen Suche nach kritisch bewährter Gewißheit und Bestimmungssuche. Auch hierfür sei beispielhaft eine neue, ebenfalls im
Vorbemerkung
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Jubiläumsjahr erschienene Monographie genannt, Laurent Van Eynde: Goethe lecteur de Kant, Paris 1999. N u r die Eckpunkte freilich können wir in den Blick bringen von dem unermeßlichen Feld der Einflußlinien aus alt-pansophischer wie aus neuer, weltweisheitlicher Tradition. U n d auch die versammelten Beiträge aus sehr unterschiedlichen Disziplinen und Perspektiven können jeweils nur Ausschnitte dieses Feldes erhellen, müssen etliche Aspekte des T h e m a s gar unberührt lassen. Z w e i Beiträge der Fachphilosophen, die die Vermittlungswege der neuplatonischen Anregung bis zur Romantik und die Begegnungen mit der jüngeren Schulphilosophie neu überschauen wollten, kamen krankheitshalber nicht zustande, sind aber durch anderweitige Blickwinkel, die sonst vermißt worden wären, trefflich suppliert. Schließlich ist es Johannes Anderegg nicht allein zu verdanken, daß er das Unternehmen Schritt für Schritt mitbedacht und in die Wege geleitet hat, sondern daß er überdies für einen Beiträger, dessen Manuskript nicht rechtzeitig zur Druckreife gelangt war, eingesprungen ist, indem er diesem Band seine just in diesen Themenbereich fallende ί ε ς ο η d'adieu bei seiner Emeritierung 2003 in St. Gallen überläßt. Ausdrücklich hinweisen wollen wir darauf, daß wir bei den Vorgaben zur Manuskripteinrichtung und beim behutsam-internenVereinheitlichen der Beiträge die Entscheidung über die Wahl der »alten« oder »neuen« Rechtschreibnorm den Beiträgern (mit dankenswerter Zustimmung des Verlags) bewußt anheimgestellt haben. Dies schien uns geboten in einer Situation, die nicht nur im Ubergang beide Optionen freiläßt, sondern in der bei noch erregtem Diskussionsstand, weitgehender Nichtakzeptanz in Publizistik und Sprachgemeinschaft und variantenreichen Sonderregelungen der Medien (vgl. den aktuellen Zwischenbericht im Themenheft der »Schweizer Monatshefte« 83/11, Nov. 2003, »Die deutsche Sprachverwirrung. Fehlkonzept Rechtschreibreform«), die Vorläufigkeit auch des Neuverfiigten vernünftigerweise nicht in Zweifel steht. Wenn das in den Vorträgen so anregend Verlautbarte nun in ausgearbeiteter Form an Leserschaft und Forschung übergeben werden kann, sei der D a n k nicht vergessen, nicht allein an alle Mitwirkenden, die ihre Beiträge so rasch auch publikationsreif bearbeitet haben, an die maßgeblich an Vorbereitung und Redaktion beteiligte Mitherausgeberin Katharine Weder und den bei der Planung stets förderlich anstoßgebenden St. Galler Freund und Kollegen Johannes Anderegg, der die Tagung durch seine Moderation ebenso mit zum Erfolg geleitet hat wie dankenswert auch unser Zürcher Kollege Michael Böhler. Dank vielmehr gebührt ebenso der Genfer Faculte des Lettres und ihrem die Tagung mit einem substantiellen Grußwort eröffnenden Dekan Charles Genequand, auch fur den großzügigen finanziellen Zuschuß für die Veranstaltung und das Publikmachen
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Hans-Jürgen Schräder, Katharine Weder
ihres Ertrags, dem Departement de langue et de litterature allemandes u n d ihrem in der Zeit der Planung und Durchführung des Kolloquiums amtierenden Direktor Markus Winkler für mancherlei Unterstützung, schließlich dem Vorstand der Goethe-Gesellschaft Schweiz, namentlich deren für dieses Vorhaben hochengagiertem neuem Präsidium, Margrit Wyder und Markus Zenker, insbesondere aber der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften sowie dem Niemeyer Verlag, ohne deren Bei- und Mithilfe unsere Pläne nicht realisierbar geworden wären. Die Herausgeber
Jean Starobinski
Goethe und das Begriffspaar Aktion — Reaktion*
Goethe ist Dichter, zugleich aber spricht er auch die Sprache der Wissenschaft, mit der großen Ausnahme der Mathematik. I m Bereich der Wissenschaft hat er sich für die organisch-vitalistische Orientierung entschieden - eine polemische Wahl, die ihn sensibel macht für den Einsatz, den die jeweilige wissenschaftliche Begrifflichkeit ins Spiel bringt. Er weiß um den Grad an Vorentscheidungen, die bereits mit der Übernahme eines begrifflichen Werkzeugs für die Beantwortung einer jeden Frage getroffen ist. So beklagt Goethe in einer späten Schrift zur Naturwissenschaft über Auseinandersetzungen an der Pariser A k a d e m i e im M ä r z 1830, der Wortgebrauch des durch die Wissenschaft des 18. Jahrhunderts in Frankreich entwickelten mechanistischen Denkens habe sich so durchgesetzt, daß ein Sich-Äußern jener Gelehrten, die sich ein weniger simplifiziertes Bild von der Natur und v o m Leben machen, empfindlich gehemmt werde. Wir glauben hier im Einzelnen, so wie im Ganzen, die Nachwirkung jener Epoche zu sehen, wo die Nation dem Sensualism hingegeben war, gewohnt sich materieller, mechanischer, atomistischer Ausdrücke zu bedienen; da denn der forterbende Sprachgebrauch zwar im gemeinen Dialog hinreicht, sobald aber die Unterhaltung sich in's Geistige erhebt, den höheren Ansichten vorzüglicher Männer offenbar widerstrebt.1
*
1
Die Vortragsversion des hier vorgelegten Beitrags folgte frei den Grundlinien, die der Verfasser in Bezug auf Goethe und seine Epoche ausgeführt hat in seiner umfassenden Monographie, Jean Starohinski·. Action et Reaction. Vie et aventures d'un couple. Paris, Editions du Seuil 1999 (La librairie du XXe siede), insbes. S. 241-247. Diese Abhandlung liegt auch in deutscher Übersetzung vor, Jean Starobinski: Aktion und Reaktion. Leben und Abenteuer eines Begriffspaars. Aus dem Französischen von Horst Günther, München, Carl Hanser 1999, insbes. S. 245-251. Die hier vorgelegte, unter dankbarer Nutzung dieser deutschen Übertragung erarbeitete Neuversion ist vom Verf. zur Veröffentlichung seines Beitrags durchgesehen und autorisiert. Goethe: Zur Morphologie. Principes de Philosophie Zoologique, II. Abschnitt (1830), WA II, 7, S. 2o8f.
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Jean Starobinski
Indem Goethe den Wortschatz der mechanistischen Wissenschaft kritisiert, vergißt er in dieser Hinsicht die Probleme der Kunst und der Sprache nicht. Keiner weiß so gut wie er, daß Begriffe aus der Sphäre des Lebens auch auf das Kunstwerk übertragen werden. Bei seinen terminologischen Erwägungen wechselt er deshalb unumwunden vom Bereich der Naturdarstellung auf jenen der Ästhetik hinüber. Er nimmt Anstoß daran, wie die französischen Naturforscher den Begriff »composition« gebrauchen (wenn sie von einer »unite de composition« sprechen). Goethe stellt klar, daß er diesen Begriff auch im Bereich der Kunst nicht besonders schätzt: Er hält ihn für »unglücklich«, ja »herabwürdigend«. Unbedacht sei es, von einem Maler zu sagen, er »komponiere sein Gemälde«, unbedacht auch, einen Musiker als »Komponisten« zu bezeichnen: w e n n beide den wahren N a m e n eines Künstlers verdienen sollen, so setzen sie ihre W e r k e nicht z u s a m m e n , sondern sie entwickeln irgend ein inwohnendes Bild, einen h ö h e r n Anklang natur= u n d kunstgemäß. 2
Tatsächlich bedeutet »Komponieren« — etymologisch gesehen — etwas »aneinander«- oder »nebeneinandersetzen«, eine Vorstellung, der Goethe die eines organischen Wachstums vorzieht. Der Kontrast zwischen Komposition und organischem Wachsen ist von gleicher Art wie ihn Coleridge betont, wenn er (darin von Goethe beeinflußt) zwischen fancy und imagination unterscheidet. Der Begriff fancy faßt Bestandteile zusammen, die nicht innig miteinander verbunden sind: dadurch wird etwas angehäuft oder bloß neu zusammengesetzt, während imagination neue und lebendige Wesen bildet und zwar kraft eines Vermögens zu verschmelzen und organisch ineins zu setzen. Coleridge schwingt sich sogar zu einem Neologismus auf, indem er von einer esemplastischen Kraft spricht - »nach den griechischen Wörtern eis hen plattein, d. h. auf das Eine hin ausformen, to shape into one«? Aber der Gegensatz der beiden Verfahren (Analyse und Synthese, rationaler Gang und intuitive Vision, Phantasie und Imagination) ist selbst ein Nebeneinanderstellen, das in einer höheren Synthese aufgehen muß. Der Gegensatz wird so auf höherer Ebene organisch versöhnt. Bei Coleridge lesen wir im selben Kapitel der Biographia literaria: Gestehen Sie mir eine N a t u r zu, die zwei gegensätzliche Kräfte besitzt, eine, die sich ins Unendliche auszudehnen strebt, während die andere sich zu fassen u n d sich selbst
2 3
Ebd., WA II, 7, S. 2o 7 f. Samuel Taylor Coleridge·. Biographia literaria (1817), London — New York, Everyman's Library 1965, Kap. X, S. 91.
Goethe und das Begriffspaar Aktion/Reaktion
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in dieser Unendlichkeit zu finden bemüht, und ich werde vor Ihnen die Welt der Intelligenzen mit d e m ganzen System ihrer Vorstellungen sich erheben lassen. 4
Die Einwirkungen dieser beiden Kräfte aufeinander und ihre wechselseitigen Durchdringungen machen demzufolge das Lebensprinzip aus und bestimmen zugleich unsere Selbstwahrnehmung. U n d Goethe (der Coleridge zweifellos dieses Bild zugeführt hat) schreibt über die Macht der Wechselwirkung, welche die Natur belebt: Sie ist gleich der vis centrifuga und würde sich in's Unendliche verlieren, wäre ihr nicht ein G e g e n g e w i c h t zugegeben: ich m e i n e d e n Specificationstrieb, das zähe Beharrlichkeitsvermögen dessen was einmal zur Wirklichkeit g e k o m m e n . Eine vis centripeta, welcher in ihrem tiefsten G r u n d e keine Äußerlichkeit etwas a n h a b e n kann. 5
Insofern Goethe vor allem die Zusammenhänge betont, die die Erscheinungen der Natur miteinander verbinden, sieht er die Welt als ein Kräftefeld vielfältiger »Aktionen« und »Reaktionen«, aber er benutzt diese Begriffe nicht in jenem mechanischen Sinn, den sie bei Laplace oder Senancour hatten; er gibt ihnen die Bedeutung, die sie im Wortschatz der qualitativen Physik der Peripatetiker des Mittelalters oder der Neostoiker der Renaissance hatten, die die Welt als ein animans sahen, ein großes belebtes Wesen. Er sucht seine Quellen in den Eingebungen der Vitalisten (der Pansophie), die den Geometern und Vermessern des Universums mit ihren Präzisionsinstrumenten vorausgegangen waren. Er sieht die Natur als eine große Weberin an, und er glaubt an die Unermeßlichkeit der das All-Leben durchdringenden konkreten Beziehungen, so daß diese auch nicht mit mathematischen Formeln vermessen werden können. Ihr Sinn erschließt sich nur dem geistigen Auge, dem nicht weniger als dem fleischlichen Auge ein sonnenhafter Funken innewohnt. Deshalb verabscheut Goethe die Berechnungen der Mechanismus-Adepten, die das Leben den Gleichungen der Physik unterwerfen wollen. Ahnlich wie für Blake wird auch für ihn Newton zum Tier aus dem Abgrund (hätte er dessen alchimistische Spekulationen gekannt, so hätte er daran wohl größeren Gefallen gefunden). Newtons Optik setzt er eine andere Theorie des Lichts entgegen, in Wahrheit die objektivierte Theorie der anschauenden Erfahrung:
1
Ebd.
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Goethe·. Z u r Morphologie. Problem und Erwiderung (1823), W A II, 7, S. 75.
Jean Starobinski
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Licht und Finsterniß führen einen beständigen Streit miteinander; Wirkung und Gegenwirkung beider ist nicht zu verkennen. Mit ungeheurer Elasticität und Schnelligkeit eilt das Licht von der Sonne zur Erde und verdrängt die Finsterniß; eben so wirkt ein jedes künstliche Licht in einem proportionirten Räume. Aber sobald diese unmittelbare Wirkung wieder aufhört, zeigt die Finsterniß wieder ihre Gewalt und stellt sich in Schatten, Dämmerung und Nacht sogleich wieder her.6 Die verdrängte Finsternis drängt wieder an die Oberfläche ... - Die zitierten Sätze lassen an die »Wiederkehr des Verdrängten« der Freudschen Psychologie denken. Ich glaube nicht, daß dies ein bloßer Zufall ist: zahlreiche Elemente des Freudschen Wortschatzes sind bei Goethe präfiguriert. Goethe vitalisiert die Beziehung von Licht und Finsternis. Seine Theorie des Lichts ist die Optik eines Visionärs, den die Bilder der widerstreitenden Kräfte faszinieren. Hier wie bei manch anderer Gelegenheit will er die Kräfte und die Gestalten der Natur in ganz anderem Ehrgeiz ansprechen als dem einer Analyse und Berechnung ihrer Bestandteile und Parameter. So wie er wissenschaftliche Forschung betreibt, schreitet sie von Analogon zu Analogon, von Typus zu Typus kraft ihrer kompatiblen Verwandtschaften voran. Seine Vorgehensweise dabei umreißt er in dem bedeutenden Essay Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt (i793): Da alles in der Natur, besonders aber die allgemeineren Kräfte und Elemente, in einer ewigen Wirkung und Gegenwirkung sind, so kann man von einem jeden Phänomene sagen, daß es mit unzähligen andern in Verbindung stehe, wie wir von einem freischwebenden leuchtenden Puncte sagen, daß er seine Strahlen nach allen Seiten aussende. Haben wir also einen solchen Versuch gefaßt, eine solche Erfahrung gemacht, so können wir nicht sorgfältig genug untersuchen, was unmittelbar an ihn gränzt? was zunächst auf ihn folgt? Dieses ist's, worauf wir mehr zu sehen haben, als auf das was sich auf ihn bezieht. Die Vermannichfaltigung eines jeden einzelnen Versuches ist also die eigentliche Pflicht eines Naturforschers.7 Der Gegensatz von Wirkung und Gegenwirkung, Aktion und Reaktion, ist ein durchgängiges Prinzip, für das der Widerstreit von Finsternis und Licht nur ein
6
Goethe: Beiträge zur Optik, § 24 (1791), WA II, 5.1, S. 15. - Vgl. dazu insbes. Georg Simmel·. Goethe, Leipzig 1913; Goethe and the Sciences, hg. von Frederick Amrine, Francis J. Zucker und Harvey Wheeler, Dordrecht 1987; Jean Lacoste·. Goethe. Sciences et philosophic, Paris 1997, sowie, mit besonderer Herausarbeitung der Züge eines Glaubenskampfs, mit dem Goethe gegen Newton wie gegen den apokalyptischen Drachen zu Felde zieht, Albrecht Schöne: Goethes Farbentheologie, München 1987.
7
Goethe: Zur Naturwissenschaft: Allgemeine Naturlehre. Der Versuch als Vermittler von Object und Subject (1793), WA II, 11, S. 32.
Goethe und das Begriffspaar Aktion/Reaktion
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Beispiel ist. Wirkung und Gegenwirkung zeigen sich in jedem polaren Kontrast, ihr Schauplatz ist die ganze Natur. Auch in seine Farbenlehre bringt Goethe eine gleichermaßen ins Universelle führende Bemerkung ein: Treue Beobachter der Natur, wenn sie auch sonst noch so verschieden denken, werden doch darin mit einander übereinkommen, daß alles, was erscheinen, was uns als ein Phänomen begegnen solle, müsse entweder eine ursprüngliche Entzweiung, die einer Vereinigung fähig ist, oder eine ursprüngliche Einheit, die zur Entzweiung gelangen könne, andeuten, und sich auf eine solche Weise darstellen. Das Geeinte zu entzweien, das Entzweite zu einigen, ist das Leben der Natur; dies ist die ewige Systole und Diastole, die ewige Synkrisis und Diakrisis, das Ein- und Ausatmen der Welt, in der wir leben, weben und sind.9 A m Ende des Zitats stößt man auf das Echo des berühmten Worts des Apostels Paulus über den Geist Gottes: in ipso enim vivimus, et movemur, et sumus, »denn in ihm leben, weben und sind wir« (Apostelgeschichte 17, 28). Diese Formel der Predigt des Apostels, die so deutlich an Vorstellungen der antiken Stoa gemahnt (Aratos), wird von Goethe in pantheistischem Sinne aufgefaßt. 9 Goethe läßt es nicht bewenden bei seiner Übertragung der großen pulsierenden Wechselrhythmen des menschlichen Organismus auf die ganze Natur. Er wendet sie ebenso an auf die Tätigkeiten des Geistes, nicht zuletzt auf die wissenschaftliche Forschung. Entzweien und vereinigen, so gehen Analyse und Synthese vor. Das sind absolut konträre Vorgehensweisen, doch müssen sie gleich der Systole und der Diastole, gleich den zwei Phasen im Doppelrhythmus der Atmung aufeinander bezogen bleiben und alternieren:
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Goethe·. Zur Farbenlehre, Didaktischer Teil, § 739: Verhältnis zur allgemeinen Physik, (1810), FA I, 23/1, S. 239 (Hervorh. vom Verf.). Vgl. WA II, 1, S. 296. Die Worte des Apostels Paulus, wo das griechische kinoumetha dem lateinischen movemur entspricht, nehmen tatsächlich einen Vers aus den »Phainomena« des Aratos auf. Goethe kannte und bewunderte Aratos' Poem, Newton war ebenso mit dem Apostel wie mit dem heidnischen Dichter vetrtaut. Vgl. dazu Betty Jo Teeter Dobbs·. The Janus Faces of Genius. The Role of Alchemy in Newton's Thought, Cambridge, Cambridge University Press 1991, S. 193—207. Coleridge verwendet in seinem Brief vom 17. Dezember 1796 an John Telwall die Worte des Paulus und des Aratos für eine Bestimmung des Christentums: »The religion which Christ taught is simply, first, that there is an omnipresent Father of infinite power, wisdom, and goodness, in whom we all of us move and have our being; and secondly, that when we appear to men to die we do not utterly perish [...]« (The Letters of Samuel Taylor Coleridge, hg. von Kathleen Raine, London 1950, S. 76.). - Gleichartige Bezüge auf Paulus vor dem Areopag stellt auch Balzac her, aus dem Mund des Sigier in »Les Proscrits« oder aus dem Mund des Swedenborgsche Ideen vertretenden Pastor Becker in »Seraphita". Vgl. Honore de Balzac-. La Comedie humaine, Paris 1980 (Bibliotheque de la Pleiade, Bd. 11), S. 543 und 781.
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Jean Starobinski ein J a h r h u n d e r t , das sich bloß auf die Analyse verlegt, u n d sich v o r der Synthese gleichsam fürchtet, ist nicht auf dem rechten W e g e ; denn nur beide zusammen, wie A u s = und Einathmen, machen das Leben der Wissenschaft. 1 0
Entscheidend für Goethe ist, daß dasselbe Gesetz, das die Erscheinungen der Welt lenkt, auch die Tätigkeiten des erkennenden Bewußtseins bestimmt. Aktion und Reaktion, die Wechselwirkung der Kräfte des Sonderns und des Vereinigens müssen in uns selbst liegen, damit wir die Welt getreulich in ihrem aktiven und reaktiven Leben durchschauen können. Goethe steht in dieser Uberzeugung keineswegs allein. Müssen wir nicht aufmerken, wenn wir eine ganz gleichartige Umsetzung der Worte des Apostels Paulus (oder des Aratos) in Wordsworth' Vorwort zu den Lyrical Ballads (1802) finden, wo er von dem »Lustprinzip« spricht, dem die Poesie durch ihr Aufnehmen der Aktion und Reaktion zwischen dem Menschen und den umgebenden Objekten genügen muß? N o r let this necessity of producing immediate pleasure be considered as a degradation o f the Poet's art. It is far otherwise [ . . . ] . It is a homage payed to the native and naked dignity of man, to the grand elementary principle o f pleasure, by w h i c h he knows, and feels, and lives, and moves. [ . . . ] W h a t then does the Poet? H e consideres man and the objects that surround h i m as acting and reacting upon each other, so as to produce an infinite complexity o f pain and pleasure [ . . . ] he considers as looking upon this complex scene of ideas and sensations, and finding everywhere objects that immediately excite in him sympathies which, f r o m the necessities o f his nature, are accompanied b y an overbalance of e n j o y m e n t . "
Was Wordsworth so in einem programmatischen Text bestimmt hat, wiederholt er in einem sehr schönen Gedichtfragment. Er ruft da die Wechseldurchdringung der Welt und des Einzelmenschen auf: darin läge der Vorschein eines neuen
Goethe: Zur Naturwissenschaft: Allgemeine Naturlehre, Analyse und Synthese, W A II, Ii, S. 70. Siehe auch Goethes Ausführungen über die Einwirkung der neuern Philosophie, WA II, 11, S. 47fr. William Wordsworth·. The Poems, hg. von John O. Hayden, 2 Bde., London 1977 (Penguin Books), Bd. 1, S. 879^ In deutscher Übertragung: »Diese Notwendigkeit, unmittelbare Lust hervorzubringen, wollen wir aber nicht als Herabwürdigung der Kunst des Dichters ansehen. Es ist ganz anders. [...1 Es ist eine Huldigung an die eingeborene und nackte Würde des Menschen, an das große elementare Prinzip der Lust, durch das er weiß und fühlt und lebt und webt. [...] Und was tut denn der Dichter? Er betrachtet den Menschen und die ihn umgebenden Gegenstände als aufeinander wirkend und gegenwirkend (»acting and reacting«...), so daß er eine unendliche Verwobenheit von Schmerz und Lust hervorbringt [...] er betrachtet ihn, wie er auf dieses komplexe Schauspiel der Vorstellungen und Empfindungen blickt und überall Gegenstände findet, die in ihm Sympathien erregen, die durch die Notwendigkeiten seiner Natur von einem Übermaß an Freunde begleitet sind.«
Goethe und das Begriffspaar Aktion/Reaktion
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Zeitalters - die R ü c k k e h r zu einem Leben, in d e m keine Fähigkeit u n d kein Wesen mehr vereinzelt blieben: Thus disciplined All things shall live in us and we shall live in all things that surround us ... For thus the sense and the intellect Shall each to each supply a mutual aid ... And forms and feelings acting thus, and thus Reacting, they shall each acquire A living spirit and a character Till then unfelt. 12
So ausgestaltet Lebt jedes Ding in uns und wir, wir leben In jedem Ding, das uns umgibt ... Denn dafür werden Sinne und Verstand Einander wechselseitig Hilfe leisten ... Und Formen und Gefühle, die so wirken Und gegenwirken, werden alle Lebend'gen Geist und Eigenart erlangen Bis dahin unerahnt. Wordsworth·. Fragment der Erstfassung von »Ruined Cottage«. Vgl. die Angaben von Meyer H. Abrami·. Natural Supernaturalism, New York (Norton Library) 1974, der diese Verse S. 278-280 zitiert.
Christa Habrich
Von der Alchemie zur Förderung der chemischen Wissenschaft und Technik Goethe zwischen hermetischem Denken und Pragmatismus
I. Goethe als Naturkundiger gerät in gewissen Quantensprüngen der Wissenschaftsgeschichte immer wieder in das Blickfeld, besonders dann, wenn »Goethe-Jahre« gefeiert werden. So anläßlich der Wiederkehr des Z50sten Geburtstages, als verschiedene Publikationen zu diesem Thema vorgelegt wurden, so die Neuauflage von Otto Krätz' Goethe und die Naturwissenschaften (1998).1 Im gleichen Jahr erschien das Alchemie-Lexikon von Claus Priesner und Karin Figala, in dem letztere den Eintrag »Goethe« verfaßte.2 Ebenfalls pünktlich zum Goethe-Jahr legte Georg Schwedt sein Buch Goethe als Chemiker vor, und Margrit Wyder publizierte, mit einem Essay von Adolf Muschg angereichert, eine Auswahl von Texten zu Goethes Verhältnis zu den Naturwissenschaften unter dem Titel Bis an die Sterne weitΡ,4 in dem natürlich auch die alchemisch-chemischen Aktivitäten Goethes dargestellt werden. Die hier bearbeiteten literarischen Quellen sind den Mitgliedern der Goethe-Gesellschaft sicher bestens vertraut, weshalb ich mich in meinen Ausführungen nur einigen Aspekten zuwenden möchte, die Goethes Anschauungen in den Kontext einer wissenschaftshistorischen Entwicklung stellen sollen, aus der heraus die manchmal als widersprüchlich empfundene Position Goethes mit den >zwei Seelen, ach, in seiner Brust« zu verdeutlichen versucht wird. Beginnen wir mit einem kurzen chemiegeschichtlichen Abriß: die Alchemie als ein Geflecht von verschiedenen philosophischen, religiösen und technischen 1 2
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Otto Krätz: Goethe und die Naturwissenschaften, 2. Aufl., München 1998. Karin Figala: Goethe, Johann Wolfgang von. In: Alchemie. Lexikon einer hermetischen Wissenschaft. Hg. von Claus Priesner und Karin Figala, München 1998, S. 154-157. Georg Schwedt: Goethe als Chemiker, Berlin u.a. 1998. Margrit Wyder: Bis an die Sterne weit? Goethe und die Naturwissenschaften, Frankfurt am Main/Leipzig 1999.
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Traditionen, Praktiken und Spekulationen mündete im 17. Jahrhundert in eine noch hermetisch geprägte »Chemiatrie«. Sie ging von den alchemischen Vorstellungen der paracelsisch-helmontischen Richtung in der Medizin aus, die vorwiegend anorganische Verbindungen und durch chemische Operationen gewonnene Mittel zur Therapie einsetzte. Z u diesen zählten auch die meisten Präparate der Halleschen Waisenhausapotheke, insbesonders die berühmte »Essentia dulcis«, eine kolloidale Goldlösung, 5 die als wundertätige Panacee galt. In Halle entstand im 18. Jahrhundert auch eine neue, rationale »Chymie«, deren Dreh- und Angelpunkt die von Georg Ernst Stahl (1659-1734) vertretene »Phlogistontheorie« war. Stahl selbst war in seinen jungen Jahren durch die Alchemie gegangen, 6 wie auch einige seiner Schüler. 7 An der Universität Halle lehrte auch Friedrich Hoffmann (1660—1742), dessen korpuskularmechanische Chemie der des Niederländers Herman Boerhaave (1669-1738) verwandt war. Beide lehnten Stahls Phlogistonlehre ab. Sie wurde dennoch in weiten Kreisen der chemisch arbeitenden Arzte und Apotheker übernommen, da sie ein plausibles wissenschaftliches System bot, das erstmalig eine chemische Arbeitshypothese lieferte. Danach wird bei Verbrennungsvorgängen ein brennbares Prinzip, das »Phlogiston«, freigesetzt, das sich mit anderen Körpern verbinden kann. Bei der »Verkalkung« von Eisen wird zum Beispiel dem Metall Phlogiston entzogen, es entsteht ein Metallkalk bzw. Rost, der durch die Zugabe eines phlogistonreichen Stoffes, ζ. B. Holz oder Kohle, wieder zu Eisen »phlogistiert« wird. Diese Erklärung für Oxidations- und Reduktionsprozesse erschien vor der Entdeckung des Sauerstoffs durchaus einleuchtend. 8 An den Universitäten setzten sich die neuen Chemietheorien Stahls und Boerhaaves rasch durch, während in den Kreisen der separatistischen Pietisten eine Art subkulturelle Persistenz der Alchemie bestand, 9 die einen synkretistischen Späthermetismus hervor-
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Hans-Joachim Poeckern: Die Hallischen Waisenhaus-Arzeneyen. Kommentar, Glossar und Transkription, Zürich 1984. Johann Christian WiegUb·. Historisch-critische Untersuchung der Alchemie oder der eingebildeten Goldmacherkunst, von ihrem Ursprünge sowohl als Fortgange und was nun von ihr zu halten sey, Weimar 1777, S. 319-321. Christa Habrich·. Alchemie und Chemie in der pietistischen Tradition. In: Goethe und der Pietismus. Hg. von Hans-Georg Kemper und Hans Schneider, Tübingen 2001 (Hallesche Forschungen 6), S. 45-77. Vgl. dazu Elisabeth Ströker: Theoriewandel in der Wissenschaftsgeschichte. Chemie im 18. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1982, S. 83-122. Ferner Georg Schwedt: Goethe als Chemiker (wie Anm. 3), S. 101-105. Hans Werner Schüft·. Alchemie im Zeitalter der Aufklärung. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 23 (2000), S. 157-166. Zu Goethes alchemistischem Zusammenwirken mit Susanna Katharina von Klettenberg vgl. S. 162-165.
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brachte.10 Dieses geistige Klima war es, das auf den jungen Goethe prägend wirken sollte, aber auch der radikale Umbruch von der pragmatisch, phlogistonisch argumentierenden Chemie zur »modernen« durch den französischen Chemiker Antoine Laurent de Lavoisier (1743-1794). Sein Werk Methode de Nomenclature Chimique (1787) und der Traite Elimentaire de Chimie (1789) bedeuten die Zeitenwende in der Chemie. Lavoisier hatte die Rolle des Sauerstoffs beim Verbrennungs- und Oxidationsvorgang richtig erkannt und damit die Phlogistionlehre widerlegt und das Stahlsche System gestürzt. Es gibt wohl kaum eine Persönlichkeit, keinen besseren Zeitzeugen für diese Revolution in der Chemie als Goethe. Er hat diesen Umbruch deutlich gesehen, beschrieben, bewußt erlebt und mitgestaltet.11 Über seine Einlassungen und Ausführungen zur Alchemie und Chemie ließe sich bequem ein Semesterkolleg füllen; wir wollen es hier mit einigen Beispielen in aller Kürze versuchen. A m 28. August 1749, Mittags mit dem Glockenschlage zwölf, kam ich in Frankfurt am Main auf die Welt. Die Konstellation war glücklich; Die Sonne stand im Zeichen der Jungfrau, und kulminierte für den Tag; Jupiter und Venus blickten sie freundlich an, Merkur nicht widerwärtig, Saturn und Mars verhielten sich gleichgültig; nur der M o n d , der so eben voll ward, übte die Kraft seines Gegenscheins um so mehr, als zugleich seine Planetenstunde eingetreten war. Er widersetzte sich daher meiner Geburt, die nicht eher erfolgen konnte, als bis diese Stunde vorübergegangen. Diese guten Aspekten, welche mir die Astrologen in der Folgezeit sehr hoch anzurechnen wußten, mögen wohl Ursache an meiner Erhaltung gewesen sein. [FA I, 14, S. 15]
Hier haben wir es, am Beginn von Dichtung und Wahrheit, mit einem leicht ironisierten Rückgriff auf hermetisch-alchemistische Vorstellungen zu tun, in denen die genannten, mit der antiken Götterwelt personifizierten Himmelskörper den Metallen der irdischen Sphäre und dem Mikrokosmos der Organe und der physiologischen Vorgänge im menschlichen Körper zugeordnet sind: So wurde der männliche Sol (Sonne) mit dem Gold und dem Herzen in Verbindung gebracht, und Goldtinkturen dienten als verjüngende und lebensverlängernde Allheilmittel;11 Jupiter und Venus stehen für Zinn und Kupfer, Merkur für Quecksilber und alles Flüssige, Saturn als Symbol ftir Blei und die humoralpathologisch definierte »schwarze Galle«, die Melancholie hervorruft, Mars war dem Eisen, und das weibliche Prinzip Luna (Mond) dem Silber zugeordnet. In der hermetisch-
Rolf Christian Zimmermann: Das Weltbild des jungen Goethe. Bd. I Elemente und Fundamente, München 1969, S. 19-22. Dorothea Kuhn: Goethe und die Chemie. In: Medizinhistorisches Journal 7 (1972), S. 264278. Helmut Gebelein: Alchemie, Kreuzlingen - München 2000, S. 54—58.
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astrologischen Tradition kam der Interpretation des Geburtshoroskops eines Menschen große Bedeutung zu, denn die Konstellation der Gestirne bestimmte die Konstitution des Körpers und seiner Funktionen. Daß der junge Goethe diese makro- und mikrokosmischen Vorstellungen genau kannte, beweist uns eine spätere Äußerung, daß sein Gehirn »wegen der Einstrahlung des Steinbocks und Wassermanns etwas kalt und feucht«, 13 also phlegmatischer Natur, sei. Wenngleich diese siderischen Einflüsse also günstig waren, machte der junge Goethe während seines Studiums in Leipzig 1768 eine schwere körperliche Krise durch, die auch auf sein spirituelles Leben nicht ohne Auswirkungen blieb. Man kennt die Schilderungen seiner in der Heimatstadt Frankfurt unter der Fürsorge der Mutter und deren Freundin — bald auch Freundin Goethes — Susanna Katharina von Klettenberg (1723-1774) kurierten Krankheit, in der die helfende Hand des Arztes Johann Friedrich Metz (1720—1782) und dessen Geheimmittel, wohl Glaubersalz, den günstigen Ausschlag gaben. Metz gehörte zu dem Kreis separatistischer Arzte mit alchemistischen Neigungen und Laborerfahrungen, denen wir bereits an anderer Stelle Aufmerksamkeit erwiesen haben. 14 Rolf Christian Zimmermann hat über Metz wichtige Details zu seiner Biographie und dem geistigen Umfeld mitgeteilt. 15 Goethe schildert den Einfluß des etwas geheimniskrämerischen Mediziners so: U m den Glauben an die Möglichkeit eines solchen Universalmittels zu erregen und zu stärken, hatte der A m seinen Patienten, wo er nur einige Empfänglichkeit fand, gewisse mystische chemisch-alchemische Bücher empfohlen, und zu verstehen gegeben, daß man durch eignes Studium derselben gar wohl dahin gelangen könne, jenes Kleinod sich selbst zu erwerben; welches um so notwendiger sei, als die Bereitung sich sowohl aus physischen, als besonders aus moralischen Gründen nicht wohl überliefern lasse, ja daß man, um jenes große Werk einzusehen, hervorzubringen und zu benutzen, die Geheimnisse der Natur im Zusammenhang kennen müsse, weil es nichts Einzelnes sondern etwas Universelles sei, und auch wohl gar unter verschiedenen Formen und Gestalten hervorgebracht werden könne. [FA I, 14, S. 372]
Metz kam es also darauf an, den Gesamtkomplex hermetisch-alchemischer Naturbetrachtung zu vermitteln, und er war nicht bereit, nur Rezepte mitzuteilen oder Anleitungen zur Herstellung chemiatrischer Präparate, wie sie in der pharmazeutischen Literatur zur Verfugung standen, zu empfehlen. Diese hätten
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Vgl. den Brief vom 13. Februar 1769 an Friederike Oeser, ausführlich bearbeitet bei Rolf Christian Zimmermann·. Weltbild des jungen Goethe (wie Anm. 10), S. 70—72. Vgl. Christa Hahrich: Alchemie und Chemie (wie Anm. 7), S. 70—76. Rolf Christian Zimmermann·. Weltbild des jungen Goethe (wie Anm. 10), S. 172-184.
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möglicherweise die Aura des Geheimnisvollen und damit die psychisch-physische Wirksamkeit der Mittel gefährden können. Goethe berichtet weiter: Meine Freundin [Susanna Katharina von Klettenberg] hatte auf diese lockenden Worte gehorcht. Das Heil des Körpers war zu nahe mit dem Heil der Seele verwandt; und könnte je eine größere Wohltat, eine größere Barmherzigkeit auch an Andern ausgeübt werden, als wenn man sich ein Mittel zu eigen machte, wodurch so manches Leiden gestillt, so manche Gefahr abgelehnt werden könnte? Sie hatte schon ins Geheim Wellings Opus mago-cabalisticum studiert, wobei sie jedoch, weil der Autor das Licht was er mitteilt sogleich wieder selbst verfinstert und aufhebt, sich nach einem Freunde umsah, der ihr in diesem Wechsel von Licht und Finsternis Gesellschaft leistete. Es bedurfte nur einer geringen Anregung, um auch mir diese Krankheit zu inokulieren. [FA I, 14, S. 372E] Die Klettenberg sieht also, anders als Goethe, mit der Aneignung alchemischer Kenntnisse, die Möglichkeit, Liebeswerke an Kranken zu tun. Sie erweist sich somit als pietistisch F r o m m e der T a t und nicht als quietistische Mystikerin von weitabgewandter Frömmigkeit. Ihre radikalpietistische G r u n d h a l t u n g 1 6 bezieht Leib und Seele in ein gelebtes Christentum ein, in dem auch Platz für Menschen ist, die, wie Goethe, ihre leidenschaftliche Religiosität nicht teilen. 17 G o e t h e schreibt, daß sie Präparate mit Eisen hergestellt habe, »in welchem die heilsamsten K r ä f t e verborgen sein sollten, w e n n m a n es aufzuschließen wisse« (FA I, 14, S. 374). Diese Chemiatrika waren im 18. Jahrhundert beliebte »Stärkungsmittel«, 18 deren W i r k u n g auf die Bildung des Blutfarbstoffs noch nicht erforscht war. Nach seiner Genesung beginnt Goethe, in der besseren Jahreszeit (1769), zu laborieren. Seine Heilung durch das Geheimmittel überzeugte ihn so sehr, daß der Glaube an »unseren Arzt« gestärkt und der Fleiß erhöht wurde, »uns eines solchen Schatzes teilhaftig zu machen« (FA I, 14, S. 374). Goethe taucht also tief in die alchemistisch-hermetische Tradition ein, beläßt es aber nicht dabei, sondern steckt auch die Hände in die Kohlen, wie das in der Sprache der Alchemisten hieß. E r löst weiße Kieselsteine aus dem M a i n durch Schmelzen mit Kaliumhydroxid zu Wasserglas auf, bemüht sich, ein »Luftsalz« zu gewinnen und versucht sich an anderen chemischen Kunststücken. 1 9 Wichtiger ist ihm, dessen laborantische 16
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Burkhard Dohm·. Radikalpietistin und »schöne Seele«. Susanna Katharina von Klettenberg. In: Goethe und der Pietismus. Hg. von Hans-Georg Kemper und Hans Schneider. Tübingen 2001 (Hallesche Forschungen 6), S. in—134. Paul Raabe·. Separatisten, Pietisten, Herrnhuter. Goethe und die Stillen im Lande, Halle 1999 (Kataloge der Franckeschen Stiftungen zu Halle 6), S. 96—130. Georg Schwedt·. Goethe als Chemiker (wie Anm. 3), S. i6f. Zu den dabei hergestellten chemischen Verbindungen vgl. Schwedt·. Ebd., S. 17—19.
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Ausdauer bald erlahmt, jedoch die Beschäftigung mit den geheimnisvollen Schriften, die er gemeinsam mit seiner würdigen Freundin, die er »Cordata« nennt, studiert.20 Gleichwohl kam ihn die Lektüre der alchemistischen Texte auf die Dauer ziemlich sauer an, er quälte sich durch die abstrus-verschlüsselten Geheimnisse — jeder der es ihm nachtut, kann es nachfühlen — und wurde dennoch von ihnen fasziniert, besonders von emblematischen Abbildungen, die dem Augenmenschen Goethe als Meditationsbilder veranschaulichten, »was die Welt im Innersten zusammenhält« und wie das Oben und Unten, das Auf und Ab, das Stirb und Werde, solve et coagula im Makro- und Mikrokosmos als Einheit in der Vielfalt verbunden sind.21 Goethe betont: »Mir wollte besonders die Aurea Catena Homeri gefallen, wodurch die Natur, wenn auch vielleicht auf phantastische Weise, in einer schönen Verknüpfung dargestellt wird.« (FA I, 14, S. 373) Uber dieses Zentralwerk seines Studiums22 gibt im vorliegenden Band Irmtraut Sahmlands Beitrag näheren Aufschluß. Georg von Wellings bereits erwähntes Opus mago-cabbalisticum et theosophicum, von den separatistischen Theosophen des Offenbacher und Homburger Kreises hoch geschätzt, stand im Mittelpunkt von Goethes alchemistischem Lektüreprogramm. Hier verband sich die »Wiedergeburt der Seele« im pietistischen Verständnis mit der Vision von der Wiedergeburt der »toten prima materia« durch den lebendig machenden Stein der Weisen im Stufenprozess einer hermetischen Neuschöpfung. Mit diesem Schlüsselwerk für das Verständnis von Goethes hermetischen Interessen und der Lebensgeschichte des Georg von Welling (1655—1727) hat sich Petra Jungmayr eingehend befaßt.23
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Die Werke umfassen das für hermetisch-alchemische Grundlagen typische Spektrum. Vgl. Paul Raabe·. Separatisten (wie Anm. 17), S. 64—68. Es ist sicherlich nicht übertrieben, wenn man behauptet, Goethe habe kein philosophisches System so umfassend aufgenommen wie das der Alchemie. Vgl. Ronald D. Gray: Goethe the alchemist. Α study of alchemical symbolism in Goethe's literary and scientific works, Cambridge 1952, S. 257. Das Interesse an dieser hermetischen Schrift, in der auch die Tabula smaragdina des Hermes Trismegistos enthalten ist, war im 18. Jahrhundert so stark, daß zahlreiche Handschriften und Drucke im Umlauf waren. Vgl. Frithjof Galley: Magie im 18. Jahrhundert. Transkription und Analyse einer Handschrift des ausgehenden 18. Jahrhunderts mit »religiös-magisch-alchimistischkabbalistisch-kuriosem« Inhalt, Diss. rer. nat. München 1985. Eine späte Rosenkreuzer Ausgabe der »Aurea Catena«, die Goethe sicherlich kannte, erschien unter dem Titel: »Annulus Piatonis oder physikalisch=chymische Erklärung der Natur nach ihrer Entstehung, Erhaltung und Zerstöhrung« in Berlin und Leipzig 1781. Der Autor war vermutlich Anton Joseph Kirchweger. Petra Jungmayr·. Georg von Welling (1655—1727), Stuttgart 1990 (Heidelberger Studien zur Naturkunde der frühen Neuzeit 2). Uber Goethe und Susanna Katharina von Klettenberg: S. 88, 92-94.
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II. In Straßburg begegnet der Student Goethe anschließend der »neuen«, rationalen Chemie: Er hört bei Jakob Reinbold Spielmann (1722—1783) Vorlesungen und nimmt an Experimenten teil. Spielmann war Apotheker und einer der ersten, die eine Professur in Chemie bekleideten. In seiner Dissertation De principio saline (1748) erweist er sich als Anhänger Georg Ernst Stahls. Spielmann war kein Hermetiker, aber Reste alchemischer Vorstellungen finden sich auch bei ihm. Seine Experimentalvorlesungen waren wegen ihrer didaktischen Stärke bei den Studenten sehr beliebt. Im Laboratorium seiner Hirsch-Apotheke in Straßburg konnten die Studierenden selbst chemische Proben durchführen. 14 Johann Christian Wiegleb (1732—1800), der Lehrer des späteren Goethe-Beraters Johann Friedrich August Göttling (1753-1809), lobte in seiner antialchemistischen Streitschrift Spielmann wegen dessen aufklärerischer akademischer Vermittlung der Chemie und pries ihn als Vorbild.25 Kein Wunder also, wenn sich der junge »Halb-Adept« Goethe (FA I, 14, S. 376) neben seinem eigentlichen Studienfach, Jura, in den chemischen Künsten übt! Am 26. August 1770 schreibt er aus Straßburg an Susanna Katharina von Klettenberg: Uebermorgen ist mein Geburtstag; schwerlich wird eine neue E p o q u e von ihm angehen; dem sey wie ihm wolle so betet mit mir, für mich, dass alles werde, wie's werden soll. Die Jurisprudenz fangt an mir sehr zu gefallen. So ist's doch mit allem wie mit dem Merseburger Biere, das erstemal schauert man, und hat man's eine W o c h e getruncken, so kann man's nicht mehr lassen. U n d die C h y m i e ist noch immer meine heimlich Geliebte. [FA II, 26, S. 219]
Es gibt in Straßburg auch erste Überlegungen, sich mit den Gestalten des Götz von Berlichingen und des Schwarzkünstlers Dr. Faust literarisch zu befassen, Pläne, die Goethe gegenüber Herder geheim hält. Darüber hinaus behält er noch ein anderes geistiges Abenteuer für sich: A m meisten aber verbarg ich vor Herdern meine mystisch-kabbalistische Chemie und was sich darauf bezog, ob ich mich gleich noch so gern heimlich beschäftigte, sie konsequenter auszubilden, als man sie mir überliefert hatte. [FA I, 14, S. 451]
Zimmermann hat diese Tendenz Goethes, seine hermetischen und alchemistischen Interessen und Phantasien zu verschleiern, herausgearbeitet.16 Vielleicht zeigt sich 24
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Georg Schwedt: Pharmazeuten als Goethes Berater in der Chemie. In: Geschichte der Pharmazie 51 (1999), S. 17-22, hier S. 18. Johann Christian Wiegleb: Historisch-critische Untersuchung (wie Anm. 6), S. 381. Rolf Christian Zimmermann·. Weltbild des jungen Goethe (wie Anm. 10). S. 47—56.
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hier der Zwiespalt zwischen den Ideen der Aufklärung und der Tradition der »Magia Naturalis«, der charakteristisch für diese geistesgeschichtliche Epoche war und den Goethe für seine literarischen Werke fruchtbar machte. In diesem Zusammenhang sei auch darauf hingewiesen, daß er für die Bekenntnisse einer schönen Seele die anonymisierte Gestalt der Susanna Katharina von Klettenberg auch insofern transformierte, als er mit keinem Wort deren alchemistische Aktivitäten erwähnt. Auch Johann Friedrich Metz wird lediglich zu einem »Arzt und Naturforscher«, einem »interessanten stillen Mann« (FA I, 9, S. 781), der das Fräulein, durch »eigene und fremde Leiden ein halber Arzt geworden«, über den menschlichen Körper und die Arzneimittel unterrichtete, die Aufmerksamkeit »auf die übrigen nachbarlichen Gegenstände der Schöpfung« lenkte und sie »wie im Paradiese« umherfuhrte. Sie sah dadurch Gott in der Natur (FA I, 9, S. 788), von hermetischer Naturschau ist keine Rede. Schon seit seiner Straßburger Zeit nahm Goethe bei seinen Ausflügen und Reisen begierig alle Informationen auf, die ihm die Nützlichkeit der Anwendung chemischer Kenntnisse zeigten. Bergwerke, Vulkane, Höhlen und Felsschluchten zogen ihn für mineralogische und gewerblich-chemische Studien an, die ihn für seine späteren Pflichten hervorragend vorbereiteten.27 Als er ab 1775 seine administrativen Pflichten in Weimar übernahm, gehörte auch die Oberaufsicht über die naturwissenschaftlichen Anstalten und das mineralische und physikalisch-chemische Kabinett in seinen Kompetenzbereich. Als wissenschaftliche Berater wählte er bevorzugt Pharmazeuten,28 da sie durch eine breite naturwissenschaftliche Bildung in Botanik, Chemie und Physik, die vorwiegend praxisbezogen war, seinen Interessen und Absichten in vielerlei Hinsicht entgegen kamen, so auch der Besitzer der Hof-Apotheke in Weimar, Wilhelm Heinrich Sebastian Bucholz (1734—1798). Bucholz war Apotheker, promovierter Arzt und als Hofmedikus tätig. Ihm verdankte Goethe viele botanische und chemische, auch gaschemische Einsichten und Erfahrungen. 19 Goethe schuf nach langem Streit mit der medizinischen Fakultät einen eigenen Lehrstuhl für Chemie an der Universität Jena und besetzte ihn mit dem bei Bucholz angestellten jungen Apotheker Johann Friedrich August Göttling. 30
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Georg Schwedt·. Goethe als Chemiker (wie Anm. 3), S. 23-76. Vgl. Georg Schwedt: Pharmazeuten als Goethes Berater (wie Anm. 24). Vgl. auch Christoph Friedrich·. Pharmazeuten rund um Goethe. In: Pharmazeutische Zeitung 144 (1999), S. 3303— 33"·
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Georg Schwedt·. Ebd., S. i8f. - Otto Kratz·. Goethe und die Naturwissenschaften (wie Anm. 1), S. 7 8f. Rüdiger Stolz: Johann Friedrich August Göttling (1753-1809). Leben, Wirken und Bedeutung. In: Haeckeliana, Jena 1993 (Abhandlungen zur Wissenschaftsgeschichte, Förderverein Emst-Haeckel-
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Dieser hatte zuvor durch Herzog Karl August ein Stipendium erhalten, u m in Göttingen, England und Holland zu studieren. 1789 begann er an der Universität J e n a zu lehren. Berater Goethes in allen einschlägigen Chemiefragen, wurde er von ihm großzügig bei der Errichtung eines Laboratoriums unterstützt. D i e gründlichste Einfuhrung in die moderne, antiphlogistische Chemie, die Göttling als einer der ersten in Deutschland bekannt gemacht und durch eine »LichtstoffeTheorie ergänzt hatte, 31 erhielt Goethe durch ihn. M i t ihm diskutierte er auch die schwierigen Fragen, die sich mit der neuen französischen N o m e n k l a t u r ergaben. Göttling hatte übrigens 1791 bereits ein Verfahren entwickelt, das wir heute mit dem Begriff »Recycling« bezeichnen: E r mazerierte bedrucktes Papier in Chlorwasser, das er durch Oxydation von Salzsäure erhalten hatte, und stellte aus dem breiigen gebleichten Substrat wiederum Papier her. Goethe erhielt ein Blatt davon und teilte die Erfindung seinem Herzog umgehend mit: Göttling habe in seinem Versuch mit dem Chlorwasser alle Schwärze herausgezogen und »wieder Papier daraus machen lassen wie es beiliegt, das fast weißer als das erste ist. Welch ein Trost für die lebende Welt der Autoren und welch ein drohendes Gericht für die abgegangenen. Es ist eine sehr schöne Entdeckung und kann viel Einfluß haben...«. 32 Der »treffliche Göttling« (FA II, 24, S. 735f.) arbeitete an den unterschiedlichsten chemischen V e r f a h r e n , u m der G e w e r b e c h e m i e zu neuen oder besseren Produkten zu verhelfen, u m Broterwerb im Lande zu schaffen. Seine Vorstellungen trafen sich vollständig mit denen Goethes, w e n n er 1737 schreibt: Es ist kaum glaublich, wie viele Naturprodukte noch unbenutzt bleiben, durch deren Bearbeitung und Veredelung unbeschäftigte Menschen in Thätigkeit gesetzt werden könnten, und wodurch dem Lande kein unbeträchtlicher Gewinn erwachsen würde.33 Goethes H o f f n u n g , durch die Chemie wirtschaftliche Vorteile in seinem Land zu erzielen, ließen ihn - ganz im utilitaristischen Geist der modernen Staatslehre - die Entwicklung der Chemie auf allen möglichen Gebieten fördern. Das gilt sowohl
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Haus, Vorabdruck Heft 2), S. 46-62. - Christa Habrich: Göttling, Johann Friedrich August. In: Deutsche Apotheker-Biographie. Hg. von Wolfgang-Hagen Hein und Holm-Dietmar Schwarz, Bd. 1 Stuttgart 1975 (Veröffentlichungen der Internationalen Gesellschaft für Geschichte der Pharmazie NF 43), S. 216-218. Rüdiger Stolz: Ebd., S. 52-54. Vgl. auch Walter Aigner: Die Beiträge des Apothekers Johann Friedrich August Göttling (1753-1809) zur Entwicklung der Pharmazie und der Sauerstoffchemie, Diss. rer. nat. München 1985, S. 74-84. Zitiert nach Georg Schwedt: Goethe als Chemiker (wie Anm. 3), S. 134. Johann Friedrich August Göttling: Systematische Übersicht der Manufaktur- und Fabrikkunde, Jena 1797, S. 4f.
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fur den Ilmenauer Silberbergbau34 als auch fur die Leuchtgaserzeugung,35 die Glasund Keramikindustrie,36 Mineralwasseranalysen37 und die Erzeugung von Zucker38 aus Kartoffelstärke. Alle Chemiker, die sich auf diesem Feld wissenschaftlich engagierten, fanden bei Goethe stets ein offenes O h r und auch
finanzielle
Unterstützung bei der praktischen Umsetzung. W i e kein anderer Politiker hatte Goethe begriffen, daß die wirtschaftliche Entwicklung im 19. Jahrhundert durch die Chemie ihre stärksten Impulse erfahren würde. In einem Vergleich zwischen der Kristallographie und der Chemie kommt er zu dem Schluß, daß erstere »nicht productive und »eigentlich nirgends anwendbar« sei. »Ganz das Entgegengesetzte ist von der Chemie zu sagen, welche von der ausgebreitetsten Anwendung und von dem gränzenlosesten Einfluß aufs Leben sich erweis't« (FA I, 13, S. 169). Diese Einsicht sollte erst durch Justus von Liebig (1803-1873) in großem Stil popularisiert werden. 39
III. Goethe unterhielt enge und gezielte Kontakte zu den bedeutenden Chemikern seiner Zeit, so auch zu dem schwedischen Gelehrten Jons Jacob Berzelius (1779-1848), einem der Begründer der modernen Analytik. Dessen Versuche mit dem Lötrohr, die er 1822 für Goethe demonstrierte, 40 dienten besonders in der Mineralogie zur raschen Erkennung der in den Gesteinen enthaltenen Metalle. Auch in Göttlings »Probierkabinetten« war das Lötrohr enthalten. Das Experiment spielte bei Goethes chemischen Interessen eine wichtige Rolle. Daher war es für ihn notwendig, mit tüchtigen Chemikern zur Durchführung von Versuchen zusammen zu wirken. In dem Apotheker Johann Wolfgang Döbereiner (1780-1849), den er nach dem T o d Göttlings als noch völlig unbeschriebenes Blatt auf die Professur für Chemie nach Jena berufen ließ, erwuchs ihm ein außerordentlich tüchtiger und dynamischer Experimentator, dem er zudem
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Georg Schwedt: G o e t h e als C h e m i k e r (wie A n m . 3), S. 7 3 - 7 6 .
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Georg Schwedt: Ebd., S. 193-195.
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Georg Schwedt: Ebd., S. 159, I95f. - Otto Krätz: Goethe und die Naturwissenschaften (wie A n m . 1), S. 198-203.
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Georg Schwedt: Ebd., S. 207, 210-218.
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Edmund O. von Lippmann: Beiträge 2ur Geschichte der Naturwissenschaften und der Technik, Berlin 1923, S. 275-281.
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Georg Schwedt: G o e t h e als C h e m i k e r (wie A n m . 3), S. 222ft — Otto Krätz: G o e t h e und die Naturwissenschaften (wie A n m . 1), S. 142, 146, 149.
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Georg Schwedt: Ebd., S. 169-176.
Von der Alchemie zur Förderung der chemischen Wissenschaft und Technik
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freundschaftlich verbunden war. Döbereiner stand ihm bei allen chemischen Fragen und Problemen zur Seite, erklärte ihm die neuesten chemischen Theorien und erwies sich als ausgesprochen kreativ. So erfand er nicht nur das nach ihm benannte katalytische Feuerzeug, sondern auch ein Mittel — eine Mischung aus Zucker und Natriumhydrogencarbonat —, um den saueren Saalewein in »Champagner« zu verwandeln.42 Unter Döbereiners Anleitung machte Goethe selbst chemische Versuche mit den verschiedenen Oxydationsstufen des Mangans, Farbreaktionen, die man als »chemisches Chamaeleon« bezeichnet. Dabei wird braun gefärbtes Manganoxid mit Kaliumnitrat und Natriumhydrogencarbonat versetzt und durch Zugabe von Essigsäure zu rotvioletten Permanganat oxidiert, in stärker sauerer Lösung mit Schwefelsäure farblos und nach Zugabe von Lauge wieder zu Braunstein reduziert.43 Goethe hat diesen Versuch selbst durchgeführt, protokolliert44 und die Farbphänomene auch in seiner Farbenlehre beschrieben (FA I, 23/1, S. 185 f.). Speziell für seine Farbenlehre war ihm die Chemie wesentlich wichtiger als die Physik, mit deren mathematischer Seite er auf Kriegsfuß stand. Unter den 201 Nummern der dritten Abteilung über »chemische Farben« hat er zahlreiche Beobachtungen und Experimente selbst gemacht. Dabei ist ihm bereits eine wichtige photochemische Entdeckung gelungen, deren richtige Interpretation freilich erst die moderne Chemie leisten konnte, die Veränderung von Silbersalzen durch bestimmte Wellenlängen des Lichts. Goethe arbeitete mit Silberchlorid, das er durch unterschiedliche Filter beleuchtete: M a n streiche feuchtes, ganz weißes Hornsilber auf einen Papierstreifen; man lege ihn ins Licht, daß er einigermaßen grau werde u n d schneide ihn alsdenn in drei Stücke. Das eine lege man in ein Buch, als bleibendes Muster, das andre unter ein gelbrotes, das dritte unter ein blaurotes Glas. Dieses letzte Stück wird i m m e r dunkelgrauer werden u n d eine Entsäuerung anzeigen. D a s unter d e m gelbroten befindliche w i r d i m m e r heller grau, tritt also d e m ersten Z u s t a n d v o l l k o m m n e r e r S ä u e r u n g wieder näher. V o n beiden k a n n m a n sich durch Vergleichung m i t d e m Musterstücke überzeugen. [ F A I, 23/1, S. 221]
Er hat außerdem Silberproben in Ilmenau durchgeführt, Versuche mit Berlinerblau gemacht,45 mit violetten Joddämpfen und dem gelbgrünen elementaren Chlor experimentiert46 und 1812 in Karlsbad Kartoffelmehl chemisch verzuckert.47 41 42 43 44 45 46 47
Georg Schwedt·. Ebd., S. 141-166. Dorothea Kuhn: Goethe und die Chemie (wie Anm. 11), S. 276. Georg Schwedt·. Ebd., S. 291. Georg Schwedt: Ebd., S. 292. Georg Schwedt: Ebd., S. 218-220, 293. Otto Krätz: Goethe und die Naturwissenschaften (wie Anm. 1), S. i82f. Otto Krätz: Ebd., S. 149.
20
Christa Habrich
Der stärkste Impetus, sich mit der Chemie zu befassen, waren Goethes Forschungen im Zusammenhang mit der Farbenlehre. Hier vereinte sich sein Interesse an der alten »Chymie« und ihren hermetischen Wurzeln mit der akribischen Einarbeitung in neue chemische Erkenntnisse. Sein Vorgehen war sowohl wissenschaftshistorisch und erkenntnistheorethisch48 orientiert als auch empirisch und intuitiv. Daß er, wie die Alchemisten, auch hochspekulativ argumentierte, haben ihm zeitgenössische Wissenschaftler verübelt. Dies klingt in seiner »Konfersion« im historischen Teil der Farbenlehre an: »Unter den Gelehrten, die mir von ihrer Seite Beistand leisteten, zähle ich Anatomen, Chemiker, Literatoren, Philosophen, wie Loder, Sömmering, Göttling, Wolf, Forster, Schelling; hingegen keinen Physiker« (FA I, 23/1, S. 980). So setzte er alle Hoffnung auf die Chemiker, sein großes Werk zu vollenden: W i e sehr wünschenswert wäre es [...] für die Farbenlehre überhaupt, daß die mit Bearbeitung der Chemie, unter immer fortschreitenden neuen Ansichten, beschäftigten Männer auch hier eingreifen, und das, was wir beinahe nur mit rohen Zügen angedeutet, in das Feinere verfolgen und in einem allgemeinen, der ganzen Wissenschaft zusagenden Sinne bearbeiten möchten. [FA I, 23/1, S. 223]
Wie man die Farbenlehre auch unter alchemistischen, hier von Goethe zwar skeptisch abgehandelten Aspekten (FA I, 23/1, S. 662-665) lesen und interpretieren kann, hat schon Ronald D. Gray gezeigt.49 Sie ausschließlich unter alchemischhermetischen Gesichtspunkten behandeln zu wollen, würde allerdings zu kurz greifen. Goethe hat in diesem, seinem größten Werk überhaupt, den ganzen Kosmos seines Denkens und Fühlens ausgebreitet, Altes mit Neuem amalgamiert und zu einer grandiosen Synthese geführt. So ist es auch verständlich, daß aus diesem gewaltigen Steinbruch jedwede Geistesrichtung diejenige Schicht freilegt und zu Tage fördert, die ihr wichtig erscheint. So sei auch mir erlaubt, einige Steine herauszubrechen. Goethe bewältigte für die Farbenlehre ein gewaltiges chemiegeschichtliches Lektüre-Programm das ihm Einsicht in alle wichtigen wissenschaftlichen Ideen und Theorien verschaffte. Seine Erkenntnisse dienten ihm als Argumentationshilfe bei der Darstellung eigener Ergebnisse und zur Rechtfertigung gegenüber seinen Kritikern.50 Gerade im historischen Teil der Farbenlehre liest es das ihm Geistesverwandte aus den Werken seiner Vorgänger heraus und stellt es in den
48 49 s
°
Angelika Groth: Goethe als Wissenschaftshistoriker, Diss. phil. München 1972. Ronald D. Gray·. Goethe the alchemist (wie Anm. 21), S. 101-132. Angelika Groth·. Goethe als Wissenschaftshistoriker (wie Anm. 48), S. 222-229.
Von der Alchemie zur Förderung der chemischen Wissenschaft und Technik
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Zusammenhang eigener Überzeugungen. Als Beispiel möge die Darstellung der Leistung des Bernhardinus Telesius (1508-1588) dienen: [...] er faßte jene geheimnisvolle Systole und Diastole, aus der sich alle Erscheinungen entwickeln, gleichfalls unter einer empirischen Form auf, die aber doch, weil sie sehr allgemein ist, und die Begriffe von Ausdehnung und Zusammenziehung, von Solideszenz und Liquieszenz hinter sich hat, sehr fruchtbar ist und eine höchst mannigfaltige Anwendung leidet. [FA I, 23/1, S. 669]
Hier wird seine organisch-dynamische Auffassung der chemischen Phänomene deutlich, die auf dem Hintergrund der alchemischen Polarität des »solve et coagula« die Begriffe »Solidiszenz« fur Coagulation und »Liquieszenz« für Solution einführt und sie als Grundprinzip chemischer Vorgänge beschreibt. Wichtig erscheint mir auch seine Bewertung der chemischen Leistung des Paracelsus, die er, anders als die meisten Aufklärer, möglicherweise unter dem Einfluß von Johann Friedrich Gmelins Geschichte der Chemie, die ab 1797 in Göttingen herauskam, sehr positiv betrachtet. Goethe sieht im Zentrum des paracelsischen Beitrages zum Verständnis der Farberscheinungen den Schwefel, bei dem er genau unterscheidet zwischen dem »gemeinen Schwefel«, in dem sich die Säure »im hohen Grade manifestiert« — also dem Element, das der Chemiker im Labor verarbeitet, - und »dem höher verstandenen mystischen Schwefel« (FA I, 23/1, S. 66if.), der in der paracelsischen Trias von Sal, Sulfur und Mercurius als brennbares Prinzip gemeint ist. Besser könnte man Goethes Ansatz, alchemisches Denken mit moderner Wissenschaft zu verbinden, nicht zeigen. Er formuliert es in seinen Betrachtungen über die »Alchemisten« selbst: Es führt zu sehr angenehmen Betrachtungen, wenn man den poetischen Teil der Alchymie, wie wir ihn wohl nennen dürfen, mit freiem Geiste behandelt. Wir finden ein aus allgemeinen Begriffen entspringendes, auf einen gehörigen Naturgrund aufgebautes Märchen. [FA I, 23/1, S. 663]
Die Chemiker der Aufklärung verstellten sich hingegen nach Goethes Eindruck allerdings den richtigen Weg zur weiteren Naturerkenntnis dadurch, daß sie die organische Seite vernachlässigten: Man fand, daß Licht und Luft die Farbe gar herrlich erhöhten. Andere waren auf die Farbe des Blutes aufmerksam geworden, und beobachteten, daß das arterielle Blut ein höheres, das venöse ein tieferes Rot zeige. Man schrieb der Wirkung der Luft auf die Lungen jene Farbe zu; weil man es aber materiell und mechanisch nahm, so kam man nicht weiter und erregte Widerspruch. [FA I, 23/1, S. 876]
Die chemische Polarität die sich in der saueren und alkalischen Reaktion manifestiert, erlebte Goethe in der Qualität der polaren Farben rot und
Christa Habrich
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blau quasi sinnlich mit seiner ganzen leidenschaftlichen Empfindungs- und Einbildungskraft: Ich habe nichts dagegen, wenn man die Farbe sogar zu fühlen glaubt; ihr eigenes Eigenschaftliche würde nur dadurch noch bestätigt. A u c h zu schmecken ist sie; blau wird alkalisch, gelbroth sauer schmecken, alle Manifestationen der Wesenheiten sind verwandt. [FA I, 23/1, S. 253]
IV. Das besondere Interesse an den Ausprägungen von Verwandtschaft in der Natur zeigt sich auch an einer Episode, die uns Ferdinand Friedrich Runge (17941867) überliefert hat. Runge, ein junger Apotheker und Naturstoffchemiker, demonstrierte Goethe im Jahr 1819 die Wirkung des Bilsenkrautextrakts auf das Auge einer Katze und Goethe fragte sofort nach, ob die pupillenerweiternde Wirkung auch durch andere Pflanzen »die eine verwandtschaftliche Gestalt haben«51 (etwa wie Tollkirsche und Stechapfel) hervorgerufen werden könne? Der mit Runge befreundete Arzt Karl Heinse hatte diese Pflanzen bereits getestet und Runge bestätigte Goethes Annahme. Heinse fand bei anderen Pflanzen auch solche, die zur Verengung der Pupillen führten, worauf Goethe Runge ermunterte: Da könnte man ja auch auf diese Weise das echte Gegenmittel gegen die schädlichen Wirkungen der Tollkirsche usw. entdecken. Versuchen Sie es doch einmal und lassen Sie von den beiden entgegengesetzt wirkenden Pflanzen nacheinander oder gleichzeitig etwas a u f s Katzenauge einwirken, und beobachten Sie den Erfolg.' 2
A m Ende der Audienz schenkte Goethe Runge eine Schachtel mit Kaffeebohnen unter dem Hinweis »Auch dies können Sie zu Ihren gebrauchen!«
53
Untersuchungen
Goethes Anregung führte zum Erfolg; Runge entdeckte in den
Kaffeesamen bald darauf das Koffein. 5 4 G o e t h e besaß eine besondere
Begabung,
den
Kern
eines
neuen
Forschungsergebnisses zu begreifen und daraus neue Ziele zu definieren. Ein weiteres Beispiel für seine aktive Förderung eines jungen Wissenschaftlers ist sein von 1794-1831 gepflegter Austausch mit Alexander von Humboldt (1769-1859).
51 51 S3
"
Zitiert nach Otto Kratz·. Goethe und die Naturwissenschaften (wie Anm. 1), S. 154. Zitiert nach Otto Kratz·. Ebd. Zitiert nach Otto Kratz·. Ebd. Vgl. Otto Krätz·. Ebd., S. I53f.
Von der Alchemie zur Förderung der chemischen Wissenschaft und Technik
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Hier war es Goethe, der den jungen Forscher immer wieder darauf hinwies, daß die isolierte chemische Interpretation von Experimenten nicht hinreichend sein könne, Aussagen über Lebensprozesse zu machen; die Chemie müsse vielmehr in die Morphologie und Physiologie münden. Goethe gelang es, Humboldt auf das organische Ganze hinzuführen und dessen mechanistisch-atomistische Vorstellungen in eine vitalistische Richtung zu lenken.55 Die »Verwandtschaft« innerhalb der belebten und unbelebten Natur ließ Goethe nicht los und die moderne Affinitätslehre der Chemiker faszinierte ihn so, daß er - das Stichwort wird hier mit Recht erwartet - diese »Wahlverwandtschaften« in seinem gleichnamigen Roman thematisierte. Interpretationen dieses Werks sind Legion, und so möchte ich mich mit einigen Hinweisen zur chemiegeschichtlichen Relevanz begnügen. Der Begriff stammt von Torbern Olof Bergman (1735— 1784), der sein Werk De attractionibus electivis 1775 publizierte.56 In der deutschen Übersetzung führte Christian Ehrenfried Weigel (1748-1831) 1779 den Terminus »Wahlverwandtschaften« ein. Die Verwandtschaftslehre war in der pharmazeutischen Literatur bald vollständig akzeptiert, so daß Göttling 1781 im Zusammenhang mit der Destillation von Pflanzen die dabei eintretenden chemischen Veränderungen folgendermaßen erklären konnte: Alle vegetabilische Substanzen enthalten flüchtiges Laugensalz, welches sich aber mit der vegetabilischen Säure gesättigt, und also in Gestalt eines vegetabilischen salmiakartigen Mittelsalzes d a b e y befindet, in welcher B e s c h a f f e n h e i t es freilich nicht m i t d e m Wasser u n d Weingeist übergehen kann; sezt m a n aber den vegetabilischen K ö r p e r ein fixes Laugensalz bey; so geschiehet hier nach der chemischen Verwandtschaft eine Scheidung, und das fixe Laugensalz verbindet sich seines vorzüglichen VerwandtschaftG r a d e s w e g e n , m i t der vegetabilischen S ä u r e , d a d u r c h w i r d d a n n das
flüchtige
Alkali abgeschieden, u n d kann nun in Gesellschaft der anderen flüchtigen T e i l e des Gewächses mit d e m Wasser oder Weingeist übergehen. 5 7
Göttling hatte Goethe intensiv in die Verwandtschaftslehre eingeführt, die auf alle chemischen Prozesse angewandt wurde, bei denen Umlagerungen und neue Verbindungen entstehen. Daß diese neuen chemischen Einsichten für Goethe keine leichte Kost war, legt er im Roman seinem Eduard in den Mund:
"
Shu Ching Ho: Vom atomistischen Weltbild zum organischen Universum - Goethes Einfluss auf den jungen Alexander von Humboldt. In: Das Allgemeine und das Einzelne. Hg. von Ilse Jahn und Andreas Kleinert, Halle 2003 (Acta Historica Leopoldina 38), S. 81-96, hier S. 82, 84-86.
56
Torbern Olof Bergman: Disquisitio de attractionibus electivis, Uppsala 1775. Johann Friedrich August Göttling: Verbesserte Bereitung der destillirten Wässer und Geister. In: Almanch oder Taschenbuch fur Scheidekünstler und Apotheker auf das Jahr 1781. Weimar 1781, S. 76-81, hier S. 7 8f.
57
2-4
Christa Habrich Es ist schlimm genug, [...] daß man jetzt nichts mehr für sein ganzes Leben lernen kann. Unsre Vorfahren hielten sich an den Unterricht, den sie in ihrer Jugend empfangen; wir aber müssen jetzt alle fünf Jahre umlernen, wenn wir nicht ganz aus der Mode kommen wollen. [FA I, 8, S. 300]
Zur Einübung der neuen Chemie dienten die »chemischen Kabinette«, Probierkästen, wie sie der Hauptmann in den Wahlverwandtschaften erwähnt. (FA I, 8, S. 303) Sie wurden, seit 1790 von Göttling mit einer schriftlichen Anleitung versehen, vertrieben. Je nach Ausstattung enthielt ein solches Kabinett Gläser, Mörser, Gewichte, Waage, Lötrohr, Lösungen und Salze, Indikatorpapiere und Reagenzien und war fur »Scheidekünstler, Aerzte, Mineralogen, Technologen, Fabrikanten, Oekonomen und Naturliebhaber« bestimmt.'8 Mittels dieser Versuche sollte auch Eduards Frau, Charlotte, in die Lehren der neuen Chemie eingeführt und die Anschaulichkeit der Vorgänge gesteigert werden. Die in der schriftlichen Anleitung zu dem Göttlingschen Vollständigen chemischen Probir-Cabinet angegebenen Versuche beziehen sich auch und gerade auf die verschiedenen Formen der chemischen Verwandtschaften. Göttling unterschied die »Verbindungsverwandtschaft« (affinitas synthetica) von der »Wahlverwandtschaft« (affinitas electiva), die »einfache Wahlverwandtschaft« (affinitas electiva simplex) und die »doppelte Wahlverwandtschaft« (affinitas electiva duplex) und führte die Kennzeichnung der einzelnen Komponenten durch Buchstaben ein.59 Der Vortrag des Hauptmanns in Goethes Roman kann als lehrbuchmäßig nach Göttlings Theorie bezeichnet werden: Denken Sie sich ein A, das mit einem Β innig verbunden ist, durch viele Mittel und durch manche Gewalt nicht von ihm zu trennen; denken Sie sich ein C , das sich eben so zu einem D verhält; bringen Sie nun die beiden Paare in Berührung: Α wird sich zu D , C zu Β werfen, ohne daß man sagen kann, wer das andere zuerst verlassen, wer sich mit dem andern zuerst wieder verbunden habe. [FA I, 8, S. 306]
Es handelt sich hier um eine »affinitas electiva duplex«, wo vier, bisher je zwei zu zwei verbundene Wesen in Berührung gebracht, ihre bisherige Vereinigung verlassen und sich aufs neue verbinden. In diesem Fahrenlassen und Ergreifen, in diesem Fliehen und Suchen, glaubt man wirklich eine höhere Bestimmung zu sehen; man traut solchen Wesen eine Art von Wollen und Wählen zu, und hält das Kunstwort Wahlverwandtschaften vollkommen gerechtfertigt. [FA I, 8, S. 305]
58
»
Vgl. Walter Aigner: Die Beiträge des Apothekers Göttling (wie Anm. 31), S. ιγ6{. Walter Aigner. Ebd., S. 116-118, 224f.
Von der Alchemie zur Förderung der chemischen Wissenschaft und Technik
25
Eduard überträgt die Gleichung auf die versammelten Personen und formuliert dies so: Du stellst das Α vor, Charlotte, und ich dein B: denn eigentlich hänge ich doch nur von dir ab und folge dir, wie dem Α das B. Das C ist ganz deutlich der Capitain, der mich für diesmal dir einigermaßen entzieht. Nun ist es billig, daß wenn du nicht ins Unbestimmte entweichen sollst, dir für ein D gesorgt werde, und das ist ganz ohne Frage das liebenswürdige Dämchen Ottilie, gegen deren Annäherung du dich nicht länger verteidigen darfst. [FA I, 8, S. 306] D a ß sich Charlotte als die bessere Schülerin in der Chemie als Eduard erweist, zeigt sich in ihrer B e m e r k u n g zu dieser Personifizierung der c h e m i s c h e n Wahlverwandtschaft: »Gut! versetzte Charlotte, wenn auch das Beispiel, wie mir scheint, nicht ganz auf unsern Fall paßt... [...]« (FA I, 8, S. 306). Charlotte hatte die neue Chemie ganz richtig verstanden: Die Formel war nicht korrekt, denn verwandte Naturen besitzen entgegengesetzte Qualitäten so wie Alkalien und Säuren, und »entgegengesetzte Eigenschaften machen eine innigere Vereinigung möglich« ( F A I, 8, S. 302f.). E d u a r d durfte konsequenter Weise nicht das Β in der Formel sein, sondern, analog zur Salztheorie des Hauptmanns, das A , wodurch sich theoretisch die Paare Eduard und Charlotte, H a u p t m a n n und Ottilie bilden. Bei der doppelten Umsetzung übers Kreuz bilden sich dann wegen der Polarität der Einzelkomponenten die »neuen Paare«: Eduard und Ottilie, Charlotte und Hauptmann. Charlottes Einwurf läßt daher bereits die Katastrophe ahnen und weist darauf hin, daß die Natur die verkehrte Formel korrigieren und geheimnisvoll überhöhen wird: Charlottes K i n d zeigt physiognomische Verwandtschaft mit dem H a u p t m a n n und blickt aus den A u g e n Ottilies. Es endet im Wasser, dem von Thaies postulierten Urelement, das von der Alchemie ebenfalls in diesem Sinne begriffen worden ist. Im T o d von Ottilie und Eduard vollendet sich die zu A plus D gefugte Wahlverwandtschaft. Bemerkenswert ist, daß Goethe nicht eigentlich einen »chemischen« R o m a n schreiben wollte, sondern »in einem sittlichen Falle die chemische Gleichnisrede zu ihrem geistigen Ursprünge zurückfuhren wollte« und »die sittlichen Symbole in den Naturwissenschaften (z.B. das der >Wahlverwandtschaftsah< er hinter jedem Tier den Urtypus, hinter jeder Pflanze die Urpflanze, und der Granit mit seiner »Dreieinigkeit«34 von Feldspat, Quarz und Glimmer war für ihn das urtypische Gestein schlechthin.
Die Transzendierung der morphologischen Gesetze In seinen späteren Jahren kam es bei Goethe zu einer Verallgemeinerung oder Transzendierung von Begriffen und Befunden, die er als Naturforscher erarbeitet hatte. Unter den Gesetzen der Metamorphose sind vor allem drei zu nennen, die Goethe auch im Zusammenhang des menschlichen Lebens oft gebraucht hat: das Gesetz der Stetigkeit, das Gesetz der Kompensation und das Gesetz der Steigerung. Sie lassen sich an Goethes Arbeiten in den drei Naturreichen anknüpfen, weil in jedem dieser Reiche eines der Gesetze besonders deutlich zur Geltung kommt. In der Geologie ist das Gesetz der Stetigkeit vorherrschend. Goethe hatte die Lehre von den Steinen anfänglich auch in die Morphologie einzugliedern versucht, doch mußte er bald erkennen, daß im anorganischen Bereich andere Prioritäten galten." Es fehlte die in den organischen Reichen zentrale Steigerung, denn der Granit als ältestes Gestein war nach Goethes Uberzeugung zugleich das vollkommenste. Unter den geologischen Theorien bevorzugte Goethe den Neptunismus. Diesem zufolge waren alle Gesteine aus einem Urozean als Ausfällungen oder Sedimente übereinander abgelagert worden. Goethe hat ftir seine große Gesteinssammlung bezeichnenderweise nicht nur Musterexemplare jeder Steinart gesucht, sondern gerade solche Exemplare bevorzugt, an denen Ubergänge zwischen verschiedenen Steinarten zu sehen waren. Für ihn war der Aufbau der Erdkruste ein langsamer, stetiger Prozeß, der ohne gewaltsame Einwirkungen vor sich gegangen war. Die Anzeichen für eine rege vulkanische Tätigkeit in der Erdkruste, die der Neptunismus nicht überzeugend erklären konnte, nahm er dagegen nur widerwillig zur Kenntnis. Die »vermaledeite Polterkammer der neuen Weltschöpfung«'6 paßte nicht in sein Naturkonzept. 34
"
36
LA I, Ii, S. 205 (Bildung des Granits und Zinnvorkommen). Vgl. Wolf von Engelhardt: Morphologie im Reich der Steine? In: In der Mitte zwischen Natur und Subjekt. Johann Wolfgang von Goethes »Versuch, die Metamorphose der Pflanzen zu erklären«. 1790—1990. Sachverhalte, Gedanken, Wirkungen. Hg. von Gunther Mann, Frankfurt a.M. 1992 (Senckenberg-Buch, Bd. 66), S. 33-51. LA I, 11, S. 316 (Geologische Probleme und Versuch ihrer Auflösung Februar 1831).
Von der Stufenleiter der Wesen zur Metamorphosenlehre
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Verallgemeinerungen aus dem Gesetz der Stetigkeit werden in Goethes Beurteilung von gesellschaftlichen Veränderungen sichtbar. So konnte er sich bekanntlich nie für die Französische Revolution erwärmen. Gemäß Eckermann gab er als Erklärung: »[...] jedes Gewaltsame, Sprunghafte ist mir in der Seele zuwider, denn es ist nicht naturgemäß«. 37 Naturgemäß war für ihn nur das, was sich in einer regelmäßigen Folge entwickelt. »Folge« wird für ihn deshalb im Alter zu einem eigentlichen Losungswort und Postulat für alles menschliche und natürliche Wirken, wie Friedrich Wilhelm Riemer festhielt: Es geht im Kleinen wie im Großen. Folge! Das einzige, wodurch alles gemacht wird und ohne das nichts gemacht werden kann, warum läßt sie sich so selten halten? Warum so wenig durch sich selbst und andere hervorbringen?38
Als zweites morphologisches Prinzip ist das Gesetz der Kompensation zu nennen. Es wurde von Goethe zuerst in der Zoologie entwickelt. In seinem Fragment gebliebenen Lehrgedicht über die Metamorphose der Tiere ist das Kompensationsgesetz breit ausgeführt: Doch im Innern befindet die Kraft der edlern Geschöpfe Sich im heiligen Kreise lebendiger Bildung beschlossen. Diese Grenzen erweitert kein Gott, es ehrt die Natur sie: Denn nur also beschränkt war je das Vollkommene möglich. [..·] Siehst Du also dem einen Geschöpf besonderen Vorzug Irgend gegönnt, so frage nur gleich, wo leidet es etwa Mangel anderswo, und suche mit forschendem Geiste, Finden wirst du sogleich zu aller Bildung den Schlüssel. [LA I, 9, S. 152E ]
Das Kompensationsgesetz ist ein Gesetz des Ausgleichs: Es besagt, daß die N a t u r für jedes Geschöpf nur einen bestimmten »Etat« zur Verfügung hat, wie Goethe es nannte. 3 9 W e n n auf einen Teil mehr verwendet wird, m u ß dafür ein anderer darben. So hat beispielsweise die Giraffe einen langen Hals, aber einen kurzen Körper; die Schlange verfügt über einen langen Körper, hat dafür aber keine Beine; die Raubtiere besitzen ein vollständiges Gebiß, jedoch keine Hörner, während es bei den grasfressenden Tieren umgekehrt ist. — Die Beispiele, die Goethe anführte, werden in der heutigen Biologie allerdings anders
37
Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, 3. Aufl., Zürich 1976, S. 577f. (27. April 1825).
38
Goethe·. Gespräche in vier [fünf] Bänden. Hg. von Wolfgang Herwig, Zürich 1965—1987, Bd. 2, S. 472 (August 1809).
39
Vgl. LA I, 9, S. H5f. (Erster Entwurf...).
52
Margrit Wyder
erklärt, nämlich mit Selektionsdruck oder mit Anpassungen an die Lebensweise. Weniger zeitgebunden sind die allgemeinen Folgerungen, die Goethe aus dem Etatgesetz abgeleitet hat: Dieser schöne Begriff von Macht und Schranken, von Willkür Und Gesetz, von Freiheit und Maß, von beweglicher Ordnung, Vorzug und Mangel erfreue dich hoch; die heilige Muse Bringt harmonisch ihn dir mit sanftem Zwange belehrend, Keinen höhern Begriff erringt der sittliche Denker, Keinen der tätige Mann, der dichtende Künstler; der Herrscher Der verdient es zu sein, erfreut nur durch ihn sich der Krone. [LA I, 9, S. 153]
Das Kompensationsgesetz betrifft einerseits die Kunst in ihrer klassischen Ausprägung, deren Ziel ja Harmonie war — paradigmatisch dafür steht die Zeile »Denn nur also beschränkt war je das Vollkommene möglich.« Aber das Gesetz gilt auch für die menschliche Lebensführung und Charakterbildung, wo Goethe jede Einseitigkeit vermieden haben wollte. Und nicht zuletzt stellte der Geheime Rat hier auch ein Idealbild für die Fürsten seiner Zeit vor, die ihren Landes-Etat zu verwalten hatten. Goethe nennt das vielseitig anwendbare Gesetz im Lehrgedicht sogar »den höchsten Gedanken«, zu dem die Natur »schaffend sich aufschwang« (LA I, 9, S. 153). Auch die von Goethe im Alter immer mehr betonte Polarität aller Lebensäußerungen läßt sich an das Etatprinzip anschließen. Sei es im Einund Ausatmen, sei es in der Systole und Diastole des Herzschlages: bei zeitlich gestaffelten Phänomenen wirkt das Gesetz der Kompensation als ein rhythmisches Wechselspiel, in dem jedes Ausgreifen in ein Extrem das andere Extrem hervorruft und so das Ganze ausbalanciert. Auch das menschliche Auge funktioniert so, daß es, wie Goethe in seiner Farbenlehre erstmals als Gesetz formuliert hat, jeweils die Komplementärfarbe zu einer ihm dargebotenen Farbe in sich hervorbringt, um damit eine »Totalität« zu erreichen.40 Das dritte Prinzip in der Morphologie ist schließlich das Gesetz der Steigerung. Es wird am deutlichsten in der Metamorphose der Pflanzen sichtbar, aber auch in der Verwandlung der Insekten, wo der Begriff der Metamorphose ja ursprünglich herstammt. Die Transzendierung dieses Gesetzes lautet: Alle Geschöpfe sind von der Natur zu einem stetigen qualitativen Wachstum bestimmt — wenn es im Leben Zeiten der Erstarrung oder scheinbaren Rückschritts gibt, so ist das nur wie der Puppenzustand der Insekten zu deuten. Die Stufen, die eine
40
Vgl. LA I, 4, S. 37-43 (Zur Farbenlehre, Didaktischer Teil, § 47-54).
Von der Stufenleiter der Wesen zur Metamorphosenlehre
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Pflanze bis zur Frucht durchläuft, und die Himmelsstufen, die Faust am Schluß des zweiten Teils in die höheren Sphären führen, sind deshalb Ausdruck eines analogen Strebens, das für Goethe in der Natur selbst liegt — das heißt, es liegt in der Natur, führt aber letztlich über die sichtbare Natur hinaus. Goethe hat Steigerungsprozesse in der Natur immer auch als Zeichen für ein zukünftiges Weiterleben nach dem Tod gedeutet. Der Mensch ist für ihn ein Werdender, er steht in einer dauernden Verwandlung, ja diese ist ihm geradezu Pflicht. Nachdem er im Januar 1831 die letztwillige Verfügung über seinen literarischen Nachlaß getroffen hatte, gibt Goethe, auch in Erinnerung an den Tod seines Sohnes, die Devise aus: »und so, über Gräber, vorwärts!«41 Die Transzendierungsmöglichkeiten der morphologischen Gesetze erklären, warum für Goethe die Wissenschaft der Morphologie so zentral war. Sie prägte sein Denken in einer Wechselwirkung: Denn ohne die Beschäftigung mit der Natur wäre Goethe nicht der Dichter und Mensch geworden, den wir bis heute als Ausnahmeerscheinung kennen und schätzen. In der Naturbetrachtung kamen seine besten Eigenschaften zur Entfaltung: Geduld, Sorgfalt, Selbstdisziplin, vor allem aber die Begeisterungsfähigkeit bis ins höchste Alter, die Fähigkeit zum Staunen - auch über scheinbare Selbstverständlichkeiten wie eine sich öffnende Blüte. Obwohl er gern ins Allgemeine vorstößt, vergißt er darüber nicht das Einzelne. Goethe nimmt als Wissenschaftler seine Forschungsobjekte ernst und tritt der Natur als ganzer Mensch gegenüber, bereit, von ihr zu lernen und sich ergreifen zu lassen. So ist das folgende Gedicht aus den morphologischen Heften vielleicht das schönste Bekenntnis des Naturforschers Goethe: Freudig war, vor vielen Jahren, Eifrig so der Geist bestrebt, Z u erforschen zu erfahren, Wie Natur im Schaffen lebt. Und es ist das ewig Eine, Das sich vielfach offenbart; Klein das Große, groß das Kleine, Alles nach der eignen Art. Immer wechslend, fest sich haltend, Nah und fem und fern und nah; So gestaltend, umgestaltend. — Zum Erstaunen bin ich da. [LA I, 9, S. 192]
W A IV, 48, S. 129. (an Zelter, 23. Februar 1831).
Irmtraut S a h m l a n d
»Die Natur in einer schönen Verknüpfung«: Goethes Adaption der »Aurea Catena Homeri«
Im Herbst 1768 kehrte der erkrankte Goethe aus Leipzig, wo er sein Jurastudium aufgenommen hatte, nach Frankfurt in sein Elternhaus zurück. Er hatte einen Blutsturz erlitten und klagte über Brustschmerzen, die er allerdings in Zusammenhang mit einem Sturz vom Pferd brachte. Eine Geschwulst am Halse wurde von dem Arzt Johann Friedrich Metz und einem Chirurgen behandelt; außerdem stellten sich Verdauungsbeschwerden ein. Unabhängig davon, um welches Krankheitsbild es sich dabei gehandelt haben mag, 1 ist gleichwohl deutlich, daß hier ein Krankheitserleben vorauszusetzen ist, das für Goethe eine existentielle Bedrohung darstellte. N o c h im Rückblick schildert er die Situation als so brisant, »daß ich unter großen Beängstigungen das Leben zu verlieren glaubte«. 2 In der durch diese Ausnahmesituation bedingten besonderen psychischen Verfassung bedurfte es nicht viel, um »inokuliert« zu werden — ein Begriff, der damals aktuell im Kontext der ersten Impfmöglichkeit gegen die Pocken stand und soviel wie »infizieren« bedeutete:3 Goethe nahm einschlägige Geisteshaltungen
1
Nager glaubt, nachträglich nicht etwa eine Lungenerkrankung, sondern ein Magen- und Duodenalgeschwür diagnostizieren zu können, dem auch die Brustschmerzen zuzuordnen seien, sofern man sie als epigastrische Schmerzen deute (vgl. Frank Nager: Der heilkundige Dichter: Goethe und die Medizin, Zürich, 3. Aufl. 1992, zit. nach Georg Schwedt: Goethe als Chemiker, Berlin, Heidelberg 1998, S. 15). Solche nostrifizierenden Diagnosen sind grundsätzlich problematisch und müssen im Einzelfall sehr fragwürdig erscheinen.
2
Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, 40 Bde., Frankfurt am Main I986ff. [Frankfurter Ausgabe, im folgenden FA], 1. Abt., Bd. 14, S. 374. Die Inokulation war etwa seit 1720 in Europa bekannt und wurde von den Medizinern sehr kontrovers diskutiert. Sie stellte das historisch erste Verfahren einer Impfung dar, das mit den Erkenntnissen der Vakzination 1796 und deren Einführung in die Praxis überholt werden sollte. Das Universal-Lexikon der Gegenwart und Vergangenheit oder neuestes encyclopädisches Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe, hg. von Heinrich August Pierer, führt
3
Irmtraut Sahmland
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seiner unmittelbaren Umgebung auf: Katharina von Klettenberg beschäftigte sich mit mystisch-alchemistischer Literatur und stellte eigene praktische Versuche an. Der Hausarzt Dr. Metz war ebenfalls in diesen Kontext einzuordnen: er hielt für den Notfall ein Universalmittel bereit, das er selbst verfertigt hatte und das als Ergebnis der alchemistischen Arbeiten zu verstehen war.4 Schließlich blieb auch Goethes Mutter von diesen Tendenzen nicht unbeeinflußt. In Dichtung und Wahrheit werden verschiedene Autoren angeführt, mit deren Werken man sich zu dieser Zeit intentiv beschäftigte: Paracelsus, Basilius Valentinus, Johann Baptist van Helmont, Georg Starkey sowie Georg von Wellings Opus magocabbalisticumS In der Retrospektive schreibt Goethe: Mir wollte besonders die Aurea Catena Homeri gefallen, wodurch die Natur, wenn auch vielleicht auf phantastische Weise, in einer schönen Verknüpfung dargestellt wird; und so verwendeten wir, teils einzeln, teils zusammen, viele Zeit an diese Seltsamkeiten, und brachten die Abende eines langen Winters, während dessen ich die Stube hüten mußte, sehr vergnügt zu, indem wir zu Dreien, meine Mutter mit eingeschlossen, uns an diesen Geheimnissen mehr ergetzten, als die Offenbarung derselben hätte tun können. 6
4
diese spezielle Bedeutung an: »einen ansteckenden Krankheitsstoff in die Haut einbringen, um durch die dadurch bewirkte Krankheit gelinder Art entweder deren späterm und gefährlicherm Ausbruch vorzubeugen [...] oder um sich gegen eine andere geflirchtetere Krankheit zu schützen [...]« (zit. nach der 2., völlig umgearb. Aufl. [3. Ausgabe], Altenburg 1843, 15. Bd., S. 180). Das Grimmsche Wörterbuch dagegen kennt das Wort inokulieren in diesem Sinne nicht (mehr), sondern fuhrt nur das Wort okulieren in der Ableitung von lat. inoculare auf und versteht dieses in der Bedeutung des Pfropfens von jungen Bäumen zum Zwecke ihrer Veredlung (vgl. Bd. 13, 1880, Sp. 269). Vorzugsweise wird dieses Umfeld Goethes in Frankfurt als ein pietistisches wahrgenommen (vgl. auch den Band: Goethe und der Pietismus. Hg. von Hans-Georg Kemper und Hans Schneider, Tübingen 2001 [Hallesche Forschungen, Bd. 6]). Auf die spezifische religiöse Geisteshaltung wird in diesem Zusammenhang nicht rekurriert, auch Goethes Beziehungen zum Pietismus nicht hinterfragt (vgl. dazu Paul Raabe·. Separatisten, Pietisten, Herrnhuter. Goethe und die Stillen im Lande. Ausstellung in den Franckeschen Stiftungen zu Halle vom 9. Mai bis 3. Oktober 1999 [Kataloge der Franckeschen Stiftungen, 6], Halle/Salle 1999). Allerdings ist eine besondere Affinität zwischen pietistisch geprägter Glaubensauffassung zu der naturphilosophischen Grundlage der Alchemie augenfällig und begründbar.
5
Die Schrift Opus mago-cabbalisticum et theosophicum, darinnen der Ursprung, Natur, Eigenschaften und Gebrauch des Saltzes, Schwefels und Mercurii, in dreyen Theilen beschrieben, und nebst sehr vielen sonderbaren mathematischen, theosophischen, magischen und mystischen Materien, auch die Erzeugung der Metallen und Mineralien, aus dem gründe der Natur erwiesen wird; sammt dem Haupt-Schlüssel des gantzen Wercks und vielen curieusen mago-cabbalistischen Figuren war zuerst in Homburg vor der Höhe 1735 erschienen, in einer weiteren Auflage Frankfurt und Leipzig 1760, hier allerdings mit einem Anhang rein alchemistisch-praktischen Inhalts.
6
Werke, FA I, 14, S. 373.
Goethes Adaption der »Aurea Catena Homeri«
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In der, abgeklärten Distanz des Alters enthält diese Schilderung zugleich eine Wertung ex post, deren Doppeldeutigkeit bemerkenswert erscheint: Es ist die Rede von »Seltsamkeiten«, an die man viele Zeit verwendete — oder sollte man lesen verschwendetet scheint doch immerhin eine gewisse disqualifizierende Wertung mit dieser Begriffswahl impliziert zu sein. Ein ähnliches Unbehagen ergibt sich, wenn es heißt: »auf phantastische Weise« werde eine »schöne Verknüpfung« dargestellt. Auch hier ist durch die zeitliche Distanz zwischen dem Erlebten und dessen Schilderung nicht sicher, auf welcher Zeitebene die Aussage zu verorten ist: erschien dem jungen Goethe das, was sich in der Aurea Catena auftat, phantastisch im Sinne von aufregend, erwartungs- und hoffnungsvoll, oder spricht der alte Goethe von irrealer, abwegiger Phantasterei? »Schöne Verknüpfung« meint es eine harmonische, stringente, eine gute, idealische Verbindung, die damit auch ästhetisch schön ist,7 oder ist es eine schöne, weil erwünschte, aber illusorische, nur dem Anschein nach bestehende Verknüpfung? Eindeutig, weil als historisch-authentischer Bericht verfaßt, erscheint dagegen die Aussage, man habe sich an den Geheimnissen mehr ergötzt, als es deren Offenbarung vermocht hätte. - Die Lektüre kultiviert und unterstützt also eine kontemplative, erbauliche Stimmung, und es ist gerade das hinter dem Buchstaben sich verbergende Geheimnis, das Verhüllte, das in dieser Stimmungslage attraktiver erscheint als es eine nachvollziehbare Bestätigung, die Enthüllung, hätte sein können. Goethe stößt auf die Idee der Kette der Wesen, eine Vorstellung, wie sie in der Ilias enthalten ist. Um der versammelten Götterschar zu verbieten, sich etwa zugunsten der Achaier oder der Troer in das Kampfgeschehen einzumischen, verwendet Zeus mit warnender, geradezu drohender Gebärde folgendes Bild: A u f wohlan, ihr Götter, versucht's, dass ihr all es erkennet: Eine goldene Kette befestigend oben am Himmel, Hängt dann all ihr Götter euch an und ihr Göttinnen alle; Dennoch zögt ihr nie vom Himmel herab auf den Boden Zeus, den Ordner der W e l t , wie sehr ihr rängt in der Arbeit!
Mit diesen Konnotationen ist das Prinzip der Aurea mediocritas verbunden, das auch im 18. Jahrhundert sehr geläufig war. Beispielhaft sei verwiesen auf Christoph Wilhelm Hufeland: Makrobiotik oder die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern (1796): »Das Resultat aller Erfahrung und ein Hauptgrund der Makrobiotik ist: die goldene Mittelstraße in allen Stücken, die aurea mediocritas, die Horaz so schön besingt [...] ist auch zur Verlängerung des Lebens am zuträglichsten. In einer gewissen Mittelmäßigkeit des Standes, des Climas, der Gesundheit, des Temperaments, der Leibesconstitution, der Geschäfte, der Geisteskraft der Diät u.s.w. liegt das größte Geheimnis, um alt zu werden. Alle Extreme, sowohl das zu viel, als das zu wenig, sowohl das zu hoch, als das zu tief, hindern die Verlängerung des Lebens.« (zit. nach der Ausgabe i860, S. 124). Eine verläßliche Orientierungsmaxime mit ausgesprochen ästhetischer Qualität ist etwa der vielfach in der bildenden Kunst beachtete Goldene Schnitt.
Irmtraut Sahmland
5«
A b e r sobald auch mir im Ernst es gefiele zu ziehen, Selbst mit der E r d euch zog ich e m p o r u n d selbst mit dem Meere. U n d die Kette darauf u m das Felsenhaupt des O l y m p o s B ä n d ich fest, dass schwebend das Weltall hing' in der Höhe! S o weit rag ich vor G ö t t e r n an M a c h t , so weit vor den Menschen! 8
Die Goldene Kette ist hier ein Instrument, das einem Seil vergleichbar dazu dient, antagonistische Kräfte miteinander zu messen. Sofern die Götter es wagen sollten, sich gegen ihn zu stellen, fordert Zeus sie zum Seilziehen auf, und es würde eine souveräne Demonstration seiner Macht werden. Zu Beginn des 5. Jahrhunderts findet sich bei Ambrosius Theodosius Macrobius in dessen Kommentar zu Ciceros Somnium Scipionis folgender Passus: D a nun also aus dem höchsten G o t t der Geist, u n d aus dem Geist die Seele entsteht und diese ihrerseits alle weiteren D i n g e schafft u n d mit Leben erfüllt [...] da weiterhin alle D i n g e in ununterbrochener Folge nacheinander zum untersten E n d e der Reihe hinabsteigen: wird der aufmerksame Betrachter eine einzige Verbindung von ineinander verflochtenen und nirgendwo unterbrochenen Gliedern entdecken, die v o m höchsten G o t t bis zum verächtlichsten aller D i n g e hinabreicht. U n d dies ist H o m e r s goldene Kette, die, w i e er sagt, G o t t v o m H i m m e l a u f die E r d e h i n a b h ä n g e n zu lassen befahl.'
Indem Macrobius auf Homers goldene Kette rekurriert, wird Zeus' Instrument zur Metapher für ein sinnhaft geordnetes Weltgefüge, ein philosophisches Axiom, wie es insbesondere von Piaton, Aristoteles und Plotin formuliert worden war.10 In der Wissens- und Glaubenstradition ist seitdem die Vorstellung eines postulierten Zusammenhangs der Vielfalt der Erscheinungen mit dem Bild der Kette eng verknüpft," wobei es durch andere, ebenfalls die Kontinuität symbolisierende Metaphern ersetzt werden kann. In christlicher Diktion ist diese Idee durch
8
Homer, Ilias, VIII. Gesang, Vers 18-27, ' n der Übertragung von Johann Heinrich Voß, Hamburg 1793 (dtv-bibliothek Literatur, Philosophie, Wissenschaft), Lizenz-Ausgabe des Winkler-Verlages, München 1979, S. 127.
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Ambrosii Theodosii Macrobii Commentarii in Somnium Scipionis, I, 14, 15, Leipzig 1970, S. 58, zit. nach Arthur O. Lovejoy·. Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens (The Great Chain of Being. Α Study on the History of an Idea, Harvard 1933), übersetzt von Dieter Turck, Frankfurt/M. 1985, S. 82f.
10
Lovejoy, der als Begründer der History of Ideas gilt, hat das große Verdienst, die Geschichte dieses Gedankens der großen Kette der Wesen bzw. der Stufenleiter des Seins auf der Basis einer beeindruckenden Quellendichte aufgearbeitet zu haben. Während er vor allem die philosophische Tradition verfolgte, wurde jedoch die Bedeutung dieser Idee für den christlich-religiösen Kontext wie für den mystisch-alchemistischen Zusammenhang zu wenig berücksichtigt.
"
Lovejoy spricht Macrobius eine wesentliche Rolle bei der Übermittlung der antiken Ideen an die Autoren des Mittelalters zu (vgl. wie Anm. 9, S. 82).
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die Himmelsleiter versinnbildlicht, die Jakob im Traum erschien (i. Mose, 28, 22). Die Jakobsleiter bildete eine Bildtradition aus, deren wesentliches Element im Unterschied zur antiken Kosmologie eine Dynamik ist, die den Menschen auffordert, sich von einer Sprosse zur nächst höheren stetig fortzubewegen. 12 Eine andere, die Geschichte des abendländischen Denkens prägende Idee war die Korrespondenz zwischen Makro- und Mikrokosmos. Als konstitutives Element bestimmte sie in vielfältiger Weise theoretische Konzepte wie das daraus sich ergebende Handeln. Nach Maßgabe dieses durch Analogie und gegenseitige Spiegelung geprägten Bezugssystems wurde insbesondere die kleine Welt von der großen dauerhaft beeinflusst. Gleichwohl blieben beide Sphären in einer unüberwindlichen Distanz. Stünde zu vermuten, daß diese Vorstellung vor allem durch die Erkenntnisse eines Newton neuen Auftrieb erfahren hätte, 13 so war es stattdessen die beide Bereiche miteinander verknüpfende Formel von der Kette der Wesen, die im 18. Jahrhundert eine besondere Attraktivität erlangte. Sie eignete sich nach wie vor, um tradierte Vorstellungen bzw. Axiomata einer gegebenen Kontinuität des Weltzusammenhangs zu transportieren. So war sie spätestens mit Gottfried Wilhelm Leibniz, Alexander Pope und John Locke im gedanklichen Repertoire der Zeit fest verankert. Von welcher philosophischen Basis sie auch abgeleitet und begründet wurde — sie bot die Gewähr für eine geplante, strukturierte Welt, die lückenlos, also ohne Brüche und damit verbundene Unwägbarkeiten, gestaltet worden war. Es war also von einem zugrundeliegenden, verlässlichen Bauprinzip auszugehen, der Ratio und Vernunft zugänglich. D i e Kette als Metapher einer verbindlichen O r d n u n g war f ü r das Selbstverständnis im 18. Jahrhundert in verschiedener Hinsicht von Bedeutung: Sie bot eine Möglichkeit, mit dem Theodizieeproblem umzugehen, das latent
11
Einige Bildnachweise seien hier angegeben: eine Illustration befindet sich in der Katakombe an der Via Latina in Rom (4. Jh. n. Chr.), abgedruckt in: Meyers großes Taschen-Lexikon in 24 Bänden, Mannheim, Wien, Zürich 1981, Bd. 11, S. 17; die Himmelsleiter des Johannes Klimakos (6. Jh.) in einer Darstellung des 12. Jahrhunderts; abgebildet in Alexander Roob: Das Hermetische Museum. Alchemie & Mystik, Köln 1996, S. 291; vgl. auch eine Illustration zu Hildegard von Bingen: Scivias. Hier steigen die göttlichen Tugenden mit Steinen beladen auf der Leiter empor, Abbildung in: Heinrich Schipperges: Die Welt der Hildegard von Bingen, 1997, S. 127; die Jakobsleiter als Buchmalerei in einer englischen Bibel, Abbildung in Lucien Braun·. Paracelsus. Alchemist — Chemiker. Erneuerer der Heilkunde. Eine Bildbiographie, Zürich 1988 (Die großen Schweizer), S. Π5; schließlich sei verwiesen auf eine Darstellung der Himmelsleiter auf dem Epitaph der Stadtkirche in Wittenberg.
13
Tatsächlich wäre ein so weit verbreitetes Phänomen wie der Mesmerismus in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts auch vor diesem ideengeschichtlichen Kontext zu befragen.
Irmtraut Sahmland
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vorhanden, in Leibniz' Konzept der besten aller möglichen Welten jedoch als besonders drängend empfunden werden mußte und das zudem seit dem Erdbeben von Lissabon (1733) eine unmittelbar aktuelle Brisanz erhielt. D i e Erklärung des Übels in der Welt, die als W e r k eines v o l l k o m m e n e n u n d unbedingt guten Schöpfers verstanden werden sollte, konnte abgesehen davon, daß eine Differenz zwischen dem Schöpfer und seiner Welt bestehen mußte, durch eine A r t Entgrenzung gelingen: D e r Verweis auf entfernte Planeten mit anderen Lebensbedingungen vermochte den eigenen Erfahrungshorizont zu relativieren und damit die Bedeutung des Übels in der Welt zu minimieren. D e m Prinzip der unendlichen Fülle entsprechend bedurfte es sogar des Negativen, da ihm die Vielfalt des Positiven allein nicht genügen würde. Die spezifische Relevanz der Kontinuitätsmetapher bestand aber auch in der Abwehr materialistischer Tendenzen, denn die mit einer Kette repräsentierte Stringenz ließ keinen Platz f u r Phänomene wie den leeren R a u m oder den Zufall. Sie spielt in der Kritik des Materialismus, wie er mit D e m o k r i t und E p i k u r , insbesondere aber in Auseinandersetzung mit Descartes u n d L a Mettrie geübt wurde, eine ganz erhebliche Rolle. 1 4 Wurde die Ordnungsmetapher also einerseits als adäquate Ausdrucksform fur einen sinnhaften und guten Zusammenhang der Welt in ihrer unübersehbaren Fülle eingesetzt, so ist eine weitere wichtige Ursache für die Attraktivität der Aurea catena H o m e r i im 18. Jahrhundert darin zu sehen, daß sie darüber hinaus auch einen Rahmen für zeitgenössische Forschungsinteressen bieten konnte. Für ihre Verbreitung war ausschlaggebend, dass ihre Prinzipien wie Lückenlosigkeit und unendliche Fülle der Formen nicht durch die Entdeckung der modernen Wissenschaft unterlaufen, sondern vielmehr untermauert wurden. Die Metapher der Wesensleiter bot sich dann geradezu an, neue wissenschaftliche Ergebnisse sinnlich zu veranschaulichen [...].IS
14
Is
Da hier nur eine vordergründige Skizzierung des Rahmens erfolgen kann, um die Relevanz des Motivs im Denken des 18. Jahrhunderts anzudeuten, sei auf die detaillierten Ausführungen von Lovejoy (wie Anm. 9) verwiesen (insbesondere Kapitel VI bis IX); vgl. auch Margrit Wyder·. Goethes Naturmodell. Die Scala Naturae und ihre Transformationen, Köln, Weimar, Wien 1998, S. 18-45; vg'· ferner die Ausführungen von Margit Hacker: Anthropologische und kosmologische Ordnungsutopien: Christoph Martin Wielands »Natur der Dinge« (Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie, 3), Würzburg 1989, S. 19-44. D' e Materialismuskritik ist ein ganz wesentlicher Impetus für Wieland; vgl. Christoph Martin Wieland: Die Natur der Dinge oder die vollkommenste Welt. Ein Lehrgedicht in sechs Büchern, 1751. C. M. Wielands Sämmtliche Werke, Supplemente Erster Band, Leipzig 1798 (Hamburger Reprintausgabe 1984), S. 3—274. Hacker (wie Anm. 14), S. 31.
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Sie beinhaltete damit eine konstruktive Perspektive vor allem für die zeitgenössische Naturforschung. 1 6 Grundsätzlich eignen sich andere Metaphern, um Kontinuität und Stringenz zu symbolisieren, vorzugsweise das Band oder der Faden. Bietet der Ariadnefaden Orientierung, 17 so ist es der Lebensfaden, den die Parze durchtrennt u n d damit die Kontinuität des Seins beendet.' 8 Daneben läßt sich aber auch ein auffälliges Spiel mit d e m Bild der Aurea Catena beobachten, das angesprochen, aber nicht direkt zitiert wird. 19 Diese Tatsache m u ß als Indiz dafür gewertet werden, in welchem M a ß e dieser Gedanke im Bewußtsein der Zeit tatsächlich verhaftet war. Auch G o e t h e wählt den Faden als Bild f ü r eine von Christus ausgehende Verbindung zur Welt: Im Ewigen Juden heißt es: Wo! rief der Heiland ist das Licht, Das hell von meinem Wort entbronnen, Weh und ich seh den Faden nicht Den ich so rein vom Himmel rab gesponnen. 20 Auch hier handelt es sich u m eine offensichtliche Variation der Kettenmetapher, die z u d e m d u r c h a u s n i c h t v o r d e r g r ü n d i g bleibt. D a C h r i s t u s auf e i n e m fernen Planeten angetroffen wird, steht das Konzept der entgrenzten W e l t im Hintergrund. 2 1 Angesichts der dichten Präsens der Formel der Kette der Wesen u n d der Variationsbreite von Begriff und Bedeutung erscheint es unumgänglich, den festen Boden, gleichsam den Granit, aufzusuchen, u m von dieser Basis ausgehend die Rolle u n d Bedeutung dieser Denkfigur bei Goethe zu hinterfragen.
16 17
Vgl. Lovejoy (wie Anm. 9), S. 274—291. In diesem Sinne verwendet auch Goethe das Bild; vgl. »Das Unternehmen wird entschuldigt«, FA I, 24, S. 389-390, S. 390.
18
So in Goethes »Harzreise im Winter«, FA I,i, S. 322-324.
19
So verwendet Wieland ζ. B. statt der goldenen Kette das »diamantne Band« (Wieland: Die Natur der Dinge (wie Anm. 14), I, V. 184), das »(untrennbare) Band, das Kraft und Wirkung einet« (I, V. 425), »das allgemeine Band, das alle Theile fugt« (I, V . 563^), »das ewig feste Band, das die Geschöpfe knüpft an die allmächt'ge Hand« (II, V . 6γ{.), »ein geheimes Band, das alle Geister reiht« (II, V . 303).
20
Johann Wolfgang Goethe:
11
Bemerkenswert und interpretationsbedürftig ist, daß Christus gerade als Hebamme im Einsatz ist (V. 100—102). Natürlich ist damit die Nähe zu Christus medicus gegeben, er wird also in seinem helfenden und heilenden Wirken zitiert; tatsächlich gibt es die Vorstellung, daß Jesus als Hebamme unter der Geburt eingreifen könne; sie begegnet allerdings nur sehr vereinzelt.
Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, [Münchner Ausgabe, im folgenden MA], Bd. 1.1, München 1985, S. 238-246, V . 170-173.
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Irmtraut Sahmland
Goethes Lektüre Goethe trifft auf die Aurea Catena vermittelt über eine Schrift mit dem gleichnamigen Titel, die 1723 anonym erschienen war. 22 Ob es sich dabei wirklich um die erste Bekanntschaft mit der Idee der Kette der Wesen gehandelt hat, kann aufgrund der festen Verankerung in der Wissenstradition der Zeit bezweifelt werden. Immerhin ist hier die Ausgangsposition markiert, die zu einer intensiveren Auseinandersetzung bei Goethe führen sollte. Die Lektüre dieser Schrift steht in Verbindung mit Goethes Beschäftigung mit der Alchemie. Tatsächlich gehört die Aurea Catena Homert in diesen einschlägigen Kontext, was nicht zuletzt daraus hervorgeht, daß das Werk 1781 auf rosenkreuzerische Initiative hin unter dem Titel Annulus Piatonis quasi neu aufgelegt wurde.23 Dabei war der Ursprung des Bildes offenbar nicht gegenwärtig, vermutete man doch, der Verfasser sei ein Rosenkreuzer mit dem Ordensnamen Homeros, den aufzulösen allerdings nicht gelang.24 Die Aurea Catena Homeri stellte einen Grundlagentext fur die Arbeit in Rosenkreuzerzirkeln dar, mit dem sich insbesondere die unteren Ordensgrade intensiv auseinandersetzen sollten, um sich die Theorie anzueignen und sich so auf die dann zunehmend praktisch ausgerichteten Arbeiten in den höheren Ordensgraden vorzubereiten.25
22
Aurea Catena Homeri. Oder: Eine Beschreibung Von dem Ursprung Der Natur und natürlichen Dingen/ Wie und woraus sie geboren und gezeuget/ auch wie sie in ihr uranfänglich Wesen zerstöret werden, auch was das Ding sey/ welches alles gebäret und wieder zerstöret/ nach der Natur selbst eigener Anleitung und Ordnung auf das einfältigste gezeiget/ und mit seinen schönsten rationibus und Ursachen überall illustriret. Franckfurt und Leipzig 1723.
23
Annulus Piatonis oder physikalisch-chymische Erklärung der Natur nach ihrer Entstehung, Erhaltung und Zerstöhrung, von einer Gesellschaft ächter Naturforscher aufs neue verbessert und mit vielen wichtigen Anmerkungen herausgegeben. Berlin, Leipzig 1781. In der Ausgabe von 1781 wird der Verfasser wiederholt als »unser Bruder Homeros« tituliert, wobei man den Ordensnamen entschlüsselt und einen Mediziner namens Herward von Forchenbrunn identifiziert zu haben glaubte (vgl. Hermann Kopp·. Aurea Catena Homeri, Braunschweig 1880, S. 22, S. 36). Es war das übliche Verfahren, daß die Mitglieder einen Ordensnamen zugewiesen bekamen, der sie anonymisierte. Dadurch wurde der esoterische Charakter der Geheimbünde deutlich unterstrichen. In den Korrespondenzen von Ordensmitgliedern wie auch innerhalb eines arbeitenden Zirkels wird die Frage der Identität einzelner Ordensnamenträger immer wieder thematisiert. Detailliertere Einblicke in die Arbeit eines Geheimbundes erlauben die von Steiner aufgefundenen Archivalien über den Rosenkreuzerzirkel in Kassel; vgl. Gerhard Steiner·. Georg Forsters Weg durch Geheimbünde. Neue Forschungsergebnisse auf Grund bisher unbekannter Archivalien, Berlin, Lizenzausgabe Weinheim 1985. Vgl. auch Irmtraut Sahmland: Soemmerring als Freimaurer und Rosenkreuzer in Kassel. In: Samuel Thomas Soemmerring in Kassel (1779— 1784). Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte der Goethezeit (Soemmerring-Forschungen, hg. von Jost Benedum und Werner F. Kümmel, Bd. IX), Stuttgart, Jena, New York 1994, S. 353-422.
24
25
Vgl. Georg Forster an Samuel Thomas Soemmerring am 10. 7.1784; Georg Forsters Werke, Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe. Akademie-Ausgabe (im folgenden AA), Berlin I958ff., Bd. 14, S. 128.
Goethes Adaption der »Aurea Catena Homeri«
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Der Geheimbund der Gold- und Rosenkreuzer war in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts der bevorzugte Ort für das Studium hermetischer Schriften und alchemistisches Arbeiten. Hier wurde eine Naturphilosophie propagiert, die den Anspruch erhob, ein umfassendes Welterklärungsmodell zu bieten, in dem verschiedene Traditionsstränge zusammengeführt wurden. Charakteristisch ist die Verbindung einer bis auf die antiken Naturphilosophen zurückreichenden Theorie der Natur mit einem christlichen Weltverständnis als Schöpfung Gottes. Naturerkenntnis, Einblick in den postulierten Zusammenhang ist nur in dem Maße möglich, wie der Adept sich dessen würdig erweist. Das Maß seiner Einsicht korrespondiert mit dem Grad seiner eigenen Läuterung, deren Zunahme sich in dem stufenweisen Voranschreiten der Ordensgrade spiegelt, um schließlich in das Innerste der Schöpfung vorzudringen. Uberwindet er seine Blindheit und tritt in das Licht, so wird er fähig, selbst wie ein alter deus an der Schöpfung mitzuwirken, um ihren durch den Sündenfall notwendig unvollkommenen Zustand zu verbessern und schließlich zu überwinden. Konkret geschieht diese Perfektibilisierung bezogen auf die anorganische Natur durch die Bearbeitung unedler Metalle, die mittels der Quinta essentia durch eine Abfolge zahlreicher Schritte in Gold überführt werden; in der organischen Natur zielt die Vervollkommnung auf die Uberwindung von Krankheit mittels der Bereitstellung einer Universalmedizin, die aus dem universalen Kontext gewonnen und universell wirksam ist. Das Axiom und die Prämisse solcher Arbeit ist ein die gesamte Natur umfassendes Organisations- und Ordnungsprinzip. Bestehend aus gleichen Elementen, von denen das Einzelne unterschiedliche Anteile und Mischungsverhältnisse aufweist, ordnet sich die Natur in einer hierarchisch strukturierten Abfolge. Der Adept, dem diese Erkenntnis durch Gottes Gnade gewährt wird, kann sie für das Opus magnum nutzen und damit über die Natur hinausgelangen. Der Geheimbund der Rosenkreuzer und das dort veranstaltete Laborieren ist keineswegs als ein anachronistisches Element im Zeitalter der Aufklärung zu begreifen — tatsächlich war das dort in Aussicht gestellte Wissen von hoher Attraktivität. So waren es ζ. B. keine geringeren als Samuel Thomas Soemmerring und Georg Forster, die in der Zeit von 1779 bis 1784 sehr aktiv in einem Zirkel arbeiteten - Forster besetzte die Funktion als Redner, Soemmerring fungierte sogar als Zirkeldirektor. Es war kein Obskurantismus, der sie dahin führte, sondern es war der »Geist der Wissenschaft«, »Wahrheitsliebe, brennender Durst nach Gewissheit und Uberzeugung von gewissen Wahrheiten, mit etwas schwärmerischem Hange, sie gern für möglich und wahr zu halten«. 26 Forster bringt es auf den Punkt, wenn er im Nachhinein schreibt: Georg Forster an Samuel Thomas Soemmerring am j./6. 6. 1784; ebd., S. 88.
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Irmtraut Sahmland Nichts ist berauschender fur einen so eiteln Menschen, wie ich war, als das Glück, den großen Zusammenhang des Schöpfungsplanes zu übersehen, Gott nahe, in ihm gleichsam anschauend Alles zu lesen und concentrirt zu übersehen, was in anscheinender und unbegreiflicher Unordnung da vor uns liegt, ein Vertrauter der Geisterwelt und selbst ein kleiner Halbgott, ganz Herr der Schöpfung, alle, auch die noch verborgenen Naturkräfte zu kennen, ihnen zu gebieten [...] 27
Auch sie waren auf der Suche nach der Erkenntnis dessen, »was die Welt im Innersten zusammenhält«.28 Die Alchemie und ihre naturphilosophische Basis, die als die eigentliche, bessere Naturforschung propagiert wird und zur wahren Aufklärung führe, war noch nicht widerlegt, sie hatte historisch noch ihre Chance; man denke nur daran, dass James Price, Mitglied der Royal Society of London, 1781 die vielbeachtete Bekanntmachung abgab, er habe aus Quecksilber Gold gewonnen - der daraufhin anberaumten wissenschaftlichen Begutachtung entzog sich Price freilich durch Suizid!29 Man denke ferner daran, daß ebenfalls in den 1780er Jahren ein heftiger Streit entfachte und in der Nicolaischen Berlinischen Monatsschrifi ausgetragen wurde, in dem es um eine Universalmedizin ging, die ein Baron von Hirschen aus Dresden als Luftsalz bzw. Luftsalzwasser kolportierte, das Johann Salomon Semler tatsächlich für die Quinta essentia hielt!30 Ohne daß Goethe im engeren Sinne in diese Kontexte involviert gewesen wäre, war es doch dieses geistige Klima, in dessen Rahmen sich offenbar auch sein Interesse für diese Lehre einordnet. Dabei hebt er die Aurea Catena Homert ausdrücklich hervor, denn hier sei die Natur in einer schönen Verknüpfung dargestellt. Das ist nun nichts Spezifisches, denn auch andere alchemistische Texte weisen eine solche Verknüpfung auf, ja, diese ist geradezu die Voraussetzung überhaupt für alchemistisches Arbeiten! Dennoch: Es gibt Besonderheiten dieser, wie Kopp schlüssig nachgewiesen hat,3' von einem österreichischen Arzt namens Joseph Anton Kirchweger in der Zeit zwischen 1700 und 1710 verfaßten Schrift, die an dieser Stelle kurz benannt werden sollen.
17 18 19
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Georg Forster an Thesere Heyne am 1. 8. 1784, ebd., S. 146. »Faust«, 1. Teil, FA I, 7/1, S. 34, V. 382-383. Vgl. Sahmland (wie Anm. 24), S. 411-412. Vgl. Leopold Freiherr von Hirschen: Unterricht zum Gebrauch des Luft=Salzes und Beweis von der Möglichkeit der hermetischen Universal=Arzeney aus Naturgründen und Tatsachen, Leipzig 1786; vgl. die unter dem Pseudonym Thomas Akatholikus erschienenen Beiträge in der Berlinischen Monatsschrift vom Februar, Juni und Juli 1787; vgl. Johann Salomon Semler·. Hermetische Briefe wider Vorurtheile und Betrügereien, Leipzig 1788. Vgl. Kopp (wie Anm. 24), S. 35-50.
Goethes Adaption der »Aurea Catena Homeri«
Charakterisierung der Aurea Catena H o m e r i Im Unterschied zu anderen Werken konzentriert sich dieser Text auf die Theorie, ohne die unmittelbar praktische Ebene in Form von mühsam zu entziffernden Anleitungen, die nachgearbeitet werden sollen. Die Einbettung in das christliche Glaubensverständnis ist zwar gegeben, tritt aber vergleichsweise deutlich in den Hintergrund. Die Verbindung reicht deshalb nicht, wie in anderen Konzeptionen, über das Diesseits hinaus in Sphären anderer Dimension, in denen sich die hierarchisch gestufte Anordnung der Wesen in unendlichen Distanzen kontinuierlich bis zu Gott als dem Ursprung und Anfang der Kette fortsetzte; die Aurea Catena Homeri konzentriert sich tatsächlich vor allem auf die untermondische Welt. 32 Diese ist in der gängigen Abfolge der drei Reiche: mineralisches, vegetabilisches und animalisches Naturreich angeordnet, dessen oberste Position mit dem Menschen besetzt ist. Die Entstehung der Welt wird in enger Anlehnung an den biblischen Schöpfungsmythos vorgestellt: Aus dem Chaos kommt das Licht bzw. Feuer, dieses senkt sich herab und schwebt über dem Wasser, wo es sich verdichtet und sich zunächst zu Erde materialisiert, das heißt, in dieser Abfolge werden die vier Elemente konstituiert, die innerhalb der Hierarchie verschiedene Ebenen besetzen. In den von ihnen beherrschten Bereichen erfolgt sodann die weitere Ausdifferenzierung. In der hierarchischen Reihung verändern sich die Verhältnisse von geistiger Substanz und Materie zugunsten der geistig-immateriellen Anteile. Dieser große Bauplan reproduziert sich auf den einzelnen Stufen. So bildet sich auf der Erde das anorganische Reich sowie des weiteren das Pflanzenreich und schließlich die Tierwelt aus. Die Fülle der Erscheinungen entsteht nach Maßgabe spezifisch zugewiesener Kräfte, die auch entsprechende Potentiale beinhalten, um sowohl die Multiplikation wie auch ihre Reproduktion zum Zwecke ihrer Erhaltung zu garantieren.33 Die
n
Kopp charakterisiert den Inhalt wie folgt: »Es ist eine Kosmogonie, die hier geboten wird, in vorzugsweiser Berücksichtigung Dessen, was die Erde betrifft und was noch auf ihr vorgeht, mit detaillierterer Bezugnahme auf angebliche oder vermeintliche chemische Erkenntniss, als meines Wissens vorher versucht worden war.« (ebd., S. 15).
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Vgl. Aurea Catena Homeri (wie Anm. 22), S. 42f. Ein zentraler, wenn auch längerer Passus aus dieser nur mehr seltenen Schrift sei an dieser Stelle zitiert: »Aus dem subtilesten Theil hat Gott den Himmel und seine Einwohner gemacht, weil er das subtileste, klareste, reineste, geistreicheste, voller Leben und Seel war, der lebhafift=feurigste und fruchtbareste und beweglichste Theil. Aus dem nechstfolgenden um einen grad mindern Theil machte Gott das Firmament, nachgehende folget die Luflft, hernach das Wasser, und dann die Erde. Also schiede Gott eines nach dem andern, und gab ihnen Namen und Krafft zu wircken, und jedes hiesse er seines gleichen hervor bringen, und dieses alles per potentiam impositam verbo divino & impressam immortalis quasi seminis virtutem multiplicabilem, nach welcher er ihnen das verbum multiplicationis zu seinem
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Stufenfolge ist durchgängig, und zwar nach beiden Seiten. Das heißt, es finden Transformationsprozesse statt, die allerdings so gestaltet sind, daß zunächst eine möglichst enge Assimilation zweier Wesen erreicht werden muß. 34 Ob das Ergebnis in der Rangfolge nach oben oder nach unten weist, hängt davon ab, welcher Anteil der potentere ist — hier manifestiert sich der Grundsatz: natura non facit saltus. Extreme lassen sich demnach nicht unmittelbar, sondern nur über graduelle Zwischenschritte verbinden. Diese Vorgänge befinden sich in einem permanenten Prozeß des Auf- und Abbaus. Eine weitere zentrale Aussage ist, der Sündenfall betreffe nur den Menschen, nicht aber zugleich die gesamte Natur.35 Damit ist ein deutlicher Unterschied zu anderen mystisch-alchemistischen Vorstellungen markiert, denen zufolge die gesamte Schöpfung in Finsternis gefallen und alles Seiende verunreinigt, verfälscht, von Schlacken umgeben ist.36 Die Aurea Catena Homeri stellt dagegen ausdrücklich fest, der Fluch treffe nur den Menschen, und er bestehe insbesondere in dem Verlust seiner Fähigkeit, in das Wesen der Schöpfung Einsicht zu nehmen. 37 Diese bleibe wie sie von Beginn an gewesen, und demnach gebe es in der Natur keine Faeces, keine Schlacken.38 Abgesehen von den daraus resultierenden Konsequenzen für die alchemistische Arbeitsweise39 wird damit
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Gebote befahl etc. Der Himmel sollte seine Inwohner und Sternen, die Lufft ihre Meteora, das Wasser seine Fische, die Erde ihre Kräuter, Thiere und Ertz hervor bringen, Aber nicht allein hat Gott jedem dieser geschiedenen Theile eine specificirte Krafft sich zu vermehren gegeben, sondern auch eine individuirte Tugend, also daß ein jedes Ding, insonderheit das, so in diesen geschiedenen Theilen sein Wesen, zu seyn, empfanget, solche vermehrende Krafft habe.« (ebd., S. 8). »Das Philosopische Axioma muß doch wahr seyn und bleiben, nemlich: Non transiri posse ab uno extremo ad alterum absque medio« (ebd., S. ii; vgl. S. 15). Durch die so aufbrechende Diskrepanz stellt sich der Mensch quer zur Natur und wird damit gleichsam zu einem alter diabolus, eine Vorstellung, wie sie sich auch bei Hildegard von Bingen findet (vgl. Hildegard von Bingen: Scivias. Wisse die Wege. Eine Schau von Gott und Mensch in Schöpfung und Zeit, übers, u. hg. von Walburga Storch, Augsburg 1991, Schau 1,2). Vgl. etwa [Hans Heinrich Freiherr von Ecker und Eckhoffen] Freymäurerische Versammlungsreden der Gold= und Rosenkreutzer des alten Systems. Mit 12 eingedruckten Vignetten. Amsterdam [Hof] 1779, S. 10. »Er [Gott] hat dem Menschen, als welcher in die Welt zum Herrn und Herrscher gemacht und solchem vor dem Fall die Wissenschaft alles guten a primo intuitu cujusque rei gegeben, dem Menschen, sag ich, hat er seinen Verstand von diesen natürlichen und übernatürlichen Sachen gantz und gar benommen und verrücket, dass er so wenig von Natur, so wenig ein Unvernünftiger weiß und kennet, sondern er muß solches per longam experientiam, per bonam vel malam educationem, per subalternos instructores lernen, sonst a natura & sua nativitate an kennet und weiß er gar nichts.« (Aurea Catena Homeri, wie Anm. 22, S. 287).
38
V g l . e b d . , S . 284-286.
39
Bestand die Vorgehensweise der Adepten darin, zunächst das Caput mortuum abzuscheiden, um durch weitere Prozeduren die Quinta essentia zu gewinnen, so heißt es hier: »Ich bekenne
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auch negiert, dass die Natur Überflüssiges, Obsoletes beinhalte, und statt dessen die stringente Notwendigkeit aller Erscheinungen postuliert. Wie die Natur zu arbeiten, ist nicht möglich, sondern nur gemäß der Natur, und das heißt unter unbedingter Beachtung der ihr immanenten Gesetzmäßigkeiten und Funktionsweisen. Die Nachahmung der Natur bleibt dennoch ein »Nachäffen«, da es unter ungleichen Bedingungen erfolgt.40 Gleichwohl kann die Kunst eine Quinta essentia herstellen, die Natur dagegen produziert sie nicht - denn sie liegt nicht in ihrer Absicht!4' Diesem stichwortartigen Charakterisierungsversuch sowohl einiger wesentlicher inhaltlicher Aussagen wie der Besonderheiten im Vergleich zu anderen Schriften zufolge beinhaltet die Aurea Catena Homeri das Konzept eines umfassenden Zusammenhangs der Schöpfung, in den alle Erscheinungen harmonisch-homogen eingebunden sind. Es ist ein Gefüge von unendlich vielen Stufen, die lückenlos aneinander anschließen und eine hierarchisch ansteigende Linie beschreiben. Deren transzendente Weiterführung bis zu seinem Schöpfer ist als Denkfigur zwar präsent, die Darstellung konzentriert sich jedoch ausdrücklich auf den diesseitigen Teil der Kette der Wesen.42 Die Aurea Catena ist damit ein deutlich säkulares, auf die Kontinuität der Natur ausgerichtetes Erklärungsmodell. Durch die »Anatomie«43 der Naturphänomene soll eine gewinnbringende Erkenntnis erreicht werden.44 Aus diesem aber siehet der Artist, wie eins ins andere gehet, in der schönsten Ordnung, u n d nicht c o n f u s (wie m a n c h e r o h n e Consideration in die K u n s t fället) sondern habitis rationibus Sc mediis. 4 5
es ja, dass ich keine feces scheide, will durchaus in der Natur von den fecibus nichts wissen; Und wiewohl alle und jede Philosophi sagen, und von zwey bis drey 1000. Jahren her die feces geschieden: So sage ich doch jetzt, die Natur habe gar keine feces, sondern alles und jedes, was sie gemacht, das ist rein, gut und gesund, und muß beysammen bleiben, und kann nicht entrathen werden.« (ebd., S. 284). 40 41 41
Vgl. ebd., S. 52, S. 206. Vgl. ebd., S. 32 7 f. »Anfänglich aber soll der Liebhaber mentem meam recht verstehen, daß ich unter dem Himmel nicht jenen Himmel oder Empyreum verstehe, als in welchem Gott mit seinen Auserwehlten wohnet, welcher Himmel von allen Veränderungen und natürlichen Wirkungen gantz und gar entäusert und privilegiret, als unter welchem diese Veränderungen entstehen und weiters dorthin nicht gelangen, aus sonderlichem Gebot des allmächtigen Herrn« (ebd., S. 33); vgl. auch S. 5of.
43
So der Titel des 2. Buchs »De corruptione rerum & anatomia earum. Von der Zerstörung und Zerlegung der natürlichen Dinge«.
44
Vgl. Aurea Catena Homeri (wie Anm. 22), S. 51. Ebd., S. i5 4 f.
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Die Frage nach Goethes Adaption der Aurea Catena, die einerseits in den konkreten alchemistischen Kontext verweist, andererseits in der philosophischen Tradition der Formel der Kette der Wesen steht, hat demnach verschiedene Aspekte. Einmal ist den vergleichsweise zeitnahen Auswirkungen der offenbar sehr beeindruckenden Lektüre der Schrift nachzuspüren, wobei sich einzelne, kleine Hinweise benennen lassen. Des Weiteren ist in diesem Zusammenhang Goethes Verhältnis zur Alchemie von Interesse; schließlich und vor allem aber ist die weitere, große Perspektive seines Naturverständnisses zu skizzieren.
Unmittelbare Einflüsse der Aurea Catena auf Goethe Wie stark Goethe tatsächlich von mystisch-kabbalistischen Ideen vereinnahmt wurde, davon zeugen seine Ausführungen zu Ende des 8. Buchs von Dichtung und Wahrheit über seine religiösen Vorstellungen in der Zeit seines Aufenthaltes im Elternhaus. Hier schuf er sich sozusagen seine Privatreligion, die sich aus sehr diversen Quellen speiste: »Der neue Piatonismus lag zum Grunde; das Hermetische, Mystische, Kabbalistische gab auch seinen Beitrag her« (FA I, 14, S. 382). Ohne die einzelnen Bausteine der sich daraus ergebenden Welt, »die seltsam genug aussah« (S. 38z), herauszufiltern und zu benennen, erscheint es interessant, daß sich direkte Anleihen bei der Aurea Catena Homeri von Kirchweger ausmachen lassen. Nachdem die erste Schöpfung durch Lucifer gefallen war, bildete sich die Materie aus, definiert als das, was »schwer, fest und finster« (S. 383) ist. Sie stammt, wenn auch nicht unmittelbar, so doch »durch Filiation« (S. 383) vom göttlichen Wesen her, hängt also mit ihm zusammen. Gleichzeitig bewegt sie sich durch einen permanenten Konzentrations- und Verdichtungsprozeß in absteigender Richtung von ihm weg und droht in der größten Distanz ins Nichts überzugehen. Durch die Intervention der Engel, die diesen Abwärtskurs nicht mitvollzogen, entsteht die zweite Schöpfung. Sie beinhaltet das gegenteilige Prinzip der Expansion des unendlichen Seins in aufsteigender Richtung, 46 demzufolge eine Vermannigfaltigung »stufenweise« (S. 384) erfolgt. Dennoch mangelt es an einer Verknüpfung dieses unteren, sich in der Umkehr entfaltenden Kettenstücks mit dem oberen, dessen Integrität unangefochten weiterbestand: »es fehlte noch an einem Wesen, welches die ursprüngliche Verbindung mit der Gottheit wiederherzustellen geschickt wäre« (S. 384). An diese Stelle wurde der
Hier läßt sich bereits die Polarität erkennen, die als Denkmaxime Goethe in späterer Zeit zugeordnet wird.
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Mensch gestellt, und das bedeutet zugleich, daß er eine Zwitterposition einnimmt: er ist das vollkommenste Wesen, insofern er am oberen Ende der materiellen Seite piaziert ist, und zugleich das unvollkommenste, insofern er die unterste Stufe der geistigen Kette besetzt. Die Menschwerdung Gottes mit dem Ziel, den Menschen zu erlösen, begründet der junge Goethe folgendermaßen: »um durch diese Verähnlichung das Erfreuliche zu erhöhen und das Schmerzliche zu mildern« (S. 385). Ist die Schöpfungsgeschichte, deren zweiter Teil wesentlich durch die »fortwirkende Lebenskraft der Elohim« (S. 384) erfolgt, in dieser Darstellung der kabbalistischen Tradition verpflichtet, so weist Goethes Umschreibung des Erlösungsgedankens eine auffallende Analogie zu dem Vorgang der Transmutation auf, wie er in der Aurea Catena Homeri beschrieben wird. Soll sich eine Höheroder Niedrigerstufung vollziehen, so müssen sich beide beteiligte Einheiten in ihren Komponenten weitgehend assimilieren, der übergewichtige Part wird als der dominante die Richtung bestimmen. 47 In diesem Sinne gleicht sich Christus dem Menschen an, um ihn mit seiner höheren geistigen Potenz in die über die menschliche Sphäre hinausweisende Dimension zu lenken.
Praktische K o n s e q u e n z e n Abgesehen von diesen religionsphilosophischen Überlegungen führten die von Goethe während seiner Krankheit 1768 intensiv betriebenen Literaturstudien auch zu ganz praktischen Konsequenzen. Als sich seine gesundheitliche Lage weiter verschlechterte, bat die Mutter umgehend darum, nun das in Aussicht gestellte Heilmittel zu applizieren, über das Dr. Metz verfugte. Offenbar zeigte das Mittel gute Wirkung; 48 womit die Tauglichkeit des Produkts unmittelbar erwiesen zu sein schien. Augenscheinlich faßte Goethe ein gewisses Zutrauen, war seine Neugierde
47
Ebenfalls mit den antagonistischen Begriffen der Konzentration und der Expansion arbeitend, heißt es: »denn es muß sich eine jede Creatur verwandeln lassen in eine andere, weil sie aus einer materia gebohren sind. Denn die animalia sind extendirte Vegetabilia, die vegetabilia concentrirte animalia. Wiederum sind die vegetabilia extendirte mineralia, und diese alle ein Universal=Same oder Chaos. Denn das animale ist volatile, je mehr das volatile concentriret wird, je mehr acidum vegetabile concentriret, je mehr wird's mineralisch, und also e contra, je mehr das minerale extendiret wird, je volatilischer wird es, also dass es per gradus ascendendo in ein vegetabile & animale mutiret wird.« (Aurea Catena Homeri, wie Anm. 22, S. 319).
48
Es wird vermutet, daß es sich dabei um ein Mineralsalz, etwa Glaubersalz (Natriumsulfat) gehandelt hat, das als Laxans und Diureticum wirkte (vgl. Schwedt, wie Anm. 1, S. 14). Nager merkt an, dieses und andere Universalmittel hätten mehrfach bei Goethe unmittelbar angeschlagen, so daß man sich frage, »wie stark wohl bei diesem sensiblen Patienten der berühmte Placebo-Effekt zum Tragen gekommen sei« (zit. ebd.).
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geweckt, 49 so daß er sich in der Phase seiner Rekonvaleszenz nun seinerseits die nötigen Apparaturen besorgte, um alchemistische Experimente durchzufuhren - er unternahm also den Schritt von der passiven Kontemplation hin zur praktischen Erprobung, und das heißt hin zur Entdeckung der Geheimnisse. Die konkreten alchemistischen Arbeiten sind anderen Texten, wohl insbesondere Wellings Opus mago-cabbalisticum verpflichtet, gibt es doch in Kirchwegers Schrift keine detaillierten Anleitungen, sondern den Hinweis, es könne mit den unterschiedlichsten Materialien gearbeitet werden, d.h. man könne an unterschiedlichsten Punkten der Kette ansetzen, und man solle sich gut überlegen, welche Stoffe man wähle.50 Während Katharina von Klettenberg mit Eisen arbeitete, verwendete Goethe Kiesel vom Mainufer. U m diese Stoffe aufzuschließen, bedurfte es eines Mittelsalzes oder Luftsalzes, das man mittels Alkalien zu gewinnen suchte.51 Dieses praktische T u n war jedoch wesentlich bestimmt von dem Bemühen um eine adäquate Textexegese, um die Anleitungen korrekt nacharbeiten zu können.52 Obgleich Goethe die fiir Alchemisten typische Attitude hegte, die sich in Abgrenzung zu den »Chymikern« in einer gewissen herablassenden Überheblichkeit äußerte, 53 hielt sein Engagement nicht sehr lange an. Die Kompilation aus Texten, die ihn beständig zu anderen Schriften weiterleitete in der Hoffnung, ihren Sinn zu erfassen, blieb tatsächlich auf der
49
»Ich darf nicht sagen, wie sehr dieses den Glauben an unsern Arzt, und den Fleiß uns eines solchen Schatzes teilhaftig zu machen, stärkte und erhöhte.« (Dichtung und Wahrheit, 8. Buch, FA I, 14, S. 374).
50
Vgl. Aurea Catena Homeri (wie A n m . 22), insb. das 6.-8. Kapitel des 2. Teils, S. 312-365.
51
Vgl. D i c h t u n g und Wahrheit, FA I, 14, S. 374f. Das Luftsalz als ein besonders potenter Stoff begegnet auch bei von Hirschen:
Das Luftsalz (wie A n m . 30). Möglicherweise gibt es v o m
Ansatz her eine Verbindung zur Sternschnuppensubstanz, die Förster im Morgentau sammelt, die ebenfalls als Trägersubstanz besonders reiner und damit hoch wirksamer Kräfte aus den Himmelssphären sehr begehrt ist (vgl. Förster an Soemmerring, undatiert (vermutlich am 5. 9. 1780), in: W e r k e (wie A n m . 25), Bd. 13, S. 304f.; vgl. dazu Sahmland
(wie A n m . 24),
S. 402-404. 51 53
Vgl. D i c h t u n g und Wahrheit, F A I, 14, S. 373. »[...] o b ich gleich als Halbadept vor den A p o t h e k e r n u n d allen denjenigen, die mit d e m gemeinen Feuer operierten, sehr wenig Respekt hatte.« (ebd., S. 375f.). Der »gemeinen Chymie« wurde von dieser Seite abgesprochen, auch nur annähernd so leistungsfähig zu sein wie die Alchemie, »sie bauet uns indessen die untersten Stufen an der großen Leiter, welche wir betreten müssen, u m höher zu steigen; folglich müssen wir von der gemeinen C h y m i e so viel erlernen, daß wir wenigstens ihre Sprache verstehen, ihre Zeichen kennen, und einige Fertigkeit in ihren Handgriffen erlangen« ([Anonym] Starke Erweise aus den eigenen Schriften des Hochheiligen Ordens G o l d = u n d Rosenkreuzer. Für die W a h r h e i t daß seine in G o t t ruhende Väter v o n ewiger Thät= und Wirksamkeit sind. N a c h abgelaufenen Ersten D e c e n n i o ans Licht gestellt von einem ächten Liebhaber des wahren Lichtes. R o m 5555. Da im Orient ein O p f e r gebracht wurde, S. 40).
Goethes Adaption der »Aurea Catena Homeri«
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Oberfläche eines Einübens der Terminologie. 54 War dies sicher unbefriedigend, so konzentrierte sich die praktische Anwendung auf die Reproduktion des Erlernten, und auch hier dürften entsprechende Erfolge ausgeblieben sein.55 Goethe nahm eine kritische Einstellung zu der alchemistischen Vorgehensweise ein. Faust, der sich einfuhrt als jemand, der geradezu besessen ist von dem Wunsch, in die Natur erkennend einzudringen, zeigt sich einigermaßen desillusioniert: »mit heißem Bemühn« hat er alle wissenschaftlichen Disziplinen befragt und auch den alchemistischen Weg nicht ausgespart. Er führt aus: M e i n Vater w a r ein dunkler E h r e n m a n n , D e r über die N a t u r u n d ihre heil'gen Kreise, In Redlichkeit, jedoch auf seine Weise, M i t grillenhafter M ü h e sann. D e r , in Gesellschaft v o n A d e p t e n , Sich in die schwarze K ü c h e Schloß, U n d , nach unendlichen Rezepten, Das Widrige zusammengoß. D a ward ein roter Leu, ein kühner Freier, I m lauen B a d , der Lilie vermählt, U n d beide dann, mit o f f n e m F l a m m e n f e u e r , A u s einem Brautgemach ins andere gequält. Erschien darauf mit bunten Farben D i e junge K ö n i g i n im Glas, H i e r w a r die Arzenei, die Patienten starben, U n d niemand fragte: wer genas? S o haben wir, mit höllischen Latwergen, In diesen Tälern, diesen Bergen, W e i t schlimmer als die Pest getobt. Ich habe selbst den G i f t an T a u s e n d e gegeben, Sie welkten hin, ich m u ß erleben D a ß m a n die frechen M ö r d e r lobt.' 6
Indem Faust die Geschichte seines Vaters erzählt, berichtet er zugleich seine eigene Vor-Geschichte, in die er auch unmittelbar verwickelt ist: die Ambitionen zur Herstellung eines Universalmittels 57 führten zur Produktion von Gift. Dadurch,
54
Vgl. Dichtung und Wahrheit, FA I, 14, S. 375.
55
Es gelang nicht, die »jungfräuliche Erde in den Mutterstand übergehen zu sehen« (ebd.,
>6 57
S. 375)· Faust, I., FA I, 7/1, S. jjf., V. 1034-1055. Und das war ja auch auf Anregung des Dr. Metz der unmittelbare Anlaß für Katharina von Klettenberg und wohl für Goethe zur intensiveren Beschäftigung mit Alchemie gewesen (vgl. Dichtung und Wahrheit, FA I, 14, S. 372).
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daß sie es an die Patienten verteilten, verstießen sie gegen den obersten ärztlichen Grundsatz des primum nil nocere. Das Pharmakon, in seiner Potenz ursprünglich ambivalent, entpuppte sich nicht als Heilmittel, sondern als sein Gegenteil, ärztliches Handeln wurde pervertiert, die Heilkundigen traten als Mörder auf! Die Perspektive einer Perfektibilisierung der Natur, die durch die praktische Anwendung ihrer vermeintlich erkannten Gesetzmäßigkeiten zugleich über sie hinauswiese, war nicht tragfähig. Das bedeutete jedoch nicht zwingend zugleich die Diskreditierung des naturphilosophischen Gedankengebäudes, also der Theorie.
Nachhaltige Wirkung Die Alchemie bei Goethe blieb augenscheinlich eine Episode,58 dennoch aber ein integraler Schritt auf dem Wege, und so muß eine Interpretation fraglich erscheinen, die behauptet, Goethe sei in Straßburg und durch die Kontakte zu dem Apotheker Spielmann kuriert worden.59 Ebenso abwegig war die lange Zeit verfochtene These, Forsters Engagement im Rosenkreuzerorden sei eine »spätjugendliche Verirrung« gewesen, von der dieser dann endlich zurückgeführt worden sei, 60 Positionen, die einem einseitigen Verständnis von Aufklärung geschuldet waren. Vielmehr blieben die Fragen die gleichen, bei Forster wie bei Goethe, und es fehlten einstweilen adäquatere Zugänge für Antworten. Goethe berichtet, wie er in seinen hohen Erwartungen an Thiry d'Holbachs Systeme de la Nature herb enttäuscht wurde:
58
Goethe hatte sehr bald zur Kenntnis genommen, »dass man in der neueren Zeit die chemischen Gegenstände methodischer aufgeführt« (ebd., S. 376). Bis in sein Alter war er an den Entwicklungen in diesem Fach intensiv interessiert und förderte es auf seine Weise, etwa in den Bemühungen um das chemische Laboratorium in Jena. So weist die Konstellation der Protagonisten in den »Wahlverwandschaften« bekanntlich unmittelbar auf die Chemie seiner Zeit; vgl. Otto Zekert·. Goethe als Förderer der Naturwissenschaften (HMW-Jahrbuch 1954)· Wien 1953; Schwedt (wie Anm. 1); Otto Krätz·. Goethe und die Naturwissenschaften, München 1992. Über die zeitgenössische Situation der Chemie vgl. neuerdings Martin Kirschke·. Liebigs Lehrer Karl W. G. Kastner (1783-1857). Eine Professorenkarriere in Zeiten naturwissenschaftlichen Umbruchs, Berlin, Diepholz 2001. Vgl. insbesondere Christa Habrich in diesem Band.
59
Auf seinen Reisen durchs Elsaß und einen Teil von Lothringen sei Goethe »aus eigener Anschauung der Unterschied zwischen der aus der >Aurea catena Homeri« und ähnlichen Büchern geschöpften und der werktätigen Chemie bewußt« geworden. »Und was die Anschauung nicht auszulöschen vermochte, das besorgten die chemischen Vorlesungen, die Goethe bei Professor Spielmann in Straßburg hörte.« (Zekert, wie Anm. 58, S. 12).
60
Vgl. Steiner (wie Anm. 24), S. 156.
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wir hofften [...] etwas von der Natur, unserer Abgöttin, zu erfahren. Physik und Chemie, Himmels- und Erdbeschreibung, Naturgeschichte und Anatomie und so manches andere hatte [...] uns immer auf die geschmückte große Welt hingewiesen, und wir hätten gern [...] das Nähere sowie das Allgemeinere erfahren. [...] Allein wie hohl und leer ward uns in dieser tristen atheistischen Halbnacht zu Muthe, in welcher die Erde mit allen ihren Gebilden, der Himmel mit allen seinen Gestirnen verschwand.61
Das 1782/83 datierte Fragment Die Naturcharakterisiert, auch wenn über dessen Authentizität Zweifel bleiben, gleichwohl Goethes damaliges Verhältnis zur Natur. Sie, die hier personifiziert als Einheit entgegentritt, entzieht sich des menschlichen Zugriffs: »Wir wirken beständig auf sie und haben doch keine Gewalt über sie« (S. 11). Der Umgang des Menschen mit Natur als Objekt gestaltet sich wie der eines Kindes, das an ihr künstelt, oder wie der eines Toren, der über sie richtet; die meisten leben unmittelbar, ohne reflektierende Distanz, in und mit der Natur und sehen nichts. Die Natur ist zugleich umfassend, und es gibt nichts außer ihr. Alles, auch vermeintlich Oppositionelles, ist in sie integriert: »Auch das Unnatürlichste ist Natur« (S. 12), »man gehorcht ihren Gesetzen, auch wenn man ihnen widerstrebt, man wirkt mit ihr auch wenn man gegen sie wirken will« (S. 13). Dabei ist sie nicht feindselig, sondern wohltätig. Obgleich sie unaufhörlich spricht, kann der Mensch sie nicht verstehen. Die Kommunikation gelingt nicht, weil Sender und Empfänger unterschiedliche Codes kennen: »Gedacht hat sie und sinnt beständig; aber nicht als ein Mensch sondern als Natur« (S. 12). Deshalb »verrät [sie] uns ihr Geheimnis nicht« (S. 11). »Ihre Werkstätte ist unzugänglich« (S. 11), »man reißt ihr keine Erklärung vom Leibe« (S. 13). Als Ausdruck dieses Unverständnisses von Seiten des Menschen und seines Nicht-begreifen-Könnens kann ihr Wirken offenbar nur in Paradoxien beschrieben werden, und davon enthält das Fragment eine ganze Menge — sie sind Zeichen ihrer souveränen Überlegenheit. Da die Natur dennoch nicht als abweisend wahrgenommen wird, heißt es gleichwohl: »Ich vertraue mich ihr« (S. 13). Allerdings konnte Forster 1784, also schon geraume Zeit nach seiner Lösung aus dem Geheimbund, feststellen, Buffons Einleitung zur Mineralogie lese sich wie
61
Zit. Goethe-Handbuch, Bd. 4/1,2: Personen, Sachen, Begriffe, hg. von Hans-Dietrich Dahnke und Regine Otto, Stuttgart, Weimar 1998, Bd. 4/2, S. 749. In einem Brief Goethes an Merck vom 4 . 1 2 . 1774 heißt es: die Natur - ein Buch, »unverstanden, doch nicht unverständlich« (zit. ebd., S. 764); im Gedicht »Harzreise im Winter« (1777) heißt es über die Natur: »geheimnisvoll offenbar« (zit. ebd.).
61
Die Natur (1782/83), Werke. FA I, 25, S. 11-13.
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Irmtraut Sahmland
die Aurea Catena, »wenn sie ein Mann von großer profaner Einsicht geschrieben hätte«, denn es sei, »nur die Lehre von Atomen abgerechnet, und dieß vom Widerstoß [...] alles Übrige völlig alchymisch«.6' Damit ist genau die Schnittstelle bezeichnet, die Kirchwegers Schrift markiert: Sie steht im alchemistischen Kontext, indem sie sich jedoch gegen einzelne Grundpositionen der Alchemisten wendet, dokumentiert sie ihre Eigenständigkeit, und sie kann sich auch jenseits dieses einschlägigen Kontextes als Denkmodell für den Zusammenhang des Systems der Natur empfehlen, zumal da sie dem Selbstverständnis der zeitgenössischen, zunehmend empirisch ausgerichteten Naturforschung entgegenkommt.64 Bei Goethe scheint die Idee der Aurea Catena zunächst in der Dichtung auf. In Faust /, Vorspiel auf dem Theater65 heißt es: W e n n die N a t u r des Fadens ew'ge Länge, Gleichgültig drehend, auf die Spindel zwingt, W e n n aller Wesen unharmon'sche M e n g e Verdrießlich durch einander klingt; W e r teilt die fließend i m m e r gleiche Reihe Belebend ab, dass sie sich rhythmisch regt? W e r ruft das Einzelne zur allgemeinen Weihe? [..·] D e s Menschen K r a f t im Dichter offenbart. (V. 1 4 2 - 1 5 6 )
Die Kontinuität der Natur ist ein monotones Geschehen, das Prinzip der Fülle stellt sich als eine ungeordnete Menge dar. Es ist nicht der Naturforscher, der die Formel der Kette der Wesen einbrächte, um einen erkenntnisorientierten Zugang zur Natur zu finden oder zu beschreiben, sondern es ist der Dichter, der durch Einteilungen eine Ordnung schafft, die einem ästhetischen Bedürfnis dient! Zugleich sind diese Einteilungen der erste Schritt, um den überwältigenden
63
Forster an Soemmerring, 10. 7. 1784, A A , Bd. 14, S. 128. Vgl. Irmtraut Sahmland,·. Bruder Amadeus — Johann Georg Forster als Gold- und Rosenkreuzer. In: Georg-Forster-Studien, hg. im Auftrag der Georg-Förster-Gesellschaft von Horst Dippel und Helmut Scheuer, Bd. 3, Kassel 1999, S. 67-118; zu Buffon vgl. Lovejoy (wie Anm. 9), S. 277f.
64
»Ich intendire das Secretum Philosophorum nicht, sondern ich bin Physicus, oder Pyrophilus, so arbeitet auch die Natur, und ich weiche keinen Fuß davon, weder zur Rechten noch zur Lincken, es mögen die Philosophi geschrieben haben, wie sie wollen, vielleicht weiß ich ihre modos gar wohl. Weil ich aber die ihrige nicht achte, sondern die meinige, weil ich versichert bin, dass sie der Regel der Natur gemäß sind, so will ich keinen von der Philosophorum Weg abgeleitet haben, sondern leite sie nur diesen meinen Pfad in etwas zu betrachten [...]. Ο elendes Leben und Geist, auch Zeit! Wenn die Armen nur den Lauff ihrer Natur betrachteten, welche ihnen ja täglich vor die Nasen arbeitet, und so unaufhörlich laboriret und allen Naturkündigern zum Exempel und Vorläuffer darstellet« (Aurea Catena Homeri, wie Anm. 22, S. 257^; S. 259). Faust I, FA I, 7/1, S. 18, V. 142-156.
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Eindruck des Ganzen der Natur, das sich einem Zugang verschließt, zu überwinden. Die Studie nach Spinoza 66 bringt diesbezüglich einige grundlegende Klärungen, die Perspektiven aufzeigen. Einmal ist es die Erkenntnis einer notwendigen Beschränkung angesichts der limitierten Fassungskraft des menschlichen Geistes. Das Unendliche kann nicht erfaßt werden, weil es nicht gedacht werden kann. Die Suche nach Erkenntnis muß sich also auf konkrete, anschauliche Bereiche konzentrieren — das bedeutet für das weitere Vorgehen Goethes eine Beschränkung auf die gegenwärtige, konkret-erfahrbare Natur. 67 Die auf diese Weise zu erfassenden Existenzen sind nicht Teile eines Unendlichen, sondern es sind in sich abgerundete, ganze Einheiten, die am Unendlichen Anteil haben. Ihre Vielzahl steht untereinander in Beziehungen, in Interaktion, ist miteinander »verkettet«. Deren Mannigfaltigkeit zu ordnen, kann Erkenntnis erleichtern, sie zu fügen und zu verbinden, d. h. sie als Kettenglieder zu definieren, kann den Genuß ermöglichen. Die ästhetische Relevanz dieser Ordnungsmetapher, wie sie der Dichter in Faust I hervorhebt, blieb bei Goethe kontinuierlich gegenwärtig; neben dem daraus zu ziehenden Genuß bot sich die Formel der Kette der Wesen nun aber auch an als ein Schlüssel zur Natur, der den bis dahin verschlossenen Zugang und die Möglichkeit zum Erkenntnisgewinn eröffnete. Da Goethe Natur grundsätzlich in ihrer Dynamik, in ihrem Wirken und Werden begreift,68 spricht er in diesem Zusammenhang auch ein erkenntnistheoretisches Problem an, das die Naturforschung des 18. Jahrhunderts latent begleitete. Es ist die Frage, inwieweit objektivierbares Instrumentarium tauglich ist, um über die rein äußerliche Erfassung von Einzelphänomenen hinaus zu deren Wesen vorzudringen. Goethe formuliert hier die Ansicht, eine solche Methode sei nicht oder allenfalls nur sehr bedingt geeignet:
66 67
68
Studie nach Spinoza (1785), FA I, 25, S. 14-17. Betonung des Irdischen im Gespräch mit Eckermann am 1.2.1827: »Ich habe mich in den Naturwissenschaften ziemlich nach allen Seiten hin versucht; Jedoch gingen meine Richtungen immer nur auf solche Gegenstände, die mich irdisch umgaben und die unmittelbar durch die Sinne wahrgenommen werden konnten«. Zit.: Goethe-Handbuch (wie Anm. 61), S. 766. In einem Gespräch mit dem Jenaer Theologen und Orientalisten Heinrich Eberhard Gottlob Paulus im Jahre 1800 äußerte sich Goethe: »Je mehr man sich an dem Spekulieren über das Ubermenschliche trotz aller Warnungen Kants vergeblich abgemüht haben wird, desto vielseitiger wird dereinst das Philosophieren zuletzt auf das Menschliche, auf das geistig und körperlich Erkennbare der Natur gerichtet und dadurch eine wahrhaft so zu benennende Naturphilosophie erfaßt werden« (zit. ebd., S. 780). »die Mannigfaltigkeit des Seins und Werdens« (Goethe: Das Unternehmen wird entschuldigt, FA I, 24, S. 389—390; S. 389); Naturgegenstände im »Zusammenhang ihres Wesens und Wirkens« (Goethe: Die Absicht eingeleitet, FA I, 24, S. 391-395; S. 391).
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Ein lebendig existierendes Ding kann durch nichts gemessen werden was außer ihm ist sondern wenn es ja geschehen sollte müsste es den Maßstab selbst dazu hergeben, dieser aber ist höchst geistig und kann durch die Sinne nicht gefunden werden, schon beim Zirkel lässt sich das Maß des Diameters nicht auf die Peripherie anwenden. 6 ' Goethe vertraut offenbar auf eine ergänzende Komponente, die der Naturforscher selbst mit einbringen muß: Seelen die eine innre Kraft haben sich auszubreiten fangen an zu ordnen um sich die Erkenntnis zu erleichtern fangen an zu fügen und zu verbinden um zum Genuß zu gelangen.70 Diese neue Positionierung bedeutete die Uberwindung eines enthusiastischen Zugriffsversuchs auf die Natur in Gänze und gab den Weg frei, um im Einzelnen das Ganze anschauend zu betrachten. Auch sein Z u g a n g erfolgte jedoch über die äußere Erscheinung, die »Gestalt«, die »Bildung«. 71
69
Die Kritik einer sich auf Maß, Zahl, Gewicht stützenden Naturforschung ist vor allem mit dem Bemühen verbunden, materialistische Tendenzen zurückzudrängen. I m frühen 18. Jahrhundert wäre etwa Dippel zu nennen (vgl. Johann
Conrad Dippel-. D i e Kranckheit und Arzney des
thierisch=sinnlichen Lebens, Frankfurt u n d Leipzig 1 7 1 3 ; Christianus
Democritus'.
Fatum
fatuum, das ist, D i e thörige Nothwendigkeit, oder Augenscheinlicher Beweiß, Daß alle, die in der Gotts=Gelehrtheit und Sitten=Lehre der v e r n ü n f t i g e n Creatur die Freyheit des Willens disputiren, durch offenbare Folgen gehalten sind, die Freyheit in dem Wesen Gottes selbst aufzuheben, oder des Spinosae Atheismum vest zu setzen, Amsterdam 1710); Vorbehalte gegen den Nutzen des Mikroskops ergeben sich aus der Überzeugung, auch auf diese Weise könne man das Wesen nicht begreifen (Thomas Sydenham ζ. Β. lehnt das Mikroskop ab, weil dadurch keine besseren Therapiemöglichkeiten verfugbar würden). I m späteren 18. Jahrhundert sind es die Angriffe von Seiten der hermetisch-esoterischen Wissenstradition auf die zeitgenössische Naturforschung, die diesen Streit fortsetzen und sich der beliebten Gegenüberstellung des Blinden und des Sehenden bedienen. Dieses Bild in Verbindung mit dem Zirkel als Symbol für exakte empirische Forschung - das ja auch Goethe hier verwendet - findet sich in der anonymen Schrift »Starke Erweise« (wie A n m . 53) [Hof], S. 36: »Die profanen Physiker hingegen, so genannte Naturforscher, und Naturlehrer hüpfen stets auf der Oberfläche aller drey Naturreiche herum, betasten mit ihren Händen und allen fünf Sinnen die Produkte und Phoenomene [sie!] derselben, und bilden sich ein, solche erklären zu können, häufen daher Hypothesen auf Hypothesen, um die verborgenen Kräfte, die Triebfedern der Natur zu entdecken, und gleichen einem Menschen, der mit verbundenen Augen von der Peripherie eines Zirkels Linien nach dem Mittelpunkt ziehet, und tausendmal fehlet, ohne den Mittelpunkt treffen zu können.« - Goethes Bedenken weisen, w e n n auch an dieser Stelle nicht explizit, so doch in der Sache auf einen anderen Z u s a m m e n h a n g . Carl von Linne hatte bekanntlich in den 1740er Jahren das Pflanzenreich und anschließend das Tierreich in eine systematisierende O r d n u n g zu bringen versucht, die allerdings statischen Kriterien von Gattungen und Arten folgte, die als eine der N a t u r nicht angemessene künstliche Systematik kritisiert wurde (vgl. ζ. B. George Louis Leclerc de Buffon·. Histoire naturelle, B d . 1, 1 7 4 9 , S. n f . , z o , 38; zit. nach Lovejoy (wie A n m . 9), S.
vjji).
70
Goethe·. Studien nach Spinoza, Werke, F A I, 25, S. 14—17, S. 15.
71
Z u diesen zentralen Begriffen vgl. Goethe·. Die Absicht eingeleitet, 1807, F A I, 24, S. 391-395; S. 392.
Goethes Adaption der »Aurea Catena Homeri«
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Goethe wendete sich zunächst — bedingt auch durch die ihm in W e i m a r übertragenen A u f g a b e n b e r e i c h e , der G e o l o g i e zu. A u f seinen dienstlich unternommenen Reisen (in Thüringen, im Harz etc.) machte er Beobachtungen über Gesteinsformationen und glaubte dabei, auf den Urgrund zu stoßen. D e r Granit ist ihm der feste Boden, die unmittelbarste Kontakstelle zur Natur und ihrem Anfang. E r ist die »tiefste Schale, die uns bekannt geworden ist«, »wenn er auch nicht den ganzen Kern der Erde ausmacht«. Dieses Gestein, das sich auch auf den G i p f e l n der Berge findet, ist ursprünglich, unverfälscht, u n d zugleich allumfassend, 7 2 und G o e t h e h o f f t , daß es i h m einige Geheimnisse preisgeben wird. Mein Geist hat keine Flügel, um sich in jene Uranfänge hervorzuschwingen. Ich stehe auf dem Granit fest, und frage ihn ob er uns einigen Anlaß geben wolle zu denken wie die Masse woraus er entstanden beschaffen gewesen. (Granit I, FA I, 25, S. 313) G o e t h e glaubte, daß sich das anfängliche D u r c h e i n a n d e r ordne, indem er »regelmäßige Lagen in der großen unordentlichen Mannigfaltigkeit zu erblicken« 73 meinte. Entsprechend wies er in seiner Instruktion den bergbeflissenen Voigt an, bei seinen Bergbegehungen nicht nur auf das ökonomisch Verwertbare zu achten, sondern auch auf alles, was »bloß der Wißbegierde wegen des Zusammenhangs der mannigfaltigen Gegenden angenehm« sei (S. 483). Goethe erkannte in den Gesteinsbildungen als ein wirkendes Grundprinzip die Kristallisation. Nachdem zunächst alle Bestandteile im Chaos in Auflösung enthalten waren, um dann mittels des Wassers gleichsam zur Ausfällung gebracht zu werden, nahm die Masse Gestalt an, sie materialisierte sich, und das anorganische Reich, allen voran der Granit, organisierte sich mittels Kristallisation. 74 Sofern dieser Prozeß unbeeinträchtigt ablaufen kann, gelangt die innere Natur zu der ihr identischen Form und damit zur Vollendung:
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7J
74
»Jeder Weg in unbekannte Gebürge bestätigte die alte Erfahrung, daß das Höchste und das Tiefste Granit sei, daß diese Steinart die man nun näher kennen und von andern unterscheiden lernte die Grundfeste unserer Erde sei worauf sich alle übrigen mannigfaltigen Gebürge hinauf gebildet.« (Goethe: Granit II, 1785, Werke, FA I, 25, S. 312-316, S. 313). Notizblatt von der 2. Harzreise, 11./12. Sept. 1783, M A , Bd. 2.2, München 1987, S. 486. Der Eindruck der unübersichtlichen Verwirrung und Unordnung wird wiederholt beschrieben, und er festigt sich, sobald man die Methode des lebendigen Anschauens verläßt (vgl. Granit II, FA I, 25, S. 316). Ein ähnliches Bild zeigen ganze Gebirgszüge, so daß man geneigt ist, »auszurufen, hier ist nichts als Unordnung und Verwirrung« (Die Granitgebürge, M A , Bd. 2.2, S. 513-514; S. 513). Vgl. Epochen der Gesteinsbildung, Werke, FA I, 25, S. 318-320.
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Irmtraut Sahmland Der Quarz kann lang in Gängen gepresst, in Felsen zusammengefasst, in Gebirgen verteilt sein, und dann, wenn er frei wird, wenn seine inneren Teile und innere Natur sich nach ihren eigenen ewigen Gesetzen zusammenfinden können, dann entsteht der Kristall, und wir können sagen, im Bergkristall zeigt sich der Quarz vollendet. 75
Goethes Ausführungen zeigen deutliche und sehr weitgehende Affinitäten zur Entstehungsgeschichte, wie sie in der Aurea Catena Homeri zu lesen ist, allerdings geht er mit der Benennung des Organisationsprinzips der Kristallisation entscheidend darüber hinaus. Es darf wohl angenommen werden, daß auch Goethes Neptunismus, an dem er selbst dann noch hartnäckig festhielt, als die Vulkanisten deutlich die Oberhand hatten, hier seine Wurzeln hat: auch abgesehen davon, daß auf den höchsten Bergen Uberreste von Meeresschalentieren gefunden werden - sie liefern nur einen konkreten Beweis - , korrespondiert ein Erklärungsmodell der Bildung der Gesteinsformationen durch Einwirkung des Wassers und nicht etwa durch revolutionierende Eruptionen aus dem Erdinneren76 mit der Genesis, mit der Naturphilosophie der Aurea Catena Homeri, und es hat darüber hinaus den Vorzug, daß es dem Prinzip des Natura non facit saltus, eine Voraussetzung wie eine Konsequenz des Kettenmodells, folgt: D a dem Menschen nur solche Wirkungen in die Augen fallen, welche durch große Bewegungen und Gewaltsamkeit der Kräfte entstehen, so ist er jederzeit geneigt zu glauben daß die Natur heftige Mittel gebraucht um große Dinge hervorzubringen ob er sich gleich täglich an derselben eines andern belehren könnte. 7 7
Einen typologisch anderen Zugang stellen die vergleichend-anatomischen Forschungen dar, die, durch die Kontakte zu Loder in Jena begünstigt und gefördert, 1784 zur Entdeckung des Zwischenkieferknochens beim Menschen durch Goethe führten. Ihre Geschichte stellt sich ex post als eine gezielte Suche dar, die Goethe mit sehr viel Akribie betrieb. So bat er vielfältig um die Ausleihe von Schädeln unterschiedlicher Tiergattungen — von Soemmerring, mit dem er inzwischen bekannt war, entlieh er sich u.a. einen Elefantenschädel. Daß er seinen Korrespondenzpartnern und Leihgebern zunächst nicht eröffnete, wozu seine Studien dienten, löste etwa bei Merck ein durchaus distanziertes Verhalten aus.78 Goethes Ergebnis war: Auch der Mensch hat ein Os intermaxillare! Auch
75 76
77 78
Vollendung eines Dinges, MA, Bd. 2.2, S. 512. »Risse und Spaltungen durch Kristallisation, nicht durch Erkältung« (Epochen der Gesteinsbildung, FA I, 25, S. 318). Granit I, FA I, 25, S. 3iif.; S. 312. Die Geschichte dieser »Entdeckung« und ihre näheren Umstände sind aufgearbeitet von Manfred Wenzel: Der gescheiterte Dilettant: Goethe, Soemmerring und das Os intermaxillare
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er besitzt also einen gesonderten Knochen, der in die Maxiila eingefügt, mit dem Oberkiefer und dem harten Gaumen durch Suturen verwachsen ist, in den die oberen Schneidezähne eingelassen sind. 79 - Goethe präsentierte diese »Entdeckung« der Fachwelt, auf Umwegen leitete er sie auch dem international renommierten Anatomen Pieter Camper zu, und zwar mit dem Selbstverständnis eines Dilettanten im ursprünglichen, positiven Sinne und verbunden mit dem Anspruch, ernst genommen zu werden. Die Resonanz war maßlos enttäuschend. Tatsächlich war der Streit über das Os intermaxillare nicht neu, zu Goethes Zeit tendierte man mehrheitlich zu der Ansicht, dem Menschen sei dieser Knochen nicht zuzusprechen. Vermeintlich hatte Goethe also nichts weiter als die Minderheitenposition in dieser Frage zu stützen gesucht, die Debatte »um einige Farbtupfer bereichert«. 80 Dem steht in auffallender Weise Goethes Enthusiasmus entgegen, der ob seines Befundes geradezu beglückt war. Die eigentliche Bedeutung, die er seinem Befund beimaß, hatte man offenbar nicht erkannt, und so zog er sich schließlich zurück. 8 ' Der wahre Sinn lag tatsächlich jenseits des Anatomisch-materiellen, auf den dieses nur verwies. Nachdem Goethe am Anfang der Kette angesetzt hatte und auf den Granit als Zeugen gestoßen war, bewegte er sich nun am anderen Ende der Kette der sublunarischen Wesen, und hier gelang es ihm, eine Stringenz aufzuzeigen: der Mensch als letztes Glied konnte trotz seiner unbestreitbaren Besonderheiten auf materiell-morphologischer Basis direkt an das Tierreich angebunden werden. Das Os intermaxillare ist ihm »wie ein Schlußstein zum Menschen«. 82 An von Knebel schreibt er:
beim Menschen. In: Gehirn - Nerven - Seele, Anatomie und Physiologie im Umfeld S. Th. Soemmerrings, hg. von Gunter Mann, Franz Dumont (Soemmerring-Forschungen. Beiträge zur Wissenschaft und Medizin der Neuzeit, hg. von Gunter Mann, Jost Benedum, Werner F. Kümmel, Bd. III), Stuttgart, New York 1988, S. 289-329. 79
80
Vgl. Goethe: Dem Menschen wie den Tieren ist ein Zwischenknochen der obern Kinnlade zuzuschreiben, Jena 1786, FA I, 24, S. 475—506. Wenzel (wie Anm. 78), S. 292. Die These basierte auf einer anderen Bewertung der Entwicklung: ein Knochen, der im Zuge der embryonalen Entwicklung zwar phasenweise erkennbar, dann aber nicht mehr zu identifizieren war (im Gegensatz zu der palatinalen Seite war am äußeren Gesichtsschädel keine entsprechende Knochennaht auszumachen), war fur Soemmerring nicht vorhanden, während Goethe behauptete, sofern er früher erkennbar gewesen sei, sei er auch weiterhin existent.
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»Aber davon war nicht die geringste Spur, daß er (Camper) meinen Zweck bemerkt habe: seiner Meinung entgegen zu treten und irgend etwas anderes als ein Programm zu beabsichtigen. Ich erwiderte bescheiden und erhielt noch einige ausführliche wohlwollende Schreiben, genau besehen, nur materiellen Inhalts, die sich aber keineswegs auf meinen Zweck bezogen, dergestalt, daß ich zuletzt, da diese eingeleitete Verbindung nichts fördern konnte, sie ruhig fallen ließ...« (zit. Wenzel, ebd., S. 325).
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Goethe an Johann Gottfried Herder am 27. 3. 1784. Zit.: Goethe-Handbuch (wie Anm. 61), S. 767.
8o
Irmtraut Sahmland Vielmehr ist der Mensch aufs nächste mit den Thieren verwandt. Die Übereinstimmung des Ganzen macht ein iedes Geschöpf zu dem was es ist, und der Mensch ist Mensch sogut durch die Gestalt und Natur seiner obern Kinnlade, als durch Gestalt und Natur des letzten Gliedes seiner kleinen Zehe Mensch. U n d so ist wieder jede Creatur nur ein T o n [...] einer grosen Harmonie, die man auch im ganzen und grosen studieren muß sonst ist iedes Einzelne ein toter Buchstabe. 8 '
Die Feststellung Goethes steht nicht im Zusammenhang mit der seit den 1770er Jahren beginnenden Auseinandersetzung um die Frage der Menschenrassen, 84 und sie hat auch durchaus nicht die moralische Implikation, wie man sie bei Wieland herauszuhören meint, wenn dieser formuliert: Ο Menschen! zürnet nicht, dass ihr von Thieren stammt! Ihr seyd durch gleiche Huld; in euch und ihnen flammt Dieselbe Kraft; wofür euch fälschlich größer machen? Ein Z w e r g auf Stelzen reizt uns billig nur zum Lachen. W i e groß ist denn von euch zum Vieh der Zwischenstand? W i e sehr beweist ihr stets, dass ihr ihm anverwandt? 85
Goethe intendierte keine Nivellierung, die den Menschen in dessen prominenter Position gegenüber den übrigen animalischen Geschöpfen in Frage stellen wollte, sondern er suchte eine Annäherung, und diese glaubte er anatomisch, also über die Gestalt, bewiesen zu haben. Indem er den Menschen in die Kette der Wesen übergangslos mit einbeziehen konnte, wurde auch an dieser kritischen Stelle das ordnende Prinzip bestätigt, 86 und daraus erwuchs Freude, ästhetischer Genuß, wie die folgenden Äußerungen belegen: »Ich habe gefunden — weder G o l d noch Silber, aber was mir eine unsägliche Freude macht — das os intermaxillare am Menschen!« (27.3.1784 an Herder). »Es ist mir ein köstliches Vergnügen geworden, ich habe eine anatomische Entdeckung gemacht die wichtig und schön ist [...]. Ich habe eine solche Freude, daß sich mir alle Eingeweide bewegen« (27. 3. 1784 an Charlotte von Stein).
83 84
85 86
Goethe an Karl Ludwig von Knebel am 17. 11. 1784, zit. ebd. Entgegen Voltaire, dem es offensichtlich erschien, daß verschiedene Menschenrassen auch völlig unterschiedlich seien (in seiner »Philosophie der Geschichte«, 1765), traten Kant (Von den verschiedenen Racen, 1772/73) und Blumenbach (De generis humani varietate nativa, 1776) deutlich für die Einheit der menschlichen Spezies ein (vgl. Karl J. Fink·. Goethe's history of science, Cambridge 1991, S. iof.). Vgl. auch Samuel Thomas Soemmering. Anthropologie. Über die körperliche Verschiedenheit des Negers vom Europäer, bearb. u. hg. von Sigrid Oehler-Klein (Samuel Thomas Soemmerring. Werke, Bd. 15), Stuttgart, Lübeck, Ulm 1998, S. 33-114. Wieland: Die Natur der Dinge (wie Anm. 14), 5. Buch, V. 291-296. Zu den Bemühungen um die Schließung dieser Lücke vgl. Lovejoy (wie Anm. 9), S. 281—284.
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Nachdem sich Goethe des Anfangs und des Endes der irdischen Kette, auf die er sich beschränkte, vergewissert hatte, widmete er sich dem mittleren Naturreich. 87 In der Hoffnung, auch hier ein einheitliches, die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen gleichsam homogenisierendes Prinzip erkennen zu können, suchte er nach der Urpflanze im Sinne einer Idee der Pflanze, deren jeweilige Konkretisation jede einzelne Pflanze darstellt. Er suchte das Modell, mit dem noch bis ins Unendliche Pflanzen erfunden werden könnten, weil sie eine innere Wahrheit und Notwendigkeit hätten. 88 Die Erwartung, mit der Urpflanze als Muster das gesamte vegetabilische Naturreich erfassen zu können, war in diesem Umfang nicht zu erfüllen. 89 Stattdessen erschien 1790 seine Metamorphose Pflanzen?0
der
Goethe beschränkte sich auf den begrenzteren und damit auch
zeitlich überschaubareren Rahmen der einjährigen Blütenpflanze. Er glaubte, das gesetzmäßige Prinzip ihrer Entwicklung vom ersten Keimblatt bis zur Frucht erkannt zu haben und benennen zu können: die vielgestaltige Ausformung der Pflanzen bestand demnach in einer beständigen Modifikation des Blattorgans. Der Idee der Urform folgend, mit der sich zumindest in einem Teilbereich des vegetabilischen Naturreiches das lebendige Geschehen erfassen ließ, suchte er sodann eine analoge Entsprechung im animalischen Reich; der Urpflanze stellte er das »Urtier« 9 ' an die Seite, aus der sich alles gestaltend bildete. Tatsächlich
87
Seine Versuchsreihen über die Infusionstierchen stehen augenscheinlich in Verbindung mit der Frage des Ubergangs zwischen dem vegetabilischen und animalischen Naturreich, denn Goethe schreibt am 12. 1. 1785 an Friedrich Heinrich Jacobi, unmittelbar anschließend an den Hinweis auf den Zwischenkieferknochen und voller Erwartung: »[...]Ein Mikroskop ist aufgestellt um die Versuche des v. Gleichen genannt Roßworm mit Frühlings Eintritt nachzubeobachten und zu kontrollieren. Ich mag und kann Dir nicht vorerzählen worauf ich in allen Naturreichen ausgehe. Des stillen Chaos gar nicht zu gedenken das sich immer schöner sondert und im Werden reinigt.« (zit.: MA, 2.2, Kommentar, S. 914).
88
Vgl. Goethe-Handbuch (wie Anm. 61), S. 768. Ob diese in einem Brief an Charlotte von Stein in ihrer Euphorie vielleicht auch überzogene Aussage auf ihre tatsächliche philosophische Bedeutung hin interpretiert werden kann, soll hier nicht entschieden werden. Es wäre eine Absage an das Axiom der Fülle der Wesen, die zugleich auch gegenwärtig vorhanden ist, bzw. es wäre eine unter Einbezug des Zeitfaktors modifizierte Position, die die Erscheinungen der unendlichen Fülle im historischen Prozeß annimmt. Zugleich hat Goethes Aussage etwas Aichemistisches, indem hier eine über die Natur hinausweisende Perspektive angedeutet wird.
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Ein solches zugrundeliegendes Muster war anzunehmen, um überhaupt eine Naturerscheinung als Pflanze ansprechen zu können, »daß dieses oder jenes Gebilde eine Pflanze sei«. Zit.: GoetheHandbuch (wie Anm. 61), S. 768. Goethe·. Versuch, die Metamorphose der Pflanzen zu erklären (1790), FA I, 24, S. 109—151. Zu diesem ganzen Themenkomplex der Naturforschung Goethes vgl. Manfred Wenzel: Naturwissenschaften, in: Goethe-Handbuch (wie Anm. 61), Bd. 4/2, S. 781-797. Vgl. auch die umfangreiche Studie von Margrit Wyder (wie Anm. 14), Kap. 8—9. »Wie ich früher die Urpflanze aufgesucht, so trachtete ich nunmehr das Urthier zu finden, das
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Irmtraut Sahmland
war es der Wirbelkörper, also auch hier ein einzelnes »Organ«, das er schließlich ausmachen zu können glaubte.
Zusammenfassung Ausgehend davon, daß die Aurea Catena Homeri einerseits eine natur- und religionsphilosophische Formel ist, die Goethe aber in Form ihrer konkreten Gestaltung in dem gleichnamigen Werk von Kirchweger in einer besonderen geistigen Disponiertheit rezipierte, ließe sich über die Adaption dieser Denkfigur durch Goethe zusammenfassend folgendes feststellen: Der situationsbedingte, hermetisch-kontemplative Kontext hatte unmittelbar zeitnahe Auswirkungen für Goethes Denken, wie sie sich in seiner Privatreligion nachweisen lassen, und für sein Handeln, insofern es sein Laborieren betrifft, so daß er sich selbst als Halbadept bezeichnete. Tatsächlich blieb sein Engagement halbherzig, seine affirmative Einstellung gegenüber der Alchemie Episode. War die »schöne Verknüpfung« der Aurea Catena eine dauerhaft wichtige ästhetische Kategorie für Goethe, so wurde sie ihm zugleich eine fruchtbare Grundlage für seine Naturforschung.91 Die Formel der Kette der Wesen mit ihren Komponenten der Kontinuität und der Fülle bot ihm den erkenntnistheoretischen Ausgangspunkt. Angesichts einer unübersehbaren Vielfalt, die zunächst nur als Verwirrung und Unordnung wahrgenommen werden konnte, und der gleichzeitigen Uberzeugung, daß die Natur ein Ganzes sei, so daß er sie als souveräne Person beschrieb, suchte Goethe nach Orientierung: »Wie vereinigen wir alle diese Widersprüche und finden einen Leitfaden zu ferneren Beobachtungen.«93 Ausgehend vom Ganzen der Natur94 fand Goethe über die Denkfigur der Aurea Catena einen Weg, um
heißt denn doch zuletzt: den Begriff, die Idee des Thiers«. Zit.: Goethe-Handbuch (wie Anm. 61), S. 772. 91
So stellte Kopp fest, die »Aurea Catena Homeri« und von Wellings »Opus mago-cabbalisticum«, die er hier gleichrangig nennt, seien Schriften, die »in Goethe Eindrücke weckten und hinterließen, die in seiner Auffassung sich klärend für die Conception tiefer und bleibend fesselnder Gedanken grundlegend waren.« (Hermann Kopf. Die Alchemie in älterer und neuerer Zeit. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte, 1. Teil: Die Alchemie bis zum letzten Viertel des 18. Jahrhunderts. Reprographischer Nachdruck der Ausgabe Heidelberg 1886, Hildesheim 1962, S. 241).
93
Granit II, FA I, 25, S. 312-316; S. 316.
94
Interessant wäre ein Vergleich der Rezeption der Denkfigur der »Aurea Catena« durch Goethe mit der Verarbeitung des Motivs bei Wieland in dessen Lehrgedicht »Natur der Dinge« von 1751 einerseits und bei Georg Forster andererseits. Dessen Aufsatz »Ein Blick in das Ganze der Natur« entstand als einführender Teil seiner Vorlesung über die Anfangsgründe der Tiergeschichte vermutlich im Sommer oder Herbst 1781 (Georg Forsters Werke, AA, Bd. 8: Kleine Schriften
Goethes Adaption der »Aurea Catena Homeri«
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sich einen tragfähigen Zugang zur Naturerkenntnis zu erarbeiten. Die postulierte Homogenität der Natur in ihrer vertikalen Stufenfolge der drei Naturreiche, die sich auf den einzelnen Ebenen, gewissermaßen in der horizontalen Dimension, nochmals reproduziert, ließ auf einheitliche Bauprinzipien zurückschließen, auf Gesetzmäßigkeiten, die in den Naturreichen in Variationen vorkommen, die aber mit den Methoden der exakten Beobachtung und über die äußere Form, also die Morphologie, analytisch zu erfassen waren. Im Z u g e einer angemessenen Beschränkung auf die gegenwärtig zugängliche Natur setzte Goethe an verschiedenen Punkten der Kette an, um Baupläne, Bildungsmechanismen zu erkennen, um die lebendige Natur in ihrer dynamischen Prozeßhaftigkeit zu begreifen. Dabei ging es nicht (mehr) u m Transmutationen über die Grenzen der Naturreiche hinweg, sondern um die jeweilige Ausgestaltung der mannigfaltigen Erscheinungen entsprechend ihrem immanenten Wesen. Diese differenzierte und an der Gestalt orientierte Betrachtung erlaubte gleichwohl einen Einblick in das Wirken der Natur insgesamt, wobei schließlich nicht mehr zwischen Schale und Kern unterschieden wird. Das Einzelne hat Anteil am Ganzen, das nicht in Frage gestellt wird. Goethes vielseitige Interessen und seine Forschungsergebnisse, wenn sie auch teilweise von den Zeitgenossen nicht adäquat eingeschätzt wurden und heute vielfach als nur mehr historisch gelten können, fügten sich in diesen Rahmen ein. Sie konzentrierten sich einerseits auf markante Ubergänge (wie die Versuche über Infusionstierchen und die »Entdeckung« des Os intermaxillare beim Menschen), andererseits suchten sie für die Naturreiche gültige Grundformen, Archetypen zu ermitteln, die sich durch gesetzmäßige Ausdifferenzierung in einer unendlichen Fülle konkreter Erscheinungsformen darstellen. Goethe hatte »vergnügt den Leitfaden für meinen eigenen, stillen W e g gefunden«, wie er einleitend zur Morphologie schreibt; 95 zugleich war die anfängliche Euphorie einer Ernüchterung gewichen, denn er mußte sich eingestehen, dass er mit seinem Ansatz isoliert war. Goethe selbst verwies auf die zu seiner Zeit konkurrierenden biologischen Theorien der Präformation und der Epigenese, wobei die erstere noch dominiere, sowie speziell bezogen auf die Botanik auf die Autorität Linnes, der »geisteskräftig, bestimmend und entscheidend« »eine dem Zeitgeist gemäßere Vorstellungsart auf die Bahn gebracht« habe, weshalb sein »redliches Bemühen« »ganz ohne Wirkung« geblieben sei (402).
zu Philosophie und Zeitgeschichte, bearb. von Siegfried Scheibe, Berlin 1974, S. 77—97). Z u Wieland vgl. Hacker (wie Anm. 14), S. 19-44; zu Forster vgl. Sahmland·. Bruder Amadeus (wie Anm. 63), insbes. S. 98—118. Vgl. Goethe: Der Inhalt bevorwortet, FA I, 24, S. 402—405, S. 402.
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Irmtraut Sahmland
Sicher können diese Verweise als Begründung für die unerwartet verhaltene Resonanz auf Goethes botanische Studien gelten; an anderer Stelle allerdings wird deutlich, daß Goethes Ansatz mit den Methoden der zeitgenössischen Naturforschung insgesamt nicht - mehr - vereinbar erschien. In der kurzen Abhandlung mit dem signifikant-vielsagenden Titel Das Unternehmen wird entschuldigt von 1807 führt Goethe aus: Leider findet man aber auch bei denen die sich dem Erkennen, dem Wissen ergeben, selten eine wünschenswerte Teilnahme. Dem Verständigen, auf das Besondere Merkenden, genau Beobachtenden, auseinander Trennenden ist gewissermaßen das zur Last was aus einer Idee kommt und auf sie zurückführt. Er ist in seinem Labyrinth auf eine eigene Weise zu Hause, ohne dass er sich um einen Faden bekümmerte, der schneller durch und durch führte [...] 9i
Die Formel der Kette der Wesen als festes Element in der Wissenstradition des 18. Jahrhunderts geriet angesichts des neuen Zeitgeistes in den Naturwissenschaften, der vielleicht verhaltener und langsamer, so doch auch in Deutschland am Beginn des 19. Jahrhunderts Platz griff, in den Hintergrund. Für Goethe allerdings blieb die Aurea Catena ein Leitfaden der Erkenntnis und war als Ariadne-Faden sehr wohl tauglich. Es war die Idee, von der er ausging und auf die er zurückgeführt wurde, da er sie bestätigt sah. Zugleich hatte er die überkommene Denkformel deutlich modifiziert, denn das hierarchische Modell mit seiner ihm immanenten Teleologie wurde zugunsten einer Auslegung der Klettenglieder in horizontaler Ebene, und also in Dimensionen von Raum und Zeit verändert. In Grenzen der Menschheit heißt es: Ein kleiner Ring Begrenzt unser Leben, Und viele Geschlechter Reihen sich dauernd An ihres Daseins Unendliche Kette. 97
Wenn die Kette prinzipiell erhalten blieb, aber nicht mehr als vertikale, in die Transzendenz hin ausgerichtete Ordnung verstanden wurde, dann wäre die Frage nach der die Aurea Catena Homeri bis dahin haltenden, sie gewährleistenden Instanz anzuschließen. Diese führt auf Goethes Pantheismus, wie er ihn etwa in ausdrücklicher Affinität zu Spinoza gegenüber Jacobi bekundete, sich dabei aber gleichwohl gegen jede materialistische Vereinnahmung abgrenzte - aber das ist ein weiteres Thema. 96
Goethe: Das Unternehmen wird entschuldigt, FA I, 24, S. 389-390.
97
Goethe: Grenzen der Menschheit, FA I, 1, S. 332-333, V. 37-42.
Maximilian Bergengruen
Der Sündenfall im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit Z u m Teufel mit dem hermetischen Wissen in Goethes Faust I
Metaphysische Rückstufung Der Teufel steckt bekanntlich im Detail. Oberflächlich betrachtet, fällt in den Debatten, innerhalb derer sich Anhänger des paracelsischen Systems der Magia naturalis gegen Vorwürfe wehren müssen, mit dem Teufel im Bunde zu sein, auf beiden Seiten eine intellektuelle Schlichtheit auf. Jean Bodin z.B. argumentiert in seiner Daemonomania auf der Basis einer Einziehung der natürlichen auf teuflische Magie. Er wirft den »vermeinte[n] Natürliche[n] Meister[n]«, allen voran: »Paracelsus«, vor, dass sich ihre »Magy endlich inn Teufflische Zauberei« verwandeln müsse.1 Begründung: Fehlanzeige. Aber auch die Paracelsisten wehren sich mit Argumenten, die vordergründig unbefriedigend erscheinen. Der englische Naturmagier und Mystiker Robert Fludd z.B. kann auf einen ähnlichen — von einem gewissen Foster erhobenen — Vorwurf nicht mehr erwidern, als dass Foster und er auf so unterschiedlichen diskursiven Prämissen aufbauten, dass ein Dialog schlechterdings unmöglich sei.2 Welcher Teufel Bodin geritten hat, sich in ein Feld zu wagen, in dem er sich nicht auskennt, wird wahrscheinlich immer ein Geheimnis bleiben. Doch hinter Fludds Kommunikationsabbruch steckt mehr als eine platte rhetorische Finte. Seine Kosmologie baut bekanntlich auf der neuplatonischen Gedankenfigur der Emanation auf, genauer: auf der paracelsischen Variante einer dreigestuften kosmischen Dynamik, die sich vom Übernatürlichen über die siderische zur elementischen Natur bewegt.3 '
Jean Bodin: Vom ausgelasnen wütigen Teuffelsheer [..], übers, von Johann Fischart, Straßburg
2
Vgl. Robert Fludd: Doctor Fludds Answer unto Μ. Foster, or the squeesing of Parson Fosters Sponge, ordained by him for the wiping away of the weapon-salve. In: ders.: Essential Readings. Hg. von William H. Huffmann, London 1992, S. 193. Zur historischen Einordnung Fludds in den neuplatonischen und paracelsischen Diskurs, vgl.
1586, S . I98ff.
3
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Maximilian Bergengruen
Und auf der Basis dieses Denkens ist der erhobene Vorwurf weder falsch noch richtig, sondern nicht möglich. Der Grund dafür liegt in einer Aporie, der sich jeder Teilnehmer des paracelsischen Diskurses über die Magia naturalis ausgesetzt sieht. Sie lässt sich so reformulieren: Einerseits scheint die Existenz des Bösen allen Diskutanten evident oder zumindest nicht bestreitbar. Andererseits gilt, dass in einem neuplatonischen System wie dem paracelsischen, das seinen Anfang in der obersten Idee des Guten nimmt und darauf folgend nur noch Hypostasen als Realisierungsformen dieser obersten Idee beschreibt, das Böse eigentlich gar nicht vorkommen darf.4 Denn wenn - mit Fludd gesprochen - »DEVS est omne quod est. Ab eo procedunt omnia & iterum in eum revertuntur«,5 wenn also Gott alles ist, was ist, wenn von ihm alles aus- und in ihn zurückgeht, er dementsprechend an allem im Kosmos, wie es Ficino formuliert, eine »partem aliquam«,6 einen gewissen Anteil, hat — dann ist für das Böse kein Platz in der Welt. Schließlich kann man von Gott schlecht verlangen, an ihm aktiv zu partizipieren.7 Der Ausweg aus der hier skizzierten Ausweglosigkeit findet sich in der Denkfigur der Eigendynamik des Kosmos. Innerhalb der paracelsischen Magia naturalis wird die Emanation nach dem Prinzip der Delegation gedacht. In der jeweils unteren Ebene oder Hypostase gibt es einen, wie es Böhme nennt, »Amptman«,8 der die quasirechtlichen Interessen seines hypostatischen Dominus (wie der Begriff im Lehnsrecht, dem der ganze Gedanke entnommen ist, heißen müsste) vertritt, den an ihn gestellten Anforderungen nachkommt und dafür wiederum einen Amtmann auf niederer Ebene bestimmt. Die Delegationen können sich mikro-makrokosmisch überschneiden. Nach paracelsischer Vorstellung hat »Gott« z.B. die Offenbarungsaufgabe »von seiner
4
* 6
7
8
William H. Huffmann·. Robert Fludd and the End of the Renaissance, London, New York 1988, S. 72-99; ders.·. Introduction. In Fludd: Essential Readings (wie Anm. 2), S. 13-38. Zur historischen Antinomie - dem Ansteigen der Satans- und Hexenbeschuldigungen von kirchlicher Seite bei gleich2eitigem Raum-Ent2ug in den skeptischen und magischen Diskursen - , vgl. Jeffrey B. Russell·. Mephistopheles. The Devil in the Modern World, Ithaca, London 1986, S. 25-76, insbes. S. 33. Robert Fludd: Anatomiae amphitheatrum effigie triplici, more et conditione varia designatum, Frankfurt 1623, S. 3i4f. Marsilio Ficino: De Amore / Über die Liebe. Übers, von Karl P. Hasse. Hg. von Paul R. Blum, Hamburg '1994, S. 45. Vgl. hierzu Jeffrey Burton Russell·. Biographie des Teufels. Das radikal Böse und die Macht des Guten in der Welt, Wien u.a. 2000, S. 157, der das gleiche Paradox bereits für die mittelalterliche Mystik heraus arbeitet. Jakob Böhme·. De Signatura Rerum. In: ders.·. Werke. Hg. von Ferdinand van Ingen, Frankfurt a. M. 1997, S. 601.
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Hand in die [siderische] Natur verordnet« und gleichzeitig den Menschen mit Wissen »aus seiner Schule, die in der Geburt mitläuft«, ausgestattet.9 Daraus ergibt sich das komplizierte quasijuristische Problem einer »erbsgerechtikeit«, also (wiederum analog zum Lehnsrecht) einer Regelung eines Nachfolge-Anspruchs: nämlich dem zwischen siderischer Natur und Mensch gegenüber Gott.10 Ist das gelöst, kann ein Teil der delegierten Aufgaben wiederum an die elementische Natur übertragen werden. Z.B. bekommt der »magen« wegen seiner Zersetzungsund Scheidekünste auf der Ebene der Organe die Rolle eines »alchimist[en]« n zugewiesen. Die Gedankenfigur der Delegation impliziert, dass es auf jeder Hypostase einen Freiraum in der Interpretation der von oben zugeteilten Aufgaben gibt d.h. Möglichkeiten für eine emanative Eigendynamik. Am deutlichsten zu sehen ist dieses Phänomen anhand einer Grafik von Robert Fludds Macrocosmi Historia (Abb. i),12 in der die weibliche Natur mittels einer an ihrer rechten Hand befestigten Kette einen Auftrag von Gott erhält, den sie mit ihrer linken an den Affen der Natur, den Menschen, weitergibt. Der Befehl Gottes muss also durch den Körper der Natur wandern - und der Schlafzimmerblick der reizenden Frau Natura zeigt an, dass hier die linke Hand nicht immer weiß, was die rechte befohlen bekommen hat. Der Gedanke der emanativen Eigendynamik wird nun auch für die Existenz des Bösen fruchtbar gemacht. Paracelsus schreibt: So wie nun in der Welt der Anfang aller Dinge gut und Gott gefällig gewesen ist, so hat die Zeit die gute Art zerbrochen, und sie ist gespalten worden in Gut und Böse.'3 Gott hat über die kosmische Dynamik nur in ihren groben Zügen, nicht jedoch in den Details der Ausführung die Kontrolle. Der emanative Prozess transportiert nicht nur das ungeteilte Gute, sondern differenziert und materialisiert es sozusagen in Eigenregie - von Hypostase zu Hypostase immer weiter aus. Und das
9
Paracelsus-. Astronomia magna oder die ganze Philosophia sagax der großen und kleinen Welt. Hg. von Norbert Winkler, Frankfurt a. M. 1999, S. 35, 87 (im Folgenden als >Astronomia magna< zitiert). Alle anderen Texte weise ich — unter der Sigle >SW< — nach der Ausgabe: Paracelsus·. Sämtliche Werke. Hg. von Karl Sudhoff, München 1929fr., nach.
10
Paracelsus·.
Philosophia magna, SW I.14, 252.
11
Paracelsus:
Paramirum, S W I.9, 152.
12
Robert Fludd·. Utriusque cosmi maioris scilicet et minoris metaphysica, physica atque technica historia [...]. Tomus primus, de macrocosmi historia in duos tractatus diuisa, Oppenheim 1617, S. 4 f .
13
Paracelsus:
Astronomia magna, S. 263.
Maximilian Bergengruen
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Abb. ι
impliziert eine Spaltung des Guten in Gut und Böse. Durch diese Denkfigur ist die Bedingung der Möglichkeit für das Böse sicher gestellt, ohne die prozessuale Urheberschaft Gottes (als dem schlechthin Guten) an allem Sein in Frage zu stellen. Das Zitat geht aber über diesen Gedanken noch hinaus, indem es die Vorstellung der natürlichen Eigendynamik der Natur (und ihrer Ermöglichung des Bösen) mit einer christlichen »Zeit«-Vorstellung verbindet. D.h.: Der Eintritt des neuplatonisch gedachten Prozesses der Emanation in die Natur entspricht makrokosmisch gesehen dem Fall Luzifers und mikrokosmisch gesehen dem Sündenfall. Die Zerbrechung der guten Art in der makrokosmischen Emanation findet ihr Analogon beim Mikrokosmos Mensch im Zustand der epistemischen Differenzierung von »Böse[m] und Gute[m]« - ein Rekurs auf die Genesis-
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Formulierung (Gen. 3, 5) »Scientes bonum et malum«14 - beim Sündenfall. Und so wie in der makrokosmischen Emanation die Zerbrechung der guten Art mit der Hypostase der Natur ihren Anfang nimmt, so auch beim sündig werdenden Menschen: »da fiel er in die Natur«.15 Aus dieser Gedankenfolge ergeben sich weitreichende Konsequenzen für die Existenz des Bösen und die Wirkungsmöglichkeiten des Teufels: Findet die Zweiteilung in Gut und Böse (christlich gesprochen: der Fall Luzifers) erst mit Eintritt der emanativen Dynamik in den Hoheitsbereich der Natur statt, kann es kein Übernatürlich-Böses geben. Es ist also auch keine schwarze Magie denkbar, die diesen Bereich für sich nutzbar machte. Und demzufolge: Wenn es den Teufel dennoch gibt, so können ihm keine anderen als natürliche Mittel zugesprochen werden. Wenn die Paracelsisten also vom Teufel sprechen, dann, so van Helmont, mit dem Zusatz, dass »die Lehre von wahrer Gottseeligkeit« es nicht zulasse, wenn man dem Teufel eine Macht zuschreiben will / welche die Natur übersteigt; nemlich ein Ding so offt machen / zerstören / wiedermachen / und von seinem Entwerden zu mehrmalen in seinen vorigen Stand bringen.' 6
Die hier wiedergegebene Argumentationsstrategie fußt auf dem Gedankengut Paracelsus'. Dieser macht es sich nicht so einfach wie seine Adepten, die den Teufel, sozusagen als schwarzen Peter, ohne große Umstände den Galenisten zuschieben (obwohl auch Paracelsus sich diesem einfachen Gut-Böse-Schema nicht immer versagt),' 7 sondern ist an einer grundsätzlichen Bestimmung interessiert. Er hält am Grundsatz fest, dass
14
Alle lateinischen Zitate der Bibel hier wie im Folgenden nach der Vulgata, alle deutschen nach Luther.
15
Paracelsus·. Astronomia magna, S. 115.
10
Johann Baptist van Helmont·. Aufgang der Artzney-Kunst. Übers, von Christian Knorr von Rosenroth, München 1971 (= N D der Ausgabe Sulzbach 1686), Bd. I, S. 984^
17
Vgl. hierzu Adam von Bodenstein: Widmungsvorrede zum »Paragranum«, an Markgraf Georg Friedrich, 30.9.1564. In: Corpus paracelsisticum, Bd. I: Der Frühparacelsismus. Hg. von Wilhelm Kühlmann, Joachim Teile, Tübingen 2001 (im Folgenden abgekürzt als >CP Ivelum< (in Naturwissenschaft und Theologie), vgl. Maximilian Bergengruen·. Das Unsichtbare in der Schrift. Magische Texttheorie im paracelsischem Diskurs der Frühen Neuzeit. Erscheint in: Schleier. Hg. von Johannes Endres u.a., München 2004.
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Faust, wenn er den von Gott vorgesehenen Weg ausschlägt? Vielleicht erst zu dem Ziel, das beide nicht anstreben. Das Stück schlägt nämlich einen Haken als Finte für Kenner des Faustbuchs50 und leicht zu schockierende fromme Germanisten. Der Text tut nämlich so, als ob Faust in Mephisto (bzw. dem teuflischen Prinzip, das er repräsentiert) das gesuchte f/fematürliche fände, nur nicht auf der metaphysischen Haben-, sondern der Soll-Seite: also beim Übernatürlich-Bösen. Mephisto legt die falsche Fährte, wenn er den Topos der »Hoffahrt«51 bedient und sagt: »Ich bin ein Teil des Teils, der Anfangs alles war II Ein Teil der Finsternis, die sich das Licht gebar« (V. i349f.). Das ist schlechte neuplatonische Metaphysik auf dem Stand des jungen Goethe, die sein (ge)alter(tes) ego im achten Buch von Dichtung und Wahrheit als »seltsam genug«52 abqualifiziert. Vor dem von mir oben rekonstruierten pansophischen Hintergrund (d.h. mit dem Wissen um den metaphysisch zweitklassigen Status des bzw. der Teufel)53 kann diese Information nur als Scherz des satirischen »Schalkfs]« (V. 339)
50
Ohne dass damit im Geringsten behauptet werden soll, dass die folgenden Autoren diesen Finten erlegen wären: Zum Faustbuch von 1587 und zum Wagner-Buch, vgl. die grundlegenden Studien von Jan-Dirk Müller·. Ausverkauf menschlichen Wissens. Zu den Faust-Büchern des 16. Jahrhunderts. In: Literatur, Artes und Philosophie. Hg. von Walter Haug, Burghart Wachinger, Tübingen 1992, S. 163—194; Udo Friedrich·. »[...] das wir selber künste könen erdencken [...]«. Magiediskussion und paracelsisches Wissen im Wagnerbuch. In: Neue Beiträge zur Paracelsusforschung, Hg. von Peter Dilg, Hartmut Rudolph, Stuttgart 1995, S. 169—194.
51
Paracelsus·. Astronomia magna, S. 267. Vgl. auch die »hochffahrt Luciferis« in Adam von Bodenstein·. Widmungsvorrede zu »Von tartarischen kranckheiten«, an Melchior Dors, 24.8.1563, CP I, 342. Die Hoffahrt besteht darin, sich »den vnsterblichen götteren gleichachten« (ebd.) zu wollen. Es handelt sich um den Rekurs auf eine außerbiblische Erzähltradition. Vgl. hierzu Teile, Kühlmann·. Kommentar, CP I, 349, und für Goethes Faust: Leonard Forster·. Faust und die acedia, Mephisto und die superbia. In: Dichtung, Sprache, Gesellschaft. Akten des IV. Internationalen Germanisten-Kongresses 1970 in Princeton. Hg. von Victor Lange, Hans-Gert RolofF, Frankfurt 1971, S. 307-322.
52
Goethe: Dichtung und Wahrheit, FA I, 14, S. 382. Die Idee des natürlichen Teufels geht über den von Alwin Binder: Faustische Welt. Interpretationen von Goethes Faust in dialogischer Form. Urfaust - Faust-Fragment -Faust I, Münster et al. 2002, S. 322, stark gemachten (frühen) Gedanken Goethes, dass »Satan« wie »Erde« oder »Himmel« »Conzepte« seien, die »der Mensch« in »seiner eignen Natur hat«, hinaus (Goethe: Brief an Lavater, 9.4.1781 [?]. In: ders.: Gedenkausgabe. Hg. von Ernst Beutler, Zürich, Stuttgart '1976, Bd. XVIII, S. 583 [im Folgenden: >GAMystik-ParodieIllusions-Asthetik< und >Sündenfall< thematisieren lassen. Am Umfassendsten (weil die anderen beiden Momente beinhaltend) ist die Parodie der mystischen Denkbewegung, innerhalb derer die Richtung vom Wissen zum Glauben verkehrt wird. Der Basis-Satz eines parodistischen Systems ist durch eine als intertextuell markierte Konstellation von Elementen (die die Simulatio garantiert) und durch die metonymische Erweiterung eines oder mehrerer dieser Elemente (die die
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Vgl. hierzu ebd., S. 10. Demgegenüber versucht Jürgen Stenzel·. Mephistos Endzeit. Eine Hypothese zu >Faust IGenuss< abzulesen. Ich habe oben dargelegt, dass die natürliche Reihenfolge des Magiers die vom Wissen zum Glauben, von der Natur zum Ubernatürlichen wäre. Valentin Weigel führt das Ablassen von den »Heidnischen Khinsten«,69 mit denen das Wissen der Natur sonst für den Menschen nutzbar gemacht wird, mit einer psychischen Selbstzerstörung eng: »er«, d.h. der mystische Gläubige, »hasse sich selbst, habe nicht lusst an im selber«.70 Dieser Denkbewegung folgt Faust bis in ihre Details, wenn er sich von allem »Wissensdrang« (V. 1768) und »Wissen«, vor dem ihm »ekelt« (V. 1749), lossagt - er, der er sich aus seiner Melancholie heraus behandelt wie ein »Geier«, der sein eigenes »Leben frißt« (V. 1636). Aus Sicht der Mystik lässt sich die Lossagung von psychisch stabiler Existenz und Wissen ziemlich genau mit der Forderung nach dem Verlust des »Aigene[n] Willen [s]« und des »selbst« zugunsten einer Hingabe an den und Teilhabe am »Göttlihe[n] Wille[n]«71 beschreiben. Genau den gleichen Ubergang vom eigenen Selbst zu einem übergeordneten visiert auch Faust an: U n d was der ganzen Menschheit zugeteilt ist, W i l l ich in meinem innern Selbst genießen, [...] U n d so mein eigen Selbst zu ihrem Selbst erweitern (V. i 7 7 o f . ; 1774).
Neu ist der Begriff des Genusses (»genießen«), der den des Glaubens ersetzt. Mit dieser Ersetzung ist eine pantheistische Volte verbunden: Es geht nicht mehr um die Aufgabe des Selbst zugunsten einer Teilhabe an einem göttlichen Allgemeinzustand, sondern einer menschlichen oder (der Menschheit zugeteilten) natürlichen Allgemeinheit. Die metonymische Erweiterung besteht aus mehreren Schritten. Wie aus der Begriffsgeschichte bekannt, gehört der Terminus >Genuss< in das Basis-Vokabular
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Diese hier sehr knapp vorgetragenen Überlegungen bauen auf Michail M. Bachtin: Die Ästhetik des Worts. Übers, von Rainer Grübel, Frankfurt a. M. 1979; Julia Kristeva·. Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman. In: Zur Struktur des Romans. Hg. von Bruno Hillebrand, Darmstadt 1978, S. 388-408, und Renate Lachmann·. Gedächtnis und Literatur, Frankfurt a. M. 1990, 254fr. auf. Sie sind ausführlicher ausgeführt in: Maximilian Bergengruen: Flussgott und Wasserorgel. Die komische Geste bei Jean Paul. In: Gestik. Figuren des Körpers in Text und Bild. Hg. von Margreth Egedi et al., München 2000, S. 231—246. Valentin Weigel·. Gnothi seauton, N E III, 86. Ebd., S. 98. Ebd., S. 9 8f.
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der pietistischen Mystik. »Gott genießen« bzw. der »Genuss Christi« wird von Zinzendorf bis Lavater gleichbedeutend mit dem Vorgang des vollkommenen Eingehens in Gott oder Christus gebraucht.72 Herder erweitert diesen Begriff nun pantheistisch,73 wenn er in seiner Schrift Gott diskutieren lässt, dass es nicht nur einen »Genuß« an »Gottes Daseyn«, sondern am »Daseyn« des Menschen (im Sinne von: Realität) gäbe.74 Doch die Naturalisierung der mystischen Teilhabe am göttlichen Willen macht nicht die ganze metonymische Verschiebung innerhalb der Parodie des mystischen Projektes aus. Vielmehr wird die hier skizzierte Bedeutungsebene des Begriffs >Genuss< (Teilhabe am Sein) durch eine zweite, ebenfalls in der Zeit (bis heute) virulente, überlagert: Genuss als positiver Affekt,7S was sich auf den Nenner der >Delectatio< bringen lässt. Die semantische Uberblendung der zwei an sich geschiedenen Bedeutungsebenen ist diskurstypisch, man findet sie ζ. B. in der Kritik der Urteilskraft, wenn Kant in einer Fußnote auch den »mystische[n] sogenannte[n] himmlische[n] Genuß«76 den Formen zurechnet, die »ergötzend« oder »erfreulich« sind (und deswegen vom ästhetischen Urteil geschieden werden müssen). 77 Und genau diese Uberlagerung macht sich der Text für seinen parodistischen Effekt auf doppelte Weise zunutze: erstens als Auseinandersetzung mit der Illusionsästhetik (Mendelssohn, Kant), zweitens (um zum Kernthema zurückzukommen) als Anknüpfungspunkt an die Sündenfall-Erzählung in der Vulgata-Ubersetzung der Bücher Mose. Zuerst zur Illusions-Asthetik: Im höchsten Maße auffällig ist die Engfuhrung des Begriffes des Genusses mit der Frage der Täuschung. Fausts pseudomystische Destruktion seines Ichs und dessen Möglichkeit, Wissen zu erlangen, baut auf dem Zentralargument der epistemischen und moralischen Täuschung auf. Das, was die Menschen Erkenntnis nennen, ist, so Faust, in Wirklichkeit »Lockund Gauckelwerk«, hergestellt mit »Blend- und Schmeichelkräften« — kurz: 72
Vgl. hierzu Wolfgang Binder·, »Genuss« in Dichtung und Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Archiv für Regriffgeschichte 17 (1973), S. 66—92, S. 72ff., der komischerweise dieses Moment nicht in seiner Goethe-Interpretation im selben Text, aber auch nicht in seinem — auf diesen Überlegungen aufbauenden — Aufsatz, Goethes klassische >FaustFaustBesitzen< bzw. »Teilhaben« und >Sich Freuen«, vgl. Binder·. Genuss (wie Anm. 72), S. 67f. Kant: Kritik der Urteilskraft A 13, FN. Ebd. A 8.
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Der Sündenfall im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit ein » B l e n d e n d e r E r s c h e i n u n g « , f ü r das zu a l l e m Ü b e r f l u s s , d e r »Geist« a u c h n o c h selbst v e r a n t w o r t l i c h ist ( V . 1 5 8 7 ; 1 5 9 0 ; 1593; 1592). K e i n W u n d e r also, dass a u c h alle m o r a l i s c h e n W e r t e n u r ein » T r u g « s i n d b z w . m i t T r u g a r b e i t e n , also eigentlich H e u c h e l e i u n d S c h m e i c h e l e i s i n d ( » V e r f l u c h t w a s u n s in T r ä u m e n heuchelt«; » V e r f l u c h t w a s als Besitz u n s s c h m e i c h e l t « ; V . 1 5 9 6 ; 1595; 1 5 9 7 ) . O b w o h l Fausts nihilistischer A n f a l l einem U m w e r t e r aller W e r t e , der M e p h i s t o n u n e i n m a l 1st, 7 8 eigentlich g e f a l l e n k ö n n t e , w e i s t dieser j e n e n s t r e n g z u r e c h t . » H ö r ' auf m i t d e i n e m G r a m zu spielen« ( V . 1635). T o u c h e ! I m F o l g e n d e n wechselt F a u s t seine P o s i t i o n u n d v e r l a n g t v o n M e p h i s t o b e i m B r a i n s t o r m i n g ü b e r d i e B e d i n g u n g e n der W e t t e b z w . des P a k t e s nichts a n d e r e s als T ä u s c h u n g e n — u n d z w a r solche, d i e e i n e n Ü b e r t r i t t ü b e r die G e s e t z e d e r N a t u r z u m G e g e n s t a n d h a b e n : »Speise d i e n i c h t sättigt«, » G o l d , das [...] zerrinnt«, »ein S p i e l , bei d e m m a n nie g e w i n n t « ( V . 1 6 7 8 - 1 6 8 1 ) . 7 9 U n d g e n a u dieses M o m e n t d e r T ä u s c h u n g g e h t d a n n a u c h in d i e e n d g ü l t i g e F a s s u n g d e r B e d i n g u n g s - F o r m u l i e r u n g ein: » K a n n s t D u m i c h s c h m e i c h e l n d je b e l ü g e n , II [...] II K a n n s t D u m i c h m i t G e n u ß betriegen« ( V . 1 6 9 4 ; 1 6 9 6 ) .
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Die Nietzsche-Anlehnung hat Stefan Greif: Sympathie für den Teufel? Zum Teufelsbild der Goethezeit (Paderborner Universitätsreden), Paderborn 1996, S. 22, geprägt. Greif kommt mit seiner an diesen Rekurs geknüpften These das Verdienst zu, die ältere Forschung, die im Teuflischen ein lediglich rückwärts gewandtes Moment des Dramas finden konnte, revidiert zu haben (vgl. z.B. Dorothea Lohmeyer. Faust und die Welt. Der zweite Teil der Dichtung. Eine Anleitung zum Lesen des Textes, München 1977, S. 42f., die noch von der »Kehrseite des [...] autonom gewordenen Geistes« spricht). Greif berücksichtigt allerdings nicht, dass dieser Gedanke schon bei Jean Paul virulent ist und eine historische Tradition besitzt, die ich in diesem Aufsatz zu rekonstruieren versuche.
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Die Lesart Albrecht Schönes u.a., die, gestützt auf die Zeichensetzung der Originale, einen Punkt statt eines Kommas hinter die Verse 1678—1685 setzt (Schöne: Kommentar, FA I, 7/2, S. 258f.), scheint mir unplausibel. Ist es nicht mehr als fragwürdig, die ganze Lesart einer Passage auf ein Wort, nämlich auf das »nur« (ebd.: »Du armer Teufel >hast ja doch nur Speise««), zu setzen, das im Text nicht vorkommt? Folgte man Schönes Vorschlag, stünde weiterhin die Aufforderung »Zeig mir die Frucht [...]!« (V. i686f.) und Mephistos zustimmende Antwort (»Ein solcher Auftrag schreckt mich nicht«; V. 1698) in einer starken Inkonsistenz zu den Sätzen vorher. Schöne zufolge behauptet Faust »resignierend«, dass Mephisto »nur« unnütze Dinge beherrsche — aber warum fordert er ihn wenige Sekunden später gutgelaunt auf, eines davon in die Tat umzusetzen? Um diese Inkonsequenz zu motivieren, muss das »UnbeständigUnbefriedigende« (ebd.) in Fausts Wesen aus dem Hut gezaubert werden. Eine Rechnung mit ziemlich vielen Unbekannten. Weitaus konsistenter ist doch eine Lesart, in der die Aufforderung in V. i686f. die letzte Konsequenz der (sowieso schon fordernden) Fragen der Verse zuvor darstellt, zumal die endgültige Formulierung der Wette das Moment der illusionären Täuschung (das bei Schöne angeblich resignierend verworfen wurde) noch einmal aufnimmt! Schöne benennt übrigens einen interessanten Grund, warum diese so naheliegende Lesart nicht gewählt werden dürfe: Die Forderungen Fausts können seiner und seiner Vorgänger Meinung nach nicht als »ernstgemeinte positive Wünsche« (ebd.) angesehen werden — genau das soll aber in meiner Lektüre gezeigt werden.
ίο 6
Maximilian Bergengruen
Es handelt sich offensichtlich um zwei verschiedene Arten der Täuschung und die Differenz scheint in der Frage der Durchschaubarkeit zu liegen. Der Unterschied lässt sich jedoch nicht so beschreiben, dass Faust die eine Täuschung (die er in seinem Lamento fraudis bescheibt) nicht (oder nur sehr viel später) durchschaut, die andere (der Gegenstand der Wette) aber sofort. Die täuschenden Erscheinungen des Ubernatürlichen (als Teil des Vertrages mit Mephisto) sollen ja gerade so echt sein, dass Faust von seinem Wissensdrang (der allein aufs Natürliche ging) geheilt wird, dass er sich auf das »Faulbett« (V. 1692) legen kann. Gleichzeitig verhindert die vorherige Abmachung (also das sichere Wissen Fausts, dass es sich um Täuschungen handeln wird) natürlich eine vollkommene Täuschung. Beschrieben wird also ein Zustand, in dem beides stattfindet: die »Sinne« (V. 1594) werden getäuscht, ohne dass der »Geist« (V. 1592) über den epistemischen Status dieser Täuschung im Unklaren gelassen wird. Der Begriff, der einen solchen Zustand beschreibt, ist der der Illusion. Er hat — zumindest in seiner systematischen Verwendung — eine kurze aber intensive Geschichte hinter sich. Es ist Moses Mendelssohn, der den Terminus philosophisch verwendbar macht und ihn nach einigen Interpretationsproblemen 1771 in sein System (genauer: in die Rhapsodie) einfügt.80 Wir finden die gleiche Gedankenfigur bei niemand Geringerem als Immanuel Kant an einer sehr entlegenen Stelle wieder: in einer akademischen OpponentenRede gegen Kreutzfeld (1777). Dort verwirft Kant für die Kunst den Begriff des »fallere« und setzt stattdessen den der »illusio«. Der durchschaute Betrug hinterlasse beim Betrachter ein Gefühl der Leere und Ent-Täuschung, die Illusion hingegen verschaffe Lust und halte an, nachdem der Betrachter ihrer gewahr worden sei. Kant schließt den Gedanken: »Species quae fallit, displicet; quae illudit, placet admodum et delectat«.8l Wichtig daran ist das Moment der mentalen Zweigleisigkeit: Der Zuschauer wird getäuscht und genießt die Täuschung zugleich.
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Maximilian Bergengruen: Gehört »die theatralische Sittlichkeit vor den Richterstuhl der symbolischen Erkenntniß«? Zur Genese von Moses Mendelssohns Theorie der Illusion. In: Mendelssohn-Jahrbuch 12 (2001), S. 1-20. Immanuel Kant: Entwurf einer Opponenten-Rede gegen Kreutzfeld. In: ders.: Gesammelte Schriften (Akademieausgabe). Hg. von der königl. preuß. Akademie der Wissenschaften, Berlin icjooff., Bd. XV, S. 907. Man beachte auch die Wiederholung dieses Gedankens in: Anthropologie-Pillau. In: Akademie-Ausgabe, XXV.2, S. 745. Vgl. in diesem Zusammenhang, Maximilian Bergengruen·. L'esthetique de l'illusion. Sur le rapport entre le goüt, la morale et la signification dans la Critique de la faculte de juger. In: Revue Germanique 16 (2001), S. 147-163.
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Diese theoretische Spielfigur — gedacht in den Grenzen des >delectare et prodesse< - taucht, allerdings an einer entscheidenden Stelle modifiziert, wieder in der Kritik der Urteilskraft auf: Der Anschein der »Natur« darf, so Kant, kein Betrug sein. Der Wirt, der seinen Gästen auf der Terrasse durch einen »mutwilligen Burschen« den Gesang einer Nachtigall vorspielen lässt, um seinen Gewinn zu steigern, ist ein Betrüger. Und Sobald man [...] inne wird, daß es Betrug sei, so wird niemand es lange aushalten, diesem vorher für so reizend gehaltenen Gesänge zuzuhören. 82
Davon abgehoben die Illusion der Kunst: die Kunst kann nur schön genannt werden, wenn wir uns bewußt sind, sie sei Kunst, und sie uns doch als Natur aussieht. 8 '
Die Wissensfigur der Illusion in die Kritik der Urteilskraft zu transferieren, hat systemische Gründe. Wäre das »Scheinen« als Natur in der Kunst nicht stark genug, wäre die Voraussetzung für das ästhetische Urteil, die Zweckmäßigkeit ohne Zweck, in Gefahr, da Kunst immer in einer bestimmten »Absicht«, d.h. mit einem bestimmten Zweck, hervorgebracht wird.84 Gleichzeitig bedarf es natürlich einer Differenz-Markierung zwischen Kunst und Natur. Diese Doppelanforderung kann die Illusion mit ihrer mentalen Zweigleisigkeit leisten. Die Natur-Illusion beim Kunstwerk ermöglicht es also, »das Richtmaß [...] in uns selbst suchen« zu können85 — und nicht im Gegenstand. Dementsprechend kann auch die »Lust« - also die »Absicht« des »Subjektes«, sich in dem Zustand, in dem es sich gerade befindet, »zu erhalten^6 - beim ästhetischen Urteil ausschließlich auf die eigene »Beschäftigung der Erkenntniskräfte« bezogen werden. Somit bleibt die Rezeption des Schönen auch beim Kunstwerk eine »Betrachtung«, die »sich selbst stärkt und reproduziert« - und ist nicht auf einen externen »Reiz« angewiesen.87 Ganz astrein ist der Transfer der Illusionstheorie in die Kritik der Urteilskraft nicht, hatte doch Kant in seinen früheren Konzeptionen, wie gezeigt, mitnichten die Lust am eigenen mentalen Ereignis, sondern die objekt-bezogene Lust im Sinne von >delectatio< als sinnlichen Teil in der illusionären Rezeption veranschlagt. In
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Kant: Kritik der Urteilskraft A 171. Ebd. A 177. Alle Zitate ebd. A i77f. Vgl. auch die dazu widersprüchlichen Passagen ebd. A 250. Ebd. A 249. Ebd. A 33. Ebd. A 37.
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der Kritik der Urteilskraft hingegen wird die »Lust«88 in Form des »Genießen [s]«89 oder einer »ergötzend[en]« Empfindung 90 als objekt- und zweckbezogen vom ästhetischen Urteil explizit und mit Nachdruck ausgeschlossen. Genau an diesem Widerspruch setzt Faust I an, wenn im Text als erste Wettbedingung der Zustand, mit Genuss betrogen zu werden (»Kannst du mich mit Genuß betriegen«; V. 1696), als zweite die Lust bzw. Erhaltung des Zustandes, in dem Faust sich gerade befindet (»Werd' ich zum Augenblicke sagen: II Verweile doch«), als dritte das Schönheitsurteil (»du bist so schön!«; V. i699ff.) gesetzt wird. Es passen, misst man den Text an den Bedingungen, die er über den expliziten Verweis auf die Kritik der Urteilskraft auf sich gezogen hat, immer zwei Elemente der Trias zusammen und stoßen ein drittes ab. Schönheitsurteil und Lust lassen sich vereinbaren, wenn man das neutrale »Verweile doch« als innermentale, d.h. nicht-empirische, Lust interpretiert. Diese Kombination ist aber mit dem »Genuß« der Illusion nicht kompatibel zu machen. Letzteres wäre wiederum mit dem »Verweile doch« allein vereinbar. In diesem Falle handelte es sich jedoch um eine (der idealen »analogisch [e]«) empirische Selbstreproduktion des Lustgefühls, innerhalb derer »ein Reiz in der Vorstellung des Gegenstandes die Aufmerksamkeit wiederholentlich erweckt, wobei das Gemüt passiv ist«9' (so passiv, wie Fausts Tatendrang auf dem »Faulbett«, V. 1692, möchte man hinzufügen). Aber diese Lust-Delectatio-Kombination wäre wiederum nicht mit dem Schönheitsurteil zur Deckung zu bringen. Interessanterweise weist ein Paralipomenon, das in der Zeit entstanden ist, als Goethe den Plan fasste, den Faust-Stoff auf zwei Stücke zu verteilen, also ca. um 1800,92 die im Faust verwandte vortranszendentale und transzendentale Illusions-Formen nicht als unvereinbar, sondern als genealogisch verwandt aus (was zwar nicht dem Systemzwang Kants, wohl aber der Entstehungsgeschichte seiner Gedankenfigur entspricht). In dem Paralipomenon wird nämlich der »Lebens Genuß der Person«, der »in der Dumpfheit [der] Leidensch[aften]« stattfindet, dem »I. Theil« des Faust zugeordnet, der »Genuß mit Bewußtsey[n] [in / der?] Schönheit« hingegen dem »zweyte[n]« Teil.93
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
A A A A
8. 10. 8. 37.
Vgl. Schöne·. Kommentar, I 7/2, S. 957; Anm. 72), S. n8ff.
Goethe·.
Binder·.
Goethes Klassische Faust-Konzeption (wie
Paralipomenon zum Faust, FA I, 7/1, S. 577.
Der Sündenfall im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit
Diese Aufzeichnungen waren sicher nicht das letzte Wort, da Faust bereits im ersten Teil, wie gezeigt, keinen Genuss »in der Dumpfheit [der] Leidensch [aften]« anstrebt, sondern gerade das Konzept eines Bewusstseins des Genusses in der illusionären Brechung der Hingabe an die »Leidenschaften« (V. 1751) verfolgt. Insofern ist die Entwicklung einer Ästhetik-Theorie aus dem illusionären Genuss bereits im Pakt angelegt und harrt seiner Entwicklung im Faust II, wenn Fausts und Helenas Verbindung eine moderne Poesie hervorbringt. Zurück zum Ausgangspunkt der Überlegung: Zwei Momente heben die Spielfigur der Illusion im Faust von der Mendelssohn-Kantischen Formation ab: die technisch-magische Evokation der Illusion (die Rede ist nicht von einer Theater-Aufführung oder der Rezeption eines Bildes, sondern von einer okkulten Vorführung im Stile Schröpfers) und, was damit zusammenhängt, die Fokussierung auf das Ubernatürliche (statt auf das Natürliche). Diese beiden Momente verbinden den Faust mit den illusionären Experimentalanordnungen in Jean Pauls Titan. Auch hier kommt der Protagonist einer Handlung — in diesem Falle: Albano — durch katoptrische Performanz-Techniken mit illusionären Erscheinungen des Ubernatürlichen in Berührung. Und auch hier wird wie im Faust der illusionäre Effekt metaphysisch gutgeschrieben: Die »Landkarten vom [...] Geisterreiche«, die durch die Vorführungen im Titan aufgeschlagen werden, sind, wie an prominenter Stelle des Romans formuliert wird, Λ erlogen, aber doch ähnlich«,94 Will heißen: Die Erscheinungen des Ubernatürlichen sind als technische Illusion zu entlarven. Gleichzeitig verweist das äußerlich imaginierte Ubernatürliche auf ein tatsächliches Ubernatürliches, das im Menschen (aber nicht außerhalb) zu finden ist. Und an dieser — zumindest in einer exoterischen Lesart offensichtlichen — Heiligkeit endet die Allianz der zwei literarischen Großprojekte, die auf so unterschiedliche Weise das Phänomen der Hybris umkreisen. Denn während es dem sensualistischen Platoniker, zu dem Albano heranwächst, tatsächlich um ein Ubernatürliches zu tun ist, das irgendwo zwischen Gott und der höchsten Idee des Guten liegt, setzt die Faust-Mephisto-Allianz nur auf eine Illusion des Übernatürlichen, deren metaphysische Pointe - und das macht den Unterschied mehr als himmelweit — im Sündenfall und deren Verlockungen liegt. Die Parodie der mystischen Denkbewegung vom Wissen zum Glauben ist also durch die pantheistische Überlagerung der Unio und die Überführung der technischen Simulation in die rhetorische der Parodie noch lange nicht 94
Jean Paul: Titan. In: ders.: Werke. Hg. von Norbert Miller, 10 Bde., München 1959—1985, Bd. I.3, S. j62f.
Maximilian Bergengruen
no
erschöpft. Die teuflische Parodie besteht darin, vom »Wissen« nicht zu Glauben und Unio, sondern (sozusagen rückwärts) zu den »Leidenschaften« (V. 1751) zu gelangen - und das heißt: die Delectatio der Illusion in den Verlockungen des Sündenfalls zu suchen. Die »Schlange«, die Mephisto durch Fausts metonymische Verdichtung ist (s.o.), soll diesem nämlich den Genuss präsentieren, der den ersten Menschen durch den Apfel zukam. So wie Eva sieht, dass »bonum esset lignum ad vescendum, et pulchrum oculis, aspectuque delectabile« - >daß von dem Baum gut zu essen wäre und daß er eine Lust fur die Augen wäre und verlockend, weil er klug machte< (Genesis 3, 6)95
so möchte auch Faust wieder und wieder
mit den Verlockungen konfrontiert werden, die von diesem Ereignis ausgehen. Delectatio leitet sich von dem Verb >lacioverlockengroßen Lücke< das Faust-Fragment
von 1790 wieder ein: »Und was der
ganzen Menschheit zugeteilt ist, || will ich in meinem Innern selbst genießen.« (V. 1770/1) Dass nun der T o n auf »Menschheit« liegt, impliziert den Verzicht auf Fausts bisheriges, auf den Kosmos zielendes Erkenntnisstreben. Aus Mephistos Kommentierung dieses Wechsels in der Ausrichtung der Welterkenntnis stammt mein Titel-Zitat: »Glaub unsereinem: dieses Ganze || Ist nur für einen G o t t gemacht! || Er findet sich in einem ewgen Glänze, || Uns hat er in die Finsternis gebracht, || U n d euch taugt einzig T a g und Nacht« (V. i78off.). M a n darf diese Feststellung nicht relativieren, weil sie Mephisto in den M u n d gelegt ist. M a x Kommerell hat die scharfsinnige Feststellung gemacht, dass Mephisto zwar zynisch spreche, wobei Kommerell Zynismus definiert als »Rechthaben eines großen Verstandes auf Kosten der Scham«, dass Goethe gleichwohl »mit lebensechtem Akzent aus ihm redet«.5
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Ulrich Gaier·. Goethes Faust-Dichtungen. Ein Kommentar. Band 1: Urfaust, Stuttgart 1989. Max Kommerell: Geist und Buchstabe der Dichtung. Goethe — Kleist — Hölderlin, Frankfurt a. M. 1940, S. 26f.
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Karl Pestalozzi
Tatsächlich hat Mephistos zynische Behauptung »dieses Ganze || ist nur für einen Gott gemacht« in einer Äußerung Goethes ausserhalb des Faust eine wichtige Entsprechung. Im Rahmen seiner Schrift Zur Morphologie (I, 2, 1820) spricht er von Kants Kritik der Urteilskraft, die er, wie man weiß, 1790, gleich nach deren Erscheinen und damit im Umkreis der Entstehung des Faust-Fragments gelesen und mit zahlreichen Anstreichungen versehen hatte.6 Unter der Überschrift »Anschauende Urteilskraft« zitiert er daraus den folgenden Passus, der aus zwei bei Kant nicht aufeinanderfolgenden Sätzen kompiliert ist: »Wir können uns einen Verstand denken, der, weil er nicht wie der unsrige discursiv, sondern intuitiv ist, vom synthetisch Allgemeinen, der Anschauung eines Ganzen als eines solchen, zum Besondern geht, das ist, von dem Ganzen zu den Theilen. - Hierbei ist gar nicht nöthig zu beweisen, daß ein solcher intellectus archetypus möglich sei, sondern nur, daß wir in der Dagegenhaltung unseres discursiven, der Bilder bedürftigen Verstandes (intellectus ectypus), und der Zufälligkeit einer solchen Beschaffenheit auf jene Idee eines intellectus archetypus geführt werden, diese auch keinen Widerspruch enthalte.« (WA II, 11, S. 55)? Kant unterscheidet hier also zwei Arten von Verstand: einerseits einen intuitiven, der das Ganze wahrnimmt und von da aus zu den Teilen geht. Diesen Verstand nennt er »intellectus archetypus« und behält ihn - so verstand es Goethe - Gott vor. Das impliziert, dass wir eigentlich gar nichts davon wissen können. Denn uns als Menschen steht nur der sog. »intellectus ectypus« zur Verfügung, der von den Teilen ausgehen, also diskursiv verfahren muss. Der göttliche »intellectus archetypus« muss denn auch eine Annahme bleiben. Er dient jedoch dazu, dem menschlichen Verstand seine Begrenztheit bewusst zu halten. In unserem Zusammenhang ist die Korrespondenz zwischen Mephistos Satz »dieses Ganze || ist nur für einen Gott gemacht« und Goethes Verständnis von Kants Unterscheidung der beiden »intellectus« wichtig. Denn wie Mephisto auf Fausts missglückte Versuche, im Erkennen gottgleich zu sein, antwortet, so formuliert Kant an dieser Stelle den notwendigen, weil auf der beschränkten menschlichen Erkenntnisfähigkeit beruhenden Verzicht auf Totalerkenntnis der
6
7
Immanuel Kant·. Kritik der Urteilskraft (KdU), hg. von Karl Vorländer, Hamburg 1959 (Philosophische Bibliothek, Band 39a). Einleitung des Herausgebers III: Uber Goethes Exemplar der Kritik der Urteilskraft, S. XXVff. KdU (vgl. Anm. 6), S. 273/74. — In Goethes Exemplar der »Kritik der Urteilskraft« sind die Worte »intuitiv« und »synthetisch-allgemein« unterstrichen, zudem eine Stelle, »die nochmals betont, daß fur den intuitiven Verstand die Möglichkeit der Teile vom Ganzen abhängt, nicht umgekehrt.« (Vorländer, ebd., S. XXVIII/IX)
dieses Ganze || ist nur für einen Gott gemacht«
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Welt. Die Weltfahrt, die Faust unter Mephistos Führung antritt, entspricht der diskursiven Welterkenntnis des Kantischen »intellectus ectypus«. »den Cursum durchschmarutzen« (V. 2054) ist Mephistos Ausdruck ftir Diskursivität. Beide, Mephisto und Kant in Goethes Verständnis, weisen damit den Anspruch auf totale Welterkenntnis ab, dem die von Will-Erich Peuckert als Pansophie zusammengefassten magisch-mystischen Erkenntniswege unterstanden.8 Damit, dass Antworten obsolet werden, sind die entsprechenden Fragen jedoch nicht aus der Welt geschafft. Ganz im Gegenteil: Die Fragen sind oft zählebiger als die Antworten. Mindestens die sog. >großen Fragen< überleben vielfach die Antworten und sind so vermutlich die eigentlichen Motoren der Traditionsbildung im Denken und Forschen. Neben Fausts Verzicht, auf pansophischen Wegen zur Erkenntnis der Ganzheit des Kosmos zu gelangen, bestand für Goethe die Frage nach dem Ganzen der Welt weiter. Der spätere Goethe zitiert die Stelle aus der Kritik der Urteilskraft, um für sich selbst in Anspruch zu nehmen, am »intellectus archetypus« teilzuhaben, da er in seinen naturwissenschaftlichen Studien »auf das Urbildliche, Typische rastlos gedrungen« (WA II, 11, S. 53) habe. Das kann ich hier nicht weiter verfolgen, sondern will nach den Konsequenzen fragen, die diese Problematik für Goethes Dichtung und Dichtungsverständnis hatte. Das bringt Karl Philipp Moritz ins Spiel.
II. Während seines Aufenthaltes in Rom 1786—88 hatte Goethe in Karl Philipp Moritz einen idealen Gesprächspartner, mit dem er das Verhältnis zwischen der Kunst und dem Ganzen diskutieren konnte. Norbert Miller erzählt in seinem Buch Der Wanderer. Goethe in Italien anschaulich davon.9 Goethe schreibt im Rückblick: »Ueber Kunst und ihre theoretischen Forderungen hatte ich mit Moritz, in Rom, viel verhandelt; eine kleine Druckschrift zeugt noch heute von unserer damaligen fruchtbaren Dunkelheit.« (Im Aufsatz Einwirkung der neueren Philosophie, WA II, n, S. 47). Diese »kleine Druckschrift« ist die mit dem Titel Ueber die bildende Nachahmung des Schönen, erschienen schon 1788. Goethe zitiert in seinem Zweiten Römischen Aufenthalt (WA I, 32, S. 302—315)
8
9
Vgl. den Artikel »Pansophie« von W. Schmidt-Biggemann in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Band 7, Basel 1989, Sp. 56—58. Norbert Miller: Der Wanderer. Goethe in Italien, München 2002, S. 401-404.
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eine lange, zusammenhängende Passage daraus wörtlich, ohne freilich näher zu akzentuieren, worin genauer deren Bedeutung für ihn lag. Besseren Einblick in das, was Goethe an der Schrift von Moritz interessierte, gibt ein Exzerpt, das er schon im Juli 1789 in Wielands Teutschem Merkur veröffentlichte (WA I, 47, S. 84—90). Dieses greift aus dem Gedankengang von Moritzens Schrift einzelne Sätze heraus. Das erlaubt eine Rekonstruktion dessen, was für Goethe an Moritzens »dunklem« Aufsatz so erhellend, ja augenöffnend war. Es sind mehrere Grundgedanken, die Goethe aus Moritzens Abhandlung heraus hebt. Die Prämisse, die Bestimmung des Schönen, fasst Goethe im Satz zusammen: »Es ist nämlich ein Vorrecht des Schönen, daß es nicht nützlich zu sein braucht.« (ebd., S. 85). Die weitreichende Bedeutung dieses Satzes ist erst aus dem Original voll ersichtlich: »Wir können also das Schöne im Allgemeinen auf keine andere Weise erkennen, als insofern wir es dem Nützlichen entgegensetzen, und es davon so scharf wie möglich unterscheiden.« (Moritz, S. 7of.) 10 Erstaunlicherweise gelangte hier Moritz, praktisch gleichzeitig mit Kants Kritik der Urteilskraft, doch ohne von ihr zu wissen, zu einer Bestimmung des Schönen, die der Kantischen äußerst nahe kommt, »daß das Wohlgefallen an einem Gegenstande, weshalb wir ihn schön nennen, nicht auf der Vorstellung seiner Nützlichkeit beruhen könne« (KdU S. 66), was dann die berühmte Bestimmung des Schönen als »Zweckmäßigkeit ohne Zweck« (ebd.) auf eine handliche Formel bringt. Auch für Moritz hat das Schöne keinen Nutzen, im Unterschied zum Guten und Edlen. Für die Poetik implizierte diese Entgegensetzung von Schönem und Nützlichem eine radikale Absage an den Grundsatz »aut prodesse volunt aut delectare poetae« aus der ars poetica des Horaz (V. 333), wonach sich die Dichtungstheorie des 18. Jahrhundert in unterschiedlicher Weise ausgerichtet hatte. Moritz gilt denn ja auch als einer der Väter der von der Ideologiekritik der Sechzigerjahre zunächst abschätzig so getauften »autonomen Dichtung«. In unserem Zusammenhang ist Moritzens Begründung wichtig, die Goethe folgendermaßen referiert: »Unter Nutzen denken wir uns die Beziehung eines Dinges, als Theil betrachtet, auf einen Zusammenhang eines Dinges, das wir als ein Ganzes denken. Was nicht nützlich zu sein braucht, muß nothwendig ein fur sich bestehendes Ganzes sein und seine Beziehung in sich haben; allein um schön genannt zu werden, muss es in unsern Sinn fallen oder von unserer Einbildungskraft umfaßt werden können.« (WA I, 47, S. 85). Merkwürdigerweise übergeht Goethe den in diesem Gedankengang entscheidenden Satz von Moritz,
Hans Joachim Schrimpf (Hg.): Karl Philipp Moritz, Schriften zur Ästhetik und Poetik, Tübingen 1962. Im Text zitiert als »Moritz«.
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»daß also mit dem Begriff des Schönen der Begriff von einem fiir sich bestehenden Ganzen unzertrennlich verknüpft ist« (Moritz, S. 71). Für diese Argumentation ist zentral, dass die Unterscheidung von »nützlich« und »schön« mit derjenigen von Teil und Ganzem kombiniert wird. Was Teil von etwas ist, ist auf etwas außerhalb seiner bezogen, hat fiir dieses einen Nutzen. Moritz verweist zur Illustration auf einen nützlichen Menschen, der uns nicht an und für sich selbst interessiert, sondern nur im Hinblick auf den Vorteil, den wir uns von ihm versprechen, als Teil unserer Absichten. Was dagegen außerhalb einer solchen Nutzen-Zweck-Relation steht, für nichts gut ist, ist für sich ein Ganzes und heißt nach Moritz »schön«. Vorausgesetzt ist bei alledem ein Betrachter, für den es so ist. »Schön« ist etwas, das so in unsere Sinne fällt, dass wir nicht mehr fragen, wofür es gut ist. Dass diese Frage unterbleibt, deutet an, dass es ein Ganzes ist. N u n ist es nach Moritz allerdings so, dass alle schönen Ganzheiten in der Welt ihrerseits Teile des Weltganzen sind, mit ihm »verkettet«, wie er sagt. Dieses Ganze der Welt sei das einzige absolute Schöne, nur könnten wir es nicht mehr wahrnehmen. Goethe notiert aus Moritz: »Der Zusammenhang der ganzen Natur würde für uns das höchste Schöne sein, wenn wir ihn einen Augenblick umfassen könnten.« (WA I, 47, S. 86) Wir hören, wie nahe wir hier Fausts Frage sind: »Wo faß ich dich, unendliche Natur?« (V. 102) Doch die Unmöglichkeit dessen, was Faust erstrebt, ist bei Moritz zur Selbstverständlichkeit geworden. Das Weltganze übersteigt die menschliche Fassungskraft. - An früherer Stelle fand Moritz dafür unter dem Titel Zeit und Ewigkeit einen anschaulichen Vergleich: »Wenn ich eine Stadt besehen will, und befinde mich unten an der Erde, so muß ich eine Straße nach der andern durchgehen, und erst abwarten, bis sich mir nach und nach, durch Hülfe meines Gedächtnisses, die Vorstellung von der ganzen Stadt darbietet. Stehe ich aber auf einem Thurme, von dem ich die Uebersicht der ganzen Stadt habe, so sehe ich nun dasjenige auf einmal und nebeneinander, was ich vorher nacheinander sehen mußte.« Und Moritz folgert daraus: »Was wir die Folge der Dinge nennen, ist also vielleicht bloß die Folge unserer Vorstellungen von diesen Dingen [...] Vielleicht auch nur für einen eingeschränkten Geist, der sie eine nach der andern hat, aber vielleicht nicht für ein höheres Wesen, das auch alle diese Vorstellungen schon nebeneinander sieht.« (Moritz, S. 37) Der Blick vom Turm entspräche somit demjenigen des »intellectus archetypus«, der das ganze simultan überblickt und Gott vorbehalten ist, das Ablaufen Strasse um Strasse dagegen entspräche der Diskursivität des »intellectus ectypus« der menschlichen Wahrnehmung. - Erstaunlich bleibt, dass im selben Jahr 1786, als Moritz diesen Vergleich in seinen
Denkwürdigkeiten,
aufgezeichnet zur Beförderung des Edlen und Schönen in Berlin veröffentlichte,
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Goethe in Venedig, nachdem er die vielen Gässchen durchlaufen hatte, auf den Markusturm stieg, »wo sich dem Auge ein einziges Schauspiel darstellt« (WA I, 30, S. 107). Die Pointe von Moritzens Ausführungen liegt nun darin, dass er sich nicht damit bescheidet, dass der Mensch das Ganze der Welt nicht überschauen und erkennen kann, sondern fortfährt: »Jedes schöne Ganze aus der Hand des bildenden Künstlers, ist daher im Kleinen ein Abdruck des höchsten Schönen im großen ganzen der Natur; welche das noch mittelbar durch die bildende Hand des Künstlers nacherschafft, was unmittelbar nicht in ihren großen Plan gehörte.« (Moritz, S. 73) Damit hat die Abhandlung ihren Titel eingeholt: »Bildende Nachahmung des Schönen« wird nun verständlich als Defintion des Kunstwerks, dessen Bildung dem höchsten Schönen, d.h. dem Ganzen der Natur (Dativ, nicht Akkusativ!) nachahmt. Goethe fasst das so zusammen: »Jedes schöne Ganze der Kunst ist im Kleinen ein Abdruck des höchsten Schönen, im Ganzen der Natur.« (WA I, 47, S. 86) — Das Kunstwerk ist somit ein Ersatz für die Unerkennbarkeit und Unvorstellbarkeit des großen Ganzen der Natur, des Kosmos, als dessen verjüngtes Abbild. Das Kunstwerk gibt dem Menschen die Möglichkeit, sich noch immer das kosmische Ganze vor die Sinne zu bringen. Jedes gelungene Kunstwerk spiegelt das Weltall. Würde das allseits anerkannt und geglaubt, wäre die Kränkung behoben, die die Kopernikanische Wende für die Menschheit bedeutet, ohne dass deren Resultate geleugnet werden müssten. Im ganzen des Kunstwerks wäre das Ganze des Kosmos sinnlich präsent, würden das aristotelische und das biblische Weltbild in veränderter Form überleben. »Ästhetische Theodizee« hat man dafür gesagt." Dieses Konzept erinnert an den Satz des Bischofs Gregor von Nyssa aus dem 4. Jahrhundert, den Hofmannsthal seinem ad me ipsum vorangestellt hat: »Er, der Liebhaber der höchsten Schönheit, hielt was er schon gesehen hatte nur für ein Abbild dessen, was er noch nicht gesehen hatte und begehrte dieses selbst, das Urbild, zu genießen.Diese eher zufällige Assoziation mag daran erinnern, dass in Moritz das Erbe des Neuplatonismus weiterwirkt.
Vgl. Thomas P. Saine: Die ästhetische Theodizee. Karl Philipp Moritz und die Philosophie des 18. Jahrhunderts, München 1971. Hugo von Hofmannsthal: Aufzeichnungen, hg. von Herbert Steiner, Frankfurt 1959, S. 214. — Hofmannsthal hat die lateinische Fassung dieses Zitats als Motto vor »ad me ipsum« gestellt: »Quocirca supremae pulchritudinis amator quod jam viderat tamquam imaginem eius quod non viderat credens, ipso frui primitivo desiderabat. Gregorius Nyssenus/ Vita Mosis.« Ebd., S. 213.
dieses Ganze || ist nur für einen Gott gemacht«
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Wie aber begründet Moritz seine kühne These? Grob gesagt damit, dass er auch das Kunstwerk als Werk der Natur versteht, »welche das noch mittelbar durch die bildende Hand des Künstlers nacherschafft, was unmittelbar nicht in ihren großen Plan gehörte« (s. o.). Es ist demnach die Natur selbst, die im Kunstwerk ein verkleinertes Analogon ihrer Schöpfung hervorbringt. Der Künstler ist dabei nur ihr Werkzeug. Moritz reduziert ihre Einwirkung auf den Anstoß, künstlerisch tätig zu sein, den er »Thatkraft« nennt. Man muss sich darunter einen schöpferischen Grundimpuls vorstellen, aus dem dann das Kunstwerk im Material des Hörbaren, Sichtbaren, Einbildbaren hervorgeht. Moritz knüpfte mit dieser Auffassung vom Zustandekommen des Kunstwerks offensichtlich an die Genieästhetik an, für die das künstlerische Schaffen ein spontaner Vorgang war, dessen Einsetzen dem Willen des Künstlers entzogen war. Der junge Goethe galt ihm als Paradigma. Umso bemerkenswerter ist es, dass der italienische Goethe in seinem Exzerpt Moritzens Auffassung des Schaffensvorganges als unmittelbare Einwirkung der Natur zurückstutzt. Bei Moritz heißt es: »Wem also von der Natur selbst, der Sinn für ihre Schöpfungskraft in sein ganzes Wesen, und das Maß des Schönen in Aug' und Seele gedrückt ward, der begnügt sich nicht, sie anzuschauen, er muß ihr nachahmen, ihr nachstreben, in ihrer geheimen Werkstatt sie belauschen, und mit der lodernde Flamm' im Busen bilden und schaffen, so wie sie: - « (Moritz, S. 73) Daraus wird in Goethes Exzerpt: »Der geborne Künstler begnügt sich nicht, die Natur anzuschauen; er muß ihr nachahmen, ihr nachstreben.« (WA I, 47, S. 86) Damit ist die Natur nur noch höchst indirekt, als angeborene künstlerische Begabung, am Zustandekommen des Kunstwerks beteiligt. Auch im längeren Auszug im Zweiten Römischen Aufenthalt hat Goethe dort in den Text von Moritz eingegriffen, wo dieser der Natur allzudirekt eine Absicht hinsichtlich der Entstehung von Kunstwerken unterstellt (vgl. Moritz, S. 81, Z. 22ff. und W A I, 32, S. 312, Z. i 5 ff.). Wenn jedoch die bildende Nachahmung des Schönen nicht als das unmittelbare Werk der Natur verstanden wird, wie wäre dann ihr Zustandekommen zu denken? Nicht ohne List, wie mir scheint, gewinnt der italienische Goethe aus der Kompilation zweier bei Moritz von einander entfernter Stellen eine Antwort, die ihm entspricht: »Was uns allein zum wahren Genuß des Schönen bilden kann, ist das, wodurch das Schöne selbst entstand; ruhige Betrachtung der Natur und Kunst als eines einzigen großen Ganzen.« (Moritz, S. 86,11) »Denn was die Vorwelt hervorgebracht, ist nun mit der Natur verbunden und eins geworden und soll mit ihr vereint harmonisch auf uns wirken.« (Moritz, S. 84, 10 f.; W A I, 47, S. 88) Damit kommt, noch ohne Namensnennung, der genius loci Roms mit ins Spiel. Im Nachwort zum Auszug im Teutschen Merkur wird Goethe
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explizit: »Er [sc. Moritz] schrieb diese Blätter in Rom, in der Nähe so manches Schönen, das Natur und Kunst hervorbrachte.« (WA I, 47, S. 89). Das Ensemble von Natur und antiker Kunst in Rom war es demnach für Goethe, was Moritz zu seinem Konzept inspirierte, dass sich im Kunstwerk als einem in sich geschlossenen Ganzen die anders nicht wahrnehmbare, nicht wissbare Totalität des Kosmos spiegle und so weiterhin dem Menschen denkbar, vorstellbar, ja nahe bleibe. Diese römische Herkunft mag nicht zuletzt der Grund gewesen sein, weshalb Goethe dieses Konzept einleuchtete, er es sich zu eigen machte und sich noch Jahrzehnte später, durch die Aufnahme in seinen Zweiten Römischen Aufenthalt, dazu bekannte. — »Das Ganze«, wie Moritz es als verjüngten Spiegel des dem Menschen unerkennbaren Kosmos konzipiert, bestimmt das Kunstwerk rein formal. Einerseits nach außen: es muss in sich selber selig sein, wie Mörikes spätere Formel lautet, d.h. es darf keinem Zweck, etwa der religiösen Erbauung, der weltlichen Belehrung oder der gefühligen Erhebung, dienen. Nach innen bedeutet »Ganzheit« eine Unterordnung der Teile unter eine höhere Ordnung wie Symmetrie, Kontrast, Spiegelung, Kreisform etc. Von Inhalten spricht Moritz dagegen kaum je. In seiner italienischen Reise, die mit dem Titel Reisen eines Deutschen in Italien in den Jahren iy86 bis 1/88 in Briefen 1792/93 erschien, nimmt er seine Beispiele vor allem aus der bildenden Kunst von Antike und Renaissance, wobei auch da die Bildthemen hinter dem Nachweis formaler Ganzheit weitgehend zurücktreten, als interessierten sie ihn nicht.
III. Wo in Goethes dichterischem Werk lässt sich nun eine Umsetzung von Moritzens Auffassung des Schönen als Spiegel des anders nicht mehr wahrnehmbaren kosmischen Ganzen ausmachen? Ich will im folgenden den hypothetischen Versuch wagen — Belege gibt es dafür nicht - , den Anfang des Prolog im Himmel als eine solche Umsetzung zu verstehen. Man kann im Vorfeld daran erinnern, dass sich die Gespräche zwischen Goethe und Karl Philipp Moritz in Rom nicht auf ästhetische Fragen beschränkten, sondern sich auch mit Natur und Kosmos insgesamt befassten. Sie lasen und diskutierten zusammen Herders Ideen, die im »Ersten Buch« das Kosmos-Bild nach »Kopernicus, Kepler, Newton, Huyghens und Kant« explizieren: »Unsere Erde ein Stern unter Sternen«, »Unsere Erde einer der mittleren Planeten«, »Unsere Erde ist eine Kugel, die sich um sich selber und gegen die Sonne
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in schiefer Richtung beweget« 13 etc. Das von Herder nach neueren Theorien dargelegte kosmische G a n z e entziehe sich als ein solches der menschlichen Anschauung. Ferner hatte Herder Goethe nach R o m seine eben erschienene Schrift mit dem Titel Gott gesandt, über die die Freunde in R o m ebenfalls diskutierten. Sie besteht aus f ü n f Gesprächen über Spinoza, deren drei mit einem Gedicht auf G o t t und Kosmos enden. Entsprechend Spinozas »Deus sive Natura« sagt Herder im Vorwort zu den Ideen ausdrücklich, er verwende Natur und G o t t synonym und promiscue. 1 4 V o m Spinozismus her ließe sich die bekannte kleine Textvariation im Prolog im Himmel erklären, dass Raphael sagt: Die unbeschreiblich hohen Werke Sind herrlich wie am ersten Tag, (V. 249/50) die drei Erzengel das aber in ihrer Wiederholung leicht abwandeln: Und alle deine hohen Werke, Sind herrlich wie am ersten Tag. (V. 269/70) Das zweite Mal, verbunden mit der Anrede an den »Herrn«, bedeutet »Werk« opus operatum, Ergebnis des Wirkens von jemandem, eben Gottes Schöpfungswerke, bei Raphael dagegen, der seinen Lobpreis der Sonne damit beschließt, bedeutet »Werk« ein selbständig »Wirkendes« wie in Läutwerk, U h r w e r k etc. Diese Polysemie von »Werk« entspricht dem deus sive natura. A u c h »wie am ersten Tag« bekommt einen unterschiedlichen Sinn, je nach dem, ob die Werke G o t t oder der Natur zugewiesen sind. Einheit und Differenz der wiederholten beiden Zeilen lassen sich, scheint mir, von Spinoza her verstehen, den G o e t h e und Moritz in R o m von Herder vermittelt bekamen und von dem her sie die Welt als Ganzheit dachten. Als G o e t h e u m 1 8 0 0 daran g i n g , das Faust-Fragment
v o n 1 7 9 0 zu
vervollständigen, er verwendet im Bezug darauf in der Korrespondenz gelegentlich den T e r m i n u s »das Ganze«, 1 5 stellte er bekanntlich als R a h m e n ,
13
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Zueignung,
Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. In: Herder. Werke, Band 6, hg. von Martin Bollacher, Frankfurt 1998. Johann Gottfried Herder·. Gott. Einige Gespräche. In: Werke, Band 4, hg. von Jürgen Brummack und Martin Bollacher, Frankfurt 1994, S. 679—794. — Die Stelle aus den Ideen, Band 6 (vgl. Anm. 13), S. 17. Goethe an Schiller am 22. 6. und am 27. 6. 1797.
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Vorspiel auf dem Theater und Prolog im Himmel voran, denen ursprünglich ein Epilog am Schluss hätte entsprechen sollen. Vorspiel auf dem Theater und Prolog im Himmel erweitern nun die Faust-Tragödie zum Weltspiel. Der damit verbundene Aspekt der Ganzheit wird erstmals vom Theaterdirektor ins Spiel gebracht: So schreitet in dem engen Bretterhaus Den ganzen Kreis der Schöpfung aus Und wandelt mit bedächt'ger Schnelle Vom Himmel durch die Welt zur Hölle. (V. 239ff.)
Damit zitiert er, ihm widersprechend, Gottscheds Tadel an einem »italiänischen Dichter«, »der in einem Schauspiele, den Himmel, die Erde und die Hölle brauchete; und die Einheit des Ortes mit einer bleyrechten Linie behaupten wollte, die vom Himmel durch die Erde, bis in die Hölle gienge.«"5 Mit Gottsched teilt Goethes Theaterdirektor jedoch noch die traditionell christliche Weltvorstellung in ihrer Dreistöckigkeit und als »Kreis der Schöpfung«. Obwohl traditionellerweise der Schauspieler des Theaterdirektors auch den Part des Herrn spricht, entwirft doch der Prolog im Himmel das kosmische Ganze auf eine ganz andere Weise, und zwar, dies nun eben meine Hypothese, im Sinne von Ueber die bildende Nachahmung des Schönen. Als Dichtung, die als ein Ganzes strukturiert ist, ist der Lobgesang der Erzengel sogleich erkenn- und hörbar. Er verwendet einen durchgehend hohen Ton und das zur Entstehungszeit beliebteste Strophenmaß, zwei Kreuzreimstrophen aus jambischen Vierhebern mit weiblich/männlich alternierenden Kadenzen, das zudem im protestantischen Kirchenlied des 16. Jahrhunderts zum ersten Mal belegt ist.17 Die Zusammenführung der drei zuvor einzeln erklingenden Engelsstimmen zur Coda am Schluss mit textlich leicht variiertem Rückgriff auf die Anfangsstrophe ergibt jene formale Abrundung, die jedes Ganze braucht, um ein solches zu sein. Erst mit dem Auftreten Mephistos ändert sich dann dieser Ton. Für Moritz wäre eine so strukturierte Dichtung ausreichend gewesen, um das Ganze des Kosmos zu repräsentieren resp. zu spiegeln. Inhalte spielten für ihn wie gesagt keine Rolle resp. waren beliebig. Soweit ging Goethe offensichtlich nicht. Die Erzengelstrophen evozieren den Kosmos auch inhaltlich, und zwar
16
Johann Christoph Gottsched·. Versuch einer Critischen Dichtkunst. Photomechanischer Nachdruck der 4. Aufl., Leipzig 1751. Darmstadt 1962, S. 616.
17
Vgl. Horst Joachim Frank·. Handbuch deutscher Strophenformen, München 1980, S. 649.
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so, dass sie ihn wie von einem Turm von oben betrachten, wobei sich der Blick zusehends verengt. Schon Heinrich Rickert hat von einem »Trichterblick«18 gesprochen. Was die Erzengel singen, lässt sich als Ekphrasis, als Bildbeschreibung des gemäß dem »intellectus archetypus« simultan von oben Geschauten verstehen, erweitert allerdings um Akustisches. In der Dreistrophigkeit des Engelgesangs und auch inhaltlich, in der Blickrichtung von oben nach unten, klingt das vorausgegangene dreigliedrige »Vom Himmel durch die Welt zur Hölle« des Theaterdirektors nach, ist der christliche Weltaufriss »aufgehoben«. Und wenn Ernst Grumach und andere Kommentatoren rechthaben, auch das vierte Kapitel »de mundo archetypo« von Georg von Wellings Opus mago-cabalisticum, das der junge Goethe in seiner pietistischen Phase gelesen hatte.19 Das führt uns auf die Inhalte des den Kosmos spiegelnden Engelgesangs. Es ist immer schon bemerkt worden, dass Raphael einen vorkopernikanischen, ja einen pythagoreischen Kosmos besingt, dessen Ganzheit in der Sphärenharmonie vernehmbar wird. Doch im Eingangsvers »Die Sonne tönt nach alter Weise || in Brudersphären Wettgesang« ist »nach alter Weise« mehrdeutig und kann auch so verstanden werden, dass Raphael das alte Weltbild zitiert. Damit wäre dem, was er schaut und in seiner Ekphrasis benennt, ein Hinweis auf die Geschichte der Kosmosbilder eingeschrieben. Tatsächlich evoziert dann die folgende GabrielStrophe eindeutig die nachkopernikanische Welt: »Und schnell und unbegreiflich schnelle || dreht sich umher der Erde Pracht || es wechselt Paradieseshelle mit tiefer schauervoller Nacht« klingt wie die poetische Umsetzung des Titels von Kants Frühschrift Untersuchung der Frage, ob die Erde in ihrer Umdrehung um die Achse, wodurch sie die Abwechslung des Tages und der Nacht hervorbringt, eine Veränderung [...] erlitten habe (1754), in deren Verlauf Kant auch die Frage diskutiert, ob das Meer mit seiner entgegengesetzten Bewegung — »es wallt das Meer in breiten Flüssen am tiefen Grund der Felsen auf«- langfristig die Drehungsgeschwindigkeit der Erde zu bremsen vermöge.20 Ich will damit nicht behaupten, die Vorstellungen der Gabriel-Strophe stammten aus Kant. Die Ubereinstimmungen zeigen nur, dass es sich dabei um das nachkopernikanische, von Kant ausdrücklich Newton zugewiesene Kosmosbild handelt. - »In ewig schnellem Sphärenlauf« nimmt übrigens Raphaels Wort aus »Brudersphären Wettgesang« auf, doch bedeutet
18 19
20
Heinrich Rickert: Goethes Faust. Die dramatische Einheit der Dichtung, Tübingen 1932. Ernst Grumach: Prolog und Epilog im Faustplan von 1797. In: Goethe. Jb. der GoetheGesellschaft. N.F., 14-/15. Band, Weimar 1953, S. 63fr. Kant's gesammelte Schriften. Bd. 1, Berlin 1910 (Akademie-Ausgabe), S. i8^ff.
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»Sphäre« nun die Kugelgestalt der Erde, »Sphärenlauf« die Umdrehungen des Globus. - Die dritte, die Michael-Strophe schließlich führt den Blick von oben so nahe an die Erde heran, dass die verheerenden Mächte von Sturm und Gewitter darauf erkennbar werden. Die Erde erscheint als Ort der Gefährdung und Vernichtung. Sie ersetzen gewissermassen die »Hölle«, die unterste Stufe im christlichen Weltbild. Insofern Schönheit sichtbare Totalität ist, gehört auch bei Moritz das »Schädliche« und die »Zerstöhrung« dazu.21 Sie bezeichnen auch die Grenze gebildeter Ganzheit, die denn auch wie gesagt im Rückgriff auf den Anfang - »sicut erat in principio« - nochmals in Erinnerung gerufen wird. Der Gesang der Erzengel im Prolog im Himmel evoziert somit das Ganze des Kosmos nicht so, dass er dem im Vorspiel genannten Dreistufenkosmos »Vom Himmel durch die Welt zur Hölle« ein anderes Weltbild entgegenstellte, sondern eben durch Kunstgesänge, die von einem supponierten »intellectus archetypus« aus gesehen und gesprochen sind und die inhaltlich zu einander in einem widersprüchlichen, man darf sogar sagen: ironischen Verhältnis stehen. Damit trägt der Prolog im Himmel der Unanschaubarkeit des nachkopernikanischen Kosmos für den Menschen Rechnung und der von Moritz vorgeschlagenen Ersatzlösung. Übrigens ist damit auch der Weg verbaut, dem Prolog im Himmel aufgrund der nachfolgenden Anleihen beim Buch Hiob einfach das alttestamentliche Weltbild zu unterlegen. Dass der Himmel am Schluss des Zweiten Teils, in der Szene »Bergschluchten, Wald, Fels« dann ganz anders aussieht als im Prolog, dass anstelle des »Herrn« die »Jungfrau, Mutter, Königin/ Göttin« (V. 32102/103) erscheint, passt zu unserem Befund. Am Ende des Prolog im Himmel, bevor sich der Himmel schließt, wird aus dem Mund des Herrn gewissermassen die Poetik formuliert, der die KosmosPoesie der Erzengel untersteht: Doch ihr, die echten Göttersöhne, Erfreut euch der lebendig reichen Schöne! Das Werdende, das ewig wirkt und lebt, Umfass euch mit der Liebe holden Schranken, Und was in schwankender Erscheinung schwebt, Befestiget mit dauernden Gedanken. (V. 344fF.)
Der Vorgang des Dichtens der Engel hat demnach zwei Phasen. Zuerst soll »das Werdende, das ewig wirkt und lebt«, ursprünglich stand da »das Seyn des Seyns« (WA I, 14, S. 255), die Erzengel umfassen, und zwar »mit der Liebe holden Schranken«. Bei diesem Vorgang sind die Erzengel zunächst Objekte 21
Moritz, S. 89ff.
. dieses Ganze || ist nur ftir einen Gott gemacht«
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des Werdenden, das sie in gewisser Weise begattet. Dann aber werden sie zu schaffenden Subjekten, die dem Werdenden feste, dauernde Gestalt geben. Der Anklang an den Anfang der Zueignung ist unüberhörbar. M a n kann in diesen Versen eine Beschreibung dessen erkennen, was bei Moritz »Thatkraft« heißt, die sich dem unendlichen Schönen öffnet und dann das Kunstwerk als verjüngtes Bild der Schöpfung hervorbringt. Moritz schreibt von ihr: »Der Horizont der thätigen Kraft aber muß bei dem bildenden Genie so weit, wie die Natur selber, seyn: das heißt, die Organisation muß so fein gewebt seyn, und so unendlich viele Berührungspunkte der allumströmenden Natur darbieten, dass gleichsam die äußersten Enden von allen Verhältnissen der Natur im Grossen, hier im Kleinen sich nebeneinander stellend, Raum genug haben, um sich einander nicht verdrängen zu dürfen.« (Moritz, S. 76)
Auf dieses Affiziertwerden antwortet die Thatkraft dann produktiv: »Alle die in der thätigen Kraft bloß dunkel geahndeten Verhältnisse jenes großen Ganzen, müssen nothwendig auf irgend eine Weise entweder sichtbar, hörbar oder doch der Einbildungskraft faßbar werden: und um dieß zu werden, muß die Thatkraft, worinn sie schlummern, sie nach sich selber, aus sich selber bilden. - Sie muß alle jene Verhältnisse des großen Ganzen, und in ihnen das höchste Schöne, wie an den Spitzen seiner Strahlkraft in einen Brennpunkt fassen. - Aus diesem Brennpunkte muß sich, nach des Auges gemessener Weite, ein zartes und doch getreues Bild des höchsten Schönen ründen, das die vollkommensten Verhältnisse des großen Ganzen der Natur, eben so wahr und richtig, wie sie selbst, in seinen kleinen U m f a n g faßt.« (Moritz, S. 76)
Kurz vor dieser Stelle setzt übrigens Goethes Auszug aus der Schrift von Moritz
im Zweiten Römischen Aufenthalt ein (WA I, 32, S. 304)! Sind die Engel produktive Genies im Sinne von Moritzens Ueber die bildende Nachahmung des Schönen, kann ihr Gesang nur ein verjüngtes Bild des Kosmos und nicht diesen selbst evozieren. Aber ihr Gesang ist die höchstmögliche Art und Weise, wie das Ganze des Kosmos überhaupt vergegenwärtigt werden kann. Und wer ihn hört, wird nach Moritz rezeptiv, durch den »Geschmack« resp. die »Empfindungsfähigkeit«, dessen teilhaftig, was die Engel aktiv hervorbringen. »Der Herr« aber, der die Erzengel am Schluss des Prolog im Himmel zu solch weiterer dichterischer Produktivität auffordert, ist letztlich die Kunst, an die hier die Repräsentation des kosmischen Ganzen im nachkopernikanischen, diskursiven Alltag übergegangen ist, bis der dabei vorausgesetzte Begriff des harmonischen Ganzen selbst in die Krise geriet und obsolet wurde.
Armin Westerhoff
Zwischen Ganzheits- und Differenzdenken Goethes Analogie-Verständnis mit Blick auf »Wilhelm Meisters Wanderjahre«
I.
INDUKTION. Hab ich mir nie, auch gegen mich selber nicht erlaubt. Ich ließ die Fakten isolirt stehen / Aber das Analoge sucht' ich auf. [Sprüche in Prosa *2. 109.1] 1
Erkennbar positiv spricht Goethe von der Analogie und dem Analogen. »Nach Analogien [zu] denken« sei »nicht zu schelten« (Betrachtungen im Sinne der Wanderer 93/Sprüche in Prosa 1.282), äußert Goethe einmal zur Verteidigung der Analogie. Und an Zelter schreibt Goethe im April 1825: »Analog Denkende verstehen sich [.,.]«.2 Goethe schätzt die Analogie, wie die Mehrzahl der Wortbelege in seinem Gesamtwerk und auch das vorangestellte Zitat zeigen,3 vor allem als
1
Goethes Spruchprosa wird zitiert nach der Ausgabe Johann Wolfgang Goethe: Sprüche in Prosa. Hg. von Harald Fricke, Frankfurt am Main 1993 (FA I, 13). — Aphorismen, die in den Wanderjahren (1829) veröffentlicht worden sind, werden nach der Ausgabe der Wanderjahre zitiert, als Betrachtungen im Sinne der Wanderer (FA I, 10, S. 557-584) und als Aus Makariens Archiv (FA 1,10, S. 746-773). Für die Spruchprosa der Wanderjahre wird bei der ersten Zitation auch auf Sprüche in Prosa verwiesen, um dem Leser einen Vergleich der Kommentierung zu ermöglichen. — Zur Konkordanz mit Heckers Ausgabe von Goethes Spruchprosa unter dem Titel Maximen und Reflexionen vgl. Sprüche in Prosa, S. 1125-1172.
1
Goethe an Zelter, 11.4.1825, in: Johann Wolfgang Goethe·. Briefe, Tagebücher und Gespräche von 1823 bis Goethes Tod. Teil 1: Von 1823 bis zum Tode Carl Augusts 1828. Hg. von Horst Fleig, Frankfurt am Main 1993 (FA II, 10), S. 265. Vgl. für die Wortbelege: Goethe-Wörterbuch. Hg. von der Akademie der Wissenschaften der DDR, der Akademie der Wissenschaften in Göttingen und der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Band 1: A - azurn, Stuttgart, Berlin 1978, Sp. 463-468; Richard Dobel {Hg.): Lexikon der Goethe-Zitate. Augsburg 1991, Sp. 15. - Nützlich sind die einschlägigen Kapitel in: Hermann Schmitz·. Goethes Altersdenken im problemgeschichtlichen Zusammenhang. Bonn 1959, S. 245—250; Manfred Kamick: »Wilhelm Meisters Wanderjahre« oder die Kunst des Mittelbaren. Studien zum Problem der Verständigung in Goethes Altersepoche. München 1968 (Zur Erkenntnis der Dichtung 6), S. 107-109,151-153; sowie die Querverweise im Kommentar zu
3
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Armin Westerhoff
Teil einer naturwissenschaftlichen Heuristik. Die Analogie erscheint Goethe - hier wie andernorts - als Möglichkeit, aus der empirischen Anschaulichkeit isolierte Fakten< zu sammeln - ohne indes diese Sammelarbeit durch Hypothesenbildung oder einen vorgängigen Gesetzesbegriff vorzuprägen: Das Analogie-Denken bildet die Grundlage seiner an den Phänomenen orientierten Naturwissenschaft. — Einige der bemerkenswertesten seiner (ansonsten verstreuten) Bemerkungen zum Analogie-Begriff hat Goethe in den beiden Spruchreihen seines Romans Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden (1829)4 veröffentlicht: vornehmlich in der ersten Spruchreihe Betrachtungen im Sinne der Wanderer, aber auch an hervorgehobener, abschließender Position in der zweiten Sammlung Aus Makariens Archiv. Das legt die Frage nahe, wie sich Goethes Auseinandersetzung mit der Analogie in die Wanderjahre einfügt. Ja, der Roman selbst ist aufgrund einer vielschichtigen formellen und gewagten Gestaltung, zu der unter anderem auch die bewußte Integration der genannten Aphorismen in ein Werk der >schönen< Literatur gehört, eine (poetische) Verwirklichung des Denkens in Bezügen,5 das prinzipiell dem analogischen Denken vergleichbar ist. Goethes Romanpoetik, wie vor allem die Wandeήahre sie implizit entwickeln,6 ist eine Poetik der Vermittlung, der Bezüge, der Reihenbildung und des mit Analogien arbeitenden Verweises. Goethe spricht die »Analogie« in den Spruchsammlungen der Wanderjahre nicht nur mehrfach direkt an; auch in verschiedenen Äußerungen, die das Beispiel, das Beispielhafte oder den Vergleich umkreisen, thematisiert er indirekt die Analogie. Goethes Gebrauch des Wortes »Analogie« inner- und außerhalb der Wanderjahre wie auch die für Goethe relevante Vorgeschichte des Analogiedenkens sind für das Verständnis des Romans wichtig, wenn man die Ubergangsposition erwägen will, die dieser Text für die deutsche Roman- und Ideengeschichte besitzt: In der poetischen Verwendung der Analogie als Denkform und in der von der Analogie geleiteten Darstellungspraxis liegt die Bedeutung der Wanderjahre für diese historische Zuordnung. Goethes Altersroman ist ein Schlüsseltext für die Herausbildung einer nachSprüche in Prosa zu den in dieser Arbeit zitierten Aphorismen und zur Thesengruppe »Induction« 4
">
6
(* Z-109). Johann Wolfgang Goethe·. Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden. Hg. von Gerhard Neumann und Hans-Georg Dewitz, Frankfurt am Main 1989 (FA I, 10), S. 261—774; im folgenden wird auf diese Ausgabe im fortlaufenden Text durch Seitenangabe hingewiesen. Das ist der Tenor vieler Arbeiten zu Goethes Roman; vgl. exemplarisch: Markus Zenker: Zu Goethes Erzählweise versteckter Bezüge in >Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagendenälterenneu< bekannt werdenden Differenzen erkenntnistheoretischer und sozialer Natur hin.
II. W e n n ich ein zerstreutes Gerippe finde, so k a n n ich es zusammenlesen; d e n n hier spricht die ewige Vernunft durch ein Analogon zu mir, und wenn es das Riesenfaultier wäre. [Betrachtungen im Sinne der Wanderer 161/Sprüche in Prosa 2.33.2]
Dieser Satz aus der Sammlung Betrachtungen im Sinne der Wanderer in den Wanderjahren belegt noch einmal, wie dieser Roman naturwissenschaftliche Themen in sich aufnimmt. Goethe spricht hier von der Analogie, die man heute wohl als »Homologie« bezeichnen würde: von einander entsprechenden Teilen im Körperbau der Lebewesen, die Rückschlüsse auf ihren evolutionären Status zulassen. 7 Doch kann man gerade hier die überraschende Beobachtung einer versteckten Beziehung auf einen >älteren< Umgang mit der Analogie machen, w e n n Goethe die möglichen naturwissenschaftlichen Spekulationen über Evolutionszusammenhänge in den Kontext der »ewige[n] Vernunft« einordnet. Die Bedeutung des Wortes >Analogie< als >empirisch vorfindbare Entsprechung in der anatomischen Anlage von Tieren< überschneidet sich hier mit d e m Vertrauen auf die vernünftige Kraft analogischer Spekulation als menschliches Vermögen. Goethes bekannteste Äußerung in den Betrachtungen im Sinne der Wanderer verbindet die Frage der Entsprechungen von existierenden Einzelteilen mit dem »Dasein« zum einen, und mit der heuristischen Umgangsweise mit dem Analogiedenken zum andern: Jedes Existierende ist ein Analogon alles Existierenden; daher erscheint uns unser Dasein i m m e r zu gleicher Zeit gesondert u n d verknüpft. Folgt m a n der Analogie
Vgl. hierzu: Margret Wyder: Goethes Naturmodell. Die Scala naturae und ihre Transformationen. Köln, Weimar, Wien 1998.
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Armin Westerhoff
zu sehr, so fällt alles identisch zusammen, meidet man sie, so zerstreut sich alles in's Unendliche. In beiden Fällen stagniert die Betrachtung, einmal als überlebendig,
das andere Mal als getötet. [Betrachtungen im Sinne der Wanderer 115/Sprüche in Prosa 1.293.]
Hier wird Goethes Wendung von einem Analogiedenken, das vermittels der Analogie einen die Welt überragenden Bereich zumindest implizit erschließen will, zu einem innerweltlichen Analogiedenken deutlich. Denn der analogische Bezug des »Existierenden« auf etwas Postuliertes mutiert nun zu einem Bezug auf ein anderes »Existierende [s]«. Gleichzeitig herrscht hier völlige Freiheit der Setzung, wie die beiden Indefinitpronomina »jedes« und »alles« anzeigen. Dieser Zug des Analogiedenkens weist auf das Erbe der aufgeklärten, empiristischen Tradition, die sich keine Denkverbote auferlegt. Das Zitat kann aber auch als Vorbote einer gleichsam >semiologischen< Weltsicht gelesen werden, in der sich frei Zeichen auf andere Zeichen oder auch Gegenstände beziehen lassen. Vor einer solchen Tendenz warnt der Autor freilich im folgenden Teil seines Aphorismus. Denn zwar läßt sich die Analogie auf die genannte Art und Weise benutzen, um »unser Dasein« (Betrachtungen im Sinne der Wanderer 115) zu strukturieren, doch liegt die Gefahr einer Uberbestimmung ins Identische bei einem solchen freien Analogisieren sehr nahe: »Folgt man der Analogie zu sehr, so fällt alles identisch zusammen« (Betrachtungen 115). Hiermit ist gemeint, daß die Setzungen und Schlußfolgerungen der Analogie ohne Steuerung durch einen Gesetzes- oder RegelbegrifF (wie die Induktion ihn kennt) auf eine Allbezüglichkeit zulaufen müssen, der schließlich keine Kriterien der Unterscheidung mehr gegenüberstehen. Andererseits entsteht dem Menschen auch ein Problem, wenn er die Analogie »meidet« (Betrachtungen 115): dann nämlich »zerstreut sich alles in's Unendliche« {Betrachtungen 115). An dieser Stelle äußert sich Goethe wohl zu dem völligen Verzicht auf Zusammenhänge bzw. das Konstruieren von Zusammenhängen (der Zusammenhang wäre der lose Regelbegriff der Analogie) in einem empirischanschaulichen Denken, das gar nicht mehr auf eine Strukturierung, sondern nur auf die Aufzählung von Einzeltatsachen abzielt. Diese Form von Denken müßte zwangsläufig der »Hydra der Empirie«8 unterliegen. »Uberlebendig« (Betrachtungen 115) wie hier, oder »getötet« (Betrachtungen 115) wie im ersten Fall: Beide Male riskiert das Analogiedenken, seine eigene Prämisse zu vergessen: eine Balance zwischen Ganzheits- und Differenzdenken zu ermöglichen und zu wahren.
Goethe an Schiller, 17. August 1797, in: Johann Wolfgang Goethe: Mit Schiller. Briefe Tagebücher und Gespräche vom 24. Juni 1794 bis zum 9. Mai 1805. Teil 1: V o m 24. Juni 1794 bis zum 31. Dezember 1799. Hg. von Volker C. Dürr u. Norbert Oellers, Frankfurt am Main 1998 (FA II, 4), S. 391.
Zwischen Ganzheits- und Differenzdenken
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III. Goethes Analogie-Verständnis ist, wie diese Ausführungen bereits zeigen, vielschichtig und nicht leicht zu fassen. Denn Goethes Sprachgebrauch schließt sehr unmerklich — mit der für ihn gegebenen Beiläufigkeit — an die verschiedensten Traditionen an. Daß dieser Anschluß die Traditionen auch in ihrer Vielfalt spiegelt, erschwert das spontane Verständnis nicht minder. So haben wir bereits gesehen, wie in Goethes Analogie-Verständnis naturwissenschaftliche, ontologische und selbst kommunikative Bezüge präsent sind. In Goethes AnalogieVerständnis gehen empiristische Traditionen des 18. Jahrhunderts gleichermaßen ein wie solche des Neuplatonismus und der Signaturenlehre. Schließlich werden diese von Bezügen auf Kants kritische Philosophie überlagert, so daß Goethes spezifischer Beitrag zu einer noch zu schreibenden Geschichte der Analogie schwer zu bestimmen ist. - Goethe nutzt die Vieldeutigkeit des Begriffs wie die Latenzen der analogischen Praxis poetisch; gleichzeitig aber ruht seine Poetik einer noch nicht von den Wissenschaften getrennten Konzeption dichterischer Erkenntnis auf, was den Blick auf seine Bedeutung für die Geschichte der Analogie insbesondere in der Dichtung verstellt.9 Hier seien zunächst einige wichtige — und für Goethe wichtige — systematische Positionen zur Analogie referiert und einschließlich einiger Äußerungen Goethes aus dem außerliterarischen Kontext in Erinnerung gerufen. Im Anschluß daran soll die Bedeutung der Analogie, wie sie die Aphorismen der Betrachtungen im Sinne der Wanderer erhellen, diskutiert werden. Aus Gründen der Übersichtlichkeit seien dabei drei Traditionslinien angeführt: Eine erste - in der Tendenz neuplatonische — Tradition verbindet die Analogie mit Fragen transzendenter Erkenntnis und der Ontologie. Dem korrespondiert Goethes Hinweis auf »unser Dasein« (Betrachtungen 115). Eine zweite Linie eröffnet Kants Werk; hier erscheint die Analogie zunehmend als heuristischer Begriff. Der Gebrauch der Analogie im Empirismus bzw. die Bestimmung der Analogie als Methode, die der Induktion vergleichbar ist, muß als ein wichtiger dritter Strang der Tradition angesehen werden; historisch vermittelt er - durch seine aufgeklärten Vertreter — zwischen den beiden hier zuerst genannten, systematisch verweist er auf die Bedeutung der Analogie
Als Annäherungen können zwei Neuerscheinungen gelten: Karin Gloy, Manuel Bachmann (Hg.): Das Analogiedenken. Vorstöße in ein neues Gebiet der Rationalitätstheorie, Freiburg, München 2000; Gerald Funk, Gert Mattenklott, Michael Pauen (Hg.): Ästhetik des Ähnlichen. Zur Poetik und Kunstphilosophie der Moderne. Frankfurt am Main 2000 (ftb 15003); beide Bände haben charakteristischerweise ausführliche Artikel zur Antike und zur Renaissance und dann wieder zur Frühromantik und zur Moderne; Goethe und die aufgeklärte Tradition (s'Gravesande u. a.) finden beide Male keine Berücksichtigung.
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auch in der Erforschung der Welt und ihrer Phänomene. 10 Aus Raumgründen verweise ich hier dennoch nur darauf, wie in den ersten beiden Linien jeweils auf das Problem des empirischen Wissens eingegangen wird. Etymologisch bedeutet der Ausdruck >ana logon< etwa >dem Verhältnis nachAnalogie< darum Proportionen, Entsprechungen und ist somit als strukturell gliedernder Begriff definiert." Eine Übertragung dieses Verständnisses von den Verhältnissen zwischen Strukturen auf jene zwischen Einzeldingen eröffnet dem Analogiedenken bald neue Möglichkeiten und ist traditionsmächtig geworden: Neben die analogischen Beziehungen zwischen Strukturen treten die Entsprechungen und Korrespondenzen zwischen einzelnen Dingen. In diesem Sinne wäre die Analogie als einzelne Entsprechung gedeutet, jedes der beiden aufeinander bezogenen Relata könnte als »Analogat« präziser gefaßt werden.12 Mit diesem Ubergang vom bloß mathematisch-proportionalen Denken zum Verhältnisdenken in seiner allgemeinsten Form verbindet sich die Denkfigur einer >analogia entisInduktion< ins Spiel bringt. Die Analogie schließt vom empirischen Allgemeinen entweder auf Regeln (mit ζ. T . eingeschränktem
Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1974 (stw 55), S. Β 723-728 [Paginierung nach der 2. Aufl. 1787].- Vgl. allgemein zu Kant: Francois Marty·. La naissance de la metaphysique chez Kant. Une etude sur la notion kantienne de l'analogie, Paris 1980.
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Gültigkeitswert) oder auf andere Einzelfälle (oder Gruppen von Einzelfällen); d.h. sie bleibt im empirischen Bereich und ist weit weniger eng an die Normativität von Regeln gebunden als die Induktion (und Deduktion). Darin mag man ihren defizienten wissenschaftlichen Status vermuten;23 ihr Vorzug liegt dagegen in der Offenheit und Unabgeschlossenheit, die sie auch geeignet erscheinen läßt, Kommunikation zu fördern: Mittheilung durch Analogien halt' ich für so nützlich als angenehm; der analoge Fall will sich nicht aufdringen, nichts beweisen; er stellt sich einem andern entgegen, ohne sich mit ihm zu verbinden. Mehrere analoge Fälle vereinigen sich nicht zu geschlossenen Reihen, sie sind wie gute Gesellschaft, die immer mehr anregt als gibt.
[Sprüche in Prosa * 1.521] Daß die Analogie der »guten Gesellschaft« vergleichbar sei, erinnert an Goethes oben zitierte Briefäußerung an Zelter, 14 die auf die gute Verträglichkeit von in Analogien denkenden Menschen verweist. Immer wieder wird deutlich: Das Denken in Analogien verbindet sich für Goethe auch mit der kommunikativen Forderung nach Geselligkeit und gesellschaftlicher Bildung, wie er es seit den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten zu praktizieren bemüht war. So ist auch Goethes eigener Bezug auf die Analogie nicht nur weitgehend positiv, worin er sich von den meisten Autoren seiner Epoche unterscheidet,25 sondern auch Anwendung dieser dialogischen Bezugnahme. Erkennbar ist seine Wertschätzung der Analogie auch eine Verteidigung, und er teilt als erstes mit, daß sie, als Denkform betrachtet, nicht zu kritisieren, »schelten« (Betrachtungen im Sinne der Wanderer 93) sei. In dieser Hinsicht mag die Analogie besondere Geltung für Goethes Romanpoetik gewinnen: Als Verweisungstechnik ist sie für die Romanpoetik wichtig; diese Romankunst wird, indem sie auf der Analogie aufruht, im Prinzip heuristisch aufgeladen: Erkenntnis und Erkenntnissuche werden zu einem wichtigen Bestandteil von Goethes spätem Roman. Dabei bleibt die Analogie unaufdringlich und offen: Diese Unaufdringlichkeit unterstreicht Goethe auch in den Betrachtungen im Sinne der Wanderer, wenn er feststellt, daß die Analogie »eigentlich nichts Letztes will«:
23 24
2
>
Dieter Fuder·. Analogiedenken und Anthropologische Differenz (vgl. Anm. 11), S. 23. Vgl. hierzu Goethes Brief an Zelter: »Analog Denkende verstehen sich ...«: Goethe an Zelter, FA II, 10, S. 265. Vgl. hierzu die Hinweise auf Äußerungen Kants und vor allem Hegels zur Analogie bei: W. Ktuxen: Analogie (vgl. Anm. 11), Sp. 266.
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Nach Analogien zu denken ist nicht zu schelten; die Analogie hat den Vorteil daß sie nicht abschließt und eigentlich nichts Letztes will; dagegen die Induktion verderblich ist, die einen vorgesetzten Zweck im Auge trägt und, auf denselben losarbeitend, Falsches und Wahres mit sich fortreißt. [Betrachtungen im Sinne der Wanderer 93]
Für Goethes Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden ergeben sich aus den Beobachtungen zur Analogie einige wichtige Schlußfolgerungen: Das Analogiedenken ist sehr positiv gesehen; gleichwohl kann Goethe vor einem >haltlosen< Analogisieren warnen. Als Hauptstrang der Tradition sind die naturwissenschaftliche Linie und der Empirismus auszumachen; gleichwohl sind >ältere< Bedeutungen, die Entsprechungsverhältnisse im freien Zuordnen und den Bedeutungsüberschuß des analogisch Ausgedeuteten konservieren, präsent. Damit ergibt sich eine semantische Unscharfe, die, einer ähnlichen Unschärfe des Gebrauchs bei Kant vergleichbar, auch für die präzisere naturwissenschaftliche Bedeutung einen Hof von Konnotationen schafft, der seinerseits als semantisches Potential anzusehen ist.26 Denn die Aufforderung, das »Dasein« (Betrachtungen im Sinne der Wanderer 115) zu >sondern< und zu >verknüpfen zu verbinden: auf das >Leben< und auf >Bedeutung< (zwei Schlüsselwörter des Romans). Hier heißt es: »Wer lange in bedeutenden Verhältnissen gelebt hat, dem ist schon off das Analoge begegnet, oder auch das, was ohne Beispiel war« (Aus Makariens Archiv 182). In der Dialektik von Altem und Neuem ist der Roman historisch begriffen; in der Dialektik von Analogie und Idee, verbindendem Denken bei Wahrung der Unterschiede und Einheitsstiftung, findet der Roman seine systematische Formel, die alle großen Erziehungsreden und -gespräche, aber auch die Novellen oder die Handlung um Wilhelm Meister durchzieht.27 Goethes Roman ist dabei auch spezifischer als Schlüsseltext für den Ubergang von einer gleichsam vertikal zu denkenden Bezüglichkeit zu einer horizontalen Referenzstruktur anzusehen. Vier Bereiche kommen als Belege für diesen Wandel in Betracht: 26
Die Synonymenreihe Plotins, die die Analogie zwischen empirischem Wissen und negativer Aussage vom Guten nennt, bietet einen ähnlichen, >unscharfent und darum potentiell reichen semantischen H o f von Bedeutungen und Vergleichen.
27
Vgl. zur Dialektik allein die auffällige Existenz des Doppeltitels, der einzig in Goethes Romanwerk dasteht.
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Zunächst fällt der Kontrast ins Auge zwischen einzelnen, eindringlichen kosmischen Bildern, die der Roman seinen Lesern immer wieder anbietet, und der Beschreibung der Fläche und der Ebene, in der sich der Mensch ausbreiten solle. Zweitens ist das mit der Forderung nach Ausbreitung verbundene Ansinnen an den Menschen wichtig, die »Bezüge« selbst und neu herzustellen. Dieser Wandel belegt, wie die ursprünglich gegebenen Einordnungen des Menschen in den Kosmos verschwinden und zu Aufgaben werden. M i t dem ersten Kontrast verbindet sich drittens die Opposition von Raum und historischer Zeit: Zunehmend wird das »Jahrhundert« (S. 693) als notwendig werdende Orientierungshilfe für den Menschen benannt: Goethes Roman belegt auch die »Verzeitlichung des Denkens«. 28 Schließlich gibt die Tendenz des Romans zur Selbstreflexion dem Problemkomplex viertens eine poetische Dimension: Bezüge und Analogien müssen selbst gebildet werden; die Richtungen stehen dabei nicht fest, und der Sprung kann auch zwischen poetischen (Novelle, Gedicht, Märchen, Roman) und prosaischen Gattungen (Fachtext, Aphorismus) erfolgen. A m A n f a n g des Romans befindet sich Wilhelm mit seinem Sohn Felix im Hochgebirge. Erkennbar wird seine Lage als Mittelstellung im Kosmos beschrieben; ebenso erkennbar ist die Mittelstellung symbolisch gemeint, die Beschreibung zielt zunächst auf den Menschen im allgemeinen: Im Schatten eines mächtigen Felsen saß Wilhelm an grauser, bedeutender Stelle, w o sich der steile Gebirgsweg um eine Ecke schnell nach der T i e f e wendete. Die Sonne stand noch hoch und erleuchtete die Gipfel der Fichten in den Felsengründen zu seinen Füßen. [S. 263]
Wenngleich dieses Bild im folgenden weiter ausgemalt wird und wenn ihm vergleichbare Gipfelszenen sowie vergleichbar poetische Eingangsszenen der beiden weiteren Bücher 19 folgen, so ist doch vor allem zu bemerken, daß Wilhelm schon an dieser Stelle von seinem Sohn Felix in die Rolle des Nicht-Wissenden gedrängt wird. Sein Sohn fragt ihn nämlich nach den Namen von Pflanzen und bittet ihn, anhand von Tierspuren, »Fährdefn]« (S. 263), auf die jeweiligen Tiere zu schließen. Wilhelm aber lernt vor allem das Ausmaß seines fehlenden
18
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Vgl. hierzu neuerdings den Sammelband Peter Matmsek (Hg.): Goethe und die Verzeitlichung der Natur, München 1998, insbes. die Einleitung von Peter Matussek·. Transformation der Naturgeschichte: Thema und Kompositionsprinzip, ebd., S. 7—14. Vgl. hierzu: Jeremy Adler: »Die Sonne stand noch hoch...«. Zu Landschaft und Bildung in Goethes »Wilhelm Meisters Wanderjahre«, in: Johann Wolfgang Goethe. Hg. von Heinz Ludwig Arnold, München 1982, S. 222-239. Vgl. auch: Richard Meier. Gesellschaftliche Modernisierung in Goethes Alterswerken »Wilhelm Meisters Wanderjahre« und »Faust II«. Freiburg im Breisgau 2002, S. 47f.
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Wissens kennen. So wird von Anbeginn an eine vermeintlich >klareWirksamkeit< zu formulieren. Es ist sicher kein Zufall, daß der Schlußsatz der Sammlung Aus Makariens Archiv das Beispiellose und das Analoge miteinander verknüpft; wenngleich sprachlich in provokativer Banalität gehalten,30 verweist der Spruch auch änigmatisch auf die Möglichkeit des vollständig Neuen: aus dem Geist der Analogie. Makarie, deren Kreis dieser Satz als Rollenprosa zugeordnet ist, erscheint sicherlich als die Gestalt in dem Roman, die als erste als Personifikation hermetisch-neuplatonischer Spekulationen gelten könnte. Sie ist auf eine geheimnisvolle Art mit dem Kosmos verbunden. Wilhelms Vision auf der Sternwarte setzt sie mit dem Morgenstern ineins; in seiner Vision umgibt er sie mit Attributen, die auf Kirchers »Philosophia / Alchimia im Sessel«3' und andere Elemente der hermetischen Tradition weisen könnten. Lösungen der schwierigsten menschlichen Konflikte sind ihr anvertraut, und früh heißt es von ihr, daß sie jederzeit die »individuelle Maske« (S. 379)
Der Spruch ist verschieden - mit großer Ablehnung und großer Zustimmung - rezipiert worden: vgl. beispielshalber die Kommentierungen durch Harald Fricke, FA I, 10 (vgl. Anm. i), S. 566, und durch: Erich Trunz: Kommentar zu Aus Makariens Archiv 182, in: Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden. Hg. von Erich Trunz, München 12., durchges. Aufl. 1989 (HA 8), S. 687. Vgl. hierzu: Diethelm Brüggemann·. Makarie und Mercurius. Goethes »Wilhelm Meisters Wanderjahre« als hermetischer Roman. Bern 1999 (Germanic Studies in America 7), S. 41— 65.
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der anderen Personen durchschauen könne. Ihre eigentümliche Verbindung mit dem Kosmos wird im Schlußteil des Buches als »ätherische Dichtung« (S. 737) nacherzählt. Hier wird eine Entsprechung zwischen Makarie und dem Kosmos deutlich, die man als Entsprechung zwischen Mikro- und Makrokosmos begreifen kann. Schon ihr Name weist auf älteste Traditionen, auf die Seligpreisungen der Bergpredigt, die Inseln der Glückseligen, vielleicht aber auch auf den Einsiedler Macarius;32 daß diese Liste aber auch um noch eine Anspielung mehr bereichert werden kann, wenn man die anagrammatische Beziehung zu dem Wort >Amerika< erkennt,33 ist bezeichnend. In dieser zusätzlichen Komponente wird Makaries Bedeutungsbereich - dem Bereich der höchsten Entfernung von allem Irdischen, der sich durch das Einssein mit dem Kosmos ausdrückt - mit dem amerikanischen Siedlungsprojekt der Wanderer im Roman verbunden. So öffnet sich Makaries Bereich nicht nur durch die ihr zugeordneten Mittlerfiguren und Boten, durch Angela, den Astronomen und schließlich Jarno-Montan, für die konkrete Welt des Romans, sondern bereits durch eine - wenngleich spielerisch zu gewinnende — eigene Auszeichnung der Figur. Der aufmerksame Leser schöpft hier neue Bedeutungen und setzt die gegensätzlichen Bereiche zueinander in Beziehung. Dieser Vorgang aber bedeutet nichts anderes als die Verlagerung der inhaltlich gegebenen Analogie-Verhältnisse (zwischen Makarie und dem Kosmos) in eine freie, vom Leser neu zu stiftende Bezüglichkeit, die auch die offenen Gegensätze auf ihre Gemeinsamkeiten hin vergleicht.34 Beziehungen wahrzunehmen - das ist aber die vornehmste Aufgabe, die mit Makarie verbunden ist: Sie selbst bedarf der auslegenden, vermittelnden Instanzen: Angela erklärt das Entstehen des Archivs, das die wichtigsten Gedanken und Gespräche aus dem Umfeld Makaries sammle, der später im Roman mitgeteilten Sammlung Aus Makariens Archiv, mit dem Hinweis auf die »Wichtigkeit des augenblicklichen Gesprächs« (S. 387). Die wiederholte Aufnahme eines Gesprächs durch Sammlung und Lektüre bewirke einen Steigerungsvorgang und zwinge gar »zum Anschauen
Vgl. hierzu: Henriette Herwig·. Das ewig Männliche zieht uns hinab: »Wilhelm Meisters Wanderjahre«. Geschlechterdifferenz, sozialer Wandel, historische Anthropologie, Tübingen, Basel 1997, S. 379f.; Claudia Schwambom: Individualität in Goethes »Wanderjahren«, Paderborn, München, Wien, Zürich 1997, S. 26. Vgl. hierzu den Kommentar in Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre. Maximen und Reflexionen. Hg. von Gonthier Louis Fink, Gerhart Baumann, Johannes John, München 1991 (MA 17), S. 1119. Vgl. hierzu Wolfram Malte Fues\ Der >homo ludens< der »Wanderjahre«. In: Jeux et fetes dans l'oeuvre de J. W. Goethe / Feier und Spiel im Werk Goethes. Hg. von Gilles Buscot, Denise Blondeau u. Christine Maillard, Strasbourg 2000 (Faustus / Etudes germaniques), S. 225—235, insbes. S. 232f.
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jener Übereinstimmung, wozu der Mensch berufen ist« (S. 387^). Gespräch und Ubereinstimmung - Angelas Begründung der in Makaries Zirkel geführten Hefte - führt auf zentrale Begriffe, die in der gedanklichen Auseinandersetzung den geheimen Kern der Einheit entdecken; als Wilhelm die Hefte zu lesen beginnt, bemerkt er denn auch, daß sich die Sätze als »Resultate« darstellen, die, w e n n wir nicht ihre Veranlassung wissen, als paradox erscheinen, uns aber nötigen, vermittelst eines umgekehrten Findens und Erfindens rückwärtszugehen und uns die Filiation solcher Gedanken von weit her, von unten herauf, w o möglich zu vergegenwärtigen (S. 389).
Die Idee einer solchen Lektüre, die auch die >Umkehrung< der Gedanken zu praktizieren vermag, weist auf die poetische Praxis des Romans selbst. Auch der fiktive Redakteur der Wanderjahre fügt eine ähnliche Bemerkung in seine Darstellung von Makaries ätherischer Komponente ein, die an dieser Stelle JarnoMontans Neigung zur »Welt des Stoffes« (S. 729) gegenübergestellt wird: »Diese beiden Welten gegeneinander zu bewegen, ihre beiderseitigen Eigenschaften in der vorübergehenden Lebenserscheinung zu manifestieren, das ist die höchste Gestalt, wozu sich der Mensch auszubilden hat« (S. 729). Dieser Kommentar weist den Leser erneut an, Ubereinstimmung zwischen vermeintlich einander widerstrebenden Bereichen herzustellen; sein Ton ist erkennbar didaktisch, die Stimme auktorial: Die Aufgabe, welche der Autor der Wanderjahre seinen Lesern vermitteln will, ist tatsächlich nicht nur (oder sogar überhaupt nicht) auf die >EntsagungsHerz< und die >Sterne< verwiesen. Gleichzeitig aber verlagert sich der Akzent von der »Vernunft« zur »Zeit« (S. 693). In Goethes Roman erhält sich ein aus der Aufklärung stammender Glaube an die Perfektibilität; er greift aber in kosmologische Vorstellungen dergestalt ein, daß eine Spannung zwischen der nicht-beweglichen Bezüglichkeit des Menschen und der historischen Bewegung entsteht. So werden die auf die Perfektibilität zielenden Gedankengänge mit der Aura des alten Weltbildes versehen, wie umgekehrt die alten Weltbilder (und das alte Analogie-Denken) mit den neuen Aufgaben — die Bezüge in einem »erweiterten«, kollektiven »Herzen« (S. 693) herzustellen - verknüpft werden. Es ist oft bemerkt worden, daß der Roman nicht geradlinig erzählt; die Bildungsgeschichte der Lehrjahre findet keine Fortsetzung. Hier kann nur noch darauf hingewiesen werden, daß die besprochene Thematik ihre Entsprechungen findet in den entstehenden Wechselbezügen zwischen den einzelnen Textpartien.37 Besonders unterstreichen möchte ich an dieser Stelle, daß das vielzitierte Diktum Goethes über die Poetik seines Alterswerkes dieselbe Spannung von raumbildlicher und zeitlicher Struktur aufweist wie die soeben besprochenen Romanpartien.
37
Vgl.: Heidi Gidion·. Zur Darstellungsweise von Goethes »Wilhelm Meisters Wanderjahre« (Anm. 35); Markus Zenker·. Zu Goethes Erzählweise versteckter Bezüge (vgl. Anm. 5); Barbara Naumann: Philosophie und Poetik des Symbols. Cassirer und Goethe. München 1998, S. 107—192.
Zwischen Ganzheits- und Differenzdenken
145
Goethe schreibt nämlich an Iken im September 1827, anläßlich des Faust II, aber mit grundsätzlichem Bezug auf das Alterswerk im ganzen von seiner poetischen Verfahrensweise der >SpiegelungenSpiegelung< ein zeitliches Moment der >Wiederholungmagnetische Berg< alles Eisen in einer bestimmten Entfernung an sich zieht, so geschieht es Werther im näheren Umkreis von Lotte. Auffällig daran ist seine Willenlosigkeit. D e n n wenn er auch durchschaut, dass er trotz gegenteiligen Vorsatzes immer doch einen Grund konstruiert, sich in Lottes Nähe zu begeben, so scheint er den Vorgang der Attraktion in letzter Konsequenz kaum mehr willentlich beeinflussen zu können, vielmehr ist es ein V o r g a n g von magnetischer Zwingkraft - er spricht auch einmal von »eine[r] geheime [n] Kraft« (Brief v o m 16. Juli 1 7 7 1 , F A I, 8, S. 77) - , sobald er »zu nahe in der Atmosphäre« Lottes ist. Das W i r k e n magnetischer Anziehung ist Werther eine die anorganische wie organische N a t u r umfassende gleichermaßen physikalische wie seelische W i r k l i c h k e i t i m K o s m o s . Diese analogische D e n k w e i s e verweist auf die Sympathielehre der neuplatonisch-hermetischen Philosophie, die physikalischphysische und psychische Wechselwirkungen analog setzt u n d auf dieselbe universale Grundkraft zurückführt, die den Zusammenhang des Geschaffenen
Werther selbst nennt seine Großmutter als mündliche Übermittlerin dieses Märchens, während Antoine Gallands Mille et une nuit (Histoire du troisieme Calender,filsde Rot) die schriftliche Quelle dafür darstellt. Die Stelle ist zugleich autobiographisch zu lesen (allerdings war Goethes Mutter, nicht seine Großmutter, die große Märchenerzählerin). Vgl. Katharina Mommsen: Goethe und I O O I Nacht, Berlin i960, S. 3—5. Das Märchen vom Magnetberg nennt Goethe auch in den Vorlesungsnotizen Magnet (FA I, 25, S. 146) sowie im Brief an den Herzog Carl August vom 6. Mai 1788 (WA IV, 8, S. 371).
Z u m Magnetismus in der Natur, zwischen Körpern und Seelen bei Goethe bewirkt.
13
I m K o n t e x t naturmagischer D e n k f i g u r e n erhält auch der
der Atmosphäre
seinen konkreten
Sinn:
Es
153 Begriff
ist e i n e b e l e b t e u n d
beseelte
A t m o s p h ä r e . M i t t e l s d e r e i g e n e n A t m o s p h ä r e ist j e d e r K ö r p e r m i t
anderen
u n d der W e l t sympathetisch verbunden. D i e anziehende K r a f t k o m m t aus der aus Lotte
fließenden
persönlichen A t m o s p h ä r e zustande, in deren Wirkungskreis
W e r t h e r gerät. I n d i e R i c h t u n g dieses m a g i s c h e n V e r s t ä n d n i s s e s d e r A t m o s p h ä r e d e u t e t a u c h e i n e S t e l l e i m Fragment
eines
Romans
in Briefen,
das in
Goethes
S t r a ß b u r g e r Z e i t e n t s t a n d e n ist: » O m e i n e F r e u n d i n n , w a s n i c h t l e b t h a t k e i n e a n z i e h e n d e K r a f f t , es fliesst k e i n e A t m o s p h ä r e v o n i h m a u s , d e r e n W i r b e l u n s hinreissen k ö n n t e n . « ( W A I, 37, S. 6 i f . ) 1 4 L e b e n w i r d hier gleichgesetzt
mit
der Ausstrahlungskraft einer Atmosphäre.'5 D a s entspricht f o l g e n d e m D i k t u m : » A l l e s L e b e n d i g e b i l d e t e i n e A t m o s p h ä r e u m s i c h h e r . « ( S p r ü c h e in Prosa
6.10.15,
F A I, 13, S . 354) N i c h t v o m A u s f l i e ß e n der p e r s ö n l i c h e n A t m o s p h ä r e , a b e r v o n e i n e r — a l l e r d i n g s n o c h k a u m e r f o r s c h t e n —, ü b e r p r ä k o g n i t i v e
»Fühlfäden«
l a u f e n d e n seelisch-geistigen K o n n e x i o n des M e n s c h e n m i t der i h n u m g e b e n d e n A t m o s p h ä r e spricht G o e t h e noch 1827 gegenüber E c k e r m a n n : W i r w a n d e l n A l l e in G e h e i m n i s s e n . W i r sind v o n einer A t m o s p h ä r e u m g e b e n , v o n der w i r n o c h g a r n i c h t wissen, w a s sich Alles in ihr regt u n d w i e es m i t u n s e r m G e i s t e in V e r b i n d u n g steht. S o viel ist w o h l g e w i ß , d a ß in b e s o n d e r n Z u s t ä n d e n die F ü h l f ä d e n unserer Seele über ihre körperlichen G r e n z e n hinausreichen k ö n n e n , u n d ihr ein V o r g e f ü h l , ja auch ein wirklicher B l i c k in die nächste Z u k u n f t gestattet ist. [7. 1 0 . 1 8 2 7 , F A I I , 12, S. 633] 1 6
13
Michel Foucault hat Sympathie (und Antipathie) als umfassendste Form der Ähnlichkeit innerhalb der Epistemologie des 16. und noch 17. Jahrhunderts beschrieben. Vgl. Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt/M. I3 I995, S. 53—56.
14
Zugleich klingt die wirkungsmächtige cartesianische Wirbeltheorie an. Vgl. dazu Manfred Durner, Francesco Moiso, Jörg Jantzen: Wissenschaftshistorischer Bericht zu Schellings naturphilosophischen Schriften 1797-1800, Stuttgart 1994 (Historisch-Kritische Ausgabe / Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Reihe 1, Werke; 5/9, Ergänzungsband), S. 165—171.
15
Vgl. Andreas B. Wachsmuth: Geeinte Zwienatur. Aufsätze zu Goethes naturwissenschaftlichem Denken, Berlin — Weimar 1966, S. 48. Als repräsentativen Verteidiger eines magischen Weltbilds nennt Wachsmuth Johann Conrad Dippel und seine 1747 in drei Bänden erschienene Werkausgabe Eröffneter Weg zum Frieden mit Gott und allen Creaturen (hg. von Johann Conrad Kanz). Vgl. darin für einen magischen Atmosphäre-Begriff: »Aus den »allersubtilsten Ausflüssen< sich zusammensetzend und in drehender Bewegung als »schwebender Luftkreis< den Körper umgebend, ist die Atmosphäre >das unmittelbare Wohnhaus des seelischen und tierischen Lebens«< (ebd., S. 167).
16
Die Annahme präkognitiver »Fühlfäden unserer Seele« zeigt Goethes Nähe zur romantischen Naturphilosophie, zugleich aber auch ein Abstand, wenn die Fühlfäden lediglich einen Blick »in die nächste Zukunft«, keineswegs aber in fernere Zeiten oder gar ins Jenseits ermöglichen. Vgl. Barkhoff·. Tag- und Nachtseiten (wie Anm. 2), S. 86.
154
Katharine Weder
Die aus hermetischem Erbe gespeiste und vielfältig in die pietistische Spekulation und romantische Naturphilosophie hinein transformierte Vorstellung vom sympathetisch durchseelten Kosmos konkurriert mit der mechanistischen Weltanschauung. Die in der Tonlehre mit den Stichworten »sympathetisches Mitschwingen; mechanisches Mitschwingen« (FA I, 25, S. 183) umrissenen zwei Erklärungsmodelle, wie die harmonischen Töne beim Monochord mitklingen einem Instrument mit nur einer einzigen Saite über dem Schallkörper entsprechen diesen beiden weltanschaulichen Positionen. Nie sonst, allerdings nur in privatem Rahmen, geht Goethe in der sympathetischen Interpretation der Ausdehnung des Wirkungsbereichs polarer Kräfte auf die belebte und psychischgeistige Welt gleich weit wie in eben jenem Gespräch mit Eckermann im Oktober 1827: W i e gesagt, wir tappen Alle in Geheimnissen u n d W u n d e r n . A u c h kann eine Seele auf die andere durch bloße stille Gegenwart entschieden einwirken [...]. W i r haben Alle etwas v o n elektrischen u n d magnetischen K r ä f t e n in uns, u n d üben, wie der M a g n e t selber, eine anziehende u n d abstoßende G e w a l t aus, je nachdem wir m i t etwas G l e i c h e m oder Ungleichem in Berührung k o m m e n . [...] U n t e r Liebenden ist diese magnetische K r a f t besonders stark u n d wirkt sogar sehr in die Ferne. [ F A II, 12, S. 634^]
Ahnungen, Prophetie, Telepathie und Fernwirkungen werden als magnetischsympathetisch anerkannt. Bezüglich der prophetischen und telepathischen Fähigkeiten, ja sogar Fernwirkungen, die im Verlauf dieses Gesprächs mit Eckermann angesprochen und mit Fallbeispielen belegt werden, ist Goethes Einschätzung bedeutsam, »[...] dergleichen liegt sehr wohl in der Natur, wenn wir auch dazu noch nicht den rechten Schlüssel haben.« (FA II, 12, S. 633) Die Erfahrung der Natur als Resonanzraum verborgener Kräfte ist gegenwärtig, ihre (wissenschaftliche) Untersuchung aber ein äußerst heikles Unterfangen. Im historischen Teil der Farbenlehre spricht Goethe über die Existenz »so viele [r] Bezüge der spezifizierten Wesen unter einander, die wahrhaft und doch wunderbar genug sind, wie ζ. B. der Metalle beim Galvanism.« (FA I, 23/1, S. 672) Die darauf folgende Nennung von Bezügen auch in der organischen Natur mündet in den Ausruf: »Was für unendliche und unerforschliche Sympathien, Antipathien, Idiosynkrasien überkreuzen sich nicht.« (ebd.) Sympathetische Phänomene werden hier durchaus als erfahrbar beschrieben, skeptisch ist Goethe hinsichtlich ihrer Erklärbarkeit und auch Anwendbarkeit, was ihn signifikant von den Theoremen und Praktiken der Magia naturalis unterscheidet.17 Eine Goethes frühe Kenntnis der einschlägigen Begründungen und Anweisungen wird immerhin ersichtlich in der Ausgestaltung seiner Faust-Figur mit traditionell magischem Wissen und
Zum Magnetismus in der Natur, zwischen Körpern und Seelen bei Goethe
155
noch radikalere Skepsis führt in einem naturwissenschaftlichen Speziallexikon von 1791, Gehlers Physikalischem Wörterbuch, in betont aufklärerisch-kritischer Haltung zur Ablehnung auch des Begriffi >SympathieSympathie< geradezu ein Modebegriff geworden ist, bezeichnen sympathetisch schlagende Herzen häufig zunächst einmal lediglich intensiv mitempfindende und sich ineinander einfühlende Herzen. Werthers Liebe erreicht aber eine Zwingkraft, die dem entspricht, was Ralf Simon als entscheidend für einen Sympathiebegriff bestimmt hat, der sowohl von der hermetischen Tradition als auch von zeitgenössischen physiologischen Forschungen beeinflusst ist: »[...] daß es eine Sympathetik zwischen empfindenden Wesen gibt, die bewußtseinsunabhängiger und präkognitiver Art ist«. Ralf Simon·. Das Gedächtnis der Interpretation. Gedächtnistheorie als Fundament für Hermeneutik, Ästhetik und Interpretation bei Johann Gottfried Herder, Hamburg 1998 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert, Bd. 23), S. 164.
10
Koschorke spricht davon, dass (insbes. Klopstocks) Bücher in der Literatur der Empfindsamkeit »zu Fetischen der Empfindungskultur« werden. Dabei hat der Bezug aufs Buch nicht nur »die katalytische Funktion, die Liebenden den Gleichklang ihrer Empfindung entdecken zu lassen, sondern dient auch dazu, diesen Gleichklang [...] sprachfähig und emphatisch erlebbar werden zu lassen.« Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München 1999, S. 154-162, hier S. I58f.
21
Die magnetische Kraft manifestiert sich im Roman insgesamt körperhaft und wirklich, während das berühmte Gespräch über chemische Wahlverwandtschaften nur Gleichnis ist. Vgl. Peter
Zum Magnetismus in der Natur, zwischen Körpern und Seelen bei Goethe
157
Denn da heißt es in der berühmten Stelle gegen Ende des Romans über das Liebespaar Eduard und Ottilie: Nach wie vor übten sie eine unbeschreibliche, fast magische Anziehungskraft gegen einander aus. Sie wohnten unter Einem Dache; aber selbst ohne gerade an einander zu denken, mit andern Dingen beschäftigt, von der Gesellschaft hin und her gezogen, näherten sie sich einander. Fanden sie sich in Einem Saale, so dauerte es nicht lange und sie standen, sie saßen neben einander. N u r die nächste Nähe konnte sie beruhigen, aber auch völlig beruhigen, und diese Nähe war genug; nicht eines Blickes, nicht eines Wortes, keiner Gebärde, keiner Berührung bedurfte es, nur des reinen Zusammenseins. Dann waren es nicht zwei Menschen, es war nur Ein Mensch im bewußtlosen vollkommnen Behagen, mit sich selbst zufrieden und mit der Welt. Ja, hätte man eins von beiden am letzten Ende der Wohnung festgehalten, das andere hätte sich nach und nach von selbst, ohne Vorsatz, zu ihm hinbewegt. Das Leben war ihnen ein Rätsel, dessen Auflösung sie nur miteinander fanden. [FA I, 8, S. 516]
Aus zwei Menschen wird hier in willenloser, unbewusster Anziehung »Ein Mensch«. Während sich aber Werthers und Lottes Verbundenheit gerade über ein gleichsam als Magnet fungierendes Drittes - den realen Ort der Allee oder den fiktiven Ort eines literarischen Werks - manifestiert, ist hier eine rätselhafte, unsichtbare, absolut wirkende Zwingkraft am Werk, die sogar dann wirkt, wenn Eduard und Ottilie »mit andern Dingen beschäftigt, von der Gesellschaft hin und her gezogen« sind. Nur in der als superlativische Steigerung formulierten »nächste [n] Nähe« kommen sie zur Ruhe, auch dann bedarf es keines Drittmittels, »nur des reinen Zusammenseins«, dass sie zu einer Einheit verschmelzen und »im bewußtlosen vollkommnen Behagen« mit der eigenen Person und der Welt in Einklang sind. Ihre im ganzen Roman präsente wechselseitige Bindung findet sich hier aufs Höchste gesteigert, indem die zwei Menschen zu einer Einheit geschlossen werden und nur darin Ruhe finden. Umso ungeheuerlicher, dass dieser Zustand mitten im größten Unglück eintritt, als Ottilie schon ihrem Tod nahe ist.22 Ungeheuerlich auch, dass hier - gänzlich ohne die den Roman sonst vielerorts kennzeichnende ironische Distanzierung — von einer Vollkommenheit die Rede ist, die mit Bewusstlosigkeit verbunden ist, und damit der Vorstellung einer Vollkommenheit radikal entgegen steht, wie sie zum Beispiel Goethes
von Matt·. Versuch, den Himmel auf der Erde einzurichten. Der Absolutismus der Liebe in Goethes Wahlverwandtschaften. In: Über die Liebe. Ein Symposion. Hg. von Heinrich Meier und Gerhard Neumann, München 2001, S. 263—304, hier S. 278. Vgl. von Matt: Absolutismus der Liebe (wie Anm. 21), S. 282.
IJ8
Katharine Weder
Iphigenie als Ikone des neuen Menschenbilds der Klassik verkörpert, eine gerade auf höchstem Bewusstsein gegründete Vollkommenheit. 13 Die neuere Forschung hat als Bezugsfeld für den WahlverwandtschaftenRoman den zeitgenössisch heiß diskutierten Mesmerismus oder sogenannten tierischen Magnetismus hervorgehoben, eine im Schnittpunkt von Medizin, Naturphilosophie und Psychotherapie situierte Modeerscheinung. 24 Der als ihr Begründer geltende Franz Anton Mesmer hat diejenigen Kräfte und Wechselwirkungen, welche zum Beispiel am Erd- oder Eisenmagnetismus beobachtbar werden, für universal wirksam erklärt, d.h. nicht nur in der anorganischen, sondern insbesondere auch in der organischen Natur wirkend und zwar »auf alle wesentlichen Bestandtheile lebendiger Körper, vorzüglich aber auf das Nerven=system, vermittelst einer alles durchdringenden Flüssigkeit«.15 Die den Kosmos durchströmenden Kräfte der Attraktion und Abstoßung verbinden nach dieser Vorstellung Mineralien wie Lebewesen, lassen sie einander anziehen und voneinander wegtreiben und setzen auch Menschen untereinander in telepathischen Rapport. Mesmers Physiologisierung folgte die Psychologisierung des Magnetismus - die Annahme rein psychischer Wechselwirkungen - durch den Marquis de Puysegur. 16 Die neue Aufmerksamkeit am Mesmerismus nach 1800 ist nicht allein einer Faszination am Okkulten zuzuschreiben, sondern ebenso naturwissenschaftlichen Innovationen, besonders in der Elektrochemie namentlich Galvanis Entdeckung der sogenannten tierischen Elektrizität von 1791 in Kombination mit Alexander Voltas neun Jahre später erfolgter Entdeckung, dass sich elektrischer Strom durch eine rein chemische Installation (und nicht ausschließlich durch die mechanische Aktivität der Reibung), die sogenannte Volta-Säule, produzieren lässt, womit Galvanis »tierische Elektrizität« eine chemische Basis gefunden hatte - , da sie versprachen, die von Mesmer und seinen Schülern propagierten Phänomene und seine an alte Traditionen anknüpfende Theorie eines den physikalischen Polaritäten, Anziehungen und Abstoßungen
23
24
25
26
Vgl. ähnlich von Matt·. Absolutismus der Liebe (wie Anm. 21), S. 283, der die Verbindung von bewusstlos und vollkommen mit Kleists Aufsatz Über das Marionettentheater und Schillers Konzept der Grazie in Beziehung bringt. Unter Berücksichtigung vereinzelter Hinweise in der älteren Forschung. Vgl. die folgenden Spezialstudien: Klaus H. Kiefer·. Goethe und der Magnetismus. Grenzphänomene des naturwissenschaftlichen Verständnisses. In: Philosophia naturalis 20 (1983), S. 264-311. Ders.: Goethe und der Mesmerismus. In: Freiburger Universitätsblätter, Heft 93, Oktober 1986, S. 55-74. Holtermann: >Thierischer Magnetismus< (wie Anm. 7), Barkhoff: Tag- und Nachtseiten (wie Anm. 2), von Matt: Absolutismus der Liebe (wie Anm. 21). Franz Anton Mesmer: Abhandlung über die Entdeckung des thierischen Magnetismus, Karlsruhe 1781, Neudruck, Tübingen 1985, S. 8. Vgl. Kikher: Ästhetik des Magnets (wie Anm. 4), S. 466 und die dort angegebene Literatur.
Z u m Magnetismus in der Natur, zwischen Körpern und Seelen bei Goethe
159
entsprechenden Bezugs auch in der organischen Sphäre zu erklären und auf eine experimentell erprobbare Basis zu stellen.17 Auf Goethes Interesse an den Imponderabilien habe ich bereits hingewiesen. Entscheidend ist, dass der Weg des skeptischen, erkenntniskritischen Wissenschaftlers28 Goethe von den einfacher beobachtbaren und experimentell erprobbaren Imponderabilien, die er selbst als »[mineral-]magnetische, turmalinische, elektrische, galvanische, perkinische« (FA I, 25, S. 134) Wirkungen auflistete, erst hin zum animalischen Magnetismus führt. Nachdem Goethe die Wirkkräfte in dieser Reihenfolge genannt hat, fügt er als Nebenbemerkung an: Hier würde nun meo voto der sogenannte tierische Magnetismus stehen. Da nämlich zwei organische Naturen durch Näherungen, ja fast ideale Berührungen allgemein reizende oder soporifere [beruhigende; vgl. Erl. F A I, 25, S. 954] Wirkungen hervorbringen. Die Schwierigkeit hierüber reine Versuche anzustellen wird dieses Kapitel, bis auf ein glückliches genialisches Wagestück, das zu erwarten steht, noch lange zurück halten. [FA I, 25, S. 135]
Kennzeichnend ist - wie Barkhoff feststellt - Goethes vielfach bedingende Redeweise: der Konjunktiv, die Betonung des subjektiven Elements der Stellungnahme, die Bedenklichkeit hinsichtlich der allzu forschen Analogiebildung, die bereits im Namen der Sache steckt, und schließlich der Verweis auf die fast unüberwindlichen Schwierigkeiten experimenteller Uberprüfung. 29
Zugleich aber deutet die Kennzeichnung als »fast ideale Berührungen« die Möglichkeit einer psychisch-geistigen Dimension (neben der physikalischchemischen) an.30 Explizit von der magnetischen Kraft ist in den Wahlverwandtschaften an einer einzigen Stelle die Rede, und zwar am Anfang des Romans, als der
27
Z u r Erläuterung dieses wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhangs knapp von Absolutismus der Liebe (wie Anm. 21), S. 273—278.
28
Vgl. dazu auch an Knebel, 2 0 . 1 . 1 8 1 3 : »Ich leugne nicht, daß die Verbindung des Erd- und Eisenmagnetismus mit den übrigen Polaritäten der physisch-chemischen Natur, welche bisher noch nicht hat glücken wollen, ein wissenschaftliches Ereignis wäre, welches ich zu erleben wünschte, da ich an der Möglichkeit gar nicht zweifle. A m allererfreulichsten müßte es fur mich sein, wenn eben jener Magnetismus unmittelbar mit der Farbe in Rapport gesetzt werden könnte.« (FA II, 7, S. I57f.) Man beachte die im Kontext animalmagnetischer Wirkkräfte kaum zufällige Wendung »in Rapport gesetzt«!
29
Barkboff: Tag- und Nachtseiten (wie Anm. 2), S. 85. Kiefer vertritt die These, dass Goethe wohl aufgrund seiner Analogie-Skepsis den Erscheinungen des thierischen Magnetismus beim Menschen nicht nachgehe. Kiefer: Goethe und der Magnetismus (wie Anm. 24), S. 300.
30
Barkhoff·. Tag- und Nachtseiten (wie Anm. 2), S. 85.
Matt'.
ι6ο
Katharine Weder
Hauptmann kurz nach seiner Ankunft den Vorschlag vorbringt, dass er »die Gegend mit der Magnetnadel aufnähme« (FA I, 8, S. 290), also sie mit Hilfe des Kompasses vermessen wolle.31 Einem geübten Landschaftsingenieur wie ihm ist dies »ein leichtes heiteres Geschäft« (FA I, 8, S. 290), der Kompass ein nützliches Hilfsmittel. Dieselbe Kraft aber, welche die Magnetnadel steuert, bindet mit unausweichlicher Notwendigkeit und Zwingkraft auch Eduard und Ottilie aneinander, physikalisch und seelisch, wie es auch Werther in der Analogie des Eisen anziehenden Magnetbergs mit der ihn unwiderstehlich anziehenden Lotte erfahren hat. Die »fast magische Anziehungskraft« zwischen Ottilie und Eduard32 bildet dabei nur eine Komponente des animalmagnetischen Bezugsfelds, daneben besitzt vor allem Ottilie animalmagnetische Eigenschaften: eine gesteigerte Sensibilität gegenüber Steinkohle, Gesteinen und Metallen sowie telepathische Fähigkeiten.33 Die verschiedenen Möglichkeiten der Wirkungsweise von Kräften in der anorganischen und organischen Natur werden im Roman vom Begleiter des englischen Lords aufgezählt, der seine Absicht, an Ottilie ihrer gesteigerten Sensibilität wegen Pendelversuche vorzunehmen — hier werden als einzige Ausnahme im ganzen Roman Ottilies mediale Fähigkeiten künstlich hervorgerufen34 - , vor dem solchen Experimenten und Konzepten gegenüber kritischen Lord verteidigt und dabei um die nötige Offenheit und Neugier des Wissenschaftlers wirbt: [...] er gab wiederholt zu erkennen, daß man deswegen, weil solche Versuche nicht Jedermann gelängen, die Sache nicht aufgeben, ja vielmehr nur desto ernsthafter und gründlicher untersuchen müßte; da sich gewiß noch manche Bezüge und Verwandtschaften unorganischer Wesen untereinander, organischer gegen sie und abermals untereinander, offenbaren würden, die uns gegenwärtig verborgen seien. [FA I, 8, S. 4 8O£]
31 32
33
34
Im Folgenden vgl. von Matt: Absolutismus der Liebe (wie Anm. 21), S. 272. Vgl. Klaus H. Kiefer: Magie. In: Goethe-Handbuch, Bd. 4/2, hg. von Hans-Dietrich Dahnke und Regine Otto, Stuttgart - Weimar 1998, S. 679-682, hier S. 681: »Am Beispiel von Eduard und Ottilie aus den Wahlverwandtschaften lässt sich auch belegen, daß nach der Jahrhundertwende [nach 1800] das magische Paradigma durch das des Magnetismus abgelöst wurde.« Die magnetische Bindung zwischen Ottilie und Eduard zeigt sich im Roman exemplarisch auch an ihren polaren Kopfschmerzen: Eduard betrifft es auf der rechten, Ottilie auf der linken Seite. Darauf wurde schon öfter hingewiesen, vgl. die in Anm. 24 genannten Spezialstudien. Vgl. wiederum die in Anm. 24 genannten Spezialstudien. Darin wird der bereits von Otto Brahm (1882) angeführte historische Bezug auf Ritters mit dem Gesteins- und Wasserfuhler Campetti 1806 in München unternommene Experimente immer wiederholt. Vgl. Barkhoff: Tag- und Nachtseiten (wie Anm. 2), S. 91.
Zum Magnetismus in der Natur, zwischen Körpern und Seelen bei Goethe
161
Dem Begleiter des englischen Lords, der als »ein verständiger ruhiger Mann und guter Beobachter« (FA I, 8, S. 46gf.) charakterisiert wird, geht es hier keineswegs um eine magnetische Heilpraxis ä la Mesmer, die gar noch unter dem Verdacht steht, rein profitorientiert zu sein, sondern um die kontrollierte, (natur-) wissenschaftlich abgestützte Erforschung noch unerklärter Naturphänomene, die gerade deshalb »desto ernsthafter und gründlicher« sein muss, weil es sich um verborgene Phänomene handle. »Bezüge und Verwandtschaften unorganischer Wesen untereinander« bezeichnet die Phänomene des physikalischen Magnetismus, »organischer gegen sie« meint den Rapport von Menschen mit Metallen und Mineralien, wie es der Roman vor allem an Ottilie demonstriert, »organischer untereinander« meint schließlich die magnetische Attraktion zwischen Menschen, wie sie dem Liebespaar Eduard und Ottilie auf dramatische Weise geschieht. Die Figur des Begleiters ist auffällig funktionslos im Roman. Eine Möglichkeit, dies zu erklären, besteht darin, in seinen Aussagen einen demonstrativen Gestus des Autors selbst zu sehen. Goethe hat denn auch genau diese verschiedenen Wirkungskonstellationen schon 1806 in den physikalischen Vorlesungen unter dem Stichwort »Übergang zum organischen Magnetismus« systematisiert: Z u einem Begriff desselben [des organischen Magnetismus] k ö n n e n wir, nach d e m Bisherigen, am besten gelangen, wenn wir uns vorstellen, daß Erregendes und Erregtes sich verwechseln lassen. D i e entstehenden W i r k u n g e n können also folgendermaßen gedacht werden: 1. Leblos auf Lebloses 2. Leblos auf Lebendiges 3. Lebendes auf Lebendes 4. Lebendes auf Lebloses. [ F A I, 25, S. 174]
Ebenso demonstrativ folgt im Roman aber dann die Ablehnung des Magnetismus als Heilmittel durch die kluge, rationale Charlotte. Als wiederum der Begleiter des englischen Lord »mit Enthusiasmus« (FA I, 8, S. 481) gegen Ottilies bei den Pendelversuchen wieder auftretende Kopfschmerzen eine (wie zu ergänzen ist: magnetische) »Kurart« (FA I, 8, S. 482)35 vorschlägt, heißt es im Roman: M a n war einen Augenblick ungewiß; Charlotte aber die geschwind begriff w o v o n die Rede sei, lehnte den wohlgesinnten Antrag ab, weil sie nicht gemeint war, in ihrer U m g e b u n g etwas zuzulassen, w o v o r sie immerfort eine starke Apprehension g e f ü h l t hatte. [ F A I, 8, S. 482]
Die Deutung dieser Kurart als einer magnetischen bereits bei Kitfer·. Goethe und der Magnetismus (wie Anm. 24), S. 308 und in der Folge oft bestätigt.
ΐ£ϊ2
Katharine Weder
Magnetisch-sympathetische Naturkräfte werden, bei allem Erkenntnisvorbehalt, ernst genommen, ihrer künstlichen Induktion und modisch gewordenen heilkundlichen Anwendung wird hingegen mit skeptischer Ablehnung begegnet.36 Viel mehr als die Phänomene selbst, die noch genauerer Untersuchung bedürfen, stehen die solche Heilmittel und -kuren praktizierenden Menschen unter Betrugsverdacht. Dies bestätigt eine Strophe aus den Zahmen Xenierr. Viel W u n d e r k u r e n gibt's jetzunder, Bedenkliche, gesteh' ich's frei! N a t u r und Kunst tun große W u n d e r ; U n d es gibt Schelme nebenbei. [ F A I, 2, S. 668]
Die Tatsache der Wunderkuren ist jenseits aller Naturphilosophie von sozial- und individualpsychologischem Interesse. Dabei werden sowohl die Wundergläubigen selbst zwielichtig als auch diejenigen, welche den Wunderglauben der anderen zu ihren Zwecken ausnutzen, wie es das Drama Der Groß-Cophta als Ganzes zeigt.37 Dieses frühe, zunächst als Oper angelegte Lustspiel, das den zeitgenössisch mit dem europaweit bekannten Grafen Cagliostro identifizierten Protagonisten als Bösewicht entlarvt, ist ungleich harmloser als der WahlverwandtschaftenRoman, der ohne Bösewicht, ohne identifizierbaren Schuldigen in die Katastrophe führt und jegliches moralische Urteilen verunmöglicht. 38 Wenn unter dem Aspekt von Naturphilosophie versus Heilkunde Goethes poetische Konstellationen und seine nicht-literarischen »Stellungnahmen zum Mesmerismus (allzu) homogen erscheinen mögen, indem Goethe die künstliche Erzeugung magnetischer Naturphänomene kritisiert und die Banalität des Mesmerismus als allzu oft in Scharlatanerie abstürzende Heilmethode entlarvt, ohne ihm in seiner naturphilosophischen Dimension eines verborgenen magnetischsympathetischen Weltzusammenhangs das Grandiose zu nehmen,39 stellt hingegen
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Der Befund von Goethes physikalischem, nicht therapeutischem Interesse schon bei Kiefer·. Goethe und der Mesmerismus (wie Anm. 24), S. 62.
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Vgl. den Brief an Jacobi vom 1. Juni 1791 während der Arbeit am Groß-Cophta: »Es ist erbärmlich anzusehen, wie die Menschen nach Wundern schnappen um nur in ihrem Unsinn und Albernheit beharren zu dürfen, und um sich gegen die Obermacht des Menschenverstandes und der Vernunft wehren zu können.« W A IV, 9, S. 270. Vgl. im Lustspiel selbst (II.4) aus dem Mund der Marquise (ohne dass die Aussage dieser Figur als Goethes eigener Position identisch unterstellt wird): »Die Menschen lieben die Dämmerung mehr als den hellen Tag, und eben in der Dämmerung erscheinen die Gespenster.« (FA I, 6, S. 46).
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Dazu von Matt: Absolutismus der Liebe (wie Anm. 21), S. 273. Zu nicht-literarischen Stellungnahmen vgl. exemplarisch zwei Äußerungen: Goethes Brief an Charlotte v. Stein vom 30. 6. 1787 im Kontext von Lavaters intensiver Beschäftigung mit dem Magnetismus: »Bey meiner Rückreise durch die Schweiz werde ich auf den Magnetismus achten,
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die Poetisierung des Mesmerismus-Motivs im Wahlverwandtschaften-Roman insgesamt gerade die Spezifik künstlerischer Darstellung heraus mit ihrem Potential zu Vieldeutigkeit und Selbstreflexivität und ihrer Unabhängigkeit von wissenschaftlichem Fortschrittsanspruch. Dies lässt sich an einem Detail betrachten, an »jenefr] doppelte[n] Ähnlichkeit« (FA I, 8, S. 482) des aus dem >geistigen Ehebruch< hervorgegangenen todgeweihten Otto. Die Beschreibung des Liebesakts zwischen Eduard und Charlotte, zu einem Zeitpunkt, da ihr unheimliches Auseinanderstreben längst in seine unausweichliche Bahn getreten ist, zeigt exemplarisch, wie sich hinter eleganter, glatter und disziplinierter Sprache ungeheuerliche Sachverhalte verbergen: In der L a m p e n d ä m m e r u n g sogleich behauptete die innre N e i g u n g , behauptete die Einbildungskraft ihre Rechte über das Wirkliche. E d u a r d hielt nur Ottilien in seinen A r m e n ; Charlotten schwebte der H a u p t m a n n näher oder ferner vor der Seele, u n d so verwebten, w u n d e r s a m genug, sich Abwesendes u n d Gegenwärtiges reizend u n d wonnevoll durcheinander. [ F A I, 8, S. 353]
In magisch-sympathetischer Ein-Bildung wurden dem Fötus die Züge des Hauptmanns und die Augen Ottilies verliehen, eine in der hermetischen Sympathielehre verbreitete und von Mesmerismus-Theoretikern zur Plausibilisierung geistiger Fernwirkungen aufgegriffene Vorstellung. 40 Alle vier
die Sache ist weder ganz leer, noch ganz Betrug. Nur die Menschen die sich bisher damit abgegeben sind mir verdächtig. Marcktschreyer, große Herren und Propheten lauter Menschen die gerne viel mit Wenigem thun, gerne oben an sind pp. / Wir haben die famose HexenEpoche in der Geschichte, die mir psychologisch noch lange nicht erklärt ist, diese hat mich aufmercksam und mir alles wunderbare verdächtig gemacht.« (FA II, 3, S. 306) Und anlässlich von Kerners 1829 erschienener Seherin von Prevorst, welche die spiritualistische Wende des Mesmerismus zeigt: »Ich habe mich immer von Jugend auf vor diesen Dingen gehütet, sie nur parallel an mir vorüberlaufen lassen. Zwar zweifle ich nicht, daß diese wundersamen Kräfte in der Natur des Menschen liegen, ja, sie müssen darin liegen; aber man ruft sie auf falsche, oft frevelhafte Weise hervor. Wo ich nicht klar sehen, nicht mit Bestimmtheit wirken kann, da ist ein Kreis, für den ich nicht berufen bin. Ich habe nie eine Somnambule sehen mögen.« (Kanzler von Müller, 10. 2. 1830, WA V, 7, S. 206) Insgesamt zeigt Jürgen Barkhoffs differenzierte Auswertung von Goethes eher vereinzelten Äußerungen in Tagebüchern, Gesprächen und Briefen sowie in den naturwissenschaftlichen Schriften am Fall >tierischer Magnetismus< exemplarisch Goethes Nähe und Distanz zur romantischen Naturphilosophie (vgl. Tag- und Nachtseiten [wie Anm. 2], S. 75—87). In seiner Distanz zur »Nachtseite« der Natur und zu spekulativen Tendenzen in ihrer Erforschung ist Goethe Aufklärer, während ihn mit der romantischen Naturphilosophie die Verquickung von Anthropologie und Kosmologie und die Überzeugung vom organischen Zusammenhalt der Welt verbindet (vgl. auch den Forschungsbericht von Monika Fick: Goethes NaturbegrifF. Neue Publikationen. In: Philosophische Rundschau, 48 (2001), S. 49—68, hier S. 54). 40
Diese Vorstellung galt etwa Agrippa von Nettesheim und van Helmont als selbstverständlich, vgl. Barkhoff·. Tag- und Nachtseiten (wie Anm. 2), S. 93 sowie Holtermann·. >Thierischer Magnetismus· (wie Anm. 7), S. i8if.
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Personen sind an der Zeugung des Kindes beteiligt, Eduard und Charlotte körperlich, Ottilie und der Hauptmann geistig und in distans. Folgerichtig nur, dass das Kind Otto heißt. Den Einfluss einer magisch-sympathetischen Weltanschauung zur Erklärung der Gesichtszüge des Kindes einfach festzustellen, birgt die Gefahr, diesem Faktum des Romans das Skandalöse zu nehmen, indem es in einem von der neuzeitlichen Wissenschaft längst verabschiedeten spekulativen Konzept aufgehoben und damit entschärft würde, was die ironischdistanzierende Bestimmung der Erzählerstimme »wundersam genug« nahe legen mag. Es reicht nicht, den Einfluss einer in der Sympathielehre verbreiteten Vorstellung in positivistischer Weise nachzuweisen, sondern es geht um ihre poetische Transformation. Diese fuhrt in aller grausamen Konsequenz vor Augen, wie die vermeintlich freien Gedanken Charlottes und Eduards beim Liebesakt sich körperhaft und für alle sichtbar auswirken. Das Kind verkörpert den »doppelten Ehbruch« (FA I, 8, S. 492) der Wunschphantasien regelrecht, aus dem es gezeugt wurde, ist Faktum von Charlottes und Eduards unausweichlicher Distanzierung statt ihrer Vereinigung, ja ihrer Distanz in der körperlichen Vereinigung. Am nächsten Morgen treten sie denn auch »gleichsam beschämt und reuig« (FA I, 8, S. 354) vor den Hauptmann und Ottilie, sich zwar der Distanz, kaum aber ihrer unheimlichen >naturgesetzlichen< Ursache bewusst. Die Sympathielehre ist in der Romanwirklichkeit gerade kein spekulatives Konzept— dem man entweder anhängen oder das man als einer magischen Weltsicht entsprungenes verwerfen kann und für das jedenfalls ein entsprechendes theoretisches Gebäude bemüht wird - , vielmehr unentrinnbare, ungeheuerlich-rätselhafte Realität, ohne dass dabei aber irgend etwas erklärt wird. Insgesamt ist von Bedeutung, dass das tragische Geschehen in den Wahlverwandtschaften keineswegs auf die Phänomene des Magnetismus und Somnambulismus, so »naturwissenschaftlich verbindlich«4' und zugleich »verrätselt«42 sie im Roman dargestellt werden, reduziert ist, vielmehr werden sie deutlich als »nur der vordergründig erkennbare Teil eines viel umfassenderen Ganzen. Von diesem wissen wir einzig, daß es zur Natur gehört, [...] und daß es die absolute Gewalt des antiken Schicksals hat.«43 Dazu von Matt: Absolutismus der Liebe (wie Anm. 21), S. 278—282 (expliziert am Thema von Eduards Vorlesen: der Vorgang der Abstoßung in Bezug auf Charlotte, bezeichnenderweise unmittelbar bevor das berühmte Gespräch über die Wahlverwandtschaft chemischer Stoffe geführt wird, und der Vorgang der Anziehung in Bezug auf Ottilie vier Kapitel später). Dazu Barkhoff: Tag- und Nachseiten (wie Anm. 2), v. a. S. 93—95 (insbes. an Ottilies Somnambulismus expliziert). Barkhoffs Leistung, die »Poetisierung als Verrätselung« nachzuweisen, hebt auch Monika Fick in ihrem Forschungsbericht hervor, vgl. Goethes Naturbegriff (wie Anm. 39). S. 65. Beide Zitate von Matt: Absolutismus der Liebe (wie Anm. 21), S. 301.
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Eine sozusagen sympathetische Verbindung besteht zwischen Ottilie im Wahlverwandtschaften-Roman und Makarie, der geheimnisvollsten Figur in Goethes Spätwerk Wilhelm Meisters Wanderjahre, finden sich doch in Makarie und der ihr zugeordneten terrestrischen Frau Eigenschaften von Ottilie variiert und radikalisiert. Beide sind »Schnittpunkt[e] von Sympathien und Verwandtschaften«44 innerhalb der großen und kleinen Natur: Wird Ottilie vielfach als ein himmlisches Wesen empfunden 45 und heißt es über sie »Wer sie erblickt, den kann nichts übles anwehen; er fühlt sich mit sich selbst und mit der Welt in Übereinstimmung.« (FA I, 8, S. 313) - so über Makarie: »[...] alle fühlten die Gegenwart eines höheren Wesens, und doch blieb in solcher Gegenwart einem jeden die Freiheit ganz in seiner eigenen Natur zu erscheinen.« (FA I, 10, S. 732) In der Dimension ihres rätselhaften Naturverhältnisses, der in ihnen verkörperten und an ihnen sich manifestierenden MakrokosmosMikrokosmos-Beziehungen — als Teil dieses größeren Komplexes nehmen Ottilie und Makarie eine bedeutsame Sonderposition ein; allerdings dürfen die beiden Figuren dabei nicht ontologisiert werden. 46 Die Differenz dieser Betrachtungsebenen kann ein Detail in den Wanderjahren zeigen: Als Wilhelm Makarie, von der er schon viel Geheimnisvolles und Außerordentliches gehört hatte, persönlich kennenlernt, heißt es: »[...] ein grüner Vorhang zog sich auf, und eine ältliche wunderwürdige Dame ward auf einem Lehnsessel von zwei jungen hübschen Mädchen hereingeschoben [...].« (FA 1,10, S. 379) Dass Makarie von Helferinnen hereingebracht werden muss, hängt mit ihrer körperlichen Gebrechlichkeit zusammen. Diese kontrastiert ihrem »in blühender Gesundheit« (FA I, 10, S. 325) erstrahlenden Geist, wie Wilhelm vorher schon erfahren hat. In Wilhelms Traum hingegen bewegt sich der Sessel Makaries »von selbst wie ein belebtes Wesen« hervor (FA I, io, S. 386). Diese Variation ist bedeutsam. In Wilhelms Makarientraum, in welchem sie als »heilige Gestalt« (FA I, 10, S. 386), als aus hermetischem Schrifttum bekannte Philosophia/Alchimia-Figur »im apotheotisch erhöhten Triumphsessel«47 erscheint und zugleich schließlich
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Holtermann: >Thierischer Magnetismus« (wie Anm. 7), S. 191 in Bezug auf Ottilie. Vgl. FA I, 8, S. 322, 406, 438, 501, 505, 509, 522, 523, 529. Zur Deutung von Ottilies zunehmender Annäherung an eine christliche Heilige vgl. von Matt'. Absolutismus der Liebe (wie Anm. 21), S. 300-303. Dieser Hinweis, nur in Bezug auf Makarie, bei Ulrich Stadler. Der technisierte Blick. Optische Instrumente und der Status von Literatur. Ein kulturhistorisches Kompendium, Würzburg 2003, S. 241. Vgl. dazu Diethelm Brüggemann: Makarie und Mercurius, Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre als hermetischer Roman, Bern 1999, S. 41-65, hier S. 57.
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mit dem Morgenstern identisch wird, 48 ist selbst ihre Ankunft vor Wilhelm merkwürdig entrückt und vergeistigt und steht nicht mehr im Zeichen ihrer körperlichen Kränklichkeit, sondern des bedeutsamen größeren Zusammenhangs, in dem sie als ätherisches, in den kosmischen Wirkungszusammenhang verwobenes Wesen steht. Entscheidender als diesbezügliche Parallelitäten zwischen Ottilie und Makarie ist jedoch die Differenz, die sich allein schon aus der unterschiedlichen ästhetischen Darbietungsform der beiden Werke insgesamt und präziser aus der ganz verschiedenen Verankerung Ottilies und Makaries in die jeweilige Romanstruktur ergibt. Barkhoffhat daraufhingewiesen, dass die Bindung von Ottilies Naturaffinität ans Pathologische in der Seherin Makarie bedeutsam relativiert wird; Makaries Somnambulismus ist gerade in seiner übers Organische hinausführenden Dimension expliziter ausgeführt und dennoch insgesamt nüchterner dargestellt; er ist zwar höchst rätselhaft, aber nicht abgründig.49 In einer »ätherische[n] Dichtung«, wie das Makarien-Kapitel im Roman selbst ja bezeichnet wird, können vormoderne naturphilosophische Wissensformen im Zeitalter veränderter wissenschaftstheoretischer Prämissen zu einer ihnen adäquaten Darstellung kommen. 50 Auf diesen Komplex kann hier nur verwiesen werden.
Der magnetische Schlüssel in den »Wanderjahren« Im Kontext magnetisch-sympathetischer Kräfte soll der Blick auf einen anderen wichtigen Komplex der Wanderjahre gerichtet werden, nämlich auf das rätselhafte Kästchen und den geheimnisvollen Schlüssel. In ihrem letzten Brief an Wilhelm legt Hersilie Bekenntnis ab von der verwirrlichen Begegnung mit Felix und dem abgebrochenen Schlüssel, als Felix das Kästchen öffnen wollte. Im Anschluss daran schreibt Hersilie:
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Zu ähnlichen Sternversetzungsvorstellungen in quietistischen Kreisen, mit denen der junge Goethe in Verbindung gestanden hatte, vgl. Hans-Jürgen Schräder: Madame Guyon, Pietismus und deutschsprachige Literatur. In: Jansenismus, Quietismus, Pietismus. Hg. von Hartmut Lehmann, Hans-Jürgen Schräder und Heinz Schilling, Göttingen 2002, S. 189-225, hier S. 22of. Barkhoff'. Tag- und Nachtseiten (wie Anm. 2), S. 97. Auf die Pathologisierung von Ottilies naturhaftem Wesen hat Holtermann auch schon hingewiesen, vgl. >Thierischer Magnetismus< (wie Anm. 7), S. 194. Vgl. Barkhoff·. Tag- und Nachtseiten (wie Anm. 2), S. 99f. Dort sind solche Gehalte dem fragmentierenden Verfahren aufgeklärter Wissenschaft und zugleich der Willkür romantischen Systemdenkens entzogen (vgl. ebd. S. 84). Einflussreich in der populären romantischen Naturphilosophie waren Schuberts Ansichten von der Nachtseiten der Naturwissenschaft, denen Goethe skeptisch gegenüberstand (vgl. WA III, 3, S. 408; FA II, 6, S. 428). Weitere Belege bei
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Diese Bekenntnisse lagen eine Zeitlang bei mir, nun tritt ein sonderbarer Umstand ein den ich melden muß, der obiges aufklärt und verdüstert. Ein alter dem Oheim sehr werter Goldschmied und Juwelenhändler trifft ein, zeigt seltsame antiquarische Schätze vor; ich werde veranlaßt das Kästchen zu bringen, er betrachtet den abgebrochenen Schlüssel und zeigt, was man bisher übersehen hatte, daß der Bruch nicht rauh, sondern glatt sei. D u r c h Berührung fassen die beiden Enden einander an, er zieht den Schlüssel ergänzt heraus, sie sind magnetisch verbunden, halten einander fest aber schließen nur dem Eingeweihten. Der Mann tritt in einige Entfernung, das Kästchen springt auf, das er gleich wieder zudrückt: an solche Geheimnisse sei nicht gut rühren, meinte er. [FA I, 10, S. 743]
In Hersilies Bestimmung des im Folgenden erzählten merkwürdigen Umstands als einer, »der obiges aufklärt und verdüstert«, kann man die bekanntlich für Goethe bedeutsame Formel des »offenbaren Geheimnisses« anklingen hören.51 Zugleich wurde das Kästchen selbst als eine »Art verdinglichtes offenbares Geheimnis«< (FA I, 10, S. 1100) bestimmt. Was sich darin befindet, erfahren wir auch hier nicht, da der »Goldschmied und Juwelenhändler« es gleich wieder zudrückt. Und auch der Kunstgriff, den er zum Offnen des Kästchens anwendet, bleibt in der Beschreibung merkwürdig geheimnisvoll. Sicher ist, dass allein der Goldschmied als Eingeweihter das diesbezügliche Geheimwissen und die Geheimpraxis besitzt. Bei genauer Betrachtung des einen Schlüsselteils erkennt er, »was man bisher übersehen hatte, daß der Bruch nicht rauh, sondern glatt sei«. Denkbar ist, dass der Schlüssel durch die Berührung des Goldschmieds, dem als Eingeweihtem mediale Fähigkeiten zukommen, magnetisiert wird, so dass die sonst getrennten Teile schließkräftig zusammenfinden und sich ergänzt herausziehen lassen. Zugleich scheint der Goldschmied eine Art von actio in distans ins Werk zu setzen, wenn er, nachdem es ihm gelungen ist, den Schlüssel ergänzt herauszuziehen, in einige Entfernung tritt, und das Kästchen erst dann aufspringt. Denkbar ist, dass die Schließvorrichtung - wie bei manchen Schlössern üblich - nicht durch Umdrehen, sondern durch Herausziehen des Schlüssels bzw. hier der magnetisch verbundenen Schlüsselenden entsperrt wird und infolgedessen durch Anwendung einer zweiten geheimen Technik zum Aufspringen gebracht werden kann. Wie gesagt: Die genaue Funktionsweise
Holtermann: »Thierischer Magnetismus- (wie Anm. 7), S. 184, Barkhoff: Tag- und Nachtseiten, (wie Anm. 2) S. 78 und 83, Christian Lepinte·. Goethe et l'occultisme, Paris 1957, S. 123—126. Vgl. Goethes berühmt gewordene Kennzeichnung der Wahlverwandtschaften als ein »offenbare[s] Geheimnis« (an Zelter, 1. 6. 1809, FA, II, 6, S. 459). Ursprünglich waren Die Wahlverwandtschaften ja auch als eingeschobene Novelle innerhalb der Wandeήahre konzipiert. Vgl. auch Marlis Helene Mehra·. Die Bedeutung der Formel »Offenbares Geheimnis« in Goethes Spätwerk, Stuttgart 1982.
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dieses Kunstgriffs ist in charakteristischer Weise verschleiert. Dies muss so sein, verrät ein Magier doch selten seine geheimen Praktiken. Allein der eingeweihte Goldschmied kennt sich in der Funktionsweise des geheimnisvollen zweiteiligen Schlüssels aus, die Zugang zum Kästchen verschafft, ob man ihm nun eigene mediale Fähigkeiten, die dabei zum Einsatz kommen können, zugesteht oder auch nicht, während Hersilie noch nach der seltsamen Episode und aufs Höchste verwirrt vom »Schlüssel der nicht schließt« (FA I, 10, S. 743) spricht. Die Szene charakterisiert als Ganze die Beziehung zwischen Hersilie und Felix. Sie beschreibt ein Spiel von Hingeben und Entziehen, das gleichermaßen das Kästchen wie seine Besitzer selbst betrifft und zum abgebrochenen Schlüssel auf der einen wie zum heftigem Küssewechseln auf der anderen Seite führt. Hersilie reißt sich schließlich los, »die Kluft die uns trennt erschien mir nur zu deutlich« (FA I, 10, S. 742). Wie sie das Kästchen zwar besitzen, scheinen sie auch einander zu besitzen, aber sie können es nicht aufschließen und auch nicht in Liebe zusammen kommen.52 In der Kraft der Liebe liegt aber das Geheimnis. Dafür stehen die magnetisch verbundenen Schlüsselteile, wenn man die magnetische Kraft der Anziehung in Analogie zur Kraft der Liebe denkt. Diese Analogie hat Goethe in Gott, Gemüt und Welt von 1815 formuliert, jener Sammlung von Gedichten, die als Brücke zwischen Goethes Plan eines Naturgedichts in der Nachfolge von Lukrez' De rerum natura vom Jahrhundertende und dem späteren Ensemble von 1827 gelten kann:53 »Magnetes Geheimnis, erkläre mir das! II Kein größer Geheimnis, als Lieb' und Haß.« [FA I, 2, S. 381]54 Diethelm Brüggemann hat gezeigt, dass Goethe den Schlüssel als einzige in den Roman integrierte Abbildung nach dem Vorbild der Monas Hieroglyphica des John Dee gebildet hat, einem einflussreichen Werk der hermetischen Literatur.55 Bezieht man die Tatsache der zwei magnetisch verbundenen Schlüsselteile auf Brüggemanns Lesart des Schlüssels als eines Ganzheitssymbols, als eines Symbols
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Ähnlich Brüggemann: Makarie und Mercurius (wie Anm. 47), S. 86. Vgl. Kilcher: Ästhetik des Magnets (wie Anm. 4), S. 490-493. Kilcher bezieht auch das 1781 von Goethe erstmals erwähnte Weltall-Projekt ein. Dies ist eine verbreitete Denkfigur; z.B. denkt auch Herder die Grundkräfte von Anziehung und Abstoßung in Analogie zu Liebe und Hass bei den irdischen Geschöpfen. Vgl. Kemper·. Herders Konzept einer Mythopoesie (wie Anm. 8), S. 58. Es ist bisher nicht erwiesen, ob Goethe Dees Schrift in der lateinischen Originalausgabe oder allenfalls in einer Übersetzung gekannt hat. Sicher ist, dass Goethe Dees Monas-Zeichnung bei weiteren Autoren der hermetischen Tradition finden konnte, z.B. in der Chymischen Hochzeit Christiani Rosencreutz von 1616 des Johann Valentin Andreae, die Goethe nachweislich gekannt hat. Dazu Brüggemann·. Makarie und Mercurius (wie Anm. 47), S. 41.
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der Gott-Natur, 56 so symbolisiert die magnetische jene Kraft, die diese All-Einheit, diese göttlich durchwirkte Natur im Innersten zusammenhält. Hier verzahnen sich wiederum am Phänomen des Magnetismus vormodernes Erbe und moderne Naturwissenschaft. Die Entdeckung der Elektrizität wie auch gleichzeitig der magnetischen und galvanischen Phänomene im Verlauf des 18. Jahrhunderts führte zu einer neuen Anschauung von der Gegenwart der göttlichen Kraft im Kosmos. Schon in der mittelalterlichen Mystik und auch in Emblembüchern der frühen Neuzeit galt der Magnet als Symbol Gottes, als Zeichen der rätselhaften Anziehungskraft der göttlichen Liebe. In Magnetismus und Elektrizität als sinnfälliger Manifestation der alles durchdringenden göttlichen Kraft zeigt sich eine Verschiebung und Entpersönlichung der Gottesvorstellung, die auch die pansophische Naturtheologie kennzeichnet. 57 Die magnetisch verbundenen Schlüsselenden ermöglichen zwei einander keineswegs ausschließende Nuancierungen. D i e erste akzentuiert den Bruch der beiden Schlüsselteile. Die magnetische Kraft - und analog dazu die Kraft der Liebe - ist dann eine reparierende Kraft, und zwar jenes Bruches, der seit dem Sündenfall durch alles Geschaffene hindurch geht. Felix und Hersilie, die beiden Figuren, die in den Wandetjahren am engsten auf das geheimnisvolle Kästchen und den Schlüssel bezogen sind, können aber nicht in dieser allein heilenden Liebe zueinander kommen. Z u verweisen ist auf die Episode ihrer ersten Begegnung, als Hersilie Felix einen Apfel reicht, dieser sich aber beim Schälen verletzt, weil er sie unverwandt ansieht. Hersilie pflegt die Wunde, dabei »hatte der Knabe sie angefaßt und wollte sie nicht loslassen« (FA I, 10, S. 310). Die hier in der paradiesischen Szenerie hervorbrechende Erotik ist aber der alldurchwirkenden, gleichsam göttlichen Liebe nicht identisch. 58 Akzentuiert man ausgehend von der glatten, nicht rauen Bruchstelle den aus zwei formvollendeten Teilen bestehenden Schlüssel, was immerhin mit einiger Unwahrscheinlichkeit zufällig zustande kommt, so symbolisiert die magnetische Kraft (und analog
56
Was Brüggemann im Kontext von Wilhelms Besuch beim alten alchimistischen Sammler, bei dem er dann das Kästchen hinterlässt, ausfuhrt (Wanderjahre, 1. Buch, 12. Kapitel), vgl. Makarie und Mercurius (wie Anm. 47), S. 117.
57
Vgl. Ernst Benz: Theologie der Elektrizität (wie Anm. 4), S. 5-14. Vgl. auch das Emblem »Magnet, der ein Herz an sich zieht« als Zeichen für die Gnade Gottes (»Comme le fer s'esseue par l'aymant, / L'homme est de Dieu par Christ tire aussi. [...]« aus dem Emblem-Buch von Georgia Montanea (Georgette de Montenay), Lyon 1571). Abgedruckt in Arthur Henkel und Albrecht Schöne (Hg.): Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des X V I . und X V I I . Jahrhunderts, Stuttgart 1967, S. ftlf. Vgl. auch die Magnet-Embleme in Johann Arndt: Vier Bücher vom wahren Christentum.
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Vgl. dazu Brüggemann: Makarie und Mercurius (wie Anm. 47), S. 69-70 und S. 86.
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dazu die Liebe) nicht primär eine reparierende, einen Bruch heilende Kraft, sondern die verborgene einheitstiftende Kraft in der Gott-Natur. Die Vision des Kosmos als eines dynamischen, organischen und göttlichen Ganzen scheint auf, in dem jeder Teil mit dem anderen verbunden ist. Für einen Augenblick nur, denn dies als Generalaussage anzunehmen, verbietet das Formprinzip des Romans, wie die hermetische Dimension des Schlüssels nur eine unter anderen und eben nicht der Generalschlüssel zur Deutung des Romans ist, ja die Suche nach einem solchen Schlüssel überhaupt verfehlt erscheint. Die pädagogische Dimension des Romans benennt es als menschliche Aufgabe, nach einem solchen dynamischen kosmischen Zusammenhang zu suchen. Doch bleibt dies im Romangeschehen vielfach ungelebt und unerfüllt. Felix und Hersilie können jedenfalls nicht zueinander kommen.
Schlussbemerkung Bei der Spurensuche nach magnetisch-sympathetischen Reflexen in Goethes dichterischen Werken aus verschiedenen Schaffensperioden wurden sehr unterschiedliche Aspekte angesprochen. Ein wichtiges Moment war die als »Naturnotwendigkeit« (Die Wahlverwandtschaften, FA I, 8, S. 304) inszenierte Anziehungskraft zwischen zwei Menschen, wie es Werthers ins Bild des Eisen anziehenden Magnetbergs gefasste Attraktion zu Lotte sowie die unausweichlich wirkende »fast magische Anziehungskraft« (FA I, 8, S. 516) zwischen Goethes berühmtem Liebespaar im Wahlverwandtschaften-Roman zeigt. Die Anziehung wird dabei nicht nur metaphorisch mit dem physikalischen Magnetismus parallelisiert, sondern in tatsächlicher Wesensverwandtschaft poetisch dargestellt. Die magnetische Bindung zwischen den Liebenden muss als eingebunden in den kosmischen Wirkungszusammenhang erkannt werden. Dies findet sich im Roman dargestellt, aber in keiner Weise erklärt. Die Unmöglichkeit logisch-argumentativer Erklärbarkeit kennzeichnet ja genau den Magneten als Urphänomen, wie sie Goethes einleitend zitierte Definition formuliert.59 Hinsichtlich des ebenfalls in der Einleitung skizzierten Komplexes der magnetischen Kraft als Imponderabilie die viele zeitgenössische Theoretiker einschließlich Goethes im Zeichen des all-verbindenden universalen Lebensprinzips fasziniert - , lässt sich sagen: Auf seinem poetischen Experimentierfeld führt Goethe keineswegs vor, wie eine naturphilosophisch-spekulative Vision des harmonischen All-Zusammenhangs,
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Ähnlich von Matt: Absolutismus der Liebe (wie Anm. 21), S. 299.
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des im Medium der einheitstiftenden magnetisch-sympathetischen Kraft verbundenen Kosmos zur Erfüllung kommt, indem im Spiel von Sympathien und Antipathien alles Kreatürliche den ihm adäquaten Platz einnimmt. Es geschieht keine Idyllisierung solcher verborgenen Naturkräfte. Goethes poetische Konstellationen tun vielmehr ein Spannungsfeld auf. W o die magnetische Kraft mit naturgesetzlich-absoluter Notwendigkeit am W e r k ist, sind die Willensfreiheit des Subjekts und die von ihm aufgebaute Ordnung gefährdet. In der magnetischen Bindung zwischen Ottilie und Eduard sind Bewusstsein und Wille gänzlich aufgehoben. W o der magnetische Zwang wirkt, ist alles andere belanglos. Das Märchen vom Magnetberg vermag auch dies in aller Drastik zu veranschaulichen: Als die zum Zusammenhalt des Schiffes verwendeten Eisenteile mit gewaltsamer Zwingkraft dem Magnetberg zufliegen, stürzt das Schiff in sich zusammen, und die Menschen darauf gehen zugrunde. Kein harmonischer Wirkungszusammenhang wird uns vor Augen geführt, ein Spannungsfeld vielmehr, das es auszuhalten gilt.
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»Freudig trete herein und froh entferne dich wieder!« Uber Goethes Wahrnehmung von zyklischer Zeit
I. Gaudeat Ingrediens, laetetur et aede recedens, His qui praeter eunt det bona cuncta Deus, 1608.
Diese lateinische Inschrift findet sich als Hausspruch über der Eingangstür des Renaissance-Schlösschens von Dornburg, wo Goethe nach dem Tod (14.6.1828) seines Landesherrn, des Großherzogs Carl August die Sommermonate des Jahres 1828 verbracht hat. Dornburg ist ihm eine Art Fluchtresidenz. Einem freundschaftlichen Anerbieten der verwitweten Großherzogin Luise folgend, zieht er sich hierher zurück, um, wie er am 10. Juli 1828 an seinen Freund Zelter schreibt, den »düstern Funktionen« der auf den 9. Juli angesetzten offiziellen Trauerfeier und den mit dem Todesfall verbundenen, weitreichenden gesellschaftlichen Verpflichtungen zu entgehen;1 mehr wohl noch, um einen Weg aus der schweren Niedergeschlagenheit und der tiefen Erschütterung zu finden, die ihn nach dem Tode Carl Augusts nahezu sprachlos machen: Mit Carl August, der ihn 1775 nach Weimar berufen hatte, der ihn kurz darauf zum Minister ernannte und der ihn auch später mit verschiedenen Amtern und Aufgaben betraute und ihm andererseits immer wieder ungewöhnlich große Freiheiten einräumte, hat ihn während mehr als 50 Jahren eine zwar nicht immer unproblematische, aber immer enge und respektvolle Freundschaft verbunden. Es ist freilich nicht nur der Schmerz über den Tod des Freundes, den Goethe zu bewältigen hat; unausweichlich ist die Konfrontation mit der Begrenztheit des eigenen Lebens, die sich dem 79-jährigen, der die meisten seiner früheren Freunde längst verloren hat, nun mit besonderer Härte manifestiert.
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Johannes Anderegg
M i t der Übersetzung des lateinischen Hausspruchs: Freudig trete herein und froh entferne dich wieder! Ziehst du als Wandrer vorbei, segne die Pfade dir Gott. beginnt Goethe kurz nach seiner A n k u n f t in Dornburg einen Brief, 2 den er an den Sohn und Nachfolger Carl Augusts, Großherzog Carl Friedrich, und an dessen Gattin, die Zarentochter Maria Pawlowna, richtet, den er allerdings, der für diesen Fall maßgebenden Etikette folgend und Respekt bezeugend, an deren Kammerherrn, August von Beulwitz, adressiert. 3 Goethes Ubersetzung der Inschrift ist recht frei. Insbesondere ersetzt er die gewissermaßen neutrale, distanzierende dritte Person Singular (gaudeat, laetetur - man freue sich, es freue sich) durch eine direkte, Imperativische bzw. adhortative Anrede, sodass die Inschrift nicht so sehr einem (Glück-)Wunsch als vielmehr einer Aufforderung Ausdruck gibt. Der Brief steht, wie nicht anders zu erwarten, in engstem Zusammenhang mit dem T o d Carl Augusts. Allerdings handelt es sich nicht eigentlich, wie man vermuten könnte, um ein Kondolenzschreiben, denn es haben umgekehrt Carl Friedrich und Maria Pawlowna bereits einige Wochen früher Goethe ihrer Anteilnahme - ebenfalls über August von Beulwitz - versichert. Sich dafür zu bedanken, Carl Augusts zu gedenken und die Anteilnahme zu erwidern, ist also unmittelbarer Anlass des Briefs. A u f Carl August bezieht Goethe denn auch gleich zu Beginn die eingangs zitierte Inschrift: Ein so »einladend-segnendes Motto« hätte der Wahlspruch Carl Augusts sein können, da dieser »jederzeit mehr für die Kommenden, Scheidenden und Vorüberwandelnden besorgt« gewesen sei als für sich selbst (S. 15, Z . 28-34). Überdies aber ist es das erste Schreiben, das Goethe an Carl Friedrich richtet, seitdem dieser die Regierungsverantwortung für das Großherzogtum SachsenWeimar-Eisenach übernommen hat. Als in die Verantwortung Eintretende haben die Adressaten des Briefs das eingangs zitierte »Gaudeat Ingrediens« / »Freudig trete herein« zweifellos auch auf sich bezogen, zumal Carl Friedrich im Verlauf des Briefs explizit als »Eintretende[r]« (S. 18, Z . 36) angesprochen wird.
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3
FA II, 11, S. 15-19. Darauf beziehen sich im Folgenden die den Briefzitaten unmittelbar nachgestellten Seiten- und Zeilenangaben. Ausführlicheres zum Kontext s. Johannes Anderegg: Schreibe mir oft: Zum Medium Brief zwischen 1750 bis 1830, Göttingen 2001.
»Freudig trete herein und froh entferne dich wieder!«
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11. Nach der einleitenden Würdigung von Carl August und nach wenigen Hinweisen auf seine eigene Befindlichkeit - von den »traurigsten Tagen« (S. 15, Z. 17) und von der »traurige[n] Stimmung dieser Stunden« (S. 16, Z . 8) ist die Rede - beschreibt Goethe im Folgenden ausfuhrlich und mindestens partiell sehr genau die Schlossund Gartenanlagen und die Landschaft um Dornburg, wie er diese auf seinem vorsichtig unternommenen Spaziergang wahrgenommen habe. A u c h wenn ihm Gartenanlagen und Landschaftsgestaltung Spiegel sind für Carl Augusts unermüdlich-gestaltenden Willen, 4 ist die Ausführlichkeit dieser Beschreibung erstaunlich, sind doch den Empfängern des Briefs sowohl die Inschrift als auch die Schlossanlagen, die umgebenden Gärten und die darum herum sich erstreckende Landschaft von vielen (Sommer-)Aufenthalten in Dornburg längst und gut bekannt. Erstaunlich ist auch die im gegebenen Zusammenhang fast schon deplatziert anmutende Wortwahl. Nicht nur beginnt Goethe seinen Gedenkbrief mit einem »Gaudeat«, es ist auch im Folgenden mehrfach die Rede von »ergötzen« (S. 17, Z . 6), von »Behagen« (S. 17, Z. 16), »Wohlwollen« (S. 15, Z. 23) und von »Genuss« (S. 16, Z. 25; S. 17, Z. 2); seinen Aufenthaltsort nennt er einen »Lustort« (S. 16, Z. 13), und immer wieder kommt die blühende und grünende Natur in den Blick. Ein Beispiel: A u f diesem W e g e nun hatte ich zu bewundern, wie die bedeutenden Zwischenräume, einer steil abgestuften Lage gemäß, durch Terrassengänge zu einer A r t v o n auf- u n d absteigenden Labyrinthe architektonisch auf das schicklichste verschränkt w o r d e n , indessen ich zugleich die sämtlichen über einander zurückweichenden Lokalitäten auf das vollkommenste grünen u n d blühen sah. Weithingestreckte, der belebenden S o n n e zugewendete, hinabwärtsgepflanzte, t i e f g r ü n e n d e W e i n h ü g e l . A u f w ä r t s an Mauergeländern üppige Reben, reich an reifenden, G e n u ß zusagenden Traubenbüscheln; hoch an Spalieren sodann eine sorgsam gepflegte, sonst ausländische Pflanzenart, das A u g e nächstens mit hochfarbigen, an leichtem Gezweige herabspielenden G l o c k e n zu ergötzen versprechend. Ferner v o l l k o m m e n geschlossen-gewölbte Laubwege, einige in dem lebhaftesten Flor durchaus blühender Rosen höchlich reizend geschmückt; Blumenbeete zwischen Gesträuch aller Art. [S. 16, Z . 3 0 - S . 17, Z . 9]
Das ist nicht der Ton, den man in Zusammenhang mit einem Trauerfall erwartet, und auch nicht der T o n , der, konventionell gesehen, einer Begrüßung im Amt und Glückwünschen für das A m t angemessen wäre. Freilich ändert sich die Ausdrucksweise in den mittleren Abschnitten abrupt und deutlich. Mit Bezug auf das eben Beschriebene fährt Goethe fort: Vgl. dazu Albrecht Schöne: Regenbogen auf schwarz-grauem Grund. Goethes Dornburger Brief an Zelter zum Tod des Großherzogs, Göttingen 1979 (Göttinger Universitätsrede 65), sowie Anderegg: Schreibe mir oft! (wie Anm. 3).
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Johannes Anderegg Konnte mir aber ein erwünschteres Symbol geboten werden? deutlicher anzeigend wie V o r f a h r und Nachfolger, einen edlen Besitz gemeinschaftlich festhaltend, pflegend und genießend, sich von Geschlecht zu Geschlecht ein anständig-bequemes Wohlbefinden emsig vorbereitend, eine für alle Zeiten ruhige Folge bestätigten Daseins und genießenden Behagens einleiten und sichern? [S. 17, Z . 1 0 - 1 6 ]
Indem Goethe die so erfreuliche Garten- und Landschaftsanlage als das Resultat eines über viele Generationen hinweg glücklich gelungenen Zusammenspiels von »Vorfahr und Nachfolger« versteht, wird der Brief hier zu einer allerdings mit größter Zurückhaltung vorgetragenen Mahnung, es möge das nun in die Verantwortung eintretende neue Herrscherpaar, den Zyklus von »Vorfahr und Nachfolger« weiterführend, für sich und fiir die ihnen Anvertrauten das »Dasein« und das »Behagen« sichern. Insofern Carl Friedrich und Maria Pawlowna sich als verantwortlicher Teil der Generationenfolge begreifen und danach handeln, dürfen sie - so die angedeutete Perspektive - nicht nur das »Gaudeat Ingrediens«, sondern auch eines fernen Tages das »laetetur [...] recedens« auf sich beziehen.
III. Im Folgenden wird allerdings deutlich, dass es Goethe nicht nur um Wunsch und Glückwunsch geht und dass er sich nicht primär in der Rolle des mahnenden Erziehers sieht (sie wäre allerdings keineswegs abwegig, denn insofern es um die Erziehung von Carl Friedrich ging, war Goethe während Jahren ein enger Freund und Berater von dessen Mutter, der Großherzogin Luise) und auch nicht in dieser Rolle gesehen werden will, dass er hier vielmehr - verklausuliert und für Außenstehende nicht augenfällig, fiir Freunde aber durchaus verständlich und erstaunlich ungeschützt — von dem spricht, was ihn selbst betrifft und betroffen macht, von der Begrenztheit auch seines Lebens, von der Todesnähe. Kein Zweifel, dass er sich das »recedens« zuordnet, und dass es ihm wesentlich darum geht, inwiefern auch der, der geht, der Abtretende, »froh« sein soll. Noch immer mit Blick auf die wohl geordnete Landschaft, die ihm zum Bild wird für das verantwortliche Handeln einer ganzen Generationenfolge, fährt er fort: Dieses mußte mir also zu einer eigenen Tröstung gereichen, welche nicht aus Belehrung und Gründen hervorging; hier sprach vielmehr der Gegenstand selbst das alles aus was ein bekümmertes Gemüt so gern vernehmen mag: die vernünftige Welt sei von Geschlecht zu Geschlecht auf ein folgereiches T u n entschieden angewiesen. W o nun der menschliche Geist diesen hohen ewigen Grundsatz in der Anwendung gewahr wird, so fühlt er sich auf seine Bestimmung zurückgeführt und ermutigt, wenn er auch zugleich gestehen wird: daß er eben in der Gliederung dieser Folge, selbst anund abtretend, so Freude als Schmerz wie in dem Wechsel der Jahreszeiten so in dem Menschenleben, an andern wie an sich selbst zu erwarten habe. [S. 17, Z. 17—29]
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Ihm selbst wird die in der wohlbestellten Landschaft sich manifestierende Generationenfolge zum »Symbol«, ihm selbst wird zur »Tröstung«, dass die Welt von »Geschlecht zu Geschlecht« auf ein folgereiches Tun [...] angewiesen« sei: Ermutigt fiihle sich dadurch der menschliche Geist - Goethe vermeidet hier den unmittelbaren Ich-Bezug obwohl die Wahrnehmung der Generationenfolge, die er mit der jahreszeitlichen Zyklik vergleicht, und obwohl das Gewahrwerden des Wechsels von Eintreten und Abtreten, mit Freude und Schmerz verbunden sei, und zwar in Bezug auf andere wie auch auf sich selbst. Die eben zitierten beiden Abschnitte, ziemlich genau in der Mitte des Briefs, zeichnen sich, entsprechend ihrer Reflexivität, durch völlig veränderte Wortwahl und Syntax aus; sie sind derart kompliziert und komprimiert gebaut, dass man den Eindruck gewinnt, es werde hier nicht nur Wesentliches gesagt, sondern auch Wesentliches verhüllt; oder anders: es liege hier ein Schlüssel zum Verständnis, den Unkundige nicht zu entdecken vermögen, der den Kundigen aber helfen könnte zu verstehen, inwiefern die Einsicht in die Notwendigkeit der Geschlechterfolge - in der sich der alte Goethe doch als ein Scheidender begreifen muss - als Tröstung erfahren werden kann.
IV. Die von Goethe Angesprochenen, insbesondere wohl Maria Pawlowna, mit Goethe seit Jahren freundschaftlich verbunden, gehörten gewiss zu den Kundigen. Sie werden die wiederholte Nennung von »Vorfahr und Nachfolger« und die geradezu penetrante Wiederholung der Formel »von Geschlecht zu Geschlecht« nicht nur als Hinweis auf ihre eigene Verpflichtung verstanden haben, sondern auch als Verweis auf einen Begleittext, der, wiewohl nicht explizit genannt, mitgelesen werden soll: als Verweis auf jenen großen Text in der jüdischchristlichen Tradition, der den Gedanken der Geschlechterfolge zur Basis seiner Aussagen macht Ein Geschlecht geht, und ein Geschlecht kommt, und die Erde bleibt ewig bestehen [...] [1.4]5
—, das Buch Prediger Salome im Alten Testament, auch benannt nach dem, der sich im Text als Autor vorstellt, Kohelet.6 Eine Verbindung von Goethes Brief 5
6
Hier und im Folgenden wird Kohelet zitiert nach der neuen Fassung der Zürcher Bibel: Das Buch Hiob. Das Buch Kohelet. Das Hohe Lied. (Fassung 1998), Zürich 1998. Zur Geschichte und Interpretation von Kohelet siehe insbesondere Thomas Krüger: Kohelet
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mit dem Buch Kohelet ist freilich nicht nur durch das Thema Geschlechterfolge gegeben. Als Begleittext drängt sich das Buch Kohelet auf, weil der Autor — die Situation Goethes gewissermaßen vorwegnehmend oder spiegelnd - von der unausweichlichen Erfahrung von Vergänglichkeit ausgeht und nach dem sucht, was der Mensch ihr entgegenzusetzen hat. Mit einer radikalen Vergänglichkeitsklage beginnt das Buch Kohelet Nichtig und flüchtig, sprach Kohelet, nichtig und flüchtig, alles ist nichtig. [1.2]
In der Lutherschen Ubersetzung - für Goethe und seine Freunde zweifellos die übliche — lautet der Vers, der mehrfach wiederholt und nur leicht variiert als ständige Herausforderung den Text durchsetzt: Es ist alles gantz Eitel / sprach der Prediger / Es ist alles gantz eitel. 7
Der Vergänglichkeitserfahrung begegnet Kohelet nicht mit einem Erlösungsgedanken, und die Nichtigkeit diesseitigen Lebens wird ihm nicht erträglich im Glauben an ein ewig währendes Jenseits. Vielmehr steht er diesbezüglich kompromisslos zum Wissen des Nicht-Wissens: Alle gehen an ein und denselben Ort, aus dem Staub sind alle entstanden, und alle kehren zurück zum Staub. Wer weiß denn, ob der Lebensgeist des Menschen nach oben steigt und der Lebensgeist der Tiere hinab in die Erde? [3.2of.]
Auch verweigert Kohelet sich und seinen Lesern den Trostverweis auf Kind und Kindeskinder, auf ein Uberleben in der Erinnerung, wie man ihn im Alten Testament sonst häufig antrifft: An die Früheren erinnert man sich nicht, und an die Späteren, die kommen werden, auch an sie wird man sich nicht erinnern bei denen, die zuletzt sein werden. [1.11]
Kohelet redet den Schmerz über die Vergänglichkeit nicht weg, aber er bestimmt und begrenzt ihren Stellenwert, indem er sie als Teil dessen aufführt, was zum
7
(Prediger), Neukirchen-Vluyn 2000 (Biblischer Kommentar Altes Testament, Bd. XIX). Thomas Krüger und Edith Anna Kunz danke ich für mancherlei Hinweise in Zusammenhang mit Kohelet und mit der Kohelet-Rezeption. D. Martin Luther: Die gantze Heilige Schrifft Deudsch. Hg. von Hans Volz, Darmstadt 1972.
»Freudig trete herein und froh entferne dich wieder!«
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Leben gehört. Ins abendländische kulturelle Gedächtnis hat sich Kohelet denn auch vor allem mit jenen ersten Versen des 3. Kapitels eingeschrieben, die von beidem reden, davon, dass alles seinen Zeitpunkt habe und davon, dass allem seine Zeit(-spanne) gegeben sei. Für alles gibt es eine Stunde, und Zeit gibt es für jedes Vorhaben unter dem Himmel: Zeit zum Gebären und Zeit zum Sterben, Zeit zum Pflanzen und Zeit zum Ausreissen des Gepflanzten, Zeit zum Töten und Zeit zum Heilen, Zeit zum Einreissen und Zeit zum Aufbauen, Zeit zum Weinen und Zeit zum Lachen, Zeit des Klagens und Zeit des Tanzens, Zeit, Steine zu werfen, und Zeit, Steine zu sammeln, Zeit, sich zu umarmen, und Zeit, sich aus der Umarmung zu lösen, Zeit zum Suchen und Zeit zum Verlieren, Zeit zum Bewahren und Zeit zum und Zeit zum und Zeit zum
Zeit zum Wegwerfen, Zerreissen Zeit zum Nähen, Schweigen Zeit zum Reden, Lieben
und Zeit zum Hassen, Zeit des Kriegs und Zeit des Friedens. [3.1-3.8]
Derart eingeordnet in den natürlichen und unausweichlichen Wechsel und alledem gleichgesetzt, was zum Leben gehört, verliert das »Sterben« seine Außergewöhnlichkeit. Nicht als Skandalon wird es wahrgenommen, sondern als das, was dem Werden, dem »Gebären«, notwendig zugeordnet ist. Die Vergänglichkeit gehört also unabdingbar zur zyklischen Verfasstheit der Erde bzw. des Irdischen, zu jener umfassenden Zyklik, die überhaupt erst Leben und Lebendigkeit ermöglicht, und eben deshalb muss das Leben für das Individuum begrenzt sein.
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Johannes Anderegg Ein Geschlecht geht, und ein Geschlecht kommt, und die Erde bleibt ewig bestehen. Und die Sonne geht auf, und die Sonne geht unter und strebt nach dem Ort, wo sie aufgeht. Es weht nach Süden und dreht nach Norden, dreht, dreht, weht, der Wind. Und weil er sich dreht, kommt er wieder, der Wind. Alle Flüsse fliessen zum Meer, und das Meer wird nicht voll. Z u m Ort, dahin die Flüsse fliessen, fliessen sie und fliessen. [1.4—1.7]
Dass die folgenden Verse Was einmal geschah wird wieder geschehen, und was einmal getan wurde, wieder getan, und nichts ist wirklich neu unter der Sonne [...] [1.9]
nicht im engen wörtlichen Sinn eine ewige Wiederkunft des Gleichen meinen, wie sie Heraklit und, näher an unserer Gegenwart, Nietzsche postuliert zu haben scheinen, hat schon Augustinus in seinem 12. Buch Vom Gottesstaat betont: vielmehr spreche Salomo »[...] von den kommenden und gehenden Menschengeschlechtern, dem Kreisen der Sonne und dem Lauf der Gewässer, oder überhaupt von allerart Dingen, die entstehen und vergehen. Denn es gab Menschen vor uns, gibt sie um uns und wird sie nach uns geben f...]«.8 Und so findet sich der Gedanke denn auch in Goethes Brief an von Beulwitz wieder: »so war es vor, so wird es nach sein [...]« (S. 18, Z. 24). Weil in diesem Sinne nichts »wirklich neu unter der Sonne« ist, das Leben aber als Leben nur wahrgenommen wird, insofern es mehr ist als Repetition, ist auch das Vergessen - so schmerzlich es sein mag, das eigene Vergessen-Werden zu bedenken - als ein Aspekt der allgemeinen Vergänglichkeit unabdingbare Lebensvoraussetzung. Indem Kohelet die Zyklik als Grundbedingung des Lebens erkennt, kommt er, trotz der schmerzlichen Erfahrung von Vergänglichkeit, zu seinem kraftvollen »gaudeat«, zur unbedingten Forderung, sich in Freude dem Hier und Jetzt zuzuwenden: So sah ich, dass es nichts Besseres gibt, als dass der Mensch sich freut bei seinem T u n , denn das ist sein Teil. [3.22]
Aurelius Augustinus·. Vom Gottesstaat. Bd. 2, Zürich 1955, S. 84.
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Sieh, was ich Gutes sah: Es ist schön, zu essen und zu trinken und Gutes zu geniessen für all die Mühe und Arbeit unter der Sonne in der ganzen Zeit seines Lebens, die Gott einem gegeben hat. Das steht einem jeden zu als sein Teil. [5.17] Es gibt für den Menschen nichts Gutes unter der Sonne ausser zu essen und zu trinken und sich zu freuen. Das kann ihn begleiten bei seiner M ü h e in der Zeit seines Lebens, die Gott ihm gegeben hat unter der Sonne. [8.15]
Und Kohelet schließt sein Buch mit der Mahnung, diese Aufforderung rechtzeitig ernst zu nehmen, denn einmalig ist die Chance des Lebens und begrenzt — rechtzeitig, nämlich [b]evor sich die Sonne verfinstert und das Licht und der M o n d und die Sterne, und die Wolken wiederkehren nach dem Regen. Wenn die Wächter des Hauses zittern und die starken Männer sich krümmen, die Müllerinnen ruhen, weil sie nur noch wenige sind, und dunkel werden, die aus den Fenstern schauen, die Türen zur Strasse hin geschlossen werden. Wenn das Geräusch der Mühle leise wird und hoch wie das Zwitschern der Vögel und alle Lieder still verklingen. Selbst vor einer Anhöhe furchtet man sich, und Schrecknisse sind auf dem Weg, und der Mandelbaum blüht, und die Heuschrecke wird schwer, und die Kaper bricht auf. Denn der Mensch geht in sein ewiges Haus, und durch die Strasse ziehen die Klagenden. Bevor der silberne Faden zerreisst und die goldene Schale zerspringt und der Krug an der Quelle zerschellt und das Schöpfrad zerbrochen in die Zisterne fällt und der Staub zurückkehrt zur Erde, wie es gewesen ist, und der Lebensgeist zurückkehrt zu Gott, der ihn gegeben hat. [12.2—12.7]'
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Zur ungewöhnlichen Bildlichkeit dieser Verse vgl. Krüger (wie Anm. 6), S. 349—359.
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v. Die Rezeptionsgeschichte von Kohelet zeigt freilich, dass er nicht immer so gelesen wurde, wie ihn Goethe und seine Freunde gelesen haben mögen. So bezieht sich beispielsweise Andreas Gryphius in einem seiner bekanntesten Gedichte zwar explizit auf Kohelet, er variiert aber nur dessen Vergänglichkeitsklage, ohne die lebensbejahende Gegenposition zu übernehmen. Aus der Sicht dessen, dem das Irdische nur das Hinfällig-Vergängliche ist und der, in christlicher Überzeugung, auf die Erlösung vom Diesseits hofft, schreibt er, gerade indem er ihn zum Kronzeugen macht, gegen Kohelet an. VANITAS, VANITATUM, ET OMNIA VANITAS. Es ist alles ganz eytel. Eccl. I. V. z. Ich seh' wohin ich seh / nur Eitelkeit auff Erden / Was dieser heute bawt / reist jener morgen ein / W o jtzt die Städte stehn so herrlich / hoch und fein / D a wird in kurtzem gehn ein Hirt mit seinen Herden: Was jtzt so prächtig blüht / wird bald zutretten werden: Der jtzt so pocht und trotzt / läßt übrig Asch und Bein / Nichts ist / daß auff der Welt könt unvergänglich seyn / Jtzt scheint des Glückes Sonn / bald donnerts mit beschwerden. Der Thaten Herrligkeit muß wie ein T r a u m vergehn: Solt denn die Wasserblaß / der leichte Mensch bestehn Ach! Was ist alles diß / was wir vor köstlich achten! Als schlechte Nichtigkeit? Als hew / staub / asch und wind? Als eine Wiesenblum / die man nicht widerfind. N o c h will / was ewig ist / kein einig Mensch betrachten! 10
Das gilt selbst und gerade dort, wo auch Gryphius die irdische Zyklik zum Thema macht. Sein zweites Sonettbuch - es ist in hohem Maße prägend für unser Bild der deutschsprachigen barocken Dichtung —, beginnt mit einer Gedichtreihe, die den Tagesverlauf nachvollzieht, aber dieser ist ihm nur Bild fur die alles bestimmende irdische Vergänglichkeit: Auch am Morgen ist seine Seele von »dicke[r] Nacht« umgeben und das Herz von »Schmertzen Finsternüß [...] betrübt«, die Hitze des Mittags »versehrt« Blumen und Feld, der Abend ist ihm erschreckendes Bild des bevorstehenden Endes —
Andreas Gryphius·. Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke, Bd. i, Sonette. Hg. von Marian Szyrocki, Tübingen 1963, S.
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Gleich wie diß licht verfiel / so wird in wenig Jahren Ich / du / vnd was man hat / vnd was man siht / hinfahren. Diß Leben kömmt mir vor alß eine renne bahn. —, u n d schließlich ist auch die D u n k e l h e i t der M i t t e r n a c h t nur O r t der Angst - nicht nur vor Mördern, sondern auch »vor deß erschrecklichen Gottes Gerichte«. 11
VI. V o n ganz anderer A r t u n d v o n anderem Stellenwert ist die E r f a h r u n g v o n Zyklik für den alten Goethe. Indem er den Blick nicht nur auf das Vergehen, sondern gleicherweise auf das Werden lenkt, erkennt und anerkennt er deren Zusammenhang: N u r weil es das Aufhören gibt, kann es ein Anfangen geben, das Eintreten-Können ist unabdingbar verbunden mit dem Abtreten-Müssen, und erst der zyklische Wechsel von Vergehen und Werden ermöglicht Leben und Lebendigkeit. Solche Einsicht ist für Goethe freilich nicht nur gedankliches Konstrukt, sondern unmittelbare Anschauung: In der Natur wird die das Leben ermöglichende Z y k l i k tröstend sichtbar. Das machen die folgenden Abschnitte des Briefs an von Beulwitz deutlich. N a c h den beiden schwierigen, aber zentralen Abschnitten in der Mitte des Briefs, kündigt Goethe an, dass er noch »einiges Unentbehrliche hinzuzufügen« (S. 17, Z . 32) habe. Was er dann aber folgen lässt, ist einmal mehr die Beschreibung der Landschaft, wie sie sich von Dornburg aus dem in die Weite gerichteten Blick darbietet — und wie sie den Empfängern des Briefs längst vertraut ist. Gerade deshalb werden diese verstanden haben und verstehen auch wir, dass Goethe hier keine im üblichen Sinn informative Beschreibung liefern will; entworfen w i r d vielmehr ein B i l d jener Z y k l i k , die als G r u n d b e d i n g u n g des Lebens erfahren werden kann. Schon im ersten Teil des Briefs wurde die Vorstellung von Wachstum evoziert; nicht nur von den blühenden Rosen war die Rede, sondern auch von Pflanzen, auf deren künftige Blüte man sich freuen dürfe, und von reifenden Reben, von denen Genuss zu erwarten sei. N u n , im zweiten Teil des Briefs beschreibt Goethe die Juli-Landschaft so, dass in ihr der ganze natürliche Lebenszyklus wahrgenommen werden kann, von der »Aussaat«, über die »Reife« zu »Ernte« und »Frucht«.
Gryphius (wie Anm. 10), S. 65-67.
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Ich sehe zu Dörfern versammelte ländliche Wohnsitze, durch Gartenbeete und Baumgruppen gesondert, einen Fluß, der sich vielfach durch Wiesen zieht, wo eben eine reichliche Heuernte die Emsigen beschäftigt; Wehr, Mühle, Brücke folgen aufeinander, die Wege verbinden sich auf- und absteigend. Gegenüber erstrecken sich Felder an wohlbebauten Hügeln bis an die steilen Waldungen hinan, bunt anzuschauen nach Verschiedenheit der Aussaat und des Reifegrades. Büsche, hie und da zerstreut, dort zu schattigen Räumen zusammengezogen. Reihenweis auch den heitersten Anblick gewährend seh ich große Anlagen von Fruchtbäumen; sodann aber, damit der Einbildungskraft ja nichts Wünschenswertes abgehe, mehr oder weniger aufsteigende, alljährlich neu angelegte Weinberge. [S. 17, Z . 37-S. 18, Z . 13]
Derart sich die Zyklik der Natur vergegenwärtigend, setzt Goethe dem Schmerz über das Vergehen, auch über das eigene Abtreten-Müssen die Freude über das Werdende entgegen, und er übertrifft damit sogar Kohelet: Während dieser sein Bekenntnis zum Leben um die mehrfach wiederholte Vergänglichkeitsklage gruppiert, hält Goethe sich in seinem Brief an das, was durch die Vergänglichkeit ermöglicht wird, an das Werden.
VII. Auffallend oft und mit besonderem Nachdruck, ja fast geheimnisvoll, ist in unserem Brief von Weinbergen und von Reben die Rede. Im ersten Teil hatte Goethe beispielsweise die »[w]eithingestreckte[n], der belebenden Sonne zugewendetefn] [...] tiefgrünende[n] Weinhügel« (S. 16, Z. 36-S. 17, Z. 1) erwähnt. Er hatte von den »üppige[n] Reben« geschrieben und von »Traubenbüscheln«, die Genuss zusagen würden (S. 17, Z. 1—3). Nun, im zweiten Teil des Briefs, schließt er seine Beschreibung der Landschaft, »damit der Einbildungskraft ja nichts Wünschenswertes abgehe«, wiederum mit einem Blick auf die »alljährlich neu angelegte[n] Weinberge«. Nicht weniger enthusiastisch äußert sich Goethe in Briefen an seinen Freund Zelter über Reben und Weinberge. So heißt es unter dem 10. Juli 1828: [...] die Traubengeländer sind reichlich behangen, und unter meinem Fenster sehe ich einen wohlgediehenen Weinberg [...] 12
Im Brief vom 26-/27. Juli berichtet er: »[...] die Traubengeländer hängen so voll daß man darüber zu erstaunen hat.«13 Und am 9. August versichert er: »Die Weinberge nehmen sich hoffnungsvoll aus [...]«.14 " " ">
FA II, 11, S. 11. Ebd., S. 21. Ebd., S. 36.
»Freudig trete herein und froh entferne dich wieder!«
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N u n weiß man zwar, dass Goethe dem Wein gern zugesprochen hat, dass er dabei keineswegs zurückhaltend und dass er bei der Auswahl recht anspruchsvoll war. So hat er denn auch gleich nach seiner A n k u n f t in Dornburg sich darüber beklagt, dass im Schlösschen »kein wohlversorgter Keller vorhanden« sei, und er bittet Götze, ihn ausreichend »mit Wein zu versorgen«. 15 Dass der vorhandene Wein der Gäste wegen »nicht die Woche durch« reiche, klagt er auch seinem Sohn, den er ebenfalls bittet, ihm durch einen Boten zu senden, »was er von Flaschen tragen kann«.' 6 U n d Schuchardt berichtet noch im September, Goethe habe sich beklagt, »daß man fast vergäße, ihn mit W e i n zu versehen, und am letzten S o n n a b e n d bloß f ü n f Flaschen aus W e i m a r geschickt habe.«' 7 A u c h was das Trinken und das Essen betrifft - Goethe bittet nicht nur u m Wein, sondern auch mehrfach um die Ubersendung guter Speisen 18 —, scheint er sich an Kohelet gehalten zu haben, nämlich an dessen Aufforderung, sich des Essens und Trinkens zu erfreuen. Aber natürlich sind derartige Hinweise nicht hilfreich, wenn es darum geht, Goethes Interesse an den Weinbergen von Dornburg zu verstehen, zumal er offenbar gar nicht ernsthaft in Betracht gezogen hat, dass der Dornburger Wein genießbar sein könnte. 1 9 Hilfreicher sind f ü r das Verständnis einige seiner Notizen im T a g e b u c h . Bereits am 8. Juli notiert er einigermaßen lakonisch und f ü r Außenstehende änigmatisch: »Die neuangelegten Weinberge.« 1 0 G u t einen M o n a t später hat er sich, wie ebenfalls das Tagebuch vermerkt, mit Hofgärtner Baumann über Weinbaumethoden unterhalten, und einen T a g später, am 4. August, heißt es: Vorzüglich mit näherer Betrachtung des Weinstocks beschäftigt. Mehrere Knoten gezeichnet, um sich von der eigentlichen Beschaffenheit des Wachstums zu unterrichten.21 U n d wiederum zehn T a g e später, nämlich am 15. A u g u s t , lesen wir: » D e n Weinberg nochmals besucht. Nähere Betrachtung über einige Punkte.« 2 2
" 16
Ebd., S. 13. (an J . P . G . Götze, 10. Juli 1828) Ebd., S. 33. (Goethe an seinen Sohn, 7. August 1828) Ebd., S. 41.
18
So bittet er beispielsweise seinen Sohn um »ein Reh im Sauern und was sonst noch Gutes zu haben ist [...] vielleicht ein vorzügliches Stück Rindfleisch [...]«. Ebd., S. 33.
19
So berichtet Sckell, dass Goethe ihn gefragt habe, »ob es denn bei den vielen Weinbergen hier auch trinkbaren Wein gebe?« Ebd., S. 49.
20
Ebd., S. 11.
21
Ebd., S. 32. Ebd., S. 37·
"
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Hinweise dieser Art erinnern uns daran, dass Goethe während seines Dornburger Aufenthalts sich nicht nur mit meteorologischen Fragen und der Geschichte seiner botanischen Studien befasst hat,23 sondern auch eine naturkundliche Schrift Über den Weinbau begonnen hat; sie ist allerdings nie fertig gestellt worden, und das Vorhandene ist erst 1891 veröffentlicht worden.24 Entscheidend für die in dieser Schrift mitgeteilten Erkenntnisse waren wohl die zahlreichen Spaziergänge mit Hofgärtner Baumann. Im Kapitel Der Weinstock findet sich die folgende Detailbeobachtung: D e r K n o t e n einer Pflanze enthält die k ü n f t i g e V e g e t a t i o n schon in sich [...] A n dem K n o t e n der W e i n r e b e zeigt sich zuerst ein einfaches Blatt, dieses ist gleichsam das E n d e der vorhergehenden Stufe [...] U b e r diesem, als zu der neuen Generation gehörig zeigt sich als ein außerordentliches bei andern Pflanzen ungewöhnliches O r g a n , ein völliges Zweiglein mit mehreren Blättern kleinen, aber an Gestalt mit jenem erstem übereinkommend. U b e r u n d gleichsam hinter diesem gegen Stiel und Stengel zu zeigt sich nun erst das Auge, welches gewöhnlich unmittelbar über und hinter jenem ersten Blatte gelegen ist. A u g e u n d Zweiglein sind wie m a n bei Zergliederung gar w o h l bemerken kann aufs innigste verbunden, das Zweiglein fährt in seinem W a c h s t u m mit den M o n a t e n fort, das A u g e hingegen bleibt ruhig die Vegetation des folgenden Jahres verkündend. 2 5
Blatt — Zweiglein — Auge: Mit dieser Dreiheit macht die Rebe den ganzen Lebenszyklus sichtbar vom Abgelegten, Vergangenen über das gegenwärtig Werdende — nicht als ein Sein, sondern als ein Werden wird die Gegenwart fassbar! — zum Künftigen. Konkret und in ihrer Einzelheit zeigt die Rebe, was der auf Zyklik ausgerichtete Blick in der vielgestaltigen, weiten Landschaft wahrnehmen kann oder wahrnehmen will: den im Wechsel von Werden und Vergehen gründenden Fortbestand von Generation zu Generation. Es ist eben dieser Begriff »Generation«, der in der Schrift Uber den Weinbau deutlich macht, dass es Goethe nicht nur um die Erkenntnis eines biologischen Phänomens geht, sondern um die für alles Lebendige grundlegende Beziehung von Werden und Vergehen, um die Anschaubarkeit der Lebendigkeit verbürgenden Zyklik. Uber das Naturkundliche hinaus verweist aber auch das gewichtige Schlusswort des zitierten Abschnitts: Das Künftige wird nicht etwa nur angezeigt, sondern - einer Offenbarung vergleichbar >verkündetVerkündung< nimmt Goethe wohl auch Bezug, wenn er in einem Dornburger Gespräch mit Eckermann von der Rebe spricht:
23
24
Vgl. dazu Johannes Anderegg: Sprache und Verwandlung. Zur literarischen Ästhetik, Göttingen 1985, S. 12-35. S. dazu den Kommentar in: M.A. 18/2, S. 1242. M.A. 18/2, S. 38 7 f.
»Freudig trete herein und froh entferne dich wieder!«
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Fast den ganzen Tag bin ich sodann im Freien, und halte geistige Zwiesprache mit den Ranken der Weinrebe, die mir gute Gedanken sagen und wovon ich Euch wunderliche Dinge mitteilen könnte.26
VIII. K u r z vor E n d e seines D o r n b u r g e r Aufenthalts verfasst G o e t h e eines seiner erstaunlichsten und wohl auch eines seiner wichtigsten Gedichte. Dornburg, September 1828 Früh wenn Tal, Gebirg und Garten Nebelschleiern sich enthüllen, Und dem sehnlichsten Erwarten Blumenkelche bunt sich füllen; Wenn der Äther, Wolken tragend, Mit dem klaren Tage streitet, Und ein Ostwind, sie verjagend, Blaue Sonnenbahn bereitet; Dankst du dann, am Blick dich weidend, Reiner Brust der Großen, Holden, Wird die Sonne, rötlich scheidend, Rings den Horizont vergolden.27 E r wählt d a f ü r eine der einfachsten S t r o p h e n f o r m e n , u n d ganz u n d gar unartifiziell ist auch die Rhythmisierung. A b e r der eine Satz, aus d e m das Gedicht zu bestehen scheint, verstößt derart gegen die Regeln der Grammatik, die V e r w e n d u n g der W ö r t e r ist so ungewöhnlich u n d die Inversionen sind so irritierend, dass das Gedicht von Interpreten immer wieder als besondere Herausforderung wahrgenommen wird. Auch bei vorsichtiger Annäherung wird man festhalten dürfen, dass das Gedicht - genauer vielleicht: dass eine Ebene des Gedichts - von meteorologischen Gesetzmäßigkeiten handelt. 2 8 Was das Gedicht beschreibt oder als Vorstellung evoziert, hat Goethe mehrmals in seinem Tagebuch und in Briefen an Zelter ausführlich beschrieben und kommentiert, so am 7. September 1828: 26 2
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FA II, 12, S. 269. FA I, 2, S. 700f. Dazu Anderegg (wie Anm. 23).
Johannes Anderegg
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Sonntag früh halb sechs vollkommen gleicher undurchdringlicher Nebel, das Barometer war gestiegen, N o r d o s t w i n d , die Fenster angelaufen. Dies wäre nun in der Regel u n d verspräche eine schöne glückliche Vertheilung des Nebels, zu welchem Schauspiele ich D i c h w o h l herwünschte, so wie zu d e m heiteren T a g e der darauf folgen wird; wie solches zunächst gemeldet werden soll. Abends. U n d so war es denn auch, ein schöner klarer, bey Sonnenuntergang völlig wolkenreiner Tag [ . . J *
Insofern es dabei um Gesetzmäßigkeiten geht — das zweimalige »wenn« lässt sich als »immer wenn« lesen —, kann schon auf dieser Ebene des Verstehens von der Thematisierung einer Zyklik die Rede sein. V o r allem aber ist die meteorologische Gesetzmäßigkeit eingebettet in eine viel umfassendere, alltäglich wahrnehmbare Zyklik, nämlich die des stets sich wiederholenden Sonnentags, wobei Goethe, wie Kohelet, die Zyklik über die Wahrnehmung von Sonne und Wind bewusst macht. Durchaus dem Beulwitz-Brief entsprechend, wo die Rede war von den der »belebenden Sonne zugewendete[n]« Weinbergen (S. 16, Z . 37), wird auch hier die Sonne als Licht- und Leben spendend erfahren, und insofern sie überdies auch als ein ästhetisches Phänomen wahrgenommen wird, mag man sich wiederum an Kohelet erinnern: »[...] für die Augen ist es gut, die Sonne zu schauen.« (11.7) D i e dritte Strophe bringt denjenigen ins Bild - das »Du« lässt sich als Selbstansprache verstehen - , der der Zyklik gewahr wird, und zugleich zeigt sich spätestens hier, dass der an sich wiederkehrende Tageslauf von Morgenfrühe bis Sonnenuntergang in seiner Einmaligkeit als Bild des individuellen, einmaligen Lebens verstanden werden kann. Das aber heißt, dass das Gedicht beides im Blick hat, die Permanenz der das Leben ermöglichenden Zyklik — konkretisiert in der wiederkehrenden Sonne — und das einmalige Partizipieren an dieser Zyklik, die das Leben ermöglicht, die aber, um des Lebens willen, den, der eintreten darf, auch zum Abtreten zwingt. Vergoldet wird der Horizont - wird das Abschiednehmen - demjenigen, der fur diese Partizipation dankbar sein kann. Ihm gelingt es, auch im Bewusstsein des Abtreten-Müssens, froh zu sein.
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Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter in den Jahren 1796 bis 1832. Hg. von Friedrich Wilhelm Riemer, 5. Theil, Berlin 1834, S. 112.